John Crace
... und plötzlich bist Du
vierzig Der Roman für den Mann in den besten Jahren Nun mal ehrlich: Männer sind ...
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John Crace
... und plötzlich bist Du
vierzig Der Roman für den Mann in den besten Jahren Nun mal ehrlich: Männer sind Helden! Jäger! Echte Kerle! Leider endet dieser Zustand aber ziemlich genau mit dem 40. Geburtstag – nun betrachten Frauen ihre >>bessere Hälfte>GuardianLasst uns ordentlich streitenKraftfeldanalyse und Veränderung< unter Anleitung von Seite Neunzehn. Eine der kalifornischen Seiten, nahm ich an. Was sollte das bedeuten? Da ich nun einmal ein Trottel bin, habe ich erstens keinen Abschluss in Quantenphysik und zweitens die einschlägige Folge von Star Trek verpasst. »Ich glaube, hier muss ich passen«, sagte ich. »Ich empfange eine starke Feindseligkeit mir gegenüber, John«, sagte Seite Neunzehn. Gut aufgepasst. »Bessere Bewältigung«, warf Seite Zwanzig ein. »Eigentlich nicht, aber trotzdem vielen Dank.« »Nein, >Bessere Bewältigung« ist der Titel der ersten Sitzung nach der Mittagspause.« »Oh.« Meine Beziehung zu Seite Zwanzig konnte sich nie mehr von diesem Missverständnis erholen. »Zeit für die Schulung der Durchsetzungsfähigkeit«, riefen die Seiten Einundzwanzig, Zweiundzwanzig
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und Dreiundzwanzig im Chor. »Wir wollen, dass du
dich konkret, klar und offen äußerst. Sag, was du
empfindest, ohne dich hinter Andeutungen zu
verstecken.«
»Ich hasse Weihnachten«, bot ich an. »Ist das kon
kret, klar und offen genug?«
Seite Fünfundzwanzig war eine harte Nuss. »Mein
Thema ist >Mit Waffen arbeiten««, sagte sie. »Ich
dachte, ich sollte hier lernen, mich aus
Schwierigkeiten herauszuschwatzen und nicht zur
Gewalt zu greifen.«
»Du hast es nicht kapiert«, drohte sie mir. »Du hast
es überhaupt nicht kapiert.«
»Vielleicht bin ich nicht pragmatisch genug.« Blieb
noch die Nachbesprechung.
»Wie fandest du den Kurs?«, fragten sie im Chor.
»Brillant.«
»Gut. Es ist üblich, dass zum Abschluss jeder für je-
den eine Weihnachtskarte schreibt.«
Ihr wisst genau, wo ihr euch die verdammten Weih
nachtskarten reinstecken könnt.
»Ich glaube, ich habe keine mehr übrig«, sagte ich
lahm.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte meine Frau nervös,
als ich wieder nach unten ging.
»Ich bin ein total glücklicher Mensch und freue mich
wahnsinnig auf Weihnachten.««
»Sei ehrlich.«
»Ehrlich? Ganz ehrlich? Ich glaube, ich habe eine
brauchbare Einsicht gewonnen.«
»Welche denn?«
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»Jedes Weihnachtsfest, das ich überlebe, ist eins weniger, über das ich mir Gedanken machen muss.«
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5 »Entschuldigung, können Sie mir helfen?« Es gibt Schlimmeres, als von einer attraktiven Frau Anfang zwanzig angesprochen zu werden, während man die Farringdon Road hinuntergeht. Ich war mehr als bereit zu helfen. Ihre Taschen tragen, ihr einen Drink ausgeben, was sie nur wollte, das können Sie mir glauben. »Yeah, klar doch«, sagte ich. Während ich ver suchte, urban, cool und zehn Jahre jünger zu klingen, fragte ich mich, ob meine Haare in Ordnung waren. »Können Sie mir bitte sagen, wo die U-Bahn ist?« Also war sie nicht auf meinen Körper aus. Nun ja, man kann nicht alles haben. »Äh ... gehen Sie noch ungefähr hundert Meter in diese Richtung, dann biegen Sie links ab. Sie können es nicht verfehlen«, sagte ich. Wenigstens wollte ich ihr zeigen, dass ich einen wachen Verstand hatte. »Das ist gut, vielen Dank.« Yeah, vielen Dank auch. Vielen Dank für nichts. Warum läufst du, wenn du dich das nächste Mal verirrst, nicht eine halbe Stunde im Kreis herum, statt mich mit deinen erbärmlichen kleinen Problemen zu belästigen? Für dich ist es vielleicht nur eine Frage nach dem richtigen Weg, für mich geht es ums nackte Leben. Ich weiß genau, warum du ausgerechnet mich angesprochen hast. Nicht, weil du mich unbewusst sexuell unwiderstehlich gefunden hast. Du hast mich angesprochen, weil du dachtest, ich wäre ungefährlich. Du hast
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nicht gedacht, Gott, sieht der gut aus oder wie süß er ist oder igitt, ist der hässlich. Über Menschen in meinem Alter denkst du nicht in solchen Begriffen. Mit mir Sex zu haben, ist einfach jenseits deiner Vorstellungskraft. Das wäre so, als würdest du deinen Dad vögeln. Der, wie mir gerade einfällt, sogar jünger sein könnte als ich. Ich will keine sichere Anlaufstelle sein. Ich hasse es, wenn man bei mir sicher ist. Ich will gefährlich, bedrohlich, undurchschaubar, rätselhaft und hinrei ßend sein, einfach umwerfend. Ich will, dass Frauen nervös werden, wenn sie mit mir reden, weil sie Angst haben, ihre verdrängten Begierden könnten unversehens durchbrechen. Tja, ich kann ja ruhig weiterträumen, weil es sowieso nicht passieren wird. Ich habe meine sexuelle Blütezeit hinter mir, jetzt geht es bergab. Das ist einfach ... es ist ungerecht. Denn genau ge nommen habe ich eine sexuelle Blütezeit nie gehabt. Eher ein paar zaghafte Knospen. Als ich Ende zwanzig war, wollten die meisten Mädchen, die ich kannte, lieber mit älteren Männern zusammen sein. »Die sind viel reifer und interessanter«, zwitscherten sie untereinander, was im Klartext bedeutete: Sie hatten mehr Geld. Jetzt, wo ich mehr Geld und den sagenhaften Status des älteren Mannes erreicht habe, sind all diese Frauen auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Entweder die Mädchen haben damals einen Haufen Müll erzählt, oder die Mode hat sich geändert. Aber andererseits war ich, abgesehen von einer kurzen Phase zwischen zwanzig und dreißig, anscheinend
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mein Leben lang im falschen Alter. Sogar die Mädchen, die keinen älteren Mann wollten, haben sich nicht auf mich eingelassen. Man erwartet ja wirklich nicht, dass ein Mädchen mit einem Kerl geht, der so alt ist wie man selbst oder sogar noch jünger, weil die Mädchen so etwas einfach nicht machen. Das ist unter ihrer Würde. Also hätte man doch annehmen können, dass ich mit achtzehn gewisse Chancen bei den Sechzehnjährigen gehabt hätte. Aber nein, sie wollten offenbar Siebzehnoder Neunzehnjährige. Vielleicht war es auch etwas Persönliches. Das Bedauern bringt einen um. Aber es ist unaus weichlich, wenn man vierzig wird. Man blickt auf die Zeiten zurück, in denen man, wenn man Lust hatte, doch noch einen Drink kippen oder einen letzten Joint bauen konnte, während man mit der Freundin großzügig das letzte Koks geteilt und dieses fantastische Stück von James Taylor aufgelegt hat ich persönlich habe ihn immer für unerträglich schmalzig gehalten, aber bei Frauen hat er unglaublich gewirkt und die Bahn frei gemacht für die nächste Nummer. Das Problem war bloß, dass ich kein Selbstver trauen hatte. Die Mädchen schienen immer so erfahren und distanziert, dass ich dankbar war für jedes bisschen Aufmerksamkeit, das ich überhaupt bekam. Diejenigen, die nicht wissend und überlegen waren, haben mich nicht interessiert. Deshalb habe ich stundenlang herumgehangen und gehofft, irgendein Mädchen würde mich zum Vögeln einladen. Ich hätte nie danach fragen können, denn sie hätten ja nein sagen können. Man kommt ja irgendwie damit zurecht, 41
keinen Sex zu haben, aber abgelehnt zu werden, weil man körperlich abstoßend ist, das ist einfach zu viel. Sogar die erste Knutscherei, die ich überhaupt hatte, ist eher zufällig passiert. Ich stand auf einer Party herum und redete mit einem Mädchen, und auf einmal wurden ihre Augen glasig. Sie packte mich, klebte ihre Lippen auf meine, zwängte meinen Mund auf und schob mir die Zunge in den Hals. Es ist schon erstaunlich, wo man landen kann, wenn man ein langweiliger Gesprächspartner ist, aber vielen Dank jedenfalls, Serena. Und meine erste Nummer? Nun ja, sogar ich habe es begriffen, als Teresa sagte: »Ist schon in Ordnung, ich nehme die Pille.« Vielleicht ist das auch alles ganz normal. Ich hoffe es jedenfalls. Das liegt doch nicht nur an mir, oder? Oder? Aber haben Sie noch etwas Geduld mit mir, weil ich ein wichtiges Geständnis abzulegen habe, das Sie alle angeht. Meine sexuelle Unzulänglichkeit hat den Lauf der Geschichte verändert. Lassen Sie mich das erklären. Unsere Hochzeit stand kurz bevor. Meine Frau und ich haben die letzten Vorbereitungen getroffen. Eine bescheuerte Idee, ich weiß schon, aber es war nicht meine. Und damit war es ... ach, nein, das schenke ich mir jetzt. »Schuld« ist so ein hässliches Wort. »Wie denkst du über die Treue?«, fragte sie. War sie wirklich so dumm zu glauben, ich würde auf so etwas hereinfallen? Als ob ich zugeben würde, dass ich die Vorstellung, nie wieder mit einer anderen Frau ins Bett zu gehen, etwas schwierig fand.
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»Ich glaube, die Treue ist das Fundament einer gu ten, christlichen Ehe«, erwiderte ich. »Ach, hör doch auf mit dem Mist«, sagte sie freund lich. »Ich kann mich nicht so leicht damit abfinden, nie wieder mit einem anderen Mann schlafen zu dürfen.« Ich war der Ansicht gewesen, nur Männer kämen auf solche Gedanken. Das sah auf einmal gar nicht mehr gut aus. Vielleicht würde sie mir gleich eröffnen, dass sie eine Transsexuelle war. »Ich verstehe.« »Hör mal, das ist doch keine große Sache. Du machst dir doch sicher auch Gedanken darüber, wie es ist, nie wieder mit einer anderen Frau zu schlafen, oder?« »Ich habe eigentlich noch nicht richtig darüber nachgedacht«, log ich. »Aber jetzt, wo du es sagst, ja, das könnte schwierig sein.« Darauf folgte ein kurzes Schweigen, und wir sahen einander ziemlich unsicher an. Ich konnte erkennen, dass sie etwas in petto hatte, aber sie war offensichtlich zu verlegen, um damit herauszurücken, also ließ ich sie eine Weile schwitzen. »Wie sollen wir denn deiner Meinung nach damit jetzt umgehen?«, fragte ich nach einer Weile. »Ich dachte, wir könnten vielleicht beide jemanden aussuchen, mit dem wir ins Bett gehen dürfen, ohne untreu zu werden.« Das war besser als ich befürchtet hatte. Ich hatte angenommen, ihre Vorstellung eines fairen Abkommens sähe so aus, dass sie ins Bett gehen konnte, mit wem sie wollte, und ich mit überhaupt niemandem. Was so 43
ungefähr dem Arrangement entsprochen hätte, das mir eingefallen wäre. Es sah trotzdem nicht so gut aus. Sie hatte offensichtlich schon intensiv darüber nachgedacht und jemand Bestimmten im Visier. Karten auf den Tisch. »Wen willst du denn?« »Daley Thompson«, sagte sie prompt. »Und du?« Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Nun komm schon, entscheide dich, du Doofmann«, drängte sie. »Es kann dir doch nicht so schwer fallen, dir jemanden auszudenken.« Aber das tat es. Wenn man nur einen einzigen Ver such hat, muss man es richtig machen. Aber da ich nun einmal ein Trottel bin, ließ ich mich drängen, mit dem erstbesten Namen herauszuplatzen, der mir in den Sinn kam. »Prinzessin Diana.« Damit waren unsere vorehelichen Absprachen be siegelt. Sie konnte Daley haben und ich Di. Zu dieser Zeit nahm ich noch an, dass sie wahrscheinlich eher Glück haben würde als ich, denn sie verbrachte die Sommerferien oft damit, Leichtathletikmeetings in Großbritannien und auf dem Festland zu besuchen. Aber dann war ich es, der es fast geschafft hätte. Ich war zur Oper eingeladen worden -ja, so ein Typ bin ich. Kulturell ungeheuer beschlagen, aber ich gehe nicht damit hausieren, wenn Sie wissen, was ich meine. Jedenfalls sah ich zufällig zur königlichen Loge hinauf, und ganz richtig, da saß Di. Gott, sie sah hinreißend aus, ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
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Sie sah herunter und erwiderte meinen Blick - nicht nur eine Sekunde, sondern eine lange Zeit. Und ihr Blick sagte mir: »Hilf mir John. Befreie mich aus meiner lieblosen Ehe. Mach mich glücklich.« Jetzt müssen wir zu dem Teil kommen, wegen dem ich mich so mies fühle. Denn ich habe nichts getan. Absolut nichts habe ich getan. Ich habe nur wie angewurzelt auf meinem Platz gesessen und gesehen, wie sie immer verzweifelter wurde, weil ich nichts unternommen habe. Als ihr schließlich klar wurde, dass mit mir nicht zu rechnen war - dass ich nicht der Mann war, für den sie mich gehalten hatte -, warf sie mir noch einen letzten, unendlich traurigen Blick zu und schaute weg. Ich kann mir das einfach nicht verzeihen. Ich fühle mich verantwortlich für ihren Tod, denn hätte ich ihr erlaubt - natürlich mit dem Segen meiner Frau -, mit uns glücklich zu werden, dann würde sie heute noch leben. Statt mit 100 Sachen in einem schwarzen Mercedes durch Paris zu rasen, hätte sie in einem hellblauen Vauxhall Astra Starmist (Automatik) auf der Streatham High Road fahren können. Meine Frau war vermutlich der einzige Mensch in Großbritannien, der Prinzessin Dianas Beerdigung nicht unglaublich bewegend fand. Für sie war es der Tod einer Rivalin, wodurch sie die Freiheit hatte, Daley bis zur Besinnungslosigkeit zu vögeln, während ich überhaupt nichts mehr hatte. Jetzt sitze ich fest. Ich habe gefragt, ob ich nicht einen Ersatz finden dürfe, denn in den Jahren, seit ich dazu verleitet wurde, eine vorschnelle Entscheidung zu treffen, sind mir noch eine Reihe geeigneter Kandidatinnen eingefallen -, 45
aber meine Frau zeigt sich unerbittlich. Denn es ginge ja um Treue. Nicht, dass ich gegen die Treue etwas einzuwenden hätte. Eigentlich spricht sogar eine Menge dafür. Beispielsweise, dass beide Partner mit der gleichen Geschwindigkeit altern. Die Monogamie ist so ähnlich, als würde man in eine Zeitschleife eintreten. Wenn man allein ist, muss man sich etwas am Riemen reißen. Man muss sich schlau machen, was gerade angesagt ist und was nicht. Aber sobald man sich zu einer funktionierenden Einheit zusammengeschlossen hat, ist das alles vorbei. Man behält den gleichen Haarschnitt bei, trägt die gleiche Kleidung und hört die gleiche elende Musik. Nicht, dass Sie das jetzt falsch ver stehen, das hat nichts mit Faulheit zu tun - es ist die pure Notwendigkeit. Denn wenn man sich die Attri bute aus den Anfängen erhält, kann man sich mit körperlichen Verfallserscheinungen nachsichtig zeigen. Bierbauch? Welcher Bierbauch? Hängebusen? Welcher Hängebusen? Haaransatz? Welcher Haaransatz? Ein bisschen Fantasie hilft sehr beim Vögeln. Natürlich immer vorausgesetzt, Sie haben diese Fantasie. Nun leide ich ja schon sehr an Selbstüberschätzung, aber gerade wenn es um Sex ging, konnte ich mir bizarrerweise noch nie die rosa Brille aufsetzen. So sehr ich es auch versuche, ich kann mich einfach nicht als Liebesgott sehen. Ich glaube, das liegt daran, dass ich nicht fähig bin, ein Pokergesicht aufzusetzen und zu sagen: »Ich bin ganz heiß auf dich, Baby.« Oder heißt das »Kleines«? Ich muss das mal recherchieren. Wie auch immer, das stört schon ungemein. 46
Denn es führt dazu, dass eine normale Nacht unter dem Motto »Mit Frau Crace glücklich zu werden, ist nicht ganz ein Ding der Unmöglichkeit« in etwa fol gendermaßen verläuft. Meine Frau kommt spät nach Hause - lange nach dem ich die Kinder ins Bett gesteckt habe. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will jetzt nicht mit der Mitleidstour anfangen. Normalerweise komme ich ja immer als Letzter - häusliche Pflichten? Ich bin gefeit. Aber diese liebestollen Abende beginnen gewöhnlich damit, dass sie erst um neun nach Hause kommt und sich verdorben und unabhängig fühlt. Sie schwatzt eine Weile über die Kinder. »Hast du sie gut ins Bett bekommen?«, fragt sie beispielsweise. Das bringt mich immer auf die Palme. Vermutlich macht sie es auch genau deshalb. Hält sie mich denn für einen Vollidioten? Nur nicht antworten das war bloß eine rhetorische Frage. Hat sie noch nichts von so nützlichen Dingen wie Valium gehört? Oder Calpol für Kinder? »Ja.« »Keine Probleme?« Immer die gleiche Leier. Sie glaubt, ich wäre damit überfordert. Also gut, wenn du Probleme willst, dann sollst du sie haben. »Yeah, Tom hat im Bad Theater gemacht, ich musste ihm das Fell versohlen.« Die Vorstellung, irgendjemand könnte ihren Lieb lingsjungen anrühren, ist ihr unerträglich. »Du hast ihn geschlagen?«
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»Yeah, aber ich habe keine Spuren hinterlassen. Die Sozialarbeiterin wird nichts merken.« »Dann hast du ihn gar nicht geschlagen?« Der entgeht auch gar nichts. Das war bis jetzt doch schon ziemlich romantisch, oder? Beurteilen Sie nur nicht das Vorspiel nach Ihren eigenen konventionellen Vorstellungen. Wie auch immer, von diesem Punkt an kann sich die Sache nur noch in zwei Richtungen entwickeln. Entweder es wird ein ausgewachsener Krach oder meine Frau lässt es auf sich beruhen und sagt nach ein paar Augenblicken: »Du siehst heute Abend toll aus.« Wenn sie mir Komplimente macht, ist äußerste Vor sicht geboten. Normalerweise heißt das nämlich, dass sie sauer ist. Sie hasst es, wenn ich ihren Atem schnüffle, aber ich muss es herausfinden. »Wie viele Finger halte ich hoch?«, sage ich und halte ihr die Hand vors Gesicht. »Was?« »W-I-E V I-E-L-E F-I-N-G-E-R H-A-L -« »Ach, hör doch auf. Ich habe nichts getrunken. Wa rum nimmst du immer gleich an, ich hätte was getrunken, wenn ich spät nach Hause komme?« Da hat sie natürlich Recht. Sie hat mich völlig über rumpelt. Meine Frage konnte auch unmöglich mit der Tatsache zu tun haben, dass sie sofort in der nächsten Kneipe verschwindet, sobald sich eine Gelegenheit bietet. »Ich habe überhaupt nichts angenommen. Deshalb habe ich es ja überprüft.« »Wo ist dein Problem?«
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Probleme. Immer nur Probleme. Dabei bin ich doch wirklich pflegeleicht. »Nichts. Ich war nur überrascht, dass du sagtest, ich sehe toll aus.« »Ich wollte nur nett sein.« Das verwirrt mich jetzt aber. Wenn sie nicht sauer ist, muss es ein anderes verstecktes Motiv geben. Vielleicht hat sie einen Geliebten. »Warum lügst du mich an, wenn du nett sein willst?«, frage ich. »Was meinst du damit?« »Nun, offensichtlich sehe ich nicht toll aus. Ich sehe seit mindestens zehn Jahren nicht mehr toll aus. Ich bin nämlich ein Wrack und mir fallen die Haare aus.« »Okay, du hast Recht. Du siehst nicht toll aus. Du sieht einfach nur schrecklich aus, das ist alles. Mehr kann man in deinem Alter eben nicht mehr erwar ten.« »Warum hast du dann versucht mich zu demütigen, indem du sagst, ich sähe toll aus?« »Gott, bist du dämlich. Ich wollte nett sein. Vielleicht wollte ich dich sogar verführen.« »Warum gibst du mir nicht einfach einen Kuss, statt so verdammt altklug daherzureden?« Und dann reißt sie sich die Kleider vom Leib und wirft sich auf mich, und wir legen einen zweistündigen Sexmarathon hin. Aber klar doch. Und jetzt möchte ich wirklich gern wissen, wie ich dafür sorgen kann, dass dieses Programm noch öfter wiederholt wird. Wenn man gerade über zwanzig ist, denkt man über so etwas nicht weiter nach, weil man
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es in ein paar Stunden sowieso noch einmal bekommt und sich eher Gedanken machen muss, wann das endlich wieder aufhört. Aber heute ist alles etwas schwieriger. Kann ich mir sicher sein, dass ich nicht gerade eben den letzten Steifen habe, den ich jemals bekommen werde? Ich könnte ja morgen schon sterben oder mein Schwanz könnte den Geist aufgeben. So etwas passiert manchmal. In Augenblicken wie diesen wünsche ich mir, ich hätte ein besseres Verhältnis zu meinem Dad. Dann könnte ich ihn fragen: »Klappt's bei dir noch?«, und er könnte Ja oder Nein sagen und wir könnten uns ausgiebig über die Details der männli chen Sexualität unterhalten. Aber wie es aussieht, bin ich viel zu gehemmt, um ihn zu fragen, deshalb muss ich mir weiterhin den Kopf darüber zerbrechen, wann ich impotent werde. Dadurch wird jedes Schäferstündchen zu einer un geheuer wichtigen Angelegenheit. Es wäre ja noch in Ordnung, wenn man einen krönenden Abschluss hätte - beide kommen gleichzeitig, und zwar nach ein paar Dutzend Stellungen. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie hätten beim letzten Mal einen vorzeitigen Samenerguss. Dann wäre Ihr Leben doch nicht mehr lebenswert, denn Ihre Partnerin würde Sie für den erbärmlichsten Liebhaber der Welt halten. Und Sie würden mit der Gewissheit zum Greis werden, dass Ihre Lebensgefährtin die anderen Pflegefälle im Heim ausführlich über Ihre Unzulänglichkeiten ins Bild setzt. Noch schlimmer, wahrscheinlich gibt es im Darby-&Joan-Club sogar einen Jack-Nicholson-Typ, der immer noch einen Steifen kriegt und der mit über sechzig das
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abräumt, was Sie schon mit zwanzig hätten verna schen sollen. Die Frauen sind da besser dran. Auch wenn sie älter werden, können sie sexuell noch einwandfrei funktionieren. Ich meine, von ihnen wird ja auch nicht so viel erwartet. Und wenn es mal schwierig wird, dann gibt es immer noch die Hormonersatztherapie, damit alles so flutscht wie früher.
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6 »Weißt du was, John? Ich hasse meinen Job.« Ja, das wusste ich schon. Nur ein Komapatient hätte es überhören können. Jeden Tag schwatze ich mit meinem Kumpel Alex mindestens zwanzig Minuten am Telefon - jawohl, auch Männer klatschen -, und die letzten vierzehn Tage waren eine einzige Jammerei, die nach und nach immer heftiger geworden ist. Es ging von »Die Arbeit macht mir keinen Spaß mehr« über »Das macht mich noch verrückt« bis zu »Ich hasse meinen Job.« »Dann kündige doch einfach«, sage ich mit meiner mitfühlendsten Therapeutenstimme, obwohl ich weiß, dass genau diese Antwort am allerwenigsten hilft. Nach objektiven Maßstäben hat Alex einen wunderbaren Job. Es ist eine interessante, kreative Arbeit, er verdient mehr als ein Minister, und Hunderte von Leuten würden sofort mit ihm tauschen. Genau genommen sind nicht viele Jobs besser als seiner. Deshalb ist es für ihn sinnlos, sich anderweitig umzusehen, und er kann sowieso nicht raus, weil er zu viele finanzielle Verpflichtungen hat. Kurz und gut, er sitzt in der Falle. So etwas Dummes aber auch. »Darüber haben wir doch gestern schon gespro chen«, antwortet er vorsichtig. Anscheinend hat er überhaupt nicht bemerkt, dass ich nur sticheln wollte. Das finde ich beunruhigend, denn wenn Alex einen Seitenhieb übersieht, dann bedeutet dies, dass er kurz vor dem Selbstmord steht.
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»Hast du schon die Telefonseelsorge angerufen?«, frage ich, um mich abzusichern. Ich könnte nicht mit dem Gedanken weiterleben, dass er sich etwas antut und ich nicht einmal versucht habe, ihm zu helfen. »Yeah, aber sie hatten zu tun«, antwortet er. An scheinend erwachen seine Lebensgeister wieder. »Nun ja, es ist ja gut zu wissen, das man nicht allein im Boot sitzt.« Das war, wie wir beide ganz genau wussten, eine verdammte Untertreibung. Fast jeder, den wir kann ten, hasste seinen Job, und sei es nur ein bisschen. Einige hatten wirklich beschissene Jobs und gute Gründe, ihre Arbeit zu verabscheuen, aber es gab auch Leute wie Alex, die mit pathologischem Hass auf jeden Job reagierten, den sie bekamen. Ja, probieren Sie es ruhig aus. Bieten Sie ihm etwas an, das Sie für perfekt halten, und er wird nach ein paar Stunden voller Widerwillen darüber reden. Denn er weiß, dass es kein guter Job sein kann, wenn man ihn bittet, die Arbeit zu übernehmen. Das ist einer der Gründe dafür, dass ich mich mit Alex so gut verstehe. Wir wissen beide, dass wir an irgendeinem Punkt versagt haben. Mitte der dreißig war das noch anders. Damals konnten wir uns noch einreden, wir wären auf dem Weg zum sprichwörtli chen Topf voll Gold am Ende des Regenbogens. Was für ein lächerlicher Gedanke. Was haben wir nur erwartet? Dass wir eines Tages aufwachen und uns gut fühlen? Aber jetzt sind wir über vierzig. Alex gibt es nicht gern zu und behauptet, er wäre neununddreißig, aber er ist dreiundvierzig. Ehrlich. Er ist viel älter als
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ich - auch das ein Grund dafür, dass ich ihn mag -, und jetzt geht es nur noch bergab. Wir machen nämlich mehr oder weniger das, was wir früher immer für erstrebenswert gehalten haben, aber heute finden wir unsere Jobs natürlich gar nicht mehr so lustig. Wobei, ich glaube nicht, dass wir damals wirklich eine klare Vorstellung davon hatten, wie ein angenehmes Leben aussehen könnte. Als Student hieß das für mich, so wenig wie möglich zu tun und dabei zu träumen, ich wäre eines Tages abartig berühmt und würde haufenweise Geld verdienen. Aber ich war nie ganz sicher, woher Geld und Ruhm kommen sollten. Der vage Gedanke, ich könnte vielleicht Popstar werden, ließ mich manchmal planlos an meiner Luftgitarre herumzupfen. Ich hatte keinerlei musikalische Begabung, was nicht unbedingt ein Hindernis ist, aber ich besitze Integrität, und das Einzige, was ich an der Musikbranche wirklich interessant fand, waren die Unmengen von Drogen, die man dort mühelos bekommen konnte. Da ich aber in dieser Hinsicht sowieso schon gut versorgt war, schien es mir sinnlos, mich noch weiter ins Zeug zu legen. Ich habe mir wohl vorgestellt, irgendwann würde je mand zu mir kommen und mir Kohle und Ruhm ein fach dafür geben, dass ich da war. Das klingt albern, aber so ist das nun einmal. Manche Leute wissen anscheinend von Geburt an genau, was sie wollen, aber ich hatte keine Ahnung. »Was willst du eigentlich später mal machen?«, lö cherten mich meine Eltern immer wieder.
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Absolut nichts, so hätte die ehrliche Antwort gelautet, aber diese Art von Nihilismus war bei den Craces verpönt. »Ich weiß es nicht«, jammerte ich. An diesem Punkt gab es immer mehrere Möglichkeiten. Manchmal sagten sie mir, ich sollte mich verziehen und sie in Ruhe lassen, bis ich es wusste, und manchmal sagten sie: »Wir kennen jemanden, der dir vielleicht helfen kann, etwas zu finden.« Aber da mein Dad Pfarrer und meine Mutter Eheberaterin war - Sie sehen jetzt, woher ich mein Einfühlungsvermögen habe -, kamen weder Beschimpfungen noch Vetternwirtschaft in Frage. Was herauskam, klang ungefähr so: »Vielleicht solltest du mal zur Berufsberatung ge hen.« Nach ich weiß nicht wie vielen Aufforderungen ging ich schließlich hin. Die Beurteilung bestand in dem üblichen vorformulierten Text, den sie jedem schwachsinnigen Einsiedler mitgeben würden: »John ist begeisterungsfähig und aufgeschlossen, er kann gut mit Menschen umgehen. Er könnte erfolgreich als An walt/Buchhalter/Astronaut/Atomphysiker tätig sein.« Mit diesem Urteil in der Tasche durfte ich dann voller Begeisterung und Aufgeschlossenheit mit den Menschen umgehen, denen ich auf der Oxford Street Eiskreme verkaufte. Das gute Verhältnis zu anderen Leuten änderte sich ein wenig, als ich auf eine Annonce hinten im Stan dard antwortete: »Finanzberater gesucht«. Ich wurde Versicherungskaufmann, was aus der Sicht meiner Eltern ein riesiger Schritt in die richtige Richtung war. 55
Sie waren total beeindruckt, dass ich zur Arbeit einen Anzug tragen musste. Nur schade, dass die anderen Leute diese Begeisterung nicht teilen konnten. Der Job drehte sich nämlich darum, den Kunden Versicherungsverträge aufzuschwatzen, die sie weder wollten noch brauchten. Außerdem sollte man bei seinen Freunden anfangen. »Hallo, Barry, hier ist John. Wir haben uns ja lange nicht gesehen.« »John, wie schön, mal wieder etwas von dir zu hö ren.« Das wird sich gleich ändern. »Yeah ... äh ... wie geht's dir denn so?« Es ist mir immer schon schwer gefallen, auf den Punkt zu kommen. »Ganz gut. Und dir?« »Ausgezeichnet. Äh, ich rufe an, weil ich einen neuen Job habe.« »Ich wusste nicht einmal, dass du einen alten hat test.« Damit war so ungefähr der Punkt erreicht, an dem der Job den Mann korrumpiert. Normalerweise hätte ich ihn einen Drecksack genannt und wir hätten ge lacht. Aber jetzt wollte ich etwas von ihm und musste mich zurückhalten. »Du hast Recht. Es ist ganz sicher der erste, der ein gewisses Potenzial hat«, sage ich ruhig. »Was ist es denn für ein Job?«, fragt Barry. Seine Stimme klingt, als würde er mühsam ein Gähnen unterdrücken. »Ich bin Finanzberater.«
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»Was bist du? Seit wann verstehst du etwas von Geld?« Seit zwei Tagen, um präzise zu sein. »Nun ja, learning by doing«, antworte ich etwas ver legen. »Ich würde dich gern besuchen und mit dir über deine Finanzen reden, und vielleicht habe ich ja ein paar Vorschläge, die dir helfen können.« »Oh, mein Gott«, lacht er, »du bist Versicherungs vertreter, was?« »Das ist eine der Dienstleistungen, die ich anbieten kann.« »Du bist Versicherungsvertreter, John. Wer hätte das gedacht?« Nun war Barry noch einer von der freundlichen Sorte. Die meisten Leute hätten jetzt einfach den Hörer aufgelegt. Er ließ sich immerhin darauf ein, mit mir essen zu gehen, er bezahlte sogar, und er hat tatsächlich zehn Minuten zugehört. Dann sagte er: »Ich denke darüber nach«, was so viel hieß wie: »Nein, und wage es ja nicht, noch einmal darauf zu sprechen zu kommen.« Danach konnten wir uns dann dem allgemeinen Tratsch über das widmen, was einige unserer Freunde gerade taten. »Wissen Sie, Sie packen das nicht richtig an«, sagte Mark, mein Chef, als ich ins Büro zurückkam. »Sie müssen den Leuten mehr Feuer unterm Arsch machen.« Mark stammte aus einer unglaublich betuchten Familie, aber seit er bei der Versicherung arbeitete, redete er wie ein Bauarbeiter. Es schien zu funktionieren, er konnte jederzeit jedem Gesprächspartner Feuer unterm Arsch machen. Aber wenn ich zu reden
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versuchte wie er, war ich immer noch ein mieser Vertreter. Doch ich gab nicht auf. Ich machte weiter, bis ich alle meine Freunde erst finanziell ruiniert und dann verloren hatte. Schließlich wurde ich gefeuert. Allerdings hatte ich auch einige Erfolge zu verzeichnen. Beispielsweise war ich recht geschickt darin, meinen Exfreundinnen überflüssige Policen zu verkaufen. Ich glaube, es lag daran, dass ich bei ihnen die geringsten Skrupel hatte, sie über den Tisch zu ziehen. Ich weiß schon, so etwas gehört sich nicht. Man soll ja seinen Exfreundinnen gegenüber gnadenlos verständnisvoll sein. »Ja, wir waren doch noch so jung. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Ja, wir hätten einfach Freunde bleiben sollen. Du hast mir immer viel bedeutet.« Ach, zum Teufel damit. Ich habe meinen Exfreun dinnen niemals irgendetwas verziehen. Und wenn du glaubst, ich wäre jetzt nett zu dir, nachdem du abgehauen und mit Mike ins Bett gegangen bist, dann hast du dich geschnitten. Es ist mir völlig egal, ob es fünfzehn Jahre her ist. Wer meinem Herzen so etwas antut, kommt nicht ungeschoren davon. Aber falls es meine Verflossenen tröstet, ich habe mich auch selbst über den Tisch gezogen. Schön wär's, wenn ich berichten könnte, dass es ein unge heuer raffiniertes Betrugsmanöver war, das auch nach einer zwölf Monate dauernden Verhandlung nicht mit einer Verurteilung abgeschlossen werden könnte, aber leider war ich genauso beschränkt wie alle anderen. Ich habe mir die schlechteste aller Policen verkauft,
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um eine Hypothek abzusichern. Ich zahle heute noch dafür. Von hier aus war der Weg bis zur Schriftstellerei nicht ganz so weit, wie man es erwarten könnte. Wenn man als Versicherungsvertreter versagt hat, bleiben einem nicht mehr viele Möglichkeiten. Meine Frau hatte gemischte Gefühle, was meinen Berufswechsel anging. Es brachte einem zwar einen recht guten Ruf ein, wenn man sagte, man sei Autor, und deshalb schämte sie sich nicht mehr für mich, aber sie konnte nicht ganz einsehen, warum ich einen Beruf ergriff, mit dem ich noch weniger verdienen würde als mit dem letzten. Überraschenderweise kam aber doch etwas Geld herein. Anfänglich hatte das wahrscheinlich mit mei nem Vornamen zu tun. Jim Crace, ein Autor mit er heblich weniger Talent - das darf man ruhig so sa gen - hatte gerade einen Preis gewonnen, und ich hatte den Eindruck, dass einige Zeitungsredakteure mich mit ihm verwechselten. Ich rief sie an und machte einen Vorschlag für eine Geschichte. Sie fragten natürlich, wer ich sei, ich sprach meinen Vornamen möglichst undeutlich aus und rief dafür umso lauter »CRACE« in den Hörer, und sie sagten sofort: »JA.« Um ehrlich zu sein, wurde ich nur einmal bezahlt, als wäre ich Jim, und das war eine komische Sache, weil das Stück ziemlich verrissen wurde. Aber die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, ich würde einfach nicht weiterkommen, obwohl das gar nicht stimmte. Ich erinnere mich noch, wie aufgeregt ich war, als ich Robbie Coltrane während der Dreharbeiten 59
zu einem neuen Film interviewen sollte. Ein presti geträchtiger Auftrag, so schien es. Aber ich kann mich nur noch daran erinnern, dass mich ständig ein gewisser Robert Carlyle beschimpft hat, weil er sich innerlich darauf einstellen musste, einen Skinhead zu spielen. Ich durfte stundenlang in Old Trafford auf dem Parkplatz warten, bis jemand sich dazu herabließ, die Tür des Wohnwagens zu öffnen und meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Letzten Endes ist das bei allen Jobs ganz ähnlich. Jeder will jemanden haben, der noch unwichtiger ist als er selbst - nicht unbedingt, um ihn herumzukommandieren, auch wenn das dazugehört -, sondern hauptsächlich, damit er sich besser fühlen kann als die Leute unter ihm. Wenn man über vierzig ist, erkennt man so langsam das Ende der Karriereleiter. Nehmen Sie mal Tony Blair. Der Mann hat Tausenden von Leuten, die er vermutlich nicht ausstehen konnte, die Hand geschüttelt, um zu erreichen, was er erreichen wollte. Er wollte Premierminister werden. Die Nummer eins im Land. Richtig? Falsch. Denn wenn man Premierminister ist, stellt man fest, wie wenig Macht man im Vergleich zu jemandem wie Bill Clinton hat. Also muss man vor ihm kriechen und lächerliche Dinge sagen wie »Bill ist einer meiner besten Freunde«, obwohl man höchstens zehn Minuten mit ihm geredet hat und sich darauf vorbereiten muss, den Dritten Weltkrieg anzu zetteln, um den Schwanz des Präsidenten aus den Schlagzeilen zu bekommen. Weiter wird er es nicht bringen. In ein paar Jahren wird er ein ehemaliger
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Premierminister sein, um den sich niemand mehr kümmert. Und wenn seine Haare so schnell ausfallen wie bisher, wird man ihn nicht einmal Wiedererkennen. Noch schlimmer muss es sein, wenn man jemand wie John Prescott ist. Man weiß, dass man dick und hässlich ist und zu anständig, um den Spitzenjob zu bekommen. Stellen Sie sich mal vor, Sie arbeiten Ihr ganzes Leben als Politiker und bekommen dann doch nicht, was Sie wollen. Wie sehr muss er Tony Blair beneiden. Ich frage mich, ob er davon träumt, Tony würde ein gewaltsames Ende finden und die Queen würde ihn bitten, den Posten des Premierministers zu übernehmen. Nun, ich habe Neuigkeiten für dich, John. Du wärst nicht mehr als ein Lückenbüßer, dafür würde schon Peter Mandelson sorgen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich fühle mich nicht ganz und gar mies bei dem, was ich tue. Ich hätte bloß gern noch ein paar Dreingaben - oder überhaupt irgendeine Dreingabe. Beispielsweise ein paar Untergebene. Doch wenn man freiberuflich arbeitet, gibt es so etwas eben nicht. Ich glaube, das ist ein Grund für viele Leute, sich Kinder anzuschaffen. Dann haben sie jemanden, den sie anbrüllen können. Aber im Großen und Ganzen habe ich nichts gegen meine Arbeit. Jedenfalls, solange ich nicht weiter drüber nachdenke. Wenn ich nachdenke, wird mir klar, dass ich lebe wie der Typ in Und täglich grüßt das Murmeltier. Immer wieder das Gleiche, Tag für Tag, und das Einzige, was sich abgesehen von Kleinigkeiten verändert, ist die Tatsache, dass ich älter werde. 61
Vielleicht habe ich auch irgendwo etwas übersehen. Ich dachte, ein Job sollte wichtig sein und dem Leben einen Sinn geben. Für mich kann sich ein Job nicht nur ums Geld drehen. Wenn das so wäre, dann könnte ich auch Crack verkaufen oder irgendwo in der City arbeiten. Ein Job ist in erster Linie ein Job. Etwas, das den Tag ausfüllt, damit man halbwegs beschäftigt ist. Damit man nicht ständig darüber nachdenkt, was man tun würde, wenn man den Job nicht mehr hätte. Was ja eines Tages sowieso passieren wird. Niemanden wird es kümmern, und selbst wenn man sich für unentbehrlich hält, man ist es nicht. Ein anderer wird kommen und die Sache genauso gut machen. Vielleicht sogar noch besser. Letzten Endes sorgt ein Job nur dafür, dass die Leute ein paar Jahre von der Straße sind, wo sie am Ende noch herumlaufen und sich gegenseitig umbringen würden. Jetzt mal abgesehen von den Jobs bei der Army, wo man genau dazu ausgebildet wird. Ein Job hat nur den Wert, den man ihm beimisst und nur in dem Maße, wie man sich mit dem Job und seinem Leben besser fühlt. Sobald man das einmal erkannt hat, ist man im Arsch. Man kann nicht aufhören, das zu machen, was man macht, weil man es besser macht als alle anderen, die einem sonst noch einfallen, und weil die Vorstellung, man würde überhaupt nichts mehr tun, noch schlimmer ist. Aber wenn man einfach weitermacht, kommt eben auch nichts dabei heraus. Wenn man hat, was man immer wollte, entpuppt es sich als Illusion. An diesem Punkt spielen manche Menschen mit 62
dem Gedanken, Therapeut zu werden. Denken Sie nur an unseren großen Anführer Tony Blair. Der Mann benimmt sich eher wie ein Lebensberater als wie ein Politiker. Er predigt und er hat sich eine Sprache angeeignet, die sagt, dass er unsere Nöte wirklich versteht. Glauben Sie mir, er hat das nicht getan, weil er denkt, er würde damit als Politiker eine bessere Figur machen. Es passiert ganz ohne sein Zutun. Er ist so sehr von seiner inneren Nichtigkeit zerrissen, dass er sich vor unseren Augen in einen Allwissenden verwandelt. Denn was ist verführerischer für einen Mann, der sich mit seinen eigenen Fehlschlägen auseinander setzen will, als seine Zeit mit den Fehlschlägen anderer Leute zu verbringen und dafür auch noch Geld zu kassieren? Auf diese Weise fühlt man sich im Vergleich zu denen nicht mehr ganz so sehr wie ein Versager. Außerdem kann man sich noch darauf berufen, dass man den Leuten doch helfen wolle. Stellen Sie sich das mal praktisch vor. »So, und was bedrückt Sie nun?« »Ich habe meinen Job verloren und meine Freundin vögelt mit David Mellor.« Wundervoll. Gott sei Dank sieht mein Leben nicht ganz so schlimm aus. »Und wie fühlen Sie sich dabei?« »Ziemlich elend.« Das kann ich ihm nicht durchgehen lassen. Ich stoße ihn am besten direkt mit der Nase darauf. »Nur ziemlich elend, sagen Sie? Es klingt aber so, als würden Sie es eigentlich für viel schlimmer hal ten.«
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»Sie haben Recht. Es ist eine einzige Katastrophe.
Was soll ich nur tun?«
»Was glauben Sie denn, was Sie machen sollten?«
»Keine Ahnung. Deshalb frage ich Sie ja.«
»Unsere Zeit ist für heute um. Nächste Woche wer
den wir uns mit der Frage beschäftigen, warum Sie
von mir erwarten, ich müsste Ihnen alle Antworten
liefern. Das macht dann 35 Pfund, bitte.«
Aber bevor Sie jetzt losgehen und eine Privatpraxis
aufmachen, sollten Sie auch an die Nachteile
denken. Es kann deprimierend sein, sich die ganze
Zeit mit Versagern herumzuschlagen. Stellen Sie
sich vor, Sie müssten jemandem wie mir zuhören,
der über sein erbärmliches kleines Leben jammert.
Ich persönlich kann mir nichts Schlimmeres
vorstellen. Wenn ich es mir recht überlege, ist das
wohl auch der Grund dafür, dass ich bei dem bleibe,
was ich habe.
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7 »Äh, hallo, John«, sagt Keith verlegen, während er verschiedene Drogen und entsprechendes Zubehör unter einer Zeitschrift verschwinden lässt. Partys machen in meinem Alter einfach keinen Spaß mehr. Früher habe ich einen Raum immer selbstbewusst betreten, auch wenn nur Fremde darin waren, weil ich von dem Gefühl getragen wurde, alles unter Kontrolle zu haben. Wenn man mich freundlich aufgenommen hat - Sie wissen schon, wenn man ausdrücklich zum Bleiben aufgefordert wird, sobald jemand Drogen herumgehen lässt -, war es gut, und wenn nicht, war es auch egal, weil ich selbst genug dabeihatte. Aber heute bleibe ich - wenn ich überhaupt einmal eingeladen werde - lieber in der Küche und hänge bei den anderen Versagern herum, die zu ängstlich sind, sich draußen blicken zu lassen. Ich weiß, wo mein Platz ist. Ich bin einer der Erwachsenen, die toleriert werden, solange sie es nicht übertreiben. Aber hin und wieder muss man mal aufs Klo - nur zum Pinkeln, wohlgemerkt, nicht wegen irgendwelcher schräger Sachen. Und dabei läuft man eben Gefahr, auf jemanden wie Keith zu stoßen, den man ein paar Mal zusammen mit Kollegen auf der Arbeit getroffen hat und der mindestens zehn Jahre jünger ist als man selbst. »Hallo, Keith«, sage ich so nonchalant wie möglich. Eine knifflige Sache, weil ich mir nicht sicher bin, dass die coolste Art und Weise, mit der Situation umzugehen,
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darin besteht, ihn spüren zu lassen, dass ich Be scheid weiß und es mir ziemlich egal ist, oder ob ich die Sache besser gleich ganz ignorieren soll. »Schön, dich hier zu treffen«, antwortet er, was na türlich glatt gelogen ist. Er schaut ängstlich auf. Ich glaube, er hat sich ernstlich Sorgen gemacht, ich könnte ihn auf der Stelle vorübergehend festnehmen. Gar keine so schlechte Idee, wenn ich es mir recht überlege. Also pass bloß auf. »Schön, dich zu sehen«, antworte ich, was ebenfalls eine glatte Lüge ist. Manchmal hasse ich mich. Genau genommen hasse ich mich sogar die meiste Zeit. Warum bin ich nur so ein Weichei? Warum musste ich den bequemen Ausweg wählen und so tun, als hätte ich sein Zubehör nicht bemerkt? Warum lasse ich mich zu diesem tumben Geplauder herab, bei dem sowieso keiner etwas gewinnt? Wo man nicht einmal Wetten auf den Sieger abschließen kann? »Wie geht's denn so?« »Gut, und selbst?« »Ganz prima.« Ach, wirklich? Na, du siehst mir aber nicht danach aus. Du schwitzt wie ein Schwein, dir platzen gleich die Augen aus den Höhlen und aus der Nase rinnt Blut. »Äh - brauchst du noch lange? Ich müsste mal drin gend pinkeln.« »Äh - ich bin gerade beschäftigt. Könntest du viel leicht noch einen Moment warten?« »Aber klar doch.« So ein Waschlappen kann man werden. Ich muss
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pinkeln und er nicht. Er ist im Klo und ich bin drau ßen. Und ich bin derjenige, der warten darf. Ein paar Minuten später tauchte Keith wieder auf und murmelte etwas Verlegenes wie: »Danke, dass du gewartet hast, Mann.« »Mann«. Es gibt Typen, die nennen dich sofort »Mann«, obwohl sie gerade mal ein OCB-Blatt auch nur angeschaut haben. »Kein Problem.« Kein Problem? Was für ein Unsinn. In Wirklichkeit meinte ich: Von mir aus kannst du einen Herzinfarkt bekommen, die Treppe runterfallen und an deinem Erbrochenen ersticken. Man glaubt es nicht. Da kommt mir ein Kerl entge gen, der sich bis zum Anschlag vollgekokst hat, und ich bin eifersüchtig. Oder ist das Neid? Ich kann das nie richtig auseinander halten. Ausgerechnet Koks, du lieber Gott. Die am meisten überschätzte, nutzloseste Droge, die es überhaupt gibt, und ich wünsche mir, ich hätte etwas abbekommen. Was ist bloß los? Ich habe ein fortgeschrittenes Alter erreicht - also, um ehrlich zu sein, habe ich es wohl schon vor zehn Jahren erreicht -, in dem ich nicht mehr herumlaufen und mich wie ein Trottel benehmen kann, das ist los. Mein Körper hält das nicht mehr aus und mein Kopf erträgt es nicht, dauernd strubbelig zu sein. Außerdem sind Drogen etwas für junge Leute. Ich meine, was würden Sie denken, wenn Sie einen vierzigjährigen Angestellten einer Werbeagentur sehen, der völlig zugedröhnt herumspringt und zu Radiohead tanzen will? So ein Trottel, würden Sie sagen.
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Nehmen Sie mal William Burroughs. Ein paar Lite raturtypen, die nicht weiter sehen können als bis zum Ende ihrer Fixernadel, halten ihn für so etwas wie ein literarisches Genie. Geht's noch absurder. Der Mann wurde doch nur berühmt, weil er ein Junkie war und jemanden erschossen hat - ich weiß nicht mehr wen - und weil er ein mäßig spannendes Buch geschrieben hat. Über wen? Raten Sie mal. Über einen Junkie. Danach hat er nur noch einen Haufen Unsinn von sich gegeben, den niemand mehr in Frage zu stellen wagte. Ich sage ja nicht, dass der Mann kein Talent hatte, aber er hat einfach niemals lange genug aufgehört, Drogen zu nehmen, um es wirklich überprüfen zu können. Das Problem ist, dass ein Teil von mir immer noch denkt, es wäre ziemlich cool, Drogen zu nehmen. Ich weiß, das ist lächerlich, aber was will man machen. Ich kann nichts dagegen tun. Wahrscheinlich hasse ich deshalb inzwischen jeden, der Drogen nimmt. All dieser Mist, den man dauernd hört, dass Haschisch legalisiert und Heroin entkriminalisiert werden sollte, geht mir echt auf die Nerven. Was mich betrifft, so sage ich nur: Wenn es für mich nicht okay ist, dann ist es auch für niemand anders okay. So einfach ist das. Keine Ausnahmen. Statt in diesem neuen Wischiwaschiliberalismus zu zerfließen, sollten wir lieber energisch durchgreifen. Wie wäre es mit der Todesstrafe für den Besitz aller Arten von Drogen? Oder mindestens lebenslänglich. Wir könnten dann beobachten, wie schnell die Junkies auf Entzug kommen. Äh ... was meine letzte Bemerkung angeht ... das
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war doch nicht übertrieben, oder? Na ja, ein bisschen vielleicht. Aber behalten Sie es bitte für sich. Unser kleines Geheimnis. Denn normalerweise sage ich so etwas natürlich nicht in der Öffentlichkeit. Wenn man so hart urteilt, wird man als Psychopath oder vielleicht sogar als ToryAbgeordneter eingestuft. So oder so verliert man eine Menge Freunde, und ich kann es mir nicht leisten, noch mehr Freunde zu verlieren. Deshalb habe ich mir zwangsläufig einen etwas freundli cheren Ton angeeignet, wenn ich meinen Standpunkt dazu erkläre. Das klingt dann ungefähr so: »Mir ist klar geworden, dass ich aufhören musste, Drogen zu nehmen. Ich habe festgestellt, dass es keinen Spaß mehr gemacht und sogar mein Leben beeinträchtigt hat. Prinzipielle Einwände dagegen habe ich aber nicht. Wenn du dir einen drehen willst, dann mach nur.« Nicht schlecht, was? Und dabei völlig offen und ehrlich. Wenn Sie den Übergang von »Nimmt Drogen« zu »Nimmt keine« schaffen wollen, müssen Sie irgendwie Ihre Glaubwürdigkeit bewahren. Sie müssen beiläufig durchblicken lassen, dass Sie früher ein richtig harter Bursche waren und den Vorrat für ein dreitägiges Festival an einem Nachmittag durchgezogen haben. Dass Sie mehr Magenspülungen als warme Mahlzeiten genossen haben. So Sachen. Aber Sie müssen beim Erzählen vorsichtig sein, weil der Grat zwischen sehr, sehr hart und sehr, sehr dumm wirklich schmal ist. Und die meisten Leute verstehen sowieso alles falsch. Als ich noch in meiner Drogenlehrzeit war - Sie wissen schon, die Phase, in 69
der Sie lernen, einen Joint zu bauen, ohne dass Ihnen in den Händen alles zu Krümeln zerfällt -, habe ich einmal alle Hoffnung verloren. Ich war denkbar ungeschickt mit Fingern und Daumen und begann sogar zu zittern. Besonders wenn Mädchen in der Nähe waren. Aber dann traf ich einen alten Hippie und war innerlich bereit, mich tief beeindrucken zu lassen. Anfangs war ich es sogar wirklich. Bis er dann den Mund aufgemacht und darüber gelabert hat, dass er zu Hawkwind auf dem Windsor Festival einen Trip einwerfen und beim Genesis-Konzert hinter der Bühne Dope rauchen wollte. Was für ein Trottel, dachte ich da nur noch. Die Leute kapieren es immer noch nicht. Sehen Sie sich doch nur mal diesen Howard Marks an, diesen so genannten Mr. Nice. Der Mann muss mindestens fünfzig sein und kann offenbar immer noch nichts anderes als darüber schwadronieren, wie viel Dope er geschmuggelt hat und dass er einfach nur versucht hätte, den Leuten einen Gefallen zu tun. Yeah, Friede und Liebe sei mit dir, Howie. Ich meine, was für eine erbärmliche Art das ist, sein Leben wegzuwerfen. Stellen Sie sich nur vor, wie es sein muss, mit ihm zu reden. »Sagen Sie mal, Howard, was haben Sie denn in der letzten Zeit so gemacht?« »Ich war im Gefängnis.« »Oh, du meine Güte.« »Yeah, das war wirklich heavy. Die Bullen haben mich erwischt, als ich Dope schmuggeln wollte.« »Na ja, was haben Sie erwartet?«
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»Was meinen Sie damit, Mann?« »Ich meine, Sie haben Dope geschmuggelt, man hat Sie erwischt, Sie sind ins Gefängnis gekommen. Das hätte sich ein Zehnjähriger ausrechnen können.« »Yeah, aber das System ist so unfair, Mann.« Spätestens wenn die Unterhaltung hier angelangt ist, fühlen Sie sich unheilbar gelangweilt. Dann liegt es an Ihnen, etwas zu unternehmen, denn Howard ist so von sich eingenommen, dass er einfach nicht merkt, wie er sabbert, sich wiederholt und alles in allem ein völlig überflüssiges Lebewesen ist. Eigentlich kann man sich dann nur noch fragen, ob man ihn umbringt oder sich selbst. Um Gottes willen, Howard, nun reiß dich doch zusammen. Lass dir die Haare schneiden und bewirb dich bei der Army oder so. Aber hör bitte auf, so eine peinliche Figur abzugeben. Manche Leute haben einfach kein Schamgefühl. Aber lassen Sie uns für einen Augenblick einfach mal annehmen, Sie wären unter den wenigen Glücklichen, die ihren mittleren Lebensabschnitt erreichen, ohne sich bei allen, die jünger sind als Sie, zum Affen zumachen. Das ist jetzt rein hypothetisch. Offensichtlich. Ich wollte das nur einwerfen, bevor Sie es tun. Egal - jedenfalls ist man selbst dann noch meilenweit davon entfernt, wirklich anerkannt zu werden. Man muss nämlich immer noch lernen, mit den Leuten zu reden. Sie müssen dazu wissen, dass Drogen das perfekte Mittel gegen jede Art von Kommunikation sind. Sie fühlen sich angespannt oder nervös? Werfen Sie was ein. Irgendetwas. Wenn Sie dann wohlbehalten in Ihrem 71
Kokon sitzen, in Ihrer eigenen Welt, ist alles andere unwichtig. Wenn Sie sich ein paar Linien Speed oder Coke reingezogen haben, haben Sie kein Problem mehr damit, über absolut nichts sagenden Unfug zu quatschen, während Sie sich für unglaublich faszinierend halten. Wenn Sie stoned sind, sitzen Sie normalerweise sowieso bloß verzückt herum und starren die Tapete an. So oder so können Sie sich glücklich schätzen, dass Sie nichts mehr fühlen müssen. Wenn Sie nichts fühlen, sind Sie für niemanden zu erreichen. Sagen Sie mir, dass ich mittlerweile ein nutzloser, angekahlter Depp bin, und es wird mir unendliche Qualen bereiten. Nein, wird es nicht, weil Sie mir damit ja nur etwas sagen, das ich sowieso schon weiß. Aber sagen Sie das Gleiche zu jemandem, der zugedröhnt ist, und er wird nur mit den Achseln zucken. Drogen geben Ihnen eine ähnliche innere Überlegenheit wie ein Frühstück mit Biomüsli. Irgendwie wissen Sie einfach, dass Sie Recht haben und alle anderen sich irren. Die Drogenkonsumenten nennen das einen erweiterten Bewusstseinszustand. So kann man sich irren. Passen Sie auf. Sie können es wahrscheinlich ein fach nicht mehr hören, dass die Frauen immer sagen, wie abweisend die Männer wären und wie sehr sie sich nach jemandem sehnen, der emotional zugänglicher ist. »So jemanden findest du nirgends, Liebling. Nicht einmal im Supermarkt.« Aber wie kommt es dann, dass auf jeder Party ausgerechnet die Typen, die launisch und überheblich sind und keinen klaren Satz
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herausbekommen, von Frauen umschwärmt werden? Entweder den Frauen sind die Fantasien von zugänglichen Männern wichtiger als die Männer selbst oder sie können der Versuchung nicht widerstehen. Oder sie hoffen, zu einem Joint eingeladen zu werden. Die letzte Möglichkeit schien mir immer die wahr scheinlichste zu sein. Ich habe oft gestaunt, wie viel Langeweile sich manche Leute gefallen lassen, nur weil sie hoffen, am Ende etwas umsonst zu bekom men. Warum sonst verbringen die Leute so viel Zeit mit einem Kokser? Wie erbärmlich das ist. All die Leute, die ihre Fleetwood-Mac-Platten auflegen und hoffen, gleich käme Stevie Nicks oder Lindsay Bu ckingham herein und würde ihre Vorräte mit ihnen teilen. Kein Wunder, dass so viele Typen Drogen nehmen. Es ist die einzig zuverlässige Methode, garantiert eine Frau ins Bett zu bekommen. Wenn man nicht stoned ist, sondern nur herumhängt und so tut, als wäre man es, kommt man mindestens zum Knutschen, ehe das Mädchen merkt, dass man nicht das hat, was sie will. Auf das Image kommt es an. Kein Mädchen will einen sauberen, anständigen, zuverlässigen Mann. Es sei denn, sie will heiraten. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Die paar Erfolge, die ich in meiner Jugend bei den Frauen verbuchen konnte, hatte ich ausschließlich einem Typ namens John zu verdanken. Ehrlich, er hieß wirklich so. Er hat mir nicht nur gezeigt, wie man die verschiedenen Arten von Drogen unterscheiden kann, sondern auch, wie man zurechtkommt, ohne mit den 73
Frauen zu reden. Man sitzt einfach nur da, kramt mit seiner Ausrüstung herum und wartet, bis die Frauen antanzen. Man sagt überhaupt nichts oder gibt höchstens ein beiläufiges »Hi« von sich, und dann ein »Willst du auch was?«, wenn man sie wirklich mag. Es funktionierte perfekt, weil man nie Gefahr lief, abgewiesen zu werden. Wenn sie dich nicht leiden konnte, blieb ihr nichts anderes übrig als ein paar kluge Bemerkungen zu machen und blind herumzuraten, ob man heiß auf sie war oder nicht. Je länger sie blieb, desto deutlicher musste sie schließlich werden, bis man sie so weit hatte, dass sie jede Zurückhaltung über Bord warf und sagte: »Willst du mit mir ins Bett gehen?« Die Antwort »Gott, ich dachte schon, du würdest niemals fragen«,kam allerdings nie besonders gut an. Eins der Dinge, auf die ich wirklich stolz bin, ist die Tatsache, dass ich noch nie eine Frau gefragt habe, ob sie mit mir ins Bett geht. Manchmal musste ich gewisse Andeutungen machen und vom Wohnzimmer bis zum Schlafzimmer eine Fährte von Drogen auf den Teppich legen, aber ich musste es noch nie aussprechen. Wenn ich es mir recht überlege, ist das vielleicht der Grund dafür, dass so viele meiner Exfreundinnen Junkies waren. Nein, war nur ein Scherz, Julia. Diese Methode, Frauen aufzureißen, hat zwar den Nachteil, dass man nicht wissen kann, wie viele Gelegenheiten man ausgelassen hat, aber insgesamt ist es ein guter Ausgleich dafür, dass man nie Worte wie diese zu hören bekommt: »Du bist der widerlichste Mensch, den ich je gesehen habe. Ich würde lieber
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sterben als mit dir zu vögeln.« Doch leider ist man emotional gesehen noch im Alter eines Vorpubertie renden, wenn man aufhört, Drogen zu konsumieren. Auf einmal ist man ein Erwachsener mit schütterem Haar und weiß immer noch nicht, was man einem Wesen des anderen Geschlechts sagen soll. Vielleicht hatten Sie ja das Glück, in Ihrer Drogenzeit eine Partnerin zu finden, so dass Sie nicht mehr auf der Suche sind, aber es ist trotzdem ein Albtraum. Manche Männer weichen der Tatsache, dass sie nichts zu sagen haben, aus, indem sie zur Flasche greifen. Ich glaube, sie halten die Säufernase, den schwellenden Bauch und die peinlichen Flecken auf der Hose für einen Preis, den sie für den Seelenfrieden eben zahlen müssen, aber ich bin mir da nicht so sicher, und das macht das Leben für mich etwas komplizierter. Denn was wollen Sie sagen und wie sagen Sie es, ohne den Eindruck zu erwecken, Sie würden ein Bewerbungsgespräch führen? Fangen Sie an mit »Hallo, wie geht's, wie steht's?«, oder versuchen Sie lieber etwas Riskanteres wie: »Was halten Sie eigentlich vom neuen Haushaltsentwurf?«; was dazu führen könnte, dass Sie aus dem Stegreif einen möglichst intelligenten eigenen Standpunkt entwickeln müssen. Und wie können Sie unterscheiden, ob der glasige Blick Ihres Opfers bedeutet, dass sie ins Krankenhaus muss, oder ob sie einfach nur gelangweilt ist? Mich dürfen Sie da nicht fragen. Ich hatte angenommen, dieses Leben ohne Drogen müsste auch irgendeinen Vorteil haben. Einmal, so nahm ich an, würde sich meine Beziehung zu
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meiner Frau verbessern, und außerdem müsste ich doch jede Menge Geld übrig haben. Zweimal Fehlanzeige. Zuerst einmal die Beziehung. Technisch gesehen, also, im Hinblick auf Gefühle vielmehr therapeutisch gesehen, muss ich wahrscheinlich einräumen, dass die Beziehung sich verbessert hat und gehaltvoller zu sein schien. Ein Therapeut hätte uns sofort zehn von zehn Punkten für unsere Bereitschaft gegeben, uns mit Sachen auseinander setzen. Falls Ihnen die Vokabeln nicht geläufig sind: die »Sachen« sind ein sehr präziser therapeutischer Begriff für viele Konflikte, und was das bedeutet, können Sie ja selbst nachschlagen. Aber all das heißt noch lange nicht, dass es wirklich besser wurde, denn wir haben uns dauernd gestritten. »Ich lege dann mal Van Morrison auf«, sagte sie provozierend. »Das kannst du nicht machen«, antwortete ich. »Wieso nicht?« »Weil ich ihn hasse.« »Na ja, ich aber nicht«, sagte sie wenig einsichtig. »Aber das ist Schrott. Wenn man völlig stoned ist, kann man es gerade noch aushalten, aber nüchtern ist es einfach unerträglich.« »Es ist mir egal, was du denkst. Ich lege die CD jetzt auf.« Und das tat sie dann. Jetzt seht euch das mal an. Es ist ihr völlig egal, wie ich mich fühle. Was habe ich ihr bloß alles durchgehen lassen, als ich stoned war? Eine Schande, dass ich mich nicht erinnern kann, aber ich habe so einen Verdacht,
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dass es ungeheuer viel gewesen sein muss. Es wird Zeit, dem einen Riegel vorzuschieben. »Ich nehme das runter und lege Schubert auf.« »Das wirst du nicht, verdammt.« »Und ob. Pass mal auf. Ich mag Schubert, du magst Schubert. Ich hasse Van Morrison, du magst Van Morrison. Also wirst du Van Morrison hören, wenn ich nicht in der Nähe bin.« Manchmal staune ich über meine eigene Brillanz. Sie fand das weniger gut. »Du wirst mir, verdammt noch mal, nicht sagen, was ich tun und lassen soll.« »Warum denn nicht?« Wahrscheinlich war das an gesichts der Umstände nicht gerade die klügste Antwort. Ach, zum Teufel damit. »Du fragst, warum nicht?« Über das, was dann folgte, wollen wir den Schleier des Vergessens decken. Belassen wir es bei der Bemerkung, dass es kindisch und gemein war. Der Streit war damit aber nicht erledigt. Er sollte viele verfeinerte Neuauflagen erleben, doch das Hauptthema blieb immer das gleiche. Der Verzicht auf Drogen hatte die Bedingungen daheim verän dert, und ich war nicht mehr so einfach wie früher bereit, mich den Wünschen meiner Frau zu beugen. Überflüssig zu erwähnen, dass sie dies als Ausbruch von Faschismus und Macho-Gehabe interpretierte, aber ganz so simpel war es nicht. Ich dachte vielmehr: Nachdem ich schon einen großen Teil meines Lebens verschwendet habe, soll mich der Teufel holen, wenn ich auch nur noch eine weitere Sekunde
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vergeude. Ganz besonders nicht mit Typen wie Van Morrison. All das kostet Geld, und an dieser Stelle kommen jetzt die erhöhten Ausgaben ins Spiel, die man hat, wenn man keine Drogen mehr nimmt. Denn all die Platten und die anderen Kulturgüter, auf die man stolz war, solange man Drogen genommen hat, werden auf einmal entsetzlich peinlich. Also muss man sie durch bessere ersetzen. Manche Leute sind zu knauserig dazu. Das ist ein großer Fehler, denn dann steht man auf einmal in der Ecke und muss so tun, als würde man immer noch die gleichen Dinge mögen wie früher. Sogar reiche Leute machen manchmal diesen Fehler. Denken Sie doch nur an Eric Clapton. Der Mann ist Multimillionär, aber was hat er gemacht, seit er vom Schnaps und den Drogen losgekommen ist? Er bringt das gleiche langweilige Zeugs heraus wie vorher. So etwas kann man doch nicht mögen. Was für eine Schande. Wenn er das Selbstwertgefühl gehabt hätte, ein paar tausend Pfund für eine neue Plattensammlung auszugeben, hätte er vielleicht noch etwas aus sich machen können. Mit der neuen Plattensammlung meine ich natürlich eine Sammlung alter Platten. Also genauer gesagt, klassische Platten. Alle sagen mir, ich wäre ein alter Knacker geworden, aber was mich angeht, so ist die Tatsache, dass ich keine Popmusik mehr hören muss, der einzige Vorteil, den ich im Älterwerden überhaupt erkennen kann. Für einen vierzigjährigen Mann ist es ja auch weniger peinlich, ein Streichquartett von Beethoven statt eine CD von Portishead zu kaufen. Fragen
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Sie meine Frau. Tut mir Leid, das war ein wenig il loyal. Die armen Leute von Portishead. Die Band würde sofort einpacken, wenn sie wüssten, dass Vierzigjährige sich für ihre Musik interessieren. Aber vergessen wir mal all die kulturellen Gründe dafür, dass man die Finger von den Drogen lässt, wenn man älter wird. In gewisser Weise ist das so wieso nur ein Nebenaspekt. Der wichtigste Grund dafür, keine Drogen mehr zu nehmen, ist der, dass man sich damit etwas schenkt, auf das man sich freuen kann, wenn man wirklich alt wird. Also Sterbensalt. Denken Sie mal drüber nach. Mindestens jeder Dritte stirbt an Krebs. Es könnte Sie treffen oder mich. Und was werden Sie dagegen tun? Ich habe jedenfalls meine Pläne. »Mr. Crace, ich habe leider sehr schlechte Neuigkeiten für Sie. Sie haben einen inoperablen Tumor.« »Oh, mein Gott. Kann ich dann etwas Morphium bekommen?« »Haben Sie starke Schmerzen?« »Unheimlich starke Schmerzen.« »Also gut, wie viel wollen Sie?« »Wie viel haben Sie denn da?« Solange Sie noch Drogen nehmen, kann die Neuig keit, dass Sie unheilbar krank sind, schrecklich deprimierend sein. Wenn Sie es anpacken wie ich, sehen Sie sofort den Silberstreif am Horizont. Wer sagt da, es würde sich nicht lohnen, vorausschauend zu denken?
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»Daddy?«
»Ja?«
»Wasndas?«
»Was ist was?«
»Das da«, sagte Tom und deutete auf den
Rasenmäher.
»Das ist ein Rasenmäher.«
Pause.
»Daddy?«
»Ja?«
»Wasndas?«
»Was ist was?«
»Das da«, sagte Tom und deutete auf den
Rasenmäher.
»Das ist immer noch ein Rasenmäher, mein
Lieber«, antwortete ich etwas gereizt.
Pause.
»Daddy?«
»Ja-ha?«
»Wasndas?«
»Was denn?«
»Das da«, sagte Tom und deutete auf den
Rasenmäher.
»DAS IST EIN VERDAMMTER RASENMÄHER,
VERDAMMT NOCH MAL.«
Pause.
»Daddy?«
»Ja.«
»Was heißt verdammt?«
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Hätte ich diese Art von Unterhaltung - falls man es überhaupt so nennen kann - nicht schon mit meiner Tochter Jo erlebt, als sie in Toms Alter war, ich hätte mir ernstliche Sorgen gemacht, dass unser Zweijähriger dumm wie Weißbrot war. Seine Fähigkeit, auch die einfachsten Informationsbröckchen zu speichern - abgesehen von den Vokabeln »Schwert« und »Comic« -, ist derart schwach entwickelt, dass er sich wahrscheinlich jeden Morgen fragt, wie er in das Haus gekommen ist, in dem er aufwacht. Die Sozialarbeiterin - pardon, die Gesundheitsbera terin - sieht das etwas anders. Sie beharrt darauf, Tom sei völlig normal, und die endlosen Fragen wie »Wer bin ich?«, seien nur ein Ausdruck eines wachen, forschenden Geistes. Mir kamen diese Einwände aber eher vor wie ein Antrag auf mildernde Umstände. Als ich noch ein Kind war, hatte man sich gefälligst daran zu erinnern, dass ein Rasenmäher ein Rasenmäher war, wenn ein Erwachsener es einem gesagt hatte. Sonst setzte es nämlich eine Tracht Prügel. All dieses Getue von wegen »Seid nett zu den Kindern, lasst sie die Dinge selbst herausfinden« soll nur von der Tatsa che ablenken, dass das Niveau den Bach runtergeht. Außerdem hat diese Sache noch einen beunruhigenden Nebeneffekt. Sie lassen Ihrem kleinen Schatz alles Mögliche durchgehen, weil das ein Teil seines Wachstums ist, während der Satansbraten ganz andere Pläne verfolgt. Denn der Hauptzweck jedes Kindes ist es, die Eltern zu verschleißen. »Weißt du, John, die Kinder sorgen dafür, dass du 81
jung bleibst.« Das war eine der wirklich eigenartigen Bemerkungen, die meine Mutter kurz nach Jos Geburt gemacht hat. Selbst in meinem völlig entnervten, umnachteten Zustand konnte ich noch erkennen, dass das kompletter Blödsinn war. Ich meine, was hat sie sich dabei nur gedacht? Ihr Haar ist mit dreißig grau geworden, und so weit ich es überblicken kann, ist es mit ihr seitdem stetig bergab gegangen. Vielleicht ist ihre eigene Kindheit derart unglücklich verlaufen, dass es ihr im Vergleich dazu wie ein Kuraufenthalt vorkam, drei eigene Kinder auszuhalten. Wenn das so war, dann verdient die arme Frau nach allem, was wir ihr angetan haben, wahrlich unser Mitgefühl. Aber ich denke, man braucht solche Mythen, wenn man Kinder hat, weil sonst niemand mehr welche bekommen würde. Es sei denn versehentlich. Denn alle Eltern entscheiden sich unweigerlich, Kinder zu bekommen, wenn ihnen bewusst wird, dass sie a) im Beruf so weit gekommen sind, wie sie über haupt kommen können b) von ihren eigenen Eltern wie Erwachsene behan delt werden wollen c) nicht recht wissen, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollen. Natürlich reden sie sich ein, dass alles wundervoll, aufregend und vor allem jugendlich-frisch ablaufen müsse. Kinder werden zum Ausdruck ihrer vermeintlichen Unsterblichkeit. Es wird Zeit für ein Geständnis. Ich bin auf all dies hereingefallen. Ehrlich. Ich bin voll in die Falle gegangen. Ich dachte, die Kinder würden mir neue Energie
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schenken und meinem Leben wieder eine neue Richtung geben. Ganz falsch war das nicht, aber ich habe eben nicht damit gerechnet, dass der Richtungspfeil unweigerlich bergab zeigen würde. Jeder weiß, dass Teenager ihre Eltern für Armleuchter halten, aber die meisten wissen nicht, dass diese Einstellung schon direkt nach der Geburt entsteht. Kinder sollen ihre Eltern ersetzen. Wir reden hier über pathologische Fixierungen. Mit »Ersetzen« meine ich »Töten«. Denken Sie doch mal an ein Neugeborenes, das in der Nacht schreit. Eine Interpretation ist die, dass es hungrig und einsam ist und Milch haben und gedrückt werden will. Genau das sollen Sie auch denken, wenn Sie sich von Ihrem »armen kleinen Liebling« einlullen und sich einreden lassen, »was ich doch für ein großartiger Vater bin, dass ich dem Kleinen gebe, was er braucht«. Aber gleichzeitig passiert etwas ausgesprochen Hinterhältiges. Dieses Geschrei soll nämlich die Eltern auszehren. Das kleine Luder wartet, bis Sie gerade wieder eingeschlafen sind, und dann brüllt es: »Waah.« Wenn es das zwei- oder dreimal in der Nacht tut, sind Sie irgendwann fix und fertig. Dem Kind macht das überhaupt nichts aus, weil es auch tagsüber da und dort eine Mütze voll Schlaf kriegen kann. Aber Sie können das nicht, Sie müssen ja arbeiten. Also neigt sich die Kurve sofort nach unten. Bald sind Sie so geschafft, dass Sie Ihren Job nicht mehr ordentlich machen und sich jede Hoffnung auf eine Beförderung abschminken können. Und das war's dann. Ihr Leben ist vorbei. Manchmal sogar
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ganz wörtlich. Denn in Wirklichkeit hofft Ihr Kind ja, dass Sie am Steuer einschlafen und Ihr Auto und sich selbst in einen Totalschaden verwandeln. Das ist der Jackpot. Falls Sie glauben, das Kind würde sich damit selbst schaden, weil dann ja keiner mehr da ist, der es versorgt, dann sollten Sie allmählich mal zu Verstand kommen. Die Kinder haben sich weiterentwickelt. Heutzutage werden sie schon mit dem Wissen um Sozialämter und Pflegeeltern geboren. Allerdings ist mir nicht ganz klar, inwieweit das alles mit dem Ödipus-Komplex zu tun hat. Ich bin ziemlich sicher, dass Neugeborene nicht besonders darauf achten, welcher Elternteil zuerst ausgeschaltet wird, und wenn sie älter werden, ist der Tod eines beliebigen Elternteils so oder so ein großer Sieg. Aber irgendwann kommen sie in ein Alter, in dem das Töten - falls man den Kindern ihre Vorlieben lassen würde - sich an der Geschlechtszugehörigkeit orientiert. Jungen wollen ihre Väter umbringen, Mädchen die Mütter. Jo als die Älteste war die Erste, die diese Neigungen zeigte. »Ich will meine Mami.« »Was ist denn los, Kleines?«, sagte ich, als ich zu ihr stürmte. »Ich will meine Mami.« »Ist schon gut, ich bin doch hier.« »Will dich nicht. Will Mami.« »Mami ist oben.« Jede Menge Geheule, dann: »Ich will meine Mami.« »Sag mir doch, was los ist.« 84
»Nein. Ich will meine Mami.« Spätestens zu diesem Zeitpunkt kam meine Frau die Treppe heruntergeschossen und gab sich große Mühe, ihr überlegenes Grinsen zu verbergen. »Nun komm schon und erzähl deiner Mami, was nicht in Ordnung ist«, sagte sie zuckersüß. »Mir ist so komisch.« Das hat mich sehr lange total genervt. Jo fühlt sich nicht gut, Jo schreit nach der Mami und Daddy fühlt sich mies, überflüssig und wertlos. Aber dann wurde mir klar, dass Jo mir einen Gefallen tat. Sie wusste, dass sie eine Versammlung von bösartigen, vielleicht sogar tödlichen Keimen in sich hatte, und wollte dafür sorgen, dass Mami sie bekam. Indem sie mich heraushielt, sagte sie mir: »Du bist mir wichtiger als Mami.« Weniger lustig war es, als Tom mit einer Lungenentzündung schrie: »Ich liebe dich, Daddy.« Abgesehen von Krankheiten bekommen Kinder nur selten die Gelegenheit, Mordanschläge auf ihre Eltern zu verüben. Das ist einer der Nachteile, wenn man so klein ist. Gott sei Dank. Aber das hielt Jo nicht davon ab, es einfach mal zu versuchen. Der jüngste derartige Vorfall war eine Sportveranstaltung in der Schule. Als meine Frau sich für den Wettlauf der Mütter zum Start aufstellte, rief Jo: »Los doch, Mami, du musst gewinnen.« Nur ein Idiot würde glauben, dass Kinder, die so etwas sagen, auf ihre Eltern stolz sein wollen. Die wahre Botschaft ist: »Ich weiß, dass du seit Jahrhunderten nicht mehr trainiert hast, und ich werde dich jetzt verleiten, dich zu übernehmen, damit du nach der halben Strecke tot umfällst.«
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Im Großen und Ganzen führen Kinder einen Zer
mürbungskrieg gegen ihre Eltern.
»Daddy?«
»Ja?«
»Ich will im Park meinen Drachen steigen lassen.«
»Aber es weht kein Wind.«
»Das ist mir egal.«
»Aber er wird einfach nicht fliegen, es ist sinnlos.«
»Ach, nun mach schon, Daddy. Bittebitte.«
Also lässt man sich darauf ein, weil man glaubt,
man wäre ein schlechter Daddy, wenn man es dem
Kind abschlägt. Und natürlich kommt der Drachen
nicht einen Zentimeter vom Boden hoch.
»Mach, dass er fliegt, Daddy.«
»Das kann ich nicht. Es weht kein Wind.«
Als ob man mit Vernunft etwas ausrichten könnte.
»Aber er soll fliegen.«
»Er kann nicht fliegen.«
»Katies Daddy hat ihren Drachen fliegen lassen.«
»Wahrscheinlich war es da windig.«
»Du bist auch zu nichts zu gebrauchen, Daddy.«
Genau darauf sollte es von Anfang an hinauslaufen.
Es ging gar nicht um den Drachen. Es ging darum,
mir zu zeigen, wie nutzlos ich bin. Das Gleiche mit
Jo und ihrem Fahrrad. Wenn sie sagt, dass sie Rad
fahren will, dann meint sie das nicht ernst. Ich soll
ihr fünf Minuten zu Fuß folgen, dann wird sie sagen,
dass sie Langeweile hat, und ich darf ihr Fahrrad
nach Hause tragen oder schieben.
Das alles zielt einzig und allein darauf ab, dass Sie
sich wertlos fühlen. Sie sollen den Tag Revue
passieren
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lassen und sich fragen: Was, zum Teufel, habe ich eigentlich den ganzen Tag gemacht? Sie sind herumgerannt und haben Ihre Kinder beaufsichtigt, die nicht wussten, was sie wollten, und danach haben Sie hinter den Kindern wieder aufgeräumt. Die ganze Sache war völlig sinnlos. Falls Sie sich für ein kompetentes, erfolgreiches und produktives Mitglied der Gesellschaft gehalten haben anscheinend gibt es tatsächlich Menschen, die sich so fühlen oder die sich so gefühlt haben -, dann wird dieser Glaube systematisch untergraben. Sie verwandeln sich in eine Maschine. Noch schlimmer, Sie werden zu einer sehr alten Maschine. Und Ihre Kinder haben keinerlei Hemmungen, es Ih nen vor Augen zu führen. Sie kommen damit sogar durch, weil ihre rücksichtslose Offenheit immer als bezaubernde Naivität entschuldigt wird. Das ist sie natürlich nicht. Es ist nur eine andere Form ihres angeborenen Sadismus. »Daddy?« Ich hasse es sowieso schon, wenn man mich im Bad stört, aber wenn es auch noch eins der Kinder ist, dann weiß ich, dass es nervtötend wird. »Was ist?« Man muss eben versuchen, nett zu ihnen zu sein. »Was sind das für weiße Flecken in deinen Haa ren?« Ach, die weißen Flecken. Als ob du das nicht wüss test. Als ob du mich nicht schon hundert Mal gefragt hättest. »Das sind keine weißen Flecken, Schatz. Das sind graue Haare.«
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»Ach so. Aber warum sind sie grau?« »Wenn man älter wird, werden die Haare grau.« Der nächste Dolch liegt schon bereit. Sie weiß ganz genau, wie sie mir den Todesstoß versetzen und dabei völlig unschuldig tun kann, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen. »Ach so. Du meinst wie Opa und Oma.« Augen zu und durch. »Hmm. So ähnlich.« Wahrscheinlich wird es Sie nicht einmal überra schen, wenn ich Ihnen sage, dass meine Frau diese Wortwechsel zwischen Jo und mir mit beträchtlichem Vergnügen verfolgt. Sie hat nämlich keine grauen Haare. Dafür sorgt schon dieser tuffige Carl, der ihr 80 Pfund abnimmt, nachdem er anderthalb Stunden um ihren Kopf herumscharwenzelt ist. Aus den Augen, aus dem Sinn, heißt es offenbar bei ihr. Sie verdrängt jegliche Erinnerung daran, dass ihre Haare irgendwann einmal eine andere Farbe hatten als den natürlichen, gesunden Ton, den sie jetzt trägt. Ich sage ja nicht, dass sie nicht auch ihre Achilles ferse hat. Nicht, dass ich es wagen würde, jemals laut darüber zu reden. An diesem Punkt sind Kinder sogar zur Abwechslung mal ganz nützlich. Eine kurze Bemerkung wie »Jo, wenn du schon nerven willst, dann nerv doch lieber deine Mutter, während sie sich anzieht, und frag sie, was es mit ihren Schwangerschaftsfalten auf sich hat«, funktioniert blendend. Aber es sind nicht nur die Kinder, die einem das Gefühl geben, man wäre ein Greis. »Und wer sind Sie ...?«
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Es war Jos erster Schultag, und ich lernte ihre Klas senlehrerin kennen. »Ich bin Jos Vater.« »Oh. Mr. Crace. Aber natürlich«, sagte sie unsicher. Miss Richards, wie Jo und ich sie nennen sollten, war Anfang zwanzig. Damit war sie Jos Alter erheblich näher als meinem und sie ließ es mich merken. Sie dachte wohl, ich wäre ein x-beliebiger langweiliger Erwachsener. Die über Vierzigjährigen sehen für junge Leute alle gleich aus, ich hätte daher ebenso gut Jos Großvater sein können. Miss Richards war natürlich sehr diplomatisch und wollte nichts falsch machen. Man kann ja nie wissen, was? Nicht, dass Sie jetzt einen falschen Eindruck bekommen. Ich habe überhaupt nichts gegen Kinder. Ich habe auch nichts gegen die armen Kerle, die gegen ihren Willen gezwungen werden, sich fortzupflanzen, wie es vielen meiner Bekannten anscheinend geschehen ist. »Das war sozusagen ein Unfall«, oder »Mensch, war das eine Überraschung« - das sind Sätze, die ich in den letzten Jahren öfter gehört habe. Aber verzeihen Sie mir, wenn ich das nicht ganz nachvollziehen kann. Aus Versehen hat noch niemand mit mir gevögelt, so Leid es mir tut, und selbst wenn, ein Baby wäre nicht gerade eine überraschende Folge gewesen. Ein Gewinn in der Lotterie vielleicht. Die wahre Liebe ganz sicher. Aber ein Baby? Wohl kaum. Nein, vor der Möglichkeit, selbst Kinder zu bekom men, habe ich sicher nicht die Augen verschlossen, abgesehen höchstens im Augenblick der Empfängnis. Ich wusste, dass sie schwierige kleine 89
Biester sind, aber ich dachte mir, es müsste doch irgendwo einen Ausgleich geben. Der Ausgleich war der, dass ich endlich dazu kam, all die Dinge zu tun, die ich als Kind immer gern getan hätte und die man mir verboten hat. Noch wichtiger, ich konnte sie tun, ohne wie ein Idiot dazustehen, denn ich konnte ja vorgeben, ich würde es nur für die Kinder tun. Da half es wirklich, dass ich einen Sohn hatte. So sehr ich Jo auch liebte, sie hat sich einfach nicht für Ballspiele oder die Action Men interessiert. Versucht habe ich es ja. Ehrlich. Aber sie hat eine eigenartige Abneigung entwickelt. Es war, als hätte sie einen eingebauten Spielzeugdetektor, mit dem sie die ge schlechtliche Präferenz jedes beliebigen Objekts sofort beurteilen konnte. Was nicht mädchenhaft genug war, wurde sofort verworfen. Meine Frau hatte keine Probleme, aber für mich sah das anders aus, weil ich als Junge an Barbiepuppen keinerlei Interesse hatte. Okay, das ist nicht ganz wahr. Ich muss gestehen, dass ich einen leichten Schauder hatte, als ich ihr zum ersten Mal die Sachen auszog, aber das war ein vergänglicher Effekt, wie Sie sicher verstehen werden. Tom war jedenfalls ganz anders. Im Gegensatz zu Jo, die immer jammern und heulen wollte wie alle kleinen Mädchen, benahm Tom sich von Anfang an viel eher wie ein richtiger Kerl. Noch besser, er war richtig scharf auf die Action Men. Aber seltsamer weise liebte er sie umso mehr, je weniger Interesse ich daran hatte. Da hatte ich endlich genug Geld, um eine ganze Kompanie der neu herausgekommenen kräftigen Plastikhelden zu kaufen - wofür ich als Kind einen
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Mord begangen hätte -, aber irgendwie interessierten sie mich nicht mehr. Sie könnten das jetzt vielleicht als eines der wenigen äußerlichen Anzeichen dafür werten, dass ich emotional ein wenig gereift bin. Aber für mich war es eine herbe Enttäuschung. Bei anderen bin ich durchaus für etwas emotionale Reife zu haben besonders bei meiner Frau und meinen Freunden, falls man überhaupt auf so etwas hoffen darf -, aber für mich selbst ist emotionale Reife eine weit überschätzte Tugend. Es ist, als würde ein Teil in Ihnen sterben - der Teil, der jung und lebendig ist. Was dann noch bleibt, ist Enttäuschung. Fußball war so ein Punkt. Ich hatte in dieser Hin sicht Glück. Tom wurde als Fan der Tottenham Hot spurs geboren, also gab es keinen Familienkrach. Er bestand sogar darauf, ein Trikot zu bekommen. »Mein Tottnam«, nannte er es. Aber irgendwie hat es mich doch eher kalt gelassen. Das größte Problem war, dass die Spieler mir nichts sagten. Als ich ein Junge war, gab es Namen wie Greaves, Gilzean, Jennings und Mullery. Die Männer waren Götter. Aber Amstrong, Berti, Walker und Ginola? Unterdurchschnittlich. Besonders Ginola. »Du bist eifersüchtig auf ihn«, sagte meine Frau fröhlich. Nachdem sie jahrelang nicht das geringste Interesse an Fußball gezeigt hatte, war sie nun auf einmal in den Reihen der vielen Frauen zu finden, die Knall auf Fall entscheiden, dass sie hart gesottene Fans sind. Der Grund war natürlich der, dass sie wie die anderen herausgefunden hat, dass Fußball inzwischen
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sehen für Frauen besser zugänglich ist. Es hat selbstverständlich überhaupt nichts mit der Tatsache zu tun, dass Fußballspieler heutzutage als Sexbomben vermarktet werden. Sie konnte denn auch keinen einzigen bedeutsamen Fakt von ihrem David angeben, wie sie ihn nannte - abgesehen von seiner Automarke, dem Hersteller seiner Designerklamotten und dem Namen seines Friseurs. »Eifersüchtig auf Ginola?«, protestierte ich. »Wie kann man auf einen Typ eifersüchtig sein, der Frankreich 1994 im Alleingang aus der WM geschossen hat?« »Und ob, du bist eifersüchtig«, setzte sie nach. »Du hasst die Vorstellung, dass ein wundervoller Mann für deine Mannschaft spielt.« »Oh, er ist also ein wundervoller Mann, ja?« »Na ja, schon. Was ist so eigenartig daran?« Aha. Dann ist es also eine Tatsache. Keinerlei Zweifel mehr. Die Erde ist rund. Ginola ist ein wundervoller Mann. »Es ist nur so, dass du noch nie einen Mann als >wundervoll< bezeichnet hast.« Nicht einmal mich. »Ich habe aber niemals gesagt, dass du nicht wun dervoll wärst«, konterte sie. Leider nicht sehr über zeugend. Und nicht besonders aufrichtig. »Wie gut mir das tut. Du hast auch nie gesagt, dass Quasimodo nicht wundervoll wäre.« »Ach, halt die Klappe.« »Warum denn?«, erwiderte ich. »Es ist ziemlich de primierend, wenn man hört, dass die eigene Frau
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jemanden mag, der einem überhaupt nicht ähnlich sieht. Ich meine, so wie der Typ aussieht, wird er nicht viele Freunde haben.« »Du meinst, er hat Haare und du nicht.« »Ich habe Haare.« Ein paar jedenfalls. »Aber wie lange noch?«, murmelte sie halblaut. Sie machte mich einfach nieder. Was war denn da los? Vielleicht war ich doch eifersüchtiger als ich dachte. Also gut, John, wehr dich. »Glaubst du nicht auch, dass eine Frau, die auf durchgestylte Fußballer scharf ist, die halb so alt sind wie sie selbst, etwas Bedauernswertes hat?« »Um Himmels willen, nun hör doch schon auf damit. Das war doch nur ein harmloser Spaß«, fauchte sie. »Ich habe doch nicht vor, ihn zu verführen.« Nein. So wenig, wie ich vorhabe, Kylie Minogue zu verführen. Aber aus dem Bett schubsen würde ich dich auch wieder nicht, Kylie. Doch wenn ich mich darüber auslasse, wie sehr ich sie mag, bekomme ich nur zu hören, ich wäre ein Trottel in mittleren Jahren, der Frühlingsgefühle entwickelt. Wenn meine Frau dagegen wegen dieses Hohlkopfs Ginola ganz aus dem Häuschen ist, dann macht sie damit offenbar eine postmoderne ironisch feministische Aussage. Aber so geht das eben. Unsere kleinen Fantasien bieten uns wenigstens etwas Gesprächsstoff. Wir müssen ja beizeiten Experten darin werden, miteinander zu reden, denn die Kinder kommen bald in ein Alter, in dem sie sich nur noch grunzend verständigen. Die stummen, bockigen Teenager. Das ist etwas, auf 93
das man sich freuen kann. Nachdem sie brutal dafür gesorgt haben, dass man keine Freunde mehr hat, die es länger als zwanzig Minuten im Haus aushalten, verwandeln sich die Kinder in Trappistenmönche. Am Ende lebt man dann in sensorischer Deprivation und hat nur noch das Fernsehen zur Gesellschaft. Abgesehen von der Ehefrau natürlich, aber auf die kann man sich ja nicht verlassen. »Ich überlege, ob ich einen Hund anschaffen soll«, sagte sie neulich. Dabei weiß sie genau, dass ich Hunde hasse. Andererseits wäre ein Hund immer noch eine Spur besser als der verdammte David Gi nola.
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9 Sehen Sie mich an. Meine Haut wird schlaff, mein Gesicht bekommt Falten - nein, über das gut ausse hende, markante Stadium bin ich hinaus -, und mein Bauch wächst. Körperlich bin ich ein Wrack. Das ist einfach ungerecht. Ich bin nicht dazu geschaffen, so auszusehen. Ich sollte eigentlich ein schmaler, athletischer Mann sein, voller Testosteron und Pheromone und allen anderen hormonellen Zutaten, die ein echter Kerl so braucht. Dabei habe ich nicht einmal das Gefühl, es würde an mir liegen, dass ich anders bin, als ich sein müsste. Okay, ich war früher nicht sehr nett zu meinem Körper, aber in den letzten elf Jahren habe ich gelebt wie ein Heiliger. Glauben Sie mir, ich habe die Tage gezählt. Es ist pervers, aber damals, als ich meinen Körper stärker belastet habe, sah ich besser aus als heute. Vielleicht waren auch die Drogen, die ich genommen habe, mit Formaldehyd verschnitten. Wie auch immer, just als ich begann, meinen Körper wie einen Tempel zu behandeln, strafte er mich mit äußerster Verachtung. Mein Körper ist ein Verräter. So einfach ist das. Ich weiß, dass Verrat ein hässliches Wort ist, aber die Wahrheit ist eben nicht immer angenehm. Mein Kör per ist Philby, Burgess und Maclean in einer Person. Sie müssen nämlich wissen, dass es einen Moment gibt, in dem Ihr Körper aufhört, ein Freund zu sein, und sich in einen unnachsichtigen Feind verwandelt. Der größte Fehler, den man überhaupt machen kann, 95
ist der, diesen Wandel zu ignorieren und mit einer beiläufigen Bemerkung und affektiertem Achselzucken abzutun: »Ach, das ist nur ein Teil des Alterungsprozesses.« Denn Ihr Körper will, dass Sie genau dies denken. Sie sollen glauben, Körper und Bewusstsein wären Teil eines gemeinsamen Ganzen und was sich dort ereignet, unterliege nicht Ihrer Kontrolle. Das muss aber nicht so sein, wenn Sie nicht vergessen, wie raffiniert Ihr Körper sein kann. Sobald Sie das Alter erreichen, in dem Sie jede Menge Training brauchen, um in Form zu bleiben, quittiert er prompt den Dienst. Versuchen Sie es mit Laufen und Ihr Knie geht kaputt. Glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung. Außerdem kontrolliert Ihr Körper auch die Augen, so dass Sie die wichtigen Dinge erst erkennen können, wenn es schon viel zu spät ist. Die meisten Menschen leiden unter verzögerten Reaktionen. Sie sehen den Mann, der Sie vor sechs Monaten einmal waren, und tuckern munter vor sich hin und denken, es wäre alles in Ordnung, bis Sie - PENG! - eines Tages in den Spiegel blicken und von einem fetten Kerl angestarrt werden, der Ihnen irgendwie bekannt vorkommt. Es wird immer schlimmer, weil Sie wegen der Zeitverzögerung sechs Monate dicker sind als der, den Sie anschauen. Es gibt kein Entrinnen. Ihr Körper ist ein Drecksack, dessen einziges Ziel im Leben es ist, Sie zu verarschen. Ihr Bewusstsein muss mindestens genauso durchtrieben sein, wenn Sie dagegen ankommen wollen. Es gibt ja Leute, die so tun, als würden sie sich über ihre körperlichen Veränderungen freuen. »Wir sind 96
viel zu sehr auf das Äußere fixiert«, sagen sie.. »Ich fühle mich so, wie ich bin, ganz prima.« Natürlich hoffen sie, dass der Körper zuhört und sagt: »Oh, du fühlst dich prima, wie du bist? Aber nicht mehr lange«, und sie wieder dünn macht. Tja, ich habe schlechte Neuigkeiten. So funktioniert das nicht, weil der Körper sich nicht so einfach reinlegen lässt. Er weiß genau, dass niemand dick sein will. Vor die Wahl gestellt, ob er lieber dick oder dünn sein will, sagt doch niemand: »Och, ich möchte wirklich gern einmal kurzatmig herumschwabbeln, ohne meine Füße zu sehen.« »Hallo, John.« »Hallo, Mike.« Ein Anruf von Mike ist mir immer willkommen. Seit er sich zum Landei entwickelt hat, gibt er mir das Gefühl, ich führte ein aufregendes, cooles Leben in der Großstadt, statt im Vorort vor Arbeit und Langeweile einzugehen. »Ich war neulich zum Einkaufen in London auf der King's Road, aber ich konnte nichts Passendes fin den.« Das wundert mich nun wirklich nicht. Neben Mike sehe ich aus, als hätte ich noch alle Haare und wäre schlank. Auch das ist ein Effekt, den ich an ihm mag. »Dann hat Evans wohl geschlossen?« Wenn es um Dicke geht, kenne ich keine Gnade. Wenn ich untergehe, reiß ich die anderen mit. »Ach, leck mich doch.« »Na ja, was erwartest du? Du bist doppelt so dick und doppelt so groß wie alle anderen auf der King's Road.«
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»Aber man muss sich doch wenigstens bemühen, oder?« Allerdings. Man muss. Aber nicht so. Nichts will dein Körper mehr, als dass du dich in Sachen zwängst, die zu eng und zu jung für dich sind, damit der Rest der Welt herzhaft kichern kann, weil du wie ein Idiot rumläufst. Ich will damit nicht sagen, dass ich kein Verständnis für Mikes Problem habe. Es ist eben nur eines der wenigen, unter denen ich nicht leide. Aber darauf kann ich mir nicht einmal etwas einbilden. Sie müssen wissen, dass Mike sich früher immer sehr modisch gekleidet hat. Sehr viel früher. Er hat also ein Bild, dem er gerecht werden will. Ich dagegen habe auf Mode nie viel Wert gelegt. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Ich bin in vielerlei Hinsicht so eitel wie kaum ein anderer. Aber wenn es um Kleidung geht, läuft bei mir etwas schief. Ich kann manchmal ausmachen, was bei anderen Leuten gut aussieht, aber sobald ich versuche, selbst etwas Modisches anzuziehen, fühle ich mich komisch. Im Grunde meines Herzens bin ich ein Marks-&Spencer-Typ, auch wenn einige ihrer Entwürfe in den letzten Jahren nahezu modern waren. Aber dort kaufe ich nun einmal ein. Ich bin gewissermaßen von Kopf bis Fuß auf M & S eingestellt. Socken, Unterhosen, Jeans, Hosen, T-Shirts, Sweater - alles in verschiedenen langweiligen Farbtönen. Oh, und ehe ich es vergesse: Einen Anzug von M & S habe ich auch. Für besondere Gelegenheiten. Meine Kleidung ist langweilig, da gibt es kein Vertun.
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Sogar ich selbst finde sie langweilig. Aber das ist gut so, weil mein Körper diese Kleidung hasst. Er hasst die Tatsache, dass ich heute immer noch die gleiche Art Kleidung tragen kann wie vor zehn oder fünfzehn Jahren, weil ich noch genauso unauffällig bin wie damals. Also, wenn Sie ihn hören wollen, hier ist mein Modetipp: Beginnen Sie so, wie es später sowieso weitergeht, und geben Sie sich Mühe, möglichst langweilig auszusehen. Ich verspreche Ihnen, Sie werden es nicht bereuen. Vielleicht halten Sie es für übertrieben, einen sol chen Aufwand zu betreiben, nur um möglichst wenig elegant gekleidet herumzulaufen, aber jeder Sieg über den Körper zählt, so klein er auch sein mag. Sie müssen im Kampf gegen seinen Verrat stets auf der Hut sein. Noch wichtiger ist es, die Aufmerksamkeit Ihres Körpers so lange wie möglich mit möglichst trivialen Dingen abzulenken. Denn sobald er spürt, dass Sie des Kampfes müde werden, begeht er skrupellos den größten Verrat überhaupt. Er wird zu funktionieren aufhören. »Hi John, hast du das mit Paul schon gehört?« Alex' Stimme klang etwas aufgeregt, also ging es um mehr als das übliche Geplauder. »Nein, was soll mit ihm sein?« »Er ist tot.« »Mach Witze.« »Nein, er ist mausetot.« »Wie das?« Ein mitfühlender Mensch hätte wahrscheinlich ge sagt: »Das ist ja schrecklich. Seine arme Familie.«
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Aber das »Wie« war das Einzige, auf das es mir wirklich ankam. »Ich bin nicht sicher. Seine Freundin hat ihn einfach tot ihm Wohnzimmer gefunden. Sie glauben, es war ein Herzinfarkt.« Das war die Antwort, die ich befürchtet hatte. Bis dahin hatten alle meine Freunde den Löffel abgege ben, weil sie etwas Dummes getan hatten - ein Sturz mit dem Motorrad, eine Überdosis Heroin oder Selbstmord. Das war in gewisser Weise ganz in Ordnung. Ich war zwar bestürzt und vermisste sie, aber es fiel mir nicht schwer, mich von ihren Todesarten zu distanzieren. Ich hatte ja kein Motorrad und kannte meine Grenzen - meistens jedenfalls -, und ich war viel zu feige, um mich selbst umzubringen. Bei Paul war es anders. Mit achtunddreißig war er der erste meiner Freunde, der aus Altersgründen starb. »Ich glaube, er war ein starker Raucher«, sagte ich. Ein guter und auf mich nicht zutreffender Grund, den Löffel abzugeben. »Außerdem hat er reichlich Drogen genommen«, sagte Alex, ohne zu begreifen, was er damit über sich selbst sagte. »Yeah, genau wie du.« Meiner Ansicht nach konnte Pauls Tod kein Anlass sein, auf das Schüren einer kleinen Panik zu verzichten. »Ach, Unsinn. Du weißt, dass ich kaum Drogen nehme«, sagte er ärgerlich, aber lange nicht so überzeugend, wie er anscheinend glaubte. Immerhin etwas.
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»Du nimmst jedenfalls mehr als jeder andere, den ich kenne, abgesehen von ...« Ich ließ Pauls Namen absichtlich in der Luft hängen. »Manchmal bist du wirklich eine Nervensäge. Nur weil du überhaupt nichts nimmst, glaubst du gleich, jeder, der ab und zu mal einen Joint raucht, hätte ein Problem.« Jetzt waren wir wieder auf vertrautem Terrain, und das war eine große Erleichterung, denn wenigstens wir zwei wussten ganz genau, wie wir uns gegenseitig auf die Palme bringen konnten. Pauls Tod war ein viel zu großer Schock, als dass wir uns auf der Stelle hätten damit beschäftigen können. Es war mehr als der Tod eines Freundes. Sein Tod erinnerte uns an die eigene Sterblichkeit. Auch wenn wir dem Rauchen, den Drogen oder was auch immer die Schuld geben wollten, wir konnten es nur mit halbem Herzen tun. Denn wie man es auch drehte und wendete, Pauls Tod ging nicht auf einen einzigen Auslöser zurück. Es gab Tausende, wenn nicht Millionen von Menschen, die es weit schlimmer getrieben hatten als er und die immer noch lebten. Es war einfach so, dass sein Körper zu der Ansicht gekommen war, dass es reichte, und den Dienst quittiert hatte. Pauls Tod erinnerte mich schmerzhaft an meinen eigenen Körper. Ich gewöhnte mir an, meinen Herzschlag zu überprüfen. Ich maß regelmäßig meinen Puls und achtete genau auf etwaige Rhythmusstörungen. Ich spürte, wie meine Brust eng wurde und ein eigenartiger Schmerz in den linken Arm schoss. Um offen zu sein, ich hatte wider Erwarten einen Herzinfarkt.
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Außerdem wurde ich äußerst abergläubisch. Bevor ich morgens aus dem Haus ging, musste ich die Todesanzeigen in der Zeitung lesen. Ich ging sogar so weit, den Telegraph zu abonnieren, der dieser Rubrik besonders viel Platz 'einräumt. Ich begann mit »A«, arbeitete mich nach unten und überprüfte, wie alt die Verstorbenen geworden waren. Leute mit achtzig oder neunzig Jahren gingen in Ordnung, aber jeder, der jünger war als ich, stellte ein Problem dar. In manchen Fällen konnte ich mir keine Gewissheit verschaffen, weil die Verwandten das Alter nicht dazugeschrieben haben. Man stelle sich das vor, die Leute unterschlagen einfach eine derart wichtige Information. In diesen Fällen war ich auf Mutmaßungen angewiesen. Wenn von einer »lieben Großmutter« oder einem »lieben Großvater« die Rede war, konnte ich normalerweise annehmen, dass die Betreffenden älter waren als ich. Wenn aber von einer »langen, schweren Krankheit« oder einem »liebenden Vater« die Rede war, kam ich nicht weiter. Diese Fälle musste ich als ungeklärt abhaken. Außerdem schloss ich alle aus, bei denen das Wort »tragisch« in der Todesanzeige vorkam, weil ich annahm, dass sie zwar jünger waren als ich, aber einem hässlichen Unfall zum Opfer gefallen waren. Trotzdem blieben hin und wieder immer noch eine Menge Leute übrig, die im gleichen Alter wie Paul das Zeitliche gesegnet hatten. Wann immer das geschah, war es der Beginn eines miesen Tages. An solchen Tagen dachte ich stundenlang über Paul nach. War sein Tod wirklich unvermeidlich gewesen? Würde es wirklich etwas ändern, wenn ich mein Leben 102
umkrempelte? Es überrascht sicher nicht, dass ich früher oder später meine Beziehung zu Ärzten zu überdenken begann. Vielleicht ist »Beziehung« auch ein etwas zu starkes Wort, denn in den letzten zehn Jahren hat sich der Kontakt mit meiner Ärztin auf fünfminütige Stippvisiten beschränkt. Obwohl ich immer angemeldet war, musste ich unweigerlich eine Dreiviertelstunde warten und bekam dann nur die Hälfte der Zeit, die mir eigentlich zustand. Offenbar nahm keiner von uns meine Gesundheit wirklich ernst. Unsere Begegnungen verliefen im Allgemeinen etwa so: »Na, wo drückt denn nun der Schuh ...« Ein rascher Blick in meine Unterlagen. »John«, schloss sie triumphierend. »Ich habe einen hartnäckigen Husten.« »Ah, ja. Ziehen Sie doch bitte den Pullover aus, da mit ich die Brust abhören kann. Hmm. Ja, Ihre Atemwege sind entzündet.« Als ob ich das nicht längst wüsste. »Yeah«, sagte ich elend. »Ein Antibiotikum sollte eigentlich helfen. Kommen Sie doch in einer Woche noch einmal vorbei, wenn Sie sich nicht besser fühlen.« Normalerweise ging ich zufrieden davon. Was für eine gute Ärztin, dachte ich mir. Aber nach Pauls Tod wurde mir klar, dass ich viel zu nachlässig war. Offenbar wusste meine Ärztin nicht, was mit mir los war. Sie hat weder meine Brust durchleuchten noch meinen Speichel analysieren lassen. Sie hat nur eine flüchtige Untersuchung vorgenommen, eine Vermutung
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formuliert und den Rest auf die nächste Woche vertagt, wie sie es vermutlich bei allen Patienten tut. Zu ihrem Glück - und zu meinem, wie ich hinzufü gen möchte - ging es jedes Mal gut. Mein Husten wurde dank der Antibiotika besser. Aber was, wenn es nicht funktioniert hätte? Was, wenn ich an einer tödlichen Krankheit litt, die sie übersehen hatte? Ich hätte in der folgenden Woche sterben oder den kritischen Punkt überschreiten können, von dem an eine Behandlung nicht mehr hilft. Und was dann? Die Ärztin gibt widerwillig zu, dass sie Mist gebaut hat, und ich darf gerade noch Winkewinke machen. Wenn ich Glück habe. Nein, je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich meine Gesundheit keinem Fremden anvertrauen konnte. Wenn ich meine Gebrechen nicht selbst ernst nahm, würde es auch niemand anders tun. Die einzige Möglichkeit, so lange wie möglich mein Überleben zu sichern, bestand darin, jedes Symptom als möglicherweise lebensbedrohlich aufzufassen. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass dies da heim ausgesprochen schäbige Reaktionen hervorrief. »Ich habe wirklich üble Kopfschmerzen.« »Wie kommt es eigentlich, dass du jedes Mal Kopf schmerzen hast, wenn die Kinder gebadet werden müssen?« Ich kann Ihnen nicht erklären, was es bedeutet, eine liebevolle, mitfühlende Partnerin zu haben. Ich weiß nämlich einfach nicht, wie das ist.
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»Ich habe nicht jedes Mal Kopfschmerzen, wenn die Kinder gebadet werden müssen.« Ich war nicht bereit für einen ausgewachsenen Krach, aber ich wusste ganz genau, dass dieser Mythos zur Tatsache werden würde, wenn ich nicht auf der Stelle energisch widersprach. »Ich meine, warum erwähnst du deine Kopfschmer zen immer nur dann, wenn die Kinder in die Bade wanne müssen?«, bohrte meine Frau nach. »Weil die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich dich mit meinen Kopfschmerzen belästige, die Situationen sind, in denen sie länger als ein paar Stunden anhalten. Und da sie gewöhnlich nachmittags beginnen, ist jetzt in etwa der Punkt erreicht, an dem ich mir Sorgen mache. Dass jetzt auch Badezeit ist, ist lediglich ein Zufall.« »Ach wirklich? Dann soll ich vielleicht noch dankbar sein, dass du es den Nachmittag über so geduldig ertragen hast?« Richtig, so hatte ich es mir gedacht. »Ich bin einfach etwas besorgt«, sagte ich möglichst versöhnlich und sachlich. »Tut mir Leid, dass ich so ausgerastet bin«, lenkte sie ein, anscheinend bemüht, auf meine charmante Offensive einzugehen. »Ich bin ziemlich abgenervt. Aber sag mal, weshalb machst du dir eigentlich Sor gen?« »Ich glaube, ich habe einen Gehirntumor.« »Mach dich nicht lächerlich.« Mitgefühl ist manch mal ein kurzlebiges Vergnügen. »Du hast einfach nur Kopfschmerzen. Jeder hat mal Kopfschmerzen. Außerdem
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hast du überhaupt nicht die Symptome, die zu einem Gehirntumor gehören.« »Doch, die habe ich. Ich habe hartnäckige Kopf schmerzen.« »Nein, die hast du nicht. Deine Kopfschmerzen hal ten erst seit ein paar Stunden an.« »Das sind hartnäckige Kopfschmerzen.« »Nein, das sind sie nicht.« »Also, es könnte doch immerhin sein. Auch hartnä ckige Kopfschmerzen fangen irgendwann an.« »Um Gottes willen. Du hast keinen verdammten Hirntumor. Du bist einfach nur ein Hypochonder ge worden.« Ein Hypochonder? Schlimmer kann man mich kaum missverstehen. Hypochondrie ist die unbegründete, irrationale Angst vor Krankheiten - ich habe es gerade nachgesehen, um mich zu vergewissern. Aber meine Ängste waren nicht irrational. Meiner Ansicht nach war mein Verhalten völlig logisch. Indem ich mich bei allen medizinischen Fragen in äußerster Wachsamkeit übte, konnte ich unange nehme Entwicklungen schon im Frühstadium erken nen. An meinem Frühwarnsystem würde kein uner freulicher kleiner Krebs vorbeikommen, und wenn dies damit verbunden war, dass ich gelegentlich ei nen ganz normalen Kopfschmerz mit einem Hirntu mor verwechselte, dann wollte ich diesen Preis gern bezahlen. Eine solche positive, selbstbewusste Haltung trägt fast überall ihre Früchte. In gewisser Weise auch beim Rauchen. Wenn Sie ganz nüchtern darüber nachdenken,
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dann muss es genau eine Zigarette geben, die entscheidend ist. Der Trick besteht darin, genau zu wissen, welche es sein wird, und unmittelbar vor dieser Zigarette mit dem Rauchen aufzuhören. Ich kann gar nicht glauben, dass die Zigarettenindustrie noch nicht darauf verfallen ist. Statt Milliarden für den vergeblichen Nachweis auszugeben, dass Nikotin nicht süchtig macht, sollten sie lieber einen Apparat entwickeln, der den Leuten anzeigt, wann sie Lungenkrebs bekommen. Aber mir wurde rasch klar, dass die Leute - allen voran meine Frau und meine Freunde - mit solchen originellen Ideen nichts anfangen konnten. Sie lebten lieber in einer Welt, in der alle so taten, als wäre alles in bester Ordnung und als wäre jede Krankheit eine echte Überraschung. Das ist ziemlich dumm, weil es derart viele Krankheitserreger, Viren und Gifte gibt, die einem die Arterien verstopfen, und derart viele Zellen, die bösartig mutieren können, dass man sich eigentlich nur noch fragen kann, warum wir alle nicht schon längst gestorben sind. Für mich gab es kein Zurück, und wenn das bedeu tete, dass ich auf mich allein gestellt war, dann sollte es eben so sein. Meine ersten Investitionen waren natürlich einschlägige medizinische Nachschlagewerke, eine wirklich faszinierende und lebenswichtige Lektüre. »Cor, hör dir das mal an«, sagte ich, als ich im Bett las. »Was denn?«, antwortete meine Frau wenig interessiert, denn sie hatte die Nase in ein Buch von Joanna
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Trollope gesteckt. Jackie Collins hatte sie
inzwischen ausgelesen.
»Ebola-Fieber. Du fällst ins Delirium, die inneren
Organe verflüssigen sich und du blutest aus jeder
Körperöffnung.«
»Dann hast du es wahrscheinlich«, sagte sie gäh
nend.
»Warum sagst du das?«, fragte ich erschrocken.
Weil ich sonst nicht schlafen konnte, las ich abends
als Letztes immer die Einträge von Krankheiten, die
ich mit ziemlicher Sicherheit niemals bekommen
würde.
»Ins Delirium bist du schon längst gefallen«, er
klärte sie.
»Meinst du wirklich?«
»Zweifellos.«
Das hat gesessen.
»Mein Gott, vielleicht hast du Recht.«
»Aber du hast ...«
»Aber ich hatte ...«
»... doch kein ...«
»... vor ein paar Tagen Nasenbluten ...«
»... Ebola-Fieber.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil du nicht in Zaire warst. In der letzten Zeit
nicht und früher auch nicht. Ich will jetzt schlafen.
Gute Nacht.«
Damit knipste sie das Licht aus.
Ich versuchte einzuschlafen. Ich habe es wirklich
versucht. Aber das ist schwer, wenn so etwas an ei
nem nagt. Deshalb flüsterte ich nach zehn Minuten:
»Liebste?«
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»Was ist denn noch?«, seufzte sie leidend. »Gott, manchmal hasse ich dich. Du hast mich so wütend gemacht, dass ich nicht schlafen kann.« »Das ist schlimm.« »Was ist schlimm?« »Schlaflosigkeit und Wut sind klassische Symptome einiger stark ansteckender Krankheiten.« Keine Frage, nach diesem giftigen kleinen Wort wechsel wurden meine Nachschlagewerke aus dem Schlafzimmer verbannt. Das war leider ziemlich läs tig, weil es bedeutete, dass ich oft um drei Uhr mor gens nach unten gehen musste, um ein paar Details zu überprüfen. Auch das war meiner Frau noch zu viel, denn sie beklagte sich, sie würde dauernd wach, weil ich ständig aus dem Bett sprang und wieder zurückkam. Kurz darauf waren die Bücher ganz weg. »Hast du meine Bücher gesehen?«, fragte ich am Abend. »Nein«, antwortete sie zuckersüß. Großer Fehler, meine Liebe. Du hättest fragen sol len: »Welche Bücher?« »Bist du sicher?« »Ganz sicher.« Nun, ich war auch ganz sicher. Ganz sicher, dass sie sie verschenkt oder irgendwo außer Haus gebunkert hatte. Aber ich konnte es nicht beweisen. Dafür hat sie immer noch nicht begriffen, warum ihr Pass ausgerechnet am Vorabend des Tages verschwand, an dem sie eine Geschäftsreise nach Italien antreten wollte. Manchmal kann ich ausgesprochen hartnäckig sein. Sogar nervig, wie manche Leute sagen würden. Ich
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war nicht bereit, die ständige Überwachung meiner Gesundheit durch das Verschwinden der Bücher sabotieren zu lassen. Wenn die Bücher nicht zum Propheten kamen, dann musste der Prophet eben zu den Büchern gehen. Der Buchladen WH Smith entpuppte sich bald als gute Adresse. Sie haben dort eine überraschend gute medizinische Abteilung, und der Laden war nur ein paar Minuten von unserer Wohnung entfernt. Das einzige Problem war, dass ich beim Nachlesen der denkbaren Ursachen für meine verschiedenen Befunde häufig nervös wurde und den Wortlaut der Texte vergessen hatte, bis ich wieder daheim war. So war ich niemals völlig sicher, was ich nun hatte und was nicht, und es war recht peinlich, mehr als ein paar Mal pro Tag zu Smith zu gehen und nachzuschlagen. Unweigerlich wurden chronische Sorgen um meine Gesundheit - jedenfalls wenn sie länger als vierund zwanzig Stunden anhielten - von meiner Frau mit bissigen Kommentaren quittiert: »Warum gehst du nicht einfach zum Arzt, statt mich damit zu nerven?« Ich kann Ihnen sagen, warum ich nicht zum Arzt ging. Es macht einem einfach Angst, zum Arzt zu gehen. Stellen Sie es sich doch mal vor. Wenn Sie im Glauben zum Arzt marschieren, Sie hätten nur eine kleine Bronchitis, die sich mit ein paar Pillen wieder in Ordnung bringen lässt, dann ist ja nichts weiter dabei. Aber wenn Sie mit der Überzeugung hingehen, Sie könnten Lungenkrebs haben, beginnt ein ganz neues Spiel. Sie kommen dann in einen Bereich, in dem einfach alles passieren kann. Man könnte eine tödliche Krankheit
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diagnostizieren oder Sie mit Blaulicht zu einer Operation am offenen Herzen befördern. Das macht die Sache ziemlich zermürbend, ganz zu schweigen vom Zeitaufwand, weil man für den Fall, dass man nicht zurückkommt, jedes Mal dafür sorgen muss, dass jemand daheim ist und auf die Kinder aufpasst. Außerdem will man natürlich mit einer gewissen Würde aus dem Leben scheiden. Man will sich ein letztes Mal umsehen und die Atmosphäre des Hauses in sich aufnehmen - vor allem die Kleinigkeiten, die man sonst so leicht übersieht wie die Blutflecken an der Wand, wo Jo Tom die Treppe hinuntergeworfen hat. Abschiede sind immer schwer. Ich habe dabei immer das Gefühl, ich müsste etwas Bedeutendes sagen. Ich will alle wissen lassen, wie viel sie mir bedeuten und wie dankbar ich für alles bin, was sie für mich getan haben, auch wenn es, um ehrlich zu sein, bei wei tem nicht so viel war, wie ich gehofft hatte. Aber in so einer Situation ist man gezwungen, zu lügen. Wie auch immer, bis ich mir endlich die richtigen Abschiedsworte zurechtgelegt habe, haben sich meine Angehörigen längst verdrückt und höchstens »Bis später« gesagt. Aber so sicher, wie sie es aussprechen, ist das natürlich nicht. Außerdem tun sich noch ganz andere Probleme auf, wenn man zum Arzt geht. Obwohl sie sich doch bewusst für einen helfenden Beruf entschieden haben, können Ärzte manchmal bemerkenswert intolerant sein. Oh, bei den ersten paar Terminen sind sie meistens noch ganz in Ordnung. Der Arzt lächelt sogar nachsichtig, wenn Sie über die langen Wartelisten für 111
Organtransplantationen klagen. Aber beim dritten
oder vierten Besuch ist er kurz angebunden und ab
weisend und beschränkt sich auf ein knappes:
»Nein, ich glaube nicht, dass weitere Tests
notwendig sind.« Den Zeitpunkt, an dem Ihr Arzt
sich gegen Sie wendet, können Sie am Verhalten
der Empfangsdame ablesen, wenn Sie um einen
Termin bitten.
»Hallo, hier ist ...«
»Ich weiß schon, Mr. Crace. Was kann ich für Sie
tun?«
»Ich hätte gern einen Termin.«
»Nächste Woche Dienstag wäre noch etwas frei.«
»Oh. Geht es nicht etwas früher?«
»Nein.«
»Ich glaube nicht, dass ich so lange warten kann.«
In diesem Moment ist am anderen Ende für
gewöhnlich ein gemurmeltes »verdammt dicke
Akte« und ein gedehntes Seufzen zu hören.
»Handelt es sich denn um einen Notfall?«
»Ich denke schon.«
»Sind Sie sicher?«
»So sicher, wie ich nur sein kann.«
»Die Frau Doktor mag aber keine Leute, die ihr die
Zeit stehlen.«
»Kann ich gut verstehen. Ich mag solche Leute
auch nicht.«
»Sie hat sehr viel zu tun.«
»Ich auch.«
Zu so einem Spiel gehören immer zwei.
»Sie sagen also, es handelt sich um einen Notfall?«
»Yeah. «
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»Was haben Sie denn?« »Keine Ahnung. Deshalb muss ich ja meine Ärztin sprechen.« »Was glauben Sie denn, was Sie haben könnten?« »Leukämie.« »Ich verstehe. Halten Sie das nicht für eher unwahr scheinlich?« »Mag sein. Aber in so einem Fall sollte man kein Ri siko eingehen.« Eine lange Pause. »Vielleicht können wir Sie um 11.30 Uhr noch da zwischenschieben.« »Da -« Klick. Versuchen Sie mal, aus einem Stein eine Träne he rauszuquetschen. Die Sprechstundenhilfe hätte als Antwort auf meine erste, schlichte Bitte um einen Termin ebenso schlicht antworten können: »Passt es Ihnen um 11.30 Uhr?« Aber nein, sie musste ja unbedingt abweisend und pampig sein. Manche Leute haben einfach keine Manieren. Wie auch immer, sobald Sie mit einem Wortwechsel wie diesem konfrontiert werden, ist Ihre Beziehung zei
»Ach so«, sagte sie ohne jedes Mitgefühl.
Mach weiter. Brich mit den alten Gewohnheiten.
Frage mich doch einfach mal, wie es mir geht.
»Und du hast doch hoffentlich daran gedacht, auf
dem Heimweg Milch zu kaufen?«
Das ist typisch für sie. Ich, ich, ich, immer nur ich.
Na schön, sie ist zur Hälfte Amerikanerin. Ich
meine, was sollte das mit der Milch? Gibt es etwas
Schlimmeres, als einem Mann mit einer
Verdauungsstörung Milch zu geben? Es war der
reine Sadismus, der sie diese Frage stellen ließ.
»Nein, habe ich nicht. Ich fühlte mich zu krank.«
»Das ist seltsam, weil du ja völlig gesund bist.«
»Und warum war ich dann wohl beim Arzt?«
»Das wirst du mir sicher gleich erklären.«
»Weil ich vielleicht Darmkrebs habe.«
»Aber du hast doch überhaupt keinen Darmkrebs.«
»Dr. Wilson hat sich etwas anders ausgedrückt.«
Was ja irgendwie sogar der Wahrheit entsprach.
»Was hat er denn gesagt?«
War sie ehrlich besorgt oder fürchtete sie nur, das
Leben könne in Zukunft unbequemer werden? Es
war schwer zu entscheiden.
»Also, er macht noch einige Tests.«
Unter anderem.
»Bist du sicher?«
»Absolut. Morgen bekomme ich die Ergebnisse.«
»Oh. Nun ja, das ist bestimmt nur eine Vorsichts
maßnahme. Ich bin sicher, dass dir nichts fehlt.«
Vielen Dank auch. Ist es nicht schön, wenn andere
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nach einem Ausweg aus der Sackgasse. »Sie
haben mich natürlich auf diese Idee gebracht, aber
ich habe meine eigenen Motive.«
»Das wichtigste dürfte wohl sein, dass du glaubst,
du würdest damit attraktiver für Frauen, was?«
»Mach dich nicht läch -«
»Keine Sorge, ich habe keine Probleme damit«, ga
ckerte sie. »Du brauchst jede Hilfe, die du nur
bekommen kannst.«
»Oh, vielen Dank auch.«
»Nun spiel nicht gleich die beleidigte Leberwurst.«
»Ich bin nicht beleidigt.«
Doch, das bin ich.
»Ach, nun beruhige dich doch wieder«, sagte sie
und wurde auf einmal sehr charmant. »Ich habe
dich nur auf den Arm genommen. Im Grunde denke
ich, dass die Therapie dir wirklich gut tun könnte.
Denn schlimmer als jetzt kannst du ja kaum
werden.«
Ich glaube, diese Bemerkung bereut sie heute noch.
»Das ist ja nicht gerade eine begeisterte Zustim
mung.«
»Aber es ist auch nichts Schlimmes. Außerdem sind
Dan, Tom und Ashley, abgesehen davon, dass sie
mehr dummes Zeug schwatzen als sonst,
anscheinend immer noch halbwegs normal.«
»Dann macht es dir also nichts aus? Du brauchst
nicht noch etwas Zeit, um darüber nachzudenken?«
Hey, wozu brauche ich eine Therapie, wenn mir sol
che Antworten einfallen?
»Nein, ist schon in Ordnung.«
»Ganz sicher?«
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Sie hatte mit paranormalen Phänomenen offenbar genauso große Schwierigkeiten wie ich. »Also, ich habe ganz bestimmt auf den Klingelknopf gedrückt.« »Sind Sie sicher?« »Wollen Sie damit andeuten, ich hätte unbewusst den Wunsch gehabt, nicht zu meiner Sitzung zu kommen, und hätte deshalb auf den falschen Klingelknopf gedrückt oder so?« »Das will ich nicht sagen. Aber Sie sagen es. Möch ten Sie darüber reden?« Sie war offensichtlich erheblich gerissener, als ich vermutet hatte. Mit ein paar kleinen rhetorischen Tricks hatte sie es geschafft, mir die Schuld zuzuschieben, obwohl die Wahrheit doch offensichtlich die war, dass sie in ihrem Lehnstuhl ein paar Minuten früher als üblich eingenickt war und die Türschelle überhört hatte. Trotz dieses unerwarteten Anzeichens von Intelli genz auf ihrer Seite wurden wir danach nie mehr richtig warm miteinander. Wir schleppten uns durch einige weitere Sitzungen, in denen ich ein wenig über dieses und jenes stöhnte und sie über meine emotionale Geschichte auf dem Laufenden hielt, bis sie mich auf einmal unterbrach. »Wir haben fantastisch zusammengearbeitet«, sagte sie. »Sie haben große Fortschritte gemacht.« Schön, dass sie so darüber dachte, aber mir war das neu. Ich hatte das Gefühl, ich hätte noch nicht einmal angefangen. »Wirklich?«, sagte ich, wider Willen geschmeichelt.
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»Und was bedeutet es Ihnen, dass ich hier und nicht anderswo lebe?«, erwiderte sie nach kurzem Nachdenken. »Es bedeutet, dass ich Ihnen nichts bedeute, denn sonst würden Sie sich bemühen, irgendwo in meiner Nähe etwas zu finden.« »Hmm. Es ist interessant, dass Sie das Wort >Nähe< benutzen. Vielleicht sind Sie es, der Schwierigkeiten hat, mir nahe zu sein?« »Was meinen Sie damit?«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen, obwohl ich eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was als Nächstes kommen würde. Und natürlich kam es. »Ich meine, dass der Grund für Ihre Verspätung möglicherweise der ist, dass Sie auf irgendeine Weise nicht hier sein wollen. Sie wollen keine Beziehung zu mir haben.« »Oh, aber sicher doch. Ich habe die Straßen selbst so angeordnet, damit ich weniger Zeit mit Ihnen verbringen muss.« »Aber wenn Sie Verzögerungen eingeplant hätten und früher aufgebrochen wären, dann wären Sie rechtzeitig hier gewesen.« »Ich habe Verspätungen eingeplant. Ich bin genau um die gleiche Zeit losgefahren wie sonst und ich bin noch nie zu spät gekommen. Bedeutet dies, dass ich die ganze Zeit schon versucht habe, zu spät zu kommen, bisher aber jämmerlich versagt habe? Oder könnte es einfach so sein, dass der Verkehr schlimmer war, als man vernünftigerweise hätte annehmen können?«
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Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich habe es wirklich versucht. Ich zwang mich, ganz vernünftig zu überlegen, was da los sein konnte, und ging die Checkliste im Kopf durch. Ein Herzanfall? Keine stechenden Schmerzen in der Brust. Ein Gehirntumor? Keine Kopfschmerzen. Es war alles sehr undurchsichtig, also kam es nicht in Frage, die Symptome zu ignorieren. Um drei Uhr morgens, als die Symptome nach wie vor erbarmungslos wüteten, kam ich auf die Antwort. BSE. Diffuse Sorgen, Desorientierung, Verwirrung ... jetzt fehlte nur noch Demenz und ich hatte alles beisammen. Wie inzwischen jeder Trottel weiß, kommt die Demenz ganz am Ende. Den Rest der Nacht verbrachte ich schlaflos. Ich wollte die kurze Zeit, die mir noch blieb, möglichst halbwegs im Wachzustand verbringen. Was für ein trauriger, einsamer Tod es werden würde. Ich würde meine eigenen Kinder nicht wieder erkennen, man würde mir Rückenmark und Thymusdrüse herausreißen, kaum dass ich den Löffel abgegeben hatte, und mein Leichnam würde irgendwo eingebunkert werden, während man versuchte, den Rückstau an Rindern im Brennofen zu vermindern. Um sechs weckte mein Herumwälzen meine Frau. Sie warf mir einen kurzen Blick zu und kam sofort zur Sache. »Du hast schon wieder eine neue Krankheit, nicht wahr?«, sagte sie vorwurfsvoll. »Nein, ich denke nur nach, mehr nicht«, erwiderte ich.
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»Ich mache mir auch Sorgen um meinen Verstand.
Es macht keinen Spaß, ihn allmählich zu verlieren.«
»Von >allmählich< kann nicht die Rede sein.
Deshalb habe ich mich bemüht, einen guten
Psychiater für dich zu finden. Ich wollte es dir
sagen, sobald du etwas ruhiger und weniger giftig
bist, aber da du es schon ansprichst, kann ich es dir
auch gleich erzählen. Ich habe dir einen
Seelenklempner besorgt.«
Zwei Tage später schüttete ich Dr. Macdonald mein
Herz aus. Was für eine Erleichterung. Eine ganze
Stunde hatte ich Zeit, über meine Symptome zu
reden, nur hin und wieder von sinnlosen
Bemerkungen des Doktors unterbrochen.
»Sie haben die klassischen Symptome«, sagte er
schließlich.
Das wusste ich längst.
»Sie haben schwere Depressionen«, fuhr er fort.
Fantastisch. Das hätte ich ihm auch gleich sagen
können. Genau genommen hatte ich es ihm ja
sogar schon gesagt.
»Natürlich habe ich Depressionen. Die hätte jeder,
der an BSE erkrankt.«
»Nein. Bei Ihnen sind die Depressionen selbst die
Krankheit. Panikattacken, Schlaflosigkeit,
Persönlichkeitsverlust ... Sie haben das ganze
Paket.«
»Oh.«
»Sie müssen ins Krankenhaus eingewiesen
werden. Haben Sie eine Krankenversicherung?«
Sind Froschhintern wasserdicht?
»Jepp.«
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Ich habe nie jemanden kennen gelernt, der sich mehr Mühe gab, es allen recht zu machen, als Dawn. Sie war von einer beinahe erstickenden Liebenswürdigkeit und ein nervliches Wrack. Sie errötete vor Verlegenheit, sobald sie den Mund aufmachte, und atmete beim Sprechen, als würde sie jeden Moment hyperventilieren. Ich mochte mir kaum vorstellen, wie ihre Achselhöhlen aussahen, wenn die Sitzung vorbei war. All dies war nicht geeignet, bei einem Haufen Anstaltsinsassen, die von Ängsten geplagt wurden, besonderes Vertrauen zu erwecken. Aber egal. Wie alle Mitarbeiter war auch sie sehr, sehr nett und diese Freundlichkeit ist viel wert, wenn man sie nicht alle hat. »Hallo, Leute«, stammelte sie. »Lasst uns damit be ginnen, dass wir uns ringsum der Reihe nach vorstellen und jeweils eine Sache nennen, die uns besonders große Angst macht.« Die eine Sache, die Dawn besonders große Angst machte, war offensichtlich die Befürchtung, niemand könnte bereit sein, etwas zu sagen. Also blieben alle stumm - ein Ausdruck von Sadismus, der überraschen mag, aber wer hat hier behauptet, die Insassen von Irrenanstalten müssten besonders entgegenkommend sein? Je länger das Schweigen anhielt, desto dunkler ver färbte sich Dawns Gesicht und desto nervöser wurde sie. Schließlich konnte sie es nicht mehr aushalten und begann selbst. »Ich heiße Dawn und habe große Angst, irgendwo zu spät zu kommen«, sagte sie.
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Da sie ständig ein paar Minuten zu spät kam, konnte man gut nachvollziehen, warum sie ständig so ängstlich war. Aber ich wurde nachdenklich. Wenn sie so außer Fassung geriet, nur weil sie sich ein paar Minuten verspätete, was würde dann wohl passieren, wenn sie wirklich mal eine schwere Krise erlebte? Wenn sie beispielsweise die Autoschlüssel verlegt hatte? Angesichts ihres angeschlagenen Zustandes hoffte ich, bei Dawn leichtes Spiel zu haben, wenn es darum ging, meine Symptome als echte Bestandteile einer Depression auflisten zu lassen. Aber daraus wurde nichts, wobei das Problem nicht so sehr ihre Widerspenstigkeit war, sondern vielmehr' ihr Wunsch, meine Symptome mit ihren Vorstellungen zur Deckung zu bringen. »Lasst uns eine Liste mit körperlichen Symptomen der Depression aufstellen. Hat jemand Vorschläge?«, fragte sie. Darauf kamen dann die ganz normalen Zutaten, bis ... »Eine Benommenheit, als würde ich die ganze Zeit halluzinieren«, warf ich ein. »Ja«, sagte Dawn ermunternd, »als würden Sie hy perventilieren.« »Nein, nicht als würde ich hyperventilieren«, erwi derte ich fest. »Oh, Sie meinen, als würde Ihr Herz rasen«, ver suchte sie es noch einmal. »Nein, nicht als würde mein Herz rasen.« »Oh, Sie meinen, dass Sie ab und zu etwas benom men sind.«
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»Da Sie es gerade erwähnen - die Symptome sind verschwunden.« Einen Seelenklempner kann man einfach nicht anlü gen. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es so kommen wird, sobald das Prozac zu wirken beginnt«, sagte er. »Wenn die Depression abklingt, verschwindet auch der akute Persönlichkeitsverlust.« »Vielleicht kann Prozac nicht nur Depressionen, sondern auch BSE heilen.« »Ich glaube nicht«, erwiderte er ein wenig ver stimmt. »Wir sollten ins Auge fassen, Sie so bald wie möglich wieder nach Hause zu entlassen. Ich denke, das kommende Wochenende wäre der richtige Zeitpunkt.« »Ich glaube nicht, dass meine Genesu -« »Es wird Ihnen sicher gut tun«, erwiderte er. »Und es wird Zeit, dass wir die Medikamente absetzen.« Scheiße, Scheiße, Scheiße. »Ich glaube, Sie haben Recht«, log ich. Manchmal muss man sich eben dem Unvermeidliche fügen und akzeptieren, dass früher oder später alles Schöne vorbeigeht. Meistens früher als später. Drei Wochen nachdem sie mich abgesetzt hatte, fuhr meine Frau am Lodge Hospital vor, um mich abzuholen und nach Hause zu bringen. Vorher hatten wir noch eine letzte Besprechung mit Dr. Macdonald. »Sind Sie sicher, dass er wieder nach Hause kann?«, fragte meine Frau. Sie wirkte völlig entspannt und hatte eine für die Jahreszeit höchst unpassende Sonnenbräune.
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»Also, dann wollen Sie mich verlassen?«
»Ja.«
»Sie haben sich entschieden?«
»Ja.«
»Und es gibt nichts mehr zu besprechen?«
»Nun ja, wir könnten besprechen, was zwischen
uns schief ging, was gut ging und wie es jetzt
weitergeht.«
»Aber es wird nicht weitergehen«, sagte sie steif.
»Das haben Sie unmissverständlich klargestellt.«
»Ich dachte eher, wir könnten uns als Freunde ver
abschieden. Deshalb habe ich um einige abschlie
ßende Sitzungen gebeten.«
»Die werden Sie aber nicht bekommen. Entweder
setzen Sie die Therapie bei mir fort und wir
bearbeiten die Dinge in der Therapie, oder wir
beenden sie auf der Stelle.«
»Ich glaube, dann beenden wir sie lieber auf der
Stelle«, sagte ich, einigermaßen erschüttert von
ihrer Wut.
»Ich möchte Sie aber warnen, dass Sie einen sehr
großen Fehler machen, der Sie sehr teuer zu
stehen kommen kann.«
»Das werden wir ja sehen«, murmelte ich, äußerlich
ruhiger, als mir innerlich zumute war.
»Das werden wir.«
»Das war's dann also.«
»Nicht ganz«, erwiderte sie. »Ich habe hier noch et
was für Sie.«
»Was ist das?«
»Ihre Rechnung.«
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»Wofür?«
»Für die Sitzungen, die Sie versäumt haben, wäh
rend Sie im Krankenhaus waren.«
»Sie machen Witze.«
»Klinge ich, als wollte ich einen Witz machen?«
Was für eine alberne Frage. Mary klang niemals, als
wollte sie einen Witz machen.
»Aber wie hätte ich kommen sollen, während ich im
Krankenhaus war? Ich bin doch nicht absichtlich
meschugge geworden.«
Im Nachhinein betrachtet war das vielleicht sogar
eine Lüge. Meschugge zu werden, war möglicher
weise der einzige Weg, Marys Fängen zu entkom
men.
»Sie kennen die Regeln. Sie müssen für alle ver
säumten Sitzungen bezahlen.«
»Aber ich bin doch nicht zuletzt Ihretwegen in die
Klinik gegangen.«
»Oh, dann war es also meine Schuld, ja? Hören
Sie, niemand hat Ihnen versprochen, dass die
Therapie eine einfache Sache werden würde.
Manchmal stößt man auf hässliche Dinge.
Manchmal muss man in die Klinik. Das ist alles ein
Teil des Prozesses.«
»Ich sehe den Prozess aber ganz anders.«
»Das kann ich verstehen. Trotzdem erwarte ich,
dass Sie die letzte Rechnung bezahlen.«
»Ich werde nicht zahlen.«
Und ich habe nicht bezahlt. Und wenn du mich ver
klagen willst, Mary, dann mach nur. Meine Adresse
... ach, verdammt. Die kannst du selbst nachsehen,
ich bin nicht umgezogen.
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Jahre und Jahre der Therapie, und ich weiß immer noch nicht, wie man so etwas möglichst elegant zu Ende bringt.
183
»Ach, nichts weiter. Ich habe nur laut gedacht.«
»Okay, dann reden wir morgen weiter darüber.«
Damit begann meine Medienkarriere.
Am nächsten Tag marschierte ich zum Bush House,
wurde an der Rezeption abgefertigt, zum hinteren
Teil des Gebäudes weitergereicht und in eine
winzige, stickige, fensterlose Kabine gesteckt, in der
es außer einem Stuhl, ein paar Anzeigen und einem
Kopfhörer nichts zu sehen gab.
»Setzen Sie die Kopfhörer auf und warten Sie, bis
der Sender mit Ihnen Kontakt aufnimmt«, krächzte
es aus dem Kopfhörer.
Ich gehorchte und schwitzte fünf Minuten lang.
»Hallo, sind Sie da, John?«, knarrte die Moderatorin
aus dem Kopfhörer.
»Ja.«
»Gut. Ich werde Sie in ein paar Minuten
ansprechen, wenn die Musik zu Ende ist. Okay?«
Nein. Ich hatte auf etwas mehr Aufmerksamkeit und
ein wenig mehr Aufsehen gehofft. Ich wollte
Glamour und Showbusiness.
»Yeah, in Ordnung.«
»Schön. Wir reden dann gleich weiter. Entspannen
Sie sich einfach und stellen Sie sich vor, wir würden
in Ihrem Wohnzimmer miteinander plaudern.«
»Was denn, wollen Sie auch den Fernseher
einschalten?«
»Wie bitte?«
»Nichts, war nur ein Scherz.« »Klar doch.«
Ich hörte, wie die Moderatorin die einleitenden
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insgeheim war. Sie war noch nie im Fernsehen, und
daran wird sich wohl nichts ändern.
»Jepp, ist ganz gut gegangen.«
»Oh«, sagte sie und konnte offenbar kaum ihre Ent
täuschung verbergen. »Das ist aber schön.«
Wir haben noch keinen Kabelanschluss im Haus
ein ständiger Kampf um Sky Sports, in dem ich ent
setzliche Niederlagen erlitten habe -, aber ein paar
Tage später wurde mir ein Video mit meinem preis
verdächtigen Auftritt zugeschickt.
»Lass es uns gleich ansehen«, sagte ich, während
ich die Verpackung aufriss.
»Muss das sein?«, stöhnte meine Frau.
»Ja.«
»Aber ich komme zu spät zur Arbeit.«
»Ich bin nur zwölf Minuten und einunddreißig Se
kunden dran.«
»Ganz exakt?«
»Ganz exakt.«
»Also gut.«
Also warf ich das Band an und lehnte mich zurück,
um meine Frau zu beobachten, die gleich grün
anlaufen würde.
»Schau nur!«, kreischte sie.
»Was denn?«
»Dein Kopf.«
»Was ist mit meinem Kopf?«
»Er wackelt herum als würde er gleich runterfallen.«
Allerdings. Mein Kopf wackelte. Ich hatte mich so
sehr darauf konzentriert, die richtigen Antworten zu
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geben, dass ich meine physische Erscheinung völlig vergessen hatte. Ich sah aus, als hätte ich Parkinson im Endstadium. »So schlimm ist das doch gar nicht«, wiegelte ich ab. »Oh, doch, das ist es«, erwiderte sie fröhlich. »Du hast es vermasselt. Aber da sowieso niemand diesen Sender sieht, ist es nicht weiter schlimm.« Da hatte sie ausnahmsweise Recht. Es war nicht weiter schlimm. Denn wenn man sich einmal etabliert hat, verzeihen einem die Leute fast alles. Es dauerte nur wenige Wochen, bis das Telefon das nächste Mal klingelte. »Hi, hier ist Sandy von Kilroy. Ich habe Ihr Buch ge lesen und finde es großartig.« Allmählich gewöhnte ich mich an diese Schmeiche leien, aber müde wurde ich ihrer noch lange nicht. »Danke.« »Yeah, und wir möchten Sie gern zu einer Sendung einladen, in der es um Vaterschaft geht.« »Worüber genau soll ich sprechen?« »Oh, wir machen keine spezifischen Vorgaben. Es geht einfach nur um das Problem, Vater zu sein.« »Ihnen ist doch klar, dass das Buch einen gewissen humoristischen Zug hat?« »Selbstverständlich. Dennoch spricht es einige sehr ernste Themen an.« Fuck, sie hatte es wirklich gelesen. Was für eine einfühlsame Frau. Beinahe hätte ich mich gleich am Telefon in sie verliebt. »Yeah. Sie müssen aber wissen, dass ich kein Ex perte für die Betreuung von Kindern bin.«
195
10 »Ich glaube, ich bin irgendwie doch eine
Klassefrau«, sagte meine Frau, als sie in ihrem
unförmigen Frotteemorgenmantel den Tee schlürfte.
Wie die meisten Absonderungen ihres
Bewusstseins zur Frühstückszeit hielt ich auch
diese Bemerkung einer Antwort für nicht würdig und
las weiter Zeitung.
»Ich sagte, ich glaube, dass ich irgendwie doch eine
Klassefrau bin«, sagte sie etwas nachdrücklicher.
»Ich hab's schon beim ersten Mal gehört.«
»Und?«
»Und was?«
»Nun ja, was meinst du?«
»Ich glaube, du hast sie nicht alle.«
»Warum?«, fragte sie verletzt.
»Weil es niemanden gibt, der weniger eine Klasse
frau wäre als du.«
»Andere Leute sagen, dass ich es bin.«
»Wer denn?«
»Debby und Elena.«
Ausgerechnet.
»Ich dachte, die sind deine Freundinnen.«
»Das sind sie.«
»Tja, dann übertreiben sie es entweder mit ihrer
Loyalität oder sie kennen dich nicht sehr gut.«
»Vielleicht bist du derjenige, der mich nicht gut
kennt.«
Schnippisch.
»Pass auf, du gerätst in Panik, wenn du nach halb
elf
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noch im Bett bist, du kannst ohne Ohrstöpsel nicht schlafen, du bist Mitglied im Wanderverein und du bist untröstlich, wenn du eine Folge deiner Soap verpasst hast. So benimmt sich keine Klassefrau.« »Aber ich habe die richtige Einstellung. Konkret ge sagt, bin ich durch und durch Hedonistin.« Was, zum Teufel, sollte das bedeuten? »Nein, das bist du nicht. Du bist schwermütig, lau nisch und schwierig. Deshalb mag ich dich.« »Einen Scheißdreck bin ich«, zischte sie. »Ich liebe das Vergnügen.« »Wie kommt es dann, dass du jemanden wie mich geheiratet hast, obwohl du doch das Vergnügen so sehr liebst?« Yeah, da rede dich jetzt mal raus. »Da war ich jünger und wusste es nicht besser.« Jünger. Das war das große Problem. Man hätte doch meinen sollen, dass im Haus nur Platz für eine Midlife-Crisis war. Für meine. Aber nein, meine Frau musste in meinem Revier wildern und sich auch eine zulegen. Nur dass ihre sich in dem verzweifelten Wunsch äußerte, den Alterungsprozess nicht nur aufzuhalten, sondern sogar umzukehren. Anscheinend dachte sie, sie könnte mit der Zeit immer jünger werden. Ich habe Ihnen ja schon etwas über ihren Musikge schmack verraten, aber das war nur die Spitze des Eisbergs. Das Bad war voll gestopft mit Hautpflegemitteln, im Kühlschrank befand sich ein Sammelsurium der neuesten gesunden Ernährungsmoden und im Schlafzimmer flogen Kataloge von Miss Selfridge herum.
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Alles Erinnerungen an die verlorene Jugend. Wenn man ihr sagte, dass sie intelligent war oder gut aussah, zuckte sie mit keiner Wimper. Aber wenn man ihr sagte, dass sie wie Anfang dreißig aussah, schmolz sie dahin und war vielleicht sogar bereit, mit einem zu schlafen. Wer weiß? Bei mir hat es funktioniert. Manchmal jedenfalls. Im Grunde war ja auch gar nichts verkehrt daran, dass meine Frau eine Midlife-Crisis hatte. Nicht ein mal ich war so eigensüchtig, ihr diesen Spaß verderben zu wollen. Zwar war ich etwas pikiert, weil sie nichts Originelleres zu bieten hatte - stellen Sie sich nur vor, wie genervt manche Serienmörder über ihre Trittbrettfahrer sein müssen -, aber mein wichtigster Vorbehalt bestand darin, dass unsere Lebenskrisen miteinander einfach nicht kompatibel waren. Denn je jünger sie sich zu machen versuchte, desto älter fühlte ich mich. Aber als moderner, aufgeschlossener Mann be mühte ich mich, die Verklärung meiner Frau so gut wie möglich aufzufangen. Nein, ich will nicht zu be scheiden sein. Ich war extrem nachsichtig. Ich wurde zur Cilla Black unserer Beziehung. Als sie sagte, sie würde wirklich gern mal etwas Jugendliches und Spontanes tun, machte ich bereitwillig mit. »Was schwebt dir denn so vor?« »Etwas Verrücktes«, antwortete sie. »Zwei Tage ohne die Kinder nach Paris fahren.« »Schön, lass es uns machen.« »Ich glaube, das geht nicht.« »Warum nicht?«
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»Ich glaube nicht, dass ich die Kinder so lange
allein lassen kann.«
»Wahrscheinlich freuen sie sich, dass sie mal Ruhe
haben.«
»Du verstehst es einfach nicht, was?«, sagte sie.
»Was verstehe ich nicht?«
»Dass es für eine Mutter schwer ist, ihre Kinder zu
verlassen.«
»Oh, dann glaubst du also, du liebst sie mehr als
ich, was?«
»Fang nicht wieder damit an. Es ist etwas anderes,
das ist alles.«
Was so viel bedeutete wie: Ja, ich liebe sie tatsäch
lich mehr als du.
»Es ist nur für zwei Tage, verdammt«, sagte ich
kompromissbereit. »Wir schicken sie doch nicht ins
Heim.«
»Ich weiß nicht ...«
»Entscheide dich. Immerhin war es deine Idee.«
»Also gut.«
»Schön, wann fahren wir?«
»In ein paar Monaten.«
»Yeah, das wäre ziemlich spontan.«
Also kaufte ich zwei Eurostar-Tickets für etwa 240
Pfund, überredete das Kindermädchen, zwei Tage
rund um die Uhr aufzupassen - 150 Pfund -, reser
vierte ein Zimmer in einem kleinen, aber schicken
Hotel in der Nähe des Boulevard St. Germain - etwa
250 Pfund -, und dann sprangen wir einfach in die
U-Bahn nach Waterloo und waren kurz darauf nach
Paris unterwegs. Gott, wir waren auf einmal so jung.
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So etwas konnte sie doch nicht abschlagen.
»Oh«, sagte sie verblüfft. »Das wäre aber schön.«
»Fein. Wohin sollen wir fahren?«
»Wir sind ziemlich ausgebucht, musst du wissen«,
teilte sie mir geschäftsmäßig mit. »Ende des
Monats fahren wir zehn Tage zu Elizabeth nach
Nizza, da kannst du leider nicht mitkommen. Am
Wochenende, nachdem wir zurück sind, fahren wir
nach Stratford und zwei Wochen später wollen wir
ein paar Tage auf die Kanalinseln. Das geht also
leider auch nicht. Vielleicht könnten wir dich auf die
Schwarzmeerkreuzfahrt im Juni mitnehmen, aber es
wäre wahrscheinlich sogar noch besser, wenn du
uns im August zu den Opernfestspielen nach
Verona begleitest.«
Gott, sie waren pausenlos in Europa unterwegs,
und ich konnte mich kaum noch erinnern, mal etwas
Ferneres als die M25 gesehen zu haben.
»Ihr seid aber viel unterwegs.«
»Na klar doch«, erwiderte sie. »Wir sind Rentner.«
»Ich verstehe«, sagte ich, auch wenn ich es nicht
verstand.
»Wir sitzen schließlich nicht den ganzen Tag herum
und sehen Richard and Judy«, erklärte sie.
Wenn die nicht, wer sieht die Serien dann?
»Wir haben uns ein hübsches Sümmchen gespart«,
fuhr sie fort, »und das geben wir jetzt aus. Du
glaubst doch nicht, wir würden am Hungertuch
nagen, um alles dir zu hinterlassen? Haha.«
Haha, sehr witzig.
»Haha«, machte ich nervös. »Nein, natürlich nicht.«
»Wir wollen eben das Leben genießen.«
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»Wie meinst du das?«, fragte ich neugierig. »Ich meine, wir sind nicht alle tatterig und klapprig.« »Aber was ist mit all den alten Jammergestalten, die ich draußen herumlaufen sehe?« »Alles nur Tarnung«, antwortete er. »Jeder von uns muss das ein Jahr lang machen. Bald bin ich an der Reihe. Also rechne damit, dass ich mich an vertrauten Orten verlaufe und mich mit Politikern und Royals fotografieren lasse. Es widerstrebt mir zwar sehr, aber dieser Einsatz ist absolut notwendig. Es hilft, all die passenden Mythen über uns Alte zu zementieren, damit wir kostenlos mit dem Zug fahren können und im Kino und Theater Ermäßigung bekommen. Diese Gestalten lenken die Aufmerksamkeit von uns anderen ab, die einfach nur in Ruhe ihr Leben genießen wollen.« Das Leben genießen. Da war es schon wieder. »Aber wie könnt ihr das Leben genießen, wenn ihr dem Tod so nahe seid?«, fragte ich geradeheraus. »Habt ihr denn keine Angst?« »Natürlich haben wir Angst«, sagte mein Dad ener gisch. »Jeder hat Angst zu sterben. Aber wenn du erst einmal unser Alter erreicht hast, dann weißt du, dass du nicht mehr jung sterben kannst. Man kann dir nichts mehr wegnehmen. Die meisten von uns betrachten ihre Zeit als Geschenk und genießen sie. Wir packen so viel hinein, wie es nur irgend möglich ist. Einschließlich Sex. Du glaubst wahrscheinlich, alte Leute würden damit so um die fünfzig aufhören, was?«
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wohl heute nennt. Ich habe es wohl etwas übertrie ben, als wir vor fünf Jahren unsere Rundreise durch die USA gemacht haben.« »Was?« »In Verona haben wir es alle genommen. Oder glaubst du, wir könnten so einen Zeitplan ohne Auf putschmittel durchhalten?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte ich, innerlich erleich tert. »Ich erzähle dir das nur, weil ich dir etwas geben will, auf das du dich freuen kannst. Jeder weiß, dass der schlimmste Augenblick im Leben der ist, wenn man vierzig wird. Du bist zu alt, um noch verantwortungslos zu handeln, du musst dich um deinen Beruf kümmern und Kinder in die Welt setzen. Kinder sind ein Albtraum. Du warst jedenfalls einer.« »Danke.« »Ich will nur, dass du die Wahrheit erfährst. Der Punkt ist, dass es vorläufig auch nicht besser werden wird, also musst du dich wohl oder übel damit abfinden. Aber wenn du fünfundsechzig bist, wird es wieder leichter. Halte einfach durch.« Also hatte ich nur noch die Kleinigkeit von fünfund zwanzig Jahren vor mir.
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14 »Was setzt Sie denn so unter Stress?«, fragte Clare. Wie lange habe ich noch? Zum Leben, Denken, Laufen, Reden, Arbeiten, für die Freizeit? Bevor ich sterbe? »So ziemlich alles«, antwortete ich. »Das ist mir zu allgemein. Nennen Sie doch bitte konkrete Ereignisse, damit wir uns überlegen können, wie Sie damit umgehen sollten, um sie als weniger belastend zu erleben.« »Ich verstehe. Nun ja, ich glaube, es sind die Wie derholungen, die mir zu schaffen machen. Ich bin es einfach leid, mit meiner Frau immer wieder über die gleichen Dinge zu streiten. Ich bin es leid, auf dem Weg zur Arbeit immer wieder die gleichen Verspätungen der öffentlichen Verkehrsmittel zu erleben. Ich hasse es, dass Monat für Monat immer neue Rechnungen kommen. Reicht das für den Anfang?« »Das ist gut. Was glauben Sie nun, wie Sie Ihre Haltung und Ihre Einstellung verändern könnten, um diese Dinge als weniger belastend zu empfinden?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich. Doch, ich hatte eine Ahnung. Aber das sagte ich ihr nicht. Sobald ich wieder daheim war, rannte ich zum Tele fon. »Hallo«, sagte ich, »ist da das Roslin Institute?« »Ja«, antwortete eine Stimme mit breitem schotti schem Akzent.
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»Kann ich mit dem Herrn sprechen, der das Schaf Dolly geklont hat?« »Am Apparat.« »Schön. Vielleicht kommt es Ihnen komisch vor, aber was Sie mit Dolly gemacht haben, fand ich so beeindruckend, dass ich mich frage, ob Sie nicht das Gleiche für mich tun könnten.« »Wie meinen Sie das?«, fragte er vorsichtig. »Ich meine, Sie sollen mich klonen. Ich will keine jüngere Version von mir, sondern jemanden, der ge nauso aussieht wie ich.« »Hmm, seltsam, dass Sie ausgerechnet jetzt damit kommen. Wir haben gerade die Erlaubnis der Regierung bekommen, ein Experiment in dieser Form durchzuführen. Allerdings gibt es einen Haken.« »Welchen denn?« »Sie und Ihr Klon müssen sich als Ausstellungs stücke für den Millennium Dome zur Verfügung stel len.« »Das dürfte kein Problem sein.« »Schön. Dann schicken Sie uns doch bitte eine Probe. Nächste Woche ist Ihr Klon fertig.« Ich schnitt mir also eine Fingerkuppe ab und steckte sie in die Salzlösung im Probengläschen, das ich anschließend nach Edinburgh schickte. Fünf Tage später klopfte es an der Tür. »Hallo, ich bin John«, sagte mein Klon. »Ich auch«, antwortete ich. »Du siehst großartig aus.« »Du auch.« Es war Narzissmus auf den ersten Blick. Ich konnte
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gleich sehen, dass wir prima zurechtkommen wür den. Als Erstes mussten Wir ein paar Regeln festlegen. Er hatte keine Probleme damit, dass er John Zwei genannt werden würde, aber er war bitter enttäuscht, dass er weder mit meiner Frau schlafen noch rauchen, trinken oder Drogen nehmen durfte. Irgendwo musste es ja eine Grenze geben. Das Wichtigste, das wir klären mussten, war die continuity. Ich konnte nicht einfach ins Wohnzimmer verschwinden, um Sekunden später aus dem Bad zu kommen. Deshalb kaufte ich ihm einen Miniaturkopfhörer, mit dem ich ihn ständig informieren konnte, was ich gerade tat und wann er zur Arbeit gehen musste. Alles klappte wie am Schnürchen. John Zwei ging für mich zur Arbeit, aber ich profitierte davon. Während er arbeitete, genoss ich meine wohl verdiente Ruhe, holte ein paar Stunden verlorenen Schlaf nach, las ein Buch oder ging mit einem Freund zum Essen. Abends schickte ich John Zwei nach oben ins Büro, damit er die offenen Rechnun gen begleichen und schwierige Anrufe entgegennehmen konnte. Den Rest des Abends hatte er dann frei, falls ich nicht einen Streit mit meiner Frau am Horizont heraufziehen sah. In diesem Fall musste er ran. Falls er im Streit den Kürzeren zog, musste er bleiben und mit ihr Friends anschauen. Wenn er gewonnen hatte, konnte er aufs Klo gehen, und ich nahm seine Stelle ein und konnte in Ruhe etwas Interessantes sehen. »Du wirkst erstaunlich entspannt«, sagte meine
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Frau an einem Wochenende. »Das Prozac wirkt an scheinend.« »Ich glaube nicht, dass es mit dem Prozac zu tun hat.« »Wirklich nicht? Was ist es dann?« »Ich würde es mit vernünftigem Zeitmanagement begründen«, sagte ich. »Du solltest das auch mal versuchen.« Ich dachte, ich hätte alles geregelt. Ich habe es wirklich geglaubt. So konnte ich die fünfundzwanzig Jahre bis zur Rente locker absitzen, und dann würde der Spaß erst richtig losgehen. Aber sechs Monate nach Beginn des neuen Arrangements nahm die Sache eine unangenehme Wendung. John Zwei erklärte mir, er müsse mit mir reden. »Ich bin überhaupt nicht glücklich über die Art und Weise, wie sich die Dinge entwickelt haben«, sagte er ziemlich pampig. »Oh. Warum das? Ich dachte, wir hätten alles bes tens geregelt.« »Nein, leider nicht. Ich bin völlig gestresst, weil ich mich dauernd mit deinem Mist beschäftigen muss.« »Aber das musst du eben in Kauf nehmen, wenn du ich sein willst.« »Ich will aber nicht mehr du sein«, heulte er. »Das ist hart. Ich musste schließlich vierzig Jahre lang damit zurechtkommen, ich selbst zu sein, und du erst sechs Monate. Ihr jungen Leute von heute haltet einfach nichts mehr aus.« »Vergiss es«; sagte er. »Ich will einfach auch nur mal etwas machen, das mir Spaß macht.«
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»Da gibt es nichts. Nicht wenn du ich bist. Es gibt nichts, an dem ich Spaß hätte. Nur einige Dinge, die nicht ganz so deprimierend sind wie alle anderen.« »Jetzt komm mir nicht mit solchen Spitzfindigkei ten«, knurrte er. »Hör mir genau zu. Ich will auch mal die nicht ganz so deprimierenden Sachen probieren. Hast du verstanden?« »Das geht nicht.« »Warum nicht?« »Weil du existierst, um dich mit dem Mist zu be schäftigen.« »Nein, das ist nicht wahr«, erwiderte er. »Ich bin ein vollwertiger Mensch.« »Ich sag dir was«, lenkte ich so versöhnlich wie möglich ein. »Wenn du den Rest des Jahres weiter gute Arbeit leistest, lasse ich dich für zwei Wochen allein in Urlaub fahren.« »Also gut«, sagte er sichtlich erfreut. »Abgemacht.« Ich bin sicher, dass John Zwei sich an die Abma chung halten wollte. Die nächsten paar Wochen war sein Gang sichtlich federnd, und er machte sich eifrig über die lästigen Aufgaben her. Aber das hielt nicht lange an. Das Theater begann, als ich eine Reihe unbezahlter Verwarnungen für Verkehrsvergehen zugestellt be kam, die offensichtlich begangen worden waren, als John die Wocheneinkäufe erledigt hatte. »Was ist das hier?«, fragte ich ihn. »Sieht aus wie Verwarnungen wegen Falschpar ken.« Wie aufsässig.
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»Das sehe ich selbst. Und wofür hast du sie bekom
men?«
»Ich konnte mich wirklich nicht auch noch darum
kümmern, einen regulären Parkplatz zu finden.«
»Das ist völlig verantwortungslos. Glaubst du wirk
lich, ich würde die jetzt bezahlen?«
»Dir wird wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte
John Zwei altklug. »Ein sieben Monate alter Mann
darf kein Bankkonto führen.«
»Ich weiß. Aber jetzt kannst du deine Ferien verges
sen.«
John Zwei stürmte hinaus und ich ging ins Bett. Am
nächsten Morgen um elf wurde ich vom Telefon ge
weckt.
»Hallo«, sagte ich verschlafen. »Wer ist da?«
»Ich bin's, Emily aus dem Büro. Wo sind Sie?«
»Ich bin im Büro, oder nicht?«, antwortete ich re
flexartig.
»Darüber sollten Sie lieber noch einmal nachden
ken«, gab sie böse zurück.
»Nein, natürlich bin ich nicht im Büro«, lachte ich.
»Ich bin zu Hause.«
»Brillant.«
Die Leute haben ja keine Ahnung, wie schwierig es
ist, wenn man einen Klon hat. Besonders wenn der
faule kleine Bastard einfach nicht zur Arbeit geht.
»Hören Sie, es tut mir wirklich Leid. Ich komme so
schnell wie möglich.«
Zwei Tage später tauchte John Zwei wieder auf. An
scheinend hatte er eine ausgiebige Sauftour hinter
sich. Er sah schrecklich aus: seine Haare waren
verfilzt,
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er hatte sich auf den Anzug gekotzt und stank. Damit war das Ende der Fahnenstange erreicht. Er war jetzt eher eine Belastung als eine Erleichterung, und es war Zeit, ihn loszuwerden. Ich versuchte es mit den üblichen leeren Phrasen wie jeder Chef, der einen überflüssigen Mitarbeiter feuert: »Vielen Dank für die lange Zeit, die du mir treu gedient hast. Du hast zwei Minuten, das Haus zu verlassen, etwaige Beschwerden richtest du bitte direkt an meinen Anwalt.« Aber John Zwei unterbrach mich. »Esch duhd mir Leid«, nuschelte er. »Ich weisch, dasch ich dich endäuscht hab, dasch wollte ich nischt. Esch isch blosch scho anschdrengnd, immer du schu schein. Du bischt scho ein armer Hund. Schullige meine Auschbrache, aber biddebidde lasch mich hier rausch.« »Ist dir denn klar, was das bedeuten würde?« »Isch klar. Aber dasch musch einfach schein.« Wir gingen langsam in die Dämmerung hinaus, stie gen ins Auto und fuhren auf der M6 nach Norden in Richtung Schottland. John Zwei verbrachte die Nacht bewusstlos oder leise wimmernd, ich starrte nach vorn und schwieg. Eine Weile nach dem Frühstück erreichten wir unser Ziel. »Das war's dann wohl«, sagte ich. John Zwei betrachtete seinen Geburtsort und mar schierte hinein, ich folgte ihm. Er wandte sich direkt zum Behandlungszimmer. »Wird Scheit«, sagte er. »Ich werde dich vermi schen, John Eins.« »Ich dich auch, John Zwei.«
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Ohne weiteres Getue rollte John Zwei sich den Är mel hoch, und der Arzt spritzte ihm eine tödliche Dosis Barbiturate. Als er auf die Liege zurückfiel und keuchend den letzten Atemzug tat, musste ich weinen. Es war fast, als würde ich einen Teil von mir selbst sterben sehen. Aber bei solchen Dingen kann man sich keine Sentimentalitäten erlauben. Er war schließlich nur ein Klon und er hatte mir eine Menge Ärger eingebrockt. Als ich Birmingham erreichte, kam mir der Beifahrersitz kaum noch vorwurfsvoll leer vor. Nein, ich fühlte mich sogar ziemlich munter, denn mir wurde klar, dass meine ursprüngliche Prämisse richtig gewesen war. Einen Ersatzmann zu beschäftigen, war völlig in Ordnung. Mein Fehler war nur, mich für John Zwei zu entscheiden. Unsere Persönlichkeiten waren unverträglich. Vielleicht möchte manch einer sagen, wir wären uns zu ähnlich gewesen, aber das halte ich für übertrieben. Er war für meinen Geschmack schlichtweg zu launisch, zu empfindlich und zu neurotisch. In mei nem Leben ist nur Platz für eine Primadonna. Ich brauchte also jemanden, der vernünftiger und leichter zu handhaben war. Und so stand ich eine Weile später in der Nähe der Mile End Row im schäbigen Büro von Monty's Double. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann, der sich als Jim vorgestellt hatte. »Ich suche einen Doppelgänger.« »Tja«, sagte er. »Ich hätte ein paar Prinzessin Dis da, die laufen in der letzten Zeit nicht mehr besonders gut. Aber wenn Sie was Preiswertes und Lustiges suchen,
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könnte ich Ihnen einen guten Preis für eine Fergie
machen. Die sind in der letzten Zeit sehr gefragt.«
»Äh, nein, danke«, sagte ich. »Ich suche jemanden,
der so aussieht wie ich.«
»Oh«, antwortete er. »Müsste ich Sie kennen?«
»Nein.«
»Sie müssen nämlich wissen, dass wir nur Doppel
gänger von berühmten Leuten anbieten.«
»Ich dachte, Sie haben vielleicht ein großes
Register mit Gesichtern. Heute werden so viele
Unbekannte über Nacht berühmt, da müssen Sie
doch auf alles vorbereitet sein.«
»Nein, so läuft das nicht, Sir.«
»Tja, könnten Sie trotzdem die Augen offen halten?
Falls Ihnen jemand über den Weg läuft, der
geeignet sein könnte?«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Jim hielt Wort, denn ein paar Wochen später bekam
ich einen Brief von einem Mann, der mich um ein
Treffen an der Freiluftbühne im Battersea Park bat.
Ich kam ein paar Minuten zu spät und schnappte
noch nach Luft, als jemand hinter mir sagte:
»Psst, sind Sie John?«
Ich fuhr herum, und da stand er. Etwas grauer als
ich, aber nichts, was sich nicht in Ordnung bringen
ließ. In jeder Hinsicht mein genaues Ebenbild.
»Yeah. Wer sind Sie?«, fragte ich. »Meinen Namen
nenne ich nicht.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie John Drei
nenne?«
»Warum John Drei?«
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»Das ist eine lange Geschichte.« »Okay, geht klar. Wenn Sie es so haben wollen. Und was soll ich jetzt für Sie tun?« »Das ist eine recht komplizierte Angelegenheit.« »Ich habe Zeit.« Also erzählte ich ihm in den folgenden zwanzig Mi nuten, wozu ich ihn brauchte. Als ich fertig war, grinste John bis über beide Ohren. »Wissen Sie was, John Eins?«, sagte er. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Sie John Eins nenne, oder?« »Nein, kein Problem«, erwiderte ich ruhig. »So hal ten es die anderen auch.« »Tja, ich denke, wir sind im Geschäft. Ich habe mich übrigens als Doppelgänger zur Verfügung gestellt, weil ich mein Leben ebenfalls satt habe. Mein Leben ist so verdammt vollkommen, dass es beinahe unwirklich scheint. Es ist, als lebte ich in einem Märchen. Meine Frau glaubt, in meinem Arschloch scheine die Sonne. Sie freut sich immer, wenn sie mit mir zusammen ist, sie will immer die gleichen Sendungen sehen wie ich. Sie ist zu schön, um wahr zu sein. Das Gleiche im Büro. Ich bin ungeheuer beliebt, und alle glauben, ich wäre absolut unersetzlich. Ich habe sogar versucht, ein Projekt absichtlich den Bach runtergehen zu lassen, aber der Kunde dachte, ich wäre unglaublich innovativ, und hat uns gleich eine Menge neuer Aufträge gegeben. Und die Krönung ist, dass ich in meinem ganzen Leben noch keinen Tag krank war. Aber Sie werden eine richtige Herausforderung für mich sein. Ein Versager sein und dafür
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von allen Druck bekommen, das wird mir helfen, mein Leben zu schätzen.« »Das freut mich aber für Sie«, sagte ich etwas steif. »Aber vergessen Sie nicht«, fuhr er fort, »dass ich nur stundenweise für Sie einspringen kann. Mehr als zwei oder drei Stunden am Tag schaffe ich nicht. Wenn es mehr würde, könnte ich noch in der Psychiatrie landen. Nehmen Sie's nicht persönlich.« Aber natürlich nicht. »Schon gut. Ich weiß, was Sie meinen. Aber ich würde die Überstunden extra bezahlen.« »Vergessen Sie's.« Mit Handschlag besiegelten wir die Abmachung. Sie hat hervorragend funktioniert. Wann immer es mir zu viel wird oder John Drei sich nach Abwechslung sehnt, rufen wir einander an und wechseln die Identitäten. Ich fahre nach Bromley hinaus - dort lebt er, aber die genaue Adresse kann ich Ihnen aus Sicherheitsgründen natürlich nicht geben - und werde verhätschelt und für interessant und unterhaltsam gehalten. Allerdings frage ich mich, ob er die Zügel nicht zu sehr schleifen lässt, denn meine Frau hat mehrmals gesagt, wie locker und umgänglich ich doch auf meine alten Tage würde. Vielleicht bin ich inzwischen auch wirklich so um gänglich. Falls ich es bin, habe ich das John Drei zu verdanken. Oder meinem Problemlöser, wie ich ihn manchmal nenne, wenn wir uns für das Briefing tref fen. John Drei wird mich vielleicht umbringen, wenn er es hört, aber er ist wirklich einer der nettesten Menschen, die ich je getroffen habe. Er hat mein Leben
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völlig umgekrempelt, weil er mir eine kleine Oase der Ruhe gegeben hat. Ich habe sogar schon mit dem Gedanken gespielt, Ihnen allen den Mann eines Tages vorzustellen - wenn ich nicht wüsste, dass Sie ihm sowieso schon begegnet sind.
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... und meinen Patenkindern vermache ich ... absolut nichts. Nicht weil ich so gemein bin, sondern weil ich keine habe. Ich war darüber immer etwas verstimmt. Sehr verstimmt sogar, um ehrlich zu sein. Ich bin nicht einmal irgendwo in die engere Wahl gekommen und das finde ich wirklich beleidigend. Alle, die ich kenne, haben anscheinend Dutzende dieser kleinen Bastarde. Sogar meine Frau, dieser Inbegriff von Atheismus und fragwürdigen moralischen Vorstellungen, hat ein paar. Noch schlimmer, sie hat zwei Freundinnen sogar bei den Adoptionspapieren geholfen. Da haben die sozialen Dienste wohl doch nicht so gründlich gearbeitet wie sie sollten. Aber- moi? Nichts, nada, nebbich. Als wär ich ein Pädophiler. Dabei mag ich die Kinder anderer Leute überhaupt nicht, und scharf auf sie bin ich erst recht nicht. Aber genug davon. Wo war ich gerade? Ja, richtig. Mein Testament. Keine Sorge, das ist kein schwerer Rückfall in meine morbiden Grübeleien. Ganz im Gegenteil. Seit John Drei für mich arbeitet und seit dem vertraulichen Gespräch mit meinem Vater verläuft mein Leben recht gut. Ich glaube, jetzt kann ich mich damit abfinden, dass ich älter werde. Jedenfalls erheblich besser als früher. Nur ein Puzzleteilchen muss noch an die richtige Stelle geschoben werden, dann ist alles in Ordnung. Dieses Teilchen ist mein Testament. Über Testamente gibt es eine ganze Reihe weit ver breiteter Mythen. Einer ist, dass man stirbt, sobald
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man eines gemacht hat. Manchen Leuten passiert das, anderen nicht. Was soll man sonst dazu sagen? Ein anderer Mythos geht dahin, dass ein Testament so klar und einfach wie möglich sein sollte. Meine Eltern sind unbedingt dieser Ansicht. Sie haben für Anwaltsgebühren ein kleines Vermögen ausgegeben, um sicherzustellen, dass ihre Vermächtnisse möglichst reibungslos abgewickelt werden. Aber das ist Selbstbetrug. Ich meine jetzt nicht einmal in finanzieller Hinsicht, auch wenn sie das hätten berücksichtigen sollen. Ein Testament ist keineswegs eine nahtlose Übertragung von Hab und Gut vom Verstorbenen auf die ausgewählten Empfänger. Es geht auch nicht nur um die Steuern, obwohl das natürlich ein Aspekt ist, den man berücksichtigen sollte. Ein Testament soll dafür sorgen, dass ein Teil von Ihnen unsterblich wird, damit Sie auch lange nach Ihrem Tod noch Macht und Einfluss ausüben und allen, die noch leben, auf die Nerven gehen können. Ein Vermächtnis ist eine Übung in Boshaftigkeit mehr ein »Pestament« als ein »Testament«. Vor diesem Hintergrund wäre ein unkompliziertes Testament einfach lächerlich. Denn wenn sich die gierigen Geier am Tag nach der Beerdigung nur im Büro des Notars versammeln müssen, um ihm ein paar Minuten zuzuhören und dann ihren Scheck in Empfang zu nehmen, wird man Sie Sekunden später vergessen haben, und Ihre Erben werden eine Spritztour machen und alles auf den Kopf hauen. Wenn Sie meinen, ich wäre unangemessen zynisch, dann gehen Sie doch mal auf einen Friedhof, der Ihnen gefällt, und
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sehen Sie sich an, wie viele Gräber dort verkommen. Einen überzeugenderen Beweis für die Sinnlosigkeit, ein unanfechtbares Testament zu schreiben, gibt es nicht. Ich will meine Familie nicht um ihren Erbteil bringen, wie immer dieser auch aussehen mag - auch wenn ich glaube, dass John Drei einen kleinen Anteil bekommen wird. Nein, sie sollen ganz einfach nur länger etwas davon haben - unter gewissen Bedingungen, versteht sich. Jedes Jahr können Jo und Tom ein paar hundert Pfund abholen, vorausgesetzt, sie haben eine Nachtwache gehalten und für meine unsterbliche Seele gebetet und eine Gedenkanzeige in allen überregionalen Zeitungen geschaltet. Und sie müssen in der St. John's-Woche, wie die Trauerzeit fortan genannt werden soll, schwarze Kleidung tragen. Ich will nicht darauf bestehen, dass mein alljährlicher Gedenkgottesdienst im Fernsehen übertragen wird, aber ich kann doch wohl verlangen, dass es in einer Kathedrale wenigstens eine anständige Veranstaltung gibt, die von zahlreichen Popstars, Fernsehleuten, Modedesignern und Anthea Turner besucht wird. Sie haben ja keine Ahnung, wie schwierig es ist, ein kompliziertes Testament aufzusetzen. Es sei denn, Sie sind Anwalt; dann hatten Sie jahrelang Übung. Man kann natürlich in die Testamentsnachträge alles Mögliche hineinschreiben, aber es ist unwahrscheinlich, dass alle kleinen Details auch buchstabengetreu befolgt werden. Ich weiß ja, wie meine Kinder sind. Sie sind wie ich. Sie werden es anfangs noch gut meinen, aber nach ein paar Jahren werden sie sich drücken, 230
wo sie nur können. Die Nachtwache wird zu einem hastigen Knicks verkommen, der Gottesdienst wird mit dem Abspielen von »Candle in the Wind« auf der Stereoanlage des Autos erledigt sein. Das wird aber nicht reichen. Ich werde nicht zulas sen, dass man mich so nachlässig behandelt. Ich will aus meinem Tod rücksichtslos und effizient für jeden Penny ein Gebet herauspressen. Und das bedeutet, dass ich mehr als gründlich vorausplanen muss. »Was, zum Teufel, machst du da schon wieder?«, fragte meine Frau, als sie vom Motorrad stieg. »Ich arbeite im Garten«, antwortete ich. »Verdammt, du hast meine Lieblingsmagnolie abge holzt«, brüllte sie, als hätte sie mich nicht gehört. »Ich dachte, der Vorgarten bekommt nicht genug Licht.« »Und deshalb hast du den einsamen Entschluss ge fasst, den Baum abzuholzen?« Gibt es denn einen anderen Weg, zu einer wohl überlegten Entscheidung zu kommen? »Ich wollte einige Dinge verändern.« »Warum denn?« Eine gefährliche Frage. Aber ich musste es ihr sa gen. »Ich bereite meine letzte Ruhestätte vor.« »Was soll das?« »Ich erschaffe den Tempel des John. Den Baum musste ich opfern, weil ich den Vorgarten fluten und eine kleine Insel aufschütten will, die das ganze Jahr mit Blumen bestreut werden soll.« »Du hast sie nicht alle.«
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»Oh doch. Das wird unglaublich geschmackvoll. Und stell dir nur vor, was für ein schönes Fotomotiv das für dich wird: Trauernde Witwe allein mit ihren kummervollen Gedanken auf der Insel der Liebe.« »Was das Trauern angeht, wäre ich da nicht so si cher.« Aber ich konnte sehen, dass sie angebissen hatte. Sie fand die Idee, in Hello! zu kommen, sehr attraktiv und stürzte sich mit ganzer Kraft auf das Projekt. Sie half mir, am vorderen Tor ein kleines Kassenhäuschen einzurichten, arrangierte im John Heritage Museum - dem ehemaligen Wohnzimmer geschmackvoll einige meiner alten Zeugnisse und meine Briefmarkensammlung, entwarf ein paar Fahrgeschäfte für den Vergnügungspark John's World of Adventures und walzte mehrere benachbarte Häuser nieder, um genügend Parkplätze zu schaffen. Als wir fertig waren, sah die Anlage wirklich beein druckend aus. »Was glaubst du, wie viel wir verlangen können?«, fragte sie, während sie ihrer Hände Arbeit bewunderte. »Fünfzehn Pfund würde ich sagen.« »Aber die Fahrgeschäfte und der Tee kosten extra, oder?« »Natürlich«, sagte ich. »Fünfzehn Pfund Eintritt, da mit man an meinem Grab meditieren kann, das ist wirklich nicht zu teuer.« »Du glaubst doch nicht, dass wir uns damit unter Wert verkaufen, oder?«, wollte sie wissen. »Auch wenn du dann tot bist und das Geld für dich sowieso nicht mehr wichtig ist.«
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»Nein, es ist am besten, man fängt niedrig an, um die Massen anzulocken. Außerdem gibt es eine ganze Menge zusätzlicher Einnahmen.« »Was denn?« »Es werden Tonnen von Blumen und Teddybären anfallen, die man zu Interflora und Hamley's zurück schaffen kann.« »Das ist wahr. Vielleicht bekommen wir sogar einen Umweltpreis für das Recycling.« »Nur über meine Leiche.« »Das sowieso.« Natürlich erregten die Vorgänge in unserem Haus weltweit die Aufmerksamkeit der Medien. Unzählige Bettelbriefe gingen ein, weil multinationale Konzerne meinen Namen für ihr Marketing verwenden wollten. Banken wollten Vermögensaufbauprogramme nach mir benennen. Tony Blair änderte seinen Vornamen in John und wandte sich in einer persönlichen Botschaft an die Nation, weil es ihm so zusetzte, dass er sein Haar verlor. M&S wurde in J&S umbenannt, um meine Maßstäbe setzende Eleganz zu würdigen. Allerdings mussten auch einige Schwierigkeiten überwunden werden. Beispielsweise der endlose Strom von Einladungen von Jeffrey Archer. Oder die Tatsache, dass mein Leben fürs Kino oder Kabelfernsehen verfilmt wurde. Aber all das wurde durch einen einzigen Anruf mehr als aufgewogen. »Hallo, kann ich mit John Crace sprechen?« _ »Am Apparat.« Das ist eine Sache, die die Menschen an mir beson ders lieben. Meine Erreichbarkeit. Die meisten Men schen
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brauchen nur einen Hauch von Berühmtheit zu verspüren, und schon lassen sie ihre Anrufe von Sekretärinnen und Managern abfangen, um sich wichtig zu machen. Aber das ist nicht mein Stil. Vielleicht bin ich auch viel zu nett, um berühmt zu sein. Aber es ist zu spät, um sich darüber jetzt noch den Kopf zu zerbrechen. »Hier ist Cliffs Agent.« »Hallo, Cliffs Agent.« »Cliff hat sich gefragt, ob Sie vielleicht nach Ihrem Tod ein Konzert veranstalten wollen, und ob es Ihnen gefallen würde, wenn er dabei auftritt.« »Eigentlich dachte ich nicht so sehr an ein einziges Konzert, sondern eher an alljährlich stattfindende Konzerte. Jeden dritten Sonntag im Juli im Tooting Bec Common.« »Was für ein großartiger Ort. Cliff liebt die Akustik dort draußen. Hören Sie, wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eine ganze Konzertreihe zum Sonderpreis anbieten. Ich kann Ihnen garantieren, dass er auf den ersten einhundert Konzerten auftreten wird.« »Gott, wird er darüber nicht etwas alt werden?«, fragte ich. »Selbst wenn ich morgen sterbe, ist er hundertsechzig, bis der Vertrag ausgelaufen ist.« »Machen Sie sich nicht lächerlich. Cliff wird nicht alt. Er bleibt ewig jung.« »Yeah, entschuldigen Sie bitte. Ich habe viel um die Ohren. Ja, der Vorschlag klingt gut. Aber er muss sich verpflichten, immer Congratulations als Zugabe zu bringen.« »Einverstanden.«
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Was für ein Vermächtnis an die Nation. Ein Meilen stein der Popgeschichte. Cliff und John. Ja, das hat was. Eine Schande, dass ich nicht mehr dabei sein kann, um es zu sehen. Hinter jeder Gestalt des öffentlichen Lebens verbirgt sich eine zurückgezogene, empfindsame Seele. Ich bin da keine Ausnahme. Während ich einen großen Teil meiner Zeit darauf verwenden musste, dafür zu sorgen, dass das Gesindel - viele glaubten sogar, sie würden mich persönlich kennen - nach meinem Tod gut versorgt wurde, musste ich doch daheim, am Busen meiner Familie und abseits vom Scheinwerferlicht, eine ganze Reihe sehr persönlicher Entscheidungen treffen. Die erste war die, dass es in Ordnung ging, in Form von Klischees über meinen Tod zu schreiben. So etwas kann man sowieso nicht verhindern, noblesse oblige. Der zweite Punkt war meine Organtransplantation. Es hatte etwas für sich, in jemand anderem weiterzuleben. Natürlich lag mir nicht daran, in einen armen oder hässlichen Menschen verpflanzt zu werden, aber ich glaube, man darf sich in gewissen Grenzen die Empfänger aussuchen. Ich machte mir allerdings Sorgen, wie die Menschen, denen ich meine Einzelteile gab, mit der Verantwortung umgehen würden. Es ist beispielsweise gar nicht so einfach, Augen zu haben wie ich. Frauen fahren darauf total ab und wenn jemand, der es nicht gewöhnt ist, solche Augen bekommt, wie soll er das bewältigen? Wie würde es überhaupt sein, im Körper von je mand
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anders zu stecken? Würde ich schwul werden, wenn ich in einem anderen Mann steckte? Oder würde ich einfach abgestoßen? Würde es sich besonders scharf anfühlen, wenn ich den ganzen Tag in einer Frau herumlief? Mein Körper sehnte sich jedenfalls nach einem Ta petenwechsel. Kaum dass ich meinen Spenderausweis in der Tasche hatte, spielten alle meine Organe verrückt. Mein Herz flimmerte, ich bekam Nierensteine und alles verschwamm mir vor den Augen. »Was ist nur los mit mir?«, fragte ich Vicky, eine enge Freundin meiner Frau. »Hör einfach nur auf deinen Körper«, beruhigte sie mich. »Er wird dir schon sagen, was du wissen musst.« Und richtig, er hat es mir gesagt. In Gedanken ver sunken lag ich im Garten, als eine kleine Stimme zu sprechen begann. »Hallo, John.« »Was ist?« »Erschrick nicht, aber ich bin dein Herz. Ich möchte mit dir reden.« »Was willst du?« »Alle wichtigen Organe haben mich gebeten, mich in ihrem Namen an dich zu wenden.« »Okay, schieß los«, sagte ich. »Also, wir würden gern umziehen.« »Warum denn?« »Wir langweilen uns zu Tode. Deine Leber hat nichts Aufregendes mehr zu tun, seit du mit dem Trinken aufgehört hast. Ebenso die Nieren. Das Einzige, was
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die Lungen und mich manchmal belastet, sind die wenigen Tage mit hoher Luftverschmutzung. Deine Augen haben seit Ewigkeiten keine Halluzinationen und nicht einmal mehr etwas halbwegs Interessantes gesehen.« »Aber ich dachte, das wäre genau das Leben, das ihr gern führen wollt.« »Das sagen die Ärzte, aber die haben keine Ahnung, wie wir Organe uns wirklich fühlen«, erklärte mein Herz. »Wir brauchen Herausforderungen. Erinnerst du dich an Paul? Sein Herz war ein guter Freund von mir. Ich war immer neidisch auf ihn, weil er so viel zu tun hatte. Wenn du ihn in einen Raum voller anderer Herzen gesteckt hast, war er immer der strahlende Mittelpunkt. Gott sei ihm gnädig. Andere Herzen übersehen mich, weil ich so langweilig bin. Immer nur die regelmäßigen zweiundsiebzig Schläge Ruhepuls pro Minute, solange du nicht läufst. Ich würde manchmal wirklich gern verrückt spielen runter auf vierzig, hoch auf hundertzwanzig. Wie ich es in den guten alten Zeiten gemacht habe.« »Ich sag dir was«, antwortete ich. »Wenn du mir ga rantierst, dass du mich in den nächsten fünfundzwanzig Jahren nicht im Stich lässt, kann ich dir dafür versprechen, dass es im Ruhestand viel interessanter wird.« »Müssen wir wirklich so lange warten?« »Ich fürchte schon. So lange wird es nämlich mindestens dauern, die Vorbereitungen für meine Beerdigung zu treffen.« »Also gut.«
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»Bist du sicher, dass du die Erlaubnis aller anderen Organe hast, diese Zusage zu machen?« »Ja.« Damit war auch dies geklärt. Das war der Deal, auf den ich schon so lange gewartet hatte. Ein Verspre chen aus ganzem Herzen, dass ich nicht vor dem fünfundsechzigsten Geburtstag sterben würde, und mein Körper würde ganz bestimmt nicht den Löffel abgeben, wenn der Spaß richtig begann. Die mittleren Lebensjahre waren also doch eine Spanne, die man überleben konnte. Nicht nur mental, sondern auch körperlich. Das war gut zu wissen. Sonst wäre ich vielleicht doch noch verrückt geworden.
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»Daddy, was ist Gott?«, fragte Jo. »Das ist schwer zu erklären.« »Georgia sagt, er sei überall. Aber wie kann Gott überall sein?« »Äh, es kommt darauf an, ob man daran glaubt oder nicht.« »Glaubst du denn daran, Daddy?« Um ehrlich zu sein, ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Deshalb habe ich bisher auch noch nicht über Gott gesprochen. Wer konnte überhaupt schon irgendetwas Genaueres sagen? Mag sein, dass er existiert, oder vielleicht auch nicht. Im Grunde wäre es mir lieber, er würde existieren. Und das war's dann auch schon. Aber diese Zurückhaltung bei theologischen Debatten hatte mir oft den Vorwurf eingebrockt, ich sei spirituell insolvent. Wenn die wüssten. Es ist wahr, dass ich nicht sehr anspruchsvoll bin, wenn es um Religion geht. Ich habe noch nie großen Wert darauf gelegt, zur Sommersonnenwende nach Stonehenge gefahren. Ich bin auch kein Buddhist geworden und habe mich nicht verpflichtet, mein Leben mit Singen und Meditieren zu verbringen. Ich bin nicht zum Katholizismus übergetreten und auf Händen und Knien nach Santiago de Compostela gekrochen. Ich habe mich noch nie auf den Philippinen ans Kreuz nageln lassen. Ich habe Salman Rushdie noch nie denunziert. Und ich bin ganz sicher auch noch nie wieder geboren worden. Außerdem bin ich kein atheistischer 239
Rationalist, aber das kann man von jemandem, der eingetragenes Kirchenmitglied ist, auch nicht erwarten. Nein, wirklich nicht. Ich habe mich darauf be schränkt, zweimal im Jahr mehr oder weniger planlos in die Kirche zu marschieren und zu beten und zu hoffen, es würde mir irgendwie nützen, wenn ich mal in der Scheiße steckte. So haben sich im Lauf der Jahre eine ganze Menge Gebete angesammelt. Aber besonders ernst habe ich sie nicht genommen. Nicht wirklich. Weil ich es nicht nötig hatte. Sie müssen wissen, dass ich als Sohn eines Vikars gewisse Privilegien genieße. Beispielsweise ist mir das Leben nach dem Tod garantiert, falls es das gibt. Vielleicht überrascht Sie das, aber in der Religion ist es nicht anders als in allen anderen Branchen: Beziehungen muss man haben. Gott weiß, dass er Vikaren keine großen Gehälter, Rabatte für Fahrkarten oder eigene Fernsehsender geben kann, und deshalb gewährt er Familienrabatte für das Leben nach dem Tod. Sie liegen also völlig daneben, wenn Sie sich fragen, ob ich das verdient habe oder nicht. Wenn es das Leben nach dem Tod gibt, dann ist es mir sicher. Mein Platz ist reserviert. Sie müssen abwarten und sehen, was Sie kriegen. Aber mein Mangel an festem Glauben beruhte nicht auf Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit, auch wenn beides angesichts der Umstände leicht verständlich gewesen wäre. Nein. Ich war so, weil mein Dad mir gesagt hatte, dass Gott keine Schleimer mag. Anscheinend kann er Menschen nicht ertragen, die sich 240
mit endlosen Darstellungen ihrer guten Taten, mit Demonstrationen von Mitgefühl und Ausbrüchen von Inbrunst den Weg in den Himmel erkaufen wollen. Gott ist auf so etwas nicht angewiesen, so groß ist sein Ego nicht. Er will ein wenig Achtung ab und zu das Eingeständnis, dass er der Boss ist -, und das reicht dann auch. Er will Leute im Himmel haben, mit denen er Spaß haben kann. Seiner Ansicht nach werden wir dort eine ziemlich lange Zeit verbringen, also sollten wir sie nach Kräften genießen. Wer will denn schon die Ewigkeit mit einem Haufen bibelfester Langweiler verbringen? Gott will das ganz sicher nicht. Deshalb hielt ich es für angebracht, den Tod nicht nur als religiöses, sondern auch als soziales Ereignis zu betrachten. Aus diesem Grund wollte ich nicht den Fehler begehen, mich im Anzug begraben zu lassen. Wenn man schon für ewig und drei Tage seine Sachen tragen muss, dann sollte man etwas auswählen, das bequem sitzt. Ich kann ja verstehen, dass Sie einen möglichst guten Eindruck machen wollen, wenn Sie im Himmel ankommen, aber dort gibt es eine ganze Reihe Kreuzfahrer, die seit achthundert Jahren im Kettenhemd herumlaufen und sich wünschen, sie hätten sich für eine nicht ganz so formelle Aufmachung entschieden. Die Rede ist hier aber nicht nur von Bequemlichkeit, sondern auch von Stil. Im Himmel sind natürlich viele Berühmtheiten versammelt, aber die Regeln dort besagen, dass es keine Leibwächter oder PRLeute gibt, die uns Proleten auf Abstand halten. Sie können also reden, mit wem Sie wollen. Prinzessin Di, Marilyn 241
Monroe, James Dean, Frank Sinatra - sie sind alle da. Natürlich müssen Sie sich hinten anstellen, weil diese vier sicherlich zu den begehrtesten Menschen gehören. Bei Lady Di muss eine mindestens vierjährige Schlange anstehen, aber was sind ein paar Jahre, wenn man eine Ewigkeit hat? Ich persönlich werde mich dort aber nicht anstellen, weil sie wohl immer noch wütend auf mich ist, nachdem ich mich nicht auf eine Affäre mit ihr eingelassen habe. Aber das ist ein Problem, das nur uns beide betrifft, lassen Sie sich nicht von mir beeinflussen. Sie müssen Ihre Besuche sorgfältig planen. Es kann etwas seltsam wirken, wenn Sie sich in die nur aus Männern bestehende Schlange bei Marilyn einreihen, und Sie wollen sicherlich nicht - auch wenn Sie im Grunde keine Wahl haben - als Toter zwischen all den ausgeflippten Hippies bei Timothy Leary und Allen Ginsberg anstehen. Außerdem garantiert Ihnen niemand, dass diese Berühmtheiten überhaupt erfreut sind, Sie zu sehen. Die sind verpflichtet, höflich zu sein, aber das ist auch schon alles. Sie bekommen also Ihre fünf Minuten, aber glauben Sie nur nicht, damit könnten Sie Freundschaften schließen. Tot mögen Sie ja sein, aber das macht Sie noch lange nicht interessanter. Der Himmel muss ein schrecklich überfüllter Ort sein. Ich nahm an, ich würde mich anfangs ein wenig verloren fühlen, und war deshalb entschlossen, meinen großen Auftritt mit einer Runde bei meinen Verwandten zu beginnen. Allerdings konnte ich nicht einfach unterstellen, dass alle meine toten Verwandten 242
sich freuen würden, mich zu sehen. Ich meine, warum sollten sie ausgerechnet im Himmel mit einer lebenslangen Gewohnheit brechen? So schnell ändert sich der Charakter der Leute nicht. Man kann nicht zu Lebzeiten ein ausgemachter Schweinehund sein und sich schlagartig in einen Harfe spielenden Engel verwandeln, sobald man zu atmen aufhört. Wie auch immer, mein Dad sagt, die berühmten Leute sind im Himmel verpflichtet, höflich zu sein, was ihre Strafe dafür ist, dass sie sich auf der Erde so wichtig genommen haben, während die einfachen Leute dort viel ehrlicher als hier auf der Erde sein müssen. Sie werden also ganz sicher eine ganze Reihe von Menschen finden, die Ihnen zu Lebzeiten gesagt haben, sie würden Sie mögen, während sie Sie in Wirklichkeit gehasst haben. Im Himmel werden sie es dann auch aussprechen und kein gutes Haar an Ihnen lassen. Deshalb war es wichtig, die Situation vorab mit so vielen Verwandten wie möglich zu klären, solange sie noch atmeten. »Hallo, Mum.« »Hallo, John«, schniefte sie, während sie sich die Reste von irgendeinem weißen Pulver von der Nase wischte. »Kann ich mal mit dir reden?« »Yeah, aber ich habe nicht viel Zeit«, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr. »Wir fahren in zwanzig Minuten in Urlaub.« »Wohin geht es dieses Mal?« »Wandern im Himalaya.«
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»Ich wünschte, ich wäre alt genug, um mitzuma chen«, sagte ich sehnsüchtig. »Tja, du bist nicht alt genug, so ist das nun einmal. Du musst dich eben auf deine langweiligen Ausflüge nach Devon beschränken.« »Keine Panik, ich wollte sowieso nicht mit.« »Gut. Was willst du nun?« »Ich habe mich gefragt, ob du etwas dagegen hättest, wenn ich dich besuchen komme, wenn ich tot bin.« »Was redest du da?« Hatte sie denn noch nichts vom Leben nach dem Tod gehört? »Ich will dich auch nicht als eine Art Hotel missbrau chen.« »Geht es dir nicht gut?« Offensichtlich nicht. Vielleicht bereitete es ihr auch Unbehagen, über ihren eigenen Tod zu reden. Aber ich ließ nicht locker. »Oben im Himmel, meine ich. Darf ich ...« »Ich hab's verstanden. Aber woher weißt du, dass du nicht als Erster den Löffel abgibst?« »Ich habe einen Deal mit meinem Herz gemacht.« »Hast du deine Medikamente nicht genommen?« Damit war die Unterhaltung beendet. Ich war immer noch nicht sicher, wie ich nun zu meinen Eltern stand, aber ich war ziemlich sicher, dass sie gegen einen gelegentlichen Besuch nichts einzuwenden hatten. Andererseits war ich auch verwirrt. Hatte ich gerade irgendeine ungeschriebene Regel gebrochen, die es uns verbietet, Absprachen für das Leben nach dem Tod zu
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treffen, oder ist sie mir ausgewichen, weil sie nichts versprechen wollte, was sie vielleicht gar nicht einhalten konnte? Was durchaus bedeuten mochte, dass es überhaupt kein Leben nach dem Tod gab. Vielleicht war das nur eine seelische Krücke, mit der mein Dad mich glücklich machen wollte. Damit ich dachte, es gäbe doch noch etwas, auf das ich mich freuen konnte. Leere und das große Nichts schienen so eine Ver schwendung zu sein. Ich meine, warum macht man sich die Mühe, das Leben zu überstehen und sich um andere Leute zu kümmern und Klone herzustellen, warum wird man berühmt und verrückt, wenn es am Ende nicht einmal eine Belohnung dafür gibt? Wenn die Verwandten sich danach dann doch bloß in übler Nachrede üben? Was würde aus meiner unsterblichen Seele werden? Würde sie sich als örtlicher Nieselregen entladen? Oder würde es nicht einmal dazu rei chen? Wieder war es mein Dad, der mich rettete. »Du wirkst etwas niedergeschlagen«, sagte er. »Das kann man wohl sagen. Ich bin am Ende.« »Oh, du meine Güte. Kann ich dir irgendwie hel fen?« »Ich glaube nicht, dass Drogen eine Lösung sind.« »Ich wollte dir auch keine anbieten. Was ist denn los?«, fragte er. Wir haben uns ausgiebig unterhalten. Über die Si cherheit. Über die Unsicherheit. Genau genommen über den Glauben. »Es gibt da jemandem, mit dem du mal reden solltest«,
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sagte er, als sich das Gespräch dem Ende zu neigte. »Wen meinst du?« »Wirst schon sehen.« Damit fesselte er mir Hände und Füße, zog mir eine Kapuze über die Augen und stopfte mich in den Kofferraum seines Autos. Anderthalb Stunden später erreichten wir das Ende eines langen Kiesweges. Ich hörte meinen Dad mit jemandem tuscheln, dann wurde der Kofferraum geöffnet und ich wurde herausgeholt. Als die Fesseln entfernt und die Kapuze abgenommen waren, lag ich in einem abgedunkelten, unmöblierten Raum auf dem Boden. Mein Dad schaute freundlich auf mich herab. »Tut mir Leid, dass wir es so konspirativ abwickeln mussten«, erklärte er, »aber die Person, mit der du sprechen sollst, besteht darauf.« »Wer ist es denn?« »Kannst du es dir nicht denken?« »Prinz Charles? Er hält ja viel von Spiritualität.« »Nein, du Trottel. Es ist Gott.« »Das glaube ich nicht.« »Tja, das solltest du aber«, sagte er. »Daher auch die Notwendigkeit, das Treffen so heimlich zu gestalten. Gott ist ja angeblich überall zugleich, aber wenn jemand auf die Idee käme, dass er hier bei dir ist, würde die Hölle losbrechen. Millionen von Menschen würden hierher stürmen, und die Diktatoren der Welt würden schnell noch ein paar Millionen unschuldige Menschen umbringen, weil sie glauben, er schaut gerade nicht hin. Wie auch immer, Gott ist sehr beschäftigt,
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also blamiere mich nicht, indem du dich wie ein Idiot
benimmst.«
Damit verließ er das Zimmer.
»Hallo, John«, dröhnte eine körperlose Stimme.
»Wer ist da?«
»Gott.«
»Ach, hör schon auf, Dad, und stell die Spezialef
fekte ab«, sagte ich.
»Das ist kein guter Anfang«, erwiderte die Stimme.
»Ich bin Gott. Um meinetwillen, kannst du nicht ein
fach mal Vertrauen haben? Hör bitte auf, meine Zeit
zu verschwenden. Ich habe an den Krisenherden
der Welt mächtig zu tun und normalerweise mache
ich keine Hausbesuche. Aber dein Dad ist ein
anständiger Kerl, und deshalb war ich bereit, ihm
den Gefallen zu tun.«
»Ich dachte mir schon, dass es nicht wegen meiner
eigenen Verdienste war«, erwiderte ich verletzt.
»Was erwartest du? Du machst mir eine Menge Ar
beit. Du warst eine echte Prüfung für deine Familie.
Du warst eine Prüfung für deine Freunde. Und um
ehrlich zu sein, du warst auch für mich eine
Prüfung. Natürlich nicht ganz so schlimm wie Pol
Pot.«
»Wie geht es denn dem alten Massenmörder?«
»Das geht dich nichts an. Im Augenblick geht es um
dich.«
»Also gut, Gott. Vielleicht kannst du mir helfen. Gibt
es ein Leben nach dem Tod?«
»Das verrate ich dir nicht.«
»Warum nicht?«
»Das ist eine Überraschung.«
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»Ich mag keine Überraschungen.«
»Jetzt bekommst du eine.«
»Ich glaube, Gott sollte nicht so sarkastisch sein.«
»Tja, das wäre dann schon die zweite Überra
schung«, sagte er kichernd.
»Bitte«, flehte ich. »Erzähl mir doch etwas über das
Leben nach dem Tod.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil es sowieso nichts ändern würde.«
»Doch, es würde mich trösten.«
»Mag sein. Aber es würde dein Leben verändern.«
»Wie meinst du das?«
»Tja«, erklärte er, »mir ist aufgefallen, dass miese
Typen miese Typen bleiben, ob sie an mich glauben
oder nicht. Und nette Leute bleiben nette Leute,
ebenfalls unabhängig davon, ob sie an mich
glauben oder nicht.«
»Und was ist mit Neurotikern wie mir?«, fragte ich.
»Du bist im Arsch. Du bist so damit beschäftigt, dir
über die Zukunft Sorgen zu machen, dass dir die
Gegenwart völlig entgleitet.«
»Aber ich habe eine Zukunft?«
»Das werde ich dir nicht verraten.«
»Ist es denn möglich, dass ich weniger neurotisch
werde?«
»Wie soll ich das wissen? Ich bin nur dein Gott,
nicht dein verdammter Seelenklempner. Aber ich
muss jetzt weg. Kriege beenden, Hungersnöte
beheben. Du weißt ja, wie das ist.«
»Aber klar.«
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»Nur eins noch«, sägte er kichernd. »Du solltest nicht zu sehr auf dein Herz hören.« »Was?«, antwortete ich zu Tode erschrocken. »Kopf hoch, ich hab nur Spaß gemacht.« Ach, hast du? Hast du wirklich?
ENDE
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