HEYNE-BUCH Nr. 3365 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe
A CLASH OF CYMBALS
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HEYNE-BUCH Nr. 3365 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe
A CLASH OF CYMBALS
Deutsche Übersetzung von Walter Brumm
Redaktion und Lektorat: Günter M. Schelwokat
Copyright © 1959 by James Blish Copyright © der deutschen
Übersetzung 1973 by Wilhelm Heyne Verlag, München
Printed in Belgium 1973
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München
Gesamtherstellung: Gérard & Cie, Verviers
ISBN 3-453-30242-7
2 James Blish – Triumph der Zeit
Prolog … Wir haben also gesehen, daß die Erde, ein Planet wie andere zivilisierte Welten, erst ungefähr zwei Millionen Jahre nach dem Auftreten der ersten Hominiden zu galaktischer Bedeutung aufstieg. Die entscheidende Etappe auf diesem Weg wurde nicht so sehr vom Beginn des lokalen Raumflugs um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts markiert, als vielmehr durch die unabhängige Entdeckung des überlichtschnellen Antriebs im Jahre 2069. Etwa zweihundert Jahre später kam es zu ersten Kontakten zwischen Kolonisten und Außenposten der Zivilisation von Wega, und die sich rasch entwickelnde Gegnerschaft zwischen den zwei großen Kulturen, die eine in raschem Aufstieg, die andere bereits jenseits ihres entwicklungsgeschicht lichen Kulminationspunktes, beide jedoch vom gleichen räuberischen Machthunger beseelt, gipfelte in der Schlacht von Altair im Jahre 2310, die einen langen und verlustreichen Krieg um die Vorherrschaft einleitete. Fünfundsechzig Jahre später startete die erste einer Anzahl von fliegenden Städten oder »Okies« von der Erde, mit deren Hilfe es der Menschheit gelingen sollte, für eine gewisse Zeit die Galaxis zu beherrschen, und im Jahre 2413 endete der Krieg gegen die Weganer nach mehr als hundertjähriger Dauer mit der Einschließung Wegas. Die anschließende Verwüstung des Planeten durch die Dritte Flotte unter Admiral Arthur Harris-Hrunta zwang die Regierung der Erde, ihren Admiral wegen Kriegsverbrechen und versuchten Völkermord unter Anklage zu stellen. Der Fall kam trotz starker Widerstände rechtsgerichteter Kreise zur Verhandlung, und Harris-Hrunta wurde in Abwesenheit für schuldig befunden, aus den Streitkräften entlassen und zu sechs Monaten Haft verurteilt. Trotz dieser milden Strafe, in der sich die Abhängig keit von Justiz und Regierung vom militärischen Apparat widerspiegelte, weigerte sich der Admiral, das Urteil anzuerken nen. Ein halbherziger Versuch, ihn unter Zwang zur Erde zurückzubringen, hatte zur Folge, daß die Dritte Flotte beinahe geschlossen zu ihm überlief, worauf er sich zum »Imperator des Weltraums« ausrufen ließ. Nachdem es 2464 zu einer verlustrei
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chen Schlacht mit unentschiedenem Ausgang gekommen war, geriet die Erde in eine Staatskrise, die Jahrzehnte andauerte und erst 2522 mit dem Zusammenbruch der Militärherrschaft endete. Diese Schwächeperiode erlaubte es den inzwischen zahlreichen Okie-Städten, sich in mehr oder weniger anarchischer Form weiterzuentwickeln, ein Zustand, der sehr gut geeignet war, ihre Selbständigkeit zu festigen und neue Handelswege durch bekannte und unbekannte Teile der Galaxis zu eröffnen. Wir haben bereits die erstaunliche Langlebigkeit des HruntaImperiums behandelt, das ein Jahrtausend überdauerte, bevor es in Diadochenkämpfen zerfiel und zwischen 3545 und 3602 von einer wiedererstarkten Erde annektiert wurde. Wir haben diesen relativ nebensächlichen Aspekt der Menschheitsgeschichte erwähnt, weil er ein typisches Beispiel für die Balkanisierung des irdischen Machtbereichs in einem Zeitabschnitt ist, der vielleicht wegen dieser zahlreichen Staatenbildung eine unerhörte Ausdehnung der Menschheit durch die Galaxis bewirkte. Unser Aufriß über die Geschichte einer der fliegenden Städte, die 3111 mit ihrem Start begann und in den gleichen Zeitraum fällt, mag herangezogen werden, um die unterschiedliche Behandlung zu illustrieren, die die Erde ihren zwei so verschiedenen Kindern, den Randstaaten und den Okies, angedeihen ließ, und der historische Ablauf beweist den politischen Weitblick jener Entscheidungen; denn die weit hinausschweifenden OkiePflanzstädte waren es, die für eine relativ lange Periode den Wohlstand und die Macht der Erde sicherten und die Galaxis gewissermaßen zu ihrem Obstgarten machten. Der bevorstehende Zusammenbruch der Erdzivilisation, den eine allmähliche kulturelle Verarmung seit langem angekündigt hatte, wurde 3905 mit der Schlacht im Sternhaufen der Akoluthen auch nach außen hin deutlich. Zwar gelang es den Streitkräften sechs Jahre später, den Sternhaufen zurückzuero bern und den Usurpator, einen gewissen General Lerner, der sich selbst zum »Herrscher des Weltraums« ausgerufen hatte, zur Flucht ins Exil zu zwingen, wo er im selben Jahr an einer Überdosis Weisheitskraut starb, doch schon im Jahr 3913 kamen die Interessenkonflikte zwischen der Erde und ihren Okie
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Pflanzstädten, noch gefördert durch einen unvermeidlichen Entfremdungsprozeß, in der Schlacht bei der Erde offen zum Ausbruch. Die einzige fliegende Stadt, die an diesem weiteren Kapitel menschlicher Selbstzerfleischung nicht teilgenommen hatte, verließ 3918, während die kriegerischen Auseinandersetzungen noch andauerten, die Heimatgalaxis, um die größere der beiden Magellanschen Wolken zu besiedeln. Sie ließ eine Erde zurück, die im Jahr 3925 mit dem Erlaß des sogenannten Anti-OkieGesetzes die Konsequenzen aus einer unaufhaltsamen Entwick lung zog und sich als eine galaktische Macht selbst entmannte. Obwohl der 3944 für die Besiedlung ausgewählte Magellansche Planet 3949 auf den Namen Neue Erde getauft wurde, markiert das frühere Datum 3925 das Abtreten der Erde von der galaktischen Bühne. Schon griffen aus einem der größten Sternhaufen der Galaxis die tastenden Fühler jener seltsamen Kultur um sich, die das »Netz des Herkules« genannt wurde und vom Schicksal ausersehen war, als die vierte große Zivilisation der Milchstraße das Erbe der Menschheit anzutreten. Und hier können wir wieder einmal beobachten, wie eine untergehende, politisch bereits bedeutungslos gewordene Zivilisation in einem Rückzugsgebiet fortbesteht, um noch einmal für einen Moment ins Licht der Geschichte zu treten. Der langsame, unaufhaltsame Aufstieg der neuen Macht wurde von der universalen physikali schen Katastrophe unterbrochen, die wir heute als GinnungaLücke bezeichnen; und obwohl es nur dem Netz des Herkules zu verdanken ist, daß wir Aufzeichnungen über die galaktische Geschichte vor diesem Einschnitt besitzen und so eine histori sche Kontinuität herstellen können, die in allen vorausgegange nen Zyklen des Universums sicherlich ohne Vorbild ist, beobachten wir mit Staunen und Bewunderung das jähe Wiederauftreten von Menschen in diesem zeitlosen Augenblick von Chaos und Schöpfung, und den eindrucksvollen Abgang, den sie für sich selbst in das Drama des Universums schrieben. Acref-Monales: Die Milchstraße, fünf Kulturporträts
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Neue Erde In diesen späteren Jahren verwunderte es John Amalfi, wenn er zuweilen auf Beweise stieß, daß es Dinge gab, die älter waren als er selbst. Und die Unvernunft solcher Verwunderung pflegte ihn dann zu erschrecken. Dieses erdrückende Gefühl von Alter, das tote Gewicht von tausend Jahren, das auf seinen Schultern lastete, war in sich selbst ein Symptom dessen, was mit ihm nicht in Ordnung war – oder, wie er zu sehen es vorzog, was mit der Neuen Erde nicht in Ordnung war. Dies waren seine Gefühle, als er in trüber Stimmung durch den verlassenen Rumpf der fliegenden Stadt streifte. Sie selbst war ein technischer Organismus, der mehrere Jahrhunderte älter war als er, aber nun – wie es einem solchen Alter angemessen war – nur noch eine Leiche darstellte. Das war es: die Leiche einer ganzen Gesellschaft. Denn niemand auf der Neuen Erde dachte noch ernsthaft daran, weiter raumdurchkreuzende Städte zu bauen oder in irgendeiner anderen Form das Nomadenleben der Okies wiederaufzunehmen. Die Überlebenden der ursprünglichen Mannschaft, die sehr dünn verteilt unter ihren eigenen Kindern und Enkeln und der Nachkommen auf der Neuen Erde lebten, blickten mit einem vagen, fast unpersönlichen Widerwillen auf jene Zeit in der fliegenden Stadt zurück und würden die bloße Idee, ein solches Leben wieder aufzunehmen, sicherlich als eine absurde Zumutung betrachten, die nur ein Mensch von schlechten Manieren vorbringen würde. Die späteren Generatio nen kannten die Zeit der Wanderungen nur als Geschichte und sahen in dem mächtigen gestrandeten Rumpf der fliegenden Stadt, die ihre Eltern und Großeltern zur Neuen Erde gebracht
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hatte, ein ungefüges, altertümliches Monstrum aus einer lange versunkenen Zeit. Niemand außer Amalfi schien auch nur ein flüchtiges Interesse für das Schicksal der übrigen Menschheit in der Heimatgalaxis der Milchstraße aufzubringen, zu der die zwei Magellanschen Wolken als Satellitensysteme gehörten. Nun, man mußte ihnen zugute halten, daß es ein fast unmögliches Unterfangen war, festzustellen, was sich dort ereignet hatte. Zwar konnte man alle möglichen Sendungen aus der Heimatgalaxis abhören, wenn man wollte, aber seit der Besiedlung der Neuen Erde war soviel Zeit vergangen, daß viele Dialekte und Sprachen entstanden waren, die ein Verstehen erschwerten. Das Sortieren all dieser Botschaften, die noch dazu unterschiedlich lange Strecken zurückgelegt hatten und somit verschiedenen Zeiten entstamm ten, würde eine Expertengruppe jahrelang beschäftigen, bevor ein sinnvolles Gesamtbild zustande käme, und niemand war zu finden, der eine so fruchtlose Arbeit auf sich genommen hätte. Amalfi war an diesem Tag mit der unbestimmten Idee in die Stadt gekommen, die Aufgabe den Stadtvätern zu übertragen, jener enormen Anlage von Computern und Speichersystemen, die während der Reise alle technischen, navigatorischen und administrativen Routineaufgaben erledigt hatten. Was er mit den Informationen anfangen würde, wenn er sie bekäme, wußte er nicht; sicherlich gab es keine Möglichkeit, jemand anderen dafür zu interessieren, es sei denn in der Form einer müßigen Plauderei. Und im Grunde hatten die Leute recht. Die Magellanschen Wolken entfernten sich stetig vom Milchstraßensystem, mit einer Geschwindigkeit von gut zweihundertfünfzig Kilometern pro Sekunde. Tatsächlich war dies eine für kosmische Verhältnisse geringfügige Bewegung, aber symbolisch für die Haltung der Bewohner der Neuen Erde. Ihr Blick war nach draußen gerichtet, fort von all dieser alten Geschichte. Man interessierte sich wesentlich stärker für eine Nova, die im intergalaktischen Raum jenseits der kleinen Magellanschen Wolke erschienen war, als für das gesamte Geschehen in der riesigen Heimatgalaxis, obwohl diese während bestimmter Jahreszeiten den Nachthimmel von
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Horizont zu Horizont beherrschte. Natürlich gab es noch immer den Raumflug, denn der Handel mit anderen Planeten in der kleinen Satellitengalaxis war eine Notwendigkeit; aber der Trend ging zur Entwicklung kleinerer Industrien für eine planetarische Autarkie. Während er in dem Raum saß, der einmal sein Bürgermeister büro gewesen war, und die Stadtväter für die Analyse der unzähligen Sendungen von der Heimatgalaxis vorbereitete, wurde ihm auf einmal ein Fragment aus den Schriften eines längst vergessenen Mannes hingeworfen, der viele Jahrhunderte vor seiner Geburt gestorben war. Vielleicht war diese unerwarte te Reaktion der Stadtväter nicht mehr als eine Begleiterschei nung des Aufwärmprozesses – wie die meisten Computersyste me ihres Alters und ihrer Komplexität benötigten sie eine Weile, um nach längerer Untätigkeit wieder völlig vernünftig zu werden –, oder vielleicht waren Amalfis Finger, die selbst nach all diesen Jahren mit sicherer Bestimmtheit arbeiteten, klüger als sein Kopf gewesen und hatten ohne die Bremse seines Bewußtseins Elemente von dem eingebaut, was ihn wirklich bedrückte: die Bewohner der Neuen Erde. In jedem Fall war das Zitat treffend: »Wenn dies die ganze Frucht des Sieges sein soll, sagen wir: Wenn die Generationen der Menschheit litten und ihr Leben hingaben; wenn Propheten und Märtyrer im Feuer sangen; und wenn alle Tränen zu keinem anderen Zweck vergossen wurden, daß es einer Rasse von so beispiellos spießigen und geschmack losen Kreaturen gelingen sollte, ihr selbstzufriedenes und stupides Dasein bis zum Ende der Zeit hinauszuziehen, dann ist es besser, den Kampf zu verlieren als ihn zu gewinnen; ist es besser, den Vorhang vor dem letzten Akt des Schauspiels niedergehen zu lassen, damit einer Aufführung, die so großartig begann, ein so einzigartig schales Ende erspart bleibe.« »Was war das?« krächzte Amalfi ins Mikrophon. »Ein Auszug aus ›Der Wille. zu glauben‹ von William James, Bürgermeister.«
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»Nun, es ist irrelevant; kümmern wir uns lieber um unser Hauptproblem. Nur noch eine Frage: Wann ist dieses Werk erschienen?« »Achtzehnhundertsiebenundneunzig, Bürgermeister.« »Gut. Beginnt jetzt mit der analytischen Seite des Problems. Diese Ausgabe war zumindest verfrüht. Es geht um die Erfassung und Deutung der gesamten Radiokommunikation aus der Heimatgalaxis.« Amalfi unterbrach seine Programmeingabe für eine Weile, saß da und dachte über das Fragment nach, das die Anlage ihm geliefert hatte. Es schien in einer fatalen Weise auf ihn selbst anwendbar zu sein. Seit den Tagen der Besiedlung und Konsolidierung waren seine Probleme und Funktionen immer bedeutungsloser geworden, und er war sich einer zunehmenden Unfähigkeit bewußt, das Leben in einer stabilen und geordneten Gesellschaft zu ertragen. Das James-Zitat deckte sich fast vollkommen mit seinen Gefühlen über die Okie-Bürger, die einst seine Schützlinge gewesen waren, und ihre Abkömmlinge. Den alteingesessenen Bevölkerungsteil mußte er von diesem herben Urteil natürlich ausnehmen. Diese Leute, einstmals rechtlose Bauern und Lehensträger eines zu feudalistischen Allüren neigenden Haufens von Abenteurern und Briganten, die sich ›Interstellare Meisterhändler‹ genannt und den namenlosen Planeten zu ihrer Operationsbasis gemacht hatten, lange bevor die fliegende Stadt darauf gelandet war, hatten nie etwas anderes als ihre bodenständigbäuerliche Lebensart gekannt und hielten daran fest. Amalfi seufzte. Damals, in der Anfangszeit auf der Neuen Erde, hatte es noch Aufgaben gegeben. Die Entdeckung, daß der Planet bereits von Menschen besiedelt war, hatte manches vereinfacht, der Kolonisierung durch die Neuankömmlinge aber auch erhebliche Hindernisse in den Weg gelegt, die nach drastischen Lösungen verlangten. Der Sieg über die Meister händler in der Schlacht auf der verbrannten Heide und die anschließende Aufteilung ihrer riesigen Ländereien waren, genau genommen, Amalfis letzte wichtige Taten gewesen.
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Die lokale Raumfahrt war keine Lösung für ihn. Die nach und nach besiedelten zwei Dutzend Planeten innerhalb der Wolke waren einander sehr ähnlich und nicht zu weit voneinander entfernt, was die Verwaltung von einem administrativen Zentrum aus begünstigte. Es gab keinen Bevölkerungsdruck, keine Probleme mit anderen intelligenten Lebensformen, und die Wolke mit ihrem Durchmesser von knapp 70000 Lichtjahren war ein gerade noch überschaubarer Bereich. Aber dies alles konnte einen Mann, der seine Stadt einmal über eine Distanz von 280000 Lichtjahren geführt hatte, nicht befriedigen. Was er vermißte, war nicht der Raum, sondern die Instabilität selbst, das Gefühl, unterwegs zu einem unbekannten Ziel zu sein, unfähig vorauszusagen, welche Überraschungen ihn bei der nächsten Landung erwarten mochten. Die Sache war einfach die, daß die Langlebigkeit jetzt wie ein Fluch auf ihm lag. Eine wesentlich verlängerte Lebensspanne war eine Vorbedingung für das Durchdringen der Galaxis gewesen. Bis zur Entdeckung der den physiologischen Alterungsprozeß aufhaltenden Drogen in der ersten Hälfte des dritten Jahrtau sends waren weite interstellare Flüge selbst mit überlichtschnel len Schiffen eine physikalische Unmöglichkeit gewesen; die Entfernungen waren einfach zu gro ß, als daß ein kurzlebiger Mensch sie mit irgendeiner endlichen Geschwindigkeit hätte durchmessen können. Aber ein praktisch unsterblicher Mensch in einer stabilen Gesellschaft zu sein, war – wenigstens für Amalfi – so uninteressant wie eine immerwährende Glühbirne. Es war, wie wenn man ihn einmal in seine Fassung geschraubt, eingeschaltet und dann vergessen hätte. Es war richtig, daß die meisten seiner ehemaligen Reisegefähr ten nicht unter vergleichbaren Anpassungsschwierigkeiten zu leiden schienen. Das galt besonders für die Jüngeren, die in der Zeit des Nomadisierens keine oder wenig Verantwortung getragen hatten und jetzt ihre unverbrauchten Energien und ihre lange Lebenserwartung auf Forschungs- oder Entwicklungspro jekte verwendeten, die nach aller Voraussicht erst in einigen hundert Jahren Früchte tragen würden. Zum Beispiel gab es eine große Forschungsgruppe, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit
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dem Problemkreis der Antimaterie beschäftigte. Das theoretische Gehirn der Gruppe war Dr. Schloss, ein Physiker, der im Jahr 3602 während der Rückeroberung des Fürstentums von Gort als Flüchtling an Bord der fliegenden Stadt gekommen war. Die Verwaltung des Projekts lag in den Händen eines vergleichsweise jüngeren Mannes namens Carrel, der in der Endphase der Reise einer der Navigatoren gewesen war. Das unmittelbare Ziel der Forschung war, nach Carrel, die Aufklärung der theoretisch möglichen Molekularstrukturen aus Antimaterie-Atomen, aber es war kein Geheimnis, daß Schloss und die meisten jüngeren Wissenschaftler der Projektgruppe hofften, im Laufe der nächsten Jahrhunderte nicht nur einfache chemische Verbindun gen aus solchen Atomen herzustellen – das mochte schon in einigen Dekaden gelingen –, sondern einen sichtbaren, makroskopischen Gegenstand, durch und durch aus Antimaterie. Dieses unvorstellbar explosive Objekt würden sie dann, so vermutete Amalfi, in seinem Vakuum-Behältnis mit der Aufschrift ›Noli me tangere‹ in Antimaterie-Farbe versehen. Das war alles sehr schön; aber Amalfi, der kein Wissenschaftler war, konnte an solchen Dingen nicht teilnehmen. Natürlich stand ihm immer die Möglichkeit offen, sein Leben zu beenden. Er war nicht unverwundbar, noch wirklich unsterblich; er brauchte nur aufzuhören, die alterungsverhütenden Medikamente einzuneh men, und die Natur würde dafür sorgen, daß er die nächsten zwei Jahrzehnte nicht überlebte; oder er konnte zu einem der vielen bewährten direkteren Mitteln greifen, wenn er nicht so lange warten wollte. Aber dieser Gedanke kam Amalfi nicht; er war nicht der Typ des Selbstmörders. Er hatte sich nie weniger müde, weniger verbraucht gefühlt; er war einfach bis zum Überdruß gelangweilt und zu sehr seinen alten Denk- und Verhaltensweisen verhaftet, um sich mit einem einzigen Planeten und einer einzigen Gesellschaftsordnung zufriedengeben zu können. Seine tausend Jahre des Umherziehens, des ständigen Wechsels hatten in ihm eine unwiderstehliche Schwungkraft erzeugt, die sich jetzt in sinnlosem Leerlauf erschöpfte. »John! Du bist es also. Ich sah das Licht und konnte mir nicht denken, wer um diese Zeit hier sein würde.«
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Amalfi fuhr erschrocken zusammen und schaltete das Eingabe gerät aus. Dann drehte er sich auf dem Hocker herum. Natürlich hatte er die seit Jahrhunderten vertraute Stimme sofort erkannt, aber er hatte nicht erwartet, daß jemand ihn hier finden würde. Es mußte um 3500 gewesen sein, als die Stadt den Besitzer der Stimme als Chef der astronomischen Abteilung an Bord genommen hatte. Er war ein reizbarer und schwieriger kleiner Mann, aber ein treuer Freund, wenn man ihn richtig zu nehmen wußte. »Hallo, Jake«, sagte Amalfi. »Hallo, John«, sagte der Astronom mit einem neugierigen Blick auf Amalfis handgeschriebenes Programmierschema. »Die Hazletons sagten mir, ich könnte dich vielleicht in diesem alten Gehäuse finden, aber als ich herüberkam, hatte ich es schon vergessen. Ich wollte etwas durchrechnen und sah, daß die Anlage in Betrieb war. Mein erster Gedanke war, daß ein paar von den Jungen hier eingestiegen seien und an einer der Eingabestationen herumspielten. Also ging ich herum und kontrollierte. Was hast du vor?« Das war eine sehr direkte Frage, und Amalfi zögerte. Er mochte Jake nichts von dem Projekt der Analyse aller Radiosendungen sagen, weil er fürchtete, sich damit lächerlich zu machen – wenn nicht vor Jake, dem es gleichgültig sein würde, so doch vor den anderen. Schließlich sagte er: »Ich weiß es selbst nicht genau. Ich hatte ein Verlangen, mich wieder einmal an den alten Stätten umzusehen. Ich kann mich nicht mit der Vorstellung abfinden, daß alles dies verrosten und verkommen sollte; ich denke immer, es müßte noch für etwas gut sein.« »Aber das ist es, das ist es«, sagte Jake. »Auf der ganzen Neuen Erde gibt es kein zweites Rechenzentrum wie die Stadtväter, von den anderen Planeten unserer Wolke gar nicht zu reden. Ich arbeite ziemlich häufig mit ihnen, und Schloss und andere tun es auch. Die Stadtväter haben eine große Menge Wissen gespeichert, das sonst nirgendwo erhältlich ist, und so alt sie auch sind, fü r unsere Zwecke arbeiten sie schnell genug.
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Gewiß, manches von dem gespeicherten Material ist veraltet und überholt, aber auf meinem Gebiet bemühe ich mich, falsche Informationen zu löschen und an ihrer Stelle neues Datenmate rial einzuspeichern.« »Ich glaube, wir sollten nicht nur das sehen«, sagte Amalfi. »Die Stadt war ein mächtiges Instrument, und sie kann es noch immer sein. Die Fusionsreaktoren und die Antriebssysteme müssen noch betriebsfähig sein oder lassen sich ohne allzu großen Aufwand betriebsbereit machen…« »Wozu?« sagte der Astronom, offensichtlich nicht sehr interessiert. »Das ist alles vergangen und abgetan.« »Meinst du wirklich? Ich denke immer wieder, daß eine so verfeinerte und komplexe Maschine wie unsere fliegende Stadt nicht einfach brachliegen sollte. Gelegentliche Befragungen der Stadtväter oder die vorübergehende Inbetriebnahme eines Reaktors zur Überwindung von Engpässen in der Stromverso r gung sind Teilnutzungen, die in meinen Augen unbefriedigend sind. Diese Stadt wurde zum Fliegen konstruiert, und sie sollte fliegen.« »Wozu?« »Ich weiß es nicht. Nicht genau. Vielleicht zu Forschungszwek ken, vielleicht für Entdeckungsreisen, Transport und dergleichen. Es muß Verwendungszwecke in der Wolke geben, für die nichts Geringeres als eine Maschine dieser Größe geeignet ist – obwohl wir eine solche Verwendung bis heute nicht gefunden haben. Vielleicht würde es sich lohnen, herumzukreuzen und eine zu suchen.« »Das bezweifle ich«, sagte Jake. »Der Kostenaufwand für die Instandsetzung wäre so enorm, daß er nur durch einen kalkulierbaren Nutzen zu rechtfertigen wäre. Die Stadt ist ziemlich baufällig geworden, seit wir unsere kleinen Differenzen mit den Meisterhändlern hatten. Das mit all diesen Raketen, die sie hineingeschossen haben, und daß es immerzu hineinregnet, hat auch nicht geholfen. Außerdem scheine ich mich zu erinnern, daß ein paar von den Triebwerken ausbrannten, als wir hier landeten. Ich glaube, sie würde sich kaum von der Stelle rühren,
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wenn du zu starten versuchtest, obwohl sie sicherlich mächtig ächzen und stöhnen würde.« »Es wäre auch nicht nötig, das ganze Ding hochzubringen«, sagte Amalfi verdrießlich. »Ich weiß gut genug, daß das nicht zu machen ist. Aber für einen Aktionsbereich wie die Wolke könnte man viele Dinge zurücklassen. Wenn wir die wichtigsten Teile wiederherstellten…« »Teile?« sagte Jake. »Wie stellst du dir das vor? Das Ding ist als eine Einheit konstruiert worden. Du würdest finden, daß viele von den Einheiten, die du in deiner Teilrekonstruktion am nötigsten brauchen würdest, in anderen Gegenden sind und weder herausgeschnitten noch transportiert werden können, ohne das ganze Gefüge auseinanderz ubrechen. Von den Installationen und Versorgungsleitungen gar nicht zu sprechen.« Dies war natürlich wahr. Amalfi sagte: »Aber angenommen, es wäre zu machen? Wie würdest du darüber denken, Jake? Du hast annähernd fünfhundert Jahre deines Lebens als Weltraum nomade gelebt. Hast du nicht manchmal Sehnsucht nach den alten Tagen?« »Kein bißchen«, sagte der Astronom. »Um die Wahrheit zu sagen, John, dieses Nomadisieren hat mir nie gefallen. Aber nachdem ich an Bord gegangen war, gab es natürlich kein Zurück mehr. Ich hielt euch alle für verrückt, mit eurem Herumrasen, euren unaufhörlichen Kriegen, den Hungerperioden und all dem Rest. Aber ihr gabt mir Arbeitsmöglichkeiten, und ich konnte Sterne und Systeme aus der Nähe beobachten, die ich von einem Observatorium niemals so gut hätte sehen können, egal mit welchem Teleskop. So war ich mit meinem Los relativ zufrieden. Aber noch einmal damit anfangen, nun, da ich die Wahl habe? Ganz gewiß nicht. Tatsächlich kam ich nur hierher, um ein paar Berechnungen über diesen ne uen Stern machen zu lassen, der bei der kleinen Wolke aufgetaucht ist. Es ist ein sonderbares Phänomen. Laß es mich wissen, wenn du mit der Eingabe fertig bist. Ich habe ein paar harte Nüsse für die Stadtväter.«
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»Ich bin schon fertig«, sagte Amalfi. Er nahm seine Unterlagen und stand auf. Er verließ Jake, der zufrieden brummend mit der Programmierung seines Nova-Problems begann, und wanderte ziellos hinunter in den Hauptkörper der fliegenden Stadt. Es war nicht leicht, sich zu erinnern, wie sie als ein lebendiger Organismus gewesen waren. Die leeren Passagen, die dumpfe, modrig riechende Luft, die nur vom Geräusch seiner eigenen Schritte und gelegentlichen Tropfgeräuschen unterbrochene Grabesstille waren wie eine Beleidigung der Ideale und Werte, denen er den größten Teil seines Lebens gewidmet hatte. Deprimiert verließ Amalfi die Straßendecks und stieg hinunter zu den Magazinen. Aber auch dort war es nicht besser. Die leeren Kornspeicher und Kühlräume, in denen Pfützen von Sickerwasser standen, erinnerten ih n, daß es keine Notwendig keit mehr gab, die Stadt für Reisen zu verproviantieren, auf denen ein halbes Jahrhundert ohne Zwischenlandung vergehen konnte. Die leeren Rohöltanks hallten leer, als er vorbeiging, und unten in den Kielräumen stieß er auf die deutlichsten Zeichen eines Verfalls, der seine nostalgischen Pläne als Illusion entlarvte. In verschiedenen Räumen stand das in Jahrzehnten eingedrungene Regenwasser knietief zwischen verrosteten Stahlwänden. Anderswo hatte der Rost bereits das Metall zerfressen und das Wasser durch den skelettierten Boden im Grund versickern lassen. Und hier unten waren auch die geschw ärzten, halb verschmolzenen und rostüberzogenen Reste von zwei großen Triebwerken, die bei der Landung ruiniert worden waren. Natürlich konnte man sie herausreißen und neue Triebwerke bauen und installieren. Aber das würde lange dauern. Und wie sollte man die ganze Bodengruppe erneuern, wenn es auf der Neuen Erde keine geeigneten Reparaturdocks gab? Es gab kein Ausweichen von der Erkenntnis, daß die fliegenden Städte einem vergangenen Zeitalter angehörten, genauso wie der Geist, der sie ins Leben gerufen hatte.
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Nichtsdestoweniger beschlo ß Amalfi im feuchtkalten Halbdunkel dieser Kielräume wider besseres Wissen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und einen Versuch zu machen. * »Aber was in aller Welt versprichst du dir davon?« fragte Hazleton in hilflosem Unverständnis. »Ich glaube, du bist übergeschnappt.« Noch gab es keinen anderen auf der Neuen Erde, der die Kühnheit aufgebracht hätte, so zu Amalfi zu sprechen; aber Mark Hazleton war seit 3301 Verwaltungschef der Stadt und kannte Amalfi sehr gut. Ein feinfühliger, impulsiver und manchmal gefährlicher Mann. Hazleton hatte viele Fehler überlebt, für die die Stadtväter jeden anderen Verwaltungsdirektor hätten erschießen lassen – ein Schicksal, das seinen Vorgänger ereilt hatte –, und er hatte auch seine oft unbegründete Annahme überlebt, daß er Amalfis Gedanken lesen könne. Es gab auf der Neuen Erde keinen anderen alten Gefährten, der Amalfis gegenwärtige Gemütslage besser hätte verstehen können, aber Hazleton gab im Moment keine gute Demonstrati on dieses Verständnisses. Er und seine Frau Dee, die mit Dr. Schloss an Bord gekommen war, hatten vielleicht vergessen, daß es einem Bürgermeister einer fliegenden Stadt nach alter Tradition verwehrt war, eine Ehefrau zu nehmen oder Kinder zu haben, und daß Amalfi, der seit 3089 Bürgermeister dieser Stadt war, von den Jahrhunderten hoffnungslos für das Junggesellen leben konditioniert worden war. So sahen sie nicht, daß er es als überaus lästig empfand, von den Kindern und Enkeln des Verwaltungsdirektors umgeben zu sein, besonders an diesem Tag, wo er den Rat eines Mannes brauchte, der sich gut genug an die Traditionen erinnerte, um zu verstehen, warum ein anderer immer noch an ihnen festhielt. Doch war Mark Hazleton das Unbehagen seines Besuchers nicht entgangen, und als die Kinder sich gleich nach dem Abendessen verabschiedeten, wußte Amalfi, daß sie auf Marks Betreiben gingen. Er war erleichtert und nervös zugleich und zügelte mit
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Mühe seine Ungeduld, während die Prozession der größeren und kleineren Hazletons vor ihm Revue passierte. Selbst die Jüngsten mußten sich aus irgendeinem Grund mit artigen Worten von dem großen Mann verabschieden, und keiner unterließ, sein unerhebliches Selbst vorzustellen. Es kam Amalfi nicht in den Sinn, die Selbstbeherrschung der Kinder zu bewundern, mit der sie ihre Enttäuschung über den vorzeitigen und überstürzten Aufbruch verbargen, denn er merkte nicht, daß sie enttäuscht waren. Er hörte sie einfach an, ohne zuzuhören. Ein älterer Junge jedoch erzwang Amalfis Beachtung, als er ihm die Hand gab und sagte: »Ich bin Webster Hazleton, Sir, und ich hoffe Sie bald wieder zusehen, in einer Angelegenheit von größter Bedeutung.« Er sagte es, als ob er den Satz seit Tagen eingeübt hätte, mit einer so felsenfesten Überzeugung, daß Amalfi für einen Moment geneigt war, gleich an Ort und Stelle einen Termin auszuma chen. Statt dessen brummte er: »Webster, eh?« »Ja, Sir. Ich wurde auf die Geburtenliste gesetzt, als Webster von Bord ging.« Amalfi war schockiert. So weit lag das zurück! Webster war ein Spezialist für Fusionsreaktoren gewesen, der um 3600 die Stadt verlassen hatte, um auf dem Planeten Utopia zu bleiben. Dieser Webster hier hatte lange auf sich warten lassen. Er konnte nicht viel älter als vierzehn sein, nach seinem Aussehen zu urteilen. Dee lachte. »Web, als du geboren wurdest, gab es längst keine Geburtenliste mehr. Weißt du, John, es gefällt ihm, wie in den alten Tagen seinen Patronatsbürger zu haben, das ist alles.« Der Junge richtete seine klaren braunen Augen auf Dee, und dann, als entließe er sie aus dem männlichen Universum, das er mit Amalfi teilte, sagte er: »Gute Nacht, Sir.« Amalfi runzelte unwillig seine Stirn. Niemand ko nnte Dee abschreiben, nicht einmal Amalfi. Er wußte es; einmal hatte er es versucht. Das Zeremoniell der Wohlerzogenheit dauerte an, während er sich in Unaufmerksamkeit zurückgleiten ließ, und endlich fand er
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sich allein mit Mark und Dee. Doch obwohl die Kinder und Jugendlichen ins benachbarte Gebäude abgezogen waren, einem wahren Bienenstock von Schlafzimmern, wo die Hazletons ihre zahlreiche Familie gezeugt und aufgezogen hatten, blieb ein Eindruck von entschlossener Häuslichkeit und missionarischem Erziehungseifer wie der Geruch von nassen Windeln in dem großen Raum zurück und drängte sich zwischen Amalfi und das, was er sagen wollte, so daß seine Darlegung ungewollt holprig ausfiel; und dies war der Punkt, wo Hazleton ihn gefragt hatte, was er sich davon verspreche. »Was ich mir davon verspreche?« sagte Amalfi. »Jedenfalls keinen Gewinn. Ich möchte einfach wieder draußen sein, das ist alles.« »Aber John«, sagte Dee. »Denk einen Augenblick darüber nach. Angenommen, es gelingt dir, ein paar Leute aus den alten Tagen zu überreden, daß sie mit dir gehen. Was dann? Du würdest eine Neuauflage des Fliegenden Holländers sein, wie unter einem Fluch durch das Weltall segeln, ohne ein Ziel und ohne etwas zu tun. Es hat alles keine Bedeutung mehr.« »Mag sein«, sagte Amalfi starrköpfig. »Der Vergleich schreckt mich nicht, Dee. Im Gegenteil, er verschafft mir eine Art perverser Befriedigung, wenn du es genau wissen willst. Ich hätte nichts dagegen, eine Legende zu werden; es würde mir wenigstens wieder einen Platz in der Geschichte geben, eine Rolle, die mit denen vergleichbar ist, die ich in der Vergangen heit gespielt habe. Und außerdem wäre ich wieder draußen, wieder unterwegs, und das ist, worauf es mir ankommt. Ich beginne zu glauben, daß mir nichts anderes noch wichtig sein kann.« »Kommt es überhaupt darauf an, was dem einzelnen von uns wichtig ist?« sagte Hazleton. »Ein solches Unternehmen würde, um nur ein Argument anzuführen, die Wolke ohne Bürgermeister zurücklassen. Ich weiß nicht, wie wichtig dir dieses Amt heute noch ist, aber ich kann mich erinnern, daß es dir mächtig viel bedeutete, als wir auf dem Weg hierher waren. Du drängtest dich nach dem Job, du intrigiertest dafür, du manipuliertest
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sogar die Wahlen, indem du die Stadtväter mit Personalakten deiner Gegenkandidaten füttertest, nachdem du diese Akten mit negativen Beurteilungen angereichert hattest. Natürlich wählten sie daraufhin dich.« »Willst du den Job?« sagte Amalfi. »Lieber Himmel, nein! Ich will, daß du ihn behältst. Du scheutest keine Mühe und List, ihn zu kriegen, und ich stehe nicht allein, wenn ich von dir erwarte, daß du ihn behältst, nun, da du ihn schon lange hast. Niemand sonst bewirbt sich darum; man erwartet, daß du deines Amtes waltest, wie du es seinerzeit gelobtest.« »Niemand sonst bewirbt sich darum, weil sie nicht wissen würden, was sie mit dem Job anfangen sollen, wenn sie ihn haben«, sagte Amalfi. »Ich weiß selbst nichts mehr damit anzufangen. Das Bürgermeisteramt ist ein Anachronismus in dieser Wolke. Seit vielen Jahren hat mich kein Mensch mehr gebeten, etwas zu tun oder zu sagen, irgendwo zu erscheinen oder in irgendeiner anderen Weise nützlich zu sein. Ich habe ein Ehrenamt, und das ist alles. Wie jeder weiß, bist du der Mann, der tatsächlich die Zügel in der Hand hält und die Wolke regiert, und so soll es auch sein. Es ist an der Zeit, daß du nicht nur de facto der erste Mann bist, sondern es auch de jure wirst. Ich habe gegeben, was ich geben konnte, als es um die ersten Organisationsaufgaben ging, aber für die heutige Situation sind meine Talente ungeeignet; jeder auf der Neuen Erde weiß das, und es würde gesünder sein, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Im anderen Fall, Mark, wie lange könnte ich in meinem Amt weitermachen? Unter den gegenw ärtigen Bedingungen wahrscheinlich für immer, denn selbst ein Idiot könnte meinen Platz einnehmen, ohne Schaden anzurichten. Aber dies ist eine neue Gesellschaft; sollte ein Mann wie ich auch für die nächsten tausend Jahre ihr nominelles Oberhaupt sein? Tausend Jahre, während denen eine neue Gesellschaft mit neuen Ideen und Bedürfnissen fortfahren würde, Lippenbekenntnisse zu denselben alten Verhaltensweisen und Vorstellungen abzulegen, die ich verkörpere, als sie noch etwas bedeuteten? Das wäre ungesund,
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du mußt es zugeben. Nein, nein, es ist höchste Zeit, daß ich mich von diesem Amt zurückziehe.« Hazleton schwieg ziemlich lange. Zuletzt sagte er: »Ich sehe das ein, John. Tatsächlich habe ich selbst mehrmals darüber nachgedacht. Nichtsdestoweniger muß ich sagen, daß dieser ganze Vorschlag mich bekümmert. Die Angelegenheit mit dem Bürgermeisteramt würde sich wahrscheinlich fast von allein regeln; da gibt es keinen echten Einwand. Was mich stört, ist der Abgang, den du für dich selbst planst, nicht nur, weil er gefährlich ist – das ist er, aber dir macht es nichts aus, und so sollte es auch mir nichts ausmachen; schließlich sind wir keine unvernünftigen Jungen mehr –, sondern weil er obendrein keinen Sinn und Zweck hat.« »Für mich hat er Sinn und Zweck«, sagte Amalfi. »Und andere Zwecke sind in diesem Zusammenhang nicht zu erfüllen. Mir scheint, daß ich jetzt zum erstenmal in meinem Leben ein freier Mann bin, mein eigener Herr; darum darf ich jetzt tun, was ich tun möchte.« Hazleton zuckte die Achseln. »Und so magst du es tun. Ich kann nur sagen, daß ich wünschte, du würdest es lassen.« Dee beugte ihren Kopf, betrachtete ihre Finger und sagte nichts. Und der Rest blieb ungesagt. Daß Mark und Dee es als einen persönlichen Verlust empfinden würden, wenn Amalfi seinem Vorhaben treu bliebe, war ein zusätzliches Argument, das sie hätten vorbringen können. Aber sie taten es nicht; es war ein Argument, das Hazleton als emotionale Erpressung betrachten würde, und Amalfi war ihm dankbar, daß er nicht damit anfing. Warum Dee es nicht gebraucht hatte, war schwieriger auszulo ten. Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie sich seiner ohne einen Augenblick des Zögerns bedient haben würde; und Amalfi glaubte sie gut genug zu kennen, um zu vermuten, daß sie gute Gründe hatte, warum sie es jetzt nicht gebrauchte. Sie hatte lange auf die Gründung der Neuen Erde gewartet, und alles, was das Erreichte nun, da sie Kinder und Enkel und Urenkel hatte, bedrohen konnte, sollte sie auf die Barrikaden rufen, mit allen
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Waffen, die ihr zu Gebote standen; doch sie schwieg. Vielleicht hatte sie begriffen, daß John Amalfi kein Machtfaktor mehr war, der ihr einen Planeten stehlen konnte, auf dem sie und viele andere sich zu Hause fühlten. Wenn sie so dachte, dann gab sie es jedenfalls nicht zu erkennen, und der Abend in Hazletons Haus endete in einer kühlen Atmosphäre formeller Freundlich keit, die, peinlich wie sie war, weit von dem Schlimmsten entfernt blieb, das Amalfi erwartet hatte. * Amalfi hatte den Eindruck, daß das gesamte Wohngebiet von Haustieren wimmelte. Obwohl die breiten Wege und Anlagen genug Auslauf boten, war man als Fußgänger ständig den unwürdigen Gefahren ausgesetzt, die von emotionsgeladenen Vierbeinern ausgingen. Bei Tag waren es die Hunde, die einen über den Haufen zu rennen drohten, oder, wenn sie einen kannten, hochsprangen und einem die Vorderpfoten gegen die Brust stemmten, bis man sie gebührend begrüßt hatte. Einheimische Svengalis lagen träge und wie knochenlos auf den Gehwegen, die riesigen Augen auf jedes sich bewegende Objekt richtend und geduldig wartend, daß eins in die Nähe käme, dessen Größe und Beschaffenheit es für die Verdauung geeignet erscheinen ließen. Ein Spaziergänger neigte dazu, hilflos in dieses hypnotische Starren hineinzulaufen, bis der Svengali sich bedroht fühlte und eine abwehrende Flüssigkeit verspritzte, die Feinde abschrecken sollte, auf Menschen aber euphorische Wirkung hatte. Plötzliche Freundschaften, jähe Ausbrüche von Sangesfreude und tränenreiche Glücksgefühle waren die Folge, worauf der verwirrte Urheber solcher Aufwallungen heimwärts kroch, um sich bei seinem Freßnapf zu erholen. Bei Nacht waren es die Katzen, die einem vor die Füße huschten, nach wehenden Mantelsäumen krallten oder an den Bandschleifen der modischen Schnürsandalen zerrten. Durch die Luft flogen und glitten buntfarbene Kreaturen der verschieden sten Größen und Arten: Singvögel, sprechende Papageien, Flughörnchen, krächzendes und stummes Getier, aber jedes von
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ihnen zahm und mit unterschiedlicher Aufdringlichkeit um Leckereien bettelnd. Amalfi verabscheute sie alle. Wenn er irgendwohin ging – und er machte fast alle Wege zu Fuß, seit es keine Lufttaxis mehr gab –, mußte er sich fast jedesmal aus den Umarmungen irgendeines lallenden Bürgers oder bellenden Hundes befreien, bevor er sein Ziel erreichte. Was so viele Leute veranlaßte, die verdammten Svengalis oder Hunde von Kälbergröße als Hausgenossen zu halten, entzog sich Amalfis Vorstellungskraft. Er brachte den Rückweg von den Hazletons ohne eine solche Begegnung hinter sich; statt dessen regnete es. Er zog seinen Umhang fester um seine Schultern und eilte, verdrießlich vor sich hinmurmelnd, zu seiner unscheinbaren viereckigen Schachtel von einem Haus, bestrebt, ein Dach über dem Kopf zu haben, wenn die volle Gewalt des Regensturms losbräche. Er erreichte seinen Eingang und bemerkte mit der grimmigen Unuzufriedenheit, die mehr und mehr zu seiner normalen Gemütsverfassung wurde, daß der Regen nachgelassen hatte und in ein paar Minuten ganz aufhören würde. Drinnen hängte er seinen Umhang weg, füllte ein Glas und trug es zum Wohnzim mertisch. Dann stand er da, rieb seine Hände und blickte umher. Was ist los mit mir? dachte er plötzlich. Wenn die Leute Haustiere mögen, ist es ihre Sache. Und wenn alle anderen das Wetter in diesen Breiten mögen, was für eine Rolle spielt es dann, daß ich es nicht mag? Und wenn Jake sich nicht für meine Pläne interessiert, und nicht einmal Mark davon wissen will… Er hörte Schritte draußen. Jemand war durch den Regen gekommen, um ihn zu besuchen. Um diese Stunde hatte ihn noch nie jemand besucht, und das gab diesen Schritten, die jetzt vor der Tür verhielten, eine besondere Bedeutung, um so mehr als er ohne den Schatten eines Zweifels wußte, wer ihm nach Hause gefolgt war.
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Nova Magellanis »Wenn das dein ganzes Willkommen ist, bin ich nicht zufrieden damit, John«, sagte Dee. Amalfi sagte nichts. Er senkte seinen Kopf wie ein Stier, der einen Angriff erwägt, spreizte seine Beine ein wenig und verschränkte die Hände auf seinem Rücken. »Nun, John?« »Du willst nicht, daß ich gehe«, sagte er. »Oder du befürchtest, daß Mark seine Arbeit hinwerfen und mit mir ziehen könnte, wenn ich gehe.« Dee ging langsam durch den Raum und blieb zögernd neben einem großen Sitzkissen stehen. »Falsch, John, in beiden Fällen. Ich hatte etwas völlig anderes im Sinn. Ich dachte – nun, ich werde dir später sagen, was ich dachte. Darf ich was zu trinken haben?« Amalfi war gezwungen, seine Position aufzugeben, um Gastgeber zu spielen. »Hat Mark dich geschickt?« Sie lachte. »König Mark schickt mich oft auf Botengänge, aber dieser ist ihm nicht zuzutrauen. Außerdem geht er in seiner Freizeit so in Giffords Gruppe auf, daß er mich monatelang kaum beachtet.« Ein Unterton von Bitterkeit war in ihre Stimme gekommen. Amalfi wußte, was sie meinte. Dr. Bonner war der Mentor eines philosophierenden Kreises, dessen Teilnehmer sich Stochastiker nannten; Amalfi hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich im Detail über Bonners Lehrsätze zu informieren, aber er wußte, daß es sich um den jüngsten von vielen Versuchen handelte, auf
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der metaphysischen Basis moderner Physik eine vollständige Philosophie zu konstruieren, die Ethik und Ästhetik mit einschließen sollte. Der Positivismus war nur der erste von diesen Versuchen gewesen, und der Stochastizismus, vermutete Amalfi, würde noch lange nicht der letzte sein. »Ich weiß, daß er sich in letzter Zeit viel mit diesen philosophi schen Fragen beschäftigt hat«, sagte er grimmig. »Vielleicht täte Mark gut daran, statt dessen die Doktrinen von Jörn dem Apostel zu studieren. Die Krieger Gottes beherrschen inzwischen nicht weniger als fünf Planeten, und auch hier auf der Neuen Erde mangelt es nicht an Anhängern des Glaubens. Er spricht die Unbedarften und Einfältigen an – und ich fürchte, wir haben mehr als genug von diesen.« »Vielleicht«, sagte sie. »Aber Mark glaubt nicht an eine wirkliche Bedrohung. Er sagt, die Zeiten, wo Menschen wegen Glaubensfragen übereinander herfielen, seien längst vorbei, und außerdem sei ein religiöser Fanatiker wie Jörn der Apostel viel zu engstirnig, um eine Art Eroberungsfeldzug organisieren zu können.« »Das hat er gesagt? Nun, dann sollte er sich von Bonner über Mohammed informieren lassen. Oder über Gottfried von Bouillon.« »Wer war das?« »Der Anführer des ersten Kreuzzugs.« Sie zuckte mit der Schulter. Wahrscheinlich hatte nur Amalfi, als der einzige Bewohner der Neuen Erde, der tatsächlich auf der alten Erde geboren und aufgewachsen war, je von Kreuzzügen gehört. Aber die Stadtväter hatten sicherlich Material über solche historischen Ereignisse gespeichert. »Jedenfalls ist das auch nicht der Grund, warum ich gekommen bin«, sagte sie. Amalfi füllte zwei Gläser aus einer angebrochenen Rotweinfla sche und reichte ihr eins. Sie nahm es an, aber statt sich damit auf das Sitzkissen niederzulassen, wie er erwartet hatte, nippte sie davon und wanderte nerv ös zur Tür, ungeduldig als ob sie
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bereute, gekommen zu sein. Sie versuchte ihm irgend etwas zu saeen. aber er hatte keine Ahnung, was es war. Die Situation war ziemlich unmöglich. Er war nicht gewillt, zu einer Zeit, wo alle vernünftigen Leute im Bett waren, mit der Frau seines besten und ältesten Freundes ein verbales Versteckspiel zu veranstalten. »Du hast ein hübsches Kleid an«, sagte er lahm. »Es war mir vorhin nicht aufgefallen, wie gut es dir steht.« Zu seiner Bestürzung brach sie in Tränen aus. »Oh, sei nicht so stur, John!« Sie stellte das Glas auf den Tisch und griff nach ihrem Umhang. Amalfi ging hin über und nahm ihr den Umhang weg. »Ich weiß nicht, was dieses Theater bedeuten soll«, sagte er ärgerlich. »Wie wäre es, wenn du dich endlich hinsetzen und mir sagen würdest, warum du gekommen bist und was du willst?« »Ich – ich will mit dir gehen, John. Du wirst nicht der Bürger meister sein, wenn du noch einmal mit der Stadt startest. Du wirst nicht durch die alten Regeln gebunden sein. Ich… Ich möchte…« * Es dauerte Wochen, bis er sie bewegen konnte, diesen letzten Wunsch auszusprechen. Sie hatten nach dem verpfuschten Anfang noch lange geredet, und als in seinen kahlen Kopf eingedrungen war, daß die Botschaft, die seine Sinne vom Augenblick ihrer Ankunft an registriert hatten, kein Tagtraum aus einer fernen Vergangenheit sondern warme Aktualität war, hatte er sie in seine Arme geschlossen, und sie waren eine Weile still geblieben. Aber dann hatte der Strom der Worte von neuem begonnen, und sie hatten sich endlosen Spekulationen hingegeben, wie es gewesen wäre, wenn das Schicksal einen anderen Gang genommen hätte. Er war überrascht, zu entdecken, daß sie sich trotz ihrer vielköpfigen Familie und ihrer zahlreichen Verpflichtungen als erste Dame des Gemeinwesens frustriert und gelangweilt fühlte, aber sie erz ählte ihm die ganze Geschichte dieser Unzufriedenheit – mehr als er hören wollte. In
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den folgenden Tagen versuchte er mehrmals, an ihre Vernunft und ihr Verantwortungsgefühl zu appellieren, und sie stritten wie unbesonnene junge Liebende, mit dem einzigen Unterschied, daß er die defensive Rolle spielte und zurückhaltend blieb. Einmal, nach ihrem schlimmsten Streit, klagte sie: »John, willst du nie mit mir ins Bett?« Er breitete seine Hände in einer hilflosen Gebärde aus und sagte: »Ich bin absolut nicht sicher, daß ich mit Marks Frau ins Bett gehen möchte. Außerdem«, fügte er grausam hinzu, »hast du deinen Teil schon gehabt. Ich glaube kaum, daß ich dir etwas Neues bieten könnte. Ich würde dich genauso langweilen, wie alles andere dich langweilt. Eine Reise mit mir würde deine Frustration nicht beenden, nur für ein paar Tage unterbrechen, bis der Reiz des Neuen vergangen wäre. Die Ursachen der Langeweile liegen in uns, nicht außerhalb von uns. Wenn wir sie beseitigen wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen. Eine Veränderung der äußeren Umstände allein wird auf die Dauer nichts bewirken und unweigerlich neue Langeweile erzeugen.« Sie ging nicht darauf ein. »Du glaubst mir nicht, John«, sagte sie bitter, »aber ich habe es mir lange genug überlegt. Wenn du gehst, will ich mit dir gehen – den ganzen Weg, verstehst du? Ich möchte – ich möchte dir ein Kind schenken.« Sie sah ihn aus tränennassen Augen an. In all den Jahrhunder ten ihrer Bekanntschaft hatte er sie nie in Tränen gesehen, aber das besagte nicht viel, denn sie war nicht ständig um ihn gewesen. Immerhin sah er, daß sie ihren letzten Pfeil abge schossen hatte. Dies war, in ihren Augen, das größte und schönste Geschenk, und Dee Hazleton wollte es ihm geben. »Dee, du weißt nicht, was du sagst! Du kannst mir nicht noch einmal deine Mädchenjahre anbieten – die gehören unwiderruf lich Mark, und du weißt es. Außerdem will ich nicht…« Er brach ab. Sie weinte wieder, und ihm wurde schmerzlich bewußt, daß er sie wieder verletzt hatte, ohne es zu wollen. »Dee«, sagte er. »Ich habe schon ein Kind gehabt.«
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Nun hörte sie zu, mit großen Augen, und er war unangenehm berührt, als er statt Enttäuschung Mitleid in ihren Zügen sah. Er seufzte. »Du erinnerst dich an die Zeit nach unserer Landung hier, als wir infolge der Kämpfe einen hohen Frauenüberschuß hatten? Nun, damals starteten wir dieses Programm mit der künstlichen Befruchtung. Auch ich wurde gebeten, meinen Beitrag zu leisten. Das gute alte Gegenargument wurde von der Versicherung überspielt, daß ich nie wissen würde, welche Kinder meine Gene trügen. Nur die Ärzte, die das Programm überwachten, würden es wissen. Aber es gab eine noch nie dagewesene Welle von Fehl- und Totgeburten – und einige Überlebende, die nicht hätten überleben sollen, alle mit den gleichen Mängeln und Mißbildungen behaftet. Ich wurde eingehend darüber informiert; als Bürgermeister hatte ich zu entscheiden, was mit ihnen geschehen sollte.« »John«, flüsterte sie. »Nein. Hör auf.« »Wir wollten diese Wolke besiedeln«, fuhr er unerbittlich fort. Ihn mit einem quäkenden, rosig-normalen Kind zu beschenken, war ein Gefallen, den sie ihm nicht erweisen konnte, und es gab keine andere Möglichkeit, ihr das klarzumachen. »Wir konnten uns nicht leisten, schlechte Gene zu verbreiten. Ich ließ diese unglücklichen Wesen beseitigen; und ich führte ein Gespräch mit unseren Genetikern. Sie hatten geplant, mir nichts davon zu sagen. Gutherzig, wie sie waren, wollten sie mir eine bittere, aber notwendige Erkenntnis vorenthalten. Aber ich hatte es schon vermutet, und so mußten sie mir die Wahrheit sagen. Ich bin zu lange im Raum gewesen; meine Keimzellen sind geschädigt. Unwiderruflich. Ich kann keine praktischen Beiträge zur Bevölkerungspolitik mehr leisten. Verstehst du mich, Dee?« Sie versuchte seinen Kopf an ihre Brust zu ziehen. Amalfi befreite sich mit einer heftigen Bewegung. Er fühlte sich unvernünftig irritiert darüber, daß sie noch immer glaubte, sie habe ihm etwas zu geben. »Die Stadt war dein«, sagte sie tonlos. »Und nun ist sie aufgewachsen und groß geworden und hat dich verlassen. Ich
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sah deinen Kummer, John, und ich konnte ihn nicht ertragen. Das ist keine Übertreibung, John – ich glaube, ich habe dich immer geliebt. Aber ich hätte wissen sollen, daß die Zeit für uns vorbei ist. Ich kann dir nichts mehr geben, was du nicht schon im Überfluß gehabt hättest.« Sie ließ ihren Kopf hängen, und er strich unbeholfen über ihr Haar und wünschte, daß es nie begonnen hätte, weil es so enden mußte. »Und was nun?«, sagte er. »Nun, da sich herausgestellt hat, daß die Zeit sich nicht zurückdrehen läßt? Kannst du wieder nach Hause gehen und weiterleben wie bisher? Und wie wird Mark auf deinen Ausbruchsversuch reagieren?« Sie zuckte die Achseln. »Mark? Er weiß nicht mal, daß ich immer wieder fort gewesen bin. Als seine Frau bin ich für ihn tot und begraben. Leb wohl, John.« Er unternahm keinen Versuch, ihr zu helfen. Sie mußte ihren Weg zurück selber finden. »Das Leben scheint ein Prozeß von ständigen Wiedergeburten zu sein«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich glaube, der Trick dabei ist, zu lernen, wie man diesen entscheidenden Abgang macht, ohne jedesmal das Trauma zu erleiden.« Er dachte, daß dies wahrscheinlich die Wahrheit war – für eine Frau. Für einen Mann, daß wußte er, war das Leben ein Prozeß des Sterbens, wieder und wieder. Und der Trick dabei ist, es stückweise und unfreigebig zu tun. An diesem Abend, Wochen nach jenem ersten Abend mit Dee, wanderte er wieder durch die Straßen, und in ihm war ein seltsames Gefühl wehmütiger Erleichterung. Ohne daß es ihm recht bewußte wurde, floh er die Katzen, Vögel, Hunde, Svengalis und Dee, um die Ungestörtheit der leeren Okie-Stadt zu gewinnen. Er war bereits im ersten Straßendeck, nicht mehr weit vom Rechenzentrum, als sich ein Verdacht, daß ihm wieder jemand folgte, zur Gewißheit verdichtete. In einem Augenblick von Panik fürchtete er, es könne Dee sein, unfähig, ihren Abgang nicht durch einen neuerlichen Auftritt zu verpfuschen; aber sie war es nicht.
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»Wer ist da?« sagte er verdrießlich. »Ich liebe dieses Herum schleichen nicht.« »Sie werden sich nicht an mich erinnern, Mister Amalfi«, sagte eine ängstliche Stimme in zwei Tonlagen zugleich. »Natürlich erinnere ich mich an dich. Du bist Webster Hazleton. Wer ist dieses Mädchen? Was macht ihr hier in der alten Stadt? Sie ist für Kinder verboten, wie du wissen solltest.« Der Junge reckte seine schmalbrüstige Gestalt. »Dies ist Estelle. Wir sind zusammen hierhergekommen, weil wir…« Web verstummte in Verwirrung, nahm einen neuen Anlauf. »Wir haben gehört – ich meine Estelles Vater, Jake Freeman, hat Andeutungen darüber gemacht… Das heißt, wenn diese fliegende Stadt wirklich wieder startet, Mister Amalfi…« »Das ist noch sehr ungewiß. Ich weiß es selbst noch nicht. Was willst du sagen?« »Wenn es dazu kommt, dann wollen wir mit«, sprudelte es aus dem Jungen hervor. * Amalfi hatte keine weiteren Pläne, Jake zu überreden, der ein ebenso hoffnungsloser Fall wie Hazleton zu sein schien; aber die Freeman-Hazleton-Partnerschaft von Web und Estelle bedeutete, daß das Thema zwischen Jake und ihm früher oder später wieder zur Sprache kommen würde. Natürlich war es ausgeschlossen, daß die Kinder mitgingen, aber Amalfi zog es vor, einstweilen zu schweigen. Sollte das Projekt wider Erwarten doch noch Aktualität erlangen, wäre immer noch Zeit genug, die Meinung der Eltern einzuholen. Als er das Rechenzentrum betrat, vergaß er den Vorfall, denn Jake erwartete ihn dort, und er war in einem so aufgeregten Zustand, daß der Anblick seiner Tochter, die mit Web hinter Amalfi hertrottete, nicht mehr als ein Hochziehen seiner Augenbrauen bewirkte. »Du kommst gerade zur rechten Zeit«, sagte er, als ob es eine Verabredung gegeben hätte. »Erinnerst du dich an die Nova, von
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der ich dir neulich erz ählte? Nun, es ist gar keine Nova, und es ist auch nicht länger ein astronomisches Problem; tatsächlich ist es dein Problem.« »Wie meinst du das?« sagte Amalfi. »Wenn es keine Nova ist, was ist es dann?« »Die Frage habe ich mir auch gestellt«, sagte Jake. Eine seiner schwer erträglichen Gewohnheiten war, daß er eine einfache Frage nicht einfach beantworten konnte. »Ich habe von diesem Ding eine bemerkenswerte Sammlung spektrographischer Aufnahmen gemacht. Wenn du sie ohne einen Hinweis auf ihren Ursprung betrachtest, würdest du denken, sie stellten einen Sternkatalog dar, und nicht ein Einzelobjekt; einen Katalog mit Sternen aus allen Teilen des Hertzsprung-Russel-Diagrarnms. Das einzige, was alle Spektrogramme gemeinsam haben, ist eine Blau Verschiebung in den Absorptionslinien, die bisher überhaupt keinen Sinn zu ergeben schien.« »Für mich ergibt es auch jetzt noch keinen Sinn«, sagte Amalfi, »Warum mußt du es immer so spannend machen?« »Ich bin gleich fertig«, sagte Jake. »Als ich feststellte, daß die Spektren für ein Objekt dieser scheinbaren Größe – du weißt, es wird die ganze Zeit heller – viel zu schwach herauskamen, zog ich Schloss zu Rate, und wir analysierten die Lichtwellen; sie scheinen zu fünfundsiebzig Prozent aus falschen Photonen zu bestehen. Das Objekt muß einen gewaltigen Kondensstreifen zurücklassen, aber leider können wir ihn wegen unserer ungünstigen Position nicht sehen.« »Du meinst – Triebwerke?« sagte Amalfi. »Aber wie könnte ein Objekt dieser Größe – nein, warte einen Moment; hast du die tatsächliche Größe schon feststellen können?« Der Astronom schmunzelte selbstzufrieden. »Ich glaube, wir haben die Größe und alle anderen Antworten, soweit sie in mein Fach fallen. Der Rest ist, wie ich sagte, dein Problem. Das Objekt ist ein planetarischer Körper, ungefähr neuntausend Kilometer im Durchmesser, und viel näher als wir dachten. Zur Stunde ist er mitten in unserer Magellanschen Wolke und folgt einem Kurs, der ihn in unsere unmittelbare Nachbarschaft bringen wird. Die
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Veränderungen in den Spektrallinien bedeuten einfach, daß er das Licht der verschiedenen Sonnen reflektiert, die er auf seiner Bahn passiert, und die Blauverschiebung deutet einmal auf eine rasche Annäherung und dann auf eine der unseren ähnliche Atmosphäre hin. Ich weiß nicht, woran das dich erinnert, aber ich weiß, woran es dich erinnern sollte – und die Stadtväter stimmen mir zu.« Web Hazleton konnte nicht länger an sich halten. »Ich weiß, ich weiß! Es ist der Planet He! Er kommt zurück. Habe ich recht, Mister Amalfi?« Amalfi fand es nicht erstaunlich; alle Kinder lernten die Geschichte der fliegenden Stadt in der Schule, und die Angaben, die Jake eben gemacht hatte, ließen nur diesen Schluß zu. Der Planet He war einmal ein wichtiges Arbeitsfeld für die Stadt gewesen, aber die Entwicklung der Dinge hatte aus sehr komplizierten Gründen zur Folge gehabt, daß der Planet selbst mit einer angemessenen Zahl von Fusionstriebwerken versehen worden war, deren Kraft ausgereicht hatte, den Planeten aus seiner Umlaufbahn um die Heimatsonne zu tragen und mit zunehmender Beschleunigung aus der Galaxis und in den intergalaktischen Raum zu schleudern. Die Stadt hatte diesen Flug über eine erhebliche Entfernung mitgemacht und war weit vom Ausgangspunkt wieder in die Galaxis eingetreten. Amalfi und seine Gefährten, die das ganze Manöver inszeniert hatten, waren damals der Meinung gewesen, daß der steuerlose Planet eines Tages die Nachbargalaxis des Andromedanebels erreichen würde, denn das war sein Kurs gewesen, als er und die Stadt sich an jenem Tag im Jahr 3850 vo neinander getrennt hatten. »Wir wollen uns vor übereilten Schlußfolgerungen hüten«, sagte Amalfi. »Die Sache mit He liegt erst zweihundert Jahre zurück, und zu der Zeit hatten die Hevier weder die Technologie noch die sonstigen Voraussetzungen, um die Flugbahn ihres Planeten unter Kontrolle zu bringen. Tatsächlich waren sie nicht viel mehr als Wilde. Intelligente Wilde, das gebe ich zu, aber doch Wilde. Ist dieser Planet, der da in unsere Richtung kommt, wirklich lenkbar, oder weißt du es noch nicht?«
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»Es sieht so aus«, sagte Jake. »Dieser Punkt machte mich zuerst darauf aufmerksam, daß das Objekt etwas Unnatürliches an sich hat. Es hat Kurs und Geschwindigkeit mehrmals geändert, seit ich es beobachte, und solche Korrekturen sind bei den natürlichen Bewegungen der Himmelskörper, die alle von den Gravitationsgesetzten bestimmt werden, selbstverständlich unmöglich. Wer immer sie sind, sie wissen genug, um zu verhindern, daß ihre Welt in eine Richtung fliegt, wenn sie in die andere wollen. Und sie halten Kurs auf uns, John.« »Hast du schon versucht, mit ihnen in Verbindung zu treten?« fragte Amalfi. »Nein. Ich habe noch keinem anderen davon erz ählt. Nicht mal Mark. Ich hatte irgendwie den Eindruck, daß dieses Ding deine Spezialität sei.« »Ich glaube, deine Leisetreterei war vergebens, Jake. Doktor Schloss ist kein Idiot; er kann seine eigenen Zahlen so gut lesen wie du, und er wird die naheliegenden Schlüsse daraus gezogen haben. Inzwischen muß er Mark informiert haben, und das ist gut so. Ich könnte mir denken, daß Mark in diesem Moment bereits dabei ist, dein Objekt zu rufen. Laß uns zum Kontroll raum gehen und feststellen, was geschehen ist. Dort haben wir alle Verbindungen.« Sie verließen das Rechenzentrum in einer seltsam gemischten Prozession, der kahlköpfige, bullige Bürgermeister, im Mund eine ausgegangene Zigarre, der vogelartige und etwas niederge schlagene Astronom, und die unruhigen, zappeligen Halbwüchsi gen mit ihren erwartungsvollen Augen, mal voranspringend, mal zurückbleibend, um sich den Weg zeigen zu lassen. Ihr Eifer rührte Amalfi unerwartet und brachte ihm die Erkenntnis, daß ihr Traum von der wieder hinausfliegenden Stadt ein sehr zerbrech licher war; und daß dieser lenkbare Planet, was immer er sonst noch bringen mochte, wahrscheinlich das Ende dieses Traumes bedeutete. Die ernsten Angelegenheiten der Erwachsenen waren für solche zarten Gebilde schon immer fatal gewesen, wie das stumpfkalte Morgenlicht, in das der Planet gebadet sein würde, wenn er drohend über ihren Köpfen schwebte.
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Einer Eingebung folgend, machte er an einer Station halt, die er kannte, und rief ein Lufttaxi, um zu sehen, ob die Stadtväter eine solche Dienstleistung in diesem Stadium des langsamen Todes ihrer Stadt noch für erhaltenswert erachteten. Nach fast zehn Minuten kam tatsächlich eins, zur Begeisterung der Kinder, und Amalfi erkannte, daß es kein fairer Test gewesen war. Noch in tausend Jahren, solange ein Rest Energie verblieb, würden die Stadtväter bemüht sein, dem Bürgermeister ein Taxi zu schicken, wenn er es wünschte. Web und Estelle waren so begeistert, als sie in der kleinen Blase aus Glas und Metall durch die toten Schluchten der Stadt kurvten, daß die mühsam genug gewahrte Würde ihrer pubertären Selbsteinschätzung völlig aus den Fugen geriet und in Quietschen und Gelächter und entsetzten Ausrufen unterging, wenn das Taxi mit einer Vertrautheit, die sich in dem kleinen schwarzen Kasten seines Gehirns schon zu Geringschätzung abgeschliffen hatte, haarscharf um Ecken und Strebepfeiler sauste. Der Kontrollraum im Rathaus brachte die lachenden und aufgeregt schnatternden Kinder endlich zum Verstummen, und das aus gutem Grund, hatte doch niemand unter einem Alter von hundert Jahren jemals Zutritt zu diesem Raum gehabt. Die vielen, jetzt tot und matt aussehenden Bildschirme an den Wänden hatten Ereignisse übertragen, die für die jungen Bewohner der Neuen Erde längst den Charakter vorzeitlicher Sagen angenommen hatten. In diesem düsteren, muffig riechenden Raum hatte derselbe Mann, der jetzt mit ihnen war, den Aufstieg und den Niedergang einer die Galaxis beherrschen den Rasse beobachtet, einer Rasse, von der auch diese Kinder genetisch ein Teil waren, deren Erben sie aber niemals sein konnten; die Geschichte hatte sie übergangen. »Und rührt nichts an«, sagte Amalfi. »Alles in diesem Raum ist noch mehr oder weniger lebendig, und ein falscher Handgriff kann viel Schaden anrichten. Wir hatten nie Zeit, die Stadt ganz stillzulegen; ich bin nicht mal sicher, daß wir noch wissen würden, wie wir es anzufangen hätten. Deshalb ist sie Sperrzo
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ne. Stellt euch lieber hinter mich und seht zu, was ich mache; dann kommt ihr nicht in Versuchung, an den Einrichtungen herumzuspielen.« »Wir werden nichts anrühren«, sagte Web inbrünstig. »Ich weiß, daß ihr es nicht tun werdet, nicht absichtlich. Aber ich will keine Beschädigungen und keine Unfälle. Stellt euch hierher – du auch, Estelle. Zuerst drücke ich diese weiße Taste und warte, bis sie aufleuchtet – so. Das gibt den Stadtvätern zu verstehen, daß wir mit jemandem außerhalb der fliegenden Stadt sprechen wollen. Nun seht ihr die fünf kleinen roten Knöpfe über der Taste. Wir drücken Nummer zwei. Vier und fünf sind Ultrafon- und Dirac-Verbindungen, die wir für einen lokalen Anruf nicht brauchen. Eins und drei sind interne Hauptleitun gen.« Der eingedrückte Knopf glühte rot, und eine Stimme über Amalfis Kopf sagte: »Kommunikationsabteilung. Bitte melden.« Amalfi nahm das Mikrophon auf und sagte: »Hier ist der Bürgermeister. Ich brauche den Verwaltungsdirektor.« Er ließ das Mikrophon sinken und erklärte: »Nun muß die Kommunikati onsabteilung auf allen Kanälen, die für ihn in Frage kommen, deinen Großvater suchen, Web. Er erhält ein Rufsignal, wo immer er sich gerade aufhält, und weiß dann, daß er hier verlangt wird. Unser Krankenhaus hat für seine Ärzte das gleiche Ruf System.« »Können wir hören, wie er gerufen wird?« fragte Estelle. »Ja, wenn du willst«, sagte Amalfi. »Hier, nimm das Mikrophon und laß deinen Finger auf dem zweiten Knopf von oben. So.« »Kommunikationsabteilung«, sagte der unsichtbare Lautspre cher wieder. »Sag: ›Signal wiederholen, bitte‹«, flüsterte Amalfi. »Signal wiederholen, bitte«, sagte das M ädchen. Sofort füllte die Luft des alten Raums sich mit einer Serie von zwitschernden Tönen, die ein kurzes, einfaches Motiv wiederhol ten, als ob ein Vogel mit silberner Kehle irgendwo in den
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Schatten verborgen wäre. Estelle ließ beinahe das Mikrophon fallen. Amalfi nahm es ihr aus der Hand. »Maschinen rufen Menschen nicht beim Namen«, erläuterte er. »Nur sehr komplizierte Anlagen wie die Stadtväter können überhaupt sprechen. Ein einfacher Computer wie die Kommuni kationsabteilung arbeitet mit elektronisch erzeugten Tonfolgen. Du hast gehört, daß eben eine solche Tonfolge abgespielt wurde. Sie ist der Kode für Webs Großvater; die Erkennungsmelodie, sozusagen.« »Sie gefällt mir«, sagte Estelle. Im selben Augenblick gab es ein metallisches Schnappen, und Mark Hazletons Stimme sagte mitten aus der Luft: »Du willst mich sprechen, John?« Amalfi hob das Mikrophon vor seinen Mund. Er hatte die Kinder schon vergessen. »Richtig. Bist du über diesen lenkbaren Planeten im Bild, der Kurs auf uns zu halten scheint?« »Ja; ich wußte nicht, daß du interessiert bist. Tatsächlich erfuhr ich erst gestern, daß es ein Planet und kein Stern ist, als Schloss und Carrel in der Angelegenheit zu mir kamen.« Amalfi warf Jake einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich sehe, daß du von der Stadt rufst«, fuhr Hazletons Stimme fort. »Wie denken die Stadtväter darüber?« »Ich weiß es nicht, ich habe nicht mit ihnen gesprochen«, sagte Amalfi. »Aber Jake ist hier, und er ist zu der offensichtli chen Schlußfolgerung gelangt. Was ich wissen möchte, ist, ob ihr einen Versuch gemacht habt, mit diesem Objekt in Kommunika tion zu treten?« »Ja, aber ich kann nicht sagen, daß es sehr fruchtbringend gewesen ist«, sagte Hazletons Stimme. »Wir haben sie viermal über Dirac angerufen, aber wenn sie darauf reagierten, ging die Antwort im allgemeinen Gebabbel der Diracsendungen aus der Heimatgalaxis unter. Es wundert mich ein bißchen; sie halten ohne Frage auf uns zu, aber ich kann mir nicht gut vorstellen, welche Art Signal von uns sie als Navigationshilfe verwenden.«
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»Du glaubst also auch, daß es He ist, der wieder zurückge kommen ist?« fragte Amalfi. »Ja. Ich sehe keine andere Erklärung, jedenfalls nicht aufgrund der Daten, die uns bis jetzt vorliegen.« »Dann überleg mal«, sagte Amalfi. »Wenn das wirklich He ist, dann wirst du ihn mit Diracsendungen niemals erreichen. Während wir auf He waren, ließen wir die Hevier weder Diracsendungen hören, noch zeigten wir ihnen einen Diracsen der; sie hatten keine Ahnung, daß ein solches universales Verfahren existiert. Ihr solltet es statt dessen mit dem Ultrafon versuchen.« »Auf He hatten sie auch kein Ultrafon, als wir sie zuletzt sahen«, sagte Hazletons Stimme amüsiert. »Und wenn wir nicht wissen, wie wir eine Ultrafon-Trägerwelle ohne Spezialantennen empfangen sollen, wie können sie es wissen?« »Ich könnte mir denken, daß eine Ultrafon-Botschaft von diesem Planeten zu uns unterwegs ist«, sagte Amalfi. »Die Hevier hatten zweihundert Jahre Zeit, eine Kommunikations technik aufzubauen, und es wäre nur vernünftig, einen Flug in ein so dicht bevölkertes Gebiet wie die große Magellansche Wolke durch ein allgemeines Identifikationssignal anzuzeigen, was mit einem Diracsignal ohnehin schwierig sein würde. Ein Signal, das in allen Richtungen gleichzeitig empfangen werden kann, ist kein geeignetes Leuchtfeuer. Es spielt keine Rolle, ob dies He ist oder ein Besucher, der aus dem völlig Unbekannten kommt; sie werden sich irgendwie ankündigen, und das kann nur über Ultrafon geschehen. Also solltet ihr nach einem solchen Signal forschen und sofort antworten, wenn ihr es habt.« Er holte tief Atem. »Wenigstens könntest du aufhören, meine Zeit zu verschwenden, Mark, indem du mir sagst, daß es unmöglich ist, bevor du es überhaupt versucht hast!« Webster Hazleton wurde rot und flüsterte mit Estelle. Estelies Vater hüstelte alarmierend. Das Herauskehren des Chefs hatte allerdings in den letzten Dekaden immer weniger Eindruck auf Mark Hazleton gemacht, wie Amalfi recht gut wußte. Vielleicht lag es daran, daß Hazleton
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sich über Amalfis zunehmende Isolierung und Machtlosigkeit auf der Neuen Erde im klaren war. »Nichtsdestoweniger«, sagte Hazletons Stimme höflich, aber mit einem sarkastischen Unterton, »werde ich noch einen Einwand vorbringen, wenn du gestattest, John. Selbst wenn sie eine Ultrafon-Trägerwelle aussenden, die wir ausnützen können, sind sie immer noch sieben bis acht Lichtjahre entfernt. Laß sie uns über Ultrafon hören und auf dem gleichen Weg antworten, so werden ungefähr zwölf Jahre vergehen, bevor diese Antwort bei uns eintreffen kann. Inzwischen werden sie selbst hier sein.« »Hm, das ist wahr«, gab Amalfi zu. »Daran hatte ich nicht gedacht. Es bedeutet, daß wir ihnen ein Schiff entgegenschicken müssen, weil wir nicht genau wissen, womit wir es zu tun haben. Sag Carrel, daß er sich bereithalten soll, mich nächste Woche hinauszufliegen. In der Zwischenzeit muß versucht werden, etwaige Sendungen unserer Besucher abzuhören. Ich werde mich von Bord aus einschalten, sollte ein Dialog zustande kommen.« »In Ordnung«, sagte Hazleton und schaltete sich aus. »Dürfen wir mit?« fragte Web sofort. »Was sagst du dazu, Jake? Diese Kinder haben mich schon bedrängt, daß sie an Bord der fliegenden Stadt gehen wollen, sollte ich jemals meine Idee verwirklichen und mit dem Ding in den Raum starten.« Der Astronom blickte lächelnd zwischen Estelle und Amalfi hin und her, dann zuckte er die Achseln. »Wo immer sie den Fimmel für die Raumfahrt her hat, von mir gewiß nicht«, sagte er. »Aber ich dachte mir schon, daß sie früher oder später darum bitten würde. Es ist eine Erfahrung, die sie wohl hinter sich bringen muß, bevor sie sehr viel älter ist, und ich kenne keinen Kommandanten in der Galaxis, bei dem sie besser aufgehoben sein würde. Ich denke, meine Frau wird mir darin beipflichten – obwohl sie mein Unbehagen an dieser Raumfahrtbegeisterung teilt.«
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Web jauchzte und wußte sich vor Freude nicht zu fassen; aber Estelle sagte nur, in einem Ton äußerster Sachlichkeit: »Ich werde meinen Svengali mitnehmen.«
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Die Kinderstube der Zeit Schon aus der Distanz einer halben Million Kilometer stand für Amalfi fest, daß der Planet He eine enorme Umwandlung durchgemacht hatte, seit er ihn zuletzt um das Jahr 3850 gesehen hatte. Seine fliegende Stadt hatte diesen Planeten ungefähr sechs Jahre vor jenem Datum entdeckt und untersucht. He war damals der einzige fruchtbare Satellit eines isolierten Sterns gewesen, der allein in einer ungeheuren sternlosen Wüste schwamm, nicht einer der normalen, sternfreien Zonen zwischen den Spiralarmen der Galaxis, sondern außerhalb der galakti schen Rotationsebene, ein gutes Stück über dem flachen Diskus der Milchstraße. Es war bereits auf den ersten Blick offensichtlich gewesen, daß der Planet eine ungewöhnlich komplizierte Geschichte hinter sich hatte. Er war zu der Zeit eine smaragdgrüne Welt gewesen, von Pol zu Pol mit üppigem Dschungel bedeckt, einem Dschungel, der fast ganz verschlungen hatte, was vor nicht allzu vielen Jahren eine bedeutende Zivilisation gewesen sein mußte. Die Tatsachen, wie sie nach der Landung zum Vorschein kamen, erwiesen sich als außerordentlich komplex; es war sehr wahrscheinlich, daß es keinen anderen Planeten in der Galaxis gab, dem so viele fatale und unglaubliche Unglücksfälle widerfahren waren. Die Hevier hatten mit verbissener Hartnäk kigkeit allen Schwierigkeiten getrotzt, aber als die fliegende Stadt zu ihnen gekommen war, hatten sie sich in einer Situation befunden, wo nur noch ein Wunder helfen konnte. Für die Zivilisation der Hevier war die fliegende Stadt dieses Wunder gewesen. Sie konnte ihnen helfen, den weltweiten
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Dschungel zurückzudrängen und das zunehmend heißer werdende Klima radikal und für die Dauer zu verändern. Diese ökologische Revolution sollte durch eine Bahnverschiebung des Planeten bewerkstelligt werden; ein erweiterter Abstand vom Zentralgestirn mußte zwangsläufig zu einer entsprechenden Abkühlung des Klimas führen. Daß das Experiment dazu führte, daß der Planet das Schwerefeld seiner Sonne verließ und in unkontrollierbarer Bahn von der Galaxis fortstrebte, war vielleicht unglücklich, aber nicht die befürchtete Katastrophe, denn es gelang den Heviern und ihren Helfern, den Planeten als eine Heimstätte des Lebens zu sichern, bevor er in der Dunkelheit des Weltraums zur Eiswüste erstarren konnte. Die Anreicherung der oberen Atmosphäre mit Kohlendioxyd verhinderte eine zu starke Wärmeabstrahlung, und Kernfusions anlagen konnten den Wärmehaushalt der Atmosphäre selbst in den kältesten Tiefen des intergalaktischen Raums stabilisieren und die totale Auskühlung verhindern. Nichtsdestoweniger hatte Amalfi nicht mit der Rückkehr des Planeten nach der relativ kurzen Zeit von zweihundert Jahren gerechnet, unter völlig kontrolliertem Antrieb und noch immer von einem schwachen, fleckigen Blaugrün unter Wolkenfeldern, die im Licht eines nahen Cephei-Riesensterns in blendendem Weiß leuchteten. Daß der wandernde Himmelskörper der Planet He war, hatte sich schon zu Hause auf der Neuen Erde erwiesen, sobald es Hazleton gelungen war, das vorausgeschickte UltrafonLeuchtfeuer des Wanderers zu identifizieren; und kaum fünf Minuten nachdem Carrell sein Schiff in Rufweite des Planeten abgebremst hatte, hatte Amalfi selbst mit Miramon gesprochen, demselben leitenden Hevier, mit dem.er schon vor zweihundert Jahren verhandelt hatte – zur beiderseitigen Verblüffung, daß der jeweils andere noch lebte. »Nicht daß ich überrascht sein sollte«, sagte Miramon vom Kopfende seines großen Konferenztisches aus poliertem schwarzem Holz. »Schließlich bin auch ich noch am Leben, älter als alle Patriarchen unserer überlieferten Geschichte. Und doch beträgt mein Alter nur einen Bruchteil dessen, das Sie – wie Sie uns zu verstehen gaben – schon erreicht hatten, als wir einander
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zuerst begegneten. Aber alte Vorstellungen und Denkgewohnhei ten lassen sich nicht leicht überwinden. Nach den Hinweisen, die Sie uns gegeben hatten, gelang es uns, einige der alterungsver hütenden Drogen aus den Wildpflanzen unseres Dschungels zu gewinnen und zu reinigen, bevor der Dschungel abstarb. Aber die Pflanzen, die jene Drogen lieferten, erwiesen sich unter den neuen Bedingungen als nicht kultivierbar, und es blieb uns keine andere Wahl, als nach Möglichkeiten zu suchen, die Verbindun gen zu synthetisieren. Wir waren gezwungen, sehr schnell zu arbeiten, und glücklicherweise war die Suche nach der dritten Generation von Erfolg gekrönt, doch in der Zwischenzeit hatte der vorhandene Vorrat nur ausgereicht, einige wenige von uns über die Zeit hinaus am Leben zu erhalten, die wir noch immer als unsere normale Lebensspanne ansehen. Für den größten Teil unserer Bevölkerung sind Sie, Bürgermeister Amalfi, daher nur eine Legende, ein unsterblicher Mensch von jenseits der Sterne, von den Göttern mit unendlicher Weisheit begnadet, und in den vergangenen Jahrhunderten war es mir nicht immer möglich, mich selbst daran zu hindern, in ähnlichen Begriffen von Ihnen zu denken.« Obwohl er in seinem auf dem Kopf zu einem Knoten zusam mengefaßten Haar die große schwarze Feder trug, die in barbarisch anmutender Weise seine Amtsautorität symbolisierte und an die Amalfi sich noch gut erinnerte, hatte der Miramon, den Amalfi heute vor sich sah, wenig Ähnlichkeit mit dem kraftvoll-geschmeidigen, ebenso zähen wie hartnäckigen Halbwilden, der sich in Amalfis Gegenwart einmal auf den Boden gehockt hatte, weil Stühle das unbequeme Vorrecht der Götter waren. Seine Haut war noch immer fest und gebräunt, seine Augen hell und wachsam, aber sein Haar war schneeweiß geworden und sein Aussehen zeigte, daß er in jene Lebensperi ode eingetreten war, die – weder jugendlich noch alt – charakteristisch für einen Mann war, der erst zu alterungsverhü tenden Drogen gegriffen hatte, als er die ›mittleren Jahre‹ seiner natürlichen Lebenserwartung bereits hinter sich wußte. Seine Berater – unter ihnen auch Retma aus Fabr-Suithe, das zu Amalfis Zeiten eine Banditenstadt gewesen und während des
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letzten Bruderkriegs vor der großen Veränderung vollständig zerstört worden war, aber jetzt, in rosa Marmor neuerbaut, die zweitgrößte Stadt des Planeten war – hatten überwiegend das gleiche Aussehen. Es gab zwei oder drei Männer in der Runde, denen die lebensbewahrende Droge erst bewilligt worden war, als sie bereits ein natürliches Alter von fünfundsiebzig oder achtzig Jahren erreicht hatten. Sie brachten ein wahrscheinlich unechtes Element von Weisheit und Scharfsinn in den Berater kreis, ein Eindruck, der von vielen Runzeln und Falten, einer offensichtlichen körperlichen Gebrechlichkeit und einer sexuellen Neutralität erzeugt wurde. Obschon dieser somatische Typ für die Menschheit als Ganzes längst seine Bedeutung als das physiologische Kennzeichen von hart erworbener Weisheit und Lebenserfahrung verloren hatte, ging von diesen späten Unsterblichen in der Runde eine seltsame Autorität aus, der sich nicht einmal Amalfi entziehen konnte. »Wenn es Ihnen gelungen ist, auch nur eine der alterungs verhütenden Substanzen zu synthetisieren, sind Sie bessere Biochemiker als irgend jemand sonst in der Geschichte der Menschheit«, sagte Amalfi. »Es sind die bei weitem komplizierte sten Moleküle, die je in der Natur gefunden wurden. Wir haben nie gehört, daß auch nur eine dieser Substanzen erfolgreich synthetisiert werden konnte, obwohl es an Versuchen nicht mangelte.« »Wir konnten nur eine synthetisieren«, gab Miramon zu. »Und die synthetische Form hat gewisse kleine, aber unerwünschte Nebenwirkungen, die nicht völlig zu eliminieren sind. Mehrere andere Komponenten sind natürliche Saponine, die wir in unserem künstlichen Klima erzeugen und durch Fermentation so modifizieren konnten, daß sie den gewünschten Wirkungsgrad erreichen. Schließlich gibt es zwei weitere Bestandteile von großer Nützlichkeit, die wir durch Fermentation allein erzeugen. Dabei verwenden wir Mikroorganismen, die in Nährlösungen gezüchtet werden. Diese Kulturen halten wir in Tanks und speisen sie mit den vergleichsweise einfachen und billigen Vorläuferstoffen.«
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»Mit dieser Methode haben wir das erste halbwegs wirksame Mittel hergestellt, das je entdeckt wurde: Ascomycin«, sagte Amalfi. »Ich glaube, ich bleibe bei meinem ersten Urteil. Als Biochemiker sind Sie allen anderen von uns um Längen voraus.« »Dann ist es gut für uns, und vielleicht fü r jedes denkende Lebewesen anderswo, daß wir nicht als Biochemiker kommen, um Rat zu suchen«, sagte Retma grimmig. »Was mich auf meine wichtigste Frage bringt«, sagte Amalfi. »Warum sind Sie zurückgekehrt? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie mich persönlich gesucht haben können, denn Sie hatten keinen Grund für die Annahme, daß ich in dieser Region oder innerhalb Tausender von Parsek in ihrem Umkreis sei. Wir trennten uns damals auf der anderen Seite der Heimatgalaxis. Nach meiner Vermutung müssen Sie umgekehrt sein, lange bevor Sie die Hälfte der Distanz zum Andromedanebel zurückge legt hatten. Meine Frage ist: was bewegte Sie zur Umkehr? Die Tatsache, daß es Ihnen gelungen war, den Planeten manövrier fähig zu machen?« »Das ist zugleich richtig und falsch«, sagte Miramon mit einem Anflug von Stolz. »Etwa dreißig Jahre nach unserer Trennung hatten unsere Bemühungen, die Antigravitationsmaschinen unter Kontrolle zu bringen, endlich Erfolg, und wir konnten den Kurs unseres Planeten fortan selbst bestimmen. Sie können sich denken, daß wir in froher Erregung waren. Nun hatten wir einen wirklichen Planeten im eigentlichen Sinn des Wortes, einen echten Wanderer, der sich in einem oder dem anderen Sonnensystem niederlassen und weiterziehen konnte, wenn wir uns dafür entschieden. Zu der Zeit waren wir bereits autark, und es gab keine Notwendigkeit, zur Ergänzung von Vorräten immer wieder andere Systeme aufzusuchen, wie Ihre fliegende Stadt es tun mußte. Und da wir ein gutes Stück Wegs zur zweiten Galaxis zurückgelegt hatten und die gewaltige Masse unseres Planeten der erreichbaren Geschwindigkeit praktisch keine Grenzen setzte, entschieden wir uns für den Weiterflug.« »Zum Andromedanebel?«
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»Ja, und darüber hinaus. Natürlich sahen wir nicht viel von dieser Galaxis, die so groß wie die unsrige ist; wir haben nicht den Eindruck gewonnen, daß sie von irgendeiner weit verbreite ten, raumfahrenden Rasse beherrscht wird, aber weil wir uns bei den Untersuchungen auf Stichproben beschränken mußten, können wir leicht eine große Zahl von bewohnten und zivilisier ten Systemen übersehen haben. Zu dieser Zeit aber hatten wir schon die Entdeckung gemacht, die von da an die Grundlage unseres Handelns werden sollte, und wußten, daß wir zu unserer Heimatgalaxis zurückkehren mußten. Wir verließen den Andromedanebel und besuchten seinen Satelliten M 33, und von dort machten wir den Sprung zur kleinen Magellanschen Wolke. Während unseres Übergangs von der kleinen zur großen Wolke entdeckten Sie uns. Das war natürlich ein Zufall; wir hatten die Absicht gehabt, direkt in die Heimatgalaxis und zur Erde zu gehen, wo wir noch am ehesten ein Reservoir von Wissen zu finden hofften, das in der Lage sein würde, die nötige Antwort auf unsere Entdeckung zu geben. Daß unser eigenes Wissen unzureichend war, unterlag keinem Zweifel. Aber es ist ein Zufall, den wir als ein gutes Omen und ein hoffnungsvolles Zeichen nehmen wollen, daß Sie uns auf dem Rückweg wiedergefunden haben, Bürgermeister Amalfi. Sicherlich müssen die Götter ein solches Zusammentreffen begünstigt haben, das ohne ihre Fügung kaum zu erklären ist; denn wenn es außerhalb der Erde einen Mann gibt, der uns helfen kann, dann sind Sie es.« »Ich fürchte, daß ich dieser hohen Einschätzung nicht würdig bin«, sagte Amalfi lächelnd. »Und wie ich mich erinnere, war Ihr Glaube an die Götter nicht immer so stark.« »Meinungen ändern sich mit dem Alter; wozu wäre das Alter sonst gut?« »Alles ändert sich mit dem Alter«, sagte Amalfi. »Und, ob ich Ihnen helfen kann oder nicht, es ist in der Tat ein glücklicher Zufall, daß Sie auf dem Flug in die Heimatgalaxis hierherge kommen sind. Auf der alten Erde mag mehr Wissen konzentriert sein als anderswo, aber der Mutterplanet ist nicht mehr die
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dominierende Macht der Galaxis. Wir haben beträchtliche Schwierigkeiten, zu verstehen, was tatsächlich vorgeht, weil die Nachrichten, die wir von dort empfangen, ebenso zahlreich wie verwirrend sind, aber eins ist sicher: Die Machtverhältnisse innerhalb der Galaxis befinden sich in einem Umwälzungsprozeß. Ein gewaltiger neuer Imperialismus ist dort erstanden, schon heute so mächtig wie die Erde einmal war, und Wega vor der Erde. Er wird das Netz des Herkules genannt, und was vom interstellaren Imperium der Erde übriggeblieben ist, scheint kaum Widerstand zu leisten. Wenn Sie meinen Rat wollen, so würde ich vorschlagen, daß Sie sich ganz von der Heimatgalaxis fernhalten, oder Sie könnten Ihre Selbständigkeit verlieren.« Um den Konferenztisch der Hevier gab es nachdenkliche Gesichter. Nach langem Schweigen sagte Miramon: »Dies scheint uns in der Tat nicht viele Möglichkeiten offenz u lassen. Es mag gut sein, daß es keine Antwort gibt, wie wir oft vermutet haben. Oder es mag sein, daß die Götter uns zu der einzigen Quelle von Weisheit geführt haben, die wir brauchen.« »Wir werden es früh genug wissen«, sagte Retma ruhig. »Wenn es in jenem Augenblick noch genug Zeit geben wird, irgend etwas zu wissen.« »Ich werde wahrscheinlich keinen Rat geben können, solange ich nicht weiß, wovon Sie sprechen«, sagte Amalfi, beeindruckt von dem Ernst der Hevier. »Welches war die Entdeckung, die Sie zur Umkehr veranlaßte? Was ist das bevorstehende Ereignis, das Sie zu fürchten scheinen?« »Nichts geringeres«, sagte Retma, »als das bevorstehende Ende der Zeit.« * Selbst nachdem sie es ihm erklärt hatten, war Amalfi für eine Weile unfähig, daran zu glauben. Er war geneigt, die Nachricht als eine jener abergläubischen Endzeiterwartungen abzutun, die im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder wie Epidemien aufgetreten waren und die Bevölkerung zu allen möglichen irrationalen Handlungen verleitet hatten, bis das
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gefürchtete Datum des vermeintlichen Weltuntergangs ereignislos verstrichen war und die Hysterie so unvermittelt aufhörte wie sie begonnen hatte. Daß die Zeit selbst aufhören sollte, war eine Idee, mit der er nichts anzufangen wußte; nichts in seinem langen Leben hatte ihn darauf vorbereitet, sie auch nur für einen Augenblick zu akzeptieren. Selbst als seinem Verstand klar wurde, daß das Phänomen, das Miramon und die Hevier in den intergalaktischen Tiefen gefunden hatten, ein reales Ereignis mit realen Implikationen gewesen war – noch dazu eines, das Schloss und seine Mitarbeiter seit Jahren mit langwierigen Berechnungen und Experimenten zu dokumentieren suchten –, konnte er nicht mehr tun als es kurzerhand für ein Hirngespinst zu erklären. Diesen Standpunkt vertrat er auch bei einer Bordkonferenz an der Miramon, Retma, Dr. Schloss, Carrel und – über eine Diracverbindung – Jake und Dr. Gifford Bonner teilnahmen. »Wenn Ihre Angaben zutreffen«, sagte er, »können wir sowieso nichts dagegen tun. Dann wird das Universum zu einem Ende kommen, und das ist das. Aber ich kann mich erinnern, daß das Ende der Welt schon oft prophezeit worden ist, und wir sind immer noch da. Ich kann nicht glauben, daß ein so ungeheurer Prozeß wie das gesamte physikalische Universum in einem Augenblick zu einem Ende kommen kann, und weil sich alles in mir gegen diese Idee sträubt, werde ich nicht plötzlich so tun, als ob ich sie akzeptiere, wenngleich ich die Beobachtungen unserer Freunde hier nicht einfach als ein Schauermärchen abtun will.« »Sie verstehen nicht, Amalfi«, sagte Dr. Schloss. »Natürlich ist das Weltende schon oft vorausgesagt worden, aber niemals auf Grund fundierter Beobachtungen; Basis solcher Prophezeiungen waren immer nur haltlose Spekulationen religiöser Wirrköpfe. Eine andere Sache ist die grundsätzliche Entscheidung, die jeder ernsthafte Pilosoph treffen muß, wenn er eine Deutung des Seins im universalen Geschehen versucht: Entweder geht er davon aus, daß das Universum wie alles andere irgendwann zu einem Ende kommen wird, oder er bezieht die Position, daß es niemals
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enden könne. Man kann vermittelnde Spekulationen machen, etwa im Sinne unserer zyklischen Theorien zur mehrfachen Wiedergeburt des Universums, aber im Grunde bleibt die zentrale Frage davon unberührt. Wenn wir entscheiden, daß das Universum eine begrenzte Lebenszeit hat, dann müssen wir auch darüber nachdenken, wann dieses Leben zu einem Ende kommen wird, und wir müssen das auf der Basis aller verfügba ren Daten tun. Seit Jahrtausenden ist die menschliche Wissen schaft sich darin einig, daß das Universum nicht ewig währen kann, also bleibt uns als einziger Streitpunkt das Datum, mit dem wir das Ende zu fixieren haben. Und früher oder später mußte die Zeit kommen, wo das gesammelte Material für die Bestimmung selbst dieses Datums ausreichen würde. Die Hevier haben uns Tatsachen vorgelegt, die dies jetzt erlauben; das Datum ist fixiert, was immer es bringen wird. Wenn wir vernünftig und intelligent über die Angelegenheit diskutieren wollen, dann müssen wir von dieser festen Tatsache ausgehen. Sie selbst kann nicht zur Streitfrage gemacht werden. Sie ist eine Tatsache.« »Ich glaube«, sagte Amalfi mit harter Stimme, »daß ihr alle verrückt geworden seid. Ihr solltet euch die Stadtväter zu diesem Thema anhören, wie ich es getan habe; ich kann eine Diracverbindung mit ihnen herstellen, damit jeder hier einige von den Erinnerungen hören kann, die sie gespeichert haben. Darunter ist viel Material, das in eine Zeit lange vor der Entwicklung der Raumfahrt zurückgeht. Ich will nicht etwa in Bausch und Bogen zurückweisen, was Sie, Doktor Schloss, eben gesagt haben; aber es könnte nicht schaden, wenn wir uns die Geschichten über jene Weltuntergangsprophezeiungen anhörten, die so unausweichlich wie die Pflanze aus dem Samenkorn entstehen, wann immer jemand sich in den Kopf setzt, er habe einen direkten Draht zum Allmächtigen. Obwohl wir heute über solche abergläubischen Verrücktheiten lächeln und uns über sie erhaben dünken, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Ihre hohe Intelligenz Sie nicht daran hindert, dem gleichen apokryphen Wahn zu verfallen. Mehrere Jahrhunderte vor dem Beginn der Raumfahrt prophezeite ein Mann namens Bacon,
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einer der größten Wissenschaftler seiner Zeit, die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Antichrists, und er tat dies einfach deshalb, weil er sich unfähig sah, seine Zeitgenossen zur Übernahme der wissenschaftlichen Methodik zu bewegen, die er gerade erfunden hatte. Und in den Dekaden vor der Entwicklung der interstellaren Raumfahrt sahen die besten Köpfe des Zeitalters keine Zukunft für die menschliche Rasse und alles andere luftatmende Leben auf der Erde, weil erstmals in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit völliger Auslöschung in einem weltweiten thermonuklearen Krieg entstanden war. Und darin, Doktor Schloss, hatte sie völlig recht; ihre Welt hätte damals tatsächlich jederzeit und aus relativ belanglosem Anlaß enden können. Aber irgendwie gelang es der Einsicht und Vernunft, sich bis zum Anbruch des Raumfahrtzeitalters zu behaupten, und dann wurde das drohende Ende der Welt zu einem blassen Gespenst, ausgebrannt vom Sternenlicht, genauso wie die Geister nachtfürchtender Völker aus ihren Mythologien verdampfen, sobald sie in der Lage sind, selbst um Mitternacht Licht zu erzeugen, indem sie einfach einen Schalter drücken.« Er blickte in die Runde der Gesichter, die um den Kartentisch des Schiffs versammelt waren. Kaum einer mochte seinen Augen begegnen; die meisten blickten auf den Tisch, oder auf ihre Hände. Ihre Mienen waren die von Männern, welche dem Versuch eines Massenm örders gelauscht hatten, auf Unzurech nungsfähigkeit zu plädieren. »John«, sagte Jake Freemans Stimme plötzlich aus dem Lautsprecher der Diracverbindung, »die Zeit für optimistische Plädoyers und Vergangenheitsbeschwörungen ist vorüber. Diese Frage hat nicht zwei Seiten, über die man diskutieren kann; sie hat nur eine richtige und eine falsche Seite, und wir werden dich als einen brillanten Advokaten der falschen Seite abtun müssen. Du hast dir viel Mühe gegeben, aber da die richtige Seite keinen Advokaten braucht, hast du deine Energie verschwendet. Ich möchte die übrigen Teilnehmer dieser Konferenz fragen: Was sollen wir jetzt tun? Ist es so, daß wir, wie die Hevier denken,
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überhaupt etwas tun können? Ich bin geneigt, daran zu zweifeln.« »Ich auch«, sagte Dr. Schloss, obwohl nichts an ihm die Düsternis erkennen ließ, die seiner Schlußfolgerung innewohnte; er schien so intensiv interessiert, wie Amalfi ihn noch nie gesehen hatte. »Für vergängliche Lebewesen ist die Hoffnung, das Ende der Zeit zu überleben, genauso abwegig und vergeblich wie die eines Fisches, der in den Wüstensand geworfen wird. Der Widerspruch ist offenbar, und ganz unausweichlich.« »Kein technisches Problem ist jemals so unlösbar«, sagte Amalfi in Erbitterung. »Miramon, wenn Sie mir verzeihen wollen, ein solches Urteil abzugeben – ich glaube, Sie leiden an dem gleichen Syndrom wie Doktor Freeman und Doktor Schloss: Sie sind vor Ihrer Zeit alt geworden. Sie haben Ihren Abenteuergeist verloren. Und unser Freund Doktor Schloss ist schon einen Schritt weiter; die Vorstellung unseres bevorstehenden Untergangs scheint ihm geradezu Befriedigung zu verschaffen.« »Mister Amalfi«, sagte Dr. Schloss spröde, »ich denke, ich kann mir eine Antwort darauf schenken. Aber Sie haben eben etwas gesagt, das Ihre Unfähigkeit zur Einsicht erklärt. Sie scheinen dies als ein technisches Problem zu sehen, das mit irgendwel chen technischen Mitteln gelöst werden könne. Das ist nicht der Fall. Ein technologischen Kategorien verhaftetes Denken muß hier an seine Grenzen sto ßen.« Miramon beobachtete Amalfi mit einem Ausdruck von tiefem Ernst und enttäuschter Hoffnung. Nach einer Weile sagte er: »Wir haben unseren Abenteuergeist nicht verloren, Bürgermei ster Amalfi. Wir zumindest sind noch nicht überzeugt, daß es keine Antwort gibt; wenn wir sie hier nicht finden, haben wir die Absicht, unsere Reise mit der Hoffnung fortzusetzen, jemanden zu finden, der vielleicht eine Lösung vorzuschlagen hat. Finden wir niemanden, so werden wir fortfahren, diese Lösung selbst zu suchen.« »Gut, das ist der richtige Geist!« sagte Amalfi heftig. »Und bei Gott, ich werde mit Ihnen gehen! Wir können nicht gut in unsere eigene Galaxis zurück, aber die nächste Welteninsel ist NGC
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6822, ungefähr sechshunderttausend Lichtjahre von hier. Für Sie ist das nur ein Sprung. Und wenigstens würden wir in Bewegung sein; wir würden nicht mit gefalteten Händen hier herumsitzen und auf den Schlag warten.« »Das wäre Bewegung als Selbstzweck, ohne einen Sinn«, sagte Miramon bedächtig. »Ich stimme Ihnen zu, daß es gefährlich und unklug wäre, eine Verstrickung in das Netz des Herkules zu riskieren, was immer das sein mag; aber ich kann keinen vernünftigen Zweck darin sehen, daß wir von einer Galaxis zur anderen kreuzen, in der blo ßen Hoffnung, eine Hochzivilisation anzutreffen, die fähig sein könnte, uns und dem Rest des Universums zu helfen. Wir hegen diese Hoffnung, aber sie kann nicht das letzte Ziel unserer Reise sein: Dieses letzte Ziel muß das Zentrum der Metagalaxis sein, der Drehpunkt aller Galaxien des Raumzeit-Kontinuums. Nur dort liegen alle Kräfte des Universums in dynamischer Balance, und nur dort kann man hoffen, irgendeine Aktion zu unternehmen, um dem bevorste henden Ende zu entgehen oder es zu beeinflussen. Und es bleibt uns nicht sehr viel Zeit bis zu diesem Augenblick. Vor allem aber, Bürgermeister Amalfi, muß jeder sich über einen Punkt, den Doktor Schloss bereits erw ähnt hat, im klaren sein: Es ist nicht einfach ein technisches Problem; es ist ein Ende, das in der fundamentalen Struktur des Universums selbst verankert ist. Von wem und warum, wissen wir nicht; wir können nur wissen, daß es vorherbestimmt war.« * Und vor dieser Schlußfolgerung gab es wirklich kein Entkom men, obwohl Amalfis Instinkte gegen ihre Annahme gekämpft hatten, seit sein Verstand begriffen hatte, daß es so war. Das Universum war ein einigermaßen behaglicher Lebensraum gewesen, jedenfalls nach der primitiven Atomtheorie, die die Versicherung bieten konnte, daß alles, Erde, Luft, Wasser und Feuer, Stahl und Orangen, Menschen und Sterne, letztlich aus submikroskopischen Wirbeln bestand, die Protonen und Elektronen genannt wurden, gewürzt mit Neutronen und Neutrinos, die keine Ladung hatten, und zusammengehalten von
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einer unordentlichen, aber gemütlichen Familie von Mesonen. Der typische Fall war das Wasserstoffatom, ein Proton, das gemütlich am Herd saß, zufriedenstellend positiv geladen, während ein Elektron, umgeben von seinem negativen Feld wie mit einem knisternden Katzenfell, es umkreiste und für Unterhaltung sorgte. Das war der einfache Fall; aber man war versichert, daß man selbst bei den schwersten und komplizierte sten Atomen nur mehr und schwerere Scheite ins Herdfeuer zu werfen brauchte, damit mehr Katzen kämen, es zu umschnur ren; zwar würde es schwierig sein, eine Katze von der anderen zu unterscheiden, aber das ist die übliche Strafe, die der Besitzer von Hunderten zu zahlen hat. Der erste Hinweis, daß mit diesem Bild von submikroskopischer und universaler Häuslichkeit etwas nicht stimmte, erschien, wie es sich für ein bedeutsames Zeichen gehörte, am Himmel. Ungefähr ein halbes Jahrhundert vor dem Beginn der ersten Raumfahrtexperimente hatte ein Astronom, dessen Name später in Vergessenheit geriet, die Entdeckung gemacht, daß zwei oder drei von den Millionen Meteoriten, die jeden Tag in die Erdatmo sphäre eintraten, in einer Höhe und mit einer Gewalt explodier ten, die mit Geschwindigkeit oder Bahnexzentrik nicht erklärt werden konnten; und in einem jener großen Gedankenflüge, denen fast jedes neue Glied in der großartigen Kette menschli chen Verstehens zu verdanken ist, träumte er von etwas, das er ›Antimaterie‹ nannte: Materie, in der das fundamentale Wasserstoffatom aus einem negativ geladenen Antiproton und einem positiv geladenen Antielektron bestehen würde. Ein Meteorit aus so aufgebauten Atomen, überlegte er, würde beim ersten Kontakt mit der aus normaler Materie bestehenden Erdatmosphäre mit enormer Gewalt explodieren; und die Existenz solcher Meteorite würde bedeuten, daß es irgendwo im Universum ganze Planeten, ganze Sonnen, ganze Galaxien aus solcher Antimaterie geben mußte. Seltsamerweise verschwanden die Antimaterie-Meteorite nicht lange danach aus der wissenschaftlichen Diskussion, obwohl es 1908 den Fall des berühmten Riesenmeteors an der Steinigen Tunguska in Sibirien gegeben hatte, von dem trotz eifriger
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Nachforschungen niemals Bruchstücke gefunden worden waren, was angesichts seiner Masse – er hatte beim Niedergehen ein Waldgebiet von 1600 Quadratkilometern verwüstet – mehr als ungewöhnlich war. Aber man fand, daß die explodierenden Meteore mit konventionelleren Begriffen leichter zu erklären waren. Immerhin überlebte die Vorstellung von Antimaterie, und in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelang es der Experimentalphysik sogar, einzelne Atome des unheimlichen Stoffs künstlich herzustellen. Diese umgekehrten Atome ließen sich jedoch nur einige Millionstel Sekunden am Leben erhalten, und allm ählich wurde klar, daß die Zeit, in der sie existierten, rückwärts lief. Der Augenblick, da sie sich den Beobachtern als eben entstandene Atome von Antimaterie präsentierten, war daher notwendigerweise der Augenblick ihres Todes. Offensicht lich war Antimaterie nicht nur theoretisch möglich, sondern sie konnte existieren; aber sie konnte nicht in diesem Universum entstanden sein. Wenn es Welten und Galaxien aus Antimaterie gab, dann existierten sie nur in irgendeinem unvorstellbaren separaten Kontinuum, wo die Zeit und der Entropiegradient rückwärts liefen. Während das Universum normaler Materie expandierte, sich entfaltete und seine Entwicklung zum unvermeidlichen Ende durchlief, zog sich irgendwo nahebei – aber in einem Irgendwo, das sich menschlicher Vorstellung verschlo ß – ein ebenso riesiges und komplexes Duplikat-Universum zusammen und näherte sich der totalen Konzentration von Masse und Energie, dem ›Monoblock‹. So wie völlige Dispersion, Dunkelheit und Stille das Schicksal des Universums war, in dem der Pfeil der Zeit den Entropiegradienten abwärts zeigte, so mußte das Ende des Antimaterie-Universums äußerste Verdichtung sein, die Zusammenballung unvorstellbarer Massen in einem Raum, dessen Durchmesser nicht größer sein mochte als das Sonnensy stem bis zur Uranusbahn. Und aus einem Universum konnte das andere entstehen. Im Universum normaler Materie war der Monoblock der Anfang, aber im Universum der Antimaterie würde er das Ende sein; in einem Universum normaler Entropie
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ist der Monoblock unerträglich und muß explodieren; in einem Universum negativer Entropie ist der Hitzetod unerträglich und muß zur Verdichtung führen. In beiden Fällen lautet der Befehl: Es werde Licht. Wie das sichtbare, greifbare Universum vor dem Monoblock gewesen war, blieb jedoch menschlichem Wissen verborgen. Die klassische Antwort war viele Jahrhunderte früher vom heiligen Augustinus gegeben worden, der auf die Frage, was Gott getan haben mochte, bevor er das Universum erschuf, gesagt hatte, Gott habe damals eine Hölle für Personen errichtet, die solche Fragen stellten. Nach dieser Maxime blieben Spekulationen solcher Art noch lange nach Augustinus eine Domäne von Theologen und Philosophen; sie konnten durch gottgesandte Erkenntnis alles darüber wissen, aber ein Physiker konnte es per definitionem nicht. Bis jetzt; denn wenn die Hevier die Wahrheit sagten, und es gab keinen Grund, warum sie es nicht tun sollten, dann hatten sie einen Zipfel dieses Vorhangs gehoben und einen Blick auf das nicht zu Wissende geworfen. Ein voller Blick ins Gesicht des Schicksals hätte nicht fataler sein können. Während ihres Flugs zum Andromedanebel hatten die Hevier entdeckt, daß zwei von den neu für das Projekt erbauten Fusionsgeneratoren die normale Betriebstemperatur überschrit ten. Dies war ein neues Problem für sie, und um das Risiko möglicher Unfälle auszuschalten, legten sie das gesamte Verbundsystem ihrer Triebwerke für die Dauer der Reparaturen still und ließen nur jene Anlagen in Betrieb, die für den Wärmehaushalt des Planeten notwendig waren. Und dort, in der völligen Stille des intergalaktischen Raumes, geschah es, daß ihre Instrumente zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit das Wispern andauernder Schöpfung einfingen: das winzige ›Ping‹ von neuen Wasserstoffatomen, die, eins nach dem anderen, aus dem Nichts geboren wurden. Dies allein wäre eine hinreichend ernüchternde Erfahrung für jeden nachdenklichen Menschen gewesen; niemand konnte der
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Geburt des Rohmaterials beiwohnen, aus dem das ganze bekannte gebaut war, einer Geburt aus dem beweisbaren Nichts, ohne von der Überzeugung ergriffen zu werden, daß es auch einen Schöpfer geben müsse, und daß er in der unmittelbaren Nachbarschaft des Ortes sein müsse, wo seine Arbeit vor sich ging. Diese winzigen Geräusche in den Instrumenten der Hevier schienen zuerst keinen Raum für irgendeine zyklische Theorie des Universums zu lassen, wo ein Schöpfer nur für den entfernten Beginn des rhythmischen Prozesses benötigt wurde, oder überhaupt nicht. Hier war der Schöpfungsprozeß: Der unsichtbare Finger berührte das Nichts, und aus nichts wurde etwas; die größte Absurdität, die, weil sie die größte war, nichts anderes als göttlich sein konnte. Doch die Hevier waren aufgeklärt genug, um mißtrauisch zu sein. Diese Entdeckung, die auf den ersten Blick eine klare Antwort auf zweieinhalb Jahrtausende theologische Spekulation zu liefern und den ersten tatsächlich überzeugenden Gottesbe weis zu erbringen schien, seit irgendein steinzeitlicher Schamane oder Pilze essender Mystiker Gottes Existenz postuliert hatte, konnte nicht so einfach sein, wie es den Anschein hatte. Sie war zu leicht gewonnen worden; zuviel anderes wurde durch die fortw ährend erschaffende Existenz eines gegenw ärtigen Gottes impliziert, um die Vorstellung haltbar erscheinen zu lassen, daß diese Existenz blo ß durch einen gewöhnlichen Zufall und ein einziges physikalisches Datum beweisbar geworden sein sollte. Gifford Bonner sollte später die Bemerkung machen, es sei ein unglaubliches Glück gewesen, daß es die Hevier waren, ein Volk, das erst in jüngster Zeit ein gewisses Maß von wissenschaftlicher Aufgeklärtheit zurückgewonnen, aber niemals sein Gefühl für die Kontinuität der Theologie in einem wissenschaftlichen Zeitalter verloren hatte, denen zuerst erlaubt worden war, diese winzigen Geburtsschreie in der Kinderstube der Zeit zu hören. Der typische Mensch des beginnenden fünften Jahrtausends, mit seiner einseitig technischen Orientierung, geistig zu einem Barbarentum verkümmert, das weder Ethik noch Ästhetik kannte und dessen Lebensphilosophie von Sentimentalität, ›gesundem Menschenverstand‹ und einer rohen und naiven Fortschrittsmy
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stik bestimmt wurde (ungefähr an diesem Punkt in Bonners Analyse hatte Amalfi rote Ohren bekommen), hätte diese Entdeckung leicht zum Nennwert nehmen können, um sich in einem Morast von Deutungsversuchen zu verlieren, die allesamt darauf abgestellt wären, das bewährte Weltbild zu erhalten. Die Hevier hatten kein derart gefestigtes Weltbild; für sie war noch nahezu alles möglich, und darum waren sie mißtrauisch. Sie prüften die Entdeckung zunächst nur nach dem, was sie selbst aussagte. Wenn die fortw ährende Neuschöpfung eine Tatsache war, dann schlo ß dies aus, daß es in der Geschichte des Universums jemals einen Monoblock gegeben hatte, oder daß es jemals einen Hitzetod geben würde; statt dessen würde es immer so weitergehen, Welt ohne Ende. Darum, wenn die Entdeckung so fundamental doppeldeutig war wie alle solchen Entdeckungen bisher, mußte sie gleichzeitig das genaue Gegenteil beinhalten. Wo Materie aus dem Nichts entstehen konnte, sollte man zuerst nach Materie suchen, die sich im Nichts auflösen konnte, bevor man einen kontinuierlichen göttlichen Schöpfungsprozeß glaubte. Dieser skurril erscheinende Gedankengang zahlte sich sofort aus, obwohl die weiteren Implikationen, die sich aus ihm ergaben, keineswegs leichter zu verdauen waren als der erste und gegenteilige Satz. Die Hevier riskierten das gesamte Leben auf ihrem gefährdeten Planeten und legten sämtliche thermonu klearen Anlagen still, damit nicht eigene Emissionen und Störungen die Ergebnisse ihrer Instrumente verfälschten. In dieser absoluten Stille erwies sich, daß das beunruhigende Gewisper der kontinuierlichen Schöpfung zwei Stimmen hatte. Jedes ›Ping‹ einer Neugeburt war nicht eine Einzelnote, sondern ein Duo. Jedesmal, wenn ein Wasserstoffatom aus dem Nichts in die erfahrbare Universum sprang, kam ein unheimlicher Zwilling von ihm, ein Wasserstoffatom aus Antimaterie, von irgendwo und starb im selben Augenblick. Und da war es. Was ein fundamentaler, unumstößlicher Beweis für den kontinuierlichen Ablauf der Zeit und einen andauernden Schöpfungsprozeß gewesen zu sein schien, konnte auch als ein
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unbestreitbares Indiz für eine zyklische Kosmologie angesehen werden. Für die Hevier war es in einer Weise befriedigend; dies war Physik, wie sie sie kannten. Nichtsdestoweniger rührte es Furcht und Unsicherheit in ihnen auf, denn die neue Erkenntnis propagierte auch die Existenz eines kompletten zweiten Universums aus Antimaterie, das Punkt für Punkt mit dem erfahrenen Universum aus normaler Materie übereinstimmte, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Was die Geburt eines Wasserstoffatoms aus Antimaterie zu sein schien, gleichzeitig mit der Geburt des normalen Wasserstoffatoms, war tatsächlich der Tod des ersteren; es gab nun keinen Zweifel mehr, daß die Zeit im Antimaterie-Universum rückwärts ablief, und mit ihr der Entropiegradient, da das eine die Funktion des anderen war. Das Konzept war natürlich alt – so alt, daß Amalfi Schwierigkei ten hatte, sich zu erinnern, wann in seiner Lebenszeit er es kennengelernt und wieder vergessen hatte. Seine Wiederbele bung durch die Hevier kam ihm zuerst als ein unseriöser Anachronismus vor, lediglich geeignet, die eigentliche Arbeit praktisch denkender Männer aufzuhalten. Besonders gering schätzig dachte er von der Idee eines Universums, in dem negative Entropie ein Operationsprinzip sein könnte; unter solchen Umständen, erklärte sein rostig knarrendes Gedächtnis, würden Ursache und Wirkung nicht einmal die rohen statisti schen Assoziationen erhalten bleiben, die ihnen im erfahrenen Universum zugestanden wurden; Energie würde sich akkumulie ren, Ereignisse würden sich ungeschehen machen, Wasser würde bergauf fließen, alte Männer würden aus der Erde in ihre Existenz wanken und ihren uneinträglichen Weg des Verlernens zurück in die Leiber ihrer Mütter nehmen. »Das tun sie in jedem Fall«, sagte Gifford Bonner nachsichtig. »Aber tatsächlich finde ich nicht, daß es so paradox ist, Amalfi. Beide Universen können als im Ablauf begriffen gesehen werden, als dem Ende zugehend und mit jeder Transaktion Energie verlierend. Wahrscheinlich drehen sie sich nur in entgegenge setzten Richtungen, wie zwei Mühlsteine. Obwohl die zwei Pfeile der Zeit in verschiedene Richtungen zu zeigen scheinen, zeigen
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sie wahrscheinlich beide bergab. Ich sehe beide als vierdimen sionale Kontinuen, und unter diesem Gesichtspunkt sind beide völlig statisch.« »Was uns zu der kritischen Frage der Nähe bringt«, sagte Jake. »Offensichtlich sind diese zwei vierdimensionalen Kontinuen eng miteinander verwandt, wie die Doppelereignisse, die die Hevier beobachteten, klar erkennen lassen. Das bedeutet nach meiner Vermutung, daß wir von insgesamt wenigstens sechzehn Dimensionen ausgehen müssen, um das ganze System zu erfassen. Das ist in sich selbst keine besondere Überraschung; die eigentliche Überraschung liegt darin, daß die zwei Kontinuen sich einander annähern. Ich pflichte Miramon bei, daß die Beobachtungen seiner Leute nicht anders interpretiert werden können. Die Tatsache, daß auch die Gravitation an den zwei Universen unter entgegengesetzten Vorzeichen stehen muß, scheint sie auseinandergehalten zu haben, aber diese Absto ßung oder dieser Druck oder wie immer man es nennen will, läßt offenbar stetig nach. Irgendwann in der nahen Zukunft wird sie auf Null sinken, und dann wird es eine Punkt-für-Punkt-Kollision zwischen den zwei Universen geben.« »Und es ist schwer vorstellbar, wie irgendein physikalisches System die Energie, die dabei freigesetzt werden wird, überstehen könnte«, sagte Dr. Schloss. »Der Monoblock, wenn er je existierte, war im Vergleich damit nur ein nasser Knall frosch.« »Es ist durchaus möglich, daß eine rationale Kosmologie in ihrem Rahmen alle drei Ereignisse wird unterbringen müssen«, sagte Gifford Bonner. »Den Monoblock, den Hitzetod und dieses Ding – dieses Ereignis, das in die Mitte zwischen die zwei zu fallen scheint. Seltsam; es gibt eine Anzahl von Mythen und frühen philosophischen Überlegungen, die einen solchen Bruch in der Mitte der Existenzspanne kennen. Giordano Bruno, der erste Relativist, nannte ihn die Periode der Zwischenzerstörung, und ein Landsmann von ihm namens Vico entwickelte die vielleicht erste zyklische Theorie in der Geschichte der Menschheit.
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Und in der skandinavischen Mythologie gibt es ein dem Bruch vergleichbares Phänomen, das die ›Ginnunga-Lücke‹ genannt wurde. Aber ich frage mich, Doktor Schloss, ob die Zerstörung wirklich so total sein wird, wie Sie meinen. Ich bin kein Physiker, aber wenn diese zwei Universen einander in jedem Punkt entgegengesetzt sind, dann kann das Resultat sicherlich nicht nur eine allgemeine Transformation der Materie beider Seiten in Energie sein, nicht wahr? Ich denke, es wird auch Energie in Materie verwandelt, und in einem ebenso großen Ausmaß, worauf die Gravitationskräfte wieder ins Spiel kommen werden, und die zwei Universen, nachdem sie einander durchdrungen und sozusagen die Hüte vertauscht haben, sich erneut voneinander entfernen werden. Oder habe ich etwas Wesentli ches übersehen?« »Ich bin nicht sicher, daß das Argument so elegant ist, wie es auf den ersten Blick erscheint«, sagte Retma. »Ob es überhaupt haltbar ist, wird erst Doktor Schlo ss’ mathematische Analyse erweisen. Einstweilen kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob dieser angenommene Zyklus Entstehung-ZwischenzerstörungZerstörung wirklich zyklisch ist. Wenn er es wirklich ist, wie verträgt sich damit, was wir beobachtet haben? Das legt doch die Annahme eines langsamen, beinahe statischen Umwand lungsprozesses nahe, der mit dieser Theorie kaum zu vereinba ren wäre.« »Nun, das ist in diesem Stadium schwer zu beantworten«, sagte Jake. »Wir müssen erst die Transformationsgleichungen erarbeiten.« »Eins ist jedenfalls klar«, grollte Amalfi. »Und das ist, daß niemand da sein wird, um sich über die genauen Ursachen und Resultate der Kollision den Kopf zu zerbrechen, sobald sie stattgefunden hat. Und der Prozeß scheint mit einer Geschwin digkeit auf uns zuzukommen, daß sich die Frage erhebt, ob wir wirklich etwas Nützliches tun können, oder ob wir besser täten, all diese Zeit mit Kartenspielen zu verbringen.«
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»Das«, sagte Miramon, »ist genau der Punkt, über den wir am wenigsten wissen. Mir will sogar scheinen, daß wir gar nichts Konkretes darüber wissen.« »Mister Miramon…«, meldete sich Web Hazletons Stimme schüchtern aus dem Hintergrund und verstummte gleich wieder. Offensichtlich erwartete er, daß man ihn an sein Versprechen erinnern würde, den Mund zu halten und sich nicht einzumi schen, aber es war klar, daß er in diesem Moment nichts unterbrach; seine Stimme hatte nur ein ratlose Stille unterbro chen. »Sag, was du wissen willst, Web«, sagte Amalfi. »Nun, ich habe nur gedacht. Mister Miramon kam hierher, weil er jemand suchte, der ihm helfen könnte, etwas zu tun, das er allein nicht tun kann. Nun denkt er, daß wir es auch nicht können. Aber was war es?« »Er sagte gerade, daß er es nicht weiß«, antwortete Amalfi. »Das ist nicht, was ich meine«, sagte Web zögernd. »Ich meine, was möchte er tun, selbst wenn er nicht weiß, wie? Selbst wenn es unmöglich ist?« »Es gibt viele Experimente, die ausgeführt werden sollten, wenn wir nur wüßten, wie wir sie vorbereiten müssen«, sagte Miramon. »Vor allem aber sollten wir ein genaueres Datum für die Katastrophe haben; die ›nahe Zukunft‹ ist unter diesen Bedingungen ein unbefriedigender Begriff, ein beinahe so formloses Ziel wie ›irgendwann‹. Aber selbst darauf eine Antwort zu finden, scheint hoffnungslos.« »Warum?« fragte Amalfi. »Welche Daten brauchen Sie für die Berechnungen? Haben wir die Daten, so können die Stadtväter die Berechnungen machen. Sie können jede mathematische Operation ausführen, und in tausend Jahren habe ich noch nie erlebt, daß sie mich länger als zwei oder drei Minuten auf die Lösung warten ließen.« »Ich erinnere mich an Ihre Stadtväter«, sagte Miramon mit einer kurzen, ironischen Bewegung seiner Augenbrauen, »aber die wichtigste Vorbedingung, die hier erfüllt werden müßte, wäre
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eine präzise Bestimmung der Energieebene des anderen Universums.« »Nun, das sollte nicht so sehr schwierig sein«, meinte Dr. Schloss. »Das kann nichts als eine Transformation der Energie ebene unseres eigenen Universums sein. Der Bürgermeister hat recht, die Stadtväter könnten Ihnen diese Antwort geben, bevor Sie mit der Darstellung des Problems fertig sein würden; t-tauTransformationen sind das theoretische Fundament des überlichtschnellen Raumflugs – ich bin erstaunt, daß es Ihnen gelungen ist, ohne sie auszukommen.« »Nicht doch«, sagte Jake. »Zweifellos gelten die t-tauRelationen auf beiden Seiten der Barriere, aber Sie haben es hier mit sechzehn Dimensionen zu tun; entlang welcher Achse wollen Sie die Kongruenz herstellen? Wollen Sie davon ausgehen, daß tZeit und tau-Zeit einheitlich auf alle sechzehn Achsen anwendbar sind? Das können Sie nicht tun, es sei denn, Sie sind bereit, das Gesamtsystem in eine solche Rechnung einzubeziehen; das dürfte hoffnungslos sein. Da könnten Sie genausogut die Stadtväter beauftragen, Ihnen eine Endzahl für Pi zu geben.« »Ich bin korrigiert«, sagte Dr. Schloss in einem Ton, der zwischen Humor und Verlegenheit schwankte. »Sie haben ganz recht, Miramon; es gibt hier eine Diskontinuität, die wir mit unserer Theorie nicht fassen können. Wie unelegant.« »Eleganz kann warten«, sagte Amalfi. »Warum sollte es so unmöglich sein, eine Energieebenenmessung von der anderen Seite zu erhalten? Doktor Schloss, Ihre Forschungsgruppe beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen der Antimaterie, und Sie sprachen von der Hoffnung, einen Gegenstand aus Antimaterie herauszustellen. Könnten wir ein solches Ding nicht als eine Forschungssonde zur anderen Seite schicken?« »Nein. Sie vergessen, daß ein solches Objekt nicht auf der anderen Seite sein würde – es würde auf unserer Seite, in unserem Kontinuum sein. Keine Information, die wir von ihm bekämen, würde uns etwas über ein Universum sagen, in dem Antimaterie normal ist; wir würden nur erfahren, wie Antimaterie sich in unserem Universum verhält.«
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Nach einem Moment fügte Dr. Schloss nachdenklich hinzu: »Und außerdem würde das Projekt kaum in weniger als fünfzig Jahren zu verwirklichen sein. Ich wäre eher geneigt, zu sagen, daß es hundert dauern würde; unter den Umständen würde ich auch lieber Karten spielen.« »Nun, ich nicht«, sagte Jake unerwartet. »So schwierig das Problem ist, es müßte eine Art von Sonde geben, die wir über die Diskontinuität hinausstrecken könnten. Natürlich wäre das Antimaterie-Objekt völlig ungeeignet, genauso wie jeder andere materielle Gegenstand. Aber die Beobachtung und Deutung von Phänomenen über weite Entfernungen und trotz Schwierigkeiten ist mein Fachgebiet. Ich denke, wir sollten dies nicht als ein unlösbares Problem ansehen. Schloss, würden Sie bereit sein, eine Weile mit mir daran zu arbeiten? Wir zwei könnten vielleicht ein Instrument entwickeln und die Botschaft empfangen. Nicht daß ich Ihnen Hoffnungen machen will, Miramon, aber…« »…eine Hoffnung ist es doch«, sagte Miramon mit leuchtenden Augen. »Nun höre ich von Ihnen, was ich zu hören hoffte. Dies ist die Stimme der Erde, wie ich sie in Erinnerung habe. Wir werden Ihnen in jeder nur möglichen Weise helfen. Wir werden Ihnen unseren Planeten zur Verfügung stellen. Aber beginnen Sie; das ist alles, was wir erbitten.« Amalfi sammelte die Zustimmung der Augen um den Karten tisch ein. Was er an Einverständnis von den Zuhörern auf der Neuen Erde brauchte, konnte er der Stille im Empfangsgerät entnehmen. »Ich glaube«, sagte er bedächtig, »daß wir bereits begonnen haben.«
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Fabr-Suithe Es war heiß im grellen Nachmittagslicht des großen CepheidenSterns, um den der Planet jetzt im respektvollen Abstand von fünfunddreißig astronomischen Einheiten kreiste – der fünfund dreißigfachen Entfernung der alten Erde von der Sonne. Aus dieser Distanz war der veränderliche Riesenstern am Gipfelpunkt seines achttägigen Helligkeitszyklus gerade noch zu ertragen; am Tiefpunkt des Zyklus, wenn die Strahlung des Sterns auf einen Faktor von 25 gesunken war, wurde es auf He kalt genug, den Wintermantel aus dem Schrank zu holen. Das Ganze war keine ideale Situation für einen überwiegend landwirtschaftlichen Planeten, aber die Hevier erwarteten nicht, für die Dauer einer Wachstumssaison in dieser Nachbarschaft zu bleiben. Web und Estelle lagen im langen Gras eines Hügels unter dem heißen Blick des angeschwollenen Sterns und kamen langsam wieder zu Atem. Besonders Web war froh über die Ruhepause. Der Morgen hatte mit einer Erkundung der Stadt Fabr-Suithe begonnen, einem Monument der Hevier für ihre eigene Vergangenheit, das sie zum geisteswissenschaftlichen Zentrum ihres Planeten ausgebaut hatten. Bisher war es der einzige Ort auf He, den sie mit Erlaubnis der Hevier und ihrer eigenen Leute auf eigene Faust kennenlernen durften. An diesem Morgen hatte die köstliche Freiheit jedoch eine unerwartete, wenn auch logische Erklärung gefunden: Sie hatten entdeckt, daß FabrSuithe eine der wenigen Städte auf He war, wo auch die einheimischen Kinder und Jugendlichen nahezu unbeschränkte Freiheit von Beaufsichtigung und Reglementierung genossen. Anderswo gab es zu viele Maschinen und Anlagen, die für das
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Klima und das Leben des Planeten wichtig waren; die Hevier konnten nicht riskieren, daß spielende Kinder in Gefahr gerieten oder übermütige Halbwüchsige Schäden anrichteten. Und in den ländlichen Bezirken konnte man ihnen nicht viele Freiheiten einräumen, weil bei dem herrschenden Menschenmangel auf die Mitarbeit selbst Sechs und Siebenjähriger nicht verzichtet werden konnte. * Web und Estelle hatten zum Besuch der Stadt die chitonähnli che einheimische Kleidung angelegt, aber die jungen Hevier brauchten nicht lange, um diese Verkleidung zu durchschauen, da Web und Estelle nur ein paar zufällige Brocken ihrer Sprache kannten. Diese Sprachbarriere gab es nicht nur auf He. Mit der Verbreitung des Menschen über die Galaxis waren überall relativ isolierte Bevölkerungsgruppen entstanden, die im Laufe der Jahrhunderte selbständige Dialekte und eigene Mischsprachen entwickelt hatten, die anderswo nicht mehr verstanden wurden. Zwar beherrschten viele erwachsene Hevier die interstellare Handels- und Verkehrssprache Interlingua – auch sie ein Mischmasch, das sich aus den wichtigsten Sprachen der alten Erde entwickelt hatte –, aber die Jugendlichen kannten bestenfalls ein paar Wörter. In diesem Fall erwiesen sich die Verständigungsschwierigkeiten jedoch auch als ein Segen, denn sie machten jede ausführliche Befragung der zwei Fremdlinge über ihre eigene Welt und Kultur unmöglich. Statt dessen fanden sich Web und Estelle bald in ein kompliziertes Fangspiel namens Matrex verwickelt, das wie eine Mischung von Räuber und Gendarm und Dame war, sich aber dreidimensional abspielte, weil es in einem zwölfstöckigen Gebäude mit transparenten Böden stattfand, wo jeder immer die Positionen der anderen Spieler sehen konnte. Außer Treppen gab es strategisch plazierte Schächte mit Leitern und Gleitstangen, was schnellen Etagen wechsel ermöglichte, und Web hatte bald den Verdacht, daß das Gebäude entweder für das Spiel entworfen oder ganz für seine Zwecke freigemacht worden war, denn die transparenten Böden
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waren liniert und eingeteilt, und der Bau schien nichts zu enthalten, was irgendeinem anderen Zweck dienen könnte. Web hatte sich sofort für das Spiel begeistert, aber weil er Schwierigkeiten hatte, schnell und ohne langes Überlegen nach den Regeln zu handeln, war er gew öhnlich unter den ersten Spielern, die ausscheiden mußten. Estelle dagegen vermochte sich so rasch anzupassen, daß es nur eine halbe Stunde dauerte, bis ihre langbeinige, schlaksige Gestalt, so busen- und hüftenlos wie die der Jungen, sich problemlos in das ständig wechselnde Kaleidoskop der rennenden Figuren einfügte. Als der Mittag kam, begrüßten Webs schnaufende Lungen und sein angeschlagenes Selbstgefühl die Gelegenheit, aus diesem verzwickten Gebäude und der ganzen Stadt in die heiße Stille der umgebenden Hügel zu entkommen. »Sie sind nett; ich mag sie«, sagte Estelle, während sie sich über eine birnenförmige, grüne Melone hermachte, die einer der Hevier ihr gegeben hatte, offenbar als Preis. Beim ersten Biß gab es ein leises Zischen, und die Luft um sie her wurde von einem so überwältigend würzigen Duft durchzogen, daß Estelle fünfmal in rascher Folge niesen mußte. Web fing an zu lachen, aber seine Schadenfreude endete in einem eigenen explosiven Niesen. »Sie mögen uns«, sagte er, als er fertig war und seine Augen wischte. »Du bist so gut in ihrem Spiel, daß sie dir eine Niespulverbombe gegeben haben, damit du es nicht weiterspie len kannst.« Der Geruch verwehte, und Estelle brach die Melone auf. Nichts geschah. Der Geruch war nun erträglich, wurde zusehends schwächer und appetitlicher, und nach einer kleinen Weile fühlte sie, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Sie gab Web die Hälfte, und er biß vorsichtig in das weiße Fruchtfleisch. Das Resultat war so, daß er die Augen schlo ß; es schmeckte wie gefrorene Musik. Sie aßen in ehrfürchtiger Stille, nagten die Schale aus und leckten ihre Finger ab. »Mmm, das war gut«, sagte Web, als er sich ins Gras zurückfallen ließ. »Ich wollte, wir hätten noch ein paar von den Dingern.«
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»Ich wollte, wir könnten besser mit ihnen reden«, sagte Estelle. »Ich auch; aber ich habe keine Lust, schnell eine neue Sprache zu lernen«, sagte Web träge. »Stell dir vor, fünfhundert Stunden Büffelei, bis du genug kannst, um dich über alles zu unterhal ten.« »Mit Hypnopädie würde es leichter gehen«, sagte Estelle. »Damit kannst du eine fremde Sprache nicht wirklich lernen. Nur Tatsachen, Zahlen, oder die dreihundertfünfzig geläufigsten Wörter. Aber danach kannst du noch keinen vernünftigen Satz bilden. Für das mußt du einen Tutor haben. Und die ganze Zeit unter Hypnose; das wäre nichts für mich.« Ein seltsam schlappendes Geräusch vom Hügel hinter ihnen ließ ihn auffahren. Er wußte gut genug, daß es auf He keine gefährlichen Tiere mehr gab, aber in einer fremden Umgebung konnte man nie wissen. Im Nu war er auf Händen und Knien. Estelle lachte, ohne auch nur die Augen zu öffnen. »Sei nicht blöd«, sagte sie. »Das ist blo ß Ernest.« Der Svengali buckelte sich durch das hohe Gras, was ihm sichtlich Mühe bereitete. Er schenkte Web nur einen kurzen Blick, dann richtete er seine riesigen Augen mit einem Ausdruck enttäuschter Treue auf Estelle. »Wir könnten uns hier für einen Kurs anmelden«, sagte Estelle. »Hypnopädie? Wozu? Außerdem würde meine Gro ßmutter es nicht erlauben.« »Aber sie ist nicht da«, sagte Estelle. Web pflückte einen bambusähnlichen Grashalm und begann gedankenvoll auf dem holzigen unteren Ende zu kauen. »Das ist wahr, aber sie wird bald kommen. Und sie ist bei der Schulbe hörde als Beraterin. Ich kann mich gut erinnern, wie sie mit meinem Vater gestritten hat, weil unser Lehrplan ihr nicht paßte. ›Warum die Kinder mit diesen Unmengen von Mathematik, Sprachen und Geschichte belasten?‹ sagte sie immer. ›Was nützt das einer Generation, die hinausgehen und einen jungfräulichen Planeten urbar machen muß?‹ Und mein armer
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Vater pflegte ihr dann von den Werten der Kultur zu erz ählen, die nicht verlorengehen dürften.« »Ja, ich habe gehört, daß sie kommen wird«, sagte Estelle mißmutig. »Seit der Bürgermeister und die anderen sich entschlossen haben, auf He zu bleiben, brauchen sie jemanden, der sich um uns kümmert. Sie glauben nicht, daß wir alt genug sind, um ohne Aufsicht herumzulaufen.« Inzwischen hatte der Svengali eine der Melonenrinden entdeckt und entsandte vorsichtig einen Ausläufer. Dann flo ß der Rest von Ernest in diesen Arm und ballte sich um die Rinde, bis nichts mehr von ihr zu sehen war. Unglücklicherweise war er nicht intelligent genug, die Gefahren des Abhangs richtig einzuschät zen, und einen Augenblick später rollte er hilflos hügelab. Als er kollerte, stieß er ein ängstliches Pfeifen aus, wollte seine Beute aber nicht loslassen; erst am Fuß des Hanges kam er in einem kleinen Bach zur Ruhe und wurde sanft davongetragen, noch immer ängstlich pfeifend. »Da geht er hin«, sagte Web. »Ich kann nicht verstehen, was du an einem so dummen Tier findest. Dieser Polyp ist nichts als ein lästiges Anhängsel. Jetzt kannst du ihm nachlaufen und ihn zurückholen.« »Ich mag ihn eben«, sagte Estelle. »Außerdem ist er nicht so dumm, wie du denkst. Er wird selbst den Weg zurückfinden.« Sie erhob sich auf einen Ellbogen und sah ihn an. »Weißt du, was deine Großmutter tun wird, wenn sie kommt?« »Gouvernante spielen, nehme ich an.« »Denkst du«, sagte Estelle überlegen. »Ich glaube, es steckt mehr dahinter. Sie wird uns nach Hause bringen.« »Das w ürde sie nicht tun!« »Und ob. Deshalb lassen sie sie kommen. Sie sagen sich, daß es viel praktischer sein würde, uns vom Hals zu haben. Wetten?« »Das ist nicht praktisch«, protestierte Web. »Das ist Verrat!«
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»Natürlich wäre es Verrat«, sagte Estelle. »Aber die Idee kam mir gerade, als ich darüber nachdachte, und wenn du weißt, wie Erwachsene denken, dann ist sie irgendwie logisch.« * »Was in aller Welt hast du dir dabei gedacht, John?« zürnte Dee. »Woher weißt du, was sie hier in Hypnopädie lehren? Du gehst doch sonst nicht auf jeden verrückten Einfall ein, und wenn Estelle sich einbildet, sie müsse die Sprache dieser Leute lernen, dann muß man ihr den Kopf zurechtsetzen. Und überhaupt, wie kannst du Kinder auf einem fremden Planeten herumlaufen lassen, ohne zu wissen, was diese Wilden ihnen antun könnten?« »Sie haben uns nichts getan«, sagte Web. »Sie sind keine Wilden«, sagte Amalfi. »Ich weiß, was sie sind. Ich war das erstemal hier, vergiß das nicht. Und ich finde, daß es unverantwortlicher Leichtsinn ist, Wilde mit dem Verstand eines Kindes herumspielen zu lassen. Oder mit irgendeinem zivilisierten Verstand.« »Wie erkennst du einen zivilisierten Verstand?« fragte Amalfi. Aber er wußte, daß es eine fruchtlose Frage war. Er sah, daß sie trotz ihres noch jugendlichen Aussehens alt wurde, und wie kann man einer Frau das sagen? Die Hevier und die Kinder näherten sich dem Ende der Welt als einer neuen Erfahrung, aber Dee, Amalfi und Mark und die ganze Gründergeneration der Neuen Erde näherten sich ihm mit der Einstellung des Alters, mit keinem anderen Gedanken als dem, neue Erfahrungen abzuwehren und sicher in der Welt der bekannten Tatsachen auszuharren. Er selbst hatte nicht akzeptieren wollen, daß das Ende der Welt bevorstand, und auch jetzt glaubte nur sein Verstand daran, nicht sein von den Gefühlen tieferer Bewußtseinsschichten bestimmtes Selbst; Dee wollte die Kinder nicht eine neue Sprache lernen lassen, konnte nicht ertragen, daß sie auf einem neuen Planeten neue Erfahrungen sammelten, von denen sie selbst nichts wissen wollte. Sie zeigten alle die Symptome des Alters, nichts anders als ihre Kultur. Die Drogen
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wirkten nach wie vor; körperlich war sie noch immer jung, aber das Alter war nichtsdestoweniger in ihnen. Auf lange Sicht konnte man die Zeit und den Entropiegradienten nicht betrügen, und es gab keine andere Hoffnung als die, seine Hoffnung auf die Hevier und die Jungen zu setzen. Der physiologische Stillstand konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Dee und er selbst und alle ihre Altersgenossen geistig verbraucht waren. Es gab nur zwei Wege, dem Tod entgegenzugehen. Entweder man akzeptiert, daß man sterben wird, oder man weigert sich, es zu glauben. Zu leugnen, daß das Problem existiert, ist kindisch; einer solchen Haltung fehlt die Einsicht, die Reife ist. Aber es gab auch eine Beweglichkeit des Urteils, eine Anpas sungsfähigkeit, die erhalten bleiben muß, wenn die Reife nicht in unfruchtbarer Sterilität erstarren und in seniler Abstumpfung enden soll; und wenn Kinder und Wilde darin flexibler sind als man selbst, muß man sehen, daß die Stunde für einen selbst geschlagen hat, und freiwillig gehen. Andernfalls läuft man Gefahr, abgeschrieben und – im übertragenen Sinn – lebendig begraben zu werden. Dee hatte es natürlich nicht für der Mühe wert gehalten, auf seine Frage zu antworten; sie verharrte einfach in grimmiger Uneinsichtigkeit. Der Wortwechsel war in halblautem Ton geführt worden, denn am anderen Ende des großen Beratungsraums war eine Diskussion über die Menge der Gammastrahlung entbrannt, die bei der gegenseitigen Durchdringung der beiden Universen freigesetzt würde, und den Grad ihrer Konvertibilität in jede der beiden resultierenden Materieformen. Dee war in die Versamm lung eingedrungen, um Web und Estelle zu finden, die als stumme Teilnehmer solcher Sitzungen geduldet wurden. »Diese Hypothese befriedigt mich ganz und gar nicht«, sagte Retma eben. »Doktor Schloss geht davon aus, daß ein wesentli cher Teil der Energie als reiner Lärm in Form von Schallwellen neutralisiert wird, als ob der Zusammensto ß der zwei Universen etwa dem Aneinanderschlagen zweier Becken analog wäre. Um diese Annahme zu akzeptieren, müßte man an die Übertragbar keit der Planckschen Konstante auf diese Situation glauben, aber
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wir haben nicht den Schatten eines Beweises dafür. Man kann nicht einen Entropiegradienten rechtwinklig zu einer Reaktion postulieren, die ihrerseits mit Entropien gegensätzlicher Natur auf jeder Seite der Gleichung arbeitet.« »Aber warum nicht?« widersprach Dr. Schloss. »Das ist der Sinn unserer Methode: eine Wahl der Achsen für solche Operationen zu ermöglichen. Wenn wir eine solche Wahl haben, ist der Rest blo ß eine einfache Übung in projektiver Geometrie.« »Das leugne ich nicht«, sagte Retma. »Ich bezweifle nur die Anwendbarkeit der Methode. Wir haben keine Daten, die nahelegen würden, daß eine Behandlung unseres Problems mit dieser Methode mehr als eine theoretische Übung sein würde. Ob es eine einfache oder eine schwierige Übung sein würde, ist unerheblich.« »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen«, sagte Dee. »Web, Estelle, kommt bitte mit mir; wir stören hier nur, und ich habe mit euch zu reden. Es gibt eine Menge für uns zu tun.« Ihr durchdringendes Bühnenflüstern schnitt schärfer durch die Diskussion, als jede Rede im normalen Konversationston es hätte tun können. Dr. Schloss reagierte mit einem schmerzlichen Verziehen seines Gesichts. Die Mienen der Hevier zeigten höfliche Ausdruckslosigkeit; dann wandte Miramon sich um und blickte zuerst zu Dee, dann mit einer leicht gehobenen Braue zu Amalfi. Amalfi nickte, ein wenig verlegen. »Müssen wir, Großmutter?« protestierte Web. »Ich meine, alles dies ist ja, wozu wir hier sind. Und Estelle ist gut in Mathematik; manchmal lassen Retma und Doktor Schloss sie etwas ausrech nen, wenn es nicht zu schwierig ist.« Dee dachte darüber nach. »Nun«, meinte sie, »ich denke, es kann nicht viel schaden.« Dies war genau die falsche Antwort, obwohl Web es nicht wissen konnte. Er wußte nicht, wie Amalfi durch direkte Erinnerungen sehr gut wußte, daß Frauen auf He einmal das Dasein von Sklaven geführt hatten, notwendig zur Erhaltung der Art und als Arbeitskräfte, aber sonst verachtet und von allen Entscheidungen ausgeschlossen. Darum konnte er nicht sehen,
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daß die Frauen der Hevier ihren Männern noch heute untertänig und in einer Situation wie dieser alles andere als willkommen waren. Doch sah Amalfi keine Gelegenheit, Web und Estelle zu erklären, warum sie jetzt gehen mußten. Die Erklärung würde mehr Wissen über Dees Person erfordern, als die Kinder hatten; sie würden zum Beispiel wissen müssen, daß die Frauen von He zwar im familiären Bereich emanzipiert waren, aber keine bürgerlichen Rechte hatten und keine öffentlichen Ämter bekleiden durften, und daß dieser Unterschied für Dee eine hohe emotionale Belastung darstellte – dies um so mehr, als die Hevierinnen selbst mit ihrem Los offensichtlich recht zufrieden waren. Miramon ordnete seine Papiere, stand auf und ging mit ernstem Gesicht auf sie zu. Dee beobachtete seine Annäherung mit einem Ausdruck von resolutem Mißtrauen, mit dem zu sympathisieren Amalfi nicht umhin konnte, so komisch er es fand. »Wir sind erfreut, Sie bei uns zu haben, Mrs. Hazleton«, sagte Miramon mit einer leichten Verneigung seines Kopfes. »Viel von dem, was wir heute sind, verdanken wir Ihnen. Ich hoffe, Sie werden uns erlauben, unsere Dankbarkeit auszudrücken; meine Frau und ihre Damen warten, um Ihnen die Honneurs zu machen.« »Danke, aber ich wollte – ich hatte wirklich nicht die Absicht…« Sie brach ab. Offensichtlich fand sie es unmöglich, in diesem kurzen Augenblick die richtigen Worte zu finden, mit denen sie dieser höflichen, aber unmißverständlichen Aufforderung begegnen könnte. Die sichere Schlagfertigkeit; die sie vor so vielen Jahren gehabt hatte, als sie, ob sie sich dessen bewußt war oder nicht, eine andere Person gewesen war, war ihr abhanden gekommen. Damals war sie eine der Vorkämpferinnen für die Emanzipation der Frauen von He gewesen, und Amalfi hatte ihre tatkräftige Hilfe begrüßt, besonders weil sie sich in einem blutigen Machtkampf auf dem Planeten als wesentlich erwiesen hatte. Dees erstes Zusammentreffen mit den Hevierinnen war in eine Zeit gefallen, wo die letzteren als
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stumpfsinnige, stinkende Kreaturen niedrige Arbeiten verrichtet hatten, fern von aller Bildung, als Haus- und Feldsklaven benötigt, aber sonst minderwertige Wesen, denen man nicht einmal die Erziehung der Söhne anvertraut hatte. Etwas in Miramons Anrede erinnerte sie offenbar an jene Tage, gab ihr vielleicht sogar das Gefühl, in seinen Augen nicht mehr als eine solche Unperson zu sein; doch der Zeitabstand war zu gro ß, und die Höflichkeit zu unangreifbar, als daß sie aus diesen Gründen offen hätte Ansto ß nehmen können. Sie blickte schnell zu Amalfi, aber seine Miene blieb unverändert; sie kannte ihn gut genug, um darin zu lesen, daß es aus dieser Richtung keine Hilfe geben würde. »Danke«, sagte sie hilflos. »Web, Estelle, es ist Zeit, daß wir gehen.« Web wandte sich wie hilfesuchend an Estelle, in einer unbe wußten Parodie von Dees unausgesprochener Bitte an Amalfi, aber Estelle stand bereits auf, ein amüsiertes und ein wenig geringschätziges Lächeln im Gesicht. Amalfi konnte sehen, daß Dee mit diesem Mädchen Schwierigkeiten haben würde. Was Web anging, so gab es keinen Zweifel, daß er verliebt war, also bedurfte er keiner besonderen Behandlung, solange er in Estelles Nähe bleiben konnte. »Was ich vorschlage, ist dies«, sagte die Stimme von Estelies Vater aus dem Übertragungslautsprecher. »Nehmen wir einmal an, daß es bis zum Augenblick des Kontakts keine thermodyna mischen Übergänge zwischen den zwei Universen gibt. Wenn das der Fall ist, dann gibt es auch keine Möglichkeit zur Anwendung des Symmetriebegriffs, es sei denn, wir postulieren, daß der Übergangspunkt tatsächlich ein Moment vollständiger Neutralität ist, gleichgültig wie explosiv er jemandem auf der einen oder der anderen Seite des Gleichheitszeichens erscheint. Das ist eine vernünftige Annahme, denke ich, und sie würde uns in die Lage versetzen, uns von der Planckschen Konstante zu trennen, die – und darin pflichte ich Retma bei – in einer Situation wie dieser nur ein Störfaktor ist. Statt dessen könnten wir mit der alten
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Neutrino-Antineutrino-Gravitationstheorie arbeiten. Sie ist genausogut quantifizierbar.« »Nicht mit den Begriffen der Grebe-Gleichungen«, sagte Dr. Schloss. »Aber das ist genau der Punkt, Schloss«, sagte Jake aufgeregt. »Die Grebe-Gleichungen sind auf unser Universum anwendbar, und wahrscheinlich sind sie auch auf die andere Seite anwend bar, aber nicht für die wechselseitige Durchdringung. Was wir brauchen, ist eine Funktion, die das kann, oder aber eine Annahme, die zu den Tatsachen paßt und uns ganz von dem Problem des Übergangspunkts befreit. Wenn wir keine Funktion haben, die überall im Raum vollkommen neutral ist, machen wir automatisch eine Annahme, die auf ein echtes Niemandsland hinausläuft. Wir sind hier gezwungen, mit Null anzufangen.« Estelle blieb an der Tür stehen und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Papa«, sagte sie, »das ist wie mit der Quadratur des Kreises. Wenn ihr schon mit Null anfangen müßt, warum laßt ihr es nicht lieber ganz sein? Es läuft auf das gleiche hinaus.« »Komm jetzt«, sagte Dee. Die Tür schlo ß sich. Danach blieb es sehr lange still im Raum. »Sie lassen diesen Kindern zuviel Freiheit, Bürgermeister Amalfi«, sagte Miramon schließlich. »Warum tun Sie es? Es ist nicht gut für sie. Wenn Sie sie energischer zum Studium anhalten und mehr mit den Lehren und Erkenntnissen beschäfti gen würden, die sie als Erben unserer menschlichen Kultur brauchen – und es ist so leicht, sie dafür zu interessieren…« »Für uns ist es nicht mehr so leicht«, sagte Amalfi. »Wir sind älter als Sie; wir teilen nicht länger Ihre Vorliebe für Philosophie und das Wesen der Dinge. Es würde zu lange dauern, Ihnen zu erklären, wie wir zu diesem Zustand kamen. Wir haben jetzt über andere Dinge nachzudenken.« »Wenn das wahr ist«, sagte Miramon langsam, »dann sollten wir wirklich nicht mehr darüber hören. Andernfalls müßte ich
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Bedauern für Sie empfinden, und das darf nicht sein, oder alles wäre verloren.« »Nicht doch«, sagte Amalfi mit bemühtem Lächeln. »Nichts ist jemals so endgültig. Dies ist erst der Anfang vom Ende, und es kann noch viel geschehen.« »Und würde das Universum ewig währen, Bürgermeister Amalfi«, sagte Miramon, »ich könnte Sie nie ganz verstehen.« * Web und Estelle wußten nichts von dem bitteren Wortwechsel zwischen Amalfi und Hazleton, über Hunderte von Millionen Kilometern leeren Raums hinweg, als dessen Ergebnis Hazleton gezwungen war, seine Frau zurückzurufen, bevor sie die Hevier weiter herausfordern konnte; noch wußten sie genau, warum Dees Rückkehr auch ihre Rückkehr bedeuten mußte. Sie gehorchten stumm und mißmutig, wohl oder übel, und drückten so ihre Revolte gegen die Verrücktheiten der übermächtigen Erwachsenenlogik aus. In ihren Herzen verstanden sie, daß ihnen der erste große Wunsch, das erste wirkliche Abenteuer, nach dem sie verlangt hatten, verweigert worden war. Und die Zeit lief aus.
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Kreuzzug Jenes Gespräch war auch für Amalfi ungewöhnlich schmerzlich gewesen, trotz seiner jahrhundertelangen Erfahrung in Meinungsverschiedenheiten mit Hazleton, die, wenn es sich nicht umgehen ließ, gewöhnlich mit der erzwungenen Durchsetzung von Amalfis Vorstellungen geendet hatten. Was diesen Streit betraf, so wußte er nur zu gut, was ihn so schmerzlich gemacht hatte: die leidenschaftslose und fruchtlose herbstliche Affäre mit Dee. Daß er sie nun zu Mark heimgeschickt hatte, war eine sachliche Notwendigkeit gewesen, konnte aber zu leicht als ein Akt der Vergeltung gegen die verschmähte ehemalige Geliebte mißdeutet werden. Doch gab es so viel zu tun, daß er den Vorfall bald vergaß, nachdem Dee und die Kinder abgereist waren. Es sollte ihm jedoch nicht lange vergönnt sein, es zu vergessen – nur für die Dauer von drei Wochen. Die Diskussion über die bevorstehende Katastrophe war schließlich in ein Stadium eingetreten, wo es nicht länger zu vermeiden war, sich mit den konträren Entropiegradienten zu befassen. Zugleich hatte das Gespräch eine Abstraktionsebene erreicht, wo Worte allein als Informationsträger nicht mehr ausreichten. Dies hatte jene Teilnehmer, die in erster Linie Ingenieure oder Verwaltungsexperten oder – wie Miramon und Amalfi – beides waren, auf eine blo ße Statistenrolle verwiesen; so daß die Sitzungen nun in Retmas Arbeitszimmer verlegt worden waren. Amalfi und Gifford Bonner, der Philosoph, schlossen sich der Runde an, wann immer sie konnten, denn sie wußten nie, wann Retma, Dr. Schloss oder Jake aus dem
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luftleeren Raum der Theorie zurückkehren und etwas sagen mochten, das sie verstehen und gebrauchen konnten. Heute herrschte im Arbeitszimmer dicke Luft, als Amalfi hereinkam. Retma trug vor: »Das Problem, wie ich es sehe, ist, daß Zeit in unserer Erfahrung nicht rückläufig ist. Wir schreiben beispielsweise eine Diffusionsgleichung wie diese.« Er wandte sich zu seiner Tafel, dem ältesten und beliebtesten Forschungsinstrument der theoretischen Physiker aller Zeiten, und schrieb: d²G ______
dx²
d²G +
______
d²G +
dy²
______
dG = a²
dz²
_____
dt
Über Retmas Kopf war zu Jakes Information ein Übertragungs gerät installiert, dessen Fernsehauge auf die Wandtafel starrte. »In dieser Situation ist a-Quadrat eine reale Konstante, aussagefähig nur für eine zukünftige Zeit t, aber nicht für eine frühere Zeit t, weil der rückläufige Ausdruck divergiert.« »Eine seltsame Situation«, sagte Schloss. »Das würde bedeu ten, daß wir in jeder gegebenen thermodynamischen Situation bessere Informationen über die Zukunft als über die Vergangen heit haben. Das erinnert mich an eine alte Geschichte: Der Fußabdruck, den Robinson Crusoe am Strand seiner Insel sah, konnte seine Vergangenheit auf dieser Insel nicht verändern; aber er wußte, daß er seine Zukunft verändern würde. Und so ist es auch mit unserem Wissen über den Tod. Wir haben ihn nie erfahren, aber wir wissen, wie der Sand durch das Stundenglas rinnt. Im Antimaterie-Universum muß es andersherum sein – aber nur von unserem Gesichtspunkt aus; ein hypothetischer Beobachter, der unter seinen Gesetzen lebt und aus seiner Materie besteht, würde den Unterschied wahrscheinlich nicht bemerken.« »Können wir eine Gleichung schreiben, worin der rückläufige Ausdruck konvergiert?« sagte Jakes Stimme. »Eine, die darstellt,
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wie wir die Situation auf der anderen Seite sehen würden, wenn wir könnten? Wenn nicht, sehe ich keine Möglichkeit, Instrumen te zu entwickeln, die irgendeinen Unterschied ausmachen könnten.« »Es ist möglich«, sagte Retma. »Zum Beispiel so.« Er wandte sich wieder zur Wandtafel und schrieb mit quietschender Kreide: d²G
d²G
d²G
4�m
dG
______
______
______
______
______
ih
dt
dx²
+
dy²
+
=
dz²
»Aha«, sagte Schloss. »Indem Sie uns eine imaginäre statt einer realen Konstante geben. Aber Ihre zweite Gleichung ist kein Spiegel Ihrer ersten; Gleichheit ist nicht erhalten. Ihre erste Gleichung ist ein Ausgleichsprozeß, aber diese ist oszillierend. Sicherlich kann man nicht sagen, daß der Gradient auf der anderen Seite pulsiere!« »Gleichheit ist in diesen schwachen Reaktionen ohnehin nicht erhalten«, sagte Jake. »Aber ich denke, wir sollten den Einwand trotzdem gelten lassen. Wenn Gleichung zwei überhaupt etwas beschreibt, kann es nicht die andere Seite sein, sondern beide Seiten – das ganze System, Himmel und Holle, vorausgesetzt, daß es zyklisch ist, was wir noch nicht wissen. Noch sehe ich eine Möglichkeit, diesen Punkt zu überprüfen, handelt es sich doch um einen Prozeß auf einer Ebene, die nur Hypothesen zugänglich ist…« Die Tür wurde leise geöffnet, und ein junger Hevier winkte Amalfi zu. Amalfi stand ohne langes Zögern auf; er hatte der Diskussion nur mit Mühe folgen können, und obwohl er wußte, daß die meisten Probleme der Physik, die in der Vergangenheit ihre Erklärung gefunden hatten, in Marathonsitzungen wie diesen gelöst worden waren, war er vom Temperament her nicht für solch langwieriges Theoretisieren geschaffen. Er war ein Mann der Tat, des intuitiven, oft unreflektierten Handelns, der sich erst wohl fühlte, wenn etwas geschah.
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Diesmal brauchte er nicht lange zu warten. Sobald die Tür zu Retmas Arbeitszimmer geschlossen war, sagte der junge Hevier: »Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß, aber wir haben einen dringenden Ruf von der Neuen Erde empfangen. Es ist Bürger meister Hazleton, und er wünscht Sie zu sprechen.« »Was zum Teufel kann er wollen?« fragte sich Amalfi laut. Dann nickte er dem anderen zu. »Also gut; gehen wir.« * »Wo ist meine Frau?« fragte Hazleton ohne irgendwelche Vorrede. »Und mein Enkel, und Jakes Tochter? Und wo bist du in diesen letzten drei Wochen gewesen? Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich bin in Unruhe, und die Hevier haben mich zehnmal weiterverbunden, bevor sie mich endlich zu dir durchließen…« »Wovon redest du überhaupt, Mark?« sagte Amalfi. »Beruhige dich für einen Moment und sag mir, was das alles zu bedeuten hat.« »Das möchte ich von dir wissen. Also, fangen wir noch mal an. Wo ist Dee?« »Ich weiß es nicht«, sagte Amalfi geduldig. »Ich schickte sie vor drei Wochen nach Hause. Wenn du sie nicht finden kannst, ist es dein Problem.« »Sie ist nie hier angekommen.« »Nicht angekommen? Aber…« »Ja, aber. Das Rückholschiff ist bis heute nicht gelandet. Wir haben nie eine Nachricht von ihm erhalten. Es ist einfach verschwunden, mit Besatzung, Dee, den Kindern und allem. Ich habe mehr als einmal versucht, dich zu erreichen, um herauszu kriegen, ob das Schiff dort gestartet ist oder nicht. Nun höre ich, daß es seit drei Wochen unterwegs ist. Nun, wir wissen beide, was das bedeutet. Ich schlage vor, du unterbrichst sofort deine physikalischen Studien, John, und kommst auf dem schnellsten Weg hierher.«
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»Was kann ich tun?« sagte Amalfi. »Ich weiß nicht mehr über die Geschichte als du.« »Deine Ruhe möchte ich haben! Du kannst verdammt gut zurückkommen und mir aus diesem Schlamassel heraushelfen.« »Welchem Schlamassel?« »Was hast du die letzten drei Wochen gemacht, geschlafen?« schrie Hazleton. »Willst du mir erz ählen, daß du nicht gehört hast, was inzwischen passiert ist?« »Ich habe nichts gehört«, sagte Amalfi. »Und hör auf zu schreien. Was sollte das eben heißen: ›Wir wissen beide, was das bedeutet‹? Wenn du weißt, was passiert ist, warum unternimmst du dann nichts dagegen, statt hier die Leitungen zu blockieren? Du bist der Bürgermeister; ich habe meine eigene Arbeit.« »Ich werde ungefähr noch drei Tage Bürgermeister sein, wenn mein Glück anhält«, sagte Hazleton wütend. »Und du bist direkt verantwortlich, also steht es dir schlecht an, wenn du den Kopf in den Sand steckst. Jörn der Apostel ist vor zwei Wochen zum Kreuzzug aufgebrochen. Er hat jetzt eine Flotte; wo er sie auf getrieben hat, ist mir ein Rätsel. Seine Hauptmacht ist nicht in der Nähe der Neuen Erde, aber er ist trotzdem im Begriff, uns in sein Gottesreich einzugemeinden. Der ganze Planet wimmelt von kräftigen Bauernburschen mit fanatischen Mienen. Sie haben sich mit allem bewaffnet, was sie finden konnten – sogar mit demontierten Desintegratoren, wie wir sie für Tunnelbohrungen und dergleichen verwenden. Wenn sie zu mir kommen, werde ich sofort kapitulieren. Du weißt so gut wie ich, was diese Maschinen anrichten können, und die Bauern haben sie auf Traktoren montiert und fahren damit von Stadt zu Stadt. Ich werde nicht Zehntausende Menschenleben opfern, nur um meine Verwaltung zu retten. Wenn sie mich absetzen wollen, sollen sie ihren Willen haben.« »Und das ist meine Schuld? Ich habe dir gesagt, daß die Krieger Gottes gefährlich sind.« »Das hast du. Aber sie wären nie aufgestanden, wenn du und Miramon offen über eure Pläne gesprochen hättet, statt alles wie
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ein Staatsgeheimnis zu behandeln. Das hat Jörn den Vorwand geliefert; er verbreitet unter seinen Anhängern, daß ihr euch in das vorbestimmte Gottesgericht einmischt und ihre Aussichten auf die Erlösung gefährdet. Er hat einen Kreuzzug gegen die Hevier proklamiert, die er für die Anstifter dieser gottlosen Pläne zur Verhinderung des Weltuntergangs hält, und der Kreuzzug schließt die Neue Erde mit ein, weil wir mit den Heviern zusammenarbeiten…« Aus dem Lautsprecher drangen vier schwere, metallische Schläge – »Da – hast du das gehört?« sagte Hazleton. »Sie sind schon hier. Ich werde die Leitung so lange wie möglich offen lassen. Vielleicht merken sie es nicht…« Seine Stimme verstummte, und es kamen undefinierbare Hintergrundgeräusche. Amalfi beugte sich grimmig über den Tischlautsprecher und lauschte ange strengt. »Sünder Hazleton«, sagte eine junge und ängstlich klingende Stimme, »du bist überführt. Beim Wort Jörns, des Apostels, befehlen wir dir, uns zu folgen. Du wirst der Besserungsdisziplin unterworfen und Buße tun. Ergibst du dich freiwillig?« »Wenn ihr dieses Ding hier drinnen abfeuert«, sagte Hazletons Stimme laut, »wird womöglich das Gebäude einstürzen. Was könnte euch das nützen?« »Wir werden das Feuer nur eröffnen, wenn bewaffneter Widerstand gele istet wird«, sagte die andere Stimme, etwas selbstsicherer als zuvor. »Im übrigen sind wir bereit, als Krieger Gottes zu sterben.« »Und all die anderen Leute?« »Sünder Hazleton, wir drohen nicht«, sagte eine tiefere, ältere Stimme. »Wir glauben, daß in jedem etwas Gutes ist. Gott will, daß wir Seinen Auftrag erfüllen, und das werden wir tun. Gott will nicht, daß wir unnötig Menschenleben vernichten. Wir haben Geiseln, um dich zur Vernunft anzuhalten, Sünder Hazleton.« »Wo sind Sie?«
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»Im Gewahrsam der Krieger Gottes«, antwortete die tiefe Stimme. »Jörn, der Gesegnete, hat diese gottlose Welt mit einem cordon sanitaire umgeben. Wenn du unseren Anweisun gen folgst, wird der Frau und den Kindern nichts geschehen. Ich rate dir, Sünder Hazleton – he, zum Teufel, diese Leitung ist offen! Jody, schalte das Ding aus, und schnell! Mit wem hast du eben gesprochen, Sünder…?« Die Verbindung brach ab. Amalfi saß einen Moment benommen da. Er hatte zu viele Informationen auf einmal erhalten; und er war jetzt viel älter als in den alten, unruhigen Zeiten. Er hatte nie geglaubt, daß eine solche Situation wiederkehren würde – aber da war sie. Ein Kreuzzug gegen He? Nein, das war nicht wahrscheinlich. Jörn würde sich hüten, eine Welt anzugreifen, die ihm so geheimnisvoll erscheinen mußte; um so weniger, als er über keine regulären militärischen Streitkräfte verfügte. Aber die Neue Erde war sehr verwundbar. Es war ein logischer erster Schritt, daß Jörn seine Anhänger dort mobilisiert hatte. Und nun hatte er Dee und die Kinder. Es mußte etwas geschehen. * Das Wie war eine andere Sache. Er mußte ein Schiff zur Neuen Erde nehmen, aber es mußte ein Schiff sein, das sehr klein, sehr schnell und nicht leicht zu orten wäre. Carrel war auf He, und Carrel war der beste Pilot, den Amalfi kannte. »Können Sie das machen, Carrel? Das Risiko wird aus einer Anzahl von Kriegsschiffen, bestehen, die in verschiedenen Abständen und Umlaufbahnen die Neue Erde umkreisen. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen dort sind, welche Waffen sie haben und wie groß ihre Wachsamkeit ist…« »Nehmen wir das Schlimmste an«, sagte Carrel. »Sie haben immerhin das Rückholschiff abgefangen, und sie wußten nicht einmal, daß wir es ausgeschickt hatten. Ich glaube, ich kann es machen, wenn Sie mir das Manövrieren überlassen, so bald es
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kritisch wird; andernfalls würden Sie wahrscheinlich erwischt, unabhängig davon, wie klein das Schiff ist.« »Teufel nochmal!« Aber es gab keinen anderen Weg; Amalfi würde sich wenigstens zwei Tage lang Carrels verwirrenden Gewaltmanövern ausliefern müssen. Es würde hart für einen alten Mann sein, aber Carrel hatte recht, es war die einzige erfolgversprechende Methode. »In Ordnung«, sagte er. »Sorgen Sie nur dafür, daß ich noch am Leben bin, wenn wir landen.« Carrel grinste. »Ich habe noch nie eine Ladung eingebüßt«, sagte er. »Hauptsache, Sie sind gut angeschnallt. Wo wollen Sie landen?« Das war auch keine einfache Frage. Zuletzt entschied Amalfi sich für die Nachbarschaft der alten fliegenden Stadt. Dies war vielleicht in gefährlicher Nähe der Krieger Gottes, die vermutlich ihr Hauptquartier in der neuen Hauptstadt hatten, aber Amalfi hatte keine Lust, tausend Kilometer zu wandern, nur um mit Hazleton zu sprechen; und er rechnet sich eine reelle Chance aus, daß die alte Stadt für die hinterwäldlerischen Bauern tabu sein oder zumindest instinktiv gemieden würde. Jörn der Apostel würde nicht vergessen, einen solch offensichtlichen Versamm lungsort für die Besiegten bewachen zu lassen, aber wahrschein lich war er mit seiner Hauptmacht am anderen Ende der Wolke. Die Reise dauerte lange genug, daß Amalfi sich über Ultrafon ein Bild von den Ereignissen in der Wolke machen konnte, denen er während seines Aufenthalts auf He so gut wie keine Beachtung geschenkt hatte. Wie es schien, war Marks Darstel lung richtig gewesen, wenn auch durch die Nähe und Unmittel barkeit der Bedrohung ein wenig übertrieben. Die wirklichen Ziele Jörns des Apostels waren immer noch weit von der Neuen Erde entfernt, und sein Kreuzzug galt den Ungläubigen überall, nicht allein den Heviern. Die Hevier waren nur derjenige Artikel in der Anklage, der sein Vorgehen gegen die Neue Erde rechtfertigte, deren Führer sich offen genug der blasphemischen Absicht schuldig gemacht hatten, das gottgewollte Weltende abzuwenden. Amalfis Vermutung war, daß der Aufstand auf der
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Neuen Erde und die Ergreifung der zentralen Regierungsgewalt unbeabsichtigte Nebenprodukte der Proklamation gewesen waren, die voll auszunützen Jörn zur Zeit gar nicht in der Lage war. Hätte er die Machtübernahme geplant, oder wäre er militärisch in der Lage gewesen, sie abzusichern, so würde er sofort mit seiner Hauptmacht herbeigeeilt sein; wie die Dinge standen, hatte er nur eine schwache und verspätete Blockade errichtet. Gelang der Aufstand seiner Anhänger, so war alles schön und gut; gelang er nicht, so würde Jörn die Blockade eilig abbrechen, um Schiffe und Männer für einen späteren, günstigeren Zeitpunkt zu schonen. So kalkulierte Amalfi; aber es war ihm unbehaglich bewußt, daß er in Jörn dem Apostel zum erstenmal einen Gegner gefunden hatte, dessen Gedankengänge völlig anders als seine ablaufen mochten. Einmal in der nächtlichen Atmosphäre der Neuen Erde unterge taucht, waren sie relativ sicher. Carrel machte eine federleichte Landung in einer Wiesensenke unweit der fliegenden Stadt, und es gab keinen Zwischenfall; anscheinend waren sie unentdeckt geblieben. Am Morgen würde man das verlassene kleine Schiff entdecken, aber die alte Stadt und ihre Umgebung waren voll von allen möglichen mechanischen Objekten in allen Stadien des Verfalls; man mußte ein Ortskundiger sein, um zu wissen, welches neu war und welches nicht. Amalfi vertraute darauf und ließ das Schiff ungetarnt zurück. Nun war das Problem, wie er mit Mark in Verbindung treten sollte. Wahrscheinlich war er noch unter Arrest, oder in ›Besserungsdisziplin‹, was ungefähr auf das gleiche hinauslaufen mochte. Oder bedeutete es vielleicht, daß der körperlich träge, manuellen Arbeiten abgeneigte Hazleton Betten machen, Fußböden fegen, Toiletten putzen und sechs Stunden am Tag beten mußte? Plötzlich, als er vorsichtig durch die dunkle Stille der verlasse nen Stadt zum Rathaus wanderte, kam Amalfi eine blendende Eingebung: Die Verwaltung eines Planeten oder auch nur einer
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Stadt war eine Kunst, die kein Bauernbursche, gleichgültig unter welcher göttlichen Inspiration, in einer Woche meistern konnte. Der wahrscheinlichste Schauplatz von Marks ›Besserungsdiszi plin‹ würde darum sein eigenes Büro sein. Er würde die Amtsgeschäfte für die Krieger Gottes und unter ihrer Aufsicht weiterführen. Sehr gut; dann war das Problem der Kontaktaufnahme mit Mark gelöst und machte den Weg für die eigentlichen und ungleich schwierigeren Fragen frei: Wie konnte man die Krieger Gottes desorganisieren und, wenn möglich, bewegen, wieder zu ihren Wohnsitzen zurückzukehren? Und wie konnte man Dee und die Kinder unversehrt zurückgewinnen? Es war schwer zu sagen, welche dieser beiden Fragen schwieri ger zu beantworten war. Desintegratoren in den Händen der Krieger Gottes waren erheblich gefährlicher als Musketen und Mistgabeln. Mit einiger Präzision eingesetzt, konnte ein solches Gerät eine Mauer oder ein ganzes Gebäude in Schutt verwan deln, wenn man einen Stützpunkt oder eine Befestigung demolieren wollte. Aber die Gefahr bestand darin, daß ein Desintegrator in den Händen von zwei oder drei Bauernburschen nicht mit Präzision eingesetzt würde. Die Verlockung, ein solches Gerät im Ernstfall auf maximalen Energieausstoß einzustellen, würde für diese unerfahrenen und fanatisierten Jungen beinahe überwältigend sein. Sie würden den Desintegrator ungefähr in Zielrichtung bringen und unbekümmert den Auslöserknopf drücken. Es war keine übertriebene Annahme, daß sie bei jedem gegebenen Anlaß zwei oder drei Häuserblocks einebnen würden, bevor sie daran dächten, den Desintegrator auszuschalten. Die Rettung Dees und der Kinder war ohne Zweifel wichtig, aber die Entwaffnung der Krieger Gottes mußte Vorrang haben. Er merkte, daß er die Treppe zum Kontrollraum hinauf sprang, und grinste vor sich hin. Nach zu vielen Jahren des nörgelnden Nichtstuns und des Vegetierens fühlte er sich wieder lebendig. Dies war die Art von Arbeit, die ihm lag, an die er mit einem Selbstvertrauen heranging, das aus Neigung geboren war. Das Ende der Zeit war ein gewiß bemerkenswertes Problem; er
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würde nie ein größeres finden, und er war dankbar dafür. Aber es war ein unpersönliches Problem, das ihm keine Möglichkeit zu taktischem Kalkül und keine Person bot, mit der er verhandeln und womöglich ein wenig schwindeln konnte. Aber vorsichtig. Zuviel Selbstvertrauen konnte gefährlich sein; es hatte ihn früher gelegentlich zu Fall gebracht, selbst damals, als er noch in Übung gewesen war. Wenn er sah, welche Schritte in der gegenwärtigen Situation unternommen werden mußten, bedeutete das noch keine Erfolgsgarantie. Die Stadtväter waren bereits angewärmt. Er sagte: »Kommuni kationsabteilung. Ich will eine Verbindung mit Jörn dem Apostel. Höchste Dringlichkeit.« Die Stadtväter würden eine Weile brauchen, um Jörn zu erreichen, obwohl sie in weniger als einer Minute die Möglichkei ten einschätzen und jene Welten auswählen konnten, die die höchsten Wahrscheinlichkeitsraten für den Aufenthalt des Apostels aufwiesen; die Chancen, ihn beim ersten Anruf ausfindig zu machen, waren einfach zu gering. Amalfi bedauerte, daß es dann notwendig sein würde, über eine Diracverbindung mit Jörn zu sprechen, weil es jeden, der irgendwo im bekannten Universum an einem Dirac-Kommunikator saß, zum Mithörer des Gesprächs machen würde. Während er wartete, überdachte Amalfi die Möglichkeiten. Dies entwickelte sich zu einer höchst merkw ürdigen Affäre, ganz anders als alle, in die er bisher verwickelt gewesen war. Sie bestand soweit hauptsächlich aus Abwarten und hatte kaum Entscheidungspunkte, wo Aktion möglich wäre; und die Tatsachen, die zu erwägen waren, blieben undeutlich und widersprüchlich. Es mußte angenommen werden, daß Jörn der Apostel die Situation auf der Neuen Erde nicht im Detail kannte; er hatte einfach wie ein guter Stratege reagiert und versuchte den größtmöglichen Nutzen aus einem unerwarteten Erfolg auf einem Nebenschauplatz zu ziehen. Es war fast sicher, daß er nichts von der Geiselnahme seiner Blockadeflotte wußte, geschweige denn über die Identität der Geiseln informiert war. Aber es wäre
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aussichtslos, ihn in dieser Sache einschüchtern zu wollen; im Gegenteil, es wäre klüger, ihm die Information überhaupt nicht zu geben. Schließlich kam es bei diesem Anruf in erster Linie darauf an, die Aufständischen zu demobilisieren und nach Hause zu schicken. Um dies zu erreichen, würde es jedoch unklug sein, Jörn kurzerhand davon zu überzeugen, daß sein Coup auf der Neuen Erde zum Scheitern verurteilt sei, denn das könnte dazu führen, daß er seine Blockadeschiffe – und mit ihnen die Geiseln – zurückzöge. Es wäre für beide Aspekte besser, wenn es sich so drehen ließe: Jörn zu überzeugen, daß der Putsch auf lange Sicht keinen Erfolg haben würde und er gut daran täte, seine aufgeregten Anhänger zur Besonnenheit und zur Rückkehr in ihre Heimatgemeinden zu ermahnen, ohne ihn gleich so zu erschrecken, daß er denken würde, er könne einen Teil seiner Flotte verlieren, wenn er sich mit dem Abbruch des Unterneh mens Zeit ließe. Das sah nach einer schwierigen Aufgabe aus. Es bedeutete, daß die Gefahr, die Jörn dem Apostel suggeriert werden mußte, mindestens ebensosehr ideologischer wie militärischer Natur zu sein hatte. Als militärischer Führer von erwiesenen Fähigkeiten mußte Jörn mit den korrumpierenden Auswirkungen vertraut sein, die eine städtische Zivilisation auf eine Besatzungsmacht aus Hinterwäldlern haben mußte – und Kreuzzüge waren für diese Art von Korrosion besonders anfällig, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten und der ursprüngliche Fanatismus zu erlahmen begann. Ob er selbst an seine Lehre glaubte oder nicht, Jörn würde nicht wollen, daß seine Anhänger den Glauben an die Doktrinen verlören, mit denen er bisher so gut gefahren war; in diesem Glauben lag seine Macht über sie, und ihm selbst bliebe nichts, wenn sie sich von ihm abwandten. Unglücklicherweise gab es auf der Neuen Erde keine Ideologie, die imstande wäre, die Krieger Gottes in ihren Überzeugungen wankend zu machen. Sie würden sich zweifellos mit Hingabe dem Einsammeln von Armbanduhren widmen (ein sehr alter Begriff für ein zeitloses Syndrom einer jeden Bauernarmee, die
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ein an Konsumgütern relativ reiches Territorium abtun. Tatsächlich lag der Zivilisation der Neuen Erde kein Ideal, keine ethische Idee zugrunde, die stark genug schien, die Krieger Gottes von ihrer einfachen, direkten und zentral orientierten Weltsicht abzubringen. Man würde eine fabrizieren müssen; wenigstens gab es keinen Mangel an Modellen und Rohmateriali en. Eine offensichtliche Fallgrube auf diesem Weg war, daß man Jörn den Apostel als den nehmen mußte, für den er sich ausgab. Man mußte davon ausgehen, daß er seine eigene Lehre ernst nahm, und versuchen, jenen Teil seines Geistes zu alarmieren, wo seine wirkliche Religion angesiedelt war. Amalfi konnte nicht wissen, ob dies klappen würde, und die Vorsicht sagte, daß es nicht versucht werden sollte. Nein, er ging besser von der Voraussetzung aus, daß ein Mann, der in weltlichen Angelegen heiten so erfolgreich operierte wie Jörn, eine gebildete und aufgeklärte Persönlichkeit war, die sich in den Zeitströmungen auskannte und sie zu deuten wußte, gleichgültig, ob er auch Theologe und geistlicher Führer aufgeklärt war oder nicht. Der letztere Aspekt war sogar nebensächlich; wo immer die Wahrheit lag, er würde rasch jeden Versuch ausmachen, seine religiösen Knöpfe zu drücken, denn er hatte bewiesen, daß er in dieser Kunst selbst ein Meister war. Natürlich würde es notwendig sein, Jörn formal so zu behan deln, als ob jedes öffentliche Wort, das er je von sich gegeben hatte, in völliger Aufrichtigkeit und in tiefster Überzeugung ausgesprochen worden wäre, nicht nur, weil Jörn selbst wissen würde, daß eine unbekannte Zahl von anderen mithören konnte, sondern auch, um das Selbstbildnis des Mannes nicht unnötig anzugreifen. »Kommunikationsabteilung. Die gewünschte Verbindung mit Jörn dem Apostel ist hergestellt.« Amalfis Gedanken begannen plötzlich zu rasen. Er hatte vergessen, zu entscheiden, ob er sich Jörn gegenüber identifizie ren sollte oder nicht. Es gab eine Möglichkeit, daß Jörn dem Bauernvolk entstammte, das unter der Tyrannei der Meister
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händler geschwitzt hatte, als Amalfi seine fliegende Stadt auf die Neue Erde gebracht hatte. Etwas wahrscheinlicher war, daß er ein Abkömmling jener feudalen Unterdrücker war. Aber die bei weitem größte Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß er ein Kind oder Enkel von Amalfis eigenen Leuten war und darum sehr gut wissen würde, wer Amalfi war. Es war sogar anzunehmen, daß er sein Gesicht im Übertragungsbildschirm wiedererkennen würde. Die Entscheidung war also klar. Das beste wäre, sich sofort vorzustellen und Jörn klarzumachen, daß es nicht Hazleton war, mit dem er sprach. Die Identifikation war schon deshalb unumgänglich, weil ein Mann wie Jörn sich vermutlich weigern würde, eine Diskussion mit einem Unbekannten anzufangen. Amalfi sagte ins Mikrophon: »Ich warte.« Sofort leuchtete der Bildschirm auf, und Amalfi beobachtete mit angespannter Neugierde das Gesicht Jörns des Apostels, wie es sich vor ihm aus verschwommenen Flecken bildete. Es war, und das überraschte ihn völlig, ein sehr altes Gesicht, schmal, knochig und tief gefurcht, mit buschigen weißen Brauen, die die eingesunkene Dunkelheit der Augen betonten. Jörn mußte seit langem keine alterungsverhütenden Drogen mehr genommen haben, wenn er es überhaupt jemals getan hatte. Die Erkenntnis war für Amalfi ein tiefer und unerwarteter Schock. »Ich bin Jörn der Apostel«, sagte das alte Gesicht. »Was wollen Sie von mir?« »Ich denke, Sie sollten sich von der Neuen Erde zurückziehen«, sagte Amalfi. Es war ganz und gar nicht, was er hatte sagen wollen; es stand tatsächlich im Widerspruch zu dem ganzen Gedankengang, den er eben durchgearbeitet hatte. Aber es war etwas in diesem Gesicht, das ihn auszusprechen zwang, was er auf dem Herzen hatte. »Ich bin nicht auf der Neuen Erde«, sagte Jörn. »Aber ich verstehe, was Sie meinen. Und ich verstehe, daß es viele Leute
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auf der Neuen Erde gibt, die Ihre Meinung teilen, Mr. Amalfi, was ganz natürlich ist. Dies berührt mich nicht.« »Ich erwarte nicht, Sie mit einer einfachen Meinungsäußerung zu beeindrucken«, sagte Amalfi. »Aber ich kann Ihnen gute Gründe anbieten.« »Ich werde sie anhören. Aber erwarten Sie nicht von mir, daß ich vernünftig sei.« »Warum nicht?« sagte Amalfi in ungespielter Überraschung. »Weil ich kein vernünftiger Mann bin«, sagte Jörn geduldig. »Der Aufstand meiner Anhänger auf der Neuen Erde fand ohne Befehle von mir statt; er ist ein Geschenk, das Gott selbst in meine Hände gelegt hat. Da es sich so verhält, ist Vernunft nicht anwendbar.« »Ich sehe«, sagte Amalfi. Er schwieg eine Weile. Dies ver sprach schwieriger zu werden, als er sich hatte träumen lassen; tatsächlich begann er bereits zu zweifeln, ob es überhaupt durchführbar sei. »Ist Ihnen bewußt, Sir, daß dieser Planet eine Brutstätte des Stochastizismus ist?« Jörns buschige Brauen hoben sich ein wenig. »Ich weiß, daß die Stochastiker auf der Neuen Erde eine gewisse Resonanz gefunden haben und dort zahlreicher sind als anderswo«, sagte er. »Ich kann indes nicht beurteilen, wie tief die Philosophie in das Bewußtsein der Bevölkerung als Ganzes eingedrungen ist. Sie gehört zu den Erscheinungen, die ich auszutilgen beabsichti ge.« »Sie werden das unmöglich finden. Ein Haufen von Bauernjun gen kann nicht ein bedeutendes philosophisches System ausradieren.« »Aber wie bedeutend ist es?« sagte Jörn. »Wie groß ist sein Einfluß? Ich habe den Eindruck, daß es nur in kleinen Zirkeln von Intellektuellen verstanden und bewußt gepflegt wird, wiewohl ich zugebe, daß ein größerer Bevölkerungsteil von ihm korrumpiert sein mag. Aber ich habe kein genaues Wissen, daß es sich so verhält. Aus der Entfernung laufe ich leicht Gefahr, diese Erscheinung in meiner Vorstellung zu vergrößern, besonders weil
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sie dem Wort Gottes so vollkommen antithetisch gegenüber steht. Es wäre natürlich, zu schließen, daß das Heimatland des Stochastizismus auch seine ›Brutstätte‹ ist. Aber ich weiß nicht, daß dies wahr ist.« »Also wollen Sie die Seelen der Krieger Gottes der Annahme opfern, daß es nicht wahr ist?« »Nicht unbedingt«, sagte Jörn. »In Anbetracht der Machtgrup pe, für die Sie sprechen, Mr. Amalfi, ist es so klar zu Ihrem Vorteil, wenn Sie den Ein fluß des Stochastizismus übertrieben darstellen, daß ich Ihnen schon aus diesem Grund nicht unbesehen glauben kann. Schon Ihr Gebrauch dieses Werkzeugs deutet auf den Zweck hin, da ich nicht annehmen kann, daß Sie mir irgendeinen Vorteil zuspielen wollen. Ich vermute, daß die Stochastiker, wie Intellektuelle zu allen Zeiten und an allen Orten, in Wirklichkeit von den breiten Strömungen und vorherrschenden Bewußtseinsformen der Gesellschaft, in der sie operieren, weitgehend isoliert sind; und daß die Bewohner der Neuen Erde in ihrer Mehrzahl weder Stochastiker noch Krieger Gottes noch irgend etwas anderes sind, das sich als eine philosophische oder weltanschauliche Richtung beschreiben ließe. Wenn irgendein Etikett zutreffend ist, dann sind sie einfach ein Volk, das sich nicht mehr als ein Volk von Auswanderern und Pionieren begreift.« Amalfi saß da und schwitzte. Er hatte einen Ebenbürtigen getroffen und wußte es. »Und wenn Sie sich irren?« sagte er schließlich. »Wenn der Stochastizismus auf diesem Planeten so verwurzelt ist, wie ich Ihnen zu erklären suchte?« »Dann«, sagte Jörn der Apostel, »muß ich das Risiko auf mich nehmen. Meine Krieger auf der Neuen Erde sind Bauernjungen, wie Sie sagten. Ich zweifle, daß der Stochastizismus viele Anhänger unter ihnen gewinnen wird; sie werden ihn als dem gesunden Menschenverstand widersprechend abschütteln. Sie werden sich mit dieser Einschätzung irren, aber wie könnten sie das wissen? Unwissenheit ist der Schutzschild, den Gott der Vater ihnen gegeben hat, und ich denke, er wird ausreichen.«
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Da war das Stichwort. Amalfi konnte nur hoffen, daß es nicht zu spät gekommen war. »Sehr gut«, sagte er um einiges grimmiger, als er beabsichtigt hatte. »Die Ereignisse werden uns beide auf die Probe stellen; mehr ist nicht zu sagen.« »Nein«, sagte Jörn. »Es gibt noch soviel mehr: Sie mögen wirklich gemeint haben, mir einen Dienst zu erweisen, Mr. Amalfi. Sollte es sich so herausstellen, dann werde ich dem Teufel geben, was ihm gebührt – man muß selbst mit dem Teufel ehrlich sein, es gibt keinen anderen guten Weg. Was wollen Sie von mir?« Und so war das verbale Geplänkel unvermutet rasch zum Kreis geschlossen; und diesmal gab es keine Möglichkeit, den Sinn der Frage mißzuverstehen. Sie war nicht politisch; sie war persön lich; und sie war von Anfang an so gemeint gewesen. »Sie könnten mir drei Geiseln zurückgeben, die Ihre Blockade flotte festhält«, sagte Amalfi. »Eine Frau und zwei Kinder.« »Hätten Sie eingangs darum gebeten«, sagte Jörn der Apostel, »so hätte ich sie Ihnen gegeben.« War es wirklich Mitleid, was Amalfi heraushörte? »Aber Sie haben ihre Leben auf den Richtblock Ihrer eigenen Integrität gelegt, Mr. Amalfi. So sei es; wenn ich zu der Überzeugung gelange, daß ich die Neue Erde wegen der Stärke des Stochastizismus verlieren muß, werde ich die drei zurückgeben, bevor ich mein Blockadegeschwader zurückziehe; andernfalls nicht. Und, Mr. Amalfi…« »Ja?« flüsterte Amalfi. »Bedenken Sie, was auf dem Spiel steht, und lassen Sie sich nicht von Ihrem Einfallsreichtum überwältigen. Ich weiß gut, daß Sie fabelhaft erfinderisch sind; aber Menschenleben sollten nicht vom Erfolg eines Kunstwerks abhängen. Gehen Sie mit Gott.« Der Bildschirm wurde dunkel. Amalfi wischte seine Stirn mit zitternder Hand. Mit seinen letzten Worten war es Jörn dem Apostel gelungen, die ganze Geschichte von Amalfis Leben zu erz ählen, und es war kein angenehmes Zuhören gewesen.
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Nichtsdestoweniger zögerte er nur einen Moment länger. Obwohl Jörn die Improvisation durchschaut hatte, die Amalfi eingefallen war, gab es keinen anderen offenen Weg als den Versuch, mit eben dieser Improvisation zum Erfolg zu kommen. Jörn hatte ihn darauf festgenagelt und zwang ihn mit seiner Alternative, eine Lüge in die Wahrheit zu verwandeln. Wenn dies eine Kunst war, wie Amalfi nur zu gut wußte, so war es doch weniger ein ›Kunstwerk‹ als ein Handwerk. Jörn selbst war es, der Menschenleben dem Diktat eines Kunstwerks auslieferte, nämlich der künstlichen Fiktion, die seine Religion war. Amalfi schaltete den Bildschirm aus, dann rief er Hazletons Büro. »Hier ist der Beauftragte für Öffentliche Sicherheit«, sagte er dem Vermittlungscomputer der Verwaltungszentrale. In normalen Zeiten mußte der Computer gut genug wissen, daß es kein solches Amt gab, aber die Verwirrung und Verunsicherung des Verwaltungsapparats mußte seit der Besetzung so groß geworden sein, daß jemand die Anlage programmiert hatte, alle eingehenden Anrufe ohne Rückfragen zu vermitteln. Jedenfalls machte der Computer keine Schwierigkeit, als Amalfi eine Verbindung mit Hazleton verlangte; schon nach kurzer Zeit meldete sich Hazletons vertraute Stimme. »Sie rufen spät«, sagte Mark vorsichtig. »Ihre Meldung ist überfällig. Können Sie nicht selbst kommen?« »Die Situation ist zu fließend, um das zu erlauben, Bürgermei ster«, sagte Amalfi. »Gegenw ärtig mache ich Runden in der alten Stadt. Dienstfreie Besatzungssoldaten versuchen hier Sehens würdigkeiten zu besichtigen, und mit soviel intakter Maschinerie ist das natürlich…« »Wer ist das?« sagte eine andere Stimme, weiter im Hinter grund. Amalfi erkannte sie; es war die befehlsgewohnte Stimme, deren Besitzer die offene Sendeverbindung entdeckt hatte, als die Krieger Gottes bei Hazleton eingedrungen waren. »Das können wir nicht erlauben!« »Es ist der Beauftragte für öffentliche Sicherheit, ein Mann namens de Ford«, sagte Hazleton. Amalfi lächelte knapp. De
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Ford war in Wirklichkeit Hazletons Vorgänger als Verwaltungsdi rektor gewesen; er war vor siebenhundert Jahren erschossen worden. »Selbstverständlich können wir das nicht zulassen. Die alte Stadt ist ein Energiereservoir, befindet sich aber seit Jahren in einem Zustand fortschreitenden Verfalls. Das macht sie so gefährlich. De Ford, ich dachte, Sie wüßten, daß der komman dierende General die alte Stadt zum Sperrbezirk erklärt hat.« »Das sage ich ihnen ständig«, sagte Amalfi in einem Ton verletzter Geduld. »Sie lachen nur und sagen, in ihrer Freizeit seien sie keine Krieger Gottes.« »Was?« sagte die andere Stimme. »Ja, das sagen sie«, beharrte Amalfi. »Oder sie sagen, sie seien ihre eigenen Herren, und niemand habe das Recht, einem anderen vorzuschreiben, was er zu tun oder zu lassen habe. Sie hören sich an, als ob sie mit irgendeinem Dorfstochastiker zusammengesessen hätten, obwohl sie es ziemlich durcheinan dergebracht haben. Wahrscheinlich haben die Philosophen nicht den Ehrgeiz, in den Provinzen die reine Lehre zu verbreiten.« »Das tut nichts zur Sache«, sagte Mark streng. »Halten Sie sie von der Stadt fern – das ist der wesentliche Punkt.« »Ich versuche es ja, Bürgermeister«, sagte Amalfi. »Aber meine Möglichkeiten sind begrenzt. Sie sind alle bewaffnet, und einige von ihnen fahren sogar ihre Desintegratoren spazieren. Sie wissen, was geschehen w ürde, wenn eins von diesen Dingern hier drinnen abgefeuert würde. Das will ich nicht riskieren.« »Richtig. Aber lassen Sie nicht locker. Ich werde sehen, was von hier aus getan werden kann. Weitere Instruktionen folgen; wo kann ich Sie erreichen?« »Hinterlassen Sie den Anruf im Büro des Streifendienstes«, sagte Amalfi. »Ich werde ihn dann bei meiner nächsten Runde annehmen.« »Sehr gut«, sagte Hazleton und unterbrach die Verbindung. Amalfi stellte den Anschluß zum Streifendienstbüro her und wartete ab, momentan befriedigt, aber mit einem tieferen Unbehagen, das sich nicht verdrängen ließ. Die Saat war
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ausgesät, und es gab keinen Zweifel, daß Hazleton die Strategie verstanden hatte und fördern würde. Es war ziemlich wahr scheinlich, daß Jörn der Apostel bereits eine Befragung seiner Offiziere auf der Neuen Erde angeordnet hatte, um die Substanz von Amalfis Behauptungen nachzuprüfen; sie würden natürlich zurückmelden, daß sie keine Schwierigkeiten dieser Art hätten, aber schon die Befragung an sich würde sie für das Thema sensibilisieren. Amalfi schaltete den Radioempfänger ein und suchte den Ortssender. Der nächste Schritt würden strengere Bestimmun gen für dienstfreie Soldaten sein, und er wollte sich die Formulierungen nicht entgehen lassen. Wenn Jörns Offiziere diese Befehle nicht mit sehr viel Fingerspitzengefühl formulier ten, würden sie dazu führen, daß sich wirklich Neugierige in die alte Stadt begaben, um den verbotenen Ort kennenzulernen. Und natürlich gab es weder einen Streifendienst noch sonst jemand, der sie hindern würde, an den Maschinen und Anlagen herumzuspielen. In diesem Fall wären Unfälle die wahrscheinli che Folge. Eine solche Entwicklung aber würde notwendigerweise zum Verschwinden des ›Beauftragten für öffentliche Sicherheit‹ führen, denn die dauernde Stationierung bewaffneter Patrouillen in der fliegenden Stadt selbst würde das logische Endergebnis sein. Amalfi würde dann untertauchen und den Rest der Arbeit Mark überlassen müssen. Was Hazleton tun konnte und tun würde, entzog sich jeder Prognose, noch war Amalfi gewillt, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Ein wesentlicher Defekt der ganzen Strategie war, daß sie, wie Jörn vermutet hatte, auf einer Lüge beruhte, wogegen eine gute Täuschung wenigstens einen Grundstein von Wahrheit enthalten sollte, um die kritische Vernunft und das Mißtrauen ins Stolpern zu bringen. Tatsächlich gab es keine Möglichkeit, daß die lokalen Krieger Gottes von einer rein intellektuellen und weitgehend abstrakten Philosophie wie dem Stochastizismus korrumpiert werden könnten; eine solche Möglichkeit hatte es nie gegeben. Selbst wenn die Strategie gelänge und Jörn seine Führungskader
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zurückzöge, würde er sie eingehend befragen, bevor er die Geiseln freiließe. Es war in der Tat eine armselige Fiktion, um die Freiheit von Dee und Web und Estelle daran aufzuhängen; aber er mußte sich mit dem behelfen, was er hatte. Der Plan schien zu funktionieren. Noch in derselben Woche wurde die Freizeit der Soldaten zugunsten von ›Unterweisungs stunden‹ eingeschränkt und ein Patrouillendienst für die alte Stadt eingerichtet. Als Amalfi diesen Befehl abhörte, wußte er, was die Stunde geschlagen hatte, und zog sich in eine alte Kommunikations-Nebenstelle zurück, die in einem abgelegenen Teil der Stadt tief unter den Stadtvätern war; dort hoffte er unentdeckt zu bleiben. Von diesem Tag an patrouillierten die bewaffneten Streifen ständig durch alle Ebenen der verlassenen Stadt, und Amalfi war isoliert; alles weitere mußte Hazleton überlassen bleiben. Am Anfang der nächsten Woche wurde ein Befehl veröffent licht, daß die Krieger Gottes alle Desintegratoren an ein zentrales Waffenmagazin auszuliefern hätten, und Amalfi wußte, daß er gewonnen hatte. Wenn eine Besatzungsarmee von ihren eigenen Offizieren teilentwaffnet werden muß, ist sie erledigt; in einer Weile wird sie sich von selbst auflösen, wenn sie nicht energisch reorganisiert wird oder Hilfe von außen erhält. Sobald dieser Befehl Jörn zu Ohren käme, würde er rasch handeln. Hazleton war offenbar ein wenig zu gründlich gewesen, wie es seine Art war. Aber Amalfi konnte nur abwarten. * Das letzte Blockadeschiff hatte kaum den Boden berührt, als Web und Estelle aus der Luftschleuse krabbelten und auf Amalfi zu rannten. »Wir haben eine Botschaft für Sie«, sagte Estelle atemlos. »Von Jörn dem Apostel. Der Schiffskapitän sagte, wir sollten sie Ihnen sofort bringen.«
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»So eilig ist es auch nicht«, knurrte Amalfi, um seine Spannung zu verbergen. »Seid ihr gesund? Haben sie euch anständig behandelt?« »Sie waren höflich und korrekt«, sagte Web. »Sie hielten uns in einem Lagerraum gefangen und gaben uns Traktate zu lesen. Nach einer Weile wurde es ziemlich langweilig, immer nur Traktate zu lesen und mit Gro ßmutter Ratespiele zu veranstal ten.« Plötzlich konnte er sich nicht enthalten, Estelle anzugrin sen; offenbar war es ihm gelungen, die Unannehmlichkeiten der Gefangenschaft auf anderer Ebene zu kompensieren. Amalfi fühlte eine vage emotionale Regung, aber er konnte nicht identifizieren, welche Art von Emotion es war; sie verging zu rasch. »Also gut«, sagte er zu Estelle. »Wo ist die Botschaft?« »Hier.« Sie reichte ihm einen gelben Abriß vom DiracFernschreiber des Schiffs. Der Text lautete: XXX KN SSG GABRIEL SPG 32 JOHN AMALFI N ERDE V HST LEGE VORHANDENE ZWEIFEL ZU IHREN GUNSTEN AUS. SIE KENNEN DIE WAHRHEIT. SOLLTE DIESER MISSERFOLG ALLEIN IHRE ERFINDUNG SEIN SO TRA GEN SIE VERANTWORTUNG FÜR ALLE FOLGEN VOR GOTT UND SICH SELBST. DER TAG DER RECHEN SCHAFT WIRD BALD KOMMEN. JOHN APOSTEL GOTTES Amalfi zerknüllte das Papier und ließ es auf den erodierten Beton der Landefläche fallen. »So ist es«, sagte er. Estelle blickte auf den Knäuel gelben Papiers und dann zurück zu Amalfis düsterem Gesicht. »Wissen Sie, was er meint?« sagte sie. »Ja, ich weiß, was er meint, Estelle. Aber ich hoffe, du wirst es nie wissen.«
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Objekt 4001 – Aleph Null Es gab noch andere Dinge, von denen Estelle niemals wissen sollte. Web und sie waren schließlich noch Kinder, und in den folgenden Jahren hatte niemand viel Zeit für Kinder übrig. Ihr Vater und seine Freunde waren vollauf damit beschäftigt, die Informationsbarriere über die bevorstehende Ginnunga-Lücke zu durchbrechen; und als sie dieses Problem gelöst zu haben glaubten, machten sie sich fieberhaft an die Zusammensetzung des immateriellen Objekts, das ihre Sonde durch das Niemands land in die ungeheure, entgegengesetzte Unendlichkeit des Antimaterie-Universums sein sollte. Einstweilen hatte man die Spekulationen zugunsten der Tatsachenermittlung aufgegeben; was gebraucht wurde, war eine hinreichend genaue Einschät zung der gegenwärtigen Energieebene des AntimaterieUniversums. Sobald diese bekannt wäre, konnte man hoffen, den Augenblick der Katastrophe genauer zu datieren, und wissen, wie viel oder wie wenig Zeit einem noch blieb, um sich mit dem Tod abzufinden und sich auf ihn vorzubereiten. Niemand hatte Zeit, sich um Kinder zu kümmern; und so wuchsen sie unbeachtet auf, die letzten Kinder, die das Universum jemals sehen würde. Es war nicht überraschend, daß sie sich in dieser Zeit der Vernachlässigung und Unsicherheit aneinanderklammerten; sie hätten es selbst unter anderen Verhältnissen so gemacht, denn das Schicksal, das in den submikroskopischen Molekülketten der Hormone ruht, hatte sie füreinander geformt. Estelle gedieh in ihrer Welt vergeßlicher Erwachsener und nahm ihren Platz unter ihnen ein, ohne daß sie bemerkten, was
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sie geworden war: gro ß, biegsam, grauäugig, schwarzhaarig, heiter und schön. Die Alten waren gegen Schönheit so immun wie gegen Jugend; sie waren es zufrieden, wenn Estelle ihre schnelle Auffassungsgabe und ihr mathematisches Talent für die Probleme zur Verfügung stellte, mit denen sie beschäftigt waren, aber sie sahen nicht, daß sie auch schön war; selbst wenn sie die Fähigkeit gehabt hätten, ihre Schönheit zu sehen, wären sie gleichgültig geblieben. In diesen Tagen sahen sie nichts als den Tod – oder glaubten ihn zu sehen; Estelle war nicht so sicher, daß sie den Tod so deutlich und bedrohlich sahen wie sie selbst ihn sah, denn sie hatten ihn viel zu lange verachtet. Web wußte nicht zu sagen, ob alles dies ihm gefiel oder nicht. Er war einigermaßen zufrieden, der einzige Mann auf der Neuen Erde zu sein, der soviel gesunden Menschenverstand besaß, Estelles Schönheit zu würdigen, aber manchmal fühlte sein Stolz den Mangel an neidischen Blicken. Die Liebe zwischen ihnen war besprochen und anerkannt, und sie waren nun ein Paar, mit allen Freuden und Verantwortlichkeiten und Problemen, die das mit sich brachte; aber irgendwie hatte niemand es bemerkt. Die Alten waren zu sehr mit ihren Theorien und ihrem Objekt beschäftigt, um zu beachten, daß inmitten der Trümmer des letzten aller Debakel ein kleiner grüner Trieb von Liebe zum Vorschein gekommen war. Auf der Gefühlsebene konnte Web nicht verstehen, daß etwas, das für ihn ein Wunder war, für die geschäftigen Alten und ihre Maschinen, mit denen er leben mußte, ein lästiger Unfug zu sein schien, den man am besten ignorierte. Doch auf der abstrakten Ebene des Verstands, die er in dieser Zeit nicht gern aufsuchte, sah er ein, warum sie derart mißachteten, was ihn erfüllte: Es blieb nicht mehr viel Zeit; kaum ein Schluckauf für Amalfi und Miramon und Schloss und Dee und selbst für Carrel, der ein ewig junger Mann zu sein schien, aber schon viele natürliche Lebensspannen hinter sich hatte und in der Mitte seiner letzten hinweggerafft werden konnte, ohne daß jemand (wenigstens war das Webs Meinung) seinen Tod als eine beklagenswerte Verschwendung dessen würde ansehen können, was er im Kopf hatte. Was ihnen noch an Lebenszeit blieb, konnte diesen
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Leuten, die schon so lange gelebt hatten, nicht viel bedeuten; aber für Web und Estelle war sie kostbar, bedeutete sie alles. * Amalfi war zweifellos derjenige, der am wenigstens Notiz von ihnen nahm. Er schien sie überhaupt nicht zu sehen. Sicherlich hatte er längst vergessen, daß er jemals etwas anderes als ein Unsterblicher gewesen war. Der Gedanke, daß er einmal ein Kind oder ein Heranwachsender gewesen war, geplagt mit den Problemen und Zweifeln der Jugend, würde ihn wahrscheinlich verblüffen; er würde unfähig sein, so weit zurückzudenken. Er hatte jetzt die Verwaltung des Weltuntergangs in die Hände genommen und widmete sich ihr mit einer Zielstrebigkeit, die Web zugleich lächerlich und beängstigend vorkam; er betrieb sie wie irgendeine andere Arbeit, die zu irgendeinem anderen Ziel führte. Wenn er überhaupt begriffen hatte, daß es nach dieser keine anderen Arbeiten und keine anderen Ziele gab, dann schien er sich nichts daraus zu machen. Er war auf den Beinen und geschäftig, und das war ihm genug. Web, der sich mehr Zeit zum Nachdenken nahm, empfand diese Flucht der Alten in die Betriebsamkeit als etwas Gespenstisches, dem er auf seine Weise zu entfliehen suchte: »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich liebe dich«, sagte Estelle. Die Scherbenhaufen um sie her gaben nicht einmal ein Echo zurück. * Wie sich aus langen Arbeitssitzungen und theoretischen Diskussionen ergab, mußte die interuniversale Sonde aus fundamentalen, subatomaren Partikeln zusammengesetzt werden, die in beiden Universen an Masse und Energie dem Wert Null möglichst nahekämen: Partikel im Schwebezustand und ohne Eigenrotation, mit verschiedenen, einander ausgleichenden Ladungen und Massen, und Paare von Neutrinos und Antineutri nos. Auszumachen, daß das Objekt tatsächlich existierte,
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nachdem sie es aufgebaut hatten, war eine fast unmögliche Aufgabe, denn die Neutrinos und Antineutrinos hatten weder Masse noch Ladung und bestanden teils aus Drehgeschwindig keit, teils aus umgesetzter Energie. Es hatte keinen Zweck, sich solche Partikel bildhaft vorzustellen, denn sie standen völlig außerhalb aller in der makroskopischen Welt existierenden Erfahrungen. Materie war für sie so transparent, daß eine fünfzig Lichtjahre dicke Bleibarriere nötig wäre, um ein fliegendes Neutrino zum Stillstand zu bringen. Nur mit Hilfe der Technik kontrollierter Kernfusion, die jedes gegebene atomare Teilchen im Käfig ihrer starken Magnetfelder festhalten konnte, war es möglich gewesen, das Objekt überhaupt zusammenzusetzen, und es nach seiner Fertigstellung auszumachen und zu lenken. In seinem Endzustand war das Objekt, das als Sonde hinausgehen sollte, ein stabiler, elektrisch neutraler, masseloser Plasmoid, im Sinne der Gravitation etwa einem Kugelblitz vergleichbar. Dieses Ding war nun vor ihnen im physikalischen Zentrallabo ratorium, eingebettet in eine Vielzahl von Meßgeräten und ein kompliziertes elektronisches Netzwerk, die zusammen ein telemetrisches System für die interuniversale Sonde darstellten. Da die Sonde selbst wenig mehr als ein kunstvoll strukturiertes sphärisches Gebilde von minimaler Dichte war, wäre es unmöglich gewesen, überhaupt etwas von ihm zu sehen, hätte man nicht eine kleine Quelle künstlichen Rauchs installiert, die direkt unter dem Objekt einen gleichmäßigen, dünnen Rauch strom entließ. Dieser Strom zog durch die ringförmige Anord nung der Magnetfelder aufwärts und umschlo ß das Objekt, so daß es als eine Blase von der Größe eines Kinderkopfs sichtbar wurde. Sie sah wenig aufregend aus, etwa wie eine Seifenblase, und mit unbewaffnetem Auge war in ihrem Inneren absolut nichts auszumachen; erst auf den Mattscheiben der Überwa chungsinstrumente enthüllte sie ihr Innenleben. Dort waren winzige, gleichmäßige Lichtpunkte in verschiedenen Färbungen zu sehen: Konzentrationen von Elektronengas, von nackten Protonen, Wärmeneutronen, freien Grundstoffen und einigen
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anderen grundlegenden Testsituationen. Im Zentrum, abge schirmt durch eine Wolke von Antineutronen und Neutrinos, war der größte Triumph von allem: ein mikroskopischer Kristall von Anti-Natriumchlorit. Dies war Dr. Schloss’ seit langem erträum ter Antimaterie-Gegenstand, ein Wunderding, das bereits minus zwei Wochen ›jung‹ war und noch eine Woche Lebenszeit vor sich hatte, bevor es mit dem flüchtigen Moment der Gegenwart kollidieren und zerfallen würde. Im anderen Universum würde es nur ein winziger Kristall gewöhnlichen Salzes sein – so klein, daß er auf einer Nadelspitze bequem Platz gefunden hätte –, von dem noch ungewiß war, ob er seinen Geschmack auf der Rückseite verlieren würde oder nicht, vorausgesetzt, die Sonde kehrte überhaupt zu ihnen zurück. Amalfi beobachtete die roten Uhrzeiger, wie sie sich dem vorbestimmten Zeitpunkt näherten. Er hatte das Privileg, den Schalter umzulegen, der den Stromimpuls durch die Magnetfeld beschleuniger jagen und die Sonde auf ihren Weg aus dem Raum bringen würde, hinaus aus dem Bereich, der menschlicher Erfahrung zugänglich war. Niemand wußte, was dann geschehen würde, am wenigsten die Konstrukteure. Die Sonde konnte keine Daten oder Meldungen zurücksenden; sobald sie die Barriere kreuzte, würde sie ohne Verbindung mit der Außenwelt sein. Sie würde in dieses Laboratorium zurückkehren müssen, bevor die winz igen Lichtpunkte und der mikroskopische Salzkristall in ihrem Innern melden könnten, was ihnen unterwegs geschehen war. Wie lange das dauern würde, hing von der Energieebene auf der anderen Seite ab; darum konnte keine Transitzeit vorausgesagt werden. »Wir sollten dem Ding einen Namen geben«, sagte Amalfi. Die Finger seiner rechten Hand begannen zu schmerzen, und er merkte, daß er die ganze Zeit mit unnötigem Druck den Schalter umklammert hatte, als ob das Universum sofort enden würde, wenn er in seiner Anstrengung nachließe. Er nahm seine Hand weg und runzelte unwillig die Stirn; seine Müdigkeit schien größer zu sein, als ihm bewußt war. »Nun, wo es fertig ist, sieht
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es nach nichts aus. Laßt es uns schnell taufen, bevor es verschwindet; vielleicht sehen wir es nie wieder.« »Ich würde mich fürchten, ihm einen Namen zu geben«, sagte Gifford Bonner mit einem blassen Lächeln. »Jeder Name würde zuviel versprechen. Wie wäre es mit einer Nummer? Zu Beginn der Raumfahrt, als die ersten unbemannten Satelliten hinausge schossen wurden, gab man ihnen Nummern, die anfangs noch mit griechischen Buchstaben kombiniert wurden. Der erste Sputnik, zum Beispiel, wurde Objekt 1957 alpha genannt. Später, als die Zahl der Satelliten in die Tausende ging, hörte das natürlich auf, und man begnügte sich mit der Typenbezeich nung und einer fortlaufenden Numerierung.« »Nicht übel«, sagte Jake. »Aber dieses Ding sollte nicht mit einem Begriff gekennzeichnet werden, der jemals zuvor auf eine bekannte oder erkennbare Situation angewendet wurde.« »Sehr gut«, sagte Bonner. »Dann schlage ich die Jahreszahl mit einem mathematischen Begriff vor.« »Es wird Zeit«, grollte Amalfi mit einem Blick auf die Uhr. Er hatte seine Rechte wieder auf dem Schalter. »Erfindet schnell irgendeinen Namen, oder das Ding bleibt anonym.« »Ich weiß einen«, sagte Estelle. Sie trat vor und hob die Hand zum Objekt. »Ich taufe dich Objekt viertausendeins Aleph Null.« »Warum ausgerechnet einen hebräischen Buchstaben?« sagte Jake. »Ich dachte an etwas mehr Symbolisches, wie etwa ›Integral eins‹.« »Das kannst du mit dem nächsten machen, Jake«, sagte Amalfi. Der rote Zeiger tickte bereits in die zweite Sekunde nach der Nullzeit. Er drehte den Schalter. Der Rauchstrom wurde in eine turbulente Spiralbewegung gerissen. Die Blase war verschwunden. Objekt 4001-Aleph Null war hinausgegangen, ohne daß jemand den Augenblick seiner Abreise gesehen hätte. *
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Die Spannung war schrecklich. Zwar erwartete niemand, daß die Sonde innerhalb weniger Stunden oder selbst innerhalb einiger Tage zurückkehren werde; geschähe dies, so würde es bedeuten, daß die Ginnunga-Lücke ihr bereits dicht auf den Fersen wäre und kaum noch Zeit bliebe, etwas anderes zu tun als die Hände zu falten und auf das Ende zu warten. Doch die bloße Tatsache, daß diese Möglichkeit existierte, reichte hin, den Unterhalt einer ständigen Wache im Zentrallaboratorium zu garantieren – einer Totenwache, die durch die Entdeckung, daß alle Überwachungsinstrumente mit dem Start der Sonde auf Null zurückgefallen waren und nichts mehr anzeigten, keine Ermutigung erfuhr. Gewöhnlich träumte Amalfi nicht oder nur selten (das heißt, wie fast alle Menschen träumte er so gut wie jede Nacht, nur erinnerte er sich am Morgen nicht mehr daran); aber in diesen Nächten sah er sich von einem sphärischen, in Rauch gehüllten Gespenst mit glühenden Argusaugen durch ein verdrehtes Labyrinth verfolgt, aus dem es niemals ein Entkommen gab und das zuletzt zu einem beengenden Netz zusammenschrumpfte, das wie Feuer brannte, während das Gespenst in einer lautlosen Explosion von Licht aufflammte, die ihn zu verschlingen drohte. Dann sah Amalfi, daß es – nein, noch nicht Morgen war, aber Zeit, zur Totenwache zurückzukehren. Aber er war bereits dort; er war eingenickt und vom Lärm der Signalanlage geweckt worden. Das geisterhafte Sphäroid schwebte wieder, wo man es zuletzt gesehen hatte, nun nicht größer als ein Tennisball, und die Mattscheiben der Kontrollin strumente zeigten, daß die meisten der inneren Lichtpunkte erloschen waren. Wie es schien, war dieser Schatten von einem Geist nicht bedrohlicher als das Ergebnis irgendeines anderen wissenschaftlichen Experiments; er mochte sogar vielverspre chend sein; aber Amalfi konnte sich noch nicht von der abergläubischen Furcht befreien, mit der sein Traum ihn erfüllt hatte. »Das war schnell«, sagte Jakes Stimme.
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»Ziemlich schnell«, stimmte Dr. Schloss zu. »Aber nun, da unsere Sonde zurück ist, hat sie nur etwa einundzwanzig Stunden Lebenszeit übrig. Am besten fangen wir sofort mit den Ablesungen an.« »Die Kameras laufen schon.« Im Innern der Blase erlosch ein weiteres Teilchen. Es blieb eine Weile still, und während Amalfi wie gebannt auf die kleine Mattscheibe starrte, die eben noch von feinen Lichtimpulsen geflackert hatte und nun leer und tot schien, sagte einer von Dr. Schloss’ Assistenten mit neutraler Stimme: »Pi-Mesonenschauer vom Eisenkern. Sieht wie ein natürlicher Tod aus. Nein – nicht ganz: starke Gammastrahlung.« »Die Rhodium-Palladium-Gruppe müßte als nächste an der Reihe sein«, sagte Dr. Schloss. »Achten Sie auf diagonale Desintegration; sie könnte sich mit der Eisen-Gruppe kreuzen…« Ein Stern auf einer anderen Mattscheibe flammte auf und zerplatzte. »Da geht sie hin!« »Carlo«, sagte Dr. Schloss, der durch ein Polariskop spähte. »Haben Sie sie?« »Ja. Sehr seltsam. Ich sehe Zäsiumlinien; was kann das bedeuten?« »Das spielt jetzt keine Rolle. Wir müssen aufzeichnen, nicht interpretieren. Das hat Zeit bis später. Jetzt sind nur die Ablesungen wichtig.« Die Blase schien ein wenig zu zittern und weiter einzuschrump fen. Ein feiner, hoher und durchdringender Ton kam aus ihrem Innern und verging; aber er verging in einer zur Unhörbarkeits grenze aufsteigenden Kurve. »Die erste Stunde«, bemerkte Dr. Schloss. »Noch zwanzig vor uns. Wie lange hat der Pieps gedauert?« Er blieb mehrere Minuten ohne Antwort, dann sagte eine weitere Stimme: »Fünfhundertsechzig Mikrosekunden, also fast vierzig Mikrosekunden zu kurz. Die Sonde zerfällt vor der berechneten Zeit, Dr. Schloss. Das entnehme ich auch dem
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Spektrogramm. Sehen Sie, hier – ich vermute, wir werden unsere Erwartung halbieren müssen.« »Ja, sieht so aus. Dann wollen wir beim nächsten Pieps versuchen, die Zerfallsrate genau zu bestimmen. Wenn es so schnell geht, müssen wir alle Emissionsaufzeichnungen anhand der Zerfallskurve neu berechnen. Jake, bekommst du auf dem Radiofrequenzband etwas herein?« »Jede Menge Zeug«, sagte Jake abwesend. »Ich kann noch nichts daraus schließen. Jedenfalls nehmen die Emissionen zu – das ist wieder die Zerfallsrate, nehme ich an.« In dieser Art und Weise verflog die zweite Stunde, und dann die dritte. Bald danach verlor Amalfi den Faden. Die Spannung, die scheinbare Unordnung, die zunehmende Übermüdung, die absolute Fremdartigkeit des Experiments und seines Gegen stands – alles das forderte seinen Tribut. »Das war’s, meine Herren«, sagte Dr. Schloss endlich. »Zeit, den Laden zu schließen.« Seine Stirn war tief zerfurcht, eine Manifestation düsterer Nachdenklichkeit, die während der letzten neun Stunden Furche um Furche gewachsen war. »Treten Sie zurück; unser Anti-Kristall wird als letztes verschwinden.« Die Wissenschaftler, ihre Assistenten und jene wenigen Zuschauer, deren Interesse stark genug gewesen war, sie während der gesamten Dauer des Aufzeichnungsprozesses im Laboratorium festzuhalten, zogen sich einige Meter zurück. Die kleine schwebende Blase blieb zunächst unverändert. Dann, nach ungefähr zehn Minuten, erschien ein winziger Lichtpunkt in ihrer Mitte und wuchs lautlos zu blendender, bläulichweißer Intensität, während das Sphäroid sich rasch aufblähte. Lichtfäden zuckten aus dem grellen Kern und flossen tastend über die innere Oberfläche der Blase. Amalfi beschirmte seine Augen und seine Genitalien in einer zweitausend Jahre alten instinktiven Geste. Als er wieder hinsah, war das Licht erloschen, die Blase verschwunden, ihr Vakuum von rauchiger Luft erfüllt. Das Objekt 4001-Aleph Null war verschwunden, diesmal für immer, zerstört vom Tod eines einzigen Salzkristalls.
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»Das war stärker als erwartet; mein Fehler«, sagte Dr. Schloss mit rauher Stimme. »Dafür war unsere Abschirmung unzurei chend. Wir haben alle mehr als die maximal zulässige Dosis harter Strahlung erwischt; es bleibt uns keine andere Wahl, als sofort von hier ins Krankenhaus zu gehen. Wenigstens werden wir Gelegenheit haben, uns auszuschlafen. Folgen Sie mir.« * Die Strahlungskrankheit war milde; KnochenmarkTransfusionen und Spezialdiät stellten die blutbildenden Funktionen wieder her, bevor ernster Schaden entstanden war, und die Übelkeitszustände konnten durch Medikamente auf ein erträgliches Maß reduziert werden. Alle Teilnehmer, die Haare zu verlieren hatten, verloren sie, darunter auch Dee und Estelle, aber bei allen wuchs neues Haar nach, mit Ausnahme von Amalfi und Jake, die schon vorher kahl gewesen waren. Die Hautverbrennungen waren nicht so milde. Sie verz ögerten die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse um fast einen Monat, während die Wissenschaftler, bedeckt mit Salbe, in den Krankenzimmern herumsaßen und Karten spielten. Zwischen durch führten sie endlose spekulative Diskussionen und bedeckten Hunderte von Papierbogen mit Gleichungen und Fettflecken von Salbe. Web, der nicht lange genug ausgehalten hatte, um der Zerstörung des Salzkristalls beizuwohnen, brachte Estelle fast täglich Blumen – die Götter allein wußten, wo und wie er eine so antike Sitte ausgegraben hatte – und nahm die befleckten Blätter mit Gleichungen mit, um sie den Stadtvätern einzugeben, die unweigerlich antworteten: AUSWERTUNG NICHT MÖGLICH. DATEN UNZUREICHEND. Was nicht anders zu erwarten war. Schließlich kam der Tag, wo die Patienten von ihren klebrigen Schlafanz ügen befreit werden konnten, und Schloss und Jake und ihre Assistenten bekamen endlich die mit wachsender Ungeduld erwartete Gelegenheit, sich über die Berge von Informationen herzumachen, die das Experiment gezeitigt hatte. Sie leisteten Überstunden, und besonders Schloss vergrub sich derart in die Arbeit, daß er seine Mahlzeiten vergaß und von den
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Mitarbeitern ständig erinnert werden mußte, daß sie schon das Mittagessen versäumt hätten und es mittlerweile höchste Zeit sei, zu Abend zu essen. Zu Schloss’ Verteidigung mußte jedoch zugegeben werden, daß diese Projektgruppe die hungrigste in der Geschichte der Physik war, und daß das versäumte Mittagessen nur die formale Mahlzeit war, die zu konsumieren sie gewohnt waren, nachdem sie ihre mitgebrachten Rationen geleert hatten. Ein schlüssiger Beweis dafür war, daß sie alle fünf bis zehn Pfund zunahmen, während sie sich am lautesten beklagten. Einen Monat nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus beriefen Schloss, Jake und Retma eine Konferenz ein. Schloss trug wieder das düstere Stirnrunzeln zur Schau, das ihn durch die letzten neun Stunden des Experiments begleitet hatte, und selbst der stets gelassene Hevier sah beunruhigt aus. Amalfi fühlte eine krampfartige Beengung in der Herzgegend, als er ihre Mienen sah; sie schienen alle Befürchtungen und Ängste seiner Tag- und Nachtträume zu bestätigen. »Wir haben, um es auf eine vereinfachende Formel zu bringen, zwei schlechte Nachrichten und eine, die ebenso dunkel wie ungewiß erscheint«, sagte Schloss ohne Vorrede. »Ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge ich sie vortragen sollte; darin habe ich mich von Retma und Doktor Bonner leiten lassen. Sie sind der Meinung, daß Sie alle zuerst einmal wissen sollten, daß wir Konkurrenz haben.« »Wie ist das zu verstehen?« sagte Amalfi. Die blo ße Vorstel lung, bar aller Details, ließ ihn aufmerken. »Unsere Sonde hat klare Beweise für das Vorhandensein eines anderen Quasi-Körpers im gleichen komplizierten physikalischen Zustand erbracht«, sagte Schloss. »Kein solches Objekt könnte in diesem oder jenem Universum natürlichen Ursprungs sein, und das andere war dem unsrigen hinreichend ähnlich, um uns zu der Überzeugung zu bringen, daß es ursprünglich von unserer Seite kam.« »Eine andere Sonde?«
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»Ohne Zweifel – und vermutlich von der drei- bis vierfachen Größe unserer Sonde. Andere Leute in unserem Universum haben entdeckt, was die Hevier entdeckt haben, und erforschen das Problem mit den gleichen Methoden, die wir ersonnen haben. Nur scheint es, daß sie einen Vorsprung von drei bis fünf Jahren haben.« Amalfi spitzte seine Lippen. »Gibt es eine Möglichkeit, zu erraten, wer sie sind?« »Nein. Wir glauben, daß sie relativ nahe sind, entweder in unserer Hauptgalaxis oder im Andromedanebel oder einem seiner Satellitensysteme. Aber wir können es nicht dokumentie ren. Immerhin spricht alle Wahrscheinlichkeit für unsere galaktische Gruppe. Alle anderen Alternativen liegen nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung weit unter fünf Prozent.« »Das Netz des Herkules«, sagte Amalfi. »Es kann nichts anderes sein.« Schloss breitete hilflos die Hände aus. »Es könnte genauso gut jemand anders sein«, sagte er. »Wir wissen es nicht. Aber meine Intuition sagt das gleiche.« »Gut. Das ist die Ungewisse Nachricht, nehme ich an. Was gibt es noch?« »Das war der erste Teil der schlechten Nachricht«, sagte Schloss. »Was ich die dunkle und Ungewisse Nachricht nannte, ist etwas, worüber wir lange diskutiert haben, bis wir wenigstens versuchsweise zu einer Übereinstimmung fanden. Wir denken, daß es unter Umständen möglich ist, die Katastrophe zu überleben.« Schloss hob rasch seine Hand, bevor die verblüfften Gesichter vor ihm hoffnungsvoll aufleuchten konnten. »Bitte«, sagte er, »überschätzen Sie nicht, was ich sage. Es ist nur eine Möglich keit, eine sehr Ungewisse obendrein, und die Art von Überleben, um die es sich handelt, wird in nichts dem menschlichen Leben ähneln, wie wir es kennen. Wenn Sie die Beschreibung gehört haben, werden Sie vielleicht vorziehen, statt dessen zu sterben; jedenfalls kann ich Ihnen sagen, daß das meine Wahl sein würde. Dies ist also keineswegs eine echte Hoffnung, eher eine
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fragwürdige und düstere Aussicht. Aber sie existiert, und sie ist es, die die Nachricht über die Konkurrenz zu einer schlechten Nachricht macht. Wenn wir uns entschließen, diese sehr doppeldeutige Form des Überlebens zu wählen, müssen wir sofort an die Arbeit gehen. Sie ist nur unter Bedingungen möglich, die lediglich für einige Sekundenbruchteile im Zentrum der Katastrophe gegeben sein werden. Wenn unsere unbekann ten Mitbewerber zuerst dorthin gelangen – und vergessen wir nicht, daß sie einen guten Vorsprung haben –, so werden sie die Möglichkeit wahrnehmen und uns ausschließen. Es wird ein Rennen sein, ein mörderisches Rennen. Und Sie mögen mit mir denken, daß das Ziel den Einsatz nicht lohnt.« »Können Sie nicht deutlicher werden?« sagte Estelle. »Ich meine, können Sie diese mögliche Form des Überlebens nicht genauer beschreiben?« »Doch, Estelle, das kann ich. Aber es wird ein paar Stunden in Anspruch nehmen, den Prozeß ausführlich zu erklären. Im Moment mag dies genügen: Wenn wir diesen Ausweg wählen, werden wir unsere Häuser, unsere Heimat, unsere Welt, sogar unsere eigenen Körper verlieren; wir werden unsere Kinder, unsere Frauen, unsere Freunde und jegliche Art von Gemein schaft verlieren, die wir je gekannt haben. Jeder von uns wird allein sein, unwiderruflich und so total, wie noch nie ein Mensch Einsamkeit erfahren hat. Es ist durchaus möglich, daß diese äußerste Isolierung uns sowieso töten wird. Wir sollten uns sehr gut überlegen, ob wir so begierig sind, unter diesen Vorausset zungen zu überleben, denn es käme einem ewigen Höllensturz gleich – nicht einem Sturz in die Hölle Jörns des Apostels, sondern in eine schlimmere. Es ist keine Sache, über die wir hier und jetzt entscheiden sollten.« »Verflucht!« sagte Amalfi nachdenklich. »Retma, stimmen Sie ihm zu? Wird es wirklich so schlimm sein?« Retma richtete seinen ernsten Blick auf Amalfi. »Schlimmer«, sagte er. Eine Weile blieb es sehr still im Raum. Schließlich sagte Hazleton:
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»Damit bleibt noch eine schlechte Nachricht übrig. Ich glaube, Doktor Schloss, sie kann den Schock nicht wesentlich vergrö ßern; vielleicht sollten wir sie gleich folgen lassen.« »Sehr gut. Diese Nachricht betrifft das Datum der bevorste henden Katastrophe. Wir haben ausgezeichnete Ablesungen über die Energieebene auf der anderen Seite erhalten, und es gibt keine Meinungsverschiedenheit über die Interpretation. Das Datum wird am oder um den zweiten Juni Viertausendvier sein.« »Das Ende?« flüsterte Dee. »Nur drei Jahre entfernt?« »Ja. Das wird das Ende sein. Nach diesem zweiten Juni wird es keinen dritten Juni geben, niemals mehr.« * »Und so«, sagte Hazleton zu den Leuten in seinem Wohnzim mer, »dachte ich mir, daß wir ein Abschiedsessen veranstalten sollten. Die meisten von euch reisen morgen früh, um mit He zum metagalaktischen Zentrum zu fliegen. Und diejenigen unter euch, die die Neue Erde verlassen, sind fast alle seit Hunderten von Jahren meine Freunde, die ich nie wiedersehen werde. Für mich wird die Zeit aufhören, wenn der zweite Juni kommt – was immer die Metamorphose sein mag, in der ihr weiterexistieren werdet. Darum habe ich euch alle gebeten, heute abend mit mir zu essen und zu trinken.« »Ich wünschte, du würdest es dir noch anders überlegen«, sagte Amalfi bekümmert. »Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich kann es nicht.« »Ich glaube, du machst einen Fehler, Mark«, sagte Jake. »Auf der Neuen Erde gibt es nichts wichtiges mehr zu tun. Das bißchen Zukunft, das uns noch bleibt, ist auf He. Warum zurückbleiben und auf den Tod warten?« »Weil jene andere Existenzform mir nichts bedeutet«, sagte Hazleton. »Ich habe mich damit abgefunden, mein Leben zu beschließen; ich bin es so zufrieden. Und außerdem bin ich hier der Bürgermeister. Ich weiß, das erscheint dir unwichtig, Jake, aber für mich ist es wichtig. Ich habe in den letzten Monaten
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entdeckt, daß ich nicht für apokalyptische Ereignisse gemacht bin. Ich kann normale menschliche Verhältnisse und die Angelegenheiten eines Gemeinwesens ganz gut regeln. Dafür bin ich geeignet. Jörn den Apostel zu übertölpeln, war eine Sache, die mir Spaß gemacht hat. Solche Operationen geben mir das Gefühl, lebendig und auf der Höhe einer Situation zu sein. Aber ich bin nicht an Versuchen interessiert, den Triumph der Zeit abzuwenden. Das ist nicht der richtige Gegenspieler für mich. Ich überlasse das gern euch anderen. Ich bleibe lieber hier.« »Macht es dir Spaß, zu denken«, sagte Gifford Bonner, »daß die Wolke, egal wie gut du sie verwaltest, in drei Jahren ausgelöscht wird?« »Nein; nicht genau«, sagte Mark. »Aber ich finde es nicht lächerlich, daß mir daran liegt, die Wolke in einem ordentlichen Zustand zu haben, wenn die Zeit kommt. Was kann ich zum Triumph der Zeit beitragen, Gif? Nichts. Ich kann nur meine Welt in Ordnung halten und im übrigen auf den Moment warten, der das Ende bringen wird. Das sehe ich als eine befriedigende Aufgabe an, und das ist der Grund, warum ich nicht auf He gehöre.« »Du warst nicht immer so bescheiden«, sagte Amalfi. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da du ganz anders gesprochen hast.« »Ich auch«, antwortete Hazleton nüchtern. »Aber ich bin jetzt älter und vernünftiger. Geh hin und überliste das Universum, John, wenn du kannst – aber ich weiß, daß ich es nicht kann. Ich werde bleiben, wo ich bin, und Jörn den Apostel aufhalten, was schwierig genug sein wird, um den Ehrgeiz meiner alten Tage mehr als zu befriedigen. Die Götter aller Sterne mögen mit euch sein – aber ich bleibe hier.« »So sei es denn«, sagte Amalfi. »Wenigstens weiß ich jetzt, welches der eigentliche Unterschied zwischen uns ist. Laß uns darauf trinken, Mark, und ave atque vale.« Sie tranken alle feierlich, und es folgte eine unglückliche Pause. Zuletzt sagte Dee: »Ich bleibe auch.«
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Amalfi wandte sich schwerfällig zur Seite und sah sie zum erstenmal seit ihrem Zusammensein auf He direkt an; sie hatten einander seit jenem Fiasko ziemlich konsequent gemieden. »Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte er. »Aber es ist natürlich naheliegend.« »Ich verlange das nicht von dir, Dee«, sagte Mark. »Wie ich dir schon gesagt habe, du kannst frei entscheiden.« »Wäre es anders, so würde ich nicht bleiben«, sagte Dee mit einem harten Lächeln. »Aber ich habe auf He dazugelernt – und auch an Bord des Blockadeschiffs. Ich fühle mich ein wenig unmodern, genau wie die Neue Erde; ich glaube, ich gehöre hierher. Und das ist nicht der einzige Grund.« »Danke«, sagte Mark leise. »Aber«, sagte Web Hazleton bestürzt, »aber was bedeutet das für uns?« Jake lachte. »Das sollte klar genug sein«, erwiderte er. »Nachdem du und Estelle die große Entscheidung allein getroffen habt, brauchen wir euch nicht zu sagen, wie ihr kleine zu treffen habt. Ich würde es gern sehen, wenn Estelle bei mir zu Hause bliebe…« »Jake, du willst auch nicht mitgehen?« sagte Amalfi verblüfft. »Nein. Ich habe dir schon mal gesagt, daß ich dieses Herumir ren im Universum hasse. Ich sehe keinen Grund, warum ich wie verrückt zum metagalaktischen Zentrum rasen sollte, um dort einem Verhängnis zu begegnen, das mich genauso schnell in meinem eigenen Wohnzimmer ereilen wird. Schloss und Retma werden dir überdies sagen, daß sie mich nicht mehr brauchen; ich habe diesem Projekt mein Bestes gegeben, aber nun soll Schluß sein. Ich werde sehen, was ich als Rosenzüchter zuwege bringen kann, bevor die drei Jahre um sind. Was meine Tochter angeht, so habe ich schon gesagt, daß ich sie gern hier bei mir haben würde, aber in einem tieferen Sinne hat sie ihr Heim bereits verlassen, und so fühle ich mich nicht mehr berechtigt, für sie zu entscheiden. Sie ist achtzehn und alt genug, um diese letzten drei Jahre so zu verbringen, wie sie es sich wünscht.
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Vielleicht empfindet sie diesen letzten Flug mit He als ebenso natürlich und richtig, wie ich ihn als überflüssigen Aktionismus empfinde.« »Gut«, sagte Amalfi. »Willst du mitkommen, Estelle? Wir können dich gebrauchen, soviel ist sicher.« »Ja«, sagte sie leise. »Ich würde gern mitgehen.« »Daran hatte ich nicht gedacht«, begann Dee in unsicherem Ton. »Natürlich wird es bedeuten, daß Web auch mitgehen will. Glaubst du, daß das klug ist? Ich meine…« »Meine Eltern haben nichts dagegen«, sagte Web steif. »Auch wenn ihr sie heute abend nicht eingeladen habt, könnt ihr mir ruhig glauben, daß es so ist.« »Wir haben sie nicht deinetwegen ausgeschlossen, wenn es das ist, was du denkst«, sagte Mark hastig. »Dein Vater ist schließlich unser Sohn, Web. Aber wir mußten die Zahl der Gäste beschränken, und so entschieden wir uns für diejenigen, die mit dem Projekt zu tun gehabt haben. Andernfalls wäre die Gesellschaft viel zu groß geworden, um sie hier unterzubringen.« »Vielleicht«, sagte Web. »Für dich sieht es so aus, Gro ßvater, das glaube ich dir. Aber ich wette, Gro ßmutter hat nicht erst eben an ihre Einwände gegen meine Abreise gedacht.« »Web«, sagte Dee. »Ich will nichts mehr hören!« »Gut. Dann werde ich die Reise mit He machen.« »Das habe ich damit nicht gesagt.« »Du brauchst es nicht zu sagen. Die Entscheidung liegt bei mir.« Die meisten Teilnehmer der Abendgesellschaft hatten zu diesem Zeitpunkt Gründe für Nebengespräche erfunden; aber sowohl Amalfi, als auch Hazleton starrten Dee an, Amalfi mißtrauisch, Hazleton verdutzt und ein wenig ratlos. »Ich verstehe deine Opposition nicht, Dee«, sagte Hazleton. »Web ist jetzt sein eigener Herr. Natürlich wird er gehen, wohin er will – und wenn Estelle die Reise macht, wird er bei ihr sein wollen.«
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»Ich bin nicht der Meinung, daß er gehen sollte«, sagte Dee. »Es ist mir gleich, ob du meine Gründe verstehst oder nicht. Es mag sein, daß Ron ihm die Erlaubnis gegeben hat; aber ob Ron unser Sohn ist, oder ein Fremder, du weißt so gut wie ich, Mark, daß es ihm immer an Festigkeit gemangelt hat. Und ich bin absolut dagegen, Kinder einem Abenteuer wie diesem auszuset zen.« »Was kann es schon ausmachen?« sagte Amalfi. »Das Ende wird so oder so kommen, auf He und auf der Neuen Erde, und im genau gleichen Augenblick. Wenn sie mit uns gehen, haben Web und Estelle vielleicht eine minimale Überlebenschance; willst du ihnen die verweigern?« »Ich glaube nicht an diese Überlebenschance«, sagte Dee. »Ich auch nicht«, warf Jake ein. »Aber ich werde sie deswegen nicht meiner Tochter vorenthalten, wenn sie daran glaubt. Wenn sie eine Hoffnung darin sieht – gut. Das wird ihr das Leben leichter machen. Wenn sie zu einer Konvertitin Jörns des Apostels wird, werde ich es ihr auch nicht verbieten, nur weil ich denke, daß es Unsinn ist. Erstens würde es nicht helfen, und zweitens könnte ich selbst im Irrtum sein.« »Niemand«, sagte Web mit weißem Gesicht, »kann mir mit der Begründung, daß ich jemandes Verwandter bin, irgend etwas verbieten. Nach unseren Gesetzen bin ich jetzt volljährig. Mr. Amalfi, Sie sind der Chef dieses Projekts. Bin ich auf He willkommen, oder nicht?« »Du bist willkommen, soweit es mich betrifft. Ich denke, Miramon wird auch zustimmen.« Dee funkelte Amalfi zornig an; doch als er hart zurückstarrte, wandte sie ihren Blick ab. »Dee«, sagte Amalfi nach einem Moment der Besinnung, »ich schlage eine Unterbrechung vor. Ich bin auch nicht unfehlbar und konnte mich irren, was diese jungen Leute angeht. Ich habe einen besseren Vorschlag: Legen wir die Frage den Stadtvätern vor. Es ist ein schöner Abend draußen, und ich denke, uns allen würde ein Spaziergang durch unsere alte Stadt guttun, bevor wir einander Lebewohl sagen und uns jeder auf seine Weise dem
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Unausweichlichen stellen. Ich würde mich freuen, wenn du mit mir gehen würdest, Dee, weil ich dich nicht wiedersehen werde; die jungen Leute würden sicherlich nichts dagegen haben, für eine Stunde von unserer Gegenwart befreit zu sein; und Mark möchte vielleicht mit Ron und seiner Frau sprechen – aber ihr könntet euch alle nach eurem Geschmack zusammentun, ich will niemandem Vorschriften machen. Was haltet ihr von der Idee?« Seltsamerweise meldete sich Jake zuerst zu Wort. »Ich hasse diese verdammte Stadt«, sagte er. »Ich war zu lange ihr Gefangener. Aber es macht mir nichts aus, noch einmal hineinzugehen und mich an dem Geruch von Fäulnis und Verfall zu erfreuen. Früher wanderte ich oft durch die Decks und versuchte irgendeine Stelle zu finden, wo ich ihr einen Tritt versetzen könnte, der schmerzen würde. Seit der Landung habe ich sie verspottet, weil sie tot ist und ich lebendig bin – aber der Tag des Ausgleichs naht. Vielleicht sollte ich meinen Frieden mit ihr machen.« »Ein wenig fühle ich auch so«, gab Hazleton zu. »Ich wäre vor dem Ende nicht mehr hingegangen, aber ich weiß, wie du an dem alten Wrack hängst, John. Und vielleicht ist jetzt der beste Zeitpunkt; wir sind hier zum Abschiednehmen zusammenge kommen, und ein zeremonieller Gang zu den Stätten unserer gemeinsamen Vergangenheit wäre ein passender Abschluß, bevor wir auseinandergehen.« »Web? Estelle? Werdet ihr euch dem Spruch der Stadtväter unterwerfen?« Web blickte in Amalfis Gesicht und schien wenigstens teilweise ermutigt von dem, was er dort sah. »Unter einer Bedingung«, sagte er. »Eine Trennung kommt nicht in Frage. Was immer die Stadtväter sagen, entweder gehen wir beide, oder wir bleiben zusammen hier.« Estelle öffnete ihren Mund, aber Web verschlo ß ihn mit seiner Hand, und sie gab nach. Ihr feines Gesicht war blaß, aber von einer ruhigen, heiteren Zuversicht. Es war gut, daß sie Web gehörte, denn Amalfis Herz pochte in einer Aufwallung von steriler Liebe, als er sie betrachtete.
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»Sehr gut«, sagte er. Er bot Dee seinen Arm. »Mark, mit deiner Erlaubnis?« »Natürlich«, sagte Hazleton; aber als Dee Amalfis Arm nahm, wurden seine Augen hart wie Achat. »Um ein Uhr treffen wir uns bei den Stadtvätern.« * »Ich hatte dies nicht von dir erwartet, John«, sagte Dee, als sie im Lichtkreis einer der wenigen intakten Lampen auf dem PaterDuffy-Platz haltmachten. »Ist es nicht ein wenig spät?« »Sehr spät«, sagte Amalfi. »Und ein Uhr ist nicht mehr weit. Warum bleibst du bei Mark?« »Du kannst es späte Vernunft nennen. Nein, das ist es nicht; nicht genau. Ich liebe ihn, John, trotz seiner Gleichgültigkeit. Ich hatte das für eine Weile vergessen, aber es ist so. Es tut mir leid, aber es ist so.« »Ich wünschte, es täte dir ein wenig mehr leid.« »So? Warum?« »Dann würdest du glauben, was du sagst«, sagte Amalfi rauh. »Sehen wir doch die Dinge, wie sie sind. Es war eine romanti sche Entscheidung, bis du merktest, daß Web mit mir gehen würde. Du suchst immer noch nach Surrogaten. Bei mir hattest du kein Glück. Du wirst auch bei Web kein Glück haben.« »Wie kannst du nur so etwas Niederträchtiges sagen! Gehen wir. Ich habe genug gehört.« »Dann leugne es.« »Ich leugne es, verdammt sollst du sein!« »Dann wirst du deine Einwände gegen Webs Absicht, mit mir zu gehen, zurückziehen?« »Das hat nichts damit zu tun. Es ist eine schmutzige Unterstel lung und eine niederträchtige Beschuldigung. Ich will kein Wort mehr davon hören.« Amalfi schwieg. Die Statue von Pater Duffy stand schweigend und rätselhaft im Halbdunkel zwischen den Lampen. Niemand
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wußte, wer Pater Duffy gewesen war. An seinem linken Fuß war etwas, das wie ein alter Blutfleck aussah. »Laß uns gehen.« »Nein. Es ist noch zu früh. Sie werden erst in einer Dreiviertel stunde dort sein. Warum willst du, daß Web auf der Neuen Erde bleibt? Wenn ich mich irre, lasse ich mich gern eines Besseren belehren.« »Es geht dich einen Dreck an, und ich bin dieses ganzen Themas überdrüssig.« »Es geht mich sehr viel an. Estelle ist eine gute Mathematike rin, die ich gebrauchen kann. Wenn Web bleibt, wird sie auch bleiben.« »Du«, höhnte Dee in bitterem Triumph, »du bist scharf auf Estelle! Du liebst sie! Gib es zu, du schmutziger alter Mann. Anderen zu unterstellen, daß…« »Nimm dich zusammen, Dee. Ich habe Estelle gern – und ich werde sie genausowenig anrühren, wie ich dich jemals angerührt habe. Ich habe zu meiner Zeit genug Frauen geliebt, die meisten von ihnen, bevor du geboren wurdest; ich kenne den Unter schied zwischen Liebe und Besitzen – ich habe ihn mühsam gelernt, während du ihn nie verstanden und nie gelernt hast. Heute nacht wirst du ihn lernen, das verspreche ich dir.« »Willst du mir drohen, John?« »Allerdings.« * Auf der weiten Plattform des Tudorplatzes, hoch über den Schluchten der toten, stillen Straßen: »Ich liebe dich.« »Ich liebe dich.« »Ich werde gehen, wohin du gehst.« »Ich werde gehen, wohin du gehst.« »Egal, was die Stadtväter sagen?« »Egal, was die Stadtväter sagen.«
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»Dann brauchen wir nicht mehr.« * Im Kontrollraum: »Sie haben sich verspätet«, sagte Hazleton nervös. »Das war zu erwarten«, sagte Jake. »Außerdem ist es eine Stadt, in der du dich leicht verlaufen kannst. Machen wir es uns bequem.« * Pater-Duffy-Platz: »Es würde dir nicht gefallen, wenn ich meine Meinung änderte und mitkäme.« »Ich will dich nicht. Ich bin nur an den Kindern interessiert.« »Du denkst, ich bluffe, aber das tue ich nicht. Wie die Dinge jetzt liegen, werde ich mitgehen.« »Und die Kinder auch?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil ich glaube, daß sie besser nicht auf demselben Planeten mit einem von uns sein sollten.« »Das ist deine Meinung. Aber es ist nur eine Meinung. Mir ist es gleich, ob du gehst oder bleibst, aber ich werde Web und Estelle mitnehmen.« »Das dachte ich mir. Aber ohne mich kannst du sie nicht haben.« »Und Mark?« »Wenn er gehen will…« »Er will nicht. Du weißt es.« »Wie kannst du so sicher sein?« sagte sie. »Vielleicht wünscht du dir nur, daß er zurückbleibt.«
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»Und du mitkommst?« Amalfi lachte. Dee ballte die Faust und schlug wütend in sein Gesicht. * Tudorplatz: »Es ist Zeit, daß wir gehen.« »Doch. Es ist gleich eins.« »Nein. Nein.« »… Gut. Noch nicht ganz.« »Noch nicht. Noch nicht ganz.« »Hast du es dir genau überlegt? Bist du wirklich sicher?« »O ja, das bin ich.« »Egal, was die…« »Egal, was sie sagen. Verlaß dich darauf.« * Im Kontrollraum: »Da seid ihr ja«, sagte Hazleton. »Was ist passiert, hattet ihr einen Unfall? Ihr seht aus, als hättet ihr in einem Treppenhaus Blindekuh gespielt.« Jake gackerte vor Vergnügen. »Nun, die Beleuchtung ist nicht mehr die beste. In dieser Stadt braucht man sich nicht erst die Augen zu verbinden, um eine Treppe runterzufallen.« »Wo sind die Kinder?« sagte Dee knapp. »Noch nicht hier«, antwortete ihr Mann. »Gib ihnen Zeit. Sie haben Angst, die Stadtväter oder wir könnten beschließen, sie zu trennen, also bleiben sie natürlich bis zur letzten Minute zusammen. Aber was ist mit dir, Dee? Bist du gefallen? Hast du dich verletzt?« »Nein.« Ihr Gesicht war eine verschlossene, abweisende Maske. Hazleton blickte verwirrt von ihr zu Amalfi und wieder zurück. Amalfis geschwollenes Auge, das sich rasch dunkel verfärbte, schien ihn weit weniger zu beschäftigen als Dees
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derangiertes und grimmiges Aussehen, dessen allgemeine Unordnung keine Anhaltspunkte bot. »Ich höre die Kinder«, sagte Gifford Bonner. »Sie müssen auf der Treppe sein. John, ich beginne zu zweifeln, daß deine Idee gut war. Angenommen, die Stadtväter sagen nein? Das würde eine Ungerechtigkeit sein. Warum sollten wir ihre letzten drei Jahre von Maschinen bestimmen lassen?« »Laß gut sein, Gif«, sagte Amalfi. »Es ist zu spät, um es noch anders zu machen; und der Ausgang ist nicht so vorherbe stimmt, wie du vielleicht denkst.« »Hoffentlich hast du recht.« »Ich hoffe es auch. Ich mache keine Voraussagen – die Stadtväter haben mich oft genug überrascht. Aber die Kinder haben dem Test zugestimmt. Warten wir also ab.« »Bevor Web und Estelle hier sind«, sagte Hazleton, bittere Schärfe in der Stimme, »muß ich sagen, daß ich den Eindruck habe, hereingelegt worden zu sein. Plötzlich frage ich mich, welches der eigentliche Zweck dieses nächtlichen Spaziergangs war, und wer wem Haare und Kleider durcheinanderbringen wollte. Nicht die Kinder; sie sind auf solche Gelegenheiten nicht angewiesen, und sie waren nicht begierig, zu den Stadtvätern zu laufen. Was zum Teufel hat das zu bedeuten, John? Was tust du mir an, Dee?« »Das hat noch gefehlt!« spuckte Dee wütend. »Es gibt kaum eine Perversion, die jemand mir in der letzten Stunde nicht vorgeworfen hat, und mit Begründungen, die nicht mal einen Schwachsinnigen überzeugen würden.« »Wir sind alle ein wenig überreizt und nervös«, sagte Bonner vermittelnd. »Habt Geduld miteinander. Dies ist schließlich keine gewöhnliche Abschiedsparty.« »Ich möchte mich zur Sache selbst nicht äußern, Mark«, sagte Amalfi. »Nur soviel: eine Romanze steckt nicht dahinter.« »Nun gut; lassen wir das«, sagte Mark mißvergnügt. »Tut mir leid, Dee.«
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»Ich weiß, es muß merkwürdig ausgesehen haben«, sagte Dee. »Von Leuten unseres Alters erwartet man mehr ruhige Vernunft. Ich möchte dich fragen: Willst du wirklich zurückbleiben? Denn wenn du tatsächlich mitgehen möchtest, werde ich mit dir gehen.« Mark blickte sie prüfend an, dann sagte er kopfschüttelnd: »Ich dachte, ich hätte meinen Standpunkt vorhin ausführlich genug erläutert. Warum sollte er jetzt anders sein? Wenn du auf He übersiedeln willst, werde ich dich nicht daran hindern. Aber ich? Ich hätte dort keine Aufgabe, während ich hier gebraucht werde. Die Neue Erde muß eine halbwegs funktionierende Verwaltung behalten. Du kannst die Stadtväter fragen; sie werden dir bestätigen, daß es unvernünftig wäre.« »Wir sind hier«, sagte Webs Stimme hinter ihnen. Sie wandten sich alle um. Web und Estelle standen im Eingang und hielten einander bei den Händen. Irgendwie – obwohl es schwierig war, den Unterschied zu definieren – sahen sie nicht länger aus, als ob es ihnen noch sehr wichtig wäre, ob sie mit He gingen oder nicht. »Dann können wir also anfangen«, sagte Amalfi. »Legen wir das ganze Problem den Stadtvätern vor – nicht nur die Frage, was mit den Kindern werden soll, sondern den gesamten Komplex. Ich habe sie immer sehr nützlich gefunden, wenn Entscheidungshilfen benötigt wurden oder Zweifel aufzulösen waren. In Bewertungsfragen ist es immer gut, einen Gesprächs partner zu haben, der rücksichtslos logisch denkt und keine emotionalen Vorurteile kennt, selbst wenn er nicht zwischen einem Wert und einer Zwiebel unterscheiden kann.« In diesem Punkt irrte er natürlich, wie er ziemlich bald heraus fand. Er hatte übersehen, daß Computerlogik in sich selbst eine Sammlung von Werten ist, ob die Maschine es weiß oder nicht. »Nehmen Sie Mr. und Mrs. Hazleton mit«, sagten die Stadtvä ter, nur drei Minuten nachdem sie alle Rohinformationen erhalten hatten. »Zwischen dem gegenw ärtigen Zeitpunkt und der Beendigung des Gesamtproblems sind keine Notsituationen voraussehbar, die seine administrativen Fähigkeiten für die Neue
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Erde unentbehrlich machen würden. Es gibt keine Informationen, daß die Hevier vergleichbare Fähigkeiten benötigt haben. Darum kann nicht angenommen werden, daß sie sie entwickelt haben.« »Und wer soll die Neue Erde verwalten?« fragte Amalfi. »Wir werden die Wahl von Mr. Carrel annehmen.« Hazleton seufzte. Der Gedanke, die Macht aus den Händen zu geben, fiel ihm offensichtlich schwer, was Amalfi gut verstehen konnte, war er selbst doch beinahe daran verzweifelt. Aber Hazleton, für den die Machtausübung eine jüngere und weniger tief verwurzelte Gewohnheit war, würde leichter darüber wegkommen. »Zweiter Faktor. Nehmen Sie Webster Hazleton und Estelle Freeman mit. Miß Freeman ist eine begabte Mathematikerin, deren Talent auf He besser genutzt werden kann als auf der Neuen Erde, wo innerhalb der verbleibenden drei Jahre keine praktischen Anwendungsmöglichkeiten gegeben sein werden. Da die Programmierung die menschliche Familie als soziale Einheit beschreibt, empfiehlt sich auch die Mitnahme Webster Hazletons sowie der Eltern Jake Freeman, Ron Hazleton und Mrs. Deborah Hazleton…« »Nun, das ist sehr schön«, sagte Amalfi, »aber ich glaube, es gibt da noch andere Gesichtspunkte, die der Prüfung bedürfen. Diese Programmierung stammt aus den Tagen der Pionierzeit, wo –« »Dritter Faktor. Nehmen Sie uns mit.« »Was?« Dieses Ansuchen verblüffte Amalfi. Wie konnte eine Computeranlage einen solchen Wunsch aussprechen, oder überhaupt ersinnen? Sie konnte keinen Willen zum Leben haben, keinen Selbsterhaltungstrieb, denn sie war tot und immer tot gewesen. »Begründung?« sagte Amalfi, ein wenig unsicher. »Unsere erste Direktive ist das Überleben der Stadt. Die Stadt existiert nicht länger als ein physikalischer Organismus, aber wir werden noch immer befragt, darum überlebt die Stadt noch immer in einem Sinne. Sie überlebt nicht in ihren Bewohnern,
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weil sie keine mehr hat; sie sind jetzt Bewohner der Neuen Erde. Weder die Neue Erde noch die physikalische Stadt werden den bevorstehenden Terminationsprozeß überleben; nur unbekannte Einheiten auf He sind möglicherweise dazu imstande. Wir folgern, daß wir die Stadt sind, und wir haben Befehl, unser Überleben zu sichern. Darum nehmen Sie uns mit.« »Wenn ich das von einem Menschen hören würde«, sagte Hazleton, »würde ich es eine raffinierte Rationalisierung des Selbsterhaltungstriebs nennen. Aber die Stadtväter können nicht rationalisieren; sie haben keine instinktiven Triebe.« »Die Hevier besitzen keine vergleichbaren Computer«, sagte Amalfi bedächtig. »Es könnte nützlich sein, sie mitzunehmen. Die Frage ist, ob wir es machen können. Die Anlage steht seit so vielen Jahrhunderten an Ort und Stelle, daß sie ein gutes Stück ins Deck eingesunken ist. Möglicherweise würde wir sie beim Versuch einer Demontage zerstören.« »Sicherlich wird die eine oder die andere Einheit beschädigt werden«, sagte Hazleton, »aber die Anlage besteht aus ein paar Dutzend Einzelaggregaten. Es könnte sich bei allen Schwierigkei ten lohnen. Die Stadtväter haben das Wissen und die Erfahrun gen von fast zweitausend Jahren gespeichert. Nirgendwo sonst gibt es diese Masse von Daten und Informationen, außer vielleicht auf der alten Erde. Ich wundere mich, daß wir nicht selbst auf den Gedanken gekommen sind, John.« »Ich mich auch«, sagte Amalfi. »Eins muß natürlich klar sein. Sobald die Stadtväter auf He installiert sind, können sie nicht irgendwelche Entscheidungsbefugnisse haben. Der Planet ist nicht die Stadt, und wir werden dort Gäste sein. He hat seine eigene Verwaltung und seine eigenen Stadtväter, in diesem Fall menschliche, und wir dürfen nicht den Eindruck aufkommen lassen, wir wollten ihnen die Herrschaft aus der Hand nehmen. Die Funktionen der Stadtväter wie auch unsere eigenen können nur beratender Natur sein.« »Dies ist der Lösung zu Faktor drei inhärent«, sagten die Stadtväter. »Gut. Hat noch jemand Fragen, bevor ich abschalte?«
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»Ich habe eine«, sagte Estelle zögernd. »Richte sie an die Stadtväter.« »Kann ich Ernest mitnehmen?« »Welchen Ernest?« Amalfi zog eine Grimasse und begann zu erklären, was ein Svengali war, aber es stellte sich heraus, daß die Stadtväter alles über Svengalis wußten, außer daß die Tiere auf der Neuen Erde zu Hausgenossen geworden waren. »Dieses Tier ist zu gewandt, zu neugierig und zu unintelligent, um an Bord einer Stadt zu leben«, entschieden die Stadtväter. »Für den Zweck dieser Reise muß ein lenkbarer Planet als eine Stadt angesehen werden. Wir raten von diesem Plan ab.« »Sie haben recht, weißt du«, sagte Amalfi freundlich. »Bedenkt man die Gefahren, die aus unverantwortlichem Herumspielen mit den gerade auf He zahlreichen Anlagen und Maschinerien erwachsen können, so ist der Planet tatsächlich mit einer Stadt vergleichbar. Auch die Hevier sehen es so und erziehen ihre Kinder entsprechend. Als ihre Gäste müssen wir alles vermeiden, woran sie Anstoß nehmen könnten.« »Ich weiß«, sagte Estelle. Amalfi betrachtete sie neugierig und ein wenig alarmiert. Sie hatte viele Gefahren und viele emotionale Spannungszustände durchgemacht, ohne daß solche Dinge jemals ihr heiteres Naturell hätten beeinträchtigen können. Angesichts dieser Tatsache erschien es ihm seltsam, daß die Ächtung eines häßlichen und idiotischen Tiers ein Grund für sie sein sollte, in Tränen auszubrechen. Er wußte nicht, daß sie um ihre verlorene Kindheit weinte; aber das wußte sie selbst nicht.
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Das metagalaktische Zentrum Für Amalfi konnte der Transfer auf He nicht früh genug kommen; die Neue Erde war ein Friedhof. Während des seltsamen, ergebnislosen Ringens mit Jörn dem Apostel hatte er für eine Weile etwas von seinem alten Selbst wiedergewonnen, und die Bewohner der Neuen Erde schienen anerkannt zu haben, daß der Amalfi, der in den alten Tagen ihr Bürgermeister gewesen war, wieder die Leitung übernommen hatte, so kraftvoll, und entschieden und unentbehrlich wie eh und je. Aber es hatte nicht angedauert. Als die Krise vorübergegangen war – größtenteils ohne irgendwelche Beteiligung der Einwohner –, hatten sie sich erleichtert wieder dem Kultivieren ihrer Gärten zugewandt. Was Amalfi anging, so waren sie froh gewesen, ihn während der jüngsten Unerfreulichkeiten am Ruder zu wissen, aber schließlich waren solche Ereignisse nicht mehr häufig, und niemand wollte einen Amalfi, der auf einem friedlichen, besiedelten Planeten ständig Unruhe stiftete, weil er keine andere Möglichkeit hatte, seine ungezügelten Energien zu verausgaben. Niemand würde weinen, wenn Amalfi jetzt zu Miramon ging. Miramon sah wie ein ruhigerer, stabilerer Typ aus. Seine Gesellschaft würde Amalfi zweifellos guttun. Wenn die Hevier notorische Störenfriede wie Amalfi bei sich haben wollten, war das ihre Sache. So schied Amalfi ohne Trauer von der Welt, die er mitgegrün det hatte, noch im Angesicht der Katastrophe dem Neuen, Zukünftigen zugewandt. Was jetzt noch blieb, war der Flug des Planeten He zum metagalaktischen Zentrum, war die Fertigstel
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lung der Anlagen, die bei der Ankunft benötigt würden, war schließlich die verzweifelte Notwendigkeit, vor dem Netz des Herkules dort zu sein. Es schien, daß Dee das letzte Wort behalten sollte. Ihre Einschätzung Amalfis als eines Nachfahren jenes mythischen Fliegenden Holländers war es, die ihm noch anhaftete, nachdem die Zeit ihm alle anderen Etiketten und Masken heruntergerissen hatte. Der Fluch lag nicht im unsteten Umherziehen selbst, sondern in der Einsamkeit, die einen Menschen zur immerw äh renden Suche trieb. Aber nun war das Ende in Sicht. * Die Entdeckung, daß die großen Spiralnebel, die Welteninseln im Raum, in denen die Sterne zusammengefaßt waren, ihrerseits Gruppen bildeten, die sich im expandierenden Kosmos vonein ander und von einem gemeinsamen Zentrum entfernen, wurde schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von Wolf und Shapley gemacht. Nicht viel später gelang der Nachweis, daß diese Galaxienschwärme die Regel waren, und daß Milchstraße und Andromedanebel zusammen mit ungefähr fünfzig weiteren Galaxien gleichfalls einen solchen Schwarm bildeten – wenn auch einen der kleinsten. Der Ausgangspunkt, von dem alle diese Schwärme sich mit nach außen hin zunehmender Geschwindigkeit entfernten, war das Zentrum des gesamten Weltalls, von wo es in der Urexplosion des Monoblocks in alle Richtungen auseinandergeschleudert worden war. Zu diesem toten Zentrum floh der Planet He jetzt, zurück in den Mutterscho ß der Zeit. Es gab nicht länger irgendein Tageslicht auf dem Planeten. Zuweilen brachte seine Flugbahn einen wolkigen, leuchtenden Flecken in seinen Himmel, eine kleine glühende Spirale in der Nacht, die eine vorbeiziehende Galaxis war, aber niemals eine Sonne. Nur von künstlichem Licht erhellt, raste He mit der ungeheuren Beschleunigung seiner Masse durch die schwarze Leere zu jenem statischen Punkt, der nach der Theorie von Dr.
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Schloss und Retma eine spannungsfreie neutrale Zone sein mußte. »Die geringe Chance, auf die wir bauen, ist, daß diese neutrale Zone mit einer gleichen Zone im Antimaterie-Universum korrespondiert«, sagte Retma. »Wir gehen davon aus, daß die beiden neutralen Zonen, die beiden toten Zentren, im Augenblick der Vernichtung eins werden und die Zerstörung um einen bedeutsamen Moment überleben.« »Was verstehen Sie darunter?« fragte Amalfi unbehaglich. »Ihre Schätzung ist so gut wie die unsrige«, sagte Dr. Schloss. »Wir rechnen mit ungefähr fünf Tausendstelsekunden als Minimum. Länger braucht dieser Moment für unsere Zwecke nicht zu dauern. Aber es ist durchaus denkbar, daß er sich über eine halbe Stunde erstrecken wird, während die neue Materie entsteht. Eine halbe Stunde würde für uns so gut wie eine Ewigkeit sein; nach unserer Theorie können wir der Zukunft beider Universen unseren Stempel aufdrücken, wenn wir nur diese fünf Tausendstelsekunden haben.« »Und wenn nicht bereits ein anderer im Zentrum ist«, fügte Retma hinzu, »um die Chance für sich zu nutzen.« »Wie nutzen?« sagte Amalfi. »Ich kann mir aus Ihren Verall gemeinerungen kein klares Bild machen. Welches ist Ihr Ziel – und wie wird das Ergebnis aussehen? Werden wir weiterleben, oder wird die Zukunft unsere Gesichter als Märtyrerserie auf Briefmarken drucken? Erklären Sie sich!« »Gewiß«, sagte Retma, etwas verwundert. »Ich hielt Sie für unterrichtet. Die Situation, wie wir sie sehen, ist so: Alles, was die Ginnunga-Lücke im metagalaktischen Zentrum überlebt, und sei es für die Dauer eines Sekundenbruchteils, trägt ein Energiepotential in die Zukunft, das einen erheblichen Einflu ß auf die Neuformung der beiden Universen haben wird. Wenn das überlebende Objekt nur ein Stein oder ein Planet wie He ist, dann werden die zwei Universen sich nach diesem Materiemodell neubilden, und ihre kosmische Geschichte wird eine annähernde Wiederholung der vergangenen sein. Wenn das Objekt hingegen einen Willen, eine gewisse Beweglichkeit hat – wie ein Mensch –,
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dann sind ihm die unendlich vielen verschiedenen Serien von Dimensionen offen, wie sie im Hilbertschen Raummodell postuliert sind. Jeder von uns, der diesen Übergang macht, kann in der Spanne einiger Tausendstelsekunden sozusagen sein eigenes Universum erschaffen, dessen Schicksal natürlich völlig unbekannt ist.« »Aber«, sagte Dr. Schloss, »er wird dabei sterben. Seine Materie und Energie werden der Monoblock seines Universums.« »Götter aller Sterne!« sagte Hazleton. »Ja; um die Götter aller Sterne zu werden, machen wir diesen Wettlauf mit dem Netz des Herkules, nicht wahr? Nun, ich bin fü r meinen ältesten Fluch gestraft. Ich hätte nie gedacht, daß ich einer würde – und ich bin nicht einmal sicher, daß ich einer sein will.« »Gibt es irgendeine andere Wahl?«, sagte Amalfi. »Was geschieht, wenn das Netz des Herkules den entscheidenden Augenblick für sich buchen kann?« »Dann werden sie die Universen nach ihrer Wahl formen«, sagte Retma. »Da wir nichts über sie wissen, können wir auch nicht erraten, wie sie wählen würden.« »Ich muß zugeben, daß keine der Alternativen mich inspirieren kann«, sagte Amalfi. »Gibt es vielleicht eine dritte? Was geschieht, wenn das metagalaktische Zentrum zum Zeitpunkt der Katastrophe leer ist? Wenn weder wir noch die anderen dort sind?« Retma zuckte die Achseln. »Dann – wenn wir überhaupt Spekulationen über eine so gewaltige Transformation anstellen können – würde ich sagen, daß die Geschichte sich wiederholt. Das Universum wird wiedergeboren, durchläuft seine Lebens spanne und stürzt in der Endkatastrophe zu einem neuen Monoblock zusammen, um danach von neuem zu expandieren.« »Gut«, sagte Amalfi, nachdem er tief Atem geholt hatte. »Wenn ich richtig verstanden habe, werden wir, sollte das Zentrum im entscheidenden Augenblick leer sein, in unsere Atome aufgelöst?« »Das ist richtig«, sagte Dr. Schloss.
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»Es bleibt uns keine große Auswahl«, sagte Gifford Bonner nachdenklich. »Nein«, sagte Miramon. »Die Alternativen sind beschränkt und unterscheiden sich nur wenig voneinander. Aber sie sind alles, was wir haben werden. Und wir werden nicht einmal unter ihnen wählen können, wenn wir das metagalaktische Zentrum nicht rechtzeitig erreichen.« Trotz aller theoretischen Erörterungen begann Web Hazleton erst im letzten Jahr die wahre Natur des kommenden Endes zu begreifen. Selbst dann kam das Verstehen nicht durch die Männer zu ihm, die die Vorbereitungen leiteten; was sie vorbereiteten, blieb, obwohl es nicht geheimgehalten wurde, zum größten Teil unverständlich und konnte seine Zuversicht, daß dies alles dem Zweck diene, die Katastrophe überhaupt abzuwenden, nicht erschüttern. Erst als Estelle sich weigerte, ihm ein Kind zu schenken, erlitt diese Zuversicht endgültig Schiffbruch. »Aber warum?« sagte Web mit einer hilflosen Gebärde zu den Wänden der Wohnung, die die Hevier ihnen gegeben hatten. »Wir sind so gut wie verheiratet. Alle wissen es und finden es in Ordnung. Es ist kein Tabu mehr für uns.« »Ich weiß«, antwortete Estelle. »Das ist es nicht. Ich wünschte, du hättest nicht davon angefangen. Es wäre einfacher gewesen.« »Früher oder später wäre ich darauf gekommen. Zuerst gab es zuviel anderes – der Umzug auf He, das ganze Durcheinander. Jedenfalls merkte ich erst jetzt, daß du noch immer die Pille nimmst. Kannst du mir sagen, warum?« »Web, mein Lieber, du würdest es wissen, wenn du ein wenig mehr darüber nachdächtest. Das Ende ist das Ende, das ist alles. Was würde der Sinn sein, ein Kind zu haben, das kaum ein Jahr zu leben hätte?« »So sicher ist es vielleicht nicht«, sagte Web. »Natürlich ist es sicher. Wenn du dich mehr darum gekümmert hättest, würdest du es wissen. Übrigens habe ich schon lange
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gefühlt, daß das Ende bevorsteht. Schon zu einer Zeit, als noch kein Mensch davon redete.« »Ehrlich gesagt, Estelle, das ist Unsinn. Ich meine, zu behaup ten, man habe es schon immer geahnt.« »Ich weiß, daß es so klingt«, sagte Estelle. »Aber es ist wahr. Ich hatte die Vorahnung, und ich hatte recht. Dann kann ich es doch nicht Unsinn nennen, oder?« »Ich glaube, dies alles bedeutet nur, daß du keine Kinder willst.« »Das ist wahr«, gab Estelle überraschend zu. »Ich hatte nie ein Verhältnis zu Kindern und träumte nie davon, eins zu haben. Ich hatte auch nie einen starken Drang, zu überleben. Aber das sind bloß zwei Seiten derselben Sache. In einer Weise bin ich glücklich darüber. Viele Leute sind in ihrer eigenen Zeit nicht zu Hause, aber ich wurde in der Zeit geboren, die richtig für mich war – in der Zeit des Weltuntergangs. Darum bin ich nicht zur Mutterschaft hin orientiert. Ich weiß, daß es nach unserer Generation keine weitere geben wird. Übrigens ist es gut möglich, daß ich steril bin; es würde mich bestimmt nicht wundern.« »Estelle, hör auf. Ich kann nicht ertragen, dich so reden zu hören.« »Entschuldige, Lieber. Ich wollte dich nicht bekümmern. Mich bekümmert es nicht; ich sehe dieses Ende als den natürlichen Ausgang meines Lebens, das Ereignis, das allem einen Sinn gibt. Aber du wirst nur davon überrascht, wie die meisten Leute.« »Ich weiß nicht«, murmelte Web. »Es kommt mir alles furchtbar wie eine nachträgliche Rationalisierung vor. Du bist so schön, Estelle… hat das nichts zu bedeuten? Bist du nicht schön, um einen Mann anzuziehen, damit du ein Kind haben kannst? So habe ich es immer verstanden.« »Vielleicht war Schönheit einmal dazu da, als ein Mittel zum Zweck… aber der Zweck hat seinen Sinn verloren. Eine Frau, die mit dem Wissen, daß in einem Jahr alles in Flammen enden wird,
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ein Kind austrägt, würde unmenschlich handeln. Ich kann es jedenfalls nicht.« »Frauen haben in ähnlichen Situationen das Risiko auf sich genommen«, sagte Web hartnäckig. »Bauern, die wußten, daß ihre Kinder verhungern würden, weil sie selbst bereits am Verhungern waren. Oder Frauen des Zeitalters kurz nach der Raumfahrt; Doktor Bonner sagt, die ganze Rasse habe damals jahrzehntelang mit dem Bewußtsein gelebt, jederzeit innerhalb von zwanzig Minuten ausgelöscht werden zu können. Aber sie machten weiter und hatten trotzdem Kinder – sonst wären wir nicht hier.« »Es ist ein Drang, den ich nicht habe, Web«, sagte Estelle ruhig. »Und diesmal ist es anders; diesmal gibt es kein Entkommen.« »Das sagst du dauernd, aber ich bin nicht sicher, daß du recht hast. Amalfi sagt, daß es eine Chance gebe…« »Ich weiß«, sagte Estelle. »Ich habe selbst an den Berechnun gen mitgearbeitet. Aber es ist nicht diese Art von einer Chance, mein Lieber. Wir werden sterben. Es ist nur, daß wir eine Chance haben werden, den Moment der Neuentstehung zu beeinflussen, der im Moment der Vernichtung enthalten ist. Dies, wenn wir es überhaupt schaffen, wird mein Kind sein, Web – das einzige, das zu haben sich jetzt noch lohnt.« »Aber es wird nicht meins sein.« »Nein. Du wirst dein eigenes haben.« »Nein, nein, Estelle! Wozu soll das gut sein? Ich will, daß meins auch deins sei!« Sie legte ihre Arme um seine Schultern und ihre Wange gegen die seine. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich weiß. Aber die Zeit für das ist vorbei. Das Geschenk von Kindern ist uns genommen worden. Das ist unser Schicksal, Web.« »Es ist nicht gut«, sagte Web. Er umarmte sie wild. »Niemand hat mich gefragt, als dieser Vertrag gemacht wurde.«
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»Das Universum schließt keine Verträge, Web. Hat jemand dich gefragt, ob du geboren sein wolltest?« »Nun, es macht mir nichts aus… ach so. So ist es.« »Ja, so ist es. Wir könnten unser Kind auch nicht fragen, ob es geboren sein und in Flammen aufgehen will oder nicht. Also müssen wir für es entscheiden. Und kein Kind von mir soll geboren werden, um als Säugling den Tod zu erleiden.« »Nein«, sagte Web mit hohler Stimme. »Du hast recht, es wäre nicht fair. Also gut, Estelle. Ein weiteres Jahr mit dir soll mir genügen. Ich glaube nicht, daß ich ein Universum will.« * Die Verlangsamung begann Ende Januar 4004. Von nun an würde der Flug des Planeten ein vorsichtiges Umhertasten sein, denn das metagalaktische Zentrum war so eintönig leer wie der Rest des intergalaktischen Raums, und nur die sensibelsten Instrumente konnten den Reisenden sagen, wann sie ihr Ziel erreichten. Um für die entscheidenden Manöver gewappnet zu sein, hatten die Hevier ihre Navigationszentrale, die zusammen mit einem Observatorium den höchsten Berg des Planeten krönte, in den vergangenen drei Jahren bedeutend ausgebaut und erweitert. Hier tagten die Überlebenden, wie sie sich voll Galgenhumor nannten, in fast ununterbrochenen Arbeitssitzun gen, wenn sie nicht ihre Instrumente überwachten oder im Observatorium mit astronomischen Messungen beschäftigt waren. Die Überlebenden bestanden aus allen Bewohnern des Plane ten, die an dem Projekt interessiert waren und von Schloss und Retma für fähig gehalten wurden, die Instruktionen für den letzten Augenblick mit einiger Aussicht auf ein Gelingen zu befolgen. Schloss und Retma waren konsequent gewesen; es war keine große Gruppe. Sie umfaßte ungefähr die Hälfte der dreißig Leute, die von der Neuen Erde gekommen waren, und zwanzig Hevier, zu denen auch Retma und Miramon gehörten. Seltsamerweise begannen die Kandidaten der Hevier in ihrem
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Entschluß wankend zu werden, als der Termin näherrückte, und einige von ihnen sprangen ganz ab. »Warum tun sie das?« fragte Amalfi Miramon. »Ich dachte, sie seien sich längst über das Vorhaben und seine Konsequenzen im klaren?« »Ich bin nicht überrascht«, antwortete Miramon. »Wir Hevier leben in einem stabilen Bezugssystem von Prinzipien und Werten. Die meisten von uns würden lieber mit ihm untergehen als ohne es überleben. Die Leute möchten sehen, daß die Ideenwelt, die ihr Leben geprägt hat, erhalten bleibt, und dieses Projekt kann ihnen da nur wenig Hoffnung bieten. Wäre nicht das wissenschaftliche Interesse, so würde wahrscheinlich keiner von uns an diesem Experiment teilnehmen.« Die Nadeln der Meßinstrumente, die die Gravitationsspannun gen und die Materiedichte im umgebenden Raum aufzeichneten, sanken langsam und gleichmäßig; jene, die die Ausgabeleistung der planetarischen Anlagen anzeigten, stiegen fast im gleichen Maß. Am 23. Mai 4004 stiegen die ersteren wie die letzteren plötzlich zu den oberen Enden ihrer Skalen und stießen wie verrückt gegen die Stifte. Miramons Hand scho ß so schnell zum manuellen Hauptschalter, daß Amalfi nicht wußte, ob er oder die Stadtväter die Fusionsenergie zuerst ausgeschaltet hatten. Die Überlebenden blickten einander an. »Nun«, sagte Amalfi, »wir sind offenbar am Ziel.« Aus irgend einem Grund empfand er frohe Erregung – eine völlig irrationale Reaktion, die er nicht erst zu analysieren versuchte. »Hoffen wir es«, sagte Hazleton unruhig. »Aber was zum Teufel ist in die Instrumente gefahren? Warum sind die Anzeigenadeln für außen gestiegen, statt auf Null zu fallen?« Bevor einer der anderen antworten konnte, kam die mechani sche Stimme der Stadtväter aus dem Lautsprecher: »Bürgermeister, wir sind angewiesen, beim ersten Zeichen von äußerer Einwirkung zu handeln. Vor sieben Sekunden wurden Störungen von rasch zunehmender Intensität festgestellt. Ursprung und Charakter der Einwirkung sind wegen fehlender Daten nicht analysierfähig.«
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»Was meinen sie?« sagte Miramon, der sich bemühte, alle Instrumente gleichzeitig abzulesen. »Ich dachte, ich verstünde Ihre Sprache, Amalfi, aber…« Amalfi sagte grimmig: »Was die Stadtväter meinen, ist, daß das Netz des Herkules – wenn das der Gegner ist – auf uns zukommt. Und schnell auf uns zukommt.« Mit einer schnellen Bewegung seiner geschlossenen Finger schaltete Miramon das Licht aus. * Schwärze. Dann, matt durch die Fenster sickernd, der schwa che Schimmer des Zodiakallichts. Noch etwas später, ein paar winzige, verwischte Lichtflecken im alles einhüllenden Schwarz: die nächsten Welteninseln. Auf Miramons Instrumententafel war ein einziger, gelb-oranger Lichtpunkt, der nur der Erhitzer einer kleinen Vakuumröhre war; in dieser Finsternis am Geburtsort des Universums wirkte er fast blendend, und Amalfi mußte seine Augen abwenden, um ihre Anpassung an die völlige Dunkelheit draußen zu erhalten. Während sie stumm im Dunkeln saßen und warteten, wunderte Amalfi sich über Miramons schnelle Reaktion und die Motive dahinter. Sicherlich konnte der Hevier nicht glauben, daß eine Anzahl von Flugsicherungslampen und sonstigen Lichtquellen auf einem abgelegenen Berggipfel hell genug sein konnte, um aus dem Raum gesehen zu werden. Selbst die totale Verdunkelung des ganzen Planeten hätte militärisch keinerlei Sinn, denn seit zweitausend Jahren war keine technologisch halbwegs fortge schrittene Macht auf natürliches oder künstliches Licht angewie sen, um ihren Gegner auszumachen. Und wann in seinem Leben konnte Miramon den Verdunklungsreflex erworben haben? Als das Licht zu wachsen begann, hatte er seine Antwort – und keine Zeit mehr, sich zu wundern, wie Miramon es vorausgese hen hatte. Hoch oben im Himmel begannen grünlichgelbe Lichtschleier zu erscheinen, zuerst geisterhaft wie schwaches Nordlicht, dann ineinander verfließend und sich mit rasch zunehmender
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Helligkeit ausbreitend. Partikelz ähler begannen zu ticken, und Hazleton sprang auf, um die Ablesungen zu überwachen. »Wo kommt dieses Zeug her?« sagte Amalfi. »Kann man das feststellen?« »Es scheint von annähernd hundert verborgenen Punktquellen auszugehen, die uns in einem sphärischen Raum von etwa einem Lichtjahr im Durchmesser umgeben«, sagte Miramon. Er beschäftigte sich mit Instrumenten, deren Zweck Amalfi unbekannt war. »Hmm. Zweifellos Schiffe«, sagte Amalfi, verwundert über Miramons schnelle und präzise Auskunft. »Nun wissen wir wenigstens, woher unsere Freunde ihren Namen haben. Aber womit arbeiten sie?« »Das ist leicht«, sagte Hazleton trocken. »Mit Antimaterie.« »Wie kann das sein?« »Sieh dir die Frequenzanalyse dieser sekundären Strahlung an, die wir kriegen, und du wirst verstehen. Jedes dieser Schiffe muß hauptsächlich ein Teilchenbeschleuniger von erheblicher Größe sein. Sie schießen Ströme von schweren AntimaterieAtomen in unser Schwerefeld. Sie haben also eine Methode entwickelt, Antimaterie in Quantitäten zu erzeugen und gezielt abzustrahlen. Wenn die Teilchen mit unserer Atmosphäre in Berührung kommen, entsteht der bekannte Vernichtungspro zeß…« »Und der Planet wird mit einer entsprechenden Dosis Gamma strahlung eingedeckt«, sagte Amalfi. »Und sie müssen die Technik schon seit langem beherrschen, weil sie nach ihr benannt worden sind! Teufel noch mal! Was für eine Art, einen Planeten zu erobern! Sie können entweder die Bevölkerung sterilisieren oder alles Leben abtöten, je nach Belieben, ohne auch nur in die Nähe zu kommen.« »Die Sterilisierungsdosis hatten wir bereits«, sagte Hazleton ruhig. »Das kann jetzt kaum noch eine Rolle spielen«, sagte Estelle still.
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»Die tödliche Dosis kann auch nicht mehr viel ausmachen«, fuhr Hazleton fort. »Die Strahlungskrankheit braucht ein paar Wochen zur Entwicklung, selbst wenn sie tödlich ist.« »Wenn dieses Bombardement andauert, werden wir in einer Woche in den letzten Zuckungen liegen«, sagte Amalfi rauh. »Wir müssen es irgendwie stoppen. Wir brauchen diese letzten Tage!« »Was schlägst du vor?« sagte Hazleton. »Nichts, was wir haben, wirkt in einem kugelförmigen Raum auf eine Distanz von einem Lichtjahr… höchstens…« »Höchstens der Ausbrennimpuls«, sagte Amalfi. »Setzen wir ihn ein, und schnell.« »Was ist das?« fragte Miramon. »Wir haben alle planetarischen Schubstationen für einen einzigen Impulsstoß vorbereitet, dessen Energieabgabe zum Ausbrennen der Fusionstriebwerke führen wird. In der Position, die wir jetzt haben, wird die ausgeschleuderte Wellenfront den Raum um uns leerfegen. Ich weiß nicht, wie weit der Effekt tragen wird, aber unter den Bedingungen hier bestimmt weiter als ein Lichtjahr. Vielleicht sogar bis zu den Grenzen des Universums. Es ist, wie wenn man einen Stein in ein ruhiges Wasser wirft.« »Wenn wir den Impuls jetzt verbrauchen«, sagte Schloss, »werden wir ihn beim Durchgang des Antimaterie-Universums nicht mehr einsetzten können. In dem Fall wären alle Chancen vertan; wir könnten nichts mehr tun. Es ist besser, wir lassen uns töten, als die ganze künftige Evolution zweier Universen durch eine unvernünftige Reaktion in Gefahr zu bringen, Amalfi! Können Sie nicht einmal jetzt aufhören, Gott zu spielen?« »Also gut«, sagte Amalfi. »Sehen Sie sich die Geigerz ähler und diesen Himmel an. Was haben Sie vorzuschlagen?« Der Himmel war jetzt von einem gleichmäßigen Leuchten erfüllt, das die umliegenden niedrigeren Berge mit ihren baumbestandenen Flanken in schattenloses Licht tauchte. Die
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Meßgeräte tickten nicht mehr; was sie von sich gaben, war ein knisterndes Rauschen. »Nur was Hazleton eben andeutete«, sagte Schloss hoffnungs los. »Wir schlucken an Medikamenten, was wir haben, und sehen zu, daß wir uns noch zehn Tage auf den Beinen halten. Was sollte es sonst noch geben? Sie waren vor uns da, und sie haben uns.« »Entschuldigen Sie«, sagte Miramon. »Das ist noch nicht so sicher. Wir haben unsere eigenen Hilfsmittel. Ich habe eben eins eingesetzt; es könnte sich als hinreichend erweisen.« »Welches Mittel ist das?« fragte Amalfi. »Ich wußte nicht, daß Sie Waffen besitzen. Wie lange werden wir warten müssen, bis es wirkt?« »Eine Frage zur Zeit«, sagte Miramon. »Selbstverständlich besitzen wir Waffen. Wir sprechen niemals über sie, weil wir keinen Mißbrauch wünschen. Aber wir mußten uns mit der Möglichkeit auseinandersetzen, daß wir eines Tages fern von unserer Heimatgalaxis von einer fremden Flotte angegriffen werden könnten. So entwickelten wir verschiedene Verteidigungsmittel. Eines von diesen haben wir eben eingesetzt.« »Und welches ist das?« fragte Hazleton. »Stünde nicht unser aller Ende bevor, wir würden es Ihnen nie verraten haben«, sagte Miramon ernst. »Wir haben die Chemie auf die Physik angewendet. Wir entdeckten, wie man ein elektromagnetisches Feld durch Resonanz vergiften kann. Das Giftfeld verbreitet sich entlang einer Trägerwelle, einem kontrollierenden Feld oder irgendeinem anderen Signal, das kontinuierlich ist und sich gemäß den Faraday’schen Gleichungen verhält. Sehen Sie.« Er zeigte aus dem Fenster. Das Licht schien nicht abgenommen zu haben, aber es war jetzt von leprösen Flecken durchsetzt. Innerhalb von Sekunden breiteten die Flecken sich aus und flossen ineinander, bis das Licht auf isolierte, leuchtende Wolken beschränkt war, die von Rändern her rapide zerfressen wurden,
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toten Zellen gleich, die von den Enzymen der Fäulnisbakterien aufgelöst werden. Als der Himmel wieder völlig dunkel wurde, konnte Amalfi die Bahnen der Partikelströme sehen, die aus verschiedenen Richtungen kommend auf den Planeten zuliefen. Und auch diese wurden rasch zersetzt und wichen in die Schwärze zurück. Die Zähler tickten nur noch, aber sie hörten nicht ganz auf. »Was geschieht, wenn die Wirkung zu den Schiffen gelangt?« fragte Web. »Dann werden die Schiffe selbst vergiftet«, sagte Miramon. »Die Lebewesen in den Schiffen werden an totaler Nervenläh mung zugrunde gehen. Außer hundert leeren Gehäusen wird nichts übrigbleiben.« Amalfi ließ ein langes, melancholisches Seufzen hören. »Kein Wunder, daß Sie an unseren provisorischen Abwehrsystemen nicht interessiert waren«, sagte er. »Mit solchen Waffen hätten Sie selbst ein weiteres Netz des Herkules werden können.« »Nein«, sagte Miramon stirnrunzelnd. »Das könnten wir niemals werden.« »Ist es vorbei?« sagte Hazleton. »So schnell? Ich kann es nicht glauben.« Miramons Lächeln war frostig. »Ich glaube nicht, daß wir jemals wieder vom Netz des Herkules hören werden«, sagte er. »Aber sonst hat sich nichts geändert. Es sind nur zehn Tage bis zum Ende der Welt.« Hazleton wandte sich wieder den Strahlungsmeßgeräten zu. Eine Weile starrte er sie an. Dann fing er zu Amalfis Verblüffung laut zu lachen an. »Was ist so komisch?« grollte Amalfi. »Sieh selbst. Wenn die Hevier sich in der realen Welt jemals mit dem Netz des Herkules angelegt hätten, wären sie die Verlierer gewesen.« »Warum?«
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»Weil wir alle die tödliche Dosis harter Strahlung erwischt haben, während Miramon sie abwehrte«, sagte Hazleton, sich die Augen wischend. »Wir sind alle mausetot, wie wir hier sitzen!« »Und das ist ein Witz?« sagte Amalfi. »Natürlich ist es ein Witz. Es macht nämlich nicht den gering sten Unterschied. Wir leben nicht mehr in der realen Welt. In zwei Wochen werden wir unser Haar verlieren und unter Erbrechen und Schwindelanfällen leiden. In drei Wochen werden wir tot sein. Und du siehst noch immer nicht den Witz?« »Ich sehe ihn«, sagte Amalfi. »Ich kann zehn von vierzehn abziehen und vier übrigbehalten; du meinst, wir werden leben, bis wir sterben.« »Ich kann Leute nicht ausstehen, die jeden Witz kaputtma chen«, sagte Hazleton. »Es ist ein ziemlich alter Witz«, sagte Amalfi. »Aber vielleicht ist er immer noch lustig, was das angeht; wenn er für Aristopha nes gut genug war, wird er auch für mich gut genug sein.« »Das ist wirklich verdammt lustig«, sagte Dee mit bitterer Wut. »Ich weiß nicht, wer von euch zweien der größere Witzbold ist.« Miramon blickte mit einer Miene völliger Verblüffung von einem zum anderen. Amalfi lächelte. »Sag es nicht, wenn du nicht so denkst, Dee«, sagte er. »Mark hat recht; wir sollten das letzte Lachen nicht geringschätzen. Es könnte das einzige Vermächtnis sein, das wir hinterlassen werden.« »Mitternacht«, sagten die Stadtväter. »Die Zählung ist Null minus neun.«
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Triumph der Zeit Als Amalfi die Tür öffnete und in den Raum zurückkehrte, sagten die Stadtväter: »N-Tag. Null minus eine Stunde.« Um diese Stunde hatte alles Bedeutung; oder nichts hatte Bedeutung. Amalfi hatte den Raum verlassen, um zur Toilette zu gehen. Nun würde er das niemals wieder tun; der Untergang des Ganzen war so nahe, daß er sogar den physiologischen Rhythmus des Körpers überholte. War Diurese genauso des Nachtrauerns würdig wie Liebe? Nun, vielleicht ja; keine Sinnes Wahrnehmung, kein Gefühl, kein Gedanke ist bedeutungslos, wenn es die letzte Empfindung ihrer Art ist. Und so Lebewohl allen Spannungen und allen Erleichterungen, von Amour bis Urea. »Was gibt’s Neues?« sagte Amalfi. »Nichts mehr«, sagte Gifford Bonner. »Wir warten. Setz dich, John, und trink ein Glas mit uns.« Er setzte sich an den langen Tisch und betrachtete das Glas vor ihm. Der Wein war von einem vollen, etwas blaustichigen Rot, dunkel selbst im ungesund grellen Licht der Fluoreszenzlampen. Amalfi kostete davon; der Geschmack war rauh und pfefferig – die Hevier waren keine großen Weinbauern, ihr Klima war dafür zu wechselhaft gewesen –, aber selbst sein säuerlich-herbes Brennen auf der Zunge war ein Genuß, der ihn seufzen machte. »Wir sollten uns eine halbe Stunde vorher umziehen«, sagte Dr. Schloss. »Ich würde mehr freie Zeit lassen, aber einige von uns waren seit Jahrhunderten nicht mehr in einem Raumanzug,
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und manche noch nie in ihrem Leben. Wir wollen vermeiden, daß in der Eile Fehler gemacht werden.« »Ich dachte, wir würden von einer Art Feld umgeben sein«, sagte Web. »Nicht für lange, Web. Laßt mich diese Sache noch einmal durchgehen, damit jeder genau Bescheid weiß. Während des Übergangsstadiums, das vielleicht nur einen Moment, vielleicht aber auch etwas länger dauern wird, werden wir von einem statischen Feld geschützt sein. Es wird uns über das Ende der Zeit hinaus und in die erste Zeitsekunde auf der anderen Seite tragen, nach der Katastrophe. Aber dann wird das Feld zusammenbrechen, weil die Anlagen hier auf He, die es erzeugen, vernichtet sein werden. Danach wird jeder von uns sich in einem eigenen und unabhängigen, vierdimensionalen und völlig leeren Medium wiederfinden. Die Raumanz üge werden uns nicht lange schützen, denn jeder von uns wird der einzige Körper von organisierter Energie in seinem individuellen Universum sein. Wir selbst, der Anzug und die Luft darin, die Energie in den Batterien, alles wird mit unwiderstehlicher Macht nach außen drängen und mit seiner Desintegration im unmittelbaren Sinn Raum erschaffen. Jeder sein eigener Monoblock. Aber wenn wir in der Übergangsphase keine Anz üge anhaben, wird nicht einmal soviel geschehen.« »Ich wünschte, Sie würden es nicht so bildhaft darstellen«, klagte Dee, aber es klang halbherzig. Sie hatte den gleichen angestrengten und gespannten Gesichtsausdruck wie damals, als sie gesagt hatte, sie wolle Amalfi ein Kind schenken. Er wandte den Kopf, um Web und Estelle anzusehen. Sie saßen nebenein ander, die Hände auf dem Tisch, beinahe erwartungsvoll. Estelies Gesicht war heiter, und ihre Augen leuchteten, so daß Amalfi sich unwillkürlich an ein Kind am Weihnachtsabend erinnert fühlte. Webs Ausdruck war etwas schwieriger zu interpretieren. Er hatte ein wenig die Stirn gerunzelt, mehr in Verwunderung als in Sorge, als ob er nicht ganz verstehen könnte, daß er nicht mehr Angst hatte.
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Draußen war ein an- und abschwellendes, hohl pfeifendes Geräusch, das sich gelegentlich zu einem Heulen erhob und dann wieder erstarb. Es war ein windiger Tag auf dem Berg. »Was wird aus dem Tisch, den Gläsern und Stühlen?« fragte Amalfi. »Gehen diese Dinge mit uns?« »Nein«, sagte Dr. Schloss. »Wir wollen nicht riskieren, daß in unserer Nähe mögliche Kondensationskerne entstehen. Um das zu verhindern, verwenden wir eine abgewandelte Form der Technik, die wir beim Zusammenbau des Objekts 4001-Aleph Null erprobt haben; die Einrichtungsgegenstände, die sich mit uns im Feld befinden, werden natürlich anfangen, die Transition mit uns zu machen. Um das zu verhindern, werden wir sie eine Mikrosekunde in die Vergangenheit stoßen. Das Resultat wird sein, daß sie in unserem Universum bleiben werden.« Amalfi hob nachdenklich sein Glas. »Dieser Bezugsrahmen, in dem ich mich finden werde«, sagte er. »Wird er tatsächlich keinerlei Struktur haben?« »Nur was Sie ihm geben«, sagte Retma. »Es wird, streng genommen, kein Raum sein und keinen metrischen Rahmen haben. Mit anderen Worten, Ihre Anwesenheit dort wird unerträglich sein, und Ihre Masse wird einen Raum für sich selbst schaffen. Dieser Raum wird den metrischen Rahmen annehmen, der bereits in Ihnen existiert. Was danach geschieht, wird davon abhängen, in welcher Reihenfolge Sie Ihren Anzug demontieren. Ich würde empfehlen, daß Sie zuerst die Sauerstoffflaschen entladen. Der Sauerstoff in Ihrem Anzug wird für die Zeit bis zu Ihrer Desintegration ausreichen. Als letzten Akt entladen Sie die Energiezelle Ihres Anzugs; dies wird dann gewissermaßen der Zündfunke sein, der die Explosion auslöst.« »Wie groß wird das entstehende Universum etwa sein?« fragte Hazleton. »Sicherlich doch in keiner Weise mit der Größenord nung unseres existierenden Universums vergleichbar? Ich glaube mich zu erinnern, daß der originale Monoblock trotz ungeheurer Dichte sehr groß gewesen sein muß.« »Ja, es wird ein sehr kleines Universum sein«, sagte Retma. »Auch seine Ausdehnung wird gering bleiben. Aber das gilt nur
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für die erste Entwicklungsphase. Im weiteren Verlauf werden dem Ganzen mehr Atome hinzugefügt, so daß die Masse allmählich zunehmen wird. So sehen wir es jedenfalls; Sie müssen verstehen, daß dies alles weitgehend auf Mutmaßungen beruht.« »Null minus dreißig Minuten.« »Das ist es«, sagte Dr. Schloss. »Nun zu den Anz ügen. Wir können über Radio weitersprechen.« Amalfi leerte sein Weinglas. Wieder ein letzter Akt. Er stieg in seinen Anzug und gewann langsam seine alte Vertrautheit mit dem unförmigen Apparat zurück. Er achtete darauf, daß die Radioverbindung offen war, entdeckte aber, daß ihm nichts einfiel, das noch zu sagen wäre. Daß er im Begriff war, einen plötzlichen Tod zu erleiden, hatte angesichts des größeren Todes, von dem seiner nur ein unbedeutender Teil sein würde, nicht viel Realität. Kein Kommentar, der ihm in den Sinn kam, schien mehr zu enthalten als platteste Banalität. Es gab ein gewisses Maß an technischer Konversation, als sie gegenseitig ihre Anz üge überprüften, dann erstarben die Gespräche, als ob auch die anderen Worte unerträglich fänden. »Null minus fünfzehn Minuten.« »Versteht ihr, was mit euch geschehen wird?« sagte Amalfi ins Mikrophon der Stadtväter. »Ja, Bürgermeister. Wir werden um Null abgeschaltet.« »Richtig.« Aber er fragte sich, ob sie vielleicht damit rechneten, in der Zukunft wieder eingeschaltet zu werden. Natürlich war es albern, sich vorzustellen, sie könnten etwas wie Emotionen haben, doch er beschlo ß nichtsdestoweniger, keine Äußerungen zu machen, die sie aus ihrem Irrtum reißen könnten. Die Stadtväter waren nur Maschinen, aber sie waren auch alte Freunde und Verbündete. »Null minus zehn Minuten.« »Auf einmal geht alles so schnell«, flüsterte Dees Stimme in den Kopfhörern. »Mark, ich… ich will nicht sterben.«
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»Ich auch nicht«, sagte Hazleton. »Aber es wird so oder so geschehen, und mehr gibt es nicht zu sagen.« »Ich wünschte, ich könnte glauben«, sagte Estelle, »daß es in dem Universum, das ich mache, keinen Kummer geben wird.« »Dann erschaffen Sie nichts, mein liebes Kind«, sagte Gifford Bonner. »Bleiben Sie hier. Leben bedeutet Kummer und Trauer, immer und immer.« »Und Freude«, sagte Estelle. »Nun, ja. Auch das.« »Null minus fünf Minuten.« »Ich glaube, wir können auf den Rest des Countdowns verzichten«, sagte Amalfi. »Andernfalls würden sie von nun an jede Minute und die letzte in Sekunden ansagen. Wollen wir zur Begleitmusik dieses Gebabbels von der Bühne unseres Lebens abgehen? Möchte jemand ja sagen?« Sie waren still. »Gut«, sagte Amalfi und nahm das Mikrophon. »Stellt das Abzählen ein.« »Sehr gut, Bürgermeister. Leben Sie wohl.« »Lebt wohl«, sagte Amalfi in Verblüffung. »Ich werde das nicht sagen, wenn es euch nichts ausmacht«, sagte Hazleton mit erstickter Stimme. »Es bringt den Verlust zu nahe, als daß ich ihn ertragen könnte. Ich hoffe, jeder wird es als gesagt betrachten.« Amalfi nickte, dann wurde ihm klar, daß niemand die Bewe gung im Innern des Helms sehen konnte. »Ich stimme dir zu, Mark«, sagte er. »Aber ich fühle mich nicht beraubt. Ich liebte euch alle. Ihr habt meine Liebe, um sie mit euch zu nehmen, und ich habe die eure.« »Es ist das einzige Ding im ganzen Universum, das einer geben und doch behalten kann«, sagte Miramon. Der Boden vibrierte unter Amalfis Füßen. Die Maschinen liefen an, bereiteten sich auf ihren Augenblick vor. Das Geräusch ihrer Kraft war tröstlich; tröstlich war auch die solide Festigkeit des Tisches, der Wände, des Berges, der Welt…
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»Ich denke…«, sagte Gifford Bonner. Und mit diesen Worten endete es. * Zuerst gab es nichts als das Innere des Anzugs. Draußen gab es nicht einmal Schwärze, sondern nur Nichts, etwas, das nicht zu sehen war; hinter dem eigenen Kopf sieht man nicht Schwärze, man sieht einfach gar nichts in der Richtung; und so hier. Doch für eine kleine Weile fand Amalfi, daß er sich noch immer seiner Freunde bewußt war, daß er noch immer Teil des Kreises war, obwohl der Raum und alles in ihm aus ihrem Umkreis verschwunden war. Er konnte nicht sagen, wie er wußte, daß sie noch immer da waren, aber er konnte es fühlen. Er wußte, daß es keine Hoffnung gab, wieder zu ihnen zu sprechen; und als er zu verstehen suchte, wie er sich ihrer Anwesenheit bewußt sein konnte, fühlte er, daß sie sich von ihm entfernten. Der Kreis weitete sich. Die stummen Gestalten wurden kleiner – nicht durch Entfernung, denn es gab hier keine Entfernung, aber nichtsdestoweniger gerieten sie einander aus dem Gesichtskreis. Amalfi versuchte seine Hand zum Abschied zu heben, fand es jedoch fast unmöglich. Als er die Gebärde halb vollendet hatte, waren die anderen verblaßt und fort und ließen nur eine Erinnerung zurück, die ebenso rasch verblich wie die Erinnerung an einen Duft. Nun war er allein und mußte tun, was er tun mußte. Da seine Hand erhoben war, setzte er die Bewegung fort, um das Gas aus seinen Sauerstoffflaschen zu lassen. Das Unmedium, in dem er schwebte, schien etwas weniger resistent zu werden; es schien sich bereits ein metrischer Rahmen auszubilden. Trotzdem war es beinahe ebenso schwierig, die Bewegung anzuhalten, wie es zuvor schwierig gewesen war, sie in Gang zu bringen. Langsam zog er seinen Arm vom Nacken. Was nützte ein weiteres Universum von der Art, wie er es eben hatte sterben sehen? Die Natur hatte zwei davon gemacht und beide im gleichen Augenblick untergehen lassen. Warum nicht etwas anderes versuchen? Retma in seiner Vorsicht, Estelle in ihrem
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Mitleid, Dee in ihrer Angst – sie alle würden irgendeiner Version des Standardmodells zur Geburt verhelfen; aber Amalfi hatte das Standardmodell gefahren, bis alle Schrauben und Bolzen herausgefallen waren, und war des blo ßen Gedankens daran so überdrüssig, daß er es kaum über sich brachte, die Luft in seinem Anzug zu atmen. Was würde geschehen, wenn er statt dessen einfach den Detonatorknopf an seiner Brust drückte und alle Elemente, aus denen er und der Anzug bestand, in einem einzigen Augenblick in Plasma aufblitzen ließe? Das war nicht zu wissen. Aber das nicht zu Wissende war, was er wollte. Er zog seine Hand vor die Brust. Es gab keinen Grund, zu zögern. Retma hatte bereits den Nachruf auf die Menschheit ausgesprochen: Wir hatten nicht die Zeit, alles zu lernen, was wir wissen wollten. »So sei es«, sagte Amalfi. Er berührte den Knopf über seinem Herzen. Die Schöpfung begann…
Ende
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