Aventurien heißt die phantastische Spielewelt voll kühner Abenteuer, Magie und farbiger Exotik, er schaffen von einem ...
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Aventurien heißt die phantastische Spielewelt voll kühner Abenteuer, Magie und farbiger Exotik, er schaffen von einem Spezialistenteam und ausgebaut von Tausenden begeisterter Spieler. Es ist der Schau platz des heute größten deutschen FantasyRollenspiels Das Schwarze Auge. Die Romane der gleichnamigen Serie lassen uns diese Welt noch viel unmittelbarer und plastischer erleben.
»Lange haben wir es nicht mehr gesehen«, wisperten die Schmetterlinge spöttisch. »Was begehrt es von uns? Sollen wir ihm schaden, ihm raten oder es grü ßen: Hoch, König von Maraskan?« »Ich bin Dajin, Herrscher dieser Insel, Haran aller Ha rans«, antwortete der Gegürtete wachsam und furcht los. (Obschon er nicht wußte, daß dieser Roman nur den ersten Teil seiner Leben erzählte.)
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Band: Ulrich Kiesow, Der Scharlatan · 06/6001 Band: Uschi Zietsch, Túan der Wanderer · 06/6002 Band: Björn Jagnow, Die Zeit der Gräber · 06/6003 Band: Ina Kramer, Die Löwin von Neetha · 06/6004 Band: Ina Kramer, Thalionmels Opfer · 06/6005 Band: Pamela Rumpel, Feuerodem · 06/6006 Band: Christel Scheja, Katzenspuren · 06/6007 Band: Uschi Zietsch, Der Drachenkönig · 06/6008 Band: Ulrich Kiesow (Hrsg.), Der Göttergleiche · 06/6009 Band: Jörg Raddatz, Die Legende von Assarbad · 06/6010 Band: Karl-Heinz Witzko, Treibgut · 06/6011 Band: Bernhard Hennen, Der Tanz der Rose · 06/6012 Band: Bernhard Hennen, Die Ränke des Raben · 06/6013 Band: Bernhard Hennen, Das Reich der Rache · 06/6014 Band: Hans Joachim Alpers, Hinter der eisernen Maske · 06/6015 Band: Ina Kramer, Im Farindelwald · 06/6016 Band: Ina Kramer, Die Suche · 06/6017 Band: Ulrich Kiesow, Die Gabe der Amazonen · 06/6018 Band: Hans Joachim Alpers, Flucht aus Ghurenia · 06/6019 Band: Karl-Heinz Witzko, Spuren im Schnee · 06/6020 Band: Lena Falkenhagen, Schlange und Schwert · 06/6021 Band: Christian Jentzsch, Der Spieler · 06/6022 Band: Hans Joachim Alpers, Das letzte Duell · 06/6023 Band: Bernhard Hennen, Das Gesicht am Fenster · 06/6024 Band: Niels Gaul, Steppenwind · 06/6025 Band: Hadmar von Wieser, Der Lichtvogel · 06/6026 Band: Lena Falkenhagen, Die Boroninsel · 06/6027 Band: Barbara Büchner, Aus dunkler Tiefe · 06/6028 Band: Lena Falkenhagen, Kinder der Nacht · 06/6029 Band: Ina Kramer (Hrsg.), Von Menschen und Monstern · 06/6030 Band: Johan Kerk, Heldenschwur · 06/6031 Band: Gun-Britt Tödter, Das letzte Lied · 06/6032
33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40.
Band: Barbara Büchner, Das Galgenschloß · 06/6033 Band: Karl-Heinz Witzko, Tod eines Königs · 06/6034 Band: Hadmar von Wieser, Der Schwertkönig · 06/6035 Band: Barbara Büchner, Schatten aus dem Abgrund · 06/6036 Band: Barbara Büchner, Seelenwanderer · 06/6037 Band: Hadmar von Wieser, Der Dämonenmeister · 06/6038 Band: Christel Scheja, Das magische Erbe · 06/6039 Band: Linda Budinger, Der Geisterwolf · 06/6040
KARL-HEINZ WITZKO
TOD
EINES KÖNIGS
Das Leben König Dajins
in Vergangenheit und Gegenwart
TEIL 1
Vierunddreißigster Roman
aus der
aventurischen Spielewelt
begründet von ULRICH KIESOW Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/6034
Besuchen Sie uns im Internet:
http://www.heyne.de
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Redaktion: Mirjam Madlung
Copyright © 1998
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
und Fantasy Productions, Erkrath
Printed in Germany 1998
Umschlagbild: Arndt Drechsler
Kartenentwurf (Seite 6/7 und 10): Ralf Hlawatsch
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Technische Betreuung: M. Spinola
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg
ISBN 3-453-14029-X
Inhalt Die Braut in Weiß, Lilien in ihrem Haar ...............
11
Gegenwart: Rondirais Tagebuch ............................ 102
Das stumme Land ..................................................... 109
Gegenwart: Rondirais Tagebuch ............................ 148
Wehen ......................................................................... 153
Gegenwart: Rondirais Tagebuch ............................ 210
Die Hebammen ......................................................... 215
Gegenwart: Rondirais Tagebuch ............................ 291
Geburt eines Königs ................................................. 296
Gegenwart: Rondirais Tagebuch ............................ 376
Anhang
Personen ..................................................................... 381
Zeittafel ...................................................................... 382
Erklärung aventurischer Begriffe ........................... 384
In weiten Teilen Aventuriens
ist das zerbrochene Rad das Symbol des Todes.
Anders auf Maraskan:
Das Rad zerbricht nicht, sondern rollt weiter
in den Erinnerungen der Lebenden.
Im Gedenken an Silke Balla,
Ulrich Kiesow und Johann Witzko
Ein Dankeschön meinen Freunden dafür,
daß sie da waren.
Die Braut in Weiß,
Lilien in ihrem Haar
1. Der einzelne Baum stand in einer flachen Senke, an deren Rand hüfthohe Sträucher wuchsen. Sie trugen silbergraue Blätter, kaum größer als Daumennägel, die metallisch schimmerten und träge flüsterten, wenn der spärliche Lufthauch sie bewegte. Obwohl der Baum schon lange abgestorben war, blühte er. Vor Jahren hatte ihm ein Blitz die Seite auf gerissen und dem Baum eine klaffende Wunde be schert, aus der sein giftiges Harz quoll wie dickes Blut. Der bereits alte Kurinbaum erholte sich nie mehr von dieser Verletzung, und eine Schar gefräßi ger Käfer gab ihm den Rest. Und dennoch stand der Baum scheinbar in voller Blüte, jedoch nur auf den ersten Blick. Zahllose Schmetterlinge hatten sich auf den toten Ästen nieder gelassen und krochen wimmelnd über die alte Rinde. Tausende mochten es sein, vielleicht sogar Zehntau sende. Die Mehrzahl von ihnen war klein, braun und
unscheinbar, aus der Ferne leicht zu verwechseln mit verwelktem Laub. Eine Minderheit war bunt, mit Flügeln von Handtellergröße, die aufgeklappt riesige, schillernde Augen vortäuschten oder drohende Ra chen mit mörderischen Zähnen. In der Masse ihrer unauffälligen Artgenossen glichen die größeren Fal ter Primadonnen in irisierenden Gewändern, Fürsten in metallischem Blau und Gold, Königinnen in Oran ge und Blutrot, Wesiren im gelbgrün gestreiften Ge wand. Sie wurden umschwärmt von gedrungenen Gardisten mit silbrigem Zackenmuster auf den fein geschuppten Flügeln und gnadenlosen Vollstreckern in Samtschwarz. Gut fünfzig bis sechzig unterschiedliche Arten die ser leichtmütigen Geschöpfe hatten sich auf den ver dorrten Zweigen niedergelassen. Sie hingen am Stamm mit zusammengeklapptem oder saßen auf den Spitzen der Äste mit ausgebreitetem Flügelpaar, bildeten mancherorts Trauben oder wimmelten wirr durcheinander, bis auch die letzten von ihnen eine freie Stelle fanden, wo sie zur Ruhe kamen. Wirr? Nein, wiederum nur auf den ersten Blick. Denn bis auf wenige Ausnahmen zeigten die zerbrech lichen Fühlerpaare dieses Schwarms von Schwärmen in genau eine Richtung. Gerade so, als warteten die tausendfach Geflügelten darauf, daß von dort etwas käme, daß etwas ganz Bestimmtes einträte.
Aber was? Zwar hatte die Zeit die Schmetterlinge herbeigerufen, aber die Zukunft kannten sie dennoch nicht. Denn niemand kennt sie, weder Mensch, Tier, Zwerg, Elf, Achaz noch Gott. Niemand. Niemand bis ins letzte genau. Doch die Welt gebiert Muster. Tagein, tagaus, ohne Unterlaß. Die Muster der Wellenringe auf der Ober fläche eines Tümpels, die Muster der aufgewühlten Wogen der stürmischen See, die Muster des zurück weichenden Wassers am Strand, die Muster der Dü nen und des Gerölls in der Unfruchtbarkeit der Wü ste, die Muster der wachsenden und zurückweichen den Wälder, die Muster des Wolkenflugs am Him mel, die Muster der Vogelzüge, der Wanderungen der Herden oder der Menschen. Schließlich die Mu ster in den Gedanken, den Absichten, Triebfedern und Entscheidungen von Mensch, Zwerg, Achaz, vielleicht sogar Elf. Viele dieser Muster verschwinden wieder, kurz nachdem ihre Entstehung begonnen hat, andere for men sich zuerst zielstrebig, bis sie vor der Zeit schein bar grundlos wieder verschwinden, manchen be stimmt das Schicksal, in anderen Mustern unterzuge hen oder mit ihnen zu verschmelzen. Doch bei eini gen von ihnen nimmt die anfängliche Ausprägung stetig an Deutlichkeit zu bis zur vollen Entfaltung.
Das kann binnen eines einzigen Augenblicks gesche hen oder sich über einen langen Zeitraum hinziehen. Besonders wenn letzteres zutrifft – und wenn die Muster unmittelbar mit dem Geschick der Menschen zu tun haben – ist der Prozeß ihrer Wahrnehmung ei genartig abgestuft. Zuerst schlägt die Stunde der Visionäre, Propheten und Seher. Sie erhaschen aus ihren Augenwinkeln, daß irgend etwas in Entstehung begriffen ist. Sie deu ten das Wenige, das sie verstehen, und folgern daraus das, von dem sie meinen, daß es eintreten werde. Da bei spielt es keine Rolle, ob ihre Folgerung auf dem Muster der Sterne am nächtlichen Himmel, der Form eines Priels oder den Schlingen eines Schafsdarms be ruht, denn wie Zendajian lehrte, gilt: Kein Teil der Welt ist dem anderen fremd. Dann kommt die Stunde der Weisen und Philoso phen, die ein Teil des Musters erkennen und gelegent lich richtige Schlüsse daraus ziehen. Schließlich die Stunde der Erfahrenen, die eine gewisse Vertrautheit mit dem Guten, Bösen oder auch Gleichgültigen zu verspüren glauben. Und endlich der Zeitpunkt, an dem das Muster sich offenbart, wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft und zum ersten Mal seine Flügel ausbreitet, wo es jeder, gleich ob Mensch, Zwerg, Elf oder Achaz, erkennen könnte. Für gewöhn lich fällt dieser Zeitpunkt möglicher Erkenntnis einer
plötzlichen Erblindung der Beobachtenden zum Op fer. Das nun Klare und Offensichtliche verschwimmt schlagartig vor den Augen, seine Existenz wird ge leugnet, andere Begründungen werden bemüht, Irr tümer eingeräumt, und Entschuldigungen für das noch kurz zuvor Behauptete erscheinen angebracht. Woher diese befremdliche Sehstörung rührt, ist rät selhaft und schwer begreifbar. Manchmal trägt sie den Namen Wunsch, manchmal auch Hoffnung, doch möglicherweise ist die Frage nach ihrer Ursache eine der Vierundsechzig Fragen des Seins, die lohnens wert genug sind, sie dem göttlichen Gror zu stellen, wenn er dereinst den Weltendiskus in Empfang neh men wird. Das Wissen um solche Muster, das Sehen ohne am Ende zu erblinden, öffnet die Tür in die Zukunft. Bei des führt zur Kenntnis des Augenblicks, bevor alles beginnen wird, und das liefert das Wissen um den Augenblick, nachdem alles geendet hat. Das ist eine der Schwungfedern des Vogels Macht. Und so kön nen wir mit Fug und Recht folgern, daß sich die Mächtigkeit einer Wesenheit aus dem frühzeitigen Erkennen dieser Muster ableiten läßt. Zweifellos reichte Rur, der die Welt als Geschenk für Gror erschuf, der sein Bruder und gleichzeitig seine Schwester ist, die Zeichnung auf dem Flügelpaar des ersten Schmetterlings völlig aus, um den ge
samten Zeitraum des Flugs des Weltendiskusses zu erahnen. Die Schmetterlinge hatten den toten Kurinbaum nicht unbedacht gewählt. Er bot ihnen einen guten Ausblick: Die Schmetterlinge mit ihren gedrungenen Körpern sahen einen gelben Felsen, der sich jäh vom Ufer des warmen Meeres erhob. Die Sonne des späten Nach mittags ließ ihn an manchen Tagen golden erstrahlen, doch meistens erinnerte er an einen vertrockneten Käse mit zahllosen Rissen, wie etwa jetzt, im Nie mandsland zwischen Tag und Nacht. Die Schmetterlinge mit ihren behaarten Leibern sahen eine Stadt auf diesem Felsen, deren Häuser zum überwiegenden Teil schlanke Türme waren. Die Schmetterlinge, deren Rücken mit dicken Borsten bewehrt waren, sahen einen weißen Palast in dieser Stadt. Er lag ein wenig abseits des Zentrums, seiner seits erbaut aus mächtigen Türmen, acht an der Zahl. Die Türme standen im Kreis. Kein sorgfältig gezirkel ter Kreis, sondern ein mit Makeln behafteter, wie ei ner, den ein schneller Finger in den Staub malt. Die Abweichung vom Ideal war nicht so groß, als daß je mand bestritten hätte, daß die Grundmauern der acht
Türme einen Kreis nachbildeten, aber groß genug, um Generationen von Hofbaumeistern ein Dorn im Auge zu sein. Kaum einer aus der langen Reihe von Baumeistern hatte nicht im Verlauf der Jahrhunderte versucht, die Nachlässigkeit des ersten Tages durch Um- oder Anbauten zu verschleiern. Behoben hatte sie keiner von ihnen, denn dazu hätte man mehrere Türme abreißen und neu errichten müssen. Keiner dieser Baumeister ahnte jedoch, daß die Türme genau so standen, wie es geplant war. Mit Aus nahme eines einzigen, des allerersten Baumeisters. Denn der hatte sie getreu den Träumen einer fast tau ben Hirtin errichtet. Doch das war verlorenes Wissen. Verhallt im röchelnden Lärm zahlreicher Schlachten, Kämpfe und Fehden, die das Land mitangesehen hat te, zertreten von Jahrhunderten manchmal nachlässi ger, bisweilen wohlmeinender, oftmals unerbittlicher Tyrannei durch das mächtige Reich im Nordwesten, auf der anderen Seite eines breiten Meeresarmes. An der Basis waren die über dreißig Schritt hohen Türme miteinander verbunden, ebenso in luftiger Höhe. Dort jedoch durch eine Vielzahl kurzer Über gänge und Brückchen, die nachträglich und nach Be darf oder Laune dem Bauwerk hinzugefügt worden waren, und die meist nur zeitweise Teil des Bauwer kes waren, da sie wieder entfernt wurden, wenn Be darf oder Laune sich geändert hatten.
Die Türme waren durchzogen von Gängen und Treppenhäusern, sie beherbergten Säle, Gemächer, Kammern, große wie kleine, in denen eine beträchtli che Anzahl von Menschen schlief, sich liebte, aß und starb. Die Schmetterlinge, deren Köpfe scharfkantige Aus wüchse trugen, sahen eine Mauer dieses Palasts, un terbrochen von zahlreichen Fenstern. Die Schmetterlinge mit ihren Flügeln wie Pfeilspitzen sahen eines der Fenster dieser Mauer. Es stand offen, und der Vorhang flatterte leicht. Von drinnen dran gen das nörgelnde Gekrähe eines Säuglings nach draußen, das beschwichtigende Glucksen einer vollen Frauenstimme, das Scharren einer sich öffnenden und wieder schließenden Schiebetür. Die Schmetterlinge, die statt Saugrüsseln Kiefer besa ßen, sahen einen gezackten Riß in der Wand unter dem Fenster. Grünschillernde, platte Käfer wuselten aus ihm heraus, winzige Larven in ihren mattschim mernden Greifzangen tragend. Die Schmetterlinge, denen Ungeduld fremd war, sa hen unter dem Riß in der Wand, unter dem Fenster in der Mauer, die Teil des Palastes war, in der Stadt, die
auf dem Felsen lag, auf den verwinkelten Hof des Pa lastes. Er war mit grobem Sand aus den Alabaster mühlen Sinodas ausgestreut, auf dem purpurne und goldene Blüten verwelkten. Zu dieser Tageszeit lag der Hof verlassen da, denn noch nicht einmal die Dienstboten des jungen Königs hatten ihr Tagewerk begonnen. Die Schmetterlinge, für die alles von gleicher Gültig keit war, sahen. Sie sahen einen Mann ins Freie stolpern. In der Mitte des Hofes fiel er auf die Knie, Tränen und Blut liefen über sein Gesicht. Er schrie voller Schmerz und Ver zweiflung: »Der König ist tot! Der König ist tot!«
2. Ramelusabs herzförmiges Gesichtchen verzog sich, und ein stoßweises Kichern kam aus ihrem Mund. Als sie den mahnenden Blick ihres Vaters auffing, legte sie rasch beide Hände vors Gesicht, um das La chen abzudämpfen. Später gäbe es noch genügend Gelegenheit für lautes Gelächter und fröhliche Aus gelassenheit, doch nicht jetzt, während Vetter Marech mit der fremden Frau, die nicht einmal richtig spre
chen konnte, ernst den Kreis abschritt. Später, wenn dem jungen Paar die kleinen, brennend scharfen Pa stetchen, die speicheltreibend süßen Küchlein oder die heimtückisch bitteren Tränke gereicht wurden, wenn die beiden Frischvermählten Zielscheibe all der Neckereien und Schabernacke wurden, die seit alters her üblich waren. Den Mund unter dem schützenden Zelt ihrer Hände verborgen, verfolgte Ramelusab die feierliche Zeremonie. Ihre Fingerspitzen berührten sacht die bis zur Nase gespaltene Oberlippe, diesen Makel, der ihrem Gesicht Schönheit verwehrte, der ihr den verhaßten Spitznamen Lapijida eingebracht hatte, einen der vielen Namen der Hasenfrau aus den bekannten Volksmärchen. Ramelusab lauschte der vertrauten Stimme ihres Vetters, der seiner schon bald nicht mehr Zukünfti gen die Acht Regeln einer harmonischen Ehe aufzähl te, die die Fremde unsicher, stockend und mit eigen tümlichen Betonungen nachsprach. Marech hatte zwar lange mit seiner blaßhäutigen Geliebten geübt, damit sie die wenigen Sätze in seiner Sprache eini germaßen beherrschen würde, doch aus dem Mund dieser Frau klangen die vertrauten Worte wie gefan gene Tiere, wie drohende Ungeheuer aus den Tiefen des Dschungels. Und manchmal wurden sie sogar dazu. Vorsichtig linste Ramelusab nach links. Noch immer
sprach Endijian jedes von Marechs Worten stumm und mit übertriebenen Lippenbewegungen mit. So als hoffe er, auf diese Weise Marechs Braut zwingen zu können, abermals Silben oder Vokale zu vertauschen, damit sie in ihrer Unwissenheit etwas sage, was ganz bestimmt nicht Teil der Acht Regeln war. Rasch wandte Ramelusab ihr Gesicht von dem stets fröhli chen Nachbarsjungen ab, als sie fühlte, wie das La chen erneut in ihr aufkeimte. Ein Lufthauch, sanft wie die Berührung eines Schmetterlingsflügels, kitzelte Ramelusabs Nacken. Sie mußte nicht lange raten, wessen Atem sie von hinten anblies. Noch bevor sich die kräftigen Arme um sie legten, wußte sie, daß ihr Gesichtsloser Geliebter erschienen war. Wer sonst besaß die Dreistigkeit, in Ramelusabs Träumen herumzuwandern, wie es ihm beliebte, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was sie träumte, in ihrer Kindheit spielte oder in der Ge genwart? Wer sonst besaß diese ersehnte Rücksichts losigkeit? Ramelusabs Geliebter war nicht im wörtlichen Sin ne gesichtslos. Es war nur so, daß sie sein Aussehen nicht in Erinnerung behalten konnte. Weder in ihren Träumen, und schon gar nicht im Wachen. Endete der Traum, so verblaßte das Antlitz ihres Geliebten – begann er, so war der Anblick des vertrauten Ge sichts jedes Mal überraschend neu.
An der Oberfläche ihres Traums, nicht mehr ganz gefangen darin, aber auch nicht wach, sprach Rame lusab mit ihrem Geliebten. Sie lehnte sich gegen sei nen Körper, wandte sich nicht um, zögerte den Au genblick des Neuerkennens hinaus. »Eigenartigerweise hatte ich Endijian völlig verges sen. Denn kurz nachdem Marech mit seiner Frau den Kreis ging – sie haben jetzt auch schon sieben oder acht Kinder miteinander –, hat ihn der Herr, dem un ser Dorf damals gehörte, fortgeführt. Ich weiß nicht einmal genau, wohin er ihn brachte, irgendwohin aufs Festland, wo er ebenfalls Anwesen besaß. Page solle Endijian dort werden, hieß es damals, das sei ei ne große Auszeichnung. So geschah es dann auch, und selbstverständlich haben wir nie wieder etwas von Endijian gehört. Ich weiß nicht, worin die Aus zeichnung bestehen sollte, wenn sie bedeutete, von einem Tag auf den anderen in einen fernen Winkel der Welt verschleppt zu werden. Weder wir Kinder haben das damals verstanden noch seine Familie. Als wir von Endijians Auszeichnung erfuhren, scherzten wir mit ihm, rangen ihm Versprechen ab, wovon er uns zu erzählen habe, wenn er von seinem Ausflug in die weite Welt zurückkäme. Doch als un ser Freund weder nach Tagen noch nach Wochen zu uns zurückkehrte, begriffen wir endlich das, was die Erwachsenen von Anfang an verstanden hatten: En
dijian war nicht ausgezeichnet, sondern nur Opfer ei ner Laune geworden. Der Herr wollte eben in seinen anderen Besitzungen einen Pagen aus unserer Ge gend haben. Nun gut, oder auch schlecht, Herrschaf ten können befehlen, was sie wollen, dennoch schwo ren wir Kinder uns damals, daß wir nie ausgezeichnet werden wollten, daß wir uns eher im Dschungel ver stecken würden, auch wenn ihn noch so viele Ma rasken und wilde Parder durchstreiften. Das war natürlich noch während der alten Herr schaft, drei, vier Jahre bevor sich der Herrscher selbst zum König ausrief, wovon wir auf dem Land sowieso erst ein paar Monde später erfuhren. Nicht daß sich seither Wesentliches geändert hätte. Heutzutage benö tigen die Herrschaften zwar keinen Pagen mehr in Ga reth, Beilunk oder Raggert, aber vielleicht statt dessen in Jergan. Für die Zurückbleibenden macht das kei nen Unterschied, ob jemand weit weg ist in Gareth oder Beilunk oder weit weg in Jergan. Weit ist weit, weg ist weg.« Ramelusab drehte sich in den Armen ihres Gelieb ten um. Mit einer Spur von Überraschung erkannte sie wieder das vertraute, so schöne Gesicht, das wie immer alles verstehend lächelte. Sanft zeichnete der breite Daumen ihres Geliebten die Linie ihres Kinns, der Wangen und der gespaltenen Lippe nach. Rame lusab wandte sich nicht ab, so wie sie es sich seit den
letzten Tagen ihrer Kindheit angewöhnt hatte. Dieser Daumen durfte sie berühren, denn im Beisein ihres Traumgeliebten empfand sich Ramelusab nicht als häßlich. Er war der einzige Mensch, vor dem sie sich nicht fürchtete. Sie lachte: »Jetzt fällt mir wieder ein, wie der Prai osgeweihte – der Herr hatte selbstverständlich seinen eigenen – damals erfuhr, was wir Kinder uns ge schworen hatten. Er war sehr erbost, meinte, solche Schwüre seien eine arge Sünde gegen die Götter, be sonders gegen den Herrn Praios, und deshalb großes Unrecht. Überhaupt befänden wir frechen Gören uns sowieso schon halb auf dem Weg der Verdammnis. Ich weiß nicht, ob der Geweihte sich wirklich ein bildete, mit uns Kindern leichteres Spiel zu haben als mit den Erwachsenen. Vielleicht entsprangen seine Worte auch seiner fortwährenden Enttäuschung dar über, daß ihn niemand in As'Khunchak sonderlich ernst nahm, zumal wenn er von seinem strengen Gott Praios donnerte und wütete und uns Heiden nannte, weil wir den Kopf schüttelten und ihm jedesmal ent gegenhielten, daß unser guter Bruder Praios doch ganz anders sei. Keineswegs so, wie der Geweihte versuch te, uns einzureden. Doch wie vergeblich das war! Er wollte einfach nicht einsehen, daß selbst wir Kinder es besser wußten als er. Tatsächlich beherrschte der Praiosgeweihte sogar
die Sprache der Gemeinen. Nicht sehr gut, aber im merhin einigermaßen. Er hatte eine sehr feuchte Aus sprache. Zumal wenn er sich erregte, versprühte er überall seinen Nebel. Du mußt wissen, Geliebter, daß er ohnehin seine Schwierigkeiten mit Z und S hatte. In der Wut verwandelte sich seine Aussprache re gelmäßig in ein feuchtes Zischen. Je zorniger er wur de, desto mehr ähnelte er einer Spei-Echse!« Ramelusab ließ ihre Hand in die Locken ihres Ge liebten gleiten, spielte mit ihnen und wickelte sie sich um die Finger wie Bänder. Sie zog sein Gesicht zu sich heran und öffnete leicht den Mund. Kurz bevor sich ihre Lippen und die ihres Gesichtslosen Liebha bers berührten, verscheuchte ein ungleichmäßiges Hämmern Ramelusabs Traum.
3. Ein Schmied, dachte Ramelusab im Halbschlaf. Ein verdammter Hufschmied. Sie sträubte sich gegen das Erwachen, wünschte sich den entglittenen Traum zu rück. Eine Geschichte, die sie vor einigen Tagen in ei ner Taverne erzählt bekommen hatte, sprang ihr ur plötzlich ins Gedächtnis. Sie berichtete von einem der kleineren Drachen, der sich auf dem Dach eines Hau ses niedergelassen und nicht geruht hatte, bis ...
Ein Drache ist auf dem Dach! erschrak Ramelusab und taumelte von ihrem Lager hoch. Verwirrt sah sie sich um. Sie war nicht in dem Zimmer, in dem sie er wartet hatte zu erwachen. Einige Augenblicke vergin gen, bis Ramelusab bewußt wurde, daß sie sich in ei nem der Palasttürme befand, in einem Verschlag gleich unter dem Dach und nicht in ihrer gewohnten Kammer im Gebäude der Garde. In dem alten Gemäuer ihres bisherigen Zuhauses hatten sich Gurvanmaden einge nistet, deren giftige Ausdünstungen Ramelusabs Kammer und alle umliegenden Gemächer unbewohn bar machten. Jedenfalls solange, bis sich ein Magier fand, das Ungeziefer zu vertreiben, oder besser gesagt, bis einer der Befehliger sich herabließ, nach einem Ma gier zu schicken. Das Hämmern, eher ein helles Klingen, hielt an. Es kam nicht von oben, wie Ramelusab – nun ganz wach – feststellte, sondern von draußen. Waffenübungen? So früh? dachte sie und wankte zu einem der schma len Fensterschlitze. Sie sah hinab auf den Palasthof. Vier verrenkte Körper lagen auf dem weißen Sand zwischen den verwelkten Blüten. Im Zwielicht des frühen Morgens bildete das Blut, das den Leibern entströmte, dunkle Pfützen. In einer Nische des Hofes erblickte Ramelusab eine kleine Gruppe ihrer Kame raden, halb bekleidet und notdürftig bewaffnet. Ver geblich wehrten sie sich gegen eine Übermacht, die
sie mit langen Spießen in diese Nische gedrängt hatte und nun einen nach dem anderen von ihnen totstach. Währenddessen strömten scharenweise Bewaffnete wie Ameisen in die Eingänge der Palasttürme hinein. Irgend jemand bringt sie alle um, dachte Ramelu sab ruhig. Irgend jemand bringt uns alle um. Sie zuckte zurück. Eine heiße Flut schoß von ihrem Bauch aufwärts. Wir werden angegriffen! dachte Ra melusab. Wir müssen uns verteidigen! Die Rüstung, der Helm, mein Schwert! Sie stockte, schlug die Hände vors Gesicht und tor kelte rückwärts gegen einen der Stützbalken, in den vor langer Zeit eine ungelenke Hand zwei Worte ein geschnitzt hatte: Brindijian liebt. Ramelusab stöhnte gequält: Nichts von alledem, was sie jetzt benötigte, befand sich hier oben im Turm! Ihr Rüstzeug, ihre Waffe, alles lag unerreich bar weit entfernt im Quartier der königlichen Leib garde. Sie war wehrlos. Nur eine Frage der Zeit, bis die Angreifer die Spit ze des Turms erreicht hätten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Tür aufgerissen würde, bis ein Gerü steter mit langer, spitzer Klinge hereinkäme und Ra melusab ebenso mitleidlos erstäche wie ihre Kamera den unten im Hof. Hilflos und wehrlos. Hastig streifte sich Ramelusab das dünne, weiße
Kleid mit den aufgestickten Jiranblüten und Maranen über, das sie während des Festes am Tage zuvor ge tragen hatte. Eines jener Feste, wie sie der König bis weilen in seiner Hauptstadt ausrichten ließ. Während sie die blauen Bänder ihrer Sandalen um die Waden wickelte, dachte Ramelusab: »Welche Narretei! Ich richte mich her, um zu sterben, als sei es von Bedeu tung, ob ich gekleidet oder nackt vor das Angesicht Bruder Borons trete.« Erst jetzt nahm Ramelusab die vielfältigen Geräu sche wahr, die allenthalben durch den Palast schall ten und zweifellos schon länger zu hören gewesen waren: das viel zu seltene Klirren der Waffen, die un beantworteten Rufe um Hilfe, die Schreie, die von Verrat kündeten oder von dem Leiden der Verwun deten und Sterbenden. Der Tod kam nicht leise an diesem Morgen. »Sie müssen schon überall sein«, murmelte Rame lusab, als sie das letzte Band zuschnürte. Sie richtete sich auf, sah zur Tür und wartete. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Keine Tränen des Schmerzes, des Leides oder der Furcht, sondern des schieren Zorns. Des Zorns über ihre morgendliche Unentschlossenheit und ihre Ohn macht, über die Nachlässigkeit der Wachen, die von den unbekannten Angreifern offenbar völlig übertöl pelt worden waren, des Zorns über sich und die Welt.
Unversehens griff Ramelusab nach dem Stuhl, über den sie ihr Gewand gelegt gehabt hatte, und schmet terte ihn beidhändig gegen die Wand. Nein, sie war nicht zur Hilflosigkeit verdammt! Die junge Frau ergriff eines der abgebrochenen Stuhlbeine. Kaum so lang wie ihr Arm, an einem En de zersplittert, so daß das Bein in einer dünnen Spitze auslief, wie ein Pflock. Die trügerische Sicherheit ei ner richtigen Waffe, dachte Ramelusab, doch allen falls gut für zwei Hiebe oder einen abwehrenden Stich. Sie ging zur Tür. Sie weigerte sich zu glauben, daß schon der gesamte Palast in der Hand des Feindes sein könnte. Hier und da mußten sich einige Streiter verschanzt haben und erbittert Widerstand leisten bis Entsatz kam. Aber wo? Der König! dachte Ramelusab. Natürlich, die Ge mächer der königlichen Familie. Was gab es Wichti geres für jeden, der ein Schwert zu führen wußte, als das Königspaar und seine Kinder zu schützen? Dort würden sich die Verteidiger sammeln, dorthin mußte auch sie. Also zwei Etagen abwärts, über die Brücke zum Turm der Erwartung, durch diesen hindurch und über die nächste Brücke zum königlichen Quar tier. Entschlossen stieg Ramelusab die alte Wendeltrep pe hinab. Schon auf der nächsten Ebene stieß sie auf
den ersten Körper, völlig nackt, von hinten auf der Flucht erschlagen. Sie hielt den Atem an und sah sich vorsichtig um. Zwei Türen gingen von diesem Treppenabsatz ab. Daß der eine Raum leer war, wußte Ramelusab. Doch der andere war bewohnt. Seine Tür stand einen Spalt breit auf. Auf Zehenspitzen schlich die junge Frau zu der Tür, das Stuhlbein so fest umklammert, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie stieß die Tür auf und sah sogleich: Der Feind war bereits hier gewesen. Bei der Schönheit der Welt! dachte Ramelusab ent setzt. Machen sie denn überhaupt keine Gefangenen? Beherzt trat sie zwischen die Toten. Einige der hier Schlafenden hatten noch Zeit gehabt, sich von ihrem Lager zu erheben, doch nur, um einen halben oder ganzen Schritt daneben sterbend wieder zu Boden zu sinken. Ramelusab sah sich rasch um und drehte zwei der Erstochenen mit der Fußspitze auf den Rücken. Sie fluchte stumm. Keine der erschlafften Hände um schloß den Griff einer Waffe. Nein, hier würde sie nicht fündig werden! Lautlos stieg Ramelusab die Treppe weiter hinab, das Stuhlbein von sich gestreckt wie ein Kurzschwert. Wer war dieser erbarmungslose Feind? rätselte sie. War er mit Schiffen des Nachts über das Meer ge
kommen? Kaum wahrscheinlich, entschied sie. Denn Tuzak lag auf einem Plateau, weit über hundert Schritt über dem Hafen. Nur schmale, in den Fels ge schlagene Treppen führten hinauf in die Stadt. War der unbekannte Feind also in einer der südli chen Buchten angelandet? Doch konnte er dann seinen Heerbann unbemerkt übers Land geführt haben und – ebenfalls unbemerkt – in die Stadt eingedrungen und ungehindert bis zum Palast vorgestoßen sein? Rame lusab schüttelte den Kopf. Eine zweifelhafte Annahme. Weshalb überhaupt ein Feind von jenseits des Mee res? Auf Maraskan gab es genügend Mächtige, die es damals, vor zwölf Jahren, für einen bedauerlichen Irr tum gehalten hatten, daß die Würde des ersten Kö nigs der Insel Djurmolds Ururenkel zugefallen war, einem jungen Burschen von gerade sechzehn Jahren. Gut möglich, daß einer seiner Rivalen beschlossen hatte, diesen Irrtum zu korrigieren. Doch wer? Die Harani von Sinoda, Scheïderan von Amdegg'Uuz, letzter der Schîks, gar der Cherzak von Jergan oder der Tetrarch von Boran? Einer von ihnen oder viel leicht ein ganz anderer? Nein, erkannte Ramelusab, der Feind war nicht erst heute morgen über das Land in die Stadt eingedrun gen. Bestimmt hatte er seit Tagen seine Kämpfer ein geschleust. Sie hatten auf den vereinbarten Zeitpunkt zum Losschlagen gewartet, vielleicht sogar am ge
strigen Fest teilgenommen, mitgescherzt, mitgetanzt, ungeachtet des blutigen Werkes, mit dem sie in ein paar Stunden begönnen. Ramelusab hatte mittlerweile die nächste Etage er reicht und war auf dem Weg zur Brücke. Wer war der Feind? dachte sie, ein wenig zu sehr mit ihren Ge danken beschäftigt, ein wenig zu unachtsam. Viel zu spät bemerkte die junge Frau die rasche Bewegung und versuchte auszuweichen. Doch schon hörte sie überdeutlich, wie der Stoff ihres Gewandes zerriß, und spürte den Schreck, als die Klinge in ihren Leib schnitt. Ramelusab stürzte und blieb reglos liegen. Sie spürte keinerlei Schmerzen, außer einem Ge fühl der Entwürdigung, wegen des fremden Gegen standes, der in ihren Leib eingedrungen war, wegen der Klinge, die sie verletzt hatte. Es tut nicht einmal weh, dachte Ramelusab, offen bar sterbe ich jetzt. Bitterkeit bemächtigte sich ihrer. Wozu habe ich die Dachkammer verlassen? Nur, da mit ich hier hinterrücks erstochen werde, ohne noch irgend etwas vollbracht zu haben? Wie sinnlos, das hätte ich auch in der Kammer haben können! Ramelusab sah ihren Mörder näher treten, einen Mann mit schütterem Vollbart, den er sicherlich nur trug, um die vielen Pusteln in seinem Gesicht zu ver bergen. So als könne sie seine Gedanken erraten, wußte
Ramelusab ganz genau, was nun geschehen würde. Noch einen Schritt, dann stünde der Mann neben ihr. Er würde ihr in die Seite treten und – falls sie sich noch regte – mit einem schnellen Schwertstreich sein Werk vollenden. Aber vielleicht stäche er auch nach ihr, wenn sie kein Lebenszeichen mehr von sich gab, nur für alle Fälle. Hilflos, sinnlos, dachte Ramelusab mit einer Mi schung aus Schicksalsergebenheit und zorniger Ohnmacht. In dem Augenblick, als der Mann neben ihr stand und nach ihr treten wollte, stieß Ramelusab ihre Hand hoch, die das Stuhlbein immer noch umklam mert hielt, und rammte die zersplitterte Spitze mit al ler Kraft dem Bärtigen zwischen die Beine. Völlig gelähmt von dem schrecklichen Schmerz brach der Mann zusammen. Er machte keinerlei An stalten, sich zu wehren, als Ramelusab den Säbel nahm, der seiner Hand entglitten war, und ihm die Klinge durch den Hals bohrte. Ramelusab erhob sich zitternd. Dieser Augenblick war noch nicht als der ihres Todes bestimmt gewesen. Das Bein, an dem sie verwundet worden war, fühlte sich an, als gehöre es nicht zu ihr, war aber belastbar. Die Verletzung schien nicht so schwer zu sein, wie sie zuerst gedacht hatte. Die Weite ihres Kleides mußte den Gegner getäuscht haben.
Vorsichtiger als zuvor humpelte Ramelusab weiter. Stimmen waren vom Übergang zum Turm der Er wartung zu hören. Ramelusab zögerte kurz und schlich langsam näher. Vorsichtig warf sie einen Blick in den Übergang. Hier war kein Weiterkommen. Ein ganzes Grüpp chen der Angreifer hatte am Ende der Brücke Posten bezogen. Dunkle Schatten mit gezogenen Schwertern oder auf Glefen gestützt. Sie mußte umkehren, um vielleicht von der anderen Seite in den Königsturm zu gelangen. Gesagt, getan. Im nächsten Turm stieß Ramelusab zum ersten Mal auf Erschlagene, die zum Feind ge hört haben mußten. Der Anblick brachte ihr keine Be friedigung, zeigte er ja nur, daß auch die Angreifer sterblich waren. Sie eilte weiter, so gut es mit ihrer Verletzung eben ging, und rannte beinahe ein zweites Mal in ihr Verderben. Rasche Schritte kamen ihr entgegen, gleich mehre re. Verteidiger oder Angreifer? So schnell näherten sich die Entgegenkommenden, daß sich die Frage nur um den Preis beantworten ließ, sich selbst der Ent deckung auszusetzen. Ein Preis, der Ramelusab nach allem, was sie gesehen hatte, zu hoch schien. Ge schwind schlüpfte sie durch die erstbeste Tür. Der Raum dahinter roch nach trockenem Staub und war bis auf einige Schränke leer. Aufs Geratewohl
öffnete Ramelusab einen der Schränke. Weder Tücher noch Linnen lagen darin, kein Garn oder sonstiger Hausrat. Die dunklen Regalbretter waren nackt und leer. Eilig zwängte sich Ramelusab zwischen zwei von ihnen und zog die Schranktür von innen zu. Ge rade noch rechtzeitig. Das Öffnen der Tür war zu hören und unverständ liches Gemurmel. Ramelusab erschrak. Das Blut! erinnerte sie sich. Ich hinterlasse eine Blutspur. Kleine, verräterische rote Flecken, die direkt zum Schrank führen! Ich bin nicht hier! dachte sie, und zum zweitenmal an diesem Morgen entsann sie sich ihres Freundes aus Kindertagen. »Beim Versteckspielen nicht gefunden zu werden, ist das einfachste der Welt!« hatte ihr Endijian eines Ta ges sein großes Geheimnis eröffnet. »Allerdings reicht es nicht, sich nur zu verbergen, Lapijida. Du mußt selbst ganz fest daran glauben, daß du gar nicht da bist. Du denkst einfach, du seist ein Baum, ein Mooskissen oder ein Pilz, nur nicht daran, wer du wirklich bist.« Ramelusab unterwarf sich Endijians kindlichem Aberglauben. Ich bin nicht hier! dachte sie so fest sie konnte und verriegelte verzweifelt ihren Geist gegen die Schritte
auf den knarrenden Dielenbrettern und ihre todver heißende Nähe. Niemand ist hier, dachte sie. Ich bin nur eine Tischdecke aus Leinen, frisch gewaschen und ordent lich gefaltet. Ich bin schön bestickt. Zwischen meinen Lagen sind kleine Säckchen mit Duftkräutern und Blüten versteckt. Ich ruhe hier und warte, daß ein Tisch für ein Mahl gedeckt wird und ich ... Nein! Nicht herausholen! Bloß nicht an das Her ausholen denken! schrak Ramelusab zusammen in der Enge zwischen den beiden Regalbrettern. Ihr war, als bewegten sich die Schritte auf den Schrank zu. Ich bin eine alte Decke! begann Ramelusab aufs neue. Lange vergessen, vor Jahren in den Schrank ge legt, muffig riechend. Niemand erinnert sich meiner. Ich bin fadenscheinig, ein wertloses Stück Stoff mit Stockflecken, viel zu unbedeutend, als daß irgend je mand sich mit mir abgeben wollte! Das Murmeln brach ab, die Schritte verließen den Raum und entfernten sich. Nach einiger Zeit stieß Ramelusab die Schranktür auf. Sie verspürte keine Erleichterung, nur bitteres Weh. So fest hatte sie an das geglaubt, was sie sich vorgesagt hatte, an ihre Bedeutungslosigkeit, ihre Wertlosigkeit. Und ich bin viel zu häßlich, als daß es sich lohnte, mich totzu schlagen! murmelte Ramelusab abschließend. Sie ging zur Eingangstür und lauschte. Eben, als
Ramelusab beschlossen hatte, daß es nun sicher sei, den Raum wieder zu verlassen, setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Ein Quietschen hinter ihrem Rücken ließ sie herum fahren. Sie war keineswegs allein in diesem Zimmer!
4. Aus einem der anderen Schränke stieg ein Mann. Er war etwas untersetzt, gut zwei Köpfe größer als Ra melusab. Seine Kleidung saß bemerkenswert schlecht. Als habe er sie von einem weniger stattlichen Ver wandten geerbt oder bei einem Trödler achtlos zu sammengeklaubt. Er war gut zwanzig Jahre älter als Ramelusab und hatte braunes Haar, durch das sich – wie einzeln gefärbt – zahlreiche honigfarbene Sträh nen zogen. Ein starker Sonnenbrand rötete sein Ge sicht. Ramelusab stürmte auf ihn zu. Wie von selbst holte ihr Schwertarm aus, um mit dem erbeuteten Säbel ei nen tödlichen Streich zu führen. Im allerletzten Au genblick zögerte die schlanke Frau, obwohl der Fremde einen Dolch mit recht langer Klinge in der Hand hielt. Zum Teil ergab sich ihr Zögern aus der etwas unbeholfen abwehrenden Bewegung, die der Braunhaarige mit seiner unbewaffneten Hand ge
macht hatte. Sie schien für Ramelusab nicht zu einem Menschen zu passen, der in ein Haus eingedrungen war, in der Absicht, jeden darin umzubringen. Eher zu jemandem, der vor einem schwerwiegenden Ver sehen zu warnen trachtete. Zum anderen Teil rührte ihr Zögern von der rosa leuchtenden Haut des Man nes. Alle Angreifer, die Ramelusab bisher gesehen hatte, ob lebendig oder tot, waren Einheimische ge wesen, gewöhnt an die heiße Sonne, mit der Praios ihre Heimat segnete. Dieser Mann vertrug nicht die Sonne Maraskans. »Freund oder Feind?« fragte Ramelusab scharf, den Säbel drohend erhoben. »Wie kann ich ahnen, welche Freunde du hast, dumme Nudel?« murmelte ihr Gegenüber mürrisch auf Garethi und wechselte sogleich in ein befremdli ches Mischmasch aus Garethi und schlechtem Tula midisch, das er anscheinend für Maraskani, die Spra che des gemeinen Volkes, hielt: »Nichts Freund, nichts Feind. Haben kein Freund hier. Haben ich nichts auf ganzes verrücktes Insel. Kein Freund auf dieses Landei!« »Erklär dich, aber schnell!« antwortete Ramelusab nun ebenfalls auf Garethi. Der Mann seufzte: »Den Zwölfen sei Dank! Ihr ahnt nicht, Gnädigste, wie sehr es mich erleichtert, Euch eine räsonable Zunge sprechen zu hören!«
»Mit dem König oder gegen ihn?« herrschte ihn Ramelusab an. »Ich möchte Eure Frage ja gerne beantworten, Gnädigste, auch wenn sie mir ein wenig schwieriger geworden scheint«, antwortete der Große. Sein Ge sicht nahm einen lauernden Ausdruck an: »Pardon niert mein Zögern, aber möchtet Ihr mir wohl einen Fingerzeig geben, welche der beiden Möglichkeiten Euch genehmer wäre?« Ramelusabs Züge verhärteten sich. Rasch sprudelte es aus dem Braunhaarigen heraus: »Nun werdet wohl nicht gleich ungeduldig! Wenn Ihr wissen wollt, ob ich intendierte, Eurem König den Wanst zu schlitzen, so verneine ich. Und wenn ich Eure Gewandung recht deute, so lag's auch nicht in Eurer Absicht.« Die Augen der jungen Frau wurden zu schmalen Schlitzen: »Gib mir endlich einen Grund, dich zu ver schonen. Du gehörst nicht in den Palast. Was treibst du hier?« Ihr Gegenüber seufzte gekünstelt: »Ich hoffte stets, diese Auskunft niemals geben zu müssen. Ach weh!« Er pausierte: »... stehlen.« Ramelusab spuckte angewidert aus: »Ein Plünderer also. Es gibt wenig Verächtlicheres als einen Aasfres ser, der sich über den noch warmen Kadaver her macht.« »Nun werdet Ihr aber arg anzüglich, Dame!« erwi
derte der Fremde. So seltsam es anmutete, seine Ent rüstung schien echt zu sein. »Glaubt Ihr etwa, ich wäre hier, so ich geahnt hätte, daß ein Stelldichein mit Gevatter Boron verabredet war? Hört gut zu, Dame: Es bereitet geringes Pläsier, zu entdecken, daß man unverhofft in ein allgemeines Schlitzen, Stechen und Tothauen geraten ist. Für wahr! Äußerst wenig Pläsier!« Er stampfte verärgert auf: »Gewißlich hätte ich einen anderen Tag für meine kleine Visite gewählt, hätt' ich's geahnt. Glaubt das!« Ramelusab schüttelte unwillig den Kopf: »Ich muß verrückt sein! Ich streite mit einem Dieb, während Tod und Verderben dieses Haus verheeren!« Abrupt beendete sie das Gespräch und ging zur Tür. »Ist's vielleicht gestattet zu fragen, was Euer Ziel sein mag, gutes Fräulein?« erklang es hinter Ramelu sabs Rücken. »Nichts was ein gemeiner Dieb versteht«, gab sie zurück. »Ich habe meinem König zu dienen.« Urplötzlich stöhnte Ramelusab auf. Mit einem Mal kam der bisher ausgebliebene Schmerz über sie wie eine harsche Brandung. Schwankend hielt sie sich auf den Beinen. Sie hörte wie durch dicke Vorhänge den Fremden sagen: »Pardautz, das ist ja Euer eigener Saft!« und spürte gleich darauf seine stützenden Hände, die sie auf den Beinen hielten.
»Laß!« sagte sie und versuchte den Griff abzuweh ren. »Halt stille, unräsonables Mensch!« hörte Ramelu sab und wurde zu Boden gezwungen. Der Mann schob ihren Kaftan weit genug hoch, so daß die Wunde sichtbar wurde: ein klaffender Schnitt von oberhalb der Leiste bis fast zum Knie. Ramelusab sah die Wunde nicht. Der Schmerz verschloß ihre Augen. Das unablässige Plappern aus dem Mund des Diebes plätscherte an ihr Ohr. »Ei, ei, das sieht schlimm aus. Ich hoffe doch, Ihr steht auf gutem Fuß mit Frau Peraine? Oh, pardon niert's, ich vergaß Eure Sitten. Mich läßt staunen, daß Euch Euer Bein überhaupt noch trug. Dabei ist es so ein hübsches Bein. Übrigens auch alles Drumherum, soweit ich das sehe. Pardonniert's abermals. Ich leide mitunter entsetzlich an einem losen Maul. Ich wollte Euch nicht genierlich machen.« Ramelusab merkte, wie Streifen von ihrem Gewand abgerissen wurden. Obwohl ihr Helfer behutsam vorging, wand sie sich in Schmerzen, als er die Wun de mit dem Stoff verband. Als sie etwas Festes und Kühles an ihren Lippen spürte, schlug Ramelusab die Augen auf. Sie drückte die Hand des Fremden weg, in der sich ein kleines Tonfläschchen befand. »Was ist das?« fragte sie mißtrauisch. »Trinkt's einfach. Es sei denn, Ihr zöget es vor, bald
auf besserem Fuß mit Herrn Boron zu stehen als mit Frau Peraine, wie ich's ansonsten leider befürchte, Dame.« »Nun sag schon«, beharrte Ramelusab. Der Mann seufzte wie schon so oft: »So's denn erst sein muß. Der Trank soll Euch heilen. Wie man mir sag te, wohne ihm große magische Kraft inne. Berücksich tigt man den sündhaften Preis, den ich für das Tränk chen bezahlte, so dürfte er seinesgleichen lange su chen. Sei's hier wie auch im ganzen Tulamidenland.« Er führte abermals die kleine Flasche an Ramelu sabs Mund. Dieses Mal trank sie. Währenddessen erklärte der Mann weiter: »Ich er warb ihn just gestern in Eurem beschaulichen Städt chen. Von einem jungen Mann. Ein überaus schmie riges und zweifelhaftes Subjekt, wie ich leider einge stehen muß. Deswegen befürchte ich auch, daß er mich übers Ohr gehauen haben könnte, was mir sehr oft in letzter Zeit zustößt. Wahrscheinlich ist's gar kein Heiltrank, sondern nur ein schnell wirkendes Gift, oder etwas, das Euch auf der nächsten Latrine heimisch werden läßt.« Ramelusab sah den Dieb erschrocken an und ent deckte das schalkhafte Blitzen in seinen Augen. Un willkürlich mußte sie lachen. Für einen Moment ver gaß sie die Schrecken, die ungebrochen außerhalb dieses Zimmers wüteten.
»Wie heißt du, Bruder?« fragte sie. »Ingvalion.« »Ist das ein Name?!« »Dort, wo ich geboren wurde, meint man schon. Gefiele Euch Ornibio – mein zweiter Name – besser, Dame?« »Hm, das klingt wenigstens wie ein Name.« »Seht Ihr, deshalb ziehe ich Ingvalion vor. Doch zurück zu der Frage, die ich Euch über das Ziel Eurer Schritte stellte, just bevor sich Euer kleines Malheur bemerkbar machte. Ich gestehe, daß ich bitter ent täuscht bin über Eure Antwort, hatte ich ja erhofft, sie möge lauten: Schnell fort aus dieser unruhigen Um gebung. Oder noch lieber: Ich kenne einen geheimen Gang. Ihr wißt selbstverständlich, Gnädigste, daß Eu er König tot ist?« Diese Eröffnung war für Ramelusab wie ein Schlag in den Magen. Als sie sich etwas gefangen hatte, schüttelte sie den Kopf und antwortete: »Er ist nicht tot. Du behauptest das, um deine Haut zu retten, Dieb. Du malst dir aus: gäbe es hier nichts mehr für mich zu tun, so wäre ich dir eine geeignete Führerin aus dem Palast!« »Ihr verkennt mich, Dame!« antwortete Ingvalion ebenso leise. »Ihr verkennt mich sogar sehr.« Er wechselte wieder in seinen unbekümmerten Plauder ton: »Ich hörte die Kunde aus dem Mund eines selbst
schon Waidwunden. Er rannte auf den Palasthof und schrie zum Erbarmen: Der König ist tot, der König ist tot! Kurz bevor die Unsittlichkeiten begannen. Ich be zweifle, daß er log. Mich wundert, daß sein lautes Geschrei nicht auch an Euer Ohr drang!« Blitzschnell packte Ramelusab den Säbel und ließ die scharfe Klinge auf den Dieb niedersausen. Ihr Zorn wurde von vielen Quellen gespeist. Von der Unbe kümmertheit dieses zufälligen Zaungastes, den das Leid, von dem er berichtete, nicht im geringsten zu be rühren schien. Von ihrem hilflosen Entsetzen über die Nachricht vom Tod des Königs. Nicht zuletzt von ihrer Scham darüber, daß sie friedlich geschlafen hatte, während das vollbracht wurde, was zu verhindern ihre Aufgabe gewesen wäre. Tief und fest hatte des Königs Wache geschlafen, als seine Mörder kamen. Mit einer Schnelligkeit, die Ramelusab Ingvalion nicht zugetraut hatte, umklammerte er ihr Handge lenk und hielt den Schlag auf. »Ich habe Euren König nicht erschlagen, Dame! Und Ihr macht ihn dadurch nicht wieder lebendig, daß Ihr nun mich tötet! Wie ich bereits sagte, bin ich nicht hier, weil mich gelüstete, dieses Gemetzel mit anzusehen. Und so Ihr meint, Ihr hättet Euch etwas vorzuwerfen, was immer noch kein triftiger Grund ist, meine Person zu richten, so fragt Euch doch, warum Euer König starb? Nicht weil ein Sterblicher eine Klinge in sein
Herz stieß, sondern weil Boron beschlossen hatte, daß die Lebensspanne des Königs zu Ende sei. Ohne den Ratschluß des Mitleidlosen Gevatters, der sich keinen Deut schert, wie viele zerrissene Fäden er hinterläßt, hätte kein Mensch Euren König zu töten vermocht. Diesen endgültigen Beschluß hättet auch Ihr nicht än dern können. Was Götter beschließen, können nur Göt ter verhindern. So einfach ist das.« Ramelusab blickte in das nur wenige Fingerbreit entfernte Gesicht. Sie hatte den Eindruck, daß Ingva lion glaubte, was er sagte. Unwillig machte sie ihre Hand frei und stand auf, wobei sie sich auf den Säbel stützte. »Du schwatzt.« sagte sie. »Aber ich will nicht mit dir streiten.« Ingvalion erhob sich gleichfalls. »Auf die Gefahr hin, daß ich Euch über Gebühr langweile«, hob er an. »Doch was habt Ihr nun vor?« Ramelusab belastete prüfend ihr verwundetes Bein. Die Flüssigkeit, die ihr Ingvalion eingeflößt hatte, mußte tatsächlich ein Zaubermittel gewesen sein. Das Bein fühlte sich beinahe unverletzt an. Als habe sie sich allenfalls einige unbedeutende Kratzer an einem Dornbusch zugezogen. »Auch wenn der König tot ist, so gilt es immer noch, seine Familie zu schützen«, erklärte sie. Ingvalion warf ihr einen eigentümlichen Blick zu.
Offenbar nicht die Antwort, die er hören wollte, schloß Ramelusab. Der Dieb schüttelte mißbilligend den Kopf: »So er laubt mir wenigstens, Euch für ein Stück des Wegs mein Geleit anzutragen. Nicht daß Ihr Euer Bein gleich wieder zuschanden macht. Ohne mich brüsten zu wollen: Dieser Trank war wirklich sehr kostspie lig, und so bald werde ich Euch nicht mehr mit einem weiteren dienen können. Beim zweiten Mal wird man Euch das Bein abschneiden müssen. Doch sorgt Euch nicht, denn ich kenne mich aus. Ich habe ein solches Remedium einmal mitangesehen, so daß mir die er forderlichen Handreichungen nicht allzu ungeläufig sind. Sollten wir gleich an einem sicheren Weg nach draußen vorbeiflanieren, so bin ich Euch nicht gram, wenn Ihr's mir berichtet.« Ramelusab lauschte an der Tür, öffnete sie einen Spalt, spähte hinaus auf den düsteren Flur. Als sie immer noch keine unmittelbare Bedrohung ausma chen konnte, verließ sie mit Ingvalion im Schlepptau den Raum. Nach wie vor war der Königsturm Ramelusabs Ziel. Sie nahm die Route wieder auf, die sie vor ihrem Zu sammentreffen mit Ingvalion eingeschlagen hatte, also weg vom Königsturm, quer durch alle anderen Palasttürme, um so, am Ende des Kreises, zum eigentlichen Ziel zu gelangen. Dieser Weg erwies sich als denkbar
lang und war verschlungen wie der Bohrgang eines Holzwurmes durch einen alten Balken. Er bedeutete ein fortwährendes Zurückweichen vor den gegneri schen Kriegern, ein rasches Wechseln der Stockwerke, um auf dem Umweg über eines der Brückchen zwi schen den Türmen die kurzen Stücke Weges wieder gutzumachen, die sie eben beim Umkehren verloren hatten. Nicht zuletzt ein ständiges Verbergen mit an gehaltenem Atem in Wandnischen, unter Stiegen, hin ter Vorhängen. Obwohl Ingvalion kein Wort sprach, meinte Rame lusab genau zu wissen, was ihr Begleiter dachte: Wenn eure Gegner doch augenscheinlich überall sind, war um bildest du dir dann ein, es könne noch irgendeinen Teil des Palastes geben, den ihnen deine Leute streitig machen? Je mehr Zeit verging und je unüberwindlicher die Hindernisse auf dem Weg zu werden schienen, desto häufiger hörte Ramelusab Ingvalions affektierte Stimme in ihrem Kopf. Ein heimlicher Groll gegen ihn staute sich in ihr auf. Die Stimme mit Ingvalions Tonfall sagte: Gib auf! Was du treibst ist sinnlos. Wäre Ramelusab allein gewesen, so wäre es ihr leichtgefallen, den verführerischen Gedanken – rette doch lieber dein Leben! – beiseite zu wischen, doch die Gegenwart des Fremden verlieh dem Gedanken eine hartnäckige Körperlichkeit, zwang Ramelusab,
der Versuchung fortwährend zu widersprechen. Sie würde nicht aufgeben. Nicht nachdem sie tatenlos geschlafen hatte, als der Feind sein Schlachtwerk be gann, nicht nachdem sie sich in den Armen ihres Traumgeliebten befunden hatte, als der König starb. Als Ramelusabs Groll ein Ausmaß angenommen hatte, wo der kleinste Mucks von Ingvalion ausge reicht hätte, um ihn den Säbelhieb kosten zu lassen, der für jemand anderes bestimmt war, begann Rame lusab eine stumme Litanei. Ich habe den Pflug ange setzt, dachte sie unablässig, nun gehe ich bis zum Ende der Furche. Und sollte sich am Ende dieser Fur che doch herausstellen, daß die Geisterstimme in ih rem Kopf recht behielte, nun, so war sie immerhin an diesem Ende gewesen. Schließlich bot sich eine Gelegenheit, Ingvalions lä stige Gegenwart loszuwerden. Ramelusab hieß ihren Begleiter, ihr in ein Gemach zu folgen, in dem große, stoffbespannte Rahmen standen und, vor diesen auf gereiht, Tiegelchen mit Farbe. Auf eine der Stoffbah nen war etwas skizziert und teilweise bunt ausge malt. Was es darstellen sollte, ob den Anfang eines Gemäldes oder nur ein dekoratives Muster, war nicht zu erkennen, war auch völlig bedeutungslos, denn wer auch immer die Stoffmalerei begonnen hatte, würde sie sehr wahrscheinlich nie beenden. Ramelu sab ging zielstrebig zwischen den Rahmen hindurch
und berührte eines der Wandpaneele. Eine schmale Tür öffnete sich. »In der Wand ist eine geheime Treppe, die in den Waschkeller führt«, erläuterte Ramelusab gleichgültig, ohne Ingvalion anzusehen. »Unten gehst du an dem Brunnen vorbei zu der gegenüberliegenden Wand, an der einige Waschbretter und Bohlen von einem kaput ten Zuber lehnen. Räum sie beiseite. Dahinter beginnt ein Gang, der dich aus Tuzak hinausführen wird.« Sie sah auf. Ihr Groll war auf einmal verflogen. Nicht nur, weil ihr bewußt wurde, daß sie sich von nun an wieder allein durchschlagen mußte, sondern weil Ramelusab in Ingvalions Augen ein unerwarte tes Verständnis zu erkennen glaubte, dasselbe bedin gungslose Verstehen, das sie stets in den Augen ihres Gesichtslosen Liebhabers fand. Doch vielleicht erlag sie auch nur einer Täuschung. »Der Kleine Bruder möge dir einen sicheren Weg weisen, Ingvalion!« sagte sie versöhnlich. »Phex mit Euch ... Schwester!« erwiderte der Dieb lächelnd.
5. Ramelusab huschte weiter durch die verlassenen
Gänge. Die Schreie waren deutlich weniger gewor
den. Von einer Fensternische aus warf sie einen Blick in den Hof. Dort wurden mittlerweile Gefangene zu sammengetrieben. Einige saßen bereits im blutbesu delten Sand und ließen die Köpfe niedergeschlagen hängen. Ramelusab war sich nicht sicher, wie sie den Anblick bewerten sollte. Als gutes Zeichen, weil die Angreifer doch nicht vorhatten, jedem im Palast den Garaus zu machen, oder als schlechtes, weil die Fein de sich inzwischen so sicher fühlten, daß sie sich lei sten konnten, Gefangene zu machen? Wiederum Schritte! Ramelusab zwängte sich in die auf einmal viel zu enge Nische, versuchte, mit der Wand zu verschmel zen. Den Griff ihres Säbels hielt sie mit beiden Hän den fest gepackt. Fieberhaft dachte sie nach. Wie lan ge sollte sie warten? Solange bis der, zu dem die Schritte gehörten, in die Fensternische sah und sie entdeckte, oder sollte sie – den Augenblick der Über raschung ausnützend und auf einen kurzen Kampf hoffend – herausspringen, sobald er nahe genug he rangekommen war? Was aber, wenn sich der Schlagabtausch zu lange hinzog? Wenn dieser eine nur die Vorhut einer Gruppe war? Die Schritte gingen an der Nische vorbei. Ramelusab atmete erleichtert auf. Die Schritte kehrten zurück.
Jetzt! dachte Ramelusab. Jetzt! Doch als habe der Unbekannte etwas geahnt, wechselte er zu der der Nische abgewandten Seite des Ganges und hastete eilig vorbei. Offenbar wirk lich ein Späher. Ramelusab wartete nicht, bis die Schritte gänzlich verklungen waren, denn gleich in der Nähe mußte eine Pforte zu einem der Stege zum nächsten Turm sein! Sie rannte aus der Nische hinaus, quer über den Gang auf das Pförtchen zu. Ein niederhöllischer Lärm brach aus. »Da ist noch jemand! Habt Acht! Schlagt sie tot, die Ratte!« erscholl es. Ramelusab riß das Türchen auf. Doch dahinter war kein Steg. Nur zwei Tragbalken und einige Stützen verbanden diesen Turm mit dem nächsten. Der Rest, die Bodenbretter und das Geländer, fehlte. Offenbar wurde die Brücke gerade völlig erneuert, vermutlich wegen Ungezieferfraßes. Ramelusab sah hinab in die schwindelerregende Leere, von der ein bedrohlicher Sog ausging. Spring, spring, spring! Rasch blickte sie wieder geradeaus, biß die Zähne zusammen und wagte zaudernd den ersten Schritt. Welche Wahl hatte sie schon? Vorsich tig setzte sie einen Fuß vor den anderen und benützte den Säbel, um das Gleichgewicht zu wahren. Doch
schon ertönten neue Rufe. Man hatte sie unten im Hof entdeckt! Steine flogen. Ramelusab verschwendete keinen weiteren Ge danken daran, was geschähe, sollte sie fehltreten, und rannte über den Balken. Sie riß die fast identische Pforte am anderen Ende auf, flog durch sie hindurch, schleuderte sie zu und warf sich atemlos dagegen. Rumms! Ein heftiger Stoß ließ die Tür erzittern, drückte sie sogar einen winzigen Spalt auf. Ramelusab stemmte die Füße gegen den Boden und krallte die Finger der freien Hand in den Tür rahmen. Nur nicht nachgeben, denn Nachgeben war ein anderer Name für Tod! Wieder erzitterte das Tür blatt unter einem heftigen Stoß. »Wirst du mich wohl einlassen, Fischbrägen!« wet terte Ingvalions Stimme. »Diese unleidigen Antipa thien stechen mich noch tot!« Ramelusab war viel zu verblüfft, um der Aufforde rung sogleich Folge zu leisten. Was macht der hier? dachte sie. Endlich gab sie den Weg frei. Der großge wachsene Dieb mit den ungewöhnlichen braunblon den Haaren preschte ins Innere des Turms, krallte wortlos eine Hand in Ramelusabs arg mitgenomme nes Festkleid und zog sie mit sich. Am Absatz der Wendeltreppe blieb er unschlüssig stehen. Auch hier war vor kurzem noch gekämpft worden. Zwei Lakai en lagen mit wächsernen Gesichtern auf den Stufen.
»Abwärts!« rief Ramelusab. »Nach oben!« befahl Ingvalion. »Sie suchen immer zuerst unten.« Und schon sprang er über die Leich name hinweg und eilte die Treppe aufwärts, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Ramelusab folgte ihm dicht auf den Fersen. Sie stürzte beinahe, als Ingvali on nach der ersten Wende unerwartet kehrtmachte. »Dieses Mal nicht!« flüsterte er heiser. »Sie sind schon oben.« Wiederum grapschte er einfach nur nach Ramelusab und riß sie hinter sich her, als sei sie nicht mehr als ein willenloses Anhängsel, zerrte sie in kopfloser Flucht durch die verschlungenen Termiten gänge des Palastes, die spiralförmig gewundenen Treppen hinab, von Etage zu Etage tiefer. Jäh blieb Ramelusab stehen. Der Dieb ruderte kurz mit den Armen und plumpste auf sein Hinterteil. »So geht das nicht!« stellte Ramelusab fest. »Du kennst dich hier nicht aus. Ich gehe voran, du folgst«, und eilte auch schon weiter. Ingvalion erhob sich und hastete im Trippelschritt eines Menschen, der ge wohnt ist, größere Schritte zu nehmen, neben seiner Begleiterin her. »Wieso bist du noch hier?« flüsterte sie. »Ich sollte Euch ein wenig gram sein, liebes Fräu lein«, antwortete Ingvalion, »verspracht Ihr mir ja ei nen geheimen Gang und verheimlichtet dabei, daß ihn halb Tuzak zu kennen scheint.«
Ramelusab sah ihn fassungslos an: »Halb Tuzak?« »Vielleicht nicht ganz die Hälfte der Bewohner. Aber bestimmt geht dort gerade jeder ein und aus, der fähig ist, eine Waffe spazierenzuführen.« »Ein und aus!« wiederholte Ramelusab mechanisch. »Mögt Ihr wohl eigene Worte wählen?« zischte Ing valion ungeduldig. »Vielleicht promenieren die Garst beutel auch nur zum Pläsiere. Allein, an Spielleuten und Straßenhändlern herrscht dort unten noch arger Mangel.« Ramelusab hörte nicht mehr weiter zu. Ein und aus. Der Feind hatte nicht die Torwache überlistet. Er hatte den geheimen Zugang gewählt. Er hatte ihn ge kannt. Jemand hatte ihn verraten! Sie hob zu einer Frage an, die sie nie aussprach. Denn aus nächster Nähe erklang Schwertergeklirr! »Das sind die Meinigen!« rief Ramelusab und rannte los. »Dieses hesindeverlassene Geschöpf«, brummelte Ingvalion vor sich hin. »Bestimmt sind es die Deinigen! Vermutlich werden sie eben von zehnfacher Überzahl erschlagen. Nur zu, nur zu, dann laß dich halt auch er stechen. Kann man nicht vorher nachdenken? Muß man sich benehmen wie ein verrücktes Thorwaler Wiesel angesichts eines unbewachten Hühnerhofs?« Trotzdem beschleunigte Ingvalion ebenfalls seinen Schritt. Doch keine zehnfache Übermacht erwartete Rame
lusab. Tatsächlich hatte der Kampf zweier gegen einen ein schnelles Ende gefunden. Einer der Sieger stand mit verschmierter Klinge sichernd im Flur, während der andere den schlaffen Körper des Unterlegenen un ter die Arme gefaßt hatte und durch eine weit geöffne te Tür in einen angrenzenden Raum schleifte. »Ramelusab!« rief der Sichernde halblaut in freudi ger Überraschung. »Schnell herein mit dir, bevor noch andere kommen!« Er spannte sich an, als er ih ren Begleiter bemerkte. »Wer ist das?« Ramelusab sah über die Schulter zu Ingvalion. Ein wenig wunderte sie sich, daß er immer noch da war. »Mein Gefährte«, antwortete sie knapp. Sie hatte keine Lust, lange zu erklären, wie sie an den Dieb ge raten war. Und trotz des Blutes auf ihrem Festkleid, trotz der Risse in seinem Stoff schien dies eine alles erhellende Antwort zu sein. Mein Gefährte, mein Be gleiter der letzten Nacht. Sie schlüpfte durch die Tür. Ingvalion zögerte et was, als überlege er, ob er wirklich in diesen Raum wolle, und tat es ihr dann gleich. Die Tür wurde ge schlossen und mit einem Holz verkeilt. In dem Raum, einer großzügig bemessenen Unter kunft mit mehreren Schlafkojen, hielten sich noch sechs weitere, voll gerüstete Männer und Frauen auf, denen Ramelusab kurz zunickte. Recht zentral thronte
auf einem Hocker, von dem nur die Beine zu sehen wa ren, ein Monstrum von Weib. Ihr Körper war eine Py ramide aus Fettwülsten, der Busen von beachtlichen Ausmaßen. In ihren fleischigen Armen und Händen hielt sie einen griesgrämig dreinblickenden Säugling, den sie beruhigend schaukelte, während der Hocker unter ihr höchst beunruhigend ächzte. Der Mann, der den Erschlagenen in den Raum ge schleift hatte, zog den Leichnam zu einer Wand, wo bereits drei andere steif lagen. »Wie geht es dem König?« stellte Ramelusab die drängende Frage. »Er war einer der ersten, die starben«, antwortete eine der Frauen leise. »Er selbst, die Königin und ihre Kinder.« Sie deutete mit dem Kopf auf die fette Frau, die nur Augen für den Säugling in ihren Armen hat te. Eine winzige Hand schloß sich rhythmisch um ei ne Falte ihres Gewandes und öffnete sich wieder. »Der kleine Prinz ist der einzige aus Dajins Ge schlecht, der noch lebt.« Ramelusab fühlte sich mit einem Mal müde und kraftlos. Die Welt, von der sie ein Teil gewesen war während der letzten drei Jahre, war unwiederbring lich zu ihrem Ende gekommen. Ingvalion hatte zwar schon zuvor behauptet, daß der König tot sei, sie hat te ihm ja auch geglaubt, aber er war ein Fremder. Ei ner, dessen Worte man wider alle Vernunft bezwei
feln konnte. Es machte einen Unterschied für Rame lusab, ob die furchtbare Kunde aus dem Mund eines Menschen kam, den sie nicht kannte, den nur ein Zu fall in ihr Leben geführt hatte, oder aus dem Mund eines der Menschen, mit denen sie tagein, tagaus zu tun hatte. Deren Urteil war endgültig. »Was bist du für einer, Bruderschwester?« sprach eine weitere Kriegerin Ingvalion an. Ihr blauschwar zes Haar war in zahlreiche Zöpfchen geflochten und an den Schläfen zu Schnecken aufgeringelt. Er antwortete nicht, sondern zeigte nur einen dümmlichen Gesichtsausdruck. »Er ist nicht von hier. Er versteht nur Garethi«, sprang Ramelusab helfend ein und trat zu den vier to ten Feinden. Sie überlegte, wessen Statur am ehesten der ihren entspräche, damit sie seine Rüstung anlegen könne. »Was sind das für welche?« fragte sie, bückte sich und begann, den Kleinsten aus seiner Panzerung zu schälen. »Das da sind alles Leute des Baruuns von Frandi rab«, antwortete einer der Männer. »Ein Baruun? Ist das ein Baron?« fragte verwundert Ingvalion, der sich inzwischen auf eine der Kojen hat te fallen lassen. »Ein Baron hat sich erkühnt, gegen Euren König vorzugehen?« »Er wird es nicht allein getan haben«, erklärte die
Frau, die ihn bereits vorher angesprochen hatte, nun ebenfalls auf Garethi. Sie hatte einen sehr schweren Akzent. »Vermutlich hat er sich mit anderen zusammenge schlossen oder ihre Gefolgschaft erkauft. Bist du Mit telreicher?« Ingvalion schüttelte den Kopf: »Ich stamme aus ei nem kleinen, verrückten Land.« Er zögerte: »Nun, vielleicht auch nicht verrückter als andere.« »Kann er mit einem Schwert umgehen?« warf einer der Männer ein und sah dabei Ramelusab fragend an. Sie schloß die Schnalle einer Armschiene und zuckte mit den Schultern. Mit jedem Rüstungsteil wuchs ihr Selbstvertrauen. Sie warf Ingvalion einen eindringli chen Blick zu. Sie wollte nicht, daß er sich als gemei ner Dieb zu erkennen gäbe. »Einen Dolch hat er«, murmelte sie. »Weißt du ein Schwert zu führen?« wiederholte der Mann, dieses Mal seine Frage an Ingvalion richtend. »Ich mußte es halt einmal ein wenig lernen«, ant wortete jener. »Meine Heimat hat eine geringfügig friedliche Tradition.« Der Mann, der ihn angesprochen hatte, stieß mit dem Fuß eines der erbeuten Feindesschwerter zu Ingvalion. »Vielleicht hilft es dir geringfügig zu überleben, Bruder«, äffte er ihn nach.
Der Dieb erhob sich, nahm das Schwert auf und be trachtete es mißtrauisch, als könne es sich jeden Au genblick in eine bissige Viper verwandeln. Er ließ die lange, leicht gekrümmte Klinge des Tuzakmessers aus der Scheide gleiten, wog sie prüfend, schlug zweimal mit der Waffe durch die Luft und stellte sich in Posi tur. Einige rasche Hiebe folgten. »Angriff, Verteidigung, Riposte. Das scheint ja doch noch parat zu sein.« Er ließ die Klinge wieder in die Scheide zurückglei ten, warf die Waffe mit zusammengepreßten Lippen auf die Koje und meinte: »Aber das ist nicht mein Fach.« Er ging zu einem der Fenster, die hier nicht nur schmale Schlitze waren, sondern eine ordentliche Breite hatten, und sah hinaus. Ramelusab betrachtete erstaunt Ingvalions Rücken. Der Dieb steckte voller Überraschungen. Halt einmal ein wenig gelernt war stark untertrieben. Die Exaktheit von Ingvalions Schlägen lernte man nicht mal ein we nig. Sie war das Ergebnis täglicher Übung über einen recht langen Zeitraum. »Bist du denn aus Weiden, daß du so fichst?« fragte die Kriegerin mit den Zöpfen. »Ja, aus dem tapferen Weiden«, bestätigte Ingvali ons Stimme mit amüsiertem Unterton. Die Kriegerin nickte zufrieden, Ramelusab glaubte kein Wort. Ingvalion wandte sich wieder um: »Dieses Fenster
führt doch aus dem Palast hinaus. Draußen sehe ich momentan keinen Bewaffneten, und es sind allenfalls vier, fünf Schritt nach unten. Warum nimmt nicht je mand den Prinzen und ...« Fast gleichzeitig kam es barsch aus mehreren Keh len: »Der Prinz bleibt hier!« und »Keiner geht mit dem Prinzen!« Ramelusab stutzte. Sicher, Ingvalion hatte recht. Sie waren weit genug unten im Turm, und wenn drau ßen kein Feind war ... Sie blickte zu ihren Kameraden. Einer wie der andere standen sie völlig angespannt da und zu allem entschlossen. Sie sah zu Ingvalion. Er hatte wieder diesen eigentümlichen Gesichtsaus druck aufgelegt, wie vorhin, als sie ihm erklärt hatte, trotz des Königs Tod gelte es immer noch, seine Fa milie zu schützen. Irgend etwas ging hier vor, was sie nicht verstand, wohl aber dieser Fremde! Sie schaute wieder zu ihren Kameraden, sah die Hände auf den Schwertgriffen, die harten Linien in den Gesichtern, die zusammengekniffenen Lippen, die wachsamen und unruhigen Blicke, die nicht ih rem fremden Begleiter galten, sondern einander. Endlich begriff Ramelusab. Dieser bruderlose Ba stard! dachte sie. Er hat es geahnt! Wie töricht war sie gewesen, anzunehmen, er habe sich vorhin nur darüber geärgert, daß er doch keine
Führerin aus dem Palast gefunden hatte! Er hatte die ganze Zeit vermutet, daß es den Angreifern, diesem verfluchten Baruun von Frandirab und seinen Bun desgenossen, nicht nur darum gegangen war, einen König zu töten, sondern Dajins Dynastie auszulö schen, bevor sie überhaupt begonnen hatte! Dieser verfluchte Bastard! Und jetzt? War nicht alles offensichtlich? Der Feind hatte den geheimen Zugang gekannt, Verräter hatten ihm den Palast übergeben! In welches Tollhaus war sie geraten? Acht Gardi sten und Kriegerinnen des Königs, mit ihr neun, und keiner traute dem anderen über den Weg! Keiner von ihnen würde zulassen, daß Dajins verbliebener Sprößling auch nur einen winzigen Augenblick mit einem der anderen allein wäre! Jeder fürchtete um das Leben dieses winzigen Thronerben. Ingvalion unterbrach die Stille: »Wenn nun ich den kleinen Säuger nähme ...« »Der Prinz bleibt!« unterbrach ihn jemand unwillig. »Ich verstehe«, antwortete der Dieb finster. »Doch mag man vielleicht darüber spekulieren, wie lange das Wiesel benötigen wird, um diesen Bau zu finden? Mag man darüber sinnieren, was es dann tun wird?« Niemand antwortete. Ingvalion sah zu Ramelusab: »Mein liebes Fräulein, Ihr seid noch sehr jung, ist Euch bewußt, was Ihr verschenkt?«
Ramelusab erwiderte seinen Blick und schlug mit der Faust auf ihren Lamellenpanzer: »Mein Platz ist an der Seite des Prinzen.« Eine Zeitlang verhakten sich ihre Blicke. Dann schüt telte Ingvalion sehr bestimmt den Kopf. »Nein«, sagte er mit säuerlicher Miene. »So sehr ich Frau Rondra schätze, so wenig Ehre ist doch in mir. Und wenn es mein Gelüst gewesen wäre, für einen Prinzen zu ster ben, dann ...« Er wandte sich rasch ab, ging zum Fen ster, schwang ein Bein über den Sims, verharrte eini ge Herzschläge, sagte: »Ich will sehen, ob ich euch Narren Hilfe schicken kann«, und schwang sich nach draußen.
6. Was zuvor weich gewesen war, war hart. Was zuvor verletzliches Fleisch unter einer dünnen Schicht Stoff gewesen war, war nun bedeckt von festem Leder und hartem Metall. Wie immer, wenn Ramelusab die Rü stung angelegt hatte, ging eine Veränderung mit ihr vor. Ihr Schritt wurde fester, Mut und Entschlossen heit stiegen, so als behütete die Panzerung sowohl Leib als auch Seele und Gemüt, als erzeugte die Fe stigkeit des äußeren Schutzes eine Starrheit ihres In neren. Alles wurde klar und geradlinig, Unentschlos
senheit und Zaghaftigkeit wurden zu sinnlosen Laut gebilden. Der Feind konnte jetzt kommen. Ramelusab würde ihm entgegentreten, ihm den Weg verwehren, keinen Spann zurückweichen, bis ausgetragen war, was zwangsläufig ausgetragen werden mußte, bis entschieden war, ob sein oder ihr letzter Atemzug ge tan war. Der Feind durfte jetzt kommen. Ramelusab blickte zu der fülligen Gestalt der Amme. Die dicke Frau hielt noch immer den Kopf gesenkt und sah einzig auf das Bündel in ihren Armen. Begriff sie überhaupt, was innerhalb und außerhalb dieses Zim mers vorging? War ihr das gegenseitige Mißtrauen ih rer Beschützer bewußt, oder hatte sie sich abgeschlos sen gegen die Geschehnisse da draußen? War sie viel leicht ebenso ahnungslos wie der kleine Prinz – oder war er vielleicht sogar König nach dem Tod seiner Fa milie? –, der weder wußte, daß er gegenwärtig das Al lerwertvollste weit und breit war, noch daß Dutzende von Schwerbewaffneten die Gemächer und Gänge des Palastes durchstöberten, um ihn zu finden und seinem kleinen Leben ein Ende zu bereiten? Der Säugling gab einen unwilligen Laut von sich und zappelte mit den Ärmchen. Sogleich wischte die Amme mit ihrem Daumen etwas von seiner kleinen Wange und begann beschwichtigend auf ihn einzu reden. Sie sah entschuldigungsheischend auf. Ihr Ge sicht zeigte gleichermaßen Leere und Verzweiflung.
Tränen liefen aus ihren Augen, tropften von Nasen spitze und Kinn wie Regenwasser von einer Dachkante. Ihre Stimme zitterte nicht, ihr Busen bebte nicht, ihr Weinen schien losgelöst von ihr selbst. Die Amme erhob sich, ging einige Schritte mit dem Säugling, wiegte ihn, murmelte sanft und leise. Den Kopf hatte sie weggedreht und leicht in den Nacken gelegt, so daß das Naß aus ihren Augen nicht auf das Kind tropfte, sondern auf den Boden. Endlich beru higte sich der kleine Prinz, und seine Behüterin legte ihn in eine der Kojen. Ein stilles Aufatmen ging durch den Raum. Was, wenn Dajins Erbe beschlossen hätte, in langanhalten des Gebrüll auszubrechen? Darf man einem Prinzen, der vielleicht König ist, den Mund verbieten, oder muß man ihn gewähren lassen, selbst wenn er mit seinem Geschrei seine Mörder herbeiruft? grübelte Ramelusab. Wenn es überhaupt noch nötig war, sie herbeizuru fen. Argwöhnisch beäugte Ramelusab die anderen Gardisten. Noch vor wenigen Stunden hätte sie die Loyalität keines einzigen von ihnen angezweifelt. Seit dem Zwischenfall kurz vor Ingvalions Verschwinden sah das anders aus. Drei von ihnen kannte sie nur flüchtig. Hieß das, daß sie den restlichen Fünfen mehr vertrauen konnte als ihnen? Keineswegs. Nach
allem, was sie wußte, hatten vermeintlich vertrau enswürdige Menschen den Feind in den Palast ge führt. Sie blickte von einem zum anderen. Feruziber und Elgoran, die beiden, auf die sie zuerst gestoßen war. Feruziber war wenige Tage nach ihr in die Garde aufgenommen worden. Ihn kannte Ramelusab am längsten. Bisweilen neigte er zur Prahlerei, besonders was amouröse Tändeleien anbelangte. Sehr gegen sätzlich war Elgoran. Zu schweigsam für Ramelusabs Geschmack, zu sehr in sich gekehrt. Wie man sagte, war er ein vorzüglicher Brücke-von-Jergan-Spieler. Sulabethjida, die mit den Zöpfchen. Oft launisch, zu arger Eifersucht neigend, aber von verschwenderi scher Großzügigkeit, wenn sie in Feierstimmung war. Sie war ganz gut mit dem Diskus, doch nur mittel mäßig mit dem Schwert. Alrech: ein Kämpfer, bei dem man auf alles gefaßt sein mußte. Er kannte mehr Hinterhältigkeiten als reguläre Schläge. Leryscha schließlich, die gefährlichste von allen. Ihre Verteidi gung war undurchdringlich. Es sei denn, man verlei tete sie zu einer ganz bestimmten Schlagfolge, an de ren Ende, kurz vor dem tödlichen Streich, Leryscha den Schwertarm immer etwas zu hoch hielt, so daß ein rascher Stich ... Ramelusab brach den Gedanken ab. Was tue ich? dachte sie. Ich lasse mich von diesem Irrsinn anstek
ken! Ich überlege, wie ich diejenigen zu Boron schik ken kann, die mit mir den Prinzen verteidigen sollen! Sie stand auf und spähte vorsichtig zum Fenster hin aus. In vielleicht einhundertfünfzig Schritt Entfernung entdeckte sie zwei einzelne Waffenknechte des Fein des. Ramelusab sah nach unten. Der Dieb hatte recht gehabt, stellte sie fest. Wenn man sich vorsichtig an der Brüstung hinabließ, bestand eine gute Chance, unten heil anzugelangen. Doch fünf Schritt in die Tiefe oder eine Meile, das war bedeutungslos, denn unter den ge gebenen Umständen war ihr dieser Weg verwehrt. Ohne den Prinzen nähme sie ihn sowieso nicht, und mit ihm ... Wahrscheinlich hätten ihre Kameraden sie schon erschlagen, bevor sie das Fenster erreicht hätte. So blieb ihr also nichts anderes als auszuharren und vermutlich zu sterben. Welch famoses Gift war doch Verrat! Wen es nicht tötete, den lähmte es. Einen Herzschlag lang beneidete Ramelusab Ingva lion. Nicht weil der Dieb vermutlich schon lange in Sicherheit war, sondern weil er, der nach eigenem Bekunden keine Ehre besaß, weder Pflicht noch Ver antwortung zu tragen hatte. Wieviel leichter war doch alles für ihn. Geraume Zeit verstrich. Ramelusab tat es ihren Kameraden gleich, die entweder stumm und schick salsergeben dasaßen, ruhelos leise auf und ab gingen oder gelegentlich vorsichtig an der Tür lauschten.
Wo bleibt der verdammte Entsatz! dachte die junge Frau. Unten am Hafen, in der Garnison, waren noch genügend Streiter. Sie mußten doch inzwischen be merkt haben, daß irgend etwas in der Stadt nicht mit rechten Dingen zuging. Der Baruun von Frandirab und seine Spießgesellen konnten unmöglich gleich zeitig den Palast und die Hafengarnison attackiert haben! Wo blieben sie nur? »Schazakibal!« fluchte Ramelusab unflätig. Als habe Sulabethjida Ramelusabs Gedanken ver nommen, sagte sie plötzlich: »Der Weidener hatte recht. Wenn wir hier warten, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man uns aufspürt. Ich werde zum Hafen ge hen und Hilfe holen.« »Vorhin erblickte ich draußen Bewaffnete«, warf Ramelusab ein. »Ich habe nicht vor, das Fenster zu nehmen«, er klärte die Kriegerin, ging zu den Toten, entfernte ei nem von ihnen die Abzeichen und steckte sie sich selbst an. »Unsere Feinde sind ein zusammengewürfelter Haufen, schon vergessen?« sagte sie. »Wie sollen sie so schnell entscheiden können, wer zu ihnen gehört und wer nicht?« Sie wandte sich zur Tür. »Du wirst nicht gehen, Schwester!« knurrte Elgo ran.
»Angst?« fragte Sulabethjida spöttisch. »Angst, daß ich auf der falschen Seite stehen könnte?« Ihre Stim me wurde kalt: »Oder hast du etwa kein Interesse daran, daß wir Hilfe bekommen, Bruder? Dann hin dere mich.« Lauernd standen sie sich gegenüber. Eine der Frauen, die Ramelusab nur vom Sehen kannte, schob sich hinter Elgoran, Feruziber war mit zwei raschen Schritten bei Sulabethjida. Wenn niemand eingriffe, begänne gleich ein allgemeines Gemetzel. »Sie soll gehen!« mischte sich ein weiterer ein. »Wenn wir nicht bald Hilfe bekommen, sind wir so oder so verloren, Bruderschwestern. Den Prinzen ret tet es nicht, wenn wir uns gegenseitig erschlagen. Ir gendein Wagnis müssen wir eingehen!« Elgoran atmete tief durch und nickte. »So soll es sein.« Sulabethjida ging zur Tür, lauschte und entfernte das Holz. »Ihr werdet hören, wenn ich erfolgreich war. Wünscht mir Glück, Bruderschwestern!« bat sie und huschte zur Tür hinaus, die sofort wieder verrammelt wurde. Jeder ging wieder an den Platz zurück, den er vor dem drohenden Ausbruch des Händels eingenom men hatte. Ramelusab schätzte ab: Sulabethjida muß
te zuerst aus dem Palast hinaus. Sie durfte dabei eben sowenig auf loyale Streiter treffen, die mit der ver meintlichen Verräterin kurzen Prozeß machen wür den, wie sie zuviel Umgang mit den Schergen des Feindes haben durfte. Dann mußte sie durch die Stadt und die Treppen zum Hafen hinab. Wenn die Garnison nicht vorge warnt war, mochte eine halbe bis dreiviertel Stunde vergehen, bis Rettung kam. Bewachte der Feind die steilen Stiegen, so verginge unwägbar viel mehr Zeit. Sie hatten schon viel zu lange gewartet. Bevor die halbe Stunde verstrichen war, kehrte Sula bethjida zurück. Ihre Ankunft machte sich durch ein dreimaliges Klopfen an der Tür bemerkbar. Ramelu sab und ihre Kameraden wechselten rasche Blicke. Ein Schwert nach dem anderen glitt leise aus seiner Scheide. Elgoran schlich zur Tür und preßte das Ohr dagegen. »Ich bin's, Sulabethjida«, war die Stimme der Krie gerin zu vernehmen. »Öffnet, ich habe es nicht ge schafft.« Nach weiteren Blickwechseln und zustimmendem Nicken öffnete Elgoran die Tür. Er taumelte jäh zu rück, als ihm etwas Ballförmiges entgegengeschleu dert wurde. Der Ball flog in den Raum, hüpfte über die Dielenbretter und blieb liegen. Er war ein abge
trennter Kopf mit zahlreichen Zöpfchen, die an den Schläfen zu Schnecken aufgewickelt waren. Die Au gen waren gebrochen, der Mund stand sperrangel weit offen, aus dem Halsstumpf sickerte Blut. Wider alle Natur sprach der abgehackte Kopf: »Ich bin's, Su labethjida. Öffnet, ich habe es nicht geschafft. Ich bin's, Sulabethjida. Öffnet ...« Irgend jemand trat nach Sulabethjidas Haupt. Es rollte unter eine der Kojen. Doch den Zauber, der auf dem Kopf lag und ihn zum Sprechen brachte, beende te das nicht. Die Stimme der toten Kriegerin hallte weiterhin zermürbend: »Ich bin's, Sulabethjida. Öff net, ich habe es nicht geschafft. Ich bin's, Sulabethjida ...« Elgoran hatte als erster seine Fassung zurückge wonnen. Gewandt blockte er den Schlag des vorder sten der nicht gerade wenigen Bewaffneten, die durch die Tür zu sehen waren, ab und schlitzte ihm im Ge genschlag den Ärmel auf. Doch beim nächsten Streich des Gegners zerbrach Elgorans Klinge. Das feindliche Schwert spaltete seinen Schädel. Für einen Herzschlag war der Zugang zum Raum ungeschützt. Zu sehr standen die Verteidiger unter dem lähmenden Bann des grausigen Plapperns: »Öffnet, ich habe es nicht geschafft ...« Doch da setzte sich die Amme in Bewegung. Sie war plump wie ein Wollnashorn, doch nun ebenso
verblüffend schnell, so unaufhaltsam. Mit bloßen Händen rannte sie auf diejenigen zu, die gekommen waren, ihrem kleinen Schützling Schaden zuzufügen, walzte den ersten mit der schieren Masse ihres Kör pers nieder, stürzte sich auf den nächsten und begrub ihn unter sich. Sie nahm nicht wahr, daß dieser ihr im Fallen sein Schwert durch den gesamten dicken Leib bohrte, sie schien den Stahl nicht zu spüren, dessen blutige Spitze aus ihrem Rücken ragte. Sie schlug und kratzte den unter ihr Zappelnden, versperrte mit ih rer Leibesfülle dem Tod den Weg zu dem ihr anver trauten Wesen und schien selbst der endgültigen Macht des Todes entzogen. Die feindlichen Soldaten kümmerten sich nicht um das Schicksal ihres gestürzten Kameraden. Erst einer, dann ein zweiter sprangen über die Ringenden hin weg. Jetzt aber waren die Verteidiger gewappnet. Alrech und zwei der unbekannten Frauen stellten sich den Angreifern entgegen, Ramelusab und die ande ren drei noch lebenden Gardisten standen hinter ih nen, etwas versetzt, bereit, in die Lücke zu treten, wenn einer vor ihnen fiele. So focht man und stach nacheinander etliche Zeit, ohne daß die eine oder an dere Seite die Oberhand gewonnen hätte. Plötzlich sah Ramelusab aus den Augenwinkeln, wie Feruziber seinem Nachbarn, dem dritten der Gardisten, die sie nicht kannte, einen Dolch in die Sei
te trieb. Sie riß den Mund auf, hatte noch nicht das Wort Verräter! erschrocken zu Ende gedacht, da ver senkte sich schon wie aus eigenem Antrieb ihr Säbel im Fleisch des langjährigen Gefährten! Feruziber sah sie an. Unverständnis und Vorwurf lagen auf seinem Gesicht. Eisige Kälte durchströmte Ramelusab. Sie torkelte rückwärts bis zum Fenster, ohne den Blick von Feru ziber abzuwenden. Sie dachte entsetzt: Hilf Himmel! Ein schrecklicher Fehler! Ein Mißverständnis! Ich muß etwas übersehen haben! Ich erstach den Falschen! Doch dann fällte Leryschas Schwert Feruziber. »Viper!« zischte sie mit gefletschten Zähnen. Die Kämpfenden in der vorderen Reihe bemerkten davon nichts. Sie ahnten nichts von dem Verderben in ihrem Rücken. Alrech ging blutend aus Dutzenden Wunden zu Boden.
7. »Eure letzte Gelegenheit, Fräulein!« rief eine Stimme von der Straße. Ramelusab blickte über die Schulter nach draußen. Dort sah sie einen Bauernwagen, ge zogen von struppigen Ponys, halb gefüllt mit Heu.
Den Wagen, der auf die Stelle unter dem Fenster zu rollte, lenkte eine abgerissene Gestalt, die Ingvalion zusammen mit den anderen beiden, die auf der Lade fläche hockten, in der übelsten Gosse der Stadt auf gegabelt haben mußte. Der Dieb selbst saß auf einem langbeinigen Roß, dessen stolze Erscheinung ganz und gar nicht zu seinem Äußeren paßte. Er fuchtelte aufgeregt mit den Armen. »Nun mach schon, stures Weib!« Ramelusab sah zu den Kämpfenden an der Tür. Wer in diesem Raum blieb, dessen Schicksal war in absehbarer Zeit besiegelt. Sie warf den Säbel weg, eilte zur Koje, ergriff den Säugling, preßte ihn mit beiden Armen fest gegen die Brust, nahm Anlauf und sprang ins Leere. Ramelusab kam unglücklich auf dem Wagenrand auf. Der Aufschlag hüllte sie ein in einen Nebel der Be nommenheit. Rasch wurde sie ganz auf die Ladeflä che gezogen. Der Wagen rollte weiter. Aus den bei den Wachen, die Ramelusab vor einiger Zeit aus dem Fenster erspäht hatte, war ein halbes Dutzend ge worden. Der Wagen hielt auf sie zu. »Wir können nicht ... Wir müssen ...«, sagte sie schwach. Ingvalion begegnete ihrem nicht geäußerten Ein wand: »Wir können nicht anders. Wir müssen gera
dewegs durch diese unleidige Kumpanei hindurch. Die Umstürzler haben sukzessiert. Der Tag gehört ih nen. Wer nicht gefangengenommen wurde, ist über gelaufen. Ich verspüre ein qualvolles Drängen, diese Stadt zu verlassen.« Aufmerksam beobachtete er die feindlichen Waf fenknechte, fuhr mit der Zungenspitze über die Lippe und sah dann zu seinen Kumpanen. »Habe ich euch gut genug bezahlt?« Die Antwort war ein wortloses Grinsen. Der Dieb beugte sich vom Pferderücken zum Wa gen hinab und griff nach der Heugabel, die darauf lag. Er richtete sich wieder auf, hielt sie einen Augen blick lang aufrecht wie eine Standarte und klemmte sich dann ihren Stiel unter die rechte Armbeuge. »Wir werden sehen, ob das ebenfalls noch parat ist. Heja! Heja! Heja!« Er trieb sein Roß zu donnerndem Lauf an. Mit einem kühnen Lanzenangriff hatten die feindli chen Posten nun wirklich nicht gerechnet. Sie stoben auseinander. Einer von ihnen war nicht schnell genug. Die Forke brach, als sich ihre Spitze in ihn bohrte. Ingvalion brachte sein Pferd zum Stehen, wendete und preschte zurück, furchteinflößend brüllend, den Rest des Forkenstiels schwingend wie ein Schwert. Wieder beim Wagen zügelte er sein Pferd. »Wie mir scheint, vermißte dieser famose Plan ei
nige Details«, hob er an, »wähnte ich euch doch un mittelbar hinter mir. Mir scheint, mein nobles Gefol ge, wir müssen diese Prozedur ein klein wenig üben. Zu unser aller Nutzen am besten gleich.« Ingvalion richtete sich kerzengerade im Sattel auf und sah zum Himmel. »Ich gestehe, daß mir ebenfalls kein Grund einfallen will, warum Ihr mir Eure Hilfe angedeihen lassen solltet, Herrin des Donners, Schlachtenlenkerin. Allein, ich bin nur ein Sterblicher. Ihr mögt mehr wissen als ich, Dame!« Während der Dieb sein Stoßgebet sprach, kletterte einer seiner Kumpane mit blankem Schnitter auf den Kutschbock und zwängte sich neben den Wagenlen ker. Der dritte machte sich auf der Ladefläche bereit, das Buschmesser fest umklammert. Ramelusab hielt immer noch den Säugling an sich gepreßt. Sie ver mochte sich kaum zu bewegen, irgend etwas in ihr war bei dem Sprung zerbrochen. »Ich hoffe, daß du in deinem nächsten Leben ein reicher Mann sein wirst, Garethja!« sprach der Wa genlenker zu Ingvalion. »Du wirst mir hierfür viel schulden, wenn wir uns das nächste Mal treffen.« Er deutete mit dem Kopf in Fahrtrichtung. Die Zahl derer, die sich ihnen entgegenstellten, hatte sich ver doppelt. Die feindliche Schar war zu einer Linie aus gefächert. Es war abzusehen, wie viele von ihnen ver suchen würden, den Reiter von seinem Pferd zu schla
gen, wie viele sich anschicken würden, den Wagen zu entern. Viel zu viele in beiden Fällen. »Bereit, wackere Husaren?« fragte Ingvalion und donnerte dann dem wartenden Gegner einen Schlacht ruf entgegen: »Erbebe, Geschmeiß!« Für niemanden vernehmbar fügte er leise hinzu: »Ach was! Lauft ein fach schnell hinweg!« Die Ponys legten sich in ihre Geschirre, die Hufe des Pferdes versprühten Funken, der Reiter auf seinem Rücken, dessen Waffe nach wie vor nur ein abgebro chener Forkenstiel war, begann mit klarer Stimme zu singen. Sein Lied sprach von fernen Ländern, von fremden Gestaden, vom unanzweifelbaren Sieg, vom Zerschmettern des Feindes, von Ruhm und höchstem Triumph. Im Angesicht des Verderbens sang Ingvalion dasselbe Lied wie die Schlachtreiter seiner weit ent fernten Heimat, wenn sie gegen ihren Feind von alters her zu Felde zogen. Nicht nur in Tuzak mutete der Text des Liedes eigentümlich an. Ingvalions Geburtsland war nicht gerade für Heldentum berüchtigt. Rondra, die ruhmreiche und kriegerische Göttin, hatte Ingvalions Gebet nicht gehört, und wenn doch, so war sie womöglich gerade mit Wichtigerem be schäftigt. Doch wenn es niemanden gab, der hätte hö ren können oder wollen, so gab es immer noch je manden – oder etwas? –, der sah. Kurz bevor die beiden Parteien in mörderischem
Gemetzel aufeinandertrafen, brach ein eigentümli cher Schneesturm aus. Die Flocken des Gestöbers wa ren weder kalt noch weiß, sondern bunt und schil lernd. Tatsächlich hatten sie viel mehr mit einem eisi gen Sturm gemein, als man ihnen ansah. Mit einem Mal war die Luft erfüllt von Aberhun derten von Schmetterlingen. Sie flogen so dicht, daß man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Hatten die Kämpfer der Königsmörder eben noch ge dacht, leichtes Spiel zu haben, so waren sie urplötz lich eingehüllt in ein verwirrendes Geflatter, standen tatenlos da oder schlugen fahrig mit den Armen, angstvolle Schreie ausstoßend. Die kleine Schar durchschnitt die feindliche Linie, der Wagen tat einen kurzen Satz, während unter ihm etwas häßlich knackte. Ungehindert erreichten die Diebe, die Gardistin und der Sohn des toten Königs das Stadttor, an dem keine Wache stand. Sie flüchteten nach Norden, solange bis ihre Tiere fast zusammen brachen. Vieles davon nahm Ramelusab nicht wahr.
8. Ramelusab schlug die Augen auf. Das stetige Rucken und Holpern des Wagens, das diesen Tag begleitet hatte, hatte aufgehört. Sie lag nicht mehr auf dem
Karren, sondern saß im Gras, an eines der Räder ge lehnt. Ihr Blick fiel auf ein Bauernhaus mit Stallun gen. Einige Schritt entfernt bemerkte die junge Frau Ingvalions Kumpane, die beieinandersaßen, aus Holzschalen löffelten und sich munter unterhielten. Kaum mehr denn Schattenrisse gegen die sinkende Sonne. Dumpf erinnerte sich die Gardistin an die zwei, drei Rasten, die die Flucht unterbrochen hatten, an die peitschenden Zweige, als der Wagen gleich nach dem ersten Halt vom Weg abgebogen war. Sie richtete sich auf, spürte schmerzhaft die zahlreichen Prellungen. Ihr wurde wieder schwindelig. Wo ...? dachte Ramelusab bestürzt. Doch dann sah sie den Dieb in ihr Blickfeld schreiten. Auf seinem Arm trug er den Prinzen. »Gib ihn her!« befahl Ramelusab. Jetzt erst bemerk te sie, daß jemand sie aus der Rüstung geschält und ihren linken Arm geschient hatte. »Meint Ihr wirklich, Eure Obhut sei der meinigen vorzuziehen, Dame?« entgegnete Ingvalion ver schnupft. »Ihr scheint mir ein arges Talent zu besit zen, Euch Schaden zufügen zu lassen. Außerdem ist es nicht zum ersten Male, daß ich einen Säuger in Armen halte, auch nicht das erste Mal, daß dieser ...« Er ließ den Satz unvollendet. »Mehr konnte ich für Euren Arm leider nicht tun. Ihr mögt Euch meines Hinweises über die Bescheidenheit meiner Ressour
cen erinnern, als Ihr Euch zuletzt so großzügig auf schlitzen ließet.« Ramelusab kam sich töricht vor. Sie sah hinüber zu Ingvalions laut lachenden Gefährten und rief ihnen in der Sprache der einfachen Leute zu: »Auch wenn er euch nicht versteht, sollt ihr nicht über ihn scherzen. Der Garethja hat sich heute als sehr tapferer Mann gezeigt. Wie ihr übrigens auch, Bruderschwestern.« Das Lachen erstarb und wich linkischem Lächeln. Einer der drei erhob sich, zwei Schalen in Händen, die vermutlich Shatakbrei enthielten. Eine davon stellte er neben Ramelusab ab, mit der zweiten blieb er vor Ingvalion stehen. Er drehte sie unsicher in den Händen. »Wenn wir dich mit unseren Scherzen be leidigt haben, so verzeih, Bruder«, sagte er auf Ga rethi. »Wir dachten uns nichts Böses dabei.« Ingvalion maß seinen Gefährten und runzelte die Stirn: »Erstaunlich, wie verständlich du dich mit ei nem Male auszudrücken vermagst, Mylendijian!« Er sah zu den anderen beiden abgerissenen Gestalten hinüber: »Ich gehe wohl nicht fehl, daß euch beide dieses unverhoffte Geschick einer plötzlichen Perfek tion des Garethi ebenfalls gerade ereilt hat?« Die bei den Spitzbuben zeigten ein zahnlückiges Grinsen. Der dritte kehrte wieder zu seinen Gefährten zurück. Ramelusab deutete auf den Platz neben sich, Ingvali on ließ sich vorsichtig nieder.
»Hoheit haben bereits gespeist«, erklärte er, wäh rend seine große Hand eines der tastenden Händchen des Säuglings umschloß. »Die freundliche Bäuerin, die uns hier rasten läßt, hat selbst ein Balg zu versor gen und entschied, daß ihre Milch für beide reiche.« Ramelusab aß. Sie formte aus dem Brei kleine Ku geln und schob sie sich in den Mund. »Du warst sehr kühn. Warum bist du zurückge kehrt?« fragte sie. Der Dieb zuckte mit den Schultern: »Wie Ihr wohl wißt, hinderten mich diverse Widrigkeiten daran, aus dem Palast zu holen, wonach ich begehrte. Weiterhin bezweifle ich, daß dieses Haus in nächster Zeit ein solch günstiger Ort für eine stille Einkehr wäre. Nun hatte ich mein Gefolge allerdings bereits entlohnt. Was sollte ich also tun? Versteht, liebe Dame, einen Dienst mußte ich ihnen ja abverlangen, wollte ich nicht als übler Verschwender erscheinen. Vielleicht, daß ich eines anderen Tags die Unternehmung vollende.« Der Säugling gab einen mißbilligenden Laut von sich. Ingvalion sah in das kleine Gesicht: »Bei allem Respekt, Hoheit, ich kann nachempfinden, daß Ihr derlei Reden nicht gerne hören mögt. Vergeßt sie ge schwind oder erinnert Euch wenigstens der Umstän de, solltet Ihr einst groß und mächtig sein und ich durch ein Unglück in Eure Hände fallen. Seht, Hoher
Herr, ich bilde mir ein, etwas bei Euch gutzuhaben. Immerhin stellte ich Euch ja unlängst der nahrhaften Bäuerin vor und trug's Euch auch nicht nach, daß Ihr mir meine Freundlichkeit mit einem respektablen Mißgeschick auf das Hemd entgaltet.« Die freie Hand des Prinzen fuhr in Ingvalions Ge sicht und schloß sich um seine Nase. Der Dieb ließ ihn einen Augenblick gewähren. »Wenn Ihr meint, daß Ihr mich an diesem Körper teile am ehesten wiedererkennen werdet, so will ich Euch nicht dreinreden«, näselte er. »Allein, Ihr solltet dereinst nicht jeden so willkommen heißen. Gar man chem mag diese Form der Begrüßung genierlich er scheinen.« Ingvalions Körper begann zu beben. Ein kaum un terdrücktes Lachen machte seine Worte undeutlich. »Und sollte der Betreffende gar selbst eine Krone auf dem Haupte tragen, so beherzigt meinen Rat um so mehr. Ich kenne einen, dessen Geschlecht Euch die sen Gruß für mindestens ein Jahrtausend nicht ver ziehe!« Ramelusab kicherte ebenfalls: »Ist man so nachtra gend in Weiden?« Der Dieb sah die Gardistin verschmitzt an: »Ein kühner Vorstoß, meine reizende Freundin! Nein, nicht in Weiden. Doch bedrängt mich nicht weiter ob meiner Herkunft. Belassen wir's einfach beim Bären
lande. Mir ist lieber, wenn die Kunde meiner Taten zu Orten eilt, wo keine Anverwandtschaft sie hören kann und sich ihrer schämen muß. Denn letzteres tut meine Sippe ohnehin genug, seitdem ich ihr vor vie len Jahren darlegte, wie wenig es meinem Naturell entspreche, in schwerer Schale zu flanieren, gleich ei nem alten Hirschkäfer, oder den engen Helm zu tra gen und darinnen den süßlich-schalen Geschmack ei ner durchzechten Nacht zu riechen. Und was die zu gehörigen Tugenden anbelangt, so wies ich Euch ja bereits darauf hin, daß die Herrin Rondra und ich uns ein wenig uneins darüber sind.« Ingvalions Blick richtete sich in weite Ferne: »Wenngleich ich mich darüber wundere, auf welch ungewöhnliche Weise die Stolze mir heute ihre Hilfe dennoch zuteil werden ließ.« In nachdenklichem Schweigen beendeten der Dieb und die letzte Getreue des ermordeten Königs ihr karges Mahl. Später am Abend stellte Ramelusab die Frage: »Was war es eigentlich, was du im Palast steh len wolltest?« »Eine Blüte«, erhielt sie zur Antwort. »Eine metal lene Blüte. Einer eurer Grafen ließ sie vor Jahrhunder ten fertigen. Sie soll ein Kunstwerk von erhabener Schönheit sein.« »Du wolltest sie stehlen, weil sie schön ist?« rief Ramelusab erstaunt aus.
Der Dieb lachte trocken: »Nein, weil sie aus Endu rium ist. Sie ist sehr wertvoll. Überdies heißt es, daß ihr Magie innewohne, und sie vermöge, auch dem häßlichsten Geschöpf zu Schönheit zu verhelfen, was einerseits interessante Schlüsse auf die Beweggründe jenes Grafen zuläßt und sie andererseits noch kostba rer macht. Jetzt, da Ihr es ansprecht, bin ich äußerst froh, sie nicht erlangt zu haben, könnte ich ja arg ge fährdet sein, Euch dieses Kleinod als Präsent zu über reichen, eine Narretei, die ich womöglich irgendwann bereuen würde. Nun müßt Ihr darüber nicht allzu gram sein, Fräulein, denn bei Euch würde die täu schende Kraft ihres Zaubers versagen.« Ruckartig wandte Ramelusab den Kopf ab. Ihre Zungenspitze glitt über die Innenseite ihrer gespalte nen Lippe. Voll Bitternis spie sie aus. »Entgeht mir etwas?« fuhr Ingvalions Stimme fort. »Das war ein Scherz! Ich würde dieses Geschenk niemals bereuen. Glaubt das, Dame, so gierig bin ich nicht. Glaubt, daß meine Worte genauso wahr sind, wie daß die Zaubermacht der Enduriumblüte bei Euch scheitern müßte. Sie kann nichts bewirken bei einem Geschöpf, das von Geburt schon so anmutig und hübsch ist, wie Ihr es seid!« Ramelusab sah in Ingvalions Augen. Doch wo sie Spott suchte, fand sie nur Arglosigkeit und Verwir rung. Sie begriff nicht. Er konnte doch nicht ernst
meinen, was er eben gesagt hatte! Sah er denn nicht? Sah er denn nicht? So endete der Tag, an dem das junge Königreich Ma raskan auf überaus blutige Weise seine Unschuld ver lor. In der Nacht verlor auch Ramelusab die ihre. Nein, sie verschenkte sie. Die drei kleinen, roten Tropfen auf ihrem am Morgen noch makellos weißen Kleid fielen nach dem vielen Blut, das während des Tages darüber vergossen worden war, auch nicht mehr sonderlich ins Gewicht. Eine neue Geschichte begann, von der wir noch hören werden. Wenige Tage danach bestieg der Baruun von Fran dirab als Dajin II. den Thron Maraskans. Möglicher weise hätte aus dem einstigen Vasallen ein großer König werden können, denn als er seine Verschwö rung plante, hatte er ein bemerkenswertes Organisa tionsgeschick bewiesen. Doch alles Rätseln über das, was hätte werden können, ist unnütze Spekulation, denn Dajins II. Traum von Größe und Macht, zu des sen Verwirklichung innerhalb einer Stunde 143 Men schen gestorben waren, währte nur 219 Tage. Zwei Leben für je drei Tage Herrschaft, ein beachtlicher Preis! Dem glücklosen Umstürzler folgte Dajin III. Doch damit greifen wir voraus. Kehren wir also zu rück zu Ramelusab, die in ihren Träumen nie wieder ihrem Gesichtslosen Geliebten begegnen sollte. Bei
nahe so, als sei auch er ein Opfer des Mordens ge worden.
9. Der Morgen begann für Ramelusab mit heftigem Erbrechen. Daß an eine baldige Weiterreise in ihrem Zustand nicht zu denken war, schien offensichtlich. Rasch war man sich einig, daß die Gardistin bei ih rem Aufprall auf den Wagen mehr Schaden erlitten hatte als einen gebrochenen Arm. Ingvalion setzte sich neben sie. »Mir mangelt's an Rat, armes Fräulein«, begann er. »Zu anderer Zeit machte es mir gewiß nichts aus, an Eurer Seite zu harren, mich jeder Eurer Mucken zu unterwerfen und Euch zu hegen und zu pflegen, bis Ihr aus schierer Not und Verzweiflung wieder ge sundetet, nur um meinem Gluckengetue zu entkom men. Glaubt das, Freundin, ich weiß, wovon ich rede. Ich hatte in Kindertagen eine famose Lehrerin in die ser Kunst, derentwegen ich selbst heute noch kaum wage zu erkranken. Ein garstiges Weib war sie!« Er schüttelte sich in gespieltem Entsetzen. »Jedoch ist da immer noch die Gabe, deren Schutz uns die Götter anvertraut haben. Sicher, das Balg ist ein netter Kerl, oder wird es bestimmt einst sein, wenn er seine Ge
wohnheiten vor und nach dem Speisen etwas über dacht hat. Jedoch finde ich in seiner Präsenz keine Ruhe. Klar gesprochen: Ich befürchte, daß uns die Garstlinge Verfolger hinterhergeschickt haben könn ten. Deshalb denke ich an eiligen Aufbruch, doch ich weiß nicht, wohin ich den kleinen Burschen bringen könnte.« Ramelusab kämpfte gegen Wellen von Übelkeit und die Bauschwatte um ihren Verstand an. Wo war ein sicherer Ort? Gab es überhaupt noch einen? Wer gestern noch als vertrauenswürdig galt, konnte be reits seit vorgestern Teil der Verschwörung gewesen sein. Das hatte sie selbst erlebt. »Jergan?« schlug sie schwächlich vor. »Der Cher zak war zwar kein Freund des Königs, doch wird ihm bestimmt nicht gefallen, was sich gestern zutrug. Er wäre selbst gerne Herrscher und wird wütend sein, daß er bei dem Umsturz übergangen wurde.« Ingvalion schüttelte den Kopf: »Zwar ein schlauer Plan, doch mit viel zu unwägbarem Ausgang. Viel leicht wird dieser Fürst der Ehre willen dem Sohn seines ehemaligen Widersachers ein guter Beschützer sein, doch ebensogut mag er in dem Knaben eine willkommene Geisel sehen und ihm eine Kinderstube in einem sicheren Verlies bereiten. Abgesehen davon sind es Hunderte von Meilen bis Jergan. Ich bezwei fle, daß man uns so viel Zeit lassen wird.«
»Ein weiterer Ort käme noch in Frage«, besann sich Ramelusab. »Das Dorf, wo ich herkomme, liegt in der Nähe Alrurdans. Ohne den Wagen und nur mit den Reittieren könntet ihr den Weg in fünf oder sechs Ta gen bewältigen. Dort könntest du den Prinzen der Obhut meiner Verwandten übergeben, damit sie sich um ihn kümmern. Das Gute daran wäre, daß wir Da jins Erben nicht einem der Mächtigen übergeben müßten, in blindem Vertrauen darauf, daß er oder sie das Kind nicht für den eigenen Vorteil benutzen wird. Jedoch solltest du vielleicht auch meinen Ver wandten nicht auf die Nase binden, wer ihr Schütz ling ist. Die Bauern sind manchmal arg geschwätzig.« Ingvalion konnte sich schnell mit dem Vorschlag anfreunden. Verfolger würden den Prinzen in einer sicheren Feste wähnen und nicht in einem schlichten Dorf. Die Familie, auf deren Hof die Flüchtenden die Nacht verbracht hatten, war gerne bereit, Ramelusab gesund zu pflegen und Ingvalion und seinen Gefähr ten ein drittes Pony zu überlassen, im Tausch gegen den Wagen und etwas Gold. Nachdem der Säugling behutsam in einem Tragekorb untergebracht worden war, den Ingvalions Roß tragen sollte, verabschiede ten sich Ramelusab und der Dieb. Sie sprachen nicht darüber, was geschehen sollte, nachdem die kostbare Fracht ins Heimatdorf der Gardistin gebracht worden
wäre, ob Ingvalion weiterzöge, ob er dort warten wollte oder zu dem Hof, wo Ramelusab zurückblieb, zurückzukehren gedächte. Beide wünschten sich nur gegenseitig Glück. Schon am ersten Tag der weiteren Flucht zeigte sich, daß die Reise zu Ramelusabs Heimatdorf länger be nötigen würde, als veranschlagt, denn die Gardistin hatte bei ihrer Aussage an vier Berittene auf mehr oder weniger guten Reittieren gedacht, die ohne zu Murren ihre körperlichen Bedürfnisse einschränkten und zurückstellten, um möglichst große Strecken oh ne Rast zurückzulegen, vor allem jedoch an Erwach sene, die sich von dem ernähren konnten, was gerade verfügbar war, seien das Früchte oder ein unvorsich tiges Wild. Für den Säugling, Geisel seiner Bedürfnis se, galten diese Voraussetzungen allerdings nicht. Darum hatten die vier Reiter noch lange nicht ihr Ziel erreicht, als sie am sechsten Tag an einem Wäldchen vorbeizogen, aus dem sich eine vielflügelige Wolke erhob und sich ihnen näherte. Ingvalion hatte seit der Flucht aus Tuzak den Ge danken an den damals plötzlich erschienenen Schmetterlingsschwarm vermieden. Das lebende Ge stöber war günstig gekommen, viel zu günstig, als daß Ingvalion an einen Zufall glauben mochte. Viel mehr vermeinte er, mit einem leichten Kribbeln im
Nacken, darin das Eingreifen jener zu erkennen, de ren Gunst und Beistand die Sterblichen zwar unent wegt erflehen, aber deren allzu deutliche Bezeugun gen ihrer Gegenwart und Allmacht dem Menschen letztendlich unheimlich sind. Deswegen sah Ingvali on mit Unruhe und Schaudern auf den heranflattern den Schmetterlingsschwarm. »Wer schickt euch? Was begehrt ihr dieses Mal?« fragte Ingvalion, Dieb und wenig angesehener Spröß ling eines fernen Herrscherhauses, leise, als die bunte Wolke seine kleine Gruppe einhüllte. Er stieß einen entsetzten Schrei aus, als die Schmetterlinge sich of fenbarten.
10. Die Verfolger zügelten ihre kleinen, struppigen Pfer de und brachten sie zum Stehen. Einem unausge sprochenen Kommando folgend, zogen die acht Rei ter beinahe gleichzeitig ihre kurzen Lanzen aus den Futteralen seitlich der Sättel und machten sich bereit, bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr jeden sich zeigenden Gegner anzugreifen. Wachsame Blicke folgten der staubigen, nach Norden führenden Straße, schweiften über das fast mannshohe Savannengras zu beiden Seiten, in dem sich wer weiß was verstecken
konnte, und verharrten kurz auf einem nahen Wald stück im Osten, das dunkel und abweisend dalag. Vorsicht war in der Tat angebracht, denn so lange saß der neue König noch nicht auf dem Thron, als daß man sicher sein konnte, daß der Umsturz von Dauer war, daß nicht noch eine Gegenrevolte ausbräche, de ren erste Opfer zu sein die Soldaten nicht vorhatten. Der Anführer blinzelte in die schon weit im Westen stehende Sonne und nickte dann einem seiner Leute zu, der sogleich im Schrittempo auf das zuritt, was in etwa zweihundert Schritt Entfernung die Straße ver sperrte. Tierkadaver mochten das sein, doch mögli cherweise ein Hinterhalt. Der Hauptmann richtete sich im Sattel auf und streckte sich. Er war nicht gerade begeistert gewesen, als er von seinem Auftrag erfuhr. Kindermord gehör te nicht zu seinen üblichen Pflichten. Doch der Befehl war nicht nur eindeutig, sondern auch einsichtig ge wesen: Der Erbe Dajins I. hatte zu sterben, damit der Säugling niemandem als Vorwand dienen konnte, dem neuen Herrscher die Krone streitig zu machen. Denn schon einmal hatte Maraskan beim Kampf um die Macht seine Unabhängigkeit verspielt, damals, im Großen Bruderkrieg, als nach zwölf Jahren gegensei tigen Zerfleischens die Sonnenlegion der Garetier in den Krieg eingriff und die Insel besetzte. Nur noch eine kurze Distanz trennte den Kund
schafter von dem Hindernis. Er hatte angehalten. Wie es von Ferne aussah, weigerte sich offenbar sein Pferd weiterzugehen. Der Kundschafter stieg ab, gleichzei tig hob der Anführer der Reiter impulsiv eine Hand, als Mahnung an seine Leute zu erhöhter Wachsam keit. Falls jemand einen Hinterhalt gelegt hatte, so würde sich das jeden Augenblick herausstellen! Doch der ausgesandte Späher wandte sich schon nach wenigen Schritten um und wedelte mit beiden Armen, woraufhin sich der Rest der Reitertruppe in Bewegung setzte. Auch ihre Pferde waren nach eini ger Zeit nicht mehr zum Weitergehen zu bewegen. Kein Wunder! dachte der Hauptmann, ließ absitzen und hielt sich ein Tuch vor die Nase. So etwas hatte er noch nicht gesehen! Acht Kadaver von Menschen und Pferden, doch bestimmt nicht von Menschenhand getötet. Blutverkrustete Leiber, die Knochen teilweise blankliegend, sahen die Körper auch nicht aus, als wären sie Opfer einer Raubkatze geworden. Keine auffälligen Bißspuren, eher so, als habe das, was sie getötet hatte, schichtweise Haut und Fleisch abgetragen. Magie? dachte der Hauptmann mit einem Prickeln im Nacken. Oder eines der zahllosen mörderischen Geschöpfe der Insel, Pflanze oder Tier, die in solcher Vielfalt Maraskan bevölkerten, daß immer wieder neue entdeckt wurden, beinahe so, als gebärten die tiefen Urwälder des Binnenlandes lau
fend neue Arten. Was auch keine wesentlich beruhi gendere Erklärung war. »Was ist?« fragte der Anführer den Kundschafter, dessen Hautfarbe einen quittegelben Ton angenom men hatte und in dessen Augen etwas Merkwürdiges zu flackern schien. »Keine Fliegen!« antwortete der Mann in gebro chenem Tulamidya. Keine Fliegen? Was sollte das wieder bedeuten? Stimmt! überkam es den Hauptmann. Das war auffäl lig. Nach dem Zustand der Körper mußte ihr Tod vor zwei, höchstens drei Tagen eingetreten sein. Der Ge ruch hätte eigentlich schon längst Heerscharen dicker Fliegen anlocken müssen. Aber keine einzige war zu sehen! Noch eine andere Seltsamkeit fiel dem Hauptmann jetzt erst auf: Trotz ihres grausigen En des hatten die vier Reiter offenbar nicht ernsthaft ver sucht zu fliehen, dazu lagen die Leichname viel zu dicht beieinander. Während die Soldaten die Satteltaschen der toten Pferde durchwühlten, schritt ihr Anführer aufmerk samen Auges zwischen den Kadavern einher. Vier Pferde, vier Menschen, allesamt Männer, einer davon mit auffälliger Haarfarbe. Das kam schon ganz gut hin. Auch der Korb, der an dem größeren Pferd ange schnallt war, entsprach den Beschreibungen, die man während der letzten Tage erhalten hatte.
Der Hauptmann bückte sich und sah in die Öff nung des Korbes. Ausgepolstert! Er erhob sich wie der. Das mußten sie sein! »Das sind sie!« wiederholte er laut seinen Gedan ken und nickte zufrieden. Doch wo war der Säugling? Der Hauptmann sah auf das grüngelbe Meer, das beidseitig der Straße wogte, und stapfte entschlossen in das hochwachsende Gras, vorsichtig die Halme tei lend, den Blick auf den Boden geheftet. Nach einiger Zeit wechselte er die Straßenseite. Plötzlich erstarrte er. Die Frau! dachte der Hauptmann. In Tuzak war noch eine Frau bei den Verfolgten gewesen, eine Gardistin. Doch auf der weiteren Flucht war sie nicht mehr erwähnt worden, weswegen er angenommen hatte, daß sie Verletzungen erlegen war, die sie sich während der Erstürmung des Palastes zugezogen ha ben mochte. Welch sträflicher Irrtum! Vermutlich hatte sich die Frau von der Gruppe nur entfernt, um mit wem auch immer Verbindung auf zunehmen. Kurz bevor das hier geschah, war sie wieder hinzugestoßen und vermutlich zusammen mit dem Prinzen dem Verderben entkommen. Der Hauptmann stutzte, blickte zweifelnd auf die enthäuteten Körper und schüttelte den Kopf. Sie sei eine Gardistin, hatte es geheißen, keine Magistra, be ruhigte er sich. Sie war einfach nur entkommen. Sie
war nicht verantwortlich für das schreckliche Ende ihrer Gefährten. Doch wo war das Luder jetzt? Offensichtlich hatte sie es sehr eilig gehabt wegzukommen, ansonsten hätte sie den Korb mitgenommen, in dem das Kind gelegen hatte. Wo also war sie geblieben? Mit zusammengekniffenen Augen sah der Anfüh rer der Soldaten in die Richtung, in der die Straße weiterführte. Er wirkte dabei so, als meine er, mit ein klein wenig mehr Anstrengung die Hunderte von Meilen bis zur Fürstenstadt Jergan überblicken zu können. Bravo! dachte der Hauptmann bitter. Statt vier Männern mit einem Säugling suche ich nun eine junge Frau mit Kind. Welch überaus auffällige Ge sellschaft! Nachdenklich biß er auf seine Unterlippe. Halt! Vermutlich war die Gardistin ja auf der Straße ge blieben, aber vielleicht hatte sie auch überlegt, daß jemand, der sie verfolgte, dächte, daß sie ... Nein, das durfte man nicht übereilen. Sein Blick schweifte über das Gras zu dem Wäld chen und blieb dort hängen. Zu dumm aber auch, daß sich der Zwischenfall nicht erst vor ein paar Stunden ereignet hatte! Das Gras – wenn es denn niedergetrampelt worden war – hatte sich mittlerwei le natürlich schon wieder aufgerichtet. »Du da!« herrschte der Anführer einen seiner Ge
folgsleute an, der neben einem toten Pferd kniete und in die Betrachtung eines wertvollen Beutestücks versunken zu sein schien. Der Soldat schreckte hoch. »Du da! Du wirst das Wäldchen erkunden!« Der Hauptmann wandte sich an den Rest seiner Truppe. »Ihr anderen werdet inzwischen das da von der Stra ße schaffen.« Bei ›das da‹ machte er eine weitausho lende Handbewegung. »Zu mehr haben wir keine Zeit.« Verwundert bemerkte der Hauptmann, daß der Soldat, den er eigentlich schon eilfertig unterwegs zum Wäldchen gewähnt hatte, sich keinen Finger breit wegbewegt hatte. »Na los jetzt! Sofort! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!« bekräftigte der Hauptmann seine Anord nung. Aber der Soldat rührte sich immer noch nicht vom Fleck. Statt dessen öffnete er seine rechte Faust und streckte sie dem Hauptmann entgegen, als wolle er damit irgend etwas erklären. Ein halbes Dutzend zerquetschter Schmetterlinge lag auf der Handfläche des Soldaten. »Was ist das wieder für eine Narretei?« stieß sein Anführer gereizt hervor und trat einen Schritt auf den Untergebenen zu, um diesen durch einen kräftigen Schubs auf den Weg zu bringen. Elegant wich der Soldat aus, und wie man fast
meinen konnte, wohlbedacht darauf, nicht die Mitte der Straße zu verlassen. Die Schmetterlinge entglitten dabei seinen Fingern und schwebten zu Boden wie abgeworfenes Laub. Ein erregter Wortschwall aus der Kehle des Soldaten begleitete ihren letzten Flug. Seine Worte untermalte der Mann mit fahrigen Bewegun gen, mal deutete er auf den Boden, mal auf die Land schaft um sich herum. Ein, zwei Soldaten nahmen die Worte ihres Kameraden auf, antworteten ihm, nur unwesentlich ruhiger. Zwischen ihnen stand der An führer der Reiter, der fast nichts von dem Wortwech sel seiner Leute verstand. »Ruhe!« brüllte er zornig auf Tulamidisch. »Sprecht gefälligst verständlich! Ihr seid nicht bei eurem hei mischen Misthaufen!« Erst nach seinem zweiten Wutschrei kehrte Ruhe ein. »Wirst du nun endlich gehorchen?« herrschte der Hauptmann seinen Untergebenen an. Der Soldat rang nach Worten. Seine Gesichtszüge waren verzerrt, teils aus Furcht, teils aus Verzweif lung, da er nicht wußte, wie er sich seinem Vorge setzten in der Sprache der Herrschenden verständlich machen sollte. Wie er ihm etwas erklären sollte, das sich nicht in die einfache Sprache von Befehl und Ge horsam fassen ließ, das zu Hause, wo man ihn verstand – auch wenn man das, wovor sich der Soldat
fürchtete, nur aus Geschichten der Großeltern kannte – jeden zu einem unruhigen Blick über die Schulter veranlassen würde. Ein lebendiger Alptraum, der dem Offizier vor ihm aber nur ein höhnisches Lachen entlocken würde und die Bemerkung: »Ihr und eure albernen Ammenmärchen!« Schließlich brachte der Soldat mühsam eine Erklä rung heraus: »Die Schmetterlinge! Die Schmetterlin ge! Sein Zeichen!« »Schweig!« schrie ihn sein Vorgesetzter an. »Ich will nicht schon wieder abergläubisches Geschwafel hören! Wirst du nun tun, wie dir befohlen?« Der Soldat schüttelte den Kopf. »Nun gut, Soldat, an diesen Tag wirst du noch denken!« zischte der Hauptmann und wandte sich ab. »Ihr da«, befahl er zwei anderen. »Nehmt ihm die Waffe ab und bindet ihn. Du wirst inzwischen« – er zeigte auf einen dritten, den vormaligen Kundschaf ter – »endlich diesen verdammten Wald erkunden! Ich will wissen, ob jemand dorthin floh!« Die zuerst Angesprochenen, ein Mann und eine Frau, warfen sich betretene Blicke zu und zogen ihre Klingen, der vormalige Kundschafter setzte ein säuer liches Gesicht auf. Der Anführer widmete sich wieder dem Anlaß sei nes Ärgers.
»Du wirst die nächsten drei Tage weder trinken noch essen. Auch wird dir deine freche Verweige rung, gleich nachdem wir unser Nachtlager aufge schlagen haben, mit der Peitsche vergolten werden. Zwei Schläge für mich und jeden deiner Kameraden!« Der Verurteilte nickte schicksalsergeben. »Mit Verlaub!« meldete sich eine Frauenstimme zu Wort. Gereizt sah sich der Anführer um und verstand die Welt nicht mehr, als ihm gleichzeitig drei Klingen in den Leib gestoßen wurden. Was ist das wieder für eine Narretei? dachte er und starb. Für einen kurzen Moment herrschte überraschtes Schweigen. »Wenn wir alle zusammenhalten, kann uns nichts geschehen!« sagte die Frau, die eben an der Ermor dung ihres Anführers mitgewirkt hatte, in der Spra che des Volkes. »Wir sagen einfach, wir hätten das Wild gefunden. Der Hauptmann hat wie stets tapfer gefochten, wurde aber so sehr schwer verwundet, daß er bald darauf starb. Die Hinrichtung des Prinzen mit dem Schwert hat er selbst noch ausgeführt, das wirft die wenigsten Fragen auf.« »Ihr habt ihn getötet!« flüsterte einer der drei bis her unbeteiligten Reiter. »Sicher haben wir ihn getötet!« knurrte der Kund schafter unwirsch. »Besser, einer stirbt, als wir alle.
Du glaubst doch nicht, daß er sich damit zufriedengegeben hätte, wenn Frumojian oder ich nicht von der Erkundung zurückgekehrt wären? Der Haupt mann hätte den nächsten geschickt, vielleicht alle von uns dorthin geführt. Begreif doch, wir haben nur dei ne Haut gerettet!« Der Kundschafter spuckte aus und sah auf die Toten, derentwegen sie hier Halt gemacht hatten. »Willst du denn so sterben wie die?« »Ihr habt den Hauptmann ermordet!« beharrte sein Kamerad trotzig. »Hinterrücks abgestochen!« »Das weiß ich sehr wohl!« antwortete die Frau, die immer noch ihre blutbesudelte Klinge in der Hand hielt, und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Jawohl, wir haben ihn erstochen, und wir hatten gute Gründe für die Tat. Doch vielleicht glaubst du uns ja nicht? Vielleicht denkst du, daß das, was ein Gemeiner sagt, ohnehin nicht ernst zu nehmen sei. So wie es die Of fiziere tun. Vielleicht glaubst du ja, daß Ferujian und Brinziber nur abergläubische Wichte seien?« Ihre Klinge deutete nacheinander auf den Soldaten, mit dem alles begonnen hatte, und auf den Kundschafter. Entschlossen steckte die Soldatin ihre Klinge weg und trat einen Schritt auf ihr Gegenüber zu. »Ich mache dir einen Vorschlag, Galderan: Du gehst und schaust selbst in dem Wäldchen nach. Viel leicht haben wir vier ja unrecht und er war überhaupt nie da und hat mit diesen Toten gar nichts zu tun.
Oder vielleicht hast du Glück, und er ist bereits wie der fort. Obwohl ich dir verraten kann, daß er für ge wöhnlich nicht so schnell wieder weiterzieht, wenn er sich einmal einen Ort auserwählt hat. Nun gut, über zeuge dich, ob es in dem Wäldchen dort drüben et was zu fürchten gibt. Und ihr beiden, vielleicht wollt ihr Galderan ja begleiten?« Sie sah zu den beiden Sol daten neben Galderan, die jedoch betont unbeteiligt dreinschauten. Offenbar hatten sie sich noch nicht endgültig entschlossen, auf wessen Seite sie sich schlagen sollten. Die Soldatin sprach weiter: »Ich sage: Wir geben dir oder auch euch dreien eine halbe Stunde Zeit. Das ist überreichlich. Länger warten wir nicht, denn das wäre auch sinnlos. Ich nehme an, daß du dein Pferd mitnehmen willst. Wir werden dich nicht daran hin dern, obwohl ich dem armen Tier sein Schicksal gerne erspart hätte. Du siehst ja, daß er keinen Unterschied zwischen Roß und Reiter kennt.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust: »Nun, wie sieht's aus? Willst du nachprüfen, ob der Hauptmann nur von ein paar tö richten Gemeinen abgestochen wurde, oder siehst du ein, daß er als tapferer Mann an unserer Spitze fiel? Entscheide dich: Zweifelst du an unserem Wort oder nicht?« Der Soldat namens Galderan sah eine Weile nach denklich zu dem kleinen Wald hinüber. Die Bäume
warfen lange Schatten. Der Forst sah nicht anders aus als jedes andere Wäldchen. Schweigsamer vielleicht, verschlossener vielleicht. Galderan schüttelte verneinend das Haupt und sah mit ungutem Gefühl den toten Schmetterlingen hin terher, die der aufkommende Wind nach Norden blies.
Gegenwart:
Rondirais Tagebuch
Loc: Warunk Sfu: 15. TSA, 25 Hal DPae: Dergelhiev (mal wieder!) Dexter Nemrod, Baron von Ulmenhain Gelda von Stippwitz Hackfried (?) von Schattenbach bt: werde versetzt Hörte zum ersten Mal von seiner Anwesenheit, als Dergelhiev auf seine übliche formlose Art hereinge rannt kam. Fing auch gleich wieder an zu brüllen, was ich geflissentlich überging. Das Fenster ist immer noch nicht gerichtet, obwohl ich seinen Zustand schon mehrmals bemängelt habe. Hatte mich wärmer angezogen und es geöffnet, da uns Praios trotz des bitterkalten Tages verwöhnte. Arbeite nicht gerne im Halbdunkeln, und Kerzenlicht während des Tages kommt mir wie Verschwendung vor. Kümmerte mich also erst einmal gar nicht um Dergelhiev und sam melte die Papiere ein, die wegen seines ungestümen
Auftretens auf bestem Wege waren, in die Straßen Warunks zu flattern. Wurde erst stutzig, als Dergel hiev wissen wollte, was ich ausgefressen hätte. Fiel mir dann auch auf, daß unser netter Oberst nicht nur einfach schlechter Laune war, sondern sich in einem Zustand fortgeschrittener Panik befand. Sagte, wüßte nicht, wovon er rede. Ich sei mir je denfalls keines Vergehens bewußt. Das könne wohl nicht sein, beharrte er. Irgend etwas gäbe es da sicher, und das beste sei, ich rücke jetzt gleich damit heraus, wirke sich bestimmt günstig für mich aus. Wurde langsam wirklich böse, Oberst hin oder her, und sag te, er solle endlich eine klare Sprache reden und nicht herumdrucksen wie ein Grangorer Glaszwirbler. Wußte zwar selbst nicht, was das sein sollte, konnte mir die kleine Spitze aber nicht verkneifen. Im Ge gensatz zu mir war Dergelhiev noch nie außerhalb der Grenzen unseres Kaiserreichs, geschweige denn in Grangor. Manchmal meine ich, daß Dere für ihn am Stadttor von Warunk endet. Wenn der wüßte, wie todlangweilig dieses Grangor ist! Konnte merken, daß er die Anspielung verstanden hatte. »Grundlos wird der Baron wohl nicht nach Euch schicken!« murrte er. Nun wurd's mir allerdings etwas mulmig. Denn Baron heißt bei uns nur einer. War so überrascht, daß ich unnötigerweise plapperte: »Dexter Nemrod?«
»Der Baron von Cres wird's wohl kaum sein!« knurr te Dergelhiev. »Der Baron ist hier in Warunk und er wartet Euch nach dem Abendessen. Die Götter mö gen Euch gnädig sein, wenn Ihr mich in Schwierigkei ten gebracht habt!« Wollte noch sagen, daß der Baron vielleicht hier sei, um mich persönlich wegen der Kalman-Sache zu belo bigen, aber da war Dergelhiev schon wieder draußen. Ging also frühzeitig zu dem Hotel, wo der Baron abgestiegen war. Was weiß ich denn, wann er zu Abend speist? Frage mich ja, ob der Markgraf über haupt wußte, daß der Leiter unserer Agentur in sei ner Stadt weilte? Einer aus der Eskorte wollte mich zuerst abwim meln. »Habt hier nichts zu suchen gute Frau!« Sagte, ich sei keine gute Frau, zeigte ihm meinen Ring und fragte, ob der Baron schon fertig gegessen habe. »Ach, Ihr seid das!« sagte der Kerl in derselben zwei deutigen Weise, die viele in der Agentur benutzen und die – wenn man's nicht gewohnt ist – ganz schön verunsichern kann. Gibt einem das Gefühl, kurz vor einem Besuch in den Bleikammern zu stehen. Weiß nicht, ob solche Spielchen nötig sind. Ließ mich aber nicht ins Bockshorn jagen und antwortete ins Blaue hinein: »Von dir hab ich ebenfalls schon gehört, Al rik!« Welch ein Triumph! Er schien tatsächlich so zu heißen! Mußte nachher nicht mehr lange warten.
Außer dem Baron waren zwei Adjutanten (?) zuge gen, ein Hardfried oder Hackfried von Schattenbach und eine Gelda von Stippwitz, die jedoch die ganze Zeit über schwiegen. War arg überrascht über den Anblick unseres Oberhaupts. Dexter Nemrod ist wohl um die sechzig oder auch ein Stück drüber, sieht aber ungeheuer gut aus! Muß sagen: Wäre er nicht gerade mein Vorgesetzter, so könnte ich schon auf den einen oder anderen Gedanken kommen ... Er kam gleich zur Sache: Was wißt Ihr über Ma raskan? Klaubte eben das Spärliche zusammen, das ich wußte. Ist nicht viel. Eine unserer größten Provinzen, reich an Bodenschätzen, mindestens zwei Drittel un seres Eisens stammen dorther, vielleicht sogar mehr, weiterhin das gesamte Endurium. Bevölkerung völlig unzuverlässig, neigt auch noch dreißig Jahre nach der Eroberung durch Reto zu Aufständen. Binnenland schwer zugänglich, idealer Schlupfwinkel für Rebel len, die von Exilantengruppen auf dem Festland mit Nachschub versorgt werden. Er unterbrach mich und fragte, ob es stimme, daß ich fließend Tulamidya spräche, und meinte dann, daß ich mir alles, was ich jetzt noch nicht über die Inselprovinz wisse, in den nächsten Wochen aneignen würde. Da war's raus: Ich werde nach Maraskan versetzt. Soll sehr warm dort sein, freue ich mich schon drauf!
Fragte mich danach, ob mir der Name Dajin etwas sage. Verneinte. Sei ein maraskanischer Königsname. Dann schwieg er erst mal. Muß sagen, der Baron hat eine recht unangenehme Art zu schweigen. Sitzt da, starrt durch einen hindurch, und wenn man schon meint, sich für irgend etwas rechtfertigen zu müssen, spricht er weiter. Es kam dann auf die Unruhen dieses Jahres zu spre chen. Ich wußte Bescheid, bleibt ja nicht aus. Daß das Aufrührerpack auf der Insel einfach einige Tage Sino da besetzte und kaisertreue Untertanen hinrichtete, während ihre Spießgesellen unsere Gesandte in Khun chom ermordeten (weiß den Namen momentan nicht, werde mich kundig machen) und unsere Botschaft in Thalusa niederbrannten, war ja überall zu lesen. Sei eigenartig, daß mir dabei der Name Dajin nicht untergekommen sei, meinte Nemrod. Fühlte mich wirklich schuldig deswegen. Er erklärte mir, daß bei jeder dieser unerfreulichen Vorfälle der besagte Na me gefallen sei. Fragte ihn, ob das der Name des An führers der Rebellen sei. Der Baron meinte, möglich sei das zwar, sei auch eine gängige Vermutung, aber er bezweifle das. Doch ich würde das herauszufinden haben. Spreche jedoch andererseits viel dafür, daß die Maraskaner mit Dajin einen König meinten, der vor zweihundert Jahren regiert habe. Solle alles vor Ort herausfinden, was es über diesen König zu erfahren
gebe. Wußte natürlich gleich, was er damit meinte: nicht gerade seine Großtaten. Gegen tote Helden kann man nicht kämpfen, aber man kann sie von ih rem Podest stoßen. Der Baron schickte plötzlich seine Adjutanten vor die Tür. Gab mir kein gutes Gefühl, womit ich recht behalten sollte. Die ganze Angelegenheit sei äußerst ernst und dringlich, sagte er, denn es gebe noch etwas, was ich bestimmt nirgends gelesen hätte. Er eröffnete mir, daß vor ein paar Wochen in unserer Hauptstadt (!) maraskanische Rauschkrautberserker in die kaiserli che Residenz eingedrungen seien und dort ein Ge metzel angerichtet hätten! Ob es sich dabei um ein gescheitertes Attentat auf den Reichsbehüter gehan delt habe oder um eine blutige Warnung, sei nicht bekannt. Ebenfalls ungewiß sei, ob die beinahe zeit gleiche Ermordung eines Almadaner Barons in Ga reth durch einen unbekannten Südländer, angeblich einen Fasarer, damit in Verbindung stünde. Ich war sprachlos. Dexter Nemrod mußte mir nicht sagen, daß die Angelegenheit geheimzuhalten sei. Freue mich schon auf Dergelhievs Gesicht, wenn ich ihm morgen berichte, daß mich eine Sonderauf gabe erwarte, von der nur Dexter Nemrod und ich wissen dürften! Ich und der Baron! Tatili, tatila! Werde jetzt gleich noch einen Brief an Füchslein verfassen müssen. Er wird's nicht mögen, wenn er er
fährt, daß ich längere Zeit weg sein werde. Kann ihm ja nicht einmal schreiben, wie lange. Was will ich ma chen! Ich hätte ihn doch auch gerne bei mir.
Das stumme Land 1. Praiobabs abgeschiedene Lage im Dschungel des ma raskanischen Binnenlandes hatte den Vorteil, daß sich der Steuereintreiber der Baruuna nur selten in dem kleinen Dorf sehen ließ. Das wiederum brachte den Nachteil mit sich, daß das Erscheinen des wenig er freulichen Besuchers stets unerwartet kam und man nichts rechtzeitig vor ihm verstecken konnte. Gerade die jüngeren Kinder Praiobabs verwechselten ihn und seinen Troß, der aus drei oder vier Waffenknechten, Maultieren und einigen Viehtreibern und Trägern be stand, die der Eintreiber im jeweils zuletzt besuchten Dorf verpflichtet hatte, oft mit einem der gelegentlich vorbeikommenden, reisenden Händler und kündig ten ihn im Dorf auch so an. Daß an dem vermeintli chen Händler etwas Besonderes war, merkten die Kinder meist schnell. Denn dieser Händler zog nicht mit großem Trara in Praiobab ein, sondern eher still. Auch pries er nicht mit gewerblicher Fröhlichkeit schon beim Betreten des Dorfes lauthals seine Waren
an, sondern gab mit beinahe mürrischem Gesicht, dem man die Strapazen der Reise ansah, Anweisungen an sein Gefolge. Dieses kam den Anweisungen nach wie die Dienerschaft eines hohen Herrn, der nach langer Abwesenheit in sein angestammtes Heim zurückge kehrt ist, was in gewisser Weise auch stimmte. Ebenfalls anders verhielten sich die Erwachsenen und älteren Kinder, denen der in die Jahre gekom mene Abgesandte der Baruuna kein Unbekannter war. Statt mit Neugier und Offenheit begegneten sie ihm mit Scheu und Unterwürfigkeit und eilten los, die Sprecher der Dorfgemeinschaft von den Feldern zu holen, falls sie nicht sowieso in ihrem Hause weil ten. Taten sie das nicht, so war dies für den Steuerein treiber der Baruuna zunächst ohne Belang. Er ver geudete nie Zeit mit Warten, ließ inzwischen sein persönliches Gepäck in das Haus der Sprecher des Dorfes schaffen, und dauerte es einmal länger bis zur Heimkehr der ungefragten Gastgeber, so bereitete er sich dort auch sein eigenes Mahl zu, was er durchaus als sein verbrieftes Recht ansah. Schließlich gehörte seiner Herrin das gesamte Dorf mit allem, was dazu gehörte. Also durfte er, als ihr Stellvertreter, auch al les darin verwenden, solange er nichts grundlos be schädigte. Freudiger empfangen als der Steuereintreiber wur de sein Gefolge. Von den Waffenknechten einmal ab
gesehen, die die Dörfler mit Argwohn betrachteten, waren das ausnahmslos alte Bekannte aus dem fünf zehn Meilen entfernten Dorf Tzab. Die lud man gern in sein Heim ein, sah man die Nachbarn ohnehin viel zu selten und bot sich durch ihre Ankunft Gelegen heit zum Austausch bedeutender Neuigkeiten, etwa wer in beiden Ortschaften in den letzten Monden ge boren worden und gestorben war, wer gerade wem das Herz brach oder was ein fahrender Händler zu berichten gewußt hatte. Das wiederum waren zwar meist Geschichten, deren Inhalt sich nicht sonderlich von den alltäglichen Ereignissen in Tzab oder Praio bab unterschieden, die sich dafür aber an weit ent fernten Plätzen wie Alrurdan oder As'Khunchak zu getragen hatten. Orte, die man kaum dem Namen nach kannte, aber von denen man sich dennoch gerne ausführlich über das Wohl und Wehe ihrer unbe kannten Bewohner unterrichten ließ. Nicht zu den be richtenswerten Ereignissen gehörten hingegen Kö nigsmorde im noch weiter entfernten Tuzak. Streit unter den Herrschenden des Landes war deren Sache und sollte es möglichst auch bleiben. Ob seiner Abgeschiedenheit war Praiobab für die Baruuna, der die Ortschaft gehörte, viel zu unbedeu tend, als daß es sich für sie gelohnt hätte, einen Ver walter einzusetzen. Deshalb kannte das Dorf immer noch wie in alten Zeiten das Amt des Ka'Schîks, wie
wohl von dessen ursprünglicher Machtfülle seinen Amtsinhabern nicht mehr viel übrig geblieben war. Es galt nur gelegentlich einen Streit zu schlichten, oder – wie beim Besuch des Steuereintreibers – Spre cher der Dorfgemeinschaft zu sein, genauer gesagt, die Anweisungen der Obrigkeit entgegenzunehmen. In Praiobab teilten sich das Ka'Schîkenamt Großer Vater und Väterchen, zwei Männer um die Vierzig, der eine groß und füllig, der andere klein und zartglied rig. Väterchen war vor allem deshalb vom Dorf zum Ka'Schîk bestimmt worden, weil er leidlich tulami disch sprach und somit den Steuereintreiber auch oh ne Vermittlung durch dessen Waffenknechte verstand. Davon erhoffte man sich in Praiobab, daß der Gesandte der Baruuna dem Dorf von vornherein gewogener sei. Großer Vater hingegen bekam sein Amt durch den Umstand, daß er Väterchens Gatte war und man im Dorf davon ausging, daß die beiden Männer sowieso alles miteinander besprächen. Hinzu kam, daß Großer Vater wegen seines sparsamen Rede flusses als besonders nachdenklicher, fast weiser Mensch galt. Beide Männer verdankten den Verlust ihrer wahren Namen und ihre allgemein anerkannte Umbenennung in Großer Vater und Väterchen ihrem Sohn, den ihnen Götter und Schicksal vor einigen Jahren unerwartet geschenkt hatten.
Der Steuereintreiber saß zusammen mit den Ka'Schîks unter einem schattenspendenden Vordach vor beider Haus und hörte mit halbem Ohr dem kleineren der beiden Männer zu. In der Hand hielt er einen Holzbe cher mit verdünntem Shatakschnaps, an dem er gele gentlich nippte. Die Träger aus Tzab waren schon vor Stunden nach Hause geschickt worden, bis auf dreie, da Praiobab nicht genügend Ersatz stellen konnte. Auf dem Dorfplatz bereitete man sich auf den bevorste henden Aufbruch vor. Die Abgaben des Dorfes, meist Gewürze und Heilpflanzen, wurden in die Kisten zu den bereits in anderen Ortschaften gesammelten ge packt. Allenthalben fanden große Verabschiedungs szenen statt. Einige Kinder spielten mit einem Hund. Sie warfen Stöckchen, die das Tier brav apportierte. Der Steuereintreiber litt. Als Bewohner der Küste mit ihrem milden Klima war ihm die dumpfe Schwü le des Binnenlandes eine Pein. Vermehrt wurde sie durch den anderen Ka'Schîk, der nur die Bauernspra che beherrschte. Der große Mann saß einfach nur da, ohne sich zu rühren, ohne einen Laut von sich zu ge ben. Dennoch verbreitete seine Anwesenheit eine spürbare, den Steuereintreiber zermürbende Zone der Stille und des Nichts. Genauso gut hätte der Dik ke einfach dasitzen können und unentwegt wieder holen: »Ich schweige, ich bin nicht da. Ich schweige, ich bin nicht da. Ich schweige, ich bin nicht da.«
Vor Stunden hatte der Eintreiber unter einem Vor wand versucht, diese hartnäckige Abwesenheit los zuwerden. Gegangen war der kleinere Ka'Schîk, was die Sphäre des Schweigens beinahe verschlingend gemacht hatte. »Drolliges Kerlchen!« meinte der Steuereintreiber unvermittelt und deutete auf eines der spielenden Kinder, das er auf etwa fünf Jahre schätzte. »Dajin!« rief der kleinere Ka'Schîk. Ein Junge rannte hüpfend herbei, zierlich mit dunklen Haaren und großen Augen, in denen es un ternehmungslustig blitzte. Seine Beine und Füße wa ren mit einer eingetrockneten grauen Staub- und Schlammschicht bedeckt. »Unser Sohn!« erklärte der Ka'Schîk stolz und fuhr dem Kind durch die Haare. »Dajin Derfromold. Wir haben ihn nach meiner Mutter benannt, sie hieß Der fromisab. Und nach dem König.« (Er sagte eigentlich nicht König, sondern ferner Herr.) Der Steuereintreiber verzog den Mund. Wie witzig! Vermutlich sprach dieser Hinterwälder in dem Glau ben, in Tuzak regiere immer noch derselbe Dajin. »Ihr müßtet ihn eigentlich kennen«, fuhr der Ka'Schîk fort. »Wir hatten ihn schon, als Ihr das letzte Mal hier wart, vor drei Jahren.« Der Beauftragte der Baruuna seufzte. Wie oft hatte er diesen Hinweis in den letzten Wochen schon ge
hört: Ihr müßtet das wissen! Diese Einfaltspinsel dach ten offenbar, er merke sich jeden ihrer Pupser! »Er kommt sehr nach dir«, entgegnete der Steuer eintreiber und stutzte. Leicht verwirrt sah er von ei nem seiner Gastgeber zum anderen. »Wir fanden ihn als Säugling im Wald, als wir jag ten«, erklärte der kleine Ka'Schîk. »Er lag unter einem blühenden Jiranstrauch. Wenn er nicht gewimmert hätte, so hätten wir ihn gar nicht bemerkt. Von seinen Eltern fehlte jede Spur. Wir haben lange nach ihnen gesucht. Etwas sehr Schlimmes muß ihnen zugesto ßen sein, da wir überhaupt nichts von ihnen fanden. Das ist jetzt sechs Jahre her. Nun ist er unser Sohn.« »Er ist sehr gelenkig«, lobte der Steuereintreiber und umschloß mit der Hand die Schulter des Jungen. »Wenn er sich weiter so entwickelt, könnte etwas aus ihm werden. Ein Tänzer vielleicht oder ein Gaukler. Es wäre eine Verschwendung, wenn er hier verküm mern müßte. Das Bürschchen ist vielleicht ein wenig zu klein für sein Alter, doch das muß nicht schaden. Die Baruuna liebt Kinder. Sie hat sich erst letztes Jahr eine kleine Garde zusammengestellt. Die Kinder se hen putzig aus, wenn sie in ihren kleinen Uniformen Spalier stehen.« Der kleinere Ka'Schîk sah ihn erschrocken an, das Gesicht des anderen nahm einen besorgt forschenden Ausdruck an. Der Steuereintreiber verfluchte sich. Er
hätte besser geschwiegen! Das Bauernvolk war zu bar barischen Taten fähig, wenn es darum ging, ihre Kin der zu behalten! »Ihr müßt nicht glauben, daß die Baruuna jedes be liebige Bauernkind nimmt«, fügte er rasch hinzu. »Das ist etwas Besonderes, eine Auszeichnung! Für euch hätte das auch Vorteile, weil ihr dann weniger Abgaben leisten müßtet. Aber vielleicht will sie ihn auch gar nicht. Wer weiß, wie er sich entwickelt? Ich werde eben mit der Baruuna, eurer Herrin, reden. Möglicherweise sagt sie sowieso nein. Ich werde mir das Kerlchen einfach merken und euch dann Bescheid sagen. Übrigens wird bis zu meinem nächsten Besuch nicht wieder soviel Zeit vergehen wie seit meinem letzten.« Der Steuereintreiber verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Abscheus. Ja, das war gewiß! Der Marsch durch den Dschungel bliebe ihm nicht wieder für drei Jahre erspart. Die Baruuna brauchte Geld, da der neue König gleich nach seiner Krönung die Steu ern erhöht hatte. Schiffe wollte er bauen. Allenthal ben munkelte man, der vierte Träger des Namens Da jin plane einen Krieg. Aber gegen wen? »Ja, ich werde mich ganz fest an das Bübchen erin nern und euch nächstes Mal sagen, ob euch die Ba ruuna erhört hat«, sprach das Organ der Herrin ab wesend.
2.
Großer Vater saß am Tisch, die Hände ineinander verknotet. Seine Schultern hingen, das Gesicht war ausdruckslos. »Er wird uns unseren Jungen wegneh men«, murmelte er. Väterchen ging unruhig im Zimmer auf und ab wie ein gefangenes Raubtier: »Das kann er doch nicht tun! Das darf doch nicht sein! Bestimmt hat er's bis zum nächsten Mal vergessen. Er erinnert sich nie an etwas, das man ihm erzählt!« »Das wird er nicht vergessen«, widersprach Großer Vater. »Ich las es in seinen Augen.« »Vielleicht wollte er uns auch nur erschrecken«, erwiderte sein Gefährte mit aufkeimender Hoffnung. »Ganz bestimmt, so muß es sein. Er wird sich über uns geärgert haben und wollte uns das heimzahlen. Wir haben ihn irgendwie erzürnt. Deshalb.« Großer Vater hob den Blick von der Tischplatte und sah den kleineren Mann fest an. »Er wird ihn ho len«, sagte er tonlos. Väterchen warf ihm einen trotzigen Blick zu: »Er bekommt ihn nicht. Dajin lag im Walde, damit wir ihn dort finden konnten. Er ist unser Kind! Niemand wird ihn uns wegnehmen. Ich werde ihn verstecken!« »Du weißt nicht einmal, wann der Kerl wieder kommt. Vielleicht schon im nächsten Jahr.«
»Dann verstecke ich ihn eben schon in einem Jahr und halte ihn so lange versteckt, bis der Steuerein treiber wieder weg ist.« »Wo denn? In einer Hütte? Im Wald?« »Ich weiß es nicht. Ich bringe ihn nach Tzab. Dort soll er bleiben.« »Und was sagst du dem Eintreiber, wenn er nach Dajin fragt?« »Ich sage ... ich sage, es sei ihm etwas zugestoßen.« »Still!« zischte Großer Vater scharf. Er flüsterte: »Das bringt Unglück! Etwas könnte dich hören und wahr machen, was du sagst!« »Aber was sollen wir denn dann tun?« Außer sich riß Väterchen die Arme hoch. Großer Vater stützte die Ellenbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Für einige Zeit waren nur Väterchens unruhige Schritte zu hören. Endlich nahm der dicke Mann die Hände wieder vom Gesicht und erhob sich träge. »Ich weiß, was ich tun muß«, sagte er entschlossen. »Ich werde den Steu ereintreiber umbringen.« »Du bist von Sinnen!« antwortete sein Gefährte schrill. Großer Vater beachtete ihn nicht. »Ich weiß, was ich tun muß«, wiederholte er. Mit grimmiger Miene ging er zur Tür, öffnete sie und starrte hinaus in die Nacht. »Umbringen werde ich ihn. Mit dem Messer.«
»Wenn du das tust, werden dich seine Bewaffneten in Stücke hacken!« »Ich weiß«, antwortete der große Mann. »Aber das ist mir einerlei. Ich habe mich so an unseren Buben gewöhnt. Ich mag nicht mehr ohne ihn leben.« Väterchen stöhnte auf und schlug sich fest mit bei den Fäusten gegen den Schädel. »Du machst mir angst. Ich kann dich nie von etwas abbringen, wenn du auf solche Weise sprichst!« Er ging ebenfalls zur Tür und legte der Gestalt, die den Rahmen fast ausfüllte, den Arm um die Schultern. »Sie werden uns beide töten. Du weißt, daß ich dich niemals allein handeln ließe. Al so werden die Leute des Steuereintreibers erst dich er schlagen, danach mich. Unseren Buben werden sie immer noch mitnehmen, falls sie ihn nicht gar für un sere Tat bestrafen.« »Aber was sollen wir denn dann tun?« meinte Gro ßer Vater niedergeschlagen. Er wandte sich zu seinem Gefährten um, schlang die Arme um ihn und preßte ihn so fest gegen sich, daß dem kleineren Mann schier die Luft wegblieb. Qualvolles Schluchzen drang aus seiner Brust. Väterchen befreite sich aus der Umklam merung, zog seinen Gatten am Arm ins Haus und drückte ihn auf einen Stuhl. »Ein Ausweg bleibt«, sagte er mit spröder Stimme. »Als ich damals aus meinem Dorf weglief, bevor ich hierherkam, dich traf und zu bleiben beschloß, begeg
nete ich einer Heilerin. Sie erklärte mir, wie man es tut.« »Wie man was tut?« fragte Großer Vater gereizt. Väterchen senkte den Blick und scharrte mit einer Fußspitze den Boden. »Wie man sie unbrauchbar macht«, erklärte er stockend. »Ich erinnere mich an jedes ihrer Worte. Ich weiß, wie es vonstatten geht. Es sind nur wenige Schnitte. Der Bub wird keinen grö ßeren Schaden davon haben. Außer daß er danach hinken wird.« Er hob den Blick, sah in Großen Vaters Augen und wußte, daß der ihn verstand. Väterchen war froh, daß er seinem Gefährten nicht genauer schildern mußte, was er ihrem Kind antun wollte. »Wenn du etwas falsch machst, kann sein ganzes Bein lahm werden. Er ist dann ein Krüppel.« »Ich werde aufpassen.« Der andere Mann schüttelte den Kopf: »Nein. Ich werde es machen. Ich bin geschickter als du. Du wirst mir sagen, was ich zu tun habe.« Bald ein halbes Jahr schoben Großer Vater und Väter chen die Verkrüppelung ihres Sohnes vor sich her. Sie sprachen nie miteinander über ihren Plan, warfen sich allenfalls bisweilen Blicke zu, in denen ein unausge sprochenes ›Wann?‹ lag. Dajin Derfromold merkte sehr wohl, daß etwas seine Väter bedrückte, und er wußte auch, daß dieses Etwas mit ihm zu tun hatte.
Denn in der Nacht, nachdem der Steuereintreiber Praiobab verlassen hatte, hatte der Junge von seinem Bett aus die erregten Stimmen der Erwachsenen ge hört, die mehrmals seinen Namen nannten. Das wilde Kind schloß daraus, daß es seinen geliebten Vätern einen Kummer bereitet hatte, so schwer, daß sie ihm nicht sagen konnten, welches Leid er ihnen zugefügt hatte. Denn ganz bestimmt bedeutete das Ausspre chen der Untat, daß ihn seine Väter dorthin zurück schicken mußten, wo sie ihn gefunden hatten, näm lich in den Wald, wo die hungrigen Parder jagten, die furchtbaren Taranteln durch die Büsche brachen und im verborgenen Trichterwurzel und Disdychonda auf unvorsichtige kleine Jungen lauerten. Deshalb fragte Dajin seine Väter nicht, was er verbrochen hatte, son dern beschloß, ein braves Kind zu werden, was ihm mit großem Erfolg gelang und seine Väter noch un glücklicher machte. Doch für immer ließ sich die blutige Tat nicht auf schieben. An einem Nachmittag im Rahjamond schliff Gro ßer Vater sein Messer. Er besaß es schon lange, Väter chen hatte es ihm vor rund zwanzig Jahren ge schenkt, nachdem der Davongelaufene nach Praiobab gekommen war, kurz bevor beide Männer zusammen den Kreis abschritten und von Liebhabern zu Eheleu ten wurden. Großer Vater führte dieses Messer stets
bei sich. Er zerteilte damit Shatakwurzeln, spitzte Pflöcke zu oder weidete Wild damit aus. Einmal hatte Großer Vater es auf der Jagd verloren und zwei Tage lang im Wald danach gesucht, bis er das Messer wie derfand. Vom vielen Schleifen war die Klinge schmal geworden. Ihre Schneide war nicht mehr ganz gera de, sie wies eine Einbuchtung in ihrer Mitte auf. Großer Vater schärfte sein Messer über eine Stunde lang. Bisweilen hielt er inne, betrachtete die Schneide, deren schmaler Rand sich silberglänzend vom Schwarzgrau des Eisens abhob, oder starrte dumpf vor sich hin. Dann begann er sein Werk aufs neue. Niemals zuvor war sein Messer so scharf gewesen. Zwischendurch kam Dajin vorbei und sah seinem Vater zu. »Was tust du, Großer Vater?« fragte er ihn. »Ich schärfe mein Messer«, antwortete der. »Väter chen will einen Hasen zubereiten. Dazu muß es sehr scharf sein. Nun geh aber wieder, nicht daß du dich noch versehentlich schneidest.« Lachend, mit beiden Armen wirbelnd, rannte der kleine Junge weg, setzte sich vor dem Haus der Nachbarn auf den Boden und kratzte sich an der Fer se, wo ihm ein lästiges Mückenvieh einen juckenden Stich verpaßt hat. Heute war ein schöner Tag! Väter chen kochte zwar nur selten und dann so schlecht, daß Dajin meist nach wenigen Bissen Sattheit vor täuschte, doch wenn Väterchen den Hasen zubereite
te, so wie ihn seine Mutter gelehrt hatte, die niegese hene Großmutter Derfromisab, so war das wunder voll! Welch wirklich glücklicher Tag! Abends gab es tatsächlich Hasen. Väterchen und Großer Vater fütterten ihren Sohn, wie sie es getan hatten, als er noch klein war. Sie gaben ihm Brot, das sie mit Shatakschnaps getränkt hatten, und Saft, der eben falls damit versetzt war. Dajin fühlte sich nach jedem Bissen und Schluck eigenartiger. Aufgeregt plappernd erzählte er seinen Vätern von den Ereignissen des Tages, strampelte mit den Beinen und fuchtelte unge lenk mit den Armen. Als er seinen Becher umstieß, tadelte ihn niemand. Ganz ruhig füllte Väterchen das Gefäß erneut und drückte es dem Kind an die Lip pen. »Du mußt viel trinken, Dajin«, ermahnte ihn Väter chen dabei. »Sonst wirst du so klein wie ich und nie so groß werden wie der Große Vater.« »Wenn er klein bleiben will, soll mir das recht sein«, sprach Großer Vater weich und streichelte dem Jungen das Haar. Als Dajin eingeschlafen war, räumten seine Väter den Tisch frei und legten den Knaben gemeinsam darauf. Sie holten die Heilkräuter, die sie vor Tagen gesammelt hatten, und den getrockneten und pulve risierten Speichel des Baumschleimers, dem man eine
günstige Wirkung bei Schnittwunden nachsagte. Vä terchen zerriß sein bestes Hemd in Streifen, und Gro ßer Vater brachte eine Schüssel mit heißem Wasser. Unendlich sanft wuschen beide Väter das rechte Bein und den Fuß ihres Sohnes. Nun holte Großer Vater sein Messer aus dem Ne benraum. Obwohl er es sonst immer mit sich führte, hatte er es nach dem Schleifen nicht mehr in seiner Nähe leiden wollen. Als er zurückkam, warfen die Lampen den Schatten eines bösen Riesen an die Wand. Großen Vaters Hände schwitzten. Das einstmals vertraute Ding in seiner Hand fühlte sich fremd an, bedrohlich gar, so als könne sich das Messer jeden Augenblick in eine Viper verwandeln, sich der Hand des Trägers entwinden und ihm die Giftzähne in den Leib schlagen. Ungewohnt zögernd bewegte sich Großer Vater auf den Tisch zu. Urplötzlich schossen ihm Tränen in die Augen. Er wischte sie mit dem Ärmel weg, doch die Flut war dadurch nicht zu bändigen. Großer Vater klagte: »Er hüpft immer! Er geht nie langsam. Er rennt, springt, hüpft. Ich habe ihn noch nie anders ge sehen, seitdem er gehen kann. Er ist so lebendig!« Heftig schleuderte er sein Messer weg, sah seinen Gefährten aus tränengetrübten Augen an und sagte noch einmal: »Er hüpft immer.«
»Warte«, sagte Väterchen leise. »Warte.« Als Großen Vaters Tränen versiegt waren, schüttel te er den Kopf und erklärte mit brüchiger Stimme: »Ich kann das nicht. Ich kann ihm das nicht nehmen.« »Ich werde es tun«, antwortete Väterchen knapp, hob das Messer auf und ging mit schnellen Schritten zum Tisch. Grob umschloß seine Linke den Fuß des Jungen. Er hob das Messer. »Halt ein!« kreischte Großer Vater. »Sieh auf deine Hand! Du wirst ihm nicht nur die Sehne zerschnei den, sondern das ganze Bein zerfleischen!« Väterchen sah auf seine Hand. Sie zitterte nicht, sie wedelte völlig unbeherrscht. Erst jetzt bemerkte Vä terchen, daß er am ganzen Leib schlotterte. Kein Teil seines Körpers schien mehr seinem Willen zu gehor chen. »Was sollen wir tun?« flüsterte Väterchen gebro chen. Sie waren geschlagen. Was sie sich ausgedacht hatten, um ihren Sohn behalten zu können, vermoch te keiner der beiden Männer auszuführen. Ohne Ankündigung wurde die Tür nach draußen aufgerissen und Jamilhajida stürmte herein. Sie wohn te am Rande des Dorfes und hatte drei Töchter, von denen zwei durch ein grausames Geschick die Welt nie anders sehen würden als durch die Augen von Fünf jährigen. Jamilhajidas Augen waren riesig, die Haut ih res verhärmten Gesichts erinnerte an vergilbtes Per
gament. Sie blieb stehen, schluckte heftig, sah aus, als wolle sie sich jeden Augenblick übergeben. »Väterchen, Großer Vater, Ka'Schîks!« wimmerte die Bäuerin. »Unheil ist über uns gekommen! Wir sind alle verdammt und verloren!«
3. Was ging da vor? Keines der Kinder kannte die Ant wort, nicht einmal Hadijian, der wegen seiner elf Jah re als weiser Patriarch der Gruppe galt. Seit ein paar Tagen benahmen sich die Erwachsenen höchst selt sam. Man durfte nicht mehr spielen, wo man wollte, immerzu hieß es: Kinder, verlaßt nicht das Dorf! Auf die Felder gingen die Erwachsenen nur noch in Gruppen, und die älteren Brüder und Schwestern, die mit ihnen im Bunde standen, durften sie nicht mehr begleiten. Statt dessen nahmen die Eltern nun stets ihre Schnitter mit. Gerade so, als hätten sie nichts an deres mehr zu tun, als den Busch zu roden oder Gras zu schneiden! Das taten sie aber nicht, es war auch keine Erntezeit. Neigte sich der Tag seinem Ende zu, so wurden die Kinder sehr ungeduldig in die Häuser gerufen, auch wenn es noch hell war und wichtige Dinge zu Ende ge bracht werden mußten. Nachts brannten Feuer. Vier
große Feuer, rings um das Dorf, die bis zum Morgen am Lodern erhalten wurden. Ja, die Kinder waren neugierig geworden. Sie woll ten wissen, was vorging, doch die Erwachsenen sahen abweisend und sorgenvoll aus, so daß niemand – ohne eigentlich zu wissen, warum – sich getraute, sie zu fragen. Hadijian gab die Losung aus: »Wir fragen sie jetzt alle. Wer morgen nichts zu erzählen hat, soll Dumm bumm und Feigling heißen!« Dummbumm und Feigling! Keines der Kinder wollte so heißen, nicht einmal Delilahsab, Jamilhaji das zurückgebliebene Tochter, obwohl der erste Na me nach einhelliger Meinung ganz gut zu ihr gepaßt hätte. Schließlich war sie viel älter als Hadijian, aber noch nicht einmal so schlau wie Alryscha, von der ei nige meinten, sie gehörte eigentlich doch eher zu den Kleinen. Aber das durfte man natürlich nicht laut sa gen, weil Delilahsab sonst weinte. Am nächsten Tag trafen sich die Kinder, um über das Erfahrene zu beraten. Dajin hatte den Großen Va ter gefragt. »Ein Parder geht um«, hatte dieser erklärt. Das war keine befriedigende Antwort, denn Parder gingen öfter um. Manchmal hörte man nächtens ihren Schrei. »Dieses Mal ist es ein Roter Parder!« hatte Väter chen hinzugefügt. Den kannte Dajin noch nicht.
»Parder jagen als Paar, Dajin, ihr ganzes Leben lang, bis einer von beiden stirbt. Wenn jetzt aber der Par derkater oder die Parderkatze erlegt wurde, weil sie die Schweine nicht in Frieden ließen oder die Maul tiere, dann geschieht ganz selten etwas recht Eigenar tiges: Der überlebende Parder verändert sich. Sein schwarzes Fell färbt sich so rot wie das Laub im Win ter, er beginnt zu wachsen, wird enorm groß und da bei fast so schlau wie der Große Vater. Als Roter Par der hat er dann nur noch eins im Sinn, nämlich sich für den Tod des anderen Parders zu rächen. Dabei ist's ihm völlig einerlei, ob sein Zorn den Schuldigen trifft, denn genausowenig, wie wir zwei Parder au seinanderhalten können, können sie uns unterschei den. Also tötet ein Roter Parder solange, bis man ihn zur Strecke bringt. Aber das ist nicht einfach, denn auf dem ganzen Weltendiskus gibt es kein gefährli cheres Tier als einen Roten Parder!« Karhimasab wußte eine völlig andere Geschichte zu berichten. Ihr hatte man erzählt, daß ein Dutzend Marasken ein Nest im Wald erbaut habe. Und jede einzelne der giftigen Taranteln sei größer als die klei ne Alryscha! Nach dieser furchteinflößenden Geschichte hatten sich Dajin und das Mädchen mit den blonden Haaren und schwarzen Augen erst einmal geprügelt. Denn der Junge wollte nicht dulden, daß irgendwer eine
Geschichte mit dem Satz abschloß: »Ka'Schîks hin oder her, deine Väter sind Lügenbolde!« Nicht einmal der hübsche Krauskopf! Hadijian schlichtete den Streit. Ihm hatte man weis gemacht, daß die Gefahr ein sehr alter und äußerst heimtückischer Baumwürger sei. So ging das reihum. Jedes Kind erzählte eine andere Geschichte, einige äh nelten sich, doch keine zwei waren gleich. Delilahsab war mit der erbärmlichsten Begründung abgespeist worden: »Ich darf nicht aus dem Dorf, weil ich mir sonst wieder weh tue und meine Mama dann traurig wird.« Die Kinder waren erzürnt. Man hatte sie belogen, als seien sie unverständige Brüllbälger wie die Klei nen! Doch dann wurde ihnen klar: Wenn ihnen die Erwachsenen schon falsche Schreckgeschichten er zählten, dann konnte das nur bedeuten, daß das, was sie verheimlichten, weitaus schlimmer war! Als den Kindern diese Erkenntnis dämmerte, begann die Hälfte der Gruppe zu weinen. Vieh verschwand, das war nicht zu verheimlichen. Das, was hinter der grünen Mauer lauerte, die Praio bab umgab, bediente sich nach Belieben. Am härte sten war für die Kinder der Verlust Lh'Uuzes. Der Tuzakerwelpe mußte unbemerkt aus dem Dorf gelau fen sein. Als er zwei Tage fort war, kündigte Dajin
seinen Vätern an, nach ihm suchen zu wollen. Sie verboten ihm sein Vorhaben. »Wenn Lh'Uuze wohlauf ist, wird sie von allein zu rückkommen, und wenn nicht, so wirst du sie sowie so nicht mehr finden«, erklärte Väterchen. »Du mußt lernen, Dajin: Wir leben vom Land und vom Wald und nehmen von beidem, was wir brauchen. Aber manchmal nimmt das Land auch von uns. So hat Rur die Welt geschaffen.« Dajin blieb stur. Wenn er schon nicht selbst nach dem Hündchen suchen durfte, so sollten seine Väter das tun, beharrte er. Väterchen wurde streng: »Gerade jetzt haben wir genügend andere Sorgen, Söhnchen. Du erinnerst dich doch daran, was wir dir über den Parder erzähl ten?« In versöhnlichem Ton warf Großer Vater ein: »Lh'Uuzes Mutter wird bestimmt bald einen neuen Wurf haben.« Schlagartig überkam den Jungen ein Zorn, wie ihn seine Väter noch nie an ihrem Sohn erlebt hatten. Er schrie und strampelte, warf Großem Vater vor, daß der zwei Tage nach einem alten Messer im Wald ge sucht habe, aber nun nicht einmal ein paar Augen blicke das Gleiche für den Hund tun wolle, und überhaupt sei die Geschichte mit dem Parder ohnehin nicht wahr. Das habe ihm Karhimasab erzählt. Dajin
brüllte, bis ihm die Luft wegblieb. Als kein Ton mehr aus seinem Mund kam, warf er sich wütend auf den Boden. Für seinen Ausbruch versohlten ihm seine Väter den Hintern. Zu dem Parder schwiegen sie. Später ärgerte sich Dajin über sich selbst. Er war im mer noch erbost auf seine Väter, da er nicht handeln durfte, wie er wollte, und sie nicht taten, was sie soll ten. Doch sie der Lüge zu zeihen, bereute er nun. Schließlich logen die Väter nicht aus Böswilligkeit, son dern weil sie die Wahrheit nicht auszusprechen wag ten. Der Junge betrauerte den Welpen. Lh'Uuze war ganz allein da draußen. Bestimmt ängstigte sie sich, doch niemand wollte ihr helfen. Dajin sah das als un erträglichen Widerspruch an. In der Vorstellung des Kindes gab es immer jemanden, der half, jemanden, der heil machte, was kaputt war, der alles wieder zu rechtbog. Anders konnte es gar nicht sein. Am Ende wurde alles gut. Allenfalls kam es vor, daß man erst den richtigen Menschen finden mußte, der half. Doch es gab ihn, irgendwo, bereit einzuspringen, wenn er gebraucht wurde. So hat Rur die Welt geschaffen! dachte der Junge altklug. Nachdem die Väter – kaum denkbar, doch wahr – nicht helfen wollten, blieb keine große Auswahl
mehr. Außerdem, beruhigte Dajin sein Gewissen, wenn Großer Vater sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte ihn ebenfalls niemand mehr da von abbringen. So hatte er Väterchen sagen gehört.
4. Dajin war viel zu aufgeregt, um einzuschlafen. Un geduldig lag er wach und wartete darauf, daß die Atemzüge der Väter gleichmäßiger wurden. Vorsich tig, auf Händen und Füßen, kroch er aus seinem Bett und aus der Schlafkammer heraus. Er richtete sich auf und schlich auf Zehenspitzen zu dem Schränk chen, auf dessen Ablage Großer Vater neuerdings sein Messer liegen ließ, das er von dort nur noch dann holte, wenn er es brauchte. Großer Vater schien aus unerfindlichen Gründen seit ein paar Tagen nicht mehr so sehr an diesem Messer zu hängen wie bisher, da er es nicht mehr bei sich trug. Das Messer war wichtig für das Gelingen von Da jins Plan, denn auch wenn die Geschichten von Par dern, Marasken und Baumwürgern allesamt nicht stimmten, so gab es dennoch etwas dort draußen, ge gen das man sich verteidigen mußte, und Großer Va ters Messer schüchterte bestimmt jeden ein, scharf wie es jetzt war.
Dajin öffnete die Tür einen Spalt und quetschte sich ins Freie. Auch heute nacht brannten die Feuer. Der Knabe sah zwei, von einem davon nur den Schein, da ein Haus das Lodern verbarg. Das andere hingegen war gut zu sehen. Zwei Schatten standen davor, längli che Gerätschaften in der Hand, vermutlich Schnitter. Der Dorfplatz lag leer. Die Kinder hatten sich ge wundert, daß man das Vieh nächtens nicht hierher trieb, in den Schutz des Dorfes. Hadijian, der Weise, hatte wie immer die Antwort gewußt und mit Gra besstimme offenbart: »Weil es sonst ins Dorf kommt!« Das war einsichtig. Es sollte nachts nicht vor den Türen herumschleichen, hinter denen man schlief. Dajin schlich von Schatten zu Schatten. Er beherrsch te sich, nicht zu rennen. Kein überflüssiger Laut sollte das nächtliche Schweigen brechen. Wie aus dem Dorf hinaus? Das konnte nicht so schwer sein. Die Kinder kannten Schliche, die die Erwachsenen bestimmt nie gekannt hatten und von denen die Halbwüchsigen nichts mehr wissen wollten. Schwierig waren die Feu er. In den Schatten regte sich etwas: klein, rund, pel zig, ein mattes Schimmern in den dunklen Augen. Dajin erschrak, und das Herz schlug ihm bis zum Halse. Eine Ratte? Das Wesen veränderte seine Form, wurde länglich und richtete sich auf. Dajin atmete er leichtert auf: ein Mungo!
Der kleine Räuber stand auf den Hinterbeinen vor ihm, die Vorderbeine mit den langen Krallen ausge streckt, den Rachen leicht geöffnet. Mungos brachten Glück! »Was willst du?« flüsterte Dajin erstaunt. »Bettelst du etwa?« Die Hand des Jungen bewegte sich auf den Schlan gentöter zu. Mit einem raschen Satz verschwand das Tier in der Nacht. Dajin blieb einige Zeit stehen und dachte nach. Was hatte diese Begegnung zu bedeuten gehabt? War sie wirklich glückverheißend, oder hatte der Mungo nicht vielleicht eher sagen wollen: Geh heim, Kind, geh heim, solange du noch kannst! Doch der Mungo hatte nicht gesagt, daß er derjeni ge sei, der Lh'Uuze helfen würde, deshalb blieb alles beim alten. Außerdem hatte Dajin sowieso nie eine Geschichte oder ein Märchen gehört, in dem die er wählten Tiere Phexens irgend jemandem halfen, ge schweige denn einem anderen Tier. Sie töteten und fraßen sie üblicherweise. Zwischen den Feuern hindurchzukommen war gar nicht so schwer, doch dahinter schloß sich die weite freie Fläche an, die erst an der schartigen Mauer des Waldes endete, der noch dunkler als der Himmel war. Dajin krabbelte auf Händen und Füßen, das Messer
zwischen den Zähnen. Er konnte noch nicht wagen, sich aufzurichten, da die Wachen am Feuer ihn sonst womöglich sehen konnten. Trotzdem war der Junge mehrmals nahe daran, aufzuspringen. Denn Maraskan wimmelt vor Leben. Der größte Teil davon ist klein, kribbelnd und krabbelnd, dennoch wehrhaft, beißend, stechend. Zumal nachts war Dajin nicht gerne den wahren Herrschern der Insel so nah. Sicher, hier in der Nähe des Dorfes wäre das schon ein böser Zufall gewesen, wenn der Junge etwas wirklich Gefährlichem begegnet wäre, doch die Vorstellung, plötzlich in etwas zu greifen, das gierig in seine ta stende Hand biß oder stach oder auch nur schleimig darunter hinwegglitt, war keineswegs anheimelnd. Vor Dajins innerem Auge erschienen Scharen von Chielikäfern, die mit vorgestreckten Stacheln gierig auf ihn zu rannten, um sein Blut aus ihm herauszu saugen, und Würmer, lang, gelblich-weiß, fadenartig, deren Leiber beim Kriechen dicker und dünner wur den. Hadijian hatte behauptet, daß der älteste der weißen Würmer, gleichzeitig ihr Urahn, länger sei als ganz Maraskan, und daß dieser Erzwurm, wenn er nur wollte, mit seinem fahlen Leib die gesamte Insel umspannen könne! Endlich war Dajin weit genug vom Dorf entfernt, um sich sicher aufrichten zu können. Er ging weiter und erreichte bald den morastigen Gürtel, der vom
Ende des bebauten Landes kündete und von der Nä he des Waldes. Jeder Schritt entlockte dem Boden schmatzende Geräusche. Dajin hoffte, daß nur der Boden schmatzte! Hier draußen in der Nacht stellte sich für das Kind alles anders dar als daheim im Bett. Überdeutliche Ge genwart wurde, was der Gedanke zu Hause leichtmü tig überflog. Doch Dajin hatte sich nicht bis zum näch sten Tag gedulden wollen. Obwohl er erst wenige Jahre alt war, wußte er um das Schicksal aufgeschobener Vorhaben. Alsbald flatterten Zweifel herbei wie hungrige Aasvögel und zerpflückten sie, bis nichts mehr von den ursprünglichen Absichten übrig war. Hohe Staudengewächse kennzeichneten den Be ginn des Waldes. Die langen Blätter formten Torbö gen, Tore in den Wald, die den Weg hinein nur wi derstrebend freigaben, wenn sie raschelnd auseinan dergebogen wurden. Als Dajin unter die hohen Bäume trat, bedauerte er, keine Lampe mitgenommen zu haben. Er hatte nicht daran gedacht. Also konnte er seinen Weg nur dort wählen, wo die Bäume lichter standen, wo wenig stens etwas vom schwachen Schein des glücklicher weise vollen Madamals nach unten drang. Dajin achtete sehr genau darauf, wohin er seine Füße setzte. Hunderte von Wurzeln warteten darauf, ihn zu Fall zu bringen; scheinbar fester Boden, be
deckt mit verrottendem Laub, mochte unter dem übereifrigen Schritt nachgeben und den Sturz in die darunterliegende Kuhle einleiten, wo die pfeilschnel len Tentakel der Trichterwurzel geduldig harrten. Außerdem war hier Schlangenrevier. Kleine Ästchen knackten noch unter den vorsich tigsten Schritten und hallten übernatürlich laut durch den Wald. Hatten die Herrscher des Waldes ihn be reits bemerkt? fragte sich der Junge. Duckte sich über ihm schon der Parder zum Sprung? Erhob die große Maraske gerade ihren fleischigen und haarigen Leib? Entrollte eben jetzt die Disdychonda leise ihre Blätter, hoffend, daß die Beute darauf träte, oder ringelten etwa bereits die gelben und grünen Tausendfüßler ih re Leiber zusammen, um urplötzlich ihrem Opfer entgegenzuschnellen, es mit ihrem brennenden Schleim zu lähmen, um es schlußendlich dann von innen heraus aufzufressen? Hab acht, Dajin, hab acht! Der Junge lauschte. Doch der Wald schwieg. Nur aus weiter Ferne waren Geräusche zu vernehmen, so weit entfernt, daß nicht einmal auszumachen war, welche Art von Tier dort triumphierend brüllte, ent setzt kreischte oder ungnädig keckerte über jene, die die Ruhe störten. Doch in der Nähe war es still, völlig still, als wagte auch nicht eine Kreatur, ihre Anwe senheit zu verraten.
Dajin rief: »Lh'Uuze!« Kaum hatte er den Namen des Hundes ausgerufen, hielt der Junge erschrocken beide Hände vor seinen Mund. Wie laut das war! Bestimmt war der Ruf bis zum Dorf zu hören gewesen! Jeden Augenblick muß te das Echo antworten: »Dajin! Dajin!« Aber das gefürchtete Echo kam nicht. Heute nacht blieb jeder die Antwort schuldig. Unerwartet stieß Dajin auf eine Lichtung. Ein Blitz mußte ein Feuer entfacht haben, das ein Loch in den Wald gebrannt hatte. Lange konnte das nicht her sein, denn der Bewuchs des Bodens war noch niedrig. Da jin scheute sich, auf die Lichtung hinauszutreten. Die Überreste der verbrannten Stämme, die sich aus dem im Mondlicht grausilber gefärbten Gras erhoben, wirkten auf ihn wie eine Garde schwarzer, schwei gender Männer, die vermutlich sofort zum Leben er wachten, sobald er aus dem Versteck der Bäume her vorträte. Um was zu tun? Nun, bestimmt nichts Gu tes! Der kleine Junge verzog das Gesicht. Wenn er nicht ins Freie trat, sondern sich statt dessen vorsichtig am Rande der Schneise entlangdrückte, den Blick unent wegt auf die zweifelhaften Gestalten gerichtet, konn te er dann ihrer Aufmerksamkeit entgehen? Das blieb abzuwarten! Langsam, jeden Tritt genau abwägend, bewegte
sich Dajin seitwärts weiter. Als nach einiger Zeit die dunklen Wächter immer noch kein Interesse an seiner Person zeigten, ging er etwas schneller und warf den toten Bäumen nur noch bei jedem dritten Schritt ei nen prüfenden Blick zu, gerade um sicherzugehen, daß sie auch allesamt noch dort standen, wo er sie zu letzt gesehen hatte. Ein Nachtfalter hatte sich unbemerkt auf Dajins Är mel niedergelassen. Die Flügel hatte er ausgebreitet. Er schien nicht vorzuhaben, die Ruhestatt so bald zu ver lassen. Sachte, um das Tierchen nicht zu erschrecken, hob Dajin den Arm vor sein Gesicht, besah das kleine Wesen und flüsterte: »Was machst du denn? Bist du schläfrig? Aber bleiben kannst du hier trotzdem nicht!« Er stupste das Geschöpf vorsichtig mit dem Zeigefinger an. Der Schmetterling flatterte hoch. Doch nicht allein. Hunderte, vielleicht Tausende erhoben sich mit ihm in die Luft. Sie mußten über den ganzen Rand der Lichtung verteilt gewesen sein. Fast schien es, als hätten alle Schmetterlinge nur auf das Zeichen dieses einzigen gewartet! Mit lautlosem Flügelschlag flatterten die Geschöpfe in die Lichtung hinein, begegneten sich in einer wir belnden Wolke, die sich zusehends nach oben und unten spindelförmig verjüngte! Der quirlige Schwarm formte Auswüchse, die an Arme erinnerten, an Beine,
an einen Kopf. Schließlich gar an einen Menschen. Eine Form, die gewahrt blieb, obwohl ihre Bestandtei le fortwährend in Bewegung waren! Schatten, erzeugt von dunkleren Faltern, wuchsen dort, wo man Augenhöhlen erwartete, den Schatten wurf der Nase oder die Schwärze eines halboffenen Mundes. Dajin war völlig fassungslos. »Ich suche Lh'Uuze!« sagte er ohne nachzudenken. »Sie ist ein kleiner Hund und hat sich verlaufen.« »Klein, haarig, wimmernd und klagend wie der Wind zwischen den hohen Felsen, wenig schmack haft«, sprachen die Schmetterlinge. Der Junge staunte. Bisher hatte er die Erscheinung noch halbwegs für eine Laune der Natur gehalten. Doch diese Laune antwortete. »Sie muß aber hier sein«, beharrte Dajin, trat einen Schritt auf die Schmetterlinge zu und blieb wie an gewurzelt stehen, als sich sämtliche Haare auf seiner Haut aufrichteten. Vorsicht! »Es soll gehen«, flüsterten aberhundert Stimmen drängend im Chor. »Es soll gehen. Wir haben es ein mal verschont. Es soll nicht glauben, daß wir es des halb immer verschonen werden!« Schlagartig wurde Dajin bewußt, daß das, was zu ihm sprach, auch das sein mußte, was das Dorf in Angst und Schrecken versetzte.
»Ich bin Dajin Derfromold«, sagte er. »Ich habe keine Angst vor euch!« »Es weiß nichts«, sprachen die Stimmen. »Es kennt nicht die Wahrheit, nicht die halbe, kein Stück davon. Es kennt nicht die Angst, weil es ihr noch nie begeg nete. Wir werden es lehren.« Die Wolke näherte sich. Selbst in der Bewegung ähnelte sie einem gehenden Menschen, obwohl – wie Dajin gebannt bemerkte – die Beine des ›Menschen‹ im Gehen etwas verschwammen. Jede Faser von Da jins Körper schrie: »Lauf weg!« doch der Junge ge horchte nicht. »Alle haben doch Angst vor euch!« rief er und ver besserte sich sogleich: »Vor dir! Angst vor dir! Reicht dir das nicht?« »Es soll einschlafen«, flüsterten die Schmetterlinge. »Es soll schlafen und träumen. Doch es soll auch wis sen, daß wir hier sind. Es soll wissen, daß wir bei ihm sind, über ihm, auf ihm, und daß wir uns noch nicht entschieden haben. Es soll lernen und auskosten, wie flüchtig unsere Entscheidungen sind.« Eine bleierne Müdigkeit bemächtigte sich des Jun gen. Er wollte sich hinlegen und auf der Stelle ein schlafen. Gab es etwas Schöneres, als im Schlaf zu vergehen? Sein Kopf sackte auf die Brust. Er dachte an die verkohlten Bäume. Dajin riß die Augen auf. »Du sollst gehen!« schrie
er die Gestalt aus Schmetterlingen an. »Geh! Geh! Geh!« Dieses Mal antwortete das Schwarmwesen nicht. Es stand still vor seinem kleinen Gegenüber, fast mochte man meinen, daß auch das Flattern der Schmetterlinge, die seinen Körper bildeten, zur Ruhe gekommen sei. Dajin fragte sich, ob das vor ihm, was immer es auch war, tatsächlich nachdachte oder ihn mit diesem scheinbar menschlichen Verhalten nur verhöhnte. »Es ist blind. Es versteht nichts«, wisperten die Stimmen erneut. »Doch es ist köstlich. Wir werden ein andermal sehen, wie köstlich es ist!« Jäh stoben die Schmetterlinge in alle Richtungen auseinander und verschwanden unter den Bäumen. Dajin war hundemüde. Ein einziger Gedanke be herrschte ihn: Hinlegen, schlafen, nichts mehr! Was hinderte ihn noch daran? Die rätselhaften Schmetterlinge kämen gewiß nicht zurück, die Garde der verkohlten Bäume verhielte sich weiterhin unbe teiligt, und die ... Wolken wie Bauschflocken hingen bewegungslos am Himmel, die Sonne brannte, Käfer brummten in bummelndem Flug. Von einem Augenblick auf den anderen stand Dajin auf den Füßen und quiekte vor Angst. Es war Tag! Welcher üble Geist hatte ihn ver leitet, sich einfach hinzulegen und einzuschlafen! Wie
sollte er jetzt ungesehen zurück ins Dorf gelangen? Er rannte blindlings los, blieb noch vor Erreichen des Waldrandes hilflos stehen, da seine tränengefüllten Augen nichts mehr sahen. Mit beiden Händen rieb sich der Junge das Naß aus den Augen. Er blickte auf die verbrannten Bäume, die einschüchternden Begleiter der letzten Nacht. Nichts war von ihrer finsteren Strenge übriggeblieben, sie waren nur verkohltes Holz. Schmetterlinge tanzten zwischen Blumen, wählten ihren Weg entlang eines gezackten Pfades, von Blüte zu Blüte. Sie benahmen sich so, wie Schmetterlinge sich üblicherweise benahmen, kein bißchen anders, doch war ihnen zu trauen? Ihr Anblick brachte die Erinne rung an das Gewesene leibhaftig zurück, das mannig fache, eindringliche Flüstern, das wir sagte, und es. Es versteht nichts! Gab es denn etwas zu verstehen? Im Augenblick war das Dajins geringste Sorge. Sobald das Kind wieder se hen konnte, rannte es los, zwischen Büschen und Bäu men hindurch, alles mißachtend, was ihm über den keinen Fehler verzeihenden Urwald der Insel einge bleut worden war. Doch an diesem Vormittag übte der Wald Nachsicht. Ungesehen gelangte Dajin ins Dorf und um ein Haar ungesehen ins väterliche Haus. »Dajin Derfromold!« rief eine Mädchenstimme em
pört. Der Angesprochene sah zu dem Mädchen mit dem blonden Krauskopf und den ansonsten denkbar südländischen Zügen. Vorwurfsvolle Strenge sprach aus Karhimasabs Blick. »Weißt du, daß deine Väter das ganze Dorf in Auf ruhr versetzen? Ich sage dir, die bringen dich um. Jetzt eben haben sie's endlich geschafft, einige Er wachsene zu überreden, mit ihnen nach dir zu su chen. Am besten läufst du ganz schnell zu ihnen und sagst, daß du wieder da bist!« Dajin schluckte mehrmals. Vor zwei Erwachsene zu treten, die ihn – um Karhimasabs Worte zu ver wenden – umbringen würden, war schlimm genug, doch der Gipfel der Schrecken war der Schritt vor das Hinrichtungskommando des gesamten Dorfs! Der Sohn zweier Väter winselte und bat das Mäd chen, statt seiner zu gehen. Sie ließ ihn zappeln. Erst als Dajin nichts mehr einfiel, was er dem Blondschopf noch versprechen konnte, willigte das Mädchen huldvoll ein. Dajin ging ins Haus und wartete. Obwohl ihn seine Väter nur selten geschlagen hatten, war ihm schier schlecht vor Angst. Er wartete und fühlte sich dabei genauso wie jeder andere Delinquent, der an diesem Tage irgendwo auf der Welt hingerichtet wurde. Die Tür öffnete sich, und ein großer Umriß füllte sie beinahe aus.
Großer Vater stürmte herein, riß seinen Sohn mit beiden Händen hoch und preßte ihn an seine Brust. »Du bist da! Du bist da!« wiederholte er mehrmals mit erstickter Stimme. »Er ist weg. Er wird nicht zurückkommen«, erklär te Dajin. »Mach dir nichts draus. Ihre Mutter wird einen neuen Wurf haben«, antwortete Großer Vater mit be legter Stimme. »Ich meine nicht Lh'Uuze«, berichtigte ihn sein Sohn traurig. Großer Vater hatte sicherlich recht, wie ihm jetzt erst bewußt wurde. Der Welpe käme nicht wieder. »Ich meine den Schmetterlingsmann.« Der mächtige Mann drückte das Kind nur noch fe ster an sich und murmelte etwas kaum Verständli ches. Noch Stunden danach rätselte Dajin, ob die we nigen Worte wirklich bedeutet hatten Sag niemals die sen Namen, sprich nie wieder davon, oder ob er sich das nur eingebildet hatte. Die anderen Kinder waren selbstverständlich sehr neugierig auf Dajins Abenteuer. Er erzählte ihnen nur von der Finsternis des Waldes und von den verbrann ten Wächtern. Weder Großer Vater noch Väterchen bestraften ihren Sohn, auch vermieden sie es, unnötig an sein Davonlaufen zu erinnern. An dieser Ver schwörung beteiligten sich die Erwachsenen des ge samten Dorfes. Der Junge war weggelaufen, jetzt war
er wieder da. Kinder waren eben bisweilen unver nünftig. Damit trat etwas Schwebendes in Dajins Leben, et was, das nach Auflösung schrie. Zwar sehnte er sich nicht danach, dafür bestraft zu werden, daß er gegen das Verbot seiner Väter gehandelt hatte, doch wäre ihm eine Strafe beinahe lieber gewesen als dieses leichtflügelige Nichts, an dem jeder vorbeisah. Genauso verhielt es sich mit der Bedrohung, die das Dorf heimgesucht hatte. Sie war da gewesen, jetzt war sie wieder fort. Kein Grund, sich an ausgestan dene Ängste zu erinnern, oder einen Namen auszu sprechen, der als Ruf mißverstanden werden konnte. Beides trug dazu bei, daß Dajins Erinnerung an die nächtliche Begegnung nach und nach verschwomme ner wurde. Bis sie irgendwann die Grenze überschritt und sich dort niederließ, wo die verblassenden Träume wohnen. Dort blieb sie solange, bis sich der Traum ei nes Tages hundertfach flüsternd zurückmeldete. Wir haben uns immer noch nicht entschieden! Der Steuereintreiber kam auch beim nächsten Mal un erwartet nach Praiobab. Dieses Mal schickte die Ba ruuna eine Frau. Das Weib ihres Vorgängers hatte gleich nach der ersten Nacht das grün-violette Adern geflecht auf dem Leib ihres Mannes entdeckt. Der Steuereintreiber wußte nicht, wann ihn die Schlange
gebissen hatte, wußte aber, daß damit sein Ende be siegelt war. Das Gift war in seinen Adern, und nichts konnte seine Wirkung ungeschehen machen. Wahr scheinlich gehörten ihm noch Wochen, vielleicht Mo nate, allenfalls ein Jahr oder zwei. Dieses Wissen machte den Mann unleidlich und unzuverlässig, un brauchbar für seine Herrin. Die Baruuna zeigte zwar Mitgefühl für das schlimme Los ihres Bediensteten, aber sie entließ ihn dennoch.
Gegenwart:
Rondirais Tagebuch
Loc: Tuzak Sfu: 3. PER, 25 Hal DPae: Alrik von Sturmfels, Reojin (Schwager meiner Wirtin, weiterer Name unbekannt) bt: erste Ermittlungen, Totenritual Geht mir wieder besser. Mag gar nicht an meine Rück reise denken. Wünschte, ich hätte Flügel! Würde mir eine zweite Reise mit dem Schiff ersparen. Der Kapitän der Seeschwalbe versicherte mir zwar, daß die Gewässer des Maraskansunds außerhalb der Frühjahrsstürme ruhiger seien, bin aber nicht gewillt, ihm zu glauben. Erinnere mich noch genau an sein »Das ist doch noch gar nichts!« als ich – wie seine Besatzung das nannte – Efferd opferte. Seemannshumor! Habe mich hier als Gelehrte ausgegeben, die ein Werk über Dajin VII. schreiben will. Die Erfahrung hat mir gezeigt, daß es das beste ist, möglichst nahe an der Wahrheit zu bleiben.
Kann man weniger Fehler machen. War eine sehr gute Idee, wie sich zeigte! Bin zwischenzeitlich bei unserer hiesigen Niederlas sung gewesen. Wird geleitet von einem Alrik von Sturmfels. Ungeheuer umtriebiger Mann. Würde mich rasend machen, ihn tagein, tagaus um mich zu haben. Sagte ihm nicht, weshalb ich hier sei. Muß reichen, daß er von meinem Aufenthalt hier weiß, damit keine Miß verständnisse aufkommen. Wird seine Gründe haben, daß der Baron mich mit einer Aufgabe beauftragte, die eigentlich in das Ressort des örtlichen Leiters fällt. Von Sturmfels zeigte sich etwas beunruhigt, weil ich ihm nicht mehr sagen wollte, war mir aber gleich. Von Sturmfels warnte mich vor der einheimischen Kost. Rondirai, du dumme Kuh, warum hast du nicht auf ihn gehört!!! Dauerte Stunden, bis ich wieder in der Lage war, etwas zu schmecken! Beunruhigend, wie schnell hier der Klatsch die Runde macht. Als ich vom Besuch unserer Filiale zu rückkam, schien mich bereits jeder zu kennen! Sie nennen mich Haimamutter. Dauerte einige Zeit, bis mir bewußt wurde, daß sich dahinter das tulamidi sche Haimamud verbirgt. Maraskani ist angeblich ein Dialekt unserer Sprache. Werde mir daher nichts mehr dabei denken, wenn die Einheimischen eine Er zählerin als Haimamutter bezeichnen und einen Er zähler als Haimavater. Bin nun auf alles gefaßt.
Meine Bekanntheit, die mir natürlich gar nicht recht ist, hat jedoch auch Vorteile. Muß niemanden wegen dieses Königs Dajin befragen, werde selbst auf ihn an gesprochen. War überrascht, als mich der Schwager meiner Wirtin fragte, ob ich ihm begegnet sei. Versuch te, auf den Busch zu klopfen, und gab an, noch nicht im Binnenland gewesen zu sein. Wollte einfach sehen, ob er etwas über einen Rebellenführer wüßte, der sich auf den Großen König, wie sie ihn manchmal nennen, beru fe. Brachte nichts. Mußte herausfinden, daß der Schwa ger meiner Wirtin in dem sehr kühnen Glauben lebt, Dajin VII., genannt der Fromme, König von Maraskan, weile noch unter den Lebenden! Hab das Gespräch dann bald abgebrochen. Tatili, tatila! Der Mann ist seit zweihundert Jahren tot! Später: Hatte Gelegenheit, ein maraskanisches Be erdigungsritual mitzuerleben. Weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Hat etwas Marktschreierisches. Der Leichnam – einer ihrer vielgerühmten Schmiede, soweit ich weiß – lag auf einer Bahre unter einem ganzen Berg roter Blüten (kundig machen: Jiranblü ten). Dufteten stark. Denke mir, sie machen das we gen des Klimas. Ist nämlich so heiß hier wie in Inge rimms Esse. Die Bahre mit dem Toten wurde durch halb Tuzak getragen. Dabei schrien diejenigen, die ihr folgten: »Seht her, er ist gegangen, seht her, unsere Bruderschwester Alrech (?) ist nicht mehr bei uns!«
Denke mir jedenfalls, daß ihr Rufen das bedeutete. Tatsächlich riefen sie etwas wie: »Bruderschwester Alrech, sehteren asaj! Sehteren her, Benisabaya!« Bisweilen hielt der Zug an, und die Bahre wurde abgestellt, worauf jeder herkam, der in der Nähe war – glaube nicht, daß ihn alle kannten! – und sich den Toten ansah, um dann auszurufen: »Ja, er ist wirklich fort!« Hatte manchmal den Eindruck, daß dieses Absetzen der Bahre durch Zuruf zustande kam, weil sich ein Umstehender überzeugen wollte, daß der Schmied wirklich verstorben war. Einige traten sogar mehrmals hintereinander an die Bahre. Kam mir zuerst arg be fremdlich vor. Folgte dem Zug bestimmt eine halbe Stunde, dann gab ich mich wegen der Hitze geschla gen. Später erschien mir das Ganze nicht mehr so selt sam. Dachte an meine Lieblingstante, die während des Ogerzugs starb. Erfuhr damals nur, daß sie umge kommen war. Punktum. War eben nicht mehr da. Glaubte das lange, lange Zeit nicht. Dachte als Kind immer, sie müßte wieder heimkommen. Hörte ja noch wochenlang ihre Stimme in meinem Kopf, bis sie endgültig verstummte. Stimmt nicht, kann sie immer noch hören, wenn mir danach ist. Konnte als Kind nicht begreifen, daß Cellara deshalb sterben konnte, weil irgendein Fremder behauptet hatte, sie sei tot. Als lebten wir nur auf Grund einer Behaup
tung, eines einzigen, beliebigen Wortes, das von ei nem Tag auf den anderen als nicht mehr gültig er klärt werden kann. War bei Oma nicht so viel anders. Sah sie zwar tot, war aber verzweifelt, als der Karren sie wegbrachte. Sind vielleicht gar nicht so dumm, die Maraskaner: Da liegt er, sieh ihn dir an. Hab keine Zweifel mehr, jeder von uns kann dir bestätigen, un ser Bruder ist nicht mehr! War danach etwas niedergeschlagen. Mußte daran denken, was Füchslein über einen Mohischen erzähl te. Er imitierte ihn ungeheuer drollig: »Sein wichtig, daß immer sagen Namen! Jeder muß wissen, wie du heißen. Wenn jeder wissen, daß du da, dann du da! Wenn niemand mehr wissen, daß du da, dann du nicht mehr da. Du dann tot. Sein wichtig, daß haben Namen.« Brief an Füchslein. Ist immer noch arg verärgert.
Wehen 1. In der Mitte seines vierten Lebensjahrzehnts ging Da jin nach Osten, dorthin, wo die blaßblaue Linie der Berge Land und Himmel trennte. Er handelte in dem Bewußtsein, daß er Praiobab – das neue Praiobab – nicht wiedersähe, ebensowenig Großen Vater und Väterchen, oder Karhimasab, seine zweite Frau. Dajin war zu einem kleinen Mann von schmalem Wuchs herangewachsen, kleiner als Väterchen, kaum einen Schritt und drei Spann groß. Aus seinen hell braunen Augen sprach Nachdenklichkeit. Zu der Zeit, als Dajin ostwärts wanderte, trug er einen Schnurrbart, der nur über den Mundwinkeln sproß, da Dajin die Stelle unter der Nase freigeschabt hatte. Dajin verän derte ständig sein Aussehen. Er trug Schnauzbärte, Kinnbärte, Backenbärte, Vollbärte. Bärte, die manch mal nur schmale Linien waren. Ebenso hielt er es mit seinem Haupthaar, das einmal lang, einmal kurz, bisweilen auch völlig abgeschnitten war. Derzeit trug er das pechschwarze Haar schulterlang.
Am Tag seines Aufbruchs war Dajin in den Wald gegangen, um Fallen zu leeren. Bei zweien wurde er fündig. Zwei Hasen hatten unvorsichtigerweise ihre Köpfchen durch die verborgenen Schlingen gesteckt, und die vorschnellenden Dornen hatten ihre Kehlen durchbohrt. Die letzte Falle hingegen hatte ein ungewöhnliches Opfer gefunden. Ein Echslein mit orangefarbenen Schuppen, der Körper zwei und einen halben Spann lang. Der unglaublich dünne Hals trug einen kugeli gen Kopf mit ledrigen Auswüchsen, die an Ohrmu scheln erinnerten. Die violetten Augen des toten Echsleins blickten starr, seine vierfingrigen Händchen waren im Todeskampf verkrampft. Die Falle mußte beschädigt gewesen sein, denn ihr Dorn war abgebrochen, deshalb hatte sich das Tier chen bei seinem Bestreben, dem gnadenlosen Schick sal zu entkommen, selbst langsam erwürgt. Dajin wußte sogleich, daß die Beute ein Sassin war. Zwar hatte er noch nie einen gesehen, kannte auch niemanden, der je einen erblickt hatte, doch waren ihm Sassins aus Geschichten bekannt. Kleine, geschuppte Tiere mit Ohren. Sie lebten in Tümpeln und sangen wunderbar, waren niedlich und dumm, die dümmsten Geschöpfe, die Rur in seiner Weisheit geschaffen hatte, und sehr selten, beinahe wie Gestalten aus Märchen. Der kleine Mann stand da und blickte auf den Kadaver
des einzigen Sassins, den irgendein Lebender aus Praiobab je gesehen hatte. Er dachte daran, wie das Tierchen unschuldigerweise in eine Falle geraten war, die nicht für es bestimmt gewesen war. Hilflos gefan gen darin, beseelt von dem Willen zur Flucht, der ihm keinen Ausweg erbracht hatte, sondern nur ein lang sames Verenden durch Erdrosseln. Der Mensch wurde traurig. Auf gewisse Weise fühlte er sich der kleinen Echse verwandt. Nach einigen Augenblicken des Gedenkens schul terte Dajin die beiden toten Hasen, die er mit einer Schnur zusammengebunden hatte, und lenkte seine Schritte nach Osten, fort vom heimischen Dorf. Die beiden alten Männer kamen gut ohne ihn zurecht. Großer Vater und Väterchen bestellten ihr Feld, wie sie es immer getan hatten, und sollte der Tag kom men, an dem sie mit ihrer Arbeit nicht mehr zu Ran de kamen, so gab es für sie immer noch die Gemein schaft des Dorfes. Karhimasab auf der anderen Seite hatte ihn ohnehin schon lange verlassen. Sie schien glücklich mit ihrem neuen Gemahl und dessen vier Kindern. »Fehler«, murmelte Dajin, »Fehler.« Er schritt zügig aus, verloren in düsteren Gedan ken. Wann hatte der Fehler in seinem Leben stattge funden? Wie lange schon glich sein Schicksal dem ei nes verirrten Wanderers im nächtlichen Wald? Wann hatte er das Licht aus den Augen verloren?
Dajin dachte an seine Kindheit. Er erinnerte sich, glücklich und fröhlich gewesen zu sein, doch das war lange her. Irgendwann hatte der Wandel eingesetzt. War es damals gewesen, als die große Veränderung für das gesamte Dorf gekommen war? Nein, es mußte früher gewesen sein, berichtigte sich Dajin, als er sich an den Vorabend des einschneidenden Ereignisses er innerte ...
2. Väterchen war außer sich. Wieder einmal stand sein halbwüchsiger Sohn vor ihm, gezeichnet von den Spuren einer Prügelei, Trotz in den Augen. »Warum, Dajin?« drängte Väterchen. »Kaum eine Woche vergeht, in der du nicht in einen Raufhändel verwickelt bist! Großer Vater und ich haben dich das bestimmt nicht gelehrt. Auch dachte ich bisher, Hadi jian sei dein Freund? Warum tust du das?« »Ich weiß nicht«, antwortete Dajin mit verstocktem Gesicht. »Wie oft habe ich das bereits von dir gehört: Ich weiß nicht!« Väterchens Sohn zuckte die Schultern. Er wußte wirklich nicht, warum er sich heute geschlagen hatte. Er kannte nie die Antwort, solange Väterchen seine
Standpauken hielt. Die Gründe für sein Handeln fie len ihm meist erst viel später ein. »Es hat eben plötzlich begonnen.« Väterchen sah Dajin nachdenklich an: »Oder gibt es Gründe, die du mir nicht nennen willst?« »Nein«, entgegnete sein Sohn. Sein Gesicht war ge nauso leer wie sein Kopf. »Ich erinnere mich nur nicht mehr. Hadijian machte mich wütend. Ich glau be, er sagte, ich würde nie und nimmer ein Ka'Schîk.« »Glaubst du nur, daß er das sagte, oder sagte er das tatsächlich?« Dajin sah seinen Vater hilflos an. Hatte Hadijian derlei gesagt? Oder vielleicht gar ein anderer? Ach, könnte er sich doch nur erinnern! Irgend etwas mußte Hadijian ja wohl gesagt haben, sonst wäre nicht wie der diese maßlose Wut über ihn gekommen. »Vielleicht«, murmelte er kleinlaut. »Vielleicht nicht.« Väterchen warf seinem Sohn einen unglücklichen Blick zu: »Du machst mir Kummer, Dajin. Dein Ge müt ähnelt immer mehr dem einer Maraske.« Dajin schmunzelte: »Sie sind prächtige Tiere. Al lerdings habe ich keine acht Beine.« »Weißt du, was sie fressen?« »Einen Pilz!« Was für eine Frage? Jeder wußte das! »Krötenschemel.« »Würdest du diesen Pilz essen?«
»Bei der Schönheit der Dere!« rief Dajin entsetzt aus. »Wie käme ich dazu? Er ist doch giftig, Väterchen!« »Das ist er, Söhnchen. Welches andere Tier frißt außer den Marasken noch Krötenschemelpilze?« Dajin sah seinen Vater forschend an. Worauf wollte Väterchen hinaus? »Keines.« »Warum greifen Marasken an, Söhnchen?« »Weil sie ihre Pilze verteidigen wollen«, antwortete Dajin mit belegter Stimme. »Ich verstehe, was du meinst, Väterchen.« Die Spinnentiere verteidigten erbittert etwas, das niemand wollte. Ihre Wut war vollkommen sinnlos. »Aber ich hatte bestimmt einen Grund!« beteuerte Dajin. Seine Väter mußten angenommen haben, er schlie fe, Dajin hörte sie jedoch miteinander reden. Großer Vater sprach an diesem Abend ungewöhnlich viel. »Erinnere dich einfach daran, wie glücklich wir waren, als wir ihn fanden, auch wenn er uns jetzt das Leben vergällt ... Was? Sag das nicht laut, Väterchen! ... Ja, auch ich habe bereits daran gedacht. Aber Dajin war ein liebes Kind, als er klein war. Wäre er so einer, hätten wir das früher bemerkt.« Was für einer? dachte Dajin. Was meinte Großer Vater mit der Bemerkung? Angestrengt lauschte er, damit ihm kein Wort mehr entginge. Doch offenbar
gedachte keiner seiner Väter, diesen Punkt weiter zu erörtern. »Er macht eine Zeit durch«, sprach Großer Vater weiter. »Auch ich hatte in meiner Jugend manche Rauferei.« »Sicher«, pflichtete nun Väterchen bei. »Aber andere Kinder wissen, wann sie aufhören müssen. Dajin weiß das nicht. Gesteh's dir ein, er ist ein Raufbold gewor den. Sieh, wie er Hadijian mitspielte, der angeblich sein Freund war. Ich mache mir Sorgen um unseren Sohn. Wie ich heute hörte, hat er sich in den Kopf gesetzt, wie wir Ka'Schîk zu werden. Das wird er nie werden, wenn er sich nicht ändert. Praiobab bekäme anson sten einen Tyrannen, und eher vertriebe man unseren Sohn, als das zuzulassen.« Aus dem Munde von Väterchen schmerzte dieses Urteil viel mehr als aus dem Munde von, nun, wer immer dasselbe gesagt haben mochte. Dajin krallte seine Nägel in die Handflächen. Was konnte er denn dafür? Hadijian hatte ihn gereizt, alle hatten ihn ge reizt. Er hatte sie nicht sinnlos geschlagen, es hatte Anlässe gegeben. Sicherlich, vielleicht hätte er anders handeln, einen Scherz machen oder einfach nicht hinhören sollen. Doch in ihm war wieder dieses Ge fühl gewesen, das er nicht beschreiben konnte und das ihn dennoch zwang, diese seltsame Mischung aus Unrast und Unbehagen.
Daß das Nichtbeschreibbare aber nun auch seine Väter in Mitleidenschaft zog, bekümmerte Dajin. Zwar fürchtete er nicht mehr, wie in Kindertagen, daß ihn Großer Vater und Väterchen dorthin zurück brächten, wo sie ihn gefunden hatten – in den Wald, unter den Jiranstrauch – doch ihr Leid war sein Leid. Eine eisige Kälte breitete sich in Dajin aus. Jählings offenbarte sich ihm, was Väterchen gesagt haben mußte, und Großer Vater, wie so oft, nicht laut aus gesprochen haben wollte. So einer! So einer, den man im Walde findet, der zu nieman dem gehört. Ein Dschinnenkind. Nein, dachte Dajin, ich bin kein Wechselbalg. Mei ne Eltern sind Großer Vater und Väterchen. Ich will ihr Leben nicht vergällen! Ich gehöre nach Praiobab! Gleich morgen würde er seinen Vätern Besserung geloben und sich danach bei Hadijian entschuldigen. Jedenfalls, wenn dessen Eltern und Geschwister ihn, Dajin den Ruchlosen, zu Hadijian vorließen, was zweifelhaft war, denn immerhin hatte er heute dem älteren Jungen das Knie zerschmettert.
3.
Da der nächste Tag die große Veränderung brachte, wurde Dajins Entschluß auf nimmer vertagt. Im Mor gengrauen kam ein Gesandter der Baruuna ins Dorf. Keine Lastenträger begleiteten ihn, dafür ein rundes Dutzend Bewaffneter. Der Gesandte sprach einige Zeit mit Dajins Vätern. Danach riefen die Ka'Schîks die Praiobaber auf dem Dorfplatz zusammen. Stockend, die Gesichter grau vor Sorge, verkündeten Großer Va ter und Väterchen den Willen der Baruuna. Während sie abwechselnd sprachen, standen die Soldaten da bei, unübersehbar peinlich berührt, dennoch bereit, dem Willen der Landesherrin Nachdruck zu verlei hen, sollte das nötig sein. Väterchen und Großer Vater erzählten zunächst von der Steuereintreiberin. Bei ihrem letzten Besuch hatte die Frau ein paar Steine mitgenommen, die sie dem Alchimisten der Baruuna übergeben hatte. Der ehrgeizige Gelehrte hatte vor allem Blei in den Brok ken gefunden, doch auch erhebliche Spuren von Sil ber. Das hatte er seiner Herrin erzählt, die Augen leuchtend in einem kalten Schimmer und mit wohl überlegtem Klang der Stimme. (»Hört, Edelste der Edlen, dieser Schatz liegt überall in diesem Pra... Bar..., nun, wie immer das Dorf heißen mag, herum! Nicht einmal Minen muß man zu seiner Förde
rung bauen, es reicht völlig aus, mit einem Korb über die Felder zu gehen und diesen Schatz – Euren Schatz – ein zusammeln! Doch ein untrügliches Gefühl sagt mir« – sei ne Stimme senkte sich verschwörerisch – »daß bei solcher Prasserei die Silberschwester nicht allein haust. Ihr mögt an Gold denken« – das klang beinahe gelangweilt – »nun, ich auch, obwohl ich Euch derlei nicht versprechen kann. Ich aber« – ein Tremolo schlich sich in die mit jeder Silbe lauter werdende Stimme ein – »Ich denke an Endurium und Marboblei!«) Nach dieser freudvollen Eröffnung bedurfte es kei nes weiteren Wortes, um die Baruuna ihren Ent schluß fassen zu lassen. Sie sah sich bereits als reich ste Dame des Königreichs und schwelgte in glän zend-glitternden Träumen. Erst nachdem sie ihre Be fehle erteilt hatte, ließ sie sich von ihrem Alchimisten erklären, was er eigentlich unter Endurium und Mar boblei verstünde. Von den Einzelheiten dieses Gesprächs erhielten die Praiobaber selbstverständlich keine Kenntnis. Sie erfuhren nur, was ihre Ka'Schîks ihnen mitzuteilen hatten: »Die Baruuna befiehlt uns, Praiobab zu verlassen und ein neues Dorf zu erbauen. Dieses soll nicht nä her als vier Meilen an unserem jetzigen Zuhause lie gen, auch ist uns danach nicht mehr erlaubt, die Fel der unserer Ahnen zu bestellen. Die Herrin gibt uns
zwei Monde Frist. Für unser Ungemach erläßt sie uns die Steuern für ein Jahr.« Somit verließen die Praiobaber das Dorf, das vor Jahr hunderten die Kinder des fernen Kaiserreiches als Praios-sei-mit-uns gegründet hatten, in das nach ih nen die Kinder Rurechs gezogen waren, die nicht nur den Namen des Dorfes veränderten, so daß ihnen der fremde Klang leichter über die Lippen kam, sondern auch seine Häuser, damit sie Zelten ähnlicher wur den. Zwei Monde war eine lächerlich kurze Zeit. Für das neue Dorf mußte ein Ort gewählt werden, der eini germaßen schnell zu roden war, danach mußten auf dem Walde abgetrotzten Land Hütten erbaut werden. Die Zeit bis zur Umsiedlung verbrachten die Solda ten in Praiobab. Man sprach nicht mit ihnen und gab ihnen nur das, was sie ausdrücklich verlangten. Als die Praiobaber nach zwei Monden ihr altes Dorf ver ließen, blieben die Soldaten zurück. Ihre Aufgabe be stand darin, darüber zu wachen, daß die Praiobaber nicht die Steine von ihren Feldern stahlen. Bereits ein und eine halbe Woche nach dem Auszug der ursprünglichen Bewohner trafen die Fremden ein. Sie kamen unter Bewachung: Hungerleider, säumige Schuldner, Diebe, verurteiltes Gelichter. Davon gab es zu der Zeit immer mehr auf Maraskan, da der König wegen seiner neuen Flotte die Steuern in schwindel
erregende Höhen getrieben hatte. Manch einer seiner Vasallen dachte insgeheim, daß es auf die Dauer bil liger käme, ein Heer gegen den König auszuheben und das Land in einen Bruderkrieg zu stürzen. Doch Maraskan war des Mordens müde. Nachdem die Jünger des Todespropheten Zaboron von Andalkan in ihrem Bestreben, die Schönheit der Dere dadurch zu mehren, indem sie jeden umbrachten, der ihrer Meinung nach diese Schönheit minderte, in den letz ten Jahren keine Schranken mehr gekannt hatten und ihnen viele kühne Geister der Insel zum Opfer gefal len waren, schien das furchtbare Treiben ihrer Sekte langsam abzuklingen. Wer konnte auch wissen, daß ein Teil von Zaborons Schülern zum Vatermord auf gerufen hatte, daß seine Jünger sich nun gegenseitig mordeten und die Gewinner dieses Kampfes aus ei ner düsteren Strömung des Rur-Gror-Glaubens ein Gewerbe machen sollten? Unmittelbar nach ihrer Ankunft – das wußten ju gendliche Späher aus dem neuen Praiobab zu berich ten – begannen die Fremden mit Bauarbeiten. Was sie erbauen wollten, war nicht zu erkennen, allemal etwas Großes. Doch bereits nach sechs weiteren Wochen hör ten die Bautätigkeiten auf, und die fremden Arbeiter wurden wieder dorthin zurückgebracht, wo man sie hergeschafft hatte. Die Soldaten blieben noch für ein weiteres Vierteljahr, dann verschwanden auch sie von
einem Tag auf den anderen. Für fast ein Jahr geschah nichts mehr. Bisweilen besuchten die Praiobaber niedergeschla gen ihre ehemaligen Äcker, die der Wald Furche um Furche zurückeroberte, oder gingen in ihre alten, zu sehends verfallenden Häuser. Obwohl sich darin zu hauf die wahren Gebieter des Landes niedergelassen hatten, waren sie immer noch schöner als die neuen, rasch errichteten Hütten. Die einstigen Bewohner des verlassenen Dorfes suchten in ihrem früheren Zuhause Antworten, die ihnen niemand gab, versuchten zu be greifen, warum ihnen die Baruuna ihr glückliches Le ben weggenommen hatte. Die drängende Frage wurde erst beantwortet, als das Jahr verstrichen war und abermals Bewaffnete kamen. Wie gewohnt ging Väterchen der Anführerin entgegen, um ihr Begehr zu erfahren und dieses den anderen Dorfbewohnern zu übersetzen. Doch die Frau verstand ihn nicht. Sie sprach nur die Herrschafts sprache des Nordens. Die Kriegerin hatte ihren eigenen Übersetzer mit gebracht, einen einarmigen Mann mit breitem, flächi gem Gesicht ohne sonderlich einprägsame Konturen. Mit rauher, ein wenig schnarrender Stimme, über setzte er ihre Worte. Praiobab gehöre jetzt nicht mehr der Baruuna, er läuterte er, sondern dem Baruun. Nein, das sei nicht
ihr Gemahl, führte er aus, sie seien überhaupt nicht miteinander verwandt. Was war zwischenzeitlich geschehen? Obwohl kei ner der Mächtigen Maraskans Neigung zeigte, eine Allianz zu schmieden, um die Insel in einen Bürger krieg zu stürzen, hatten doch einige der kleineren Po tentaten unabhängig voneinander aufbegehrt. Also hatte der König abermals die Steuern erhöhen müs sen, um die Aufstände niederschlagen zu können. Nicht um sehr viel, doch in ausreichender Höhe, um die Baruuna in eine Zwickmühle zu bringen. Da lag nun dieser riesige Schatz im abgelegensten Winkel ihrer Domäne, doch ihr fehlte einfach das Geld, den vermaledeiten Ort genügend zu befestigen und die benötigte Anzahl von Wachen für die ständi gen Karawanen mit Silber, Gold, Mondblei und Eter nium (oder Endurium?) bereitzustellen! Das Leben war grausam zu ihr! Nur zwei Möglichkeiten schienen sich der Baruuna zu bieten. Die eine bestand darin, sich über Jahre mit Brosamen ihres Vermögens zufriedengeben zu müs sen, ständig bangend, daß ihr nicht eine der zahlrei chen Banden diese bescheidenen Krümel stähle oder gar ein raubgieriger Nachbar den ganzen Schatz. Die se Kleckerei kam keinesfalls in Betracht! Die Baruuna sah sich selbst als reiche Frau der Gesellschaft und nicht ihre künftig reiche Tochter.
Die andere Möglichkeit war die, bei einem der im mer dreister werdenden, fast schon tulamidischen Geldverleiher zu buckeln und zu kriechen und der verabscheuungswürdigen Kreatur Dinge zu offenba ren, die sie überhaupt nichts angingen. Das kam auch nicht in Frage. Einen Ausweg zeigte einer, der jüngst am Hof der Baruuna steil aufgestiegen war und sich nun bedenk lich nahe am Rande eines klaffenden Abgrunds wähn te, nämlich der Alchimist der Baruuna. Seinem Rat fol gend, tauschte sie den abgelegenen Zipfel ihrer Domä ne mit einem ihrer Nachbarn, für den die Gegend um Praiobab ein wenig leichter zu erreichen war, gegen ei nen gleichfalls abgelegenen Winkel von dessen Gebiet. Daß die beiden Dörfer, die die Baruuna bei dem Tau sche erhielt, von ihr aus überhaupt nicht mehr zugäng lich waren, spielte bei dem Handel keine Rolle. Für die Baruuna zählte nur die Ablösesumme, die ihr der Nachbar für ihren Schatz zu bezahlen hatte. Das war zwar nicht das Vermögen, das sie sich erträumt hatte, reichte jedoch hin, ihr das Alpdrücken zu nehmen. Dem neuen Besitzer der Praiobaber hingegen berei tete die erhebliche Menge Goldes, die er aufzubrin gen hatte, keinen unruhigen Schlaf. Zum Erreichen des höheren Ziels hätte er – der den Gang zu den Geldverleihern kein bißchen scheute – auch noch sei ne Enkel verschuldet.
Bis hierhin hatten die Geschäfte der Mächtigen – von denen die Praiobaber auch wieder nur einen Teil erfuhren – keine neuen Auswirkungen auf die Ge schicke der Dörfler. Ihre bisherige Heimat hatten sie ja schon vorher verloren. Die Baruuna war jetzt eben ein Baruun, und daß der sich von Zerbelhenne zu Zer behuab nannte, war kein wichtiges Detail. Man hatte ja auch nicht so recht gewußt, wovon die Baruuna überhaupt Baruuna war. Folgenreicher war da schon, daß man am Hofe des Baruuns von Zerbehuab die Sprache des Nordens sprach. So weit im Süden des Landes war das unge wöhnlich, doch pflegte der Baruun damit eine Fami lientradition, die vor über vierhundert Jahren mit dem ersten Träger des Titels begonnen hatte, einem Abt-Weibel des priesterkaiserlichen Heeres, der mit seinen wortgewaltigen Stabspredigten einige einfluß reiche Leute verprellt hatte. In einem Anflug hinter hältigen Humors hatten diese dafür gesorgt, daß der Ahn des Baruuns just in dem Land ein Lehen erhielt, von dem er jede Krume verabscheute, damit er De mut lerne. Die Auswirkungen des Handels faßte der flachge sichtige Übersetzer für Großen Vater, Väterchen und die restliche Dorfgemeinschaft knapp zusammen: »Nun kann es natürlich nicht angehen, daß ihr, Ka'Schîks, die Abgesandten eures Herrn nicht mehr
versteht. Das wäre gerade so, als verstünde die Hand nicht mehr, was der Kopf will, oder der Ochs nicht mehr, was ihn der Bauer weist. Daß dabei nichts Gu tes herauskommt, wißt ihr selbst! Deshalb hat der Ba ruun in seiner Weisheit beschlossen, euch von eurer schweren Pflicht zu entbinden, auf daß ich, der ich sowohl euch als auch den Baruun verstehe, an eure Stelle trete und eure bisherige Last auf meine Schul tern lade. Doch werdet ihr mich künftig nicht Ka'Schîk nennen, sondern statt dessen schlicht Verwal ter. Weiterhin wird auch kein Steuereintreiber mehr bei euch vorbeikommen. Derlei Abgaben sind euch künftig erlassen.« An dieser Stelle hatte der Übersetzer seine Worte angehalten, abwartend lächelnd. Wenn er damals wirklich auf den Jubel der Praiobaber gewartet hatte, so wurde er enttäuscht, denn während des letzten Jahres hatte man im Dorf das Mißtrauen erlernt. Zu Recht, wie sich zeigte, als der neue Verwalter weiter sprach: »Es wird reichen, wenn ihr die, die kommen werden, mit Nahrung versorgt.« Auch wenn die Praiobaber noch nicht ahnten, wie viel die Minenarbeiter und die Besatzung des bald darauf erbauten kleinen Forts künftig von ihrer Ernte verschlängen, so klangen diese Worte von Anfang an nicht gut in ihren Ohren ...
Das war ein trauriger Tag für Großen Vater und Vä terchen gewesen! erinnerte sich Dajin. Bald so schlimm wie der, an dem er ihnen mitgeteilt hatte, daß er nicht mehr bei ihnen wohnen wolle. Die Väter hatten zwar immer behauptet, daß Ka'Schîk zu sein in diesen Tagen nicht mehr viel bedeute, doch die Abschaffung des Amtes hatte sie härter getroffen, als ihre früheren Worte erwarten ließen. Als hätte man seinen Vätern urplötzlich ihren Platz in der Dorfge meinschaft genommen, dazu noch die Hälfte ihrer Würde. Dajin verzog mißmutig das Gesicht. Er selbst war den Vätern damals bestimmt keine Stütze gewesen. Er war zu der Zeit viel zu sehr mit sich selbst beschäf tigt. Damit, das umzusetzen, was er sich in der Nacht vorgenommen hatte, bevor den Praiobabern gesagt worden war, daß sie ihr früheres Dorf verlassen muß ten. Doch wie schwer der Weg vom Vorsatz zur Tat gewesen war! Der Umzug vom schönen alten Dorf in den schnell erbauten Behelf, die Zeit vorher und das anschlie ßende Jahr, während dessen größten Teils der Umzug keinen Sinn mehr gehabt zu haben schien, war alles andere als harmonisch verlaufen. Das ganze Dorf war ständig gereizt. Jeder kämpfte auf seine Weise erbit tert gegen das Schicksal, gegen das sich nicht an
kämpfen ließ. So viele harte Worte, so viele Streiterei en hatte das alte Praiobab in seiner gesamten Ge schichte nicht gehört wie das neue Praiobab in den ersten Monden! Der Dorfseele wurden damals Wun den geschlagen, die Jahre brauchten, um zu verhei len. Dajin schüttelte noch im nachhinein den Kopf. Die Zeit, als die Praiobaber ob ihrer Ohnmacht in Hader, Streit und Kampf entzweit waren, war keine günstige Zeit, den Weg zur Besonnenheit zu finden für jeman den, der schon vorher gekämpft hatte, der gelernt hatte, seine Streitereien dadurch zu gewinnen, daß er bereit war, ein Stück weiter zu gehen als die Gegen seite ihm zutraute. Doch diese äußeren Umstände hatten damals schon nicht für eine Entschuldigung getaugt! Auf unbe herrschte Ausbrüche folgte Reue, auf sturmgepeitschte Gipfel folgten verschlingende, schwarze Abgründe. Die Väter hatten im Laufe des Jahres resigniert. Vä terchen hielt keine Strafpredigten mehr, und das nie beantwortete ›Warum, Dajin?‹ wurde nur noch ein mal gehört. Etwa zu der Zeit als der Verwalter kam – Dajin hoffte, daß es davor gewesen war – hatte Dajin den Vätern eröffnet, daß er sich eine eigene Hütte erbauen wolle. Väterchen hatte die oftmals gehörte Frage ge stellt. Dajin erinnerte sich nicht mehr, was er darauf
geantwortet hatte, doch war es bestimmt nicht die Wahrheit. Großer Vater hatte vorgeschlagen, der Sohn solle sich statt dessen lieber ein Weib suchen, man könne dann dem Haus einen Anbau hinzufügen, in dem Dajin und seine Erwählte wohnen könnten, wie es der Sitte entspräche. Hätte das etwas geändert, fragte sich Dajin, wenn er damals Großen Vaters Rat befolgt hätte? Vielleicht, doch wahrscheinlich nicht. Schließlich hatte Idrajida, als sie ihm mitteilte, daß sie nach Tzab zurückzukeh ren wünsche, beinahe wörtlich denselben verletzen den Grund genannt wie Karhimasab einige Jahre spä ter. Also hatte er sein eigenes Heim erbaut. Dank der Hilfe der Väter – die einzige, die gewährt wurde – wurde es hübscher als deren eigenes. Die beiden Männer ließen ihre ganze Liebe in das neue Zuhause ihres Sohnes einfließen, als gälte es, ihn für immer zu verlieren, als wohne er nicht nur künftig am anderen Ende des Dorfes. Er, Dajin, war in das kleine Häu schen eingezogen, doch nicht um dort die Antwort auf Väterchens ›Warum?‹ zu finden, denn die kannte er mittlerweile. Oft genug hatte er sie in Worte gefaßt, doch nie gewagt, sie auszusprechen: »Ein Unbehagen ist in mir. Als trüge ich ständig Kleidung aus schlecht gewebtem Stoff, die entweder zu eng für mich ist oder viel zu weit.«
Selbst jetzt, fast zwanzig Jahre später, wagte Dajin das nicht. Denn immer noch brannte auf seiner Seele das Makelwort: Dschinnenkind. Mit dem neuen Zuhause kam tatsächlich eine Ver änderung. Aber nicht der Umzug war dafür verant wortlich, sondern ein Gespräch, das Dajin mitangehört hatte. Einem lange nicht mehr dagewesenen Händler hatten einige Dörfler erklärt, warum jetzt alles anders sei. Sie erzählten, was der Verwalter berichtet hatte: Praiobab hatte deshalb einen neuen Herrn, weil der König die Steuern erhöht hatte, damit er einen Hän del mit anderen Herrschaften führen konnte. Irgend jemand hatte eingeworfen: »Er heißt auch Dajin!« Auch! Dajin war darüber so betroffen, daß er sein neues Heim einen halben Mond nicht mehr verließ. Als sei ne Väter kamen, um nach ihm zu sehen, erklärte er nur: »Ihr hättet einen besseren Sohn verdient.« Nachdem die zweiwöchige Klausur vorüber war, war Dajin von dem Willen beseelt, jeden Streit beizu legen, den er angezettelt hatte, und das Leid wieder gutzumachen, das er zugefügt hatte. Dieses Mal hielt er sich streng an seinen Vorsatz. Sehr viel später sagte man, er sei wie ausgewechselt, und beglückwünschte seine Väter, daß ihr Sohn seine Launen überwunden habe. Erst wenige Tage vor Dajins Aufbruch hatte Hadi
jian seinen ungläubigen Kindern noch erklärt, woher sein Hinken rührte und wie roh und ruppig sein Ju gendfreund früher gewesen sei. Dajin, der dem Ende seiner Zukunft entgegenging, stöhnte lautlos. Wie sehr sie damals alle irrten! Das Unbehagen in ihm war immer noch da, und den zerstö rerischen Zorn, den es hervorbrachte, hatte er niemals überwunden. Der Zorn hatte sich nur ein viel, viel näheres Ziel erwählt. »Glücklich?« murmelte Dajin voller Zweifel. »Viel leicht war ich nicht einmal als Kind glücklich. Viel leicht kannte ich das Unglück nur deshalb nicht, weil ich ihm noch nicht begegnet war.« Die Formulierung kam ihm seltsam vertraut vor. Dajin zog die Stirn in Falten und überlegte kurz, wann er etwas Ähnliches schon einmal gehört hatte. Als ihm kein Anlaß einfiel, wischte er den Satz aus seinen Gedanken. Die Ver gangenheit war noch unwichtiger als die Gegenwart. Und die Gegenwart ließ sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Die letzten Jahre hatten nichts an deres getan als vorüberzugehen. Als Dajin gewahr wurde, daß er seit mehreren Stunden zielstrebig nach Osten wanderte, lachte er laut auf. Er blieb stehen und starrte in das grüne Dik kicht. Zwischen den großen Blättern sprossen Blüten mit schwächlichen und verwaschenen Farben. Um das zu tun, was er zu tun gedachte, mußte er sich
nicht erst stundenlang vom Dorf entfernen. Dafür gab es überhaupt keinen Grund. Dajin dachte an die kleine Echse. Ich bin wirklich wie der Sassin, dachte er in grim miger Belustigung. Das Echslein mußte gemerkt ha ben, daß es kein Entrinnen aus der Falle gab, als es sich langsam erdrosselte, mußte erkannt haben, daß jeder Versuch, ihr zu entkommen, seine Not vergrö ßerte. Sassins waren entweder wirklich sehr dumm oder konsequent. Darüber lohnte sich nachzudenken. Wir werden sehen, dachte Dajin und beschloß, so lange weiterzugehen, bis ihm kein weiterer Gedanke mehr einfiele. Sechs Tage lang wanderte er in Richtung der Berge. In der zweiten Nacht stahlen ihm Affen den Schnitter, was ihm jedoch einerlei war. Am sechsten Tag traf der Wanderer seinen Erlöser.
4. Vegsziber war ein kleiner Mann, ein Handwerker aus einfachen Verhältnissen, der es zu Wohlstand gebracht hatte. Gar manches Haus hatte er im Laufe seines Le bens erbaut, große wie kleine. Manchmal, wenn Vegs ziber durch die Straßen seiner Heimatstadt Boran
schlenderte, blieb er mit verliebtem Blick vor den Zeugnissen seiner Hände Arbeit stehen oder betrat die Häuser, um ihre Bewohner zu fragen, ob sie auch gut darin lebten. Als Vegsziber schon fünfzig Jahre zählte, erlernte er das Lesen. Die anfänglich recht mühsame Kunst ging Vegsziber genauso an wie früher den Bau eines Hauses. Es gab guten Grund, der fest und eben war, wo sich leicht drauf bauen ließ, und anderen, der ab schüssig war oder so weich, daß dicke Pfähle in den Boden gerammt werden mußten, um sicherzustellen, daß sich das Haus nicht nach ein paar Jahren zur Sei te neigte. So war das eben. Manchmal ging das Bauen leicht, manchmal sehr schwer, doch vollendet werden mußte die Arbeit, denn schließlich wollte in dem Haus ja jemand wohnen. Nicht anders war das mit dem Lesen. Vegsziber war nicht sehr wählerisch in seiner Lek türe. Er nahm was sich ihm bot. Er kämpfte sich durch die Schriften der Schüler des stillen Zendajians ebenso entschlossen wie durch die kühnen Gedanken Zendajians des Täuschers. Was Vegsziber nicht verstand, das sprach er sich solange vor, bis aus den Worten Welten wurden. Am liebsten las Vegsziber dort, wo seine Gesellen gerade bauten. Nicht während sie arbeiteten, sondern danach, wenn die Baustelle still und verlassen lag.
Oft genug konnte man dann den kleinen Mann auf einem Balken sitzen sehen, die Füße baumelnd, und hören, wie er sich laut erzählte, was er gerade las. Denn auf eine leicht erfaßbare, aber schier nicht er klärbare Weise gehörte für Vegsziber beides zusam men, das Lesen und das Bauen. Nachdem Vegsziber fünf Jahre so gehandelt hatte, beschloß er, sich ein neues Haus zu errichten, doch keines aus Holz und Stein. Seiner Frau empfahl er, künftig seinen Bruder zu plagen, dasselbe riet er sei nen beiden Geliebten. Zu seinen Kindern, mit denen Vegsziber seit Jahren keinen Satz gewechselt hatte, in dem nicht von Geld und Gold die Rede war, sagte er, sie könnten nun alles haben, was er besäße, weshalb es nicht weiter nötig sei, daß man sich gegenseitig mit leeren Worten quäle. Was er denn vorhabe, fragte man den kleinen Mann besorgt. »Mich meines restlichen Lebens erfreuen und Prie ster werden«, antwortete Vegsziber froh. Da hielt man ihn zum ersten Mal für verrückt. Nun, das sei ja gut und schön, vermutlich auch sehr löblich, hieß es. Aber warum er denn dazu aus gerechnet nach Tuzak müsse, zur anderen Seite der Insel, begehrte man zu wissen, zumal ja Boran, die Heilige, voll von Tempeln stünde? Vegsziber entgegnete darauf: »Den Sonnenaufgang
aus dem Meer vor Boran habe ich meiner Lebtag ge sehen, nun dürstet mich nach einer anderen Sicht!« Das war dann auch das zweite Mal. Vegsziber reiste also, wie beschlossen, nach Tuzak und wurde mit der Zeit ein Priester der Zwillinge. Er blieb meist im Tempel, denn für das anstrengende Leben eines Wanderpriesters war er zu alt. Das störte Vegsziber nicht. Im Tempel gab es so viel zu lesen, und in der Königsstadt fand sich fast immer ein Ort, wo jemand gerade baute. Einmal im Jahr kehrte Vegsziber zurück in die Stadt seiner Geburt. Teils, um nach seinen Häusern zu sehen, teils, damit seine Anverwandtschaft die Köpfe schütteln könnte und wieder etwas miteinan der zu reden bekäme. Während seiner Reisen verhielt sich Vegsziber bei nahe wie ein Wanderpriester Rurs und Grors. Zu Fuß wanderte er von Dorf zu Dorf. Wurde in einer der Siedlungen auf seinem Wege gerade gebaut, so half Vegsziber mit guten Ratschlägen oder legte selbst Hand an. Falls nicht, so besah er sich die Häuser der Ortschaft, lehrte, wie man etwas leichter oder besser hätte fertigen können, oder ließ sich unbekannte Knif fe erklären, die die Einheimischen selbst herausge funden hatten, um das Erlernte in den Dörfern auf seiner weiteren Reise zu verbreiten. Doch er benahm sich nur beinahe wie ein Wander
priester, denn Vegsziber kleidete sich auf seiner Wanderung nicht in das traditionelle Gewand dieses Standes, das aus der Ferne gesehen von verwasche nem Grau zu sein scheint, doch aus der Nähe in zahl losen Farben schillert. Statt dessen trug der Priester seine frühere Kleidung, nämlich die eines zu Wohlstand gekommenen Handwerkers, von der der kleine Mann wußte, wie gut sie ihm stand. Der Hauptgrund hierfür dürfte sicher gewesen sein, daß Vegsziber damit bedeuten wollte: »Ich zähle zwar sechzig Jahre und bin ein ernsthafter Priester der Zweie, doch ich bin keineswegs vergeistigt!« Daß der Verzicht auf das schützende Gewand auch Nachteile hatte, lernte Vegsziber, als er auf schwieri ge Gesellschaft traf. Dajin hörte den Streit schon von weitem. »... daß das Gewand täuscht. Ich bin nur ein einfa cher Priester.« »Sicher bist du das, Alterchen. Alle Priester tragen jetzt feinen Zwirn. Sie werden in Sänften durchs Land getragen, ergötzen sich auf Bällen und stecken ihre Dinger überall rein.« »Wir sind nicht alle gleich, Bruderschwester. Trotzdem brauchst du nicht so roh daherzuschwat zen.« »Das kannst du haben, ma'sarrar Schazak! Nun
freiwillig her mit den Klimperscheiben, sonst geht's ganz übel aus! Und zwar alles, nicht daß wir dir noch den Wanst aufschlitzen müssen, um nachzuprüfen, ob du auch nichts versteckt hast und ehrlich zu uns warst!« Dajin schlich vorsichtig näher zum Ort des Ge schreis. Sachte bog er die Zweige auseinander und blickte auf einen Weiher, an dessen Ufer Rohr wuchs. Ein Pfad führte an ihm vorbei. Dort standen ein hal bes Dutzend Männer und Frauen, die einen ältlichen kleinen Mann, der noch einen Kopf kleiner als Dajin war, umzingelt hatten. Ihr offensichtlicher Wortfüh rer trug ein kollerartiges Wams mit dicken Lederwül sten. »Dann wird's wohl das Einfachste sein, Bruder schwestern, ich ziehe mich vor euch aus, und ihr seht selbst nach, ob ihr etwas benötigen könnt«, sagte eben das Opfer des Überfalls. »Denn seht ihr, ich habe mich mit den Jahren an meinen heilen Wanst gewöhnt.« »Aber komm nicht auf schräge Gedanken, sobald du deiner Buxe ledig bist!« warnte ihn eine der Frau en gackernd, womit sie herzhaftes Gelächter auslöste. Dajin trat aus dem Unterholz hervor. »Laßt ihn in Ruhe«, sagte er. Daß die Strolche zu sechst waren und mindestens Dolche, wenn nicht gar Schnitter besaßen, kümmerte ihn nicht. Angesichts des Weges, den er beschritten
hatte und dessen Ende er entgegenstrebte, waren Be denken um die Unversehrtheit von Leib und Leben lächerlich. Der Wortführer der Bande zog erstaunt die Augen brauen hoch: »Was ist das denn? Noch so ein frecher kleiner Mann! Übt ihr Zwerge den Aufstand? Troll dich, Bruder, das ist nicht dein Geschäft! Geh in dei nen Wald, pflück Beeren, sammle Pilze oder ein paar Käfer und bereite dir ein nettes Süppchen zu!« »Das will ich gerne tun«, entgegnete Dajin. »Du und deine Bruderschwestern können auch gerne et was von der Suppe abhaben. Bestimmt finde ich noch ein paar giftige Pilze. Doch zuerst laßt ihr ihn gehen.« Sein Gegenüber legte den Kopf auf die Seite: »Da spuckt einer große Worte! Ich denke, der eine sollte nun gehen. Husch! Husch! Wir wollen ja nicht, daß es handgreiflich wird und am Ende einer von uns bei den stirbt.« »Im Unterschied zu dir ist mir der Ausgang gänz lich einerlei«, entgegnete Dajin. Ohne Vorwarnung griff er den erheblich größeren Mann an wie ein wildes Tier. Er sprang ihn an und schlug gleichzeitig zu. Im selben Moment, als sein Fuß voller Wucht die Kniescheibe des Wegelagerers traf, fand auch die Faust ihr Ziel. Sein Opfer ging au genblicklich zu Boden. »Und nun ...«, sagte Dajin zu dem Gefällten, doch
zu mehr kam er nicht. Ein mörderischer, sinnenrau bender Schlag eines anderen Strolches fegte auch ihn von den Beinen. »Ch'Azuul!« heulte der Anführer der Bande, eine Hand vor dem blutenden Gesicht, die andere an dem beschädigten Knie. »Der Schazak hat mir die Nase zerschmettert, vielleicht auch das Bein! Ich will ihn tot haben, tot, tot, tot!« Das hätte er seinen Spießgesellen nicht erst sagen müssen. Sie wußten, was zu tun war und waren schon dabei, nach Leibeskräften den Störer ihres klei nen Überfalls mit Fußtritten zu bedenken und auf ihm herumzutrampeln. Vegsziber nützte den Augen blick und stahl sich davon. Er rechnete nicht damit, daß sich der Zwischenfall günstig auf die Gemüter der Strauchdiebe auswirkte. Erst nach einer Weile fiel der Bande auf, daß die Hauptperson des Geschehnisses verschwunden war. Sie fluchten, riefen »Wo ist die verdammte Wachtel!« und suchten das Umfeld nach ihrem ursprünglichen Opfer ab. Als sie nicht fündig wurden, kehrten sie zu rück und stillten ihren Zorn solange an dem, der ihren Plan vereitelt hatte, bis sich ihre Wut gelegt hatte. Danach suchten sie übellaunig über den verdorbenen Tag das Weite. Als sie fort waren, kroch Vegsziber aus seinem Versteck hervor und untersuchte besorgt seinen Ret
ter. Viel Heiles konnte nicht mehr in ihm sein. Vor sichtig betastete der Priester den leblosen Körper, leg te sein Ohr an die Brust und schob mit spitzen Fin gern Dajins Lider zurück. Vegsziber erhob sich, ver schränkte die Arme hinter dem Rücken und wander te unglücklich auf und ab. »Dieser junge Narr!« dachte er. »Dieser junge Narr! Sie hätten mich doch gehen lassen, wenn sie nichts gefunden hätten! Was hast du nun davon? Bruder Boron braucht seinen Finger nur noch ein wenig zu krümmen, und schon bist du aus dem Leben ge schubst. Sicher, du wolltest mir helfen, Bruderschwe ster, doch wie du es tatest, war unnötig.« Vegsziber fühlte sich jetzt noch ohnmächtiger als in Gegenwart der Räuber. Falls sein Retter die nächsten Stunden überlebte, bedurfte er langer Pflege. Das nächstgelegene Dorf, von dem Vegsziber wußte, lag weit zurück. Der Bewußtlose trug zwar nicht die Klei dung eines Reisenden, konnte also nicht allzuweit von seinem Zuhause entfernt sein, doch das war ebenfalls keine Hilfe. Undenkbar, daß er, Vegsziber, den fast Toten stundenlang allein zurücklassen konnte, um angemessene Hilfe zu holen, noch undenkbarer, ihn auf dem Rücken zu tragen. Diese Tortur würde der Verletzte schon gar nicht überleben! Doch Vegsziber war ein praktisch denkender Mann von schnellen Entschlüssen. »Meine Häuser werden
schon nicht zusammenbrechen, wenn ich nicht nach ihnen sehe«, murmelte er. »Nur um meine Anver wandten tut's mir leid! Die werden sich dieses Jahr wohl einen anderen suchen müssen, über den sie sich ihr Maul zerreißen können!« Entschlossen machte sich der Priester ans Werk und fällte mit dem Schnitter das erste Stämmchen. Ihn schmerzte bis zum Grunde seiner Seele, daß er für die Hütte, die er gleich über dem Waidwunden zu erbauen gedachte, kein abgelagertes Holz verwenden konnte, wie es sich gehörte. »Krumm und schief wird sie werden!« dachte Vegsziber gequält.
5. Im Angesicht Borons, im Angesicht Tsas ... am Ende des Weges, ein Fuß auf der Schwelle ... Unscharfe Eindrücke vom Fliegen huschten durch Dajins fiebri ge Träume, geboren im schroffen Land zwischen Le ben und Tod. Zwei, vier, Hunderte von Schwingenpaaren riefen einen Zugwind hervor. Dajin war klein, hilflos, doch ohne Angst, denn starke Arme hielten ihn fest, preßten ihn gegen eine Brust, eine weibliche Brust. Mutter? dachte Dajin. Er lachte begeistert und griff mit seinen winzigen, rosa Fingerchen nach Mut ters Brust. Wie lange hatte er sie vermißt! Mutter hielt
ihn fest – seine Mutter, da konnte ihm ja nichts ge schehen! –, und Mutter flog! Sie flog wie ein Vogel, wie ein Schmetterling, so leicht, so einfach! »Autsch!« schrie Mutter schmerzvoll, als sie lande te. Doch sie ließ ihr Kind nicht los, hielt es immer noch fest an sich gedrückt, während sich das Ge räusch ihrer zahllosen Flügel zu Hufgetrappel wan delte. Die kleinen Finger fanden ihr Ziel. Wie maßlos enttäuschend! Wo war die üppige, weiche Fülle ge blieben? Sie war fort! Ebenso die Brüste, Mutters ge waltige, nahrungsspendende Brüste! Wie gemein! Hart war Mutters Brust geworden! Hart wie Holz, hart wie Stahlbänder! Doch Mutters Herzschlag war immer noch zu fühlen. Er pochte wild unter ihrer Ei senbrust, die sich rasch hob und senkte. Das Näschen des Säuglings sog den Duft der Mut ter ein. Alles war falsch! Mutter roch nicht süß nach Milch, sie roch nach Blut! Dajin begann erschreckt zu strampeln, um sich aus dem erdrückenden Griff zu befreien. Weg hier! Weg hier! Doch die Hand war unnachgiebig. Sie hatte ihn eisern gepackt. Ein verzweifeltes Krähen kam aus dem Mund des Kindes. Ein Krähen wie aus dem Schnabel des weiß braun gescheckten Huhnes, das Väterchen gegen den Holzklotz drückte. Die Flügel des Vogels wollten schlagen, konnten nicht schlagen, denn die kräftige
Hand ließ dafür keinen Raum. Platz war nur für die Schreie in Todesnot. Blitzend sauste der Schnitter herab und trennte den Kopf des Huhnes ab. Er fiel vom Klotz und endlich, endlich konnte das kleine Federvieh entkommen. So schnell es konnte, rannte es weg von der Stätte der Pein. Frei! wollte es jubilierend gackern, während es mit sprudelndem Hals davoneilte. Frei! Doch das Gak kern, das sein glückliches Entkommen aller Welt ver künden sollte, blieb aus. Verstört öffnete das Huhn die Augen, sah den verschmierten Block, sah die lange Klinge, die sich in das Holz gegraben hatte, sah seinen Körper in enger werdenden Kreisen um die Hinrich tungsstätte taumeln. Warum? dachte es traurig. »Warum?« fragte Väterchen mit ernstem Gesicht. »Warum tust du das?« »Ich war das nicht!« bestritt Dajin heftig. »Als das Huhn an mir vorbeilief, hatte es bereits keinen Kopf mehr. Und falls ich etwas mit seinem Los zu tun ha be, dann werde ich einen Grund für meine Tat gehabt haben. Das Huhn wird irgend etwas gesagt haben.« »Aber ich habe nicht einmal etwas gesagt!« erklang eine schmerzverzerrte Stimme vom Boden. Sie gehör te dem jungen Hadijian, der sich im Dreck wälzte, das Gesicht zerschlagen, die Hände schützend um die zerschmetterte Kniescheibe geklammert. Dajin zweifelte an sich. Hatte Hadijian etwas gesagt,
oder hatte er ihn nur deswegen geschlagen, weil der den kleinen alten Mann nicht seiner Wege hatte ge hen lassen? Wie konnte er auch nur? Abzusehen war doch, daß jemand dem kleinen Mann, Handwerker offenbar, zu Hilfe eilen würde! Wie unvorsichtig – keine Frage! – am Ende kam doch immer jemand, der das Schlimme verhinderte und alles richtete! »Du wirst nie Ka'Schîk werden!« hörte Dajin die Stimme in seinem Rücken. Da! Jetzt hatte Hadijian es schon wieder gesagt! Dieser Lügenbeutel! Zornig fuhr Dajin herum und sah in das konturlose Gesicht des Verwalters. »Du wirst nie Ka'Schîk werden«, wiederholte der Einarmige. »Der Baruun benötigt nun keine Ka'Schîks mehr!« Schreckliche Reue packte Dajin. Er hatte den Fal schen mißhandelt! Mit pochendem Herzen streckte er seinem bisherigen Freund Hadijian die Hand entge gen, um ihm aufzuhelfen, doch der große Junge schlug nach der Hand. Geh weg! »Geh weg, du Ungeheuer!« riefen Hadijians Eltern. »Geh weg, ich will nicht mehr mit so einem spie len!« sprach das blondgelockte Mädchen. »Ich bin nicht so einer!« schluchzte Dajin und rann te zum väterlichen Haus. Die Väter mußten bestäti gen, daß er wirklich ihr Sohn war und keineswegs so einer!
Doch Großer Vater versperrte ihm die Tür. »Geh weg!« flüsterte er mit tausend Stimmen gleich zeitig. »Geh weg, Dschinnenkind, geh dorthin, wo wir dich fanden. Geh in den Wald, zurück unter dei nen Jiranstrauch! Husch! Husch!« »Ihr werdet alle gehen!« befahl eine neue Stimme. Sie gehörte einem ernst blickenden Mann, gekleidet in Eisen. »Ihr werdet alle dieses Dorf verlassen!« Erwachsene und Kinder brachen gleichermaßen in Tränen aus. »Warum?« begehrten sie zu wissen. »Weil er auch Dajin heißt!« antwortete der Abge sandte der Baruuna hart. »Doch sie werden sich fürchten!« sprach Dajin da gegen. »Sie werden erneut die Feuer entfachen, denn es wird wiederkommen. Es wird sie genauso auffres sen wie Lh'Uuze, wie die Pferde, wie die Reiter. Sie können ihm nicht entkommen. Auch die Pferde woll ten rennen, auch die Reiter davongaloppieren. Doch es half nichts! Es läßt sie nicht. Es hält sie fest, doch das Schlimmste ist, daß es zuvor mit ihnen sprechen wird. Was soll ich tun, wenn es kommt? Ich bin ein Kind, doch irgendeiner muß etwas tun, damit am Ende alles gut wird. Deshalb werde ich als einziger gehen! Ich bin der Schuldige! Ich büße!« Der Eisengekleidete schüttelte traurig den Kopf. Seine Formen zerflossen und wurden zu denen Idra jidas, Dajins erster Frau. »Nein, ich werde gehen!«
sagte sie unglücklich, ihr Reisebündel kraftlos in der Hand haltend. »Warum?« fragte Dajin verständnislos. Abermals zerflossen die Formen. Aus Idrajida wurde Karhima sab. »Weil ich dich verlassen werde«, sagte sie auf eine Art, die erkennen ließ, daß sie lange Zeit über ihren Entschluß nachgedacht hatte. »Dann geh!« sagte Dajin bitter, drehte sich auf dem Bett liegend zur Seite und starrte die Wand des gera de bezogenen neuen Hauses an. Er wollte allein sein, mit niemandem reden, selbst mit den Vätern nicht, die gekommen waren, um wie Glucken nach ihrem Kind zu sehen, das noch immer mit sprudelndem Hals um den Hackklotz torkelte. Die Decke hatte Da jin trotz des heißen Tages bis zum Hals hochgezogen. Die Väter sollten nicht entdecken, welche Spuren der Nagel hinterlassen hatte, den sich ihr Sohn voller Wut auf sich selbst durch den Arm getrieben hatte. »Ich werde nicht nach dem Warum fragen«, sprach Väterchen überraschenderweise. »Du bist unser Sohn, Dajin.« »Geht!« schrie Dajin mit tränenerstickter Stimme. »Ihr hättet einen besseren Sohn verdient.« Er setzte sich auf, sah Väterchen und Großen Vater ernst an und begann – endlich! – zu erklären: »Meine Hosenbeine sind zu lang, so daß ich dauernd stolpern
muß. Meine Hemden sind so eng, daß sie mir ins Fleisch schneiden. Nicht einmal meine Haut will mir passen.« Zum Beweis seiner Behauptung zeigte er den gesunden Arm, der prall war wie eine Wurst. »Geht also! Ich zerstöre mich, ich zerstöre euch, ich zerstöre alles um mich herum. Vergeßt mich, denn ich bin ein wirklich schlechter Mensch.« »Dajin ist ein guter Mensch«, erklärte Hadijian sei ner Tochter. »Obwohl ich seinetwegen hinke und ihn während der Regenzeit oft verfluche. Doch das ist kein hoher Preis.« »Gut und tapfer, das ist er«, pflichtete Väterchen bei. »Wir sind stolz auf ihn.« Wieder fand eine Verwandlung statt, und aus Vä terchen wurde Idrajida. »Du warst ein guter Mann.« sagte sie, die jede Hoff nung aufgegeben hatte. »Doch in dir ist keine Liebe.« »Sie hat in beidem recht«, bestätigte Großer Vater mit Karhimasabs Gesicht. »Ihr seid undankbar«, zischte Dajin. Karhimasab, die nun gänzlich Großen Vaters Stelle eingenommen hatte, schüttelte den Kopf. »Niemand bestreitet, was du bist, Dajin Derfromold. Dennoch bist du der, der du bist und wirst das für immer blei ben. Niemand außer dir wäre Alryschas Kleinsten su chen gegangen, als er während der Bruderlosen Tage davonlief!«
Ein vierarmiger Affe schob sich ins Bild und wurde sofort verdrängt. Er hinterließ ein Abbild von niedli chen kleinen Zähnen, die aus graubraunem Zahn fleisch ragten. Von pupurnen Lippen, tropfend und saftverschmiert, wie seine violetten Krallen. »Nein, unterbrich mich nicht, Dajin Derfromold!« brachte sich Karhimasab in Erinnerung. »Ich weiß, daß du sagen willst, daß es nichts nützte, doch du versuchtest es immerhin. Ohne dich gäbe es auch Hadijian nicht mehr, und was aus Delilahsab gewor den wäre, will ich mir nicht ausmalen. Derlei tust du. Trotzdem ist keine Liebe in dir.« »Dich habe ich geliebt«, knurrte Dajin. »Das dachtest du«, entgegnete seine zweite Frau. »Du handelst nicht aus dem Herzen, Dajin Derfro mold, du handelst, weil du mußt. Du denkst, es gäbe niemand anderen als dich, und vielleicht hast du da mit sogar recht. Dennoch ist keine Liebe in dir, viel leicht weißt du nicht einmal, was das ist.« Dajin sah weg. »Wer bin ich also?« preßte er zwi schen den Zähnen hervor. »Ich kenne weder Liebe noch Angst, noch Glück. Selbst ein Sassin weiß mehr als ich! Ich bin ein größerer Tor als das Echslein, dazu einer ohne Wahl!« Dajin wandte den Blick zurück zu seinen beiden Frauen. Nur noch eine war da. Doch Karhimasab hatte den Augenblick des Wegschauens schamlos ausge
nutzt und sich erneut verändert. Ihr Bild war dem einer dunkelhaarigen Jungfer gewichen, schmächtig, nicht Mädchen, nicht Frau, sondern dazwischen, am Schei deweg. Aus ihren Augen sprach die Weisheit der Welt, ein spöttisches Lächeln umspielte ihren Mund. Dajin wußte, daß er sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Das junge Weib zwinkerte, einmal, zweimal, dann nimmermehr, als ihre Lider jäh zwischen zwei Augenblicken verschwanden. Mit leblosen Facetten augen starrte sie Dajin an. Wie riesig sie war! Hadijian würde sterben! Bäume und Sträucher bogen sich unter der Last des Frühjahrsregens; schillernd im Sonnenlicht fielen die Tropfen auf das aufgeweichte Land. Hadijian, der seit Jahren nicht mehr mit ihm, Dajin, sprach, suchte im Gehen mit verdrossener und unversöhnlicher Miene den schmatzenden Boden ab. Alryscha sprach weiter, obwohl sie wußte, daß keiner der beiden jungen Män ner ihr zuhörte. Sie ertrug das feindselige Schweigen nicht. Die dummen Schweine! Was hatte das Borstenvieh auch Wurzeln fressen müssen, die ihm nicht beka men? Wie waren die vorwitzigen, stumpfen Schnau zen überhaupt an das giftige Gewächs gelangt? Nun lagen die Tiere auf der Seite, die braungefleckten Lei ber zum Bersten prall, so schnell röchelnd, als müß
ten sie sämtliche Atemzüge, die ihnen in ihrem Leben noch zugestanden hätten, in der geringen Zeitspanne ableisten, die ihnen der tödliche Fraß noch vergönnte. Alryscha sprach. Solange wollte sie nur mit sich selber reden, bis die jungen Leute die hellgrünen, weißgesprenkelten Häubchen gefunden hätten, die den Schweinen ein Entkommen vor ihrem Schicksal ermöglichten und ihr selbst die Flucht aus der qual vollen Enge der schweigenden, verfeindeten Mauern zur Linken und Rechten, die die junge Frau zu zer quetschen drohten. Doch wo wuchsen die kleinen Pil ze? Eigentlich waren sie während der Regenzeit leicht im feuchten Wald zu finden. Ein elendes Röcheln, sehr ähnlich dem der Schwei ne, würgte sich aus Alryschas Kehle. Sie rannte, Dajin rannte, beide fanden Zuflucht auf Bäumen. Wie riesig sie war! Der haarige rote Rücken der Maraske erhob sich mehr als einen Schritt über den Boden, ihre acht Bei ne beanspruchten ein Rund vom dreifachen Durch messer. Eigentlich hätte ein derartig großes Geschöpf den Boden mit jedem Schritt zum Beben bringen müssen, doch die Beine des spinnenähnlichen Tieres stolzierten lautlos. »Sie hat schwarze statt gelber Flecken!« flüsterte sich Alryscha vor. »Wenn die Märchen nicht lügen, muß das ein Männchen sein!«
»Wenn das ein Männchen ist«, flüsterte Dajin vom Nachbarbaum zurück, mit Schaudern auf den langen Stachel am Schwanzende des Tieres blickend, »dann will ich gewiß nie seinem Weibchen begegnen!« Hadijian! Der Dritte im unfriedlichen Bunde fiel den jungen Leuten gleichzeitig ein. Er hatte nichts von der gefährlichen Gegenwart bemerkt, suchte immer noch mit verschlossenem Gesichtsausdruck nach den le bensrettenden Pilzen, während der geräuschlose rote Tod auf ihn zustakste. »Lenke sie ab!« zischte Alryscha und deutete auf die Nüsse, die in Reichweite Dajins wuchsen. Die Früchte des Baumes taugten nur für ihn selbst. Ihre Schalen waren so hart, daß es hieß, man könne mit den Nüssen sogar Steine zerschmettern. Alryscha schrie: »Lauf, Hadijian, lauf!« Dajin langte nach den Nüssen, doch dann sprang er selbst vom Baum und rannte armwedelnd auf die Maraske zu: »He, he! Laß den Lahmen in Frieden, du Untier! Ich bin ein weitaus würdigerer Gegner!« Die Maraske nahm die Herausforderung an. Mit einem Fauchen wechselte sie ihr Ziel. Dajin spurtete zurück, sprang, zog sich am Ast hoch, genau in dem Augenblick, als das Spinnentier mitten im Lauf ur plötzlich um seine eigene Achse wirbelte. Der giftige Stachel war mit einem Mal vorne, zerteilte die Luft wie ein Säbelhieb, schnitt um Haaresbreite an seinem
Opfer vorbei! Hadijian hatte sich kein Stück bewegt! Er stand da, gelähmt vor Entsetzen, sah zu, wie das rote Riesenvieh erneut auf ihn zurannte. Dajin sprang wieder vom Baum, laut brüllend, mit allem, was ihm zur Verfügung stand, die Aufmerksamkeit des Un tiers auf sich lenkend. »He, Schöner! Du wählst den Falschen! Meinetwe gen bist du hier, nicht seinetwegen.« Abermals begann die Jagd, auch dieses Mal war ihr Ausgang kaum mehr als ein Unentschieden. Vom si cheren Ast aus sah Dajin nach unten und stöhnte auf: »Hadijian, du Verfluchter, was treibst du denn nur?« Was trieb Hadijian? Ausgeglitten war er im Matsch, Opfer seines Beines, das ihn während des großen Regens quälte, das nicht mehr so verläßlich war wie früher, bevor es von Dajin mißhandelt wor den war. Während Alryscha in ihrer Ohnmacht mit Ästchen und Rindenstücken warf, suchte der Schuldbeladene zum dritten Mal die Begegnung mit dem schwarzro ten Tod: »Sagte ich es nicht bereits, Schöner? Oder ir re ich, und du bist doch vielmehr eine Schöne? Dieses Stelldichein ist nur für uns beide. Nun komm endlich, Geliebte, und stich zu! Komm, komm, komm!« Noch sechs weitere Male stand Dajin der Tarantel gegenüber, dann war das Tier das fruchtlose Spiel leid.
Als das Furchtbare den Schauplatz des Geschehens verlassen hatte, standen die jungen Leute im Kreis, die Arme auf die Schultern des anderen gelegt. Dajins Gesicht war rot vor Anstrengung, sein Atem ging ras selnd. Keine Spur von Triumph war in seinen Augen. Allenfalls ein Anklang von – doch das konnte ja wohl nicht sein! – von Trauer? Nicht viel ausgeprägter war das, was Hadijians und Alryschas bleiche Gesichter widerspiegelten. Ei ne winzige Spur Furcht, als wären sich beide nicht so sicher, ob das, was eben gegangen war, so viel schlimmer war als das, was noch unter ihnen weilte. »Du bist irre, Dajin!« keuchten beide. »Du bist völ lig irre!« »Ich bin nicht irre!« wisperte Dajin und befreite ruck artig den linken Arm aus Karhimasabs Klammergriff. »Ich bin nur nicht gewillt, dieses elende Schauspiel länger zu dulden!« Er faßte den Griff des Schnitters fester, erhob sich und schritt auf die Gruppe zu. Die drei Wächter aus der Silbermine, deren Erträge allenfalls als befriedigend zu bezeichnen waren, sa ßen zwischen den Blumen, ihre Stiefel zerquetschten die purpurnen Kelche. Die Gesichter der drei glänz ten erregt, einer rieb sich versonnen im Schritt. Zwischen ihnen tanzte mit tapsigen Bewegungen die halbnackte Delilahsab, ein Kind im Körper einer
ausgesprochen reifen Frau. Delilahsabs Augen sprüh ten vor Glück, sie sang ein Liedchen, vertat sich bis weilen in den Worten, denn ihre Zuschauer hatten ihr nicht wenig von ihrem Fusel zu trinken gegeben. Als Delilahsab den altvertrauten Freund kommen sah, öffnete sie einladend die Arme: »Tanz mit Deli lahsab!« Doch Dajin bückte sich wortlos, hob das Gewand von Jamilhajidas Tochter vom Boden auf, drückte es ihr in die Hände und befahl mit sanfter Stimme: »Geh heim, Delilahsab, geh heim!« Delilahsabs Gesicht wurde traurig. Gerade noch war doch alles so schön gewesen! Sie überlegte, ob sie nun weinen solle. »Was fällt dir ein, Bäuerlein!« fuhr einer der Mi nenwächter den Störer wütend an. »Geh deiner Wege und gönn der Kleinen und uns ein wenig Spaß!« Dajin musterte den Sprecher und seine beiden Be gleiter. Gefährliche Burschen waren das, übles Ge lichter, die sich von denen, die sie bewachten, nur dadurch unterschieden, daß sie die Waffen hatten und keine Fußfesseln trugen. Schlimmer noch, ver mutlich waren die meisten der Zwangsarbeiter in der Mine anständigere Leute, da das Verbrechen vieler von ihnen allein darin bestanden hatte, weniger zu besitzen als man ihnen wegnehmen wollte. Dajin schüttelte den Kopf: »Sie weiß doch nicht einmal, was ihr von ihr wollt.«
»Weiß sie das nicht, Großmaul?« gab der Wächter zurück. »Sieh dir die Kleine an! Sie wartet doch dar auf, daß es ihr jemand besorgt!« »Und wie wir's ihr besorgen werden!« mischte sich einer seiner Begleiter ein. Er brach in lautes Gelächter aus, als habe jemand einen köstlichen Scherz von sich gegeben. Der Lachende besaß keine Vorderzähne mehr. Das machte seine Eckzähne übergroß, raub tierhaft. Dajin warf Delilahsab einen kurzen Blick zu. Sie schmollte. »Vielleicht hast du ja recht«, sprach Dajin, als das Lachen verebbt war. Wie aus eigenem Antrieb hatte die Spitze seines Schnitters begonnen, Blütenkelche zu köpfen. »Doch darin irre ich nicht: Ganz bestimmt hat die Schwester dazu nicht auf solche wie euch ge wartet!« »Was für welche wie uns?« gab der Zahnlose zu rück. In seine Stimme hatte sich ein eigenartiger Sing sang eingeschlichen. »Abschaum! Bruderlosen Abschaum!« schlug ihm Dajins Antwort entgegen. Im Nu waren die Minenwächter auf den Beinen und hatten die Hände am Griff ihrer kurzen Schwerter. »Treib's nicht zu weit, Bürschchen!« warnte ihn der, der zuerst gesprochen hatte. »Wie weit kann ich's denn treiben?« fragte Dajin mit
freudlosem Grinsen. »Der Verwalter mag's nicht lei den, wenn man seine Bauern totschlägt. Ebensowenig der Baruun, da ihr dann nichts mehr zu fressen hät tet.« »Ach ja, Großmaul? Der Verwalter mag's nur dann nicht, wenn er das tote Bäuerlein findet. Findet er's nicht, so hat's eben der Wald gefressen. Schade, scha de um das Bäuerlein.« Die beiden Nebenleute wichen auseinander. Dajin wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis sich die drei auf ihn stürzen würden. »Ihr müßt mir nicht beweisen, was für tapfere Rek ken ihr seid«, entgegnete Dajin sanft. »Ich bezweifle nicht im geringsten, daß ihr keine Mühe haben wer det, das Bäuerlein zu erschlagen. Aber ich verspreche, daß einer von euch mich auf dem Weg begleiten wird, von dem einige sagen, er führe über eine Wüste von Geröll, andere hingegen, er führe über ein graues Meer. Und ich verspreche ebenfalls, daß ich diesem einen auf unserem gemeinsamen Weg verraten wer de, ob ich das, was du eben sagtest, als Drohung empfand oder als höchst willkommene Einladung!« Dajins letzte Worte knallten wie Peitschenschläge. Die drei Wächter zögerten verunsichert. Einige Augenblicke starrte man sich gegenseitig mordlü stern an. Karhimasab brachte die Entscheidung, als sie sich mit ihrem Haumesser bewaffnet zeigte.
»Wir gehen den weiten Weg zu viert, Dajin Der fromold«, sagte sie mutig. »Das ist gut«, griff Dajin ihre Worte auf. »Zu viert reist sich's besser. Man hat sich viel mehr zu erzählen auf dem Weg zu Boron dem Milden.« Die drei Minenwächter zeigten noch einige Augen blicke Standfestigkeit, dann gingen sie. Delilahsab warf sich weinend in Karhimasabs Ar me. Dajin war so gemein gewesen! Und der wiederum sah den sich entfernenden Ge stalten nach und fluchte enttäuscht: »Ch'Azuul!« Das Kinn auf Delilahsabs Schulter gestützt, sagte Karhimasab bewundernd: »Selbst ich glaubte für ei nen Moment, du sprächest im Ernst.« Dajin wandte sich um. Er sah Delilahsabs Rücken, sah Karhimasabs Hände und Arme, die die Unglück liche festhielten und trösteten. Doch das Gesicht, das ihm über Delilahsabs Schulter entgegensah gehörte nicht der lang Vertrauten. Es war das des dunkelhaa rigen Nichtmehrmädchens, Nochnichtweibs. Nach wie vor war ihr Mund spöttisch verzogen. Wie Dajin erst jetzt bemerkte, war ihre Oberlippe gespalten. »Wer bist du?« fragte Dajin die merkwürdig ver traute Erscheinung. »Niemand, den du dir aussuchen konntest«, ant wortete die Dunkelhaarige mit einem hellen Lachen.
6.
Dajins Delirium währte mehrere Tage, an denen Vegs ziber die Hütte baute und den Notleidenden versorg te. Als sich die Schwellungen im Gesicht des Verletz ten zurückbildeten, gab es ein paar Stunden, in denen der Priester hätte beschwören können, daß er seinen Schützling schon früher gesehen hatte. Er wühlte in der Geschichte seines Lebens wie in einer durchein andergeratenen Werkzeugkiste, doch der schwache Schatten der Erinnerung an eine zurückliegende Be gegnung weigerte sich standhaft zu offenbaren, wer oder was ihn warf. Schließlich rang sich Vegsziber zu der Ansicht durch, daß er vermutlich auf einer ande ren Reise durch Dajins Heimatdorf gekommen war, eine Erklärung, die den Priester nicht wirklich befrie digte. Doch das waren nicht die einzigen Gedanken, die sich Vegsziber über seinen Pflegling machte. Das Ge sicht des ebenfalls kleinen, aber doch ein ganzes Stück größeren Mannes zeigte in seinen Fieberträu men eine lebhafte Mimik, die den Priester des öfteren die Stirn runzeln ließ, da die im Gesicht ausgedrück ten Gefühle fast ausnahmslos der düsteren Seite der Möglichkeiten zu entstammen schienen. Dazu paßte gut das bisweilen zu vernehmende, scheinbar sinnlo se Gemurmel. Hätte der Pflegling seinem Pfleger da
mit etwas mitteilen wollen, so hätte Vegsziber mit Fug und Recht schließen können, daß sein Schützling die Namen Verflucht und Verdammt trug. Vegsziber war sehr gespannt auf das Erwachen des Bewußtlo sen. Als Dajin endlich die Augen aufschlug, erklärte ihm der Priester, wer er selbst sei und warum er die Hütte erbaut hatte. Danach war Vegsziber einige Stunden verwirrt. Nicht wegen Dajins Worten: »Die Mühe hät test du dir sparen können, kleiner Mann!«, denn daß sein Schützling es vorgezogen hätte, in der Gesellschaft Borons zu erwachen, war dem Priester schon lange kein Geheimnis mehr. Vegsziber hatte auf den Aus spruch nur geantwortet: »Wer meint, mit dem Leben ringen zu müssen, sollte mit dem Leben ringen und nicht mit einem halben Dutzend Rabauken. Sie sind nicht das Leben. Denn unser Glaube lehrt: Wir leben, vergehen und kehren zurück, so lange bis der Welten diskus Gror erreicht haben wird. Hörst du, Großer? Unser Glaube lehrt mitnichten: Wir lassen uns von sechs Rabauken totschlagen, kehren zurück und war ten darauf, daß sich abermals ein günstiges halbes Dutzend einfindet, so lange, bis das Geschenk Rurs Ihre Schwester, die gleichzeitig Sein Bruder ist, er reicht haben wird, so daß Er, der auch Sie ist, uns dann den ganzen Krempel auf den Kopf klatschen kann!«
Nein, nicht die Worte des Schutzbefohlenen veran laßten Vegsziber, sich den Kopf zu zermartern, son dern die Stimme. Obwohl der kleine Mann seinen Schützling mit den Wegelagerern hatte streiten ge hört, hatte er aus einem unbestimmbaren Gefühl her aus erwartet, daß sein Gast anders spräche: gebiete risch und herrisch. Was veranlaßt mich nur zu dieser irrigen Annah me? dachte Vegsziber. Eine verschüttete Erinnerung an die Zeit, als ich mein Handwerk erlernte und ein Lehrmeister mich tadelte; oder an die Zeit danach, als einer meiner ersten Kunden unzufrieden an meinem Werk herumnörgelte, nur um im Nachhinein etwas noch billiger zu bekommen, das ohnehin schon wohl feil war? Vegsziber seufzte. Ein Leben von sechzig Jahren brachte mit sich, daß die Erinnerungen nicht mehr alle ordentlich aufgeräumt an ihrem Platz blei ben wollten. Sie neigten dazu, sich zu vereinen und im schlimmsten Fall Nachwuchs zu bekommen. Nicht auszudenken, lebte man, bis die Weltenscheibe Gror erreicht hätte! Da war's schon gut, daß Boron bisweilen seiner Pflicht nachkam, und sei's nur dar um, um Rurs Zwilling das gedächtnisschwache Ge stammel einer vergreisten Menschheit zu ersparen! Dajin verweigerte in den nächsten drei Tagen jedes Wort. Er starrte mit glanzlosen Augen schweigend zur Decke, weshalb sich Vegsziber in boshafte Selbst
gespräche flüchtete. Etwa, indem er seinem Pflegling überschwengliches Lob zollte, da er einer der weni gen Menschen sei, die ein gutes Dach um seiner selbst willen zu schätzen wüßten und nicht nur, weil es eben schnöde das ansonsten bestehende Loch in der Räumlichkeit beseitige. Erwachte der Priester morgens, so begrüßte er sich mit einem freudigen »Schon wach, Vegsziber?« Da nach verließ er die Hütte, und von draußen klang herein: »Welch schöner Tag! Rur sei gepriesen für diese wunderbare Welt! Ich bin sicher, daß mein Gast sich dem gerne anschlösse! Doch weh, er redet halt ein wenig langsam und grübelt noch an seiner ersten Silbe. Verstehen kann ich seine Vorsicht ja. An einem solch herrlichen Tag will man nichts Falsches sagen! Wie leicht steht man nachher als Dummer da.« Am vierten Tag trug Vegsziber Dajins entkräfteten Körper ins Freie, lehnte seinen Rücken gegen eine Wand der Hütte und schlenderte zum Teich, munter mit sich plaudernd. Der Priester hatte sich in den letz ten Tagen so sehr an die Selbstgespräche gewöhnt, daß er inzwischen darauf achten mußte, nicht auch noch seine privatesten Verrichtungen aller Welt ein gehend zu beschreiben. Vegsziber teilte den langhalmigen Uferbewuchs mit den Händen und stieß urplötzlich einen Schmer zensschrei aus. Mit zusammengebissenen Zähnen,
wedelnd mit den Armen, die Hände abwechselnd öff nend und zu Fäusten ballend, hüpfte der Priester vom Ufer zurück. Er stieß einen neuen Schrei aus, als seine Hand einmal nicht leere Luft umschloß, sondern etwas Brummendes und Bewegliches. Rasch öffnete Vegs ziber die Hand und besah sich seinen Fang. Kleine Augen sahen den Priester an, ob drohend oder angstvoll, war nicht zu entscheiden. Der schlan ke gelb-schwarz gestreifte Hinterleib des Tieres be wegte sich pumpend, der schwarze Stachel an seinem Ende war manchmal zu sehen, dann wieder nicht. »Ist das schlau, Schwester Wespe«, brummte Vegs ziber, »mich erst zu stechen und sich dann auch noch fangen zu lassen? Doch da du gerade hier bist und ich mich sowieso mit mir unterhalten wollte, magst du auch an dem Gespräch teilnehmen. Damit es nicht so stockend vorangeht – du mußt wissen, daß Vegsziber und ich nicht mehr gewohnt sind, mit Fremden zu re den – will ich eine Geschichte erzählen. Sie ist sehr spannend. Und sehr langweilig. Wo findet man derlei gleichzeitig? Eine Geweihte der Zwölfgötter erzählte sie mir, nämlich eine der Tsa. Ihr wißt ja, Vegsziber und Wespe, daß die Zwölfgöttergläubigen Tsa ähnlich ver ehren wie wir, nur daß sie eben die Hälfte falsch ver standen haben. Diese Geweihte berichtete mir – einem damals schon sehr schmucken Mann, wenn auch etwas jünger – es gäbe eine Insel, wo die Junge Schwester
fortwährend neues Leben hervorbrächte! Ist das nicht spannend? Stellt euch vor, Vegsziber und Wespe: Man geht morgens zu den Schweinen, und was findet man? Nein, Vegsziber – schweig! – keinen fettgefressenen Parder, sondern etwas, was man zuvor nie sah! Ein wunderbares, buntschillerndes Wesen vielleicht! Das ist doch spannend. Nun wird's langweilig. Wie ich las, nannte der Tulamid unsere schöne Insel lange Zeit Ma rustan. Jetzt habt acht, Wespe und Vegsziber: Was ge schieht, wenn man Marustan ganz rasch wiederholt? Mitnichten, Schwester, man gibt damit nicht das Zei chen, mir in meine schwielige Hand zu stechen. Hört einfach ganz genau zu, ihr beiden!« Der Priester riß mit übertriebener Mimik Mund und Augen auf, zog den Kopf zwischen die Schultern und erhob den Zeigefinger, benahm sich wie ein Schmierenkomödiant, der sich einbildete, damit die Spannung seines Publikums ins Unermeßliche stei gern zu können. Dann ratterte Vegsziber das Wort herunter: »Marustan, Marustan, Marustan!« Plötzlich brach er ab: »Na, habt ihr's gehört? Richtig, Vegsziber, ich habe mich versprochen: Maru-Tsa sagte ich anstatt Marustan! Ist das nicht köstlich? Da denkt man sein halbes Leben lang, man habe eine spannende Geschichte von einer fernen, exotischen Insel gehört, wie Honingen oder Albenhus, wo das Leben nur so sprießt und quirlt, und eines Tages verspricht man sich
und entdeckt dadurch, daß man schon immer auf der sagenhaften Insel wohnte, und daß deshalb das Unbe kannte, das morgens bei den Schweinen zu finden sein wird, doch keinen Perlmuttkörper besitzen wird, son dern vermutlich sechs Beine und einen Stachel wie Schwester Wespe! Doch nun flieg, du Plage, bevor ich dir erkläre, warum manche meinen, daß Tsa und Bo ron dieselbe Wesenheit seien!« Vegsziber warf lachend den Kopf in den Nacken und schleuderte die Wespe weg. Er breitete die Arme aus, drehte sich im Kreise, seine Füße verfielen in ei nen raschen Trippelschritt. Der Priester tanzte. Vegs ziber stimmte eine erfundene Melodie an und sang verzückt: »Überall ist Leben, und Vegsziber darf es sehen! Überall ist Leben, und Vegsziber darf es sehen! Ein glücklicher Mann ist er, der Vegsziber!« Als er nicht mehr konnte, warf sich der Priester er schöpft ins Gras. »Du bist wirr, kleiner Mann!« sagte Dajin. »Das mag sein«, entgegnete Vegsziber. »Aber es ist besser, wirr zu leben, als bei klarem Verstand nicht zu leben. Meinst du nicht auch, Großer?« So begannen Vegsziber und Dajin miteinander zu re den. Sie wechselten kein Wort über den lebenslangen Weg, der Dajin zu der Hütte am See geführt hatte, sondern sprachen über das, was Vegsziber von seinen
Büchern auf so vielen Baustellen erzählt worden war. Das Zusammensein mit Vegsziber war für Dajin so, als habe der Priester mit einem Schlag Hunderte von Tü ren aufgestoßen. Die Welt war mit einem Mal weitaus mehr als nur ein kleines Dorf, eingesperrt von den Wänden des Dschungels, ausgeliefert den Mächten des Waldes und der Willkür derer, denen das Dorf gehörte. Sie war auch unglaublich viel älter. Sie war nicht ge schaffen worden, als sich Dajin zum ersten Mal seiner selbst bewußt geworden war, und sie war auch nicht untergegangen, als Dajin und alle, die er kannte, aus ihren ehemaligen Häusern vertrieben worden waren. Sie war etwas, das ein unfaßbar mächtiges Wesen in einem grandiosen Augenblick erschaffen hatte, um Sei nem Zwillingsbruder, Ihrer Zwillingsschwester, Freu de zu bereiten. Bisweilen beschlichen Dajin Beklemmungen. Er dachte dann an den Tag, an dem er nach Praiobab zu rückkehren würde, an dem die eben erst geöffneten Türen krachend wieder zuschlugen und der Feind, der seit rund fünfunddreißig Jahren Tisch und Bett mit ihm teilte, wieder seinen angestammten Platz einnähme. Doch Vegsziber war listig. Die Bausubstanz dieses Hauses war gar nicht so schlecht. Doch irgendwann war grünes Holz eingezogen worden. Die Balken hat ten sich im Laufe der Jahre derart verzogen, daß das
gesamte Gebäude nun von den Dachsparren bis zum Fundament unter seinen Spannungen ächzte und stöhnte und sich überall Risse bildeten. Ein Wunder, daß es nicht schon vor Jahren eingestürzt war! Abrei ßen und neu erbauen konnte man das Haus schlecht, immerhin war es bewohnt. Also machte sich Vegszi ber daran, die krummsten Balken auszutauschen. Alles in allem ein Jahr verbrachten Dajin und Vegsziber miteinander. Sie trennten sich, als der klei ne Mann sich immer häufiger nach einer Gesellschaft zu sehnen begann, der keine Stoppeln auf den Wan gen wuchsen. In Tuzak war man sehr erleichtert, den Priester, der eben auch nur so war, wie ihn Rur sich einst vorge stellt hatte, noch am Leben zu sehen. Doch kurz nach seiner Rückkehr erkrankte Vegsziber so schwer, daß Boron nach ihm schicken ließ. Dajins Heimkehr gestaltete sich nicht sehr ange nehm, da der Verwalter über seine lange Abwesenheit erzürnt war. Ein Jahr lang dem Baruun die Arbeitskraft seiner Hände zu verweigern, das kam einem Diebstahl gleich! Das mußte bestraft werden. Zudem benötigte der Verwalter gerade jemanden in der Mine.
Gegenwart:
Rondirais Tagebuch
Loc: Tuzak Sfu: 9. PER, 25 Hal DPae: Dschijndasab (Wirtin, weiterer Name unbe kannt) bt: Arbeitsfortschritte, neues Kleid Fragte heute meine Wirtin bei einer Schale Tee, ob der Leichnam König Dajins ebenfalls durch die Stadt getragen worden sei. Sie sagte, das glaube sie nicht, da sein Körper sehr entstellt gewesen sein soll. Er sei nämlich im Roab ertrunken und erst nach mehreren Tagen aus dem Fluß gefischt worden. (Interessante Einzelheit. Nachprüfen, ob das stimmt. Daraus läßt sich allerdings leicht eine Legende basteln: Die Leiche war nicht die richtige, ein falscher wurde beerdigt usw.) Sprach meine Wirtin auf ihren Schwager an. Ob er wirklich ernsthaft glaube, daß Dajin der Fromme immer noch lebe und sich seit 200 Jahren verborgen hielte. Sie meinte, ich habe ihn mißverstanden. Ihr
Schwager glaube bestimmt nicht, daß der König ein uralter Mann sei. Vielmehr habe er damit sagen wollen, daß er wiedergeboren worden sei, was auch stimme. Fragte sie, woher sie das so sicher wüßte. Antwortete, viele sagten es, deshalb müsse etwas dran sein. Tatili, tatila! Kramte daraufhin zusammen, was ich über den ma raskanischen Ketzerglauben wußte. Sagte ihr, daß so weit ich das verstanden hätte, sich doch niemand an seine vorigen Leben erinnerte. Deshalb sei es doch sehr witzlos zu sagen, König Dajin sei wiedergeboren worden. Verschluckte mich fast, als die Wirtin wahr haftig sagte: Wie willst du wissen, was Bruder Boron mit seiner Schwester auskungelt? Habe mir vorgenommen, nicht sobald wieder über Glaubensdinge mit einem Einheimischen zu reden. Ist fast schlimmer, als mit einem Eiferer aus dem Kali fat. Die nennen uns halt Götzendiener und wir sie Heiden. Klare Standpunkte. Maraskaner hingegen werden unangenehm hochnäsig. Sie sagen's einem nicht, aber denken es insgeheim: Selbstverständlich hast du unrecht, Schwester. Doch ich will nicht ver suchen, dich zu überzeugen. Denn du bist eben ein Trottel, der unfähig ist, die Wahrheit zu erkennen. Habe danach meine Notizen sortiert und in vier Gruppen eingeteilt. In die erste Gruppe fallen Ge schichten, die doch sehr an Taten anderer legendärer
Helden erinnern. Mag zwar sein, daß zwei Leute ein mal haargenau das gleiche taten, glaube ich aber nicht. Sind diesem maraskanischen König offenbar im Nachhinein zugeschrieben worden. Gruppe zwei bezeichne ich als Fabeln. Habe den Verdacht, daß sie im Laufe der Zeit bewußt zu Lehrzwecken erfunden worden sind. Wäre König Dajin in diese oder jene Lage gekommen, so hätte er folgen dermaßen gehandelt ... Gruppe drei enthält wirres Zeug und Phantasterei en. Teils maßlos Überzogenes. Kann mir nicht vor stellen, daß etwas davon stimmt. So gut kämpft nicht einmal der Schwertkönig. Bleibt also Gruppe vier, die mir noch am glaub würdigsten erscheint. Ist aber widersprüchlich. Weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Sieht für mich nach jemandem aus, der aus schierer Augenblicks laune heraus handelte. Nach jemandem, der entwe der stur auf das Wirken der Götter vertraute oder über Jahre seinen Tod suchte. Fragte deshalb die Wirtin, ob dieser König als be sonders leichtsinnig galt. Meinte nein. Hätte genau gewußt, was er tat. Tatsächlich sagte sie sogar: Er weiß genau, was er tut. Gegenwartsform. Tatili, tatila! Bin danach erst einmal spazierengegangen. Ließ mich durch diese furchtbar laute Stadt treiben. Zu Hause denken wir gerne, Maraskan sei nichts weiter
als ein undurchdringlicher Dschungel mit einigen Dörfern, in denen blutrünstige Rebellenbrut haust. Tuzak ist zweifellos eine königliche Stadt. War be eindruckt von den bunten Gewändern. Die Einheimi schen scheinen nicht die geringsten Hemmungen zu haben, die waghalsigsten Farbkombinationen zu tra gen. Macht einen neidisch. Will zwar nicht zu Hause so herumlaufen, doch wenn ich bedenke, was mir ein Schneider in Warunk für so bunte Stoffe abnähme, so wird mir schon bei der Vorstellung schwindelig. Hier trägt man's einfach. Das Land liefert die Rohstoffe im Überfluß. Sah zum ersten Mal bedruckte Stoffe. Die Einheimischen stellen sie ähnlich her wie andernorts Bücher. Konnte dann doch nicht widerstehen. Be schränkte mich aber auf einen vertrauten Schnitt. Leicht tulamidisch angehauchtes Kleid, gelb mit blauen Blattmustern und Ranken, der Ausschnitt sehr kokett. Die Pluderhosen mit den aufgenähten, knielangen Röckchen waren mir etwas zu fremdartig. Schneider fragte mich, ob ich wüßte, daß die Kunst des Stoffdrucks zu Zeiten Dajins des Frommen auf gekommen sei. War mir unbekannt. Fuhr fort: rund einhundertvierzig Jahre, bevor wir den Buchdruck er fanden. Klang ein wenig anklagend, als bestünde die einzige Leistung von uns Garethjas, wie sie uns nen nen, darin, Maraskan erobert zu haben. Reagierte un wirsch. Nicht wegen der versteckten Anklage, prallte
an mir ab, sondern weil ich wegen dieses Hinweises fälschlich dachte, der Schneider wüßte ebenfalls über mich Bescheid. Dachte schon: kennt dieses Land überhaupt keine Geheimnisse? Kein Wunder, daß die Rebellen sich so lange halten können. War aber ein Irrtum. Schneider erwähnte das offenbar nur zufällig. Fällt nicht schwer hier, an Verfolgungswahn zu lei den. Später unweit der Herberge gespeist. Bin vor sichtig geworden. Werde mich nicht noch einmal an etwas Süßes wagen. Dieses Volk scheint nur in Ex tremen zu denken. Dort nochmals Brief von Füchslein gelesen. Muß ihn geschrieben haben, als ich noch nicht einmal in Perricum war. Arg, arg feindselig.
Die Hebammen 1. Der König starb, daran gab es nichts zu deuteln. Auch wenn man im achttürmigen Palast Gegenteiliges behauptete, so hatten die Heiler schon lange die Gren zen ihrer Kunst erreicht. Nicht grundlos gingen mitt lerweile die Magier der Akademie in den Räumen des Königs ein und aus, doch trotz all ihrer Macht konn ten auch sie das Unvermeidliche nur hinauszögern, und selbst das hielt die Tuzaker Zauberer vollauf be schäftigt. Warum der König seit einem halben Jahr im Ster ben lag, wußten weder die Heiler noch die Magier zu sagen. Gerüchte kursierten zuhauf. In einigen der Mut maßungen über das Siechtum des Monarchen wurde der Name der Königin als Ursache genannt, in ande ren der Umradjidas I., seiner toten Mutter. Diese Ge rüchte verstarben mit ihren Verbreitern. Die Meinungen über das königliche Schicksal wa ren geteilt. Einige sagten, man solle Dajin VI. endlich
sterben lassen, denn die Anstrengungen der Heiler und Zauberer seien schon seit Wochen nicht mehr vereinbar mit den Gesetzen der Welt. Andere zitter ten vor dem Tag, da der König stürbe. Umradjida I. hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr sie ihren Sohn verachtete. Genügend Zeugen hatten sie sagen hören, daß das einzige Erwähnens werte im Leben ihres Sohnes seit der Stunde seiner Geburt die Hochzeit mit ihrer Tochter gewesen sei, womit sie ihre Schwiegertochter meinte. Und sogar diesen Bund habe sie selbst noch einfädeln müssen. Die ganz im Gegensatz zu ihrem Sohn von Umrad jida hochgeschätzte Schwiegertochter hieß Balatravis du Shoy'Rina. Zeitgenossen, die sie nicht ganz so sehr schätzten, nannten sie, etwas ungenau, die Alanfane rin, Sie, oder schlicht das Weib.
2. Der Haran war bei seinem Zwerg. Er gab vor, Schrift rollen zu studieren, während Lugen, Sohn des Kalru gen, Enkel des Imarott, mit sich und der Welt zufrie den tafelte. Bisweilen, wenn dem Zwerg ein Schluck des eigens für ihn herbeigeschafften Beilunker Bieres besonders mundete, schlug er kräftig mit dem Krug auf den Tisch, lachte laut oder sang ein paar Strophen
in der kehligen Sprache seines Volkes. Diesen plötzli chen Gefühlsausbrüchen seines Zwerges begegnete der Haran mit einem freundlichen Lächeln, oder in dem er kurz den Finger vor die Lippen hielt, wenn der Zwerg seiner Lebensfreude etwas zu lautstark Ausdruck verlieh. Warum ihn der Haran in seine Alabasterresidenz geladen hatte, wußte Lugen nicht. Diese Einladungen gab es, seitdem die Mutter des derzeitigen Harans von Sinoda dem Zwerg die Schürfrechte an der klei nen Mine überlassen hatte. Einmal, seltener zweimal im Jahr, kam seither ein Gesandter des Menschen herrschers bei Lugen vorbei, um die Botschaft zu überbringen. Im allgemeinen war sie sehr kurz gehal ten: »Ihr werdet erwartet.« Lugen, Sohn des Kalrugen, kam diesen Aufforde rungen stets pünktlich nach. Die damit verbundene Mühe war ein geringer Preis für seine Mine. Überdies wurden ihm bei seinen Besuchen in der Residenz au ßer dem leckeren Bier stets Speisen gereicht, die der Koch des Harans vermutlich nach einem Rezept aus den Beilunker Bergen zubereitet hatte. Üblicherweise durfte der Zwerg nach einem Tag zu seinen Geschäf ten in der Mine zurückkehren. Bis dann wieder ein Bote bei ihm erschien. Zwar drängte es den Zwerg gerade in den letzten zwanzig Jahren sehr, in Erfahrung zu bringen, ob ein
tieferer Sinn hinter seinen Einladungen in die Alaba sterresidenz läge – außer daß diese vermutlich durch eine Sitte des hiesigen, ein wenig merkwürdigen Menschenvolkes begründet waren – doch ein günsti ger Augenblick, eine entsprechende Frage zu stellen, hatte sich in den beiden Jahrzehnten noch nicht erge ben. Denn obwohl Lugen und der Haran sich seit et wa fünfzig Jahren kannten, hatten sie nicht sehr viel mehr Worte miteinander gewechselt. Doch wenn es sich Lugen recht überlegte, so sprach gerade das sehr für den Haran. Die meisten Menschen neigten dazu, viel zu viel zu reden und alles zu überhasten! Freudestrahlend knallte Lugen seinen Humpen auf den Tisch. Sein Blick begegnete dem des schmun zelnden Harans. Diesen Menschen mußte man ein fach mögen! dachte der Zwerg. Was Lugen nun überhaupt nicht ahnte, war, daß sei ne Einladungen ausschließlich dem Zweck dienten, ihn beobachten zu können. Schon die Harani war vom Anblick des Zwerges gefesselt gewesen. Was für eigenartige Geschöpfe Rur doch in seiner Weisheit geschaffen hatte! Betrachtete man das massige, kurz gewachsene Wesen, so mochte man wohl glauben, daß es nicht dem Schoß einer Mutter entstammte, sondern sich genau so, wie es jetzt aussah, eines Ta ges aus einem Felsen herausgelöst hatte. Vielleicht
nicht unbedingt aus dem hellen Gestein der Alaba sterbrüche – allenfalls aus einer dunkleren Schicht – wohl eher aus etwas Härterem. Kniff man die Augen zusammen, so wurde das immer etwas abstehende Haupthaar des Zwerges zu dürrem Gras, die Flechten seines Bartes zu zähem Wurzelwerk, das auf dem kar gen Grund wuchs. Und wie der Zwerg erst sprach, lachte und sang! Polternd wie losgetretenes Geröll. Doch am meisten beeindruckten den Haran und seine Mutter Lugens Hände. Sahen sie nicht aus, als seien sie das Werk eines begabten Steinmetzes, als wäre jede der scharfen Falten von Lugens Fingerge lenken einzeln geschliffen worden? Und dennoch bewegten sich die steinernen Fingerchen, und das so gar sehr geschickt! Die Harani hatte lange überlegt, wie sie den Zwerg dazu bringen könnte, sich nackt zu zeigen. Nur um zu sehen, ob sich Lugens Schulterblätter bei der Be wegung wie Steinplatten übereinanderschöben. Da, wie sie zu ihrem Bedauern erfuhr, der Zwerg nicht zu baden pflegte, und sie ihm der Schicklichkeit halber auch nicht einfach Anweisungen erteilen wollte, sich zu entblößen, schien ihr dieser Anblick für immer versagt zu sein. Bis ihr Sohn, der jetzige Haran, im Verein mit seinen Geschwistern ein Komplott aus heckte, in dessen Verlauf man eines Morgens einen halbnackten, sehr verstörten Zwerg durch die Flure
der Alabasterresidenz irren sah, auf der Suche nach dem Rest seiner Kleidung oder einem der dienstbaren Geister des Anwesens, der ihm aus seiner Notlage helfen konnte, während ihn die gesamte Herrschafts familie Sinodas durch Türritzen und Gucklöcher da bei beobachtete. Das außergewöhnliche Schauspiel ließ sich zum allgemeinen Bedauern nicht wiederholen, da Lugen von nun an bekleidet schlief, wenn er in Sinoda weil te. Selbst absichtlich herbeigeführte Mißgeschicke der Dienerschaft beim Auftragen der Speise und des Bie res für den Zwergen konnten daran nichts ändern.
3. Die Tür des Raumes, in dem der Haran angeblich las, und Lugen es sich gutgehen ließ, wurde leise geöffnet, und eine Dienerin trat ein. Der Haran warf ihr einen unwilligen Blick zu, denn beim Zwergenbeobachten ließ er sich nicht gerne stören. »Eure Vasallen begehren Euch zu sprechen«, flüsterte die Dienerin ins Ohr ihres Herrn. Mit bedauerndem Blick sah der Haran zu Lugen und ließ sich die Namen derjenigen nennen, die seine An wesenheit erbaten. Beim ersten Namen seufzte der Haran. Natürlich, Denderan, wie sollte es auch anders
sein? Schließlich waren schon mehrere Wochen seit seiner letzten Aufwartung verstrichen! Denderan war ja gewiß einer seiner treuesten Gefolgsleute, nur zer brach er sich eben dauernd den Kopf seines Harans! Die Dienerin nannte den zweiten Namen. Der Haran nickte. Die Dschunkara war eine Frau ohne eige ne Meinung. Denderan mußte leichtes Spiel gehabt haben, sie zum Mitkommen zu bewegen. Beim drit ten Namen legte der Haran die Stirn in Falten. Wie mochte es Denderan wohl bewerkstelligt haben, Keï deran von Achazak dazu zu bewegen, ihn zu beglei ten und bei seinem Anliegen – was immer es dieses Mal sein mochte – zu unterstützen? Der Dschunkar war ein äußerst bedächtiger Mann, der gar nicht zu dem bisweilen etwas heißspornigen Denderan passen wollte. Der Haran schätzte ihn sehr, zumal er und Ke ïderan viele Bedenken teilten, über den Weg, den ihre Heimat eingeschlagen hatte. »Laßt Euch nicht stören!« sagte der Haran und be fahl, daß man seine Bahre bringe und ihn in den Au dienzsaal trage, denn er war gelähmt. Die drei Edlen warteten bereits. Der weißhaarige Ke ïderan stand steif und regungslos da wie eine Statue. Der halb so alte Denderan wanderte gesenkten Haup tes auf und ab, dabei lautlos die Lippen bewegend, als fasse er seine Argumente noch einmal für sich zu
sammen, die Dschunkara strahlte wie üblich über beide Backen. Der Haran hatte bei ihr stets den Ein druck, daß sie sich jeden Augenblick ihres Lebens darüber freute, zu seinen Vasallen gehören zu dürfen. Als der Haran hereingetragen wurde, senkten die drei Dschunkarim respektvoll die Häupter. Ohne weitere Verzögerung ergriff Denderan das Wort. »Ich will offen zu dir sprechen, Mujiajian, mein Haran!« – Als hätte Denderan jemals ein Gespräch an ders begonnen! – »Du sollst uns zu den Waffen rufen und nach Tuzak führen! Dort sollst du dich zum Kö nig machen!« Dem Haran verschlug es die Sprache. Dann fragte er bemüht ruhig: »Was hat dir der König angetan, Denderan, daß du willst, daß ich ihn aus seinem Pa last vertreibe?« Der Angesprochene schüttelte heftig den Kopf: »Ich hege keinerlei Groll gegen ihn. Läge es in meiner Macht, so könnte der sechste Dajin noch zwanzig wei tere Jahre leben und herrschen. Doch das wird er nicht tun. Der König wird sterben. Ich sage dir, ich bin be stimmt nicht sein Feind, und wenn er auf dem Totenla ger liegt und sich auf den Weg zu Bruder Boron und Schwester Tsa begibt, so soll er auch von mir die Sechzehn Guten Ratschläge erhalten, die ich ernst meinen werde. Doch es geht mir nicht um den König, sondern um das Weib!«
»So hat dir also die Königin ein Leid zugefügt, Denderan?« fragte der Haran milde. Der Dschunkar warf seinem Herrn einen zweifeln den Blick zu. Er bewunderte den Haran. Mujiajian war trotz seines Gebrechens eine hochherrschaftliche Erscheinung. Wäre er kein Haran gewesen, sondern ein Gemeiner, so hätte sich jede reisende Theater truppe im Land die Finger geleckt nach dem Mann mit scharfgeschnittenen Zügen und den Silberfäden im schwarzen, vollen Haar, damit er für sie die Rolle des guten Seekönigs von Albenhus oder des finsteren Tyrannen von Honingen verkörperte. Doch manch mal stellte sich Mujiajian absichtlich begriffsstutzig an! »Ich muß dir das eigentlich nicht sagen, Haran!« antwortete Denderan. »Du weißt, was für eine das Weib ist! Der König wird sterben – es kann jeden Tag so weit sein – und dank seiner Mutter und weil es weder Erben noch Erbin gibt, wird das Weib den Thron beanspruchen. Und da Umradjida I. sie viel zu oft als ihre eigentliche Tochter bezeichnet hat – du glaubst nicht, wie sehr ich die vielen Tage preise, an denen die alte Königin nicht auf den Gedanken kam, ihre Schwiegertochter zu adoptieren! – wird der An spruch des Weibes auch von vielen als gerechtfertigt angesehen werden! Doch was geschieht dann? Viel leicht willst du mich prüfen, Haran, denn du kennst
die Antwort. Aber vielleicht verschließt du auch ab sichtlich die Augen? Sollte es so weit kommen, daß das Weib den Thron besteigt, so werden wir eine Herrsche rin haben, die nicht unseren Glauben teilt! Damit könn ten wir notfalls leben! Doch über kurz oder lang wird das Weib versuchen, uns ihre barbarische alanfanische Verhöhnung Borons des Milden aufzuzwingen!« »Das kannst du nicht wissen, Denderan«, warf der Haran ein. »Balatravis mag sich anders verhalten, wenn sie nicht mehr nur die Gemahlin des Herrschers ist, sondern selbst Gebieterin. Glaube mir, mein Dschunkar, Herrschaft verändert.« »Es mag dich verändert haben, Mujiajian«, meldete sich Keïderan von Achazak zu Wort. »Doch willst du solange warten, bis die Alanfanerin gemäß den Sitten ihrer Heimat und angeblich zur höheren Ehre Bruder Borons die ersten Opfer vom Felsen von Tuzak sto ßen läßt?« »Das wird sie nicht wagen«, antwortete der Haran fest. »Der Unfug, den sie über Boron erzählt, wird we nige Zuhörer finden. Dschunkarim, wir leben nicht mehr unter dem priesterkaiserlichen Joch!« »Eben, Haran!« sprach nun wieder Denderan. »Das Weib mag erzählen was sie will, und vielleicht läßt sich niemand davon beirren. Auch Boron wird sich nicht darum scheren, wenn sie ihn als finsteren To tengott verunglimpft. Doch wie lange, Haran, wird es
dauern, bis ein gläubiger Mensch im Königreich mit dem Finger nach Tuzak zeigt und ruft: Dort sitzt die Wiedergeburt Arethins des Verräters! Zwar in der Gestalt einer Frau, zwar nicht predigend den Glauben an einen tyrannischen Praios, doch ansonsten besteht kein Unterschied! Haran, ich muß dir das nicht erklä ren! Du weißt, daß alsbald die Heere derjenigen, de nen das Weib ein Greuel ist, gegen die Heere derjeni gen marschieren werden, die sie für die designierte Königin halten. Was gedenkst du dann zu tun, Haran? Das Königreich ist in höchster Gefahr! Deshalb sollst du dem sterbenden König den Thron nehmen, und zwar solange er noch lebt, nicht erst, wenn das Weib ihre Vasallen auf sich eingeschworen hat!« Der Haran atmete tief durch. »Ich bitte euch, Dschun karim, drängt mich nicht weiter. Wenn ich eines nicht werden will, so der Herrscher von Maraskan. Ich hatte gedacht, du verstündest mich und meine Beweggrün de, Keïderan? Und du, Denderan, der du mich zum König Maraskans machen willst: Was wäre das für ein König, der nicht einmal auf seinen eigenen Füßen seinen Thron besteigen könnte?« Der Haran deutete auf die Decke, unter der seine kraftlosen Beine verborgen waren. Denderan verzog schmerzlich das Gesicht. Daß der Haran hüftabwärts gelähmt war, war etwas, das der Dschunkar gerne vergab. Nichts Ehrenrühriges war
an dem Gebrechen. Die einen sagten, der Haran sei in jungen Jahren an einer zu flachen Stelle kopfüber ins Meer gesprungen, andere, er sei vom Pferde gestürzt. Doch derlei Unglücksfälle kamen vor, so hatte Rur die Welt eben geschaffen! Und an das dritte Gerücht, demzufolge sich der Haran als Jüngling mit einem Nemezijn angelegt habe, glaubte Denderan nicht. Ne mezijnbäume gab es genausowenig wie den Schmet terlingsmann. Doch sollte das Gerücht dennoch wider Erwarten stimmen, so verdiente der Haran um so mehr Bewunderung! Denn in allen Legenden über Streitigkeiten mit dem Rächenden Baum überlebte als einziger immer nur der Baum. »Wären deine Beine das einzige Hindernis, Haran«, wagte Denderan einen neuen Versuch, »so wollte ich dir gern mit den meinigen dienen und dich an jeden Ort tragen, nach dem dich gelüstet. Du bekämst ein edles Reittier, Haran! Diese Mühe nähme ich aus Sor ge um das Reich leichten Herzens auf mich.« Unwillkürlich mußte der Haran schmunzeln. Der Gedanke, Tag für Tag hören zu müssen ›Haran, du sollst‹ und ›Eigentlich weißt du das, Haran‹, war nicht unbedingt ein verlockender Anreiz für einen unwilli gen Thronräuber. Er bat: »Drängt mich nicht weiter, Dschunkarim.« »Verstehe, wie groß unsere Ratlosigkeit ist!« sprach Keïderan. »Als Denderan zu mir kam, dachte ich: leb
ten wir doch noch in den Jahren, als ich halb so alt war wie jetzt! Damals hätten wir uns nicht den Kopf zerbrechen müssen. Zaborons Jünger wären Garantie genug gewesen, daß uns aus dieser Königin kein Un heil erwächst.« »Das ist nicht dein Ernst, Keïderan«, entgegnete der Haran scharf. »Plagt dich dein Alter, daß du der Mördersekte hinterhertrauerst?« »Nein, mein Haran, das war nicht im Ernst gespro chen. Man kann nicht das eine ohne das andere be kommen. Wir haben genug unter den Zaboroniten gelitten, als wir sie nicht benötigten. Meine Worte sollten dir nur zeigen, wie groß meine Sorge ist. Selbst auf solche Gedanken komme ich schon!« Die Dschunkara hüstelte. Immer noch fröhlich strahlend sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Es soll eine Gemeinschaft geben, die sich Bruderschaft nennt. Sie sollen ebenso gründlich sein wie die Zaboroniten, doch sich darauf beschränken, was man sie heißt.« Ihr Oberherr sah die Frau überrascht an. »Du er staunst mich, Dschunkara! Mir scheint, ich habe dich bisher falsch eingeschätzt!« Abwehrend hob die Vasallin die Hände: »Ich kenne niemanden von diesen Leuten. Meine Kusine nannte mir den Namen.« Sie schwieg einen Augenblick und errötete plötzlich: »Meine Kusine kennt diese Leute ebenfalls nicht.«
»Aber du denkst dennoch, das sei ein bedenkens werter Vorschlag, nicht wahr?« fragte sie der Haran. »Was meinst du, wie es dem König von Al'Anfa ge fallen mag, wenn just zu der Zeit, da der Gatte seiner Nichte im Sterben liegt und ein Königswechsel be vorsteht, eben diese Nichte plötzlich einem bedauer lichen Unfall erliegt?« »Was will er tun?« kam Keïderan der Edlen zu Hil fe. »Der König von Al'Anfa ist machtlos. Er gebietet nicht einmal seiner eigenen Stadt! Vielmehr befiehlt sie ihm!« »Erklärtet ihr mir nicht noch eben, das Herz Bala travis' schlüge im Takt der Rabenstadt? Nun stellt euch vor, daß zwar ein machtloser König ohnmächtig zürnt, aber daß dennoch die Rabenstadt nach eige nem Gutdünken ihre Galeeren schickt, Balatravis' Tod zu vergelten!« »Wohlan!« erwiderte Denderan mit einem leisen Lächeln. »Der Tag, an dem sich die Flotte des vierten Dajins bewähren kann, ist mehr als überfällig!« Mit einem Mal war der Haran ernsthaft verstimmt. Der da eben zu ihm gesprochen hatte, war nicht sein Dschunkar. Denderan hatte den Worten nur seinen Mund geliehen, erdacht worden waren sie von ande ren. Das war die unverblümte Sprache der KriegsWezyradim! Nur allzu deutlich hörte der Haran ihre Stimmen in seinem Kopf:
»Wozu brauchen wir ein Banner? Maraskan benö tigt kein Banner! Hinweg damit! Weg, weg! Zerreißt es! Verbrennt es! Überlaßt es dem Wind! Das Meer ist unsere Grenze. Wer an unseren Küsten anlandet, weiß, daß er das maraskanische Königreich betreten hat! Wer ein Schiff besteigt, weiß, daß er Maraskan verlassen wird! Also, wozu brauchen wir ein Banner? Wozu? Wozu? Reißt die Banner herunter! Schneidert Säcke und Beutel daraus. Nehmt die Beutel mit auf den Markt und füllt sie mit Reis oder Shatakknollen, mit Fisch und Fleisch, mit Gemüse, Obst oder Ge würzen. Gebt unser Banner den Armen, damit sie sich darin kleiden können, oder wischt eure Böden damit auf. Maraskan hat nur dann Bedarf an einem Banner, wenn die Purpurlilie auch über anderen Kü sten flattert!« Der Tag war nicht arm an Überraschungen, dachte der Haran. Er fragte sich, wie stark die Verbindungen Denderans zu der kriegslüsternen Riege in Tuzak sein mochte, und ob er als Haran die Zügel seiner Va sallen in der Vergangenheit zu sehr hatte schleifen lassen. »Genug jetzt!« sagte der Haran und schlug mit der Faust auf sein gefühlloses Bein. »Ich habe mein letztes Wort gesprochen. Dschunkara, wenn du Gold benö tigst, um die Königin ermorden zu lassen, dann spre che bei einem anderen vor. Dasselbe gilt für euch,
Dschunkarim. Sucht euch einen anderen, der den sterbenden König von seinem Thron wirft!« Geraume Zeit wurde geschwiegen. Die drei Vasal len wirkten unschlüssig. Ihren Plan weiterzuverfol gen, wagten sie nicht, doch einfach gehen wollten sie offenbar auch nicht. Vielleicht warteten sie darauf, daß sich ihr Herr von ihnen verabschiedete oder ih nen auch einfach befahl, auf ihre Güter zurückzukeh ren. Der Haran schlug einen versöhnlicheren Ton an: »Wenn es euch paßt, mögt ihr heute abend meine Gä ste sein. Ich werde ein kleines Fest geben, um mich von meiner Hauptmännin zu verabschieden. Sie ist zwar nur eine Gemeine, aber sie ist mir mit den Jah ren ans Herz gewachsen. Gerne lasse ich die treue Seele nicht gehen, doch sie kommt allmählich in die Jahre und bat um ihre Entlassung. Deshalb will ich sie mit dieser Feier ehren!« Er zwinkerte verschwörerisch: »Der Zwerg wird ebenfalls anwesend sein!« In mancher Hinsicht unterschied sich der Haran von Sinoda gar nicht so sehr von den schwertklirrenden Frauen und Männern des Kriegs-Wezyradads. Er wie sie waren ratlos, gemeinsam teilten sie das Unbeha gen, das viele der Herrschenden Maraskans empfan den. Die Welt ordnete sich neu. Das einst riesige Kai
serreich zerfiel mit atemberaubender Geschwindig keit. Innerhalb weniger Jahre hatten sich im Westen das Liebliche Feld abgespalten, im Norden das Bornland, im Südosten Maraskan, und daß die einstige Meridiana, dieses Konglomerat isolierter Küstenstäd te wie Al'Anfa, Brabak oder Chorhop, dem Beispiel folgen würde, war nur eine Frage der Zeit. Doch auch das Tulamidenland mit seiner uralten Kultur verlor seine Beständigkeit, denn in der Khomwüste hatten sich einige unbedeutende Nomadenstämme zusam mengeschlossen, um im Namen ihres Eingottes Ra stullah die Welt zu unterwerfen. Wo war der Platz Maraskans? Manche suchten ihn draußen, manche in sich selbst. Alle zusammen hatten sie die alten Philoso phen der Insel wiederentdeckt. Sie lasen die Gedan ken Zendajians, wie sie seine Schüler der Nachwelt hinterlassen hatten. Doch das, was für einen kleinen Handwerker namens Vegsziber den Weg zu neuen Welten eröffnete, verstärkte die Verunsicherung der Herrschenden Maraskans. Unerwartet wurden die Schriften Dschindzibers von Cavazoab zum Zankapfel. Dschindziber war ein Weiser, der sich beinahe ausschließlich mit der Frage ›Was ist Kunst?‹ auseinandergesetzt hatte. Als Höhe punkt seines Lebens hatte er schließlich mit vier ein fachen Regeln die Antwort gegeben, Regeln, die ihre
Begründung aus dem Wesen der Welt, dem Wesen der Dinge, dem Wesen der gesamten Schöpfung Rurs zogen. Über Dschindzibers Regeln konnte man lange streiten, man konnte sie gutheißen oder ablehnen und dennoch das Gefühl haben, daß etwas in ihnen war, nämlich ... ja was? Wo war der Platz Maraskans? Vor sechshundert Jahren hatte die Besiedlung der Insel begonnen. Die ersten, die kamen, waren die Söhne und Töchter des Kaiserreiches. Sie kamen von Norden aus Tobrien, Warunk und Beilunk, Men schen, die Not und Armut zu entkommen trachteten. Einhundert Jahre nach ihnen setzte im Süden der tu lamidische Stamm der Beni Rurech auf die Insel über, der vor ungezählten Generationen aus seiner Heimat geflohen war und nun das Land erreicht hatte, das ihm alte Schriften verhießen hatten. Beide Siedler gruppen trafen aufeinander und lernten miteinander zu leben, die Beni Rurech und jene, die sie als Beni Tobrak, Beni Lunki oder Beni Reich bezeichneten. Dann war der erste Anlauf zu einem unabhängigen Maraskan gekommen, danach der Bürgerkrieg, der Stiefelschritt der Sonnenlegion und das Verbot des einheimischen Glaubens. Geduldig wartete Maraskan auf das Ende der Priesterkaiser, danach auf das Ende der Kaiserlichen Gouverneure. Seit fünfzig Jahren gab es nun ein unabhängiges
Königreich Maraskan. War man glücklich? Nein, denn Maraskan befand sich in einer tiefen Krise. Ein schleichendes Unbehagen kündete davon, daß etwas nicht so war, wie es eigentlich hätte sein sollen. Doch da niemand wußte, was gegen das Unbehagen zu tun war, vertrieb man sich weiter wie gewohnt die Zeit. Einige dachten, einen Ausweg aus der Sackgasse gefunden zu haben. Sie sahen ihn darin, die Schiffe zu besteigen, um auf dem Festland mit Waffengewalt ein zweites Maraskan zu errichten. Andere stimmten ihnen teilweise zu. Die Schiffe sollte man beladen, doch nicht nur mit Eisengekleideten, sondern allen, die die Insel bewohnten. Dann solle man in See ste chen und sich auf die Suche nach einem neuen ver heißenen Land begeben.
4. Das Fest zu Ehren der scheidenden Hauptmännin fand im palmengesäumten Garten der Alabasterresidenz statt. Ein Zelt war aufgebaut, dessen Wände hochge rollt worden waren. Das Fest war eher bescheiden an gelegt, dem Anlaß entsprechend. Kein Ochse drehte sich am Spieß, statt dessen ein Hammel, und auch kein Rajdegga-Spieler sprang schweißüberströmt um sein tausendsaitiges Instrument, dafür bewiesen drei
Musikanten auf Marandolinen und Dablas ihre Kunst. Der Boden unter dem Zeltdach war mit tulamidi schen Teppichen bedeckt worden, auf denen Kissen lagen. Einzig für Lugen, Sohn des Kalrugen, Enkel des Imarott, war ein Tischlein aufgestellt worden. So war er allseitig gut sichtbar und bestaunbar. Dort saß der Zwerg mit seinem Humpen und beobachtete die Gela denen, die fast alle zum Haushalt des Harans gehörten. Unter dem Zeltdach stand auch die Liege des Gast gebers. Neben ihm saß seine Frau, die ihm gelegent lich ins Ohr flüsterte, sowie die Hälfte seiner zahlrei chen Kinder, die nach guter Familientradition den Zwerg beäugten. Die andere Hälfte rannte – je nach Alter – entweder johlend zwischen den Erwachsenen umher oder erwartete an nicht so öffentlichen Plätzen ihre Verabredungen. Die Hauptmännin vermochte der Haran in dem Trubel leicht auszumachen. Sie war auffällig in ihrem roten Kleid. Der Haran winkte sie heran und verwik kelte sie in freundliches Geplauder. Wie immer, wenn jemand mit ihr sprach, hielt die Hauptmännin das Gesicht halb abgewendet, dessen Fältchen davon zeugten, daß sie manchen Kummer in ihrem Leben gesehen hatte und nur gelegentlich Freude. »Ich vermisse deinen Sohn«, sprach sie der Haran an.
»Er tingelt noch«, entgegnete die Hauptmännin. Doch schon legte die Harani ihrem Gemahl die Hand auf die Schulter und flüsterte erwartungsfroh: »Sie kommt!« Sie, das war in diesem Fall die Wahrsagerin, Ruriji da-die-Geheimnisvolle, Die-Erspäherin-des-Verborge nen, Die-Reisende-zwischen-hier-und-dem-Verhüll ten. Außer den drei Vasallen des Harans wußte ver mutlich jeder auf dem Fest, daß die fette Frau mit nichten die Zukunft sah. Sie war nur eine Scharlata nin. Doch wußte sie ihre Auftritte, die öffentlich wa ren, da ohnehin keine geheimen Geschicke kundge tan wurden, so gekonnt in Szene zu setzen, daß man die Wahrsagerin vor allem als unterhaltsame Gaukle rin ansah. Schon eine Zeit vor ihrem Auftritt pflegte die Wahrsagerin sich über den laufenden Klatsch kundig zu machen, um daraus später unter Tränen witzige Orakel zu formen. Bisweilen wurden bei dieser Gele genheit auch mit der Geheimnisvollen im Beisein ei nes kleinen Geschenkes die späteren Fragen und Antworten abgesprochen. Dann wurden aus den Orakeln der Wahrsagerin Botschaften an andere An wesende oder sogar an den Haran. In diesen Fällen zeigte die Zukunft etwa ›eine Per son stattlicher Gestalt, das Haar glänzend und wal lend, der Blick stolz wie zweitausend Rösser‹. Die ge
heimnisvolle Person mit dem stolzen Blick von tau send Pferdeaugen offenbarte sich meist durch die überaus geheimnisvolle Eigenheit, daß sie in nächster Nähe der Wahrsagerin stand und sich gerade aufplu sterte. Am beliebtesten unter den bestellten Visionen wa ren die, die Rurijida auf Grund kraß falscher Selbst einschätzung ihrer Auftraggeber überkamen, oder weil ihr ein boshafter Geist mit einem größeren Ge schenk als dem ursprünglichen die Tür zum Verhüll ten noch ein wenig weiter aufgestoßen hatte. Da säuselte dann das Orakel gerne von Lilien, von schlanken Gerten, die sich im Winde bogen, von lufti gen Geistern, gar von der rahjaverkörpernden Anmut selbst, während einige Wissende schon kicherten, an dere noch rätselten, welchen stämmigen Trampel die Geheimnisvolle eben beschreiben mochte. Die Enthüllung des Verborgenen hatte damit begon nen, daß sich der Gehilfe der Wahrsagerin zu den Musikanten begab, um dafür zu sorgen, daß auch im passenden Augenblick geheimnisumflort getrommelt und elegisch gezupft wurde. Derweil entzündete die Geherin zwischen den Welten Duftkräuter, verrenkte ihren Körper in theatralischen Bewegungen, sprach, wisperte und winselte mächtige Wörter, die nieman des Sprache entstammten. Schließlich hatte sie wie
immer ihren berühmten Stein berührt, der in blauem Licht gloste und ebenfalls wie immer gehörig Ein druck machte. Für die Wahrsagerin war der Stein nur hübsches Beiwerk. Wie hätte die Enthüllerin des Ver borgenen auch ahnen können, daß mancher gelehrte Zauberer für den Besitz des Steins in Versuchung ge führt worden wäre, seine halbe Akademie auszurot ten, für diesen Schatz aus der Sammlung eines längst vergessenen Echsenzauberers? Viele Fragen waren bereits gestellt und beantwor tet worden, als auch Denderan vor die Wahrsagerin trat. Verhaltenes Kichern war zu vernehmen, denn man sah dem Dschunkar an, daß er die Regeln des Spieles nicht durchschaute. »Weise Frau!« sagte er ehrfurchtsvoll. »Da du viele Geheimnisse zu kennen scheinst, die anderen verbor gen sind, beantworte mir die Frage, von der du weißt, daß ich sie stellen werde: Was sollen wir in unserer Sorge tun?« Hätte der Haran seinen Beinen noch gebieten kön nen, so wäre er jetzt aufgesprungen. Erbost fragte er sich, ob Denderan, der Narr, der Gauklerin jetzt tat sächlich dieselben Gedanken und Vorschläge mittei len wollte, wie vor Stunden ihm? Der Haran war so verärgert über seinen Vasallen, daß er am liebsten be fohlen hätte, ihn auf der Stelle bis zum Halse ein zugraben und den Käfern zu überlassen.
Die Wahrsagerin war einige Augenblicke ratlos. Sie überbrückte die Ratlosigkeit, indem sie seltsame Sil ben ausstieß, die sie mit ausholenden Gebärden un termalte. Wer war der Mann? Was bedeutete seine Frage? Sie ließ ihren Blick über das Publikum schwei fen, hoffend auf Erleuchtung. Endlich entdeckte sie einen Mann und eine Frau, die ähnlich wie der vor ihr äußerst angespannt ihre Antwort erwarteten. Das schien ja doch nicht so schwer zu sein! dachte die Beschreiterin des Ungewissen erleichtert. Zwei Männer und eine Frau! Der eine davon vielleicht ein wenig arg alt, doch jeder nach seinem Geschmack! Sie setzte schon an, dem offenbar nicht ganz glück lichen Dreiecksverhältnis unverfänglichen, doch be deutungsschwangeren Rat zu erteilen, als es knallte und sich eine Geröllhalde über die Feier zu ergießen schien. Jäh hatte der Zwerg seine Kanne auf den Tisch ge schlagen und war aufgesprungen! Die Haare auf sei nem Kopf standen ebenso ab, wie die Zöpfe seines Bartes. Die Schatten- und Lichtspiele der Fackeln und Laternen verwandelten die Haare in eine Korona, die die zerfurchte Landschaft des Zwergengesichts mit seinen tiefen Tälern und Spalten umrahmte. Zwei furchterregend wilde Augen stachen daraus hervor. Der Zwerg sprach: »Du sollst den finden, der nicht gefunden werden sollte. Erkennen wirst du ihn, denn
der Gebieter des Landes ist wie das Land, dem er ge bietet!« Der Zwerg setzte sich wieder, als sei nichts gesche hen, und nahm einen kräftigen Zug aus seinem Krug. Lugen wischte sich mit dem Arm den Schaum vom Mund und verharrte unsicher in der Bewegung. Seine kleinen Äuglein huschten umher wie ein Paar aufge scheuchter Mäuse. Was war denn auf einmal los? Alle starrten ihn an, als habe sich ein Paar Koschammern in seinem Bart eingenistet, manche schrien aufgeregt, drei der Menschen rannten auf ihn zu. Selbst der bis her so verträgliche Haran zeigte sich unangenehm geschwätzig, fuchtelte mit den Armen und bedeutete ihm herzukommen! Widerstrebend kam Lugen der Aufforderung nach. Er wurde sofort umringt, und dieselbe Frage prasselte von verschiedenen Seiten auf ihn ein: Was habe er eben gesagt? Lugen lebte schon lange unter Menschen. Daher wußte er, daß sie unter eben etwas ganz anderes ver standen, als ein Zwerg, nämlich einen Begriff, der in seiner eigenen Sprache, dem Rogolan, etwas zwi schen ich bin schon dabei und ich komme gerade dazu be deutete. Diese haarfeine Unterscheidung, die die Menschen betrieben, war selbstverständlich unsinnig angesichts des Alters der Welt. Ebenso gut hätte man einem Stein, der einen Schacht hinunterpolterte, mit
jedem Schritt, den er tiefer fiel, einen neuen Namen geben können! Doch die Menschen schienen an derlei Haarspaltereien eine große Freude zu haben. Onkel Cratosch, der jüngst viel herumgekommen war, hatte Lugen ausdrücklich darauf hingewiesen, als sein Nef fe kürzlich die heimischen Stollen verlassen hatte. Jedes seiner drei Worte sorgfältig abwägend, ant wortete der Zwerg: »Ich sprach nicht!« Nein, nein! beharrten die Menschen, so sei das nicht gewesen und wiederholten, was Lugen angeb lich gesagt habe. Leise Zweifel beschlichen Lugen. Doch nicht an sich selbst, denn an sich hatte er noch nie zweifeln müssen. Also versprach er: »Ich werde darüber nachdenken. Sowie ich mich entsinne, will ich euch das bald sagen.« Der Zwerg sprach zwar in der Sprache der Menschen, doch selbstverständlich dachte er in Rogolan, als er das Wort bald gebrauchte. Der Zwerg wußte nichts. Darüber waren sich die drei Vasallen einig. Sie waren Zeugen einer klassischen Wahrsprechung gewesen, wie man sie aus den Le genden kannte. Überaus verständlich war sie nicht. »Der Gebieter ist wie das Land. Was bedeutet das?« sprach die Dschunkara nachdenklich. »Im schlimmsten Fall, daß er ein Mensch mit übermäßigem Ungezieferbefall ist«, mischte sich die Wahrsagerin ein, die neugierig gelauscht hatte. Er
schrocken hieb sie sich die Hand auf den Mund, doch die Worte waren schon daraus entwichen. Sehnlichst wünschte sich die Erspäherin des Verborgenen an den verstecktesten Ort der Welt! Doch niemand ging auf ihre Bemerkung ein. Bis zum nächsten Morgen, nach langem Debattie ren, hatte sich die Dschunkara in den Kopf gesetzt, daß die Weissagung des Zwerges auf einem Zitat aus den Heiligen Rollen beruhen müsse, wovon sie Den deran und Keïderan rasch überzeugen konnte. Die Originale dieser Hinterlassenschaft der Beni Rurech waren zwar seit der Unterjochung Maraskans durch die Priesterkaiser verschollen, doch die Priesterschaft Rurs hatte einen Teil der Rollen zu rekonstruieren gewußt. Allerdings beruhte die Rekonstruktion auf nicht immer gänzlich miteinander übereinstimmen den Abschriften oder gar dem, was vor vier Jahrhun derten noch hastig mündlich weitergegeben worden war, als die Sonnenlegionäre schon an die Tempeltü ren pochten. Daher begaben sich die drei Edlen noch am Vor mittag zum Tempel Sinodas, um herauszufinden, ob der zweite Satz des Zwerges – mehr wollten die drei Dschunkarim nicht offenbaren – ein Zitat sei, das auf eine aussagekräftigere Stelle in den Heiligen Rollen verwies. Die Antwort, die die Hohen Schwestern des Tempels gaben, war ein glattes Nein.
Die drei Vasallen, die sich mit jedem Schritt zum Sinodaer Tempel sicherer gewesen waren, dort ihre Antwort zu finden, waren enttäuscht. Im Laufe des Tages verwandelte sich ihre Enttäuschung in Unmut. »Wir sollten die Hochgeschwister noch einmal fra gen«, schlug Denderan vor. »Vielleicht war es ein Fehler, daß wir ihnen nicht alles erzählten, von An fang an. Nicht nur das, was der Zwerg sagte, sondern auch warum uns so sehr daran liegt, seine Weissa gung zu verstehen. Denn ich habe den Eindruck, daß die Hohen Schwestern ein wenig zu schnell mit ihrer Antwort waren. Möglicherweise strengen sie sich mehr an, wenn man ihnen verdeutlicht, wie wichtig das alles ist.« »Mag es sein, daß sie die Antwort nicht kannten?« warf die Dschunkara ein. Entrüstet entgegneten ihre beiden Standesgenos sen: »Sie sind Hochgeschwister!« »Sie sind die Hochgeschwister des Tempels einer kleinen Stadt«, erwiderte die Dschunkara. »Vor allem aber sind sie Menschen. Ist euch beiden der Gedanke so fremd, daß auch jene, die Respekt und Ansehen genießen, bisweilen unzulänglich sind? Daß mancher zwar weiß, daß er das, was sein Amt oder andere von ihm erwarten, beileibe nicht auszufüllen vermag, er aber dennoch nicht bereit ist, vor aller Welt seine Mängel einzugestehen?«
Bei keinem ihrer Worte wich das strahlende Lachen aus dem Gesicht der Dschunkara. Unwillkürlich muß te Denderan schmunzeln. Dieses leicht zu beeinflus sende Blatt im Wind barg tatsächlich Überraschun gen. »Ja«, stimmte Denderan zu. »Vielleicht sollten wir unsere Auskunft anderswo einholen.«
5. Der Mittelpunkt des Glaubens war Boran. Den größe ren Ruf als Hort der Gelehrsamkeit hatte Jergan. Doch die Stadt der Tetrarchin lag nicht gerade nah, und viel weiter als Jergan konnte man von Sinoda aus gar nicht reisen, ohne Maraskan zu verlassen. So fiel die Wahl auf den Tuzaker Tempel, obwohl er in sei nem Ansehen denen der Schwesterstädte ein ganzes Stück hinterherhinkte. Doch schließlich galt es ja nicht, die Geheimnisse der Welt zu entschlüsseln, sondern nur, herauszufinden, ob es eine Passage in den überlie ferten Texten oder ihren Deutungen gab, die ein helle res Licht auf Lugens Weissagung warf. Daher erbaten die drei Dschunkarim die Erlaubnis des Harans, in die Königsstadt reisen zu dürfen, um ihre Nachforschun gen nach der Bedeutung des Zwergenwortes fortfüh ren zu können. Er gestattete es ihnen unter der Be
dingung, daß ihn seine Vasallen über jeden Fort schritt auf dem laufenden halten sollten. Am näch sten Tag stach das Dreigespann in See. Schon auf dem Schiff hatten die Dschunkarim be schlossen, daß es ihrem Anliegen nütze und nieman dem schade, wenn sie die Wahrheit ein wenig zu rechtbogen und angaben, im Auftrage des Harans und nicht nur mit seiner Erlaubnis zu reisen. Wie er wartet ebnete ihnen diese Behauptung den Weg zu den Hochgeschwistern und sorgte dafür, daß sie ohne langes Warten empfangen wurden. Die beiden Hochgeschwister des eindrucksvollen Tuzaker Tempelturms hörten auf die Namen Zen dold und Xanderan. Zendold war steinalt. Etwa zwei Dutzend langer Haare wuchsen weiß auf seiner Glat ze. Seine fleckige, faltenreiche Haut, die seinem aus gedörrten Körper viel zu groß geworden zu sein schien, vermittelte den Eindruck, als sei Zendold das menschliche Gegenstück eines Alten Drachen. Doch nicht nur seinem Äußeren verdankte der Priester, daß ihn einige jüngere Mitglieder des Tempels heimlich den Tuzakwurm nannten. Xanderan war etwa Fünfzig. Sein Gesicht war auf fällig schmal, buschige Brauen wucherten über den tiefliegenden Augen. Das Feuer, das einmal in ihnen gelodert hatte, verbarg sich heutzutage unter erkal tender Asche.
Dem Anlaß entsprechend trugen die Hohen Brüder die offiziellen Gewänder ihres Standes: purpurne und gelbe Roben mit übermäßig ausgepolsterten Schul tern, auf dem Kopf die Gapuzza, eine Lederhaube, die schuppenartig mit Holzplättchen besetzt war. Denderan machte sich wie gewohnt zum Wortfüh rer. Schlau geworden aus der Befragung der Sinodaer Hochgeschwister, erwähnte der Dschunkar dieses Mal nicht nur Lugens halbes Zitat, sondern begann mit den Gründen, warum er und seine Begleiter den Haran an dem betreffenden Tag überhaupt aufge sucht hatten. Der jüngere der beiden Hochgeschwi ster unterbrach ihn bald. »Die Wege des Königreichs sind nicht unser Be lang!« belehrte Xanderan den Vasallen. »So sind unsere Befürchtungen unbegründet?« er widerte Denderan herausfordernd. »So sind wir nur Toren, deren Sorge Hirngespinsten entspringt?« »Nein«, widersprach der Priester. »Ich teilte eure Sorgen noch bevor ich euch kannte. Dennoch ist es, wie es ist: Das Herrschen ist ausschließlich eure An gelegenheit!« Das Zugeständnis beruhigte Denderan etwas. Übergangslos kam er auf die Offenbarung des Zwer ges zu sprechen und den Verdacht, den die Dschun kara hegte. Doch die Antwort war dieselbe, die das Dreigespann bereits in Sinoda erhalten hatte. Die
Hochgeschwister wollten die Mutmaßung der Dschunkara nicht teilen. Zendold war der Schnellere der beiden: »Zu einfach! Man versteht sofort, was gemeint ist. Daher stammt der Text nicht aus den Heiligen Rollen!« »Wie? Ihr wißt, was die Sätze bedeuten?« rief Den deran erregt. »Schnell, sprecht, Bruder, wo sollen wir suchen?« »Das habe ich nicht gesagt!« antwortete der Ältere scharf. »Ich sagte nicht, daß ich die Antwort wüßte! Ich sprach nicht einfach: tut dies und jenes, dann werdet ihr weitersehen! Solche Aussagen sind einfach! Aber das ist nicht die Sprache der Heiligen Rollen! Sie sind un gleich komplizierter und vieldeutiger gehalten. Ich will es euch so einfach wie möglich an einem Beispiel erläu tern.« Sofort begann er mit seiner Erklärung. Schon nach wenigen Sätzen hatten seine Ausführungen für die Zuhörer die Insel des Verständlichen verlassen und befanden sich auf kühner Kaperfahrt in klippenreichen Meeren. Der jüngere Priester hatte ein Einsehen. »Ich denke, sie haben verstanden«, unterbrach er seinen Mitbruder trocken. Der Ältere sah einen Herz schlag lang recht verwirrt aus, schloß dann die Au gen und legte eine leidende Miene auf. »Das soll noch nicht heißen, daß eure Reise sinnlos war«, sprach der Hohe Bruder Xanderan bedächtig weiter. »Auch wenn die Weissagung des Zwerges
nicht den Heiligen Rollen entstammt, so mag es immer noch eine Auslegung eines Draijsches geben, in der sich eine ähnliche Aussage findet. Sicherlich kennt niemand alle Deutungen auswendig, die jemals ver faßt wurden. Ich müßte die Priester des Tempels an weisen, unsere Schriften danach zu untersuchen. Doch das braucht seine Zeit. Wenn ihr das wünscht, werde ich es veranlassen.« »Wie war das Zwergenwort?« brachte sich der an dere Hohe Bruder in Erinnerung. Mit immer noch ge schlossenen Augen deutete er auf Denderan. »Wir sollen jemanden suchen, der ...« »Wörtlich!« unterbrach ihn Zendold barsch. »Du sollst den finden, der nicht gefunden werden sollte. Erkennen wirst du ihn, denn der Gebieter des Landes ist wie das Land, dem er gebietet!« »Noch einmal!« wurde Denderan unfreundlich auf gefordert. Der Dschunkar gehorchte. »Wiederhole es!« erklang es gleich danach. Ist der Alte taub? dachte Denderan und sprach zum dritten Mal Lugens Sätze. Eine leichte Schroffheit hatte sich in seine Stimme eingeschlichen. Der Dschunkar war es nicht gewohnt, von alten Männern angeblafft zu werden, die es nicht einmal für nötig hielten, beim Sprechen die Augen zu öffnen. »Noch einmal!«
Auch dieser Aufforderung kam Denderan nach. Das Zwergenwort klang inzwischen aus seinem Munde wie eine Drohung. Der Alte hob die Lider. Was aus seinen Augen schimmerte, ließ noch mehr an einen Alten Drachen denken, und zwar einen sehr hungrigen. »In vier Tagen werdet ihr wieder hier sein!« fauch te der Hohe Bruder. »Entweder habe ich euch dann etwas zu sagen, oder es gibt nichts mehr zu sagen.« Gut eine Stunde vor dem vereinbarten Zeitpunkt fan den sich die drei Edlen wieder im Tempel ein, wo wie immer lautstark gepriesen wurde. Während sich die Dschunkara und Keïderan den Betenden anschlossen, folgten Denderans Schritte den verschlungenen Or namenten des Tempelbodens. Er murmelte leise da bei. Zum hundertsten Mal legte er sich zurecht, was er dem Hohen Bruder Zendold noch einigermaßen höflich antworten wollte, sollte der wiederum einen so groben Ton anschlagen wie beim ersten Mal. Das zweite Treffen fand ohne Xanderan statt. Die drei Edlen hatten ihn nur flüchtig gesehen. Offenbar war der Hohe Bruder geschäftig dabei, die Nachfor schungen nach möglichen Hinweisen auf Lugens Weissagung in anderen Quellen zu leiten. Eine greifbare Erregung hatte Einzug in Zendolds al ten Körper gehalten. Seine drei Besucher hatten kaum
Platz genommen, als der Priester auch schon in die Hände klatschte, worauf drei unterwürfige Gestalten zwei dicke Bücher und Schreibzeug brachten. Vorsich tig schlugen Zendolds Knochenfinger die Wälzer auf. Die drei Edlen wußten, welche beiden Bücher der Hohe Bruder hatte kommen lassen, denn jeder Tem pel des Rur-Gror-Glaubens führte sie: das Buch der Anwesenden und das Buch der Abwesenden. In das eine trug Rurs Priesterschaft die Geborenen ein, in das andere die Gestorbenen. »Eine Ungereimtheit beschäftigt mich seit Jahren«, begann Zendold seinen langatmigen Vortrag. Der Rur-Gror-Glaube lehrt die ständige Wiedergeburt. Er kennt zwar schädliches Wissen, doch kein verbote nes, denn Rur selbst hat die Welt mit Rätseln gefüllt und seiner Dienerin Hesinde befohlen, seinen Ge schöpfen Neugier und Wissensdurst zu schenken. Tod und Wiedergeburt, dieses ständige Zusammenspiel von Boron und Tsa, war für einige Priester des Zwei götterglaubens seit langem eines der spannendsten Rätsel Rurs. Seine Lösung hatten sie zu einer Wissen schaft erhoben, deren Hauptinstrumente die Auf zeichnungen über Geborene und Verstorbene waren, die beileibe nicht nur karge Jahreszahlen und Namen enthielten. Zendold war nie ein befähigter Lehrer gewesen. Das
kümmerte ihn nicht. Um etwas verstehen zu können, mußte man sich hart anstrengen. So hatte Rur die Welt geschaffen. Wer ihn, Zendold, verstehen wollte, der verstand ihn auch. Wem das nicht gelang, der gab sich nur nicht genug Mühe. So einfach war das. Punktum! Zendold dachte auch jetzt keinen Augenblick daran, von dieser Maxime abzuweichen, die er sein Lebtag hochgehalten hatte. Also sprach und sprach der Alte, gelegentlich mit einem kryptischen Zeichen auf der Schreibtafel seine Ausführungen untermauernd. Seine unwürdige Zuhörerschaft wartete indessen ange strengt darauf, daß der Priester endlich zur Sache kä me. Dieser Zeitpunkt ließ lange auf sich warten, doch auch er kam. »Kurzum«, schloß Zendold, »es spricht viel dafür, daß ein Erbe Dajins lebt.« »Welches Dajins?« riefen die Vasallen des Harans von Sinoda aufgeregt. »War das nicht offensichtlich?« antwortete Zendold verärgert. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schnaufte kurz. Die Dschunkarim warteten einige Minuten auf eine weitere Erklärung des Priesters, dann sahen sie nach ihm. Er war tot. »Hätte er in seinem Alter sich nicht etwas kürzer fassen können?« knurrte der weißhaarige Keïderan.
Der jähe Tod des Hohen Bruders Zendold brachte alle bisherigen Tätigkeiten im Tempel zum Erliegen. Sie waren auf einen Schlag zweitrangig geworden. Die höchste Dringlichkeit besaß nicht einmal Zendolds Beisetzung, sondern die Bestimmung eines zweiten Hohen Bruders oder einer Hohen Schwester. Solange das nicht geschehen war, besaß der Tuzaker Tempel keine Hochgeschwister. Denn daß Xanderan das Amt übergangsweise allein ausfüllte, hätte zu jeder Zeit als Zeichen eines großen Unheils gegolten und für den schmalgesichtigen Priester gerade jetzt – unter dem Eindruck aller seiner Befürchtungen – bedeutet, daß es unabwendbar einträfe. Doch nur dem Umstand, daß der überlebende Hohe Bruder die Befürchtungen der drei Besucher teilte, war es überhaupt zu verdanken, daß er Stunden später Zeit für sie fand. »Ich weiß nicht, was euch der abwesende Bruder mitteilen wollte«, eröffnete Xanderan den Dschunka rim sogleich. »Er machte ein großes Geheimnis daraus und sagte nur, er habe eine Überraschung für euch. Doch möglicherweise läßt sich ja in etwa herausfin den, worum es meiner Bruderschwester ging.« Alle vier gingen in das Zimmer, in dem der alte Prie ster verstorben war. Die Bücher lagen immer noch auf geschlagen da, auch die Schreibtafel hatte niemand ent fernt. Stirnrunzelnd besah sich Xanderan die geheim nisvollen Zeichen und Zahlen auf der Tafel, dann stu
dierte er die aufgeschlagenen Seiten. Obwohl er kein Wort darüber verlor, sah man seinem Gesicht an, daß er die Studien des Verstorbenen entweder rundheraus ab lehnte oder vielleicht nicht einmal ernst nahm. »Ich verstehe nicht viel von den Forschungen meines Bruders«, sagte der Priester endlich. »Doch der Dajin, den er meinte, ist ganz gewiß der erste. Was alles wei tere anbelangt, so sehe ich hier nur eines: Die gesamte Familie des Königs starb im Palast mit Ausnahme des jüngsten Kindes Djurmold Rurijian Mulziber Garalor. Dieser Sohn wurde einige Tage später auf der Flucht getötet. Einen weiteren Erben sehe ich nicht. Ich riete euch schlecht, Bruderschwestern, wenn ich euch sagte, ihr möget euch auf Zendolds ... Wissenschaft ... verlas sen. Ihr habt eine Weissagung, was ungewöhnlich ge nug ist. Bruder«, er sah Denderan an, »du hast sie kürz lich oft genug wiederholt, ein weiteres Mal soll dich nicht stören.« Denderan verzog das Gesicht: »Du sollst den fin den, der nicht gefunden werden sollte.« Der Priester unterbrach ihn mit einer raschen Hand bewegung: »Ihr seid Leute der Tat, Dschunkarim, nicht des Wortes. Doch ihr solltet euch dem Wort nicht ver schließen. Der, der nicht gefunden werden sollte. Denkt einmal darüber nach.« Mit einem kurzen Gruß entließ der Priester seine Be sucher.
Von der Höhe des Turmes blickte der Priester hinab auf die drei Edlen, die ihn eben verlassen hatten. Sie standen vor dem Tempeleingang beisammen. Die bei den Männer hörten der Frau zu, deren Name dem Prie ster nicht einfallen wollte. Xanderan dachte an die Stu dien seines toten Mitbruders, von denen er überhaupt nichts hielt. Für ihn war die Beschäftigung mit angebli chen Gesetzmäßigkeiten zwischen Tod und Wieder geburt vornehmlich das Betätigungsfeld alter Männer und Frauen, die bereits den Blick von Tsas Boronsge sicht auf sich lasten fühlten und sich daher bemüßigt sahen, sich mit dem Tsagesicht Borons zu beschäfti gen. Ebenfalls dachte Xanderan daran, daß er die Dschunkarim belogen hatte, als er sie bei ihrem er sten Besuch zurechtwies, die Wege des Königreichs seien nicht sein Belang. Denn insgeheim hatte Xande ran schon lange beschlossen: bevor er mitansah, daß eine Königin Balatravis I. seine schlimmsten Befürch tungen wahrmachte – weitaus schlimmere, als diese drei Edlen auch nur ahnten! –, war er gewillt, in die bittere Frucht zu beißen und Bande wieder miteinan der zu verknüpfen, die er vor langer Zeit zerschnitten hatte. Damals, als er erkannte, daß das, was er und seine früheren Weggefährten taten, nur noch eine Aneinanderreihung furchtbarer Fehler war. Ein Jahr bevor der Krieg begann, ausgelöst durch die Schriften eines zwielichtigen Sehers namens No
stria Thamos, hatte Xanderan den Zaboroniten den Rücken gekehrt. Einige Namen der Gewinner des Krieges waren ihm geläufig. Das hatte sich der Hohe Bruder Tuzaks geschworen: Kam es hart auf hart, so wollte er herausfinden, wieviel alte Kameradschaften noch wert waren. »Ich frage mich, ob er mehr wußte, als er sagen woll te«, sagte die Dschunkara eben. »Wieso?« meinte Denderan. »Sein einziger Hinweis bestand darin, wir sollten uns an die Weissagung hal ten. Daß wir jemanden suchen sollen, der sich ver borgen hält, wissen wir doch. Das ist nichts Neues.« »Laß sie weitersprechen«, schnitt ihm Keïderan das Wort ab und ermutigte die Dschunkara mit einem Nicken. »Mir wandert die ganze Zeit im Kopf herum, war um der Hohe Bruder so sehr betonte, daß wir denje nigen finden sollten, der nicht gefunden werden soll te. Ich werde den Verdacht nicht los, daß er uns damit sagen wollte: Sucht nicht den, von dem ihr nicht wißt, wo ihr ihn suchen sollt, sondern denjenigen, der da für sorgte, daß er nicht gefunden wurde. Also frage ich mich: wenn tatsächlich ein Kind Dajins I. die Ver nichtung seiner Familie überlebte, wer könnte den Sprößling dann seit bald vierzig Jahren verborgen halten?«
»Jemand mit Macht«, antwortete Keïderan bedäch tig. »Der Hohe Bruder mag sogar wissen, wer das ist, aber offenbar wollte er uns den Namen nicht nen nen.« Alles in Denderan sträubte sich dagegen, die näch sten Sätze auszusprechen. Er tat es dennoch: »Der Hohe Bruder mag nicht der einzige sein, der etwas weiß. Deshalb sollten wir einen der Mächtigen Ma raskans über die Ausrottung der Familie Dajins I. be fragen.« Entschlossen gingen die drei Edlen zum Ha fen, um sich nach dem nächsten Schiff nach Sinoda zu erkundigen. Möglicherweise hatte ihnen ihr eigener Haran etwas mitzuteilen.
6. Doch Mujiajian von Sinoda wußte nichts zum Ende des ersten Königs von Maraskan zu sagen. Seine Mut ter hätte vielleicht das eine oder andere beisteuern können, doch die konnte keine Auskunft mehr geben. Dafür ließ der Haran nach seiner bisherigen Haupt männin schicken. Er empfing die fast Sechzigjährige unter vier Augen. »Wie geht es deinem Sohn?« begann der Haran in leichtem Plauderton das Gespräch. »Tingelt er immer noch?«
»Er kehrte gestern zurück«, antwortete die Haupt männin. »Das ist gut so. Denn du kannst dir denken, daß dein Ausscheiden aus meinen Diensten nicht folgen los für deine bisherigen Untergebenen bleiben wird. Ich werde jemanden befördern müssen, der deinen Rang bekommt, wodurch ein anderer an dessen Stelle treten wird. Hierbei könnte sich auch ein Platz für deinen Sohn ergeben. Zwar nicht gleich als Haupt mann, doch auch nicht als Gemeiner. Nur müßte sich dein Sohn endlich darauf festlegen, was er in diesem Leben zu sein gedenkt. Ich kann sicherlich nicht dul den, daß einer meiner Korporale oder Weibel, so wie ihm gerade der Sinn steht, mit der erstbesten Komö diantentruppe für Wochen oder Monde verschwin det.« Die Hauptmännin zuckte die Schultern: »In ihm fließt das unstete Blut seines Vaters.« »Schnickschnack! Wie alt ist dein Sohn jetzt? Vier unddreißig? Fünfunddreißig? Er hat noch nicht ein mal eine Familie! Was hat er vor? Will er als Eremit enden und in einer verborgenen Klause den Rest sei nes Lebens verbringen? Du magst ihn daran erinnern, daß ich immer noch der Haran bin und ihm einfach befehlen könnte. Obwohl das lächerlich wäre, jemand zu gebieten, einen Posten einzunehmen, nach dem sich ein Dutzend anderer die Finger leckt!«
Die Hauptmännin versprach: »Ich werde es ihm ausrichten.« Der Haran schwieg einige Augenblicke, in denen er die Frau eingehend musterte. »Doch deshalb ließ ich dich nicht kommen, Rame lusab«, sprach er weiter. »Soweit ich mich erinnere, gehörtest du zur Garde König Dajins I.?« »Ja«, bestätigte die Hauptmännin. Die Frage über raschte sie so sehr, daß sie dem Haran ihr Gesicht of fen zeigte und sogar vergaß, der üblichen Gepflogen heit zu folgen und ihre Hasenscharte mit der Hand zu bedecken. »Warst du auch dabei, als der Weiße Palast er stürmt wurde?« Die Hauptmännin nickte wortlos. »Seit dem Fest, das ich dir zu Ehren gab, haben sich drei meiner Vasallen in den Kopf gesetzt, daß ein Mit glied von Dajins Sippe das Massaker überlebt habe.« »Das kann nicht sein!« widersprach Ramelusab heftig. »Keiner aus der Familie des ersten Dajins überlebte! Sie wurden allesamt nach den üblichen Ri ten zu Grabe getragen und nicht geheim. Jeder konn te sehen, daß sie tot waren.« »Damit bewies der zweite Dajin seine Größe«, be merkte der Haran. Ramelusab schwieg dazu, doch ih rem Gesicht war anzusehen, daß sie an Harans Stelle ein anderes Wort als Größe verwendet hätte.
»Doch soweit ich hörte, soll einer der Prinzen nicht im Palast gestorben sein?« forschte der Haran weiter. Ramelusab senkte die Stimme: »Ja. Djurmold Ruri jian. Er war noch ein Säugling. Doch auch er starb wenige Tage später. Ihr quält mich, Herr. Denn ich war die, die den Prinzen zu retten versuchte. Ich und ein sehr tapferer Mann sowie drei weitere, denen man nicht gleich ansah, wieviel Edles in ihnen steck te.« »So sahst du ihn sterben?« »Ihr quält mich noch mehr, Herr. Nein, ich war ge nausowenig zur Stelle, als es galt, den Prinzen zu schützen, wie zuvor schon bei seinen Eltern und Ge schwistern.« »Doch der Leichnam des Prinzen wurde nach Tu zak gebracht?« »Soweit ich weiß nicht.« »Aha!« sagte der Haran gedehnt und ließ sich von Ramelusab die Einzelheiten ihrer Flucht aus dem Kö nigspalast berichten, bis dahin, als sie ihrer Verwun dungen wegen zurückgeblieben war. »Dann haben wir also nur das Wort einiger Gemei nen, die – welch günstiger Zufall! – versäumten, den jenigen, dessentwegen sie ausgesandt worden waren, tot oder lebendig zurückzubringen. Ihr Wort ist der einzige Beweis dafür, daß sie ihren Befehl überhaupt ausführten.«
Für einen Herzschlag flackerte etwas in Ramelu sabs Augen. Dann widersprach sie: »Ihr irrt, Herr! Der Prinz kam doch nie in As'Khunchak an!« »Dafür mag es Gründe gegeben haben.« »Aber können diese Gründe so lange gültig sein? Selbst wenn Ingvalion mein Heimatdorf nicht gefun den hätte, so wäre er zurückgekehrt, um nach mir zu suchen. Herr, Ihr mögt über ihn denken, was ihr wollt: Er wäre zurückgekehrt, falls er noch lebte. Er tat es zuvor, als es um weniger ging als um das Leben eines Prinzen!« Ramelusab versuchte heraufzubeschwören, wie von außerhalb des Palastes der Ruf ›Spring endlich!‹ erschollen war und wie an der Tür des Zimmers, in dem sie sich verschanzt hatten, gefochten und ge storben wurde. Doch es gelang ihr nicht. Ihre einzige deutliche Erinnerung an den lang zurückliegenden Tag war die des überwältigenden Blutgeruches, der überall im Palast gehangen hatte. »Außerdem gibt es mehr als das Wort«, sprach sie weiter. »Die Verfolgerschar wurde in einen Kampf verwickelt, bei dem ihr Anführer ums Leben kam.« »Das paßt mir aber überhaupt nicht!« rief der Haran und schlug unzufrieden mit der Faust auf sein taubes Bein. Er sah seine ehemalige Hauptmännin an: »Gibt es noch etwas, das du mir noch nicht gesagt hast?«
Ramelusab zögerte einige Augenblicke: »Haran! Ich habe in jenem Jahr oft überlegt, wie meine zeit weisen Gefährten starben und warum sie starben. Manchmal dachte ich, alles müsse ein Versehen sein oder ein böser Traum. Bisweilen dachte ich, jeden Augenblick müsse sich die Tür öffnen und Ingvalion hereinkommen, um zu sagen, daß alles ein Irrtum gewesen sei. Ihr glaubt nicht, wie oft, Haran! Um so öfter, je näher meine Niederkunft rückte. Damals dachte ich wieder und wieder: wie konnten sie so ein fach sterben? Haran, er war ein Krieger! Ich sah ihn ein Schwert führen. Das war nichts Fremdes für ihn!« »Auch große Krieger sterben.« »Doch er und seine Gefährten vermuteten, daß sie verfolgt wurden! Sicher, Ingvalion weigerte sich, ein Schwert zu tragen, doch seine Gefährten hatten Schnitter, und er selbst war ein einfallsreicher Mann. Ich sah ihn zweimal durch eine Reihe Gerüsteter mit Spießen und Schwertern brechen. Das erste Mal nur mit einer Forke bewaffnet, beim zweiten Mal nur noch mit ihrem zerbrochenen Stiel. Haran, ich weiß, daß ich mir das nicht einbilde, denn andere erzählten später davon. Er handelte damals nicht aus Verzweif lung, sondern war zuversichtlich, daß ihm die Tat ge länge. Er sang sogar dabei!« »Das macht ihn nicht unüberwindlich, Ramelu sab.«
»Nein, Haran. Eure Fragen wecken Gedanken, die ich für vergessen hielt, doch die nur schliefen«, ent gegnete Ramelusab gequält. »Warum starben die vier so einfach? Warum war der Anführer ihrer Verfolger der einzige, dem sie Schaden zufügten? Warum trug sonst niemand auch nur die kleinste Blessur davon?« »Auch dafür ließen sich Antworten finden«, erwi derte der Haran und atmete tief durch. »Doch ich muß auch die Prophezeiung meines Zwergen beden ken sowie die Worte meiner Vasallen. Fast meine ich, daß sie mich mittlerweile selbst als den Steigbügel halter des zweiten Königs sehen. Nun gut, gehen wir für einen Augenblick davon aus, daß die Häscher lo gen. Der Prinz fiel ihnen nicht in die Hände, und das Gefecht trug sich auch nicht so zu, wie sie es be schrieben. Etwas anderes ereignete sich, wodurch der Befehliger starb, doch ebenfalls nicht auf die Weise, wie später berichtet wurde. Möglicherweise bezahlte seine Anverwandtschaft dafür, daß sein Tod als Folge eines kühnen Kampfes dargestellt wurde. Das sind sehr viele Annahmen, und für keine davon gibt es ei nen Beleg. Es gibt niemanden, den wir befragen könnten, denn wer wüßte heute noch, wer damals an der Hatz beteiligt war? Dennoch wünsche ich, daß diese Angelegenheit geklärt werde. Also gebiete ich dir noch einmal, Hauptmännin!« Nachdem Ramelusab den Haran verlassen hatte,
schickte er nach seinen Vasallen. »Es gibt einige Din ge, die wir besprechen müssen, Dschunkarim, und die euch offenbar nicht bewußt sind!« eröffnete der Haran mit ernstem Gesicht das Gespräch.
7. Der weitaus größere Teil eines Mondes war seit der Unterredung zwischen dem Haran und seiner Haupt männin verstrichen. Das beklemmende Gefühl, dem Ramelusab entgegengebangt hatte, stellte sich jedoch nicht ein, als sie einige Tage nach dem Gespräch mit ih ren Begleitern den gleichen Weg wie vor ach so vielen Jahren entlangritt. Sie sah zwar die Landschaft, aber verspürte nichts Vertrautes. Als habe damals jemand anderes den Weg bewältigt, jemand Fremdes in einem fremden Leben. Bisweilen stellten die Dschunkarim Fragen, häufiger Ramelusabs Sohn, der ebenfalls mit gekommen war. In jungen Jahren hatte er seine Mutter oft nach dem unbekannten Mann befragt, der durch ei ne zufällige Begegnung und eine Laune des Schicksals zu seinem Erzeuger geworden war. Seine Mutter hatte ihren Sohn in dem Glauben belassen, sein Vater stam me aus dem ritterlichen Lande Weiden, denn woher Ingvalion wirklich gekommen war, hatte sie nie he rausgefunden. Nicht damals, nicht später. Dieselben
Fragen wie in seiner Kindheit stellte ihr Sohn erneut. Er wollte alles erfahren. Bisweilen wehrte sich Ramelusab gegen sein Drängen: »Woher soll ich das noch wissen, Ornibijian? Ich lag hinten im Wagen und war schwerer verwundet, als einer von uns ahnte. Sei nicht unver nünftig, Sohn!« Der Hof, wo Ramelusab zurückgelassen worden war, war noch einigermaßen leicht zu finden. Die Alten der Familie erinnerten sich sogar an ihren einstigen Gast. Danach war man auf Mutmaßungen über den weiteren Weg Ingvalions und seiner Gefährten ange wiesen. In jedem Dorf an der Straße stellte die Grup pe die gleichen Fragen. Vier Männer mit einem Säugling? Vielleicht weni ger? Vielleicht verwundet? Wann soll das gewesen sein? Ihr scherzt, Bruderschwestern! Und von einem Findelkind wissen wir ebenfalls nichts. Nach sechsunddreißig Jahren war die Spur der Flüchtenden kälter als Firuns Atem und die Erinne rung an sie so tot wie der erste König von Maraskan. Deshalb kehrten die Dschunkarim, Ramelusab und ihr Sohn nach Sinoda zurück, wo die Hohen Schwe stern des Tempels sie schon ungeduldig erwarteten. Noch ungeduldiger als sie wartete die Gesandte des Hohen Bruders Xanderan von Tuzak, die bei ihnen weilte, eine knochige Priesterin, älter als Ramelusab, doch nicht so alt wie Keïderan.
»Hattet ihr bereits Erfolg?« erkundigte sich die Priesterin in beiläufigem Ton. Behutsam stellte sie ih re Fragen und ebenso vorsichtig wurden sie beant wortet. Erst als geklärt war, daß Ramelusab und ihr Sohn Eingeweihte waren und es zwischen der Prie sterin und dem Hohen Bruder Tuzaks keine Geheim nisse gab, wurden beide Seiten deutlicher. Die Priesterin breitete ein bunt bemaltes Leinen tuch aus. Ob das Gekleckse darauf Kinderhand ent stammte oder dem Pinsel eines Malers, dessen Lap pen das Tuch einmal gewesen sein mochte, war nicht gleich zu entscheiden. Mit geschickten Fingern be gann die Priesterin das Tuch anscheinend willkürlich zu falten. Als das Tuch nur noch ein schmaler Streifen war, schien die Priesterin zufrieden zu sein. »Die Technik stammt aus der Zeit unserer Verfol gung«, erklärte sie. »Das ist eine Karte.« Sie zeigte darauf: »Auf dieser Seite graut der Morgen, hier der Abend. Da haben wir Tuzak und Sinoda.« Das gefaltete Tuch zusammen mit der Erklärung ließ jetzt tatsächlich an eine Karte denken. Man konn te die Küstenstraße erahnen sowie große und kleinere Ortschaften, die sich daran reihten. Zum Landesinne ren hin wurde die Karte skizzenhafter: einzelne Zei chen, die Dörfer sein sollten, Krakel, die für Berge standen, geschwungene Bögen für Teile von Flußläu fen.
»Sie ist nicht sonderlich genau«, bemängelte Den deran. »Sie ist sogar sehr genau«, belehrte ihn die Prieste rin mit hintergründigem Lächeln. »Ich habe euch nur nicht alles erklärt, Bruderschwester. Man muß wis sen, wie die Karte zu lesen ist.« Schmunzelnd berich tete sie, was sich seit dem Besuch der Edlen im Tuza ker Tempel ereignet hatte. Dem Hohen Bruder von Tuzak war zwischenzeitlich die Äußerung eines Mitglieds des Tempels zu Ohren gekommen. Sie war ihm nicht von dem zugetragen worden, von dem sie ursprünglich stammte, sondern von einem anderen Priester, dem sie wieder eingefal len war anläßlich der Suche nach einem Quelltext, dem das Zwergenzitat oder etwas Vergleichbares entstammen könnte. Urheber war ein Priester namens Vegsziber, der während eines Mahles – und schon leidend unter den Vorboten seiner Erkrankung – sich plötzlich an die Stirn geschlagen und ausgerufen hat te: »Endlich weiß ich es! Ist es nicht eigenartig, Bru derschwestern? Da haust man mit jemandem Mond für Mond so dicht beieinander wie Sparren und Schindel, fragt sich, an wen einen der andere bloß er innert, und kaum ist man voneinander getrennt, so fällt es einem ein! Der Bursche, von dem ich euch er zählte, ähnelte verflixt dem König. Nicht dem jetzi
gen, sondern dem allerersten. Ich sah ihn einmal zu meiner Lehrlingszeit in Boran. Der Bursche war zwar älter als der erste König je wurde, dennoch war die Ähnlichkeit verblüffend. Ich bin beinahe geneigt, hieraus eine Lehre zu ziehen und euch vorzuschla gen, daß wir uns künftig aus dem Wege gehen, damit wir uns dadurch besser kennenlernen.« Sofort hellhörig geworden, bat Xanderan darum, ihm den fraglichen Priester zu schicken. »Bruder Vegsziber sagte das«, erinnerte ihn der Übermittler des Auftritts, wobei er den Namen be sonders betonte. Vegsziber? dachte der Hohe Bruder. Sicher kannte er den Priester Vegsziber. Das war doch der etwas son derbare Bruder, der ein Jahr lang als verschollen gegol ten hatte, und gleich nach seiner Rückkehr so schwer erkrankt war, daß alle seinen Tod als beschlossene Sa che angesehen hatten! Doch dann war er ganz uner wartet wieder genesen! Wie hatte der drollige kleine Mann seine plötzliche Gesundung noch erklärt? »Ich hatte meine Siebensachen schon gepackt, als mir der Gesandte Borons erschien, der so sehr die Ge genwart des Milden ausstrahlte, daß er wohl auch ein Teil von ihm war. Ich erwartete, daß er irgend etwas sage. Vielleicht ›Nun ist's aus, Vegsziber‹ oder etwas in der Art. Doch er tat es nicht. Da er mir etwas unent schlossen vorkam für einen, der seinem Geschäft seit
Anbeginn der Welt nachgeht, fragte ich ihn, worauf wir denn noch warteten? Da entgegnete der Gesand te, vielleicht gar Boron selbst: Ich weiß es eben noch nicht so recht, Vegsziber!« An dieser Stelle war dem Hohen Bruder eingefal len, daß Vegsziber, gleich nachdem er wieder wohl auf war, bat, mit einem beliebigen Auftrag nach Jer gan geschickt zu werden, da er die Stadt der Hundert Terrassen noch sehen wolle, bevor sich Bruder Boron mit sich selbst eins sei und abermals seinen Gesand ten schickte. Da Vegszibers Auftrag nicht die Spur dringlich war, war nicht abzuschätzen, wann er nach Tuzak zurückkehren würde. »Doch das ist nicht so schlimm«, beendete die Prieste rin ihren Bericht. »Unser Bruder hat uns ja erzählt, wo er sich während dieses Jahres aufhielt, als wir ihn schon tot glaubten.« Sie deutete auf eine Stelle ihrer Karte, an der keine Ortschaft eingezeichnet war: »Un gefähr hier muß ein Dorf namens Praiobab liegen, aus dem der Schützling unseres Bruders stammte, der dem ersten König so sehr ähnlich sehen soll, daß er vielleicht sein Sohn sein könnte.« Ramelusab widersprach heftig: »Unmöglich! Das ist völlig abseits jedes Weges, den sie bei der weiteren Flucht genommen haben konnten. Einer von Ingvali
ons Gefährten mag ja überlebt haben, aber warum soll te er gegen jede Absprache den Prinzen gerade dorthin gebracht haben, denn das ist ja schon beinahe im Ge birge. Und jeder andere? Warum sollte ein zufälliger Finder des Kindes den Prinzen nicht ins nächste Dorf gebracht haben, sondern statt dessen die Straße rechter Hand verlassen haben, um schnurstracks auf das Ge birge zuzumarschieren? Wie also soll der Säugling dorthin gekommen sein? Ist er etwa geflogen?« »Die Frage kann ich dir nicht beantworten«, erklär te die Priesterin. Sie nahm das Tuch, schüttelte es, damit es sich entfaltete, ließ es durch ihre Faust glei ten, um es wieder zu glätten, und band es sich dann um den Unterarm. Die Karte war wieder zu einem bunten Lappen geworden. »Jedoch hat der, den ihr als Hohen Bruder Tuzaks kennt, mich angewiesen, euch zu begleiten, solltet ihr das Dorf aufsuchen wollen.« »Ich sehe keinen Sinn darin«, meinte Ramelusab. Denderan war anderer Ansicht: »Ich denke schon, daß wir dorthin gehen sollten. Eine weitere Fährte sehe ich nicht.« Abermals erbaten die Dschunkarim vom Haran ih ren Abschied, und wiederum führte er mit ihnen ein ernstes Gespräch. Von einem möglichen Erfolg durfte man sich nicht ratlos überraschen lassen. Den zweiten Schritt mußte man kennen, sobald der erste einmal ge
tan war. Der Haran war nicht der einzige, der das so sah.
8. Die Praiobaber sahen in den sechs Fremden nur eine Priesterin und fünf Soldaten. Erfahrene Soldaten aller dings, da sie Rüstungen aus Holz trugen, dessen Aus dünstungen ihren Trägern einen gehörigen Teil des Ungeziefers vom Leib hielten. Der einarmige Verwal ter des Dorfes hingegen erkannte gleich, daß drei der Ankömmlinge einem höheren Stande angehörig wa ren, deshalb zeigte er sich umgänglich. Glücklicher weise beherrschten die Dschunkarim außer Tulamidya auch die Herrschaftssprache des Nordens, wodurch Ramelusabs Dienste als Übersetzerin nicht benötigt wurden. Wie gewohnt sprach Denderan für die anderen: »Wir suchen einen Mann. Er ist zwischen dreißig und vierzig und wurde als Kind hierhergebracht. Sein Name lautet Djurmold Rurijian Mulziber Garalor.« Die Dschunkara zupfte ihn am Ärmel: »Möglicher weise heißt er anders. Er war immerhin noch sehr klein.« »Ist das ein Grund, ihm einen anderen Namen zu geben?« erwiderte Denderan befremdet.
Die Dschunkara lachte: »Nein, aber vielleicht konn te er seinen richtigen Namen nicht nennen.« Der Verwalter rief einen Dörfler herbei und befrag te ihn in der Sprache des Volkes. Mit jedem Wort wurde sein Gegenüber, ein kleiner alter Mann, aufge regter. Einmal legte er sogar seine Hand auf den ver bliebenen Arm des Verwalters, die der grob abschüt telte. Während Ramelusab mit zusammengekniffenen Augen angestrengt lauschte, denn auch für sie war der hiesige Dialekt schwer verständlich, schnitt ihr Sohn Ornibijian vor einer Gruppe Kinder Grimassen. Er war gewohnt, die Aufmerksamkeit des kleinen Volkes auf sich zu ziehen, denn so einen wie ihn hat ten sie noch nie gesehen. Ornibijians Haar war pech schwarz wie das seiner Mutter, doch durchzogen von den honigblonden Strähnen seines Vaters. »Einen gibt es, der eurer Beschreibung entspricht«, sagte der Verwalter. »Er heißt Dajin Derfromold und ist in der Mine. Er wird doch nichts verbrochen ha ben?« »Nein, wir wollen ihn nur sehen«, beschied ihm Denderan. Fast dasselbe sagte Ramelusab zu dem Alten in der Sprache ihres Dorfes. Durch schieren Zufall nannte sie ihn Väterchen. Auf dem Weg zu der etwa fünf oder sechs Meilen
entfernten Mine wurden nur wenige Worte gewech selt, denn jeder hing seinen Gedanken nach. War die ser Dajin tatsächlich der gesuchte Prinz? Was machte er wohl in der Mine? Hoffentlich war er keiner der Aufpasser, denn das war für gewöhnlich rohes Volk mit schlechten Manieren. Blieb nur zu hoffen, daß er wenigstens der Anführer der Wachmannschaften war, selbst wenn das ebenfalls keine beeindruckende Laufbahn für einen vermißten Prinzen darstellte. Der Verwalter führte Denderan und seine Begleiter in das kleine Fort, das vor Jahren zum Schutz der Mi ne erbaut worden war. Steinerne Grundmauern um schlossen ein Achteck von knapp fünfzehn Schritt Durchmesser. Darauf aufgesetzt waren Palisaden mit Wehrgang. An gegenüberliegenden Seiten erhoben sich zwei Türme. Der eine war schlank und nur zum Beobachten geeignet, der andere war ein Wohnturm. Ging man davon aus, daß in ihm sowohl Wachperso nal wie Minenarbeiter wohnten, so mochte die Besat zung des Forts etwa ein Dutzend Köpfe zählen. Zum Schutz gegen Räuberbanden reichte das allemal. Der Verwalter gab seine Anweisung, bald darauf wurde Dajin vorgeführt. Er war schmutzig von der Arbeit, das Bauernkleid vielfach geflickt, die Beine waren gefesselt, so daß er keine großen Schritte ma chen konnte. Zur Rechten und Linken wurde er von je einer verwegen aussehenden Wache flankiert.
Jeder der sechs Besucher reagierte anders auf den Anblick. Denderan rief völlig enttäuscht: »Der ist ja klein!« Die Dschunkara murmelte besorgt: »Er ist ein Bau er, am Ende versteht er uns gar nicht!« Ornibijian schwieg. Neugierig beobachtete er den beinahe Gleichaltrigen, dessentwegen möglicherwei se sein Vater gestorben war. Die Priesterin schwieg ebenfalls. Ruhelos bewegten sich ihre Augen in dem ansonsten ausdruckslosen Gesicht. Ramelusab rief aus: »Bei der Schönheit der Welt, das ist er! Er gleicht seinem Vater zum Erschrecken!« Keïderan rief ebenfalls: »Das ist er!« Doch dann wurde der weißhaarige Dschunkar plötzlich aschfahl. Er stöhnte gequält, schlug die Hände vors Gesicht und stammelte: »Beim Antlitz Rurs! Was haben wir nur getan! Was haben wir Grauenhaftes verbrochen!« Als er die Hände wieder vom Gesicht nahm, sprach Erniedrigung aus Keïderans Augen, und Tränen sik kerten ihm in den weißen Bart. Er sah verzweifelt zum Himmel und rief: »Praios, Grausamer, Hesinde, Verachtende, und ihr anderen schrecklichen Diener Rurs! War das nötig? Mußte eure Lehre so hart sein? Ging das nicht leichter? Wozu diese Tücke? Schätzt ihr uns denn so gering ein, daß ihr denkt, wir ver stünden ansonsten gar nichts? Warum diese kalte
Verachtung? Wozu diese furchtbare Unterweisung? Sie schmerzt! Sie schmerzt!« Niemand verstand, was plötzlich in den alten Va sallen gefahren war, nicht einmal die Priesterin. Als Keïderan sich gefangen hatte und die anderen fünf ansah, wirkte sein Gesicht eingefallener als noch vor wenigen Augenblicken. Als wäre er seither mit jedem Herzschlag um ein zusätzliches Jahr gealtert. »Die Prophezeiung!« murmelte der Dschunkar lei se. »Erkennen wirst du ihn, denn der Gebieter des Landes ist wie das Land, dem er gebietet. Versteht doch, er ist wie das Land! Seht ihn an und erkennt: Maraskan, unsere Heimat, ist eine gefesselte Gefangene, und wir – ihre Bewacher – sind gemeines Volk! Das ist das Ur teil der Diener Rurs. So sehen sie uns!« Ein unheimliches Gefühl breitete sich in der Grup pe aus, dem sich nicht einmal die Priesterin entziehen konnte. Denderan brach das Schweigen. »Ihr werdet ihn so fort freigeben!« befahl er barsch. »Gemach!« entgegnete der Verwalter. »Noch weiß ich nicht, wer ihr überhaupt seid. Steht ihr in den Diensten des Baruuns?« »Nein!« zischte Denderan. »Ich bin Denderan, Dschunkar von Zinabab, neben mir steht Viderajida, Dschunkara von Sineggyn, daneben Keïderan, Dschunkar von Achazak. Wir sind Vasallen des Ha
rans von Sinoda. Du sollst tun, was ich sage! Laß die sen Gefangenen frei!« »Ach, ihr steht gar nicht in den Diensten meines Baruuns?« antwortete der Verwalter mit scheinheili ger Freundlichkeit. »So habt ihr sicher ein Schreiben von ihm dabei? Falls nicht, solltet ihr ihn nachträglich um Erlaubnis bitten, sein Land zu betreten, oder ihr solltet euch zurück zu eurem Herrn nach Sinoda ku schen.« Hinter ihm rotteten sich die Minenwächter zusammen. Überraschend zog Ornibijian blank. Er hielt die Spitze seiner Klinge zum Boden gerichtet und beweg te sich mit wohlbemessenen Schritten vorwärts. Wäh rend er sprach, wechselte seine Stimme beinahe übergangslos zwischen lautem Dröhnen und ge schmeidigem Flüstern. »Ich stelle mich stets vor, bevor der Tanz beginnt. Ornibijian heiße ich. Der Name mag euch geläufig sein, falls nicht, so straft ihr nur die, die hinter mir verstummten. Mein Haar ist schwarz und gelb, das hätte euch warnen sollen. Wenig Harmloses trägt sol ches Kleid. Ich bin der Wille meines Herrn, ich bin die Hand, die ihn verwirklicht, ich zittere niemals. Boron bat ich so oft zu Gast, daß ich mich fürwahr nicht scheue, seine vielen Besuche zu erwidern. Ich erkläre euch die Regeln dieses Spieles, aufgemerkt!«
Ornibijian gebrauchte sein Schwert als Zeigestock: »Dir, Krüppel mit der geifernden Rattenseele, werde ich den zweiten Arm nehmen. Verhungern wirst du nicht, da ich dem, der neben dir steht, einen übrig lassen werde. Er soll dich künftig füttern. Das scheint vernünftig. Das Tanzen mag nach unserem Tanz der holden Dame bei euch beiden ein wenig schwerer fal len. Man kann's nicht ganz so gut mit einer Krücke. Der vierte, zweimal zweite, ist glücklich, da er in Kürze einem Diener Rurs begegnen wird. Preise, Bruder, preise dein Glück! Und wenn der bald schon Blinde rechts von dir – dich meine ich, Bartloser! – zum letzten Mal Gewandtheit zeigt, so soll er deinen Kopf noch fangen, wenn er vom Halse fliegt. Dem demnächst Tauben und dem Stummen sei Überra schung vorbehalten. Der Jungfer vor euch ebenso, denn ihr verpaß ich einen zweiten Schlitz. Nun lach schon froh, Schwesterlein! Ist das nicht ein schöner Tag?« Dajin versuchte, einen Sinn in das Geschehen zu bringen. Er verstand zwar nichts von dem, was ge sprochen wurde, doch die Fremden schienen seinet wegen gekommen zu sein. Eine Priesterin wie Vegs ziber war dabei, was die Vermutung nahelegte, daß der kleine Mann etwas mit den Vorgängen zu tun haben könnte. Doch was? Der Freund konnte ja nicht
wissen, daß er, Dajin, mittlerweile auch des letzten Quentchens Freiheit beraubt worden war, das jemand aus Praiobab unter der Herrschaft des Verwalters noch besitzen durfte. Und selbst wenn, der frohe Alte war doch nur ein Priester gewesen! Dem Anschein nach zerfiel die Gruppe der Fremden in drei Teile. Ganz vorne standen unverkennbar die, die das Sagen hatten, zwei Männer und eine Frau. Der eine Mann, etwa so alt wie er selbst, schien der erwähl te Sprecher zu sein. Die Frau daneben, fünf bis zehn Jahre jünger, war widersprüchlich. Sie sah besorgt aus, dennoch lächelte sie. Der dritte – weißhaarig, weißbär tig – war erregt und aufgewühlt. Wenn die drei rede ten, gebrauchten sie beide Sprachen der Herrschenden. Abseits, allein, stand die Priesterin. Ihr Blick galt aus schließlich ihm, dem bestraften Untertanen des Ba ruuns. Die Frau hatte etwas Hungriges, Verschlingen des in den Augen, wie ein Marder auf der Jagd. Noch ein Stück abseits eine dritte Frau und ein wei terer Mann. Sie sahen einander sehr ähnlich, waren möglicherweise Sohn und Mutter, bestimmt aber na he verwandt. Die Frau hatte eine Hasenscharte. Ihr dunkles Haar war von so viel Weiß durchzogen, daß man beinahe von weißem Haar mit schwarzen Sträh nen hätte reden können. Sie sah älter aus, als sie ver mutlich war. An ihrem Sohn war nicht nur das Haar auffällig. Auf
den ersten Blick hatte es Dajin zwar an das Fell eines Baumschleimers erinnert, doch in der Zeichnung schien sich die Ähnlichkeit mit dem scheuen Tier auch schon zu erschöpfen. In dem Augenblick, als dieser sechste Fremde seine Waffe gezückt hatte, schien eine Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Äußerlich machte sie sich fest an der Stimme, bei der es nicht nö tig war zu verstehen, was sie sagte, um genau zu wis sen, worüber der Mann sprach, sowie an seinen völlig beherrschten Bewegungen. Nichts war zufällig an ih nen, jeder Schritt schien lange geplant, jede Stelle, wo die Füße aufgesetzt wurden, schon immer vorbe stimmt gewesen zu sein. Nicht einmal der freie Arm bewegte sich nach Gutdünken. Ein einheitliches Bild aus uralter Drohung und an Hochmut grenzender Selbstsicherheit. Auf einer anderen Ebene als dem rein Äußerlichen erschien Dajin diese Verwandlung jedoch noch stär ker. Ihm war, als sei urplötzlich ein fauchendes Feuer entfacht worden. Doch nicht das heiß lodernde, rot gelb flackernde, das Dajin so gut von sich selbst kannte, sondern eine schwarze, lichtlose und kalte Flamme, die den Blick verwehrte auf das, was sie speiste, doch nicht weniger verzehrend war. Der Verwalter wartete nicht bis zum letzten Augen blick, sondern lenkte vorher schon ein. Mürrisch trat
er sein Rückzugsgefecht an und befahl, den Gefange nen freizugeben. Wegen eines Minenarbeiters mußte man sich ja gegenseitig nicht totschlagen, maulte er. Dennoch werde der Vorfall dem Baruun berichtet werden und bestimmt ein Nachspiel haben. »Solange du dabei nicht vergißt, daß du über den Haran von Sinoda sprichst, wenn du dich bei deinem Baruun beschwerst, ist mir das schnurzegal!« kanzelte ihn Denderan hochmütig ab. Kaum waren Dajins Fesseln abgenommen worden, wurde er auch schon schützend von den fünf Waffen trägern der Gruppe umringt und rasch aus dem Fort geleitet. Die Vasallen des Harans suchten möglichst viel Distanz zu der Mine zu gewinnen, falls sich der Verwalter noch anders besänne. Die Dschunkara mochte sich nicht länger gedulden als nötig und sprach Dajin an. Wie befürchtet, spie gelte das Gesicht des vermeintlichen Prinzen nur Un verständnis wider. Ramelusab wollte sich eben als Mittlerin anbieten, doch da umfaßte ihr Sohn kurz ihren Unterarm und wandte sich selbst in der Volkssprache an Dajin: »Ich verstehe Euch, wie übrigens auch meine Mutter und die Priesterin. Dennoch bitte ich Euch, langsam zu reden, da ihr Begriffe benutzt, die mir nicht geläufig sind. Das haben wir schon im Dorf bemerkt. Die Prie sterin meint, das liege daran, daß ihr euch viele Wör
ter erhalten habt, die aus dem Ruuz, der Sprache un serer Ahnen stammen.« Dajin nickte, sagte aber nichts. Er wartete darauf, daß sich klärte, was hier vorging. Ramelusab hatte es mittlerweile übernommen, den Dschunkarim zu übersetzen, was ihr Sohn mit Dajin sprach. Die drei Edlen waren mit dieser Vorgehensweise einverstan den. Die Priesterin schwieg. Sie verfolgte das Gesche hen mit versonnenem Blick. »Diese drei Edlen, die Euch nicht verstehen, nah men viele Wege und Mühe auf sich, um Euch zu fin den«, sprach Ornibijian weiter. Wiederum nickte Dajin. Sein Nicken wirkte, als be stätige dieser Satz seine geheimsten Vermutungen, als sei das bereits der Schlüssel zu allem weiteren. »Sage ihm, daß er Djurmold Rurijian ist, der Sohn König Dajins aus dem Blute des Fürsten Djurmold«, befahl Denderan. Dajin schüttelte den Kopf sagte einige Worte. Ramelusab erklärte Denderan: »Er sagt: Ich bin Da jin Derfromold, Sohn zweier Väter. Sie fanden mich im Wald unter einem Strauch.« Verblüfft wechselte sie in die Volkssprache über: »Ganz allein?« »Ja«, bestätigte Dajin. »Sie haben sich gut umgese hen, aber niemanden außer mir gefunden.« »Erkläre ihm, daß das nicht sein richtiger Name sei«, meinte die Dschunkara. »Sage ihm, daß seine El
tern starben, als er ein Säugling war, und daß Djur mold Rurijian der Name ist, den ihm sein Vater Dajin und seine Mutter ...« Sie brach im Satz ab, als Dajin unvermittelt zu re den begann. Ornibijian berichtete schmunzelnd: »Er sagt, er verstünde, was Ihr meintet. Er bilde sich kei neswegs ein, daß ihn seine Väter gezeugt und ausge tragen hätten. Dennoch sei es so, wie er sage.« »Immerhin läßt er sich nicht gleich einschüchtern«, bemerkte die Dschunkara froh. Denderan warf ihr ei nen bösen Blick zu. Sie gab einen vergebungshei schenden zurück. Dajin verfolgte den kurzen Blickwechsel der beiden Edlen und zog seine Schlüsse. Er wies Ornibijian an, für ihn zu sprechen. »Er meint, da ich seinetwegen meine Waffe zog, müsse er uns wohl viel wert sein. Doch da er schon lange in Praiobab wohne, müsse es gerade jetzt einen triftigen Grund für unser Hiersein geben. Ich soll Euch fragen, Dschunkarim, was Euch so sehr plagt, daß Ihr denkt, er könne Euch helfen? Warum Ihr meint ...« Ornibijian verstummte. Schnell stellte er Dajin eine Gegenfrage, die dieser beantwortete. Etwas hilflos sah Ornibijian seine Mutter an: »Ich bin mir nicht si cher, ob ich ihn richtig verstanden habe. Meiner Mei nung nach fragte er, warum wir glaubten, er sei der
jenige, der dafür sorge, daß alles am Ende so werde, wie es hätte sein sollen. Das klingt mir etwas seltsam. Jedenfalls soll ich Euch fragen, Ihr Edlen, was Ihr wollt, das er für Euch richte ... Ich weiß nicht, ob das so stimmt?« Ramelusab trug den gleichen zweifelnden Aus druck zur Schau wie ihr Sohn. Die Priesterin mischte sich ein: »Du hast ihn richtig verstanden. Genau das meinte er: derjenige, der dafür sorgt, daß alles richtig endet.« Denderan lächelte zufrieden und straffte sich, als habe man ihn gerade gelobt. Der künftige König war zwar keine sehr stattliche Erscheinung, aber das, was er zuletzt gesagt hatte, klang schon sehr vielverspre chend. Zu Ornibijian meinte er: »Sag ihm erst einmal nur, daß er mit nach Tuzak kommen soll, um dort König zu werden.« »Was ist ein König?« wollte Dajin wissen, als Orni bijian übersetzt hatte. Sein Gegenüber war verwirrt: »Ihr wißt nicht, was ein König ist?« »Ich kenne das Wort. Aber es bedeutet mir nichts. Ist er so mächtig wie ein Baruun?« »Mächtiger. Er befiehlt dem Baruun.« »So mächtig wie ein Haran?« »Der Mächtigste überhaupt. Ein König ist für einen Haran soviel wie ein Haran für mich.«
»Haran-ga-Haran«, murmelte Dajin. »Der Haran der Harans. Ja, das ist verständlicher. Was gehört ihm?« »Das Land.« »Das kann nicht sein«, widersprach Dajin. »Alles hier ringsum gehört dem Baruun. Das Land, mein Dorf, meine Väter. Wie kann es dann gleichzeitig dem König gehören?« »Habt Ihr Kinder?« »Nein.« »Nehmen wir an, Ihr hättet welche. Wem gehörte ihre Kleidung?« »Ihnen selbst. Doch ich verstehe was du meinst. Wenn ich der Haran der Harans sein werde, besitze ich dann auch dich? Mußt du tun, was ich sage?« Ein leichte Röte überzog Ornibijians Gesicht: »Der Haran von Sinoda gebietet mir. Der König gebietet ihm. Ja.« »Und sie?« Dajin deutete auf die drei Dschunka rim. »Müssen sie ebenfalls tun, was ich verlange? Was geschieht, wenn meine Wünsche nicht die ihren sind und sie mir nicht folgen möchten?« Ornibijian antwortete nicht gleich, sondern wartete solange, bis seine Mutter zu Ende übersetzt hatte. »Sag ihm einfach, daß wir gehorchen, weil wir ge horchen wollen«, sagte Keïderan rasch. Dieser künf tige König mußte nicht gerade jetzt erfahren, daß sie sich genau in der Situation befanden, daß sie einer
möglichen Königin Balatravis nicht gehorchen woll ten. Vor allem, daß die ursprüngliche Lösung ihres Problems gelautet hatte, entweder Balatravis' sterben den Gemahl mit Waffengewalt vom Thron zu fegen oder sie selbst ermorden zu lassen. Doch so leicht gab sich Dajin mit der Antwort nicht zufrieden. »Er will wissen«, übersetzte Ornibijian, »wie es dem hiesigen Baruun gefiele, wenn er ihm be fähle, seinen Verwalter heimzurufen, damit in seinem Dorf – er meint sich selbst – wieder zwei Ka'Schîks an dessen Stelle träten. Er will wissen, ob der Baruun ge horchen würde, wenn der Haran-ga-Haran ... ent schuldigt, der König ... sein Dorf zurückforderte?« »Bei dem vielen Silber?« brummte Keïderan. »Er würde sich nach Leibeskräften dagegen sträuben. Ver mutlich sogar seine Leute zu den Waffen rufen und ei ne Revolte anzetteln. Sage dem Prinzen einfach, daß der Baruun dann sehr beleidigt und in seinem Stolz verletzt wäre.« Ramelusabs Sohn tat wie geheißen. Er hörte sich Da jins Antwort an und hüstelte: »Verzeiht, Dschunkar, doch das sind nicht meine Worte: Ich soll Euch fragen, wovor sich ein alter Mann so sehr fürchtet, daß er sich hinter Worten verbirgt, weil er nicht Gefahr laufen möchte, daß sich ein Bauer aus einem unbedeutenden Dschungeldorf weigern könnte, sein Gebieter zu wer den.«
Dieses Mal ordnete Keïderan nichts an, statt dessen verbeugte er sich leicht vor Dajin: »Herr, ich sorge mich um meine Heimat, zu deren König sich Euer Vater einst ausrief. Ich sorge mich um uns ... und un ser Volk.« Dajin sah den alten Vasallen einige Augenblicke ernst an, dann ließ er Ornibijian übersetzen: »Das weiß ich.« Er wandte sich seinem Übersetzer zu: »Du warst sehr mutig im Fort. Du bist ein gefährlicher Mensch. Ich sah niemals etwas Bedrohlicheres auf zwei Bei nen.« Ornibijian grinste, seine Mutter gab ein lautes La chen von sich, das sie sogleich mit der Hand vor dem Mund erstickte. Ihre Schultern zuckten weiter. »Für gewöhnlich bekomme ich dafür auch viel Bei fall«, erklärte ihr Sohn. »Das Verkleiden und Verstel len liegt mir seit jeher im Blut. Manchmal gebe ich dem nach und schließe mich einer Schauspielertrup pe an.« Dajin hatte zwar nie ein Theaterstück gesehen, doch davon gehört. Wanderbühnen und Gauklertruppen scheuten den Weg ins maraskanische Binnenland und bereisten meist nur die Dörfer entlang der Küsten. Ornibijian kam ins Schwärmen: »Ich kann sehr fin ster dreinblicken, was mitunter ein arger Nachteil ist. Meist läßt man mich deswegen nur böse Geister und
Schurken spielen, allenfalls den düsteren Krieger des Königs von Honingen. Die kann ich sehr gut darstel len. Ein einziges Mal durfte ich eines der Geschwister sein, die der Dschinnenzauberer von Arivor vertrieben und verfolgt hatte. Das war in Alrurdan. Mir gefiel das ganz gut, wegen der Abwechslung. Leider bekam ich die Rolle danach nie wieder. Ich hatte wohl eher den Eindruck hinterlassen, ein gedungener Mörder zu sein, der von Anfang an den Tod aller plante, statt eines un schuldig verfolgten Waisenkindes. Die Leute aus Al rurdan waren darüber sehr enttäuscht und wollten ih ren Irrtum auch nicht einsehen, als ihnen in der Schlußansprache alle Zusammenhänge erklärt wur den. Sie waren erst zufrieden, als ich dann doch noch völlig sinnlos meinen Mitspielern den Garaus machte.« »Und wenn die Aufseher und Wachen nicht auf deine Täuschung hereingefallen wären?« fragte Dajin. »Dann hätten wir's ausfechten müssen.« »Das hättest du nicht überlebt. Sie waren zu viele.« »Ist es unhöflich zu widersprechen?« sagte Ornibi jian leichthin. »Ich bezweifle auch, daß ich allein ge kämpft hätte.« Ramelusab hatte schon eine Weile nicht mehr für die Edlen übersetzt. Nun befahl Denderan: »Einer von euch beiden soll ihn fragen, ob er eine Frau hat.« »Nicht mehr«, ließ Dajin entgegnen.
»Dann sag ihm, daß er das Weib ...«
Keïderan hielt ihn auf: »Später. Nicht so viel auf einmal.«
9. Der Abschied von Praiobab gestaltete sich kurz, denn die Dschunkarim drängten zur Eile. Jetzt, da sie mög licherweise ihren Retter gefunden hatten, bangten sie um das Leben des sterbenden Königs. War ihnen sein Tod am Vortag noch als eine Frage von Wochen er schienen, so war daraus jäh eine Frage von Stunden geworden. Der Lebensfaden des sechsten Dajins war mit einem Mal spinnwebdünn geworden. Die Zeit ga loppierte! Nicht auszudenken, wenn sie Tuzak erst erreichen sollten, nachdem der Faden bereits zerris sen war! Ornibijian war der einzige der sechs, der mit in das Dorf kam. Alle anderen warteten außerhalb, darum hatte sie Dajin gebeten. Mit nur einem Begleiter war die Lüge leichter aufrechtzuerhalten, daß sein Weggehen etwas mit dem Priester Vegsziber zu tun habe, von dem er im Dorf erzählt hatte. Denn Dajin wollte nicht, daß sich schlagartig eine Kluft auftäte, wenn er erzähl te, daß er in Folge eines verrückten Göttertraums auf dem Weg von der Unterkunft eines zwangsverding ten Minenarbeiters zu einem Thron war.
Die beiden alten Männer waren nicht so leicht zu täuschen. Ihnen erklärte Dajin: »Sie brauchen mich.« »Wirst du lange wegbleiben?« fragte das alte, ver schrumpelte Väterchen. »Ich fürchte, ja. Am liebsten nähme ich euch alten Bäume mit mir.« Als Großer Vater Dajin zum Abschied umarmte, flüsterte er in sein Ohr: »Wer bist du?« »Dein Sohn«, gab Dajin genauso leise zurück. Er wußte, daß der krumme Alte sich vor jeder anderen Antwort gefürchtet hätte. Während der folgenden Tage wurde es zur Ge wohnheit, daß Dajin vor allem mit Ornibijian sprach. Doch war leicht zu bemerken, wie peinlich er darauf achtete, daß die drei Vasallen des Harans von Sinoda sich nicht ausgeschlossen fühlten. Wenn Dajin das Wort an sie richtete, bestand er darauf, daß nicht sein Übersetzer ihm Zusammenhänge erklärte, sondern die Dschunkarim selbst. Diese Gespräche handelten niemals von der Zukunft, statt dessen von der Her kunft der Edlen und dem Umland Sinodas, in dem sie lebten und aufgewachsen waren. Auch welche Rolle Ramelusab in seinem Leben gespielt hatte, erfuhr Da jin. Die ältliche Frau erzählte ihm die Geschichte vom Tod seiner unbekannten Eltern und Geschwister auf ihre übliche Art: das Gesicht abgewandt, bisweilen ein wenig nuschelnd, wenn die Hand ihren Mund
bedeckte. Den Verrat in den Reihen der Beschützer des damaligen Säuglings sparte sie wohlweislich aus. Als sie geendet hatte, fragte Dajin: »Bereust du dein Handeln?« Statt einer Antwort starrte ihn die ehemalige Gar distin nur verständnislos, offenen Mundes an. Dajin richtete das Wort an ihren Sohn: »Sage deiner Mutter: Wenn sie damals bereit war, ihr Leben für mich zu geben, dann ist nicht einsichtig, warum sie heute ihr Antlitz vor mir verbirgt. Sie ist eine mutige Frau, und der einzige Grund, warum du für mich sprechen sollst, Ornibijian, ist der, daß mir oft überzeugender erschien, was ich über mich selbst reden hörte, als das, was man zu mir sagte. Doch ich will deiner Mut ter nichts vorschreiben.« Ramelusab errötete, als sie Dajin sprechen hörte, doch eine lebenslange Gewohnheit ließ sich nicht durch einige einfache Sätze abstellen. Fast während der gesamten Reise wurde jedes Ge spräch über das Kommende vermieden. Erst eine gu te Tagesreise von Tuzak entfernt kam man darauf zu sprechen, und zwar in der Taverne eines Weilers, wo ein fahriger Wirt seine sechs Töchter herumscheuch te, während aus einem Hinterzimmer die Schreie ei ner Gebärenden erklangen. »Solange der König noch lebt, sollt Ihr gar nichts unternehmen«, erklärte Denderan. »Doch sobald er
tot ist, sollt Ihr Euch als Sohn des ersten Dajins und Nachfahre Djurmolds zu erkennen geben und Euren Anspruch auf den Thron bekunden. Reicht die Zeit, so werden bis dahin einige Mächtige des Reiches, die unserer Sache geneigt sind, von Euch wissen. Danach, so rät Euch mein Haran, sollt Ihr die Ge mahlin des bisherigen Königs zu der Euren machen.« »Wird sie das wünschen?« warf Dajin ein. »Man wird ihr dazu raten«, antwortete Denderan widerwillig. »Ihr seid zwar der Sohn eines Königs, doch eines gestürzten. Viele werden Euren Anspruch befürworten, doch nicht alle. Bei ihr verhält es sich ähnlich. Der Wille Umradjidas I. kommt einem An spruch gleich, aber keinem vollwertigen. Wenn Bala travis schlau ist, wird sie das einsehen. Ihr werdet der Herrscher Maraskans sein und sie nach wie vor die Frau eines Königs. Das ist kein gewöhnlicher Bund, zu dem Euch der Haran von Sinoda rät. Weder seid Ihr verpflichtet, mit Balatravis das Lager zu teilen noch sie mit Euch.« Dajin sah Ornibijian an: »Frage ihn, ob er diese Frau für so häßlich hält, daß er mich auf letzteres hinweisen muß. Nein, frage ihn das nicht. Frage ihn statt dessen, warum er ihr so wenig gewogen ist.« »Weil ...«, setzte Denderan grimmig an, doch Keï deran schnitt ihm das Wort ab: »Es ist nicht gut, wenn uns der künftige König als die in Erinnerung
behält, die schlecht über seine Gemahlin sprachen. Ich weiß, daß er alles von selbst herausfinden wird.«
Gegenwart:
Rondirais Tagebuch
Loc: Tuzak Sfu: 13. PER, 25 Hal DPae: Frumojai von Tuzak Milhibethjida von Tuzak bt: Tuzaker Rur-und-Gror-Tempel, Korrektur Arg verwirrt. Schlimmen Fehler begangen. War im Rur-Gror-Tempel, einerseits aus Neugier, andererseits um herauszufinden, ob es in ihm eine Schriftenkam mer oder Bibliothek gäbe, ähnlich wie in einem Hesin detempel. Sah mir das Treiben einige Zeit an. Kein würdiges und stilles Beten, satt dessen Geschrei. Hoff te wider alle Vernunft, daß die Gläubigen andere Göt ter meinten als wir, wenn sie die vertrauten Namen der Zwölfe im Mund führten. Einer der Priester sprach mich an. Dachte schon, er wolle mich des Tempels verweisen, war aber nicht so. Schien trotz des neuen Kleides bemerkt zu haben, daß ich nicht dazugehörte. Nehme an, lag daran, weil ich mich selbst in diesem Ketzertempel noch bemühte, mich so gesittet zu ver
halten, wie es in Tempeln angemessen ist. Wechselte einige Worte mit ihm. Plötzlich sagte er: »Ach! Bisza Haimamutter?« Bestätigte das. Verfluche mittlerweile den Tag, an dem ich beschloß, mich als Biographin auszugeben! War völlig erstaunt, als er in recht sauberem Garethi fortfuhr: »Unsere Hochgeschwister wünschen Euch zu sehen.« Glaubte zuerst meinen Ohren nicht. Wollte mich zu erst sträuben, gab dann aber nach. War etwa so, als wenn man mir zu Hause gesagt hätte: Der Bote des Lichts wünscht Euch zu sehen. Gegen diesen Wunsch gibt's auch kein Sträuben. Bin ihm betäubt hinterherge laufen. Wird mir jetzt erst klar, daß nie die Rede war von ›Wartet, ich werde Euch anmelden!‹ oder von ›Ich werde ihnen sagen, daß Ihr im Tempel seid!‹ Nur: Sie warten. Kommt. Mir muß einiges entgangen sein. Seine Erhabenheit (?) Frumojai ist ein Greis. Er ist taub, kann aber Lippen lesen. Da er wenig spricht oder irgendeine Regung zeigt, kann man sehr leicht verges sen, daß er versteht, was gesagt wird, ja, daß er über haupt anwesend ist. Über Ihre Erhabenheit (?) Milhi bethjida hatte ich schon während meiner Vorberei tungen auf den Einsatz gelesen, daß sie jung sei. Hät te nicht gedacht, daß sie so jung ist. Ein dunkelhaari ges Mädchen von allenfalls dreizehn Jahren. Worüber sprachen wir? Gute Frage, wüßte das
selbst gerne. Habe den Eindruck, daß das Gespräch von Anfang an nur über mich ging. Habe Dexter Nemrod erlebt. Seine Gegenwart ist so furchteinflö ßend, daß man irgendwann nicht mehr wagt, etwas vor ihm zu verbergen. Milhibethjida hingegen ist ganz anders. Sie zieht einem ständig den Boden unter den Füßen weg mit ihren unvollendeten Sätzen, ihren Andeutungen, ihrer verdammten Art, ein Gesprächs thema scheinbar für beendet zu erklären, indem sie sprunghaft zu einem anderen wechselt, um dann un erwartet nach einem langen Bogen wieder darauf zu rückzukommen. Man schwebt ständig in einer Leere, in der es nur einen einzigen festen Punkt zu geben scheint, an den man sich klammern kann, nämlich sie. Merkte das zwar irgendwann, doch das Schlimmste ist, daß mir das zu dem Zeitpunkt völlig gleichgültig war. Muß daran denken, wie mich dieses Mädchen schon zu Beginn verunsicherte. Plötzlich hielt sie Frumojais Hand in ihren jungen Händen, so zärtlich, so vertraut, daß ich entgeistert dachte: Das darf doch nicht wahr sein! Sie teilt mit dem Greis nicht nur das Amt! Sie ist sein Weib! Nach einigen bangen Augenblicken bemerkte ich den verwundert rätselnden Blick des Alten und ent deckte den spöttischen Funken in den Augen dieser beängstigenden Kindfrau. Schrieb vor einigen Tagen,
daß es falsch sei, Maraskan als einen durchgängigen Dschungel zu sehen. Bin mir darin gar nicht mehr so sicher. Begegnete heute einer Herrscherin dieses Dschungels, einer der großen Spinnen, einer der fleischfressenden Pflanzen in der harmlosen Gestalt eines Mädchens. Sie saugte mich nicht aus, ver schlang mich nicht, sondern befahl mir: Tu das selbst! Ich gehorchte. Ich erzählte von Füchslein, der mir weh tut, von meiner kalten Mutter, von dem Mann, der nicht einmal unter vier Augen eingestehen will, daß er mein Vater ist. Weiß nicht, ob ich etwas über mich ausließ. Mag mich nicht mehr erinnern. Könnte heulen. Zu dem Anliegen, das mich, abgesehen von der Neugierde, in den Tempel geführt hatte, sagte mir die Hohe Schwester: Wenn du Dajin, den man den Frommen nennt, verstehen willst, mußt du dorthin gehen, wo er gelebt hat. Antwortete ihr, daß mich Fürst Herdin wohl kaum im Palast empfangen würde. Sah mich so vieldeutig an, als wollte sie sagen: Soll te dir doch nicht schwerfallen, Frau Agentin von der Kaiserlich Garethischen Informations-Agentur. Sie antwortete aber statt dessen: Ich dachte mehr an die sechsunddreißig Jahre vor seiner Krönung. Ich scheue die Reise. Klima im Binnenland soll sein wie in einem nivesischen Schwitzbad.
Zwei Anekdoten aus der Gruppe Phantastereien he rausgenommen und der Gruppe Verwirrendes zuge ordnet. Priesterin behauptet, sie seien wahr, obgleich ich das kaum glauben kann. Doch warum sollte sie lügen?
Geburt eines Königs 1. Der Mann war nackt. Er lag reglos ausgestreckt auf dem Diwan, ein Arm hing schlaff herunter, die Hand berührte den Boden. Der Kopf des Mannes lag zur Seite gewendet, seine Augen starrten ins Leere, die Haut war von wächserner Blässe. Die Frau, die auf ihm saß, war ebenfalls nackt, doch weitaus weniger reglos. Mal schneller, mal langsamer hob und senkte sie ihren Körper, wobei sie sich mit den Händen auf den Schultern des Mannes abstützte. Sie hatte einen beinahe mädchenhaften Körper mit kleinen Brüsten, deren Warzen mit Gold staub bepudert waren. Ihr kastanienfarbenes, ausge sprochen feines Haar, das zu einer Vielzahl von Bö gen und Kringeln geflochten war, hatte sich an eini gen Stellen gelöst. Die Strähnen klebten auf der feuch ten, begehrenswert zarten Haut. Das Gesicht der Frau war ein Bildnis von Unschuld und Verletzlichkeit. Ih re überaus sinnlichen Lippen waren leicht geöffnet, die Oberlippe mit winzigen Schweißperlen bedeckt.
Der Blick ihrer rehbraunen Augen haftete auf dem krankhaft blassen Mann. »Willst du mein König werden?« flüsterte die Frau heiser. »Willst du mein König werden, Refano?« Der Mann unter ihr rührte sich geringfügig. Sofort krallten sich scharfe Nägel in seine Schultern. »Beweg dich nicht!« zischte die Frau. »Beweg dich nicht!« Ihr Atem ging keuchend, stoßweise kamen die Wor te aus ihrem Mund: »Er wird es nicht mehr lange ma chen. Ich werde Königin sein, und der Platz in mei nem Bett ist dann frei. Willst du mein König sein, Re fano, mein prinzlicher Gemahl?« Der Mann schwieg. Nichts deutete darauf hin, daß er auch nur ein Wort vernommen hatte. Er kannte die Rolle genau, die er zu spielen hatte. Jetzt galt es zu schweigen, später durfte gesprochen werden. Unverwandt hielt Refano Sirensteen, Gesandter des Vinsalter Königreichs, den Blick auf den Stützbalken des Turmzimmers gerichtet, in den eine unbekannte Hand Brindijian liebt eingeritzt hatte. Brindijian liebt! Wie Hohn kamen Sirensteen die Worte vor. Hier in dieser Kammer liebte niemand. Allein der Braukunst eines Alchimisten war es überhaupt zu verdanken, daß er im Stande war, diesen Liebesakt zu vollziehen. Der Prinzgemahl dieser Frau zu werden? Für im mer? Das konnte nicht einmal König Alborn Firdayon von ihm verlangen! Eher bliebe er, Refano Sirensteen,
bis zu seinem Tod in der Fremde und kehrte niemals zurück in das schöne Yaquiria, heim in die Signorie von Irendor! Dabei hatte zu Anfang alles so einfach geklungen ... »Seid Ihr bereit, Seiner Majestät und dem Liebfelder Königreich einen Dienst zu erweisen, Signor?« fragte der Magier, nachdem er sich mittels eines Siegelrings als Beauftragter des Vinsalter Königshofes und eines Directoriums zu erkennen gegeben hatte, über dessen Tätigkeit Sirensteen nicht zu viel zu wissen wünschte. So, wie der Beauftragte die Frage gestellt hatte, hätte er ebensogut hinzufügen können: Oder wagt Ihr, Euch zu widersetzen? »Was führt Euch in dieses schwüle Land?« antwor tete Sirensteen und ließ Wein auftragen. »Maraskan ist sehr wichtig für uns!« erklärte der Magus. »Das Kaiserreich ist nach wie vor nicht gewillt, unsere Selbständigkeit zu akzeptieren. Mehr als zwan zig Jahre lang versuchte Gareth uns mit seiner Han delsblockade zu erdrosseln. Maraskan hingegen ist ungeheuer reich! In seinen Bergen findet Ihr jedes der sieben Metalle, nicht einmal die magischen sind ausge spart! Von den restlichen Schätzen will ich gar nicht erst reden. Leider sind die hiesigen Herrschaftsver hältnisse ein wenig instabil. Doch was für dieses Kö nigreich spricht, ist, daß es dem Kaiserreich genauso
abhold ist wie wir. Signor, wir benötigen die Freund schaft dieses Landes. Wir brauchen Einfluß auf die, die es regieren. Deshalb werdet Ihr der Geliebte der Königin werden, Signor!« »Ihr scherzt!« entgegnete Sirensteen, der sich trotz der Hitze im Land seine noble Blässe bewahrt hatte. »Königin Balatravis ist zwar ein entzückendes Ge schöpf, doch überseht Ihr nicht eine Kleinigkeit? Ma gister, ich bin sicher doppelt so alt wie sie! Meint Ihr nicht, sie bevorzugte einen Jüngeren? Des weiteren, warum die Königin? Warum nicht König Dajin? Er ist derjenige, der regiert.« »Dajin VI.?« antwortete sein Gegenüber gering schätzig. »Ihr spaßt! Schon als Kronprinz stand er un ter der Fuchtel seiner Mutter, die wenig von ihm hielt. Die Königin ist von ganz anderem Format. Si gnor, wir wünschen nicht Einfluß auf jemanden aus zuüben, der zwar einen Titel trägt, aber vielleicht in ein, zwei Jahren nicht einmal mehr selbst bestimmt, was er zum Frühstück speist! Was Euer Alter anbe langt, so sehen wir darin keinen Hinderungsgrund. Ihr seid geeignet! Zerbrecht Euch darüber nicht den Kopf. Was glaubt Ihr denn, warum Euch die Krone einen – wie ich in aller Bescheidenheit erwähnen möchte – recht fähigen Magier schickte, wenn es auch ein beliebiger Laufbursche getan hätte? Ich werde Euch selbstverständlich bei Eurer Aufgabe unterstüt
zen und dafür Sorge tragen, daß Ihr der Königin un widerstehlich erscheinen werdet. Dazu müssen wir Euer Äußeres mit Hilfe der Magie geringfügig verän dern. Ich hoffe, meine Künste beunruhigen Euch nicht? Seid versichert, alles kann wieder rückgängig gemacht werden, wenn die Zeit dafür da ist. Nun, wie sieht's aus, Signor? Seid Ihr bereit, den Wünschen Eures höchsten Herrn zu folgen und das Lager mit einer begehrenswerten Frau zu teilen?« Refano Sirensteen stimmte zu. Eine andere Wahl hatte er ohnehin nicht. Der angekündigte Zauber hatte sich über einen ganzen Tag hingezogen. Als Sirensteen zum ersten Mal seinen veränderten Körper erblickte, wurde er schier ohnmächtig vor Entsetzen. »Was habt Ihr getan, Unseliger!« krächzte er. »Was habt Ihr nur getan? Ich sehe aus wie ein Toter! Ich se he aus wie eine Leiche!« Der arg erschöpfte Zauberer lächelte zufrieden: »Euer Kompliment nehme ich gerne entgegen. Ja, oh ne Übertreibung, ich habe gute Arbeit geleistet! Wenn Ihr Euch etwas beruhigt habt, Signor, mögt Ihr Euch setzen. Ich werde Euch ein wenig über Balatravis du Shoy'Rina und ihre kleinen Vorlieben erzählen ...« Mittlerweile hatte die Königin einen ersten Gipfel der Lust erreicht. Sie stöhnte und ihre Faust trommelte
auf Refanos Brust, auf das Fleisch, das keine Reaktion zeigen durfte. Dann war Ruhe. Einstweilen. Refano nahm wahr, daß die Königin auf ihm sich bewegte. Sie beugte sich rückwärts, ein leises Ra scheln war zu hören. Das Wissen um das Kommende ließ Sirensteen die Augen schließen. Im Geiste begann er seine jahrhunderteübergreifende Ahnentafel aufzu sagen: Ravelian Sireensteen, geboren im 153. Jahr nach Bosparans Fall, gestorben 218 nach Bosparans Fall. Amene Sirensteen, geboren im 508. Jahr nach Bospa rans Fall, gestorben im 553. Jahr nach Bosparans Fall, Chiranor Sirensteen ... Doch wie immer reichte die ablenkende Beschäfti gung nicht aus, Sirensteen aus dem Jetzt entfliehen zu lassen, aus der gegenwärtigen Furcht. Er verfluchte den unseligen Tag, an dem die Königin erfahren hat te, wie sehr sich ihr Liebhaber vor Schlangen ängstig te! Unmißverständlich hatte sie ihm deutlich ge macht, was sie davon hielte, sollte Refano ihr diesen neuen Kitzel verweigern. Sirensteens Körper versteifte sich in Erwartung der verhaßten Berührung. Dagegen war er machtlos. Doch auch wenn das Verspannen seiner Muskeln bewies, daß entgegen allem Augenschein noch Leben in ihm war – ein Verstoß gegen die Regeln des Spiels –, hatte sich Balatravis hierüber noch nie beschwert. Die Todesangst, die aus jeder Faser von Refanos Kör
per sprach, wenn der trockene, geschuppte Leib der Schlange über ihn kroch, erregte sie. »Autsch!« hörte Sirensteen Balatravis aufschreien. Er öffnete die Augen. Die korallrote Schlange, die die Königin einem versteckten Korb neben dem Diwan entnommen hatte, hatte ihr in die Hand gebissen. Mit geübtem Griff bog Balatravis die Kiefer des Reptils auseinander. Rasch griff sie nach dem Schwanzende des sich windenden und ringelnden Körpers und zog ihn mit einem kräftigen Ruck straff. »Biest!« rief die Königin und klatschte das Tier so heftig gegen einen der Stützbalken, daß sein Schädel barst und der In halt auf die Schnitzerei Brindijian liebt spritzte. Schmollmundig besah die Königin ihre Hand, an der zwei Blutstropfen von dem Biß zeugten. Mit den Fingern der anderen Hand drückte sie ihre Handkan te. Die Blutstropfen an den Bißwunden lösten sich, fielen auf Balatravis' makellosen Leib, rannen ihren Bauch hinab, zwei rote Spuren hinterlassend. »Biest!« sagte die Königin abermals und leckte den Rest des Blutes von ihrer Hand ab. Für Sirensteen hatte der Anblick etwas Tröstliches. Zwar hatte ihm die Königin immer versichert, daß die Schlange harmlos sei, doch ein Rest von Zweifeln war geblieben. Worte waren eine Sache, doch das trockene Kriechen auf Sirensteens unnatürlich blasser Haut hatte stets die Nähe des Todes versprochen.
Es klopfte. »Was ist?« rief Balatravis gereizt. Eine erregte Stimme rief von draußen: »Der König ist tot! Der König ist tot!« »Hätte er damit nicht noch warten können?« knurr te seine Gemahlin angewidert.
2. Auf halbem Weg zwischen Mitternacht und Morgen grauen stürmte Denderan mit seinen Begleitern in den Tuzaker Tempel. »Rasch, rasch, die Hohen Geschwi ster!« rief der Dschunkar der verschlafenen Priesterin zu, die die Tempeltür geöffnet hatte. »Holt sie schnell, Schwester, es eilt! Eine Sache auf Leben und Tod!« Als die Frau seiner Anweisung nicht gleich nach kam, rannte der Edle zur Schiebetür weiter, die zum Treppenhaus des Tempelturms führte. »Halt!« gellte die Stimme der alten Priesterin, die die Dschunkarim von Sinoda nach Praiobab und Tu zak begleitet hatte, durch die leere Tempelhalle. Den deran blieb wie angewurzelt stehen, gleich neben der Götterstatue Rurs. »Im Tempel der Zwillinge hast du nichts zu gebie ten, Dschunkar!« rief die knochige Frau. »Nicht hier! Nicht hier! Diese Schwester« – sie deutete auf die ande
re Priesterin – »wird unsere Ankunft melden. Wenn es dem Hohen Bruder Xanderan beliebt, so wird er uns empfangen. Solange aber werden wir warten!« Betroffen murmelte der Edle eine Entschuldigung, während die zweite Priesterin davoneilte. Kurz dar auf kam sie zurück. »Bruder Xanderan ist unabkömmlich«, erklärte sie mit unbeteiligter Miene. »Doch ihr mögt warten.« »Unabkömmlich? Was macht er denn, Bruderschwe ster?« wollte Denderan ungeduldig wissen. »Er ist unabkömmlich, doch ihr mögt warten«, wiederholte die Priesterin stur. Ihre ältere Kollegin hob eine Augenbraue. Die Jün gere hatte den Hohen Bruder lediglich als Bruder Xan deran bezeichnet. Sollte das etwa bedeuten, daß immer noch kein zweites Hochgeschwister gefunden worden war? Das war schlimm. Und dann hatte sie von unab kömmlich gesprochen. Was bedeutete das? Unab kömmlich hieß nicht, daß Xanderan schlief, betete, meditierte oder vielleicht Besuch hatte von einer oder einem Geliebten. Nach Wissen der Priesterin besaß Xanderan sowieso weder das eine noch das andere. Unabkömmlich, wie die Jüngere das Wort gebraucht hatte, nichts erklärend und abweisend, bedeutete zu erst ›Mehr braucht ihr nicht zu wissen‹ und im weite ren ›Er ist mit jemandem sehr Wichtigen zusammen‹, am Ende vielleicht sogar: ›Er ist nicht im Tempel!‹
Letzteres durfte natürlich nicht bekannt werden. Hochgeschwister verließen nie ihre Tempel, jedenfalls nicht offiziell. Die Gläubigen mochten das nicht. Die Priesterin wußte nicht, wie alt dieser seltsame Brauch war, doch ein Verstoß gegen ihn wurde als Ankündi gung großen Unheils angesehen. Andererseits, wenn dem Tuzaker Tempel immer noch kein neues Paar von Hochgeschwistern vorstand, konnte Xanderan vielleicht freier handeln. Die Priesterin schnalzte mit der Zunge, wischte sich das Naß des Regenschauers vom Gesicht, in den sie und die anderen kurz nach Mitternacht geraten waren, und starrte nachdenklich in die Wasserlache, die sich zu ihren Füßen bildete. Hoffentlich ist er we nigstens in der Stadt! dachte sie. Inzwischen hatte sich die Dschunkara auf dem Bo den niedergelassen. Sie döste, mit hängendem Kopf. Keïderan, dem die Strapazen der letzten Reiseetappe nicht anzusehen waren, die die sechs in einem Stück bewältigt hatten, nachdem sie vom Tod des Königs erfuhren, bemühte sich erfolgreich, die Rolle der drit ten Statue im Tempel einzunehmen, neben denen von Rur und Gror. Denderan war im hinteren, unbeleuch teten Teil der Tempelhalle verschwunden. Man hörte seine Schritte im Dunkeln, bisweilen auch unver ständliches Gemurmel. Dajin hingegen, der immer noch die Kleidung sei
nes Dorfes trug, einen gelben Kittel und grellgrüne Pluderhosen, dazu Stiefel, die der Dschunkara gehör ten, sah sich staunend um. Er war niemals in einem Tempel der Zwillinge gewesen, geschweige denn in einem derart großen. Ramelusab entzündete eine Kerze und trat neben ihn. »Ich erinnere mich noch, wie erschlagen ich war, als ich dieses Gebäude zum ersten Mal betrat. Kommt mit, Herr!« Beginnend bei der Statue Rurs, der den Diskus warf, der die Welt darstellte, führte Ramelusab Dajin durch die Tempelhalle. Sie wies ihn auf das hin, was die spärliche Lichtquelle vom Dunkel befreite, und erklärte bisweilen seine Bedeutung, wenn sie nicht of fensichtlich war. Ihr Sohn folgte ihnen. Vor der Statue Grors, des freudig Wartenden, blieb Dajin eine Zeit stehen. Die Statue des Zwillingsgottes, der nicht in der Bewegung des Werfens erstarrt war, sondern die Ankunft des Weltendiskus erwartete, offenbarte viel deutlicher als die Statue Rurs die Zweigeschlechtlich keit der Gottheit, die der Länge nach den Körper in männlich und weiblich teilte. Dajin berührte die Sta tue und ließ seine Finger über den glatten Alabaster gleiten. Ramelusab sagte etwas, undeutlich nu schelnd, worauf Dajin antwortete: »Ornibijian, sage deiner Mutter, daß ich sie in diesem Schummerlicht sowieso nicht recht sehen kann. Das Dunkel verbirgt
sie genügend. Ich habe nicht die Augen eines Nacht windes.« »Verzeiht, Herr!« antwortete Ramelusab. Dajin sah sie an, die Hand immer noch auf dem kalten Gestein: »Das ist die Statue Grors, wie du mir eben erklärtest. Ist dir bewußt, Ramelusab, daß Gror lächelt? Gror freut sich auf die Ankunft des Welten diskus, denn er ist ein Geschenk seines Bruders, der gleichzeitig seine Schwester ist. An diesem Geschenk ist alles schön, Ramelusab, alles! Darin sind sich die beiden weisesten Geschöpfe, die wir kennen, einig! Selbst wenn du nicht die tapfere Frau wärst, die du bist, die mir einst das Leben rettete, was dir kein Gott befahl, sondern ausschließlich dein Herz, so wärst du allemal noch ein Geschöpf Rurs: anmutig und hübsch von Geburt!« Ramelusab schloß die Augen. Die längst vergesse nen Worte versetzten ihr einen Stich durch das Herz. »Ihr seid ebenso blind wie der Vater meines Sohns, Herr!« preßte sie zwischen den Zähnen hervor und entfernte sich ein paar Schritte. »Oder ebenso sehend«, entgegnete Dajin. Er betrachtete noch einige Augenblicke die Statue des Bruder-Schwester-Gottes und murmelte dann lei se: »Ramelusab, es kommt mir nicht richtig vor, daß du mich Herr nennst. Das gilt auch für dich, Ornibiji an. Eine Herrin vertrieb meine Väter aus ihrem schö
nen Haus in eine hastig hingebaute Hütte. Ein Herr demütigte sie, indem er sie als Ka'Schîks absetzte. Ein Herr ließ uns die halbe Ernte wegnehmen, damit ein paar armselige Geschöpfe für ihn nach Silber graben konnten. Wenn ihr mich Herr nennt, so klingt das für mich wie ein Vorwurf.« »Wie sollen wir Euch dann nennen?« fragte Ornibi jian verwundert. Dajin hob die Schultern: »Euch wird schon etwas einfallen.« Sie gingen weiter. Als sie vor einem der großen Wandteppiche stehenblieben und das feingewebte Bild darauf betrachteten, von dem nur Teile im Ker zenlicht zu erkennen waren, gesellte sich Denderan hinzu. »Übersetzt für mich!« befahl er Ramelusab und ihrem Sohn und begann sogleich, mit großer Ernsthaftigkeit das Bildnis zu erläutern. Nicht nur das, was sofort zu erkennen war, sondern das Viele, das in den Verzierungen verborgen war, die versteck ten Hinweise und Informationen, die ein Herr wie der Dschunkar zu deuten verstand. Über eine Stunde verging, bis der Priester Xande ran endlich abkömmlich war. Sein Haar war feucht, als er die Tempelhalle betrat. Er trug das Gewand eines gewöhnlichen Priesters. »Wir haben ihn gefunden!« bestürmte ihn Dende ran sogleich. »Seht ihn an: Er ist der Sohn des ersten
Königs, der Nachkomme Fürst Djurmolds. Bruder, der König ist tot! Ihr sollt sofort bestätigen, daß mein Wort gilt! Er ist der Sohn des ersten Dajins.« Mit gemischten Gefühlen betrachtete der Priester die kleine bäuerliche Gestalt zwischen Ornibijian und Ramelusab. »Ich möchte allein mit ihm reden«, ver kündete er. Achtungsvoll zogen sich die anderen zu rück. »Das war kein guter Einfall, Bruder«, sagte Dajin mehr zu sich selbst als zu dem Priester. »Du wirst mich nicht verstehen, denn ich spreche nur so, wie es in meinem Dorf üblich war.« »Die Priester und Priesterinnen Rurs sind nicht die Herren Maraskans«, erwiderte Xanderan, in die Volkssprache wechselnd. »Wir sind die Lehrer oder versuchen das wenigstens zu sein. Wir taugen nicht für unsere Aufgabe, wenn wir nicht alle Maraskaner verstehen. Doch sprich trotzdem ein wenig langsa mer mit mir.« Als er sah, daß Xanderan ihn auch ohne Hilfe verstand, stellte Dajin unerwartet eine Frage: »Was verstehst du unter Maraskanern, Bruder?« Xanderan verbarg seine Überraschung darüber, daß er nun ungeplanterweise derjenige wurde, der die erste Antwort zu geben hatte. »Warum nicht?« sagte er. »Beginnen wir hiermit.«
3.
Die Unterhaltung zwischen Dajin und dem Priester dauerte etwa eine halbe Stunde. Danach zog sich Xanderan mit der alten Priesterin in ein Zimmer des Tempelturmes zurück. »Ist er es?« fragte Xanderan. »Ich weiß es beim besten Willen nicht«, antwortete die Priesterin. »Verlasse ich mich auf meine Erinne rungen, so kann ich sagen: Ja, sein Aussehen ähnelt stark dem ersten König. Er hat auch ungefähr das richtige Alter, um das jüngste Kind des ersten Kö nigspaares sein zu können. Jedoch wurde er in der falschen Gegend gefunden. Niemand kann die Frage beantworten, wie er in dieses Dorf gekommen sein sollte.« Abwesend blickte Xanderan zur Decke: »Iza, spricht etwas dagegen, daß er Dajins Sohn sein könn te?« »Nur das Dorf«, antwortete die Priesterin. Xanderan sah sie eindringlich an: »Spricht etwas dagegen, daß er Dajins Sohn sein sollte?« Die Priesterin seufzte schwer: »Er ist ein Binnen landbauer ohne besondere Bildung. Sein Wissen um die Welt endet einige Meilen außerhalb seines Dorfes. Er versteht weder Garethi noch Tulamidya, aus schließlich die Sprache des Volkes. Er wird darauf
angewiesen sein und auch darauf vertrauen müssen, daß das, was er befiehlt, richtig weitergegeben wird. Allerdings hat er einen sehr eigenen Kopf und sagt mitunter Dinge, die man nicht erwartet.« »Das habe ich bemerkt«, pflichtete Xanderan bei. »Aber deine Antwort ist weder ein Ja noch ein Nein, Iza! Sage mir, wird dieser Mann der Königin Paroli bieten können?« »Das hängt ganz allein davon ab, mit welchem Körperteil er denkt, wenn er sie sieht.« »Ich weiß. Aber das ist in jedem Fall ungewiß.« Der Priester stieß die Luft aus: »Gut, wir wagen es: Dieser Mann, der sich Dajin Derfromold nennt, ist Prinz Djurmold Rurijian Mulziber Garalor, jüngstes Kind der Königin Ishajid. Sein Name wird aus dem Buch der Abwesenden gestrichen und neu im Buch der Anwe senden notiert werden.« »Das reicht nicht«, gab die Priesterin zu bedenken. »Ich weiß. Doch bis morgen wird dieser Tempel endlich ein neues Paar von Hochgeschwistern haben. Heute nacht wird entschieden werden, wer meine Schwester oder mein Bruder sein wird. Dann kann morgen verkündet werden, daß der Sohn Dajins zu rückkehrte.« Er warf der Priesterin einen auffordern den Blick zu: »Iza?« Erschrocken trat sie einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände: »Verlange das nicht von mir,
Sandu! Ich wäre binnen einer Woche tot! Sie würden nie zulassen, daß zweie von uns dem Tuzaker Tem pel vorstehen.« »Iza, sie wissen seit Jahren, daß du hier bist. In der ganzen Zeit haben sie nicht Hand an dich gelegt, ob wohl du dich erst sehr viel später als ich von den Lehren Zaborons lossagtest. Warum sollten sie es jetzt tun? Die Zeiten haben sich geändert.« Die Priesterin sah Xanderan lange abschätzend an. »Du hast viel vergessen«, meinte sie. »Du willst nicht mehr wahrhaben, wie du früher dachtest – und auch ich. Du willst nicht mehr wissen, wie wir und sie vor gingen, als wir noch gemeinsam vermeinten, einer guten Sache zu dienen: schnell im Entschluß, gnaden los und gründlich in der Ausführung. Du fandest deinen Platz, bevor der Krieg begann, ich nicht. Ich habe in der ersten Zeit noch gegen sie gekämpft. Du behauptest, die Zeiten hätten sich geändert. Das mag für dich gelten und für mich. Sie haben sich nicht ge ändert! Sie hatten keine Veranlassung dafür. Gewiß, sie sind keine Eiferer mehr, sie sind zu Handwerkern geworden. Sie geben nicht mehr vor, aus Gründen des Glaubens zu töten und gegen das einzutreten, was die Schönheit der Welt mindert. Sie lassen sich heute für ihre Taten bezahlen. Das ist der ganze Un terschied. Bruder, das Morden nach dem Zerfall un serer Gemeinschaft dauerte einfach viel zu lange, als
daß sie es vergessen haben könnten! Sollte ich die Hohe Schwester dieses Tempels werden, werden sie sofort hellhörig werden und argwöhnen, eine neue zaboronitische Gemeinschaft könne entstehen. Die Bruderschaft wird nicht abwarten, ob sich ihr Verdacht bestätigt. Sie wird sofort zuschlagen. Ihr Sieg war viel zu teuer erkauft. Ich werde dann sterben – und du ebenfalls. Nein, Bruder, nein! Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Ich gehe jetzt unsere Bruderschwe stern wecken, damit die Tempelversammlung einbe rufen werden kann. Dort wirst du jemanden finden müssen, der dein Amt teilt. Ich werde das nicht sein.« Mit maskenhaftem Gesicht eilte die Priesterin aus dem Raum. Aber die Zeiten haben sich geändert, Iza! dachte Xanderan. Für einige Augenblicke hörte er in seinem Geist wieder die Stimme aus der Vergangenheit, die noch gar nicht so lange verklungen war. »Warum kommst du hierher, Sandu? Nach so vielen Jahren, in denen wir uns gegenseitig aus dem Weg gingen, fällt es schwer zu glauben, daß du nur nach der Gesell schaft alter Freunde dürstest? Sag, Sandu, als wer bist du hier? Als einstiger Gefährte oder Hoher Bruder? Was ist dein Begehr, Sandu? Doch um alter Freundschaft willen, bedenke, was du antwortest. Die Zeiten haben sich geän dert, Sandu. Niemand befiehlt uns mehr, niemand gebietet. Man bittet uns, wir gewähren ... vielleicht!«
Xanderan strich sein Gewand glatt. In wenigen Stunden würde er bezeugen, daß ein Mann, mit dem er nur ein paar Sätze gewechselt hatte, der Sohn eines toten Königs sei, gleichgültig ob das stimmte oder nicht. Er würde das tun, um eine schreckliche Tragö die zu verhindern. Xanderan hoffte inbrünstig, daß ihn der kleine Mann aus dem abgelegenen Dorf nicht enttäuschte. Falls doch, so mußte sein anderer Plan zur Ausführung gelangen. Er wußte inzwischen, wieviel ein Königspaar wert war. Die alten Kamera den hatten ihm den Preis genannt.
4. Die Wahl des neuen Hochgeschwisters verlief ver blüffend schnell. Eine Priesterin, die zuvor niemand für das Amt in Betracht gezogen hätte, hatte sich in der Tempelversammlung plötzlich erhoben, auf sich selbst gedeutet und gesagt: »Ich meine, diese Schwe ster sei die richtige, doch ihr mögt es besser wissen.« Eine gute Viertelstunde war sie dagestanden, wäh rend alle schwiegen, dann stimmte man ihr zu. Obwohl die Bekanntgabe von Dajins Existenz erst im Laufe des kommenden Nachmittages erfolgen sollte, wurde die Nacht nicht nur für die Priester schaft sehr kurz. Die Dschunkarim hatten am Vormit
tag noch mancherlei zu erledigen, wozu die Entsen dung eines Boten nach Sinoda gehörte, sowie die Be schaffung halbwegs angemessener Kleidung für den künftigen Herrscher des Landes. Denn in seiner hei mischen Tracht hätte man Dajin einfach als einen gei stig verwirrten Binnenländer abgetan. Die Dschunka ra hatte geltend gemacht, einige Stunden zu benöti gen, um ihre Kusine von der Entwicklung der Dinge in Kenntnis setzen zu können, eine scheinbar neben sächliche Bemerkung, auf die niemand weiter ein ging; nur Denderan zeigte mit einem leichten Nicken seine Zustimmung. Dajin hingegen hatte am Vormittag einige Sätze in den Sprachen der Herrschenden auswendig zu lernen, gerade soviel, wie ein Anwärter auf den Thron Ma raskans benötigte, um seinen Anspruch anzumelden. Die Verkündigung sollte nacheinander im Tempel stattfinden sowie an drei ausgesuchten Plätzen der Stadt, ganz zuletzt auch an einem in der Nähe des Pa lastes. Als am frühen Nachmittag der Tuzaker Tempel ei nigermaßen gefüllt war – nicht so voll, wie es die Dschunkarim gerne gesehen hätten, doch mit beinahe so vielen Menschen, wie in Praiobab lebten – begann die Zeremonie. Aus der Tür, die zu den nichtöffentli chen Räumen des Tempelturms führte, schritten die Hochgeschwister heraus in die Tempelhalle. Zwischen
ihnen ging Dajin, der in der neuen Gewandung schon mehr hergab. Den Abschluß der Prozession bildeten sechs weitere Priesterinnen und Priester, von denen zwei das Buch der Anwesenden und das Buch der Abwe senden trugen. Sie schritten zur Mitte der Tempelhalle, wo die Priester sich im Halbkreis aufstellten. Der übli che Lärm des Preisens und Betens, der in einem Rur Gror-Tempel herrscht, kam rasch zum Erliegen. Die letzten, die zu versunken in ihre Andacht waren, um auf den ungewöhnlichen Vorgang aufmerksam zu werden, brachten andere Gläubige nach und nach zum Verstummen. Dajin trat aus dem Halbkreis vor und sprach auf Tu lamidya und Garethi die Sätze, die ihm am Vormittag beigebracht worden waren: »Ich bin Dajin Derfromold. Ich wurde geboren als Djurmold Rurijian Mulziber Ga ralor, Sohn Ishajids und Dajins, einst Königin und Kö nig von Maraskan. Mein Ahnherr ist Djurmold, Fürst Maraskans, mein Vater gründete das Reich.« Was er sagte, wurde, wie auch alles Folgende, von den sechs gewöhnlichen Priesterinnen und Priestern in der Sprache des Volkes wiederholt. Nun wurden die beiden wichtigen Bücher zu den Hochgeschwistern getragen und vor ihnen aufge schlagen. Gemeinsam bestätigten die Vorsteher des Tempels: »Sein Wort ist wahr. Er ist der, der er sagt.« Die neue Hohe Schwester des Tempels sprach allein
weiter: »Falsch war es, ihn vorzeitig in diesem Buch zu vermerken!« Mit einem raschen Federstrich machte sie einen Eintrag auf der aufgeschlagenen Seite ungültig. Xanderan vollendete diesen Teil der Zeremonie: »Es ist richtig, daß er auch weiter als unter uns Weilender auf geführt werde. Dajin Derfromold ist Djurmold Rurijian Mulziber Garalor. Er ist das Kind seiner Eltern.« Auch er änderte einen Eintrag in dem Buch vor ihm. Sodann beendete Dajin das Ganze mit seinem letzten Satz: »Ich stehe hier, um den Anspruch auf mein Erbe zu bekun den!« Danach ging er mit würdigem Schritt, den er ebenfalls erst vor Stunden eingeübt hatte, zum Tem peltor. Dort erwarteten ihn bereits die Dschunkarim, Rame lusab und Ornibijian sowie fünf Bewaffnete, die Keïde ran am Vormittag angeworben hatte, zusammen mit zwei Priestern, die außerhalb des Tempels an die Stelle der Hochgeschwister treten sollten. Mit eiligen Schrit ten ging es zum ersten der ausgewählten Orte. Die fünf Leibwächter verteilten sich zur Absicherung, die Hän de auf dem Griff ihrer Waffen. Zum zweiten Mal ver kündete Dajin, wer er sei und was er beanspruche. Die beiden Priester bestätigten seine Worte. »Das ist unvernünftig«, beschwerte sich Dajin. »Ich sage Sätze, die ich nicht verstehe, anschließend wer den sie übersetzt für diejenigen, die sie ebenfalls nicht verstanden haben, was beinahe alle sind.«
»Das muß so sein. Schließlich sollt Ihr König wer den«, ließ Denderan knapp entgegnen. Er drängte zur Eile. Alle Beteiligten hasteten zum nächsten und über nächsten der ausgewählten Orte. Bei allen, außer den Priestern und Dajin, wuchs die Spannung von Mal zu Mal. Die Blicke der Leibwächter glichen denen von Raubvögeln. Dieser Rundgang durch Tuzak hatte wenig mit Würde zu tun. Er war ein Gerenne, die Rückkehr zum Tempel wurde gar im Laufschritt bewältigt. Mittlerweile war vor dem Götterhaus eine beachtli che Menschenmenge zusammengeströmt. Erstaunli ches ging heute vor! Weder Umradjida noch einer der sechs anderen Könige des Namens Dajin hatte ihre Anwartschaft auf den Thron an einem Ort des Glau bens bekanntgegeben! Trotz des aufgeregten Gedränges reichten nur we nige Worte, damit sich eine Gasse für die Schar bilde te. Zum ersten Mal bekam Dajin eine Ahnung davon, wieviel Macht die freundlichen Priester der Zwillinge besaßen. Im Tempel zog sich die gesamte Gruppe mit Aus nahme der beiden Priester in eine Kammer des Tem pelturmes zurück. Die Leibwächter postierten sich vor ihrer Tür. »Was geschieht jetzt?« erkundigte sich Dajin. »Als wir den Tempel verließen, schickten die Hoch
geschwister einen Priester zur Königin, um ihr Eure Werbung zu überbringen.« »Warum keiner von euch? Ist das so üblich?« be gehrte Dajin zu wissen. »Nein«, antwortete die Dschunkara. »Doch unsere Priesterschaft ist im Gegensatz zu uns unantastbar.« Bevor Ornibijian das Gesagte übersetzen konnte, befahl ihm Keïderan scharf: »Sag einfach nur nein.« Dajin sah den Dschunkar durchdringend an: »Was geschieht, wenn sie ablehnt?« »Das wird sie nicht tun«, ließ Keïderan antworten. »Ornibijian, sag dem Dschunkar, daß er meine Fra ge beantworten soll!« erwiderte Dajin schroff. Überrascht schrak Keïderan zurück, als er urplötz lich im Gesicht des künftigen Herrschers eine Wild heit sah, von deren Vorhandensein er zuvor nichts geahnt hatte. »Nichts läuft so, wie wir es gerne gehabt hätten«, antwortete er. »Wenn die Königin ablehnt, werden wir Tuzak verlassen müssen. Pferde stehen bereit, ein Fluchtweg ist geplant. Wir werden sofort aufbrechen, denn Eure Sicherheit ist danach nicht mehr gewähr leistet.« »Was geschieht dann?« Keïderan zögerte und antwortete bedächtig: »Dann müssen wir weitersehen.« »Keïderan!« gellte Dajins Stimme durch das Zim
mer, bevor Ornibijian auch nur den Mund öffnen konnte. Um ein Haar wäre Keïderan rücklings von seinem Stuhl gefallen! Einen Augenblick lang glaubte er, sein künftiger Herrscher wolle ihm an die Gurgel springen! »Seit dem Morgengrauen verbreiten Boten das Wis sen um Eure Existenz und Euren Anspruch auf den Thron«, antwortete er. »Lehnt die Königin ab, so befin den wir uns im Krieg, auch wenn es einige Tage dau ern mag, bis sich geklärt haben wird, wer gegen wen zu Felde ziehen wird. Wie wir Euch sagten, gibt es et liche, die nicht wünschen, daß Eure hoffentlich künf tige Gemahlin ihre Gebieterin sein soll. Bisher hätten nur wenige tatkräftig etwas gegen ihre Thronbestei gung unternommen. Doch Ihr, Herr, seid nun zu ih rer Hoffnung geworden. Diese Hoffnung werden sie sich nicht mehr nehmen lassen, ob Ihr das wünscht oder nicht.« »Das hättet ihr mir vorher sagen können«, sagte Dajin ruhig. »Herr, wir fürchteten uns vor Eurer Weigerung«, gestand Keïderan ein. »Diese Wahl hatte ich nicht«, gab Dajin zurück.
5.
Balatravis tobte. Sie hatte den Gesandten des Liebli chen Feldes kommen lassen, der nun ihren Zorn über sich ergehen lassen mußte. »Es ist beschämend!« klagte sie. »Allein Königin dieses verwanzten Eilands zu sein, ist schon ein ausreichend hartes Los.« »Eines reichen, verwanzten Eilands«, berichtigte Si rensteen. Balatravis überhörte den Einwand. »Gestern saß ich schon beinahe auf dem Thron. Das ist mein Thron, Re fano, meiner. Die Königsmutter versprach ihn mir. Ich sei ihre Tochter, ich, ich, ich! Doch jetzt soll ich wieder einen Schritt hinter den Thron zurücktreten, statt selbst darauf Platz zu nehmen, und mich sogar von einem Geschöpf besteigen lassen, das diese Barbaren wer weiß wo aufgegabelt haben!« »Ihr werdet immer noch die Königin sein, auch wenn Euch nicht das letzte Wort über die Geschicke des Reiches zusteht«, warf Sirensteen ein. »Was wagst du, Refano?« fuhr ihn Balatravis an. »Du widersprichst mir! Ich erbitte deinen Rat, deinen Trost, nun sehe ich dich in einer Reihe mit diesem Gesindel! Ich bin unglücklich, Refano! Ich wünsche nicht, daß man mir widerspricht! Dir habe ich ver traut, dir sagte ich, du könntest der König neben mir sein! Doch nun fällst du mir in den Rücken. Du bist
undankbar, Refano, es bricht mir beinahe das Herz. Nun gut, ich benötige deine Hilfe nicht, verräteri scher Liebfelder! Ich werde die gesamte dreiste Bande verhaften und hinrichten lassen!« Sirensteens Miene drückte Mißbilligung aus. »Ma jestät, das solltet Ihr nicht übereilen. Wer immer diese Intrige gegen Euch schmiedete, wird dafür Sorge ge tragen haben, daß Ihr das Komplott nicht so leicht zerschlagen könnt, indem Ihr den angeblichen Kö nigssohn einkerkern laßt. Vielleicht ist seine Verhaf tung sogar Teil des ruchlosen Planes!« »Was rätst du mir also, Refano? Daß ich nichts un ternehmen soll? Daß ich tatenlos zusehe, wie man mir wegnimmt, was allein mir gehört, und danach glück selig lächle und stöhne, wenn dieser hergelaufene Tölpel unter mein Laken schlüpft?« »Soweit ich verstanden habe, gehört das nicht zu dem Angebot, das der Geweihte übermittelte, was übrigens beweist, daß hinter dieser Machenschaft je mand steckt, der genau weiß, was er tut. Ihr habt vie le Freunde, Majestät, die Euch unterstützen. Offenbar fühlt sich die Gegenseite nicht stark genug, Euch an ders zu begegnen. Balatravis, seht in der Brautwer bung ein Angebot für einen Waffenstillstand.« »Wenn ich so viele Freunde habe, sollte es mir nicht schwerfallen, mit den Hinterleuten der Konspi ration fertig zu werden!« murrte Balatravis finster.
»Unterschätzt sie nicht, Majestät. Ich muß Euch nicht daran erinnern, daß Ihr weder hier geboren seid noch den Glauben dieses Landes teilt. Wenn Eure Widersa cher heute noch schwach sind, so heißt das nicht, daß sie es morgen noch sein werden. In diesem unglückse ligen Zusammentreffen, daß gerade jetzt ein Sohn des Reichsgründers auftaucht, als eine – verzeiht Majestät – fremde Königin den Thron zu besteigen sucht, kann ein bisher Unentschlossener leicht ein Zeichen ihrer Götter sehen. Sie haben es schlau eingefädelt, indem sie sich gleich von der Priesterschaft die Herkunft ihres Prätendenten bescheinigen ließen. Und die Priester schaft dieses Landes solltet Ihr nun wirklich nicht her ausfordern!« »Ein Zeichen der Götter!« rief Balatravis. »Jeder kann solche passenden Zeichen produzieren, die ir gendein Gimpel glauben wird. Der Todeskampf mei nes Gemahls dauerte einfach zu lange! Daran ist nichts Göttliches!« Der Gesandte warf der Königin einen verstohlenen Blick zu. War das etwa gerade ein Eingeständnis ge wesen, daß das Gerücht stimmte, das er vor Monden aufgeschnappt hatte? Wenn ja, so starb noch heute ein etwas zu vorsichtig handelnder Alchimist. Siren steen wartete gespannt, ob die Königin noch etwas zu dem Thema sagen würde. Doch das tat sie nicht. »Er soll nicht einmal anständig reden können!«
fuhr Balatravis fort. »Ausschließlich das Kauder welsch des Pöbels! Refano, was wirst du mir als näch stes raten? Daß ich die fünfte Frau eines Utuluhäupt lings werden und in seinen stinkenden Kral einziehen soll? Niemals! Niemals!« Sirensteen versuchte sie zu besänftigen: »Majestät, Ihr seid eine kluge Frau, die sich durchzusetzen weiß! Eure Schwiegermutter erkannte das. Deshalb hieß sie ihren Sohn, den Traviabund mit Euch zu schließen. Ich will nicht spekulieren, doch scheinen mir einige der weiseren Entschlüsse Dajins VI. nicht allein seinem Geist entsprungen zu sein. Was wünscht Ihr, Majestät? Einen Gemahl wie meinen König Alborn Firdayon, dessen Ahnenreihe zurückreicht bis zur Herrlichkeit Bosparans? Einen Gemahl, gebildet, weltgewandt und entschlossen, der weiß, daß er der Nachfahre zahlrei cher großer Herrscherinnen und Herrscher ist, die ein Weltreich regierten, und der sich ihrer um jeden Preis würdig zeigen will? Kurzum, einen Gemahl, der ei nen riesigen Schatten wirft? Wollt Ihr das? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr im Halbdunkel glücklich wärt! Nehmen wir auf der anderen Seite diesen Ge mahl, den man Euch aus Gründen der Staatsräson aufzwingen will: Er ist unschuldig und unwissend wie ein junges Kätzchen, angewiesen darauf, daß je mand sein Miauen weiterleitet ...« Balatravis entblößte lächelnd ihre Zähne: »Refano,
Refano, Ihr Liebfelder seid ein intrigantes Ge schlecht!«
6. Eine der Wachen riß die Tür auf: »Die Königin ist da! Sie wünscht ihren künftigen Gatten zu sehen!« Denderan sah ihn mißtrauisch an: »Sie selbst? Kein Bote? Was plant das Weib jetzt schon wieder?« »Wenn es nun eine Falle ist?« argwöhnte die Dschun kara besorgt. Keïderan breitete die Arme aus. »Das wird sie nicht wagen. Doch er muß entscheiden.« Erwartungsvoll sah der Weißhaarige den künftigen Monarchen an. Sobald Dajin verstanden hatte, worum es ging, er hob er sich und schlug den Weg zum Treppenhaus des Tempels ein. Sein Troß folgte ihm etwas zögerlich. Die Königin war mit einer dreißigköpfigen Garde gekommen, die den Platz vor dem Tempel fünfzig Schritt weit abgeriegelt hatte. Balatravis wartete be reits in der Mitte der freien Fläche, gekleidet in wun derbare Gewänder, herrlich anzusehen, doch gleich zeitig zerbrechlich wirkend wie eine Lilie aus Glas. Dajin ging allein zu ihr. Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen. Die künftigen Brautleute musterten sich eini ge Zeit. Die Königin brach als erste das Schweigen.
Als sie sprach, hob Dajin die Arme, eine entschuldi gende Geste für sein Unvermögen, die Königin zu verstehen. Dann sprach er ebenfalls: »Wir sind hier beide sehr fremd, Schwester.« Mit einem Mal lächelten sich Balatravis und Dajin an. Mehr Worte wurden nicht gewechselt, da sie ein ander sowieso nicht verstanden. Bald darauf gingen sie wieder auseinander. Beide sahen zuversichtlich aus, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen. Dajins Gefolge war begierig zu erfahren, was die Königin gesagt hatte. »Ich weiß es nicht«, ließ er ant worten. »Sie ist eine sehr schöne Frau. Den Kreis mit ihr abzuschreiten, wird keine harte Pflicht sein. Viel leicht werdet auch ihr eines Tages in ihr sehen, was ich gerade in ihr sah.« Dieser Augenblick war einer der wenigen im Leben der Dschunkara, in dem das ständige Lächeln völlig aus ihrem Gesicht verschwand. Denderan sah schwei gend auf seine Fußspitzen, was in Keïderan vorgehen mochte, war seinem Gesicht nicht anzusehen. Dajin blieb noch bis zur Beisetzung seines Vorgängers in Tuzak. Gemäß den Sitten des Landes erteilte er dem Verstorbenen die Sechzehn Guten Ratschläge in der unpersönlichen Form, die man bei einem Verstorbenen benutzte, den man nicht gekannt hatte. Diese Form wählte auch die Königswitwe. Daran nahm niemand
Anstoß, denn schließlich war sie eine Fremde. Manche priesen sie sogar dafür, daß sie sich überhaupt den Sit ten Maraskans gebeugt, und nicht nur einfach ge schwiegen hatte, wie es dem Hörensagen nach in ihrer Heimat Sitte war. Andere mißbilligten, daß der – in der Öffentlichkeit – stets verschleierte Gesandte aus Vin salt ihren Arm bei der Beisetzung stützte. Anschließend verließ der künftige Herrscher Tuzak und zog sich auf eine Feste zurück, die einer Kusine der Dschunkara gehörte. Die Nachricht von dem Tu zaker Arrangement hatte sich wie ein Lauffeuer im Königreich verbreitet. Sie wurde unterschiedlich auf genommen. Manche begrüßten die Kunde erleichtert, andere mit Unmutsfalten, wieder anderen war sie völlig gleichgültig. »Wenn ich einen Bauernjungen sehen will, so kann ich auch über meinen Markt schlendern«, meinte der Cherzak von Jergan. »Dazu muß ich nicht Hunderte von Meilen nach Tuzak reisen.« Aus dem Munde der Tetrarchin Borans war zu hö ren: »Wer hätte gedacht, daß unser lahmer Bruder in Sinoda noch solche Ambitionen hegt?« Damit sprach die Tetrarchin etwas aus, das nicht wenige dachten: Der wiedergefundene Sohn des Reichsgründers sei nur eine Larve, hinter der sich das Gesicht des Harans von Sinoda verbarg.
Auf der Feste verbrachte Dajin knapp drei Wochen, um sich auf seine Krönung vorzubereiten. Er war umgeben von Protokollbeamten des Königshofes, die sorgfältig von Dajins Getreuen überwacht wurden. Sie mußten mit manchen Einschränkungen leben. Insbesondere war ihnen die Nähe von Küche und Speisekammer verwehrt, ein Gebot, an das sich die Hofbeamten von sich aus eisern hielten. Sie wollten nicht verantwort lich gemacht werden, falls der ungekrönte König ein Leibgrimmen bekäme. Zu den Vorbereitungen gehörte das Auswendig lernen der Thronrede, die von sachkundigen Leuten kunstvoll entwickelt und stilsicher formuliert worden war, sowohl in ihrer garethischen Fassung als auch in der tulamidischen. Jede Version dieser herrlichen An sprache nahm etwa eine halbe Stunde in Anspruch. Hinzu kam die Unterweisung im Zeremoniell und in der Art, wie die zu erwartenden Gäste angesprochen werden sollten. Blieb an einem Tag noch etwas Zeit übrig, dann erfuhr Dajin sogar gelegentlich ein wenig über die Eigenheiten seiner künftigen Vasallen und ihre Herkunft. Tagtäglich trafen frühzeitig zum Krönungsakt auf gebrochene Edle ein, um dem künftigen Herrscher ih re Aufwartung zu machen und sich selbst ein Bild von ihm. Manche versuchten schon jetzt, dem künfti gen Herrscher Bittgesuche zu überreichen, die jedoch
von Dajins bisherigen und neuen, selbsternannten Wächtern abgewiesen wurden. Andere brachten gleich einen Teil ihres bewaffneten Volks mit – nur für alle Fälle. Durch sie verwandelte sich die Feste nach und nach in ein Heerlager. Dajin, der unversehens von der Welt Abgeschirmte, fand rasch heraus, daß unter de nen, die ihm huldigten und ihre Treue bekundeten, schwer jemand zu finden war, der bereit gewesen wäre, ihm von der Anmut seiner künftigen Frau vor zuschwärmen. Wenige Tage vor der Krönung zog Dajin in den Tu zaker Palast ein. Von seiner Braut hielt man ihn fern, denn seine Berater vertraten die Meinung, er solle sie erst bei der Vermählung wiedersehen. Insgeheim hiel ten sie auch diesen Zeitpunkt, da er vor der Krönung lag, noch für ein großes Wagnis, das sie notgedrun gen eingehen mußten. Die Verheiratung fand am Vortag der Krönung statt. Sie folgte dem üblichen Ritus, nach dem beide Brautleute einen Kreis abschritten und sich dabei ge genseitig die Acht Regeln der Harmonischen Ehe auf sagten, die der jeweils andere wiederholte. Dieser Akt hatte nur wenige Zeugen, wirkte beinahe geheim und bestand auch ausschließlich aus dem Abschreiten des Kreises. Obwohl sich die Planer beider Seiten auf Ga rethi als Sprache während der Zeremonie geeinigt hatten, erweckte Dajin zum ersten Mal den Eindruck,
als verstünde er jedes Wort, das er zu sagen hatte. Doch das mußte nicht verwundern, schließlich hatte er sich schon zweimal dieser Pflicht unterzogen. Als Dajins nunmehr dritte Frau ging, sah er ihr enttäuscht hinterher. Balatravis war an diesem Tag geradezu schmerzlich schön. »Ich möchte mit deiner Mutter reden«, sagte Dajin an schließend zu Ornibijian, der seit einigen Tagen nicht mehr sein Übersetzer war. Diesen Platz hatte inzwi schen ein Schwarm diensteifriger Geister eingenom men, die sowohl der Volkssprache mächtig waren als auch einer oder beider Sprachen der Herrschenden. Dennoch war Ramelusabs Sohn fast immer anwe send. Dajin hatte ihn geheißen, darauf zu achten, daß seine Worte auch richtig weitergegeben wurden. Ramelusab wurde geholt. »Ich will alleine mit ihr sein!« befahl Dajin. »Hast du mit Ornibijians Vater den Kreis abge schritten?« fragte er sie. »Nein«, entgegnete Ornibijians Mutter. »Wir kann ten uns doch nur zwei Tage lang.« »Du stammst aus As'Khunchak, nicht wahr?« fragte Dajin weiter. Er sprach schnell, die einzelnen Wörter zusammenziehend, so daß aus zweien eins wurde, was für Ramelusab auch nach Wochen der Gewöhnung an strengend beim Zuhören war. »In meiner Kindheit ge
hörte dein Heimatdorf für uns schon beinahe zum Rand der Welt. Nur von Alrurdan wußten wir, daß es noch weiter entfernt lag. In den letzten Wochen berei tete man mich darauf vor, der Herr Maraskans zu wer den, dabei weiß ich nicht einmal, ob man länger gehen muß, um von Praiobab nach Tuzak zu gelangen oder von Praiobab nach Alrurdan, oder in welche Richtung ich überhaupt gehen müßte, wollte ich das. Doch das will ich gar nicht von dir wissen. Wenn in Praiobab zwei den Kreis abschritten, waren alle fröhlich. Man scherzte miteinander und plagte die Brautleute, so gut man konnte. Wie hielt man es in deinem Dorf?« »Ähnlich«, entgegnete Ramelusab wortkarg. »Und in Sinoda?« »Ebenfalls. Darf ich offen sprechen?« »Fragtest du mich das auch, als du mich aus der Wiege stahlst, um mit mir aus einem Fenster zu springen?« entgegnete Dajin spöttisch. »Nein. Verzeiht mir, wenn ich zu Euch spreche wie zu meinem Sohn, der beinahe so alt ist wie Ihr: Macht Euch nichts vor. Nehmt diese Heirat genau so, wie Ihr sie erlebtet. Ihr spracht heute Sätze, von denen Euch manche Worte vertraut klangen. Zu einer ande ren Zeit hättet Ihr ihren Sinn nicht verstanden, wenn wir sie Euch nicht erklärt hätten. Sie wären nichtssa gend für Euch gewesen. Ihr dürft nicht vergessen, warum die Königin jetzt Eure Frau ist.«
»Kennst du sie? Außer vom Sehen?« gab Dajin un willig zurück. »Nein. Ich weiß nur das, was ich von den Dschun karim hörte, was nicht viel ist.« »Sie mögen sie nicht, das trübt ihren Blick. Sie woll ten sie nicht als Herrscherin. Gut, dem mag ich zu stimmen. Doch alles andere ...« »Sie ist schön, Ornibijian. Dein Begehren blendet dich«, unterbrach ihn Ramelusab. Dajin lächelte: »Du versprachst dich, Schwester. Ich bin nicht dein Sohn.« »Verzeiht, Herr, doch ich versprach mich absicht lich. Ich wollte nicht zu dem Haran-ga-Haran so sprechen wie zu meinem störrischen Sohn.« »Höre, Schwester: Die Dschunkarim wollten, daß ich etwas für sie regle, doch keiner von ihnen dachte weiter als bis zum morgigen Tag. Ich benötige keine zusätzliche Bürde. Richte ihnen das aus! Doch zuvor möchte ich sehen, wo meine Eltern und Geschwister starben.« »Das will ich Euch zeigen«, versprach Ramelusab. »Es war im königlichen Schlafzimmer. Doch das Ge mach dient heute nicht mehr diesem Zweck.« Gemeinsam mit einem Schwarm von Dienern gin gen Ramelusab und Dajin zu dem Ort vergangenen Leids. Das ehemalige Schlafzimmer des ersten Kö nigspaares war seit mehr als dreißig Jahren die schön
ste Abstellkammer des Palastes. Weder der zweite Dajin noch seine Nachfolger hatten den Ort der Blut tat zu seinem ursprünglichen Zweck nützen wollen. Das erschien ihnen zu sehr wie eine Herausforderung des Schicksals. Für etwa eine halbe Stunde verblieb Dajin allein hinter der geschlossenen Tür. »Wünscht Ihr etwas über Eure Verwandten zu er fahren?« fragte ihn Ramelusab, als er wieder heraus kam. Dajin verneinte: »Ich kannte diese Menschen ja nicht einmal.« Er senkte seine Stimme soweit, daß ihn nur die ehemalige Gardistin verstehen konnte: »Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gab: Der König starb im Bett der Königin, die Königin im Bett des Königs.«
7. Die Nacht brach an. Nur noch drei Leibdienerinnen und Ornibijian hielten sich in Dajins Gemächern auf, vor deren Zugang acht Gardisten Wache hielten. »Ich möchte allein mit ihm sein«, befahl Dajin. Die Frauen gehorchten widerwillig. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, meinte Dajin: »Ich bin seit Wo chen nicht weniger ein Gefangener als in der Silbermi
ne. Wenigstens am Abend vor der Krönung möchte ich die Stadt sehen, die mir morgen zujubeln soll.« »Eure Anhänger werden das gar nicht mögen, doch ich werde nach einer Eskorte für Euch fragen«, ent gegnete der Schwarzblonde. »Nein, das wirst du nicht. Ich möchte durch Tuzak gehen, ohne daß mich ein halbes Dorf umschwirrt.« »Das ist nicht klug«, wandte Ornibijian ein. »Fragte ich dich nicht bei unserer ersten Begeg nung, ob du meine Wünsche zu erfüllen hättest?« er innerte ihn Dajin unwirsch. »Ich wünsche nicht von dir, Ornibijian, ich fordere. Du wirst mir unauffällige Kleidung besorgen und mir dabei helfen, aus dem Pa last zu gelangen, ohne daß meine vielen Beschützer etwas davon bemerken und ein Gezeter anstimmen.« »Das wird nicht leicht sein. Alle Zugänge dieses Turmes sind gut bewacht. Kein Fremder – und ver kleidet wärt ihr einer – kommt herein oder hinaus. Ich müßte auch erst jemanden finden, der etwa Eure Größe hat. Ihr hättet mir das früher befehlen sollen.« »Dann muß es anders vonstatten gehen.« Dajin ging zur Tür und rief eine der Dienerinnen herein. »Zieh dich aus«, befahl er ihr. Sie sah ihn erstaunt an: »Hieltet Ihr es nicht für an gebrachter, nach Eurer Gemahlin zu schicken?« »Ich möchte nur deine Kleidung«, erwiderte Dajin. Das verwirrte die Frau noch mehr.
»Du wirst für einige Stunden meinen Platz ein nehmen«, erklärte er deshalb. »Ich möchte ungesehen aus dem Palast hinaus.« Endlich verstand sie. Beide tauschten hinter Wandschirmen die Klei dung. Als Dajin hinter seinem hervortrat, meinte die Dienerin mißbilligend: »Der Kopf, Herr, der Kopf!« Sie verschwand erneut hinter ihrem Wandschirm, zog sich offenbar noch einmal aus und wieder an, und erschien wieder mit einem Stück Stoff in den Händen, das möglicherweise ihr Brusttuch war. Sie machte es zu Dajins Kopftuch, verbarg seine Haare darunter, die bis zur Rückenmitte reichten, und zupf te es so zurecht, daß das Gesicht nicht gleich zu er kennen war. Zum Glück trug Dajin keinen Bart. Die Dienerin trat zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Das sieht eigentümlich aus«, bemängelte Ornibiji an. »Wie eine Frau, die nicht erkannt werden will und der nichts Besseres einfiel, als sich zu verhüllen«, wi dersprach die Dienerin. »Du wirst ihn ja wohl beglei ten? Da mag sich jeder sein Teil denken, warum sie nicht erkannt werden will.« Sie lächelte ihn spitzbü bisch an und vergaß für einige Augenblicke, über wen sie sprach: »Doch auch wenn du offenbar eine Schwä che für knabenhafte Frauen hast, Bruderschwester, so rate ich dir dennoch zu einer anderen. Die da ist ein wenig schmal in den Hüften. Sie wird sich schwer tun
mit dem Gebären.« Sie strich über ihre Seite, als habe sie Ornibijian einen besseren Vorschlag zu unterbrei ten. »Geht einige Schritte!« forderte Ornibijian Dajin auf. »Nein, nein, nein!« meinte er nach der Kostprobe unzufrieden. »Diese Rolle wird Euch niemand glau ben! Seht, wie ich gehe und macht's mir nach.« Mit wiegenden Hüften ging er vor Dajin auf und ab, dabei mit verstellter Stimme blutrünstige Verse aus einem Theaterstück deklamierend. Die Dienerin war damit gar nicht einverstanden: »Wenn er so geht, wie du das willst, wird sich morgen der ganze Palast das Maul über deine brünstige Begleiterin zerreißen. Man wird Wetten abschließen, wer von euch beiden wen hinter dem erstbesten Busch ansprang und zu ritt!« »Genug!« meinte Dajin. »Dann wird Ornibijian eben mit drei Frauen zum Tor gehen. Unter dreien mag eine falsche nicht so sehr auffallen. Holt die an deren herein!« Die übrigen beiden Dienerinnen waren über den Anblick, der sich ihnen bot, womöglich noch erstaun ter als die erste. Der neue Herr schien ausgefallenen Vergnügungen am Abend seiner Verheiratung zu frönen! Als auch sie in den Plan eingeweiht worden waren, den sie als köstliches Abenteuer ansahen, verließen
die Männer mit den beiden Frauen das Gemach. Es ließ sich nicht umgehen, daß die Wachen davor die Täuschung gleich durchschauten. Rundheraus wei gerten sie sich, den künftigen Herrscher aus seinem Gemach zu lassen, sofern nicht zuvor ihre vorgesetz ten Offiziere, die Haushofmeister und die Hälfte der königlichen Beamtenschaft in Kenntnis gesetzt wor den seien, da sie andernfalls hart bestraft würden. Dajin flüsterte hitzig in Ornibijians Ohr. Der größe re Mann warf dem kleineren, vermummten einen verdutzten Blick zu und sagte zu den Wachen: »Die Dame zu meiner Linken versichert mir, daß ihr euch täuscht. Unser künftiger Herrscher befindet sich nach wie vor hinter dieser Tür und feiert seine Vermäh lung. Deshalb sei es angebracht, ihn laufend mit Ge tränken, Spezereien und berauschenden Früchten zu versorgen. Weiters ermahnt euch meine Begleiterin, nicht länger an ihrem Aussehen herumzumäkeln, da sie gedenke, jedem, der noch weiter Zweifel an ihrer Fraulichkeit anmelde, die Beine zu brechen, was nicht als leere Drohung aufzufassen sei.« Danach gaben sich die Gardisten geschlagen. Eine Dienerin vorne, eine hinten, dazwischen Dajin an Or nibijians Arm, stiegen die vier die Treppen des Tur mes hinab, und passierten die zahlreichen Wachen, die zu diskret waren, um zu fragen, welche offenbar sehr hochstehende Dame die Gesellschaft Ornibijians
gesucht und gefunden hatte. Am Haupttor, wo die Dienerinnen entlassen wurden, brachte Dajin seinen Begleiter zum Lachen: »Schau nicht so grimmig, denn wir gehen nicht zu deiner Vermählung. Lächle, mein starker Held!«
8. Überall brannten Fackeln und gut behütete Feuer. Viele Menschen waren nach Tuzak gekommen, um an der auf zwei Wochen angesetzten Krönungsfeier teilzunehmen: Schaulustige, Gaukler, Akrobaten, Tierbändiger, Musikanten, Tänzerinnen und Tänzer, Rezitatoren, Schauspieler, Straßenhändler, Spieler, Diebe. Dazwischen Soldaten und immer wieder Sol daten, das Gefolge der kleinen und großen Gebieter des Reiches. Dajin und sein Begleiter, die nun nicht mehr unter gehakt gingen, kamen in dem Gewühl nur langsam voran, denn immer wieder gab es etwas, das der klei ne Mann aus dem Urwalddorf bestaunen mußte, und waren es auch nur die hohen Turmhäuser. Bisweilen zerrte Ornibijian ganz aufgeregt den künftigen König zu einer der Attraktionen. »Das mußt du dir ansehen!« sagte er dann etwa und zog Dajin vor eine Rezitatorin oder einen Gaukler. Dajin
war in diesen Augenblicken nichts weiter als sein gleichaltriger Begleiter, der das mit ihm teilen sollte, was Ornibijian bewegte. Einmal mischte sich Ramelusabs Sohn lautstark in das Spiel einer Theatergruppe ein, als ihm etwas nicht recht behagte. Die Schauspieler, zumal als sie merkten, daß der Zwischenrufer nicht unbewandert war in ihrer Kunst, griffen seine Bemerkungen ge nüßlich auf. Rasch entwickelte sich daraus zum Ver gnügen der Umstehenden ein von beiden Seiten be geistert geführtes Wortgefecht. Wobei die Regel galt, niemals den Boden der Geschichte des Schauspiels zu verlassen und dennoch zu versuchen, sich gegensei tig zu Fall zu bringen. »Wer bist du also?« fragte irgendwann die Riesin, eine blau und weiß geschminkte Frau auf Stelzen. »Wer bist du also, der du mir zwanzig Schiffe bringst? Mir, die ich – wie das geschätzte Publikum sich gern erinnern mag, so es unser Spiel von Anfang an sah und nicht wie andere mittendrin hereinplatzen – auf einem Berge lebe, umgeben nur von Wüstenei?« Drei Musikanten, mitnichten alles Frauen, schälten sich aus dem Publikum und begannen auf ihren Da blas zu trommeln. »Erkennt Ihr ihn nicht? Er ist der Sultan von Punin, ein Herr von großer Zauberkraft«, behaupteten sie, Ornibijian unterstützend. »Wir müs sen das wissen, denn wir sind seine fünf Töchter!«
»Fürwahr! Unglaublich! Die Familienähnlichkeit ist beängstigend! Wie Eier aus demselben Vogel!« bestä tigten einige Umstehende im Chor. »So viele Menschen!« staunte Dajin. »So viele Men schen!« Wider alle Vernunft hielt er Ausschau nach denen, die er aus Praiobab kannte, von denen sich aber keiner in Tuzak aufhielt. »Ornibijian, über wie viele Menschen werde ich ab morgen gebieten?« »Über erheblich mehr.« »Sag, Ornibijian, ist Sinoda ebenso groß wie Tuzak?« »Nein, kleiner. Wir haben auch keine Türme.« »So viele Menschen!« murmelte Dajin erneut. »Ich weiß nicht mehr, ob es gut oder schlecht war, den Pa last zu verlassen. Manchmal bereue ich es, manchmal wieder nicht. Zeige mir einen ruhigeren Ort, Ornibiji an. Ihre Last drückt mich zu Boden!« Nachdem sich Dajins Begleiter kundig gemacht hatte, schlugen die beiden den Weg zum Hafen ein und stiegen die Hunderte von Stufen, die in den Fels geschlagen worden waren, hinab zum Meer. Dort reihte sich Schiffsrumpf an Schiffsrumpf, Kriegsschif fe und Handelssegler. Auch hier brannten Feuer, um die Matrosen und Fischer saßen. Doch so voller Menschen wie oben in der Stadt war es hier nicht. Dajin sah hinaus auf das
nachtdunkle Meer, das überspannt wurde von einem klaren, sternreichen Himmel, und lauschte dem Plät schern des Wassers. Ein Fischer, vielleicht auch ehe maliger Seemann, ein recht alter Mann, der allein an einem Feuer saß, winkte Dajin und Ornibijian zu sich heran. Er lächelte freundlich mit einem Mund, in dem nur noch ein einziger Zahn steckte, und sagte etwas. Er schien immer dieselben beiden Wörter zu wieder holen, vorgetragen in einem Singsang, der von Ge sten unterstrichen wurde, deren Sinn sich nicht er schloß: »Usaaja, usaaja, usaaja, ajuwe, ajuwe ...« Dajin und Ornibijian sahen sich ratlos an: »Was sagt er?« »Es klingt wie U'schaja«, meinte Dajin. »Das sagt mir nichts«, bekannte Ornibijian. »Ein Wort aus der Sprache meines Dorfes: U'schaja. Je nachdem, wie man es verwendet, bedeutet es grö ßere Schönheit oder Hoffnung.« »Ach so! Uuz'schönsteres!« rief Ornibijian in der Mundart Sinodas aus. »Darüber müßt ihr euch nicht den Kopf zerbre chen«, ertönte eine Frauenstimme. Ihre Besitzerin trat ins Licht des Feuerscheins. Sie war gut zwanzig Jahre älter als Ornibijian und Dajin, zweifellos eine Fische rin, möglicherweise eine Verwandte des Alten. »Preise die Schönheit, Bruderschwester!« grüßte Dajin die Hinzugetretene.
»Meine Güte!« rief sie aus. »Woher kommt ihr denn? Aus dem hintersten Amdeggyn? Nimm's nicht krumm, Bruder, aber du sprichst einen schauderli chen Dialekt.« »Ja, aus dem Amdeggyn«, log Ornibijian. »Er ist mein Vetter.« »Hübsches Kleid trägt dein Vetter«, sagte die Fi scherin. »Da solltest du erst einmal seine Frau sehen«, be lehrte sie Ornibijian. »Woher kommt er?« fragte Dajin und deutete auf den Alten, der seinen Singsang unterbrochen hatte und die drei Stehenden beobachtete. »Von hier. Er ist mein Onkel.« »Aber warum ...?« »Er war lange krank«, erklärte die Frau. »Davor sprach er wie wir. Aber jetzt kann er das nicht mehr. Er weiß nicht mehr, was die Wörter bedeuten. Euch versteht er genauso wenig wie ihr ihn. Als wäre er stumm und taub. Doch so ist das nicht.« Der Onkel der Frau lächelte und bedeutete den beiden Fremden, sich zu ihm zu setzen, indem er mit der Handfläche auf den Boden schlug. Die Fischerin ging vor ihrem Onkel in die Hocke und sah ihm ins Gesicht. »Das sind Alrech und sein Vetter aus dem Amdeggyn«, behauptete sie. »Dort, wo die vielen Berge sind.« Sie unterstrich ihre Erklä
rung mit Gesten, die spitz zulaufende Gebilde dar stellten. »Amdeggyn!« wiederholte sie, nahm die Hand ihres Onkels und führte sie zu Dajins Kleid. »Die Männer laufen dort alle in Frauenkleidern her um.« Sie klopfte mehrmals auf ihre Brust. »Ihre Frau en sind deswegen sehr neidisch.« Der Alte riß Augen und Mund auf, als habe er plötzlich verstanden und antwortete: »Ajuwe, ajuwe, usaaja!« »Setzt euch doch!« forderte die Fischerin Ornibijian und Dajin auf. »Unterhaltet euch ein wenig mit mei nem Onkel. Er mag das.« »Er versteht uns doch sowieso nicht«, wandte Or nibijian ein, setzte sich aber dennoch. »Das ist gleichgültig«, meinte die Fischerin. »Was sollen wir denn sonst tun? Er ist ein Mensch, er lebt, er ist da. Wir wohnen im selben Haus. Irgend etwas wird er schon machen aus dem, was ihr sagt. Ihr müßt euch eben ein bißchen anstrengen. Dann geht es. Dann versteht er schon. Ihr müßt wollen, daß er euch versteht. Er bemüht sich doch! Wie sehr er sich bemüht, obwohl für ihn alles so viel schwerer ist!« »Usaaja, usaaja!« bestätigte ihr Onkel lachend und setzte an, mit seinen beiden Wörtern eine unver ständliche Geschichte zu erzählen. Dajin unterbrach ihn, indem er seine Hand auf die Schulter des Onkels legte. Mit übertrieben verstärkter Mimik und Gestik, doch ansonsten in der schnellen
Redeweise seines Heimatdorfes, der die Nichte des Alten nicht folgen konnte, sagte Dajin: »Laß uns ganz von vorne beginnen, Onkelchen: Ich bin Dajin Der fromold.« »Usaaja!« entgegnete der Alte freudig. Seine Nichte lächelte stolz. Später, als die beiden Männer zum Palast zurück schlichen, sprach Dajin zu Ornibijian: »Sie hatte recht. Manchmal dachte ich, daß er genau wußte, was ich sagte. Und ich glaube, daß ich manches von dem rich tig verstand, was er zu uns sagte. Es stimmt, was sei ne Nichte sagte: Ihr müßt verstehen wollen.« »Aber leicht war das nicht«, pflichtete Ornibijian bei. »Nein, das ist nicht leicht«, stimmte Dajin zu. »Doch eine andere Wahl gibt es nicht.«
9. Der Tag der Krönung begann für Dajin schon zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Er wurde gebadet und mit wohlriechenden Essenzen eingerieben, danach wurden seine Haare gerichtet, was eine sehr aufwen dige Verrichtung war. Diener brachten vier Schatullen, drei davon enthielten dünne, kurze Röhrchen aus Sil ber, Gold und Endurium, die vierte durchbohrte Per
len. Dajins Haar wurde in Strähnen zerteilt, auf die so dann abwechselnd die Metallröhrchen aufgezogen wurden. Den Abschluß bildeten jeweils zwei Perlen, die die Röhrchen am Herabrutschen hindern sollten. »Es gibt einfachere Methoden, das Haupthaar los zuwerden als es mit Gewichten herauszureißen«, nörgelte Dajin. »Seid unbesorgt!« beschwichtigte ihn einer der drei Friseure. »Keiner vor Euch hat bisher Schaden daran genommen.« Das schien zu stimmen. Denn als die Prozedur end lich vorüber war, war das Gesamtgewicht des Kopf schmucks erträglich. Ein gelegentliches Ziepen war die einzige Beschwerde. Von Dajins Haaren war nun bei nahe nichts mehr zu sehen. Aus seinem Kopf wuchsen vielgliedrige, schwarz, silbern und goldgeringelte Schlangen, die bei der Bewegung leise klirrten – die Krone des Herrschers von Maraskan. Das gegürtete Krönungsgewand, war dagegen sehr schlicht: ein dünner, weiß-gelb gestreifter Kaftan. Da jin betrachtete ihn naserümpfend. »Macht Euch keine Sorgen, Hoheit«, meinte einer der Ankleider, während er Dajin spiegelglänzende Spiral armbänder über die Unterarme schob. »Wenn Ihr den Krönungsmantel einige Zeit getragen habt, werdet Ihr Euch noch wünschen, nackt darunter zu sein!« Der Krönungsmantel war tatsächlich eine Geschich
te für sich. Er konnte erst auf dem Palasthof angelegt werden. Dajin mußte dazu ein kistenartiges Podest von anderthalb Schritt Höhe ersteigen, auf dem ein Sessel angeschraubt war. Die Kiste hatte auf den Seiten Klap pen, damit ihre Träger später darunterschlüpfen konn ten, sechzehn kräftige Männer, allesamt fast gänzlich nackt, fröstelnd am frühen Tag. Sobald der künftige König Platz genommen hatte, wurde der Krönungs mantel gebracht, den man getrost auch als Zelt be zeichnen konnte. Inwendig bestand er aus festem Stoff und Leder, außenseitig war er in Violett und Gelb gehalten, über und über besetzt mit Lilien- und Lotos blüten aus edlem Metall und mit Perlen. Er war so schwer, daß er selbst für seinen sitzenden Träger eine viel zu große Last bedeutet hätte, weshalb ein Gestell, das um den Sitzenden auf dem Podest angebracht wurde, sein Gewicht abfing. Noch vor der zehnten Stunde begann der Marsch zur Krönungsstätte. An der Spitze des Zuges schritten die Bannerträger. Gleich dahinter wurde der zu Krönende getragen, zu dessen Seiten streng blickende Gardisten und Gardistinnen schritten, gefolgt von den Trägern der Mantelschleppe. Dahinter ritten die Behüter von Reichsdiskus und Reichsschwert. In dem Behüter des Schwertes konnte der Wissende mit etwas Vorstel lungskraft einen Ritter aus der Zeit Kaiser Gerbalds er ahnen. Um in dem Behüter des Reichsdiskus den An
gehörigen eines nomadisierenden Bergvolkes zu er kennen, bedurfte es schon mehr Phantasie, denn seine prunkvolle Kleidung verriet nichts mehr von der un bezähmbaren Wildheit derer, an die ihr Träger erin nern sollte. Den Abschluß bildeten Trommler in Trach ten des Nordens und Bläser, die auf ihren Instrumen ten eintönige, winselnde Melodien spielten. Die Krönungsstätte war der zentrale Platz Tuzaks, dem sich der Zug in einem weiten Bogen durch die Stadt näherte. Der Weg dorthin war bestreut mit dem Sand aller Küsten des Eilands und mit Tausenden von Blüten. Wo immer die Straßen breit genug wa ren, drängten sich die Einwohner Tuzaks an ihrem Rand und jubelten: »Preiset die Schönheit! Hoch! Hoch! Hoch!« Sie warteten, bis der Zug an ihnen vor bei war, und schlossen sich an seinem Ende an. Dajin hatte ein regloses, hoheitsvolles Gesicht auf gesetzt und benahm sich so, als bemerke er von alle dem nichts. Geduldig ertrug er die Schweißperlen, die kribbelnd sein Gesicht herunterrannen – wie recht hatte der Ankleider gehabt! Die bedauernswerten Träger! – standhaft unterdrückte er ein Grinsen, als er einiger Kinder gewahr wurde, die am Boden hockten, die Köpfe weit nach unten gebogen, und begeistert auf das Gedränge der zweiunddreißig Füße der Trä ger starrten, die unter dem Podest hervorsahen. Ganz kurz vermeinte Dajin in der Menge zwei be
kannte Gesichter zu entdecken, das der Fischerin und ihres Onkels, dem das Schicksal die Sprache gestoh len hatte. Vielleicht waren es die beiden, vielleicht auch nicht. Für einen zweiten Blick, der hätte Klarheit bringen können, gab es keine Gelegenheit. »Usaaja«, murmelte Dajin lautlos. »U'schaja.« Zur Hälfte war der Platz, auf dem die Krönung statt finden sollte, von den Würdenträgern besetzt: den Noblen des Reiches – manche stehend, manche hatten sich Sitzgelegenheiten bereitstellen lassen. Neben ih nen Abordnungen der Kriegerschaft, der Magier und Gelehrten. Ganz außen warteten in Paaren die Vertre ter der Gewerbe: der Schmiede, der Schreiner, der Gewürzmahler bis hin zu den Fischern. Die Priesterschaft der Zwillinge hatte nur vier ihrer Mitglieder abgesandt, doch nicht als Repräsentanten ihres Standes, sondern ausschließlich, um im Auftra ge des Tempels das Geschehen zu protokollieren. Das Volk, zurückgehalten von Gardisten und Bütteln, drängte sich am Rande des Platzes. Die Trage wurde in der leeren Hälfte des Platzes abgesetzt. Ihre verschwitzten Träger krabbelten ge schwind darunter hervor und zogen sich an den Rand der Versammlung zurück. Der Königsmantel wurde ausgebreitet, so daß er einen Dreiviertelkreis von fast zehn Schritt Durchmesser belegte. Nacheinander, an
geführt von einer faltigen Edlen aus Jergangrund, tra ten die Ältesten der verschiedenen Stände vor, um dem Herrscher Maraskans zu huldigen. Als auch der letzte von ihnen gesprochen hatte, wurde mehrmals ein Gong geschlagen, zum Zeichen, daß die Insignien des Reiches gebracht werden sollten, das schwarze Schwert aus Endurium und der Diskus aus Rötelholz. Nachdem Dajin beides entgegengenommen hatte, war wiederum die Älteste der Adligen an der Reihe. Sie verneigte sich und forderte den neuen Herrscher auf: »Sprich, Dajin, siebter dieses Namens, König von Maraskan! Dein Volk erwartet dein Wort!« Sogleich eilten Pagen herbei. Sie öffneten die Schlie ßen des Königsmantels und nahmen die Reichsinsi gnien in Verwahrung. Dajin trat aus dem Mantel her aus, der wegen des Gestells aussah, als kleidete er nach wie vor einen nun unsichtbaren Träger. Der neue König hob die Arme und rief laut: »Hört, meine Vasallen, horche, mein Volk, lauscht, Söhne und Töchter! Zu euch spricht Dajin Derfromold, Haran der Harans!« Unter den Adligen des Königreiches befand sich auch der Haran von Sinoda mit seinem Gefolge. Neben seiner Tragbahre saßen Keïderan, Denderan und die Dschunkara. Vom Stand her kam ihnen dieser Platz zwar nicht zu, doch der Haran wollte die drei damit
unter seinen Vasallen auszeichnen. Nach wenigen Sätzen Dajins sah der Haran seine Edlen erschrocken an: »Ist er nicht richtig unterwiesen worden?« Ein Blick in die bestürzten Gesichter des Trios be lehrte ihn, daß sie genauso überrascht waren wie er selbst. »Es muß an der Aufregung liegen!« flüsterte Den deran. »Er weiß nicht, was er tut! Bei der Schönheit der Welt, will denn keiner von diesen unnützen Hof schranzen endlich einschreiten?« Als hätten sie seine Aufforderung vernommen, hat ten sich nun tatsächlich zwei aus dem Stab des Zere monienmeisters dem Podium genähert und versuch ten mit Handzeichen, die Aufmerksamkeit des Red ners auf sich zu lenken. Aber der unterbrach seinen Redefluß nicht, sondern verscheuchte sie mit einer herrischen Geste. Ungerührt sprach er weiter in der Sprache des Volkes. Der Haran Sinodas lehnte sich auf seiner Trage zu rück und seufzte: »Spätestens wenn er die Rede wie derholen muß, wird er wohl bemerken, daß er sie beim ersten Mal in einer falschen Sprache hielt! Doch Rurs Diener mögen uns Gnade erweisen, wenn das kein Versehen ist!« Er sah Denderan zornig an: »Bring sofort Ramelusab zu mir! Sie muß mir übersetzen, was er sagt! Ich will es wissen!« »Ich weiß nicht, wo sie ist!« entgegnete der Dschun
kar unsicher. »Sie wird irgendwo bei den Gemeinen stehen!« »Dann suche sie gefälligst!« fuhr der Haran seinen Vasallen an. Der Dschunkar wurde kalkweiß und be gab sich wie ein getretenes Hündchen auf die Suche nach der einstigen Hauptmännin. »Er müßte schon arges Glück haben, um sie in dem Gedränge aufzustöbern und rechtzeitig mit ihr zu rück zu sein!« bemerkte Keïderan. »Das ist mir bewußt!« erwiderte der Haran gereizt. Er schloß die Augen und dachte an die spöttische Depesche der Tetrarchin von Boran, die ihn am ge strigen Abend erreicht hatte: »Mein Bruder, ich gratu liere zu Deiner Thronbesteigung, und hoffe doch, daß Du Deinen Schatten gut erzogst?« »Laßt es ein Versehen sein!« murmelte der Haran. »Laßt es ein Versehen sein!« Der Haran Sinodas war nicht der einzige Edle des maraskanischen Reiches, der einen Untergebenen los schickte. Viele, die irgend jemanden in der Nähe hat ten, dem sie befehlen konnten, taten es ihm gleich. An dere wiederum ließen den unverständlichen Wort schwall in der Sprache der Gemeinen über sich erge hen, warteten auf die Wiederholung in Garethi oder Tulamidya, fragten sich, welche der beiden Sprachen der König nach seinem offenkundigen Versehen wäh
len würde, seufzten schwer, weil sie die Thronrede nun wohl dreimal ertragen müßten. Andere grinsten schadenfroh – denn bei der Herkunft des Dajinsohns war ja nichts anderes zu erwarten gewesen! – oder beobachteten das Ganze belustigt. Schon nach der Hälfte der veranschlagten Zeit ver stummte der Dajin. Wieder näherten sich aufgeregte Beamte des Hof apparats. Ein kurzer Wortwechsel war zu beobach ten, der Herrscher schlüpfte in seinen Krönungsman tel, die Träger eilten herbei und der Zug des Königs begab sich auf den Rückweg zum Palast. Der neue König ließ den Adel seines Reiches, zu dem er nicht ein Wort in den Sprachen der Herrschenden gespro chen hatte, verstört zurück.
10. Im Palast wurden Dajin neue Gewänder angelegt. Das öffentliche Vorzeigen des Herrschers und der Symbole des Reiches war nur die eine Hälfte der In thronisation gewesen, die andere bestand darin, im Thronsaal in Gegenwart seiner Vasallen den Lilien thron zu besteigen. Während des Umkleidens er schien Ornibijian. Er schaute grimmig aus und wirkte angespannt, schwieg aber.
»Hast du mir etwas zu sagen?« sprach ihn Dajin an. »Wer bin ich, die Entscheidungen des Haran-gaHaran zu bemängeln?« entgegnete Ornibijian aus weichend. »Doch ich erbitte eine Gunst: Laßt mich an Eurer Seite bleiben, wenn Ihr gleich den Herrinnen und Herren des Reiches gegenübertreten werdet.« Dajin nickte: »Wie du willst. Schickt dich deine Mutter? Meint sie, ihr Sohn könne ein Versagen wie dergutmachen, das Jahrzehnte zurückliegt und für das sie nicht verantwortlich war?« Ornibijian antwortete nichts darauf. Der Lilienthron stand am hinteren Ende des Thron saals. Seine Rückwand hatte die Form einer voll ent falteten Blüte, die Seitenwände die von spitz zulau fenden Blättern, die sich über den Thron neigten und an ihren Spitzen berührten. Vier Stufen führten zum Thronsessel hinauf, jede einzelne gestützt von kleinen Säulen, die mit Lilienblüten aus Elfenbein, Alabaster und Perlmutt verziert waren. An den Wänden des Thronsaals waren tribünenartig ansteigende Bänke aufgestellt worden. Da der Saal rund war, erinnerte die Anordnung an eine Arena. Bei weitem nicht alle Adligen Maraskans hatten sich versammelt. Doch das war nicht unüblich, denn für viele hätte der Weg nach Tuzak eine arge Be schwernis bedeutet. Selbst die Großen des Reiches
waren nur zum Teil vertreten. Unter anderem fehlte die Tetrarchin von Boran, ebenso der Cherzak von Jergan. Bei letzterem wunderte das niemand, denn bisher hatte sich nur zweimal ein Fürst von Jergan zur Königskrönung nach Tuzak bequemt, und über den gegenwärtigen Cherzak munkelte man ohnehin, daß er allenfalls an der Spitze eines Heeres zu einer Krönungsfeier käme. Die versammelten Edlen bildeten keine gleichför mige Masse. Wer zu wem gehörte, war leicht auszu machen. Die Großen des Reiches thronten, umringt von ihren Vasallen, den Baruunen und Dschunkarim in absteigender Rangfolge. Eine eigene Insel in dem Meer der Köpfe bildeten die Wezyradim, die Minister und Feldherren des Reiches mit ihrem Gefolge, die ihrerseits in verschiedene Gruppen zerfielen. Die auf fälligste davon waren die Kriegs-Wezyradim, Männer und Frauen in Rüstungen aus Holz und Metall, man che hatten sogar ihren Helm aufbehalten. Dazwi schen saßen, wie Puffer, diejenigen, denen kein Haran oder Wezyrad zu befehlen hatte, zu zweit, dritt oder viert, und in losen Gruppen jene, die auf gleich rangiger Ebene ihre eigenen Bündnisse pflegten. Die Stimmung war frostig. Dajin hatte erst wenige Schritte zum Thron zu rückgelegt, als der Baruun von Zerbehuab aufsprang. »Halt!« rief er. »Ich fordere, daß diesem Mann nicht
gestattet sein soll, sich auf den Thron des Reiches zu setzen!« »Was hast du gegen ihn vorzubringen, sprich!« antwortete eine Frauenstimme. Sie gehörte Balatravis, die in ihrer Eigenschaft als Baruuna von Tuzak in der Versammlung weilte. »Wer spricht?« erkundigte sich der Baruun von Zerbehuab freundlich. »Die trauernde Witwe des ver storbenen Königs? Die Baruuna von Tuzak? Oder die liebende Gemahlin dieses Mannes? Ich meine, man kann das eine nicht vom anderen trennen, deshalb er laubt mir, Euch die Antwort schuldig zu bleiben, ver stehe ich doch gut, daß ihr nichts Schlechtes über Eu ren frischvermählten Liebsten hören mögt. Doch dir gebe ich statt dessen die Antwort, Mujiajian von Si noda!« Er zeigte auf den Haran. »Die Hitze des Tags und ungewohnte Kost schei nen dich verwirrt zu haben, Baruun. Ich weiß nicht, was du von mir willst!« wies ihn der Haran ab. »Was ich will? Offenbar hieltest du vorhin ein Nik kerchen auf deiner Liege, Mujiajian, statt zu wachen, sonst wüßtest du's. Dieser Mann hat uns beleidigt! Er sprach zum Pöbel! Er sprach zu uns, als seien auch wir nur Pöbel! Das ist unsäglich! Er soll zu denen gehen, zu denen er gehört! Sorge dafür, Mujiajian von Sinoda! Er ist dein Schoßhund! Du hast ihn uns beschert.« Der Haran verzog das Gesicht: »Du kannst von
Glück sagen, Baruun, daß keiner aus diesem Pöbel hier weilt! Jeder meiner Perlfischer wäre entsetzt über so viel Unwissen! Nicht ich bescherte ihn uns, sondern die Lenden seines Vaters und der Schoß seiner Mutter. Derlei ist gar nicht so ungewöhnlich, Baruun! Glaube es mir! Ich bin vielfacher Vater. Ich kenne mich aus.« Gelächter ertönte aus dem Umfeld des Harans, Un mutsäußerungen aus dem des Baruuns. Der Baruun von Zerbehuab verneigte sich höflich: »Wie ich sehe, nützt du das faule Liegen gut, Mujiajian, um deinen Wortwitz zu üben. Wie du willst! Reden wir über den Vater und die Mutter deines Mannes!« »Was gibt es dazu zu sagen, Aldifriedijian?« ent gegnete der Haran ärgerlich. »Er ist der Sohn des Reichsgründers und seiner Frau Ishajid. Die Priester schaft hat das bestätigt.« »Die Priesterschaft ...!« antwortete der Baruun ge dehnt. Augenblicklich war im ganzen Saal empörtes Murren zu hören, selbst in der Nachbarschaft des Ba ruuns von Zerbehuab. »Ihr versteht mich falsch!« beeilte er sich zu sagen. »Kein schlechtes Wort über unsere Priester und Prie sterinnen soll über meine Lippen kommen! Aber ist es nicht so, daß gerade weil wir sie so sehr achten, auf je den, der sich in ihrer Gesellschaft bewegt, ein Teil der Achtung abfärbt, ganz ohne eigenes Verdienst? War um wohl hat sich unser Bruder in Sinoda so beeilt, die
Herkunft seines Zöglings im Tempel bestätigen zu lassen?« »Damit du's glauben sollst und nicht weiter unnö tige Phrasen drischst!« rief Denderan dazwischen. »Wer kläfft?« erwiderte der Baruun. »Sind deinem Herrn die Worte ausgegangen, Dschunkar? Merkt auf, Bruderschwestern, was der Dschunkar uns eben sagte: Damit ihr's glauben sollt! O nein, unterbrich mich nicht, Dschunkar! Auch ich habe bezeugen ge hört, daß dieser angebliche Dajinssproß eine überaus große Ähnlichkeit mit unserem ersten König haben soll! Ich frage mich aber, ob er diese Ähnlichkeit schon immer besaß? Mit anderen Worten, wurden unsere Priester getäuscht und ist das Gesicht, das er trägt, auch das, mit dem er aus dem Schoß seiner Mutter schlüpfte? Das läßt sich ganz einfach klären. Magistra, nehmt mir meine Zweifel!« Der Baruun deutete auf eine Frau in seiner Nähe. Sie erhob sich. Jeder konnte sehen, daß sie eine Zau berin der Tuzaker Verwandlungsakademie war. Ein Tumult sondergleichen brach aus.
11. Dajin hatte bisher nur abwartend dagestanden und sich von Ornibijian alles übersetzen lassen. Der Schwarz
blonde war plötzlich so aufgeregt wie alle anderen: »Das dürft Ihr nicht zulassen! Auch wenn er nicht beweisen kann, daß man Euch mit Magie ein falsches Gesicht verpaßt hat, so wird Euer Ansehen ungeheu ren Schaden leiden, wenn Ihr Euch fügt! Nehmt mein Schwert und weist ihn für seine Anmaßung zurecht!« »Ich kann damit nicht umgehen«, bekannte Dajin. »Selbst mit dem Schnitter kämpfte ich noch nie gegen einen Menschen. Reicht es nicht aus, wenn ich ihn mit einem Stock kräftig verprügle?« »Nur das nicht!« stieß Ornibijian aus. »Das wäre erniedrigend und schaffte Euch wenige Freunde, so fern es Euch überhaupt gelänge, Euch mit dem Stab gegen sein Schwert zu behaupten!« Ornibijian dachte angestrengt nach, während sich die Adligen Maraskans anbrüllten und gegenseitig bedrohten. »Rasch!« sagte er. »Küßt mich und schlagt mich.« Dajin sah ihn verständnislos an. »Tut es einfach!« verlangte Ornibijian. »Ein Kuß und eine Ohrfeige, das reicht! Doch schlagt nicht zu fest zu!« Dajin tat wie geheißen. Er küßte Ornibijian auf den Mund und gab ihm einen Klaps auf die Wange. Ra melusabs Sohn senkte kurz das Haupt und setzte ein boshaftes Lächeln auf. Mit seiner geübten Stimme donnerte er: »Hört, ich spreche, hört!«
Er wiederholte seinen Ruf einige Mal, bis ihn auch die Entferntesten wahrnahmen. »Ich erkläre mich«, begann er zu sprechen. »Mein Name ist Ornibijian, ich bin Sohn meiner Mutter Ra melusab, die Hauptmännin des Harans von Sinoda war, und Sohn Ingvalions, eines tapferen Ritters aus Weiden. Die, die um mich stehen, können bezeugen, daß mich mein Gebieter nach uraltem Brauch unserer Ahnen zu seinem Buskur erhob, was soeben geschah. Da ich sein jüngster Buskur bin, folge ich meiner Pflicht! Baruun von Zerbehuab, du beleidigst den Haran-ga-Haran unter seinem eigenen Dach! Baruun, ziehe dein Schwert und rechtfertige dich dafür!« Wieder brach ein Durcheinander aus. Dieses Mal war die Ursache kein Streit, sondern die weiter Ent fernten versuchten zu erfahren, was jetzt wieder ge schehen sei. Manche erkundigten sich gar bei denen, die sie noch vor wenigen Augenblicken angebrüllt und bedroht hatten. »Das ist doch albern!« rief der Baruun aus. »Was glaubst du wohl, wo wir sind? Was für zwei Narren! Der eine will König sein und ist doch nur einer mei ner Bauern! Der andere ist ein Waffenknecht aus dem Gefolge des Harans von Sinoda, der zu lange auf dem Basar bei den Märchenerzählern herumlungerte oder sich bei den Komödianten zu viele Honinger Geschich ten ansah! Das hat ihm wohl den Kopf verdreht, nun
glaubt er, er sei selbst eine Märchenfigur! Ein Buskur! Wie albern! Bube, falls dir das noch nicht auffiel: Wir leben seit Jahrhunderten nicht mehr in Zelten! Wir haben keine Leibkrieger des Stammesführers mehr! Geh nach Hause, Bursche! Betrink dich oder iß eine Rauschgurke. Nur träume nicht hier bei uns!« »Albern!« erscholl eine Stimme. »Albern! Albern! Albern!« Sie gehörte einer wohl über siebzigjährigen Frau, die sich von der Bank der Kriegs-Wezyradim erhoben hatte. Wangen und Mund waren eingefallen, ihre Na se ragte wie ein scharfer Schnabel aus dem vertrock neten Gesicht. Die Augen unter den dünnen Linien ihrer Brauen waren immer noch scharf. »Albern!« wiederholte sie ein weiteres Mal. »Man gebraucht das Wort in geselliger Runde, beim Trunk oder beim fröhlichen Scherzen.« Ihr Kopf schoß her um zu ihrem Nachbarn: »Scherztest du?« »Nein, Wezyrada!« brüllte der Angesprochene. »Oder scherztest du?« ruckartig deutete die Schna belnase auf ihren anderen Nachbarn. »Ich ebenfalls nicht!« antwortete der trocken. »Wie seltsam!« sagte die Frau in gespielter Ver wunderung. »Auch ich vernahm keinen Scherz!« Sie blickte auf den Baruun von Zerbehuab: »Ba ruun, ich sehe hier nichts Albernes!« Ihr Blick wanderte zu Dajin und Ornibijian, der eif
rig flüsterte: »Zwei Narren! Zwei Narren, nanntest du sie. Vielleicht hast du recht, und diese beiden Jungen sind Narren. Doch, Baruun, der eine Narr gibt mir zu denken. Du mußt wissen, daß meine Leute sofort ge horchen, wenn ich etwas befehle, deshalb habe ich auch den größten Teil dessen verstanden, was dieser Haran-ga-Haran, wie er sich nennen läßt, zu sagen hatte. Ich wiederhole es für dich, Baruun: Ich bin euer Herr, ich spreche zu meinen Untertanen. Ihr seid nicht mein Volk, denn ihr seid kein Volk. Ihr seid stumm und sprachlos! Die, denen ich gebiete und die mir treu sind, sind euch fremd. Sie sind wie Herren aus einem falschen Land. Mein stummes Volk, meine tauben Getreuen! Ich bin der Haran der Harans! Ver stopft eure Ohren, vernäht eure Münder, öffnet die Augen!« Sie warf Ornibijian einen scharfen Blick zu: »Ich ra te dir, deinem närrischen Herrn alles richtig zu über setzen!« Sie wandte sich wieder an den Baruun: »Der Narr beunruhigt mich! Er hat recht: Im Norden spricht man die Sprache derer, die uns jahrhundertelang un terdrückten und uns unser Heiligstes nehmen woll ten. Wir hier im Süden sprechen die Sprache derer, die unsere schöne Heimat als verfluchtes Land be schimpfen. Stumm, taub, fremd! Hat er recht? Sind wir nur Affen auf einem Jahrmarkt, die Kunststück
chen vorführen, die uns Fremde beibrachten? Ich ge be dir Recht: Der Narr beleidigte uns. Doch trotz meiner Jahre verstehe ich, seitdem er sprach zum er sten Mal, was der große Zendajian ebenfalls aus drückte, als er lehrte: Ich muß meinen Garten nicht verlassen, um die Welt zu verstehen! Was nun, Ba ruun, wenn der Garten gar nicht der eigene ist? Wenn der Narr recht hat und wir Fremde darin sind? Wie steht es dann mit unserem Verständnis der Welt? Ich sage, dann bleibt nur eines: Verwüstet den Garten! Reißt die Pflanzen aus seinem Boden heraus! Zertre tet sie! Zertrampelt sie! Verbrennt sie zu Asche! Hin weg damit! Duldet die falsche Pracht nicht länger! Weg! Weg! Weg!« »Das viele Lesen verkleistert dir den Verstand und macht dich eigen, Wezyrada«, entgegnete der Ba ruun. »Du wirst kindisch!« »War das ein Scherz?« fragte die Alte ruhig. »Wenn ja, so war er sehr fußlahm, Aldifriedijian. Nun laß mich mit dir scherzen, Baruun: Ich verbiete dir nicht, die alten Sitten unserer Vorfahren als albern anzuse hen. Aber ich rate dir: Wenn du die Forderung dieses Jungen ablehnst, so überlege dir gleich, wie du der meinigen, die du anschließend erhalten wirst, begeg nen willst!« Sie setzte sich wieder. Rein körperlich hätte der so viel jüngere Baruun bei
einem Zweikampf mit der Wezyrada wahrscheinlich nichts zu befürchten gehabt, doch ihm war bewußt, daß er gegen mehr antreten müßte als nur gegen eine alte Frau, nämlich gegen den unbeugsamen Willen in dem alten Körper, gegen die Aura des Gewaltigen, die sie umgab. Niemand besiegt Legenden. Wer sie zerstört, wird vergessen. Die Legenden leben weiter. Ein Teil des Thronsaales wurde geräumt. Für den Ba ruun von Zerbehuab bedeutete das Duell nur eine lä stige Pflicht, die ihm von der Wezyrada aufgezwun gen worden war. Der Kampf gegen den Gemeinen barg keinen Ruhm. Er bedeutete weniger als das Er schlagen eines Hundes, den das Alter böse und bissig gemacht hatte. Dajin sah keinen Weg, den Kampf zu verhindern. Er hoffte inbrünstig, daß Ornibijian nicht wieder zu einer List gegriffen hatte wie vor Wochen in den Wäldern um Praiobab, daß er nicht wiederum ein Schauspiel mit sich selbst in der Hauptrolle aufführte. Doch als er die schwarze Flamme zum zweiten Mal lodern sah und die schwarz-gelb gestreifte Bestie mit dem Eisenstachel auf ihr Opfer zurannte, wußte Da jin, daß dieses Mal keine Posse inszeniert worden war. Der Baruun von Zerbehuab wurde vom peitschen den Regen der Hiebe seines Gegners völlig über
rascht. Nur mit Glück überlebte er den ersten furcht baren Schauer. Wie hätte er auch vorher wissen kön nen, daß das verächtliche, unbedeutende Kind des Pöbels im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal von seiner Mutter eine Waffe in die Hand gedrückt be kommen hatte? Von Ramelusab, die erlebt hatte, wie binnen einer Stunde jeder starb, der ihr vertraut war, die damals immer noch den Tod des Vaters ihres Sohnes betrauerte, des Diebs, des Ritters aus dem un bekannten Land, das nicht Weiden hieß. Des Gelieb ten, der sich geweigert hatte, ein Schwert zu führen und – wie sie glaubte – deshalb gestorben war. »Ge winne!« hatte die Mutter ihrem Kind befohlen. »Ge winne!« Ornibijians Geist hingegen wanderte viel tiefer im Reich der Legenden und Überlieferungen, als Dajin lieb gewesen wäre, hätte er davon gewußt. Dieses Mal spielte er nicht den düsteren Kämpen des Königs von Honingen, sondern er war es durch und durch. Er war der mutige Krieger, der aus den Bergen hinab stieg, um gegen die Kreaturen des allgewaltigen, goldgeschuppten Feindes zu kämpfen. Er war der Buskur Rurechs, dem der Führer des Stammes befoh len hatte: »Reite voran und finde das Land, das uns Rurs Diener versprechen. Finde das Land der haari gen Frau mit dem rotgelben Mantel! Sei meine nie mals zitternde Hand!«
Ein neuerlicher Angriff brachte den Baruun von Zerbehuab zum Straucheln, und die Waffe entglitt ihm. Das wilde Tier über ihm hob seinen Stachel zum letzten Streich. »Halt ein!« rief Dajin. »Am ersten Tag meiner Herr schaft tritt keiner vor Boron und Tsa, wenn es nach mir geht.« Er sah um sich herum. »Jeder, der mich versteht, verbreite mein Wort!« forderte er die Versammlung auf und trat zwischen die Kämpfer. »Ich bin Dajin Derfromold!« sagte er zu dem liegenden Baruun und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin der Haran der Harans. Ich bin dein Vater, der dich liebt und sich um dich sorgt. Besäße ich die Vollkommenheit Rurs, so wäre ich auch deine Mutter.« Mit einer Kraft, die keiner in dem kleinen Mann erwartet hätte, zog er den Baruun auf die Bei ne: »Ich bin dein Haran, der dich küßt, doch im Au genblick erzürnst du mich!« Mit einem gewaltigen Faustschlag schickte Dajin den Baruun wieder zu Boden. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, schritt er zum Thron, stieg die Stu fen hinauf und setzte sich auf den Sessel. Er um schloß mit den Händen die Lehnen und sagte: »Laßt uns beginnen!« Zwei Herzschläge lang war völlige Ruhe. Dann be gann die Kriegs-Wezyrada gleichmäßig mit der Faust
auf ihren Harnisch zu klopfen und mit einem Fuß aufzustampfen. Sie rief: »Ha-ran! Ha-ran! Ha-ran!« Zuerst schlossen sich die Krieger um sie herum dem vorgegebenen Takt an, gleich darauf die, die schon vor Wochen ihre Hoffnung in dem neuen Herrscher gesehen hatten. Auch Balatravis, Baruuna von Tuzak, Königin an der Seite Dajins, stimmte mit ein. Tuzaks achttürmiger Palast bebte unter dem Trommeln und Rufen.
12. Später lud Dajin Ornibijian zu einem Gespräch unter vier Augen. Kaum hatte der Gleichaltrige seinen Raum betreten, stieß ihn Dajin gegen eine Wand. »Tu das nie wieder, Ornibijian!« schnauzte er ihn an. »Künftig sagst du mir vorher, was du planst!« »Verzeih mir!« entgegnete Ornibijian. »Doch ich sah dafür keine Zeit. Zu vieles hätte ich dir sagen müssen, Dajin! Ich hätte dir erklären müssen, daß der Haran Sinodas, der einst meiner Mutter Zuflucht ge währte, durch deinen Kuß und deinen Schlag einen Untertanen verlor. Ich bin nun kein Gemeiner mehr, aber auch kein Herr. Ich bin dein Ritter, Dajin, dein Buskur, Haran-ga-Haran! Ich erfülle, was du mir be fiehlst, und wenn du dich von mir getäuscht fühlst,
so gebiete mir, aus deinen Augen zu verschwinden! Ich gehorche! Führe mich! Ich bin deine Hand!« Dajin schüttelte den Kopf: »Nein, Ornibijian, das bist du nicht! Die Diener Rurs gaben mir bereits zwei Hände. Doch ich will nicht mit dir streiten. Du wirst nicht aus meinem Blickfeld verschwinden, Buskur, denn du mußt mich lehren, selbst das Schwert zu führen!« Etwa zur gleichen Zeit traf sich der Haran Sinodas zu einer Unterhaltung unter der doppelten Anzahl von Augen. Denderan frohlockte. Sein Gesicht glühte vor Begeisterung: »Was für ein Tag! Was für ein großarti ger Tag! Wie gut er sich schlug! Er ist ein König! Er ist wirklich ein König! Ich bin der Haran der Harans! Ich bin dein Vater, der dich liebt und bestraft! Niemand riet ihm, das sagen! Seine eigenen Worte! Keiner hätte das besser ausdrücken können als er selbst. Aus ihm spricht das, was er ist: ein Herrscher! Selbst das Weib jubelte ihm zu! Alle jubelten ihm zu! Und die Wezy rada! Wie sie auf ihren Panzer schlug; Haran! Haran! Haran!« »Ja«, meinte Mujiajian von Sinoda düster. »Er hat heute neue Freunde gewonnen. All jene, die nach Ruhm und Krieg geifern. Ich frage mich, wer seine nächsten Freunde sein werden? Ornibijian, dieser verfluchte Narr, hat alles noch verschlimmert! Ich bin
sein Buskur! Sagt mir, wie viele, die ein Schwert zu führen wissen, werden sich bald um diesen siebten Dajin drängen? Wie viele Ehrgeizige werden seinet wegen mächtige und große Taten begehen wollen, um ebenfalls stolz verkünden zu können: Ich bin der Buskur des Harans der Harans? Dajin hat sich neue Freunde erworben. Bestimmt! Er ist ihr Held, er ist ihr Führer! Wie lange mag es dauern, bis sie den Preis ihrer Gefolgschaft von ihm einfordern werden? Wird er denen widerstehen können, die er mit seinen klu gen Worten verwirrte und danach mit einem patheti schen Faustschlag auf sich einschwor? Ich bin euer Vater, ich befehle! Samt und Eisen! Das Schicksal be scherte uns einen blutrünstigen zweiten Dajin, einen vierten Dajin, der das Land auspreßte, um seine Flot te bauen zu können, und eine übermächtige Umrad jida, die niemand neben sich bestehen ließ. Keinem von ihnen jubelte man zu! Ihm schon. Seid ihr blind, Kinder? Dieser Dajin sprach nicht zufällig in der Sprache der Gemeinen zum Volk! Wer ihm jetzt noch nicht freiwillig folgt, wird sich bald von seinen ein fachsten Bauern fragen lassen müssen: Haran, Ba ruun, Dschunkar, ist dein Wort das des Haran-gaHaran, der unsere Sprache versteht, der zu uns spricht, der unser Vater ist – und ebenfalls deiner? Nein, Dschunkarim, ich fürchte, wir haben einen schlimmen Fehler begangen. Ich bin der größte Narr
unter uns vieren. Ich hätte mir diesen Dajin ansehen sollen, bevor wir ihn auf den Thron setzten.« Er schwieg einige Augenblicke: »Wir werden noch so lange bleiben, wie die Höflichkeit gebietet. Danach werdet ihr mit mir nach Sinoda zurückkehren.« Acht Tage später, während Tuzak immer noch feierte, erhielt Refano Sirensteen eine Nachricht von der alten und neuen Königin. Aus der Art der Botschaft war zu ersehen, daß ihn Balatravis nicht als Ratgeber oder Gesandten zu sehen wünschte. Daher griff Sirensteen nach der blau-goldenen Flasche, schluckte die bitter süßen Tropfen, die seinen Körper leisten ließen, wozu er ohne die Hilfe der alchimistischen Essenz aus Selbstekel und Furcht vor den Spielchen der Königin nicht im Stande gewesen wäre. Entgegen ihren Gewohnheiten war Balatravis von Anfang an redselig, was jedoch nicht bedeutete, daß auch ihr totengleicher Geliebter sprechen durfte. Er lag da, leblos wie immer, und lauschte. Wenn lustvol les Stöhnen oder verzücktes Schweigen den Redefluß Balatravis' eine Zeitlang unterbrach, kleidete der Ge sandte das, was er soeben von ihr gehört hatte, in die Sprache der Berichte, die er dem fernen Hof in Vin salt Mond für Mond zukommen ließ. Dieses Mal stünde Brisantes darin, schier Unglaub liches. Zwei Begriffe waren mehrmals in den Sätzen
der Königin aufgetaucht: Kriegs-Wezyradim und klugsterer Qal'Hamin. Die Königin gebrauchte die Wendung mit deutlicher Verachtung, denn sie ent stammte der Sprache der Gemeinen. Sirensteen fiel nicht gleich auf, daß Balatravis ver stummt war. Seine Gedanken kreisten um die Konse quenzen dessen, was die Königin ausgeplaudert hat te, beschäftigten sich bereits mit den Einzelheiten ei nes künftigen, sehr geheimen und nicht ungefährli chen Vertrags zwischen dem Vinsalter und dem Tu zaker Hof. Als dem Gesandten das Schweigen bewußt wurde, erschrak er. Schuldbewußt sah er die Königin an. Hatte sie etwa bemerkt, wie abwesend ihr Geliebter war? Doch auf Balatravis' Gesicht war kein Hinweis zu erkennen, der Sirensteens Befürchtung bestätigte. Ihr Gesicht leuchtete vor fast überweltlicher Schön heit. »Wie wunderbar Ihr ausseht, Majestät!« flüsterte Refano unwillkürlich und erinnerte sich gleichzeitig bitter daran, wie wenig ihr seine Anwesenheit bedeu tete, abgesehen vom schrecklichen Anblick seines Körpers. Die Königin lehnte sich auf ihm zurück und griff hinter sich. Sirensteen erstarrte und die Härchen sei nes Körpers richteten sich auf. Wie töricht von ihm zu glauben, Balatravis hätte sich keinen Ersatz beschafft
für die widerwärtige Kreatur, die sie beim letzten Mal zerschmettert hatte! Und da sah er auch schon das Geschwistertier: Sein Kopf gefangen zwischen Zeige finger und Daumen der Königin, aufgeregt züngelnd, der korallrote Leib in der anderen Hand der Königin ruhend. Vorsichtig setzte Balatravis die Schlange auf Sirensteens Bauch ab. Auch wenn der Gesandte jetzt wußte, daß das Tier harmlos war, so waren der Anblick und die Berüh rung zwischenzeitlich nicht weniger ekelhaft für ihn geworden. Bang hielt er den Atem an. »Refano!« sagte die Königin. »Du gabst mir einen schlechten Rat! Dein unschuldiges Kätzchen hat ver dammt lange Krallen!« Blitzschnell schlug ihre Faust auf Sirensteens Brust. Der Schlangenkopf schoß vor, um nach dem flüchti gen Schatten zu schnappen. Er verfehlte ihn und biß statt dessen in Sirensteens bleichen Leib. Vor Schreck war der Gesandte einige Herzschläge lang unfähig, sich zu rühren. Als das erste Entsetzen weichen wollte, entdeckte er, daß ihn nicht nur die Angst lähmte. »Ihr habt mich belogen!« japste er. »Das stimmt nicht!« widersprach Balatravis im empörten Ton der zu Unrecht Beschuldigten. »Ich lü ge nicht! Sie ist harmlos für jeden, in dem das Blut der Shoy'Rinas fließt!«
Das Blickfeld des sterbenden Gesandten verengte sich rasch und wurde zu einem engen Tunnel, an dessen Ende schließlich nur noch Balatravis' lustver zerrtes Gesicht zu sehen war, deren aufgerissene Au gen Sirensteen zu verschlingen suchten.
13. Während der Feierlichkeiten und auch während der nächsten beiden Wochen sah der König Maraskans seine Königin nur gelegentlich. Balatravis war jedesmal liebreizend, verführerisch, lockend – und Ab stand haltend. Drei Wochen nach dem Ende der Fei ern wurde die Rechnung vorgelegt, vor der der Haran Sinodas seine Edlen gewarnt hatte. Die Überbrin ger waren die Kriegs-Wezyradim der Flotte, des Fuß volks, der Reiterei, des Nachschubs und Kriegsmate rials. Außer den vieren, einem Übersetzer und Dajin, war niemand zugegen, als die Karten wortwörtlich auf den Tisch gelegt wurden. »Das Neue Reich zerfällt«, begann der Wezyrad der Flotte seine Ausführung. »Für deine Enkel, ober ster aller Harans, wird das Kaiserreich nur noch eine Erinnerung sein. Nun wird aufgeteilt: Das Bornland wird sich Tobrien, vielleicht auch Weiden nehmen, das Liebliche Feld wird nach Drôl, Chorhop und wei
ter südwärts drängen. Wir müssen handeln, Herr! Denn wenn wir warten, reißen die Wüstenvölker un seren Anteil an dem Erbe an sich!« Er griff nach einer Karte, entrollte sie schwungvoll auf dem Tisch und deutete auf verschnörkelte Schrift zeichen an ihrem oberen Rand. »Wir wählten den Na men unseres Planes dir zu Ehren!« radebrechte er in der Sprache des Volkes. »Klugsterer Qal'Hamin – wohlgeplante Sicherung der Weidegründe! Entschul dige, höchster Haran, wenn ich wieder die Sprache wechsle, doch ich hatte noch keine Zeit, mehr Worte unseres Maraskani zu lernen.« Der Wezyrad lächelte stolz über seine Kenntnisse der Volkssprache, die ihm vor wenigen Tagen noch unwürdig erschienen wäre. Dajin blickte auf die bunten Pergamentrollen, die ihm so herzlich wenig sagten. Drôl, Chorhop, Bornland, nichts als Laute, fremde Orte, in denen unbe kannte Menschen lebten. »Das ist unser Teil des Kuchens!« fuhr der Wezy rad fort und deutete auf einen der Flecken. »Ein wei tes Land von großer Fruchtbarkeit!« »Was ist das?« fragte Dajin und deutete auf einen anderen Flecken. »Maraskan. Unser Königreich«, erklärte der Wezy rad der Reiter irritiert. Dajin berichtigte sich: »Ich meine das Weiße darin.« »Urwald, Berge, nichts«, warf der Wezyrad der
Flotte ein und ließ seinen Finger wieder zur anderen Hälfte der Karte wandern. »Wir wollen unsere Streitmacht an zwei Stellen an Land setzen. Die eine Hälfte soll möglichst viel Land nehmen, doch dabei die befestigten Orte des Feindes aussparen. Wir wollen keinen langen Krieg mit dem Kaiserreich und werden diese Eroberungen beim Friedensschluß gerne wieder hergeben. Anders sieht es aus mit dem, was das zweite Heer einnehmen soll. Das ist das Gebiet, das wir wirklich wollen.« Dajin, dem die Ausführungen seiner Kriegsherren nicht mehr bedeuteten als das Prasseln des Regens auf einem Dach, überlegte noch, was er den KriegsWezyradim antworten sollte, als die Unterredung von einem untergeordneten Offizier jäh unterbrochen wurde. Sein Erscheinen hatte sich schon vor der Tür mit Lärm angekündigt. Nun stürmte er herein, zwei Krieger dicht auf seinen Fersen. Er blieb stehen und stampfte auf. »Eine schlechte Nachricht!« verkündete er atemlos. »Der Baruun von Zerbehuab hat sich erhoben!« »Allein? Sicher nicht! Wer ist mit ihm?« fragte einer der Wezyradim besorgt und verärgert. »Mindestens ein anderer«, lautete die Antwort. »Vielleicht sogar zwei oder gar drei weitere. Bis jetzt! Mehr ist noch nicht bekannt.« »Ihr wolltet doch einen Krieg, Wezyradim!« ließ
Dajin seinen Übersetzer sprechen. »Nun habt ihr ei nen zu führen. Ich will, daß ihr ein Heer aufstellt!« »Wäre es nicht richtiger, zuerst herauszufinden, was den Baruun und seine Verbündeten treibt und mit ihm im Guten zu verhandeln?« wandte einer der Wezyradim ein. »Nein«, antwortete Dajin abweisend. »Ich habe schon einmal mit ihm gesprochen, aber er wollte mich nicht verstehen. Er will mich ebensowenig ver stehen wie das Land, über das er gebietet. Denn wenn er das verstünde, wüßte mein Baruun, wie wenige Warnungen seine Wälder erteilen, die ich sehr gut kenne und von denen er glaubt, daß sie ihm gehören. Nein, Wezyradim! Ich will nicht mehr mit meinem Baruun reden. Ich bat ihn bereits, seine Augen zu öff nen!« So bewahrheitete sich Lugens Weissagung ein wei teres Mal.
Gegenwart:
Rondirais Tagebuch
Ort:
Tuzak und Gräflich Sanzerforst, Nähe von Praiobab Zeit: 20. PER, 25 Hal DPae: Alryscha ihr zwielichtiger Bekannter Junker Wolfhart von Wutzenwald bt: Ärger in Tuzak, Weiterreise Ärgere mich. Bin die maraskanischen Spielchen leid. Weiß jetzt, warum mich die Hochgeschwister erwar teten: Sie taten es überhaupt nicht. So oft wie bei den Anschlägen ihrer Schäfchen der Name des toten Kö nigs gefallen ist, waren sie ganz einfach darauf einge stellt, daß eines Tages sich irgendwer kundig machen würde. Tuzak überhastet verlassen. Hängt mit Begegnung zwei Tage nach Audienz zusammen. Saß in Taverne bei Becher Wein, ging Notizen durch. Frau setzt sich zu mir. Drei, vier Jahre älter als ich, wunderbare Haa re, aber billig. Schätze sie als Dirne ein. Spricht mich
in übelstem Gossenmaraskani an. Sagt, ihr Geschäft liefe seit der Blockade nicht mehr so gut. Fragt, ob meines schwer sei? Umhören könne sie sich auch. Habe sie beim Beinebreitmachen gelernt. Erzählt mir Einzelheiten, die ich nicht hören will. Fragt, was ich verdiene. Speise sie ab, sei Gelehrte. Ob ich einen Gönner hätte, weil von nichts könnte ich ja nicht le ben, und ob der noch mehr von mir wollte. Antworte, hätte keinen. Hindert sie dennoch nicht daran, mir genau zu beschreiben, was mein imaginärer Gönner von mir sonst noch verlangen könnte. Wo ich herkä me? Warunk, sage ich. Wie denn dort ihr Geschäft ginge? Sagte, wüßte das nicht. Ob ich auch in Jergan gewesen sei? Nein, antwortete ich, ich sei von Perri cum aus ohne Zwischenaufenthalt nach Tuzak gefah ren. Da gäbe es doch viele Matrosen. Und, und, und. Schwatzt mich wirklich zu. Viele neue Wörter ge lernt, die man sonst nicht hört. Plötzlich tritt Mann an Tisch. Nicht unanziehend, wenn man eine Schwäche für Männer mit einer etwas düsteren Ausstrahlung hat. Denke, sei Freier, und hoffe, daß ich das schwatzhafte Schwälbchen jetzt los werde. Er deutet auf ihre halbvolle Teeschale, spricht geziert in sehr sauberem Garethi: Wie ich sehe, geben sich Gnädigste wieder dem Trunke hin. Das Schwälbchen antwortet ebenso: Was bleibt ei nem schicklichen Frauenzimmer auch anderes übrig,
mein teuerster Freund? Ich bin Euch arg ungnädig, doch das werdet Ihr bereits ahnen. Man läßt eine Dame nicht einfach bei einem Schneider allein. Ihr wißt, wie hilflos ich ab der neunten Anprobe bin. Ihr seid ein im pertinenter Deserteur, Teuerster, und werdet meine Indignation noch zu spüren bekommen. Er sagt nun: Ich zweifle nicht daran. Nun komm, Alryscha, und belästige Frau Gösselbögen nicht wei ter. Sie wünschen mir einen schönen Tag und gehen. Sehr selbstsicher, sehr arrogant, jeder Schritt drückt aus: Unser Revier! Sitze da, staune über die urplötzli che Verwandlung meines Schwälbchens. Denke daran, daß Maraskaner beinahe nie Nachnamen benutzen. Sagen meist nur Vornamen und Herkunftsort. Hielt es ebenso, als ich mich in meiner Herberge einquartierte: Rondirai von Warunk. Nichts von Gösselbögen. Ist zwar nicht unmöglich, meinen Nachnamen herauszu bekommen (Hafenmeisterei, Füchsleins Brief), ließ mich aber dennoch denken: Hoppla, wen hast du denn da aufgescheucht? Den Tuzaker Zweig einer Rebel lengruppe? Vielleicht sollte ich doch stärker nach einem Le benden suchen als nach einem Toten. Tuzak verlassen gemäß Anregung von Hochge schwistern, und weil ich die unausgesprochene Dro hung der beiden ernst nahm. Habe keine Zeit heraus
zufinden, wer hinter dem falschen Schwälbchen und seinem düsteren Freund steckt, habe Dringlicheres zu erledigen. Hatte andererseits aber kein Verlangen da nach, in Tuzaks Straßen mit einem Messer im Bauch zu enden. Also Abmarsch. Bin nun Gast bei Junker Wolfhart von Wutzenwald im Osten von Gräflich Sanzerforst. Bewohnt eine Burg aus der Rohalszeit. Hat Delle im Schädel, Ver letzung durch einen Kampfdiskus während der Schlacht von Jergan. Wenig umgänglicher Mensch, sehr sonderbar, gelinde gesagt. War nicht erfreut, als ich bekannte, auf der Spurensuche nach Dajin VII. zu sein. Mußte den Ring zeigen, damit er mich nicht gleich einsperren ließ. Er bemüht sich anscheinend seit Jahren wie ein Besessener, alles auszutilgen, was an den einstigen König erinnert. Seinen Anstrengun gen fiel auch ein Gedenkstein (?) im nahegelegenen Praiobab – verschlafenes Dorf – zum Opfer. Schade. Ginge es nach ihm, dürfte der Name Dajins des Frommen in ganz Gräflich Sanzerforst nicht mehr ge nannt werden. Junker Wolfhart meint, daß das Gere de von König Dajins Wiedergeburt erst seit ein paar Jahren umgehe. Hätte eigentlich angenommen, daß es nach der Eroberung oder der Niederschlagung des Tuzaker Aufstands einsetzte (Merken: Vielleicht läßt sich herausfinden, seit wann es das Gerücht gibt. Könnte aufschlußreich sein). Wolfhart bezeichnet
Maraskaner als Volk, das sich mit Absicht blindstelle, um die Kratzer auf dem schönen Bild nicht sehen zu müssen. Erwähnte ein Massaker von Sargan, von dem man mir sicher nicht erzählt hätte. Stimmt. Sprach von übelster Schwarzmagie. Fragte Junker Wolfhart, wie er zu der Ansicht stehe, daß hinter den Unruhen dieses Jahres jemand stünde, der den Na men des toten Königs für seine Zwecke nütze und – Augenblickseingebung – vielleicht das Gerücht von seiner Wiedergeburt überhaupt erst in Umlauf ge setzt habe. Wolfhart sah mich mitleidig an. Meinte: Ihr irrt. Er ist es selbst. Er starb nie. Wollte meinen Ohren nicht glauben! Wolfhart wandte sich um, ging zum Fenster, sah hinaus auf das undurchdringliche Blätterdach des Urwalds. Schlug plötzlich wie ein Irrer um sich. Dachte schon, ein Viehzeug habe ihn gebissen – gibt hier mehr Krabbelzeugs als Sand am Meer! War aber nicht so, kein giftiges Krabbeltier, sondern nur ein harmloser Schmetterling. Wolfhart sagte mit todblei chem Gesicht zu mir: Er ist immer noch da! Irgendwo dort draußen lauert er!
Anhang
Einige wichtige Personen Jugendfreundin Dajins Gemahlin Dajins VI. Jugendfreundin Dajins Vasall des Harans von Si noda Großer Vater & Väterchen Dajins Pflegeeltern Hadijian Jugendfreund Dajins Ingvalion Ornibio Dieb und nostrischer Gra fensohn auf Abwegen Karhimasab Jugendfreundin Dajins und seine zweite Frau Keïderan von Achazak Vasall des Harans von Si noda Lugen, Sohn des Kalrugen ein Zwerg Mujiajian Haran von Sinoda Ornibijian Ramelusabs Sohn Ramelusab Gardistin Dajins I. Refano Sirensteen Gesandter des Lieblichen Feldes
Alryscha Balatravis du Shoy'Rina Delilahsab Denderan von Zinabab
Rondirai Gösselbögen Vegsziber
neureichische Agentin Rur-Gror-Priester und ehemaliger Handwerker Viderajida von Sineggyn genannt die Dschunkara; Vasallin des Harans von Sinoda Xanderan Hoher Bruder des Tuza ker Rur-Gror-Tempels
Zeittafel
993 v. H.
Untergang des Bosparanischen Reiches und Gründung des Neuen Reiches 830 v. H. Beginn der mittelreichischen Besied lung Maraskans 809 v. H. Jagd auf den Tuzakwurm 719 v. H. Ankunft der Beni Rurech auf Maraskan. Ihr Glaube an die Zwillingsgötter Rur und Gror verbreitet sich schnell über die gesamte Insel. 666-654 v. H. Arethin von Jergan erklärt sich zum Fürsten von Maraskan und löst alle Verbindungen zum Mittelreich. Nach folgender Bürgerkrieg zwischen ihm und Garalor, Graf von Tuzak
654 v. H.
Die Sonnenlegion der Priesterkaiser be endet den Bürgerkrieg. Der Rur-und Gror-Glaube wird für die nächsten 130 Jahre verboten. Die Originale der Heili gen Rollen gehen verloren. Rohal der Weise entmachtet die Arethi 525 v. H. niden. Die Verehrung der Zwillingsgöt ter wird wieder erlaubt. 430-250 v. H. Zaboron v. Andalkan. Vermutlich ver bergen sich mehrere Personen unter diesem Namen. 303 v. H. Djurmold wird souveräner Fürst Ma raskans. 234 v. H. Dajin I. proklamiert das Unabhängige und Freie Königreich Maraskan. um 200 v. H. Auslöschung der Zaboroniten. Entste hen der Bruderschaft vom Zweiten Fin ger Tsas 186-181 v. H. Regierungszeit Dajin VII. 6 v. H. Kaiser Reto erobert Maraskan 2 n. H. Tuzaker Aufstand 25 n. H. Maraskanische Rebellen besetzen Sino da.
Erklärung aventurischer Begriffe
Die Götter und Monate* 1. Praios = Gott der Sonne und des Gesetzes – ent spricht Juli 2. Rondra = Göttin des Krieges und des Sturmes – entspricht August 3. Efferd = Gott des Wassers, des Windes und der Seefahrt – entspricht September 4. Travia = Göttin des Herdfeuers, der Gastfreund schaft und der ehelichen Liebe – entspricht Ok tober 5. Boron = Gott des Todes und des Schlafes – ent spricht November 6. Hesinde = Göttin der Gelehrsamkeit, der Künste und der Magie – entspricht Dezember 7. Firun = Gott des Winters und der Jagd – ent spricht Januar 8. Tsa = Göttin der Geburt und der Erneuerung – entspricht Februar 9. Phex = Gott der Diebe und Händler – entspricht März
* Im Kontext des maraskanischen Rur & Gror-Glaubens sind die Zuständigkeiten der Zwölfgötter teilweise anders definiert.
10. Peraine = Göttin des Ackerbaus und der Heil kunde – entspricht April 11. Ingerimm = Gott des Feuers und des Handwerks – entspricht Mai 12. Rahja = Göttin des Weines, des Rausches und der Liebe – entspricht Juni
Maße und Gewichte Meile = 1 km Schritt = 1 m Spann = 20 cm Finger = 2 cm Halbfinger = 1 cm
Dukat (Goldstück) = 50 DM Silbertaler (Taler, Silberstück) = 5 DM Heller = 0,5 DM Kreuzer = 0,05 DM Unze = 25 g Stein = 1 kg Quader = 1 t
Begriffe, Namen, Orte Achaz = Echsenmensch Al'Anfa = Stadt im Süden Aventuriens; zur Zeit Da jins Teil des Neuen Reiches Albenhus = Stadt im Neues Reich; entgegen der Mei nung maraskanischer Dramatiker weitab jeder Küste Amdeggyn = südmaraskanisches Gebirge Arethin von Jergan = ehemaliger Fürst von Jergan, verbündete sich mit den Priesterkaisern Arivor = Stadt im Lieblichen Feld Baruun = maraskanischer Adelstitel; etwa: Baron Beni Rurech = tulamidische Volksgruppe, besiedelte um 700 vor Hal Maraskan Boran = Stadt in Ostmaraskan Bosparan = Hauptstadt eines ehemaligen aventuri schen Großreiches. Der Fall Bosparans (993 vor Hal) ist vielerorts Grundlage der Zeitrechnung Bote des Lichts = Höchster Praiosgeweihter bruderlos = maraskanisches Schimpfwort Buskur = maraskanischer Titel, etwa Ritter Cherzak = maraskanischer Adelstitel, etwa Fürst, Herzog Dabla = tulamidisches Schlaginstrument Dere = die Welt Djurmold = Fürst Maraskans, Ururgroßvater König Dajins I.
Draijsch = Teil der Heiligen Schriften der Beni Rurech Dschindziber von Cavazo = maraskanischer Philosoph Dschunkar, -a, -im = maraskanischer Adelstitel, etwa: Junker Gapuzza = rituelle Kopfbedeckung der Hochgeschwi ster Gareth = Hauptstadt des Neuen Reiches Garethi = übliche Sprache in weiten Teilen Mittelund Nordaventuriens Garethja = maraskanische Bezeichnung für Mittelrei cher Gror = eine der beiden Hauptgottheiten Maraskans, Zwilling Rurs Gurvanmaden = Schädling Hal von Gareth = Kaiser, nach dessen Krönung die Zeitrechnung der Gegenwart gezählt wird Haran = maraskanischer Adelstitel, etwa: Graf Honingen = Stadt im Neuen Reich Jergan = Stadt in Nordmaraskan Ka'Schîk = etwa: Dorfschulze KGIA = Geheimpolizei des Neuen Reiches Khom = Große Wüste östlich des Lieblichen Feldes Kurinbaum = maraskanischer Baum, dessen Harz zu manchen Jahreszeiten giftig ist Liebliches Feld = auch: Vinsalter Königreich, südwest lich an das Neue Reich angrenzendes Königreich, sieht sich als Nachfolger des Bosparanischen Reiches
Marandoline = maraskanisches Musikinstrument Maraskani = tulamidisch-garethische Mischsprache Maraske, Maraskantarantel = großes Spinnentier Marustan = antiker Namen Maraskans Mohas = Bewohner des südaventurischen Regenwal des Nachtwind = große Eulenart Nemezijn = legendärer maraskanischer Baum, dem Rachsucht nachgesagt wird Neues Reich = auch Mittelreich oder Kaiserreich ge nannt, größter Staat Aventuriens Nivesen = Volk im hohen Norden Aventuriens Perricum = Hafenstadt im Südosten des Neuen Rei ches Punin = Stadt im Neuen Reich Rajdegga = tausendsaitiges maraskanisches Musikin strument Rashtulswall = Gebirgszug nördlich der Khom Rastullah = Eingott der Wüstenvölker Rohal = auch Ru'halla, Weißmagier und Staatsmann Rur = hermaphroditische Hauptgottheit Maraskans, Zwilling Grors Ruuz = tulamidische Teilsprache, Sprache der Beni Rurech Schnitter = eine Art Buschmesser Sinoda = Stadt in Südmaraskan Tetrarch = halbreligiöser maraskanischer Titel
Tobrien = östliche Provinz des Neuen Reiches Traviabund = Eheschließung Tulamiden = südaventurisches Volk Tulamidya = Sprache der Tulamiden Tuzak = Stadt in Westmaraskan Tuzakwurm = um 800 v. H. auf Maraskan erlegtes Ungeheuer, möglicherweise ein Drache oder Lind wurm, doch die Berichte sind sehr widersprüchlich Utulu = Bewohner der südaventurischen Waldinseln Vinsalt = Hauptstadt des Lieblichen Feldes Warunk = Stadt im Südosten des Neuen Reichs Wezyrad, -a, -im = Wesir, Minister Zaboron von Andalkan = maraskanischer Philosoph, gründete die Zaboroniten Zaboroniten = mörderische Sekte des Rur-GrorGlaubens Zendajian der Stille = maraskanischer Philosoph