DAVID FORREST
Und meinem Neffen Albert
vermache ich die Insel, die ich Fatty Hagan beim Pokern abnahm Heiterer Roman
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DAVID FORREST
Und meinem Neffen Albert
vermache ich die Insel, die ich Fatty Hagan beim Pokern abnahm Heiterer Roman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/6882 Titel der amerikanischen Originalausgabe AND TO MY NEPHEW ALBERT I LEAVE THE ISLAND WHAT I WON OF FATTY HAG AN IN A POKER GAME... Deutsche Übersetzung von Werner Gebühr Neuausgabe des Taschenbuches 995 der Allgemeinen Reihe
Copyright © 1969 by David Eliades and Robert Forrest Webb Printed in Germany 1987 Mit freundlicher Genehmigung des C. Berteismann Verlages wurde der Umschlag der deutschen Originalausgabe verwendet Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: werksatz gmbh, Wolfersdorf Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-00303-9
»Habt ihr hier in der Gegend Wale?« »Nicht oft«, antwortete der Bootsführer. »Ich glaub, gerade voraus sehe ich einen«, sagte Albert, Er blickte durch sein Fernglas auf den schwarzen Schatten, der sich am Horizont nur wenig über die Wellen erhob. »Hier, sehen Sie sich das an.« Der Bootsführer stellte sich breitbeinig hin, so daß er das Ruder mit dem Gewicht seines Brustkastens festhielt. Er stellte Alberts Fernglas scharf ein. »Wal, mein Lieber? Das ist Ihr verdammter Felsen.« Albert riß ihm das Fernglas fast wieder aus den Händen. »Wo sind dann die Bäume?« »Bäume, mein Lieber? Abgesehen von Gras und solchem Zeug können Sie alt und grau werden, wenn Sie darauf warten.« Der Felsen wurde größer, kahler, häßlicher. »Ich dachte, daß alle Scilly-Inseln Bäume und Blumen hätten«, versteifte sich Albert. Er weigerte sich, zu glauben, daß seine rechtmäßige Insel öde wäre. »Ich nehme an, da waren einmal welche«, sagte der Bootsführer. »Sie fielen wahrscheinlich herunter, als zum erstenmal der Wind wehte.« »Sind Sie sicher, daß dies Foul Rock ist? Sie können sich nicht geirrt haben?« Der Bootsführer lächelte. »Ich komme seit langer Zeit hier heraus, mein Sohn. Weit und breit gibt es nur einen Foul Rock. — und das ist er.«Er manövrierte die Barkasse in eine kleine Bucht am westlichen Ende der Insel. Aus der Nähe sah sie sogar noch trostloser aus. Nur am Rand des Wassers gab es ein wenig Abwechslung, wo Seetang auf den Felsen hing, die vom Salz weiß waren. »Ich komm nicht ganz ans Ufer. Sie müssen springen. Aber suchen Sie einen sauberen Felsen, sonst machen Sie 'ne Rutschpartie auf dem Seetang. Ich komm heute Nachmittag um vier wieder, um Sie abzuholen... Übrigens«, der Bootsführer machte plötzlich ein besorgtes Gesicht, »gehen Sie nicht allein schwimmen oder so etwas. Zahlende Fahrgäste verlier ich nicht gern.« »Auf bald«, rief Albert, als er an Land sprang. »Und Sie sollten mich hier lieber nicht vergessen!« Es war ein heißer Junitag. Das Wasser plätscherte leise gegen die Kiesel, als das Boot rückwärts wieder herausfuhr. »Diese verlogenen Reiseprospekte«, dachte Albert laut, als er sein Königreich zu durchwandern begann. »Kommen Sie zu den Scilly-Inseln. Palmen, lange sandige Strande, Blumen. Schlösser und Sommerhäuser. Botanische Gärten. Swimming-pools und Lagunen. Und was hab' ich hier? Einen blödsinnigen Felsen. Nicht einmal Löwenzahn.« Er war plötzlich überrascht festzustellen, daß er die Insel schon halb überquert hatte. Und das
nach gerade fünfundsiebzig Schritten. Er sah sich um. Er stand auf dem höchsten Punkt, einem glatten Plateau, sechs Meter über der Flutmarke. In jeder Richtung hätte er einen Stein in die See werfen können. Nach links und nach rechts waren es etwa nur fünfunddreißig Meter. Und weitere fünfundsiebzig voraus. »Verdammte Hölle«, sagte er ruhig. »Kein kriechender Bauer in Sicht.« Da entdeckte er das Motorboot, einen blauen Flitzer, der in dem ruhigen Wasser einer Bucht an seiner Verankerung ruckte. Er machte sich dahin auf. »Hallo«, sagte Albert. »Irgend jemand nimmt mir meine Insel weg. Eine verdammte kleine Frechheit. Piraten. Da bin ich gerade rechtzeitig gekommen. Ruft die Wachen heraus. A-larm!« Zwanzig Meter entfernt lag schräg gegen einen von den Wellen ausgewaschenen Felsen ein langes braunes Mädchen, so braun, daß sie sich fast überhaupt nicht von dem Seetang abhob, der in breiten Streifen nahe der Wasserlinie hing. Sie glänzte, wo das Sonnenlicht, das von der See widergespiegelt wurde, auf ihren öligen Körper traf. Sie war geschmeidig. Schmale Hüften und schlanke Schenkel. Ihr blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war nackt - sehr nackt. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf in die Hände gebettet. Wie alles andere an ihr waren ihre runden und mädchenhaften Brüste prächtig gebräunt. Albert schaute. Sie war allein. Als Schürzenjäger war er sich darüber im klaren, daß dies ein begehrenswertes Exemplar war. Er durchblätterte den Katalog seiner Erfahrungen. »Reifegrad: etwa siebzehn. Oktober wahrscheinlich. Mit Geld, wegen des Bootes. Mädchen vom Land oder unbeschäftigt, nach dem Grad der Bräune zu urteilen. Größe: ungefähr einsfünfundsechzig. Gewicht: hundertfünf Pfund. Ich würde sagen: 85-55-85. Naturblond - also Augen blau oder grau. Anfängerin im Rauchen. Blaustrümpfig, trinkt kleine Biere. Freunde? Unwahrscheinlich — so braun, wie sie überall ist, verbringt sie offensichtlich viel Zeit allein. Schätze, daß sie für die Gegend zu gut ist. Und da die Saison noch kaum begonnen hat, war bei den Urlaubern in diesem Jahr noch nicht viel drin. Wahrscheinlich ist sie erst im letzten September aus der Schule gekommen, also Chancen, daß sie noch nichts erreicht hat. Sexuelle Erfahrungen begrenzt.« Er bedachte diese interessante Statistik. »Ich bin hier der König. Ich könnte sie haben. Sie hat sich eingeschlichen. Ich könnte sie zu meiner Kriegsgefangenen machen.« Er gab sich einen Ruck und ging zu dem Mädchen hinüber. Als er sich ihr näherte, griff sie zur Seite und bedeckte sich in aller Ruhe mit einem großen Badetuch.
Das war die einzige Regung, mit der sie verriet, zu wissen, daß er da war. Ihre Augen schienen geschlossen zu sein. Albert griff nach dem Fernglas, das um seinen Hals hing. Für einen Augenblick reizte es ihn, sie mit dessen Hilfe genauer zu betrachten, aber ihre Augen könnten sich öffnen und ihn in Verlegenheit bringen. Schließlich war er nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt. Sein Schatten schob sich über sie. Sie öffnete ein Auge. Es war aufregend blau. Das zweite Auge öffnete sich. Albert stellte erleichtert fest, daß die Farbe die gleiche war. »Sie stehen mir in der Sonne.« Albert kam näher und setzte sich neben sie. »Und sie liegen auf meiner Insel«, sagte er. Das Mädchen starrte ihn an. »Stecken Sie Ihren Kopf unter Wasser, damit ich mich anziehen kann. Ich brauche nur zehn Minuten.« Albert gab ihr drei, blickte zur Seite und beobachtete das Funkeln der kleinen Wellen dort, wo sie auf die Felsen trafen. Hinter sich hörte er, wie das Mädchen mit seinen Kleidern raschelte. »Sie können sich jetzt wieder umdrehen.« Albert tat es. Er fragte sich, warum das Mädchen sich die Mühe gemacht hatte, einen Bikini anzuziehen — so klein war er. Man konnte gerade erkennen, daß er gelb war. Ihr blondes Haar war dort, wo die Sonne es ausgebleicht hatte, streifig. Ihre Augenbrauen waren fast weiß, die Gesichtszüge auffallend nordisch. Sie erinnerte ihn an die puppenhafte Prinzessin auf den Anschlagtafeln seiner heimatlichen U-Bahn-Station, die für formvollendete Büstenhalter warb. Er entschied sich, sie nicht zu fragen, ob sie den ihren sechsundneunzigmal durch die Waschmaschine gejagt hätte. Es überraschte ihn, daß er den Werbetext überhaupt gelesen hatte. Er war erfreut zu sehen, daß ihre Augenfarbe auch jetzt noch die gleiche war und er sie offensichtlich richtig eingeschätzt hatte. Jetzt stellte er mit Genugtuung fest, daß sie keinen Ring trug. Innerlich verführte er sie schon. Ihre sanfte Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück. »Ich habe Sie noch nie gesehen, dabei sonne ich mich hier schon seit Ewigkeiten.« Albert zog ein zerknittertes Päckchen Zigaretten heraus und bot dem Mädchen eine an. »Mein erster Besuch«, sagte er. »Ich habe sie gerade geerbt, also nehme ich an, daß ich dadurch König geworden bin.« »Ich unterwerfe mich Eurer Majestät. Seien Sie in diesem Land willkommen. Außer zum Sonnen taugt es zu nichts.«
»Typisch kolonialistisch. Erst ein Land bis zum letzten ausbeuten und dann, wenn man hinausgeworfen wird, behaupten, es sei nichts wert.« »Ich wette, daß Sie reich sind«, sagte sie. »Ein Sozialist mit konservativen Bankauszügen.« »Falsch. Außer dieser Insel besitze ich nichts. Ich arbeite in einem Kino. Was machen Sie?« »Gar nichts«, antwortete sie. »Papa ist in St. Mary's Anwalt. Ich leiste ihm Gesellschaft. Und an heißen Tagen komme ich hierher. Wo haben Sie Ihr Boot gelassen? Es ist nicht sehr sicher, wenn Sie es am westlichen Ende der Insel verankert haben.« »Ich bin geschwommen«, sagte Albert. »Ich bin ein berühmter Langstreckenschwimmer. Hin und her sind es nur fünfunddreißig Meilen.« »Sie sind ein Spinner.« Albert gab ihr Feuer und gestand, daß er für die nächsten Stunden auf der Insel festsaß. »Ich hab' ein paar Brote, und ich bin hungrig«, sagte das Mädchen. »Wenn Sie sie aus meinem Boot holen, bin ich bereit, mit Ihnen zu teilen. Sie sind in einer Plastikschachtel. Übrigens, wie heißen Sie?« »Albert«, sagte er. »Albert Quinlan.« Das Mädchen kicherte. »Was ist daran so witzig?« »Eigentlich nichts«, sagte sie. »Außer daß ich Viktoria heiße.« Er stand auf und ging zum Motorboot hinunter. Victoria sah der hochgewachsenen Figur nach. Er beugte sich in das Boot und suchte unter den Sitzbänken aus Mahagoni nach der Schachtel. Dann richtete er sich auf und warf sein braunes Haar mit einer ruckartigen Kopfbewegung wieder nach hinten. »Nicht übel«, dachte sie. »Ungefähr vierundzwanzig. Kann sich bewegen. Sexy Hüften. Londoner Akzent. Der ist scharf. Große Hundeaugen. Klasse!« Albert kam zurück. »Das Boot ist 'ne Schau«, sagte er. »Ihres?« »Papas.« Schweigend aßen sie ihre Brote. Albert beschloß, froh zu sein, daß er den Bootsführer nicht mehr erwischt hatte. Er zog sein Hemd aus und legte sich neben dem Mädchen zurück. Die Hitze der Sonne lag drückend auf ihnen, bis dort, wo die Wellen plätscherten, sogar die Felsen zu dampfen begannen. »Von wem haben Sie die Insel?« »Von meinem Onkel Alf, der mich aufgezogen hat. Er hat sie beim Pokern gewonnen. Als ich ein Junge war, erzählte er mir immer, er hätte mich beim Pokern gewonnen. Meine Mutter starb an einer Lungenentzündung. Onkel Alf wollte sich eigentlich nur um mich kümmern,
bis Papa aus dem Krieg zurückkäme. Aber er kam nicht wieder.« Onkel Alf, erklärte Albert, war ein ziemlich versoffener Vorarbeiter bei der Eisenbahn, der nach England herübergekommen war, um für die Irische Republikanische Armee zu kämpfen. Aber er hatte eine so große Vorliebe für das englische Bier entwickelt, daß er den Grund, der ihn dorthin gebracht hatte, fast restlos vergaß. Er war immer ein wilder Bursche. Oft betrunken. Aber er war ein Mann mit einem großen Herzen. Das meiste von seinem Geld warf er hinaus, als ob es jeden Augenblick entwertet werden könnte. Aber er hielt immer genügend zurück, um sicherzustellen, daß Albert gut ernährt wurde und sich zu Hause wohl fühlte. Er wurde für den Jungen Vater und Mutter — und ein schlechtes Vorbild. Und Albert liebte ihn. Seit Onkel Alf in O'Flahartys Bar im Londoner East End beim Kartenspiel die Insel gewonnen hatte, träumte er in den letzten Monaten seines Lebens davon, sich dorthin zurückzuziehen und vom Strandgut zu leben. Als er starb, hinterließ er Albert als Alleinerben die Insel und ein paar hundert leere Bierflaschen, die in jedem verfügbaren Regal und Verschlag sorgfältig gestapelt waren. »Schließlich und endlich«, sagte Onkel Alf immer zu Albert, »kann eine Brieftasche mit Bargeld gestohlen werden, aber wer stibitzt schon Bierflaschen, von denen jede nur zwei Penny wert ist?« Albert räumte das kleine Haus aus und verkaufte die Flaschenkollektion für 9 Pfund, 14 Shilling und 2 Pence wieder an die Kneipe. Er sorgte dafür, daß sein Onkel anständig begraben wurde. Hinterher, beim Leichenschmaus, meinte Fatty Hagan, es sei nur gut, daß Alf römisch-katholisch gewesen wäre, denn bei dem Alkoholgehalt wäre die Leiche sicher explodiert, wenn man sie verbrannt hätte. Für den Sommerurlaub auf seiner Insel hatte Albert hart gespart. Und jetzt war er da... »Ich glaube nicht, daß Sie viel damit anfangen können«, bemerkte Victoria. »Sie ist ein bißchen eintönig. Im Winter möchte ich hier nicht leben.« »Ich könnte eine Vogelschutzinsel daraus machen«, sagte Albert und versuchte herauszubekommen, welche Wirkung das auf Victoria machte. »Sie mögen Vögel?« »Ich beobachte sie gern«, sagte Albert wahrheitsgemäß. Er griff nach seinem jetzt überflüssigen ArmeefeldStecher. »Mit diesem hier komme ich ihnen wirklich nahe. Ich sehe jede Einzelheit.« »Kennen Sie ihre Namen?« »Die Namen derer, die ich mag, finde ich immer heraus.«
»Was sind dann diese hier?« Sie zeigte auf die Kormorane. »Der Fette, das ist Sokrates, die Hagere Xanthippe.« Sie lachte, »Das sind Kormorane. Und das da?« Die lahme Silbermöwe balancierte einbeinig auf ihrem felsigen Thron. »Das ist ein Storch«, sagte Albert. »Er heißt Wilhelm.« Victoria kicherte. »Sie sind ein Schwindler. Sie haben von Vögeln keine Ahnung.« »Ich lerne dazu.« Die Felsen boten wenig Schutz vor dem heißen Sonnenschein. Albert fand den Widerschein vom Wasser unerträglich. Er kletterte in eine enge Spalte genau oberhalb von Victoria, wo er ein wenig Schatten fand. Von hier aus konnte er sie beobachten, ohne daß sie ihn sah, und er stellte fest, daß sie ihn um so mehr interessierte, je länger er sie anschaute. »Geh'n wir schwimmen?« fragte Victoria. »Worin denn? Ich hab' keine Badehose dabei.« »Und Ihre Unterhose?« »Werden Sie nicht persönlich.« »Meinetwegen können Sie ruhig darin schwimmen gehen, Mir macht es nichts aus.« Er zerrte seine Jeans mit dem Cowboyemblem herunter. Albert und Victoria schwammen ein Weilchen in dem klaren Wasser; dann kamen sie zurück und setzten sich auf ihren Felsen und trockneten in der Sonne. »Es wird Zeit aufzubrechen«, sagte Victoria. Albert machte ein trauriges Gesicht. Sie fuhren mit dem Boot nach St. Mary's zurück und trafen Alberts Fischer ein paar hundert Meter vor dem Hafen. In der kleinen Pension von Buzza Mill saß Albert auf seinem Bett und dachte an den Ausflug dieses Tages. Die Insel war immer noch enttäuschend. Victoria andererseits war sehr vielversprechend. Letzten Endes könnte sein Urlaub doch noch erfolgreich werden. Warum sollte nicht auch einmal an den Riffen rund um Foul Rock ein Schiff mit einem Schatz gescheitert sein... In Mrs. Pengellys edwardianischer Villa zog Albert sich jetzt aus und versuchte zu duschen. Das war nicht ganz einfach. Mrs. Pengellys Dusche bestand lediglich aus Krug und Wasserschüssel. Albert breitete ein Handtuch auf dem Boden aus, stellte die Schüssel darauf und trat dann vorsichtig hinein. Die Hälfte des kalten Wassers aus dem Krug goß er sich über den Kopf und seifte sich dann ein. Der zweite Guß spülte den Großteil der Seife herunter, und mit dem Handtuch befreite er sich von dem Rest. Er zog sich an und ging in die Stadt hinunter, um sich im Hinterzimmer des Gasthauses »Zum fröhlichen Fischzug« mit Victoria zu treffen. Sie war
schon da. Albert erteilte sich nochmals eine gute Note. Victoria hielt ein halbes Glas Bier in ihrer kleinen Hand. Er mochte biertrinkende Mädchen. Sie hatten ein gewisses Etwas, auch wenn das nur Sparsamkeit war. Neben ihr saß eine komische, dickliche Figur. Sie sah wie eine der Karikaturen von Dickens aus. Victoria stellte sie als ihren Vater vor. Albert war verlegen. Er blickte sich in dem Lokal um, weil er sehen wollte, ob andere Leute sich über sie amüsierten. Das war aber nicht der Fall. Ihr Vater war offensichtlich ein gewohnter Anblick. James Rhodes war um die Fünfzig und maß um den Bauch das Zweieinhalbfache seines Alters. Nach seiner eigenen Aussage waren es siebeneinhalb Ginflaschen - »Gordon's Dry natürlich«. Rhodes trug seinen Kampfanzug für Saufabende. Die zottige Mohairjacke hätte man beinahe genauso dringend rasieren müssen wie ihn selbst. Ihr helles Karomuster biß sich mit einem blumenbedruckten, grellfarbigen Hemd, das er über einer schlottrigen, gestreiften Hose trug. Seine nackten Füße steckten in selbstverfertigten Sandalen. Aber nicht dieses untere, sondern das obere Ende von Victorias Vater brachte Albert aus der Fassung. Wo er Haare hatte - und das war nur ein Halbkreis rund um seinen Kopf -, war er grau. Wo ihm die eigenen Haare fehlten, trug er eine Perücke. Diese hätte sicher nicht gar so exzentrisch ausgesehen, wenn das Toupet nicht schon vor zwanzig Jahren angefertigt worden wäre, um seine restlichen Haare zu ergänzen - denn damals war sein Haar rot. Jetzt saß es auf seinem Schädel wie eine aufgeplusterte Henne auf einem grauen Nest. Rhodes zog eine Handvoll Kleingeld aus der Hosentasche und suchte darin herum. »Hat jemand Sixpences?« fragte er. Albert gab ihm ein paar. Rhodes zog damit ab zum Spielautomaten. »Papa schockiert jeden«, sagte Victoria. »Er ist nie wirklich erwachsen geworden. Er ist aus der Rechtsabteilung des Marineministeriums herausgeflogen, weil sie meinten, er trinke mehr Rum als alle Werftarbeiter zusammengenommen. Er hat den Flottenlieferanten reich gemacht. Und dann brannte meine Mutter mit dem Lieferanten durch. Seitdem hat Papa keinen Rum mehr angerührt.« Rhodes hatte sich dann als Rechtsanwalt in London niedergelassen. Um übermäßige Einkommensteuern zu vermeiden, hatte er darauf bestanden, daß ihm seine Klienten einen Teil ihrer Rechnungen in Gin bezahlten. Unglücklicherweise waren die Geschäftsleute nicht bereit, die Bezahlung seiner Schulden in demselben guten Geist zu regeln. Allmählich beschäftigten ihn seine rechtlichen Auseinandersetzungen in eigener Sache so sehr, daß er nicht
mehr in der Lage war, Aufträge von Klienten anzunehmen. Und als Victoria ihre Schule hinter sich hatte, beschloß er, sich zu den Scilly-Inseln zurückzuziehen. Von seiner Marinepension und gelegentlichen Rechtsvertretungen für die Gärtner auf der Insel lebten sie jetzt ganz gut. In Rhodes Händen kam das Ginglas nie zur Ruhe. Entweder war es auf dem Weg nach oben oder nach unten. In diesem Augenblick kam es wieder herunter leer. Albert stellte fest, daß der Nachschub auf der Bar schon bereitstand. »Nehmen Sie einen Gin«, sagte Rhodes. »Zwei doppelte«, rief er dem Mann an der Bar zu. »Du möchtest doch sicher noch ein Bier — oder?« fragte er Victoria. Albert fand keine Möglichkeit mitzuteilen, daß auch er lieber ein Bier getrunken hätte. »Sie lassen sich den Stoff doch wohl auch nicht verwässern?« fragte Rhodes, als er Albert das Glas herüberschob. Albert entschied sich, nichts zu sagen, und da er Gin überhaupt nicht mochte, kippte er das Glas auf Rhodes` »Prost« in einem Zug hinunter. »Meine Runde«, sagte Albert schnell, bevor Rhodes Zeit fand, von neuem zu bestellen. Durch den Boden seines Glases musterte der Anwalt Albert mit aller Schläue. Victorias seltene Männerbekanntschaften waren dünn, blaß und schuljungenhaft gewesen. Dieser hier war von anderem Schlag. Er hatte eine Selbstsicherheit, die Rhodes zu schaffen machte. Und den Charme eines Cockneys, Victoria war ein attraktives Mädchen, und es gab darüber hinaus nur wenig Dinge, die sie in Anspruch nahmen. Schon als sie ein Kind war, hatten ihre Ferien auf den Inseln ihm genügend Sorgen bereitet —. wenn sie tauchte, von gefährlichen Felsen schwimmen ging oder mit kleinen Booten in der bewegten See segelte. Jetzt würden die Sorgen eher größer als kleiner werden, und er würde sich gegen die jährlichen Romanzen mit jungen Männern zu behaupten haben. Er konnte nur hoffen, daß die Schule sie auf diese Art Kämpfe vorbereitet hatte. Weder Albert noch seine Insel interessierten Rhodes sonderlich. Die Insel war zu nichts gut wie wahrscheinlich dieser junge Mann auch. Foul Rock war nichts weiter als ein Hindernis für die Schiffahrt und Albert aller Voraussicht nach eine noch größere Bedrohung für seine Tochter. Rhodes bildete sich jedoch ein, er könne, wenn er ihm gegenübertrete und Persönlichkeit durchblicken lasse, Albert genügend Achtung einflößen, um Victoria zu schützen. Die Tatsache, daß Victorias Lieblingsinsel
Albert gehörte, versetzte ihm einen Stich, der in ihm bohrte. Dennoch war er freundlich zu ihm, und mit Rücksicht auf seine Absichten bei Victoria ließ Albert es zu, daß Rhodes ihn bei dem Spiel mit Wurfpfeilen zweimal schlug. Am nächsten Morgen trafen sich Albert und Victoria schon früh, um wieder zur Insel zu fahren. Diesmal spielte das Mädchen den Führer. Sie zeigte ihm die Wasserlöcher, wo Fische gefangen waren, wo man unter den Felsen kleine Krebse finden konnte und wo die Sonne das Wasser besonders wärmte. In der Handhabung der Harpune war Victoria sehr geschickt. Sie schwammen durch das Labyrinth der Felsspalten und jagten Seebarsche, die in der Brandung spielten. In der Hoffnung, Hummer zu finden, tauchten sie tief hinunter, und sie lagen stundenlang in der Sonne und sprachen über Gott und die Welt. Die nächsten Tage verbrachten sie gemeinsam auf der Insel. Jeden Abend hockten sie in der Kneipe. Rhodes, der begriff, daß er das Spiel verlieren würde, zog sich gnädig in die Behaglichkeit der Bar zurück. Kapitän Worolokow schob eine behaarte Hand unter seinen dicken Pullover und kratzte mit plumpen Fingern einen noch haarigeren Bauch. Er döste vor sich hin. Lange Jahre hindurch war er Fischer gewesen. Ein richtiger Fischer. Er erinnerte sich an Zeiten, als russische Trawler nur zum Fischen ausliefen. Das waren herrliche Zeiten gewesen. Als man mit den Händen zupacken mußte, um das Netz einzuholen, dann die zappelnden Dorsche fangen und sie in Kisten im Laderaum verstauen und sie in den russischen Seehäfen auf den Markt bringen. Und jetzt war er endlich wieder einmal auf dem Weg durch die Nordsee und den Kanal, Gewässer, an die er sich von Geleitzügen während des Krieges erinnerte. Nun war er wieder genauso militärischer Seemann wie damals, als er ein Kriegsschiff kommandierte. Worolokow war in der Tat ein äußerst erfolgreicher Seeoffizier. Er hatte sich von der Back zum Kapitän des neuesten Trawlers in der sowjetischen Marine hochgedient. Die DMITRI KIROW war nur dem Aussehen nach ein Trawler. Ihre Schandeckel verbargen aufmontierte Maschinengewehre, in der Heckkabine befand sich eine Abwurfvorrichtung für Wasserbomben. Ihr vorderer Laderaum enthielt eine Batterie von Raketen, die unter Wasser abgefeuert werden konnten. Den gesamten Mittelteil des Schiffes nahm eine versteckte Abschußbasis für zehn Meter lange Mittelstreckenraketen ein. Aber die eindrucksvollste Ausrüstung war nicht mehr als ein Verschlag tief unten im Schiff, eine der ausgeklügeltsten Abhör- und Ortungsanlagen, die sowjetische Wissenschaftler je entwickelt hatten. Sie war so empfind-
lich, daß sie Schiffe weit hinter dem Horizont unter Kontrolle behalten konnte, und technisch so raffiniert, daß die Wissenschaftler fürchteten, ihr volles Potential könnte durch menschliche Unzulänglichkeit beeinträchtigt werden. Der Trawler war alles in allem so kostbar, daß er es mit einem der großen sowjetischen Linienschiffe aufnehmen konnte. Die DMITRI KIROW war zu den Flottenmanövern der NATO im Atlantik unterwegs. Natürlich ohne eingeladen zu sein. Es war ihr Auftrag, die Manöver zu beschatten, Schiffe zu identifizieren, Bewaffnungen festzustellen, die Kampfkraft der Flugzeugträger abzuschätzen, Funksprüche abzufangen und zu notieren, Radar- und Funkstationen zu orten und mit ihren Horchgeräten Bewegungen unter Wasser auszumachen. Alle diese Informationen mußten nach Moskau gemeldet werden. Die Flotte der NATO wußte schon, daß sie im Anmarsch war. Vor einer Woche hatte Worolokow in Leningrad seine Schwester zum Abschied geküßt, seinem Schwager die Hand geschüttelt und sich an Bord begeben. Als er die üblichen Befehle öffnete, hatte es ihn überrascht, unter ihnen einen Brief des Flottenkommandeurs zu finden. Der letzte Absatz ließ ihn den Brief zusammenknüllen und wütend in eine Ecke seiner Kabine werfen: »Ich brauche sie wohl nicht darauf hinzuweisen, daß Sie den Anordnungen von Professor Uschakow und seinen drei Kollegen ohne Frage zu gehorchen haben. « Im Morgengrauen lief die DMITRI KIROW aus. Samstag, der 15. Juni: Ein kleiner, stoppelbärtiger Mann versetzte Worolokow einen ziemlich harten Schlag in die Rippen und schob ihm einen fleckigen Becher Kaffee in die Hand. Das war Boris, der Koch. Boris war häßlich. Seine Freunde hatten das Gefühl, ihm Gutes zu tun, wenn sie ihn so beschrieben. Durch den Stiefel, der ihm die Nase zertreten hatte, war sein Gesicht eigentlich schöner geworden, und zusammengeflickte Narben oben auf der Backe hatten seiner linken Gesichtshälfte zu einem ständigen Grinsen verholfen. Worolokow und er lagen in einem ständigen, gutgelaunten Krieg. Sie fuhren seit vielen Jahren zusammen. Die Zusammenstellung der Besatzung zeichnete eine recht erstaunliche Eigenschaft aus. Die meisten waren verwandt. Mischa, der Bootsmann des Trawlers, war auch das Familienoberhaupt. Er war der Onkel von Wasili und durch Heirat auch der Onkel von Sascha, dem Ersten Maat. Sascha war mit Mischas Nichte verheiratet. Mischa war auch der Vetter des Bootsmannsmaats Lew. Josef, einer der erfahrensten Matrosen, behauptete, mit ihnen allen verwandt zu sein, weil eine seiner Tanten Mischas Bruder geheiratet hatte. Boris war Josefs Onkel.
Die übrigen Mitglieder der Besatzung waren entfernter verwandt. Worolokow war ein Fremder, der aus einer anderen Stadt stammte, und das andere Kuckucksei war der junge Igor, aus eigener Wahl, wenn nicht durch Geburt ein Kosak. Er war Waise. Unter ihnen gab es eine Reihe meist nutzloser Talente. Rasputin, Lews stummer Schäferhund, begleitete ihn auf allen Reisen. Lew bellte und knurrte für ihn. Mischa behauptete, ein mongolisches Geheimnis zu kennen, wie man einem Mann mit einem leichten Ruck das Genick brechen könnte. Allerdings hatte er es noch nie in der Praxis bewiesen. Boris, der das Geheimnis nicht kannte, war in Polen aus einem Konzentrationslager geflohen, und von ihm wußte man, daß er mehreren Wachmännern das Genick gebrochen hatte. Wasili konnte nach Belieben seine Schulter auskugeln - und tat es, wenn er Freizeit brauchte. Igor war ein begabter Tänzer. Sie alle behaupteten, Fischschwärme, Eisberge und Untiefen riechen zu können und ebenso die Länder, an denen sie vorüberfuhren, an den Gerüchen zu erkennen, die über das Wasser zu ihnen getrieben wurden. Sie alle arbeiteten gut. Worolokow hatte mit ihnen wenig oder gar keine Mühe. An Land tranken sie zusammen. Auf See kannten und verstanden sie einander. Jedoch befanden sich einige an Bord der DMITRI KIROW, welche die Besatzung nicht verstand. Das waren die vier Wissenschaftler, denen die gesamten Instrumente des Schiffes unterstanden und ebenso die noch komplizierteren Abhörapparate. Worolokow sah sie nur hin und wieder. Die Wissenschaftler aßen gemeinsam in ihrer eigenen Messe, während er seine Mahlzeiten zusammen mit der Besatzung einnahm oder während er auf der Brücke auf seinem Posten stand. Die Wissenschaftler waren seltsame Leute. Sie redeten in einer Sprache miteinander, die nur sie verstehen konnten. Und sie ließen Worolokow sich in ihrer Gesellschaft als Dummkopf empfinden. Vor allem aber mißtraute er ihrer Navigation unter Deck. Er arbeitete instinktiv nach dem Stand der Sonne und den Sternen, nach den Jahreszeiten und den Strömungen; gelegentlich zog er seinen Kompaß zu Rate und noch seltener seine Karten. Jetzt, bei diesem, seinem wichtigsten Kommando war ihm nicht erlaubt, seinen Kurs selbst festzulegen. Die Sprechanlage summte, und eine fremde Stimme befahl ihm, die Richtung um soundso viel Grad zu ändern. Knurrend gehorchte er oder gab die Befehle an den Rudergänger weiter. Während der letzten Woche, seit sie Leningrad verlassen hatten, hatte er nur gewußt, wo sie schon gewesen
waren. Sein Kurs war auf den Karten der Wissenschaftler eine Reihe von Zickzacklinien. Worolokow war ärgerlich und enttäuscht, wenn sie über seine Fischgründe hinweg- und weiterfuhren. Von den Waffen an Bord seines Schiffes wußte er nichts. Er wußte, daß sie da waren und daß sie wirkungsvoll und wichtig sein mußten. Aber sie unterstanden ihm nicht. Ohne Erlaubnis durfte er nicht einmal eine Luke öffnen. Die Weißkittel, wie sie an Bord genannt wurden, beherrschten sämtliche Instrumente und Waffen. Worolokow wußte, daß er eine Marionette war. Er spuckte einen Mundvoll Kaffeesatz über die Reling und beschloß, daß vor der nächsten Reise in Sachen des Kochs irgend etwas unternommen werden müsse. Unter Deck, in der kleinen quadratischen Funkkabine, untersuchte Tanya Suworowa mit mißbilligendem Gesicht ihren linken Daumennagel, dann lehnte sie sich zurück und nahm den Kopfhörer ab. Es schien der Zweiundzwanzigjährigen, daß sie ihr ganzes Leben in einer Funkerbude von drei Metern im Quadrat verbringen müsse. Eine Leuchtröhre in der Decke war die einzige Lichtquelle. Das Tageslicht sah sie nur dann, wenn sie am Ende ihrer Wache nach oben ging, um frische Luft zu schnappen. Sonst saß sie immer nur vor ihren Apparaten und trug den Kopfhörer. Im Augenblick hatte sie ein klein wenig schlechtes Gewissen. Während der letzten Viertelstunde hatte sie mit Vergnügen westliche Musik auf einer der üblichen Wellenlängen des Rundfunks gehört. Tanya war Worolokows Liebling, die Tochter, die er niemals hatte. Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz, und ihre grauen Augen erinnerten ihn an die nebelverhangenen Seen seiner Kindheit an der Küste des Nordmeers. Ihre Stimme war leise, so leise, daß er seinen Kopf immer nahe an das Sprachrohr halten mußte, wenn sie sich meldete. Auf der Schalttafel vor ihr erschien ein Signal, und sie hörte einen scharfen, aufdringlichen Summton. Tanya drückte ihre Zigarette aus und nahm den Kopfhörer. Neben Störgeräuschen erkannte sie die verschlüsselten Grüße vom Mutterschiff AYAT. Später am Tage sollten sie sich treffen. Sie bestätigte den Empfang der Nachricht und entschlüsselte sie rasch. Dann drückte sie die Taste der Bordsprechanlage und gab Uschakow die Position der AYAT durch. Uschakow trat an den Radarschirm und entdeckte das Mutterschiff etwa einundzwanzig Meilen backbord voraus. Er legte den neuen Kurs fest und erteilte dann Worolokow auf der Brücke seine Anweisungen. »In eineinhalb Stunden werden wir längsseits gehen.«
Worolokow warf die Arme hoch und murmelte einen Fluch vor sich hin. Der Rudergänger korrigierte den Kurs um einige Grad, und Worolokow prüfte auf dem Kompaß die neue Richtung. Den englischen Kanal hatten sie jetzt hinter sich. Wie üblich fragte er sich, ob die Weißkittel da unten wußten, was sie taten. Siebenundsechzig Minuten später lief die DMITRI KiROW in eine Nebelbank. Worolokow rief den Radarraum an und erstattete Uschakow Meldung. Fast unmittelbar darauf erhielt er die Antwort, daß das Mutterschiff AYAT sich direkt vor ihnen befände und im übrigen die Sicht dort klar wäre... Es war weniger ein Krach als ein Vulkanausbruch. Ein mißtönendes Dröhnen von zerreißendem, verbiegendem Metall und knirschendem Felsen. Ein Schott des Schiffes sprang Boris entgegen. Ein Feuerlöscher riß sich aus seiner Halterung und platzte, sofort war alles voller Schaum. Halb bewegungslos sah der Koch, wie Worolokow hochgehoben wurde und über den Kartentisch und durch das Brückenfenster fiel. Der Rudergänger knallte gegen das Rad. Sein Pullover verfing sich an einer zerbrochenen Speiche, und er hing bewußtlos darüber. Von unten kamen Rufe der Männer, als sie durch den Aufprall durcheinandergeworfen wurden. Schwere Geräte rissen sich aus ihren Befestigungen. Einrichtungsgegenstände und Geschirr zerschlugen sich zu Trümmerhaufen. Die Schäkel des Ankers zerbrachen. Er fiel. Die Kette ratterte aus der Klüse. Dann war es still. Worolokow öffnete die Augen. Er hing halb durch die vordere Glasverkleidung des Ruderhauses. Sein Kopf steckte fest zwischen einer Strebe und dem riesigen Bügel des Scheibenwischers. Mit großer Mühe erhob er sich langsam und blickte über das jetzt zusammengedrückte Vorderdeck. Wie aus einem Springbrunnen schoß aus einem geplatzten Rohr gerade unter ihm das Öl. Es war ein Chaos. Er blickte weiter voraus. Da war kein Wasser mehr Nur ein felsiges Plateau. Zwei kleine, verdutzte und nackte Gestalten standen Hand in Hand und sahen über den zertrümmerten Bug des Schiffes zu ihm hinauf. Die DMITRI KIROW, der Stolz der sowjetischen Spionageflotte, hatte jetzt von einem großen Stück der Insel Besitz ergriffen, die Alberts Onkel Fatty Hagan beim Pokern abgenommen hatte. Nackt, wie sie waren, starrten Albert und Victoria den mißhandelten Bug des Trawlers hinauf, der sie überragte. Es herrschte völlige Stille, und nur von dem zerrissenen Rumpf des Schiffes tropfte Wasser. Sie hatten auf dem Plateau gelegen und beide an das gleiche Ziel gedacht. Sie hatten einander auf diesen Augenblick hin gesteigert. Victoria hatte Albert hart arbei-
ten lassen. Sie hatte es nicht eilig. Sie kannte ihren Kamasutra. Sie wollte alle Präliminarien voll auskosten und es in die Länge ziehen. Schließlich hatte Albert sich behutsam in Stellung gebracht und innerlich den Countdown begonnen. Fünf, vier, drei... Ein dumpfes Geräusch im Nebel hatte ihn aufblicken lassen. Durch den Dunst glitt ein Schiff auf sie zu. Instinktiv war Albert von der verblüfften Victoria heruntergesprungen. Der herankommende Bug, der auf sie zielte, schnitt in die Insel. Er riß das schwer atmende Mädchen auf die Füße. Gischt von dem stählernen Rumpf überschäumte sie, als dieser nur ein paar Meter vor ihnen zitternd zum Halten kam. Als der Anker aus der Küste katapultiert wurde, zertrümmerte er vor Alberts Füßen das Gestein. Dann wurde er von der Kette, die herunterrasselte, begraben. Ein bärtiges Gesicht erschien und starrte auf sie herunter! Sie sahen Blutstriemen, und eine dicke braune Flüssigkeit tropfte daraus. »He, Seemann!« rief Albert wütend hinauf. »Betreten verboten.« Der Kopf sah sie erstaunt an. Dann hoben sich zwei riesige geballte Fäuste und knallten auf die Reling des Schiffes, und er verschwand plötzlich. Gleich darauf erschien er wieder, diesmal in Begleitung eines zerrupften weiblichen Kopfes, der Kopfhörer trug, von denen noch ein kurzes Ende Draht herunterbaumelte. Die Nase blutete, und dünne Rinnsale Blut zogen sich an beiden Mundwinkeln vorbei nach unten und sahen wie ein finsterer roter Schnurrbart a` la DschingisKhan aus. Neben ihnen kamen immer mehr Köpfe zum Vorschein, bis der ganze Bug des Schiffes wie die Galerie | eines Theaters aussah. Plötzlich erinnerte sich Albert, daß er nackt war, und hielt notdürftig die Hände davor. Victoria stand da und schaute erstaunt auf das dunkle graue Schiff. »Was tun Sie da vor unserem Schiff?« fragte eine Stimme mit antiquiertem Akzent. »Sie haben auf unseren Kleidern geparkt. Wenn Sie ein bißchen zurückstoßen, können wir uns anziehen. Und ich glaube, Sie haben unsere Brote zerquetscht. Sie waren in unserem Boot.« Die Köpfe verschwanden. Albert konnte unmöglich sehen, was hoch über ihnen auf Deck vor sich ging. Er nahm die Hände wieder weg. In hypnotisierter Ungläubigkeit starrte Victoria immer noch hinauf. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie aus ihrer Erstarrung. »Ich glaub, meine Sonnenbrille ist da drunter«, war alles, was sie von sich geben konnte, und sie blickte zu der kleinen Bucht, die der Trawler jetzt restlos ausfüllte.
»In Zeiten wie diesen«, murmelte Albert. Er nahm ihren Arm und führte sie hinunter zu den zertrümmerten Resten ihres Bootes. Unter dem Kiel des Schiffes schaute ein verbogenes Lenkrad hervor. Die ganze Felsspalte, hinunter waren Splitter von Glasfiber verstreut. Der Außenbordmotor war zu einem Hufeisen zusammengerollt worden. Der einzige Hinweis auf ihre Kleidung war ein blauweißer Ärmel von Alberts Hemd. Victorias Sonnenbrille lag unbeschädigt unter den Wrackteilen. Sie untersuchte sie sorgfältig und lächelte Albert abwesend an, als sie sie aufsetzte. Er zog die Startschnur aus dem Außenbordmotor und band sie um seine Hüfte. Dann stopfte er vorn und hinten den blau-weißen Ärmel wie einen Lendenschurz darunter. Mehr war aus dem Schiffbruch nicht zu bergen. Er ging zum Heck des Trawlers. Das Schiff war völlig aus dem Wasser heraus. Nur die Spitze eines verbogenen Schraubenblattes berührte die Oberfläche. Eine Seite des Rumpfes war gut sechs Meter lang aufgerissen, wo eine Felsspitze die Stahlplatten wie ein Laserstrahl durchschnitten hatte. Er ging wieder auf das Plateau und blickte zum erstenmal zum Namen des Schiffes den Bug hinauf. »Ich werd' verrückt. Auch noch ein verdammter Russe!« Über die Bordwand des Schiffes wurde eine Strickleiter heruntergelassen und schlug gegen die Felsen. Ein Seestiefel wurde sichtbar, ihm folgten der schwere Körper und das bärtige Gesicht von Worolokow. Eine kleine Prozession kam hinter ihm her. Mit allerlei Knurren wurde der Schaden am Schiffsrumpf des Trawlers untersucht. Albert brauchte kein Russisch zu verstehen, um zu begreifen, daß die saftigen Flüche und Vorwürfe sich größtenteils gegen einen jungen Mann in einem weißen Kittel richteten. Eine Weile lang sah es so aus, als ob der junge Mann und der gewaltige Seemann ihren Streit in eine Schlägerei ausarten lassen würden. Die Frau, die immer noch ihren Kopfhörer und den blutigen mongolischen Schnurr bart trug, trat zwischen sie, deutete auf Albert und sagte etwas zu den beiden. Albert wünschte plötzlich, daß er wie üblich in Clacton Ferien gemacht hätte. »Guten Tag«, sagte sie. »Wie ist es Ihnen gelungen, uns so schnell diese Insel in den Weg zu stellen?« Diese weibliche Logik brachte Albert aus der Fassung. Der durchdringende Ton einer Schiffssirene hinter ihnen ließ die ganze Gesellschaft aufschrecken. Albert fuhr herum. Sein Magen krampfte sich in Panik zusammen. Er erwartete schon, aus der anderen Richtung ein weiteres Schiff auf die Insel zukommen zu sehen. Nach seiner Meinung war Foul Rock bereits jetzt ein wenig überbevölkert.
Durch den aufsteigenden Nebel sahen sie kaum vierhundert Meter entfernt einen riesigen Tanker, der, an Bug und Heck verankert, in einer Linie mit dem Trawler lag. Vom Topp wehte die rote Flagge der UdSSR. Sie beobachteten, wie ein Motorboot heruntergelassen wurde und in Richtung auf die Insel fuhr. Die gestrandete russische Besatzung ging ihm entgegen. Das Gespräch mit den Männern des Bootes begann, als jene noch fünfzig Meter entfernt waren. Die Besucher verschafften sich rasch einen Eindruck von den Schäden des Trawlers. Es war offensichtlich, daß zumindest Victorias Anwesenheit von den Neuankömmlingen bemerkt worden war. Immer wieder schweiften manche eindeutig verlangende Blicke in ihre Richtung. Aber hinter ihrer Sonnenbrille fühlte sie sich anonym. Albert hatte das unbehagliche Gefühl, daß die Russen sehr viel glücklicher gewesen wären, wenn sie ihn und Victoria zusammen mit ihrem kleinen Motorboot zerquetscht hätten. Nach einer Zeit kam die Gruppe zu ihm herüber. »Was machen Sie hier?« fragte ein uniformierter Offizier in fast akzentfreiem Englisch. »Sie befinden sich auf meiner Insel. Sie haben unser Boot und alle unsere Sachen zerstört. Mein Mädchen hat nicht einmal mehr eine Hose.« Der Offizier gab einem riesigen Russen an seiner Seite einen kurzen Befehl. Der Matrose zog seinen gewaltigen öligen Pullover aus und reichte ihn Victoria. Sie drehte sich um und streifte ihn über. Er paßte ihr wie ein gewaltiger, öliger Seemannspulover, aber die Wirkung war erotisch — niemand konnte vergessen, daß sie immer noch keine Hose anhatte. Der Trupp begab sich zur Bordwand des Trawlers und begann hinaufzuklettern. Albert und Victoria, die nicht wußten, was sie tun sollten, warteten am Fuß der Strickleiter. Einen Augenblick später erschien der weibliche Kopf über dem Schanzkleid und bat sie hinauf. Albert ging voran. »Bitte, kommen Sie.« Das weibliche Wesen und ein untersetzter Mann mit verbogener Nase und einem einseitigen Grinsen auf dem Gesicht führten sie in eine Kabine. »Sie müssen damit vorliebnehmen.« Sie zeigte auf eine doppelstöckige Koje. »Ich hoffe, daß Ihnen das nichts ausmacht.« »Was für Bedenken«, sagte Albert und sah Victoria an. »Bitte setzen Sie sich. Wie war's mit Wodka?« Albert nickte ihr zu. »On the rocks.« »Wo, bitte?«
Albert lächelte, setzte sich und stellte plötzlich fest, daß er einen unangenehmen Sonnenbrand auf einem daran nicht gewöhnten Körperteil erwischt hatte. Die verbogene Nase drückte ihnen schmierige Gläser in die Hand, und eine Flasche wurde auf den Tisch gestellt. Albert nippte an der klaren Flüssigkeit, die das Mädchen ihm eingeschenkt hatte. »Njet. So.« Sie kippte ihr Glas in einem Zug hinunter. Albert und Victoria machten es ihr nach. Zwanzig Minuten später war die Flasche halb leer. Albert drängte sich ein schwarzer Verdacht auf, als das weibliche Wesen ihnen immer wieder nachschenkte. Aber es war ihm gleichgültig. Er fühlte sich entschieden wohler, obwohl sein Gehirn ihm meldete, daß man zum Tode Verurteilte vor der Exekution betrunken machte. Er fragte sich nur, ob der Wodka seinen schmerzenden Hintern betäuben würde. Die Kabinentür wurde aufgestoßen. Der Bärtige und der uniformierte Offizier von dem Tanker traten auf sie zu. »Dies«, sagte das weibliche Wesen und zeigte auf den Bärtigen, »ist der Kapitän des Trawlers, Worolokow. Und das ist der Flottenkommandant Newskij. Ich heiße Tanya Suworowa, Funkerin.« Albert stellte sich und Victoria vor. Worolokow erklärte, daß sie trotz der anscheinend schweren Schäden hofften, den Trawler am nächsten Tag wieder flottzumachen. Sie wollten die Nacht hindurch arbeiten und neue Platten auf den Schlitz im Schiffsrumpf aufschweißen. Dann würde man die DMITRI KIROW zur Reparatur nach Leningrad schleppen. Victoria empfand den russischen Kapitän als warmherzig und freundlich. Er sprach ein gutes Englisch. »Unser Unfall war ein Irrtum in der Radarsteuerung«, sagte er, »und ist uns allen sehr unangenehm. Wir bedauern die Zerstörung Ihres Bootes. Unsere Botschaft in London wird den Schaden wiedergutmachen. Morgen bringen wir Sie an Land zurück. Seien Sie bitte bis dahin unsere Gäste.« Albert dankte ihnen für ihre Freundlichkeit, und die drei Russen verließen die Kabine. Wenig später kam Tanya mit einem Armvoll Kleidern. »Für Sie«, sagte sie und ging wieder hinaus. Sie zogen sich an. Albert stellte fest, daß das rauhe Tuch der Arbeitsanzüge fürchterlich scheuerte. Arbeitsgeräusche ließen ihn aus einem der Bullaugen blicken. Er sah, daß eine Reihe von Seeleuten Schweißgeräte zum Schiff schleppten. Auch über sich hörte er arbeitende Männer. Der Lärm wurde lauter, als die zerrissenen und be schädigten Teile des Schiffsrumpfes mit Schneidbren-
nern herausgeschnitten wurden. Metall schlug dröhnend aufeinander, als die Ingenieure neue Platten hochzogen. Der Krach, der durch die Kabine hallte, trieb Albert und Victoria an Deck. Die Sonne ging allmählich unter. Aber die Scheinwerfer auf den Felsen und an Deck erhellten alles. Wenn der Lärm nicht wäre, dachte Albert, hätte es romantisch sein können. Tanya erschien neben ihnen und bat sie in die Messe hinunter. Worolokow war schon dort. Er bat Victoria, zu seiner Linken Platz zu nehmen. Tanya saß an ihrem gewohnten Platz rechts von ihm. Albert suchte sich unauffällig einen Platz neben ihr. In der geborgten Seemannskleidung fühlte er sich hief durchaus zu Hause. Man brachte georgischen Wein, russische Eierkuchen und gesalzene Heringe. Worolokow beherrschte das Gespräch. Er erzählte mit großer Wärme von seinen Besuchen in Großbritannien während des Krieges. Dabei hätte er Englisch gelernt, erklärte er. »Damals wurde in russischen Schulen Englisch noch nicht unterrichtet«, sagte er. »Heute ist alles anders.« Zum erstenmal, seit das Auflaufen des Trawlers ihr einen Schock versetzt hatte, begann Victoria sich zu entspannen. Sie mochte Worolokow. Er war der erste Russe, den sie je kennengelernt hatte. Jetzt genoß sie das Abenteuer, aber sie wußte, daß ihr Vater sich Sorgen machen würde, weil sie nicht zurückgekehrt war. Nach dem Kaffee und weiterem Wodka entschuldigte sich Worolokow, er müsse die Reparaturarbeiten überwachen. Tanya, so schien es, würde noch für längere Zeit im Funkraum zu tun haben. Victoria und Albert zogen sich in ihre Kabine zurück. Der Lärm glich jetzt dem in einer Eisengießerei. »Es ist zum Schlafen zu laut. Meinst du, daß die ein Monopoly-Spiel für uns haben?« Albert sah zu Victoria herunter, die unter ihm auf der niedrigen Koje hockte. Sie lächelte, griff nach oben und zog ihn an seinem Gürtel herunter. Albert küßte sie. »Auf Monopoly bin ich nicht scharf«, sagte er und war drauf und dran, eine bessere Methode vorzuschlagen, um die Nacht zu verbringen, als die Tür geöffnet wurde. Es war wieder Tanya. »Lassen Sie sich nicht stören. Meine Wache ist vorüber. Ich schlafe.« Angezogen, wie sie war, ließ sie sich in die Einzelkoje an der gegenüberliegenden Seite der Kabine fallen. Albert kletterte vor sich hin knurrend wieder in die obere Koje. Er lag auf dem Bauch, denn sein verbranntes Hinterteil schmerzte zu sehr. Victoria wachte auf, als irgend jemand sie behutsam schüttelte. Tanya stand da. Sie hatte Kaffee gebracht. »Bitte machen Sie sich fertig. Wir wollen das Schiff bald abschleppen.«
Es war kurz nach fünf Uhr. Der Tag war noch blaß und mager. Die Geschäftigkeit draußen hielt an. Albert und Victoria gingen an Deck. Überall rund um die Insel lagen Schiffe - russische Schiffe. Mindestens ein Dutzend ankerte vor der Ostküste. Ein müder Worolokow winkte sie von unten zu sich. Sie kletterten zu ihm herunter. Er stand da und blickte auf die neuen Metallplatten am Schiffsrumpf. »Eine notdürftige Arbeit«, entschuldigte er. »Aber bis nach Hause werden wir es schaffen. In wenigen Minuten ziehen sie uns herunter. Bitte gehen Sie zur anderen Seite der Insel, damit Ihnen nichts passiert.« Dicke Taue und Drahtseile führten von der DMITRI KIROW ins Wasser und in Richtung auf die vor Anker liegenden Schiffe. Der Trawler schien Teil eines gigantischen Spinnengewebes zu sein. Eine Sirene heulte auf. Ankerketten rasselten. Die Schiffe drehten dem festsitzenden Trawler das Heck zu und manövrierten, bis sie in einem kleinen Kreisbogen nebeneinanderlagen. Zwei kurze Signale gaben ein weiteres Zeichen, und das Schleppen begann. Albert und Victoria zogen sich weiter zurück. Hinter den Schiffen auf See schäumte weißes Wasser auf. Die Trossen versteiften sich zu einem Gitterwerk aus braunem Stahl. Albert sah, wie Worolokow auf Deck gestikulierte und Befehle schrie. Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts. Dann hörte man eine Reihe scharfer Knalle, als einige der Schleppleinen rissen. Der Bug des gestrandeten Trawlers zitterte und neigte sich. Weitere Explosionen folgten. Große Teile der Trossen schlugen peitschend auf das Deck der DMITRI KIROW zurück und fegten herunter, was sich dort befand. Ein letzter Kanonenschuß, und alle waren zerrissen. Rund um den immer noch festsitzenden Trawler wirbelte weißer Gesteinsstaub auf. Zwei Stunden später lagen die schleppenden Schiffe wieder in Position, um es noch einmal zu versuchen. Diesmal war auch ihr Mutterschiff, der Tanker dabei. Wie das erste Mal gab eine Sirene die Befehle. Die Schiffe arbeiteten. Wieder entstand ein Zittern, und dann gab es einen Krach, als ob ein Böller abgefeuert würde. Eine Schlepptrosse peitschte zurück über das Deck, riß einen Poller mit und schmetterte ihn seitlich durch die Brücke. Gleich darauf folgte die nächste Explosion. Dieses Mal wurde achtern das ganze Deckhaus heruntergefegt und so die bedrohliche Abwurfvorrichtung für Wasserbomben ans Tageslicht gebracht. Dann hörte Albert den Trawler aufschreien. Schauerlich und erschreckend hallte es über die Insel. Der Bug hob sich zwei, drei Meter über den Boden, blieb einen
Augenblick so hängen und krachte dann mit einem donnerartigen Splittern von Fels und Metall zurück. Ein Signalhorn auf der Brücke des Trawlers steigerte noch den Lärm. Die schleppenden Schiffe stoppten ihre Maschinen. Der Trawler lag starr und fest immer noch auf der Insel. Das Heck war gebrochen. Der letzte Schleppversuch hatte ihn buchstäblich auseinandergerissen. Wieder auf dem Schiff, wurde Albert gesagt: »Da ist nichts zu machen. Wir haben uns entschlossen, die Geräte auszuladen.« »Sie können aber nicht diesen großen Haufen Alteisen auf meiner Insel liegenlassen«, sagte Albert. »In diesem Land ist es verboten, seinen Schutt abzuladen, wo man will.« »Wir haben keine Wahl«, sagte Worolokow traurig. »Aber wenn wir erst ausgeladen haben, können wir den Rumpf vielleicht sprengen, bevor wir abfahren.« Ein Ruf von den Felsen herüber unterbrach das Gespräch. »Das ist Papa«, sagte Victoria. Sie lief zur Reling. Rhodes stand unten an der Strickleiter, neben ihm der in Ölzeug gekleidete Steuermann des örtlichen Rettungsbootes. Rhodes' Gesicht spiegelte zugleich Zorn und Erleichterung wider. Als die beiden nicht zurückgekommen waren, hatte er die Küstenwache alarmiert. Noch vor Morgengrauen war er mit der Besatzung des Rettungsbootes hinausgefahren. »Ich werde dem jungen Hund eins überziehen«, hatte er zu dem Steuermann gesagt. Sie landeten in der Nähe des gestrandeten Trawlers, und als Rhodes in der kleinen Bucht die Überbleibsel seines Motorbootes, ein paar Kleiderfetzen und Alberts zerquetschtes Fernglas entdeckte, war er sehr erschrokken. Victoria kletterte die Leiter hinunter und fiel ihm um den Hals. Albert folgte. Er erklärte, was geschehen war. Rhodes setzte sich auf einen Felsen und hörte zu. Seine schlauen Augen musterten die seltsamen Antennen, Geräte und anderen komplizierten Einrichtungen hoch oben auf den Aufbauten des Trawlers. Schließlich stand er auf. Er angelte in seiner Hosentasche und fischte eine Taschenflasche Gin heraus - die größte, die Albert je gesehen hatte. Sie sah aus wie die Wasserflasche eines Fremdenlegionärs. Er schraubte den Trinkbecher ab und drückte ihn Albert leer in die Hand. Dann nahm er einen tiefen Zug aus der Flasche, bevor er sie weiterreichte. »Ich glaube, ich kann Sie reich machen, mein Junge.« Um jedem seiner Worte Nachdruck zu verleihen, stupste er Albert immer wieder auf die Brust. »Sie brauchen meine erfahrene Hilfe. Ohne besondere Genehmigung dessen, der über das Wrack verfügen kann, dürfen sie keine
einzige Schraube von dem Kahn entfernen — und der Besitzer sind Sie, da Ihnen dieses Stückchen Felsen gehört.« Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schob seine Perücke in bester Gerichtssaalmanier nach vorn. »Nach meiner Auffassung unterliegt diese Insel allein Ihren Gesetzen. Überlassen Sie das nur mir.« Er wandte sich ab und blickte dann zu Albert zurück. »Als Generalstaatsanwalt Ihres Landes natürlich...« Rhodes ging zu Worolokow und Uschakow hinüber, die der Besatzung Befehle erteilten, den Trawler zu entladen. »Ich möchte den leitenden Offizier sprechen«, sagte er in bestimmtem Ton. »Ich bin der Kapitän.« Rhodes nahm die amtliche Haltung seines Berufsstandes ein. »Gut. Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Sie kein einziges Gerät entladen dürfen, bevor nicht von einem internationalen Gericht eine Abfindung festgesetzt worden ist. Ich bin der Rechtsvertreter des Eigentümers dieser Insel, und ich brauche nicht auf die Folgen hinzuweisen, wenn Sie dieser Warnung nicht nachkommen.« In Worolokows Augen entstand ein verschmitzter Ausdruck. »Bergegeld?« fragte er. »Bergegeld und Abfindung«, korrigierte Rhodes. »Kann er das mit uns machen?« fragte der Wissenschaftler auf russisch. »Ja, aber ich hoffte, daß wir so davonkämen.« Uschakow zuckte mit den Schultern. Die beiden Männer kletterten müde an Bord des unglücklichen Trawlers. Tanya steckte ihren Kopf aus der Tür ihrer Funkkabine und sah den niedergeschlagenen Worolokow herankommen. »Flottenkommandant Newskij möchte wissen, wann die erste Bootsladung mit Geräten zu erwarten ist.« »Sag ihm, daß wir nichts ausladen dürfen. Wir haben hier einen verrückten Anwalt, der droht, uns einen Kukkuck auf das Schiff zu kleben. Ich hatte schon Angst, daß das eintreten würde, als das Rettungsboot ankam. Newskij wird das aushandeln müssen.« Tanya übermittelte die Nachricht. »Er möchte mit Ihnen sprechen«, sagte sie. Worolokow zuckte zusammen und nahm das Mikrophon des Sprechfunkgeräts in die Hand. Rhodes, Albert und Victoria saßen in der Nähe des leuchtenden Rettungsbootes auf den Felsen. Von Deck des Trawlers rief Tanya zu ihnen herunter. »Flottenkommandant Newskij bittet Sie, zu einem Gespräch auf sein Schiff zu kommen.«
»Tut mir leid«, rief Rhodes zurück. »Wir sind nicht bereit, unser Hoheitsgebiet zu verlassen, um das zu besprechen. Er muß schon hierherkommen.« Als Newskij schließlich erschien, wand sich die Diskussion durch die Irrwege der rechtlichen Lage. Der Russe bestand darauf, daß er jedes Recht habe, das Eigentum seines Landes von der Insel zu entfernen. Rhodes verlangte ebenso unerschütterlich, daß es zu bleiben habe. Victoria fand es aufregend, zu sehen, wie ihr Vater sich in keiner Weise durch die bewaffneten Wachen einschüchtern ließ, die den Offizier begleiteten. Nach langem Hin und Her kam der Anwalt zu Albert herüber. »Sind Sie bereit, einen Teil der Insel zu verkaufen oder zu verpachten?« »Was schaut dabei heraus?« »Keine Sorge. Das können Sie mir überlassen. Ich treibe sie so hoch wie möglich.« Er kehrte zu dem Russen zurück. »Für sechs Millionen Rubel ist der Eigentümer dieses Landes bereit, Ihnen die beschädigte Hälfte der Insel einschließlich Ihres Trawlers zu verpachten.« Der Russe sah ihn sprachlos an — ebenso sprachlos wie Albert, der zwar nicht wußte, wieviel das war, aber meinte, daß das nach einem ganzen Haufen Geld klang. »Das sind über eine Million Pfund«, flüsterte Victoria, die sich an ihr kürzlich bestandenes Examen erinnerte. Der Russe starrte Rhodes hart an. »Ich werde mich sofort mit meiner Regierung in Verbindung setzen.« Rhodes beobachtete Newskijs steifen Rücken, als der Russe zu seinem Boot zurückging und sich bemühte, auf dem unebenen Gelände eine möglichst arrogante Haltung zu bewahren. Seine Wache folgte ihm. Offensichtlich war er sehr ärgerlich. Er sprang spritzend in das flache Wasser und mit einem Satz an Bord des Kutters. Einer der Männer schob das Boot mit dem Riemen ab, und sie steuerten auf die AYAT zu. Newskij starrte voraus und blickte kein einziges Mal zur Insel zurück. Rhodes ließ seine Amtsmiene fallen. »Wir gewinnen! Wir gewinnen!« Er hüpfte von einem Bein auf das andere. Albert sah, wie sich unter der roten Perücke das Tageslicht auf der Glatze spiegelte. »Wir brauchen nur noch zu handeln. Die Russen wissen, daß sie letzten Endes zahlen müssen. Und sie werden es erledigt haben wollen, bevor die Westmächte ihre Nase hineinstecken.« Aus seiner Taschenflasche goß er einen Siegesschluck in sich hinein und fuhr fort: »Das ist kein Fischdampfer. Das ist ein Spionageschiff. Wahrscheinlich haben sie Geräte an Bord, die ein paar Millionen Pfund wert sind. Die Russen wissen, daß die Yan
kees liebend gern ihre Finger in das Spiel stecken würden. Daher werden sie den Kahn so schnell wie möglich abwracken.« Er sah auf seine Uhr. »Ich fahre mit dem Rettungsboot nach St. Mary's zurück«, sagte er. »Ihr beide bleibt am Ball. Und geht nicht wieder auf den Trawler. Tut mir leid, daß ihr hungern müßt, bis ich wieder da bin. Ich hole etwas zu essen und ein Zelt. Bis alles geregelt ist, werden wir hier draußen bleiben. Ich komme heute abend wieder. Oh! Wir brauchen Ihre Urkunde. Wo ist sie?« Albert beschrieb ihm, wo sie in einem Koffer auf seiner Bude zu finden sei. »Packen Sie auch ein paar Sachen zum Anziehen ein. Ich könnte sie gut gebrauchen«, sagte er. Rhodes stieg in das Rettungsboot. Albert lief hinter ihm her. »Sagen Sie lieber Mrs. Pengelly, daß ich auch heute abend nicht zum Essen komme.« Flottenkommandant Newskij war in der Regel fehlerlos gekleidet. Groß, mit grauen kurzgeschnittenen Haaren, war er ein Musterexemplar der sowjetischen Marineakademie. Bisher hatte er eine glänzende Laufbahn hinter sich. Und er hoffte, daß seine Sprachkenntnisse ihm den Posten eines Militärattaches in einem der westlichen Länder verschaffen würden - am liebsten in Kanada, denn er war ein Eishockeyfan. Er hatte seine Kabinentür abgeschlossen und saß mit offenem Kragen und heruntergezogenem Schlips am Tisch. Seine Jacke hing auf den gebeugten Schultern. Er stützte die Stirn auf den Daumen der linken Hand, in der er eine Zigarette hielt, deren Asche sich schon schräg nach unten bog. Er starrte auf eine Karte. Der kleine, dick umrandete Punkt war Foul Rock und starrte auf ihn zurück. Seine Karriere stand auf dem Spiel. Jetzt wartete er nur noch auf den Funkspruch, der ihn in das Marineamt irgend eines finsteren kleinen Hafens abschob. Er wußte, daß das schon dann die Strafe war, wenn man auch nur ein unbedeutendes Schiff seiner Flotte verlor. Womit er den Verlust der DMITRI KIROW zu büßen haben würde, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Ein scharfes Klopfen an der Kabinentür riß ihn aus seinen trüben Gedanken. »Der Funkoffizier, Sir.« Flottenkommandant Newskij ließ die Karte hinter dem Tisch verschwinden. Als er die Tür öffnete, saß die Krawatte wieder korrekt in der Mitte des Kragens/und er war der elegante Flottenkommandant wie eh und je. Er sah das lächelnde Gesicht des Funkoffiziers, und seine Augen wurden hart. Er riß die Nachricht an sich und befahl dem anderen, draußen zu warten. »Schon stürzten sich die Schakale auf den Kadaver«, dachte er. Er entfaltete den Funkspruch und las ihn.
Seine Schultern richteten sich auf. Sein Mund zog sich in die Breite. Und dann folgte etwas, das in dem dürftigen Leben an Bord sonst nie geschah. Das Gelächter brach aus ihm hervor und hallte durch die Kabine. Er klammerte sich an seine Koje und bohrte den Kopf in die Matratze. Tränen liefen über seine Backen. Er rollte auf den Rücken, zog die Knie an und versuchte mit feucht verschwommenen Augen die Nachricht zu lesen. Immer wieder blickte er auf die Glückwünsche vom Präsidium des Obersten Sowjets. Sie waren überschwenglich, fast poetisch. Sie waren einmalig. Ein solches Lob hatte Kapitän Newskij noch nie gehört. Newskij stand auf, ein Held und Konteradmiral. Er hatte das Unmögliche geschafft und war befördert worden. Er hatte vor den Toren Großbritanniens und in der Zufahrt zum Atlantik eine wichtige strategische Basis errungen. Der Englische Kanal, die Irische See und der Golf von Biskaya waren von hier aus unter Kontrolle zu halten. Foul Rock war das Ei des Kolumbus* Albert und Victoria standen an der Nordseite der Insel und halfen Rhodes, seine Siebensachen zu entladen. Seine Rückkehr war eine Art Karnevalszug, und die russischen Fischer auf dem Trawler sahen zu. Er kam in einem Ruderboot, das beinahe gefährlich überladen war. Collins, sein Kanzleivorsteher, begleitete ihn. In schwarzem Jackett, gestreifter Hose und silbergrauer Krawatte, die im Sonnenschein leuchtete, war dieser untadelig gekleidet. Der Anwalt selbst sah aus, als ob es auf die Haifischjagd ginge. Er trug weiße Seestiefel, einen grellgelben Ölmantel und eine blau-rote Radfahrermütze, auf der vorn das Wort »Cinzano« stand. Er und Collins ignorierten die russischen Zuschauer und suchten in aller Würde nach einem passenden Lagerplatz. Als das Problem zu ihrer Zufriedenheit gelöst war, begannen sie das große orangefarbene Zelt aufzustellen. Die Arbeit ging ihnen wie alten Routiniers von der Hand, und sie unterteilten es in vier »Schlafzimmer«, zwei auf jeder Seite des Hauptraumes. Dann traten sie zurück und betrachteten kritisch ihr neues Büro und Hotel. Die Vorräte und das Mobiliar für das Zelt wurden vom Strand herauf geschleppt. Albert half ihnen, Stück um Stück die Gesetzbücher und Kisten zu tragen; dann die zusammenklappbaren Tische, Stühle, den Kochherd, die Wasserkanister und Laternen. Er überlegte, ob sie auch Eßbares mitgebracht hätten. »Was gibt's?« fragte Rhodes, als ihm das plötzlich auffiel. »Ich möchte wissen, wo die Fressalien sind. Wir haben den ganzen Tag noch nichts gegessen.« Der Anwalt zeigte auf einen kleinen Karton, der zwischen zwei großen, bauchigen Ginflaschen stand. Dann
beschäftigte er sich wieder damit, die Tische, die Schreibmaschine, die Lampen und die Bücher an ihren Platz zu stellen. Collins trat mit einer derartigen Selbstverständlichkeit auf, als ob er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan habe, als in hellen, orangefarbenen Zelten auf kleinen Felsinseln zu arbeiten. Sein gebräunter, kahler Schädel schimmerte in der warmen Abendsonne, als er das Namensschild auf ein Stück Treibholz nagelte und dieses vor dem Zelteingang in einer Felsspalte aufstellte. »Jas. Rhodes. Bachelor of Laws. London. Vereidigter Anwalt.« Schließlich ging er wieder zu dem Ruderboot hinunter und kam kurz darauf mit einem großen Schild wieder, das er sorgfältig vor dem Zelt aufstellte. Darauf stand: »Willkommen.« Victoria übernahm den Küchendienst und erwies sich darin als erstaunlich sicher. In wenigen Minuten hatte sie hinter dem Zelt einen zweiflammigen Gaskocher aufgestellt. Das Brutzeln der Steaks und Zwiebeln wurde von krachendem Lärm übertönt. Tief über der Wasseroberfläche kam ein Hubschrauber daher, fegte über die Insel hinweg und stieg vor der AYAT hoch. Dort blieb er hängen, und sie beobachteten, wie eine kleine Gestalt sich auf das Deck des russischen Schiffes herunterließ. Ein paar Sekunden lang verharrte der Hubschrauber noch am selben Fleck, dann schwirrte er davon, zurück in Richtung auf die französische Küste. »Meinen Sie, daß sie einen ihrer Häuptlinge haben kommen lassen, Sir?« fragte Collins. Rhodes zuckte mit den Schultern, lüftete seine rote Perücke und kratzte sich den Kopf. Der Himmel war jetzt fast purpurrot. Rhodes zündete eine Gaslaterne an und hockte sich zusammen mit Collins in das Büro. Dort wühlten sie in ihren Papieren, wälzten die Bücher und tranken Gin. Albert holte die Sitzkissen aus dem Boot. Victoria und er setzten sich vor das Zelt und schauten zu den blinkenden Lichtern der russischen Flotte hinüber. Von dem gestrandeten Trawler, fünfzig Meter entfernt, hörten sie eine Balalaika. Sie klang traurig und melancholisch. Kein Lufthauch rührte sich. Die See war glatt. Hin und wieder dröhnte vom Schiff herüber das Geräusch von Stiefeln auf stählernen Treppen, aber es war nichts zu entdecken. Als sie schließlich müde wurden, gingen Albert und Victoria in das Zelt. Sie verabschiedete sich von ihm mit einem Händedruck, gab ihrem Vater einen Kuß und verschwand in einer der Schlafkabinen. Albert zögerte einen Augenblick und nahm dann die neben ihr. Rhodes und Collins arbeiteten weiter.
Am nächsten Morgen weckte ihn Victoria mit Hilfe kühlen Wassers. »Entschuldige«, sagte sie. »Du warst nicht wachzukriegen. Und das Frühstück ist fertig. Ich bin schon länger als eine Stunde auf den Beinen.« Einen Großteil der Zeit hatte sie für ihre Kriegsbemalung verwandt. Ihr Vater hatte ihren Schminkkoffer aus St. Mary's mitgebracht, und sie hatte keine seiner Möglichkeiten ausgelassen. Sie trug ein ärmelloses Kleid, das Albert eher für eine Cocktailparty geeignet schien als für ein paar Tage Lagerleben. »Papa glaubt, daß die Russen in wenigen Minuten herüberkommen werden. Zieh dich lieber an.« Albert durchwühlte seinen Koffer und fand Unterhosen und Shorts. Diese waren für seinen immer noch verbrannten Hintern weit angenehmer als der russische Arbeitsanzug der letzten anderthalb Tage. Er kam durch den Ausgang in die Küche des Zelts und sah, daß Victoria ihm schon eine Wasserschüssel eingefüllt hatte. Er wusch und rasierte sich. Dann ging er zurück, um seinen Schlafraum aufzuräumen und ein Hemd zu suchen. Es tat gut, wieder einmal frisch und sauber zu sein. Albert konnte Schmutz nicht ausstehen. Rhodes und Collins saßen vor dem Zelt unter einem Sonnensegel beim Frühstück. Albert hockte sich neben sie. »Gin oder Cornflakes?« fragte Rhodes. »Wir haben beide die ganze Nacht lang durchgearbeitet.« Er sah müde aus. Seine Perücke war wieder verrutscht, und der Scheitel erstreckte sich jetzt von Ohr zu Ohr. »Es gibt nichts Besseres als im Sommer ein Frühstück im Freien, auch dann, wenn man sein Bett nicht gesehen hat.« Albert entschied sich für Cornflakes. Die Sonne stand schon hoch über der Insel. Nach Norden war der Ausblick vom Zelt fast wie am Mittelmeer, der Süden erinnerte an ein Hafendock und der Südwesten, wo die russiche Flotte vor Anker lag, an das Aufmarschgebiet zu einer Flottenparade. Albert hockte unten am Wasser und versuchte, die Bratpfanne mit einer Handvoll Kies und Seetang zu reinigen. Hinter sich hörte er Schritte, drehte sich um und sah Tanya herankommen. Er blickte ihr entgegen. Ihre Uniform war frisch gebügelt und ihr Haar streng hinter die Ohren zurückgekämmt. Schwarze Strümpfe und Schuhe mit flachen Absätzen. Albert hatte den Eindruck, daß sie auf einer Insel genauso fehl am Platz war wie Victoria. Aber auch so war sie attraktiv. Albert überlegte, wie die beiden Mädchen aussehen würden, wenn sie die Kleider tauschten. »Hallo«, sagte sie, weil sie nicht genau wußte, wie man sich früh am Morgen begrüßt.
»Morgen«, antwortete Albert und steigerte damit ihre Verwirrung. »Ich sehe, Sie haben da ein großes Stoffhaus«, sagte sie und zeigte auf das Zelt. Albert lächelte sie an. Sie sprach sehr leise. »Kapitän Worolokow sagt, er will bald mit Ihnen sprechen. In einer Stunde kommen er und die anderen Offiziere in das Stoffhaus.« Albert lud sie zu einer Tasse Kaffee ein. »Ich danke Ihnen, nein. Kapitän Worolokow sagte, ich muß es Ihnen schnell ausrichten und wieder verschwinden.« Albert biß sich auf die Lippen. Sie drehte sich um und ging, auf dem Kies rutschend, wieder zum Trawlerzurück. »Bildest du dir Schwachheiten ein?« fragte eine Stimme. Victoria stand im Küchenausgang des Zelts. »Erstens ist sie nicht blond genug, und zweitens hält sie mich für einen bissigen Hund«, sagte er. Victoria grinste. »Das habe ich gehört. Wenn sie dich anfaßt, bekommt sie von mir' ne Abreibung — mit einem Felsen.« Albert kam zum Zelt herauf und steckte seinen Kopf in das Büro. »In einer Stunde kommen die Russen«, sagte er. »Wir sind auf sie vorbereitet«, war die Antwort. »Kommen Sie herein, und wir werden Ihnen sagen, welche Marschrichtung wir für die beste halten.« Man hörte ein Glas klingen, als Rhodes sich sein zweites Frühstück einschenkte. Er schob eine Zigarettenkiste herüber und dann das Tischfeuerzeug. »Wir müssen die Sache geschäftsmäßig abwickeln. Möchte jemand etwas zu trinken?« Er sah Albert an, der den Kopf schüttelte. »Da es um so viel Geld geht, möchte ich, daß Sie diese Vereinbarung unterschreiben. Lesen Sie sie sorgfältig durch. Sie ermächtigt mich, für Sie in dieser Angelegenheit zu verhandeln. Außerdem garantiert sie mir fünf Prozent. Das ist weniger, als ich sonst nehme. Aber Collins und ich sind der Meinung, daß unser Arbeitsaufwand dem entspricht.« Rhodes kippte den dritten Gin dieses Vormittags in sich hinein und richtete automatisch seine Perücke. Albert überflog den Schriftsatz. Er schien in Ordnung, und er unterzeichnete. »Ich schlage jetzt vor«, sagte Rhodes, »daß wir einen Teil der Insel den Russen verpachten, nicht verkaufen. Sie sind nur daran interessiert, jeden von ihrem Trawler fernzuhalten. Wir werden ihnen sagen, daß es unter neunundneunzig Jahren nicht zu machen ist.«
Auf seinem Gesicht erschien ein selbstzufriedenes Grinsen, und er goß sich noch einen Gin ein. »Sie werden das Schiff so schnell wie möglich verschwinden lassen wollen.« »Das alles überlasse ich Ihnen, Mr. Rhodes.« »Danke.« Victoria brachte Albert eine Tasse Kaffee, und die drei Männer gingen hinaus, um auf ihre sowjetischen Besucher zu warten. Sie sahen zu, wie Worolokow sich über die Strickleiter des Trawlers schwang und auf eine kleine felsige Landzunge hinausging. Das Motorgeräusch vom Kutter der AYAT wurde lauter, als er um die Insel herumkam und sich Worolokow näherte. Dieser fing die Leine auf und zog das Boot nahe an das felsige Ufer. Newskij und ein junger Mann mit einem rosigglatten Gesicht, der einen eleganten braunen Anzug anhatte und unter dem Arm eine Aktentasche trug, kletterten an Land. Dort blieben die drei Russen stehen und sprachen miteinander. Dann kamen sie auf das Zelt zu. »Muß ich dabeisein?« fragte Albert. »Nein, nur nachher bei der Unterschrift. Aber bleiben Sie in der Nähe. Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche. Victoria, bitte, mach uns jede Menge Kaffee.« Die Russen lächelten Albert und Victoria an, als das Paar aus dem Zelt kam. »Bitte gehen Sie hinein«, sagte Albert. Collins empfing die Besucher und führte sie formvollendet zu Rhodes, der hinter seinem Tisch saß. Er stand auf und reichte den drei Männern die Hand. Newskij stellte den Fremden vor. »Das ist Genösse Gregori Lazarew von unserer Pariser Botschaft.« Albert saß hinter dem Zelt im Schatten und hatte sich vor der Hitze des Gaskochers zurückgezogen. Victoria lief im Pendelverkehr der Kaffeetassen zwischen Küche und Konferenz hin und her. »Jetzt trinken sie da drinnen Gin«, sagte sie zwei Stunden später. Dort, wo Albert saß, konnte er von den Verhandlungen nichts hören. Aber unter dem Zeltrand krochen Fetzen von Zigarrenrauch hervor. Schließlich wurde der Vorhang des Küchenausgangs schwungvoll zurückgezogen, und Collins steckte seinen Kopf heraus. »Sie sind dran«, sagte er. Im Zelt war die Luft so voller Rauch, daß Albert Schwierigkeiten hatte, die Augen offenzuhalten. Rhodes legte seine Hand auf Alberts Schulter und bat ihn, den Vertrag zu unterzeichnen, der auf dem Tisch lag. Albert sah ein fast unmerkliches Zwinkern. Er stellte fest, daß Rhodes seine Perticke zum erstenmal nicht auf
dem Kopf trug. Er benutzte sie, um die Zigarrenasche vom Tisch zu stauben. »Ausgezeichnet, meine Herren«, sagte Rhodes. Er schob das Dokument Lazarew hinüber. Der Russe öffnete seine Aktentasche und zog einen Stoß Durchschläge heraus. Er blätterte darin und reichte einen davon Collins. »Wollen Sie den Namen dieses Herrn bitte hier hineintippen?« Er erhielt ihn zurück, prüfte ihn sorgfältig und übergab ihn Albert. »Das ist Ihr Exemplar«, sagte er mit einem Lächeln. »Wir werden unsere Schweizer Bank sofort benachrichtigen. Das Geld wird morgen auf Ihr Konto Überwiesenwerden.« Lazarew verbeugte sich vor Victoria, gab den drei Männern die Hand und ging aus dem Zelt. Auch die beiden anderen verabschiedeten sich und folgten ihm. Dreißig Meter weiter gingen die Russen langsam davon, ohne ein Wort zu wechseln. Dann versetzte Newskij Worolokow einen Rippenstoß und klopfte Lazarew vergnügt auf die Schulter. »Unsere neue Kolonie«, sagte der frisch gebackene Admiral. »Genauso einfach, wie über Bord zu fallen.« Die drei Männer kicherten unterdrückt. Sie hakten ihre Arme unter und summten fröhlich die Internationale, als sie rasch zum Kutter zurückliefen, und sie planten schon die Siegesfeier an Bord der AYAT. Albert blickte noch auf den Durchschlag in seiner Hand. Der Text war französisch. »Was bedeutet das?« fragte er. »Es bedeutet, mein Junge, daß Sie Millionär sind. Eineinhalbmal. Lassen Sie mich als erster Ihnen gratulieren. Nehmen Sie einen Gin.« Victoria hängte sich Albert um den Hals. Sie hatte beschlossen, daß sie Millionäre liebte. Collins war verschwunden. Sekunden später erschien er wieder und hatte in der einen Hand eine Flasche Bordeaux, in der anderen balancierte er ein Tablett mit vier Gläsern. »Tür mir leid, daß es kein Champagner ist. Feiern wir.« Albert war ganz benommen. Sie aßen zu Mittag, und dann gingen Rhodes und Collins zu den russischen Landvermessern hinaus, welche die Trennungslinie quer über die Insel festlegten. Albert und Victoria sahen zu, wie mitten über Foul Rock von Wasserkante zu Wasserkante ein dicker weißer Strich gemalt wurde. »Irgendwie macht mich das traurig«, sagte Albert. »Das war der Teil der Insel, den ich am liebsten hatte. Dort hab' ich dich kennengelernt.« Albert lag verschwitzt in seinem Schlafsack. Schweißtropfen kullerten ihm über den Bauch. Er rieb ihn. In
dem Zelt konnte man kaum atmen. Irgend jemand hatte alles dicht verschlossen, und eine Ventilation gab es nicht. Collins schnarchte. Victoria beulte die Zeltwand zwischen ihnen aus. Albert strich mit der Hand über die Rundung ihres Hinterns. Bei seiner Berührung bewegte sie sich. Er griff auf den Zeltboden hinunter und suchte nach seinen Zigaretten. Einer der Füße des Bettes stand auf dem Päckchen. Er zerrte es hervor und riß es auf. Die meisten Zigaretten waren beschädigt. Er fand eine brauchbare und zündete sie an. Im Flackern des brennenden Zündholzes sah er auf seine Uhr. Es war beinahe vier und noch dunkel. Das Geräusch eines fernen Hubschraubers hatte ihn aufgeweckt. Es wurde lauter. »Wer zum Teufel kommt denn jetzt schon wieder?« fragte er sich. »Auf einem Rummelplatz kann man schließlich nicht schlafen.« Der Lärm schwoll an. Ein Licht blitzte über das Zeltdach. Voller Panik dachte Albert, daß die Maschine direkt auf sie abstürzen würde. Das Zelt flatterte und flog hin und her. Das Tuch klatschte ihm scharf in den Rükken. Von neuem schimmerte Licht herein. Er kroch aus dem Schlafsack, sprang vom Feldbett und stürzte hinaus. . , Nur dreißig Meter entfernt landete der Hubschrauber mit einem Quietschen seiner Gummikufen auf dem Plateau. Ein Suchscheinwerfer schnitt durch die Dunkelheit, blendete ihn und nagelte ihn auf den Fleck, wo er gerade stand. Mit den Händen bedeckte er seine Augen. Das Licht war so grell, daß er immer noch einen rötlichen Schimmer sah. Der Motor wurde abgestellt. Der Scheinwerfer schwenkte von ihm fort. Er nahm die Hände herunter, konnte aber nur geisterhafte Schatten erkennen. Seine Ohren dröhnten. Irgend jemand ergriff seinen Arm. Er fuhr erschrocken herum. »Wer ist das?« fragte Victoria. »Ich«, sagte er. »Ich meine die da, du Idiot.« In ihren Pyjamas standen Rhodes und Collins neben ihnen. Rhodes Perücke hing auf seiner linken Augenbraue. Der Suchscheinwerfer wurde an ihnen vorbei auf die Seitenwand des Zeltes gerichtet. Ein riesiger Kampfanzug in Tarnfarben sprang in den Lichtstrahl. Unter dem einen Arm trug er einen Koffer. Ein Pistolengürtel hing in Cowboymanier tief auf den einen Schenkel herunter. Auf der linken Brusttasche seiner Jacke befand sich ein großes Schild: »Polyanski.« »Wer ist Quinlan?« fragte die Gestalt und spie die Wörter vorbei an einem zerkauten Stumpenrest aus.
Die Frage klang so militärisch, daß Albert beinahe Haltung angenommen hätte. »Ich.« Collins hatte innen im Zelt die Gaslampe angezündet, und Rhodes bat hinein. Der gewaltige Mann mußte sich bücken, um durch den Eingang zu kommen. Er war gut und gern zwei Meter groß und blickte auf sie alle hinab; seine langen Arme baumelten locker. Er löste den Riemen seines Helms und warf ihn in eine Ecke. »Schätze, Sie wissen, warum ich gekommen bin?« »Wollen Sie von dem Geschäft zurücktreten?« fragte Albert und starrte nervös das Schild auf der Brusttasche an. Im Geiste sah er schon, wie eine Million Pfundnoten Flügel bekommen hatten und davonflatterten. »Geschäft?« »Wer sind Sie?« fragte Rhodes. »Entschuldigung, Herrschaften. Nathan Polyanski, General des US-Marinekorps bei der Sechsten Flotte.« »Ich hielt Sie für einen Russen«, sagte Albert. »Der Name, wissen Sie.« Und er zeigte reichlich täppisch auf das Schild. »Ein Glas Gin, Sir, oder Kaffee?« Collins sah den Besucher müde an. Er dachte an Mrs. Collins, die jetzt zu Hause noch im warmen Bett steckte. Er hatte nichts dafür übrig, so früh aufstehen zu müssen. Rhodes machte den Mund auf. »Wenn Sie wegen der Russen gekommen sind, muß ich Ihnen leider sagen, daß es zu spät ist. Wir haben mit ihnen schon einen Vertrag abgeschlossen. Sie haben die Hälfte der Insel bekommen, und es...« Der General unterbrach ihn. »Das wissen wir. Wir wollen diesen Teil hier. Der Handel kann hier und jetzt abgeschlossen werden. Was verlangen Sie?« Rhodes sah Albert an und dann wieder den General. »Warum wollen Sie ihn?« General Polyanski ließ sich auf einem der Klappstühle nieder, der so niedrig war, daß sich seine langen Beine wie die einer Heuschrecke aufstellten. Er schob sie quer durch das Zelt. Dann zog er einen neuen Stumpen aus der Tasche und zündete ihn an, bevor er antwortete. »Wir haben alle russischen Funksprüche aufgefangen. Sie sind hereingelegt worden. Sie mögen glauben, die Russen wollen ihr Schiff so schnell wie möglich von der Insel verschwinden lassen. Aber das ist nicht der Fall. Sie wollen diese Insel als Horchposten. Ich nehme an, Sie konnten nicht wissen, wie wichtig Foul Rock für sie ist. Sie haben uns unter Kontrolle.« Er spuckte einen Tabakkrümel aus. »Wir sitzen in der Klemme. Deswegen brauchen wir die andere Hälfte der Insel. Irgendwie müssen wir ihnen die Ohren mit Störsendern stopfen.«
Rhodes war verlegen. »Wir dachten, sie wollten nur einen Trawler bergen. Ich habe nicht damit gerechnet, daß sie länger als ein paar Wochen hierbleiben würden.« »Genau«, sagte der General. »Wir zahlen Ihnen dieselbe Summe wie die Russen. In Dollar natürlich. Wir möchten den Besitz sofort übernehmen.« »Was heißt sofort?« fragte Rhodes. »Jetzt zum Beispiel.« Collins gab ein Hüsteln von sich. »Ich glaube, wir können den Pachtvertrag benutzen, den ich für Ihr Landhaus auf dem Festland vorbereitet habe, Mr. Rhodes. Er weist zwar ein paar Abweichungen auf, aber wir können ihn ändern, und das geht schneller, als wenn wir neue Verträge aufsetzen.« Collins fand den Pachtvertrag in einem der Aktenordner. »Es sind darin eine Reihe von Klauseln, denen Sie sicher zustimmen werden.« »Lassen Sie hören«, sagte der General. »Wir erwarten natürlich, daß Sie nicht untervermieten.« Der General lächelte. »Wir rechnen nicht damit, daß Sie die Insel für unmoralische Zwecke benutzen, daß zu Geschäftszwecken Haustiere gehalten werden oder daß man Maden zum Fischfang züchtet.« Das Lächeln des Generals wurde zum Grinsen. Collins fuhr in seiner eintönigen Amtsstimme fort. »Normalerweise müßten wir darauf bestehen, daß nach elf Uhr abends kein Radio mehr gespielt wird und daß die Pächter gottesfürchtig sind und regelmäßig zur Kirche gehen. Die Radioklausel können wir jedoch streichen und ebenfalls diejenigen, die sich auf die Instandhaltung des Strohdaches, die Verunreinigung des Brunnens und die regelmäßige Leerung der Senkgrube beziehen.« Der General lachte. Collins überhörte die Störung. »Klausel sieben muß aber bestehen bleiben. Der Verpächter oder sein Vertreter hat jederzeit freien Zutritt. Und Klausel acht, die besagt, daß bei Erlöschen des Pachtvertrages das Eigentum im ursprünglichen Zustand wiederhergestellt werden muß, wobei es zu streichen und dreifach mit bestem Firnis zu lackieren ist, werden wir korrigieren.« »Junge, Junge«, sagte der General. »Der Kongreß macht sich in die Hosen, wenn er die Bedingungen hört. Lassen Sie die Geschichte mit dem Dach drin. Es wird mir Spaß machen, ihnen zu erzählen, daß der 51ste Staat der USA ein neues Strohdach braucht.« Albert unterschrieb und hatte sein Vermögen verdoppelt. Der General blickte auf seine Uhr und stand auf. »'s wird Zeit, daß ich zur Flotte zurückkomme. Unsere Män-
ner werden bald hier sein«, sagte er lebhaft. »Es hat Spaß Die amerikanischen Landetruppen sprangen auf den Strand, und Kiesel knirschten unter ihren Füßen, als sie rannten. Die vordersten von ihnen gingen hinter der ersten Reihe von Felsen in Deckung, genau zu Füßen der erschrockenen Briten. Während sie ihre Waffen drohend nach vorn richteten, kam eine zweite Welle von Männern heran, »Sturm!« Die Amerikaner liefen von Deckung zu Deckung, bis sie sich auf der Höhe des orangefarbenen Zeltes befanden. »Guten Morgen, Madam«, rief der junge Leutnant zu Victoria herüber, als er in Richtung auf die Russen vorüberrannte. Er hielt immer noch seine Handgranate hoch. »Ausschwärmen und in Stellung gehen!« brüllte er. Der Landetrupp zog sich über die Insel auseinander und versteckte sich hinter jeder nur irgend möglichen Dekkung. Die Gewehrläufe zeigten nach vorn auf die beiden russischen Seeleute, die ihnen ungläubig entgegenstarrten. »Eingraben!« Der Hubschrauber war davongeflogen. Es herrschte wieder Ruhe. »Funker!« rief ein rotgesichtiger Major, der nahe bei dem Zelt kniete. Eine schwerbeladene Gestalt mit einem Kasten auf dem Rücken, von dem eine lange Antenne ausging, robbte auf dem Bauch über das Plateau, bis sie den Offizier erreichte. »Verbindung herstellen«, befahl der Major. »Rotes Glied an Geile Mary. Rotes Glied an Geile Mary. Rotes Glied an Geile Mary. Hören Sie mich? Bitte kommen. Ende.« Victoria zog die Augenbrauen hoch. Der Major sah zu ihr herüber. »Den Kerl, der sich diese Codenamen ausgedacht hat, bringe ich um«, sagte er. »Rotes Glied in Stellung, Rotes Glied in Stellung. Auftrag durchgeführt. Ende.« Die Hilfsflotte, die ein paar hundert Meter vor der Insel liegengeblieben war, nahm jetzt wieder den Kurs auf, kam heran, und die Schiffe reihten sich Bord an Bord mit dem Bug zum Felsen auf. Weitere Gestalten in Tarnanzügen sprangen an Land. Sie bildeten eine Kette, über die Dutzende von Kisten kamen, die überall entlang den Felsen gestapelt wurden und bis auf das Plateau hinaufreichten, Keiner beachtete das orangefarbene Zelt oder seine Bewohner. Eine Gruppe brachte von einem der Schiffe große Teile herüber, die wie eine Kanone aussahen, und sie began-
nen sie auf einem flachen Felsen unmittelbar vor dem Tor zum russischen Sektor aufzubauen. Die russischen Fischer standen verblüfft davor. Der Rest der Trawlerbesatzung und die Wissenschaftler waren zu den beiden Wachen herübergekommen. Sie standen in einer Reihe am Drahtzaun und sahen der Landung voller Staunen zu. Die geheimnisvolle »Kanone« nahm langsam Gestalt an. Sie schien aus einer Reihe von dicken Rohren zu bestehen, die in einem Viereck aneinander befestigt wurden. Schließlich öffnete man einige lange Kisten und schob Projektile mit Flossen in die Rohre. »Guter Gott«, sagte Rhodes. »Eine Raketenbasis.« Voller Befriedigung riefen die Ingenieure, die die Batterie aufgebaut hatten, schließlich den rotgesichtigen Offizier zu sich. Mit äußerster Umständlichkeit wurde die Waffe auf ihr kaum vierzig Meter entferntes Ziel gerichtet - auf die DMITRI KIROW. Während dieser Montage glich die Szene im amerikanischen Sektor der Insel einem aufgestörten Ameisenhaufen. Nach einem undurchsichtigen Arbeitsplan liefen Gestalten in allen Richtungen durcheinander. Teile aus Plastik, Persenning, Zeltwand, Rollen von Stricken und lange Holzbalken wurden herumgeschleppt. Gelegentlich erkannten die vier Briten vertrau te Umrisse... Türen, Fensterrahmen, Toiletten, Stühle, ein Klavier und sogar einen Coca-Cola-Automaten. Vor ihren Augen entstand auf dem felsigen Boden eine Garnison. Das orangefarbene Zelt wurde zum Eckstein von Reihen kleinerer Zelte, die auf dem Plateau die beiden Seiten eines Kasernenhofs bildeten. Hinter dem größeren von zwei vorgefertigten Gebäuden wurden am südlichen Ende der Insel kleine Schilderhäuser aufgestellt. Victoria betrachtete sie nachdenklich. Sie wollte schon eine Frage stellen, als ein Marinesoldat einen Pfosten mit einem Schild in eine Felsspalte schlug. Darauf stand: »Latrinen.« Weitere Hinweise wurden angebracht. Das größere der beiden Gebäude erhielt den Namen »The Silver Dollar.« Auf einer Tafel über dem Eingang war zu lesen: »Messe — Wir machen kurzen Prozeß.« Das andere Gebäude erhielt das Schild: »PX-Lager. Nur für Angehörige der US-Streitkräfte.« Nur ein Zelt, das wie ein Wigwam aussah, erhielt keinen Namen. Aber durch die schmierigen Seitenwände und den Rauch, der sehr bald aus seinem Eingang drang, erwies es sich schnell als die Küche. Als das Landungsboot abgelegt hatte, war auf der Insel plötzlich wieder Ruhe eingekehrt.
Der rotgesichtige amerikanische Major stand unter dem Flaggenmast, den man mitten auf dem Plateau errichtet hatte. Der Sturmtrupp lag immer noch regungslos nahe am russischen Zaun. »Achtung!« rief der Major. Die Marinesoldaten sprangen auf die Füße und drängelten sich in Doppelreihe viereckig rund um den Flaggenmast. Der junge Leutnant, der den »Sturmangriff« so tapfer angeführt hatte, trat vor und salutierte vor dem Major. »Die Fahne«, wurde ihm befohlen. Er öffnete seinen Kampfanzug und zog die >Stars and Stripes< hervor, die er um seinen mageren Körper geschlungen hatte. Er befestigte sie an den Ösen der Leine und wartete auf den Befehl des Majors. »Flaggengruß!« Ein Marinesoldat trat zwei Schritte vor und zog eine Trompete hervor. Mit einem Schwenker führte er sie an die Lippen. Weit über die Insel hinaus durchbrachen die strengen militärischen Töne die windstille Luft. Der Leutnant hißte die Fahne. Die Amerikaner waren da. Die Foul Rock-Krise rüttelte die Welt mit dem Geratter der Fernschreiber auf. Ein Pressekrieg brach aus. Um ein Uhr morgens waren die Spürhunde der Fleet Street, die Auslandskorrespondenten, die Fernseh- und Rundfunkteams unterwegs. Die Korrespondenten Westenglands waren schon von ihren Redaktionen auf Trab gebracht worden, sich »eiligst nach Foul Rock zu begeben.« Aber das reichte ihnen noch nicht, um die Geschichte ganz groß herauszubringen. In Nachtbars, Wohnungen und dem Presseklub klingelten die Telefone. Halbgenossene Biere, Gins und Tonic, Frauen und Freundinnen wurden im Stich gelassen. Ob im Dienst oder nicht, die Reporter wurden in ihre Büros zurückzitiert; einige waren glücklich darüber, andere protestierten. Man informierte sie und schickte sie los. Das Ziel für alle war jetzt: als erste da und mit Neuigkeiten zurück sein. Eine halbe Stunde nach dem Alarm waren südlich von Manchester keine Chartermaschinen mehr aufzutreiben. Geld wechselte in großem Stil den Besitzer. Fotografen, die mit ihren Kameraausrüstungen schwanger gingen, schleppten sich in Flugzeuge. Reporter, die noch vor kaum einer Stunde den Austausch ihrer Geschichten im Presseklub abgebrochen hatten, nahmen dieses Geschäft an den Büfetts des Flughafens und der Bahnhöfe
wieder auf. Auf der A 30 hatten die Streifenwagen der Polizei viel zu tun, eine Kolonne von zu schnell nach Westen fahrenden Wagen zu verfolgen. Nicht alle, die aufgebrochen waren, kamen ans Ziel. Es gab Unfälle und Katastrophen. Auch unter den Flugreisenden ergaben sich dramatische Ereignisse. Ein schottischer Reporter hatte im Presseklub gerade eine halbe Flasche Rotwein entkorkt, als er in sein Büro zurückgerufen wurde. Als er aufbrach, steckte er sie in die Brusttasche seines Anzugs, und seither hatte er sie dort vergessen. Die abendliche Trinkerei und der bockige Flug zwangen ihn, seine Kollegen abrupt zu verlassen. Er beugte sich über die niedrige Schüssel, um den Überdruck loszuwerden. Der vergessene Wein durchtränkte Hemd und Kragen. Er verließ die Toilette und stakste zurück. »Heilige Mutter Gottes«, erklang die inbrünstige Stimme eines irischen Fernsehmannes. »Simon hat seine verdammte Kehle durchgeschnitten.« Die Stewardeß, die gerade mit einem jungen Journalisten die Telefonnummern austauschte, blickte auf und fiel in Ohnmacht. Der Journalist verbrachte den Rest des Fluges damit, ihr den Kuß seines Lebens zu verpassen. In einer anderen Maschine setzte eine lärmende Pokerrunde die Zeitungsspesen aufs Spiel. Einer der Spieler, der immer wieder auf die Uhr gesehen hatte, stand auf, nachdem er ein großartiges Blatt gehabt hatte. »Geben Sie uns noch eine Chance.« »Tut mir leid«, sagte er. »Aber ich habe zu arbeiten.« »Das ist keine Entschuldigung. Es gibt nichts zu schreiben. Von hier können Sie nichts zurückschicken.« »Ich will auch gar nichts zurückbringen. Ich versuche, dort hinzukommen. Ich bin der Pilot.« Sieben erhitzte Gesichter wurden blaß. Gegen Morgengrauen waren die meisten Journalisten in Cornwall. Einige waren aus Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland eingetroffen. Eine Londoner Gruppe hatte sich in einen schnellen Güterzug eingeschlichen, der Gold transportierte, und landete eingeschlossen auf einem Abstellgleis. Drei Stunden später wurde sie von einem Aufgebot der Bahnpolizei gerettet, das nach dem irregeleiteten Goldtransport suchte. Es war ein einziger gewaltiger Jahrmarktstrubel. Zeitungsleute, die keine Maschine mehr hatten chartern können, die sie direkt zu den Scilly-Inseln gebracht hätte, jagten hinter Fahrgelegenheiten her. Der Hubschrauberdienst nach St. Mary's war bereits verdoppelt, und die erste Maschine startete, kaum daß es dämmerte. Fischerboote mit Reportern und Kameraleuten an Bord waren schon auf See. Sie nahmen Kurs auf Foul Rock,
und ihre verkaterten, übermüdeten und hungrigen Passagiere wurden jetzt auch noch seekrank. Es regnete, war scheußlich ungemütlich und windig. Als die Boote den Schutz der Küste Cornwalls verließen, gerieten sie in schwere See. Im scharfen Südwestwind tanzten sie wie Korken auf und ab. Die Passagiere überboten sich gegenseitig, um Ölzeug zu bekommen oder vorne unter Deck einen übelriechenden Schutz zu erkämpfen. Viele, deren Mägen dem starken Wellengang getrotzt hatten, hielten den Geruch von Fisch, Schweiß und Diesel nicht aus. Eine erbärmliche Gestalt im Anorak gab über der Reling ihr Inneres von sich. »Steh mir bei«, stöhnte sie mit kraftloser Stimme. »Aber das singen sie nur bei Schiffbrüchen oder im Cupfinale. Und Fußballer kann ich hier nicht entdecken«, sagte sein Kollege mitfühlend und hielt ihn am Gürtel fest. »Seien Sie barmherzig. Werfen Sie mich hinein.« Die Fischer im Ruderhaus lachten. Sie kauten auf ihren Pfeifen und tranken aus Flaschen braunes Bier. Nach ihrer Meinung war das Wetter milde. Der Wind ließ nach, und der Regen wurde stärker. Die Sichtweite betrug weniger als eine Meile. Und die Reise schien kein Ende zu nehmen. Die See war jetzt glatt wie ein Ententeich. Die ersten Journalisten erreichten um neun Uhr vormittags Foul Rock. Es waren Franzosen, ein Team des Paris Match, das mit einem großen Hochseerennboot direkt von Cherbourg herübergekommen war. Das französische Motorboot traf unbemerkt ein und ließ den Anker fallen. Ein Schlauchboot wurde über die Reling ausgesetzt und zu den Felsen gerudert. Der erste der Journalisten betrat die Insel. »Halt! Stehenbleiben!« Der Marinesoldat wirbelte mit dem Karabiner in der Hüfte zur Kampfstellung herum. Er spuckte seinen Kaugummi aus. »Was wollen Sie?« »Wir möchten gerne mit dem Kommandanten sprechen. Wir sind vom Paris Match.« Der Marinesoldat zerrte an einer Schnur und brachte eine Signalpfeife hervor. Er blies drei kurze Pfiffe. Die Messe leerte sich, als die Männer auf ihre Posten rannten. Die Besucher wurden nicht willkommen geheißen. Rotgesichtig knurrte Major Corrigan sie widerwillig an. »Kein Kommentar.« Den Fotografen widersetzte er sich nicht. Aber nein, mit dem russischen Wachtposten wollte er nicht posieren/jedenfalls nicht freiwillig. Die Marinesoldaten kehrten in ihre Messe zurück und ließen die fünf Franzosen im Regen am Ufer stehen. Am Tor versuchten diese eine ähnliche Annäherung bei den Russen, wurden aber ignoriert. Alles, was es auf der Insel zu sehen gab, wurde fotografiert.
Sie wollten schon wieder ins Boot steigen, als sie die halb angezogene Victoria im Eingang des orangefarbenen Zelts stehen sahen. »Merde, alors. Sex!« Innerhalb von Sekunden war das Zelt voll von übersprudelnden Franzosen. Dann erreichte die Presseflotte Foul Rock. Die Signalpfeife des Wachtposten schrillte, als die Boote im Regenschleier sichtbar wurden. Die Russen reagierten entschlossen. Wetterfest gekleidete Wachen glitten die Strickleiter des Trawlers herunter und stellten sich bewaffnet auf die Felsen. Es gab einen lauten Knall, und über dem Trawler stieg eine rote Leuchtkugel auf. Die Roboterstimme eines Lautsprechers drang trotz des Geräusches der Bootsmotoren bis zu den Journalisten herüber. »Achtung. Entfernen Sie sich. Entfernen Sie sich. Sie befinden sich in sowjetischen Hoheitsgewässern. Hier dürfen Sie nicht landen. Ziehen Sie sich zurück.« »Mach dir nur nicht in die Hose, Iwan«, schrie die Cockneystimme eines Kameramannes. Und dann wurde laut und derb gelacht. Jedoch wandten sich die Boote gehorsam zur amerikanischen Seite der Insel. Sie drängelten sich um Anlegeplätze. Vorsichtige Fischer wurden bestochen, ihre Boote näher heranzubringen. Dann gab es eine allgemeine Kletterei, um an Land zu gelangen. Die nächsten Minuten bedeuteten einen Konjunkturaufschwung für die deutsche und japanische Kameraindustrie. In dem Gewühl glitt ein Kameramann in einem der Boote auf glitschigen Fischresten aus und landete mit dem Kopf voran in einer Ladeluke. Dabei wurde die Linse in das Gehäuse seiner Kamera geschoben. Ein Journalist sprang von Boot zu Boot, um das Ufer zu erreichen, und klammerte sich dabei an einen kamerabehängten Fotografen. Beide Männer verschwanden in der See. Die darin erfahrene Besatzung eines Haifischfängers hievte sie mit Bootshaken wieder an Bord. Ein Kameramann vom Fernsehen mit einer ArriflexHandkamera im Wert von 1700 Pfund sprang an Land, stolperte dabei über ein Anlegetau und machte drei hilflose Hopser die Felsen hinauf. Dabei löste sich die Kamera vom Stativ und flog meterhoch durch die Luft. Sie segelte durch das offene Dach einer der Latrinen und landete mit lautem Klatschen. Ständig kamen weitere Boote. Es regnete immer noch. »Um Himmels willen, Collins. Verstecken Sie den Gin.« Rhodes saß innen im Zelteingang und beobachtete die anrückenden Zeitungsleute.
Das Team von Paris Match fotografierte Albert und Victoria vor dem Hintergrund des Trawlers. Plötzlich wurde es von schiebenden, Ellbogen stoßenden, Auslöser klikkenden Rivalen überrollt. Albert wurde von der Masse fortgeschwemmt. »Ein bißchen mehr Bein, Schätzchen.« Sie trug ein weißes Hemd, das über dem Nabel geknotet war, und einen ausgebleichten blauen Supermini. Ihr nasses gelbes Haar klebte im Genick. Vom Regen war ihr Hemd fast durchsichtig geworden. Kein Büstenhalter. »Tief Luft holen.« »Können wir diesen Knopf noch aufmachen?« Eine Hand wurde zurückgeschlagen. »Nach oben sehen.« »Strecken.« »Beugen Sie sich vor.« »Sagen Sie >Mondlieber JungeAlle Johnny Rebs sind gottverdammte Hundesöhne. < Hast du's?« Igor wiederholte den Satz. »Gut«, sagte Zeke kreuzte seine Finger. Der Kosak ging wieder zu dem Senator und Corrigan zurück, die noch an der Grenze standen. Der Koch Kentucky blickte mit einem Augenaufschlag zur des Küchenzelts hinauf. »Großpapa Hatfield, bitte vergib mir, daß ich dein Andenken beschmutze«, flüsterterte Dann stand er da und horchte. Er brauchte nicht lange zu warten. Plötzlich hörte einen explosionsartigen Fluch des würdigen Besuch »Sergeant Hennessey«, brüllte der Major. Hennessey rannte zu Corrigan. »Nehmen Sie diesen Mann fest«, sagte Corrigan in heller Wut und zeigte auf den immer noch lächelnden Igor. »Schaffen Sie ihn weg. Hinter Schloß und Riegel. Aus dem Weg mit ihm. Für die nächsten dreißig Tage will ich ihn nicht mehr sehen.« Hennessey zerrte den erschrockenen Kosaken hinter das orangefarbene Zelt. »Sind Sie nicht ein wenig zu hart?« fragte Soupe. »Vielleicht ist das seine Kriegsmüdigkeit.« Aber Corrigan war nicht bereit, diesen Vorteil wieder zu verschenken. »So ist er immer«, sagte er. »Ich habe Sie zu warnen versucht. Er haßt die Südstaatler und beleidigt sie bei jeder Gelegenheit. Bei ihm kann man nie wissen, wie er reagiert. Als seine Mutter schwanger war,
hat Vom Winde verweht< sie erschreckt. Ich hab' ihn mir nicht als Neffen ausgesucht.« »Schade«, sagte Soupe. »Ich hätte eine Menge für ihn tun können« Und er dachte an seine wankelmütigen Wähler. Der Pflichtbesuch des Senators war vorüber. Das Mittagessen lehnte er ab. »Ich hab' keine Zeit. Ich muß zur Flotte zurück.« Plötzlich hatte er es sehr eilig. »Ich nehme nur ein Sandwich«, sagte er zu Zeke. »Ich werde versuchen, euch Jungs ein bißchen Unterhaltung zu schikken«, sagte er zu den Marinesoldaten, die sich am Strand versammelt hatten, um ihn zu verabschieden. Zeke brachte ihm das Sandwich. Der Senator nahm es und ging zu seinem Boot hinunter. Er kletterte an Bord. Als es abgestoßen wurde, winkte er mit seinem Sandwich in der Hand zu Corrigan hinüber. »Großartig, großartig«, rief er. »Ihr Jungs haltet euch prima!« Corrigan wandte sich an Zeke. »Vielen Dank für Ihre Hilfe in Sachen Igor, Zeke. Sie haben uns wirklich aus der Patsche geholfen. Nähen Sie sich noch einen Streifen an. Sie sind gerade Sergeant geworden.« Die Funkverbindung zwischen den Inselbewohnern und der Außenwelt war äußerst dürftig. Tage vergingen, während denen der Empfänger, ohne einen Ton von sich zu geben, in Clancy Paradises Einmannzelt lag. Aber im Augenblick summte er wie wild. »Post, Nachschub und eine Sonderzuteilung«, rief Corrigan den Männern zu. »Die geile Mary sagt, daß ein Landungsboot unterwegs ist.« Die Marinesoldaten applaudierten. Zum erstenmal seit ihrer Ankunft auf der Insel gab es Post, und Nachschub war immer willkommen. »Laufen Sie hinüber und warnen Sie Uscha, daß wir schon wieder Besuch bekommen«, sagte Corrigan zu Ace. »Diesmal hat man ihn wenigstens angekündigt. Und sagen Sie ihm, er soll Igor in Ketten legen, bis das Boot wieder weg ist.« Es war diesmal viel einfacher, die Insel auf den Besuch vorzubereiten. Es gab keine Hast, die Männer hatten aus der Panik der vergangenen Woche gelernt. Corrigan hielt einen Appell ab. Alle waren anwesend. »Gut«, sagte er. »Sie wissen, um was es geht. Sergeant Hennessey, durchsuchen Sie alle Zelte und jeden Winkel, um sicherzugehen, daß Igor sich nicht in unserer Hälfte befindet. Ein zweites Mal halte ich das nicht durch.« Bis das Landefahrzeug ans Ufer der Insel gelangte, hatten sie alles in einen ordentlichen und kaltem Krieg angemessenen Zustand versetzt. Das Boot war mit Gls ihrer eigenen Kompanie bemannt, die sich auf der Flotte befand.
»Wie steht es hier, Morelli?« rief einer der Männer. »Höchste Alarmstufe, Mann. Hier kann man nie wissen, wann's losgeht. Kein Mensch pumpt dir hier noch einen Pfennig.« »Guckt euch das Schiff an«, schaltete Suki sich in die lautstarke Unterhaltung ein und zeigte auf den Trawler. »Und diese dicke Emma da. Das ist eine süße kleine Atomspritze. Irgend so ein Roter drückt auf den Knopf, und das Ding marschiert seine zwanzig Meilen. Dann kommt's runter. Genau hier.« »Jesus«, sagte einer der ankommenden GIs und warf Suki einen Postsack zu. »Ich wette, daß ihr den ganzen Tag nichts zu tun habt und nur mit eurem fetten Hintern in der Sonne sitzt«, sagte einer der Marinesoldaten, der eine bläuliche Haut hatte. »Vierundzwanzig Stunden Wache, Waffenausbildung, dreimal täglich exerzieren, jeden Morgen Inspektion der Ausrüstung, Scheißverpflegung, Fisch, bis« er dir zum Hals heraushängt, nie mehr als fünfzig Meter von einem Offizier entfernt. Ich bin sofort bereit, mit dir zu tauschen, mein Freund«, antwortete Clancy. »Das ist ein Nervenkrieg«, fuhr Morelli fort. »Diese Roten geben keine Ruhe. Stell dir mal vor, daß immer ein Gewehrlauf hinter dir herzeigt, wohin du auch gehst. Das ist ziemlich ungemütlich.« »Darlings«, sagte eine Stimme aus dem Landungsboot. »Komisch«, sagte Suki zu Hennessey. »Irgend jemand wird da leichtsinnig.« »Darlings«, sagte die Stimme von neuem. »Darlings, helft mir mein Gepäck tragen.« »Hast du eben auch gehört, was ich gehört habe?« fragte Hennessey Suki. »In mein Zelt kommt der nicht«, sagte der Philippine. »Seid lieb«, rief die Stimme wieder. »Tragt mich an Land und ihr kriegt einen Kuß.« »Laß doch den Quatsch, Mann«, gab Hennessey ärgerlich zurück. »Das hier ist ein Kriegsschauplatz. Trag dein Gepäck selbst.« Er wandte sich an die Männer, die am Strand hinter ihm standen. »Ladet die Vorräte aus, und zwar schnell!« Unter seinen Koffern gebeugt, stakste ein Marinesoldat mit einer seltsamen Figur aus dem Landungsboot heraus. Corrigan starrte ihn an. Ein sonderbarer GI, dachte er, aber klassische Maße für eine Frau. Und es war eine Frau! Man hatte sie mit ihren Maßen von gut und gern 98-60-92 in einen Kampfanzug von 85-60-85 gesteckt — und das Weib war umwerfend! Sie platzte aus allen Nähten. Die Knöpfe ihrer Jacke hatte sie fast bis zur Hüfte offengelassen, und die anderen standen bis zum Zerreißen unter Spannung. Ihr Büstenhalter aus roter Spitze war seiner Aufgabe kaum gewachsen.
»Verflucht!« Sie ließ ihre Koffer fallen, torkelte, plumpste mit dem Hintern auf einen der Koffer und untersuchte einen abgebrochenen Fingernagel. »Ach-tung!« brüllte Corrigan, als die wilde Jagd auf sie losging. Seine Kommandostimme übertönte das Stampfen der Kampfstiefel auf dem Felsen. In einem Durcheinander von lächerlich übertriebenen Posen blieben die Männer stehen. Corrigan schob sich zwischen den Khakifiguren hindurch. Als er vor ihr stehenblieb, warf sie ihr langes kupferrotes Haar aus dem Gesicht und blickte auf. Ihre Augen waren grün wie eine Verkehrsampel. Die flatternden Augenlider gaben das Zeichen anzufahren. Sie lächelte. Vorsichtig schob sich der Major näher. »Ich bin Dreamy.« »Ge-wiß«, sagte Corrigan. »Dreamy Knights.« Die erstarrten Statuen gaben ein Stöhnen der Begeisterung von sich. »Ich bin Schauspielerin«, hauchte sie. »Natürlich«, sagte ein Dutzend Stimmen. »Weiter ausladen«, befahl der Major. »Wenn Sie Major Corrigan sind, habe ich einen Brief für Sie«, flötete sie mit samtweicher Stimme. Sie war so leise, daß sie ihn zu seinem Vergnügen zwang, sich nah zu ihr herüberzubeugen. »Ich habe ihn hier«, fuhr die Stimme fort. Mühsam zog Corrigan seinen Blick zurück. Sie über gab ihm einen Umschlag, in dem sich eine Notiz von Senator Soupe befand. Natürlich hatte dieser sie absichtlich auf die Rückseite einer Wahlpropaganda gekritzelt. »Ich habe ja versprochen, die Jungs nicht zu vergessen. Danke für die Gastfreundschaft. Für euch ist nichts zu gut. Ich habe gebeten, euch Bob Hope zu schicken.« Corrigan blickte auf. Er steckte in einer Wolke ihres Parfüms, in der er ertrank. »Tut mir leid«, sagte Dreamy. »Bob mußte auf Tournee in den Fernen Osten. Daher müssen Sie mich nehmen.« »Sie nehmen?« fragte Corrigan. »Ich meine, wir freuen uns, daß Sie gekommen sind.« Das Landefahrzeug legte wieder ab. Die Marinesoldaten riefen noch ein paar Grüße herüber. »Wir hoffen, Sie wiederzusehen« rief vom Bug her ein GI mit traurigem Gesicht. »Wenn ihr wiederkommt, könnt ihr uns jedesmal so etwas mitbringen«, antwortete Morelli. Corrigan führte das Mädchen zur Messe hinauf. Jetzt bot sich eine Unmenge von Gepäckträgern an. »Was macht sie denn?« fragte Hennessey. Dreamy drehte sich um und sah die Männer mit ihren grünen Augen an, Sie wackelte mit dem Hintern. »Ich singe und tanze, Sergeant.«
»Bravo!« riefen die Soldaten. »Bleiben Sie lange?« fragte Corrigan. »Solange Sie mich brauchen«, hauchte Dreamy. In gegenseitiger und unausgesprochener Übereinstimmung war beschlossen worden, daß es das sicherste wäre, im Augenblick dem Neuankömmling von der wahren Situation auf der Insel noch nichts zu erzählen. Die Posten wurden zwar aufgehoben, aber die Männer behielten ihre Uniformen an und verbrachten den Rest des Tages in ihren jeweiligen Sektoren. Es war gar nicht so einfach, den Gast gut unterzubringen. Schließlich brachte Victoria ein edelmütiges Opfer. Sie ließ Albert aus seiner Schlafkabine ausziehen, und er nahm das Angebot von Igor und Sascha an, zu ihnen in die DMITRI KIROW umzusiedeln. Morelli verbrachte einige Stunden damit, das Klavier in der Messe zu reinigen und zu polieren. Viele der höheren Töne waren tot, und von einigen Tasten hatte sich der Elfenbeinbelag gelöst, aber sonst schien es noch einigermaßen gestimmt zu sein. Der völlig unmusikalische Hennessey prüfte es. »Völlig in Ordnung«, verkündete er. Seit Wochen saßen die Amerikaner und Briten zum erstenmal allein beim Essen in der Messe. Zeke hatte sorgfältig darauf geachtet, daß nur zweiundzwanzig Stühle rund um die langen Tische standen. »Singen Sie für uns«, bat Clancy, als die letzten Teller in die Küche zurückgetragen worden waren. »Singen Sie uns Liebeslieder.« Dreamy begab sich an das Klavier, und Morelli löschte die Beleuchtung der Messe; nur eine Lampe, die direkt über dem Klavier hing, brannte noch. Sie hatten sie mit einer Stanniolhülle umgeben, so daß Dreamy wie von einem Punktstrahler beleuchtet wurde. Der Zigarettenrauch der Männer trieb durch die Lichtsäule. Dreamy sang. Die Männer hörten schweigend zu. Nach jeder Nummer schien der Applaus lauter zu werden. Eine Stunde später wandte sie sich an ihre Zuhörer. »Tut mir leid, Jungs, das war euer Teil für heute abend.« »Ach, weiter, Dreamy.« »Wenn ihr wollt, daß ich auch morgen noch bei Stimme bin, müßt ihr mich jetzt in Ruhe lassen.« Als Morelli das Licht einschaltete, stand der Rauch schichtweise im Raum. Dreamy erschrak. Als es in der Messe dunkel wurde, waren lediglich einundzwanzig Zuhörer dagewesen. Jetzt schienen sie sich verdoppelt zu haben.
Männer, die sie nicht kannte, klatschten Beifall, als sie aufstand. Fremde Männer, die dicke Pullover und schwarze Uniformen trugen, verbeugten sich vor ihr, als sie zu ihrem Tisch zurückging. Und an der Tür stand ein anderes Mädchen, das sie vorher nicht gesehen hatte, und lächelte ihr zu. »Wer sind die anderen?« fragte sie Victoria. »Das erzähle ich Ihnen später.« Corrigan sah, wie Dreamy in die Runde blickte, und lenkte ihre Aufmerksamkeit mit einer Frage ab. »Wo haben Sie bisher gearbeitet?« »Hier und dort«, antwortete Dreamy. »Beinahe überall. Im Varieté, Kabarett, in Nachtklubs. Am liebsten in Nachtklubs.« »Nachtklub«, meinte Ace. »Seit meinem letzten Heimaturlaub bin ich in keinem mehr gewesen. Das wäre schon eine Sache, wenn man jetzt in die >Orchidee< gehen könnte.« »Als Morelli das letzte Mal einen betrat, war er noch Sergeant«, sagte Suki. »Nun mach mal einen Punkt, Suki. In einem Nachtklub weiß ich mich genausogut wie jeder andere zu benehmen.« »Nicht wie jeder andere, den ich kenne.« »Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren in keinem Nachtklub mehr gewesen«, sagte ein bärtiges Gesicht. »In Rußland haben wir nicht viele davon.« Dreamy starrte ihn an. Corrigan drängte sich rasch dazwischen. »Zapfenstreich ist lange vorbei«, erklärte er. »Kriechen wir lieber in die Federn.« Er nahm Dreamys Arm. »Ich bringe Sie und Vicky zum Zelt zurück.« »Wenn er nicht diesen Dienstgrad hätte...«, brummelte einer. Corrigan machte sich einige Sorgen darüber, daß er Dreamy die Situation zu erklären haben würde. Das wäre nicht nötig gewesen. Fast ohne ein Wort darüber zu verlieren, nahm sie die Lage hin. Für sie waren es nur mehr Zuhörer, und das bedeutete: mehr Männer. Als sie am Morgen nach ihrer Ankunft ihre Wäsche hinaushing, war das beinahe schon ein Nachtklubprogramm. Sie konnte alles das, was sie auf die Leine hängte, nicht getragen haben, und ebensowenig konnte das schmutzig geworden sein. Schwarze Spitzenslips. Blaue Minislips. Knallrote Rüschenhöschen. Der rote Büstenhalter, den sie alle gesehen hatten, und manche anderen Sachen, die die Männer wiederzusehen hofften — mit Inhalt. Zuerst bemühten sie sich alle, nicht zu der Wäscheleine zu gucken. Das war unmöglich. Sie blendete ihre Augen wie die Scheinwerfer eines in der Nacht entgegenkommenden Wagens.
Victorias Wäsche, die ihnen vorher interessant erschienen war, war jetzt langweilig, Tanyas im Vergleich dazu matronenhaft. Die drei Mädchen steckten in einem Zelt. Die Männer hatten Dreamy nur ein einziges Mal kurz zu sehen bekommen, als sie ihr Nachtprogramm hinaushängte. Albert blickte auf die Leine voll leuchtender Unterwäsche, die wie eine sinnliche Botschaft im warmen Wind flatterte. »Vor der Schlacht von Trafalgar hat Nelson eine ähnliche Signalleine hochgezogen«, sagte er. »Wieso?« »Ja. Sie besagte: England erwartet, daß an diesem Tag jeder seine Pflicht tut.« »Und was geschah dann?« »Er kam dabei um.« »Im Gedrängel?« fragte Morelli. »Ich finde nicht, daß man hübsche Mädchen schicken sollte, um die Truppe zu unterhalten«, meinte Clancy. »Sie sollten dazu alte Huren mit Krampfadern nehmen.« Der Rest der Männer sah ihn ungläubig an. »Aber sicher«, fuhr er fort. »Steile Zähne sind ein Aphrodisiakum. Und mein John Thomas glaubt, daß ich die Weihen genommen habe.« Er wandte sich an Suki. »Du verstehst doch was davon, wie man in Form bleibt. Was geschieht, wenn man einen Muskel nicht benutzt?« »Dann schrumpft er.« »Oh«, sagte Clancy unglücklich. »Und ich dachte, das käme vom kalten Wasser.« »Haben Sie für Frauen nichts übrig, Gin Jim?« wandte sich Clancy an Rhodes, der in einem Liegestuhl in der Sonne saß. »Ich habe ein paar gekannt, aber ein Mann ist zu höchstens drei Lastern fähig. Und bei mir sind das Gordon's Gin, Booth's Gin und Plymouth Gin.« Der Eingang des orangefarbenen Zelts wurde zurückgeschlagen und Dreamy kam heraus. »Wer ist Morelli?« rief sie. Die Soldaten blieben stehen und sahen sich um. »Könnten Sie bitte mal herkommen?« fragte sie. »Hosentür zumachen«, zischte Ace automatisch. »Ich hab' die Badehose an, Sir.« Morelli wurde rot und schob sich zwischen den Männern hindurch zum Zelt. Dreamy nahm seinen Arm und flüsterte ihm vertraulich etwas ins Ohr. Sie gingen hinein. »Sie beginnt bei den häßlichsten«, sagte Suki. Morellis Kopf kam wieder zum Vorschein. »Geht lieber ohne mich. Ich hab' zu tun.« »Wieso ist sie gerade auf dich verfallen, Makkaroni?« »Sie hat von mir gehört.« Sein Kopf verschwand. Die anderen gaben ein leises Stöhnen von sich.
Den ganzen Tag über bekamen sie von Morelli nicht viel zu sehen. Wann immer sie ihn entdeckten, war Boris oder eines der Mädchen bei ihm. Ohne auf ihre Fragen zu antworten, ging er schnell an ihnen vorbei. Er drückte sich vor allen Pflichten des Tages. Die Männer stellten fest, daß der Tag jetzt, da sie auf die abendliche Unterhaltung warteten, viel länger geworden war. Dreamy s Gegenwart ließ sie ein Gefühl der Frustration empfinden, das sie vorher nicht gekannt hatten. Im Gegensatz zu den beiden anderen Mädchen gehörte sie den GIs... nun ja, immerhin beinahe. Es war eine Erleichterung, als Zeke sie zum Abendessen rief. Die Amerikaner und die Russen reihten sich vor der Messe auf. »Zeke, wo sind denn alle die Stühle und Tische geblieben?« fragte Clancy Paradise. »Was für Stühle und Tische?« »Unsere Stühle und Tische, du Kentuckyochse.« Die Männer sahen sich um. Fast alles Mobiliar war aus der Messe verschwunden, sogar das Klavier. »Wie sollen wir nun essen?« fragte Clancy. »Eßt auf den Felsen«, sagte Zeke. »Heute abend, Leute, gibt's ein neues Gericht. Maryland-Huhn on the rocks.« Er lachte allein. »Ich dachte, daß wir zum Essen was geboten bekämen«, sagte Hennessey. »Macht Zekes Fraß dir denn keinen Spaß?« fragte Suki. »Hallo«, unterbrach ihn Albert. »Da kommt Victoria. Wie sieht die denn aus?« Victoria hangelte sich die Strickleiter vom Trawler herunter. Die letzten Sprossen ließ sie sich fallen und kam zu den Männern. Sie sah recht mitgenommen aus. Ihre Kleidung war völlig verstaubt, und über ihr Gesicht zogen sich Striemen von Schweiß und Schmutz. Ihr Haar steckte zurückgebunden unter einem Kopftuch. »Putzen Sie etwa mein Schiff?« fragte Worolokow. »Nein, wir haben Ihre Messe für Dreamy hergerichtet. Sie will heute abend eine Vorstellung geben.« »Großartig«, sagte Ace. »Wann?« »Nicht vor acht Uhr.« Und schon lief sie wieder zum Trawler zurück. »Was soll ich mit Ihrem Essen machen?« rief Zeke, aber er bekam keine Antwort. Victoria hatte acht Uhr gesagt, und weder die GIs noch die Russen wollten sich auch nur eine Minute des versprochenen Genusses entgehen lassen. Um Viertel vor Acht standen alle männlichen Inselbewohner erwartungsvoll auf dem Deck der MITRI KIROW. Morelli bewachte die Tür des Niedergangs, der zur Messe führte. »Dürfen wir nicht hinein und dort warten, Morelli?« fragte Ace.
»Tut mir leid, Sir, ich habe meine Befehle.« »Laß uns doch rein, du Hammel«, sagte Suki. »Du kannst mich mal«, erklärte Morelli standhaft. Die Männer warteten ungeduldig. Sie lehnten an der Reling des Schiffes oder umringten Morelli, der sich gewaltig aufspielte. Sie murrten. Genau um acht Uhr hörten sie Tanyas Stimme. »Machen Sie jetzt auf«, sagte sie. Morelli wurde von der Sturzflut von Männern, die sich in den Niedergang ergoß, rückwärts hinuntergeschwemmt. Die Russen waren im Vorteil; sie wußten genau, wohin es ging. Einige der Marinesoldaten, die nicht regelmäßig auf dem Schiff gewesen waren, fanden sich plötzlich in Kabinen oder Abstellräumen für Feuerlöschgeräte wieder. Endlich aber hingen die Männer in einer dichtgedrängten Traube vor der Tür der Messe. Igor und die anderen russischen Seeleute versuchten ein großes weißes Schild zu entziffern, das auf die Holztäfelung der Tür genagelt worden war. »Dreamys Taucherbar«, stand darauf. »Nur für Mitglieder.« »Was soll das heißen?« fragte Igor. »Darauf steht, daß du Mitglied sein mußt«, erklärte Suki. »Was ist ein Mitglied?« »Man muß dazu eine Karte haben.« »Ich hab' eine Karte«, .sagte Igor stolz. »Du?« Igor zog seine Brieftasche heraus und öffnete sie. »Schau«, sagte er, »die Karte der Seemannsgewerkschaft.« »Versucht mal anzuklopfen«, rief Ace über die Köpfe der Männer hinweg. Suki klopfte, und die Männer warteten voller Spannung. Nach einem Augenblick öffnete sich die Tür um ein paar Zentimeter. »Wer ist da?« fragte Tanya höchst überflüssigerweise. »Batman und Robin. Lassen Sie uns herein.« »Was für ein Witz«, sagte Tanya. »Hereinkommen, aber langsam.« Sie öffnete die Tür, und die Männer gingen hinein. Es war so dunkel in dem Raum, daß sie eine Weile brauchten, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. »Du heiliger Himmel«, sagte Corrigan. »Das kann doch nicht wahr sein.« Worolokow sah sich mit starrendem Blick um. Die Messe hatte mit der Kantine des Trawlers keine Ähnlichkeit mehr. Die Wände und die Decke waren mit Fischnetzen und Schwimmwesten drapiert. Zwei kleine Anker hingen als Mittelpunkt der Dekoration an der Seitenwand. An der Stirnwand hatte man nebeneinander
die amerikanische und sowjetische Fahne befestigt. Die Hauptbeleuchtung war eine tiefrote Laterne, für die eine der Markierungsbojen aus Plastik hatte herhalten müssen. Sie warf ein warmes Licht auf eine kleine Tanzfläche, um die herum die Tische standen, deren geschrubbte Flächen unter Signalflaggen verschwanden. Und auf die Flaggen hatte man Flaschen gestellt; in deren Hälsen gelbe Schiffskerzen steckten. Die kleinen Flammen flakkerten in der Zugluft, die von der Tür hereindrang. Die gemütliche, intime Atmosphäre der früher ärmlichen Messe war überraschend. Aber noch erstaunlicher war die Aufmachung von Tanya und Victoria. Sie waren beide gleich gekleidet und trugen schwarze Strumpfhosen aus Dreamys Beständen. Darüber hatten sie enganliegende weiße Seemannspullover gezogen, die aus der russischen Kleiderkammer stammten. Ein Gürtel um die Taille ließ sie wie die kürzesten Minikleider aussehen. Beide hatten ihr Haar hochgesteckt, und wenn sie sich bewegten, glitzerten kleine Krönchen aus Silberpapier. Mischa saß in einer Ecke neben dem Klavier und spielte leise auf seiner Balalaika, als die Männer hereinkamen. Als Victoria und Tanya sie zu ihren Tischen führten und ihre Schnapsbestellungen aufnahmen, waren sie so verblüfft, daß sie fast nicht den Mund aufbekamen. Es war wie in einem Traum. »Toll«, sagte Ace und sah sich um. »Einfach toll.« Er sah hinter Victoria her, die gerade vorüberkam und deren lange Beine durch die Strümpfe noch attraktiver wirkten. Die Männer begannen sich wohl zu fühlen, der Lärm schwoll an. Mischa steigerte Lautstärke und Rhythmus seiner Musik. Der Rauch der Zigaretten stieg in Schwaden auf. Sie tranken. Die Stimmung ließ nichts zu wünschen übrig. Als die meisten ihr zweites Glas Schnaps hinter sich hatten, fühlten sie sich so wohl, als ob sie schon einen ganzen Abend in dem Klub verbracht hätten. Mischa sang, und die Männer fielen ein. Dann brach die Musik ab. Im genau richtigen Augenblick hatte Dreamy ihren Auftritt. Die Männer klatschten Beifall. Sie schwebte in das Licht. Sie blendete sie. Tausende von Pailletten glitzerten auf ihrem knöchellangen Kleid. Das Kleid war bis weit unter die Taille rückenfrei, und auch vorn hatte man nicht viel mehr Stoff verbraucht. Zwischen den Brüsten klaffte es bis zum Nabel herunter weit offen. Sie verbeugte sich, dann sang sie. Dreamy beherrschte ihre Zuhörer geschickt und gekonnt. Zwischen den Liedern flirtete sie mit den Männern. Jeder Russe und jeder Amerikaner begehrte sie. Sie war wirklich eine Könnerin. Wenn sie die Männer aufforderte, mitzusingen, dann sangen sie. Wenn sie Schweigen gebot, atmeten sie kaum. Wenn sie zu singen auf-
hörte, klatschten sie. Öreamy ging zu Corrigan hinüber und zog ihn auf die kleine Tanzfläche. Wieder applaudierten die Männer. Sie zog Corrigan nah an sich heran und wiegte sich mit ihm zu Mischas Musik. In diesem Augenblick war der Major der am meisten beneidete Mann auf der Insel. »Komm«, sagte Victoria zu Albert, und Tanya und Worolokow schlössen sich ihnen an. Die Mädchen waren rücksichtslos fair. Kein Mann durfte mit ihnen länger als ein paar Minuten tanzen. Es gab keine Mauerblümchen. »Und jetzt«, rief Dreamy, als Mischas Musik schließlich abbrach, »bieten wir Ihnen das Vergnügen des Spielkasinos in unserem Klub. Der ehrbare Luigi Morelli, Chefcroupier von Dreamys Taucherbar, bittet Sie an den Roulettisch.« Mit ausladender Handbewegung zeigte sie in eine Ecke des Raumes. Morelli stand hinter einem langen Tisch, auf dem ein großer Bogen weißes Papier lag, das in numerierte Quadrate aufgeteilt worden war. In der Mitte des Tisches befand sich auf einem Dorn, der in einem Holzklotz steckte, eine Drehscheibe, und auf sie hatte man einen Zeiger gemalt. Wenn die Scheibe gedreht worden war, zeigte der Pfeil auf eine der Nummern, die darunter auf dem weißen Papier standen. »Bitte das Spiel zu machen, meine Herren«, rief Morelli. Die Männer kamen herüber. Bald stand eine dichte Menge rund um den Tisch. Gewiß war die Anlage ein wenig ungewöhnlich, aber man konnte daran spielen, und die Resultate waren eindeutig. Schnapspunkte wechselten ihren Besitzer. Dreamys Klub war ein Bombenerfolg. Sie tranken, sangen, spielten und tanzten. Die Männer erlaubten nicht, daß Tanya und Victoria sie an den Tischen bedienten. Sie wurden viel zu dringend als Tänzerinnen benötigt. Nur selten konnten sie sich für ein paar Sekunden hinsetzen, und sie hatten keine Möglichkeit, einen Tanz abzulehnen. Dreamy wechselte von einem Partner zum anderen, ganz gleich, ob er Russe oder Amerikaner war. Sie schmiegte sich an sie, kraulte ihnen das Haar und flüsterte ihnen in die Ohren. Sie grinsten, verdrehten die Aur gen und stritten sich gut gelaunt, wenn ein Tanz vorüber war. »Komm, tanz noch einmal mit mir«, sagte Tanya zu Worolokow. Sie griff nach unten und zog ihn auf die Füße. Er kippte den Drink hinunter, den er in der Hand hielt, und stellte die Tasse auf den Tisch; »Ich bin kein guter Tänzer.« »Komm tanzen«, bestand Tanya darauf. Sie ergriff seine Hände und schob sie um sich herum. Dann legte sie ihm ihre Arme um den Hals. »Gefällt dir unser Klub?« fragte sie.
»Du mußt heute sehr hart gearbeitet haben.« »Den ganzen Tag. Aber ich habe vor allem gearbeitet, damit es dir gefällt und weil du gesagt hast, daß du seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr in einem Nachtklub warst.« »Der war aber nicht so gut wie dieser«, sagte Worolokow. »Wie gefällt dir das, was ich angezogen habe?« Worolokow konnte auf Anhieb keine Antwort geben. Es fiel ihm schwer, das zu erklären. Er war eifersüchtig darauf, daß andere Männer genausoviel Vergnügen empfinden konnten, wenn sie dieses junge Mädchen ansahen. »Mir gefällt es«, sagte er schließlich. »Ich hatte Angst, daß du ärgerlich werden könntest«, sagte Tanya. »Mir ist es zu heiß hier. Laß uns für ein paar Minuten auf Deck gehen.« Sie schoben sich tanzend den kurzen Weg zur Tür, die Worolokow für sie öffnete. Dann stiegen sie den Niedergang hinauf und gingen nach vorn zum Bug. »Hier draußen ist es kühl«, sagte Tanya. »Aber angenehm.« Von unten hörten sie die lautstarken Gespräche, das Gelächter und die Musik. »Wie lange kennst du mich nun?« fragte Tanya. Sie blickte zum amerikanischen Lager hinüber und hinaus auf die glatte See. »Fast zwei Jahre.« »Und wie lange bin ich schon verlobt?« »Ich wußte nicht, daß du einen Verlobten hast.« »Hab ich auch nicht. Ich bin in der ganzen Zeit mit keinem Mann ausgegangen.« »Nein?« fragte Worolokow. Er fragte sich, worauf das hinauslief. »Du bist ein alter Trottel.« »Ich bin ein alter Trottel«, wiederholte Worolokow. »Muß ich denn fragen?« »Wieso fragen?« »Seit zwei Jahren bin ich mit keinem Mann ausgegangen, und du fragst dich nicht, warum. Hältst du mich für eine Lesbierin?« fragte sie. »Natürlich nicht. Ich dachte, daß deine Arbeit dich restlos ausfüllt.« »Worolokow«, sagte Tanya mit fester Stimme. »Kapitän Worolokow, ich habe einen Antrag zu machen.« »Tu das«, sagte Worolokow. »Ich mache dir einen Antrag, mich zu heiraten.« Worolokow verschlug es die Sprache. Tanya drehte sich herum, bis sie zu ihm aufblickte. »Ich möchte eine Antwort, Kapitän.« »Hast du auch daran gedacht, daß du sehr jung bist und ich sehr alt?« »Ich bin nicht sehr jung, und du bist nicht sehr alt.«
Er zog sie an sich und strich mit seiner rauhen Arbeitshand über ihre weiche Wange. »Bist du ganz sicher?« »Ja.« »Dann wird dein Antrag bewilligt.« »Da wäre noch ein Antrag, Kapitän.« »Um was geht es diesmal?« »Willst du mich nicht endlich küssen?« Als sie eine halbe Stunde später in den Nachtklub zurückkehrten, hatten sie den Eindruck, in ein Kellerlokal auf dem Montmartre zu kommen. Zekes Akkordeonund Mischas Klavierspiel hatten Pariser Schwung. Dreamy lehnte an einer Ecke des Klaviers, rauchte aus einer langen ebenholzschwarzen Zigarettenspitze und sang mit rauher Stimme eine alte Ballade. Sie blieben im Eingang stehen und hörten zu. Wie immer, wenn Dreamy sang, waren die Stimmen am Spieltisch verstummt. Morelli weigerte sich dann auch, Einsätze entgegenzunehmen. Tanya wartete, bis das Lied vorüber war und der Beifall der Männer versiegte. Dann klatschte sie in die Hände und ging mitten in den Raum. Zu spät begriff Worolokow, was jetzt bevorstand. »Kameraden«, sagte sie glücklich und errötete. »Ich habe etwas mitzuteilen. Kapitän Worolokow hat mich gebeten, seine Frau zu werden.« Die Amerikaner brachen in Beifall aus. Worolokow trat mit hochrotem Kopf an Tanyas Seite, legte den Arm um sie und verkündete mit fester Stimme: »Ich habe Tanya Suworowa heute abend gebeten, mich zu heiraten.« Und er wiederholte seinen Satz auf russisch. Diesmal klatschten beide Seiten Beifall. Victoria und Dreamy kamen herbeigerannt und küßten Tanya auf die Wangen. Und eine so günstige Gelegenheit wollten natürlich auch die Männer nicht verpassen. Sie drängten sich heran, küßten Tanya, küßten Dreamy, küßten Victoria. Die Russen küßten sogar Worolokow. Nicht so die Amerikaner — die schüttelten ihm nur die Hand. Worolokow war benommen. Er konnte noch nicht glauben, was geschehen war. »Wodka!« verlangte Uschakow. Dann erinnerte er sich. »Schnaps«, korrigierte er. »Wir trinken auf Ihr Glück!« »Ich sage den Trinkspruch«, rief Igor und schwenkte seinen Becher hoch in der Luft. »Bitte nein«, flehte Boris ihn an. »Das wird viel zu teuer. Wir haben nur noch diese Tassen.« Corrigan sprang auf und hielt seine Tasse hoch. »Auf den Kapitän und seinen Steuermann!« brüllte er. Sie alle tranken.
Victoria blickte zu ihrem Vater hinüber, der zusammen mit Albert und Collins in einer Ecke gesessen hatte. Auf dem Tisch standen drei leere Flaschen. Sie sah, wie in ihm eine Rede aufstieg. Er richtete seine Perükke und setzte eine bedeutsame Miene auf. Bevor er aber für die nächste Vorbereitung, das Räuspern, Zeit fand, hatte sie von Zekes Tisch eine Flasche ergriffen und das Glas ihres Vaters aufgefüllt. Die Gedanken seiner Rede wurden mit dem Schnaps die Kehle hinuntergespült. Vorher hatten die Männer getrunken, weil man das in einem Klub eben tut. Jetzt verbreitete sich das Gefühl, daß sie einen echten Grund zum Feiern hatten. Die Schnapspunkte wurden vergessen, und die Armee der Fruchtbrandyflaschen erlitt eine Niederlage. Für Rhodes war es ein angenehmer Gedanke, daß auch jetzt, während sie tranken, die Destillerie ihr tägliches Quantum leise in die Flaschen tröpfelte. »Tanzen Sie jetzt für uns, Dreamy«, rief Zeke. »Ja, ja. Dreamy, tanzen Sie für uns«, wiederholten die anderen. »Dreamy, tanzen, Dreamy, tanzen, Dreamy, tanzen.« Zu ihren Rufen klatschten sie in die Hände und stampften auf den Boden. »Okay, Jungs, okay.« Dreamy sprach mit Mischa, der zum Klavier hinüberging. Gemeinsam blätterten sie in Noten. »Ich bin in wenigen Minuten wieder da.« Die Männer setzten ihr Rufen und Stampfen fort, bis sie wieder erschien. Und plötzlich war es mucksmäuschenstill. Sie hatte ihr langes Paillettenkleid ausgezogen und trug nun ein fast durchsichtiges Spitzengewand. Dann wurde sie mit Pfiffen und Rufen willkommen geheißen. Auf ihr Zeichen hin schwiegen sie. Mischa begann zu spielen. Die Musik war einschmeichelnd und verführerisch. Dreamy tanzte. Die Männer sahen ihr zu. Aber erst als ihr langes Gewand zu Boden glitt, begriffen sie, was für ein Tanz das war. Sie wurde mit Zurufen ermutigt. Igor starrte mit offenem Mund. Rhodes richtete eilig wieder seine Perücke und nahm einen gewaltigen Schluck Schnaps, um sich zu beruhigen. Dreamy streckte den Arm langsam nach unten aus und tätschelte Hennessey die Wange. Sie setzte sich auf seinen Schoß und knibbelte sein Ohr. Dann hob sie eines ihrer schlanken Beine und rollte verführerisch den Strumpf herunter, den sie dann spielerisch um den Hals des farbigen Sergeanten wand. »Oh, Mann«, stöhnte der. Sie stand wieder auf, glitt zu Collins hinüber, stellte den Fuß auf sein Knie und schob den zweiten Strumpf am Bein herunter. Collins' Brille war plötzlich beschlagen. Er nahm sie ab und putzte sie wie ein Wilder am
Tischtuch. Als er sie wieder auf der Nase hatte, befand sie sich schon auf der anderen Seite des Raums und öffnete im Gehen hinten den Reißverschluß ihres schimmernden seidenen Mieders. Ganz langsam wand sie sich heraus. Sie trug jetzt nur noch Slip und Büstenhalter. »Weg damit«, sangen die Männer. »Weg damit!« Der Lärm war ohrenbetäubend. Und es war unmöglich, noch etwas von der Musik zu hören. Ihre Schultern bewegten sich schlangenhaft; sie öffnete den Verschluß. Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte sie aus dem Büstenhalter. Nur winzige Sterne bedeckten noch ihre Brüste. Der Lärm wurde noch lauter. Als auch die letzte Hülle gefallen war, setzte Morelli sein Leben aufs Spiel - und schaltete das Licht aus. Im Halbdunkel der verlöschenden Kerzen entkamen sie beide — Dreamy und Morelli. Dreamys Taucherbar war gewiß mit einem Galaabend eröffnet worden. Albert lag in seiner Koje und dachte an Viktoria. Seit der Nacht der russischen Party war er tatsächlich nicht mehr mit ihr allein gewesen. Und er hatte den schwarzen Verdacht, damals allerlei verdorben zu haben. Er war Millionär und nicht in der Lage, sein Geld auszugeben. Und er hatte eine durchaus willige Geliebte, an die er nicht herankam. Er fühlte sich auf dem Abstellgleis. Das Geld konnte warten, dachte er, aber sein Liebesleben nicht. Es mußte eine Lösung geben. Albert richtete sich auf und zündete eine Zigarette an. Er brauchte einen Plan. Er blickte zur anderen Seite der Kabine, wo Igor noch schlafend in seiner Koje lag. Unter ihm hörte er Sascha leise schnarchen. Es war unmöglich, Victoria hier hereinzuschmuggeln. Die gesamte Besatzung mußte durch diese Kabine, um zur Toilette zu gelangen. Im Zelt war auch nichts zu machen, weil Rhodes oder Collins sich dort ständig herumtrieben. Außerdem befand sich Dreamy jetzt in der benachbarten Schlafkabine. Die Höhle war der einzige Winkel auf der Insel gewesen, der eine gewisse Zuflucht geboten hatte. Aber seit sie zur Destillerie geworden war, wurde sie Tag und Nacht bewacht. Er hatte schon daran gedacht, mit ihr in einem Boot hinauszufahren, aber er wußte, daß die auf Sicherheit bedachten Marinesoldaten immer einen Posten mit Fernglas aufstellten, solange jemand zum Fischen draußen war. Er überlegte, sie zu entführen, entschied aber, daß es zu viele Hindernisse gab. Sie hatten keine Pässe und konnten also nicht ins Ausland gehen, und er konnte auch nicht ohne weiteres schnell sein Geld von der Züricher Bank abheben. Wahrscheinlich würde man ihnen nicht einmal erlauben, in Großbritannien an Land zu gehen, denn die Küstenwache wurde immer noch aufrecht-
erhalten. Und letzten Endes war er gar nicht so sicher, ob er heiraten wollte. Der Hummerauflauf des Mittagessens brachte ihn auf den rettenden Einfall. Ihm wurde schlecht davon, und er mußte sich übergeben. Er kniete auf dem steinigen Strand und spuckte in die See. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Victoria ihn allein gelassen hätte. Aber sie kam, setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter. Sie war voller Mitgefühl. »Komm und leg dich eine Weile ins Zelt. Ich gehe Zeke holen.« Der riesige Koch aus Kentucky untersuchte ihn, als Albert schwitzend und unwohl auf Victorias Bett lag. »Du siehst wirklich krank aus«, sagte Zeke, »und flekkig. Wenn ich nicht wüßte, wer das Essen gekocht hat, würde ich meinen, daß du eine Nahrungsmittelvergiftung hast.« Die Idee war geboren. Albert erinnerte sich an eine Szene aus dem Film »Die Meuterei in Indien«, als eine ganze Garnison an der Cholera litt. »Nein«, log Albert. »Es liegt nicht an dem, was ich gegessen habe. »Ich hab' mich schon seit Tagen immer unwohler gefühlt. Ich war einmal Krankenpflegelehrling. Ich glaube, ich habe...« Er dachte schnell nach. Seine Idee wurde zu einem prächtigen Sprößling. »Ich glaube, ich habe die Jakobskrankheit. Das ist eine milde Form der Sommercholera. Sie ist nicht lebensgefährlich, und dauert nur ein paar Tage. Aber sie ist furchtbar ansteckend. Ich muß isoliert werden und ebenso jeder, der mit mir in engem Kontakt war.« Zeke trat einen Schritt zurück. »Ich auch?« fragte er. »Nein, der Kontakt war nicht eng genug.« »Wie behandelt man das?« »Nichts als Ruhe, Tag und Nacht kalte Kompressen auf die Stirn.« »Das mache ich gern«, sagte Zeke. »Nein, du könntest die Krankheit beim Kochen auf die anderen übertragen. Es ist besser, wenn es jemand macht, der bereits mit mir Kontakt hatte und sich nicht angesteckt hat. Der könnte immun sein.« Er machte eine Pause. »Vielleicht Victoria?« Er erinnerte sich an die Sterbeszene im »Heldenlied« und ließ seinen Kopf zur Seite rollen. Zugleich versuchte er die Augäpfel so zu verdrehen, daß viel Weißes zu sehen war. »Natürlich übernehme ich das«, hörte er Victoria sagen. »Ich werde zwischen Drahtzaun und Trawler ein Zelt aufstellen«, sagte Zeke. »Das ist die weiteste Entfernung von allen anderen, die es hier überhaupt gibt, dann frage ich die Flotte nach Verhaltensmaßregeln.«
Albert schreckte plötzlich wieder auf. »Nein«, sagte er. »Du brauchst keine Anweisungen. Ich weiß, wie ich behandelt werden muß. Wo ich zu Hause bin, ist die Krankheit gar nicht selten. Ich hatte sie schon früher — ein paarmal.« Zeke baute das Einmannzelt in einer kleinen Vertiefung zwischen den Felsen auf der russischen Seite des Zauns auf. Dann malte er ein Schild - Isolierstation — und heftete es an die Leinwand. Victoria richtete in dem Zelt ein Bett her, wickelte Albert dann vorsorglich in Schichten von Bettüchern und führte ihn hinüber. Im Zelt war es dunkel. Und sie waren allein. Albert lag auf dem Rücken und blickte zur knienden Victoria auf. Er war ein vorbildlicher Kranker. Er stöhnte. Sie preßte ein feuchtes Tuch auf seine Stirn. Er bedankte sich schwächlich. Er hielt ihre Hand und hustete schwindsüchtig. Er versuchte, Schaum auf die Lippen zu bringen, aber der war in der Dunkelheit nicht sichtbar genug. Sein Faseln im Delirium war viel überzeugender, dachte er. Er konnte Victorias Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er merkte an ihrer Stimme, daß sie besorgt war. Er fühlte sich schuldig und beschloß, seinen Zustand ein wenig besser werden zu lassen. Zeke brachte ihnen ihr Essen. Sandwiches für Victoria und eine Schüssel sorgsam zubereiteten Haferschleim für Albert, dessen Magen von dem Hummer noch leicht angeschlagen war. Als der Abend fortschritt, beschloß er, daß es jetzt an der Zeit wäre, Victoria die Wahrheit zu sagen, damit ihre erste gemeinsame Nacht beginnen konnte. »Mir geht es jetzt gut«, sagte Albert. »Ja, Liebling.« »Wirklich, ich bin völlig in Ordnung.« Er versuchte, sie zu sich herunterzuziehen. Sie sträubte sich, beugte sich aber zu ihm herüber und küßte ihn flüchtig. Das war alles. »Komm her«, sagte er. »Versuch nur zu schlafen, Liebling.« »Ich möchte nicht schlafen. Mir geht es gut«, wiederholte er. »Ich will dich.« Victoria griff nach einer feuchten Kompresse und hielt sie ihm auf die Stirn. »Sei ganz ruhig.« Albert schob den Lappen zur Seite. »Verdammt noch mal. Mir geht's wirklich gut. Wir sind endlich allein, warum können wir einander nicht haben?« »Du verschlimmerst deinen Zustand«, sagte Victoria. »Leg dich wieder hin und versuch auszuruhen. Du atmest zu schnell. Wenn ich dich allein lasse, wirst du dann brav sein? Ich will nur schnell meine Sachen für die Nacht holen und komme gleich wieder.«
Albert versprach es. Zumindest würde sie die Nacht mit ihm zusammen verbringen, und später gab es sicher noch genügend Gelegenheiten. Ein paar Minuten später kam sie in ihrem Bademantel zurück und brachte zwei Becher heißen Kakao mit. »Versuch dies zu trinken. Dann wirst du dich wohler fühlen.« Albert schluckte die Hälfte des Bechers hinunter. »Die Jakobskrankheit habe ich erfunden. Das ist der Bursche in der Bibel, der bis nach Ägypten mußte, um endlich zum Zuge zu kommen. Allmählich fühlte ich mich wie er.« Victoria lächelte. Albert spielte seine Trumpfkarte aus. »Ich liebe dich«, sagte er. Victoria küßte ihn. »Und ich liebe dich, mein Kleiner.« Er versuchte ihren Bademantel zu öffnen. »Nun sei ganz ruhig«, flüsterte sie. »Morgen wird es dir bestimmt wieder gutgehen. Zeke hat dir Schlaftabletten in den Becher getan.« »Nein! Oh, nein!« konnte er gerade noch stöhnen, bevor das Zelt sich zu drehen begann. Als Albert am nächsten Morgen erwachte, ging es ihm offensichtlich gut. Victoria lächelte glücklich, als er sich auf einen Ellbogen stützte, um den Tee zu trinken, den sie ihm gebracht hatte. Sein Plan war fehlgeschlagen, aber eigentlich konnte er ihr deswegen keinen Vorwurf machen. Und er konnte sich immerhin noch auf die nächste Nacht freuen. »Ich glaube, ich bin jetzt wieder ganz in Ordnung«, sagte Albert. »Du siehst sehr viel besser aus.« »Ich meinte, was ich gestern abend gesagt habe.« Er war von sich selbst überrascht. Er meinte es wirklich. »Ich liebe dich.« »Und ich meinte, was ich sagte.« Victoria küßte ihn. »Heute nacht werden wir allein sein«, sagte Albert. »Zum erstenmal wirklich allein.« Victoria küßte ihn von neuem. Die Männer waren schon früh zum Fischen hinausgefahren, und Hennesseys ungewöhnliche Beute erregte an diesem Morgen das Interesse. Er stand mitten in einer Menge, und sie blickten auf einen riesigen Engelhai, der wie ein Banjo aussah und den sie am Landungssteg auf die Felsen gezogen hatten. »Mein Gott, der muß mindestens hundert Pfund wiegen«, sagte Morelli, der an dem Ohrstöpsel seines Transistorradios lutschte. »Knöpf lieber die Hose zu, Makkaroni. Der lebt nämlich noch«, meinte Zeke, der die Zahnreihen begutachtete. »Was mach ich damit? Essen oder wegwerfen«, fragte Hennessey.
»Der ist nicht gut. Er schmeckt wie alte Lumpen«, erklärte Boris. »Den kann man nur wegwerfen oder vielleicht als Köder gebrauchen.« Ace erschlug den Fisch mit Igors Harpune. Die Männer schnitten ihn in Streifen und füllten ihre Ködereimer auf. Um die Mittagszeit war die Sonne zu heiß, sogar zum Fischen. Während der heißesten Stunden des Nachmittags lagen die Männer im Schatten der Raketenbasis oder wälzten sich wie schlanke Robben im Wasser am Rand des Felsens. Sie empfanden es als Erleichterung, als die Sonne tiefer sank. Die amerikanischen Marinesoldaten und die russischen Seeleute waren schon lange äußerlich nicht mehr zu unterscheiden. Sie waren gleich gekleidet, trugen meistens Badehosen oder irgendwelche bequemen Arbeitsanzüge und saßen in gemischten Gruppen herum. Sie lebten und schliefen, wo es ihnen gerade gefiel, die Russen im amerikanischen Lager, die Amerikaner im Schatten der DMITRI KIROW oder in den kühlen Kabinen unter Deck. Sie waren keine Russsen oder Amerikaner mehr - sie waren die Inselbewohner von Foul Rock. An diesem Abend entstand eine Krise. Irgend etwas war an der Destillerie nicht in Ordnung. Die Männer standen in der Höhle herum und hielten einen düsteren Lokaltermin ab. Während des Tages hatte die Destillerie noch getropft, zur Teezeit war es ein Tröpfeln geworden, und am frühen Abend kam gar nichts mehr aus dem Kupferrohr. »Die Temperatur ist zu niedrig«, erklärte Uschakow. »Irgend etwas ist mit der Gaszufuhr nicht in Ordnung.« Sie blickten unter dem beschlagenen Kupferkessel auf die Flamme. Sie schimmerte schwach blau und nur flach über dem Felsen. Uschakow hielt seine Hand hinein. »Nicht heiß genug, um die Maische zu kochen.« Die Hitze der Flamme schien in den letzten Wochen den Felsen rund um den Gasaustritt pulverisiert zu haben. Splitter waren in den Spalt hinuntergefallen. Ich glaube, daß die Gaszufuhr blockiert ist«, meinte Uschakow. »Vielleicht wird es schwierig, sie wieder zu reinigen.« »Könnten wir nicht einen Benzinkocher aufstellen?« fragte Hennessey. »Das müßte doch zu machen sein.« »Ja«, stimmte Worolokow zu. »Aber ich glaube, wir sollten erst versuchen, die Blockierung wieder freizubekommen. Wenn wir eine lange Stange hineinstekken, kann man den Stein vielleicht zur Seite schieben.« Sie montierten den schweren Boiler von seinem Gestell und schleppten ihn von der Gaszufuhr weg. Dann wur-
de die Flamme mit einem feuchten Sack zum Erlöschen gebracht. Es half aber nichts, mit langen Aluminiumrohren aus Rhodes' Zeltgerüst in das Loch hinunterzustoßen. Was immer die Zufuhr blockierte, steckte gut vier Meter tief fest an seinem Platz. Da sie auf diese Weise nicht hindurchstechen konnten, war im Augenblick nichts zu machen. »Wir brauchen wohl doch einen Benzinbrenner«, sagte Uschakow zu Hennessey. »Wie lange dauert es, bis Sie einen gebaut haben?« »Ich schätze, das läßt sich in ein paar Tagen schaffen«, sagte Hennessey. »Aber der Ärger ist, daß wir dann eine Masse Treibstoff brauchen, und allzu sicher ist die Sache auch nicht.« »Vielleicht sollten wir Treibholz benutzen.« meinte Corrigan. »Das ist ungefährlicher.« »Reicht aber nicht aus«, sagte Worolokow. »Wie auch immer, für heute ist es zu spät. Wir müssen es bis morgen auf sich beruhen lassen. Wenn uns im Nachtklub der Schnaps ausgeht, wird's schlecht.« »Heute abend werden wir wieder rationieren müssen«, sagte Corrigan. Mit traurigem Gesichtsausdruck stand Igor daneben und hörte zu. Plötzlich wurde seine Miene vergnügt. Er wußte, wie die Blockierung zu durchbrechen war. Er drehte sich um und eilte aus der Höhle. Für Albert wurde der Tag lang. »Sie haben Ärger mit der Destillerie«, erzählte ihm Victoria. »Die Gaszufuhr scheint unterbrochen zu sein. Sie wollen einen Benzinbrenner bauen. Heute abend werden wir wieder rationiert. Papa ist wütend. Er sagt, sie haben alles verschlampen lassen. Es wird ihm guttun, wenn er kurzgehalten wird.« »Ich hoffe, daß du nicht glaubst, daß es mir guttut, wenn ich kurzgehalten werde«, sagte Albert. »Ich dachte nicht, daß dir der Schnaps so viel bedeutet.« »Wer redet denn von Schnaps. Ich liebe dich. Komm ins Bett.« »Später, wenn alle drinnen sind.« Es dauerte nicht lange, bis das Hin und Her auf der Insel aufhörte, aber Albert schien es, als ob noch ein ganzer Tag dazwischenlag. Vom Schiff her konnten sie den Gesang im Nachtklub hören. Dreamy strippte nicht immer. »Nur bei besonderen Anlässen«, erklärte sie. Sie sang, und die Männer tranken. Sie rationierte sogar den Gesang, Boris und Zeke rationierten den Schnaps. Endlich hörten Albert und Victoria, wie die Männer die Strickleiter herunterkletterten und über die Felsen zu den Zelten stolperten. Nach einigen Gute-Nacht-Rufen und ein paar spöttischen Bemerkungen kehrte dann das Schweigen einer vom Wasser umgebenen Insel bei Nacht
ein - das leise Plätschern der Wellen und das Rascheln der Kiesel. Die Nacht war warm. Der Mond war nicht zu sehen, aber der Himmel war mit Sternen übersät. Albert öffnete den Eingang des Zelts über seinem Kopf und starrte hinauf. »Millionen um Millionen«, sagte er. »Denkst du an dein Geld?« »Nein, die Sterne meine ich. Komm und schau.« Victoria glitt neben ihn. Er zeigte hinauf. »Sieh, der Orion und das Siebengestirn.« »Und der Große Bär und der Polar...« Alberts Mund erstickte sie mitten im Satz. Er zog die Klappen des Zelts herunter. »Zieh dich aus«, flüsterte er. »Nein«, sagte Victoria. »Warum nicht?« »Weil ich will, daß du mich ausziehst.« Victoria zitterte. Albert strich ihr über die Wange. »Du weinst?« fragte er überrascht. »Ja, ein bißchen. Weil ich dich will.« Victorias Körper pochte. Sie spürte wie das Blut durch die Adern und Schläfen schoß. Ihr Körper fühlte sich ausgeliefert, obgleich sie noch immer angezogen war. »Zieh mich aus.« Eine schlanke, dunkle Gestalt stürzte vom Trawler herunter auf die unbewachte Schnapshöhle zu. Leichtfüßig lief sie über die Felsen und um die mit Seetang behangenen dunklen Tümpel herum. Einen Augenblick stand sie oberhalb der Höhle, sah sich um und verschwand dann von der Bildfläche. Igor zog den Vorhang am Eingang zur Seite. Wie er es gehofft hatte, war die Höhle unbewacht. Das Licht, das am Generator des Trawlers angeschlossen war, ließ seinen Umriß um so dunkler erscheinen, als er im Eingang stand. Er ging hinein. Er stand eine Weile da und blickte auf die blockierte Felsspalte hinunter. Dann zog er eine leere Coca-ColaDose aus der einen Tasche und aus der anderen eine Sprengpatrone und eine Rolle Angelschnur. Mit seinem Messer bohrte er ein Loch in den Boden der Dose, fädelte die Schnur hindurch und verknotete sie innen. Bald darauf schob er die Patrone mit großer Sorgfalt in die Dose, so daß die Seiten den Abzug berührten. Er zog die Sicherung heraus. Ganz langsam ließ er die scharfe Bombe durch den Felsspalt hinunter. Der Druck des mit einer Feder versehenen Abzugs gegen das Blech der Dose mußte die Patrone an ihrem Platz halten. Etwas rutschte ein wenig. Igor schloß die Augen. Aber sie hielt. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn und ließ das Gewicht dann weiter herunter, bis er spürte, daß es auf das Hindernis traf.
»Mein Geliebter«, hauchte Victoria. Alberts Körper drängte sich brennend heiß gegen den ihren. Igor zog sich aus der Höhle zurück und ließ die Schnur im Gehen abrollen. Nur ein paar Meter seitlich vom Eingang entfernt, blieb er stehen. Dann zog er plötzlich an der Schnur und schlug die Hände über die Ohren. Nichts geschah. Er wartete einen" Augenblick. Dann riß er noch ruckartiger an der Schnur. Diesmal kam die Dose aus der Höhle gesprungen - leer. Sekundenlang blieb es still. Dann ging für Igor die Welt unter. »Jetzt, Liebling, jetzt.« Victorias Stimme drängte. Da sah sie einen hellen, orangeroten Lichtblitz. Der Boden bebte. »Albert«, stöhnte sie. Das Zelt verschwand. Sie sah die Sterne über ihnen. Und dann folgte eine berstende Explosion. Eine Kathedrale von Flammen sprang mit dem Gebrüll von tausend platzenden Kampflokomotiven in den Himmel. Albert fuhr plötzlich auf und sackte wieder zusammen. Etwas Warmes und Klebriges tropfte von seinem Kopf auf Victorias Gesicht. Es lief zu ihren Lippen herunter und war salzig. Sie spuckte. Es war Blut. Voller Panik schob sie Albert zur Seite. Er plumpste auf die Matratze. Die aufschießende Flamme erhellte die Insel wie eine Riesenfackel. Sie sah, daß das Blut aus einem langen Schnitt auf seiner einen Gesichtshälfte gepumpt wurde. »Papa!« schrie sie. Die Insel war erwacht. Sie schlang ein Bettlaken wie eine Toga um sich. Rhodes stand neben ihr. Er verlor keine Zeit. Nüchtern und sicher tastete er nach der Ader, um die Blutstöße zum Versiegen zu bringen. Dann riß er einen Streifen Bettuch ab und machte Albert einen Preßverband. »Holt Zeke«, befahl er. Victoria lief auf eine Gruppe Marinesoldaten zu, die zu den Flammen hinaufblickten. »Sammeln. Sammeln.« Auf die Rufe des Majors rannten die GIs zum Kasernenhof. »Namensappell!« brüllte der Major. »Sofort feststellen, ob alles da ist.« Hennessey gehorchte. »Bis auf Zeke sind alle anwesend, Sir. Er hat dort drüben einen Verwundeten zu verpflegen.« Hennessey zeigte dorthin, wo Alberts Einmannzelt gestanden hatte. Die Russen sammelten sich vor dem Schiffsrumpf des Trawlers. In der eigenartigen Beleuchtung sah er rotglühend aus. Worolokow kam herübergerannt. »Igor fehlt uns«, rief er Corrigan zu. »Ist er bei Ihnen?« »Nein. Hennessey, nehmen Sie Morelli mit und sehen Sie, ob Sie Igor finden.« »Jawohl, Sir.« Der farbige Hauptfeldwebel packte Morelli am Arm und verschwand mit ihm hinter den Zelten. »Was ist passiert?« fragte Worolokow.
»Keine Ahnung«, antwortete der Major. »Es sieht so aus, als ob wir einen Vulkan vor der Nase hätten. Können wir etwas dagegen tun?« »Das bezweifle ich. Wir kommen nicht nah genug heran, um etwas zu unternehmen.« Während sie noch sprachen, folgte eine weitere Explosion. Ein großes Stück der Insel löste sich ab und glitt in die See. Die Männer duckten sich, als kleinere Stücke auf die Felsen prasselten. Ein Windstoß brennend heißer Luft ließ Hennesseys schwarzes Kraushaar vorne schmoren, als er und Morelli um die Ecke der Messe kamen. Er bedeckte die Augen mit den Händen und zog sich schnell in den Schutz zurück. »Alles in Ordnung, Sergeant?« Morelli schrie, um sich in dem brüllenden Getöse verständlich zu machen. »Ja. Siehst du ihn irgendwo?« Hennessey rieb mit der Hand über die Stirn und die kurzen Borsten, wo er jetzt kahlgebrannt war. Vorsichtig blickte Morelli um die Ecke des Gebäudes. »Ich glaub, er ist da unten. Es sieht so aus, als ob jemand in dem Tümpel neben der Höhle liegt. Vielleicht ist er tot.« »Wir holen ihn.« »Wir müssen durch die Flammen. Die werden uns braten.« Ihre Trommelfelle dröhnten vom Grollen unterirdischer Erschütterungen. »Wir schwimmen herum«, rief Hennessey und zeigte zum Strand. Sie liefen zum Wasser hinunter und wateten hinaus, bis sie sich hinter die Wellen ducken konnten. Der Unterschied zwischen der irrsinnigen Hitze und dem kalten Wasser brachte sie zum Keuchen. Sie stolperten und schwammen durch das hüfttiefe Wasser und kamen bis auf wenige Meter an den Flammenherd und Igors regungslosen Körper heran. Er lag in einem kleinen Felstümpel, den Kopf auf einem Büschel Seetang. Seine Kleider schmorten. Hennessey rief wieder. Morelli sah, wie sich Igors Mund bewegte. Sie konnten ihn nicht hören. Der Sergeant stolperte aus dem Wasser und sprang auf Igor zu. Morelli folgte. Die Hitze versengte sie. Sie tauchten neben Igor in den Tümpel. Hennessey zeigte zur See zurück. Sie packten den jungen Kosaken an Armen und Beinen und schleppten ihn mit sich. Die Druckwelle einer weiteren Explosion warf sie die letzten paar Meter ins Wasser. Morelli torkelte. Seine Hände sanken. Er blickte auf sie herunter - die Haut war verschwunden. Mit weit « aufgerissenen Augen starrte er Hennessey an, als der bullige Sergeant den bewußtlosen Russen packte. Hennesseys Gesicht enthäutete sich sichtbar.
Er winkte mit dem Arm von den Flammen fort, und die beiden Soldaten tauchten ins Wasser und zogen Igor mit. »Sie haben Igor«, rief Suki. Zwei geschwärzte Gestalten taumelten über die dampfenden Felsen und zogen einen schlaffen Körper. »Sie sind verletzt.« Corrigan und seine Männer rannten auf sie zu. Dem Major verschlug es den Atem, als er die versengten GeMchter und Hände seiner beiden Männer sah. »Bringt sie auf die andere Seite der Insel«, rief er Suki zu. »Und holt Zeke, wenn er frei ist. Sie müssen dringend versorgt werden.« Und wieder ertönte eine Explosion. »Ace, werfen Sie diese Raketen ins Wasser«, rief Corrigan. »Und dann alles bereitmachen, um das Schiff zu verlassen!« Corrigan rannte zu Hennessey und Morelli. Er packte Igors Beine und hob ihn vom Boden. »Boote zu Wasser lassen«, brüllte er zu Ace hinüber. »Achten Sie darauf, daß keiner fehlt. Und vergessen Sie die Tommies nicht. Worolokow, bringen Sie Ihre Männer auch lieber aufs Wasser.« Der Major hob sich Igor auf die Schulter und rannte mit ihm, so schnell er konnte, über die Felsen zu den Booten. Aus dem dichten Rauch erschien Uschakow und hielt seinen Arm als Schutz vor den fallenden Steinen über den Kopf. »Corrigan, Corrigan.« Er klammerte sich an den Arm des Majors. »Haben Sie Funkverbindung mit der Flotte?« Der Major sah sich nach Clancy um, der sich über dem Apparat abmühte. »Tut mir leid. Nichts zu machen, Sir.« »Schnell, die Wellenlänge. Wir müssen's ihnen sagen. Kein Krieg.« Der Wissenschaftler war aufgeregt. »Was soll das heißen?« »Die sowjetische Flotte glaubte, daß Sie uns angreifen und die Insel sprengen. Wir haben ihr erklärt, daß es nur eine natürliche Explosion ist. Sie greift jetzt nicht an. Aber Ihre Leute müssen gewarnt werden.« »Lassen Sie mich an Ihr Funkgerät«, keuchte Corrigan. »Clancy, kommen Sie mit.« Die drei Männer rannten zu dem Trawler zurück. Minuten später, als die Insel grollte und zitterte, hasteten Corrigan und Clancy Paradise an den Strand. »Alles in den Booten, Sir«, meldete Hennessey. Er sprach mit zusammengebissenen Zähnen; seine Lippen waren geplatzt und bluteten. »Alle anwesend und in Ordnung. Auch zwei von den Russen. Boris und Igor. Igor ist noch nicht wieder zu sich gekommen. Verbrennungen, ein Arm und vielleicht ein paar Rippen gebrochen. Albert hat eine üble Kopfwunde, ist aber gut versorgt.«
»Ablegen!« rief Corrigan. Sein Befehl ging beinahe in einer neuen Explosion unter, die ein weiteres großes Stück von der Insel abbröckeln ließ. Foul Rock zitterte und wurde so geschüttelt, daß von der Insel kleine Flutwellen; ausgingen, die die Boote zum kentern zu bringen drohten. »Ablegen. Ins offene Wasser und zusammenbleiben.« Die Außenbordmotoren sprangen an. Bei dem Lärm der Flammen waren sie kaum zu hören. Die Boote fuhren hinaus. Über dem Wasser lag ein rötlicher Schimmer, und das Licht war hell genug, um erkennen zu können, daß auch die Russen sicher aus dem Regen von Felsstükken herauskamen. Albert spürte nichts von seiner Verletzung, obgleich er halb bei Bewußtsein war, als Zeke ihn bearbeitete. Er beobachtete die hinaufjagenden Flammen und spürte, wie Felsen als feiner Staub auf sein Gesicht und seine Schulter fiel. Er erinnerte sich an »Die letzten Tage von Pompeji«. Als schweigsamer, tapferer, römischer Soldat hielt er es bis zuletzt auf seinem Posten aus. Die Lava kroch näher. Ein Blizzard glühender Asche fegte durch die Säulenportale und häufte sie um seine Knöchel. Er würde lebendig begraben werden. Es verschaffte ihm einige Genugtuung, zu wissen, daß man ihn einst ausgraben würde, .. und er unsterblich würde — in einem Bild, einem fluch und in einem Film» Eine halbe Meile von der kleiner werdenden Insel entfernt, kamen die amerikanischen und die russichen Boote nah zueinander. »Erstaunlich«, rief Worolokow. »So etwas hab' ich noch nie gesehen. Was ist geschehen?« »Vielleicht ein Gasstau unter den Felsen. Und dann eine Art Vulkanausbruch, möchte ich annehmen.« »Sind Ihre Kameraden gesund?« »Vier Verletzte«, antwortete Corrigan. »Igor und Albort sind angeschlagen, aber nicht sehr ernst. Igor hat einen Arm und Rippen gebrochen, Albert hat eine Gehirnerschütterung. Hennessey und Morelli haben Verbrennungen. Die Flotte muß morgen hier sein. Dreamy versorgt Igor mit Erster Hilfe. Ist der Rest der Besatzung bei Ihnen in Ordnung?« »Alle Männer und der Hund gerettet.« Im Bug des zweiten Bootes flüsterten Zeke und Boris. »Ich denke an unsere Idee mit dem Restaurant. In einem Monat läuft meine Dienstzeit ab. Und um mich noch einmal zu verpflichten, bin ich zu alt. Ich bekomme eine ziemlich gute Pension. Was hältst du davon?« »Ehrlich?« fragte Boris. »Klar«, sagte Zeke kurz angebunden. »Ich schätze, wir können einen guten Laden aufziehen. Wir arbeiten auf Halbpart. Soll ich fragen?« »Was ist mit Igor? Er ist wie mein Sohn.«
»Igor auch.« »Ja, frag bitte.« »Herr Major«, rief Zeke. »Es ist wichtig, können wir längsseits kommen?« Sie steuerten das Boot heran, bis es Bord an Bord mit dem des Majors lag. »Boris und Igor möchten bei uns bleiben.« Er erklärte ihr Vorhaben. Corrigan rieb sein Kinn. »Haben Sie das gehört, Worolokow?« rief er zum russischen Boot hinüber. »Boris und Zeke wollen in Frankreich ein Restaurant eröffnen.« »Wir hören es.« »Was halten Sie davon? Sind Sie einverstanden?« »Einverstanden mit was?« fragte Worolokow. »Daß Boris und Igor bei Zeke bleiben?« »Wir trauern um Boris und Igor«, sagte Worokolow ernsthaft. Er blickte in die Runde seiner Besatzung. »Sie starben als Helden, als die Insel in die Luft flog. Das ist sehr traurig. Wenn sie aber davongekommen sind, wünschen wir ihnen viel Glück und Erfolg.« Worolokow stand da, hatte seinen Arm um Tanyas Schulter gelegt und lächelte zu den Amerikanern hinüber. Eine Reihe krachender Eruptionen hinter ihnen ließ sie zur Insel zurückblicken. Es war von ihr nur noch wenig übriggeblieben. Im Widerschein der Feuersäule schimmerte der Schiffsrumpf der DMITRI KIROW golden wie ein Totenschiff. Sie beobachteten, wie der Bug scharf nach oben gehoben wurde. Dann folgte noch eine Explosion. Wie bei einem Stapellauf glitt der Trawler ins Wasser. Für einen Augenblick sah er aus, als ob er schwimmen würde. Dann versank er mit dem Heck voran in den Wellen. In einer letzten Explosion flog der Rest der Insel in die Luft. Man hörte noch das laute Blubbern des Gases, dann war es still. Die Flammen erloschen. Es war eine dunkle Nacht. Für eine ganze Weile sprach keiner von ihnen. »Wie werden Sie nach Hause kommen?« rief Corrigan über den sich vergrößernden Abstand zum russischen Boot hinüber. »Wir sind Fischer«, kam die Antwort Uschakows. »Wir halten durch, bis das Versorgungsschiff uns findet.« Die Boote trieben weiter auseinander. Albert lehnte mit dem Rücken an der harten Ruderbank des Bootes, sein Kopf lag in Victorias Schoß. Ohne jede Bemerkung hatte er zugesehen, wie sein Königreich unterging. Jetzt setzte er sich auf und rief den Russen zu: »Viel Glück, Kapitän Worolokow. Und Dank.« Die Antwort des Russen ging in einem Streit zwischen Boris und Zeke unter. »Wir nennen es Old Kentucky.« »Njet. Das Moskauer Restaurant.« »Das Moskauer Kentucky«, schlug Zeke vor.
»Ja«, sagte Boris. »Das Moskauer Kentucky ist gut. Und wir werden einen großartigen Borschtsch mit Mais und Ketchup servieren.« »Und abends wird Igor eine Tanzeinlage für die Leute geben«, sagte eine schwache Stimme auf dem Boden des Boots. »Das bringt fast alle in Stimmung.« »Dann geht deine Pension für Geschirr drauf«, sagte Morelli, und die beiden Bootsbesatzungen lachten. »Von meiner Insel ist nicht mehr viel geblieben«, meinte Albert mit trauriger Stimme. »Nur drei Millionen Pfund«, erinnerte ihn Gin Jim Rhodes. »Und dieser hier«, sagte Victoria. »Der hat dich außer Gefecht gesetzt.« Sie reichte ihm ein scharfkantiges Stück Kalkstein das einzige Überbleibsel der Insel, die Onkel Alf beim Pokern Fatty Hagan abgenommen hatte.