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Ein uralter Austin klappert durch London, eingehüllt von Regen schauern und – wie es sich gehört – trübgrauen Nebelschwaden. An Bord der morschen Fregatte segeln vier Gentlemen. Zwei von ihnen sind kaum der Rede wert; es genügt zu sagen, daß sie fin stere Gesellen sind. Die beiden anderen aber, der schmächtige, mit einer überaus geräumigen Nase gesegnete Archibald Pinkey und sein getreuer Kumpel Edward King, sie haben es in sich! Mit al ler Gewalt wollen sie ein ehrsa mes Leben führen oder, laut E. King, „den dornigen Pfad der Tu gend beschreiten“, und das seit nunmehr dreißig Jahren, als sie in gemeinsamen Kindertagen die Müllkästen der Slums von Liver pool durchstöberten. Diesmal nun ist ihr schönes Ziel zum Greifen nahe. Schon wollen die beiden zugreifen und befreit aufatmen, da muß doch dieser gemeine Hund… aber das läßt man sich besser von Ehrenmann Edward King selbst erzählen. Hiermit legt er Ihnen seine herzund zwerchfellzerreißenden Ge ständnisse zu Füßen.
Scanned and Corrected by
Pegasus37
Dieses eBook ist nicht für den Verkauf bestimmt.
Johannes Conrad
… und Pinkie
pennt auf mei
nem Kanapee
Geständnisse eines Ehrenmannes
Eulenspiegel Verlag Berlin
I
„Gott schuf ihn, also laßt ihn für einen Menschen gel ten“, behauptet unser süßer Schwan von Avon, der große William aus Stratford, auch Schehkspiers Willi genannt. In diesem Sinne sitzt oder steht oder liegt oder schwimmt oder fliegt dann dieser von Gott geschaffene Mensch irgendwo in der Welt umher und ist da. „Ein Mensch!“ bemerken die Mitmenschen nachlässig, wenn man sie darauf aufmerksam macht, daß dort ein Mensch schwimmt. Mehr bemerken sie nicht, wenn dieser Mensch nicht gerade Geld verschenkt oder an derweitig wahnsinnig geworden ist. Und sofort ziehen sie wieder ihrer Wege, diese Ignoranten, denn der an dere interessiert sie nur wenig oder sozusagen einen feuchten Kehricht. Trotzdem bleibt bestehen, daß dieser Mensch exi stiert und etwas haben will. Vor allem vom Leben will er etwas haben, denn das hat er nur einmal. Mit dem Leben nach dem Leben ist das eine ziemlich unsichere Sache, wenn man nicht gerade zahlendes Mitglied der Anglikanischen Kirche oder der Methodistengemeinde ist. Aber auch dann soll es noch sehr unsicher sein, wie mir der alte Doktor Blackwater verriet, der es wis sen muß. Denn er war in Cambridge, wenn er auch jetzt säuft wie ein Loch. Nirgendwo geht es eben so zu wie auf der Welt. Die Sonne steht nicht still zu Gideon, und der Mond tut das nicht im Tale Ajalon. Da kann passieren, was will: Es geht immer weiter! Immer weitergehen aber tut es, wie mir der alte Doktor Blackwater verriet, der jetzt wie ein Loch säuft 5
und mal in Cambridge war, weil praktisch alles zu sammenhängt auf Erden. Die Null, sprach Doktor Blackwater, sitzt oder hängt oder steht sozusagen in der Mitte alles Geschehens. Aus diesem Grunde fängt jede Geschichte viel eher an, als sie anfängt, was auch eine Eigenart der hier vorliegenden betrachtenden, tiefgründigen, kritischen, monologisierenden, philoso phischen, großartigen, tiefschürfenden, realistischen, menschlichen, blumigen, ehrenhaften und episch brei ten Auslassungen eines Ehrenmannes sein wird. Dieser Ehrenmann, um das einmal bescheiden einzumischen, bin ich! Als beispielsweise diese Geschichte ihre Schatten vorauswarf, waren wir noch gar nicht vorhanden. Für mich persönlich ist unvorstellbar, daß ich einmal nicht vorhanden war, denn eine Welt ohne mich kann ich mir faktisch, praktisch, theoretisch, wissenschaftlich und überhaupt nicht vorstellen. Ganz im Gegensatz leider zu einem miesen Nickel unseres Weltreichs, wel cher den Namen Richter Brannigan trägt. Diese müde Drüse kann sich die Welt ganz gut ohne mich vorstel len, wie er sagte, um mir danach zwölf Monate Bau aufzubrummen. Jene zwölf Monate liegen nebst anderweitigen Mona ten Sanatoriumsaufenthalt eine geraume Zeit hinter mir, denn es geht eben immer weiter. Mit dem Leben und mit den Leiden eines Ehrenmannes! Alles fließt, wie schon die Alten dialektisch bemerk ten. Besonders der Zaster rollt emsig durch die Ge gend. Leider aber meist nur in bestimmte Taschen. Bei der Capital and Counties Bank beispielsweise, Fi liale New Bond Street, hebt ein nonchalanter Geldsack mit arroganter Visage Zaster ab, viel Zaster, weil er 6
Urlaub auf den kleinen Antillen machen will mit seiner Geliebten, womit nicht seine Ehefrau gemeint ist. Die bleibt zu Hause, weil er auf Geschäftsreise geht, und verbrät am heimischen Herd das Moos mit ihrem Ge liebten, welcher, wie jeder folgern wird, nicht ihr Ehe mann ist, denn der pflaumt sich ja auf den kleinen An tillen im Sand herum, weil er Zaster hat. Den Zaster hat er sich durch den Verkauf minderwertiger Waren erarbeitet. (Dieses „erarbeitet“ ist sozusagen ein Scherz von mir.) Im lieblichen Hampshire wiederum besteigt ein o beiniger Gentleman sein teures Reitpferd, die Stute Mary-Ann, weil er so ein Reitpferd besitzt, dieser Pul verkopf. Vergnügt sprengt er hinaus in die Auen, wo der Ginster grünt und die ärmeren Bevölkerungs schichten bei der Kartoffelernte dampfen. „Ja, ja, das Leben ist eine feine Schaffe“, denkt der alte Zausel geistvoll. Sein Landsitz wird derweil frisch geweißt, was auch die schwarze Weste jenes verehrten Gentlemans einmal nötig hätte. Im schönen schottischen Hochland zählt indessen ein anderer seine goldenen Sovereigns aus dem Strumpf auf den Tisch und vom Tisch in den Strumpf. Stundenlang tut er das, denn es ist schon zur Tradition in der Familie jenes Zeitgenossen geworden, daß die Sovereigns gezählt werden. Den Großteil dieser Sammlung hat er von seinem Papa geerbt, der wie derum einen Teil davon von seinem süßen Papa geerbt hat. Dieser aber hat die klingenden, rollenden, glän zenden Freudenspender durch unnachsichtige Eintrei bungen aus seinen Pächtern herausprügeln lassen. Doch das weiß keiner mehr. Und wenn schon! Der lie be Großpapa! Er war ein feiner Mensch mit weißem 7
Haar und roten Wangen. Alle hatten ihn gern! Bis auf die mageren Pächter. Aber die zählten nicht. An der Börse in der verwaschenen City von London gewinnt wieder ein anderer hochgeachteter Laden schwengel, Beutelschneider und Blutsauger in zehn Minuten auf einen Ritt fünftausend Pfund, weil er schon einhundertfünfzigtausend Pfund auf der Bank hat. Und in Paddington schläft derweil ein anderer, dies mal ein ganz Bestimmter, auf einem vergammelten Sofa, weil er einen großartigen Freund hat, der ihm dieses Sofa zur Verfügung stellt, obwohl dieser wirklich wunderbare Freund kein Sofa besitzt. Leider, leider! Der schöne Schläfer auf dem Sofa träumt gerade von der volkreichen Stadt Liverpool, die er einst mit seinem ausgezeichneten Kumpel verließ, um im herz losen, lebensvollen, riesenhaften, staunenswerten, il lustren London, der Hauptstadt dieser Erde, an viel Geld zu kommen: möglichst auf jene bequeme Art und Weise, wie sie einem in vielen harten Hollywoodstrei fen vorgeführt wird! Geld ist etwas, das er und sein feiner Kumpel noch nie in ausreichender Menge beses sen haben. Schon an der Wiege dieser Burschen sang man, noch von der werten Großmama her, das liebli che Lied: Schlaf, Schreihals, schlaf, dein Vater ist kein Graf, dein Vater lebt in Liverpool, und gestern gab’s statt Braten Kohl, und heute gibt’s statt Kohl bloß Brei und morgen statt des Breis Geschrei. Schlaf, Schreihals, schlaf, dein Vater ist kein Graf! 8
Vielleicht träumt der besitzlose Schläfer jetzt von diesem schönen Wiegenlied, wer weiß? Archie Pinkey, wie der holde Lümmel heißt, hat zwar schon allerhand besessen: einen niederen Rang in der Territorialarmee ihrer Majestät zum Beispiel, eine bemerkenswerte La dung Vorstrafen, die er auch heute noch besitzt, und eine ansehnliche Kriegsverletzung, die bei Witterungs umschlägen heftig schmerzt. Flöhe hat er gehabt, eine erweiterte Schilddrüse, oft Heimweh nach Ichweiß nichtwas, einige Krankheiten gemeiner Natur und ein mal, in grauer Vorzeit, sogar Lust zum Schuften, Wüh len, Rackern. Da ist er fünfzehn gewesen, und man schrieb das Jahr 1939. Großbritannien hatte gerade mal wieder 1,5 Millionen Arbeitslose. Da finde mal ei ner Arbeit in Liverpool! Die fand er etwas später, als er neunzehn war und ein Ehrenkleid anziehen mußte – das Ehrenkleid der glorreichen Territorialarmee ihrer Majestät. Außerdem hat dieses Glückskind noch viele andere mordshäßliche Sachen besessen – nur Geld war nie darunter. Aber ein hervorragender Kumpel war darunter, ja wohl! Und den hat er heute noch. Dem Geschick sei Dank, denn sonst müßte Pinkey heute auf der Straße schlummern. Ein Kumpel in Großformat ist das, ein Prachtkerl aus Samt und Seide, Bileams Eselin und Aljoscha Karama sow, ein treuer Heinrich mit schönem Antlitz, ein edler Geist mit großem Wissen, wie ich in aller Bescheiden heit bemerken muß. Denn dieser Kumpel bin ich! Ich und mein guter Kumpel Archie Pinkey, der dort auf dem uralten Sofa der Witwe Miriam Rucastle schlummert und mit dem ich in einer Lebensniederung begann, das unselige Handwerk eines bescholtenen 9
Bürgers auszuüben: Wir kennen etwas von der Welt. Wir kennen das Londoner Zentralgefängnis und andere Wohnungen dieser Art von innen und außen. Wir ken nen eine Menge Tresorsysteme, die dreckigsten Ecken Liverpools, den werten Detektivinspektor Frank Treve lyan, den lieblichen Regentpark und einige zerschosse ne Gegenden auf dem Kontinent drüben. Wir kennen das vollgefressene London bei Tag und bei Nacht, mit Hut und ohne Hut, blau und nüchtern. Viel mehr ken nen wir nicht. Das Bergland von Wales, die noblen Straßenkreuzer mit vollautomatischer Schaltung, die Hoffnung auf ei nen ruhigen Lebensabend, die fetten Lachse in den Nebenflüssen des Severn, ein beruhigendes Bankkon to, ein sicheres Dasein mit weicher Lederottomane, Kaminfeuerchen und holdem Ehedrachen, der liebevoll die weichen Arme um uns schlingt – solches kennen wir nicht. Die Sonntagswelt sozusagen, die ist uns un bekannt. Wir sind zusammen ausgezogen, zwei brave Kum pels, wie Orest und Pylades, wie David und Jonathan, wie Hänsel und Gretel oder Philemon und Baucis, um eine Kiesader, einen Zasterbrunnen, Pinnunsenquell oder Mammonsprudel zu entdecken. Dereinst, nach unserem gewiß erfolgenden Tode, werden wir als Eiche und Linde im Hofe eines Zuchthauses stehen und mit den Kronen rauschen. Wie Philemon und Baucis eben, das gütige Ehepaar, obwohl wir doch, weiß Gott, kein Ehepaar sind, sondern zwei männliche Kumpels mit Muskeln und Sehnsucht nach Puppen. Aber bis zu un serem Tode ist wahrscheinlich noch allerhand Zeit, und der Mensch in Form unserer zwei Persönlichkeiten hat es schwer mit sich und dem Kampf ums Dasein. 10
Seitdem Pinkie in meiner Bude lebt, pennt er eigent lich unentwegt tagsüber! Nachts redet mein Kumpel und redet und redet. Ein Cicero von Paddington! Das hat wohl meine häßlichen Augenränder hervorgerufen. Ich sehe aus wie eine Nachteule, wie ein epikuräisches Mondkalb, ein homerischer Rollmops – völlig verhunzt. Aber was tut man nicht alles für einen alten Kumpel, den man noch von Liverpool und der hochwohllöbli chen Armee ihrer britischen Majestät her kennt! Muschkote Archie Pinkey, einst einer stolzen Mutter Hoffnung, Inhaber einiger belangloser Kriegsauszeich nungen wie auch eines recht und schlecht zusammen geflickten rechten Beines und mehrerer Vorstrafen: Unschuldig schlummernd liegt er vor mir. Der Dank des Vaterlands ist ausgeblieben. Schuldlos ist er in ei nige belanglose Tresorknackereien hineingeschlittert. Und weil wir als alte Kumpels wie die Kletten zusam menhalten, schlitterte ich mit hinein. Es waren nur kleine Delikte, die einen Ehrenmann kaum jucken. Aber die Richter machten ein mächtiges Faß auf, ob wohl wir damals im Kriege ganz andere Dinger dreh ten, die uns nur Auszeichnungen einbrachten. Die Summe, welche wir bei unseren Streifzügen abgra sten, war so minimal, daß es uns peinlich hätte sein müssen, wenn die Strafen nicht so hoch gewesen wä ren. Gerührt betrachte ich diesen erschöpften Schläfer. Es ist mir zwar ein Rätsel, wovon dieses unrasierte Heupferd so erschöpft sein kann, aber die Quadratur des Kreises ist ja auch ein Rätsel. Drei Wochen wohnt er jetzt bei mir. Drei Wochen können lang sein wie die sieben mageren Jahre! Als er aus dem Bau kam, wollte er wieder einmal ein ehrba 11
rer Bürger werden. Bis gestern! Seit gestern will er erst wieder ein ehrbarer Bürger werden, wenn wir ge nügend Geld dazu haben. Ein verblüffend klardenken der Kopf! „Da schlummerst du also, mein Kumpel, Kamerad, Zeitgenosse und Mitmensch“, denke ich trocken vor mich hin und stopfe mir die Pfeife mit gemischtem Großvenor Tabak, die Unze zu fünf Schilling. Ein teurer Spaß! „Da schlummerst du also, du falscher Heiliger“, den ke ich, „mitten im guten, alten Paddington in einem finsteren Hinterhaus der Praed Street, woselbst dein prima Kamerad der Mrs. Rucastle, Miriam, unbeschol tene Postbeamtenwitwe, für eine miese Hundehütte von neun mal zwölf Fuß pro Monat sieben Pfund in den Rachen schmeißen muß, was der Himmel zuläßt!“ An dieser Stelle vereist meine Herzgrube, weil auch ich, der gütigste Kumpel meines guten Kumpels Pinkie, ganz schön in der Bredulje bin. Hat mir nicht Mrs. Ru castle, Postbeamtenwitwe, erst gestern diesen Brief unter die Tür geschoben? Dachte ich nicht gleich: „Welch verdächtiges Schreiben gafft da in meine Bude hinein?“ Auch in jenem Augenblick schlummerte der alte Kumpel Pinkie sprachlos auf meinem Sofa, wel ches natürlich das Sofa der Witwe Rucastle ist. Was aber mußten meine erstaunten Käsenäpfe dem Ru castleschen Schreiben entnehmen? Bruchstückweise entzifferte ich: „… und ersuche Sie, mir diesen Mietbetrag sofort zu geben, damit ich ihn aus meinen Büchern tilgen kann, was Zeit wird!… bei Nichtbezahlung Konsequenzen! Miriam Rucastle, Witwe.“
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Diese brutalen Forderungen – wie Rauhreif fallen sie mir heute aufs Gemüt. Drei Monate Mietrückstand! Einundzwanzig Pfund! Woher nimmt ein Junge meines Formats einundzwan zig Pfund, wenn er einen Kumpel hat, der dauernd wie Dornröschen pennt? Und wohin soll dieser Kumpel sei ne schöne Birne betten, wenn Mrs. Rucastle, Miriam, Konsequenzen zieht? Du braves Einkommen, welches mir der Verkauf von erstklassigem Taubenfutter beschert, auch du nimmst ab. Picobello Taubenfutter ist das, gemischt zwar mit einigen Ingredienzien, über die der Mann von Welt besser schweigt, aber doch ein Taubenfutter, das mich ernährt und die Tauben fett macht. Oh, braves Ein kommen, welches mir durch den Verkauf dieses exqui siten Taubenfutters am Trafalgar Square beschert wird, du nimmst ab, weil die fußmüden Damen und Herren Touristen abnehmen! Der goldene Herbst bricht an. Die Saison ist bald zu Ende. Und Kumpel Pinkie pennt! Er ahnt wohl nicht einmal, daß der Herzinfarkt und die Sexbomben – von anderen Bomben ganz zu schweigen – unseren Erdball bedrohen, der müde Hahn? So kann das nicht weitergehen! Da liegt er vor meinen Augen, der alte Nußknacker: auf meinem Sofa, genährt von meinem Schinken, mei nen Spiegeleiern, meiner Freundesliebe. Da liegt er in meinem Zimmer von neun mal zwölf Fuß, wo doch London so viele Quadratmeilen hat. Ein Weiser aus dem Morgenlande? Odysseus, der Vielgewanderte, der Erfindungsreiche, der Städteverwüster, der herrliche Dulder nach langer Irrfahrt? Schön ist er nicht, mein Zeitgenosse Pinkey Archie, 43 Jahre alt, Tresorknacker, gelernter Knastbruder und 13
völlig pleite. Au Backe! Nein, als Schönheitskönig kann ich ihn nicht vermieten. Er ist nur etwas über fünf Fuß groß, hat herzlich geschwungene Beine, deren rechtes durch diese verdammte Kriegsverletzung kein rechtes Bein mehr ist, und atmet konzentriert durch die impo sante Nase. Menschen mit engen Nasenlöchern schnarchen. Pinkie hat besonders enge Nasenlöcher. Und das bei diesem Riecher! Trotz des Atemaufwands bleibt seine Schmalspurbrust klein und mickrig. Rein hautmäßig ist der Bursche käsig, weil er doch vierund zwanzig Monate lang auf Staatskosten gelebt hat. Von der ganzen Figur und der menschlichen Ausstrahlung her hätte man ihn für einen Briefträger mit Pensions berechtigung halten können, der in seiner Freizeit Aquarelle malt; für einen hundezüchtenden Eismann; für einen Busschaffner mit Eigenheim oder einen Wohl fahrtsbeamten, der Briefmarken sammelt. Wenn dieser bescheidene Bürger unseres zusammengeschrumpften Imperiums so wie jetzt glücklich schlummert, macht er diesen Eindruck. Im wachen Zustand hat er leider eine ziemlich große Schnauze. Doch die ist jetzt geschlossen und sieht im Vergleich zu Pinkies unheimlichem Menschenkinn win zig aus. Ein Zuckerschnütchen! Die Nase ist schön groß beziehungsweise noch größer: ein Gewaltriecher! Ein Cyrano-de-Bergerac-Kolben! Ein Kilimandscharo! Außerdem hat mein entzückender Kumpel intelligente Ohrläppchen, eine Stirn, die dort aufhört, wo sie an fängt, einen sinnlichen Hinterkopf, so eine Art Decken bürste an Stelle des menschlichen Haares und gierige Augen. Dieser großnasige Mensch ist eigentlich der Natur nicht besonders geglückt. Ganz bequem hätte man aus 14
ihm zwei häßliche Burschen machen können. Ich wun dere mich eigentlich, daß so etwas mein Kumpel ist, mit dem ich damals am Vater Rhein fast den Helden tod fürs Vaterland starb, als jene dicke teutonische Granate neben der Latrine einschlug. Aber Schönheit ist schließlich der Güter höchstes nicht! Dieser ur wüchsige Bursche hat andere Qualitäten. „Sterblicher Mensch Pinkie“, rufe ich, „wir benötigen sogenanntes Geld!“ Pinkie scheint nicht geneigt, diese Worte zu vernehmen. Er wirft sich grunzend auf die andere Seite. Einem Gegner aller Brutalitäten, der ich bin, hilft hier nur ein mütterlicher Einfall: Ich muß eine ordentli che Kanne Tee aufbrühen. Dann wird der Schläfer schon seine Glotzen aufschlagen. Gesagt, getan! Es duftet nach Tee. Und schon schlägt der verarmte Sohn eines armen Vaters namens John Pinkey seine Blauaugen auf. „Wir benötigen einiges Geld, Pinkie, denn sonst wird bald kein Tee mehr auf diesem alten, schönen Tisch der Witwe Rucastle, Miriam, dampfen, weil uns Mrs. Ru castle, Miriam, bei fortdauerndem Geldmangel hinaus in den furchtbaren Herbst jagen, treiben, peitschen und pfeffern wird!“ „Ach, Zeitgenosse, ich bin todmüde“, bemerkt mein nachdenklicher Kumpel Pinkie, mit dem ich vor mehr als zwanzig Jahren das saure Brot der glorreichen Ar mee mampfte. Die letzten vierundzwanzig Monate müssen ihn doch ziemlich mitgenommen haben! „Und das Taubenfutter bringt nicht mehr viel ein, mein alter Freund und Kupferstecher! Wie kommen wir an Kohlen, du guter Kumpel Archibald, mit dem ich schon in Liverpool der harten Elementarschulbank 15
ferngeblieben bin, aber auch später, mon Kamerad, als wir für unser Vaterland und alles andere gegen die germanischen Teutonen am Rhein im Schlamm lagen – wie kommen wir an Pekunia?“ „Durch die sogenannte Arbeit jedenfalls nicht“, klärt mich Pinkie auf. Zu seiner Entschuldigung sei hier an geführt, daß er nach vierundzwanzig Monaten Staats wohnung unschöne Erfahrungen machen mußte. Auf dem Gebiet der Herzenssachen! Sein bildhübscher Leib- und Magentrost, eine holdselige Magd namens Smyrna Loyd, hat zwar vierundzwanzig Monate lang auf ihn gewartet, aber leider hat ihr so ein Gentleman aus der Gemüsebranche dabei emsig geholfen. „Kumpel, o Kumpel“, ruft Pinkie, mein Kamerad, der Mann mit dem Gewaltriecher, „wenn du aus dem Knast kommst, dann bist du verratzt und verkauft. Du brauchst nur an einer fetten Kippe zu ziehen oder dem Kollegen draußen auf die Marmeladenschrippe zu guk ken, schon bist du ein verdächtiges Element. Blitzsau ber wie im Buckingham Palast kann es in deiner geläu terten Seele aussehen, doch schon stehst du wieder auf der Überwachungsliste. Schon glupschen dir die Polypen verfressen nach. Dir können sie ja ruhig einen Tritt geben. Du bist ja nur ein Bruder aus dem Bau. Hast kein Gold in der Tasche, armer Jüngling! Dich muß man fest an die Leine nehmen. Und mit dem Lohn kann man dich auch übers Ohr hauen, denn was so ein gelernter Knastbruder ist, der hat zu kuschen, oder er fliegt im hohen Bogen ‘raus. Ich habe mich strebend bemüht, Kumpel, aber ich bin nicht mehr fähig, für ei nen Hundelohn die Fabrikhallen dieses irdischen Jam mertals sauberzufegen oder Metallzäune vom Rost zu
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befreien. Man kriegt ja doch immer wieder eine ‘rein gesemmelt!“ Mein alter Kamerad Pinkey, Archie des Vornamens, der freilich noch nie ein Freund der manuellen Tätig keit war, seufzt auf und fährt folgendermaßen fort: „Ich will nicht mehr auf Parkbänken schlummern. Und ich will mich auch nicht mehr von einem Boß schuri geln lassen, nur weil er der größere Gauner ist und ich zur Kur war. Ich will auch nicht mehr ins Obdachlosen asyl, wo die Flöhe ihre Heimstatt haben. Und keine Kippen will ich auch nicht mehr stechen müssen, ver dammt noch mal! Du kannst dein ganzes Leben lang am Schraubstock schuften wie ein Dämlack, werter Kumpel, aber achtet dich etwa aus diesem Grunde ein Mitmensch? Dein Haar wird bleich wie Weißkäse, du hast deine siebzig goldenen Lenze auf dem Buckel, deine Hände zittern wie Espenlaub, du bist vertrocknet und ausgelaugt, hast dich abgerackert für Jack, den Aufschlitzer, der im eleganten Gewand eines Börsen maklers einherschreitet, doch achtet man dich darum? Hast du was davon? Kommst du in deinem Leben je über das Wembley-Stadion hinaus? Als Kommißlat scher vielleicht, aber sonst: nicht die Bohne! Bei mir kommt das überhaupt nicht in die Tüte, holder Kum pel! Du bist und bleibst ein armer Schlucker. Das ein zige, was du vielleicht besitzt, sind deine Ehrlichkeit und ein solider Bandscheibenschaden. Und das für fünfzig Jahre saurer Arbeit! Dafür kannst du dir aber was kaufen in unserem verehrten Weltreich! Jeder kleine, schleimige Halsabschneider, wenn er nur eine dicke Brieftasche zücken kann, gilt mehr als du. Und da sollen wir arbeiten? Wir müßten ja eine gewaltige Hacke in Lindgrün haben, Kumpel! Ich will eine an 17
ständige Puppe ans Chemisett drücken. Ich will ein Bier an die Brust nehmen, Sonnenschein genießen und italienische Salontreter tragen, wenn mir danach ist. Ich will auch mal mit Slumberette Komfort nach Tokio fliegen und mich dort von den sogenannten Geishas verwöhnen lassen, verdammich. Ich will eben einfach so leben wie die da oben in ihrer Peter-StuyvesantWelt. Und darum stimme ich dir bei: Wir brauchen Kies, Zaster, Kohlen, Knöpfe, Pinke, Rubel, Mäuse, Dollars, Pfunde, Pinnunse, Moneten, Moos, Mammon, Marie, Kröten, Flöhe, Pekunia, Lappen, Taler, Mu scheln, Scheine, Münze, Batzen, schlicht: Geld!“ Diese Worte spricht mein alter Kumpel, und sie ha ben ihn sehr aufgewühlt. Er trinkt gleich einige Gläser von meinem teuren Schnappes. Ich bin tief beein druckt. Daß mein schlichter Kumpel so voll von Ge danken ist, das habe ich nicht gewußt! Und wie er ei nem auch den winzigsten Gedanken an Arbeit aus dem Hirn räumt durch überzeugende Schlußfolgerungen! Ein großer Geist! Ein erhabener Kopf! Ein hochgesinn ter Menschenbruder! Er kennt unser Weltreich. Und weil ich die staatlichen Gitterwohnungen und die nächtlichen Bänke des Hydeparks ebenfalls kenne aus schmerzhaften Anschauungen heraus, und weil ich weiß, wie schwer es ist, eine Arbeit zu behalten, wenn man aus dem Bau kommt, und weil ich auch weiß, daß die körperliche Betätigung von äußerst demütigender Natur sein kann und ein Batzen Kies die einzige Ret tung ist – darum stimme ich meinem Kumpel freudig bei! Wir trinken unseren Tee aus und machen uns stadtfein. Dann schleichen wir an der Behausung der Mrs. Ru castle, Miriam, vorbei in den lieblichen Abend hinaus. 18
Es regnet. Es gießt. Es schüttet Wasser vom Himmel. Der heilige Petrus hat den Hahn aufgedreht. Aber wie! Fluchend eilt mein großnasiger Kumpel neben mir die Eastborne Terrace hinunter zur Station Paddington. Dort springen wir in die Untergrundbahn Richtung Waterloo-Station. Am Picadilly steigen wir aus und pilgern nach Soho, wo sich Willys „Porterschwemme“ befindet. Im Hinterzimmer dieser schoflen Neppkneipe ver muten wir unseren Kameraden Trevor Wilson, in Eh renmännerkreisen auch Knödelwilson genannt. Wer Knödelwilson kennt, der weiß, daß Knödelwilson weiß, wie ein paar alte Kumpels an Geld kommen. Und an eben das wollen wir kommen, ich und mein alter Kumpel Archie Pinkey, kurz Pinkie genannt, Pin kie, die Nuß, Pinkie, das Faß der Danaiden, Pinkie, die alte, gute, müde Bohne, der göttliche Baßbariton, mit dem ich schon manches Ding gedreht habe, von der süßen Jugendzeit, die wir als milieugeschädigte Nach barskinder miteinander im Schatten der dreckigsten Straße Liverpools verbrachten, gar nicht zu reden. Wo sind die Fleischtöpfe Ägyptens? Wo sind sie?
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II
Wenn mir in der Gegend von Picadilly Circus ein Mensch recht schmerzhaft auf die Schulter schlägt, ohne sofort, obwohl ich ein Gegner aller Brutalitäten bin, durch einen meiner rechten Haken schlafengelegt zu werden, dann kann das nur eine Person sein: der verdammte Halunke Knödelwilson. Bei Knödelwilson empfiehlt sich als Reaktion auf solch einen freundschaftlich gemeinten Schlag ein sonniges Lächeln und eine honigsüße Rede, insofern nämlich Knödelwilson ein Dampfhammer in Menschen gestalt und flugs mit der Faust bei der Hand ist. Ein mal schickte er einen Burschen aus Aldgate, der in seiner Gegenwart klammheimlich mit Knallfröschen zu spielen begann, zehn Yard durch das Londoner Luft meer. Der Bursche aus Aldgate, eine Zweizentner schnapsnase namens Charly Schuster, konnte noch von Glück sprechen, denn sein Landeplatz war die Themse. Pech war nur, daß er nicht schwimmen kann und ganz schön Themse schluckte, ehe ihn ein Ober bulle von der Strompolizei ans Trockene zog. So kann es einem gehen bei Knödelwilson, diesem brutalen Hundekopf. Wunder ist das natürlich keines, denn Knödelwilson hat den Brustkasten eines ausgewachsenen Zuchtbul len aus Yorkshire und Fäuste zum Pfähleeinschlagen. Früher ist er ein Stern der Catchermanege gewesen und der Abgott aller halbseidenen Jungfrauen, die frohlockend auf den Söller stiegen, wenn Knödelwilson Catcherbeine zu Korkenziehern drehte. Einige Leute verdienten ein Vermögen mit ihm, dem König der Catch-as-catch-can-Brummer, auch „Schrecken der 20
Nacht“ oder „Schwarzer Panther von Croydon“ ge nannt. Als sich Knödelwilson dann einige Partien im Rücken verknackste, haben sie ihn kalt abserviert. Aber er ist immer noch eine achtunggebietende Er scheinung und bekannt wie ein bunter Hund, dieser Angeber! Aus diesem Grunde machen sogar die Herren von der Ordnungsmacht einen achtungsvollen Bogen um Knödelwilson, wenn sie ihn nicht gerade steckbrief lich suchen. „Hallo, Trevor“, rufen sie, „wie geht das denn so, du alte Haut?“ Knödelwilson nickt ihnen dann gönnerhaft zu und zeigt seine schönen gelben Pferdezähne, was besagen soll: Knödelwilson ist erfreut! Das freut nun wiederum die Bullen, und sie sind – bei gewissem Ab stand natürlich – ein Herz und eine Seele mit Knödel wilson. Jedenfalls kann man sich etwas einbilden, wenn man zu Knödelwilsons Kameraden gehört wie ich und mein alter Kumpel Archie Pinkey, kurz Pinkie genannt – sei nen herrlichen Riecher kennen Sie ja. Diesen Stolz auf Knödelwilsons Bekanntschaft tragen auch die Damen im Herzen, denn beim sogenannten schönen Ge schlecht ist Knödelwilson allezeit Hahn im Korbe, aber wie! Darum zieht er sich auch immer piekfein an. Je der Pfingstochse würde beim Anblick Knödelwilsons vor Neid erblassen. Knödelwilson ist ein Mensch in vornehmen Karos. Unter dem Schlag seiner Hose würde eine ganze Lili putanerfamilie Schutz bei Regen finden. Seine Slipper sind zwar groß, aber aus Rhinozerosleder. Er trägt ei nen noblen Filz in Grün auf dem Haupt und schmückt sich mit den sinnlichsten Hawaiikrawatten, die Groß London am Lager hat. Seine Manschettenknöpfe sind 21
aus purem Edelmetall und zuckernapfgroß. Außerdem befinden sich an seinem herrlichen Körper zwanzig Pfund Schmuck. Ein verhunzter Lord Brummell auf der ganzen Linie! Ein fescher Idiot, was einmal ganz brutal gesagt werden muß. (Bin ich ein riskanter Bursche?!) Es ist kaum zu glauben, aber bei den Damen ist Knö delwilson nicht einmal ein Geizhals, was er, wie ich lei der zugeben muß, in Ehrenmännerkreisen ist. Und was für einer! Es bleibt bestehen wie Ebbe und Flut, daß er einer der unheimlichsten Knicker unseres geliebten In selreiches ist, wenn es sich um seine Kumpels dreht. Außerdem ist Knödelwilson, was wohl der dauernde Umgang mit solchen Typen wie Godfrey O’Rourke, auch Apfelblüte genannt, und einem versoffenen Indi viduum namens Flaschenteufelchen hervorgebracht hat, ein mißtrauischer Mensch. Einer seiner abgelegten Goldzähne, eine Nymphe mit Namen Midgie Mauler, unterbreitete mir vor ge raumer Zeit folgendes Erlebnis, welches einen tiefen Einblick in Knödelwilsons Hang zum Mißtrauen gibt. Knödelwilson hatte ein großes Ding gelandet, wie die Fachleute sagen, und sofort zog er mit seiner Nymphe in ein teures Hotel am Holborn-Viadukt, denn: Haste was, biste was! Knödelwilson wollte ja schon immer was sein. In diesem vernickelten Schlaraffenpalast gibt es schon vor dem Aufstehen gezuckerte Grapefruit auf Sterlingsilber und „Bitte, Sir!“ beim Handtuchwechsel und „Danke, Lady!“ beim Geschirrabräumen und im merwährend Verbeugungen und allüberall Sonnen schein auf den persergepflasterten Wandelgängen und Austern auf Worcestertellern. Das Personal ist so hin reißend, daß ein bescheidener Mensch, der Großbri 22
tanniens sonstige Kellnerschaft kennt, in Tränen aus bricht, behauptet Midgie Mauler. Selbst die Toiletten puppe ist eine blutjunge Venus von Milo mit tizianro tem Haar. Sie trällert den ganzen Tag Opernarien wie zum Beispiel „Lache, Bajazzo“. Das bekannte Papier besteht aus röschenbedruckter Japanseide, und die Brille ist sogar mit Samt ausgeschlagen, berichtet mir Midgie Mauler. Wo der Taler rollt, da öffnen eben alle ihre Hosensäcke. Da bist du Rothschild und Rockefeller und Lord Graham und der Maharadscha a. D. von Eschnapur in einer Person. Das muß man sich mal überlegen: mit Samt ausge schlagen! Man sollte annehmen, daß Knödelwilson an gesichts der röschenbedruckten Japanseide einmal sein Mißtrauen abgelegt und lieblich herumgeschäkert hätte mit seiner Midgie Mauler. Es hätte doch genügt, hin und wieder einen Blick über die Schulter zu werfen, ob nicht ein Hüter der Ordnung aufgetaucht wäre und sich für Knödelwilson und seine Gentlemandelikte in teressiert hätte. Aber es war kein Bulle auf weiter Flur zu sehen! Nur die Hochfinanz und andere ausgepichte Hautevolee wandelte durch die jasminduftenden Arka den. Nirgends ein ehrliches Gesicht! Knödelwilson fiel überhaupt nicht auf. Er machte sogar einen biederen, ehrlichen Eindruck unter diesen Mammonjobbern mit ihren angemalten Puppen. Kaum zu glauben, wenn man Knödelwilson kennt, aber einleuchtend, wenn man sich die Geldsäcke und die Art, wie sie ihren Za ster machen, vorstellt. Trotzdem blieb Knödelwilson mißtrauisch wie eine frisch eingefangene Giraffe. Dieser Zustand steigerte sich so weit, daß der Hotelboy Knödelwilsons Schuhe vor der Tür putzen mußte, indes Knödelwilson hinter 23
der Tür kniete und die Schuhe an den Schnürsenkeln festhielt. Der Hotelboy nahm’s jedoch nicht übel, weil er es für die Marotte eines Mammonkönigs hielt. Denn Knödelwilson soll, was kaum zu glauben ist, aber sei nem angeberischen Wesen entspricht, mit dem Geld um sich geschmissen haben wie ein Lord, der kurz vor der Entmündigung steht. In diesem widersprüchlichen Menschensohn stecken neben einem schottischen noch andere Großväter. Einer davon muß größenwahnsinnig gewesen sein. Das Hotelpersonal nahm an, daß Knödelwilson der degenerierte Sprößling eines hohen Tieres sei und so wieso bald in die Klapsmühle käme, womit es, wie mir scheint, zum Teil recht hatte, wenn man einmal von dem hohen Tier absieht. Zu all dem kann man eigentlich nur sagen: Ach, du meine Tante! Bei uns, seinen besten Kameraden, dreht er jeden Penny sechsmal in der Tasche um, als hätte er massenhaft schottische Vorväter, und dort schmeißt er den Zaster zum Fenster hinaus. Damit wollte er si cherlich vor den Miezen von der Hochfinanz und dem weiblichen Hotelpersonal auf den Putz hauen, die trübe Tasse! Vielleicht wollte er sogar bei der tizianroten Toi lettenschnecke Eindruck schinden. Was glauben Sie? Das rieb ich der Midgie Mauler dann auch unter die neckische Stupsnase, obwohl sie damals noch mit Knödelwilson schmuste. Als Freund der Wahrheit stehe ich eben immer meinen Mann. Manchmal kann ich so gar ein sehr sarkastischer Bursche sein! Knödelwilson ist schon eine Blüte! Sein würdiges El ternpaar, Miss Betty Wilson aus Croydon, verlieh ihm den schönen Namen Trevor. Aber seit Klein-Trevor mit Ehrenmännern arbeitet, nennt man ihn Knödelwilson. 24
Wenn er abwesend ist! Denn ein anwesender Knödel wilson würde das übelnehmen. Wer kennt nicht seine Fäuste! Knödelwilson knödelt wie Billy Gentel selig, bekannt durch Funk und Platte, der als Knödler in den vierziger Jahren einen gewissen Weltruhm erreichen konnte! Wie Knödelwilson behauptet, gestaltet er die zer quetschten Töne bewußt künstlich, weil er annimmt, daß die Puppen dieses gern haben. Ob die Damen das nun wirklich gern haben oder ob sie nur Knödelwilsons zeitweiliges Geld und seine erhabene Männlichkeit lie ben, ist mir nicht bekannt. Dieser aufgeblasene Gott Priapos interessiert mich auch nicht. Knödelwilson in teressiert mich nämlich überhaupt nicht, wie ich hier einmal bemerken will. Aber er hat dauernd mit Mäd chen zu tun. Und was das für satte Puppen sind! Zuk ker! Nach dem sogenannten Christine-Keeler-Skandal, in dem auch Ex-Kriegsminister Profumo eine bemer kenswerte Rolle spielte, wurde Knödelwilson noch großmäuliger. „Wenn jetzt sogar Miezen aus meinen Gesellschafts schichten intim mit Kriegsministern zu tun haben“, be hauptete er, „dann bin ich, Trevor Wilson, ja nun ge wiß nichts Schlechteres als so eine goldene Nuß an der Spitze!“ So Knödelwilson, und wir Ehrenmänner wider sprachen ihm nicht, was bei Knödelwilson sowieso nicht angebracht ist wegen seiner etwas derben Fäu ste. Jedes Land hat nun mal die Gauner, die es ver dient! Diesen hier so überaus liebevoll vorgestellten Bur schen suchen wir also in Willys Etablissement auf, ich und mein alter Kumpel Archie Pinkey, schlicht und 25
menschlich Pinkie genannt. Das Lokal von Willy ist rammelvoll. Eine Masse Ehrenmänner ist anwesend. Wir kennen sie zwar nicht alle, aber Ehrenmänner müssen es sein. Ihre Visagen sehen ganz so aus. Sie träumen wohl alle davon, irgendwann einmal als Si mon Templar oder James Bond 007 oder Schirmträger John Steet mit dem Melonenscharm beim Film zu lan den oder als Dollarprinzessinnengemahl an einen Hau fen Geld zu kommen. Auf irgend etwas warten sie je denfalls, nach ihrem blöden Gesichtsausdruck zu urtei len, denn der Mensch ist seinem Schicksal unterworfen und hat zu warten. So steht’s in der Zeitung. „Es wird schon mal Zaster vom Himmel regnen“, denken sie trocken und lutschen am Daumen und warten. Die werden sich noch einmal wundern, schätze ich still schweigend, denn ich kenne das Leben und die Zei tungen. Sollen die Rüben warten, bis sie Krampfadern im Gehirn bekommen! Wir tasten uns indessen durch den infernalischen Qualm zum Hinterzimmer. Dort befindet sich Knödel wilson in höchsteigener Person, einen erlesenen Kreis großer Geister um sich geschart. Er trägt schon wieder eine neue Hawaiikrawatte. Schrecklich, schrecklich! Willy serviert gerade einige Spaßmacher für den Kehl kopf. Die anwesenden Herrschaften haben rote, dicke Köpfe und bemerken uns nicht. Sie reden fanatisch oder besser: Sie brüllen wie eine Herde Affen. Außer Knödelwilson und seiner Hawaiikrawatte – ein furchtbarer Fetzen! – sind vorhanden: mein alter Ka merad Karnickel Mc. Goy und das schmierige Krokodil Thorneycroft O’Rourke, auch Apfelblüte genannt, ein seltsames Wesen!
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Sie diskutieren gerade über chinesische Küche und andere Merkwürdigkeiten. Es wird einem ganz blöd davon. Die Kameraden haben wohl schon einige Freu denspender genossen, mächtig einen auf die Pfanne gekippt sozusagen. Apfelblüte scheint leicht beschä digt, denn sein rechtes Auge schillert in einem grauen vollen Blau. Dies war Knödelwilsons Geschoß! Wieder einmal kommt es mir so vor, als sei Knödelwilson auch nicht der Demokrat reinsten Wassers, als den er sich immer ausgibt. Sein Verhalten schmerzt mich etwas, obwohl ich diesem O’Rourke das Blauauge nicht miß gönne. Diesem Schmarotzer pumpte ich, ich muß da mals wahnsinnig gewesen sein, noch vor Ausbruch des großen Krieges zwei Pfund. Bis heute habe ich sie noch nicht wiedergesehen! Ich rechne mir einmal aus, daß ich, wenn ich das Geld mit nur drei Prozent bei einer Bank deponiert hätte, jetzt schon über ein Pfund an Zinsen abheben könnte. Das sind vier Unzen gemisch ter Großvenor Tabak oder zwanzig Bier. Dieser charak terlose Vollmond O’Rourke! Soeben erklärt ihm Knö delwilson, daß Plattfüße in Kusin-Ehen erblich sind, obwohl sie gerade noch über chinesische Küche quas selten. So rasanter Themenwechsel ist typisch für die se Schreihälse! „Sollte ich jemals einem Sohn das Leben schenken“, spricht Knödelwilson mit großer Lautstärke, „dann wird derselbe seine liebe Kusine heiraten, wenn er je eine haben sollte und diese Dame nicht über sechzig ist. Somit wird das Söhnchen, welches dieser Ehe ent sprießt, wenn jemals eines entsprießen sollte, die schönsten Plattfüße unseres Imperiums erben und ei nen Druckposten bei der glorreichen Territorialarmee
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erhalten, wenn es je zu derselben gepreßt werden soll te!“ Nach diesem zugegebenermaßen saublöden Satz blickt Knödelwilson erst auf seine Plattfüße, die er sich angeblich durch allzu strammes Auftreten bei der Ar mee geholt haben will, und dann drohend der peinli chen Type O’Rourke ins Auge. O’Rourke stiert interes siert zurück. Schleierhaft ist mir auch die Entgegnung dieses ausgestopften Nilpferds. Er fragt nicht, woher Knödel wilson wissen will, daß sein Söhnchen die zur Verer bung nötigen Plattfüße bekommt, sondern schreit mit schriller Eunuchenstimme: „Die beliebteste chinesische Delikatessenspezialität ist aber trotzdem das hundert jährige Hühnerei, Trevor. Das habe ich, Godfrey O’Rourke, dem Daily Express entnommen, Trevor, und ich stimme dem zu, absolut!“ Apfelblüte O’Rourke läßt seinen altklugen Blick triumphierend kreisen. Ich sehe, wie Knödelwilson seine Rechte, mit der er bekanntlich Pfähle einschlagen kann, bedachtsam hebt, und kann mir, obwohl ich ein Gegner aller Bruta litäten bin, eine gewisse Erwartung nicht verkneifen. Apfelblüte O’Rourke rettet sein linkes Auge durch den Ausruf: „Au, guckt mal da!“ Er hat uns gesehen! Uns, das heißt, in diesem Falle: mich und meinen alten Kumpel Pinkie, auch Archie Pinkey, einen feinen Kerl, der vierundzwanzig Monate lang das bittere Brot der Verbannung essen mußte und darum noch recht käsig aussieht. (Habe ich schon erzählt, daß er einen mäch tigen Zinken von Nase hat?) Ach, wie freuen sich da alle über unsere werte Anwesenheit! Nur Willy jauchzt nicht. Er blickt noch scheeler als sonst. Denn mein alter Kumpel Archie Pinkey, mit dem 28
ich schon vor mehr als dreißig Jahren die Mülltonnen der schönen Stadt Liverpool nach etwas Verwertbarem durchsuchte, steht ziemlich heftig in der Kreide bei ihm. Und das schon mehr als vierundzwanzig Monate, verflixt und zugenäht! Immer bei meinen besten Kum pels müssen solche Schräglagen auftreten. Das schmerzt! Doch auf diese Tatsache können wir im Mo mang keine Rücksicht nehmen. Die Kameraden äußern jedenfalls eine gewaltige Freude über unser Erscheinen. Apfelblüte O’Rourke, dieser unsympathische Braten, spult eine ganze Rolle beglückter Grunzlaute ab, sicherlich, weil er nun keins aufs Auge bekommt von seinem Abgott Wilson. Das Kinn meines großnasigen (!) Kumpels Pinkie wird infolge der sogenannten Rührung noch länger, als es ohnehin schon ist. Karnickel Mc. Goy, ein angeneh mer Mitmensch mit Nagezähnen, bleibt schweigsam. Ich erkenne, daß er seine Nager vor Ergriffenheit auf einanderschmiedet und insgeheim schon daran denkt, uns eine Lage zu schmeißen. In seiner feinen Art bemerkt Knödelwilson, daß mein Kumpel Pinkie wie der Tod von Basel aussieht. Tiefbe wegt stiert er meinem alten Kameraden Pinkey, Ar chie, in die wäßrigen Augen und schüttelt ihm die Hand. Kamerad Karnickel Mc. Goy, der sehr empfäng lich für große Augenblicke ist, brüllt den armen Willy an: „Jetzt läßt du aber mal zwei feine Pullen Schotti schen auf meine Rechnung anrollen, Willy, und zwar dalli, dalli!“ Rein sinngemäß finde ich diesen Satz begrüßens wert. Karnickel Mc. Goy hätte ihn nur etwas netter formulieren sollen. Auch Willy ist schließlich ein Mensch, wenn er auch schielt. Er guckt so was von 29
kreuz und quer, daß man glatt vom Stuhl gehauen wird. Teufel, Teufel! Vor längerer Zeit verglich ihn Kar nickel Mc. Goy einmal mit jenem ehrwürdigen Serge anten, der vor den neuen Rekruten steht und den er sten nach dem Namen fragt, worauf der zweite ant wortet: „Kirkpatrick Tankerville, Sir!“ und der Sergeant zurückschreit: „Sie habe ich überhaupt nicht gefragt, Sie Rübe!“, worauf der dritte kleinlaut murmelt: „Ich habe doch auch gar nichts gesagt, Sir!“ Das ist natürlich eine jener kostbaren Anekdoten, die schon unter Tutch-ench-Amun erzählt wurden. Wir wieherten trotzdem, weil Karnickel Mc. Goy bei Erfolg seiner Späße stets eine Runde schmeißt. Und Willys Blicksystem hatte er ziemlich genau charakterisiert. Wenn man noch hinzufügt, daß Willy meist recht sauer blickt, weil einige Ehrenmänner nicht immer gut bei Kasse sind, dann kann man sich vorstellen, mit wel chem Augenaufschlag uns Willy bedenkt, ehe er die zwei Flaschen Schottischen holt. Was dann folgt, ist eine kräftige Wiedersehensfeier zu Ehren meines groß nasigen Kumpels Pinkie, in deren Verlauf wir Knödel wilson vorsichtig mit den Tatsachen unseres Kassen standes vertraut machen: sehr vorsichtig, denn so was hört er gar nicht gern. Es muß aber sein, denn dieser fette, riesenhafte Kamerad soll uns helfen, mir und meinem alten Kumpel Pinkie, mit dem ich schon ver kumpelt war vor mehr als einem Vierteljahrhundert, als wir noch in der dreckigsten Straße Liverpools da von träumten, den Pelion auf den Ossa zu türmen, was uns aber leider nicht gelang, denn wir landeten durch die Macht der Verhältnisse und den Aufbau der Gesell schaft bei krummen Dingern.
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Knödelwilson erklärt uns nach längerem, bangem Schweigen, daß er sich im Augenblick still verhalten muß. Es gibt gewisse Vorkommnisse, durch welche ein gewisser Hauseigentümer Windermore, Sir Percy, wohnhaft in St. Johns Wood, Abbey Road, um einige wertvolle Gegenstände aus Edelmetall gekommen ist, wie zum Beispiel Silberleuchter, Silbermesser, Silber gabeln, Silberkuchenteller, Silberlöffel, Silberetuis, Sil berkuchenheber, Silberkasserollen, Silberaschenbecher und Silberuntersetzer. Ein phantasieloser Bursche, die ser Knödelwilson! Er verspricht uns aber, das heißt, er knödelt mit sei nem schrecklichen Organ, daß er, Trevor Wilson, so wahr er Trevor Wilson heißt und den geachteten – er sagt „geachteten“, wirklich! – Kameraden Apfelblüte am ausgestreckten Arm verhungern lassen kann, daß er also eine Sache ausmachen wird in Bälde, denn er wäre erstens ein Kumpel im Superformat und zweitens selber in Geldverlegenheit. Willy beginnt gleich zu zittern, als er das mit der Geldverlegenheit vernimmt, denn Knödelwilson hat schon eine Menge verzehrt und noch nicht geblecht. Nur O’Rourke, diese verbeulte Null, lächelt beglückt, berauscht, hingerissen und klebt an Knödelwilsons Lippen. Er ist ins Gespräch einbezogen worden! Der Krachwedel hat noch nicht genug mit dem einen blau en Auge! Mein Kumpel Pinkie – seine Nase kennen Sie ja! fleht Knödelwilson an, uns nicht im Stich zu lassen als ehemaliger Stern und Halbgott am Catcherhimmel, weil wir sonst Hungers sterben, ich und er selbst, Ar chie Pinkey, einer guten Mutter aus der Bahn gerate ner Sohn. 31
Nun schreit Knödelwilson im Stile des großen Cicero, daß er sofort wahnsinnig wird, wenn zwei Menschen so dämlich sind. Damit meint er uns, dieser Dreckbatzen! Wir machten Kinkerlitzchen, brüllt er, und trieben ihn an, wo er doch kein Ackergaul wäre, sondern Mister Trevor Wilson, und wo wir doch den von seinem be sten Kameraden Alfred Mc. Goy spendierten Whisky söffen wie die Bürstenbinder. Er wäre nicht von ge stern, behauptet er und verspricht uns einen Haufen, sogar mir, obwohl ich seiner Nichte – er sagt „Nichte“! – Midgie Mauler weisgemacht hätte, daß er, Trevor Wilson, ein Knicker wäre, wo er doch gar kein Knicker nicht ist, sondern der beste Kerl unter der Sonne Eng lands, ein Ehrenmann, der seine alten Kameraden kein Wasser saufen läßt. Er wird Wind bekommen von einer Sache, grunzt der Galgenstrick heiser, denn sein Knö deln macht ihm den Kehlkopf kaputt, und er wird uns diese rechtzeitig mitteilen. Aber den Daumen läßt er, Trevor Wilson, sich nicht aufs Auge setzen. Das hat er nicht verdient, nicht einmal von solchen Burschen wie Archie Pinkey, seinem alten, leidgeprüften Kameraden, und mir, der Märchentante! Das alles knödelt Knödelwilson in rasendem Tempo durch Willys verqualmtes Hinterzimmer. Der erlesene Kreis einschließlich Willy mit den frommen Augen ist tief beeindruckt von der windigen Rede. Er ist schon ein Kerl, der Knödelwilson, dieser sich selbst beweih räuchernde Muskelprotz! Von wegen Märchentante! Mein alter Kumpel Pinkie und Karnickel Mc. Goy be ruhigen ihn mit zarten, wohlgesetzten Worten, bis er wie ein vollgefressener Kater schnurrt, der eitle Hund. Gegen zweiundzwanzig Uhr schließt Willy seine Re stauration und läßt sich fest im Hinterzimmer nieder. 32
Gegen dreiundzwanzig Uhr hat Willy so viel schotti schen Edelsaft genossen, daß es mein alter Kumpel für angebracht hält, ihn um mehrere Pfund zu bitten: leihweise natürlich! Pinkie läßt dann noch einige kluge Worte über Willys Hinterzimmergeschäfte fallen, und gegen vierundzwanzig Uhr leiht Willy meinem Kumpel Pinkie vier Pfund und mir sieben Pfund. Denn ich weiß noch etwas mehr über seine Geschäfte! Nach Mitternacht werden wir immer heiterer. Bis auf Willy. Der schielt verbittert in die Zukunft. Wer bezahlt ihm wohl die vielen Spaßmacher? Das zweite blaue Auge – das linke – erntet Apfelblü te O’Rourke, als er unvorsichtigerweise erklärt, daß zu enges Schuhwerk zum Haarausfall des Menschen bei trägt. Das hätte er dem Daily Express entnommen. Es sei aber auch seine Meinung, absolut! Knödelwilson trägt bekanntlich wegen seiner vielen Verlobten immer sehr enges Schuhwerk. Und er hat eine Menge Verlobte, denen er gefallen will. Und er hat unheimlich geräumige Rennsemmeln. Und eine ziem lich spärliche Perücke auf dem Haupt. Knödelwilson nimmt die Erklärung von Flaschenteufelchen sofort als Anspielung und benutzt seine Rechte, mit der er be kanntlich Pfähle einschlagen kann, zur Beendigung der Diskussion über zu enges Schuhwerk. Apfelblüte O’Rourke bleibt mitten in der Eröffnung stecken. Nun hat er zwei Veilchen und ist ein botanisches Wunder! Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwacht, wird Knödelwilson schwermütig. Traurig küßt er die aufgegangenen Veilchen O’Rourkes. Apfelblüte O’Rourke beginnt sofort bitterlich zu weinen. Damit will er bestimmt nur Eindruck schinden! Knödelwilson schlägt sich gegen die Brust, was schrecklich hohl 33
klingt, als schlüge er sich gegen den Kopf. Dazu röhrt er immer wieder klagend: „Ich habe ein Großmütter chen, das mich sehr lieb hat, doch ich gehe nicht nach Hause. Warum gehe ich nicht nach Hause, ich Lump?“ Er ist ganz schön übergeschnappt! So ein großer, dik ker Bursche verträgt nicht mal diese paar Stamper! Mein Kumpel Archie Pinkey, auch Pinkie genannt, ver setzt ihm einige schmackhafte Männerohrfeigen. Ob wohl ich ein Gegner aller Brutalitäten bin, tut mir das wohl. O’Rourke dreht auch sofort den Hahn ab. Knö delwilson wird wieder etwas zurechnungsfähiger. Er bedankt sich bei Pinkie und will ihn ebenfalls küssen. Pinkie drückt ihm behutsam einen kurzen Haken unter die Nase. Knödelwilson lacht glücklich auf und schwört uns bei der Schönheit seiner augenblicklichen Verlob ten Deborah Muldoon, daß er uns in spätestens drei Tagen geholfen hat. Sonst will er vom Schlag getroffen werden! Hierauf fällt er wie ein ehrwürdiger Baumriese zu Boden und atmet pfeifend durch die Nase. Dazu streichelt er Karnickel Mc. Goy, der schon vor ihm ge landet ist, und stöhnt: „Ich verleihe kein Geld, Mister Kelly. Mein Großmütterchen hat es im Frühbeet ver graben. Warum bin ich nur so schön?“ Das ist nun völlig blöde, und wir machen uns auf, Aurora, die Göttin der Morgenröte, zu begrüßen. Willy schließt hinter uns ab. Es regnet nicht mehr. Das Licht kommt still in die Straße gekrochen. Heil dir, du neuer Tag! Von dem unseligen O’Rourke trennen wir uns ziem lich abrupt. Bei solch einem Bruder muß man ja immer gewärtig sein, daß er irgendwelche Schaufenster an ritzt oder Automaten knackt, diese trübe Laterne! Selt samerweise läßt er sich sofort abhängen. Das ist ein 34
malig bei ihm, doch er hat es eilig. Er muß ebenfalls verrückt geworden sein, denn er fragt uns noch, ob Knödelwilson in seinem Gärtchen auch wirklich ein Frühbeet angelegt hat. Da zieht er hin und lächelt ver schlagen. „Vielleicht will er seine Veilchen in Knödelwilsons Frühbeet umpflanzen“, murmelt mein. Kumpel Pinkie sarkastisch. Darüber muß ich mächtig wiehern. Mrs. Miriam Rucastle, Postbeamtenwitwe, ist schon wach und frischgekämmt, als wir die muffig riechende Treppe in der Praed Street mit dem Gesang „Oh, Nelly, komm ins Themsewasser, laß unser schwarzes Leid dort enden…“ emporsteigen. Für diesen Muffgeruch zahle ich Monat für Monat sieben Pfund! Kaum zu glauben! Mein Kumpel Pinkie – hat der Junge eine Nase! – singt einen schönen Baßbariton, aber Mrs. Rucastle, Witwe, will den göttlichen Sänger und mich mit Blicken erdolchen. Das gelingt ihr aber nicht, denn wir haben ein dickes Fell und sind erfüllt von Liebe zu aller Krea tur, die unter Gottes grünem Himmel grast. Jawohl, das sind wir, ich und mein kinnreicher Kumpel, mit dem ich schon damals, vor Jahren, versuchte, über Liverpool und andere rauhe Pfade zu den Sternen zu gelangen. Glücklicherweise verhütet mein Kumpel Pinkie im letzten Augenblick durch einen schmerzhaften Knuff in meine Magengrube, daß der Teufel Alkohol einen uner setzbaren Schaden anrichtet: Fast hätte ich doch der Witwe Rucastle drei Pfund Vorschuß auf die Mietrück stände überreicht. Das hätte schlimm ausgehen kön nen, wenn Pinkie nicht gewesen wäre! Ich gebe ihr nur zwei Pfund. Das andere Pfund leiht sich Pinkie von mir. 35
Bald schlummert mein alter Kumpel unter einem an genehm warmen Leinengewebe inmitten vieler Gänse federn wie Schneewittchen bei den sieben Zwergen – und ich, der gütigste Kumpel dieses großnasigen Men schen, ich werde am Trafalgar Square auf Kundschaft für mein Taubenfutter lauern. Mit großem Ekel denke ich an das Leben, speziell an meines.
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III
Ich sitze in der Untergrundbahn, Richtung Trafalgar Square, und rauche Virginia Players am laufenden Band. Der Koffer mit dem Taubenfutter steht drei Plät ze von mir entfernt. Im Augenblick wünsche ich mir jedoch, daß er in Unteritalien steht, auf dem Popoca tepetl, im tiefsten Neuseeland oder am Tschomolungma-Gletscher. Meinetwegen kann er auch im Golf von Neapel schwimmen. Möglichst weit weg jedenfalls! Dieser Koffer ist aus Pappe und an den Ecken abgesto ßen. Er sieht aus, als sei er schon als Handgepäck ei nes puritanischen Pilgervaters mit der Mayflower in Amerika gewesen. Außerdem kleben häßliche Papier reste von der Gepäckaufbewahrung darauf. Das Zeug kriegt man nie wieder richtig ab. Die haben einen Klebstoff in den Gepäckaufbewahrungen, der überlebt glatt das dreißigste Jahrhundert! Wenn mein ver dammter Pappkoffer nur noch ein klägliches Häufchen Erdreich ist, der Kleber mit den Papierresten wird noch existieren, schätze ich. Die sogenannten Archäologen, Krempelforscher, Schrottaufpolierer, Schatzgräber, Skulpturenausbuddler und Antiquitätenschürfer wer den vielleicht in eintausend Jahren, wenn wir alle kei nen Bart mehr haben, so einen häßlichen Papierfetzen ans Licht der Sonne ziehen. „St. Pankras Station (Lon don Midland) – Gepäcknummer 3562“ werden sie ent ziffern. Dann werden sie daran herumlecken, und einer wird klug bemerken: „Klebstoff! Guter Klebstoff! Sehr guter Klebstoff, Zeitgenossen! Klebt heute noch. Dies muß der Aufkleber eines altertümlichen Gepäckstückes gewesen sein. Vorrömische Eisenzeit oder etwas spä 37
ter. Welch schönen, alten Gegenstand hat wohl dieses schlichte Schriftstück einmal geziert?“ Nun, meinen miesen Koffer hat es einmal geziert, ihr sorglosen Wundertüten in Futurum! Und dieser Pappkoffer ist augenblicklich noch sehr lebendig. Sozu sagen ist er noch da, und zwar in seiner ganzen hämi schen Häßlichkeit. Ein widerlicher Kasten! Er paßt nicht zu mir. Bei meinem Aussehen müßte ich einen Koffer aus Elefantenleder haben. Oder aus Krokodilleder? Aber was nützte so ein Koffer? Ich verreise ja doch nie. Ich rauche! Wenn ich nichts habe – Stäbchen oder Tabak für die Pfeife habe ich immer! Ich qualme wie ein Misthaufen. Damit richte ich mich früher, oder spä ter zugrunde. Das liegt klar auf der Hand. „Die einzigen, denen der Tabak nicht schadet, sind die Besitzer von Tabakläden“, sagte mein Kamerad Karnickel Mc. Goy einmal. Damit hat er recht, denn Karnickel Mc. Goy hat Grips auf den Lamellen. Aber auch er ist leider ein Ganove, der nie Geld besitzt. Ich führe ein hoffnungsloses Leben. Sinnlos ist es obendrein. Methusalem ist 969 Jahre alt geworden. Sicher hat er nie geraucht und nie mit Mülltonnen zu tun gehabt. Ich werde wohl nur 50 Jahre alt. Oder siebzig? Höchstens aber achtzig. Das sind Aussichten! Selbst wenn ich neunzig Jahre alt werde – was sind neunzig Jahre gegen 969 Jahre! Ich werde nie im Ses sellift Sankt Moritz genießen. Wozu brauche ich dann einen Koffer aus Elefantenleder! Oder aus Krokodille der? Ich weiß ja nicht einmal, was für einen ich kaufen würde, wenn Geld da wäre. Diese dauernden Entschei dungen! Man muß Zaster haben, dann ist alles drin. Hierbei meine ich nicht im Koffer, sondern im Leben. Aber 38
auch im Koffer ist dann alles drin. Was dein Herz be gehrt sozusagen! Wenn man Geld in der Tasche hat, kann man sogar, ohne daß man dafür in den Kasten gesteckt wird, ein Tankschiff auslaufen lassen und die Natur in Form von Strand und Meer meilenweit verunzieren. Sogar Al Ca pone war geachtet, denn er hatte Kies. Kies bringt Macht. Und wer Macht durch Kies hat, ist meist Al Ca pone. So rundherum geht es in unseren Sphären mit der sogenannten Logik! Wer zahlen kann, den steckt man selten ins Loch. Der bleibt draußen bei seiner Puppe auf Eiderdaunen und Schlaraffiakomfort und lacht sich eins ins Fäustchen. Nur uns Jungens macht man’s schwer. Wir kommen ‘rein! Und wenn wir drau ßen sind, müssen wir Taubenfutter verkaufen. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“ Jawohl! Doch Taubenfutter bringt zum Beispiel einen Dreck ein. Auch wenn man es noch so sehr mit preis werten Ingredienzien mischt. Die Großen mit den dicken Brieftaschen machen das ganz anders. Für zweihundert Prozent Profit verkaufen sie sogar ihre Oma. Pfundweise, sozusagen in Schei ben! Und dich zertreten sie wie ein kleines, häßliches Würmchen. Da existiert überhaupt kein Gesetz, das sie nicht übertreten würden! Und wenn mal etwas ruchbar wird von ihren finsteren Machenschaften, dann neh men sie sich die besten Rechtsanwälte Londons und sind aus dem Schneider ‘raus. Aber unsereinen nennen sie ein deklassiertes Element. Von wegen deklassiertes Element! Da setzt sich so ein nobler Richter hin, stülpt sich die Perücke über die Löffel und verknackt dich zu zwölf Monaten Sanatorium. Fertig ist die Laube! Das geht ruck, zuck, Marie! Da kommst du kaum zum 39
Zwinkern! Und dreihundertsechzig süße Tage liegen vor dir. Kein Mädchen. Keine Witwe Rucastle. Kein Einkommen. Böse Visagen überall. Arme Würstchen im Dutzend, in Bündeln und Haufen. Keine guten Geträn ke. Miese Messerritzer und ganz gemeine Hundekno chen haufenweise. Abends etwas Gewitteraussicht mit Mondsichel. Und morgens wieder ein verdammter Tag. Dann bist du drin in der Mühle! Dann kommst du im mer wieder ein bißchen ganoviger ‘raus. Man lernt da zu im Bau. Und dreihundertsechzig Tage sind hundert Jahre lang. Eintönig, eintönig! Oh, Mensch, hüte dich vor dem Knast! Wenn dich die bösen Buben locken, dann bleib zu Haus und stop fe Socken oder wandere aus nach Kuba oder Nowaja Semlja! Die letztere Möglichkeit darfst du aber auch nicht groß bekanntmachen, denn sonst bist du gleich ein verdächtiges Element mit Moskauambitionen, Streikes lust, Friedenskampf in der Brust und anderen argen Eigenschaften, die eben so einen kommunistisch an gehauchten Weltverbesserer als Störenfried kenn zeichnen. Da wirst du gleich zum Menschenfresser ge stempelt, Freundchen! Schließlich zweifelt ein ehrlicher Gauner nicht an der Existenzberechtigung irgendwel cher Mammonanbeter und Dollarschoten. Er möchte nur mit dazugehören. Doch was die sogenannte High Society ist, die will keinen mehr ‘reinlassen. Das ist alles schon voll. Da können sie wie die Kletten zu sammenhalten, weil sie gemeinsame Interessen ha ben, obwohl sie natürlich auch mächtig versuchen, sich gegenseitig fertigzumachen. Je weniger sie sind, um so mehr Zaster und Macht kommt auf jeden, um so mehr kleine, miese Hungerleider können sie übers Ohr 40
hauen und mit lieblichem Kitsch sowie verschiedenen anderen schoflen Machereien vom wahren Sachverhalt ablenken. Da hilft die ganze Sozialsülze mit caritati vem Einschlag nicht viel! Aber gegen einen marxinspirierten Weltproletarier ist ja unsereins geradezu beliebt bei der Richterschaft. Man kann sich gut vorstellen, wie erfreut sie einen so greulichen Kommunisten verknacken, wenn sie einen Ehrenmann meiner Garnitur schon ohne mit der Wim per zu zucken ins Loch schicken. Das eiskalte Abser vieren beherrschen sie eben grandios! So ein Perückentiger, der dich ruck, zuck verknackt, weiß ja auch nicht, wie schnell ein braver Junge auf die schiefe Bahn kommt. Der war in Harrow oder Ox ford und hat seine schöne Jugend in Lackschuhen auf dem Golfplatz verbracht. Dieser selbstzufriedene Por ridgebauch ist seinen Komfort gewöhnt, sein bürgerli ches Heim mit Kamin und einer hingebungsvollen Ehe gemahlin, der Sklavin am Tage und Königin der Nacht, wenn nicht irgendwo eine Nebenkönigin regiert. Diese Musensöhne sollten erst einmal einen kleinen Lehrgang im Armsein absolvieren, ehe sie einen Eh renmann verbraten dürfen. Schließlich hat unsereins auch einen hehren Geist, womit ich meine: eine intelli gente Birne! Ich habe beispielsweise die Literatur aller Gefängnisbibliotheken Groß-Londons studiert. Leider haben sie da meist sehr hochgestochene Werke, wel che vermoderte Zeiten und den Lauf der Geschichte beinhalten. Auch moralisierende Traktätchen sind in Haufen vorhanden. Die habe ich natürlich übersehen. Da waren so viele fromme Augenaufschläge und Er mahnungen drin, daß es einem ganz elend davon wur
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de zwischen den Brandmauern, Halleluja noch und noch! Ich kenne das Leben von Richard Löwenherz und den Aufstand der Calvinistischen Schotten im 17. Jahrhundert genausogut wie die Rosenkriege und die Könige des Hauses Tudor, vom alten Ödipus und ei nem gewissen Gentleman namens Odysseus ganz zu schweigen. Aber diese Richter kennen nicht einmal den ver dammten Rappel, der dich nach einigen Wochen Knast packt. Vom Leben eines Hafenarbeiters in den vierzi ger Jahren ahnen die nicht einmal etwas. Wie schwer es aber ist, einen Tresor mit allem Drum und Dran zu knacken, das würden sie sich nicht einmal träumen lassen. Selbst ein Junge meiner Bauart fegt lieber die Westminster Bridge oder das Wembley Stadion fünf zigmal sauber, als daß er nur einen Tresor knackt. Es besteht aber leider ein großer Unterschied zwischen beiden: Aus einem Tresor kann immer einmal etwas herauskommen. Beim Fegen kommt meist gar nichts oder nicht viel heraus. Darum neige ich mehr zur Tre sorknackerei. Ich kann mir nicht helfen. Wenn unsereins schon nicht in der Downing Street oder an der Börse landen kann, dann will er doch we nigstens den hochmoralischen Speckbäuchen etwas husten. Die halbe Welt ist korrupt, und unsereinem wollen sie feinen Sand in die Augen streuen, als ob sie wer weiß wie ehrlich wären. Oh, käufliche Welt, in der man leben muß, ohne et was kaufen zu können! Höchstens etwas Taubenfutter und einige Krümel Tabak für die Pfeife, Großvenor Spezialmischung, die Unze zu fünf Schilling. Ein teurer Spaß! Pinkie, mein Kumpel – seine Nase ist ein Wun 42
derwerk der Natur! – pennt auf dem Sofa der Witwe Rucastle den Schlaf der Gerechten, und ich muß mit diesem widerlichen Pappkoffer zum Trafalgar Square fahren! Das Leben gibt – das Leben nimmt –, und zu letzt wird alles Erde. Mahlzeit, Tante Betty! Ich sehe mich schon im Sarg liegen. Heute kann ich mir das gut vorstellen: „Ganz plötzlich ist er abge schrammt, dieser großartige Kerl“, schluchzt mein Kumpel Pinkey Archie, und schon schnarcht er wieder. Dieser Bursche pennt auch bei meinem Begräbnis! Ha be ich das um ihn verdient? Knödelwilson ist ebenfalls anwesend. Er trägt zur Feier des Tages eine nagelneue Hawaiikrawatte. Die Vermutung, daß diese Krawatte ziemlich geschmacklos ist und fürchterlich aussieht, trifft zu. „Hut ab vor ihm“, knödelt Wilson ergriffen. „Er war ein Mensch! Aber er hat sich mit diesem ver dammten Taubenfutter und seiner ewigen Denkerei kaputt gemacht. Ist das eine Beschäftigung für einen Ehrenmann seines Formats? – Nein, das ist es nicht! Mitnichten!“ Ich höre, wie die Erde auf meinen Sarg poltert. „Halt!“ will ich rufen. „Halt, Jungens, ich bin noch da! Ich bin sozusagen noch existent!“ Aber da wiehert Apfelblüte O’Rourke wie ein verrücktes Pferd und schippt und schippt. Neben ihm steht eine gewisse Miss Lucy Parr, Verkäuferin bei Selfridges in der Ox ford Street, schön wie eine Märchenprinzessin und ehrbar wie eine Nonne, wenn unsereiner sie mal auf ein Ingwerbier einladen will. Miss Lucy Parr weint gro ße, dicke Tränen auf meinen Sarg. Das hat sie davon! „Klopf! Klopf!“ machen die großen, dicken Tränen, und es klingt immer leiser, denn Apfelblüte, der Hunde sohn, schippt wiehernd. „Apfelblüte, hab Erbarmen!“ brülle ich. Und davon werde ich wach! Eben verläßt die 43
Bahn Charing Cross. Jetzt muß ich weiter bis zur Wa terloo Station fahren und zurücklaufen. Der Tag fängt süß an! Noch eine Fahrt leiste ich mir bei den gesalze nen U-Bahn-Preisen nicht! Aber ein Trost steckt in al lem! Bei meiner Mattscheibe hätte ich ebensogut in die falsche Bahn gestiegen sein können. Dann würde ich jetzt in Marylbone sitzen. Dort sitze ich aber nicht, denn Glück muß der Mensch haben, verdammt noch mal! Ich lasse mich von der Rolltreppe in die Bahnhofs halle transportieren. Wo die Fernzüge abrauschen! Ins Blaue! Ins Grüne! Ins Gelbe! Ins Karierte! Wohin du willst, mein Herz, wenn du kannst! Ach, Himmel! Ach, Erde! Ach, Hölle! Warum muß mein Papa auch ein schlichter Hafenar beiter gewesen sein, ein Kistenwuchter und Baumwoll ballentransporteur? Wenn man bedenkt, daß der werte Mister Onassis auch Hafenarbeiter gewesen sein soll, dann weiß ich wirklich nicht, was mein Papa da falsch gemacht hat. Sein ganzes Leben lang war er ehrlich. Sein halbes Leben lang war er arbeitslos. Aufgemuckt hat er nie. Wenn er arbeiten durfte, hat er geschuftet wie ein Ochse. Er war ein guter Kumpel, ein starker Bursche mit anständigen Muskelpaketen. Er hat sich regelmäßig gewaschen. Sogar die Beißer hat er sich jeden Morgen gewienert. Und gesoffen hat er nur Tee. Und samstags haben wir in der alten Zinkbadewanne gebadet. Mein Papa war eigentlich ein Kerl wie aus der Sonntagsschulfibel: „Früh schlafen gehen und früh aufstehen schafft Reichtum, Weisheit, Wohlergehen!“ Ja, schön wär’s! Sonntags ist mein Papa sogar in die Methodistenkirche gegangen, jawohl! Aber Onassis ist er trotzdem keiner geworden. Wir haben nur beim al 44
ten Kramfritzen O’Flaherty pumpen müssen. Mein Papa hat nicht einmal ein Pfund sparen können. Was hat er da nur falsch gemacht? Wenn er der Herzog von Norfolk gewesen wäre, dann brauchte ich jetzt nicht hier zu hängen. Nur eini ge Aktien hätte er mir vererben sollen, dann könnte ich jetzt nach Dover abrauschen. Und dann in die gro ße, weite Welt hinein: „Einmal Erster nach den FidschiInseln, Miss! Ich möchte dort den Sonnenaufgang er leben!“ In der Bahnhofshalle kaufe ich mir die Times und studiere sofort gierig die Börsenkurse. Das habe ich mir so angewöhnt. Wie schnell kann man an Geld kommen! Dann muß man gewappnet sein, denn sonst steht man da und weiß nicht, wie man den Zaster an legen soll. Mir wird das nicht passieren! Ich bin einmal hineingefallen, als ich fünfzig Pfund mein eigen nann te. Da hat mir ein Zeitgenosse namens Melby – der Bursche soll mir noch einmal unter die Finger kom men! – einen todsicheren Tip für das Pferderennen in Epsom gegeben. Ach, war dieser Tip sicher! Über das Weitere darf des Sängers Höflichkeit schweigen. Vor dem Waterloo-Bahnhof lagern wie immer einige verarmte Gentlemen aus Paddyland, das heißt: irische Mitmenschen, die sich bekanntlich dauernd darum streiten, ob sie direkt vom lieben Gott abstammen oder ob der liebe Gott von ihnen abstammt. Die mei sten von ihnen nehmen selbstverständlich das letztere an, denn es sind stolze Jungens, und Irland kann ihnen kein Brot geben. So träumten die Burschen vor Jahren, als sie noch schöne Jünglinge waren mit roten Locken auf dem Haupt und einem Lächeln im Gesicht, daß sie in der schönen Hauptstadt des britischen Weltreichs 45
einen anständigen Happen verdienen könnten. Und so stiegen sie mit ihren letzten Pennys auf ein Schiffchen und dampften über den Sankt-Georgs-Kanal. Und dann sprangen sie frohgemut auf die Mutterlandsei senbahn und rollten nach London. Und jetzt denken sie: „Was haben wir da für einen Mist geträumt?“ Und pennen des Nachts in den lieblichen Ecken der Waterloo-Station. Bitte, keine Unruhe: Es sind viele Ecken vorhanden! Und am Tage betteln sie dich um Three pence oder einen Glimmstengel an, indes sie einen miesen Wermut in sich hineingluckern lassen. So sorgt die verehrte Krone für ihre Verwandten. Eine gute Tante! Kein Wunder, daß die Ganoven zunehmen. Die Kon kurrenz wird ja immer größer! Die dickwangigen Damen Touristen von weit hinten aus dem Teutoburger Wald mit Rasierpinseln auf dem Hut betrachten jene vollbärtigen, lumpenhosigen, be duselten, verkommenen, schwarzohrigen, filzhaarigen, traueräugigen, schamlosen, flohreichen, bedauerns werten Gentlemen aus Paddyland mit einem ange nehmen Grausen und plärren: „Süh mal, Paul, wü ün teressant, pfui!“ – „Pfui!“ sagen sie übrigens ziemlich oft. Stolze Paddyländer, ihr fehlt mir gerade noch zu meiner Laune! Euer Schicksal will ich nicht teilen! Rutscht mir den Buckel hinunter! Von wegen die Fu selpulle in der Linken und: „Bitte, Sir! Threepence!“ Nein, o nein, liebe Tante Nelly! Dann doch lieber Tau benfutter am Trafalgar Square verkaufen und hin und wieder ein sicheres Ding landen! Meine Laune bessert sich bedeutend, was eine Laune so an sich hat, wenn sie in die Niederungen dieses Daseins blicken darf.
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Über die Waterloo-Brücke bläst ein frischer Wind, und der Wind riecht nach Meer und Herbst. Die Möwen kreischen. Auf dem bekannten Fluß Themse schaukelt die alte Discovery als Museum. Mit der ist im Jahre 1902 Robert Falcon Scott zum Südpol gepaddelt, um das König-Eduard-VII.-Land zu entdecken. Er hat es auch wirklich entdeckt. Da staunt der Laie! Der Südpol dankte es ihm aber nachher schlecht, denn Robert Fal con, Sir, erfror. Da hatte er nicht viel Freude an seiner Entdeckung. So geht’s im Leben zu! Wenn ein Muse umsgegenstand von einem bleibt, ist es schon viel. Und wenn man in Tussauds Kabinett in der Marylebone Road der Welt als Wachsgestalt vorgeführt wird, dann hat man schon die Gipfel dieses irdischen Jammertals erklommen. Manchmal natürlich auch die Tiefpunkte, wie man an der im Kabinett vorhandenen Figur des schnurrbärtigen Adolf aus Teutonien oder am Wachs beispiel eines anderen Massenkillers, Mister Hackebeil, ersehen kann. Guckt dem Leben hinter das werte Chemisett, und ihr könnt Gänsehaut in Großausgabe genießen! Da tun sich Abgründe auf! Meine Laune sackt natürlich bei solchen Gedanken aus dem philosophischen Bereich sofort wieder drei Stockwerke tiefer. Zudem habe ich nur Cornflakes mit Milch im Magen. Kennen Sie Corn flakes? Gesund, gesund! Das war Mrs. Rucastles Milchbombe. Wenn die Miete nicht rollt, wird das extra berechnete Frühstück unanständig. Statt Toast und hübschen Eiern mit Schinken gibt es dann Porridge oder besagte Cornflakes. Pfui Deibel! Da kann ja kein männlicher Gedanke aufkommen im Haupt, wenn es dort von aufgeblasenem Mais oder Haferflocken wim melt! Statt eines anständigen Hammelsteaks mit Erb 47
sen und Röstkartoffeln im Magen hängt mir dieser peinliche Koffer mit Taubenfutter in den Händen und der Magen in den Kniekehlen. Aber wie sagt doch schon unser herrlicher Sieger von Trafalgar, Admiral Nelson, Horatio, Viscount, in seinem Tagesbefehl vor der Schlacht? „England erwartet, daß jedermann seine Pflicht tut!“ England erwartet also auch, daß jeder sein Taubenfutter verkauft, wenn er welches zu verkaufen hat wie ich zum Beispiel. Am Strand erklingt himmlische Scheppermusik, schepprige Himmelsmusik. Mehrere üppige Jungfrauen der Heilsarmee lassen frohsinnige Hallelujagesänge gen Himmel steigen, ihrem Chef zur Ehre und unserei nem zur Mahnung. Sich selbst sicherlich zur Freude! Das überaus Tragische dabei ist, daß ihnen bis auf ei nige Touristen aus der finstersten Provinz, dem Hinter sten von Kentucky, dem tiefsten Hinterland von Mon tabaur und Carcassonne kein Menschensohn zuhört. Leider auch keine Menschentochter! Ekstatisch quellen die süßen Fischaugen der Lerchen unter den Schuten hüten. Als sie mich und meinen miesen Futterkoffer erblik ken, jodeln sie besonders eindringlich. „Gott wartet auf dich“, jubilieren sie. Höre ich recht? Als Sonderzugabe bekomme ich flehende Blicke serviert. Meinen diese himmlischen Wesen mich persönlich, einen Ehren mann, der noch nie einem Menschen etwas zuleide tat? – Da kann der liebe Gott aber lange warten, schätze ich. Er hat mir in meinem bisherigen Leben so viele Schwierigkeiten bereitet, daß ich gar nicht daran denke, der Einladung seiner Serviererinnen Folge zu leisten. Die vollschlanken Damen jubeln mich begei stert an. Wenn es wenigstens noch hübsche Puppen 48
wären! Hübschen Puppen nimmt man ja bekanntlich nichts übel, auch dann nicht, wenn sie ein wenig däm lich oder bescheuert sind. Aber diese holden Salat wachteln hier können mir den werten Buckel ‘runter rutschen! Was geht denn in diesen putzigen Köpfen vor? Von meinem zugegebenermaßen miesen Pappkof fer Rückschlüsse auf meine Persönlichkeit zu ziehen! Frischgemut tue ich den Jungfrauen mit Blicken weh. Ich kann aber auch eiskalt schauen! Die werden nicht noch einmal einen Gentleman mit Pappkoffer anjubilie ren! Als ich am Trafalgar Square ankomme, beginnt es zu regnen. Trippel – trapptropptropp! Vielleicht will mich der liebe Gott strafen? Vielleicht stehen die Jung frauen in Direktverbindung mit ihm? Das ist nicht schön von dir, lieber Gott! Admiral Nelson, Horatio, Viscount, den ich zuweilen den Touristen erkläre, steht wie immer auf seiner Gra nitsäule, 184 Fuß über dem Platz. Auf diesen Gentle man kann man sich eben verlassen! Heldisch blickt er in das Tropfengetümmel hinein. An Lady Hamilton denkt er wohl dort oben seltener. Er denkt wohl nur an Korsika und Teneriffa, an die französische Flotte, an Abukir und Kopenhagen – an ein furchtbares Schlach tengetümmel auf den wogenden Weltmeeren eben. Wegen Lady Hamilton steht er ja schließlich auch nicht da oben. Hätte John Miller Lady Hamilton geliebt, wäre diese nicht so bekannt geworden. John Miller hat ja sogar Angst vor dem Regen! Doch so einen Schlach tenlenker, der erst ein Auge, dann den rechten Arm und zuletzt das ganze Leben für unser Vaterland hin gegeben hat, den kann dieser Regen nicht stören!
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Mich stört er schon! Ich bin kein Schlachtenlenker. Ich habe keine Lady Hamilton. Ich habe nicht einmal Miss Lucy Parr. Sie will kein Ingwerbier mit mir trinken gehen! Die Tauben gurren zwar weiter verfressen, und wenn es nach den Tauben ginge, würde ich reich. Der Springbrunnen plätschert behaglich wie immer. Dum mer, nasser Springbrunnen! Die Löwen von Sir Edwin Landseer, die ich manchmal ebenfalls dem Publikum erkläre, stieren siegreich ins Leben hinaus. Aber, und das ist der springende Punkt: Meine werten Taubenfut terkäufer ziehen ab durch die Mitte! Verschwinden wie Dr. Kimble, der Schwarm aller geistig minderbemittel ten Puppen beiderlei Geschlechts. Da steh’ ich mit meinem schäbigen Pappkoffer voller Futtertüten. Das kann auch nur mir passieren! Ist das ein Hundeleben? Aber ein Trost steckt auch darin. Jetzt kann ich guten Gewissens frühstücken gehen. Schließlich habe ich noch einige Pfund in der Tasche. Der Koffer kommt mir sowieso verdächtig vor. Er kann keinen Regen vertragen, der zarte. Da quillt er auf und wird labbrig. Da bekommt er einen weichen Keks. Wenn ich noch lange mache, reißt der Griff aus. Dann sitze ich da mit meinem Taubenfutter. Und mit mei nem Koffer! Bis zu Willys Porterschwemme sind es fünfzehn Minuten Weg. Ich trabe an der Kanadischen Botschaft vorbei, den Haymarket hoch. Es regnet wie im Kino. Und Pinkey, des Vornamens Archie, mein al ter Kumpel, der professionelle Ofenhocker – seine Na se kennt jedes Kind! –, mit dem ich schon manchen Wolkenbruch durchgestanden habe, der schlummert selig. Mir aber läuft die Tunke in den Nacken hinein. Ist das ein Gefühl! Wenn ich noch einmal auf die Welt 50
komme, dann will ich nie wieder als ICH auf die Welt kommen! Jeder andere ist mir momentan lieber. Bis auf die Paddyländer und die teutonischen Damen mit den Rasierpinseln! Als ich vor Willys Kneipe anlange, hört es natürlich sofort zu regnen auf. Ich wundere mich kein Stück darüber, denn das Wundern habe ich schon in Liver pool verlernt und später bei der Armee noch kräftiger. Die Sonne kommt wieder durch. In fünf Minuten wird es am Trafalgar Square von Kaugummipennsylvaniern, Schottenröcken, italienischen Comtessen, wohlhaben den Kümmeltürken, rheinischen Eierwaden und finste ren Hinterwäldlern wimmeln! Dieselben können mir jedoch den Buckel hinunterrutschen, und zwar ekla tant. Ich habe es satt, und außerdem habe ich Hunger wie ein Wilddieb. Ich bin klatschnaß, verdammt noch mal! Willy poliert gerade seine neue Kaffeemaschine. Er hat ziemlich verquollene Augen. Mit selbigen blickt er menschenfreundlich durch die Gegend, denn nach ir gendwelchen Saufereien ist Willy immer fromm, weil er nie genau weiß, ob er wieder etwas von seinen Hin terzimmergeschäften ausgespuckt hat. Er überläßt mir sogar leihweise eines seiner Hemden. Es ist zwar ein ganz miserabler Fetzen von Hemd, aber es ist trocken. Die Kneipe atmet Sonne durch ihre Nasenlöcher, wo mit ich spaßeshalber die Fenster meine. Alles ist blank, sauber gefegt, morgenfrisch, taubeschlagen, zum An beißen. Kein Mensch im Revier. Nur Willys gütige Blik ke wandern kreuz und quer auf mir umher. Es duftet nach Kaffee und Toast, es duftet nach frischem Bier und Schinken, es duftet nach Leben. Manchmal kann
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Willy mit dem frommen Augenaufschlag richtiggehend Mütterlichkeit ausstrahlen, dieser Schäntelmänk! Er serviert mir eigenhändig ein feines Frühstück. Mein Lebensmut erwacht wieder. Willy ist ein Mensch. Ich bin ein Mensch. Der Erdball ist bevölkert von Men schen. Seid umschlungen, Millionen, die Welt duftet wieder nach altenglischem Lavendelwasser! Vielleicht rückt Willy das Frühstück sogar ohne Bezahlung her aus? Ich muß einmal vorsichtig antippen, denke ich. Willy ist kein armer Schlucker. Willy hat eine Menge buckliger Geschäfte am Bein hängen, die sogar einem Ehrenmann wie mir die Schamröte ins Gesicht treiben. Der kann für einen alten Kumpel schon mal was sprin gen lassen. „Bei diesen, wie du zugeben wirst, ungemein ver dammten Witterungsverhältnissen“, bemerke ich, „verdient ein Mensch, der gezwungen ist, Taubenfutter zu verkaufen, einen Quark!“ Willy blickt mich neugierig an. „Und was ist mit jenen sieben Pfund, die ich dir in der vergangenen Nacht leihweise überlassen habe?“ fragt er. Ich sage: „Die sind dir in jedem Falle sicher, alter Kamerad!“ Willy schüttelt ernst sein Haupt. „Kollege, du scheinst mich nicht zu verstehen“, spricht er. „Was du mit dieser immensen Summe be werkstelligt hast, frage ich dich!“ Ich sage: „Aber die Miete war doch zu zahlen, Willy, diese eminente Miete für Mrs. Rucastle, Miriam, Postbeamtenwitwe, unbescholten, in der Praed Street!“
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Willy nickt wehmütig. „Sei mein Frühstücksgast, in dem ich dir dieses eben verzehrte Frühstück spendiert habe“, spricht er großspurig. Ich sage: „Willy, du bist ein Schäntelmänk! Dieses Frühstücks werde ich ewig eingedenk sein, alte Rübe!“ Willy nickt und beschenkt mich mit einem huldvollen Augenaufschlag. Das ist ein vernünftiger Mensch. Er weiß genau, was ich von seinen Geschäften weiß. Da liegt der Hund begraben. Wissen ist Macht! Ich führe mir also auch noch eine vierte Tasse Kaf fee zu Gemüte. Ein spendiertes Frühstück muß man bis auf die letzte Möglichkeit ausbeuten! Ich stelle mir dabei vor, daß andere Leute dies alles bezahlen müs sen. So schmeckt es bedeutend besser, was Willys Kaffee auch nötig hat. Willy läßt sich vernehmen, es wäre jammerschade, daß wir wegen meiner völligen Geldlosigkeit nicht ein wenig knobeln könnten. Merken Sie was? Ich merke auch was! Leider muß ich geste hen, daß ich auf eine Partie Knobeln scharf wie ein Ra siermesser bin. Da kann ich glatt zum Satan werden. In jeder Situation! Das ist eine meiner wenigen unbe herrschten Seiten. Was soll ich groß erzählen? Sie werden es schon ah nen: Eine Stunde später bin ich um vier Pfund ärmer! Mein Menschenbruder Willy, diese scheinheilige Kanail le, spendiert mir hierauf einen fünften Kaffee. Angewi dert betrachte ich meinen speckigen Taubenfutterkof fer. Als Mensch würde dieser Koffer O’Rourke oder Wil ly heißen, schätze ich. Für vier Pfund hätte ich im Buckingham-Palast frühstücken können! Auf antikem Gold! Von den Kammerdienern ihrer Majestät bedient! „Sir, darf ich Sie auf diese exquisiten Kaviarpastetchen aufmerksam machen! Ein Glas Orangensaft zum Ab 53
schluß, Sir? Oder ein paar weichgekochte Naturper len?“ Als Gentleman muß ich dieser fatalen Situation klar in die Pupille blicken! Schon in der Longbarrowkultur, als sich unsere werten Ahnen noch mit Steinhackebei len auf den Birnen herumhämmerten, gab es solche miesen Rumpelstilzchen wie diesen frommäugigen Kneipier. Trotzdem ist das Leben weitergegangen. Und ob! Dieser Schmalznudel gehe ich nicht noch einmal auf den Leim! Warum bin ich ihm überhaupt auf den Leim gegangen, wo ich doch schon vorher bemerkte, was er beabsichtigte? Und er beabsichtigte es sehr primitiv und unsportlich, wie sich jetzt herausstellt. War ich auf den Kopf gefallen? Nun, ein Trost bleibt: Jeder Mensch wird einmal da für bestraft, wenn er seinem Mitmenschen Böses tut! Das hat Hochwürden Garry Fowling schon damals im Knast gepredigt, und er hat die Knastbewohner damit zu Tränen gerührt. „Auch Patroklus ist gestorben, Wil ly, und war mehr als du!“ So richtig glaube ich aber doch nicht daran, daß ihn die Rache des Himmels trifft. Ich werde ihn links liegenlassen und wieder an meine ehrliche Schufterei gehen, natürlich! Wenn der Knabe denkt, daß ich wegen der vier Pfund in Tränen ausbre che, dann hat er sich in den Wurstfinger geschnitten! Sein dreckiges Hemd kann er sofort wiederhaben! Ich werfe mich vor so einem versalzenen Pfannkuchen nicht auf die Kniescheiben! Gelassen ziehe ich mich im Hinterzimmer um und schleudere dem Marodeur das Hemd ins Gesicht, be ziehungsweise ich gebe es ihm mit zynischer Kußhand zurück.
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„Ist denn dein Hemd schon trocken, mein lieber Kamerad?“ staunt der falsche Schilling. Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen. Eiskalten Sinnes ziehe ich mein Hemd über, ergreife den widerlichen Futterkoffer und will mich auf die Socken machen. Ohne Gruß, oh ne Kuß! Ich will mich auf die Socken machen, aber ich komme nicht dazu, weil Knödelwilson Willys Bums kneipe betritt. „Na“, denke ich trocken, „da verweilst du noch ein wenig an Willys Herd, Kumpel! Es ziehen sowieso wie der Wolken auf.“ Ich lasse mich erneut nieder und bestelle mir den sechsten Kaffee. Willys Kaffee ist der reine Gesund brunnen, muß ich hier zynisch einstreuen. Da braucht ein Ehrenmann keine Angst um sein Herz zu haben. Solchen Kaffee schenkt man Leuten mit schweren Herzklappenfehlern als Heiltee aus. Die werden gesund davon. Die springen wie kleine, junge Ziegenböcke in die Natur hinaus und verlieben sich sofort entschlossen in eine hübsche Puppe. Der frommäugige Willy ist eben ein großer Menschenfreund, ein heiliger Samari ter, wie er in den ermahnenden Büchern beschrieben wird. Dieser ausgewiefte Mammonsdiener! Knödelwilsons werte Wangen sehen rot und gesund aus, als er sich mir hier so zur Ansicht darbietet. Ganz gewiß eine Folge von Pinkies altenglischen Bauern backpfeifen! Er ist mächtig sauer, der Dicke, und macht ein Gesicht, als säße er auf einem Kaktus. Ir gendein Gauner hat ihm nämlich sämtliche Scheiben seines Frühbeetes zerkloppt. Knödelwilson verflucht die Polypen in allen Tonarten, obwohl sie doch sonst immer seine lieben Grußpartner sind. Er benutzt sehr unfeine Ausdrücke dafür. 55
„Wenn man so einen Bullen nicht nötig hat“, knödelt er, „dann hängt er garantiert mit seinen Glotzen in der Gegend herum, daß du zu keiner ordentlichen Arbeit kommst. Aber wehe, du suchst mal eine Straße in Whitechapel draußen oder dir zerhaut so ein gewissen loser Halunke dein Frühbeet – da ist kein Bulle auf weiter Flur zu erblicken!“ Onkel Knödelwilson schüttelt sich vor Ekel. Sein Garten ist sein ein und alles! Er ist wegen starker Kopfschmerzen – vom Saufen! – schon sehr früh auf selbige Latifundie geeilt, um sich an der frischen Luft zu laben und an seinen Herbstastern zu erfreuen, spricht er. Bei dieser Gelegenheit will er gleich die schönen Frühbeetfenster in seinem Geräteschuppen verstauen, damit sie dort ordentlich überwintern kön nen. Und da wirft er einen Blick auf sein schönes Früh beet und will sich auch daran erfreuen, spricht er. Und da sieht er mit Entsetzen, daß jemand sämtliche Scheiben zerkloppt hat, und er kann sich nun nicht er freuen an dem schönen Frühbeet. Im Gegenteil! Die Petersilie, die sich noch im Frühbeet befindet, hat der unbekannte Täter auch herausgerissen. Auch an der kann er sich nun nicht mehr erfreuen! Und die gute Frühbeethumuserde ist schrecklich durchwühlt worden von diesem Irrsinnigen. Er sagt zwar nicht, daß er sich an derselben nun auch nicht mehr erfreuen kann, aber es hat den Anschein, als hätte er sich auch an der schönen Humuserde nicht mehr erfreuen können. „Diese Ganoven werden immer unverschämter!“ flucht Knödelwilson. Ich pflichte ihm laut bei und blicke zweideutig in Willys Pupillen. Damit will ich ihm eins wegen der verdammten Knobelpartie verpassen. Auf die sarkastische Tour, versteht sich! Willy reagiert lei 56
der nicht. Der hat ein Fell wie aus Schuhsohlen. Knö delwilson ist so erregt, daß er mir eine Zigarette an bietet. Stürzt der Himmel ein? Dem schoflen Willy quellen natürlich die Augen aus den Höhlen. Er soll sie nur nicht fallen lassen, denke ich, sonst gehn sie noch kaputt, die schönen Augen! Das hat Willy noch nicht erlebt, daß Knödelwilson eine Zigarette anbietet, und Willy hat schon allerhand erlebt! „Auch ich liege am Boden, Trevor“, gestehe ich ihm, um sein Leid erträglicher zu gestalten. Viel Trost liegt nämlich für einen leidenden Menschen darin, wenn er vernimmt, daß der andere neben ihm noch schlimmer dran ist als er! „So?“ murmelt Knödelwilson mißtrauisch. „Ja, Trevor“, spreche ich herzlich, „auch ich liege am Boden, denn ich bin völlig pleite. Ein nackter Mann bin ich mit weiter nichts als diesem Koffer voll Taubenfut ter in der Tasche!“ Knödelwilson bekommt sofort eine rote Birne. Seine Fäuste bleiben glücklicherweise ruhig. „Das ist ja kaum zum Aushalten!“ brüllt er mit seinem schrecklichen Or gan. „Wenn man nur, aber auch nur von gescheiterten Existenzen umgeben ist, das zehrt am innersten Mark eines Ehrenmannes. Das hängt mir zum Halse heraus! Daran verzweifle ich noch mal!“ So, da hab’ ich’s! Dieser aufgeblasene Pudding. Warum muß ich so einer mürben Kohlrübe mein edles Herz öffnen? Ich bin ja selbst schuld! Wenn mir dieser Waldheini nicht eben eine Zigarette spendiert hätte, ich glaube, ich wäre zu einem kräftigen Leberhaken fähig gewesen! Dieser vermurkste Harun al-Raschid glaubt wohl gar, er wäre besser als unsereiner? Ich sage lieber gleich gar nichts, sonst sage ich noch alles, 57
denn ich kann ein ungeheuer sarkastischer Bursche sein. Leider reagiert Knödelwilson auf Sarkasmus ziemlich unfreundlich. Seine Fäuste kennt jeder. Au ßerdem liest er nicht einmal den Punch! Warum soll ich meine wertvollen Zähne riskieren, die mir die Natur in so schöner Ausführung angefertigt hat? (Ganz im Ge gensatz zu Knödelwilsons Hauern! Oh, Teufel, sind das Dinger!) Knödelwilson blickt verbittert ins Leere, das heißt, er blickt auf Willys Haupt. Willy trällert ein Liedchen. Der Bursche freut sich immer, wenn sich ein paar Kumpels mit taktlosen Worten kränken. Dann kränken sie we nigstens nicht ihn! Plötzlich öffnet sich die Tür, und das liebenswerte Antlitz von O’Rourke wird sichtbar. Diese mürrische Visage hat uns gerade noch gefehlt, denke ich. Dieser Bruder arbeitet aber auch überhaupt nicht. Doch Geld hat er immer. Unsereiner plagt sich den ganzen Tag lang mit diesem miesen Futterkoffer ab, und so ein dünnohriger Knasterbart hockt Tag und Nacht in den Bumskneipen herum. Mißlaunig läßt sich O’Rourke neben Knödelwilson nieder. Was der Knabe für unheimliche Trauerränder unter den Nägeln hat! Als hätte er stundenlang Gar tenerde sortiert. Ein ungewaschener Maulwurf! Viel leicht hat er seiner lieben kleinen Gemahlin, diesem Giftzahn, die Blumenkästen umgegraben mit seinen zarten Patschern? „Die Pfoten könntest du dir auch mal waschen, O’Rourke, du hast ja Hände wie Füße!“ lasse ich mich sarkastisch vernehmen. Wenn es um Sauberkeit geht, kann ich zum Teufel werden. „Besser solche Pfoten als dauernd pleite!“ faucht mich Knödelwilson an. Ich zaubere ein verächtliches 58
Lächeln auf meine Lippen. Apfelblüte ist natürlich so fort guter Laune. Er spürt Rückenwind! „Morgenstunde hat Gold im Munde, und ein Dunkles für mich, Willy“, kräht er. Dann erzählt ihm Knödelwil son die Geschichte mit seinem Frühbeet. O’Rourke hört mit einer merkwürdig roten Birne zu und will dau ernd vom Thema ablenken. Mich beachten sie über haupt nicht! Na, da bin ich aber in eine Clique geraten! Wenn die jetzt Front gegen mich machen, eile ich sofort zu mei ner ehrlichen Tätigkeit als Futterverkäufer. Wenn nur nicht dieser erbärmliche Regen drohte! Ein Tag ist das! Die Kneipe füllt sich langsam. Willys Servierpuppen schwenken ihre freundlichen Gewölbe durch die Geo graphie. Das Leben könnte so schön sein, wenn es schön wäre! Auch Duncan O’Murphie, einer von Willys Rausschmeißern, hat schon Posten bezogen. Irgend welche Ehrenmänner müssen ja immer ‘rausgeschmis sen werden. Die Menschheit ist in Bewegung geraten, und diese verhunzten Nüsse sitzen hier und halten Maulaffen feil. Wenn es hoch kommt, ertrage ich sie noch ein halbes Stündchen. Dann gehe ich aber mal kräftig los mit meinem Taubenfutter, jawohl! Dann mache ich eine Mücke, die sich gewaschen hat. Hier schlafen mir doch nur die Füße ein. Und das ist nicht gut für den menschlichen Blutkreislauf, wie O’Rourke im Daily Express gelesen hat, denn es soll Krampf adern geben. Als Folge sozusagen. Und Krampfadern möchte ich ja nun nicht auch noch besitzen. Mir reicht schon dieser miese Pappkoffer! Es ist schon etwas Merkwürdiges um das Eigentum: Was man haben möchte, kriegt man nicht. Und was man kriegt, das möchte man nicht haben. 59
IV
„Ich habe diese Frau mit Liebe und Strümpfen über schüttet, aber sie hat mich mit dem Blumenkohlbruder aus der Craven Road hintergangen“, schluchzt mein alter, nasengewaltiger Kumpel Pinkie und verschlingt meine Äpfel, dieses Faß der Danaiden. Er hat schlecht geschlafen und noch schlechter geträumt. Eine gewis se Miss Smyrna Loyd – wir kennen sie schon: die Pup pe mit dem wohlhabenden Gemüsehändler! – hat in diesen Träumen die Hauptrolle gespielt. Nun stellt sich heraus, daß Pinkie eigentlich viel erbärmlicher als ich dran ist, obwohl er den ganzen Tag lang im seligen Schlummer verbringt, ich aber auf den stürmischen Wogen des Lebens meinen Mann stehe und dazu noch die Herren Knödelwilson, O’Rourke und Willy aushalten muß. Das erstaunt mich etwas! Es ist sechzehn Uhr dreißig, wie das Radio behaup tet, und Springinsfeld Pinkie hat eine Stimme wie ein zersprungener Topf. Das kommt von der innerlichen Erschütterung, welche ihm der Gedanke an Miss Smyrna Loyd beschert. Miss Smyrna Loyd macht eben den besten Baßbariton kaputt. Sie ist Gift für meinen Kumpel und seinen Kehlkopf! Der Bursche sielt sich aber auch zu konsequent im fatalistischen Nichtstun herum. Da muß man ja auf feuchte Gedanken kom men. Schließlich hat der Zaster keine Füße, mit denen er zu Pinkie eilen kann. „Hier bin ich, lieber Archie, gib mich aus!“ – So denkt sich das dieser Bursche viel leicht. So stellt er sich den Gelderwerb in seiner Birne vor und hört nicht auf zu pennen. Ich dagegen bin den ganzen Tag über auf Schusters Rappen unterwegs und betrachte das Leid meines al 60
ten Kumpels ziemlich apathisch, denn ich fühle mich sehr erschöpft. Wenn ein Mensch eine Stunde lang durch den Regen laufen muß, dann ist er eben ausge franst. Zudem hat dieser Mensch einen miesen Papp koffer – die Pilgervätertruhe von der Mayflower! – auf den Schultern tragen müssen, weil der verdammte Griff dieses miesen Pappkoffers ausgerissen ist. Meine Hände zittern wie die eines hundertjährigen Greises. Meine Schultern schmerzen schrecklich, und die Ober armmuskeln sind wohl kaputt und im Eimer. War das eine Pferdekur und Sträflingsarbeit! Die vergiftende Wirkung des Koffertragens hat mich völlig fertigge macht. So muß einem Galeerensträfling zumute sein! Und da jammert mir mein Kumpel wie ein Klageweib ellenlange Leidensgeschichten in die Menschenohren! Auch ich, mein werter Pinkie, sehne mich nach einer Märchenprinzessin namens Miss Lucy Parr! Jammere ich ihm darum die Ohren voll? Nicht die Bohne tue ich das. Ich trage mein Schicksal auf Männerart im Herzen verschlossen. Ich brülle nicht mit einer Stimme wie ein zersprungener Topf meinem Kumpel die erschöpften Ohren voll, denn die Ohren kann man nicht zuklappen. Zudem ist dieser Kumpel eine Stunde lang durch den Regen gelaufen, die vornehme Regent Street hoch, die schöne Oxford Street entlang, die noch längere Edg ware Road hinunter – immer auf seinen eigenen Men schenfüßen und ohne einem Kumpel damit kokett auf den Nerv zu treten! Diese bitteren Kameraden in Willys finsterer Kaschemme hatten ja nicht mal zwei Schilling Fahrgeld für einen erstklassigen Ehrenmann übrig, so zusagen für meine Persönlichkeit. Diese überkandidel ten Reckel haben mir doch Bedingungen gestellt, als ich mir von ihnen ein Pfund leihen wollte! Da kann ich 61
aber riskant werden: Bedingungen! Unvorsichtigerwei se machte ich aus meinem Herzen keine Mördergrube, als Knödelwilson und O’Rourke mir so müde, tranig, energielos, schlampig und nervtötend auf Willys alt englischen Bauernstühlen gegenübersaßen. Dies ist wohl in meiner eminenten Ehrlichkeit begründet. (Ha be ich sie schon erwähnt?) Ich sagte also den Burschen frank und frei in die Vi sagen hinein, daß ich nicht verstehen kann, warum zwei so kräftige, kerngesunde, dicke Burschen den ganzen Tag lang in der miesesten Spelunke Sohos herumlungern, wo sie doch an meinem Beispiel erse hen können, daß eine ehrliche Arbeit wie der Tauben futterverkauf zwar anstrengend, aber äußerst be kömmlich für den Menschen und insbesondere für sein Gehirn ist: seinen Grips also, die Ganglien, das Denk vermögen, den Geist, die Logik und so weiter und so weiter. Darauf reagierten die Brüder überhaupt nicht. Er mahnungen fruchten ja bei solchen schrägen Ganoven keineswegs. Die sind ja alle so abgebrüht! Als ich aber später ihre stumpfen Gesichter satt hatte und nach Hause in meine Bude wollte, mußte ich feststellen – ich war sehr überrascht! –, daß sich in meinen Ta schen kein Penny befand. Nun dachte ich, daß mir die se alten Kameraden sofort hilfsbereit unter die Arme greifen würden. Ich haue sie also um ein einziges Pfund an. Leihweise natürlich! Das versteht sich von selbst! Und da stellten mir doch diese Sumpfblüten die Bedingung, daß ich erst meine vorige Rede zurück nehmen muß, ehe sie mir etwas pumpen! Können Sie sich das vorstellen?
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Da wurde ich innerlich glasklar und eiskalt. Die lieb liche Musik meiner Seele verstummte. Ich ergriff den elenden Koffer, dessen Griff später ausriß – die Pilger vätertruhe von der Mayflower! –, ich blickte die Kame raden verächtlich an, und dann bin ich in den Regen hinausgegangen wie der tapfere Ritter Georg, wie Ivanhoe, der Recke. So verdammt hart kann ich manchmal sein! Das steckt eben in mir drin. Unter wegs freilich habe ich meine unnötige Härte bereut, denn nun würden die Kameraden sicherlich bei Willy sitzen und sich das alles furchtbar zu Herzen nehmen. Alten Kameraden soll man nicht zu wehe tun! Aber da war ich schon naß wie ein Frosch. Und jetzt jammert mir mein alter Kumpel Pinkie – eine Nase hat der Bursche! –, mit dem ich schon vor vielen Jahren den ersten Tresor unseres Lebens knack te, die Ohren mit Miss Smyrna Loyd voll. Muß das sein? Kann ich das überhaupt ertragen? Bei meinem Erschöpfungszustand brauche ich Trostworte und nicht dieses unmännliche Gegacker. Unmännlich gackern kann ich allein! Im übrigen verdient diese Miss Smyrna Loyd einen Kumpel wie Pinkie überhaupt nicht. Diese falsche Schlange soll doch bei ihrem merkwürdigen Blumenkohlfritzen, Gurkenverkäufer, Birnenausleser, Sauerkohlstampfer und Ladenschwengel bleiben. Sie soll demselben den Sauerkohl aus dem Haar entfernen und sich ein handgesticktes Sprüchlein über das zwei schläfrige Kanapee hängen: „Nur ein Viertelstünd chen!“ oder „Papi ist doch der Beste!“ Das soll sie. Sie soll aber nicht meinem Kumpel Pinkie und mir auf den Wecker gehen mit ihren lüsternen Nasenlöchern! Was hat er bloß an dieser vollschlanken Mona Lisa mit den Eierwaden gefressen? Ich schätze, meinem Kumpel 63
Pinkie ist hier nur noch mit großer Offenheit zu begeg nen und zu helfen. Sonst läßt er noch ewig den Rie cher hängen. Glücklicherweise fällt mir sozusagen als geistiger Trost ein kleines Kunstwerk aus dem Poesie album von Mrs. Rucastle, Miriam, ein. Und so spreche ich mit melodischer Stimme meinem Kumpel Pinkie, der dort auf den Trümmern seiner Liebe wehklagt, fol gende Zeilen ins Antlitz: „Ist krank dein Herz,
verwirrt dein Sinn,
willst sinken du
in Ohnmacht hin:
Dann eile hinaus
und weine nur
am tröstenden Busen
der Mutter Natur!“
Diese schönen Reime aus Mrs. Rucastles Poesieal bum, welches ich einmal durchzublättern die Ehre hat te, bringe ich meinem Kumpel eindringlich und mehr mals dar als Trost. Pinkie blickt mich mit offenem Mund an und atmet aus. Diesen Giftzahn hätten wir ihm gezogen. Ich kann mir ein innerliches Frohlocken nicht verkneifen. Er hat die ganze Zeit über die Luft angehalten, bemerke ich erstaunt. Ich glaube, es hat gewirkt. Er kocht auch sofort einen guten Tee und drängt mich aufs Sofa ab. Sieh da: Er überläßt seinem Kame raden sogar den Stammplatz! Daß von diesen schlich ten Zeilen eine so starke Wirkung ausgeht, habe ich nicht erwartet. Sage mir noch einmal einer etwas ge gen die Dichter! Pinkie drängt mir auch noch zwei As 64
pirintabletten, eine Magentablette und Beruhigungs tropfen auf. Es tut sehr gut, wenn man einmal etwas bemuttert wird. Das Radio hat er ebenfalls leise ge dreht. Die Verwandlung eines egozentrischen Liebeskran ken in einen Samariter, einen heiligen Franz von Assi si, ist kolossal, ich möchte fast sagen: phänomenal! Oh, Kunst, wie bist du mächtig! Wenn das nicht vor meinen ureigenen Menschenaugen passiert wäre, ich würde es nicht glauben! Jetzt noch tausend Pfund im Vertiko, und ich würde mich wieder einmal auf der Welt zu Hause fühlen. Bis auf die Gedanken an Miss Lucy Parr natürlich. Sie will kein Ingwerbier mit mir trinken gehen! Draußen knipsen sie die Laternen an, und hier drin wärmt die Heizsonne. Der Regen knallt gegen die Scheiben. Der Nebel macht sich breit und breiter in der Stadt von Dickens. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt! „Gehen wir ins Kino?“ fragt mich mein Kumpel Pinkie liebevoll. Ich bin gerade schön am Einduseln und kann nur bejahend seufzen. Miss Lucy Parr hat traumhaft schöne Kurven und ed le Gehstengelchen. Miss Lucy Parr hat große, stille Au gen und einen angenehm großen Mund mit vollen Lip pen. Wenn Miss Lucy Parr spricht, dann lachen meine Trommelfelle. Wenn Miss Lucy Parr lächelt, dann hat die Welt Geburtstag. Miss Lucy Parr klopft an die Tür. „Herein!“ ruft Pinkie, und es öffnet sich die Tür, und da ist Miss Lucy Parr gar nicht Miss Lucy Parr, sondern ein Mensch männlichen Geschlechts mit einer versoffenen Visage. „Daniel, du?“ staunt Pinkie, und Daniel ist Flaschen teufelchen, ein versoffener Ehrenmann aus unserem 65
Bekanntenkreis, dessen werter Name Openshaw lau tet. Da bin ich wieder stockmunter und etwas ent täuscht. „Was will Flaschenteufelchen?“ denke ich. Flaschenteufeichen will erst mal einen Schluck zum Aufwärmen. Wann will Flaschenteufelchen eigentlich nicht erst mal einen Schluck zum Aufwärmen? Im Hochsommer. Dann will er einen Schluck zum Abküh len! Darum kann er aber doch nicht zu uns gekommen sein! Flaschenteufelchen bläht genießerisch seine großpo rigen Nüstern auf. Bei den Spirituspreisen! Bin ich Ro ckefeller? Meinem Klaren bekommt das schlecht. Er wandert aus der Flasche ab und verschwindet in Fla schenteufelchen. Flaschenteufelchen leckt sich die Lip pen – ein häßlicher Mensch! – und tut sein Maul auf. Sozusagen ist er als Eilbote hier, als Kurier des Königs, Abgesandter des Chefs, Glücks- und Freudenspender, Lichtengel, Übermittler wichtiger Botschaften und Ver kündiger frohmachender Nachrichten! „Nun komm zu den Fakten, du Pfeife!“ spricht mein Kumpel Pinkie. Wir vernehmen, daß Knödelwilson, nachdem ich ihn und O’Rourke, die taube Nuß, so abrupt verlassen ha be, ohne einen Penny von ihnen anzunehmen – diese schamlosen Lügner! –, daß Knödelwilson also zwei Stunden später von einem angenehmen Vorgang Wind bekommen hat, und zwar durch Karnickel Mc. Goy, den Prachtkerl. Bei diesem Vorgang aber, verkündet Flaschenteufelchen unseren aufgesperrten Lauschern und leert meine Pulle Klaren, handelt es sich um eine Zasterchance erster Güte, deren nähere Einzelheiten, Risiken, Kosten, Fußangeln, Verdienstaussichten, Um 66
stände und so weiter und so weiter uns Knödelwilson noch heute abend in Willys Hinterstube darlegen und auseinanderposamentieren wird. Anwesend werden außer Knödelwilson beziehungsweise Trevor Wilson bei dieser Generalstabssitzung noch sein: er, Daniel Openshaw, also Flaschenteufelchen, mein werter Kumpel Pinkey, Archie, ich selbst mit Namen Edward King, der Ehrenmann Apfelblüte O’Rourke mit dem schönen Vornamen Thorneycroft und last not least der Kamerad Karnickel Mc. Goy, des Vornamens Alfred. Insgesamt also oder summa summarum sechs intelli gente Ehrenmänner und Zeitgenossen. Nach dieser beglückenden Nachricht bekommt Fla schenteufelchen einen gewaltigen Schluckauf, denn er verträgt nicht mehr viel Alkohol. Das heißt, sein Inne res hat einen so starken Fuselsättigungsgrad erreicht, daß auch das letzte Blutkörperchen ausgelastet ist. Arme Blutkörperchen! Bei manchen Zeitgenossen ha ben sie es schwer. Mein alter Kumpel Pinkie, mit dem ich schon vor mehr als dreißig Jahren die erste Flasche Gin sprengte – seine Nase ist noch da: keine Bange! –, lächelt wie Albert Schweitzer und will uns eine Taxe spendieren, was er dann auch tut, was wiederum einem Wunder gleichkommt. Der Nebel ist mittlerweile noch dicker und gelber geworden. Es nieselt herzhaft. Wir zockeln mit der Taxe durch unsere geliebte, lichterglühende Heimatstadt. Mit der U-Bahn wäre es bei dem Verkehr zwar schneller gegangen, aber nicht so teuer und no bel! Ich stelle mir vor, daß ich jetzt Taubenfutter am Trafalgar Square verkaufen muß, jetzt in diesem Au genblick, und ein großes Glücksgefühl macht sich in meinem Innenleben breit. Dankbar betrachte ich die 67
versoffene Hinterrübe von Flaschenteufelchen, der vor mir in der Taxe sitzt wie Lord Chesterfield selig und schluckend von Venedig plaudert, wo er vor zwei Jah ren nach einem Renngewinn bei den Ascot-Stakes weilte, weil diese werte Stadt der Dogen seine Lebens sehnsucht ist. (Hoffen wir, daß es ein Renngewinn war! Im Namen der menschlichen Rechtschaffenheit hoffen wir es!) Nun redet Flaschenteufelchen schon zwei Jahre lang vom Markusplatz und der Seufzerbrük ke, von Tintoretto und dem alten Seezollamt und ge backenen Meerkrebsen, von italienischem Landwein und dem Lido und Muranoglas. Damit tritt er allen Eh renmännern auf dem Nerv herum und treibt ihnen den kalten Schweiß aus den Poren, wenn sie Flaschenteu felchen nur erblicken, doch heute übertönt sein Schluckauf das Plätschern des Canale Grande. Dieser Schluckauf geht mir zwar etwas auf den Kaktus, aber meine Freude ist stärker als dieses Geräusch. Welche Summen wird uns Knödelwilson, dieser feine Kamerad, verheißen? Ein Hoffnungsschauer durchzieht meine männliche Brust. Oh, Manna in der Wüste London, herrliches Himmelsbrot in Form lieblicher Pfundnoten, Ganoventröster, Puppenjauchzenmacher und Flittchen traum, Halleluja der Kapitalistenknechte, Lebensinhalt der angemalten Hautevolee weiblichen Geschlechts, Bankrotteurstod und unheimliche Sehnsucht der ar men Knacker: Zaster! Kommst du auf unsere leeren Taschen zu? Hoffen wir es, liebe Tante Agatha, hoffen wir es!
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Knödelwilson sitzt am Steuer seines uralten Austin und drückt großspurig auf die Tube. Wenn man miterleben muß, wie sich dieser karierte Holzkopf um den ver murksten Vorderlader hat, möchte man ein sarkasti sches Wiehern anstimmen. Die Augen quellen ihm schon aus den Höhlen, diesem Angeber! Dabei befin det sich doch in dieser Mottenkiste gar keine Puppe, vor der er auf den Putz hauen müßte. Schneller wird die Karre durch sein großmächtiges Gebaren auch nicht. Aber Krach macht sie, Krach wie zehn Elefanten, die durch den Busch brechen. Der Krach klingt eben nur etwas technischer: etwas mechanischer sozusa gen. Der Regen klatscht, knallt, bumst, plätschert, tröp felt gegen die Windschutzscheibe. Knödelwilson flucht verbittert vor sich hin, denn er hat seinen Museums gegenstand lieb, wie andere Ehrenmänner ihre Kinder liebhaben, er poliert ihn, wie andere Ehrenmänner ihre Silbersachen polieren – und nun wird dieses Pracht stück naß. Das ist schlimm für Knödelwilson! Wir fahren am Tower vorbei die Royal Mint Street hinunter. Außer meiner werten Persönlichkeit befinden sich noch an Bord der Fregatte: Knödelwilson, der Steuermann mit den Quellaugen; Daniel Openshaw, auch als Klein-Flaschenteufelchen bekannt, und Archie Pinkey, der Mann mit der ansehnlichen Witterungs bombe, jener Naseninhaber, welcher mein Kumpel ist und es schon war, als wir, die Kassandrarufe der Ge setzeshüter mißachtend, den Rubicon überschritten und mehrmals in Mutters Kittchen landeten, anstatt aus Metallblöcken großartig komplizierte Stanzwerk 69
zeuge zu feilen oder Bauwerke zum Ruhm der Menschheit aufzurichten. Dieser Ehrenmann namens Pinkey sitzt neben mir und raucht unentwegt Zigaret ten, Glimmstengel, Lullen, Stäbchen, Sargnägel, jene kleinen weißen Dinger, die nie alle werden! Meinen Augen bietet sich wieder einmal der schöne Hinterkopf von Flaschenteufelchen dar. Die Platte schimmert blaßblau wie ein Solei durch seine üppigen Locken. Sorgsam hat Flaschenteufelchen die mageren Strähnen über das Brachfeld verteilt. Das geht nur mit zwei Spiegeln, versteht sich. Was dieser Mensch für Zeit bei der Morgentoilette verplempern muß! Aber dies findet man ja oft bei Freunden des Teufels Alko hol, daß sie sich außenherum mit irgendwelchen Sal ben, Duftwässerchen, Bürsten und Kämmen wie die Verrückten verwöhnen und bearbeiten, weil innerlich bei ihnen sowieso Hopfen und Malz verloren ist, denn dort sind sie sozusagen im Eimer, und nur eine harte Entziehungskur kann ihnen noch helfen. Armer Open shaw! Er plaudert emsig von Venedig, aber keiner hört ihm zu, denn wir denken an wichtigere Dinge. Dieser versoffene Zeitgenosse hat das Gemüt eines Kindes, denn er macht sich um das kommende Unternehmen gar keine Gedanken. Knödelwilsons Scheibenwischer arbeitet zuverlässig. Ein größerer Hubschrauber scheint hier sein beständi ges Lied zu singen. Auf den morgendlichen Straßen ist es schon lebendig wie nachmittags in Willys Etablisse ment. Nur eben nasser, feuchter, wäßriger. Flaschen teufelchen schüttelt sich manchmal vor Ekel. Er kann kein Wasser sehen! Und trotzdem liebt er Venedig. Dieser Mensch gibt mir immer wieder Rätsel auf. Tief
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ist die menschliche Seele, tief wie das Challenger-Tief im Marianen-Graben. Gegen Karnickel Mc. Goy und Apfelblüte O’Rourke sind wir Ehrenmänner, die sich hier in Knödelwilsons antiquierter Staatskarosse und Lustgondel befinden, stark im Vorteil. Diese beiden Titanen der Landstraße folgen uns unentwegt auf einer vergammelten Lam bretta. Diese Lambretta ist Karnickel Mc. Goys schönes und einziges Eigentum, wenn man einmal von seinen lieben, klugen Kindern absieht. Ich blicke möglichst wenig durch das Rückfenster, denn solche verbissenen Gesichter kann ein empfindsamer Mensch schwer er tragen. Aber hier heißt es hart bleiben wie eine Kano nenkugel, denn es geht um große Dinge, und da muß eben ein Ehrenmann auch einmal sogenannte Tanta lusqualen erdulden. Unsere Kavalkade befindet sich auf der Fahrt zum Greenwichpark, denn dort soll jenes Unternehmen steigen, von welchem Knödelwilson dem erlauchten Kreis unserer Persönlichkeiten vor drei Tagen Mittei lung machte. Hatte doch Kamerad Karnickel Mc. Goy unter der Hand erfahren – die näheren Umstände wol len wir taktvoll verschweigen, denn der werte Mr. Frank Carlton, Kraftfahrer bei Calborn & Hampel, ist genug gekränkt worden! –, hatte also Kamerad Kar nickel Mc. Goy vernommen, unter der Hand, aus beru fenem Munde sozusagen, unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit, versteht sich, daß am heutigen Ta ge auf einer Großbaustelle in Blackheath – 300 Be schäftigte! – Lohn ausgezahlt wird. Da aber so ein Lohn, wie allgemein bekannt, nicht auf Großbaustellen wächst, sondern die Bankiers dick macht, würde Bar clays Bank, Filiale Borough Road, Lambeth, in den 71
Nachmittagsstunden des heutigen Tages eine Zaster fuhre in Richtung Blackheath starten. Kamerad Karnickel Mc. Goy – jener Zeitgenosse und Menschensohn, der eben mit sehr verbissenem Gesicht seine Lambretta durch das Toben der Natur steuert, von einem angstvollen Gentleman namens O’Rourke hinterrücks umklammert –, Kamerad Karnickel Mc. Goy erfuhr weiterhin, unter dem Siegel tiefster Ver schwiegenheit, versteht sich, daß jener Mammonbom ber auf seiner Route oder Tour den Greenwichpark durchqueren und gegen fünfzehn Uhr Greenwichzeit vom Carlton Way kommend den Westhorneweg durch rollen werde, denn das ist seine vorgeschriebene Strecke. Der Westhorneweg aber soll, wenn alles gut geht – und es sieht so aus! –, der Schauplatz unserer Zasterernte werden, weil selbiger eine kleine Quer straße mit Platanenwuchs und geringem Menschenbe gängnis ist, wie wir feststellten. Der Himmel wird mit dem Regen ein übriges tun. Es steht die schöne Sum me von sechstausend Pfund Sterling in Einpfund-, Fünfpfund- und Zehnpfundnoten auf dem Spiel, welche die zwei Besatzungsmitglieder des Lohntransporters – einer von ihnen ist jener bewußte Mister Frank C. – in einer hellgelben Schweinslederaktentasche verschlos sen, verriegelt und angekettet auf dem Vordersitz mit sich führen werden! Für uns wird die Aufgabe darin bestehen, den Lap pentransporter zu stoppen und die hellgelbe Schweins lederaktentasche an uns zu bringen. Bis dahin sind aber noch sechs Stunden Zeit, die wir dazu benutzen wollen, noch einmal genau das Terrain zu sondieren und unseren Plan der auftretenden Situation anzupas sen. Außerdem hatten wir es nicht mehr am heimi 72
schen Herd ausgehalten, denn was so ein richtiger Eh renmann ist, den zieht es nun einmal mit Urgewalt an seinen Arbeitsplatz, wenn einer vorhanden ist. Mittler weile durchkurven wir schon die klapprige Gegend an den Docks. „Hier kann man lange nach dem Glanz und der Glo rie unserer verehrten Krone suchen, Kameraden! Hier ist wohl noch nie eine vergoldete Karosse, aus der huldvoll ein weißer, königlicher Handschuh den Rülp sen zuwinkte, durch die Avenuen gerauscht“, bemerke ich. Die geistlosen Nachtmützen um mich herum scheinen das leider völlig mißzuverstehen. „Wo sind denn hier Avenuhn?“ mummelt Knödelwil son, dieser Analphabet. „Eben“, stimmt ihm mein alter Kumpel Pinkey leider zu, „wo sind denn hier Avenühen? Mitnichten doch! Mein wundes Auge erblickt nur einen Haufen miserab ler Reihenhäuser ohne kommunale Dienste und flie ßendes Wasser und einen Bruch verbeulter Kneipen mit zerwichsten Fensterscheiben!“ „Eben, ihr Säcke, das ist es ja!“ bemerke ich sarka stisch. Mehr sage ich nicht. Ich werde mir doch vor solchen Geistesriesen nichts vergeben! „Wenn ich so an die Insel Giudecca und das Hotel Cipriani denke, Kameraden, dann wird mir hier ganz mies“, spricht Flaschenteufelchen versonnen. „Das Ho tel Cipriani“, spricht der Himmelhund im gehobenen Fremdenführerstil, „ist im venezianischen Stil erbaut, und man hat einen prächtigen Ausblick auf die Insel San Giorgio und den Lido und den Wasserspiegel von San Marco, aber nicht auf diese jämmerlichen Bruch buden hier, diese Dreckhaufen!“
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„Da müßtest du aber auch sehr weit schauen kön nen, wenn du von Venezia aus unser London erblicken wolltest, Openshaw“, spreche ich, triefend vor Sar kasmus, wie dies zuweilen so meine Art ist. „Im Cipriani hat Hemingway gewohnt, Kameraden“, murmelt Flaschenteufelchen, unbeeindruckt von mei ner Rede, versteht sich, denn diese Art Ekstatiker hat ja keinen Humor. „Wer ist denn nun wieder Hemingway?“ fragt Knö delwilson mürrisch. Flaschenteufelchen überhört diese berechtigte Fra ge. Er ist ganz weg von seiner wäßrigen Stadt, wo er doch ansonsten gar nicht für Wasser ist. „Und im Hotel Atheneo, in der Nähe des berühmten Markusplatzes, gleich am Theater La Fenice, wo auch eine wunderbare Weinkneipe ist, habe ich gewohnt“, spricht er schlicht. „Und im Scuola Grande dei Carmini habe ich ein Bild von Tiepolo gesehen, nach so einem Bild würdet ihr euch alle zehn Wurstfinger lecken, denn es kostet so viel Zaster, daß man ganz krank wird, wenn man nur die Summe hört. Und im Nacht club del Bauer gab es Miezen, gegen die ist die Loren eine Oma!“ Flaschenteufelchen leckt sich erinnerungsträchtig die Lippen und schnalzt unappetitlich mit der Zunge. Mein Kumpel Pinkie – der Inhaber jener beachtlichen Nase – spitzt seine Lauscher wie ein äsender Hirsch. Von Puppen hört er zu gern reden. Plötzlich knallt sich Machthaber Knödelwilson die Hand so gewaltig vor die schöne Stirn, daß uns angst und bange wird, weil die Steinzeitkutsche gleich Kurven schlägt, und stöhnt fol gendermaßen: „Mensch, Oma! Meine Oma hätte ich doch fast vergessen. Da erinnerst du mich aber an ei 74
nen Fakt, Kamerad Openshaw, Daniel, der mir ziemlich gewaltig unter der Unterwäsche brennt und am Herzen liegt!“ Knödelwilson tritt so heftig auf die Bremse, daß Fla schenteufelchen gegen die Windschutzscheibe bumst mit seiner ehrenwerten Birne. „Wo kriege ich jetzt einen Hund her, Brüder?“ fragt Knödelwilson verwirrt. Ist er übergeschnappt, plem plem, ballaballa? Sollte er gerade heute ganz plötzlich verrückt geworden sein? Warum denn dann nicht nach dem Coup? „Trevor, werter Zeitgenosse, mein Liebling, was ist dir im Kopf?“ fragt der alte Kumpel Pinkie, mit dem ich einst die Träume der Jugend träumte: damals in Liver pool, als seine Nase noch von kindlicher Gestalt und nicht diese imposante Schnupperzacke war. Flaschen teufelchen flucht inbrünstig vor sich hin und betastet seine Beule. Knödelwilson blickt uns leer an. So steht ein Kalb vor der sogenannten Relativitätstheorie! „Meine liebe Omi hat Geburtstag“, läßt er sich mit hohler Stimme vernehmen. „Na und?“ frage ich berechtigterweise, wie mir jeder zugeben wird. „Halt’s Maul, Märchentante!“ spricht Knödelwilson. In diesem Moment schiebt O’Rourke sein Apollohaupt zur Tür herein und mit diesem eine so furchtbare Wol ke Nässe und Kälte, daß wir alle wütend aufbegehren. „Warum haltet ihr denn so lange, ihr Flaschen?“ fragt O’Rourke. Im Hintergrund hören wir Karnickel Mc. Goy niesen.
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„Trevors liebe Omi hat Geburtstag, darum!“ entgeg net Flaschenteufelchen. O’Rourke blickt uns entgeistert an. Endlich rückt Knödelwilson mit der Sprache heraus und erklärt uns, daß seine liebe Oma am heutigen Tag Geburtstag habe und daß dieselbe sich auf Knödelwil sons herzliche Frage, was er, ihr geliebter Enkelsohn, ihr denn Feines schenken könne, ein Hündchen ge wünscht habe, welches aber ihm, Trevor Wilson, we gen der vorliegenden aktuellen Aufgaben völlig entfal len sei, das er aber jetzt noch und sofort vor unserem Coup besorgen müsse, denn sonst könne er, der beste Enkelsohn der besten Großmutter, sich nie mehr in die ureigenen Menschenaugen blicken vor Scham, und ob wir ihm nicht einen Rat geben könnten als seine alten Kameraden und Weggefährten, einen Rat, den Erwerb eines möglichst ansehnlichen Hundes betreffend, denn lumpen lassen wolle er, Trevor Wilson, sich nun mal nicht, und wir möchten ihm doch bitte helfen in dieser schwierigen Herzensangelegenheit und Familiensache, weil wir ja noch ausreichend Zeit dazu hätten! Wir alle nicken sehr ernst, obwohl ich dieses idylli sche Stück Pflaumenmus innerlich verfluche in allen Tonarten. An dieser Stelle nun tritt Karnickel Mc. Goy in Aktion, indem er in Knödelwilsons altertümliche Lo komotive hereinstiert und uns kräftig anniest. Benimm hat er eben leider noch nie gehabt! Aber Grips! Karnik kel Mc. Goy ist zäh wie ein Eichenbrett. So sieht er rein körperlich, also was seine Wanne und den Brust kasten und so weiter angeht, auch aus. Aber jetzt wehklagt er, daß er sich auf dem Roller den Tod holt, indessen wir hier ganz gemütlich quatschen wie auf Windsor Castle am Kamin. 76
Knödelwilson ist sofort ziemlich beleidigt. „Nimm dich in acht, Kamerad Mc. Goy, und wirf deine Worte nicht so leichtfertig um dich wie eine Handvoll Tabak krümel, sonst muß ich dir die Nase ausschrauben!“ spricht er. Karnickel Mc. Goy zieht fragend seine dämlichen Augenbrauen hoch. Er macht einen spitzen Mund und neugierige Nagezähne. Wir erklären ihm also, daß die liebe Omi von Knödelwilson am heutigen Tag Geburts tag hat und daß sie sich aus Anlaß dieses freudigen Ereignisses einen süßen Hund von Wilson wünscht, welchem derselbe aber wegen der vor uns stehenden Ereignisse völlig entfallen ist, so daß er diesem Fakt nun sehr ratlos gegenübersteht und uns, sein Herz öffnend, um einen Rat angeht, denn er muß noch vor unserer Zasterernte dieses Hündchen besitzen, und nun fleht er uns, seine alten Weggefährten, um Hilfe an in dieser komplizierten Herzensangelegenheit und Familiensache, aber auch wir wissen nicht, wo man jetzt so einen Köter herbekommt! Karnickel Mc. Goy, dieser geistvolle Menschensohn, entfaltet flugs ein erfreutes Grinsen um das Maul her um und läßt folgenden Satz vom Stapel: „In Plum stead, Zeitgenossen, befindet sich ein Tierheim, wo man ein solches Hundevieh für geringes Moos erwer ben kann. Und Plumstead liegt auf unserem Wege!“ Dann niest Karnickel Mc. Goy kräftig, und Knödelwil son blickt ihm gerührt ins Auge. „Nichts für ungut, Alfred, wegen meines vorherigen stahlharten Wesens“, spricht er. „So wahr ich Trevor Wilson bin, das werde ich dir nie vergessen, Men schenbruder Alfred!“
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Obwohl wir diesen Satz schon tausendmal von Knö delwilson gehört haben, ist Karnickel Mc. Goy sichtlich beeindruckt und zieht sich auf seine Lambretta zurück. Der alte Dussel O’Rourke fängt zwar noch eine Diskus sion an und stellt die Frage, warum gerade er die gan ze Strecke auf dem Roller fahren soll, wo wir doch einmal als Menschen und Kumpels wechseln könnten, weil er doch sonst bei diesem feuchten Fahrtwind sein Asthma bekommt und überhaupt. Wir weisen ihn nur kurz auf Karnickel Mc. Goys still schweigende Männlichkeit hin und schlagen ihm ener gisch vor, sich ein Beispiel daran zu nehmen, weil in dieser schwierigen Situation erstens keine Diskussion angebracht ist und sechstens alles nach Plan gehen muß. Bei diesem Bruder höre ich natürlich sofort die Nachtigall trapsen! Als wir den Plan machten, rechnete er für heute mit Sonnenschein, weil der Daily Express Sonnenschein voraussagte. Bei Sonnenschein ist es natürlich viel angenehmer auf Mc. Goys Lambretta, denn Knödelwilsons Miefkiste riecht so penetrant nach Mottenkugeln, daß man vom Stuhle gehauen wird und es kaum ertragen kann mit einer gesunden Nase. Es ist mir sowieso ein Rätsel, wie mein Kumpel Pinkie das ertragen kann. Sie wissen sicherlich, warum? Mit die sem Mottenkugelgeruch hatte O’Rourke natürlich ge rechnet, aber mit dem Regen nicht, und nun ist er ‘reingefallen! Fluchend zieht er sich auf Karnickel Mc. Goys morschen Sozius zurück. Das wird auch Zeit, denn um unser Fahrzeug hat sich schon eine Menge staunender, schwarznasiger Lümmel kindlichen Ge schlechts versammelt, und Aufsehen können wir nicht gebrauchen.
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Frischgemut setzen wir mit der Autofähre über un seren alten, guten River Thames oder auch Fluß Themse und rauschen in Richtung Plumstead dahin. „Sollte dieser häßliche Vogel O’Rourke“, spricht Knödelwilson besorgt, „noch einmal den ganzen Be trieb aufhalten, dann mache ich ihm einen Knoten in die Ohren, so wahr ich Trevor Wilson heiße!“
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VI
Sechs Ehrenmänner hoch rücken wir im Tierheim an. Zwei von diesen Ehrenmännern sind klatschnaß und schweigen wie die Austern. Vier dieser Ehrenmänner sind angenehm trocken, duften aber ganz schön nach Mottenkugeln. Ein ausgemergelter Tierfreund empfängt uns mit Knicks nebst Handkuß und führt uns eine Menge ei genartiger Wesen vor, die er seltsamerweise mit dem Namen Hund belegt. Solche Tiere habe ich mein Leb tag noch nicht gesehen, und ich habe schon manches merkwürdige Tier gesehen. Auch mein Kumpel Pinkie – jetzt kein Wort über seinen grandiosen Riecher! – zeigt sich sehr erstaunt über die Vielfalt der auftretenden Tierarten. Auf Flaschenteufelchen machen die Tiere keinen Eindruck. Angeblich will er am Palazzo Corner Spinelli viel seltsamere Tiere kennengelernt haben. Bestimmt irgendwelche Gummikauer aus Texas! O’Rourke und mein Kamerad Mc. Goy stieren die Hunde verbissen an und tun keinen Mucks. Knödelwilson guckt wie Alice im Wunderland. Er ist sichtlich beeindruckt. „Was unsere schöne Insel so al les an Lebewesen hervorbringt“, spricht er. „Ja, auf unsere schöne Insel können wir stolz sein, Sir“, entgegnet der ausgemergelte, klapperdürre Bul lenbeißerbändiger. Viel Geschäfte scheint er hier nicht zu machen. Nun gibt er natürlich jedem Kunden recht. „Venedig hat hundertachtzehn Inseln. Was bringen die erst hervor!“ murmelt Flaschenteufelchen mit leuchtendem Blick. Ein Ekstatiker! Ich glaube, der 80
würde sich für Venedig verbrennen lassen. Savonarola Openshaw! „Was bringen denn diese hundertachtzehn Inseln so Wunderbares hervor, he?“ forscht Knödelwilson. „Das frage ich mich auch“, bemerkt der ausgemer gelte Windhundmäster. Ein schmeichlerischer Bruder! „Nun, zum Beispiel bringt die Insel Murano das prachtvoll teure venezianische Glas hervor. Und die Insel Burano wiederum, Kamerad Wilson, ist berühmt durch ihre Spitzen!“ antwortet Flaschenteufelchen selbstbewußt. Ich merke, daß er noch viel mehr Insel produkte auf Lager hat, und mir wird ganz elend. „Ich benötige keine Inselspitzen und kein dämliches Glas, sondern einen Hund für meine werte Oma! Jetzt hältst du mal endlich deine Klappe mit Burano und Mu rano, du Nuß“, spricht Knödelwilson. Der Doggenbän diger nickt beipflichtend. Mein alter Kumpel, der Na seninhaber Pinkie, wird langsam ungeduldig. Von Kar nickel Mc. Goy und O’Rourke wollen wir lieber gar nichts berichten. Die knirschen nur noch mit den Bei ßern. Auch mir platzt bald der Kragen. „Trevor, du solltest dich entscheiden. Die Zeit ver geht im Sauseschritt, Kamerad Kraftfahrer“, drängt mein Kumpel Pinkie. Sarkastisch werfe ich ein unge duldiges Räuspern in die Debatte. Knödelwilson steht eben vor dem Gatter eines jungen Elefanten ohne Rüs sel und blickt ihm tief in die aufgerissenen Augen. Der selbe blickt überrascht zurück, und schlackert erfreut mit dem verbogenen Stummel, der sich an seinem Hinterkörper befindet. Wenn mich nicht alles täuscht, soll das der Schwanz sein. Auf Knödelwilson übt dieses Schlackern eine schreckliche Wirkung aus. Er spricht:
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„Dieser Hund reagiert positiv auf meine Persönlichkeit. Diesen Hund nehme ich, Mister!“ Er sagt wirklich „Hund“! Der abgemagerte Mopspfleger bleckt erfreut die Zähne, und fünf Pfund wechseln ihren Besitzer. Der junge Elefant scheint ebenfalls erfreut zu sein, denn er macht gleich eine mächtige Pfütze auf meine guten Schuhe, dieses unverschämte Vieh! Und stinken tut der Pintscher auch! „Absolut reinrassig, Sir“, behauptet der Tierheim verwalter. „Da haben Sie einen Fang gemacht, den Sie nicht bereuen werden!“ Knödelwilson nickt herablassend. Der Filz ist über zeugt davon, daß er es nicht bereuen wird. Der Bern hardinerdresseur verkauft ihm auch noch ein Halsband und eine Leine. Ein Gauner hat hier seinen Meister ge funden, schätze ich! „Wie kriegen wir denn diesen Bullen von hier weg?“ flüstert mein alter Kumpel Pinkie angstvoll. Auch ich ahne Schreckliches. „Er wird zwischen euch sitzen, Kameraden“, antwor tet Knödelwilson schlicht. Schaudernd betrachten wir das Untier: ein Gewaltmops, ein Urzeitköter, ein Rie senpintscher! „Welch abgehärmter Ochse!“ spricht mein Kumpel Pinkie staunend. „Ich werde ihn ab sofort Midgie nennen“, spricht Knödelwilson glücklich, und wir zwängen uns stöhnend in die Mottenschaukel. Der Ochse freut sich. O’Rourke sieht uns schadenfroh an. Der Regen hat nachgelas sen.
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„Wenn du willst, Thorneycroft, Kamerad“, biete ich ihm großzügig an, „kannst du jetzt auch mal in Trevors Karre…“ O’Rourke winkt ab: „Ich bleibe lieber bei meinem Kumpel Alfred Mc. Goy auf dem Sozius in der guten frischen Luft“, spricht er und wiehert dämlich. Dieser leere Kapaun weiß auch nicht, was er nun eigentlich will! Glücklicherweise regnet es bald wieder kräftiger. Die Natur hat eben immer einen Ausgleich in petto. Als wir die Prince of Wales Road entlangknattern, liegt plötzlich ein eigenartiges Geräusch im Mottenku gelduft. Knödelwilson hält an und untersucht den Mo tor. Der Motor ist in Ordnung. Wir fahren weiter. Das Geräusch ist wieder da. „Es muß hier hinten bei uns sein“, bemerkt mein al ter Kumpel Pinkie. Knödelwilson hält wieder an. O’Rourke und Karnickel Mc. Goy hinter uns fluchen fa natisch, weil sie immer wieder scharf bremsen müs sen. Das Geräusch ist jetzt auch hörbar, wenn die Al tertumskalesche steht. Wir sind ratlos und fahren wei ter. Das Geräusch macht uns nervlich ganz schön fer tig, was in der augenblicklichen Situation gar nicht an gebracht ist. Zwischen Pinkie und mir hockt dieses hundeähnliche Meerungetüm wie ein türkischer Pascha, nur nicht so fett. Aber knochig, breit und platzeinnehmend. Und duften tut er, duften, Leute! Wenn der erst einmal richtig gefüttert wird, geht er im Zirkus als Nilpferd durch! Wir sind schon ganz zerdrückt, mein alter Kum pel Pinkie und ich. Außerdem will uns das Vieh immer das Gesicht ablecken. Ein Menschenfreund! Das Auto fahren scheint ihm Spaß zu machen, denn seine Käse
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näpfe glänzen, und sein Stummel schlackert hin und her. Das merkwürdige Geräusch ist jetzt ganz nahe. „Hoffentlich ist nicht gerade heute etwas mit der Karre los!“ spreche ich und ernte einen furchtbaren Blick von Knödelwilson. Plötzlich ruft mein Kumpel Pinkie: „Der Hund!“ Ich denke schon, Pinkie meint einen alten Kumpel oder Knödelwilson, aber da ruft er noch einmal: „Die Dog ge! – Müdschüh!“ „Was ist mit Midgie?“ brüllt Knödelwilson und bremst scharf. O’Rourke und Karnickel Mc. Goy fahren fast auf. „Der Mops erzeugt dieses Geräusch“, behauptet mein Kumpel Pinkie. „Ich habe es genau gehört. Es kommt aus seinem Innenleben!“ Knödelwilson schiebt seinen Unkörper brutal über die Sitzlehne und drückt die großen Ohren gegen den Hundebauch. Klein-Midgie hat eine Zunge wie ein Scheuertuch. Mit diesem Lappen leckt sie begeistert Knödelwilsons schönes Antlitz sauber. „Hunger!“ sagt Knödelwilson und zieht sich wieder auf seinen Sitz zurück. „Wo sollen wir denn jetzt pickern, Trevor? Auch ich habe Kohldampf. Da mußt du dich schon etwas be herrschen“, werfe ich entschlossen ein. Knödelwilson wirft mir einen verächtlichen Blick zu. „Dieses Tier hat Kohldampf! Der Hundemagen knurrt, daher dieses Geräusch!“ knödelt er erregt. Wir fahren weiter. O’Rourke und Karnickel Mc. Goy folgen uns mit blutrünstigen Gesichtern, wie ich durch das Rückfenster erkenne, denn es regnet Bindfäden! Mitt lerweile ist es schon zwölf Uhr dreißig geworden. 84
„Am Rialto“, läßt sich Feinschmecker Flaschenteufel chen mit nassem Sprechorgan vernehmen, „habe ich Stockfisch gegessen und Leber alla veneziana und Kalbsvögelein, und dazu habe ich einen feinen Bardoli no getrunken. Ein Valpolicella gluckert aber genauso gut ‘runter. Dann kam Risotto mit Muscheltieren dran und dann kleine Tintenfischlein. Und die Fischsuppe, Kameraden! Oh, diese Fischsuppe mit jungen Polypen und Langusten und Krabben nach dem Schalenwech sel!“ Knödelwilson wimmert auf: „Wenn du Kalbsvögelein nicht gleich den Bardolino hältst, dann bekommst du ein paar hinter die Langusten, daß deine Schalen vi brieren!“ Flaschenteufelchen versinkt beleidigt in ein tiefes, philosophisches Schweigen. Der Westhorne Way ist leer wie an einem Sonntag morgen. Das macht dieser günstige Regen. Wir steigen aus und vertreten uns die steifen Trippelwarzen. O’Rourke und Kamerad Karnickel Mc. Goy stieren wü tend in sich hinein, das heißt, sie betrachten ihr aus gekühltes Innenleben. Knödelwilsons kleiner Liebling sitzt in der verhunzten Luftschaukel und beobachtet uns interessiert, insbesondere mich und meinen alten Kumpel Pinkie, der unbeholfen Freiübungen macht. Der junge Elefant hat uns ganz schön zermalmt, schätze ich. Es regnet und tröpfelt und pinkelt. Kame rad Karnickel Mc. Goy niest vorwurfsvoll. „Regnet es denn immer in diesem Land?“ flucht O’Rourke und zittert vor Kälte. „Nein, manchmal schneit es auch“, spricht Knödel wilson und will sich sofort ausschütten vor Lachen. Er verstummt aber beleidigt, als er merkt, daß seine geistreiche Bemerkung ohne jede Wirkung verpufft. 85
Unter den Platanen wandelt ein altbackener Gentle man mit seinem fleißigen Boxer. Der Boxer begießt Platane um Platane. Er läßt keine aus. Manchmal schielt der Gentleman zu uns herüber. Manchmal schielt der Boxer zu uns herüber. Midgie schlackert mit dem Stummel. „Wir wollen uns lieber noch etwas ins Grüne verzie hen“, schlägt Knödelwilson vor. Wir steigen ein und rollen in den Greenwichpark hoch. Unser Plan besteht darin, daß Karnickel Mc. Goy und O’Rourke den Zasterbomber am Charlton Way abwar ten, diesem dann als harmlose Verkehrsteilnehmer und Rückendeckung folgen und uns durch vernehmli che Hupzeichen kundtun werden, wann die Fuhre mit der hellgelben Schweinslederaktentasche in den Westhorneweg einbiegt, wo wir dann als plötzliches Verkehrshindernis querstehen wollen mit der Parade kutsche, in der Hoffnung, daß Knödelwilsons morsche Ammenschaukel dabei keinen Bruch erleidet, wobei es vor allen Dingen auf Mister Frank C. und dessen Bremsreaktion ankommt. Das Weitere ist dann kein Problem mehr. Diesen geistvollen Plan – Knödelwilson hat ihn ei nem Hollywoodstreifen entnommen – sprechen wir noch einmal unter den stillen Greenwichbuchen in al len Einzelheiten durch. Die zwei Begleitpersonen der hellgelben Schweinslederaktentasche wollen wir mit möglichst sanften Haken und einigen Bindfäden vom Geschehen fernhalten. Davor hat Mister Frank C. am meisten Angst, wie uns Karnickel Mc. Goy berichtete. Ich glaube es gern, denn Mister Frank C. kennt Knö delwilsons Fäuste von früher her!
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Meinem alten Kumpel Pinkie beginnen jetzt schon die Zähne zu klappern. Dabei sind noch zwei Stunden Zeit bis dahin! O’Rourke hat plötzlich schrecklich mit seinem Asthma zu tun. Er schnauft und prustet und keucht wie jener alte Postdampfer, der immer stoppen muß, wenn er einmal dampfpfeifen will. „Du gefällst mir gar nicht, O’Rourke! Woher kommt dieser miserable Atem?“ fragt Knödelwilson. „Vom Wetter, Zeitgenosse Trevor. Es drückt mir auf das gesamte Atemsystem. Das ist zum Kotzen, weil völlig gesunde Pfeifen das nicht begreifen wollen und einen trockenen Wagenplatz für sich beanspruchen“, antwortet O’Rourke und blickt mich böse an. „Und das bei dieser üblen Naßkälte!“ Hierauf entgegnet Knödelwilson leutselig: „Ja, ja, es wird wohl einen frühen Winter geben!“ „Wenn die Bienen ihre Stöcke zeitig verkitten, kommt bald ein harter Winter geritten!“ läßt sich O’Rourke nun altklug vernehmen. Knödelwilson blickt ihn drohend an, „Das habe ich dem Daily Express entnommen, Tre vor. Eine uralte Bauernweisheit, der ich ohne Vorbe halte beistimme, absolut!“ murmelt O’Rourke. Knödelwilson knirscht mit seinen üppigen Pferde zähnen. Übrigens trägt er wieder eine völlig ge schmacklose Hawaiikrawatte! „Wenn du noch einmal verkittet zu sagen versuchst, O’Rourke, dann werde ich verrückt. Dann reiße ich dir urplötzlich die Ohren ab!“ brüllt er. O’Rourke sagt hierauf kein Wort mehr, denn er hat sehr empfindsame Ohren, weil er immer mit Streich hölzern darin herumbuttert. Vor Langeweile, versteht sich! Ein bedauernswerter Menschensohn. Aber er 87
steht zum Daily Express. Das muß man ihm lassen. Er hat zwar keinen besonders schönen Charakter, aber er hat einen Charakter, dieser tragische Kürbis! „Alle Großen sind Einzelgänger gewesen“, heult Knödelwilson uns an. „Alle! Sogar Napoleon war ein Einzelgänger. Und ich habe ewig solche Versager am Frackzipfel hängen. Aus mir kann ja nichts werden!“ Ich gebe ihm sofort innerlich recht. Mit der Bezeich nung „Versager“ meint er wohl uns, dieser hausbacke ne Nebukadnezar! Meinem alten Kumpel Pinkie – ob Sie es glauben oder nicht: Sein Geruchserker hat ver blüffende Ausmaße! – scheint das alles ziemlich auf den Nerv zu gehen. „Wenn wir den Zaster haben“, bemerkt er mit angeekeltem Gesichtsausdruck, „segle ich flugs nach den Bermudas ab, weit weg von hier, wo die Palmen blühen und die Wellen rauschen!“ Sofort werden die anwesenden Ehrenmänner leben dig. O’Rourke erklärt, daß er, wenn die Dinge erst einmal so stehen, wie er sie sich vorstellt, den Zaster auf die hohe Kante legt für seine alten Tage, wenn er klapprig ist und ein Tattergreis mit drei Zähnen und nicht mehr geeignet für das harte Geschäft eines schweren Jungen. Dann will er im Sankt-James-Park sitzen, eine Zigarre rauchen wie Lord Winston selig, der dicke Premier, und sich die Menschen betrachten, wenn er nicht gerade den Daily Express studieren muß! Nach so einem Mittelstandsspießerdasein sehnt sich der korrupte Strolch also. Brav wie ein Lamm will er werden. Das habe ich nicht erwartet. Wie rätselhaft ist doch der Mensch! Flaschenteufelchen will O’Rourke gar nicht begrei fen. „Apfelblüte“, spuckt er. „Warum schaust du dir 88
nicht auch einmal die alten Patrizierpaläste an der Riva degli Schiavoni an oder den Dogenpalast? Das weitet den Blick beziehungsweise deinen geistigen Horizont. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen, Thorneycroft!“ „Ich schätze, dafür bist du ein eklatanter Beweis, Openshaw, ach du meine Güte“, werfe ich ironisch ein. Natürlich mit einem stark sarkastischen Unterton, denn mein Sarkasmus geht immer wieder mit mir durch! Flaschenteufelchen geht nicht auf meine geistvolle Bemerkung ein. Er hat glühende Puppenwangen be kommen und erhebt seine Stimme. „Wenn ich das Moos habe“, kräht er, „dann stehe ich übermorgen am Rialto! Guckt euch den heiligen Theodor, den ersten Schutzpatron Venedigs, an, Kameraden. Das lohnt sich!“ Mir scheint, die Burschen werden schon jetzt alle samt größenwahnsinnig. Wie bescheiden ich doch da gegen bin! Was mich angeht, ich denke da höchstens an zwei Ruten Land vor der Stadt mit fünf bis sechs Apfelbäumen – Parkers Pepping oder Weißer Winter kalvill – und ein kleines Auto. Mehr will ich ja gar nicht. Zwei Ruten Land und darauf ein bescheidenes Pfefferkuchenhaus mit Kamin und Bad. Draußen viel leicht noch ein sauberer Rasen mit Springbrunnen und einige Salatstauden sowie Petersilie und Gartenkresse. Und außerdem für das Herz eine hübsche Puppe na mens Lucy Parr als Eheweib nebst vielen blonden Kin dern, die einmal berühmte Ärzte oder große Künstler werden sollen, aber um Himmels willen keine Gauner und Ganoven! Mehr will ich nicht. Das ist das Höchste meiner Gefühle. Was aber wollen diese Idioten mit den 89
eintausend Pfund, die auf jeden kommen, alles anfan gen! Sarkastisch werfe ich hin: „Und dann kauft ihr euch noch ein hübsches kleines Castle mit Wasserspü lung und eingebautem Gespenst und achtzig Zimmern in Brecknoshire oder Inverneß von den tausend Pfund, Kameraden, was?“ Mein alter Bruder Karnickel Mc. Goy, der sich bisher überhaupt noch nicht geäußert hat zu diesem Thema und vermutlich auch nicht äußern wird, nickt zustim mend. Ein kluger Kopf! „Dieser heilige Theodor kauft sich vielleicht so’n Ding“, bemerkt Knödelwilson giftig in Richtung Fla schenteufelchen und erhebt seine verquollene Stimme zu folgender Verlautbarung: „Wenn ich die Lappen ha be, erstehe ich mir auf käuflichem Weg einen King Charles Spaniel, fünf großkarierte Kluften der besten Machart, einen Schuhschrank voller Luxuskähne und eine picobello Benzinschaukel namens Rolls Royce in Lindgrün oder Sattrosa! Da kommt kein Pfund auf eine Schweizer Bank. Das wird alles in dieser elenden Wirk lichkeit verbraten, Kameraden. Außerdem ist so ein Rolls Royce eine gute Kapitalanlage, denn er geht nie kaputt!“ „Und woher willst du für eintausend Pfund einen Rolls Royce kriegen, Wilson?“ werfe ich äußerst sarka stisch ein. „Der geht nie kaputt, du Märchentante!“ brüllt mich Knödelwilson an. Dieser Mensch wird noch einmal überschnappen, schätze ich. Außerdem gibt es den Rolls Royce nur in Schwarz! Flaschenteufelchen, der die Kränkung seines heili gen Theodor noch nicht verwunden hat, denn er ver windet sehr schwer eine Kränkung, und er ist außer 90
dem sauer, weil er keinen Schluck trinken darf, Fla schenteufelchen stellt kurz und bündig fest: „Auch ein Rolls Royce geht mal kaputt. Das ist meine Meinung, jawohl, weil es auf dieser Erde überhaupt nichts gibt, was nicht kaputtgeht. Sogar Venedig geht kaputt, das ist erwiesen, jawohl! Und was ist ein Rolls Royce ge gen Venedig? – Ich schätze, ein Mops im Paletot!“ Knödelwilson nimmt natürlich sofort eine drohende Haltung gegen Flaschenteufelchen ein. Gleich wird es passieren, denke ich. „Hast du schon einmal einen der von dir so überaus geistvoll genannten Möpse im Paletot im kaputten Zu stand erblickt, Openshaw?“ fragt Knödelwilson ganz ruhig. Ich ziehe mich vorsichtshalber etwas zurück. Wenn es um Venedig geht, kann Flaschenteufelchen äußerst stur werden! Hier aber springt mein alter Kumpel Pinkie – wer kennt nicht seine Nase! – in die Bresche. „Wenn das in der City passiert, Trevor“, spricht er mutig, „dann bauen sie gleich ein Zelt dar über, damit keiner sieht, daß hier ein Rolls Royce ka puttgegangen ist. Warum, meinst du, stehen sonst so oft diese Zelte in den Straßen herum, Kamerad?“ Knödelwilson schüttelt ungläubig sein dämliches Haupt. Meinem alten Kumpel Pinkie ist er rein gripsmäßig nicht gewachsen, schätze ich sofort und trete wieder näher. „Hör mal, Pinkie, kennst du einen Menschen, dessen Rolls Royce schon einmal kaputtgegangen ist? Kennst du einen solchen?“ fragt Knödelwilson mit gedämpfter Stimme. „O ja doch, alter Kamerad“, spricht Pinkie, „o ja doch! Ein guter Bekannter von mir, Holderness, Sir Charles, hat einmal die Sahara mit so einem noblen 91
Vehikel durchquert, wobei die Karre einen Schaden erlitt. Er ruft also von der nächsten Telefonzelle aus an, und nach kurzer Zeit schon landet eine Reparatur kolonne mit einem sogenannten Hubschrauber und re pariert ihm das Ding!“ „Das habe ich aber noch nie vernommen, daß ein Rolls Royce repariert werden muß“, wendet Knödelwil son zweifelnd ein. „Das ist klar“, erklärt mein alter Kumpel Pinkie, „denn als Holderness, Sir Charles, mein guter Bekann ter, den ich im Bau kennenlernte, wieder in London weilt, da fragt er natürlich bei Rolls Royce wegen der Reparaturkosten an, und die antworten ihm höflich, daß er nichts zu zahlen hat, weil der Rolls Royce gar nicht repariert worden sein kann, denn er geht be kannterweise nicht kaputt. So ist das, Trevor, und darum ist diese Karre so stinkteuer!“ „Welch gerissene Hunde!“ spricht Karnickel Mc. Goy bewundernd.“ Und das ist wahrhaftig wahr?“ flüstert Knödelwilson beeindruckt. Mein alter Kumpel Pinkie – ja, ja, ich weiß schon: die Nase! – nickt traurig. „Würde ich es dir sonst be richten, Zeitgenosse“, spricht er. „Verdammt noch mal“, ruft Knödelwilson und kratzt sich die Birne, „dann kaufe ich mir diese teure Karosse nicht. Dann kommt eine andere Kiste dran. Eventuell ein Van-den-Plas oder ein Wolseley mit Vollautomatik!“ Hierauf blickt Knödelwilson eine ganze Zeit lang stier vor sich hin. Sein Vertrauen zur Firma Rolls Royce ist sichtlich erschüttert worden, schätze ich, also sozusa gen im Eimer. Flaschenteufelchen nickt triumphierend. „Venedig ist eben doch solider“, bemerkt er vorsichtig. 92
Knödelwilson erwacht wieder. „Es ist jetzt vierzehn Uhr, Kameraden, wir starten hinaus ins feindliche Le ben!“ spricht er mürrisch. O’Rourke schnauft mitleiderregend. Sein Asthma macht ihm auf einmal wieder schwer zu schaffen, den ke ich, denn er hat einen dicken, roten Kopf bekom men und behauptet, ersticken zu müssen, weil er es nicht geahnt hat mit diesem Wetter und sein Inhalator zu Hause liegt. Mein Kumpel Pinkie schlägt vor, daß wir Apfelblüte nicht ersticken lassen, und er soll sofort mit dem Bus zu seinem Inhalator, denn für unser Unternehmen ist unsere Mannschaft dann immer noch groß genug. Nachdem wir O’Rourke wegen seines Anteils beru higt haben, will er freudig abziehen, der Heimat und dem Inhalator zu, denn auch Knödelwilson ist einver standen, aber da schlägt mein alter, großzügiger Kum pel Pinkie – schöne Nase hat der Gentleman! – vor, daß auch ihm nicht gut ist, was wir an seinem Schüt telfrost sehen könnten, denn er klappert vernehmlich mit den Zähnen, und er ist doch auch ein invalider Ve teran des Krieges. Außerdem, sagt er, macht ihm ein strenger Schmerz in den Herzkranzgefäßen zu schaf fen, und er unterdrückt ihn nur mit äußerster Selbst beherrschung, weil er uns nicht ängstigen will, denn eigentlich müßte er vor Schmerzen wie ein Tier brül len. Er befürchtet einen Blutstau, spricht er, und er will den feinen Zeitgenossen O’Rourke sofort begleiten und ihn stützen, wenn wir einverstanden sind als verstän dige Humanisten und Menschen, spricht er und klap pert mit den Zähnen. Wir sind jedoch nicht einverstanden, und so muß O’Rourke alleine abziehen. Seine Atemnot hat sich 93
aber schon merklich gebessert, scheint mir. Knödelwil son schlägt vor, daß mein guter, alter Kumpel Pinkie – jener brave Junge, der eben mit verkrampftem, ge kränktem, leidendem Gesichtsausdruck seine edlen Herzkranzgefäße zu massieren versucht! – bei Karnik kel Mc. Goy auf dem Sozius Platz nehmen soll. Meine Persönlichkeit aber soll sich an das Steuer der Knödel wilsonschen Altlokomotive begeben, stehenden Fußes und trabtrab, weil ich so ein guter Fahrer bin! Seit wann? „Seit wann bin ich ein guter Fahrer, Trevor? Auf un seren schönen Vergnügungstouren zum Wembleysta dion läßt du mich nie kutschieren, weil ich angeblich ein schlechter Fahrer bin, und jetzt bin ich ein guter Fahrer? Dieses ist mir ein Rätsel, Kamerad!“ bemerke ich so ganz nebenbei. Knödelwilson starrt mir tief in die Augen. „Wenn du kein guter Fahrer bist, Menschenbruder, dann weiß ich wirklich nicht, wer auf diesem Erdboden überhaupt ein guter Fahrer ist“, sagt er. „Hannemann, geh du voran! Du hast die größten Stiebel an, was?“ bemerke ich nonchalant, denn schließlich hat der Fahrer eine riskante Aufgabe zu er ledigen. „Was soll das heißen, du?“ fragt Knödelwilson dro hend. Nun, von Knödelwilsons charmanten Fäusten möch te ich kein Häppchen kosten. Schon ihr Geruch ist mir zuwider! Aus diesem Grunde lächle ich nur zynisch und setze mich ans Steuer neben Flaschenteufelchen. Knö delwilson schmeißt sich neben seinen jungen Elefan ten, der die ganze Zeit gepennt hat und ihn nun schweifknatternd begrüßt. Eine Duftwolke steigt auf: 94
Mottenkugel mit Hund! Eine Mischung wie aus Tau sendundeiner Nacht, verflixt noch mal! Flaschenteufel chen grunzt vergnügt auf, und ab geht die Post. Mein alter Kumpel Pinkie, der noch nie ein Freund von Soziusplätzen war, winkt mir abschiednehmend zu. Er klappert sehr geduldig mit den Zähnen. Eine Ausdauer hat der Bursche! Sollte er doch krank sein? Ich sehe noch, wie Mc. Goy seinen Luxusroller verbis sen antritt und mit diesem und meinem alten Kumpel hintendrauf in Richtung Charlton Way verschwindet. Es ist vierzehn Uhr fünfzehn! In einer Stunde werden wir mehr wissen. Flaschenteufelchen blickt stier gerade aus. Denkt er an Venedig oder an harte Getränke? Ich schätze, er denkt an beides. Der Dogge knurrt immer noch der Magen.
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VII
Es soll einmal ein Mitmensch erklärt haben, daß von einem gewissen Alter ab jeder Zeitgenosse für das Aussehen seiner werten Visage selbst verantwortlich ist. Für Knödelwilson gibt es da nur die Chance, daß er dieses Alter noch nicht erreicht hat, denn für das An gesicht, welches er mir darbietet, als wir am Westhor neweg anlangen, hätte ich ihn sonst sofort in die Klapsmühle gefahren. Und dieses Angesicht führt er mir nur vor, weil der altbackene Gentleman mit dem Boxer immer noch unter den Platanen wandelt. Dieser Boxer muß blasenschwach sein! Aber mit Zwischenfäl len hätte Knödelwilson als Chef rechnen müssen, die ser große Geist! „Was unternehmen wir hier, Kameraden, wenn der Bursche um fünfzehn Uhr noch immer dort entlan gläuft? Was unternehmen wir dann hier?“ stammelt er. „Im menschlichen Leben geht es nicht ohne Konflik te ab, Trevor“, stellt Flaschenteufelchen sehr richtig fest. „Was machen wir mit diesem Mann dort?“ knurrt Knödelwilson. Ich muß gestehen, daß ich mich schon darauf vorbe reite, die Karre zu wenden und wieder nach Hause zu fahren. Mit diesen geistlosen Nachtmützen kommt man eben auf keinen grünen Zweig. Ich bin ja auch nur unter großen Vorbehalten mitgefahren! Man braucht sich nur ihre Visagen anzusehen, dann weiß man alles, dann blickt man dem Versagen in Reinkul tur ins Gesicht. Langsam fahre ich den Westhorneweg hoch. Als wir auf gleicher Höhe mit dem unentwegten Gäßchengeher sind, stiert der uns neugierig in die Ka 96
lesche. Er hat eine traurige Hängenase und Tränen säcke unter den Brillengläsern. Auch eine Null! Wahr scheinlich lebt er von einer mittleren Rente und denkt an vergangene Zeiten zurück, an die großen Taten, die er vollbringen wollte, und an den Quark, den er voll bracht hat. So jedenfalls sieht dieser aufdringliche Wandersmann aus. Plötzlich hupt es wie wahnsinnig, und dann krei schen Bremsen in meine tiefsinnigen Gedanken hinein. Ich stoppe sofort. Draußen hält Karnickel Mc. Goy mit seiner Lambret ta. Mein alter, lieber Kumpel Pinkie reißt den Wagen schlag auf. „Sie kommen schon!“ schreit er und klap pert beeindruckend mit den Zähnen. „Karnickel Mc. Goy muß sich verhört haben mit fünfzehn Uhr!“ schreit er. „Da! Aua! Jetzt kommen sie schon um die Kurve!“ schreit er. „Ach, du heiliger Theodor, jetzt ist Venezia im Ei mer!“ stöhnt Flaschenteufelchen. Ich vernehme schon deutlich den Motor der Zaster fuhre. Mir wird kalt und heiß. Ich bin aber nicht so dämlich, die anderen hören zu lassen, wie meine Zäh ne aufeinanderschlagen. Ich halte mein Kinn mit der Hand fest! Knödelwilson tut keinen Muckser. Die Überraschung hat sein bißchen Hirn natürlich ausgeschaltet. Es ist zuviel für diesen Zwerggeist! Mit offenem Mund sitzt er neben seinem ausgehungerten Ochsen. Der altbackene Gentleman auf der anderen Straßenseite stiert ange strengt zu uns herüber. „Dem nehme ich gleich die Brille weg, wenn er noch lange so gafft!“ flucht Flaschenteufelchen. Sieh da, der
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verträumte Venezianer entpuppt sich, wenn es um Za ster geht! Der Lappentransporter ist jetzt schon dicht hinter uns. Gleich wird er vorbeirauschen, und wir dürfen dieses Märchen aus Tausendundeiner Nacht in den Mond schreiben! Sense, Schicht, aus! Ein schwarzes Kreuz und den Zylinder gezogen! Und alles wegen die ser unzuverlässigen Bärenhäuter! „Was ist denn nun, ihr Pfeifen?“ schreit mein ver zweifelter Kumpel zur Tür herein. Wir wissen es nicht, aber plötzlich springt Knödelwilsons Elefant wie vom Affen gebissen ins Freie. Er hat wohl den blasenschwa chen Boxer erblickt und vermutet noch andere Schwä chen bei ihm! Der Fahrer der Zasterfuhre, Mister Frank C, scheint ein Tierfreund zu sein, denn er will unserem Super mops ausweichen, und die ganze Fuhre rast auf den altbackenen Gentleman zu. Mister Frank C. ist wohl auch ein Menschenfreund, weil er die Räder noch ein mal herumreißt. Die Bremsen jubeln auf, und die Za sterfuhre bumst unsanft gegen eine Platane. Natur freund scheint Mister Frank C. keiner zu sein! Es knackt etwas im Karton, und danach ist es wieder mucksmäuschenstill. Nur der altbackene Gentleman gackert schuldbewußt und reißt mit seinem Boxer aus. Der Lappentransporter weist eine zusammenge drückte Nase und zwei stöhnende Besatzungsmitglie der auf, die wir behutsam ins Grüne des Straßengra bens rollen. Unsere Gesichter haben wir noch ganz schnell mit hübschen Tüchern geschmückt. Wie die Haremsdamen, wenn sie Ausgang haben! Die beiden reiben schweigend ihre Beulen und sind sehr beschei den. Mister Frank C. zwinkert uns nicht einmal zu. Er 98
ist wohl beleidigt, weil das Ding nicht planmäßig vor sich gegangen ist. Dabei kann er doch froh sein, schätze ich, daß er nicht Bekanntschaft mit Knödelwil sons Fäusten machen muß. Dagegen sind doch die Pla tanen Wattebällchen! Die hellgelbe Schweinslederaktentasche ist mit einer Kette angeschlossen. Aber Knödelwilson ist erwacht! Schon hat er die Kette mit einer großmächtigen Zange durchgekniffen und die Tasche an sich gerissen. Und schon rauschen wir wie von den sogenannten Furien gejagt oder von der Tarantel gestochen in Rich tung Heimat. „Was bemerkt ihr jetzt, ihr Flaschen?“ triumphiert Knödelwilson und macht sich an der Zastertasche zu schaffen. Jetzt glaubt dieser Geistesriese auch noch, daß er und sein Bullenbeißer dieses Ding gedreht ha ben! Flaschenteufelchen stört sich leider nicht an die sem porösen Charakter. „Brich auf, Trevor, Goldjunge“, plärrt er gierig, hin gerissen, fischäugig. „Reiß auf den Koffer, ich will den Zaster mit eigenen Augen erblicken und mein Herz daran laben, guter Kamerad!“ „Du drehst sofort deine Birne nach vorn, sonst ma chen wir uns verdächtig, du gieriges Tintenfischlein!“ faucht Knödelwilson erregt. Flaschenteufelchen blickt sofort gehorsam auf die Straße vor uns. Eben rau schen Karnickel Mc. Goy und mein alter Kumpel Pinkie mit verklärten Gesichtern an uns vorbei. „Ich habe sie aufgekriegt!“ gluckst hinter uns Knö delwilson berauscht. Flaschenteufelchen will sich wie der herumdrehen. „Rübe weg, du Satan!“ zischt Knö delwilson, womit er recht hat, denn wir sind auf der
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Autofähre, und man kann in das Innere unserer Prachtkarosse blicken. „Ist der Zaster vorhanden?“ flüstert Flaschenteufel chen mit zitternder Stimme. „Mir persönlich bricht vor Erwartung schon der kalte Schweiß aus.“ „Alles da!“ knödelt Knödelwilson, der Tausendsassa, und macht sich dort hinten grunzend zu schaffen. Sein Köter grunzt widerwillig mit. Flaschenteufelchen atmet selig auf. „Leber alla veneciana und Kalbsvögelein“, flüstert er. Auch in meinen Eingeweiden macht sich jetzt nach der großen nervlichen Belastung ein spürba rer Kohldampf bemerkbar. Und Durst ist vorhanden, Durst! „Wir werden heute mächtig einen an die Brust neh men, Daniel“, spreche ich beruhigend auf Flaschenteu felchen ein. Ein feiner Kerl ist das. Hat eben so seine Sehnsüchte wie jeder von uns, denke ich. „So!“ schnauft Knödelwilson von hinten. „Jetzt lasse ich die Tasche so geöffnet, wie sie ist, und rühre sie nicht mehr an, bis wir vor Willys Kneipe stehen!“ Sein Köter knurrt noch einmal angewidert. Wir nicken beru higt, wir ahnungslosen Idioten, denn kurz vor der Lan dung an Willys Spelunke ertönt dieses schreckliche, grauenhafte, unheimliche „Nanu?“ von Knödelwilson. Ich halte sofort die Karre an, weil mir Schlimmes schwant. Auch Flaschenteufelchen wird kreideweiß. „Nanu?“ bemerkt Knödelwilson unter unseren star ren Blicken noch einmal und schnuppert auf dem Fuß boden seiner miserablen Mottenkutsche herum. „Na nu? – Da will ich doch vom Affen gebissen werden! Wo ist denn der Zaster geblieben? Eben war er doch noch in der Tasche, und jetzt stelle ich ziemlich erstaunt fest, daß sich in dieser Tasche nur mehr ein Päckchen 100
von eintausend Pfund Sterling befindet. Wo ist denn der andere Zaster geblieben, Kameraden?“ Knödelwil son durchsucht aufgeregt seine schmierige Gondel, und der Elefant schmatzt unzufrieden. „Da soll mich doch Tarzan lausen, aber ich glaube fast, daß Midgie unser Geld aufgefressen hat, Kameraden!“ Flaschenteufelchen bringt kein Wort heraus. Er starrt nur immer fassungslos Knödelwilsons Ochsen aufs Maul. Ich blicke ebenfalls erstarrt in diese Rich tung und bemerke mit gräßlichem Entsetzen, daß die sem ungekämmten Miststück die Reste einer wertvol len Pfundnote aus dem Maul hängen! „Nanu?“ spricht Knödelwilson. „Das ist mir aber ein Rätsel, wie dieser Hund in so kurzer Zeit fünftausend Pfund verzehren konnte! Ich habe doch nur etwas aus dem Fenster gesehen und meinen Mantel ausgezo gen!“ Mit unschuldigen Fragezeichenaugen blickt uns Knö delwilson an. Flaschenteufelchen weint schon bitter lich. Diesem Burschen ist unter der südlichen Sonne der letzte Rest von männlicher Beherrschung flöten gegangen! Ich bleibe natürlich eiskalt wie immer und glasklar. Nur meine Hände zittern etwas, als ich brutal das Steuer ergreife, denn ich stelle mir dabei Knödel wilsons Wellfleischohren vor. Mit diesem Ganoven bin ich fertig! Läßt sich fünftausend Pfund vor der Nase wegfressen! So was Dämliches hat die Welt überhaupt noch nicht gesehen! Jetzt müssen wir an Karnickel Mc. Goys Gewährs mann Mister Frank C. fünfhundert Pfund abführen, denn sonst verpfeift uns dieser Bursche, weil er uns nur wegen dieser fünfhundert Pfund diesen Hinweis gab und mitmachte, denn er ist in einer pekuniären 101
Klemme. Und dann bleiben für uns alle zusammen fünfhundert Pfund. Ach, du heiliger Strohsack! Mein alter Kumpel Pinkie und Karnickel Mc. Goy, die wohl jetzt schon sehnsüchtig, glücklich, getränke schlürfend in Willys Hinterzimmer warten, werden Au gen machen wie leere Hundenäpfe. O’Rourke wird wahrscheinlich überhaupt nicht mehr zu sich kommen. „Magen auspumpen! Wir müssen diesem verdamm ten Ungetüm sofort den Magen auspumpen!“ brüllt Flaschenteufelchen plötzlich wie ein Irrsinniger. Ich nenne ihn flugs einen Idioten, diesen Träumer, der sich nicht einmal vorstellen kann, was das Gebiß und der innerliche Apparat dieses Ochsen aus den Pfundno ten gemacht haben! „Das ist schon alles ein feiner Brei geworden“, trö stet uns Knödelwilson. Flaschenteufelchen schlägt sich hierauf unentwegt mit der Handfläche vor die Stirn, obwohl sich dort oh nehin eine ansehnliche Beule befindet. „Wenn du nicht gleich damit aufhörst, Openshaw, dann helfe ich dir dabei, aber wie!“ verwarne ich den Wahnsinnigen, denn dieser Säufer und Veneziafanati ker bringt es fertig und macht hier neben mir Harakiri. Dann haben wir ihn auf dem Hals! „Ich begreife dich, Openshaw. Wenn meine liebe Omi wüßte, was dieser Hund jetzt wert ist, dann würde sie auch verrückt werden“, spricht Knödelwilson und grinst versonnen. Dieser hartgesottene Bursche hat aber auch einen Galgenhumor! Kaum zu glauben! Wir grinsen zwar nicht versonnen, aber wir pflichten ihm traurig bei. Wegen seiner Fäuste! Der Zasterfresser schmatzt nicht mehr. Was können wir diesem unschuldigen Biest tun! „Seid gut zu Tie 102
ren!“ Obwohl mir dieser Standpunkt recht akzeptabel erscheint, kommt es mir im Augenblick so vor, als sei dieser Spruch von Leuten gemacht worden, die ver schleiern wollen, wie die Menschen von Knödelwilson und anderen höhergestellten Möhren behandelt wer den. Solche bitteren Gedanken belasten mein mensch liches Gehirn im Augenblick en masse, versteht sich. Ich werde perfekt schwermütig. Meine Seele tröpfelt wie die nasse Wäsche auf Mamas Leine. Als wir vor Willys Kneipe anlangen, spricht Knödel wilson: „Ich vertraue euch, Kameraden. Darum geht ihr schon mal mit der Tasche in Willys Hinterzimmer und berichtet den Mitmenschen Karnickel Mc. Goy, Ar chie Pinkey und O’Rourke von unserem herben Mißge schick!“ Ich beherrsche mich mühselig, sonst fange ich noch jetzt laut zu heulen an, oder ich verhaue diesen Kerl schrecklich. Die Kameraden in Willys Hinterzimmer werden uns doch nie glauben! „Packt die Tasche aber in den Mantel ein, Kamera den, damit sie kein mieser Gauner mit seinen Glupschaugen erblickt und uns verpfeift!“ spricht Knö delwilson liebevoll. Flaschenteufelchen will Knödelwil sons Mantel, der dick zusammengerollt neben dem Elefanten liegt, ergreifen. „Von meinem Mantel nimmst du gefälligst die Pfoten weg, du Teufel!“ faucht Knödelwilson mit einer schrecklich roten Birne. Ihm scheint die Sache doch näher zu gehen, als ich angenommen habe. Er zeigt es vielleicht nur nicht so, um uns nicht zu erschüttern. Wir benutzen also meinen Mantel, denn Knödelwil son muß noch schnell seinem lieben Großmütterchen den verdammten Köter zum Geburtstag darbringen 103
und die Nummernschilder wie andere Sächelchen an seiner Schrottmaschine auswechseln. Da rauscht er ab mit seinem Dreckkarren, dieser ausgesprochene Teig kopf, o Gott! Wir betreten Willys rammelvolle Ka schemme. „Na, die Kumpels werden aber Matschaugen ma chen!“ spricht Flaschenteufelchen vor sich hin, und ich muß ihm diesmal aus wehem Herzen heraus völlig recht geben!
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VIII
„Vom Flugplatz sind wir mit dem Motorboot nach Ve nedig ‘reingeschwommen, Zeitgenossen“, spricht Fla schenteufelchen mit einer traurigen Stimme, und alle sind zu ermattet, um ihm zu widersprechen. „Auf ein mal“, spricht er, unterbrochen von seinem Schluckauf, „sind wir schon zwischen den alten, romantischen Pa lästen, und das Wasser der Lagunen ist blau wie die Blume Vergißmeinnicht. Und allüberall schwimmen diese schwarzen Gondeln. Und die sogenannten Gon doliere haben wirklich dunkle, feurige Glotzen, Kame raden, und breitrandige Strohhüte auf der lockigen Birne. Und sie jodeln wirklich, wie ich es schon im Kino gehört habe, diese saftigen Liebesgesänge von der Sünde und den Puppen. Ich war ziemlich geplättet, als ich dieses erblickte und erlauschte. Ich dachte erst, daß ich auf einem Filmgelände gelandet bin, wo sie eine Operette von diesem Kontinentsbruder Johann Strauß abkurbeln. Es war mir richtig peinlich, denn ihr wißt, daß ich ein hartgesottener Bursche mit einem stählernen Herzen bin. Aber als ich dann drei Tage in Venedig war, schien es mir, als hätte dieser Walzer bruder Strauß gar nicht so unrecht gehabt. Das macht wohl die südliche Sonne, Kameraden. Und der Wein gehört auch dazu. Und die Puppen. Und die schnelle, unaufhörliche Sprache. Sie haben da auch sehr viele Motorboote, denn sonst würde diese wertvolle Stadt glatt zum Erliegen kommen, schätze ich. Ohne Motorboote würde man dort unten schon fremdenverkehrsmäßig pleite gehen, jawohl! Und die Kutscher derselben sind fröhliche, gutmütige Kumpels. Die südliche Sonne und die sünd 105
hafte Luft mußten sie aber gewöhnt sein, denn genau an dem Tag, an dem ich abreisen wollte, haben die Kerle ganz konsequent gestreikt. Habt ihr das erwar tet? Das schien mir nun wieder überhaupt nicht zu die sem Johann Strauß und Venedig zu passen. Das war wie Sauerkohl auf Marzipantorte! Die Welt ist eben viel komplizierter, als sich das der Laie so in seinem Grips ausmalt. So schön ist eben nicht mal Venedig. Oder was meint ihr, liebe Kameraden?“ Flaschenteufeichen kippt sich einen großen Korn hinter die Binde und blickt uns flehend an. „Mensch, Kerl“, murrt mein alter Kumpel Pinkey, Ar chie, der Bursche mit dem immensen Geruchskolben. „Mensch, Kerl“, murrt er in Richtung Flaschenteufel chen, „dann rausche doch mit deinen achtzig Pfund da ‘runter, wenn du überhaupt nicht damit aufhören kannst!“ – Flaschenteufelchen blickt uns wie eine tod wunde Hirschkuh an. „Oder“, droht mein Kumpel Pinkie, „du drehst sofort den Hahn ab und hörst mit diesen blödsinnigen Lagu nen und Langusten auf, Openshaw, denn dieses kann kein Mensch und nicht einmal ein Wasserfreund in Form des Walrosses ertragen, dieses ewige, immer währende, andauernde, unentwegte nasse Venezia! Das geht mir auf den Wecker, Kerl, das zerfranst mir den Geist, das verfitzt mir die Lamellen, wo wir Jun gens nun doch wirklich erst einmal diesen Schock ver dauen müssen, den uns diese Sumpfblüte Wilson mit seinem Bullenbeißer verpaßt hat!“ Nach dieser konsequenten Rede läßt mein alter gu ter Kumpel Pinkie den tragischen Blick durch Willys Hinterzimmer zittern, in welchem fünf englische Eh renmänner ihr herbes Leid mit dem Genuß alkoholi 106
scher Getränke zu bekämpfen versuchen. Dies gelingt aber nicht so recht, denn fünftausend Pfund ver schmerzt nicht einmal der Inhaber einer größeren Marmeladenfabrik auf die schnelle Tour! Diese Angele genheit ist zu nüchtern, um mit Alkohol bekämpft wer den zu können! Als ich und der ehrenwerte Venezianer Openshaw nach dem mißlungenen Beutezug Willys Hinterzimmer betreten, mit der mageren Mammontasche im Mantel, müden Menschenschrittes, umringen uns die Kumpels Pinkey, Karnickel Mc. Goy und Großmeister Apfelblüte mit frohsinnigem Blecken ihrer sämtlichen Kunst- und Naturbeißer. Dieses Blecken erstarrt jedoch ziemlich schnell, als die Kameraden Flaschenteufelchens dämli ches Schluchzen vernehmen. Nachdem ich die erschütterten Jungens mit den glasklaren Fakten des Falles vertraut gemacht habe, wollen sie mich und Flaschenteufelchen erst eine halbe Stunde lang der Lüge bezichtigen, was sie dann auch tun. Danach geben sie’s auf und wollen uns mit Willys Hinterzimmerstühlen furchtbar verformen. Es sind alt englische Landwirtschaftsstühle aus schönem, hartem Eichenholz! Nur mit der Redegewandtheit des bekann ten römischen Staatsmannes Marcus Tullius Cicero und der Weisheit des biblischen Königs Salomo kann ich die bösartigen Säcke von meiner und Flaschenteufel chens völliger Unschuld überzeugen und Knödelwilson an den Pranger nageln. Die kerngesunde Apfelblüte O’Rourke – von seinem schweren Asthmaanfall ist merkwürdigerweise über haupt nichts mehr zu spüren! – benimmt sich am un verschämtesten, dieser mürbe Fußsack! Er tritt uns allen auf dem Nerv herum mit seinem altjüngferlichen 107
Geplärre: „Ich darf mich gar nicht nach Hause trauen zu meiner süßen Alten. Der habe ich ein Mahagoni schlafzimmer versprochen und zwei Siamkatzen!“ Oder: „Das wird meine arme Schwiegermama nie ver winden. Ich habe ihr geschworen, daß ich ihr einen neuen Kamelhaarmantel und eine goldene Armband uhr schenke. Wie soll ich ihr jetzt auseinanderposa mentieren, daß sie nichts bekommt, wo ich ihr doch schon vermittelte, daß unsere Gemeinschaft im Lotto gewonnen hat. Ich werde künftig in der Hölle leben und lieber gleich in den Bau gehen!“ So plärrt dieses Waschweib am laufenden Band und benimmt sich wie seine eigene Urgroßmutter, obwohl er ja das Geld, wie er kürzlich erklärt hat, gar nicht verbraten wollte, son dern auf die hohe Kante legen für seine alten Tage. Nichts stimmt bei diesem Kerl! Selbst für mich, der ich doch nun wirklich Nerven wie Drahtseile habe, ist die ser O’Rourke kaum zu ertragen, Teufel, Teufel! Der alte Zeitgenosse Karnickel Mc. Goy sitzt schweigsam wie eine Sphinx vor seinem Whisky und beißt sich hin und wieder ein Muster in die Hand. So löst dieser harte Bursche seine inneren Spannungen auf ganz persönli che Weise und tritt seinen Kumpels damit nicht auf dem geschwollenen Kaktus herum. Wir warten jetzt schon drei Stunden auf diesen mie sen Weihnachtsbaum Knödelwilson. Mit diesem Gano ven sind wir restlos fertig! Wenn ich in mein Inneres blicke, sehe ich ein Gebirge von Trauer! Ich denke an Miss Lucy Parr und ihr himmlisches Gewölbe. Dieses Gewölbe rückt in immer größere Fernen: weit, weit weg, so weit wie der bekannte Himmelsstern Alpha Centauri! Und vor einigen Stunden wollte ich noch ein ehrliches Leben beginnen. Aber der Mensch denkt, und 108
Knödelwilson lenkt. Vielleicht soll man sein Leben doch solider aufbauen und nicht auf diesen Unterlagen von geklauten Werten! Wenn es so weitergeht, werde ich auch nie an diese Unterlagen kommen. Dabei hätte ich solche Anlagen zum Familienvater und Hausmütter chen! Verdammtes Dasein, warum hast du mich bei meiner Geburt gerade hinter die Mülltonnen Liverpools verfrachtet und nicht an ein etwas sonnigeres Plätz chen? Warum hast du mir nicht wenigstens etwas mehr Rückgrat mitgegeben oder mich in zweihundert Jahren zur Welt kommen lassen, wo die Gauner durch eine Impfung zu guten Menschen gemacht werden, wie O’Rourke kürzlich dem Daily Express entnommen hat? Mein alter Kumpel Pinkie, mit dem ich schon manche gemeinsame Enttäuschung verwinden mußte, hinkte ruhelos auf und ab, und zwar in seinen verbeulten kur zen Unterhosen, da er seine eigentlichen Hosen bei der etwas brutalen Lambrettafahrt in der Feuchtigkeit des Tages total eingeweicht hat. Jene Schläuche hängen jetzt in Willys Küche und müßten doch nun endlich bald trocken sein. Die Borsten auf Pinkies üppigen Sä belbeinen stehen steif ab. Der Junge friert. Er wird sich einen größeren Schnupfen holen. Und das bei dieser Nase! Gegen einundzwanzig Uhr betritt Schön-Isadore Spoulding Willys Hinterzimmer und übermittelt uns von Knödelwilson eine innige Grußbotschaft sowie den Bescheid, daß Knödelwilson erst gegen zweiundzwan zig Uhr hier aufkreuzen wird, da er seine werte Oma an ihrem Ehrentag nicht so kaltschnäuzig im Stich las sen kann. Hierauf läßt sich der schöne Isadore anmu tig auf Pinkies Stuhl nieder, strählt sich mit einem no 109
blen Rechen seine vom Haarstilisten entwickelte Lok kenpracht und kippt Flaschenteufelchens Korn hinun ter, was dieser mit großem Unwillen zur Kenntnis nimmt. Aber der schöne Isadore ist ein selbstbewußter Jiu-Jitsu-Fachmann. Ihn scheint Flaschenteufelchens Unwillen auch nicht die Bohne zu jucken, denn er be trachtet aufmerksam meinen alten Kumpel Pinkie. Plötzlich bleibt mein Kamerad Pinkie vor dem schönen Isadore stehen und fragt: „Was begaffst du mich mit so dämlichen Kuhaugen, Spoulding, he?“ „Gott, siehst du gut aus, du hast ja richtige Trikot beine“, antwortet da der schöne Isadore mit zyni schem Zähneblecken. Mein alter Kumpel Pinkie ver färbt sich hierauf etwas ins Grünliche und zückt seine Rechte. Doch dann beherrscht er sich männlich und spricht unter dem beifälligen Gemurmel der anwesen den Ehrenmänner: „Nun mach dich mal fein auf die durchlöcherten Seidensöckchen, Spoulding, und richte dieser Type Wilson aus, daß sie endlich anzischen soll. Und gib fein Obacht, du eleganter Kümmerling: Wenn du in Zukunft von einer Verhohnepiepelung anständi ger Bürger unseres Weltreichs nicht die blassen Pfoten läßt, dann setzt es ein paar kräftige Sardellen hinter die Krautblätter, Spoulding! Trällere ab, du Honigku chenpferd!“ Der schöne Isadore zuckt gleichmütig sei ne gepolsterten Superschultern und macht sich aus dem Staube. Ob Sie es glauben oder nicht: Dieses kleine Inter mezzo stimmt uns alle etwas freundlicher, denn es war so was wie eine Handlung nach fast vier Stunden pas siven Verhaltens vor dem Schnapsnapf. Sogar Apfel blüte O’Rourke gibt sein Geplärre auf. Plötzlich glitzern seine kleinen, falschen Schweinsaugen. 110
„Dem hast du’s aber gegeben, Zeitgenosse Pinkey!“ spricht er anerkennend. Auch Kamerad Karnickel Mc. Goy bellt kurz und trocken, welches bedeuten soll, daß er mit dem Verhalten meines Kumpels sehr zufrieden ist. Er gibt auch sofort die Handbeißerei auf und pennt beruhigt auf der Tischplatte ein. Ich erwarte nun voller Grauen, daß Flaschenteufel chen gleich wieder einen Schmachtgesang auf Mia bel la Venecia beisteuern wird in dieser gelösten Stim mung, da betritt Willy das Hinterzimmer und wirft mit gekränktem Grinsen Pinkies Hose zwischen uns Eh renmänner. Die Hose ist zwar in der Küche fein trok ken geworden, aber sie duftet schrecklich nach Ham melsteaks und Bratensoße, von Zwiebeln gar nicht erst zu reden. Mein Kumpel bekämpft diesen Geruch sofort mit Lavendelwasser, welches er immer in ausreichen der Menge mit sich führt. Willy mit den frommen Augen macht einen tiefsau ren Eindruck, denn er hat schon Wind von unserem Mißgeschick bekommen und sieht jene Gelder, die ihm einige der anwesenden Ehrenmänner schulden, wieder einmal den Weg allen Fleisches gehen und nicht in sei nen gierigen Hosensack wandern. Bis auf die heutige Zeche natürlich, denn für die müssen wir sofort bei Empfang der Ware blechen, versteht sich. Der gute Willy scheint leider immer noch nicht spitzgekriegt zu haben, daß Geben seliger denn Nehmen ist! Nun mummelt er uns an und brütet Basiliskeneier aus. Geiz ist eben die Wurzel allen Übels! Aber was kann er uns schon wollen? Wir wissen sehr viel von ihm und noch ein kleines Stückchen mehr! Das ist seine schwache Stelle. Er verzieht sich dann auch wieder an seine The
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ke und läßt uns allein. Mein Kumpel Pinkie aber duftet jetzt nach Lavendelsteaks! „Da haben wir eine so schöne grüne Insel mit so schönen roten Autobussen und so schönen bunten Ne onreklamen“, läßt sich Pinkie vernehmen, „aber die Gauner werden immer mehr, und das Pfund wird im mer weniger!“ Mit den Gaunern, scheint mir, will er einen geistigen Haken in Richtung des nicht anwesen den Knödelwilson starten. Ich gebe meinem alten Kumpel, mit dem ich vor vielen Jahren als milieuge schädigtes Kind aufwuchs, wie die Soziologen sagen, sofort recht. Wenn man so seine Gucklöcher aufsperrt, kann man wirklich feststellen, daß die Gauner allüber all und vor allem in den seriösen Sphären zunehmen! „Ich habe mal im Daily Express gelesen“, tut uns Apfelblüte O’Rourke kund, „daß sich ein Kerl namens Kigglewhite aus Kensington, der so eine Art Häuser makler ist, durch Subventionsschwindel, Bausparerbe trug und ähnliche feine Tätigkeiten eine runde Million unter den Nagel gerissen hat. Der Staatsanwalt konnte diesem Burschen nicht einmal etwas, denn der Anwalt des Kerls war wohl schlauer als der Staatsanwalt, und der Kerl hatte seine Piepen auf seine Frau überschrie ben und war außerdem so stark mit einigen anderen Millionenbombern und Finanzhyänen versippt und verschwägert in wirtschaftlicher Hinsicht, daß er. schließlich freigesprochen wurde und wir Steuerzahler auch noch die Kosten blechen konnten. Dieser Kig glewhite lebt noch heute als hochgeachtete Goldrübe in einer Riesenvilla in Kensington und läßt es sich wohl ergehen!“ Ich frage mich, wann Apfelblüte je Steuern gezahlt hat. Doch die anwesende Meute schüttelt traurig die 112
Birnen. Darum spreche ich folgendermaßen, um auch ein intelligentes Scherflein beizusteuern: „Es geht eben auf keine Kuhhaut, was in den oberen Sphären für schräge Dinger gedreht werden, Brüder! In unserer werten Gesellschaft ist der Erfolg zum Maßstab aller Dinge geworden. Da schwenken die sogenannten ho norigen Leute ihre Speckbäuche durch die Geographie und werden von den Illustrierten zu Halbgöttern und Menschheitswohltätern gestempelt, aber guckt nur mal hinter die biederen Fassaden, dann stecken da massig schofle Gauner mit kalten Schnauzen und einer Eisen faust. Und emsig drehen sie krumme Dinger. Aber we he unsereinem, wenn er mal ein kleines Ding gedreht hat und er wird geschnappt! Dann quasselt so ein Herr Staatsanwalt plötzlich derart scharf, daß man gar nicht glauben kann, daß es der gleiche ist, der gegen so ei nen Anwalt wie den des Mister Kigglewhite nicht an kam! Manchmal möchte man schon die Schale des Zorns über diese Welt ausgießen. Dreht man am Tage ein krummes Ding, dann brüllen sie: Am hellichten Ta ge dreht er krumme Dinger, das ist besonders ver schlagen! Dreht man in der Nacht ein krummes Ding, dann jaulen sie: In der Nacht bricht dieser Gauner ein, das ist eine besondere Frechheit! – Ja, Kameraden, wann eigentlich sollen wir denn ein krummes Ding drehen? Da arbeitet man nun an einem Akt ausglei chender Gerechtigkeit, und kaum hat das so einiger maßen hingehauen, verpatzt uns das diese schräge Type Knödelwilson, die es ja immer schon fein ver standen hat, mit fremdem Kalbe zu pflügen!“ Und mein Kumpel Pinkie, der großnasige, spricht: „Dieser Knödelwilson, Männer, scheint mir, ist ein Koloß auf tönernen Füßen!“ Nachdrücklich nickend stimmen wir 113
diesem geistvollen Vergleich bei, worauf wir uns wie der bitter schweigend mehrere Spaßmacher genehmi gen. Es geht eben nichts über einen gepflegten Plausch! Gegen dreiundzwanzig Uhr betritt ein aufgekratzter Knödelwilson in vollem Wichs Willys Hinterzimmer und kassiert sofort seine achtzig Pfund ein. Die vorherge hende Tragödie, an deren Zustandekommen er die Al leinschuld trägt, berührt er mit keiner Silbe. Er starrt uns nur der Reihe nach mit seinem wäßrigen Blick in die erbleichenden Pupillen. Wir sagen lieber gleich gar nichts, sonst sagen wir noch alles, und das könnte bei Knödelwilsons Schlagkraft und unserer Wut eine zwei te Tragödie geben. Wir tun das einzig Richtige, was besonnene Ehrenmänner hier tun können: Wir behan deln diesen Bauernfänger mit allgemeiner Muffigkeit. Erklärungen gibt er sowieso keine ab, dieser aufge putzte Satan. Und wir haben fünf Stunden auf ihn ge wartet! Was sind wir doch für idyllische Teigwaren! Ich brauche ja nur den anwesenden Tränenclub zu be trachten, dann weiß ich alles. Aber was soll ich sagen? Im eigenen Land gilt der Prophet einen Quark! Knö delwilson verzieht sich dann auch recht schnell, aber mit einem hämischen Grinsen um die Mundwinkel sei nes verlebten Antlitzes. Nun wacht auch unser lieber Kamerad Karnickel Mc. Goy auf und macht sich auf die Socken, um dem Ehrenmann Mister Frank C. für gelei stete Vermittlerdienste auf Umwegen fünfhundert Pfund zu überbringen. Außerdem warten seine Harriet und die fünf Kinder auf ihren Papi! Etwas später betritt Willy das Hinterzimmer. Er hat seinen Bums abgerie gelt und will nun uns Ehrenmänner hastig loswerden. Vorsichtshalber bringt er seine zwei dicken Raus 114
schmeißer mit. So treten wir also fröstelnd in die kalte Nacht hinaus, keusch wie Joseph und mit seiner Sehn sucht im Bauche nach jenem Land, wo Milch und Honig fließen sollen, denn der Ganovenberuf ist, wie man sieht, für Burschen unseres kleinkarierten Formats ei ne ziemlich anstrengende Angelegenheit und gar nicht zu vergleichen mit einem Dasein als Ganove in Gottes eigenem Land, den Vereinigten Staaten von Nordame rika, wo der Ganove ein Schlaraffenleben führen soll. Wahrscheinlich sind das aber auch nur wieder jene miesen Typen, die zu den oberen Zehntausend gehö ren. Denen möchte ich schon einmal in die Suppe spucken! Aber heute ist mir so, als sei ich zu zwergen haft dazu. Wo soll das nur noch hinführen? Vergrämt verabschieden wir uns von O’Rourke und Flaschenteufelchen. „Komm, Pinkie“, spreche ich trau rig, und mein alter Kumpel Pinkie schleicht einschließ lich seiner Schnupperbombe mißmutig neben mir durch das stille London, der fernen Praed Street ent gegen, eine Stunde Fußmarsch, denn eine Taxe will keiner bezahlen. Und die Untergrundbahn macht eben mal für einige Nachtstunden Frühstückspause. Mein Kumpel Pinkie riecht jetzt rein hosenmäßig nach Zwie beln. Sein Lavendelwasser scheint auch nicht das be ste zu sein.
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IX
Einige Tage später laufe ich traurig die Bond Street entlang, und nicht einmal die anmutigen Minirockpup pen, welche allerorten in Scharen aufkreuzen, zaubern mir den Abglanz eines Grienens ins Gesicht. Der Tag ist schön. Heitere Schäfchenwolken lümmeln sich am blauen Herbsthimmel. Es riecht nach Astern und Ben zin. Kein Nebel, kein Regen, keine Kälte. Und trotzdem kriecht mir des Herbstes Kühle durch die Herzkranzge fäße. Als ich den Haymarket entlangschiebe, muß ich wieder an Miss Lucy Parr denken. Vor einer guten hal ben Stunde noch habe ich in der Oxford Street vor ihr gestanden. Eine zauberhafte Buseninhaberin! „Hallo, Edward“, sprach sie mit melodischer Stimme zu mir, und ich errötete. „Hallo, Edward, darf ich dir meinen Verlobten, Mister Duncan Ross, vorstellen“, sprach sie, und ich erbleichte. Hierauf bleckte Mr. Duncan Ross einladend seine vergoldeten Nagezähne und tat erfreut, was er sowieso nicht war, denn er hat eine spitze, arrogante Nase mit großen Nüstern; und an einem kleinen, gemeinen Zug um den Mund herum erkannte ich, daß er sich über meinen Pappkoffer mit dem angeflickten Griff lustig machte und mokierte, diese langweilige Nudel. Wie sich dann herausstellte, war er der Abteilungsleiter von Miss Lucy Parr. Da schlägt nun so eine gedankenlose Puppe einen Burschen wie mich, der voll von Milch der Menschen liebe ist und sie bis Aberdeen und zurück auf Händen tragen würde, glatt aus und schmeißt sich mit be schränktem Untertanenverstand diesem altklugen Ka ter mit den Goldhauern an die Brust! Wie wichtig der Kerl seine Nüstern aufblähte! Eine Steckdosennase! 116
Abteilungsleiter bei Selfridges! Natürlich, so eine sub alterne Nuß war etwas für die naive Nymphe! Ich habe dann auch fast kein Wort über meine Men schenlippen gebracht, habe nur verächtlich gelächelt und Miss Lucy Parr in den Schornstein geschrieben. Von dieser tauben Blüte Mister Duncan Ross wird sie wohl nicht einmal ein Ingwerbier spendiert bekommen! Der Bursche sieht mir ganz wie ein permanenter Knik ker aus. Zum Abschied bemerkte ich so leichthin: „Na, werdet selig, ihr beknackten Frösche!“ Da hat dieser Karl aber entgeistert geglotzt! Das ist nun mal so mei ne Art, jemandem etwas aufs Brot zu schmieren. Die ser idyllische Gartenzwerg wird mich nicht so schnell wieder angrienen! Und jetzt bin ich am Trafalgar Square und soll wie der einmal mein Spezialtaubenfutter unter die Herr schaften Touristen schleudern. Eine ganze Menge auf geblasener Schoten verschiedenen Geschlechts trippelt durch die Gegend. Tierfreunde finden sich da immer. Und wenn sie nur eine Tüte Taubenfutter kaufen, um ihr Gewissen zu beruhigen oder vor der breithüftigen Mama eines winzigen Lümmels auf die Pauke zu hau en. Aber schon nach einem knappen Stündchen geht mir auf, daß ich heute nicht gerade in Hochform für den Taubenfutterverkauf bin. Das einladend sonnige Lächeln, mit welchem ich sonst die Käuferscharen be töre, ist sozusagen vom Schicksal geschluckt worden. Mein berühmter Scharm ist flötengegangen. In der letzten Zeit ist zuviel über meine werten Nerven ge rollt. Nun bin ich entkräftet, erschossen, platt, vom Donner gerührt und apathisch. Bewiesenermaßen liege ich etwas darnieder. Manchmal möchte man schon seine Bude von innen abschließen und den Schlüssel 117
mit der Post verschicken! Erst geht mir dank dieser Büchse der Pandora namens Knödelwilson ein kleines Vermögen in die Binsen, und dann schmeißt sich die süße Miss Lucy Parr so einer käsigen Krämerseele ans gekräuselte Chemisett! Das bringt den stärksten Bur schen zum Wanken, schätze ich, wenn ihm auf einen Schlag die Zasterunterlage und die Liebeshoffnung entzogen werden. Mal fehlt dir der Wein, mal fehlt dir der Becher, mal fehlt dir beides! Vier lange Taubenfutterverkaufstage sind es jetzt schon her, daß Knödelwilson uns den Bullenbeißer streich spielte. Seitdem sielt sich mein alter Kumpel Pinkey, Archie, dauernd vor der Flimmerkiste herum, welche wir gemeinsam für fünfzig gute Pfund erstan den haben. Auch die werte Mrs. Rucastle, Miriam, schlichte Postbeamtenwitwe, ist mietmäßig zufrieden gestellt, was einem Wunder gleichkommt, doch mein werter Kumpel Pinkie, jener typische Nasenmensch, der nun schon seit vielen Tagen die Ottomane der Witwe Rucastle belagert, mußte etwas beisteuern, was ihn zwar eine ungeheure Überwindung kostete, aber er tat es. Reicht ihm den Lorbeerkranz! Die spitze Zunge der Mrs. Rucastle verursacht eben selbst einem alten Veteranen namens Pinkey Gänsehäute. Wenn ich nun aber darüber nachsinne, daß wir rein haushaltsmäßig schon für zwei mal achtzig Pfund aus dem Schneider heraus sind und was wir mit zwei mal tausend Pfund, abzüglich zwei mal fünfundachtzig Pfund für Mr. Frank C., hätten anfangen können, dann zieht mir doch ein heiliger Zorn durch den Busen. Da es aber einem Men schensohn mit einem heiligen Zorn in der Brust un heimlich schwerfällt, mit frohsinnigem Antlitz Tauben futter zu verkaufen, fasse ich die Gelegenheit einer 118
Arbeitsbeendigung bei der Stirnlocke und mache mich mit meiner Pilgervätertruhe zur Untergrundbahnstation auf, um meinen werten Freund Pinkie vor der Flim merkiste zu überraschen. In der Bahn lehne ich mich in eine Ecke und träume ein bißchen vor mich hin. „Taubenfutter mußt du nicht verkaufen, das ist nichts für einen Kerl wie dich“, hat der kleine, dicke Schlosser damals gesagt, als ich aus dem Bau kam und nach langer Rennerei Arbeit in dieser Metallbude bekam. „Taubenfutter müssen Rentner verkaufen, aber nicht so kräftige Burschen wie du“, hat er gesagt. Und da hatte ich mir wirklich vorgenommen, eine anständige Männerarbeit zu verrichten, obwohl es mir scheußlich schwerfiel. Ich habe Löcher gebohrt, und der kleine dicke Schlosser hat Nieten in die Löcher gesteckt und den Fakt vernietet. Stundenlang, tagelang, immer die gleiche anständige Männerarbeit! Das war vielleicht eine sture Roboterei! Aber ich wollte ja ehrlich sein, ein ehrbarer Jüngling, den jedermann achtet! Doch so ein mieser Vorarbeiter hat immer und ewig an mir herumgekrittelt. Entweder war ich zu langsam oder ich war zu dämlich. Und der kleine dicke Schlosser sagte immer: „Laß den Spinner, laß ihn quasseln!“ Und ich ließ ihn quasseln. „Laß ihn quasseln!“ dachte ich trok ken und schuftete. Aber der Vorarbeiter hat so ein gemeines Grinsen im Antlitz gehabt, wenn er mich an sah, daß ich immer gleich gewußt habe, woran er denkt. Und einmal, als er mir zu wenige Stunden ge schrieben hat, habe ich’s ihm gesagt, denn ich lass’ mir nicht gern auf die Füße treten. (Höchstens mal von einer süßen Puppe.) Und da hat dieser Bursche ge lacht: „Blas dich mal nicht so auf. Sei froh, daß du hier etwas verdienen kannst als alter Knastbruder und Ga 119
nove!“ Natürlich habe ich dem Miststück einen harten Rechten unter die dämliche Nasenspitze gedrückt, und sie haben mich gefeuert wegen dieser Kanaille! Ich schätze, wenn man ein anständiges Leben leben will, muß dazu auch die Umgebung wenigstens ein biß chen anständig sein. Wer aus dem Bau kommt, wird allzu leicht rückfällig. Weil die Menschensöhne ihm ziemlich oft unter die Nase reiben, daß er in dieser Lo kalität war. Darüber könnte man in Trübsinn verfallen, denn manchmal ist mir so, als hätte ich auch Lokomo tiven erfinden oder irgendeine andere nützliche Arbeit verrichten können, wenn ich beim Start in dieses Le ben nur nicht so erbärmlich drangewesen wäre. Der alte Doktor Blackwater, der mal in Cambridge war und jetzt säuft wie ein Loch, behauptet, ich wäre ein sogenannter labiler Mensch und ich könnte nur un ter anständigen Verhältnissen anständig werden, sonst bliebe ich wegen mangelnden Rückgrates ein Außen seiter der Gesellschaft und ein Abfallprodukt parasitä rer Verhältnisse. Ich habe ihm hierauf keinen Schnaps mehr ausgegeben, denn das Abfallprodukt stieß mir schwer auf, wohingegen er mit den parasitären Ver hältnissen recht zu haben scheint. Irgendwie habe ich aber sicherlich einen kleinen Knacks weg, denn ich denke zu stark über diese Dinge nach und werde von Traurigkeit überflutet. Und kein Aas hilft mir aus der Patsche! „Du bist ein psychopathologischer Fall“, sprach Dr. Blackwater, „der im asozialen Milieu gelandet ist, weil es eins gibt! Wenn das nicht passiert wäre“, sagte er, „oder wenn es kein asoziales Milieu gäbe, dann hätte aus dir ein recht ordentlicher Doktor der Zahnheilkun de oder ein Brückenbauer oder ein feiner Tankwart 120
oder irgendein anderes nützliches Glied der Gesell schaft werden können!“ Das sagt er, aber ich frage mich nun dauernd, ob es überhaupt lohnt, dieser Ge sellschaft zu nützen, in der es bloß dauernd um den Besitz irdischer Güter geht. Hast du kein Kies, bist du eine arme Nuß! Wer achtet in unserem verehrten Weltreich schon eine arme Nuß? Ich habe noch keine Ode auf den Maurer Miller gelesen! Den Hosenbandor den hat noch kein Schlosser bekommen! Und wenn es irgendwo Anerkennungspreise gibt, dann ist da kein Untergrundbahnfahrer darunter. Höchstens auf dem Taubenzuchtsektor. Aber so ein großer Geldsack, der im trüben fischt und emsig absahnt, der befindet sich in jeder dieser Gruppen, und ein ganzer Medaillenla den baumelt an seiner Brust herum. Solche und ähnliche bittere Geistesblitze schießen mir also während der Bahnfahrt durch meinen durch trainierten Grips, aber ich finde keinen Ausweg. Und da naht schon meine Station Paddington. Und so will ich die Pilgervätertruhe von der Mayflower ergreifen, um das kostbare Taubenfutter der Heimat zuzuführen. Aber der Koffer ist weg! Ich werfe einige scharfe Adlerblicke in die Runde und zische im Ikarusflug durch das Abteil, aber die Pil gervätertruhe bleibt verschwunden wie Atlantis, der sagenhafte Landstrich. Irgendein perverser Ganove und besessener Langfinger muß sie mir klammheimlich entwendet haben! Das kommt davon, wenn man über das Leben nachsinnt! Sofort hackt das Leben auf dir herum und semmelt dir eine hinein. So einen miesen Pappkoffer! Muß dieser Ganove einen Geschmack ha ben! Der war bestimmt noch erbärmlicher als ich dran. Diese morsche Knallschote wird sich wundern, wenn 121
das Taubenfutter sichtbar wird. Aber ich bin meiner Existenzgrundlage beraubt worden: Es waren minde stens noch sechzig Tüten, die Tüte einen Schilling! Diesem Burschen hätte ich gar zu gern mit eisernem Griffel ein farbenfrohes Souvenir auf die Nase ge schrieben. Es ist keine Ehrlichkeit mehr auf der Welt! Ich schätze, daß ich bei der nächsten Wahl Mister Elias Swain, dem konservativen Abgeordneten unseres Be zirkes, meine Stimme gebe. Der flucht in seinen Reden gewaltig über das Gaunerunwesen, welches sich auch im werten Stadtteil Paddington immer breiter dahin lümmelt. Sich selbst zählt er freilich nicht zu den Gau nern, obwohl er in der MORNING POST stets eine mächtig bunte Reklame für die in seiner Bude herge stellte Sommersprossenkreme macht. Sie wissen ja: „Sommersprossen sind wie weggeschossen durch Swains Spezialkreme TEINTIE!“ Dazu eine leckere Puppe im Großformat, einmal mit Sommersprossen bekleckst, das andere Mal völlig ohne. Ohne Sommer sprossen, versteht sich! Durch Swains Spezialkreme TEINTIE! Ich finde die Puppe zwar mit Sommersprossen net ter, aber ein Bekannter von mir, ein gewisser Reuben Thompson, sieht einfach miserabel aus, so eine Masse dieser braunen Sprenkel trägt er im edlen Antlitz. Die ser Naivling verwendet Swains Spezialkreme TEINTIE schon fünf Jahre lang und hat ein Vermögen für seine Schönheit hingegeben. Sein Zaster ist weg, die Som mersprossen sind immer noch da, und zwar viel farb kräftiger als früher. Durch Swains Spezialkreme TEIN TIE! Seitdem lächelt der arme Reuben Thompson so sauer in die Welt hinein, als hätte ihm der werte Mister Elias Swain Abnäher in die Wangen gemacht. Diese 122
Abnäher macht der werte Mister Swain aber wohl mehr in den Geldbesitz der gutgläubigen Sommersprossen inhaber hinein. Welches Gaunerunwesen meint wohl der werte Mister Elias Swain? An dieser Stelle breche ich meine tiefschürfenden Gedankengänge abrupt ab, denn ich muß aussteigen. Wie ich die Eastborne Terrace hochpilgere, wen er blicken da meine wunden Augen in Vittorios italieni scher Kneipe? – Nun, man muß kein Kwissmaster oder Pfüsikprofessor sein, um dieses zu erraten. Es ist nicht Mister Elias Swain, wie jetzt mancher Träumer anneh men wird, sondern mein alter, guter Kumpel Pinkie, den ich schon während seiner Jünglingsjahre über sei nen ansehnlichen Riecher hinwegtrösten mußte. Er sitzt an blankgescheuerter Tafel, genehmigt sich einen bitteren Wermut und studiert die Tagespresse, die kleine Leseratte. Sofort verfliegt mein Unmut über den Taubenfutterkofferdiebstahl, denn ich bin eine starke Natur. Von Freundesliebe beflügelt, betrete ich elasti schen Schrittes Vittorios Kosestübchen, und mein Kumpel Pinkie begrüßt mich mit schnellen Worten. „Guck dir das an“, spricht er und weist mit seinem klu gen Zeigefinger auf eine Pressemeldung in dicken, schwarzen Lettern, in welcher noch einmal der Bevöl kerung vom herben Mißgeschick des armen Mister Frank C. und seines Beifahrers berichtet wird. „Sie ha ben noch immer keine Spur“, flucht mein Kumpel Pin key, Archie. „Wie sicher könnten wir jetzt die Mäuse verbraten, wenn sie Knödelwilsons Mistkater nicht ver zehrt hätte!“ Als ich meinem Kumpel hierauf erkläre, daß unsere Existenzgrundlage in Form des Taubenfutterkoffers von einem arg verlotterten Individuum entwendet 123
wurde, ballt mein Kumpel Pinkie seine knochige Rechte und spricht: „Mit uns ist kein Blumentopf zu gewin nen!“ Hierauf trinken wir schweigend bitteren Wermut. Plötzlich erhebt mein alter Zeitgenosse und Leidens gefährte, der Nasenbär Archibald Pinkey, sein schönes Haupt und läßt mich in beschwingtem Tonfall wissen: „Hier ist ehrliche Arbeit für uns, Kamerad!“ Er zeigt mir ein Zeitungsinserat, in welchem eine Filmproduktion namens Kelly & Wibbs, deren Sitz sich in Soho befin det, drei gutbeleumdete Ehrenmänner unserer Bran che als Fachberater sucht, indem nämlich ein wuchti ger Kriminalstreifen teilweise die Tresorknackerei be inhaltet und von dieser Firma hergestellt wird. In ei nem Nachsatz wird noch erklärt, daß diese drei Fach leute aber garantieren müssen, daß sie nicht mehr dem ungesetzlichen Knackerberuf nachgehen, sondern als ehrliche Bürger unseres Weltreiches ihr Dasein verbringen. Ein Schluchzen der Freude will mich nach mehrmali gem Studium dieses Inserates übermannen. Es wird jedoch von meinem edlen Kumpel, einem männlichen Nasenträger namens Pinkie, nüchtern abgewürgt, denn nun heißt es sich sputen und schnell handeln, damit uns nicht etwa noch andere krumme Ganoven zuvor kommen! Als Kandidaten für den Posten des uns noch fehlenden dritten Mannes wird der von uns hochgeach tete Kamerad Karnickel Mc. Goy ausersehen. Nachdem wir Vittorio eine geraume Zeit emsig zugeredet haben, pumpt uns dieser gutartige Mensch seine Klapperkiste, Baujahr 38, in der wir uns eilends auf den Weg nach Aldgate machen, wo sich Karnickel Mc. Goys werte Un terkunft befindet. Aldgate liegt auf der anderen Seite der Stadt, und glücklich machen wir uns zur Durchque 124
rung Londons auf. Es ist drei Uhr nachmittags. Das Bü ro der Produktion ist ab vier Uhr geschlossen. Wenn wir Glück haben, treffen wir Karnickel Mc. Goy an. Aber vor vier sind wir mit dieser Klapperkiste nie in Aldgate. Also heißt es, sich mit Geduld wappnen bis morgen und den kommenden Ereignissen hoffnungs voll ins Auge sehen. Ein Sonnenstrahl ist in die ägypti sche Finsternis unserer Tage gefallen, schätze ich. Hoffen wir, daß endlich einmal schönes Wetter aus bricht. Dann werde ich mich dieser Miss Lucy Parr einmal als Filmfachberater vorstellen. Ich schätze, daß sie dann so manches bedauern wird.
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Karnickel Mc. Goys Achillesferse ist seine heißgeliebte Ehegemahlin, eine vollbusige Nymphe mit dem schö nen Menschennamen Harriet. Selbige Puppe ist gar nicht gut auf unsere Meute zu sprechen, weil sie an nimmt, daß ihr schweigsamer Alfred durch Jungens unseres Formats immer wieder auf die schiefe Bahn gezerrt wird. Damit hat sie nicht ganz unrecht, obwohl der Fall auf Gegenseitigkeit beruht. Schließlich hat uns Kamerad Karnickel Mc. Goy auch schon des öfteren in manch brisante Situation hineingeschleust. Ein Un schuldsengel ist Kamerad Alfred leider auch nicht, sondern er hat es faustdick hinter den großen Löffeln, woran seine üppige Harriet nicht ganz unschuldig ist, wenn ich das mal so formulieren darf. Anfang der fünfziger Jahre ist Mc. Goy noch ein ehr licher Junge gewesen, ohne Vorstrafenregister auf dem Buckel, mit einer regelmäßigen Arbeit in den Docks und mit einer kahlen Untermieterbude, in welcher er sich ziemlich einsam und allein fühlte. Doch da gab es einen Grünzeugfritzen namens Jabez Merryweather und seinen Ehedrachen Gloria, welch selbige ein gesundes Töchterchen namens Harriet ihr eigen nannten. Selbige Harriet, ein holder Schmetter ling, hatte nichts weiter zu tun, als hin und wieder dem Papi Jabez beim Grünzeugverkauf unter die Arme zu greifen und zwischen den Birnen herumzugaukeln. Außerhalb dieser Zeiten vertiefte sie sich in feine, bun te Illustrierte und saugte einen Hauch der sogenann ten großen Welt in sich hinein, wodurch eine gewisse Unzufriedenheit mit ihrem augenblicklichen Leben und ein etwas vermanschtes Weltbild in ihr entstanden. Ein 126
Grünzeugladen in Aldgate ist nun mal nicht die große, bunte Welt aus der Illustrierten! Und so lebte KleinHarriet etwas mürrisch dahin, indem sie nämlich auf den holden Prinzen aus dem Märchen wartete. Eines Tages nun taucht im Merryweatherschen Blu menkohlgebirge ein schmucker Jüngling namens Alfred Mc. Goy auf, um einige saure Gurken zu erstehen. Er trägt zwar einige Nagezähne im Gesicht und an den Seiten des Kopfes recht gewaltige Ohren, aber anson sten, findet Miss Harriet Merryweather, ähnelt dieser blanke Jüngling in etwa dem Herzog von Kent, und sie wirft ihm einen verführerischen Blick zu, sozusagen einen Augenstoßseufzer. Wie Butter! Dieser Blick nun entflammt den armen Alfred so ungemein, daß er mit seinen drei sauren Gurken wie besoffen der Heimat zutaumelt. In der Folge entwickelt sich Alfred fast zur Kuh, denn er verzehrt Unmassen von Grünzeug aus dem Merryweatherschen Laden und muht zuweilen sehn suchtsvoll, indes die zarte Pflanze der Liebe in Miss Harriet und ihm immer mächtiger emporschießt. So kommt es bald zu diversen Kinobesuchen und anderen schlichten Vergnügungen. Eines Tages aber erklärt die üppige Harriet dem muhenden Alfred, daß ihr ein Leben ohne fahrbaren Untersatz einfach erbärmlich vorkäme, und dies sollte wohl ohne Zweifel ein kleiner Hinweis sein, und die Musik spielte: „Pussycat, Pussycat, I love you.“ Mc. Goy, der kochende, verstand den Hinweis sofort. Leider aber hatte die durch diverse Illustrierte und ei ne Menge lyrischer Filmkunstwerke fehlinformierte Harriet die finanziellen Möglichkeiten eines Dockarbei ters stark überschätzt. Nun sollte man annehmen, daß 127
Alfred dieses seiner Heißgeliebten unterbreitet hätte. Er war jedoch ein stolzer Jüngling und so von Liebe und Fleischeslust verwirrt, daß er seinen finanziellen Kassenstand durch einige krumme Geschäfte außer halb seiner Arbeitszeit zu heben versuchte. Dies ge lang dem verblendeten Jüngling so gut, daß er eine nagelneue Lambretta erstehen konnte. Die gab auch bei Vater Jabez Merryweather den Ausschlag. Das würdige Elternpaar hätte die Tochter zwar viel lieber als Gattin eines Gemüsegroßhändlers oder eines Gara genbesitzers gesehen, aber ein neunzehnjähriger Lambrettabesitzer schien ohne Zweifel Anlagen zum Geldverdiener zu besitzen. So führte der glückstrah lende Mc. Goy, Alfred des Vornamens, seine schönbu sige, kurvenreiche Harriet Merryweather zum soge nannten Traualtar, worauf das junge Paar, mit dem elterlichen Segen und einem monatlichen Zuschuß versehen, eine Zweieinhalbzimmerwohnung im östli chen Aldgate, Wembley Street 5 a, hintenraus, bezog. Einen Monat nach der fröhlichen Hochzeit avancierte Jabez Merryweather zum stolzen Großvater eines Kna ben namens Billy. Als jener Billy ein halbes Jahr alt war, wanderte sein guter Papi Alfred unter dem mächtigen Gezeter der Sippe Merryweather zum ersten Mal in den Bau. Die gute Harriet hatte die finanziellen Möglichkeiten ihres Alfred wieder einmal stark überschätzt und sich einen Pelz wie die Bardot gewünscht. Den Pelz bekam sie, aber Alfred bekam ein Jahr Wassersuppenheim und wurde bitter. Die Zeit verging, die Anzahl der Mc. Goyschen Kin der nahm zu, und hin und wieder mußte der gute Papi zur Erholung, die ihm aber nicht so recht zu bekom 128
men schien, denn Papi kam immer recht käsig zurück. In den ersten Jahren hatte die gute Harriet zwar mächtig gewehklagt, aber mit der Zeit lassen die be sten Tränendrüsen nach, und die anständigste Familie gewöhnt sich an ihr schwarzes Schaf. Zudem ist ein Gauner ja auch ein ganz interessanter Familiengenos se, wie man immer wieder mal im Fernsehen studieren kann. Das Fleisch der schönen Harriet nahm zu, und Al freds Liebe nahm nicht ab. Sozusagen war sie seine ewige Zuckersonne, sein permanenter Honigmond, und wenn er mal wieder im Knast saß, dann strahlte sie vor ihm wie jenes Glas kaltes Bier in der heißen Sahara, o ja! Und wenn er dann wieder draußen war, wollte er immer wieder ganz ehrlich ein ehrlicher Fami lienmensch und Steuerzahler werden, dieser Utopist. Wenn es den Merryweatherschen Grünzeuggroßvater, diese patente Nudel, nicht gegeben hätte, dann wäre die Familie Mc. Goy, Alfred, wohl schon lange pleite gegangen und unter dem Hammer. Genau sechzehn Uhr dreißig stoppt mein Kumpel Pinkie die Klapperkiste von Vittorio vor dem öden Rei henhaus Wembley Street 5 a. Hierauf begeben wir uns elastischen Schrittes nach hinten und setzen die Mc. Goyschen Klingelzüge in Bewegung, worauf uns Mc. Goy Junior Nummer vier, ein interessanter Knabe mit Nagezähnen und großen Ohren, öffnet. Nun läßt sich mein alter, guter Kamerad und Weggefährte Pinkie folgendermaßen vernehmen: „Ist dein lieber Papi vor handen, mein Lümmelchen?“ „Ich bin weder Ihr Lümmelchen noch Ihr Lümmel, ich bin Charles!“ spricht der winzige Hausmacherso krates hierauf mit strengem Gesicht. 129
„Ah, der kleine, kluge Prinz Charles Mc. Goy!“ spricht mein Kumpel humorvoll. Hierauf will Karnickel Mc. Goys genialer Nachwuchs wieder eine tiefsinnige Antwort aufs Parkett schmettern, jedoch es wird nichts daraus, denn hinter ihm wird der holde Busen seiner Mutter sichtbar. „Aha!“ spricht die liebe Harriet Mc. Goy mit mürri schem Antlitz. „Aha!“ spricht sie, als wüßte sie schon alles. „Werte Mistress Mc. Goy“, sage ich, „weilt unser alter Kamerad Alfred zufällig am heimischen Herde?“ Mein Kumpel Pinkie ergänzt diesen Satz, weil er die vollschlanke Harriet kennt, mit zuckersüßer Stimme: „Es ist nur darum, werte Mistress Mc. Goy, weil wir den alten Ganoven beziehungsweise, um mich hier einmal ganz schnell zu verbessern, weil wir den eh renwerten Ofenhocker als Arbeitskameraden für eine ehrliche Männerarbeit benötigen, eine kinderleichte Kiste ohne gesetzliche Folgen!“ Die energische Harriet, die uns wohl doch nicht so recht Glauben schenkt und über den Weg traut, will uns nun, wie man so sagt, die Tür vor dem Riecher zuschlagen, wobei mein Kumpel mit seinem Zinken gewiß in große Gefahr gekommen wäre. Doch in die sem Augenblick taucht im Hintergrund das Nagege zähn unseres lieben Kameraden Karnickel Mc. Goy auf. „Hallo, Ehrenmänner“, entquillt es dem Gehege seiner Beißer, „es tut mir leid, aber ich muß zur Nacht schicht!“ So spricht er in Filzpantoffeln, und sein Dra chen ergänzt: „Denn mein Gatte hat jetzt eine ehrliche Arbeit, und er will auch nichts mehr mit so olle Gau ners zu tun haben. Schafft euch, Kerle! Kratzt die Kur ve, ihr miesen Hampelmänner, sonst bringe ich euch die Flötentöne bei! Nicht wahr, Papi?“ 130
Karnickel Mc. Goy, der wohl mit diesem feurigen „Papi“ gemeint sein soll, errötet hierauf und spricht: „Nichts für ungut, Kerls, vergeßt mich!“ „Wenn das so ist…“, spricht mein Kumpel Pinkie, doch er kann seinen Satz nicht vollenden, weil die Tür nun wirklich von der holden Harriet zugeschmettert wird. „Hat die aber miese Manieren!“ erkläre ich meinem Kumpel Pinkie laut. „Das wird der Drachen noch bereuen, wo es doch nun wirklich um eine ehrliche Arbeit geht, verdammt noch mal!“ spricht mein Kumpel Pinkie äußerst belei digt, und wir besteigen unsere Klapperkiste, um bei Willy Ausschau nach einem anderen ehrlichen Gentle man aus unserer Branche zu halten. „Diese taube Nuß O’Rourke kommt aber auf keinen Fall in Frage!“ spreche ich erregt, denn dieser Mensch würde uns mit seinem abstoßenden Äußeren nur die Chance vermasseln. Mein lieber Zimmergefährte Pinkie stimmt mir ohne Vorbehalte zu, und dann schaukeln wir mit mächtigem Knattern in Richtung Soho. Endlich geht es mal etwas aktiv in unserem Stall zu. Wenn man bedenkt, daß hier nicht einmal ein krum mes Ding gedreht werden soll, dann kann man nur noch grienen. Vor Freude, versteht sich! Und das ist auch verständlich, Zeitgenossen, denn wenn der Mensch glaubt, daß er zu etwas nütze ist, dann berei tet ihm dies ein inniges Vergnügen, weil das Bier, das nicht getrunken wird, seinen Beruf verfehlt hat! Als wir Willys Kneipe betreten, ist der holde Abend schon angebrochen. Willy mit dem kostbaren Blick be trachtet uns nicht unfreundlich. Er scheint seine Geld
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gier niedergerungen zu haben. Die Zeit heilt eben alle Wunden! „Hallo, Jungens“, spricht der alte Kartoffelsack, „ihr habt ja jetzt mächtig noble Freunde!“ „Wie das?“ frage ich interessiert, und wir lassen uns nieder. Willy ist ganz baff; daß wir noch nichts wissen. Als ich aber eine Runde springen lasse, ich leichtferti ger Hund, erzählt uns Willy sofort, daß unser feiner Zeitgenosse, Wilson, Trevor, auch Knödelwilson ge nannt, ein reicher Mann geworden ist durch irgendeine rätselhafte Erbschaft, daß demselben ein lindgrüner Rolls Royce und eine Luxuspuppe zu eigen sind und daß ihm das neue Sakko absteht, weil er es so voll Kohlen gepackt hat. Ich bin erst einmal sprachlos und baff von dieser Rede. Mein Kumpel Pinkie aber murmelt mit grünem Gesicht: „Was für ein Ding hat dieser deklassierte Kri minelle da bloß wieder gedreht? Wie kommt so ein geistig Minderbemittelter an dieses Moos?“ Hierauf schweigen wir, und eine gewisse Bitterkeit will sich in uns breitmachen. Doch da kreuzt der uns allen schon bekannte Kame rad Daniel Openshaw, auch Flaschenteufelchen oder trauriger Venezianer genannt, vor unseren Blicken auf. Er äußert lautstarke Freude wegen unserer Anwesen heit und ist schon wieder leicht beduselt, hat also eine kleine Hacke in Blau sozusagen. Auch er will sofort wieder die Wundertüte Wilson und deren Glück breit treten mit Lobpreisungen, aber mein Kumpel Pinkie unterbricht ihn mit den barschen Worten: „Von diesem Ganoven laß die Finger und die Sprache, Kamerad Da niel, denn derselbe wird früher oder später doch we
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gen unreiner Machenschaften von den Polypen einge hascht werden!“ Dieses spricht mein Leidensgefährte Pinkie, der Mann, dessen an Nase und Fehlschlägen reiches Leben eng mit dem meinem verknüpft ist, und er weiß gar nicht, wie recht er damit hat. Nur, daß der Fall eben leider gewisse Konsequenzen hat, die auch uns, den gutgläubigsten Idioten, die Mutter England je gesehen hat, Tiefschläge von vielen Monaten versetzen wird. Aber dies ahnen wir im Augenblick noch mit keinem Gedankenzipfel, sondern wir sind guter Dinge, indes wir uns nämlich für O’Rourke als Mitarbeiter entschei den und dieser sofort Feuer, Flamme und Halleluja ist. Morgen früh, wenn die Hähne gekräht haben, wollen wir frischgewaschen, stocknüchtern und blankgewie nert bei Kelly & Wibbs, Filmproduzenten, antanzen, drei Mann hoch und voller Könnerschaft, was das von der Firma verlangte Wissen um die verschiedenartigen Tresorsysteme und deren Öffnung angeht. Im Augen blick aber genehmigen wir uns einen herben Schluck auf Flaschenteufelchens Rechnung, dem es noch nicht gelungen ist, seine achtzig Pfund zu versaufen, was auch gar nicht so einfach ist, denn man weiß ja schon: Er braucht nicht mehr viel! Erst will der Bursche zwar wieder von Old Venezia anfangen, aber mein Kumpel Pinkie lenkt das Ge spräch geschickt auf das Filmschaffen und die damit verbundene Kohlenmacherei mancher hartgesottener Sterne des Filmhimmels. So tut er uns unter anderem kund, was er kürzlich durch unser wertes Flimmerbild erfahren hat, daß nämlich der Filmstern Sean Connery, auch 007 oder James Bond, eine glatte Million für je den Film einsteckte. Und hier steuert Flaschenteufel 133
chen eine staunenswerte Sache bei. Er spricht: „Sie haben kürzlich für eine runde Million Dollars ein filmi sches Gangsterzentrum aufgebaut, Kameraden. Und zwar für diesen James Bond. Nach sechs Monaten ha ben sie den ganzen Teig wieder abgerissen, weil sie fertiggedreht hatten. Sie sollen mehr Stahl als für das Hilton-Hotel dabei verbraten haben!“ Nun kann ich aber nicht mehr an mich halten, denn was ich da höre, läßt mir meine Schädelhaare zu Berge stehen, weil die Filmburschen ohne uns ehrliche Gau ner glatt aufgeschmissen wären und am Boden lägen. „Was aber machten die Leute nun, wenn es keine Gauner mehr gäbe? Dann könnten sie ja keine Filme mehr drehen?“ spreche ich mit fragendem Unterton. Darüber wollen sich meine Kameraden schier kaputt lachen, denn eine Welt ohne Gauner ist einfach nicht drin, wie sie bemerken, oder nur in östlichen Berei chen, wo aber dann auch keine Filmbosse mehr Geld scheffeln könnten und so arbeitsscheue Typen wie ich flott an die Schufterei getrieben würden! Da geht mir ein Licht auf. Nun weiß ich, daß es den Burschen ganz recht ist, wenn es uns Ganoven gibt. So können sie von ihren großen Gaunereien ablenken, indem sie uns kleine Säcke an den Pranger nageln. „Darum“, spreche ich, „schleudern sie also immer sol che Blitze gegen die östlichen Sphären!“ Nun werden die zwei geistlosen Kameraden fuchs teufelswild, weil ich die sogenannte Politik in dieses Fachgespräch einmischen will, und wir wenden uns wieder dem Filmschaffen zu. „Leider“, spricht mein Kumpel Pinkie, jener Mensch mit der satten Riech bombe, „siegt ja in solchen Gaunerfilmen immer das sogenannte Gute!“ – „Das heißt: die Großschnauzen 134
und Angeber!“ werfe ich sarkastisch ein, denn ich ken ne meinen Simon Templar und andere Ehrenmänner seiner Preislage. Nun wird Flaschenteufelchen sehr traurig, denn er hat schon wieder einen Spaßmacher zuviel genossen. „Herrgott, Kumpels und Zeitgenos sen, gibt es denn auf dieser Welt nicht noch etwas richtig Gutes?“ fragt er uns. Da suchen wir schweigend nach einer Antwort auf diese philosophische Frage. In dieses Schweigen hinein rauscht ein parfümduf tender Knödelwilson in nagelneuer Schale mit einer furchtbaren Hawaiikrawatte und einer aufgedonnerten Puppe durch Willys Drehtür. Er wirft einen angeberi schen Blick in die Runde und spricht, als er uns er blickt, mit süßer Stimme und in geschwollenen Tönen zu seinem aufgedonnerten Zahn: „Momank Mal, Bee bie, üch muß düsen Ganoven noch ätvas unterbraiten. Pardonk, maine Sieße, büs gleiech!“ Hierauf tritt der buntseidene Analphabet mit großspurigem Gehabe auf uns zu und knödelt Flaschenteufelchen zynisch an: „Üch wollte Ühnen nur kundtun, Daniel Openshaw, Sir, daß üch nun doch schon sait ainügen Tagen ainen Rolls Royce besütze und daß därsälbe noch nücht ka puttgegangen üst und auch nücht kaputtgöhen würd, ühr dämlichen Rüben!“ Hierauf pfeift dieser Wilson auf zwei Fingern, und sofort kommt eine behende Apfel blüte namens O’Rourke in Chauffeurslivree durch die Drehtür gerast und nimmt schmeichlerisch vor Wilson Aufstellung. „Wann üch oich noch mainen Schuhför vorställen dürfte!“ spricht Knödelwilson grinsend. „So, nun züsch wüder ab, O’Rörk!“ spricht er hierauf.
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„Jawohl, Mister Wilson!“ japst der bemitleidenswerte O’Rourke mit rotem Keks und verschwindet. Eine La kaienseele! Wilson lüftet seinen dämlichen Hut, nickt Willy leut selig zu, faßt das Patschhändchen seiner aufgedonner ten Puppe und schiebt pfeifend durch die Drehtür ab, diese Nulpe. „Der hat nur noch Hefeteig in der Birne! Der denkt, er gehört jetzt zur Elite der Gesellschaft!“ spricht mein Kumpel Pinkie. „Diesen verhunzten Richard III. wird“, werfe ich sar kastisch ein, „demnächst irgendein Bulle am Wickel kriegen, und dann wandert er zur Tütenkleberkur, das spüre ich im kleinen Zeh!“ Flaschenteufelchen scheint das alles gar nicht mehr richtig mitbekommen zu haben, denn er fragt mit staunenden Säuglingsaugen: „Seit wann ist denn Ka merad Thorneycroft O’Rourke Gepäckträger?“ „Dieser Wilson hat sich gemausert, was?“ ruft Willy den müden Ehrenmännern in seiner Kneipe zu. Und diese armen Blüten nicken allesamt mit den hohlen Birnen, als hätten sie eben das heilige Wunder des Ma lachias oder eine ähnliche überirdische Gaunerei er lebt. Arme Ehrenmänner! Wenn bloß einmal etwas an deres als Geld auf diese Burschen Eindruck machen wollte! Man kommt sich ja schon wie ein Prediger in der Wüste vor!
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XI
Unser Kamerad und Mitstreiter Daniel Openshaw, der Venezianer, auch Flaschenteufelchen genannt, besitzt eine wertvolle Eigenschaft: Diese besteht darin, daß der alte Halunke der beste Schmieresteher von Upmin ster bis Hounslow West ist! Vom rein wissenschaftli chen Standpunkt aus ist diese sogenannte Naturbega bung Flaschenteufelchens sehr einfach zur Definition zu bringen. Das setzte uns einmal der alte Doktor Blackwater, der in Cambridge war und jetzt wie ein Loch säuft, auseinander. Die Begabung von Openshaw, Daniel, hat nämlich mit dem Geruchserker von Fla schenteufelchen zu tun, also mit seinen ehrlichen Na senschleimhäuten, denn dieser Ehrenmann erschnup pert die Bullen mit bloßem Auge, wenn sie noch eine Meile entfernt sind. Sozusagen kann er mit seinem Riecher um die Ecke gucken wie ein U-Boot! Wie der Eingeweihte wissen wird, erfuhr Flaschen teufelchen vor vielen Jahren aus irgendwelchen obsku ren Bauernkalendern und Bildungskladden, daß auf unserem werten Planeten Erde nur 0,8 Prozent Süß wasser existieren. Die reine Seele Openshaw hat sich das so zu Herzen genommen, daß er sich seitdem nur noch alkoholische Ingredienzien einverleibt, also säuft, denn er ist ein Idealist und möchte das Süßwasser die ser Erde schonen. Und das ist auch der Grund, warum er die Polypen erschnuppert. Wie bekannt, werden ja die Uniformen der ehrenwerten Ordnungshüter hin und wieder gereinigt mit irgendeinem chemischen Zeug, denn für die Bullen ist immer Zaster da. Und wenn sich der Geruch auch mit den goldenen Tagen wieder in Ozon verflüchtigt, erklärt uns Doktor Blackwater, die 137
alte Schnapsnase, so bleiben doch sogenannte Ge ruchspartikelchen von dem chemischen Zeug immer in den Uniformen drin. Und hier setzt das Phänomen Fla schenteufelchens zum Flug in die höheren Sphären an! Weil dieses chemische Zeug nämlich alkoholhaltig ist, spricht Doktor Blackwater, darum muß Flaschenteufel chen als Gewaltsäufer die Bullen einfach riechen! Er, Doktor Gregory Blackwater, offenbart uns Doktor Blackwater, riecht sie natürlich auch, die Bullen, aber er kann es nicht verwerten, denn er ist kein Ganove, sondern nur ein haltloser, verirrter Intellektueller aus sehr guter Familie, welchselbige ihm den Buckel hin terrutschen kann, aber kräftig und kreuzweise, jawohl! Diese wertvolle Begabung von Flaschenteufelchen Openshaw scheint aber gar keinen Eindruck auf jene schrägen Visagen zu machen, die wir leider in Augen schein nehmen müssen, als wir in früher Morgenstun de bei Kelly & Wibbs antanzen. Im Wartezimmer der Master Bulldog Filmgesellschaft drängt sich ein bunter Haufen halbseidener Ganoven, die uns mit scheelen Blicken betrachten. Dieser krummen Garnitur aus dem Menschengeschlecht ist ja ein Regenwurm in der Hand lieber als ein Mastochse auf dem Dach! Und diesen schlagenden Fakt plant mein alter, guter Kumpel Pin key, Archie, sofort in jenen allerwertesten Abwerbe plan ein, welcher ihm soeben in den Sinn gekommen sein muß. Schon läßt er sich vernehmen: „Hallo, Lieb linge, wir kommen gerade drei Jungens hoch aus Wil lys edler Kaschemme, wo emsig Freibier ausgeschenkt wird, weil Klein-Willy einen mächtigen Batzen Kies beim Pferderennen eingebracht hat, dieser Beneidens werte!“ Hierauf verzieht sich die Hauptmasse der an wesenden Geistesriesen mit hastigem Schritt hinaus in 138
die städtische Natur, denn Willys „Porterschwemme“ ist in knapp zwanzig Minuten zu erreichen, und einige kostenlose Biere versprechen sanfte Vormittagsstun den und keine öde Stellensucherei. Bei der springt ja doch nur Schufterei heraus! Zurück bleiben wir und ein dünner Bursche namens Knopfnase, auch Paul Marger ly genannt, mit seinem Bruder, dem Zitterer. „Das war ein Schlag ins Kontor! Jetzt wird sich unser werter Freund Willy aber freuen!“ spreche ich nach denklich zu meinem herrlichen Leidensgefährten Pin kie, dem großnasigen Glückskind. Derselbe nickt nur geistvoll mit dem Haupt und spricht zu Flaschenteufel chen mit einem schrägen Blick in Richtung der klugen Brüder Margerly: „Hoffentlich, Freund Daniel Opens haw, schenkt der alte, gute Willy nicht jetzt schon je dem der in seiner Kneipe anwesenden Gentlemen ein Pfund Sterling, wie er es vorhatte, denn dann fürchte ich, daß wir nicht mehr pünktlich erscheinen und der Pinnunse verlustig gehen, olala!“ Flaschenteufelchen, der sonst nur von Venedig Träumende, ist sofort klaren Geistes und ruft: „Ich hoffe dies aber ganz und gar nicht, Freund Pinkey! – Warum überhaupt hast du allen Pferdeköpfen verra ten, daß er Freibier ausschenkt?“ Hierauf reißen die anwesenden Gebrüder Margerly die doofen Blauaugen sperrangelweit auf, rümpfen gie rig die Knopfnasen und machen sich spornstreichs auf die Socken. Dies war eine Meisterleistung meines Zimmergenossen Pinkie, mit welchem ich schon viele Jahre das süße Lager der Freuden und das tränennas se Brot der Armut teile, von den anklägerischen Reden der Postbeamtenwitwe Rucastle, Miriam, ganz zu schweigen. 139
Nun werfen wir uns äußerst erheitert Glimmstengel unter die Nase und warten auf die Ereignisse, welche da auf uns zukommen sollen. Zuerst kommt kein Er eignis, sondern ein bebrillter Superzahn und ruft: „Heu!“ Damit meint sie nicht jenes getrocknete Gras, welches die eben von uns irregeleiteten Schafe in den Birnen haben müssen, sondern es ist ein Ausruf des Erstaunens und der Überraschung. „Heu!“ ruft sie, weil die eben noch anwesenden Gentlemen, wie sie spricht, nicht mehr anwesend sind. „Ihnen ist irgendwelches saure Freibier, das in einer miesen Kaschemme ausgeschenkt wird, wichtiger als ehrliche Männerarbeit!“ spricht mein Kamerad Pinkie und zaubert sich ein äußerst abstoßendes Lächeln in sein zwar ehrenwertes, aber unschönes Antlitz. Nun, diese platinblonde Tippmamsell scheint an Ge schmacksverirrung zu leiden oder ansehnliche Riecher zu verehren, jedenfalls erwidert sie dieses abstoßende Lächeln so süß, als ob sie eben von einer männlichen Mona Lisa angestrahlt worden sei. Hierauf erklären wir der Puppe unser Anliegen, und sie schwenkt ihr prachtvolles Gewölbe wieder davon, um uns anzumel den. „Ich wittre Morgenluft!“ ruft Freund Flaschenteufei chen, was ja hier völlig unangebracht ist. Er erntet von meinem Freund Pinkie auch sofort einen liebevollen Knuff in die aufgeschwemmte Magengrube und ist erst einmal keines weiteren Menschenwortes fähig. „Wenn jemand hier Sätze formuliert und quasselt, dann bin ich das!“ faucht Kumpel Pinkie, der Nasenbär, und ich muß ihm recht geben, denn auf diplomatische Winkel züge versteht er sich auffallend. Ein Schaumspritzer der Freiheit ist in Sicht, ehrliche Arbeit für drei ange 140
nehme Ehrenmänner, da darf sich Flaschenteufelchen nicht dem Luxus einer eigenen Meinung hingeben! „Und dein feuchtes Venezia läßt du auch aus dem Spiel, sonst sind deine Augen morgen so blau wie La gunen oder Vergißmeinnicht!“ warnt ihn mein erregter Kumpel Pinkey, Archibald, und ich verstehe ihn, denn endlich einmal liegt kein krummes Ding vor uns, end lich einmal steht nicht der Bau hinter unseren Hoff nungen, sondern es ist die Master Bulldog Filmproduk tion, ansässig in Soho, von zwei ehrenwerten Herren namens Kelly & Wibbs geleitet. Vom Bau haben wir genug! Vom Bau und seinen idyllischen Wohngemä chern und den schrägen Ganoven in der Küche, die dich übers Ohr hauen, wo sie nur können! Öde Speise, öder Trank! Im Frühstückskaffee konnte man sich nicht einmal die werten Rennsemmeln waschen. Da bekam man die Maul- und Klauenseuche, bevor man die Socken wieder angezogen hatte! Teufel! Teufel! Diesmal soll das vermieden werden! „Keine wertlosen Fisimatenten!“ raunt mein taktischer Kumpel Pinkie, als die Tür geöffnet wird und die platinblonde Puppe mit süßer Modulation „Bütteh!“ spricht. Wir treten ins Allerheiligste von Kelly und Wibbs, und der Herr Aufnahmeleiter Callingham stellt sich uns vor, denn der ehrenwerte Mister Kelly liegt noch auf den Eiderdaunen in der heimischen Villa, und der seli ge Mister Wibbs weilt schon zwölf Jahre lang unter der grünen Rasenbank. Außerdem sitzt da noch in einem Ledersessel ein aufgeblasener, harmlos aussehender Bursche mit einer dicken Brille im Angesicht, der seine Beißer vorzeigt und uns mit Argusaugen durchbohrt. Es ist der Regisseur des Streifens, wie wir vernehmen, ein gewisser Dr. Huxtable, Arthur des Vornamens. Er 141
guckt zwar wie ein unbeschriebenes Blatt in die Welt hinein, aber „Stille Wasser sind tief!“ denke ich mir in meinem Sinn. Und ich habe recht damit, denn dieser Bursche nimmt uns mit recht hinterlistigen und gemei nen Fragen aufs Korn und in die Mache. Sozusagen knetet er uns aus, bis der Schweiß von der Stirne perlt! Unterstützt wird er dabei von seinem sogenann ten Regieassistenten, einem blöde aussehenden Jüng ling namens Willy Slicking. Der ist ein quasselseliges Ringelschwänzchen mit Schnurrbart und nuckelt dau ernd an einer Cocaflasche herum. Mister Callingham, der Aufnahmeleiter, hat nichts zu sagen. Er sitzt nur angeberisch dabei und qualmt wie ein Komposthaufen große, dicke Zigarren. Es ist nicht leicht, die verwöhn ten Herren von unseren Qualitäten zu überzeugen. Sie drehen ihre Näpfe heraus und mustern vor allem im mer wieder Flaschenteufelchens werte Visage mit trü ben Blicken. Er scheint ihnen kein rechtes Vertrauen einzuflößen, obwohl er sich extra die Beißer gewienert hat. Ich will hier kein böses Wort über das edle Antlitz eines Ehrenmannes und Kollegen verlieren, aber Fla schenteufelchen sehen und seine Kohlen festhalten, das ist eigentlich immer eins für den Mann von Welt! Darum hat er wohl auch als Ganove kein Glück, denn die Mitmenschen erkennen sofort seine dunklen Ab sichten. Es ist mir heute noch ein Rätsel, daß sie diese Existenz nach Venedig hineingelassen haben, denn so ein Typ wertet wohl schon durch seine bloße Gegen wart die schönsten Antiquitäten ab, schätze ich. Zur Zeit seines Aufenthaltes in dieser antiquarischen Stadt hat sicherlich eine Besucherflaute geherrscht! Ich ver stehe das Mißtrauen der bei Kelly & Wibbs anwesenden Kulturknacker recht gut. Mein neuer Kammgarnanzug 142
und Pinkies charmantes Gesprächsorgan sowie das permanente Begeisterungsgewinsel, welches die pla tinblonde Schnecke über jede Bemerkung Pinkies von sich gibt, scheinen aber dann doch den Ausschlag zu geben. Wir bekommen wahr und wahrhaftig einen richtigen Vertrag als technische Berater für den Film „Gold und Dynamit“, welche der würdige Brillenträger Dr. Huxtable, Arthur, mit Hilfe seines blöde blickenden Assistenten zum Wohle der Firma Kelly & Wibbs wie auch der übrigen Menschheit anfertigen will. Die einzigen Worte, die der aufmerksam grienende Daniel Openshaw, auch Flaschenteufelchen genannt, während der ganzen Verhandlung von sich gibt, bilden den Satz: „Ich schätze, dieses wird eines der großar tigsten Kunstwerke der nächsten Zukunft werden!“ Dieser Naive im Geiste bringt diesen Satz so ehrlich und treuherzig von der ausgefransten Zunge, daß er sogar von meinem alten Leidensgefährten und Mites ser Pinkey einen anerkennenden Blick erntet. Und der ist ein arg abgebrühter Hund! Selbst die verwässerten Augen des Regieassistenten Slicking werden für Se kundenbruchteile von einem verstandesmäßigen Auf blitzen veredelt! Fast gehen wir aber noch mit unserem schönen Ver trag baden, denn die von uns taktischerweise zu Willys „Porterschwemme“ umgeleitete Idiotenkolonne kehrt wüst fluchend zurück und will uns zur Rede stellen, die Visagen bohnern und überhaupt ungesetzliche Dinge an uns begehen. Dazu kommen die Burschen aber nicht. Glücklicherweise, kann man nur sagen. In Soho hat eben selbst eine seriöse Firma wie Kelly & Wibbs einige kräftige Burschen mit eingeschlagenen Nasen beinen auf Lager und in petto. Jene Jungens jagen 143
auch die abgebrühtesten Ganoven und Langfinger mit ihrer erschreckenden Schulterbreite und den vermurk sten Ohren in Schrecken, das heißt: Sie bringen sie zur Räson und treiben sie zurück in die Natur! Vor sichtshalber lassen wir uns aber nach der Vertreibung der Gekränkten von der schmachtenden Verehrerin Klein-Pinkies den Hinterausgang zeigen. Höflich verab schiedet sich die unvoreingenommene Goldelse von Flaschenteufelchen und mir. Schweifwedelnd verab schiedet sie sich von Pinkie, meinem Uraltkumpel, der, was mir ein Rätsel auf ewig bleiben wird, trotz seines unwahrscheinlichen Riechers einen Stein im Brett die ser Puppe zu haben scheint, denn sie hat, nach ihrem ganzen Benehmen zu urteilen, einen mächtigen Affen an ihm gefressen! Als geachtete Mitglieder der britischen Völkerfamilie pilgern wir nun zur Untergrundbahnstation, um nach Paddington zu gondeln, denn in Willys Bums können wir uns erst einmal nicht mehr blicken lassen, was je der vernünftige Mitbürger begreifen wird. Ein Arbeits vertrag befindet sich in unseren Taschen, der einem jeden verrät, daß wir eine Facharbeit ausüben, die uns mit den Gesetzen unseres teuren Imperiums nicht in Konflikt bringen wird. So sorgt die Filmwirtschaft, wel che wir schoflen Lumpen noch vor kurzem beschimpft haben, für uns durch Schicksalsschläge und andere harte Herzenssachen etwas aus der Bahn geworfene Jungens! Flaschenteufelchen will sich gar nicht beruhigen. Er möchte dauernd den Hut vor sich und uns ziehen und phantasiert heftig von seinem Lagunenhimmel Vene zia, obwohl unser Filmkunstwerk dieses Thema gar nicht zum Inhalt hat. Wir beruhigen ihn mit einigen 144
barschen, aber herzlichen Worten, und nun will er das freudige Ereignis unbedingt mit einem charmanten Tropfen beknattern, das heißt begießen. Und Wunder über Wunder: Archibald Pinkey, Kumpel in Leid und Freud, jener sparsame Kamerad und Nasenmensch, mit dem ich einst den Müll von Liverpool nach der blauen Blume – oder war es die goldene Gans? – durchwühlte, Archibald oder Archie Pinkey, diese er freuliche Eßkastanie, spricht mit verquollener Glücks stimme: „Zeitgenossen, ich persönlich werde euch heute zur Feier des Tages einige Wermut in Vittorios Kneipe spendieren!“ Da müssen sich Flaschenteufel chen und meine Persönlichkeit erst einmal setzen, so schwach wird uns in den Kniekehlen!
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XII
Der ehrenwerte Dr. Huxtable, Arthur, Regisseur und Drehbuchautor des immensen Kunstwerkes „Gold und Dynamit“, und sein genialer Regieassistent Willy Slik king, der dauernd Coca Cola in sich hineinfüllt und aus diesem unscheinbaren Grunde wie auch wegen seiner schwachen Blase Stammgast auf einem gewissen Ört chen ist, diese zwei Geistesriesen, Intelligenzbestien, Kulturberserker und Filmkoryphäen haben uns vor ei nigen Tagen in einer stillen Stunde den geistigen In halt des Drehbuches von „Gold und Dynamit“ unter breitet. Flaschenteufelchen war völlig weg. Er war hin gerissen! Es muß eben nur einer seine Meinung selbst bewußt darlegen und seine Sätze wie Aussprüche von Einstein klingen lassen: Wenn er den größten Quatsch wie eine große Wahrheit verkündet, dann findet er immer einige Idioten, die ihm als Jünger folgen! Die sogenannte Quintessenz der Handlung ist eine geistlose Mischung der bekannten Pulververschwörung von 1605 und des berühmten Einbruches in die Bank von England, welche im Jahre des Herrn 1902 vor sich ging. Bekanntlich wollte ja Guy Fawkes im schönen Herbst des Jahres 1605, es war genau der fünfte No vember und arges Dreckwetter, das englische Parla ment in die Luft jagen. Weil er aber geschnappt wurde, kam es nicht zu diesem lauten Ereignis. Leider aber wurde es einige Jahrhundert später dem Dr. Huxtable, Arthur, hinterbracht und assoziierte ihm die geniale Idee für ein Filmkunstwerk neuen Typus, also jenen abgeklatschten Einfall namens „Gold und Dynamit“. Der hochbegabte Dr. Huxtable dachte sich, daß eine mißlungene Parlamentssprengung noch kein schlagen 146
der Beweis für das Mißlingen solcher Absichten über haupt sei. Und dann dachte er weiter, immer weiter, und so verfitzte er sich schließlich so in seinen Gedan ken, daß er nicht nur auf keinen grünen Zweig damit kam, sondern fast im Irrenhaus gelandet wäre, denn es mußte eine neue Filmidee her! Nun gibt es aber glücklicherweise noch dieses andere Ereignis in der englischen Geschichte, welches dem Arthur Huxtable im letzten Augenblick, also zirka fünf Minuten vor der Klapsmühle, zugetragen wurde. Sicherlich von diesem blasenschwachen Jüngling Slicking, der respektablen Leuchte aller Wissenschaften. Und dieses Ereignis ret tete Arthur Huxtable vor der Klapsmühle und brachte ihn auf den richtigen Weg! Da hatten sich doch im Jah re 1902 einige irische Gentlemen und Freiheitskämpfer extra aus den glorreichen Staaten von Nordamerika einen erstklassigen Tresorknacker nach London kom men lassen und diesen für schweres Moos angeheuert, denn man hatte die Absicht, unsere schöne Bank von England auszurauben und auf diese Art einen Berg Kies für den Freiheitskampf zu erwerben. Damals nun schlossen die Banken nicht nur sonn tags, sondern auch der Montag war frei. So benutzten die klugen Burschen das freie Wochenende dazu, um durch die sogenannten Abwässerkanäle zu einem un terirdischen Fluß zu gelangen, welcher justament unter den Goldgewölben der Bank von England dahinströmte und keiner Seele sonst bekannt war. Von dort aus stießen sie dann durch einen senkrechten Schacht in den Tresorraum der Bank vor, wo ja damals die herrli chen Goldbarren haufenweise lagerten. Ob die Gold barren heute noch vorhanden sind, weiß ich nicht, aber im Jahre 1902 lagen sie in Massen dort unten, 147
und die freiheitsdurstigen Ehrenmänner fingen schon an, emsig abzusahnen und die Barren nach oben zu transportieren und sich die wasserblasenbedeckten Patschhände zu reiben, weil es eine Riesenabsahne zu werden versprach. Aber wie das so ist: „Der Mensch denkt, und Gott lenkt!“ Das Capitol wurde durch ganz ordinäre Gänse gerettet, und die Bank von England durch miese Ratten! Durch das mächtige Gewuchte nämlich, durch das Prusten der Wühler und durch das Stöhnen, welches erklang, wenn sich einer etwas auf die Latschen fallen ließ; durch die ungewohnte Völkerwanderung über haupt wurden die dort unten ansässigen Ratten äu ßerst unruhig und nervös. „Verdammt noch mal, was ist denn hier los? Jahrhundertelang ist es mucksmäu schenstill hier unten, und auf einmal gibt es so einen dämlichen Krach, da muß doch etwas faul sein im Staate Dänemark!“ dachten sich die Ratten vielleicht. Jedenfalls begannen sie durch die Kellergewölbe zu trippeln, was dann schließlich im letzten Augenblick von einigen dieser müden Tränen der Wachmannschaft bemerkt wurde. Und diese begannen nun emsig, nach den Ursachen des Rattenausflugs zu suchen. Und so flog die Sache auf! In letzter Sekunde, wie man so sagt, wurden die irischen Gentlemen und ihr amerika nischer Bankfachmann geschnappt und vor den bösen Kadi geschleppt. Nun sagte sich der erlöste Arthur Huxtable, Doktor der Rechte, Ganovenfilmgenie, Großraumregisseur und Geisteswumme, daß ein Ausrauben der Bank von Eng land zwar gut sei, sehr gut sogar und ausgezeichnet, daß aber ein Gauner modernen Formats die Sache großzügiger, überraschender und schwungvoller lösen 148
müsse, also mit mehr Krach, denn Arthur Huxtable hatte ja den Bombenkerl Guy Fawkes und dessen Pul ververschwörung noch immer im Rücken. Und plötzlich hatte Huxtable, Arthur des Vornamens, seine Filmidee in der Tasche: Oben die Bank von England in die Luft jagen und unten im entstehenden Tohuwabohu die Tresorräume ausrauben! Das war die Superschaffe! An dieser Stelle wird sich der Laie vielleicht an den Kopf fassen und stöhnend fragen: „Warum macht denn die ser Huxtable diese irrsinnigen Umwege, wenn er nur eine Fliege mit zwei Klappen schlagen will? Kommt auf diese Idiotenidee nicht jedes Kind?“ Nun, ich muß ge stehen, daß ich diese Frage nicht beantworten kann und will. Da muß der verehrte Herr Laie schon den Fachmann Dr. Huxtable persönlich fragen! „Es macht sich immer gut, wenn etwas Großes in die Luft fliegt!“ sprach Dr. Huxtable am Ende seiner Erklä rungen, und Willy Slicking nickte gierig. Diese Filmbur schen hatten ja einen mächtigen Fimmel, olala! Was aber uns Ehrenmänner anging, so lauschten wir mit offenen Mäulern, was man vor allem von Sir Flaschen teufelchens schönem Maul sagen muß. Arthur Huxtable hatte sich eine Menge Fachleute des Sprengsektors engagiert, denn die Bank sollte ja exakt in die Luft fliegen, weil ihr Aufbau auf dem Filmgelände ein Heidengeld kosten würde. Flöge die Bank launen haft wie ein bunter Schmetterling in die Luft, könnten die als Feuerwehrleute verkleideten Ganoven während der Filmhandlung natürlich nicht in die Tresorräume vordringen, das ist klar wie Frühlingssuppe! In den Tresorräumen mit ihren mächtigen Gittervorhängen und Sicherheitsvorrichtungen wird Dr. Huxtable, Ar thur, dann unsere Facherfahrung benötigen, denn 149
schließlich mußten ja die Filmgauner fachmännisch zu den Goldlagerstätten vordringen. Jetzt studieren wir schon tagelang eine Menge Pläne von den Kellerge wölben der Bank und stehen bei den Dreharbeiten un seren Fachmann mit Ratschlägen und anderen diver sen Geistesblitzen, wofür ein jeder von uns in jeder Woche siebzehn Pfund kassieren darf, was kein Ver mögen ist, wie es die Sterntaler sind, aber ehrbar ver dient wird und nicht vom Himmel fällt. Morgens bringt uns stets ein Kleinbus der Masters Bulldog zum Filmgelände. Zwei Stunden Fahrt hinaus in die herbstlichen Auen, wo der Ginster grünt und die Blätter purzeln. Leider sind wir sehr oft wie gerädert von den immensen Strapazen, denn es ist nicht ein fach, ein Filmmensch zu sein und den sogenannten weiblichen Stars Aug in Aug gegenüberzustehen! Un sereiner ist eine miese Pferdewurst vor diesen hehren Göttinnen mit der gesalbten Haut! Da ist nichts mit Fleischeslust, denn die Götter, die begehrt man nicht, und außerdem paßt eine Menge undefinierbarer Säcke auf sie auf, daß ihnen kein Härchen gekrümmt wird. Ansonsten sind sie natürlich völlig normal gebaute Glucken. Miss Lucy Parr brauchte einen Vergleich mit ihnen nicht zu scheuen. Im Augenblick jedenfalls noch nicht, denn mit der Zeit wird sie wohl durch ihren Ab teilungsleiter schnell in einen altbackenen Zustand ge raten und Runzeln bekommen! Außerdem ist sie keine Miss mehr, sondern eine Ehegemahlin dieses stoßzäh nigen Ungeheuers, und unsereiner muß für das tägli che Brot schuften wie ein Wasserbüffel. Mein alter Kumpel und Schlafgenosse Pinkey, Ar chie, Mitstreiter in sauren und süßen Wochen – eine mächtige Gurke hat der Mann! –, wirkt unheimlich ver 150
fallen, so klein kommt er sich bis auf die Nase vor. Zu dem nimmt uns die permanente geistige Arbeit außer ordentlich mit. Bis auf Flaschenteufelchen, denn mit diesem Burschen haben wir die Katze im Sack gekauft, schätze ich, weil sich derselbe hier als Murmeltier eta bliert hat. Zu jeder Gelegenheit versinkt er doch in Schlummer und gibt sich dem Pennen hin. Uns aber überläßt er die Arbeit. Und das alles, weil er nicht mehr säuft, sondern auch ein Filmstar werden will wie Gary Cooper. Wegen der außerordentlichen Schräglage seiner Visage durfte er nämlich kürzlich für zwei Tage als Kleindarsteller in „Gold und Dynamit“ mitwirken. Nun glaubt dieser defekte Phantast, er wäre entdeckt und es sei nur noch eine Frage von Tagen, bis er seine Hauptrolle von fünfzigtausend Pfund bekommt! „Der Bursche ist eben im Momang leicht überge schnappt“, spricht der Mitgenießer meiner blaßblauen Tage, Archie Pinkey. Und ich antworte, daß die Träume des Openshaw, Daniel, verwehen werden wie Spreu im Wind, wenn dieser keusche Joseph und Vollidiot erst merkt, daß er im Mustopp lebt, diese utopistische Fla sche! Wenn man von den zuweilen traumhaften Fahrge stellen der in den Höhen lebenden Künstlerinnen ab sieht, fragt man sich ja manchmal sowieso, wofür sie das viele Moos eigentlich kriegen. Und nicht einmal so ein Fahrgestell hat unser schöner Kamerad Openshaw, ganz zu schweigen davon, daß er außerdem keine Puppe ist und eine mordshäßliche Visage sein eigen nennt, dieser verhunzte James Bond. Aber diesen Grö ßenwahn wird ihm das Leben, schätze ich, schon recht bald wieder aus den Lamellen prügeln. Von wegen auf der Ottomane lüsteln! Nun pennt er dauernd, und Willy 151
Slicking belästigt uns im Auftrage seines Chefs tagtäg lich und immer wieder mit ziemlich blödsinnigen Fra gen, indes draußen auf dem Gelände die filmische Bank von England in die Höhe wächst. Ihr Vorderteil wird naturgetreu dem Vorderteil der echten Bank von England nachgebaut. Außerdem wird da noch eine Menge Gerümpel verbraten, denn es soll ja eine Menge in die Luft fliegen. Der Kostenpunkt des Ganzen ist fünfzigtausend Pfund, was mir die Zornesröte ins Ge sicht treibt. Aber das kann sich die Master Bulldog un ter dem würdigen Herrn Kelly ja leisten, denn mit ih ren miesen Streifen macht diese Firma eine Menge Za ster und züchtet eine noch größere Menge Gauner und Idioten heran, weil die Kunst immer noch ihre Auswir kungen hat. Manche Geistesriesen bestreiten zwar, daß die Kunst bildend und erzieherisch ist, aber ich meine ja auch die Talmikunst, und die ist es, aber wie! Tagtäglich erkenne ich das schon an der ehrbaren Postbeamtenwitwe Rucastle, Miriam, die ganz be rauscht ist, daß wir beim Film tätig sind, und täglich Verbeugungen vor uns macht. Als ich noch ehrbar mein Taubenfutter verkaufte, hat sie mich immer wie eine halbgare Pellkartoffel behandelt. Das muß man sich einmal überlegen! Und die Witwe Rucastle besucht mit Vorliebe Kunstwerke der Art, wie sie von Kelly & Wibbs hergestellt werden! Unser Film muß ein traumhaftes Moos kosten, denn er soll ein traumhaftes beziehungsweise noch traum hafteres Moos einbringen. Aber was juckt das uns Eh renmänner? Flaschenteufelchen pflügt mit fremdem Kalbe, und wir sind die Leidtragenden. Es ist keine Ehrlichkeit mehr auf der Welt! Dieses käufliche Subjekt hat sogar sein holdes Venezia vergessen. Wenn er 152
nicht gerade pennt, quasselt er nur noch Worte wie KARRIERE, CHANCE, RUHM, BANKKONTO, SEXIE, LANDHAUS und so fort. „Diese fade Niete wird sich noch wundern wie Lots Weib. Zur Salzsäule wird er erstarren, wenn er merkt, daß sie auf ihn pfeifen!“ spricht mein Freund Pinkie, aber vor Flaschenteufelchen steht er trotz seines wir kungsvollen Riechers wie ein taubstummer Apostel da. Flaschenteufelchen träumt vom Olymp, auf dem er, Zeus Openshaw, einst sitzen wird, zur Linken Sofia Lo ren und zur Rechten Simon Templar, den Unverletzba ren. Der bemitleidenswerte Daniel war ja noch nie ein großer Denker, aber jetzt ist wohl alles kaputtgegan gen in seinem merkwürdigen Grips! Es lohnt sich je doch nicht, die Schale des Zorns über ihn auszugießen. Diesem großen, erhabenen Geist werden sie noch ins Bier spucken. Das steht fest wie das AMEN in der Kir che! Mein alter guter Zeitgenosse Pinkie – reicht ihm den Lorbeerkranz! – spricht hierzu: „Niemand ist so blind wie die, die nicht sehen wollen!“ Und dabei benötigen wir doch die Pfeife Openshaw für ein äußerst einbringendes Unternehmen, welches Pinkey, Archibald, ein vom Schicksal hin und her geris sener Nasenträger und Filmfachberater, in seiner er habenen Birne ausgebrütet hat. Leider, leider hatte uns die Härte des Alltags wieder einmal auf die ab schüssige Ebene getrieben, auf welcher zuweilen das goldene Kalb seine Bahn zieht, aber auch zuweilen die Basiliskeneier rollen! Müssen wir verarmten Prachtker le doch Tag für Tag erleben, wie jedem der haufenwei sen Stars und Direktoren an jedem Abend, den der Himmel werden, läßt in seiner unendlichen Güte, das Monatseinkommen eines Wasserwerkdirektors be 153
schieden wird. Diese Burschen schöpfen ja so etwas von Rahm ab, daß einem ganz klamm um die Seele wird! Schon aus sozialen Gründen können wir es nicht länger mit ansehen, wie man drei prächtige Fachleute unseres Formats mit siebzehn Pfund wöchentlich für eine unwahrscheinliche Schufterei kalt abserviert! Au ßerdem hat der werte Dr. Huxtable, Arthur, Regisseur und Menschenkenner, in letzter Zeit so eine gelungene Art von Schelmerei entwickelt, daß uns schon immer der kalte Kaffee hochkommt, wenn wir ihn von weitem erblicken. Er trägt da auf der ausgeleierten Zunge so charmante Sprüche wie: „Nicht das Filmgelände klau en, Jungens!“ oder „Hier ist es doch besser als im Kitt chen, was, ihr alten Gauner?“ oder „Bald ist der Film fertig, dann könnt ihr ja die richtige Bank von England ausräumen, Teufelskerle!“ – So ein Witzbold ist der taktvolle Dr. Huxtable! Nun, dieser Fakt würde uns un ter Kameraden kaum jucken, aber schließlich ist Dr. Huxtable kein Kamerad, und außerdem brüllt er seine tröstlichen Scherze immer so laut durch das Gelände, daß die anwesenden Schmerbauchspießer, Selbstbe trüger, Moralapöstelchen und Lügenbolde sofort ihre Lauscher flattern lassen und spitzbübisch kichern, die se selbstzufriedenen Trampel! Durch solche Fakten kommt man wohl oder übel in Verruf und möchte den werten Dr. Huxtable schon mal mit einigen gezielten Rechten in einen sanften Schlummer drücken, damit dieser Pfeifenheinrich und Seifensieder seine Schelme reien verschluckt und uns nicht in der menschlichen Gesellschaft diskriminiert, diese ausgepichte Napfsül ze! Wir garnieren ihm aber das Antlitz nicht mit Veil chen, sondern empfangen jede Woche seelenruhig un sere mickrigen Scheine, wobei wir intelligenterweise 154
den niveauvollen Geldschrank im Zahlraum studieren. In diesem herrlichen Speicher lagern vor allem an den Gehaltstagen hübsche Summen anmutiger Scheinchen für das Bürovolk und die künstlerische Infanterie, das heißt die Fußlatscher. Spürnase Pinkie, jener alte, gute Schlafkamerad und Lebemann, welcher einen netten Zinken besitzt, überschlägt bei der letzten Auszahlung einmal so ganz nonchalant in den Ganglien, daß dort am Zahltag an die zehntausend Pfund harter Währung lagern müssen. Und das ist schon eine Chance für drei mittellose Burschen, denen der Himmel bisher nur No vemberwetter beschert hat. Doch die größenwahnsin nige Träne Openshaw stemmt sich gegen Gedanken solcher Art, weil, wie er behauptet, ein Star seine Kar riere nicht in Mutters Kittchen beginnen kann! „Nun“, so spricht mein bester Freund Pinkie zu ihm, „nun stell dir doch einmal in deiner weichen Birne vor, du alter Fußabtreter, daß nicht jedes schiefe Ding schieflaufen muß und zehntausend Pfund kein schofler Pappenstiel sind, verdammt noch mal!“ Dieses bestrei tet Flaschenteufelchen auch nicht, aber er will sich sei ne Finger nicht wieder verbrennen, weil er genug hat von Brandwunden, und wir diskutierten vielleicht noch heute mit ihm über diesen Fakt und machten keine trüben Erfahrungen, wenn nicht eines schönen Tages Dr. Huxtable, Arthur, uns zur Vorführung eines schon fertiggedrehten Ausschnittes in den Schneideraum ge laden hätte. Hier nun aber geschieht das Entsetzliche, daß sich Flaschenteufelchen auf diesem Ausschnitt nicht wie derfand, wo er sich doch darauf wiederfinden mußte, weil dieser Ausschnitt seine zwei Drehtage und die Großaufnahme von ihm beinhaltete. Als Flaschenteu 155
felchen daraufhin den würdigen Dr. Huxtable zur Rede stellen wollte, entwich dieser mit fliegendem Schritt und verwies uns an Willy Slicking, den Coca-ColaWasserkopf! Ich muß gestehen, daß Kumpel Pinkie und meine Persönlichkeit natürlich sofort von einer schweren Enttäuschung übermannt wurden, denn ir gendwo sind wir doch auch stolz auf den Filmdarsteller Flaschenteufelchen gewesen. Immerhin hatte er eine Großaufnahme in diesem Film! Als wir den Superschelm Slicking aufgegabelt haben, erklärt dieser unserem Zeitgenossen Openshaw, daß der Werbechef der Master Bulldog beim erstmaligen Betrachten der entwickelten Streifen die sehr be stimmte Forderung geäußert habe, sofort die mit un serem Kumpel Flaschenteufelchen gedrehten Teile he rauszuschneiden, weil man sonst, wie uns der kleine Slicking kichernd mitteilte, vom Publikum der starken Übertreibung bezichtigt würde, denn so schlimm wie Daniel Openshaw dürfte heute nicht einmal der schlimmste Gauner aussehen, und wenn er so aussä he, dann dürfte man ihn dem Publikum nicht so vor stellen, denn das Publikum wolle keine „ausgemergel ten Jammergestalten mit altbackenen Gaunervisagen“, sondern „harte Männer mit dicken Muskeln und schö nen Zähnen“ sehen! Flaschenteufelchen möge nicht beleidigt sein, das seien reine Absatzfragen! Nach diesen Erklärungen verzieht sich Colafanatiker Slicking wieder einmal flink zu einem gewissen Ört chen. Flaschenteufelchen aber schaut ihm geplättet, geblendet, verbiestert, empört, entgeistert und wie vom Affen gebissen nach. Von diesem Tag an will er kein Wort mehr von Filmkunstwerken und ähnlichem Kulturzinnober vernehmen. Auf dem Gelände trägt er 156
stets Watte in seinen werten Ohren und eine dunkle Sonnenbrille vor dem gebildeten Auge. Dadurch wirkt er richtig interessant. Sein gequältes Herz aber brennt vor Rache, und uns kommt dieses Faktum sehr entge gen, denn Daniel Openshaw ist nun wieder zur Ver nichtung aller im britischen Weltreich gehorteten Alko holvorräte angetreten; er besitzt also wieder die Quali fikation zum Schmierestehen, der Goldjunge! Dieses darf man wohl ohne jede Übertreibung Glück nennen, weil es unserem Plan den nötigen dritten Mann be schert. Wir studieren also in unseren sogenannten Muße stunden immerfort den üppigen Zasterspeicher im Zahlraum. Es ist eine Stahltruhe des Systems Bell & Wringing 4711 – A 3, Jahrgang 64. Ein Schrank wie Big Ben! An diesem System von Monetenwiege hat sich sogar der begabteste Knacker unseres Weltreichs, der augenblicklich auf Staatskosten lebende Freddy Glatze alias Acker Memmbel, in Ehrenmännerkreisen wegen seines eigenartig geformten Riechers auch Earl von Kartoffel genannt, die Platinplomben ausgebissen. Aber wir drei, Pinkey, Openshaw und meine schlich te Figur namens Edward King, wir drei sind während der Filmarbeit tief in die Problematik der Tresorknak kerei eingedrungen. Besonders sind das natürlich Pin kie und ich, denn Openshaw hatte ja, wie wir wissen, seine große Krise, die jeder Mensch einmal hat. Unser Plan blüht lieblich wie die Trauerweide im hol den Lenz! Draußen auf dem Filmgelände geht indessen die fil mische Bank von England ihrer Vollendung entgegen. Bald sollen die fünfzigtausend Pfund in die Luft gejagt werden, weil die Filmgauner mit der normalen Tresor 157
knackerei auf keinen grünen Zweig kommen. Diese Luftfahrt wird ein großes Ereignis sein, wie es die Pres se schon tagelang ihren armen Lesern vorkaut, denn die Master Bulldog hat überall ihre Leute sitzen, wel che die Werbetrommel für sie rühren. Es wird sicher lich ein gewaltiger Drehtag werden, denn fast sämtli che Mitwirkende – bis auf Flaschenteufelchen, au Bak ke! – sind noch einmal für zehn Minuten aufgeboten, um die Sache auch recht spannend zu gestalten. Mein Kumpel Pinkie, der spritzige, spricht: „Es wird aussehen, als wollten sie das Telefonbuch verfilmen, olala!“ Wie wir erfahren haben, fällt der Tag der Bank sprengung genau auf den Gehaltstag. Dies nennt ein Ehrenmann von Rang, wenn er sich in unserer Situati on befindet, schlicht und menschlich Schwein, denn ein gewaltiges Volk von Kleindarstellern und Bürohok kern wird an diesem Tag vom Kiesregen beglückt wer den. Darauf bauen wir unseren Plan systematisch auf und gehen emsig ans Werk, wieder einmal die fetten Kapaune des Glücks vor uns und das Leid der Vielge wanderten im Rücken.
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XIII
Ihre Lordschaft Daniel Openshaw, auch Flaschenteu felchen genannt, weint! Große, dicke Menschentränen weint der Bursche in die Welt hinein. Vor Bitterkeit. Wegen der Schlechtigkeit der Zeitgenossen. Auch wir, das heißt Pinkie, mein Kumpel, und ich, Edward King, auch wir schmieden männlich unsere Plomben aufeinander, damit es nicht noch zu weiteren Tränenausbrüchen kommt. In den Schullesebüchern steht zwar immer, daß das sogenannte Schicksal ein Naturereignis ist, aber, wie wir heute wieder einmal merken müssen: Das ist es nicht! Es wird von schofler Ganovenhand gemacht! Flaschenteufelchen schluchzt wie ein mir bekanntes türkisches Freudenmädchen namens Susi Hukakolle, die immer Heimweh bekam, wenn man sich freundlich mit ihr unterhielt. Dann heulte sie eben! Jene schofle Menschenhand, welche unser Schicksal in graue Wolken hüllt, ist einem falschen Hund namens Knödelwilson zu eigen. Oh, dieser Dreckbatzen! Hat doch der patente Bursche Pinkie heute in früher Mor genstunde, als die ersten Wasserhähne krähten und der werte Herbsthimmel nasse Nachtwolken zum Trocknen aushing, von einem anderen patenten und uns bekannten Kumpel namens Karnickel Mc. Goy, Al fred, erfahren, daß dieser großspurige Braten Wilson von der Ordnungsmacht aufgebracht wurde wegen ei nes vor einiger Zeit ausgeführten Raubüberfalls auf einen Lohnboten der Firma Calborn & Hampel. Und so fort habe er den Mister Frank Carlton, Kraftfahrer der Firma Calborn & Hampel, der Mittäterschaft bezichtigt! Und außerdem habe er, wie Alfred Mc. Goy weiter von 159
einem mit ihm sympathisierenden Bullen erfahren ha ben soll, noch weitere Täternamen auf Lager, die er entweder bald ausspucken werde oder schon ausge spuckt habe. Sichergestellt wurden bei diesem skru pellosen Satan Wilson unter anderem ein lindgrüner Rolls Royce, welcher mit dem geraubten Geld ange kauft worden sei, und zirka zweitausendfünfhundert Pfund harter Währung! So hatte also, wie uns armen Schluckern jetzt lang sam aufging, gar nicht der Bullenbeißer Midgie den Za ster gefressen, sondern der geldbesessene Knödelwil son selbst hatte sich die fünftausend Pfund illegal un ter den Nagel gerissen, in die Weste geschoben, ans Chemisett geheftet. Dieser heimtückische Krachwedel! Was waren wir doch für totale Nieten, für Arme im Geiste! Stumm stehen wir drei traurigen Musketiere da. Wie perfekte Zieh-mich-an-füttere-mich-putz-mir-dieNase-Kinder! Und Karnickel Mc. Goy, unser armer Kumpel, bewegt sich schon auf flüchtiger Sohle ins In nere unseres Landes hinein. „Dieser Wilson wird auch uns flugs verpfeifen und in die Pfanne hauen, das sagt mir mein kleiner Finger!“ läßt sich mein erschütterter Zeitgenosse Pinkie ver nehmen. „Mach’s halblang, Pinkie“, spreche ich hierauf in tro stvoller Stimmlage. „Mach’s halblang, mein Kumpel von alters her, denn es wird nichts so heiß gegessen, wie es von diesem Subjekt namens Wilson gekocht wird!“ „Samuel Abbots, erinnert ihr euch noch an diesen Lumpen?“ schluchzt Openshaw Flaschenteufelchen.
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„Ja“, spricht unser Leidensgefährte Pinkie, „der war genau so eine miese Gurke wie dieser Halsabschneider Wilson!“ „Und nahm es ein schlechtes Ende mit diesem aus gepichten Halunken?“ fragt Flaschenteufelchen. „Es nahm“, antwortet mein Freund Pinkie, „denn Abbots wollte aus dem Bau ausbrechen, um seine Kumpels weiter übers Ohr zu hauen und ins Knie zu schießen!“ „Aber es ist ihm nicht gelungen, denn die Ord nungsmacht pflanzte ihm einige blaue Bohnen in die Wadenwolle“, spricht Flaschenteufelchen. „Worauf ihn eine Woche später eine Blutvergiftung dahinraffte!“ spricht mein Zeitgenosse Pinkie. „Aber nicht, weil er sich in die Zunge gebissen hat te“, werfe ich sarkastisch ein, „sondern weil er zu spät wieder eingehascht wurde und die Behandlung im Ge fängnisspital dann auch zu spät kam!“ „Und er konnte keinen Kumpel mehr übers Ohr hau en und keinem Kumpel mehr ins Knie schießen“, ruft Flaschenteufelchen. Und mein Kumpel Pinkie sagt: „Genauso wird es diesem Knödelwilson einmal erge hen, wenn dieses Stinktier so weitermacht!“ „Wir alle wissen noch“, sagt Flaschenteufelchen, der seinen Hahn endlich abgedreht hat, „was Hochwürden Garry Fowling am Grabe des dahingegangenen Samuel Abbots zum Troste der von diesem übers Ohr gehaue nen Kumpels sprach!“ „Ja“, sage ich hierauf, denn ich wußte es genau, weil ich auf dem Gefängnisfriedhof dabei war. „Er sagte: Wie er gelebt hat, wisset ihr. Wie er gestorben ist, weiß ich. Und wo er jetzt ist, weiß nur Gott!“
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Da atmen meine werten Kumpel leise auf, und es ist wieder etwas Trost in unseren tapferen Reihen. Und diesen Trost haben wir nötig, denn heute ist der große Tag, an welchem die filmische Bank von England in die Luft fliegen soll! „Unser Plan muß gelingen!“ spricht jener Gentleman Archie Pinkey, mit welchem ich schon vor vielen Jah ren die Granaten und die Stürme des Lebens sausen hörte. „Denn wenn uns Knödelwilson heute nicht ver pfiffen hat, dann verpfeift er uns morgen, wie ich die sen Lumpen kenne.“ Hierauf läßt sich Flaschenteufei chen vernehmen: „Und wenn uns die Bullen nicht we gen der Lohnfuhre am Wickel kriegen sollen, dann müssen wir nach diesem gelungenen Unternehmen flugs den Staub unseres Weltreiches von den Füßen schütteln und nach Venezia abrauschen!“ „Warum gerade Venezia, Openshaw?“ frage ich et was erregt, denn ich hatte an Nizza gedacht. „Warum gerade Venezia, du Nuß?“ brüllt mir dieser Openshaw sofort die Ohren voll. Aber an dieser Stelle unterbricht mein edler Jugend freund Pinkie, der nasenreiche, den hitzigen Diskurs, denn es wird langsam Zeit für unsere Arbeit! Nun, der Mensch in seiner profunden Unwissenheit hört nicht immer das Gras wachsen, und wir hörten es nicht. Der Teufel und seine Großmutter, welche die werten Namen Kelly und Wibbs im Schilde führen, wa ren schon in Aktion, aber wir harmlosen Schneeglöck chen ahnten es nicht! Wir läuteten den Lenz ein, doch der Winter näherte sich schon auf gemeinen Sohlen… Gestern haben wir uns aus der Innenstadt ein klei neres Personenkraftfahrzeug entliehen. Es parkte dort herrenlos. Diese Kiste haben wir zu unseren Gunsten 162
verändert. Heute steht dieser unscheinbare Straßen floh auf dem Studiogelände vor dem Gebäude Nummer zwei, in welchem sich unter anderem der besagte Zahlraum befindet. Draußen an der Drehstelle ähnelt das Filmgelände einem sogenannten Ameisenhaufen. Und weil es der Mensch in Form der bei Kelly & Wibbs angestellten Bü rohengste, Tippzähne, Dramaturgengenies und Kleinstbosse – sogar die Brüder Pförtner waren dabei! – nur selten erlebt, daß die Bank von England in die Luft fliegt, haben sich auch die im Gebäude Nummer zwei beschäftigten Berufssparten hinaus zur Spreng stelle begeben. Mit dieser Neugier haben wir gerech net, Leute! – Köpfchen? Auf leisen Kreppsohlen betreten wir mit einem Köf ferchen das Gebäude Nummer zwei. Menschenleer sind die Flure. Sogar der Auszahlungsraum ist leer. Nur eine vertrocknete Tipplerche döst an der Maschine vor sich hin und denkt an ihre fernliegende holde Ju gendzeit zurück. Was aber tun wir mit dieser? Nun, wenn man auf diesem Planeten drei Personen mit dem Namen Mensch belegen darf, dann sind dies Michelangelo, Christus und Pinkey, Archie! Darum ver setzt mein Kumpel Pinkie dieser Puppe nun nicht einen derben Knuff über das Haupt, wie das jeder anderwei tige Ganove ohne Umstände getan hätte, sondern er schleicht sich auf sanften Lammsohlen von hinten an die Puppe heran und verschnürt ihr mit Hilfe eines Schreibmaschinenfilzes und etwas Bindfaden die neu gierigen Blauaugen. Hierauf strampelt die Puppe na türlich mächtig vor sich hin mit ihren knochigen Knüp pelchen und kreischt furchtbar auf. Voller Zartgefühl verstopft ihr Pinkie mit einem Riesentaschentuch den 163
Rosenmund, welche Bezeichnung ein Scherz von mir ist. Sie reißt ihn ja weit genug auf! Pinkies Verhältnis zu weiblichen Schnecken auch nachlassender Schön heitsklasse ist selbst in Augenblicken höchster berufli cher Überbeanspruchung das eines Gentleman der al ten Schule! Zart, als sei sie ihre Omi, schleppen Pinkie und Flaschenteufelchen die dürre Puppe älteren Ge schlechts in das benachbarte Wasserklosett, wo sie sich auszappeln darf, nachdem ihr Flaschenteufelchen Beinchen und Ärmchen verschnürt hat. Dabei be kommt dieser arme Schlucker von der energischen Puppe einen mächtigen Absatzknuff auf die Nase. Nun, die Nase wird blau, was aber bei Flaschenteufelchen keine große Rolle spielt, denn sein sonstiger Körper war ebenfalls blau, wenn auch nicht durch den Absatz, sondern durch den Teufel Alkohol. Ich habe indessen das Kombinationsschloß des Za sterspeichers untersucht. Kumpel Openshaw zieht zum Schmierestehen vor die Tür, und Pinkie, der patente Könner in allen Lebenslagen, bohrt Löcher um das Schloß herum, was sehr schwierig ist, denn er muß die Zuhaltungen treffen. Aus diesem Grund zittert er wohl auch so gewaltig vor sich hin. Die Bohrmaschine macht einen ungeheuren Krach, und mir schlackern ebenfalls schon sämtliche Gliedmaßen von der nervlichen An spannung. Wegen seines Gezitters scheint Pinkie die Zuhaltungen nicht an den richtigen Stellen zu treffen. Er flucht intensiv vor sich hin und spricht zu mir: „Wir müssen das Schloß mit einer kleinen Ladung lockern!“ Ich hole sofort die winzige Flasche mit dem von Pin kie besorgten Sprengstoff aus dem Koffer, und Pinkie bringt die Ladung am Schloß an. Flugs ziehe ich eine
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Lunte zur Tür. „Es ist nur eine winzige Ladung“, spricht Pinkie. „Wir müssen sprengen, wenn sie draußen spren gen“, spreche ich. „Es wird ein Geräusch geben, als wenn eine Mücke hustet“, spricht Pinkie tröstend und zittert am ganzen Leibe wie das Birkenlaub im Maiwind. „Seid ihr endlich soweit, ihr Flaschen?“ ruft der ge niale Schmieresteher Openshaw zur Tür herein. „Drau ßen haben sie schon zweimal geblasen. Sie sprengen gleich!“ „Wir auch!“ ruft Pinkie, und wir ziehen uns zur Tür zurück. „Bis auf die Puppe im Wasserklosett wird kei ner unsere Sprengung erlauschen“, behauptet mein Kumpel Pinkie frohlockend, aber zähneklappernd. „Die Puppe auf der Brille hat mit Zappeln zu tun“, werfe ich humoristisch ein. „Wenn sie draußen gesprengt haben, muß es rasant gehen, denn dann strömen die Bürohengste bald zu rück“, stöhnt Pinkie. Draußen blasen sie jetzt zum dritten Mal auf der Warntrompete. Die Kameras werden schon laufen! Ich setze mit zitternder Hand die Lunte in Brand. „Es wird sein, als ob eine Mücke hustet“, wiederholt Zeitgenos se Pinkey. Die Lunte zischt vor sich hin. Gleich wird es husten! Wir nehmen Deckung. Flaschenteufelchen be kommt vor Erregung den Schluckauf. Das nun folgende Husten der Mücke will ich nur streifen, weil ich dabei ein Stück Ohr lassen muß, wel ches ich eigentlich noch benötige. Tröstlicherweise beißt sich jedoch Flaschenteufelchen in den Daumen, an welchem er vor Erregung nuckeln will. Aber die ebenfalls in die Luft fliegende Filmbank von England ist 165
trotzdem lauter als unser gewaltiges Mückenhusten und Flaschenteufelchens infernalisches Gebrüll eines alten Elefanten. Hierauf stoßen wir wegen des furchtbaren Qualms mit vorgehaltenen nassen Taschentüchern in den Zahl raum vor und erblicken mit lachenden Augen, wie die Tür des Systems Bell & Wringing 4711 – A3, Jahrgang 64, lustig in den Angeln baumelt inmitten eines arg verwüsteten Büros. Pinkie reißt schon vorsorglich un seren Koffer auf, denn gleich soll dieser mit Pfundno ten en masse gefüllt werden. Doch was erblicken un sere wunden Käsenäpfe? – Der verdammte Geldkasten ist leer! Er ist ratzekahl ausgeräumt! Nur ein an uns gerichtetes Briefchen befindet sich darin, und ich ent ziffere mit Hilfe des Lesens äußerst geschockt folgende entsetzliche Mitteilung, die ich hier wörtlich wiederho le: „Gentlemen! Wir wußten, daß Sie etwas vorhaben. Wir wußten nur nicht, wann, was und wie. Aus diesem Grunde haben wir das Geld vorsichtshalber ausgelagert. Wir übergehen Ihr kleines Kavaliersdelikt wegen der Arbeit, die Sie für uns gelei stet haben, mit Stillschweigen und zeich nen hochachtungsvoll Master Bulldog Filmproduktion Kelly & Wibbs“ Nun, wenn an dieser Stelle noch ein intakter Stuhl vorhanden gewesen wäre, dann hätte uns diese Eröff nung glatt von demselben gehauen. Die Stühle sind aber allesamt im Eimer! Dem Gehege unserer Beißer entfleuchen einige Flüche der ersten Güte. 166
„Nichts wie weg, ehe die Bullen anrollen!“ greint Openshaw, Daniel, mit gebrochener Stimme, und wir stürzen verzweifelt, blamiert, geschändet, verwirrt und wieder einmal von den Ganoven übers Ohr gehauen zu unserem Leihauto. Der Motor wimmert auf wie unsere ehrenwerten Seelen aufwimmern, als wir mit hundert Sachen abzischen, in die graue, graue Zukunft hinein. „Ich habe es geahnt: Etwas war faul im Staate Dä nemark“, jammert jener Kumpel, den ich seit zahlrei chen Monden Pinkie nenne. „Wir waren es nicht!“ spre che ich mit trauriger Stimme, und Freund Flaschenteu felchen schluchzt versoffene Melodien dazu. Als wir eine Stunde so auf Krücken gehend dahinge braust sind, vernehmen wir eine innerliche Stimme, welche uns kundtut, daß unsere Kehlen ungeheuer ausgetrocknet sind. Flaschenteufelchen vernimmt sie als erster. Er hat seine Wunden geleckt, sagt er, und nun will er einen Trostschluck, denn sein Kehlkopf ist eine Salzwüste, und seine Stimme verwelkt zuse hends. Wir halten an einer klapprigen Raststätte und gießen uns schweigend einige dunkle, dicke, stumpfsinnige, bittere, labberige, müde, geistlose Bier hinter die wun den Rippen auf unsere kochenden Seelen. Plötzlich öffnet sich die Tür, und Eitel-Willy Slicking, der unver drossene Regieassistent, betritt mit fröhlichem Antlitz das Etablissement. Wir wollen uns schon leise weinend durch die Hintertür verziehen, denn schließlich muß Jung-Willy ja schon Wind von der Sache bekommen haben. Dieser fatale Pfannkuchen grient uns jedoch wie ein satter Säugling an und spricht: „Hallo, werte Knaben, habt ihr denn nicht die Bank in die Luft zi schen sehen?“ 167
Wir atmen heftig auf, denn diese hirnlose Type be stellt sich unschuldig eine seiner geliebten Coca Colas. Dann tut er unseren aufgerissenen Lauschern kund, daß die Bank tadellos in die Luft geflogen ist nebst zwei Feuerwehrleuten und einem Aufnahmeleiter und daß dieser große Vorgang einschließlich der nicht so wichtigen künstlerischen Betätigungen der Stars und Statisten von zwei Kameraleuten auf jenen zwei kost baren Filmrollen verewigt wurde, welche jetzt draußen in seiner, Willy Slickings, Karre lägen, denn sie müßten schnell in die Kopieranstalt zum Entwickeln und Ver vielfältigen! Hierauf blickt mich mein alter Kumpel Pinkie äußerst durchdringend an, wobei mir etwas schwant, ich weiß nur nicht, was! Willy Slicking läuft unterdessen, was sein Quasseln angeht, aus wie ein kaputtes Faß. Er muß erst einmal seinen Bombenbrand löschen, spricht er, wo er doch nun fast vier Stunden geschuftet hat für die Unsterb lichkeit. Und dann wird er flugs seine kostbaren Film rollen ins Kopierwerk bringen, denn sie sind ein einma liges Vermögen wert. Und die Explosion hat sich, sagt er, bis auf das Studiogebäude Nummer zwei ausge wirkt. Er hat beim Abfahren gehört, sagt er, daß der Zahlraum zum Beispiel ein einziges Trümmerfeld ist und eine ältere Bürokraft Weinkrämpfe hat, was ihm aber ein Rätsel aufgibt bei der Entfernung! „Uns gibt dieses kein Rätsel auf!“ spricht der dämli che Openshaw da wiehernd. „Wie das?“ fragt Willy Slicking und zieht die dum men Augenbrauen hoch. Nun, mein Kumpel Pinkie versetzt dem leichtfertigen Openshaw, Daniel, unter dem Tisch einen kräftigen 168
Tritt mit seinen großen Füßen. „Au!“ brüllt Flaschen teufelchen. „Aus dem Grunde, weil ältere Bürokräfte oft am Wasser gebaut haben“, vollendet mein kluger Freund Pinkie Flaschenteufelchens „Au“ und spendiert dem doofen Willy Slicking eine Coca Cola, was mich sehr erstaunt. Willy nimmt dankbar einen großen Schluck. Kumpel Pinkie aber kneift sein linkes Auge zu und zahlt hastig unsere Zeche. Dies verwundert mich noch mehr. Nach einem zweiten Schluck verzieht sich Slicking – für uns nicht unerwartet! – mit seiner berühmten Blase an einen anderen Ort. „Los!“ faucht mein Kamerad Pinkey mit flackernder Pupille und treibt uns hinaus. Willenlos lassen wir uns treiben, denn Openshaw wie auch ich, wir sind so etwas von geplättet von Pinkies heutiger Freigebigkeit, daß wir alles für ihn tun wür den, und das ohne jede Frage! Das Weitere ist äußerst einfach, und wir begreifen es auch sofort! Wir entneh men Willy Slickings Karre die kostbaren Filmrollen und rauschen mit unserem Leihauto nach dem Stadtteil Islington, wo unser Mitstreiter Openshaw ein Zweit zimmerchen hintenraus besitzt, denn augenblicklich müssen wir uns wegen der dem Leser bekannten Vor fälle etwas von der Außenwelt abschirmen. In Flaschenteufelchens Geheimquartier verfassen wir nun ein Schreiben an die Firma Kelly & Wibbs, Ma ster Bulldog Filmproduktion, zu Händen des hochver ehrten Mister Kelly, Filmproduzent, in welchem wir be sagter Figur unterbreiten, daß wir zufällig an zwei wertvolle und ihm bekannte Filmrollen gelangt sind und dieselben für nur fünfzehntausend Pfund versil bern möchten, was ja bei den zur Herstellung dieser 169
Rollen aufgewendeten Kosten ein äußerst minimaler Preis sei. Im Falle eines Abweisens unseres kulanten Angebots, schreiben wir, sähen wir uns leider gezwun gen, die Filmrollen in Flammen aufgehen zu lassen, was ja nun wiederum den teuren Wiederaufbau der filmischen Bank von England und viele andere Kosten nach sich ziehen würde. Dieses prachtvolle Schreiben senden wir unter Angabe einer Deckadresse und ver schiedener organisatorischer Einzelheiten an die Firma Kelly & Wibbs. Und dann warten wir und warten und warten, ich Edward King, der Leidgeprüfte, Daniel Openshaw, auch Flaschenteufelchen genannt, ein durch persönliche Un beherrschtheit und verschiedene Schicksalsschläge auf den alkoholischen Hund gekommener Gentleman, und mein guter alter Zeitgenosse, Kumpel und Maulheld Archie Pinkey, kurz und schmerzlos Pinkie genannt, jener großnasige Kumpel, mit dem ich schon manches liebe Mal versuchte, an ein ehrliches Bankkonto zu kommen, weil wir uns damals in jener süßen Jugend zeit an den Mülltonnen Liverpools unsere Mägen und manches andere verdorben hatten, verdammt noch mal sowie auch verflixt und zugenäht!
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XIV
An jenem schrecklichen Tag hat sich ein dicker, gelber Nebel auf die nassen Socken begeben. Draußen auf den Straßen machen die Zeitungsjungen lautstark für die Morgenzeitungen und die Firma Kelly & Wibbs Re klame. Sie verkünden unseren Filmrollenraub in den höchsten Tönen. Außerdem hat uns Knödelwilson ver pfiffen, dieser Gauner, denn auch das verkünden sie. Wir sind die heutigen Schlagzeilen, wenn man einmal vom politischen Weltgeschehen absieht. Wir werden gesucht wie die Nadeln im Heu! „Ein Sonnenmorgen auf den fernen Osterinseln wäre mir jetzt lieber!“ spricht mein sauer blickender Kumpel Pinkie, und er hat recht damit. Flaschenteufelchen nimmt gerade ein Auge voll seligen Schlafs und spricht kein Wort, denn er ist voll wie eine Strandhaubitze. Vor Leid, versteht sich, denn die Herren Kelly & Wibbs melden sich nicht mit den fünfzehntausend Pfund, aber die Presse weiß es schon und brüllt es in die Welt hin aus. Auch ich, Edward King des Namens, möchte weit weg von hier und ein kleiner Robinson Crusoe sein: ein kleiner Robinson Crusoe auf einem fernen Bienenho nigeiland inmitten saftiger Butterblumen und bunter Piepmätze, welche heitere Melodien flöten. In der ver gangenen Nacht habe ich von grünen Gurken ge träumt. Das bedeutet nach dem geheimen Traumbuch der Königin von Saba zerbrochenes Glas. Und zerbro chenes Glas bedeutet Glück. Gewürzgurken und Gur kensalat aber bedeuten Trennung. Es trifft nicht immer sofort zu, aber oft oder etwas später. Nun weiß ich nicht ganz genau, ob ich nach den grünen Gurken 171
noch von Zaster geträumt habe, denn dies würde kei ne Trennung, sondern ein Wiedersehen mit alten Freunden bedeuten. Welche alten Freunde hier gemeint waren, ging mir erst später auf, als ich wußte, daß ich nach den grünen Gurken von Zaster geträumt haben mußte. Ich denke noch über diese träumerischen Probleme nach, als plötzlich draußen die Bullenfrachter heulen. Dieser Ahnung war ich voll. Nur, ich bemerkte es zu spät! Wir kommen nicht einmal mehr bis zur Tür, da sind schon ein uns bekannter Oberbulle namens Frank Trevelyan, Detektivinspektor, und fünf uniformierte Polypen im Zimmer und bedrohen uns mit ziemlich mächtigen Kanonen. Flaschenteufelchen, der eben er wachen will, wird durch eine sanfte Rechte des reakti onsschnellen Oberbullen Trevelyan, Sir, sofort wieder schlafen gelegt. Das ist zwar auch nicht die feine eng lische Art, aber es verwirrt meinen Kumpel Pinkie und mich so, daß wir sofort bereitwilligst unsere Men schenarme erheben, worauf wir hübsche Armbänder beschert bekommen. Da haben sie uns also wieder einmal in den Sack gesteckt, und Flaschenteufelchens große Trockenzeit beginnt! Später erfahren wir, daß man auch unseren braven Kameraden Karnickel Mc. Goy im tiefsten Hinterland unseres Reiches geschnappt hat: beim Pilzesuchen in einem verbotenen Privatwald. Erst später ging den schlichten Landpolypen auf, was für einen Fang sie gemacht hatten! Er muß Kohldampf gehabt haben, unser Kamerad Mc. Goy. Aber warum muß er gerade Pilze essen wollen! Und wenn es der werte Leser noch nicht gemerkt haben sollte, dann will ich ihm hierdurch mitteilen, daß das Londoner Zentral gefängnis wieder einmal mich und meine alten, guten 172
Kumpels beinhaltet, um’s nobel zu formulieren. Wir haben auf der ganzen Linie Schiffbruch erlitten! Wenn ich jetzt an meine Pilgervätertruhe von der Mayflower zurückdenke, so war diese ein Stück vom Himmel. Wir armen, geplätteten Halbmonde! Da sitzen wir wieder einmal auf längere Zeit hinter schwedischen Gardinen! Gestern las ich übrigens in der Zeitung, daß der Streifen „Gold und Dynamit“ ein Kassenknüller erster Güte geworden ist, was man vor allem unserer Mitwir kung und der Pressekampagne wegen der geklauten Filmrollen zuschreiben muß. Sogar Flaschenteufelchen ist wieder in den Film hineingeflickt worden! Was eben so richtig echt mickrige Ganoven und Idioten wie wir sind, die machen solche großen und dicken Gauner wie den Herrn Kelly immer fetter und erfolgreicher! Nun, ich habe mich wieder etwas mit dem Leben ausgesöhnt und mich bei Hochwürden Garry Fowling zur Beichte angemeldet. Dem Reumütigen besorgt Hochwürden gern einen bequemen Druckposten. Viel leicht lande ich wieder in der Gefängnisbücherei, wo ich mir weiteres Wissen zuführen werde. Gestern habe ich nach dem Rundgang Apfelblüte O’Rourke getroffen. „Schuhför bei Knödelwilson“, spricht er, „das war die Hölle in ureigenster Person, Edward, denn dieser Knö delwilson ist ein Stinktier erster Güte!“ Und dann sagt die armselige Type O’Rourke noch: „Ich bin froh, daß ich wieder im Bau bin!“ Und dann hat er vom Ober wachtmeister Holmes, der sehr stolz auf seinen Namen ist, einen gewaltigen Anschnauzer wegen unerlaubten Quatschens geerntet. Ich kann zwar nicht behaupten, daß ich froh bin, wieder im Sanatorium zu sein, aber etwas Gutes hat der Knast an sich: Man braucht keine Angst zu haben, 173
daß man hineinkommt, denn man ist ja bis auf weite res schon drin! Dies spricht auch mein ehrenwerter Kumpel, der Zeitgenosse, Menschenfreund und Nasen besitzer Archie Pinkey, jenes alte Kriegsbeil, mit wel chem ich einst in Liverpool mit frischgebügelter Seele auszog, um das goldene Ei des Glücks zu finden, wel ches sich aber auch diesmal wieder als ganz gemeines Tonei entpuppte, was uns ja leider schon an der Wiege gesungen wurde. Hoffen wir, daß es nicht mehr lange an Wiegen gesungen wird, das walte der heilige Oswin beziehungsweise eine andere einflußreiche Birne!
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Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage -1972 Eulenspiegel Verlag, Berlin Lizenz-Nr.: 540/6/72 • ES 8 C Lektor: Hilde Arnold Umschlagentwurf: Eberhard Binder-Staßfurt Printed in the German Democratic Republic Satz, Druck- und Bindearbeiten: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
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