Frank W. Haubold wurde 1955 in Frankenberg (Sachsen) geboren. Studierte nach Abitur und Wehrdienst in Dresden und Berlin...
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Frank W. Haubold wurde 1955 in Frankenberg (Sachsen) geboren. Studierte nach Abitur und Wehrdienst in Dresden und Berlin (Promotion 1989). Lebt seit 1985 im sächsischen Meerane und arbeitet in einem Krankenhaus der Region. Seit 1989 schreibt und veröffentlicht er Erzählungen und Kurzgeschichten unterschiedlicher Genres (Science Fiction, Fantasy, Gegenwart). Nach Einzelbeiträgen in verschiedenen Anthologien wurde 1997 sein erstes Buch, der Episodenroman »Am Ufer der Nacht«, veröffentlicht. 1999 erschien in Zusammenarbeit mit der Berliner Autorin Eddie M. Angerhuber die Erzählungssammlung »Der Tag des silbernen Tieres« (2. Auflage 2000). Oktober 2000: 2. Platz bei der Endrunde um den Deutschen Science-Fiction-Preis für die beste Kurzgeschichte 1999. Mitglied des Ersten Deutschen Fantasy Clubs (Passau) und des 1. Chemnitzer Autorenvereins, für den er mehrere Anthologien herausgab. Weitere Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien (»Fantasia«, »Solar-X«, »MajA«, »2000«) sowie im Internet, wo er ein Phantastik-Projekt betreut (»Arafel«). Vorbilder: Hermann Hesse, Ray Bradbury Projekte: Herausgabe einer weiteren Sammlung phantastischer Geschichten, Arbeit an einem Episodenroman zum Thema »Mars«.
Inhaltsverzeichnis 1. Der letzte Apache 2. A flor dos sonhos (Leseprobe) 3. Kalte Nacht 4. Die im Dunkeln ... 5. Der Mann auf der Brücke 6. Old man's sunday 7. Das Große Rennen 8. Der Duft der schwarzen Rosen (Leseprobe) 9. Schwarz 10. Die Sintflut des Conrad R. 11. Vor Sonnenaufgang 12. Odyssee in Rot 14. Schattenbruder (Leseprobe) 15. Thors Hammer (Leseprobe)
Herausgegeben vom Palmtop Magazin. Autor: Frank W. Haubold (www.cis-gate.de/homepages/haubold/home.htm) Konvertierung: Rainer Gievers Weitere eBooks finden Sie beim Palmtop Magazin (http://www.palmtopmagazin.de/ebook/)
Der letzte Apache Wayna richtete sich auf und massierte seufzend ihre schmerzenden Oberarme. Ein langer Erntetag lag hinter ihr, und die Kinder waren wie immer kaum zu bremsen gewesen. Mittlerweile hatte Wayna kaum noch die Kraft, die ihr zugereichten Tarkinbündel auf den Transportkarren zu heben. Ungeduldig sehnte sie die Dämmerung herbei. Dabei wußte Wayna durchaus, wieviel von der Arbeit ihrer Gruppe abhing. In der Regenzeit bot sich nur selten die Möglichkeit, den Dorfbewohnern bei der Einbringung der Ernte zu helfen. Schon mehr als einmal hatten sich die Dorfältesten über den Lärm und die Unarten der Kinder bei ihr beschwert, und Wayna lag viel daran, das Verhältnis zu den Einheimischen zu entspannen. Insgeheim verabscheute sie die Batuwas von Herzen, die sich ihre Gastfreundschaft teuer bezahlen ließen und die Flüchtlinge bei jeder Gelegenheit übervorteilten. Obwohl sie wußten, daß die Semilokriger auch ihr Stammesgebiet gegen die Angriffe der Wüstenräuber verteidigten ... Langsam versank die Sonne zwischen den Wipfeln der Farnwälder. In ihrem Schein leuchtete die Oberfläche des Samibi-Flusses wie ein glühendes Band. Als die Schatten Wayna erreichten, begann ihr schweißnasser Körper zu frösteln. Sie sehnte sich nach dem abendlichen Bad im Fluß und nach ihrem Mann Kalib, der im Norden im Krieg stand. Nach den ersten Angriffen der Nomaden hatten die Semilokrieger ihre Frauen und Kinder in das vorläufig noch sichere Stammesgebiet der Batuwas geschickt, wo sie nun schon seit mehr als drei Dunkelzeiten darauf warteten, daß Kwai-Trommeln endlich das Ende der Kämpfe und die Rückkehr in die heimatlichen Täler verkündeten. Doch das Leben war auch hier in der Fremde nicht stehengeblieben. Auf geheimnisvolle Weise, über die die alten Weiber nicht aufhören konnten zu tuscheln, waren einige der jungen Semilas im Lauf der letzten beiden Dunkelzeiten niedergekommen und hatten so für ein gutes Dutzend neuer Stammesmitglieder gesorgt.
Natürlich wußte Wayna mehr als die alten Klatschweiber, und es gab Augenblicke, in denen die Versuchung über ihren Stolz zu siegen drohte. Doch bis jetzt hatte Kalibs Talisman, ein Amulett aus hellem Messerstein, sie beschützt. Was sie mit dem glatten, warmen Holzknauf Ihres Jagdmessers tat, wenn sie allein war und die Hitze übermächtig wurde, war keine Untreue, denn sie sah Kalibs Gesicht dabei und spürte seine Kraft in sich, wenn sie kam. Von Sehnsucht und Trauer überwältigt, sprang Wayna vom Wagen und begann sich rhythmisch in den Hüften zu wiegen. Zuerst leise und dann immer lauter und ergriffener sang sie das Lied von der verlorenen Sonne. Die Kinder ihrer Gruppe liefen wie auf Kommando herbei und bildeten einen Kreis um Wayna. Einige der älteren summten die Melodie leise mit, während die anderen ihren leidenschaftlichen Tanz mit großen, erstaunten Augen verfolgten. Erschöpft ließ sich Wayna nach der letzten Strophe auf die Sitze der Lenkplattform des Wagens fallen. Halb ärgerlich, halb belustigt beobachtete sie, wie die Jungen ihrer Gruppe die phlegmatische Zugechse, die in ihrem Geschirr vor sich hin döste, mit dem Lenkstock des Karrens traktierten. Bei jedem der zeitlupenhaften Abwehrversuche des Tieres stoben sie kreischend auseinander. Wayna klatschte in die Hände und rief die Jungen zur Ordnung. Dann ergriff sie die Zügel und den Lenkstock und ließ die Kinder aufsteigen. Mit einer Kraft, die man ihrem zartgliedrigen Körper nicht zugetraut hätte, jagte sie den Stachel des Lenkstocks in das knorplige Hinterteil der Zugechse. Widerwillig und aus tückischen Augen nach hinten schielend setzte sich das Tier mit seiner Last in Bewegung. Eine schmale Hand berührte sie an der Schulter. Wayna blickte sich um und sah in Sondras dunkle Augen, die bittend auf den Sitz neben ihr deuteten. Normalerweise achtete Wayna streng darauf, daß sie keines der Kinder den anderen vorzog. Doch sie mochte das stille Mädchen, das seine Eltern bei einem Überfall verloren hatte, besonders, und so gab sie nach. Lächelnd registrierte sie das dankbare Aufblitzen in Sondras Augen, als das Mädchen zu ihr auf den Kutschbock sprang. »Das Lied«, begann Sondra gegen ihre Gewohnheit zu sprechen. »Es ist schön, und obwohl ich das meiste nicht verstehen kann, macht es mich traurig. Weißt du, woher es kommt?« »Das weiß niemand genau. Es gibt nur eine Legende, die noch aus der Zeit vor der langen Nacht stammt. Damals schien die Sonne heller und wärmer als heute, und es gab Häuser, die bis hinein in den Himmel ragten. Und silberne Kutschen, die wie Breitflügler über dem Boden dahinschwebten und mit denen jeder fahren konnte, wohin er wollte.«
»Um die ganze Welt?« fragte das Mädchen ungläubig. »Ja, und es wird sogar behauptet, daß es feuerspeiende Wohntürme gab, die hinauf zu den Sternen flogen.« »Das glaube ich nicht!« sagte das Mädchen entschieden. »Zu den Sternen dürfen nur die Götter und die Toten.« »Die Legende sagt, daß damals jedermann fast so klug und mächtig wie ein Gott war.« »Aber wenn sie so klug waren, wieso haben sie dann zugelassen, daß die Sonne fortging?« fragte Sondra nachdenklich. »Davon handelt das Lied. Es erzählt von dem großen Krieg, den die Vorfahren der Aussätzigen gegeneinander führten. Himmel und Erde erbebten vom Donner ihrer Blitzschleudern, mit denen sie ganze Dörfer in Schutt und Asche legen konnten. Tag und Nacht flehten die Weisen um ein Ende des grausamen Wütens. Doch der Geist der Krieger blieb umnachtet, so daß sie schließlich ihre Waffen sogar gegen den Himmel richteten, um die Götter zu zwingen, sich ihrem Willen zu beugen.« »Und was geschah dann?« fragte das Mädchen kläglich. »Die Götter weinten über die Bosheit und den Übermut ihrer Kinder. Ihre Tränen wurden zu leuchtenden Sternen, die vom Himmel fielen und mit ihrem Feuer jeden verbrannten, der ihr Licht sah. Flutwellen erhoben sich und zerstörten die Städte. Die Wohntürme stürzten zusammen und begruben ihre Bewohner unter sich. Obwohl die Brände nach kurzer Zeit erloschen, lebt ihr Fluch in den toten Städten unter dem Eis weiter. Denn die Götter haben nicht nur die Krieger selbst für ihren Übermut bestraft, sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder. Es heißt, daß sie, von Geburt an aussätzig, grausam dahinsiechen und früh sterben müssen.« »Doch die Sonne, warum ging sie fort, war das auch der Zorn der Götter?« wollte Sondra wissen. »Vielleicht war sie auch nur traurig über das, was geschehen war, und verbarg ihr Licht deshalb«, antwortete Wayna zögernd und zwang sich zu einem Lächeln. »Aber das ist alles sehr lange her. Die Legende sagt, daß Donan, der große Häuptling und Urvater aller Semilostämme, selbst ein Sohn der Sonnengöttin ist. Seine Gebete waren es, die ihren Zorn und ihren Kummer besänftigt haben. Er selbst soll seit unzähligen Dunkelzeiten dort oben, tief im Krater des heiligen Feuerbergs Launda, leben und sich auf den letzten Kampf vorbereiten.« »Aber gegen wen, gegen die Wüstenräuber?« fragte das Mädchen mit leuchtenden Augen. »Nein, die gelbhäutigen Bastarde sind eine vergängliche Plage wie die Giftkröten oder
das Sumpffieber. Sie sind feige, hinterhältig und nur in der Meute gefährlich. Doch Moran, der Altvater, sagt, daß seit der langen Nacht immer wieder Schwärme von Feuervögeln in das Alana-Land eindringen. Sie verbrennen die Farnwälder und töten jeden, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen kann.« »Davon hast du mir noch nie erzählt«, sagte Sondra nachdenklich. »Weißt du, wo diese Vögel herkommen und warum sie versuchen, uns zu töten?« »Genau weiß man nur, daß sie von Norden kommen. Aus dem ewigen Eis jenseits der Aschewüste. Die Alten sagen, daß es böse Geister sind, die von den Aussätzigen gerufen wurden. Sie hassen alles Lebendige, weil sie selbst von Geburt an schwach und kraftlos sind. Doch ihre Geister sind so mächtig, daß sich selbst Donan vor ihnen verbergen muß. Aber es wird der Tag kommen, an dem er von den Bergen herabsteigt und die Kreaturen des Bösen zu Staub zertritt.« »Ja, er wird uns retten«, sagte das Mädchen überzeugt, um plötzlich wie elektrisiert aufzuspringen. »Schau doch, Wayna. Der Dämon leuchtet bei Nacht!« »Ach Unsinn, Kleines«, widersprach Wayna. »Er spiegelt doch nur das Licht der untergehenden Sonne.« Aber auch sie konnte sich eines leisen Schauders nicht erwehren, als sie an dem in dunkler Glut leuchtenden Heiligtum der Semilos vorüberfuhren. Wenn der alte Moran die Wahrheit sagte, dann war das mit Zauberzeichen bedeckte Behältnis mit dem gefangenen Dämon älter als jede andere Reliquie des Stammes. Der Überlieferung nach stammte es sogar noch aus der Zeit vor der langen Nacht und sollte den sagenhaften Kajubi-Kriegern zum Abschrecken ihrer Feinde gedient haben. Niemand hätte erwartet, daß sich Moran und die anderen Häuptlinge jemals freiwillig von ihrem Heiligtum trennen würden. Und doch hatten sie es getan, als sich der Zug der Frauen und Kinder auf den Weg in den Süden gemacht hatte. »Ihr seid die Zukunft«, hatte Moran geknurrt. »Wenn wir euch verlieren, wird der Stamm der Semilos verdorren wie ein morscher Ast. Der Dämon wird euch beschützen, wenn ihr seiner Hilfe bedürft. Nehmt ihn mit euch und geht. Schnell.« Dann hatte er sich abgewandt und sie keines Blickes mehr gewürdigt. Die Erinnerung an Morans Abschiedsworte und das unheilverkündende Leuchten des Heiligtums ließen Wayna erschauern. Obwohl alles ringsum still blieb, empfand sie beinahe körperlich die Nähe einer unbestimmbaren Gefahr, die ihr den Atem zu nehmen drohte. Im Lager angekommen, schickte Wayna die Kinder gegen ihre Gewohnheit schon nach der ersten Nachtgeschichte zu Bett, ohne sich von ihren Protesten erweichen zu lassen.
Das ersehnte Bad im Fluß erfrischte sie zwar etwas, doch die seltsame Spannung blieb. Lange konnte Wayna nicht einschlafen. Erst das monotone Trommeln ferner Schlagfüßler ließ sie allmählich in einen unruhigen Halbschlaf hinüberdämmern. Plötzlich bemerkte sie, daß sie nicht mehr allein in ihrer Schlafkuhle lag. Sondras schmächtiger, vor Furcht zitternder Körper preßte sich an sie, und Wayna brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschicken. Beruhigend streichelte sie die Schultern des Mädchens, das zu weinen begonnen hatte. »Was ist denn passiert, Kleines?« fragte Wayna flüsternd. »Die Feuervögel«, schluchzte Sondra. »Sie machen mir Angst.« »Du mußt dich nicht fürchten«, flüsterte Wayna tröstend, während sie das Mädchen in ihre Arme schloß. »Sie werden uns nichts tun.« Noch bevor der Nachtmond aufging, begannen die Wälder ringsum zu brennen. Das schrille Kreischen der Yori-Affen und das Krachen der in der Glut zerberstenden Baumriesen rissen die Bewohner des Lagers aus dem Schlaf. Entsetzt beobachtete Wayna, wie ein weißer Feuerstrahl vom Himmel auf die Hütten des nahegelegenen Dorfes niederstieß, die sofort in Flammen aufgingen. Gellende Schreie mischten sich in das Heulen des Brandes. Erst als sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, sah sie den Feuervogel. Seine Flügel bewegten sich wie rasend, während er feuerspeiend über dem brennenden BatuwaDorf kreiste. Der Gedanke an den Dämon riß Wayna aus ihrer Erstarrung. »Komm mit!« rief sie Sondra zu, die wie versteinert auf das Flammenmeer starrte, und begann zu laufen. Sie spürte weder die Dornen der Aloko-Sträucher noch die messerscharfen Triebe der Scherdisteln, die ihr die Fußsohlen zerschnitten, während sie den schmalen Pfad entlangstolperte und das wimmernde Mädchen hinter sich her zog. Ihr Herzschlag hämmerte wild und unregelmäßig in den Schläfen, als sie endlich den heiligen Ort erreichten und vor der Heimstatt des Dämons auf die Knie fielen. »Rette den Stamm der Semilos«, flüsterte Wayna atemlos, während ihre Hände die spiegelglatte Oberfläche des Heiligtums berührten. »Zertritt seine Feinde zu Staub, wie es uns verhießen wurde!«
Nichts geschah. Außer sich vor Entsetzen sah Wayna, wie der Angreifer sich von seinem ersten Opfer abwandte und Kurs auf ihre Siedlung nahm. Das Dröhnen schwoll an, und die Feuerstrahlen setzten das Unterholz hinter ihnen in Brand. Glühende Hitze versengte Waynas Gesicht. »So tu doch endlich etwas!« rief sie verzweifelt und schlug wie von Sinnen mit beiden Fäusten auf die Zauberzeichen ein, die das Heim des Dämons bedeckten. Der Dämon brüllte auf. Entsetzt taumelte Wayna zurück. Das Brüllen steigerte sich bis zum Orkan, und dann erhob sich der Dämon majestätisch auf einer leuchtenden Feuersäule. Einen Augenblick lang verharrte er wie unschlüssig über den Wipfeln der Farne und jagte dann mit rasender Geschwindigkeit auf den Feuervogel zu. Kurz bevor der Dämon sein Opfer erreicht hatte, löste sich ein dunkles Paket vom Körper des Vogels und stürzte zu Boden. Dann tauchte ein Blitz das Tal in taghelles Licht, gefolgt von brüllendem Donner, dessen Wucht Wayna und das Mädchen von den Füßen riß und kopfüber ins Gras fallen ließ. Jetzt, da die unmittelbare Gefahr gebannt war, erwachte der Jagdinstinkt in Wayna. »Komm mit, Kleines!« rief Wayna. »Er hat etwas verloren, bevor ihn der Dämon zerstören konnte. Wir müssen es als erste finden.« Und schon hatte sie ihr Messer gezogen und jagte in langen Sätzen davon. Sondra, die sich den Knöchel verstaucht hatte, konnte nicht mithalten und humpelte mühsam hinterdrein. Angstvoll verharrte das Mädchen, als sie Waynas Schrei hörte. Dann erkannte es den Beuteruf der Semilos und beeilte sich, um nicht zu spät zur Aufteilung zu kommen. Das Wesen, das Wayna gestellt hatte, war das seltsamste, das Sondra je gesehen hatte. Es war vollkommen haarlos, schien jedoch zwei Häute zu besitzen. Die äußere, die wahrscheinlich zur Tarnung diente, hing trocken und schlaff um seinen Körper. Seine innere Haut war weiß, mit zahlreichen entzündeten Flecken übersät und schien ebensowenig widerstandsfähig zu sein wie der gesamte Körper. Arme und Beine waren verkrüppelt und besaßen weder Krallen noch zum Klettern geeignete Finger oder Zehen. Der kahle Schädel war übergroß und von zwei wäßrigen, lidlosen Augen, einer flachen Nase und einem schmalen Maul ohne Zähne geprägt.
Was die beiden Semilas aber am meisten enttäuschte, war das völlige Fehlen von genießbarem Fleisch. »Nur faule Haut und Knochen, Echsenfraß«, bemerkte Wayna ärgerlich, während sie sich das Blut abwischte, das ihr beim Ausweiden ins Gesicht gespritzt war. »Ich möchte nur wissen, was der Feuervogel mit ihm anfangen wollte. - Aber schau, was ich noch gefunden habe!« Sie schwenkte einen schüsselförmigen Gegenstand, der an zwei Lederriemen befestigt war und aus einem glatten und überaus harten Material bestand. »Ein neuer Kopfschmuck für Moran!« jubelte Wayna. »Er trägt sogar Zauberzeichen!« Übermütig stülpte sie sich den viel zu großen Stahlhelm über den Kopf und begann zu tanzen, während sich Sondra vor Lachen beinahe ausschütten wollte. Als sich die beiden endlich erschöpft ins Gras sinken ließen, stieg im Osten die Sonne glutrot und mächtig über dem heiligen Berg Launda empor. Ihre wärmenden Strahlen liebkosten das dichte goldbraune Fell der beiden Semilas, die eng aneinandergeschmiegt die Stille des Morgens genossen, der ihnen auch heute wieder ein wenig heller und wärmer erschien ... © 1993, 1999 by Frank W. Haubold
A flor dos sonhos (Leseprobe) ... Verlegen lächelnd nahm Martin seinen Gewinn in Empfang und betastete vorsichtig das gläserne Behältnis mit der nachtblauen, fluoreszierenden Blüte. Als er aufblickte, um sich zu verabschieden, stellte er verblüfft fest, daß der Alte verschwunden war. Offenbar hatte er den Wagen lautlos durch die Hintertür verlassen, die noch einen Spaltbreit offenstand. Erleichtert, aber auch ein wenig beklommen setzte sich Martin auf eine der hölzernen Stufen im Schein der nächsten Lichterkette und griff nach dem Klappmesser in seiner Tasche. Er wußte, was er zu tun hatte. Der rote Siegellack war hart wie Stein und löste sich nur in winzigen Splittern vom Hals
der Flasche, aber Martin dachte nicht daran, sein Vorhaben aufzugeben oder auch nur zu verschieben. Einmal rutschte er mit der Klinge ab und registrierte seltsam unbeteiligt, wie sich der scharfe Stahl in seine Handfläche grub. Er ignorierte den Schmerz und die klebrige Wärme des Blutes, das als schmales Rinnsal an seinem Handgelenk hinabfloß und auf die hölzernen Stufen tropfte. Es war nicht mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig. Außer Jos. Er mußte sie wiedersehen, und die Blume würde ihm dabei helfen ... Während sein Messer Millimeter um Millimeter der steinharten Masse abtrug, suchte er verzweifelt in seinen Erinnerungen nach etwas, das seine Erschütterung über das Auftauchen des Mädchens hätte erklären können. Er fand nichts. Nichts, außer einem Namen - Jos - und der Gewißheit, daß dieser Name und das verlorene Bild eine Art Schlüssel darstellten. Zu einer Tür, die sich nur noch ein einziges Mal öffnen würde ... Neue Bilder tauchten vor Martins Augen auf: Helle schmucklose Wände und ein endlos langer Flur. Eine schwere Tür fiel krachend ins Schloß. Elfenbeinfarbige Gitter und eine weiße Deckenleuchte, die unbarmherziges Licht verströmte. Das vertraute Muster der feinen Risse in der hellgrün getünchten Decke. Grün beruhigt. Manchmal ein gedämpfter Schrei, wie von einem Tier. Ein Riegel wurde zurückgeschoben - sie kommen! Lächelnde Gesichter über blütenweißen Kitteln ... kalte, aufmerksame Augen. Es riecht nach Äther und Eau de Cologne. Ekelerregende Sauberkeit. Lautlose Wortwechsel in unerreichbarer Höhe. Breite Ledergurte an seinen Handgelenken, die nur schmerzten, wenn er sich lozureißen suchte. Auf der Flucht vor der blitzenden Nadel. Nebel, weiße Nebel, graue Nebel, Nebel, die sich wie schwere, dunkle Tücher herabsenkten. Plötzlich kniete er im hohen Gras ... und da war wieder der Schatten ... der dunkle Turm ... rote Blutspritzer auf den gelben Halmen ... Das Bild verschwamm. Du mußt aufhören! beschwor ihn eine angsterfüllte Stimme. Doch Martin dachte nicht daran, sich jetzt noch aufhalten zu lassen. Schwungvoll fuhr die blutige Klinge weiter über den Hals der Flasche. Als der obere Teil des Siegels plötzlich nachgab und sich vom Korken löste, trieb der Schwung das Messer tief in seinen Unterarm. Hör auf! Du bringst dich um! Martin wußte, daß die Stimme recht hatte - wie sie fast immer recht gehabt hatte -, aber
das war jetzt ohne Bedeutung. Wichtig war allein die Tür. Er mußte sie öffnen, bevor ihn die Kräfte verließen ... Schwer atmend zog er die Klinge aus der Wunde, klappte sie ein und entriegelte den Korkenzieher. Der aschgraue, ausgetrocknete Korken setzte seinen Bemühungen zähen Widerstand entgegen, oder war es vielleicht die Blume, die ihr Geheimnis bewahren wollte? Beinahe hatte Martin den Eindruck, als wäre der Tanz der blauen Funken auf den Blütenblättern schneller und hektischer geworden. Auch das schimmernde Leuchten schien heller geworden zu sein, doch Martin blieb keine Zeit, sich an den wirbelnden Lichtkaskaden zu erfreuen. Mit blutenden Händen zerrte er verzweifelt am Griff des Messers, das sich keinen Millimeter bewegte. Rote Kreise tanzten vor seinen Augen, und einen Augenblick lang fürchtete Martin, das Bewußtsein zu verlieren, doch dann gab der Korken plötzlich mit einem dumpfen Plop nach. Zischend strömte Luft in die Flasche, und das bläuliche Licht erlosch. Fassungslos starrte Martin auf die samtblaue Blüte, die innerhalb von Sekunden vor seinen Augen verdorrte. War alles umsonst gewesen? Tränen schossen in seine Augen und ließen die bunten Lichter des Jahrmarktes zu einem funkelnden Kaleidoskop verschwimmen. Erst jetzt nahm Martin den seltsamen Duft wahr. Es roch nach trockenem Heu mit einem schwach bitteren Beigeschmack nach Teer oder Farbe. Martin kannte diesen Geruch genau. Er hatte ihn zwar verloren, aber niemals vergessen. Nur paßte er nicht zu diesem Jahr, der feuchten Witterung und erst recht nicht zu einem Rummelplatz mitten in der Stadt. Er gehörte zu einem anderen Ort und einer anderen Zeit. Und er gehörte zu Jos. Die blaue Blume hatte ihn nicht betrogen. Als sich die bunten Lichterketten vor seinen Augen zu drehen begannen, wurde der herbwürzige Duft stärker und hüllte ihn wie eine warme, schützende Wolke ein. Die Tür hatte sich geöffnet ... © 2000 by Frank W. Haubold
Kalte Nacht The edge of darkness Als Anna erwachte, war der Platz neben ihr kalt und leer. »Martin?« Keine Antwort. Mühsam richtete sie sich auf und blinzelte in das kalte Feuer der Sonnensteine, die den Raum in rötliches Dämmerlicht tauchten. Anna stand auf und öffnete behutsam die Tür. Ihr Mann saß bewegungslos am Fenster und starrte hinaus in die kalte, sternlose Marsnacht. Seine Körperhaltung verriet eine so intensive Anspannung, daß sich Anna sicher war, daß er sie nicht bemerkt hatte. Irgend etwas macht ihm Angst, dachte Anna und spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken aufrichteten. Erst jetzt fiel ihr Blick auf die Waffe. Solange sie Martin kannte, hatte er nie eine Waffe getragen. Sie wußte nicht einmal, daß er eine besaß. Auf dem Mars gab es keine wilden Tiere, eigentlich überhaupt keine Tiere, wenn man einmal von den rummdogs absah. Obwohl Anna noch nie etwas Ähnliches gesehen hatte, wußte sie, daß die silberne Waffe auf Martins Knien nicht von der Erde stammte. Sie gehörte ihnen, und das machte es noch schlimmer. »Was ist das, Martin?« flüsterte sie erschrocken. Der Mann am Fenster zuckte zusammen. Doch er wandte sich nicht um, als fürchtete er, Annas Blick zu begegnen. Wortlos ging er zur Tür und zog seine alte Kapitänsjacke über. Anna wußte, daß er sie nur ihr zuliebe trug. Eine Reminiszenz an irdische Gepflogenheiten: Man zieht sich etwas über, wenn man nachts ins Freie geht. Doch heute verfehlte die Geste ihre Wirkung.
»Ich bitte dich, Martin, sei vernünftig. Da draußen ist nichts, kann überhaupt nichts sein. Die Stadt ist über fünfzig Meilen entfernt, und die Leute dort haben ihre eigenen Sorgen. Jetzt, wo die Raumschiffe nicht mehr kommen ...« »Ich wollte, es wäre so«, murmelte der Mann und griff nach seiner Waffe. »Bleib hier, Martin! Laß mich nicht allein.« Die Frau sprach leise, in ihren Augen glänzten Tränen. »Nicht noch einmal ...« Einen Augenblick lang glaubte Anna, er hätte ihren Vorwurf überhört, aber dann sah sie den Schmerz in seinen Augen und senkte verlegen den Blick. »Verzeih mir«, erwiderte der Mann traurig. »Aber da draußen ist etwas. Ich kann es spüren. Und es ist auf dem Weg hierher.« In seiner Stimme lag ein Ausdruck, der Anna frösteln ließ. »Selbst wenn du recht hast, und da draußen ist wirklich etwas, was willst du tun? Es einfach erschießen? Sie werden dir nie vergeben, wenn du ihre Waffe gegen deinesgleichen erhebst.« Der Mann starrte sie schweigend an. Seine Gesichtszüge wirkten wie eingefroren. »Ich weiß es nicht, Anna«, sagte er ohne die Stimme zu heben. »Ich wünschte, ich könnte der Mann sein, den du verdienst.« Dann glitt die Tür hinter ihm ins Schloß. Die Frau hörte seine Schritte leiser werden und verbarg ihr tränennasses Gesicht in den Händen. Ihre Lippen zitterten, als sie die Bronzetafel aus ihrem Versteck nahm und die Symbole des Rufes berührte: »Ich habe euch all die Jahre nie um etwas gebeten. Nicht in guten, nicht in schlimmen Zeiten. Aber heute, heute bitte ich euch: Haltet eure Hand über ihn und laßt ihn zurückkommen. Er ist doch ein alter Mann ...« *** Der Kapitän atmete tief durch. Der Wind hatte sich gedreht und trug einen leichten Brandgeruch mit sich. Die Stadt brannte nun schon seit Tagen. Noch versprachen die Lagerhallen der Marsgesellschaft mehr Beute als die schwer zugänglichen Anwesen der Siedler, aber das würde nicht so bleiben ... Bevor er sich auf den Weg machte, sah er noch einmal nach den rummdogs. Im Schuppen war es warm und roch nach Maschinenöl. Der vertraute Geruch beruhigte Martin ein wenig. Er war stolz auf seine Wühlhunde, die besten weit und breit. Die Hunde schienen seine Nervosität zu spüren. Ängstlich drängten sie sich zusammen und schnappten mit stählernen Kiefern ins Leere. Als Martin ging, ließ er die Tür weit offen.
Was auch immer sich da draußen verbarg, die rummdogs würde es nicht bekommen ... Während des Abstiegs dachte er an Anna. Es hatte ihm weh getan, sie allein zurückzulassen, aber er mußte gehen, bevor er den Mut verlor. Wahrscheinlich waren die Plünderer schon auf dem Weg. Die Sicherheitskräfte hatten die aufgebrachte Menge nicht einmal innerhalb der Städte aufhalten können, hier draußen in den Dünenfeldern waren die Siedler ohne jeden Schutz. Schwer atmend erreichte der Mann sein Versteck unterhalb der äußeren Windschutzmauer. Von hier aus konnte man tagsüber das ganze Tal überblicken, vor allem aber die Eastern steelway, die neue Schnellstraße, die hinunter nach Port Marineris führte. Noch vor wenigen Tagen war die Straße am Abend ein lärmendes Lichterband gewesen, das vor Mitternacht kaum zur Ruhe kam. Manchmal hatte der Wind das Heulen der Turbinenwagen bis hinauf in die Berge getragen. Jetzt lag die Magistrale wie ausgestorben im Dunkel. Der Krieg hatte die Lichter, den Lärm und den Glauben an eine menschliche Zukunft ausgelöscht. Es war ein merkwürdiger, stiller Krieg gewesen. Zuerst waren die M-Shuttles weggeblieben, die dickbäuchigen Frachtfähren der Marsgesellschaft, die sonst im Halbstundentakt herabschwebten und mit dem Gebrüll ihrer Triebwerke die Schwerkraft verhöhnten. Die Stille war ungewohnt, und manchmal ertappte sich Martin kopfschüttelnd dabei, wie er den Himmel nach einer Spur der Riesenvögel absuchte. Er wußte, daß der Krieg zu Ende war. Am Morgen hatte er Flemming getroffen, einen der wenigen Siedler, die sich den Luxus einer privaten Richtfunkverbindung leisten konnten. Die Kommunikationssatelliten der Marsgesellschaft arbeiteten nach wie vor, es gab nur nichts mehr, das sie hätten übertragen können. Connection terminated. Die Erde war verstummt. Flemming hatte ihm die letzte Nachricht gezeigt, die ihn erreicht hatte. Martin hatte nicht alles verstanden, nur, daß eine Art Welle auf die Stadt zuraste, in der der unbekannte Absender lebte. Er war nicht einmal mehr dazu gekommen, sich zu verabschieden ... Der Kapitän hatte seiner Frau nichts davon erzählt. Hätte er ihr sagen sollen, daß sie die Erde und das Meer, nach dem sie sich so sehr sehnte, nie wiedersehen würde? Ein Geräusch ließ den Mann zusammenfahren. Dort unten war jemand. Obwohl der dunstverhangene Nachthimmel wie ein dunkles Tuch über dem Land lag,
glaubte der Mann die Umrisse mehrerer Gestalten wahrzunehmen, die rasch näherkamen. Wenn es Späher waren, die die Plünderer ausgeschickt hatten, dann waren sie allerdings mehr als unvorsichtig. Die vereiste Sandkrume knirschte unter ihren schweren Tritten, und manchmal klirrte es, als treffe Metall auf Metall. Mittlerweile hatten sich die Eindringlinge so weit genähert, daß sich ihre Silhouetten deutlich vom Hintergrund abhoben. Es waren insgesamt drei, die sich aufrecht und ohne Deckung zu suchen ihren Weg durch das Geröll bahnten. Vorsichtig griff der Mann nach seiner Waffe. Als er den Hebel umlegte, den er für den Sicherungsbügel hielt, zischte komprimiertes Gas in die zylinderförmige Kammer mit den Lähmpfeilen. Erst als er die Waffe in Anschlag gebracht hatte, begriff er, daß etwas nicht stimmte. Die Angreifer bewegten sich nicht wie Menschen, und es waren auch keine. Dafür waren sie zu groß, viel zu groß. Cyrobs, dachte der Mann erschrocken und ließ die Waffe sinken. Menschliche Angreifer hätte er damit vielleicht einige Zeit aufhalten können, aber gegen die gepanzerten Kolosse war sie wirkungslos. Ursprünglich waren die Cyrobs für die Arbeiten in der schwer zugänglichen AcidaliaRegion konstruiert worden. Die Gesellschaft betrieb dort mehrere Loxit-Minen, in denen es kaum menschliche Arbeitskräfte gab. Aber diese hier trugen keine Werkzeuge, sondern Waffen. Irgend jemand hatte sie hergebracht, um sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen. Aber warum? Natürlich kannte der Mann die Gerüchte, die in den Städten über den angeblichen Reichtum der Steinsucher die Runde machten. Und es hatte in der Tat eine Zeit gegeben, in der man vom Verkauf der Sonnensteine recht gut leben konnte. Doch das war Vergangenheit, denn mittlerweile hatte sich herausgestellt, daß der Gebrauchswert der leuchtenden Kristalle eher gering war. Das Interesse der Schmuckhändler hatte schlagartig nachgelassen, als sich zeigte, daß die Kristalle unter irdischen Druckverhältnissen nach wenigen Sekunden ihren Glanz verloren und für immer erloschen. Doch wenn es die Sonnensteine nicht waren, was war es dann? In diesem Augenblick riß die Wolkendecke auf, und jetzt konnte Martin die dunklen Umrisse eines Luftkissenfahrzeugs erkennen, das sich mit abgedunkelten Scheinwerfern zwischen den Dünen verbarg. Ein Stormglider! Auf dem Mars existierten nicht mehr als drei oder vier dieser hochgerüsteten Flugmaschinen, die ausschließlich den MFOR-Sicherheitskräften zur
Verfügung standen. Wer auch immer hinter dieser Aktion steckte, Plünderer waren es gewiß nicht ... Die Cyrobs hatten sich mittlerweile so weit genähert, daß er das Surren ihrer Antriebsaggregate hören konnte. Erstaunlich gelassen registrierte Martin, daß sie ihren Kurs geringfügig geändert hatten und nunmehr unmittelbar auf seinen Standort zumarschierten. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß ihre Infrarotsensoren ihn bereits aufgespürt hatten, als er sich noch sicher versteckt wähnte. Er hatte nie eine Chance gehabt. Martin stand auf und ging den surrenden und stampfenden Metallkolossen entgegen. Die silberne Waffe ließ er zurück. David gegen Goliath mal drei, dachte er in einem Anflug von Galgenhumor. Leider hat er keine Schleuder dabei ... Er war ein alter Mann, und der Gedanke an den Tod schreckte ihn nicht sonderlich. Er hatte einen Traum gehabt, und dieser Traum hatte sich erfüllt. Vieles war anders gewesen, als er sich vorgestellt hatte, aber die Tatsache blieb. Wenn er überhaupt noch einen Wunsch hatte, dann den, Anna nicht allein zurücklassen zu müssen. Der Gedanke, daß sie jetzt dort oben am Fenster stand, schmeckte bitter und trieb ihm die Tränen die Augen. Martin starrte in die Mündungen der auf ihn gerichteten Waffen und hoffte, daß es schnell gehen würde. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Wenn sie die Plasmastrahler benutzten, würde allerdings kaum mehr als eine Wolke ionisierter Gasmoleküle von ihm übrigbleiben ... »Kapitän Lundgren!« Der vorderste Cyrob war unmittelbar vor Martin stehengeblieben und beugte sich mit einer auf groteske Weise menschlich wirkenden Bewegung zu ihm herab. Der Kapitän nickte und spannte die Muskeln an, um das Zittern seiner Knie zu unterdrücken. »Wir sind ermächtigt, Sie zur Sondereinsatzgruppe der MFOR zu begleiten«, dröhnte die Lautsprecherstimme weiter. »Wir gehen davon aus, daß Sie unbewaffnet sind und keinen Widerstand leisten werden.« Martin hob langsam die Hände und achtete darauf, daß seine leeren Handflächen in das Blickfeld der silbernen Kameraaugen des Cyrobs gelangten. Die Geste schien die stählerne Garde zufriedenzustellen, denn die beiden Begleiter des Wortführers senkten ihr Waffen und nahmen wie besorgte Leibwächter rechts und links von ihm Aufstellung.
»Bitte folgen Sie mir zum Gefechtsstand!« dröhnte der Cyrob und setzte sich in Marsch, wobei er sich durch gelegentliches Drehen seines Kamerakopfes davon überzeugte, daß Martin und seine gepanzerten Begleiter nicht zurückblieben. Obwohl Martin nach wie vor tief verunsichert war, erschien ihm die Situation derart grotek, daß er Mühe hatte, das in seinem Zwerchfell zuckende Gelächter nicht zum Ausbruch kommen zu lassen. Wenn er ihm einmal freien Lauf ließ, würde er nicht wieder aufhören können, und wer wußte, wie die Cyrobs darauf reagierten ... Der Wortführer lief jetzt schneller, und bald hatte Martin Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. Immer wieder stolperte er über am Boden liegendes Geröll und war dankbar, daß ihn die blitzschnell reagierenden Greifarme seiner Begleiter vor einem Sturz bewahrten. Als sie ihr Ziel endlich erreicht hatten, stützte er sich keuchend an der Wand des Stormgliders ab und lauschte dem dumpfen Hämmern seines Herzschlages. »Sie dürfen jetzt eintreten!« verkündete der Ober-Cyrob gebieterisch, während das Schott zur Außenschleuse des Fahrzeugs zischend zur Seite glitt. Mit weichen Knien stieg Martin die Treppe hinauf und fand sich in einer winzigen, matt beleuchteten Kabine wieder, deren zweite Tür sich erst öffnete, nachdem die Identifizierungsprozedur abgeschlossen war. Helles Neonlicht flutete ihm entgegen und blendete ihn so stark, daß er die Augen schließen mußte. Als er sie Sekunden später blinzelnd öffnete, sah er sich mehreren Uniformierten gegenüber, die bei seinem Eintreten höflich aufgestanden waren. Überrascht registrierte er, daß die Männer Osmosemasken trugen. Die Haut ihrer Hände glänzte ölig. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Eine Erklärung, die Martin noch weniger gefiel als der nächtliche Überfall oder die Anwesenheit Colonel Perssons, des Sicherheitsberaters der Gesellschaft. Er hatte ihn trotz seiner Maske sofort erkannt. »Bitte nehmen Sie Platz, Kapitän Lundgren«, begrüßte ihn Persson mit kalter Höflichkeit und deutete auf einen freien Sessel. »Ich bedauere, daß wir Ihnen Ungelegenheiten bereiten mußten, aber unsere Mission duldete leider keinerlei Aufschub.« »Das schien mir auch so«, erwiderte Martin und zwang sich zu einem Lächeln, »auch wenn Sie mich ein wenig ratlos sehen, was das Motiv Ihres unverhofften Besuches anbetrifft.« »Wir haben keine Zeit mehr für Spielchen!« schnappte Persson wütend. »Sie wissen doch, was passiert ist. Diese verdammten Narren haben die Generatoren zerstört. Die Grüngürtel sind schon jetzt kaum noch zu retten. In wenigen Tagen wird die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre auf weniger als zehn Prozent abgesunken sein. Sie wissen, was das bedeutet ...«
Martin zuckte zusammen. Er hatte etwas in dieser Richtung befürchtet, aber immer noch gehofft, daß es sich vielleicht um ein lokal begrenztes Problem handelte. Jetzt hatte er Gewißheit ... »Das tut mir leid ...«, murmelte er hilflos. »Ach ja?« höhnte der Oberst. »Und Sie haben noch nie darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn die ganze Bande mit ihren Maschinen, ihren Touristenzügen, Bars, Souvenirshops und Imbißbuden mit einem Schlag wieder von Ihrem Planeten verschwinden würde? Wirklich noch nie?« Wenn er wüßte, wie recht er hat, dachte Martin und spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. »Worauf wollen Sie hinaus, Colonel?« erkundigte er sich verunsichert. »Sie müssen uns helfen, Lundgren«, Perssons Stimme drang dumpf durch die Filter seiner Atemmaske. »Wie?« »Man erzählt sich, daß Leute wie Sie fast ohne Sauerstoff auskommen können«, erwiderte der Oberst mit mühsam unterdrücktem Groll, »Und ich vermute, daß das auch auf Ihre Angehörigen zutrifft. Oder täusche ich mich da, Kapitän Lundberg?« Es ging also um Anna. Martin war froh, daß die Gelschicht der Maske den lauernden Ausdruck in Perssons Augen verbarg. »Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel!« entgegnete er mit Nachdruck. »Außerdem haben Sie mir noch immer nicht verraten, was Sie eigentlich von mir wollen.« »Sie sind der einzige, der jemals mit ihnen gesprochen hat«, erwiderte Persson ungeduldig. »Sie haben mit mir gesprochen«, korrigierte der alte Mann nachsichtig. »Und das war lange vor Ihrer Zeit ...« »Sie haben mit ihnen gesprochen!« unterbrach ihn Persson wütend. »Und Sie werden wieder mit ihnen sprechen, sonst wird es Ihnen verdammt leid tun!« Einer der Offiziere räusperte sich vernehmlich, doch der alte Mann schien die unverhohlene Drohung überhört zu haben. »Und was soll ich ihnen Ihrer Meinung nach sagen?« erkundigte er sich beinahe amüsiert.
Persson schien begriffen zu haben, daß er zu weit gegangen war, und versuchte, seinen Fehler gutzumachen: »Die Veränderungen, die Sie am Leben erhalten haben, könnten auch den Menschen da draußen helfen. Bitten Sie sie um Hilfe, appellieren Sie an ihr Verantwortungsgefühl, an ihr Gewissen meinetwegen ... Aber tun Sie endlich etwas!« Martin lachte. Er konnte nichts dagegen unternehmen, es brach einfach aus ihm heraus. Persson zuckte zurück, als habe er eine Ohrfeige erhalten. Seine Begleiter starrten den alten Mann verblüfft an. »Es ... tut ... mir leid«, entschuldigte er sich, nachdem er sich ein wenig gefaßt hatte. »Aber das war doch nicht Ihr Ernst, oder?« »Sie werden Gelegenheit haben, zu erfahren, was mein Ernst ist«, entgegnete Persson kalt und griff nach seinem Komlog. »Jede Gelegenheit ...« Seine Finger glitten zielstrebig über die Sensoren der Kommunikationseinheit, und erst jetzt begriff Martin, was er angerichtet hatte. Anna, dachte er und spürte plötzlich einen heftigen Stich unterhalb seines Brustbeins. Er wird sie umbringen lassen ... Martin atmete flach, um den Schmerz nicht zu provozieren, der sich wie ein glühendes Netz über seinen Brustkorb ausbreitete. Als das Brennen ein wenig nachließ, hatte er einen Entschluß gefaßt. »In Ordnung, Colonel«, murmelte er mit gesenktem Kopf. »Ich werde den Kontakt herstellen. Unter einer Bedingung ...« »Die Bedingungen stelle ich!« unterbrach ihn Persson grob. »Und Sie werden tun, was wir von Ihnen verlangen. Allerdings - wie die Dinge jetzt stehen, bleibt Ihnen nicht mehr viel Zeit ...« Er ist verrückt, dachte Martin schockiert. Dieser Mann haßt mich so sehr, daß er seine einzige Trumpfkarte aus der Hand geben würde, nur um es mir heimzuzahlen ... Er hatte keine Vorstellung, wie er den gewünschten Kontakt herstellen sollte. Er war ihnen nur ein einziges Mal begegnet, und vielleicht war auch diese Begegnung nur eine Art Tagtraum gewesen, eine Vision wie der bunte Holzwagen Emilio Francettis ... Rotes Licht flutete plötzlich in die Kabine des Stormgliders, Persson und seine bewaffneten Begleiter verloren beinahe schlagartig ihre Konturen und verschwanden. Nur die Wände des Fahrzeugs blieben sichtbar, auch wenn sich ihre Oberfläche
veränderte. Noch bevor sich die samtschwarz schimmernden Auslagen formiert hatten, wußte Martin, was sie enthalten würden. »Kennst du das Märchen vom Fischer und seiner Frau?« bemerkte eine spöttische Stimme hinter seinem Rücken. Erschrocken fuhr Martin herum. Francetti! Er hatte diese Anspielung schon einmal gehört, und damals hatte er den Mann gehaßt. Am Ende hatte er sich nicht anders zu helfen gewußt, als ihm ein Messer in die Brust zu stoßen, doch das war lange her ... »Benvenuto, amico mio«, verkündete Francetti wohlgelaunt und musterte den alten Mann mit spöttischem Interesse. »Du siehst ein wenig müde aus, mein Junge. Aber das bekommen wir schon wieder hin.« »Ich glaube nicht«, erwiderte Martin traurig. »Und Ihre Geschäfte interessieren mich nicht. Nicht mehr.« »Darüber solltest du noch einmal nachdenken, mein Freund. Du erinnerst du dich doch an das Meer?« Und ob ich mich erinnere, dachte der Kapitän und wich dem Blick des Fremden aus. Aber es war nur ein Traum. »Mein Angebot steht nach wie vor«, fuhr Francetti fort. »Ein Leben für ein Leben. Und dir bleibt nicht mehr viel Zeit.« »Es war schön«, erwiderte Martin leise. »Und damals hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre auf Ihr Angebot eingegangen. Aber das ist lange her, und manche Träume finden nur deshalb einen Platz in unseren Herzen, weil es Träume geblieben sind. Es tut mir leid, aber es gibt nichts, was Sie mir anbieten könnten.« »Oh doch, mein Freund«, widersprach der Francetti mit einem verschlagenen Lächeln und griff nach einer der schillernden Kugeln, die die Regalwände hinter ihm bis an die Decke füllten. »Immerhin könntest du verhindern, daß dieser sadistische Schwachkopf noch mehr Unheil einrichtet?« »Persson?!« erkundigte sich Martin hastig. »Natürlich Persson«, bestätigte der Fremde. »Sieh ihn dir an, mein Junge. Er ist bereits auf dem Weg, und ich kann mir nicht vorstellen, daß das ein Höflichkeitsbesuch wird.« Der Kapitän beugte sich über die bunt schimmernde Kugel und beobachtete die winzige,
ölig glänzende Gestalt in ihrem Inneren, die mit entschlossener Miene vorwärts marschierte, ohne auch nur einen Zentimeter voranzukommen. »Noch kannst du ihn aufhalten!« Francetti rüttelte den alten Mann ungeduldig an der Schulter. »War hat er vor?« Schmerz krallte sich in Martins Eingeweide und trieb ihm die Tränen die Augen.. »In ein paar Sekunden wirst du es wissen«, flüsterte der Fremde beschwörend. »Aber dann wird es zu spät sein.« Hastig griff Martin nach dem silbernen Stilett, das ihm Francetti reichte. Mit versteinerter Miene beobachtete er, wie Persson in geduckter Haltung vorwärtsschlich. Als der Colonel sein Ziel erreicht hatte, ging er in die Hocke und entsicherte seine unsichtbare Waffe. »Jetzt!« rief Francetti, und Martin stieß zu. Die Kugel zerplatzte mit einen dumpfen Geräusch, und Colonel Edward G. Persson starb, noch bevor er die erste Plasmagranate in das stille dunkle Haus am Fuße der silbernen Berge feuern konnte. Die drei Cyrobs beugten sich wie ratlose Ärzte über den leblosen Körper und marschierten schließlich im Gleichschritt zurück ins Tal. *** Als der Kapitän am Morgen zum Haus zurückkehrte, stand die Frau noch immer am Fenster. Ihr Gesicht war grau, und die Tränen hatten dunkle Spuren über ihre Wangen gezogen. Sie sagte kein Wort, als Martin die Tür hinter sich zuzog und sie in die Arme nahm. Die Frau zog ihn an sich und beobachtete mit leuchtenden Augen, wie sich die lachsfarbene Sonne schlaftrunken über den Gipfeln des Tharsis-Massivs erhob. Ihre Strahlen brachen sich in den Facetten der Kristallfenster und hüllten die beiden in ein regenbogenfarbenes Netz aus Licht. Die Stadt im Tal brannte noch immer. © 1998 - 2000 by Frank W. Haubold
Die im Dunkeln ... (Beitrag für den Wettbewerb des Autorenrings) Die Stadt empfing sie mit der Gleichgültigkeit eines alten Mannes, der in seinem Lieblingslehnstuhl dem Vergessen entgegendämmert. Vor langer Zeit waren die Menschen gekommen, hatten Bäume gefällt, Häuser und Straßen gebaut und die Stadt mit lärmender Geschäftigkeit erfüllt. Dann waren sie verschwunden. Die Stadt hatte geduldig auf ihre Rückkehr gewartet und schließlich aufgegeben. Die Natur war zurückgekehrt, hatte Risse in den Beton der Straßen getrieben und die Häuser mit einem Pelz aus wucherndem Grün überzogen. Die Männer durchstreiften die Straßen in furchtsamem Schweigen. Manchmal stießen sie sich wortlos an, wenn sie eines der größeren Gebäude wiedererkannten. Mittlerweile hatten sie sich an den deprimierenden Anblick der rostbraunen Autowracks gewöhnt, die wie der Auswurf eines gigantischen Tieres die Straßenränder säumten. Die erblindeten Scheiben ersparten dem Betrachter den Anblick der aus den Sitzpolstern quellenden Pilzstauden. Kapitäm Rohan hatte nur ein einziges der verwesenden Wracks aufbrechen lassen ... Die Männer fanden keinen Hinweis auf den Verbleib der Bewohner. Weder in den Häusern, die sie hastig und widerwillig durchsuchten, noch in der Tiefe der intakt gebliebenen U-Bahn-Schächte. Die Menschen waren verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen, oder die rachsüchtige Natur hatte ihre Spuren für immer ausgelöscht. Die Stadt war so tot wie ein seit Jahrhunderten aufgegebener Friedhof. Marian war sich da nicht so sicher. Die klaustrophobische Enge des Raumschiffs hatte seine Sinne geschärft, und im Gegensatz zu den anderen Männern besaß er keinerlei Erinnerungen an die Erde, die seine Wachsamkeit hätten beeinträchtigen können. Marian hatte seine Eltern nie kennengelernt. Er verdankte seine Existenz einem Notprogramm, das nach dem Tod des letzten weiblichen Besatzungsmitglieds der "Eternity" in Kraft gesetzt worden war. Jetzt hatte er etwas gesehen, oder vielmehr gespürt, das seinen Begleitern entgangen war. Verstohlene, schattengleiche Bewegungen, die sofort erstarben, wenn er seinen Blick darauf fixierte. Jemand oder etwas beobachtete sie, dessen war sich Marian ganz sicher, hütete sich aber, seinen Verdacht laut auszusprechen. Vielmehr richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf jene dunklen, kaum einsehbaren Ecken und Winkel in seinem Rücken, in denen er die geheimnsivollen Wesen vermutete. Ein merkwürdigerweise noch intakter Seitenspiegel an einem der Autowracks bestätigte Marians Vermutungen schließlich. Jemand folgte ihnen. Genau genommen, kein Jemand im Sinne von Mensch oder Tier, sondern vielmehr eine Art Gespinst, halb lichtdurchlässig wie Gaze und ohne erkennbare Struktur, kaum mehr als ein formloser Schatten. Als die Dämmerung hereinbrach und die Sonne träge über den Hügeln versank, ließ
Kapitän Rohan die Erkundung abbrechen. Erleichtert machten sich die Männer auf den Rückweg. Die Stadt flößte ihnen Furcht ein, nicht wegen des Schicksals ihrer Bewohner, sondern weil es keine menschliche Stadt mehr war. Das düstere Zwielicht verstärkte die allgegenwärtige Aura der Fäulnis und des Verfalls, die den Männern den Angstschweiß in den Nacken trieb und ihre Schritte automatisch schneller werden ließ. Die Spur des Schattenwesens hatte sich längst in der rasch einfallenden Dunkelheit verloren ... Erst als unmittelbar vor ihnen die vertraute Silhouette der Raumfähre auftauchten, fanden die Männer ihre Sprache wieder. Marian beteiligte sich nicht an den Spekulationen über die Ereignisse, die die Stadt zu dem gemacht hatten, was sie jetzt war. Die Erinnerungen seiner Begleiter waren ihm ebenso fremd wie die still verwesende Hülle einer ehemals menschlichen Ansiedlung, die sie hinter sich gelassen hatten. Was werden sie jetzt tun? fragte sich Marian mit einem besorgten Blick auf die vor ihm Marschierenden. Zum Schiff zurückkehren oder tatsächlich hierbleiben, wie sie es sich vorgenommen haben? Die knappen Kommandos des Kapitäns und der Eifer, mit dem sie befolgt wurden, drängten Marians Zweifel in den Hintergrund. Zischend senkten sich die Ladeklappen der Raumfähre herab. Aufzüge wurden ausgefahren und Paletten mit Maschinen und Ausrüstungsgegenständen entladen. Aggregate brummten auf, und das Licht der Halogenscheinwerfer tauchte den Lagerplatz in gleißende Helligkeit. Der dichte Pflanzenteppich verkohlte unter den Plasmastrahlen der Brenner, während die unsichtbaren Bewohner des Unterholzes aufgeregt pfeifend davonhuschten. Metallgerüste wurden montiert, im Erdreich verankert und mit silbrigen Wärmeschutzplanen überzogen. Kaum zwei Stunden später stand das Basislager: vier Mannschaftszelte, ein Versorgungscontainer sowie eine Sende-Empfangsstation für die Verbindung zum Mutterschiff. Schwer atmend und mit glänzenden Augen musterten die Männer ihr Werk. Obwohl ihnen die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand, dachte niemand an Schlaf. Einige machten sich daran, inmitten des Lagers einen Haufen aus Strauchwerk und trockenen Ästen aufzuschichten, während sich andere um die Verpflegung kümmerten. Kisten mit Getränken wurden herbeigeschleppt und Speisen aufgetaut, die aus den verborgensten Winkeln der Kühlkammern der "Eternity" stammen mußten. Minuten später erlosch das Licht der Scheinwerfer und die Mannschaft sammelte sich um das knisternde Lagerfeuer. Es roch nach gebratenem Fleisch und Rauch. Zischend tropfte das Fett der Würste, die die Männer an Stecken über das Feuer hielten, in die Flammen. Sturegon, einer der Navigatoren, drückte Marian eine Flasche in die Hand und rief: "Trink schon, Heimatloser, trink darauf, daß uns die Erde wiederhat."
Die Männer nickten zustimmend und prosteten dem Jungen aufmunternd zu. Unsicher lächelnd setzte Marian die Flasche an und trank in hastigen Schlucken von der bitter schmeckenden Flüssigkeit. Schaum lief ihm an den Mundwinkeln herab, und die Männer lachten. Angenehme Wärme breitete sich in Marians Magen aus und weckte seinen Appetit, der durch den aromatischen Geruch der Würste noch angeregt wurde. Bald saß er neben den anderen am Feuer und ließ sich eine Bratwurst nach der anderen schmecken. Dazu trank er eine weitere Flasche der schäumenden Flüssigkeit, die ihm mit jedem Schluck weniger bitter erschien. Als Marian aufstand, um zur Toilette zu gehen, wunderte er sich ein wenig über das unsichere Gefühl in seinen Knien, das ihn das ein oder andere Mal straucheln ließ, aber schon bald war auch das vergessen. Als die Männer ihre Mahlzeit beendet hatten, stand Sam Richards mit geheimnisvoller Miene auf und kam mit seiner alten Gitarre wieder, die er irgendwie in den Laderaum geschmuggelt hatte. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus, als Sams Finger beim Stimmen des Instruments vorsichtig, beinahe zärtlich über die Saiten glitten. Normalerweise sprach der kleine Pilot nur das Nötigste und spielte, wenn überhaupt, nur für sich allein in seiner Kabine. Aber dies war kein gewöhnlicher Abend, und so lauschten die Männer andächtig, als die ersten Akkorde erklangen und Sam zuerst ein wenig heiser und unsicher, aber schon bald von seinem eigenen Spiel mitgerissen zu singen begann. Er sang von endlosen Straßen, die ihn von seinem Haus und der Geliebten trennten, von der Spottdrossel, die hoch oben in den Bäumen ihr Lied sang und von der Braut, die mit einem anderen fortgegangen war. Er sang von den Lichtern der Stadt und der dunkelhaarigen Schönheit, die irgendwo in den Bergen auf ihn wartete. Manchmal summten die Männer den Refrain leise mit, und Marian spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Those were We thought, they'd never end ...,
the
days,
my
friend,
sang der alte Mann, und Marian trauerte mit ihm um eine Vergangenheit, die er selbst nie erlebt hatte. Längst tranken die Männer nicht mehr nur Bier, sondern ließen die WhiskeyFlaschen kreisen, die sie achthundert Standard- oder zweiunddreißig relativistische Jahre für diesen Abend aufgespart hatten. Auch Marian trank von der scharfen Flüssigkeit, die in der Kehle brannte und die Kühle der Nacht vertrieb. Zum ersten Mal in seinem Leben war Marian glücklich. Dankbar genoß er die Wärme des Feuers, die traurigen Lieder und das Gefühl der Gemeinschaft. Als sich das Feuer und die Gesichter der Männer um ihn herum zu drehen begannen, fühlte Marian nichts außer einem angenehmen Schwindelgefühl, das ihn wie eine weiche Decke einhüllte und ihn in das Dunkel der Bewußtlosigkeit hinüberdämmern ließ. Als Marian erwachte, war er allein. Das Feuer war heruntergebrannt, und Marian fror. Sein Kopf schmerzte, und er verspürte
ein taubes Gefühl im Nacken. Stöhnend richtete er sich auf, um sich gleich darauf verwirrt die Augen zu reiben. Hatte ihn ein Lichtreflex genarrt, oder war da wirklich etwas? Nein, es war kein Zweifel möglich. In unmittelbarer Nähe, kaum zwei Meter entfernt, schwebte etwas, das wie ein silbernes Spinnennetz aussah. Sofort erinnerte sich Marian an das Schattenwesen, das ihnen auf ihrem Weg durch die Stadt gefolgt war. Aus irgendeinem Grund zweifelte er nicht im mindesten daran, daß es sich dabei um ein und dieselbe Erscheinung handelte. Oder war dieses substanzlose Etwas wirklich eine Art Lebewesen? Die Bestätigung seiner Vermutung erfolgte so prompt, das Marian erschrocken zusammenfuhr. "Wer seid ihr? Woher kommt ihr?" Einen Augenblick lang war sich Marian nicht sicher, ob er die Frage wirklich gehört hatte, oder ob sie nur ein flüchtig in seinem Bewußtsein aufgetauchter Gedanke war. Doch es war tatsächlich eine Stimme, auch wen sie unmittelbar in seinem Kopf zu entstehen schien. "Du mußt keine Angst haben, Marian. So nennen sie dich doch?" ergänzte die Stimme, die angenehm und weich klang, ganz anders als die seiner Gefährten. Es ist eine Frau! dachte Marian irritiert, und ein helles Lachen bestätigte seine Vermutung fast augenblicklich. Marian kannte Frauen nur von Bildern und von einem Holo, das er vor Jahren aus dem gesperrten Bereich des Bordcomputers auf seinen Rechner gezogen hatte. Die Frauen auf diesem Holo hatten mehr gestöhnt als gesprochen und Dinge getan, die Marian bis in seine Träume verfolgten und ihn nicht selten so außer Fassung brachten, daß er sich hinterher fast immer schämte, wenn er die Spermaflecken aus dem Bettzeug waschen mußte. "Was ist denn daran so merkwürdig?" erkundigte sich die Stimme amüsiert. "Bei euch gibt's wohl keine Frauen?" "Nein, nicht mehr" flüsterte Marian betroffen, bevor ihm das Groteske der Situation bewußt wurde. Das ist doch verrückt, ich sitze auf diesem gottverdammten Planeten und spreche mit einem Phantom, das sich wie eine Frau anhört! Energisch kniff sich Marian in den Oberschenkel, ohne daß das silberne Gespinst Anstalten machte zu verschwinden. "Das tut mir leid." bemerkte die Stimme nach einer Weile traurig. "Was ... wer ... bist du?" flüsterte Marian heiser.
"Ich bin Sandra. Sandra Ferguson, 22 Jahre alt ... seit achthundert Jahren", antwortete die Stimme bereitwillig, und doch glaubte Marian ein leichtes Zittern darin wahrzunehmen, Unsicherheit vielleicht, oder eine lange unterdrücktes Gefühl. "Dann bist du noch ... vor dem Sonnensturm ..." stotterte Marian verwirrt und brach ab. "Natürlich davor", erwiderte die Stimme gelassen. "Danach wurde niemand mehr geboren. Jedenfalls nicht auf der Erde ..." "Und wie hast du ... habt ihr ... überlebt?" "Durch die Silverberg-Transformation ... unsere einzige Chance ..." Das Zittern der Stimme war jetzt unüberhörbar, und fast schien es Marian, als wäre sie den Tränen nahe. Tränen, die niemals fließen würden ... "Du mußt nicht sprechen, Marian", meldete sich die Stimme erneut. "Es genügt, wenn du mir in Gedanken antwortest." "Dann lebst du ... ihr ... seit damals ... auf diese Weise?" erkundigte sich Marian zweifelnd. Er hatte keine Ahnung, wie man in Gedanken miteinander sprechen könnte. "Wir haben gewartet." Drei Worte, die Unvorstellbares beschrieben. Jahrhunderte voller Einsamkeit und unendlicher Geduld. "Gewartet, worauf?" "Auf eure Rückkehr. Darauf, daß wir wieder sein können, was wir einmal waren." Es dauerte lange, bis Marian wieder sprechen konnte. "... seid ihr viele?" "Wir waren viele. Die meisten haben aufgegeben." "Aufgegeben ... also könnt ihr doch sterben?" Marians Stimme kämpfte gegen das Würgen in seiner Kehle. "Nein, nicht im biologischen Sinn. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Aber es gibt einen energielosen Zustand, den man als eine Art Schlaf bezeichnen könnte. Nur daß man ohne fremde Hilfe nie mehr aufwacht. Wir nennen es: das Dunkel suchen." "Und die anderen haben das Dunkel gesucht?" flüsterte Marian tonlos. "Ja." "Aber du hast weiter gewartet, obwohl du allein warst?" Marian konnte nicht mehr
sprechen, er hatte sogar Mühe, das Unfaßbare in Gedanken zu formulieren. "Ja." "Du hast auf uns gewartet?" "Auf euch und die anderen." Es war unglaublich, die Stimme gehörte einer Frau, die seit fünfzehn oder mehr Generationen auf die Rückkkehr der Sternenflotte wartete. Die vielleicht seit Jahrhunderten mit niemanden mehr gesprochen hatte, nicht geatmet hatte, nichts berührt, nichts gegessen, nichts gefühlt hatte. Allein mit ihrer irrsinnigen, verzweifelten Hoffnung ... Aber Marian konnte nicht anders, er mußte die Frage stellen, die ihm auf der Seele brannte: "Weshalb?" "Jemand mußte es auf sich nehmen. Jemand mußte euch warnen." "Warnen, wovor?" fragte Marian erschrocken. "Eigentlich hätten sie euch schon auffallen müssen, aber ihr glaubt wahrscheinlich noch immer, daß ihr hier zu Hause seid." Schlagartig begriff Marian. Die Vögel! Er dachte an den riesigen, dunklen Schwarm, den sie beim Landeanflug aufgeschreckt hatten, und an die Männer, die arglos in ihren Zelten schliefen. Wenn das Mädchen recht hatte, dann waren diese Kreaturen alles andere als harmlose Krähen ... "Ich muß sie warnen!" rief Marian und sprang auf. "Viel Glück!" rief ihm das Mädchen nach, aber es klang nicht besonders zuversichtlich. Als Marian zurückkehrte, blutete er aus Mund und Nase. Ein Bluterguß hatte sein rechtes Auge zuschwellen lassen, und sein linker Arm hing schlaff herab. Tränen liefen ihm über das Gesicht und mischten sich mit Blut und Speichel zu klebrigen Rinnsalen. "Sie haben dir nicht geglaubt", bemerkte die Stimme voller Mitgefühl. "Diese Dreckskerle!" stieß Marian schluchzend hervor. "Einen betrunkenen Bastard haben sie mich genannt ... Und als ich sie aus den Betten holen wollte, sind sie über mich hergefallen ... diese verdammten Idioten!"
"Das ist schlimm", versetzte das Mädchen traurig. "Sie glauben es immer erst, wenn es zu spät ist." Es dauerte einen Augenblick, bis Marian begriffen hatte. "Wir sind ... also ... nicht ... die ersten?" brachte er stockend hervor. "Nein, leider nicht." "Die anderen sind also ... Wie viele?" erkundigte sich Marian betroffen. "Drei Schiffe, drei von hundertdreißig. Das letzte vor achtunddreißig Jahren." "Und was ist aus den Besatzungen geworden?" Die Stimme schwieg. "Aber man muß doch irgendwas unternehmen!" Marian schrie es beinahe. "Mit dem verletzten Arm?" erwiderte die Stimme zweifelnd. "Wieviel Zeit bleibt uns noch?" "Eine Stunde etwa, vielleicht auch etwas mehr. Die Schwärme greifen nie vor dem Morgengrauen an." "Und wir können wirklich nichts tun?" "Nicht viel. Und für deine Freunde gar nichts", antwortete die Stimme bedauernd. "Und ich, was wird aus mir?" flüsterte Marian, zitternd vor Angst. "Du kannst dich in eurem Landungsschiff verstecken und abwarten, bis alles vorbei ist. Aber ich muß dich warnen, diese Bestien sind ziemlich ausdauernd." "Es gibt also noch eine andere Möglichkeit?" "Allerdings." "Und die wäre?" "Weißt du das wirklich nicht, Marian?" Eine kalte Hand griff nach Marians Rückgrat und jagte einen Schauer über seinen Körper. Er wußte jetzt, wovon das Mädchen sprach.
"Die Transformation?" flüsterte er zweifelnd. "Die Anlage ist noch funktionstüchtig. Aber es ist deine Entscheidung." Das sollte unbefangen und sachlich klingen, aber ein schwaches, kaum wahrnehmbares Beben der Stimme verriet die Erregung, die sich hinter diesen Worten verbarg. Marian dachte an die "Eternity" und die Unmöglichkeit, ohne einen ausgebildeten Piloten dorthin zurückzukehren. Aber selbst wenn es ihm gelang, was würden sie dann tun? Weiter durch das All irren? Auf der vergeblichen Suche nach Leben, wie bisher? Er dachte an die einsamen, freudlosen Jahre, die hinter ihm lagen. Wollte er wirklich auf dieser von Dunkelheit und Leere umgebenen Nußschale alt werden, bis er schließlich sterben würde? Nein, seine Entscheidung stand fest. "Sandra?" Noch fiel es ihm schwer, das Mädchen bei seinem Namen zu nennen. "Ja, was ist? Hast du dich entschieden?" Die Stimme klang ein wenig ungeduldig und sehr ängstlich. "Du hast Angst, wieder allein zu sein." Das war weniger eine Frage als eine Feststellung. "Ja, vielleicht. Warum fragst du das?" "Wenn ich mitkomme, werden wir dann zusammenbleiben?" "Ganz sicher, Marian." Die Erleichterung, die in diesen Worten lag, war beinahe greifbar. "Wir sollten uns auf den Weg machen. Es ist bestimmt weit." "Nein, nicht sehr. Der Eingang zu einem der Hauptstollen liegt ganz in der Nähe. Aber du hast ganz recht, wir sollten uns beeilen." Das fluoreszierende Netz änderte plötzlich seine Struktur und verwandelte sich in eine schwach leuchtende Säule, die langsam davonschwebte. Marian beeilte sich, dem Leuchten zu folgen und war nicht im mindesten überrascht, als sie schließlich vor dem Eingang zu einem unterirdischen Tunnelsystem standen. Die schwere Bleitür stand nur einen Spaltbreit offen, gab aber sofort nach, als Marian sich mit seiner gesunden Schulter dagegenstemmte. "Du mußt deine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen lassen, hier unten gibt es kein Licht." flüsterte das Mädchen. "Warum nicht?" "Weil wir ihren Schlaf nicht stören dürfen. Sie sind hier."
"Die in das Dunkel gegangen sind?" erkundigte sich Marian fröstelnd. "Sie waren müde", erwiderte das Mädchen mehr zu sich selbst. "Du, Sandra?" "Ja, Marian?" "Darf ich dich etwas fragen?" "Natürlich, warum nicht?" "Warst du hübsch ... ich meine, warst du ein hübsches Mädchen ... bevor sie dich transformiert haben?" Das Mädchen lachte. "Oh Gott, darauf kannst Du wetten, Marian Namenlos. Sogar im Vergleich mit den Schönheiten auf deinem Lieblingsholo." Marian spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. An den Gedanken, keine Geheimnisse mehr zu haben, mußte er sich erst gewöhnen. "Na los, gehen wir", mahnte das Mädchen. "Sonst stellst du nur noch mehr dumme Fragen." Zögernd folgte Marian der verschwimmenden Gestalt und tastete sich vorsichtig in das Innere des Schachtes. Die Stille und die gespenstische Dunkelheit wischten das Lächeln aus seinem Gesicht. Er dachte an die Seelen der Menschen, die hier, in diesem lichtlosen Labyrinth ihre vielleicht letzte Ruhe gefunden hatten und an die Verse aus Swinburnes "Garden of Proserpine": Then star Nor any Nor sound Nor any sound or sight ...
nor
sun
shall og waters
change of
waken, light; shaken,
Ergriffen lauschte Marian der klaren Stimme des Mädchens, das seinen Gedanken aufnahm und fortsetzte: Nor wintry Nor days Only the In an eternal night.
leaves nor
or things sleep
vernal, diurnal; eternal
Dann fiel die schwere Tür hinter ihnen dumpf polternd ins Schloß, und das Silberlicht der Sterne schien gleichgültig auf das kalte Metall herab, das das Reich des Lebens vom Reich der stillen, barmherzigen Nacht trennte.
Noch bevor die Sonne aufging, kamen die Vögel .... © 1999 by Frank W. Haubold
Der Mann auf der Brücke Ein Märchen Am ersten Tag nahmen die wenigsten von ihm Notiz. In dichten Kolonnen rollten die Wagen von Ost nach West und von West nach Ost. Niemand kümmerte sich um den bärtigen Landstreicher, der winkend auf der Brücke stand und den unten vorübereilenden Wagen Unverständliches zurief. Ja, wenn es wenigstens Kinder gewesen wären, da hätte man schon mal zurückwinken können. Aber ein erwachsener Mann sollte doch wohl Wichtigeres zu tun haben, als auf einer Autobahnbrücke herumzulungern und mit den Armen zu fuchteln ... Am zweiten Tag stand der bärtige Mann noch immer auf der Brücke und winkte den Vorbeifahrenden zu. Einige Pendler, die ihn nun schon zum wiederholten Mal dort stehen sahen, wunderten sich zwar ein wenig, doch schon bald hatten sie den bärtigen Mann wieder vergessen. Am dritten Tag erstattete ein Pendler Anzeige. Es war einer jener Beamten, die in der Fremde Dienst taten, weil man sie zu Hause recht gut entbehren konnte. Der Mann nannte ein wunderschönes Haus sein eigen und eine junge, nicht minder schöne Frau. Da er zwar seinem Haus vertraute, nicht aber seiner Frau, zog er es vor, seine Nächte in ihrer Nähe zu verbringen. Als Beamter schätzte der Mann geordnete Verhältnisse über alles, und deshalb mißfiel ihm der winkende Mann auf der Brücke außerordentlich. Heute fuchtelte der Kerl zwar nur mit den Armen, aber morgen warf er vielleicht schon mit Steinen oder gar Gullydeckeln. Man hörte da so manches ... Auf der Polizeiwache nahm man die Anzeige des pflichtbewußten Beamten mit leisem Unmut zur Kenntnis. Schließlich hatte die Polizei Wichtigeres zu tun, als sich um winkende Landstreicher zu kümmern. Aber der Mann hatte sich mit "Dr. PetersonSchwallbach" vorgestellt und zudem hochdeutsch gesprochen, was bedeutete, daß Ärger ins Haus stand. So fuhr eine knappe Stunde später ein Streifenwagen auf der Brücke vor, besetzt mit zwei Beamten, die den Vorgang aufklären sollten. Der Landstreicher winkte noch immer.
Während der Fahrer im Wagen blieb, stieg der Jüngere aus, tippte dem Bärtigen auf die Schulter und stellte sich vor: "Wachtmeister Jungmann, Guten Tag. Dürfte ich Sie bitten, sich auszuweisen?" "Friede sei mit Euch. Ich bitte um Vergebung, aber ich verstehe Euer Begehr nicht." erwiderte der Landstreicher verwundert. Doch es war nicht nur die merkwürdige Antwort, die den jungen Polizisten verunsicherte. Die Kleidung des Bärtigen wirkte zwar altmodisch, aber keineswegs schmutzig oder verwahrlost. Die klaren, wasserhellen Augen des Fremden musterten den Uniformierten mit ruhigem Interesse, und sein Atem schien keine Spur Alkoholdunst zu enthalten. "Ihren Personalausweis bitte", beharrte der Polizist irritiert. "Wenn Sie sich nicht ausweisen können, müssen wie Sie zur Feststellung Ihrer Personalien mitnehmen." "Das ist schade." entgegnete der Fremde betrübt. "Und wer wird sich in der Zwischenzeit um die Menschen da unten kümmern?" "Was tun Sie überhaupt hier?" erkundigte sich der junge Polizist neugierig. Er war noch nicht lange im Dienst, und eigentlich wäre er viel lieber Lehrer geworden, denn er mochte Kinder. Doch es gab schon zu viele Lehrer im Land, und Polizisten wurden gebraucht. Der junge Mann hatte Frau und Tochter zu ernähren, und so hatte er seine Studienpläne aufgegeben und war Polizist geworden. "Ich wünsche Ihnen Glück auf den Weg", antwortete der Bärtige einfach. "Und daß es ihnen wohl ergehen möge, am Ziel ihrer Reise." "Glück auf den Weg", murmelte der junge Polizist, nachsichtig lächelnd, "Das mag ja noch angehen - bei den vielen Unfällen heutzutage. Aber den Rest können Sie sich sparen. Die meisten da unten sind Vertreter." Der junge Mann hatte vor ein paar Monaten 10.000 Mark bei einem Anlagegeschäft verloren, deshalb schwang in seiner Stimme ein wenig Bitterkeit mit. "Trotzdem müssen Sie sich ausweisen. Besitzen Sie denn keinerlei Papiere?" Der Fremde schüttelte kummervoll den Kopf, ließ sich aber ohne Murren zum Streifenwagen bringen und auf den Rücksitz verfrachten. "Is'n das für'n Vogel?" knurrte der grauhaarige Oberwachtmeister, der schon vor der Wende Dienst getan hatte, desinteressiert und gab Gas. Der Junge antwortete nicht. Er dachte an die bevorstehende Begegnung des Fremden mit seinem Dienststellenleiter, Polizeirat Dieffenbach, und verspürte dabei ein flaues Gefühl in der Magengrube ... Das Verhör des Landstreichers erbrachte erwartungsgemäß kein verwertbares Ergebnis, so daß sich der Wachhabende schweren Herzens entschloß, seinen Vorgesetzten zu
informieren. Polizeirat Dieffenbach, auf so unverhoffte Weise beim Studium der DiensthundeAusbildungs-Richtlinie unterbrochen, reagierte entsprechend gereizt: "Was heißt, der Mann nennt seinen Namen nicht und besitzt keinerlei Papiere? Wollen sie mich auf den Arm nehmen? Jungmann, bringen sie den Kerl rein!" Der junge Polizist beeilte sich, dem Befehl seines Vorgesetzten nachzukommen. Erst als er den Landstreicher vorgeführt und mit einer ungnädigen Handbewegung entlassen worden war, entspannte sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Die Tür zum Büro des Polizeirates war dick gepolstert und verschlang jedes Geräusch. Während die Minuten träge verrannen, verrieten die Züge des Wachabenden die Anspannung eines Sprengmeisters, der gerade den Zünder einer rostigen 12-ZentnerBombe entfernt. Als sich eine Viertelstunde später die Bürotür endlich öffnete, beobachteten die drei Polizisten verblüfft, wie der Polizeirat dem Bärtigen zum Abschied die Hand schüttelte und ihm wohlwollend auf die Schulter klopfte. Nur der starre Gesichtsausdruck und die hektischen roten Flecke auf seinen Wangen verrieten seinen wahren Gemütszustand. "Nehmen Sie bitte noch einmal im Warteraum Platz, Herr ..., meine Mitarbeiter kümmern sich gleich um die Angelegenheit", flötete der Polizeirat und setzte etwas leiser, aber wesentlich bestimmter hinzu: "Wachtmeister Jungmann, in mein Büro!" Mit zitternden Knien betrat der Wachtmeister das Allerheiligste. Polizeirat Dieffenbach wartete geduldig, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, um dann mit überschnappender Stimme loszubrüllen: "Jungmann! Sie haben mir diesen Spinner ins Haus gebracht, jetzt sorgen Sie auch dafür, daß wir ihn wieder loswerden! Schaffen Sie mir dieses Subjekt vom Halse, sonst kann ich für nichts mehr garantieren. Haben Sie das verstanden!?" "Jawohl, Herr Polizeirat!" versicherte der Wachtmeister eifrig. "Aber wohin? ..." "Das ist mir vollkommen gleichgültig. Meinetwegen in die Klapsmühle, wo diese Kerle allesamt hingehören. Wegtreten!" Der junge Polizist salutierte und beeilte sich, die Höhle des Löwen zu verlassen. Merkwürdigerweise zeigte der Landstreicher weder Befremden noch Unmut, als ihn Wachtmeister Jungmann verlegen über die weitere Verfahrensweise aufklärte. Wenig später machten sich die beiden Polizisten mit ihrem Schutzbefohlenen erneut auf den Weg. Vielleicht war es die Aufregung, vielleicht aber auch das Licht der tief stehenden Sonne, die den Fahrer auf dem Weg ins Städtische Klinikum eine auf Rot geschaltete Ampel
übersehen ließen. "Mensch, paß doch ...", rief der Jüngere und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die Front des von rechts heranrasenden Baufahrzeugs. Viel zu spät bemerkte der erschrockene LKW-Fahrer das Hindernis und trat mit aller Kraft das Bremspedal durch, ohne daß sich die Geschwindigkeit des Zwölftonners dadurch merklich verringerte. "Oh, mein Gott", flüsterte der Ex-Volkspolizist am Steuer, dann war der rasende Koloß über ihnen. Im wahrsten Sinne des Wortes allerdings, denn plötzlich lösten sich die riesigen Zwillingsräder des orangefarbenen Kippers von der Fahrbahn. Das tonnenschwere Fahrzeug schwang sich lautlos in die Höhe und setzte mit elegantem Sprung über Kreuzung und Streifenwagen, um einen Augenblick später auf der anderen Seite unversehrt seine Fahrt fortzusetzen. "Was war das?" flüsterte Wachtmeister Jungmann heiser, während sein Herz allmählich wieder zu schlagen begann. "Hast du das gesehen?" Der Fahrer antwortete nicht. Dicke Schweißperlen liefen an seinen Schläfen herab und versickerten in den dunklen Rändern seines Uniformkragens. Der Landstreicher lächelte nachsichtig und ein wenig verlegen. Erst als der grauhaarige Polizist den Wagen jenseits der Kreuzung ausrollen ließ und sein Gesicht schluchzend in den Händen barg, begriff der Jüngere, daß sein Kollege unter Schock stand. "Was ist los mit dir, Gerhard?", erkundigte er sich vorsichtig. "Der Junge ...", stammelte der Grauhaarige mit schreckgeweiteten Augen. "Ich hab ihn gesehen ... vorhin ... als der Laster auf uns zukam." "Welcher Junge?" "Du kennst ihn nicht ... war vor deiner Zeit", brachte der Ältere mühsam hervor und schneuzte in sein schmutziges Taschentuch. "Ich hab ihnen die Wohnung gezeigt ... damals ... als sie ihn abgeholt haben." "Und was ist passiert?" "Er ist nicht wiedergekommen ... Selbstmord ... haben sie gesagt ... er war doch noch ein Junge, verdammt noch mal, ... noch nicht mal sechzehn." Die letzten Worte gingen in erneutem Schluchzen unter. Der Jüngere schwieg verlegen. Er hatte seinen Kollegen nie besonders gemocht, doch jetzt empfand er keinen Groll mehr. Wenn Gerhard schuldig geworden war - damals, vor dem Fall der Mauer, dann hatte er dafür bezahlt, bezahlte noch immer ...
Noch bevor er sich umwandte, um nach dem Landstreicher zu sehen, wußte er, daß der Fond des Streifenwagens leer sein würde. *** Der nächste Morgen sah den Fremden wieder an seinem Platz auf der Autobahnbrücke. Die Wagen rollten von Ost nach West und von West nach Ost, und der bärtige Mann winkte ihnen zu. So blieb es an diesem Tag, dem nächsten und den Tagen darauf, und so geschah es schließlich, daß sich die Kunde vom winkenden Mann im Lande herumsprach. Die Brücke lag fernab der nächsten Autobahnausfahrt, und so fuhren die meisten, die sich für den merkwürdigen Fremden interessierten, nach kurzem Zögern kopfschüttelnd weiter. Doch es gab andere, die nicht so rasch aufgaben. Menschen, die die Stadt ausgestoßen hatte, und andere, die von der Autobahn kamen. Menschen, die der Schlaf floh, und solche, die ihre Träume nicht mehr ertragen konnten. Der Fremde hörte ihnen geduldig zu. Er blieb wortkarg und versprach nichts, doch wenn sie fragten, gab er ihnen Antwort. Die Wagen rollten weiter von Ost nach West und von West nach Ost, und bald machten neue Gerüchte die Runde, die auf den ersten Blick kaum etwas mit dem bärtigen Fremden zu tun hatten. Von einer neuen Bewegung - die Mißtrauischen nannten sie Sekte - war die Rede, deren Anhänger Haus und Besitz im Stich ließen, um sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Wohin, das wußte niemand. Manche gingen allein, andere mit ihren Familien. Wenn sie nach ihrem Ziel gefragt wurden, lächelten sie und gaben Anworten, die kein Mensch verstand. Die Zurückbleibenden tippten sich vielsagend an die Stirn, doch es war keine Freude in ihrem Lachen, und manch einer fand keinen Schlaf mehr in jenen Tagen des Aufbruchs. Auch der junge Polizist hatte sich mit Frau und Kind dem Zug der Pilger angeschlossen. Als sie die Stadt verließen, bemerkte der junge Mann einen Streifenwagen am Straßenrand, seinen Streifenwagen. Der Ex-Wachtmeister winkte seinen ehemaligen Kollegen zum Abschied zu und wunderte sich kaum, als der grauhaarige Fahrer die Tür aufriß, Koppel und Mütze wegwarf und sich nach kurzem Lauf schwer atmend und schwitzend in den Zug der Marschierenden einreihte. "Da bist du ja, Gerhard", lächelte der junge Mann, und mehr war auch nicht zu sagen. © 1999 by Frank W. Haubold
Old man's sunday Es ist warm. So warm, daß ich mich auf eine der Bänke im Schatten zurückgezogen habe, um mein Bier zu trinken. Das Bier ist wunderbar kühl. Es macht Spaß, mit dem Finger über die beschlagene Oberfläche des Glases zu fahren. Ich trinke in winzigen Schlucken, um den Genuß so lange wie möglich auszudehnen. Unten am Fluß toben die Kinder in der weißen Gischt der Stromschnellen. Eigentlich ist es kein richtiger Fluß, der durch den Vergnügungspark fließt, sondern ein mit Softansteinen ausgekleideter künstlicher Kanal. Ein richtiger Fluß wäre viel zu gefährlich, nicht nur wegen der Springmuränen ... Dennoch bin ich gern hier, obwohl ich nicht mehr ins Wasser gehe. Es macht mir Spaß, den Badenden zuzusehen, und das weiß schäumende Wasser erinnert mich an das Bodentalwehr, wo wir uns als Kinder auf den glitschigen Steinen unterhalb des tosenden Wasserfalls ans andere Ufer tasteten, um uns gegenseitig unseren Mut zu beweisen. Manchmal kommt es mir vor, als wäre das in einem anderen Leben gewesen ... Sabrinas Stimme reißt mich aus meinen Betrachtungen. Ich glaube, sie hält mich für schwerhörig, jedenfalls spricht sie so laut, daß sich einige Besucher zu uns umdrehen: "Wir fahren nur mal kurz zu Anja in die Klinik. Bleib ruhig sitzen, wir sind gleich wieder da!" Ich verstehe nicht, wieso der Besuch nicht bis zum Abend warten kann. Früher bekamen die jungen Frauen auch Kinder, ohne sich schon Wochen vorher ins Krankenhaus einweisen zu lassen. "Aber ...", versuche ich zaghaft zu protestieren, doch Sabrina unterbricht mich sofort. Ihre Stimme klingt ungeduldig: "Du mußt wirklich nicht mitkommen, Martin. Wir sind in einer Stunde zurück." Ich bin den Kindern wirklich dankbar, daß sie mich hin und wieder mitnehmen, wenn sie mit den Enkeln in den Park fahren, aber manchmal komme ich mir so verdammt überflüssig vor. "Warte, ich komme mit ..." Aber die vier sind längst fertig umgezogen und streben dem Ausgang zu. Sie drehen sich nicht einmal mehr um. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Woher sollten sie wissen, daß ich nicht allein unter all den fremden Menschen zurückbleiben möchte? Schließlich gehe ich doch die
ganze Woche über kaum aus dem Haus. Als Anna noch da war, waren wir oft hier. Damals habe ich mich auch noch ins Wasser getraut. Manchmal, wenn uns die Strömung plötzlich die Beine weggezogen hat, sind wir prustend und lachend bis hinüber zum Kindersandstrand geschwommen, wo das Wasser flach und ungefährlich ist. Anna fehlt mir. Wie sehr, das begreife ich erst jetzt. Es ist, als hätte mir jemand den Arm abgehackt. Solange man beide Arme besitzt, hält man ihr Vorhandensein für selbstverständlich. Doch es fällt verdammt schwer, mit nur einem Arm zu leben ... Ich trinke mein Bier aus. Ich mag nicht hierbleiben, allein unter all den braungebrannten, fröhlichen Fremden. Ärgerlich ist nur, daß ich meine Schuhe nicht finden kann. Bin ich wirklich barfuß zur Bank gegangen? Wenn ja, dann muß ich sie auf der Decke zurückgelassen haben. Doch die Decke ist natürlich nicht mehr da, Sabrina würde ihre Badesachen niemals unbeaufsichtigt zurück-lassen. Auf mich kann man sich ja nicht verlassen, und das Schlimme ist, sie hat wahrscheinlich recht ... Mein rechter Fuß ertastet schließlich doch noch einen der Schuhe unter der Bank. Es ist der linke, und ich bücke mich, um die Schnürsenkel zuzubinden und gleichzeitig unter den Tisch zu spähen. Der andere Schuh bleibt verschwunden. Das ist wieder eine jener Situationen, die ich verabscheue. So etwas kann nur mir passieren. Natürlich könnte ich ruhig sitzenbleiben und warten, bis die anderen zurückkommen. Ich könnte sogar noch ein Bier trinken. Meine Geldbörse ist ja schließlich noch da. Aber erstens ist es zu warm für ein zweites Bier, und zweitens müßte ich dann zur Toilette ... Also stoße ich meinen Banknachbarn, einen gemütlich ausschauenden, weißbiertrinkenden Mittfünfziger, an und bitte ihn um Hilfe: "Entschuldigen Sie, ich kann meinen Schuh nicht wiederfinden, könnten Sie vielleicht ..." "Klar doch, Opa", ruft der Dicke hilfsbereit und macht sich daran, den Tisch ein wenig nach vorn zu rücken. Darunter ist - nichts. "Tut mir leid, alter Junge", sagt der Dicke und klopft mir wohlwollend auf die Schulter. "aber was is'n das da drüben?!" Und tatsächlich, rechts neben mir auf der Bank - und eigentlich kaum zu übersehen - liegt das vermißte Stück und grinst mich höhnisch an. Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt und bedanke mich verlegen. "Aber nicht doch, Opa!", kräht der Dicke vergnügt. "Das kann doch jedem passieren!" Sein spöttischer Gesichtsausdruck besagt allerdings etwas anderes, aber das kann ich ihm
wohl kaum verübeln ... Verlegen binde ich meinen anderen Schuh zu und verabschiede mich hastig. Die Trompetenstimme des Dicken und das Gelächter der Trinkenden trifft mich wie ein Geschoß zwischen den Schulterblättern und bringt mich beinahe ins Straucheln. Wenigstens ist die Chipkarte noch da, so daß ich den Badepark ohne weitere Zwischenfälle verlassen kann. Bis zur Klinik sind es nur wenige Minuten, wenn man den großen Schrägaufzug des "L & S"-Centers benutzt. Ärgerlich ist nur, daß man in der klimatisierten Eingangshalle des Supermarktes stets mit einem halben Dutzend Verkaufsberater konfrontiert wird, die einen wie die Kletten mit ihren Werbebotschaften verfolgen. Natürlich tun mir die armen Kerle leid, aber ich habe es eilig. Ich schüttele den letzten, einen dürren Jüngling mit den fieberglänzenden Augen des VR-Süchtigen ab und gelange endlich auf eine der Plattformen des Liftes, der sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in Bewegung setzt. Tief einatmend genieße ich den Fahrtwind während des rasanten Aufstiegs der halboffenen Schwebekapsel. Gerade in dem Augenblick, als ich die Hand vom Geländer nehme, um mir die Stirn abzutupfen, setzt der Bremsdruck ein und läßt mich nach vorn stolpern. Ich stoße mit der Stirn gegen das Sicherheitsglas der Kapsel und verspüre einen brennenden Schmerz oberhalb meiner rechten Augenbraue. Obwohl ich sofort meine Hand gegen die Wunde presse, füllt sich mein Auge mit Blut. Ich spüre, wie die klebrige Wärme durch meine Finger sickert und als feuchtes Rinnsal über mein Gesicht läuft. Benommen taumele ich aus der Kapsel und suche vergeblich nach dem Ausgang. Dabei stoße ich gegen den Verkaufswagen einer Kosmetikverkäuferin, die mich erschrocken anstarrt, bevor sie aufkreischt. Jemand ruft nach dem Sicherheitsdienst und nach einem Arzt. Ich mag kein Aufsehen. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen, und so beginne ich zu laufen. Obwohl ich mich nicht umdrehe, bilde ich mir ein, von einer Horde aufgebrachter Menschen verfolgt zu werden, und halte verzweifelt Ausschau nach einer Tür. Da - endlich! Zwar steht da irgendein Warnschild, aber das ist mir in diesem Augenblick völlig gleichgültig. Die Tür öffnet sich zwar nicht automatisch, schwingt jedoch nach außen auf, als ich den Riegel nach unten drücke und mich mit aller Kraft dagegenstemme. Ich bin frei! Trotzdem laufe ich noch ein paar Dutzend Meter weiter und vergewissere mich, daß mir
niemand folgt. Schwer atmend schaue ich mich um und versuche mich zu orientieren. Offenbar befinde ich mich im Entsorgungsbereich des Supermarktes. Die schmale Zufahrtsstraße säumen Dutzende Abfallcontainer und riesige Leergutstapel. Es riecht nach schalem Bier und verdorbenem Obst. Ich hole ein Kleenex aus der Tasche und tupfe vorsichtig die Wunde an meiner Augenbraue ab. Sie blutet kaum noch, schmerzt aber noch immer. Ich würde mir gern das Gesicht waschen, möchte aber um keinen Preis zurück in das Gebäude. Also mache ich mich auf den Weg zur Hauptstraße, der durch ein Wäldchen, oder vielmehr eine Ansammlung größerer Büsche führt. Ein glucksendes Geräusch erregt meine Aufmerksamkeit, und ich folge einem verwilderten Trampelpfad, der mich zu einem winzigen Bächlein führt. Das Gewässer ist überraschend klar, und so zögere ich nicht, meine Hände einzutauchen, um Wasser zu schöpfen. Der Schmerz verbrennt meine Handgelenke, bevor ich die beiden Kreaturen überhaupt sehen kann, die wie silbrige Schatten aus dem Bachbett geglitten sind und sich in das Fleisch meiner Unterarme vergraben haben. Ich schreie und schlage wie wild um mich, obwohl ich weiß, daß es sinnlos ist. Springmuränen lassen sich lieber in Stücke schneiden, als ihr Opfer freizugeben. In diesem Augenblick bedaure ich, daß sie dem verrückten Dreckskerl nur Lebenslänglich gegeben haben, der diese Teufelsbrut auf die Menschheit losgelassen hat ... Ich schreie, weil es den Schmerz lindert. Irgendwo habe ich gelesen, daß es nicht lange dauern soll, aber das ist ein schwacher Trost. Allmählich läßt der Schmerz nach und weicht einem angenehmen Schwindelgefühl. Erschöpft schließe ich die Augen und sehe IHN. Ich habe oft von ihm geträumt, nach Annas Tod beinahe jede Nacht. Jetzt, da er aus dem Schatten tritt, sehe ich zum ersten Mal seine Augen und frage mich, weshalb ich mich so vor ihm gefürchtet habe ... Weshalb nur? ... wes ... © 1999 by Frank W. Haubold
Das Große Rennen Sein So Ihm Und
Blick ist vom müd geworden, daß ist, als ob es hinter tausend
Vorübergehn der er nichts mehr tausend Stäbe Stäben keine
Stäbe hält. gebe Welt.
Rainer Maria Rilke Der Mann lief. Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen. Immer der gleiche Rhythmus. Wenn er ihn änderte, bekam er mit Sicherheit Seitenstechen. Der Mann wußte nicht, wie lange er schon lief, und er wußte auch nicht, wie lange er noch würde laufen müssen. Es gab nur diesen Tag, und es gab nur diese Etappe. Natürlich wußte der Mann, daß das Rennen irgendwann zu Ende sein würde, doch er hatte längst aufgehört, nach dem Ziel zu fragen. Die Antwort war ohnehin immer gleich: Kopfschütteln und erstaunte Blicke. Niemand fragte nach dem Ziel. Erst recht niemand, der schon so lange unterwegs war wie er. Wenn der Mann sich mit den anderen Läufern seines Teams unterhielt, dann nur über Dinge, die eigentlich ohne Belang waren. Über die Qualität der Getränke an der Verpflegungsstelle zum Beispiel oder darüber, was sie am nächsten Ruhetag unternehmen würden. Auch über die Unterkünfte wurde gesprochen, und wie großartig die Aussicht von den höheren Stockwerken sei. Dabei spielte die Aussicht überhaupt keine Rolle, denn wenn die Läufer am Abend mit schmerzenden Gliedern ihre Quartiere erreichten, war die Sonne längst untergegangen ... Über die Schmerzen in seiner Lunge und die Schwindelanfälle nach steilen Anstiegen sprach der Mann nie. Auch das hatte er gelernt. Wer Schwäche zeigte, machte sich angreifbar. Normalerweise lief sein Team nicht übermäßig schnell, doch wenn einer der Läufer Schwierigkeiten bekam und langsamer wurde, zogen die Führenden das Tempo beinahe automatisch an, bis der Betreffende den Anschluß verloren hatte. »Bei uns ist kein Platz für Schwächlinge«, sollte das wohl heißen, und der Mann richtete sich danach. Manchmal, wenn sie abgeschlagene Läufer voranlaufender Gruppen überholten, empfand der Mann so etwas wie Schadenfreude. Meist waren es ältere Männer, die dem Tempo der Jüngeren nicht mehr gewachsen waren. Sie trabten mit schmerzverzerrten Gesichtern und traurigen Augen die Straße entlang und blieben nur deshalb nicht stehen, weil sie sich schämten. Wenn sie
schließlich zusammenbrachen, waren die Sanitäter rasch zur Stelle und schafften sie weg. Wohin, darüber hatte sich der Mann früher oft den Kopf zerbrochen, bis er schließlich begriffen hatte, daß auch das ohne Belang war. Wer nicht mehr laufen konnte, war aus dem Rennen. Punkt und aus. Doch es gab auch noch andere, deren Verhalten dem Mann Rätsel aufgab. Läufer, denen körperlich nichts zu fehlen schien, und die dennoch das Rennen aufgaben. Männer mit zornigen Augen, die plötzlich stehenblieben und die Kampfrichter beschimpften. Manchmal versuchten sie sogar, andere Läufer aufzuhetzen, doch dann waren meist schon die Streckenposten vor Ort und sorgten für Ordnung. Wenn der Mann etwas bewunderte, dann war es die Organisation des Rennens. Es gab Verpflegungsstände, Streckenposten, Sanitäter, Kampfrichter und ein Komitee, das dafür sorgte, daß die Quartiere exakt nach der jeweiligen Plazierung vergeben wurden. Jedenfalls glaubte der Mann das. Nach jeder Etappe passierten die Läufer zunächst eine Versorgungsstelle und fuhren dann mit dem Lift in ihre Quartiere, wo ihre Familien auf sie warteten. Die Spitzenläufer in die obersten Etagen und die Nachzügler in die engen, stickigen Unterkünfte im Keller. Wie viele Ebenen es gab, wußte niemand. Die Spitzenläufer kannte der Mann nur vom Hörensagen, und ihre Namen wurden stets mit Ehrfurcht ausgesprochen. Früher war der Mann noch ehrgeiziger gewesen, hatte geglaubt, eines Tages zu den Gewinnern gehören zu können. Damals war er oft bis zur Erschöpfung gelaufen, hatte viele Läufer überholt und sich niemals umgeschaut. Bis Lena ihn verlassen hatte. Der Mann war erstaunt und beleidigt gewesen, denn eigentlich hatte er es ja nur für sie getan. Schließlich hatte er dafür gesorgt, daß sie die unteren Ebenen verlassen und eine menschenwürdige Unterkunft bewohnen durften. Erst später begriff er, daß ihm das Rennen die ganze Zeit über wichtiger gewesen war als alles andere. Und daß Lena deshalb gegangen war ... Doch das Rennen ging weiter, und dem Mann blieb wenig Zeit, sich über das Geschehene Gedanken zu machen. Er lernte Anna kennen, sie mochten einander, und so zog er schließlich mit ihr und den Kindern zusammen. Im übrigen lief er. Die Kinder wurden erwachsen und heirateten, und der Mann lief weiter. Er hatte sich längst damit abgefunden, nicht zu den Spitzenläufern zu gehören. Mittlerweile hatte er sich sogar daran gewöhnt, überholt zu werden, war es doch nur natürlich, daß Jüngere schneller und ehrgeiziger waren als er. Auf die Idee, das Rennen aufzugeben, kam der Mann jedoch nie.
Er lief weiter, egal ob es regnete oder die Sonne vom augustblauen Himmel brannte. Schließlich brach er an einem der steileren Anstiege zusammen, und die Sanitäter bekamen Arbeit. Der Wettkampfarzt meinte, sein Blutdruck sei etwas zu hoch und verschrieb ihm Tabletten für sein Herz. Die meisten Läufer hätten hin und wieder Kreislaufprobleme, und ein Grund zur Aufgabe sei das noch lange nicht. Der Mann schüttelte dem Arzt dankbar die Hand, nahm seine Tabletten und lief weiter. An einem der seltenen Ruhetage besuchte der Mann seine Eltern und stellte erschrocken fest, daß sie alt geworden waren. Irgendwann hatte sein Vater das Rennen aufgegeben, ohne daß der Mann davon erfahren hätte. Sie lebten still und zurückgezogen, und es gab wenig, worüber sie sich noch freuen oder empören konnten. Ihre Gleichgültigkeit machte den Mann nachdenklich und ein wenig traurig. Er begann, die anderen Läufer genauer zu beobachten, und wenn er in ihren Augen einen Funken Nachdenklichkeit oder Interesse entdeckte, sprach er sie an. Die Gespräche bestätigten ihm, was er längst geahnt hatte. Niemand wußte, wo das Ziel war und wie es aussah. Manche glaubten daran, andere nicht. Jetzt begann er auch die Männer mit den zornigen Augen zu verstehen. Wenn es kein Ziel gab, wozu sollte man dann noch laufen? Doch dem Mann fehlte der Mut, es ihnen gleichzutun. Noch hatte er etwas zu verlieren. Er hatte keine Sehnsucht nach schmutzigen, verräucherten Kellern, Ausnüchterungszellen und Schlafkumpanen mit alkoholgeschwängertem Atem. Während er lief, dachte er darüber nach, wie wohl die Landschaft hinter den bunten Werbetafeln und grauen Betonmauern aussehen mochte. Er erinnerte sich daran, wie sie als Kinder manchmal über die Fangzäune geklettert und in den Wald gelaufen waren. Mit klopfenden Herzen waren sie unter das schützende Dach der riesigen Fichten eingetaucht, wo es selbst im Hochsommer angenehm kühl war und ganz anders roch als in der Stadt. Manchmal hatten sie über das Rennen gesprochen. Über Läufer, deren Namen heute kaum noch jemand kannte, und über die Siege, die sie erringen würden, wenn sie erst alt genug wären, um mitlaufen zu dürfen. Ob es ihn wohl noch gab, diesen Wald der großen Verheißungen? Der Mann lief immer weiter. Doch er hörte nicht auf, Fragen zu stellen. Sich selbst und anderen. Er hatte so viel nachzuholen ... Wenn er jetzt einen der erschöpften, mutlosen Männer überholte, die so lange an der Spitze gelaufen waren, empfand er keine Schadenfreude mehr, sondern nur noch Mitleid. Und wenn die Jüngeren, Ehrgeizigen mit keuchendem Atem an ihm vorbeizogen, lächelte
er nachsichtig und machte ihnen Platz. Er wußte längst, daß die Zeit seiner Erfolge - oder dessen, was er dafür gehalten hatte - vorbei war. Dennoch lief er weiter. Seine Lungen schmerzten, und an den Anstiegen wurde ihm schwindlig. Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen. Immer der gleiche Rhythmus. Stunde reihte sich an Stunde, Tag an Tag, Monat an Monat, bis etwas geschah. *** Normalerweise schlief der Mann tief und traumlos, doch in jener Nacht wachte er plötzlich auf und fand sich auf der Rennstrecke wieder. Er lag hilflos am Boden und starrte nach oben auf die Gesichter der vorbeiziehenden Läufer. Die wenigsten nahmen Notiz von ihm, wenn man von der Tatsache absah, daß sie einen kleinen Bogen liefen, um ihm nicht zu nahe zu kommen. Der Mann versuchte, sich aus seiner demütigenden Lage zu befreien und stellte erschrocken fest, daß er außerstande war, sich zu bewegen. Das Unheimliche daran war, daß er die Kontrolle über seinen Körper so vollkommen verloren hatte, daß er ihn nicht einmal mehr spürte. Niemand schien sich um ihn zu kümmern, und es war kalt. Trotz unzähliger Etappen, die er bei Schnee und Eis zurückgelegt hatte, konnte der Mann sich nicht erinnern, jemals so gefroren zu haben. Möglicherweise waren seine Glieder längst abgestorben, aber woher kam dann das Gefühl der Kälte? Und wo blieben die Sanitäter? Es gab nichts außer den trommelnden Schritten der Vorbeilaufenden, der Kälte und seiner Angst. Ängste waren dem Mann durchaus vertraut, hatten ihn sein Leben lang begleitet: Die Angst vor dem Versagen, vor einem Sturz, vor Krankheiten und vor dem Tod. Doch im Grunde seines Herzens hatte er immer daran geglaubt, daß letztlich alles gut werden würde. Jetzt - während sich die Kälte in seinen Körper fraß - war er sich dessen allerdings nicht mehr so sicher. Das flackernde Blaulicht eines rasch näherkommenden Rettungswagens riß den Mann aus seinen Überlegungen. Also waren die anderen doch nicht so gleichgültig, wie er befürchtet hatte. Erwartungsvoll schaute er den beiden Sanitätern mit ihren signalroten Westen entgegen,
bis er ihre Gesichter sah. Es waren die Gesichter von Männern, die eine lästige Pflicht zu erfüllen hatten, und in ihren Augen stand keinerlei Mitgefühl. Der Kleinere, ein muskulöser Gnom mit dem hochroten Gesicht des Hypertonikers, griff nach dem Handgelenk des Mannes, während der andere ihm mit einer kleinen Stablampe in die Augen leuchtete. Keiner der beiden machte Anstalten, mit ihm zu sprechen. Als sie ihre flüchtige Untersuchung beendet hatten, entfernte sich der Kleinere mit einem Achselzucken und kehrte wenig später mit einer fahrbaren Trage zurück. Mit geübten Handgriffen ließen die beiden das Oberteil herab, packten den Mann grob an Schultern und Füßen und bugsierten ihn ohne besondere Anstrengung auf die Liegefläche. Auf dem Weg zum Rettungswagen fragte sich der Mann besorgt, weshalb er trotz der rüden Behandlung keinerlei Schmerz verspürt hatte. Und was bedeutete das Achselzucken des Sanitäters? Eine düstere Ahnung schlich sich in das Bewußtsein des Mannes, aber noch vermochte er sich zu beruhigen. Wenigstens haben sie mich nicht einfach liegen lassen ... Die Fahrt im Rettungswagen war nur kurz und endete in einem flachen, fensterlosen Gebäude, das keineswegs wie ein Krankenhaus aussah. Ein flaues Gefühl machte sich im Magen des Mannes breit. Zwei Männer in grauen Overalls eilten dem Rettungswagen mit einem blitzenden Gefährt entgegen, das nur wenig Ähnlichkeit einem Patientenliege auswies. Genausowenig wie die beiden Männer wie Ärzte aussahen ... »So, jetzt geht's ab in die Kiste, Opa«, murmelte der Gnom zufrieden, während er die Transportgurte um Brust und Beine des Mannes löste. »Was soll das?« rief der Mann verzweifelt, als er erkannte, was die vermeintliche Liege in Wirklichkeit darstellte - eine fahrbare Leichengondel aus Edelstahl, wie sie üblicherweise in der Pathologie verwendet wurde! Die Tatsache, daß er seine eigene Stimme nicht hören konnte, schockierte den Mann mehr als das Geschehen um ihn herum. Die beiden Sanitäter hatten ihn mittlerweile vom Wagen gehoben und hinüber zu den Wartenden gebracht. »Nummer 46 heute«, knurrte der Rotgesichtige und verzog angewidert das Gesicht, »wenn das Komitee nich bald mit 'ner Prämie rüberkommt, kann es sich die Jungs bald selber von der Straße kratzen.« »Mach's halblang, Schorsch«, entgegnete einer der Graugekleideten gelassen. »Her mit dem Himmelsstürmer. Zeit ist Geld.« Rasch hatten die beiden »Sanitäter« die Trage angehoben und umgekippt, so daß der Körper des Mannes schwer auf dem Boden der Edelstahlwanne aufschlug.
Der Mann wunderte sich nicht darüber, daß er trotz des harten Aufpralls keinerlei Schmerz empfand. Er hatte begriffen, was es mit der Kälte auf sich hatte und weshalb man ihn so rüde und gleichgültig behandelte. Vor allem aber wußte er jetzt, was es mit dem Großen Rennen auf sich hatte. Es gab keine Sieger und auch keine Verlierer. Am Ende - dem einzig realen Ziel - waren sie alle gleich ... Die Kälte hatte seine Widerstandskraft gebrochen. Gleichgültig registrierte er, wie ihm die Graugekleideten Identitätskarte und Ehering abnahmen und ihn in einen düsteren Vorraum schoben, der nach heißem Maschinenöl roch. Das einzige Geräusch, das der Mann in den nächsten Minuten hörte, war ein dumpfes Fauchen, dessen Ursprung er vergeblich zu erraten suchte. Erst als sich das stählerne Tor vor ihm quietschend öffnete und der rötliche Widerschein der rauschenden Flammen den Raum erfüllte, begriff er und begann tonlos zu schreien. Die Furcht raubte ihm jede Besinnung und fraß sich mit den Flammen in sein Bewußtsein, bis ihn der Gong der Weckanlage aus seinem Alptraum riß. *** Am Morgen danach verhielt sich der Mann anders als sonst. Statt sich um seine Ausrüstung zu kümmern, stand er reglos am Fenster und wartete stumm, bis die blasse Morgensonne über den grauen Dächern der Stadt auftauchte. Er dachte darüber nach, daß er all die Jahre nie einen Leichenwagen entlang der Rennstrecke gesehen hatte. Er dachte an die Müllers von nebenan, die von einem Tag auf den anderen verschwunden und auch in keinem der benachbarten Stockwerke wieder aufgetaucht waren. Vor allem aber dachte er über das flache, fensterlose Gebäude am Stadtrand nach, aus dessen Schornstein Tag für Tag große, dunkle Rauchwolken krochen ... Während des Frühstücks aß der Mann nur wenig, und seine hellen Augen starrten Anna so unverwandt an, daß sie sich verlegen abwandte. Als er seine Frau zum Abschied küßte und die Tür hinter sich schloß, wußte sie, daß er nicht zurückkommen würde. Sie spürte ihre Kehle eng werden und ein merkwürdiges Brennen in den Augen. Doch erst als sie im Bad stand und in den Spiegel sah, bemerkte sie die Tränen. Anna konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte, aber die Tränen, denen sie jetzt freien Lauf ließ, taten ihr gut. Sie dachte an die Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, und daran, daß es gute Jahre gewesen waren. Doch das war Vergangenheit, und sie mußte an die Zukunft denken. Nicht nur an ihre eigene, sondern vor allem an die der Kinder, deren Karriere jetzt auf dem Spiel stand ...
Als sie sich beruhigt hatte, wischte sie die Spuren ihrer Tränen ab und legte ein wenig Rouge auf. Dann lief sie zur Sprechanlage und ließ sich mit dem Sicherheitsdienst verbinden: »Ja, hallo, hier ist Anna Pieroth, Appartement Nr. 14302 ... ja ... es gibt ein Problem ...« *** An diesem Morgen erschien der Mann zu spät am Start. Er ignorierte die vorwurfsvollen Blicke der anderen Läufer seines Teams, das nur vollzählig starten durfte. Eine Regelung, die dazu beitrug, daß Verspätungen einzelner Läufer die Ausnahme waren. Das Team fand immer einen Weg, Verfehlungen dieser Art auf mehr oder weniger subtile Weise zu ahnden. Der Mann würde ein sehr einsames Rennen laufen müssen, aber das kam ihm nicht einmal ungelegen ... Einige Kilometer nach dem Start ließ sich der Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht zurückfallen. Erwartungsgemäß verschärften die Führenden sofort das Tempo, um ihm die Möglichkeit zu nehmen, die Lücke zu schließen. Sie verhalten sich wie Kinder, dachte der Mann bekümmert. Oder - schlimmer noch - wie Marionetten, denen man einen Chip mit den Spielregeln des Großen Rennens eingepflanzt hat. Aber noch hielten sie ihn für einen der Ihren ... Solange die anderen Läufer in Sichtweite blieben, simulierte der Mann von Zeit zu Zeit ein steifbeiniges Humpeln, als plage ihn eine Zerrung am Oberschenkel. Dabei musterte er aufmerksam die seitlichen Begrenzungen, bis schließlich eine mit Strauchwerk bewachsene Böschung die Eintönigkeit der grauen Betonmauern durchbrach. Der Mann blickte sich aufmerksam nach allen Seiten um, bevor er sich an den Aufstieg machte. Obwohl der nächste Kontrollpunkt nach seiner Erfahrung noch kilometerweit entfernt war, mußte er damit rechnen, daß plötzlich einer der mobilen Streckenposten auftauchte, die mit ihren weißem Motorrädern die Läufer begleiteten. Doch zunächst blieb alles still. Dennoch gestaltete sich der Aufstieg schwieriger, als der Mann erwartet hatte. Das Strauchwerk erwies sich als dichtes Dornengestrüpp, das blutige Kratzer auf seiner Haut hinterließ und ihn mit tückischen Fußangeln mehr als einmal ins Stolpern brachte. Zudem näherten sich immer wieder abgeschlagenen Läufer seinem Standort, die ihn veranlaßten, den Aufstieg zu unterbrechen und Deckung zu suchen. Eine eher überflüssige Vorsichtsmaßnahme, denn die Nachzügler hielten ihren Blick starr auf die vor ihnen liegenden Strecke gesenkt, einzig beherrscht von dem Bemühen, einen Rückstand aufzuholen, der nicht mehr aufzuholen war. Als der Mann schließlich das Ende der Steigung erreicht hatte, hämmerte der Puls wild und unregelmäßig in seinen Schläfen, und vor seinen Augen tanzten farbige Schleier.
Erschöpft ließ er sich zu Boden fallen und wartete, bis sich sein Herzschlag ein wenig beruhigt hatte. Schwer atmend richtete er seinen Blick auf die Landschaft jenseits des Fangzaunes, der Böschung und Rennstrecke vom Umland trennte. Auf den ersten Blick hatte das ausgedörrte Weideland vor ihm wenig Verlockendes an sich, wenn da nicht dieser herbtrockene Heugeruch gewesen wäre, der verloren geglaubte Erinnerungen weckte. Erinnerungen an eine Zeit, in der das Große Rennen noch als etwas Fernes, aber ungemein Erstrebenswertes erschienen war. Erinnerungen an verbotene Ausflüge über die ausgetrockneten Stoppelfelder in den nahegelegenen Wald, die stets an einem verstohlenen - nach Indianerart beinahe rauchlosen - Lagerfeuer endeten. Der Mann schirmte seine Augen mit beiden Händen gegen die aufsteigende Sonne ab und glaubte - wenn er sich dessen auch nicht völlig sicher war -, die Konturen ferner Baumwipfel am dunstigen Horizont zu erkennen. Er hatte bei seiner Flucht keinen bestimmten Plan verfolgt, doch von diesem Augenblick an übte der dunkle Streifen des vermeintlichen Waldes eine beinahe unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Zunächst aber mußte er den Fangzaun überwinden, der aus einem silbrig glänzenden Metallgeflecht bestand und in der Höhe von mehreren Reihen Stacheldraht gesichert wurde. Wer soll hier eigentlich vor wem geschützt werden? fragte sich der Mann, während er sein Laufdress auszog und in Streifen riß. Er umwickelte seine Hände mit den Stoffstreifen und machte sich daran, das Hindernis zu überklettern. Anfangs erleichterte die stabile Konstruktion des Zaunes sein Vorhaben, bis er den Stacheldraht erreicht hatte und gezwungen war, sich mit den Füßen über die oberen Drähte zu tasten. Obwohl er nur einen Teil seines Körpergewicht kurzzeitig auf die Hände verlagern mußte, bohrten sich die zentimeterlangen Edelstahlspitzen tief in seine nur unzureichend geschützten Handflächen. Der Mann ignorierte die klebrige Wärme, die sich unter seinen Händen ausbreitete, und wuchtete seinen Körper mit einer letzten Anstrengung über das Hindernis. Einen Augenblick lang fürchtete er, das Bewußtsein zu verlieren, bis seine Füße endlich Halt fanden, und der brennende Schmerz ein wenig nachließ. Vorsichtig befreite der Mann seine blutenden Hände aus dem Drahtverhau und hatte Sekunden später wieder sicheren Boden unter den Füßen. Er hatte es geschafft. Der Mann war verletzt und zum Umfallen müde. Er besaß nichts außer einem Paar Laufschuhe und den zerrissenen Resten seiner Kleidung. Er wußte nicht, woher er die nächste Mahlzeit bekommen würde, ganz zu schweigen von einem Nachtquartier. Dennoch fühlte er sich großartig. Zum ersten Mal seit seiner Kinderzeit hatte er etwas
getan, das völlig irrational war, und vielleicht war gerade das die Ursache seiner Euphorie. Doch noch war keine Zeit zum Ausruhen. Wenn er den schützenden Wald noch vor dem Abend erreichen wollte, mußte er sich auf den Weg machen. Der Mann atmete tief durch und tat das, was er sein Leben lang getan hatte. Er begann zu laufen. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob der dunkle Waldstreifen - der auf schwer zu erklärende Weise zum Ziel seiner Sehnsucht geworden war - fünf, zehn oder zwanzig Kilometer entfernt war. Der Mann war ein geübter Läufer, und seine Beine fanden ihren Rhythmus wie von selbst. Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen. Allmählich begannen die Wunden an seinen Händen zu verschorfen, doch der Mann empfand nicht mehr als ein dumpfes Ziehen, das sein Hochgefühl kaum beeinträchtigen konnte. Er genoß den intensiven Duft nach Heu und trockenen Kräutern und lauschte dem geschäftigen Summen ganzer Heerscharen unsichtbarer Insekten. Es schien, als hätten sich seine Sinne mit der Flucht über den Fangzaun geöffnet. In dieser neuen, unbekannten Welt roch die warme Augustluft nicht nur anders, sie schmeckte auch anders, fühlte sich anders an. Sie schmeichelte seinen Sinnen ebenso wie die weiche Grasnarbe unter seinen Füßen, die seine Schritte kraftvoll und federnd erscheinen ließ. Der Mann lief wie in Trance und wunderte sich nur ein wenig darüber, daß der dunkle Streifen am Horizont nicht näherrücken wollte. Die Sonne stieg höher, erreichte ihren Zenit und versank am Abend träge in einem kupferfarbenen Flammenmeer. Der Mann lief. Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen. Als sein Herz aufhörte zu schlagen, verlor der Mann fast augenblicklich die Kontrolle über seinen Körper. Er taumelte noch ein paar Schritte weiter, stolperte und fiel schließlich in eine Kuhle aus trockenem, weichen Gras. Zu weit ... müde ... muß schlafen, dachte der Mann in einem letzten Aufflackern seines Bewußtseins, aber morgen ... Dann starb er und hatte schließlich doch noch den stillen, dunklen Streifen am Horizont
erreicht, nach dem er sich ein Leben lang gesehnt hatte. Die Suchmannschaften des Komitees fanden nie eine Spur von ihm. © 1999 by Frank W. Haubold
Der Duft der schwarzen Rosen (Leseprobe) Als der Mann sein Hotelzimmer betrat, bemerkte er die Veränderung sofort. Der Blütenduft war zu intensiv, beinahe aufdringlich. Noch bevor er den prachtvollen Rosenstrauß auf der Kommode entdeckt hatte, wußte er, daß etwas nicht stimmte. Das "Mercure Inn" war ein City-Hotel, daß er nicht nur wegen der Nähe zum Veranstaltungsort, sondern auch wegen seiner absoluten Austauschbarkeit gewählt hatte. Hier übernachteten Geschäftsleute und ein paar ältere Touristen, die nicht auf den Preis ihrer Unterkunft achten mußten. Für Verliebte oder Flair-Touristen war der zwanziggeschossige Beton-Glas-Komplex mitten im Zentrum entschieden zur prosaisch. Die Küche im hoteleigenen Restaurant war erträglich, aber keineswegs exklusiv, ähnliches galt für den Zimmerservice. Der Mann neigte zudem nicht dazu, sich die Aufmerksamkeit des Personals durch überreichliche Trinkgelder zu erkaufen. Kurzum, das "Mercure Inn" war kein Hotel, in dem der Durchschnittsgast - und nichts anderes war Salvatore Delgado - ohne triftigen Anlaß mit Aufmerksamkeiten überhäuft wurde. Für die einzige Annehmlichkeit, die sich Salvatore in Etablissementen dieser Art leistete, war eine Agentur zuständig, deren Instruktionen auch in dieser Beziehung äußerst präzise waren ... Nachdenklich nahm Salvatore das ungewöhnliche Präsent näher in Augenschein. Es waren etwa zwei Dutzend langstieliger roter Rosen, die einen so intensiven Duft ausstrahlten, daß Salvatore husten mußte, als er an den Blüten roch. Einen Augenblick lang war er sich nicht einmal mehr sicher, ob der schwere, süßliche Duft überhaupt zu den zarten, fast noch geschlossenen Rosenknospen paßte. Eine flüchtige Erinnerung drängte sich in sein Bewußtsein, nicht mehr als ein dunkler, kalter Schatten, aber in jedem Fall unangenehm. Das Fehlen einer Karte oder sonstigen Nachricht des Überbringers verstärkte Salvatores Unbehagen. Er mußte der Angelegenheit auf den Grund gehen. Er ließ den Etagenkellner kommen, und erhielt die Antwort, die er erwartet hatte. Das
Hotel hatte mit den Blumen nichts zu schaffen. Natürlich hatte der kleine, ewig lächelnde Filipino nichts Verdächtiges bemerkt - diese Sorte würde auch nichts bemerkt haben, wenn ein Trupp Vampire auf dem Flur mit Menschenköpfen Fußball gespielt hätten -, so daß Salvatore sein Glück an der Rezeption versuchen mußte. Der Mann an der Rezeption gefiel Salvatore auf Anhieb. Er war schon älter, sicherlich weit über die Fünfzig, und seine flinken, hellen Augen musterten den Gast mit ruhigem Interesse. Es gab nur zwei Fahrstühle im Foyer, und beide lagen im Blickfeld des grauhaarigen Mannes. "Was kann ich für Sie tun?" erkundigte sich der Empfangschef in perfektem Englisch. "Ich bin ein wenig ratlos", erwiderte Salvatore wahrheitsgemäß. "Jemand hat etwas, sagen wir: ein Geschenk, in meinem Zimmer hinterlassen, und ich habe keine Vorstellung, wem ich diese Aufmerksamkeit verdanke." "Zimmer 618?" erkundigte sich der Grauhaarige nach einem Blick auf Salvatores Schlüsselanhänger und warf einen Blick auf seinen Monitor. "Kein Eintrag. Muß jemand von außerhalb gewesen sein. Ungewöhnlich ..." Plötzlich schien ihm etwas einzufallen: "Handelte es sich bei diesem ... äh ... Präsent ... um einen Strauß Rosen, roter Rosen?" "Sie sagen es", erwiderte Salvatore gespannt. "Ungewöhnlich ... sehr ungewöhnlich", erwiderte der Empfangschef nachdenklich. "Ich hätte darauf gewettet, daß die Kleine mit den Blumen zu Ihnen gehört. Die gleichen Augen, das gleiche dunkle Haar. Sie sah ... entschuldigen Sie ... so italienisch aus. Und Sie hatten Ihren Zimmerschlüssel nicht abgegeben, so daß ich annahm, Sie wären auf Ihrem Zimmer." "Ich war im Konferenzraum", versetzte Salvador eine Spur zu hastig. "Die Jahrestagung der Eurimpex, wie Sie vielleicht wissen. Wie alt war denn das Mädchen, das die Blumen gebracht hat?" "Sehr jung, acht oder neun Jahre vielleicht ...", erwiderte der Grauhaarige nervös. "Es tut mir leid, wenn Sie durch meine Schuld Ungelegenheiten hatten. Aber, Moment mal, wenn Sie nicht in Ihrem Zimmer waren, dann konnte sie doch gar nicht hinein?!" "Sollte man meinen", bestätigte Salvatore. "Könnte irgend jemand vom Personal sie ins Zimmer gelassen haben? Ich meine ... wo sie doch so italienisch aussah." "Auf keinen Fall", erwiderte der Empfangschef und griff nach dem Telefon. Salvatore verstand nicht viel von dem halblaut geführten Gespräch, nahm aber an, daß der Grauhaarige sich den Filipino vorgenommen hatte.
Das Ergebnis war in jedem Fall unbefriedigend. "Der Etagenkellner schwört, niemandem aufgeschlossen zu haben. Soll ich die Polizei rufen?" "Nein, um Himmels willen", wehrte Salvatore gestenreich ab. "Schließlich ist ja nichts gestohlen worden." "Wie Sie meinen, Signor Delgado. Kann ich noch etwas für Sie tun?" "Nein ... oder vielmehr doch", Salvatore hatte Mühe, seine Frage in Worte zu fassen. "Wissen Sie noch, was das Mädchen anhatte ... ich meine, wie ihr Kleid aussah?" "Merkwürdig, daß Sie danach fragen", die hellen Augen musterten Salvatore nachdenklich, "Ich erinnere mich ziemlich genau, denn es erschien mir, nun sagen wir, etwas ungewöhnlich für ein so junges Mädchen. Aber ich bin mir ganz sicher, ihr Kleid war schwarz ... Signor, ist ihnen nicht gut?" Aber Salvatore hatte sich schon wieder gefangen. Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, und er brachte es sogar fertig, sich zu bedanken und einigermaßen würdevoll zum Aufzug zurückzuziehen. Salvatore war kein Trinker. Dennoch füllte er, kaum in sein Zimmer zurückgekehrt, den Inhalt mehrerer Fläschchen aus der Minibar in ein Wasserglas, das er in einem Zug austrank. Es half wenig. Der Alkohol dämpfte zwar den Schock, doch die Bilder blieben. Er sah die beiden in Schwarz gekleidete Gestalten deutlich vor sich. Sie verharrten reglos vor einer Grabstelle, auf der die Blumen und Gestecke bereits zu welken begannen. Obwohl kein Stein auf die Identität des Verstorbenen hinwies, wußte Salvatore, wer dort begraben war. Mario Santini, der einzige Sohn von Bernardo Santini - Unfall mit Fahrerflucht ... Im Schutz der blühenden Rhododendren hatte sich Salvatore den beiden genähert und getan, was getan werden mußte. Alles war den Regeln gemäß verlaufen. Anna und Bernhardo Santini hatten weder geschrien noch versucht wegzulaufen. Er hatte sie nicht in den Rücken schießen müssen. Fast schien es, als hätten sie ihn erwartet. Um so überraschter war Salvatore, als plötzlich das Mädchen vor ihm stand. Es trug ein schwarzes Kleid und verschwand fast hinter dem riesigen Rosenstrauß, den es in seinen Armen hielt. Salvatore hatte es nicht kommen sehen, und das bedeutete, daß er einen Fehler begangen hatte. Einen verhängnisvollen Fehler sogar, denn das Mädchen gehörte nach seinen Informationen nicht zur Familie. Sein Auftrag galt ausschließlich dem Ehepaar Santini, nicht einem wildfremden Mädchen, das sich aus irgendwelchen Gründen auf dem Friedhof herumtrieb. Doch jetzt war es kein harmloses Kind mehr, sondern eine Zeugin - durch seine Schuld. Obwohl er nach wie vor die Waffe in der Hand hielt, fühlte sich Salvatore unsicher. Und seine Unsicherheit verstärkte sich noch, als das Mädchen ihn ansprach: "Du hast sie
erschossen." Es schien weniger eine Frage als eine Feststellung zu sein. Salvatore nickte und hob die Waffe. Das Mädchen lächelte in die dunkle Pistolenmündung und sagte etwas sehr Beunruhigendes: "Eines Tages wirst du sie beneiden, Salvatore Delgado. Und wie du sie beneiden wirst ..." Dann hatte er geschossen, und auf der Stirn des Mädchens war eine weitere Rose erblüht, die wie der leblose Körper bald von ihren Geschwistern zugedeckt wurde. In den Wochen nach diesem Vorfall hatte Salvatore sehr unruhig geschlafen. Das fremde Mädchen beherrschte sein Träume, und oft genug schreckte er mitten in der Nacht auf und lag noch stundenlang wach. Er ignorierte die fragenden Blicke seiner Frau Maria und schwieg. Nicht einmal Padre Alonso, sein Beichtvater, erfuhr, was ihn bedrückte. Salvatores Zustand besserte sich erst, als er einige Zeit später einen Umschlag mit einem Zeitungsausschnitt in der Post fand. Es war eine deutsche Zeitung, und trotz seiner lückenhaften Deutschkenntnisse begriff er sofort, worauf es dem unbekannten Absender angekommen war. Unter der Schlagzeile "Friedhofsmord - der lange Arm der Mafia?" wurde der Fundort der Leichen und der durch Spuren gesicherte Tathergang beschrieben und Spekulationen über die Hintergründe angestellt. Die Vermutungen der deutschen Polizei interessierten Salvatore kaum, wohl aber der Umstand, daß nur zwei Leichen gefunden worden waren. Von einem toten Mädchen war nirgendwo die Rede. Vielleicht hatte es das Mädchen nie gegeben, und der vermeintliche Begegnung war nur ein Produkt seiner überreizten Sinne? Vieles sprach dafür, und so dauerte es nicht lange, bis das Bild des Mädchens in seiner Erinnerung verblaßte. Salvatore kümmerte sich wieder mehr um seine Familie und schlief nachts wie ein Stein. Bis heute. Ich sollte aufhören zu trinken, dachte Salvatore, nachdem er sein Glas zum dritten Mal gefüllt hatte, wobei er sich in Ermangelung von Hochprozentigem mittlerweile mit einem Gemisch verschiedener Liköre begnügen mußte. Der Drink schmeckte widerlich, wärmte jedoch wie seine Vorgänger Salvatores Magen und verdrängte die lästigen Erinnerungen aus seinem Bewußtsein. Ein Blick auf die Uhr erinnerte ihn gerade noch rechtzeitig an seine Verabredung zum Abendessen. Salvatore duschte ausgiebig und zwängte sich anschließend in seinen Abendanzug, dessen raffinierter Schnitt ihn weitaus schlanker aussehen ließ, als es der Realität entsprach. Er nickte dem grauhhaarigen Mann an der Rezeption freundlich zu und erreichte das Restaurant in der Schloßpassage nur wenige Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt.
In seiner Funktion als Einkäufer eines alteingesessenen Großhandelsunternehmens besuchte Salvatore schon seit Jahren die Eurimpex-Veranstaltungen. In dieser Zeit hatten sich gewisse Rituale etabliert, die vermutlich keiner aus der illustren Runde der Gäste mehr missen wollte. Salvatore entschuldigte sich höflich für seine Verspätung und küßte seiner Tischdame einer dezent gekleideten Blondine, die ihre Profession geschickt zu verbergen wußte - die Hand. Das Menü war vorzüglich, und die Unterhaltung ebenso angeregt wie nichtssagend. Die Konversation mit seiner Tischpartnerin beschränkte sich auf Blicke und flüchtige, scheinbar zufällige Berührungen außerhalb des allgemeinen Blickfeldes, die ihre Wirkung auf Salvatore ebensowenig verfehlten wie der trockene, gut gelagerte Chianti, der zu den Hauptgängen serviert wurde. Die Begleiterin, die die Agentur für ihn ausgewählt hatten, entsprach in jeder Hinsicht Salvatores Vorstellungen. Er schätzte der gelassene Professionalität deutscher Prostituierter. Sie gaben nicht vor, irgend etwas für ihre Kunden zu empfinden, erfüllten ihnen jedoch gleichmütig selbst die ausgefallendsten Wünsche. Darunter auch solche, wie sich Salvatore mit einem Lächeln eingestehen mußte, die die Mutter seiner Kinder schon bei der leisesten Andeutung aus dem Haus getrieben hätten. ... © 2000 by Frank W. Haubold
Schwarz Wo bin ich? Noch immer orientierungslos, versuchte Martin die Augen zu öffnen. Nichts. Doch es war weniger die anhaltende Dunkelheit, die Martin schockierte, als vielmehr die Tatsache, daß er seine Augen nicht spüren konnte. Er fühlte weder das Gewicht seiner Augenlider, noch war er imstande, sie zu bewegen. Einen Augenblick lang glaubte er das vertraute Licht der roten Leuchtziffern der Uhr auf seinem Nachttisch zu sehen, doch die Vision verschwand ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Ich bin blind, dachte Martin in einem Anflug von Panik und begriff im gleichen Augenblick, daß der fehlende Kontakt zu seinen Augen nur Teil einer wesentlich tiefgreifenderen Veränderung war. Einer Veränderung, die so unfaßbar war, daß er sich
weigerte, sie zu akzeptieren. Vielleicht träume ich auch nur, versuchte er sich zu beruhigen. Doch sein präziser Verstand machte auch diesen vagen Hoffnungsschimmer sofort zunichte. Bisher waren Martins Träume stets durch ein Zuviel an Bildern und Ereignissen gekennzeichnet gewesen. Visionen, die ihren Ursprung in seinem Unterbewußtsein hatten und Spiegelbild seiner Hoffnungen und Ängste waren. Wobei die Ängste allerdings schon seit Jahren dominierten. Nicht erst seitdem die Zentrale den verstümmelten Funkspruch mit der Warnung vor einem neuen Angriff aufgefangen hatte. Doch welchen Sinn sollte ein Traum machen, der buchstäblich aus Nichts bestand? Was also war mit ihm geschehen? Martin erinnerte sich an eine Geschichte, die er vor vielen Jahren gelesen hatte. Sie handelte von einem Experiment, bei dem man eine Kammer mit einer konzentrierten Salzlösung gefüllt hatte, so daß die Testpersonen schwerelos an der Oberfläche schwebten. Dann hatte man ihre Gesichter mit einem dünnen Wachsfilm überzogen, der nur ein Loch für ein Röhrchen besaß, durch das die Teilnehmer atmen konnten. Sie konnten atmen! Nicht daß Martin in diesem Augenblick das Bedürfnis dazu verspürt hätte, ganz im Gegenteil. Es schien, als habe er vergessen, wie man atmet. Es war unglaublich. Fünfzig Jahre lang hatte Martin mehr oder weniger unbewußt ...zigmal in der Minute ein- und ausgeatmet, und jetzt wußte er nicht einmal mehr, wie er es angestellt hatte! Wie dem auch sei, die Testpersonen in Martins Geschichte hatten gewußt, wo sie sich befanden, sie konnten atmen und - wenn auch durch das Wachs eingeschränkt Geräusche und Helligkeitsveränderungen wahrnehmen. Und dennoch hatten selbst die Robustesten den Verlust des Gefühls und des Zeitbezugs nicht länger als ein paar Stunden ausgehalten. Wie lange würde Martin durchhalten? Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Das Nichts, das ihn umgab, bedeutete nicht nur völlige Dunkelheit, sondern umfaßte zudem den vollständigen Verlust seiner Körperlichkeit. Was nicht heißen mußte, daß Martin keinen Körper mehr besaß. Vielleicht hatte er nur den Kontakt zu ihm verloren? Vielleicht pumpte auf irgendeinem OP-Tisch eine Herz-Lungenmaschine sauerstoffgesättigtes Blut in seinen gefühllosen Körper? Hatte er einen Unfall erlitten? Lag er im Koma? War er vielleicht gar ... Tot? Das nun wohl auch nicht. Martin war kein besonders religiöser Mensch, aber er hatte Dr. Moodys Buch mit Berichten von Leuten gelesen, die schon einmal so gut wie tot gewesen waren. Zwar allesamt Yankees - was in Martins Augen (wieso eigentlich
Augen?) ihre Glaubwürdigkeit entschieden einschränkte, dennoch hatte keiner dieser Leute etwas von einer körperlosen Existenz in vollständiger Dunkelheit berichtet. Wäre sonst wohl auch nicht so gut verkauft worden, dachte Martin mit einem Anflug von Sarkasmus, ein weiteres Indiz dafür, daß er in gewisser Beziehung noch ganz der Alte war ... Martins Skepsis den Nordamerikanern gegenüber hatte sehr reale Hintergründe. Immerhin war es ein amerikanischer Marschflugkörper gewesen, der die große Moschee in Mekka mit der Kaaba zerstört und damit den Djihad ausgelöst hatte. Jenen nuklearen Vernichtungsfeldzug, der letztlich dazu geführt hatte, daß die extrem wasserarmen Mondkolonien die letzte Bastion der sogenannten westlichen Welt darstellten. Es hatte beinahe übermenschliche Anstrengungen gekostet, auf dem unwirtlichen Erdtrabanten ein Verteidigungssystem zu installieren, das den selbstmörderischen Angriffen der Fedayin-Verbände zumindest für den Augenblick gewachsen war. Auch wenn die lunare Abwehr in den letzten Jahren mehrere Angriffe des Shariats ohne nennenswerte Verluste zurückgeschlagen hatte, war sich Martin im klaren darüber, daß der übermächtige Gegner nicht aufgegeben hatte und auch nie aufgeben würde. Mein Langzeitgedächtnis ist also noch in Ordnung, dachte Martin, doch wie jetzt weiter? Eine Frage, auf die es keine Antwort gab, denn sein Bewußtsein trieb noch immer orientierungslos durch die undurchdringliche, unfaßbare Dunkelheit. Ohne Augen, ohne Ohren, ohne Gefühl ... Ich muß systematisch vorgehen, versuchte Martin sich zu beruhigen, dann komme ich schon irgendwie dahinter, wie ich hierher geraten bin. Der erste Hürde, die Klärung seiner Identität, meisterte Martin noch mit Bravour: Leutnant Martin Rothenbach, Offizier der lunaren Abwehr. Zuständigkeitsbereich: Technische Sicherstellung der Radar-, Maser- und Gravitationswellenaufklärung. Na, also! In den nächsten Minuten versuchte Martin, sich an die Daten der letzten Routineüberprüfungen zu erinnern. Nichts. Ein deprimierendes Ergebnis für jemanden, der für die Sicherheit von mehr als zwölftausend Kolonisten mitverantwortlich war. Szenen aus seinem täglichen Dienstablauf tauchten ebenso rasch auf, wie sie verschwanden, ohne daß er sie zeitlich einordnen konnte. »Du stehst unter Schock«, bemerkte ein mitfühlende Stimme. »Deshalb kannst du dich nicht erinnern.« Erschrocken fuhr Martin zusammen. Er kam sich vor wie jemand, der sich seit Stunden in einem dunklen Eisenbahnabteil allein unterwegs glaubt und plötzlich aus nächster Nähe angesprochen wird.
»Wer bist du?« da Martin auch das Sprechen verlernt hatte, blieb nur die Hoffnung, daß sein unsichtbarer Gesprächspartner ihn auch ohne Worte verstehen konnte. »Jemand, der schon vor dir hier war«, erwiderte die Stimme gelassen. »Vielleicht kann ich dir helfen.« »Wo bin ich?« »Zuerst mußt du deinen Schock überwinden und dich erinnern. Es ist sehr wichtig, Martin.« »Woher kennst du meinen Namen?« »Weil dein Bewußtsein offen wie ein Buch ist. Das ist gefährlich, nicht wegen deines Namens, sondern wegen anderer Dinge, die besser geschützt sein sollten.« »Du sprichst in Rätseln!« »Es werden keine Rätsel mehr für dich sein, wenn du begriffen hast, wo wir uns befinden.« »Wer bist du?!« Martin war fest entschlossen, sich nicht länger hinhalten zu lassen. »Ronald Merriner, bis vor ein paar Tagen Wartungsingenieur bei SPACE-COM, verantwortlich für die Instandsetzung defekter Nachrichtensatelliten.« »Auf der Erde?« Martin wollte es nicht glauben. »Ich dachte, die wären alle zerstört worden?« »Bis auf jene, die das Shariat für seine eigene Logistik benötigt«, bestätigte die Stimme emotionslos. »Und irgendwie mußte ja auch der Kontakt mit der Invasionsflotte gehalten werden ...« Eine flüchtige Idee setzte sich in Martins Hirn fest und wurde zur Gewißheit: »Dann warst du es also, der uns gewarnt hat?!« »Ich habe es zumindest versucht ...« Das klang weniger selbstbewußt als traurig. »Donnerwetter, Ron - Ich darf dich doch Ron nennen?« »Sehr gern, Martin.« »Du hast sie mit einem ihrer eigenen Nachrichtensatelliten gelinkt, und sie haben dich nicht erwischt?« »Sie haben mich erwischt, Martin.« Die Stimme klang ein wenig verlegen.
»Das verstehe ich nicht, Ron. Die Fedayin haben dich erwischt und am Leben gelassen?!« »Nein, das haben sie nicht, leider«, sagte die Stimme unglücklich. Einen Augenblick lang war Martin zu keinem klaren Gedanken fähig. »Dann bist du - sind wir - also tot? Aber wir reden doch miteinander ...« »Reden würde ich es nicht nennen. Wir kommunizieren miteinander - das ist etwas anderes.« »Dann weißt du auch nicht, wo wir uns hier befinden?« »Doch, das weiß ich. Aber du würdest mir nicht glauben.« »Dann sind wir also tot«, wiederholte Martin in der Hoffnung, daß die Stimme ihm widersprechen würde. Schweigen. Martin fror plötzlich. Es war kein körperliches Unbehagen, sondern Resultat einer Erinnerung, die bruchstückhaft in kaleidoskopartigen Bildern in sein Bewußtsein eindrang. - Er sah die Konsole seiner Raumkapsel vor sich und die gleißende Metalloberfläche des Beobachtungssatelliten. Die Erinnerung wurde jetzt deutlicher: Er war mit dem Auftrag gestartet, die defekte Sensoreinheit des Satelliten auszutauschen, aber irgendwie war es nicht dazu gekommen ... Martin war so in die Steuerung des Roboterarme vertieft gewesen, daß er das plötzliche Auftauschen des fremden Raumschiffes nicht einmal bemerkt hatte. Erst das Aufheulen des Alarmsignale hatte ihn mit der Tatsache konfrontiert, daß es sich bei dem Eindringling um einen Raumkreuzer der Delta-Klasse handelte, dessen Traktorstrahl seine Raumkapsel bereits erfaßt und damit jede Flucht unmöglich gemacht hatte. Die Anweisungen für Zwischenfälle dieser Art waren eindeutig, und so hatte Martin keinen Augenblick gezögert, die Schutzfelder des Reaktors zu deaktivieren und den Schleudersitz zu betätigen. Durch die Wucht der Beschleunigung wurde ihm sekundenlang schwarz vor Augen, dennoch war er imstande, das grandiose Schauspiel der in einem feurigen Blütenmeer explodiernden Raumkapsel zu verfolgen. Doch seine Genugtuung war nicht von langer Dauer gewesen. Die unwiderstehliche Kraft eines gebündelten Feldes hatte seinen Körper erfaßt und drängte ihn in Richtung des feindlichen Raumschiffes. Verzweifelt feuerte Martin Ladung um Ladung aus seiner Rückstoßpistole ab, ohne die verhängnisvolle Annäherung auch nur im geringsten aufhalten zu können. Wie hypnotisiert starrte er auf das sich sternförmig öffnende Maul
der Ladeluke des Raumkreuzers, das jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt war. Sein Entschluß stand fest. Lebend würden sie ihn nicht bekommen. Unbeholfen richtete er den Lauf seiner Waffe gegen die Panzerung seines Raumanzugs und feuerte. Etwas blitzte silbern auf, dann verlor er das Bewußtsein ... Ich habe es also nicht geschafft, dachte Martin deprimiert und begann zu ahnen, was die Stimme ihm hatte mitteilen wollen ... Offenbar befand er sich - ebenso wie sein geheimnisvoller Gefährte - in der Gewalt der Angreifer. Wie sein Gefängnis aussah und was aus seinem Körper geworden war, wagte sich Martin nicht vorzustellen. Er wußte nur, daß die Kolonie in furchtbarer Gefahr war ... »Jetzt weißt du also Bescheid«, meldete sich Rons Stimme erneut. Sie schien nicht sehr beunruhigt zu sein. »Die Codes. Sie dürfen nicht an die Passivierungsschlüssel herankommen«, dachte Martin in einem Anflug von Panik. »Ohne den Schutz der Außenforts ist die Kolonie verloren ...« »So etwas Ähnliches habe ich befürchtet«, bemerkte die Stimme nachdenklich. »Viel Zeit bleibt uns wahrscheinlich nicht mehr.« »Was können wir nur tun?« fragte sich Martin verzweifelt. »Ich habe mich ein wenig umgesehen und glaube, daß es eine Möglichkeit gibt«, begann die Stimme zögernd. »Aber es gibt einen Haken«, dachte Martin mit plötzlicher Klarheit. »Und dieser Haken hat mit mir zu tun.« »Ja, Martin«, bestätigte die Stimme kummervoll. »Sie werden mit allen Mitteln versuchen, an die Codes heranzukommen. Ich bin dagegen im Moment völlig unwichtig für sie.« »Sie werden mir also wehtun?« »Ich fürchte, ja« »Und es gibt nichts, was wir dagegen tun können?« »Nichts, was du dagegen tun könntest.« »Ich kann nicht einmal ohnmächtig werden oder sterben?«
»Solange sie nicht die Geduld verlieren, nein.« »Was wirst du tun?« »Ich dürfte es dir nicht sagen, selbst wenn ich es wüßte.« »Ich verlasse mich auf dich, Ron. Geh jetzt.« »Leb wohl, Martin«, flüsterte die Stimme so leise wie ein Hauch. Obwohl Martin keine Augen mehr besaß, hatte er nach Rons Verschwinden den Eindruck, daß die Dunkelheit um ihn herum noch dichter geworden war. Er fühlte sich wieder so allein und hilflos wie in den ersten Minuten seiner neuen Existenz. Sekunden später signalisierte ein häßliches Knirschen in seinen Ohren, daß die Zeit seiner Prüfung gekommen war ... Martin wußte nicht, wie lange das Verhör schon dauerte. Er hatte die erstaunliche Entdeckung gemacht, daß die Erwartung des Schmerzes wesentlich unangenehmer war als der Schmerz selbst. Wenn die weißglühenden Wellen sein Bewußtsein überfluteten, verspürte er weder Furcht noch Hoffnung. Es gab nur noch den Schmerz und ihn, und solange diese Qualen andauerten, konnte Martin nichts verraten. Wirklich schlimm waren nur die endlosen Pausen zwischen den immer gleichen Fragen seiner Peiniger und der darauffolgenden Strafe für sein Schweigen. Er war nie in der Lage, Intensität und Dauer des Schmerzes vorherzusehen, und allmählich spürte er, wie seine Kräfte ihn verließen. Noch hielt das gedankliche Gebäude stand, das er wie einen Schutzschild vor seinem wertvollerem Wissen aufgebaut hatte. Es war eine leicht einzuprägende Eröffnungsstellung, die er in der Vergangenheit schon dutzendfach gegen sein Lieblings-Schachprogramm gespielt hatte. Wenn der Schmerz ihn freigab, konzentrierte er sich sofort wieder auf den nächsten Zug, so daß er gar nicht in die Verlegenheit kam, über die Kolonie, die Außenforts oder gar die Sicherheitsmaßnahmen nachzudenken. Doch ganz allmählich begann die dreidimensionale Darstellung des Schachbretts zu verblassen, und Martin wußte, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb ... Das Ende kam völlig unvermittelt. Martin war so erschöpft, daß er nicht einmal mitbekam, daß die Fragen seiner Peiniger plötzlich in panische Schreie übergegangen waren. Auch das tiefe Fauchen der aus dem Schiffsrumpf entweichenden Luft registrierte er zunächst nur unbewußt. Erst das synchrone Aufheulen der Alarmsirenen riß ihn aus seiner Erstarrung. Martin besaß keine Augen mehr, und so blieb ihm der Anblick des blutigen Endes der
Besatzung der »Prince of Persia« erspart. Bläulich verfärbte Finger zuckten in Agonie über blockierte Tastaturen, Augäpfel quollen wie weiße Tumoren aus den Höhlen, während die Sterbenden die gefrorenen Reste ihrer Lungen erbrachen. Eine unsichtbare Faust riß die erstarrten Körper mit sich und beförderte sie mit den letzten Resten atembarer Luft in die kalte Unendlichkeit des Raumes. Als sich die Außenschotts endlich zischend schlossen, befand sich kein atmendes Wesen mehr auf der »Prince of Persia«. Und doch war das Schiff nicht führerlos. Irgendwo, tief in den endlosen Speicherbänken des Bordrechners, existierten noch immer die beiden körperlosen Abbilder ehemals menschlichen Bewußtseins. »Ron?« flüsterte Martin lautlos. »Hier bin ich, Martin«, meldete sich eine sehr unternehmungslustig klingende Stimme. »Das war ziemlich knapp, Ron.« »Ich weiß, Martin. Du warst sehr tapfer.« »Was wird jetzt aus uns werden?« »Wie meinst du das, Martin?« »Werden wir zurückkehren, auf den Mond, meine ich?« »Braucht uns dort jemand, oder sind wir irgend jemandem etwas schuldig?« Darüber mußte Martin erst nachdenken. Dann stand seine Entscheidung fest. »Wie lange wird der Treibstoff reichen, Ron?« »Länger, als du dir vorstellen kannst. Die »Prince of Persia« war ein Forschungsschiff der NASA, bevor das Shariat sie in die Finger bekommen und zum Kreuzer umgebaut hat. Sie besitzt noch immer einen Interstellarantrieb und beinahe unerschöpfliche Energiereserven. Dieses Schiff ist für die Ewigkeit geschaffen.« »Wie wir, Ron.« »Wie wir, Martin.« Während Ronald sich mit dem Zentralcomputer beschäftigte, flossen Martins Gedanken
träge und ziellos dahin. Bis ihm noch etwas einfiel: »Du, Ron?« »Ja, Martin?« »Das Schiff hat doch sicher eine Menge Teleskope und Außenkameras ...« »Ich glaube, ich weiß, was du meinst, Martin.« »Danke, Ron.« »Keine Ursache, Martin. Du wirst Dinge sehen, die noch kein Mensch vor dir gesehen hat.« Beinahe unmerklich korrigierte die »Prince of Persia« ihren Kurs und verließ die Angriffsformation der Raumflotte. Mit jedem Sekundenkilometer, den ihre Geschwindigkeit zunahm, verstärkte sich die Kraft ihrer Wasserstoff-Ionen-Antriebs, bis sie schließlich wie ein leuchtender Pfeil in die Unendlichkeit eintauchte. © 1999 by Frank W. Haubold
Die Sintflut des Conrad R. Normalerweise hält sich Conrad von größeren Ortschaften fern. Die müllübersäten, einsamen Straßen deprimieren ihn. Sie riechen nach Verfall und Angst. Die Menschen sind längst geflohen, aber der Geruch ihrer Angst hängt noch immer wie ein klebriger Dunstschleier zwischen den Häuserschluchten. Da seine Vorräte zur Neige gehen, hat er jedoch keine andere Wahl. Er folgt dem Verlauf einer nordwärts führenden Hochspannungsleitung, und nach etwa zwei Stunden zügigen Fußmarsches liegt die Stadt vor ihm. Conrad muß nicht die Augen schließen, um die riesige Woge vor sich zu sehen, die die friedliche, stille Stadt innerhalb von Sekunden in Stücke reißen wird. Er hat seit Wochen von nichts anderem geträumt. Eine turmhohe, tosende Wand, die Himmel und Erde verschlingt ... Die Macht der allnächtlich wiederkehrenden Vision hatte die Menschen aus ihren Mietwohnungen und Vorstadthäusern getrieben. In panischer Angst hatten sie die Supermärkte gestürmt, ihre Autos mit Lebensmitteln vollgestopft und sich zu Tausenden auf den Weg nach Süden gemacht. Obwohl ihnen klar sein mußte, daß kein Gebirge der Welt ihnen auf Dauer Zuflucht bieten konnte. Für die meisten endete die Flucht ohnehin
in einem der endlosen Staus. Nach zwei Tagen, an denen die gigantische Blechkarawane nur wenige hundert Meter vorangekommen war, hatte Conrad aufgegeben und sich zu Fuß auf den Heimweg gemacht. Jetzt ist er bereits die zweite Woche unterwegs, oder ist es sogar schon die dritte? Die Zeit hat für Conrad längst jede Bedeutung verloren. Er lebt nur noch für den Augenblick, und jetzt hat er Hunger ... Offenbar haben die Plünderer zumindest die Außenbezirke der Stadt verschont. Die Fahnen der Automärkte und Tankstellen blähen sich im Wind, und einen Augenblick lang hat Conrad das schwindlig machende Gefühl, daß die Zeit hier stehengeblieben ist. Gleich würde ihn ein freundlicher Autoverkäufer zu einer Probefahrt einladen. Oder die Tür eines der bunt bemalten Wohnwagen mit Dauerparkplatz öffnet sich für ein Mädchen mit einem ganz besonderen Angebot für Neukunden ... Es ist der Staub, der die Illusion zunichte macht. Autohändler lassen ihre Schmuckstücke nicht verstauben. Ungepflegte Wagen sind schwer zu verkaufen, und hier liegt der Staub, den der Augustwind von den umliegenden Feldern in die Stadt geblasen hat, überall millimeterdick. Ein Königreich für ein halb durchgebratenes Steak und ein ordentlich gekühltes Bier dazu, denkt Conrad und muß lächeln, während ihm das Wasser im Mund zusammenläuft. In Gedanken versunken marschiert er langsam an Parkplätzen, Super- und Baumärkten vorbei in Richtung Innenstadt, um sich plötzlich erstaunt die Augen zu reiben. In einem der Gebäude brennt Licht. Weißes Neonlicht dringt aus den Fenstern einer häßlichen, aus Fertigteilen zusammengesetzten Imbißhalle. Über dem Eingang verkündet eine beleuchtete CocaCola-Reklametafel, daß es sich bei diesem architektonischen Meisterwerk um »Georgs Bistro« handelt. Auf dem kleinen Parkplatz vor dem einstöckigen Gebäude stehen ein verstaubter weißer Kombi und ein schweres Motorrad, dessen Chromteile in der Sonne glänzen. Es ist eine Harley und mit Sicherheit ein Liebhaberstück. Eine Reisetasche und ein kleiner Koffer aus schwarzem Lackleder sind an den Seitengepäckträgern festgegurtet. Conrad beugt sich hinab und befühlt den Motorblock. Er ist noch warm. Ein klagendes Geräusch, wie das Wimmern eines Hundes, läßt ihn aufhorchen. Doch es wiederholt sich nicht. Nur das monotone Brummen eines Dieselaggregats dringt durch die Eingangstür nach draußen. Einen Augenblick lang zögert Conrad. Dann tastet er nach dem Messer in seinem Gürtel,
öffnet die Eingangstür und prallt entsetzt zurück. Vor ihm liegt ein Toter. Es ist ein großer, kräftiger Bursche, sicherlich an die neunzig Kilo schwer. Bevor er all das Blut verloren hat ... Die beiden handtellergroßen Löcher in seinem Brustkorb lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, woran der Junge gestorben ist. Es riecht nach Cordit und nach Blut. Nach sehr viel Blut. Conrad spürt, wie seine Beine nachzugeben drohen, und stützt sich an einem der schäbigen Plastiktische ab. Nachdenklich mustert er das Gesicht des Toten, das in einem Ausdruck äußerster Überraschung erstarrt ist. Der Tote trägt eine aufwendig bestickte Lederjacke und Bluejeans. Am Gürtel hängt ein CD-Spieler, dessen Kopfhörer er im Sturz verloren hat. Conrad nimmt die Kopfhörer auf und lauscht. Das Gerät spielt noch immer. Natürlich »Born to be wild«. Die Hymne dieser Rockertypen. Jetzt ist der Junge jedenfalls nicht mehr wild, sondern mausetot. Und Conrad ist immer noch ein wenig übel. Ein Geräusch läßt ihn herumfahren. Ein kleiner aufgeregter Mann in einer schmuddeligen Kellnerjacke ist durch die schmale Tür hinter der Theke in den Gastraum geschlüpft und überschüttet Conrad sofort mit einem Wortschwall. »Gut, daß sie kommen, Meister. Sie sehn ja, was hier los war. Dieser Kerl kommt plötzlich hier reingestürmt, und springt mir an die Gurgel. Hatte's wohl auf die Vorräte im Lager unten abgesehen.« »Und wie sind Sie mit ihm fertig geworden?« erkundigt sich Conrad höflich. »Hab' so getan, als müßte ich den Schlüssel für's Lager erst suchen. Doch gefunden hat der olle Schorsch ganz was anderes. Die Flinte hier liegt immer geladen unter der Theke, Meister. Die Leute, die mich kennen, wissen das. Aber der Kerl war wohl fremd hier.« In der Stimme des kleinen Mannes mit der spitzen Nase und den flinken Wieselaugen liegt jetzt so etwas wie Stolz. »Merkwürdig, daß der Kerl so ganz allein und ohne Waffe hier hereinspaziert ist«, bemerkt Conrad nachdenklich. »Er war doch allein?« »Klar doch. Hat wahrscheinlich gedacht, mit so einem Fliegengewicht wie mir wird er mit links fertig. Aber da hat er sich geschnitten...« »Sie lügen«, schneidet ihm Conrad entschlossen das Wort ab.
Ihm ist klar, daß er sich damit in eine beinahe aussichtslose Lage hineinmanövriert. Doch er wird diesem Dreckskerl nicht versichern, was er doch für ein toller Bursche ist, nur um mit heiler Haut hier herauszukommen. »Der Junge war nicht allein. Er hatte sein Mädchen bei sich. Und die beiden wollten nichts anderes hier als ein paar Hamburger und etwas zu trinken. Vielleicht, weil sie nach etwas Vertrautem gesucht haben. Etwas, das sie an die Welt erinnerte, die sie kannten ...« Der spitznasige Mann ist blaß geworden. »Verdammter Schnüffler!« zischt er wütend, während er nach der Waffe unter der Theke greift. Conrad versucht gar nicht erst, sein Messer zu ziehen. Er greift statt dessen nach dem nächstbesten Gegenstand und schleudert ihn in Richtung des kleinen Mannes. Dann wirft er sich in einer Reflexbewegung zur Seite. Der schwere Porzellanaschenbecher streift den Kopf des Spitznasigen, der eine abgesägte Schrotflinte nach oben gerissen hat. Die Explosion ist ohrenbetäubend. Die beiden Schrotladungen reißen kopfgroße Löcher in die Blechverkleidung der Decke. Leuchtstoffröhren zerbersten in einem Schauer aus winzigen Glassplittern. Bevor der Mann reagieren kann, ist Conrad bei ihm und hat ihm die Waffe entrissen. In einem Hagel von Schlägen geht der Spitznasige zu Boden. Conrad kommt erst wieder zu sich, als der kleine Mann sich nicht mehr bewegt. Sein Gesicht ist voller Blut, doch er lebt. Der Puls ist deutlich zu fühlen. Aus irgendeinem Grund ist Conrad erleichtert. Bevor er den Spitznasigen allein läßt, macht er den Abzugsmechanismus der Schrotflinte durch einen heftigen Schlag gegen die Theke unbrauchbar. Behutsam öffnet er die mit billigen Aktfotos beklebte Tür, die in den hinteren Teil des Gebäudes führt. Er durchquert einen schmalen Gang, der nach ranzigen Bratfett und Küchenabfällen riecht, und gelangt schließlich an eine Holztür mit der Aufschrift »Privat«. Sie ist abgeschlossen. Einen Augenblick lang verharrt Conrad unentschlossen, bevor er Anlauf nimmt und das Türfutter aus dem Rahmen tritt.
Erleichtert registriert er, daß das Mädchen auf dem schäbigen Bettgestell am Leben ist. Seine Handgelenke sind mit Draht an den Bettpfosten festgebunden, der Mund mit Pflaster verklebt. Es ist nur mit einer zerrissenen Baumwollbluse bekleidet. Die anderen Kleidungsstücke liegen übel zugerichtet auf dem Boden. Auf dem Nachttisch liegt ein langes Fleischermesser. Wahrscheinlich hat Wieselgesicht sein Opfer damit bedroht. Dunkle, angsterfüllte Augen, eines davon durch eine blaurote Schwellung entstellt, verfolgen Conrads Bewegungen aufmerksam. Als er näherkommt, versucht das Mädchen sich mit aller Gewalt loszureißen. Ein erstickter Schmerzenslaut ertönt, als die Fesseln die zerschundene Haut an den Handgelenken weiter aufreißen. Als Conrad nach dem Messer auf dem Nachttisch greift, versteift sich der Körper des Mädchens, während sich seine Pupillen voller Entsetzen weiten. Er begreift, daß die Kleine ihn für einen von Wieselgesichts Kumpanen halten muß, und beeilt sich, sie von ihren Fesseln zu befreien, bevor sie endgültig das Bewußtsein verliert. Doch Conrads Sorge ist unbegründet, denn der Schmerz beim Abreißen des Pflasters trägt dazu bei, daß sein Schützling sehr schnell den Weg zurück in die Realität findet. Beinahe zu schnell, denn das Mädchen unterbricht Conrads halbherzige Versuche abrupt, seine Anwesenheit und die vorangegangene Auseinandersetzung zu erklären. »Wo ist er?« »Wo ist wer?« Die zielbewußte Frage irritiert Conrad ebenso wie die Tatsache, daß das Mädchen keinerlei Anstalten macht, sich etwas überzuziehen. »Die Ratte«, erwidert das Mädchen in einem Tonfall, der keinerlei Zweifel über seine Absichten offenläßt. Beinahe wider Willen deutet Conrad in Richtung des Gastraums ... - Der Schmerz kommt ohne Vorwarnung, preßt seinen Brustkorb zusammen und nimmt ihm dem Atem. Weißglühende Messer bohren sich in seine Lungen und in seine Eingeweide. Irgendwoher kennt Conrad diese Art Schmerz, weiß, daß er ihm ausgeliefert ist, bis der Anfall vorüber ist. Er sinkt in die Knie und versucht zu schreien. Doch seine Kehle ist wie zugeschnürt. Durch einen Schleier von Tränen sieht Conrad, wie das Mädchen das Messer aufhebt und mit der Behendigkeit einer Katze durch die zertrümmerte Tür nach draußen huscht. Dann wird der Schmerz übermächtig, und er verliert das Bewußtsein. Als Conrad zu sich kommt, ist das Mädchen bei ihm.
Und es ist unzweifelhaft nicht ganz richtig im Kopf. Sein nackter Oberkörper, der sich vor ihm hin und her wiegt, ist blutbeschmiert, und aus seinem Mund dringt ein seltsam melodischer Singsang. Eine absurde Situation. In diesem Augenblick geschieht etwas, das Conrad sein ganzes Leben lang unbewußt herbeigesehnt hat. Er verliert den Verstand. Und deshalb interessiert es ihn auch nicht im geringsten, ob die Frau in seinen Armen verrückt ist oder normal, ob sie Deutsch spricht oder Suaheli, ob sie ein Verhütungsmittel genommen hat oder nicht. Ob er ihr erster Mann ist oder der einhundertsechsundfünfzigste. Ob ihr Vater, Mann, Bruder, Familienanwalt in der Nähe sind, um ihn anschließend zu verklagen, zu verprügeln oder gar zu erschießen. Die Vorstellung amüsiert ihn genauso wie der Gedanke an diverse Ansteckungsmöglichkeiten. Es ist schön, endlich keine Angst mehr zu haben. Vielleicht hatte sie sogar das Messer noch dabei, um ihm gleich danach die Kehle durchzuschneiden. So wie Wieselgesicht nebenan, dem Conrad vor einer Million Jahren das Gewehr weggenommen hat ... So interessiert es Conrad auch nicht, ob die feuchten Brüste, in die er sein Gesicht vergräbt, mit Blut oder mit Schweiß bedeckt sind. Das Einzige, was in diesem Augenblick für ihn existiert, ist das Mädchen in seinen Armen. Dessen Schoß ihn in sich aufgenommen hat und ihn nur freigibt, um sich ihm noch tiefer zu öffnen. Und auch Conrad will es jetzt zu Ende bringen, will sich ausliefern, dem Mädchen, dem Messer, der Dunkelheit ... Bedenkenlos vertraut er sich dem Rhythmus ihrer Körper an, bis er schließlich mit einem erlösten Aufschrei in einem Meer aus Licht und Farben versinkt. Ein dumpfes, fernes Grollen bringt ihn wieder zur Besinnung. Eigentlich ist es weniger ein Geräusch als vielmehr ein tiefe Vibration, die er mit jeder Faser seines Körpers spüren kann. Er begreift sofort. Die Woge. »Du hast es gewußt«, stellt er ernüchtert fest. »Deshalb bist du zurückgekommen.« Es ist nur eine Feststellung, kein Vorwurf. »Ich habe Angst«, erwidert das Mädchen kläglich und drängt sich schutzsuchend an ihn.
»Und ich will nicht allein sein, wenn es passiert. Ist das so schlimm?« Anstelle einer Anwort nimmt Conrad den schmalen, zitternden Körper fest in die Arme. Mittlerweile ist das Dröhnen der heranrasenden Woge so laut geworden, daß er die Stimme erheben muß, um es zu übertönen: »Du mußt keine Angst haben, Kleines. Es wird nicht weh tun. Niemand wird dir mehr weh tun ...« Niemand wird uns mehr weh tun. Conrad lächelt zum ersten Mal seit langer, sehr langer Zeit. Dann ist die dunkle Wand heran ... Das Herz des schmächtigen Mannes auf der Behandlungsliege hat aufgehört zu schlagen. Ein Techniker schaltet den durchdringenden Alarmton des Monitors ab und entfernt das mit Elektroden gespickte Gumminetz von der glattrasierten Schädeldecke des Toten. Der Zentralcomputer hat mittlerweile widerwillig die Tatsache des Behandlungsendes akzeptiert und stoppt den Medikamentenfluß der Infusionspumpen. Der Strom der Zytostatika und Opiate versiegt. Der zuständige Anästhesist richtet den Strahl einer kleinen Taschenleuchte auf die starren Pupillen des Mannes. Dann zuckt er mit den Schultern, tauscht einen Blick mit dem Professor und verläßt den Raum. Das auf den pergamentfarbenen Zügen des Toten eingefrorene Lächeln wirkt unwirklich, beinahe gespenstisch. Die kleine grauhaarige Frau im blauen Besucherkittel weint. Doch es ist keine Zorn mehr in diesem Weinen und keine Verzweiflung. Conrad hat gelächelt. Er ist ohne Angst gestorben. Der Professor legt ihr seine große braungebrannte Hand beruhigend auf die Schulter. Dann nimmt er die DAT-Kassette aus dem Ausgabeschacht des Computers und reicht sie der kleinen Frau.
»Wenn Sie darauf bestehen, können Sie sich die Aufzeichnung bei uns im Institut ansehen. Ich rate Ihnen allerdings davon ab, Frau Rothenbach. Sterbende entwickeln oft sehr irritierende Phantasien, die nichts mit der Realität zu tun haben. Sie würden weder sich noch dem Andenken ihres verstorbenen Mannes einen Gefallen damit tun.« »Ich weiß, Herr Professor«, erwidert die kleine Frau tapfer. »Ich habe Ihnen immer vertraut. Wir verdanken Ihnen so viel.« »Nicht doch, Frau Rothenbach«, wehrt der hochgewachsene Mediziner geschmeichelt ab. »Wir stehen doch noch ganz am Anfang. Wenn wir unseren Patienten schon nicht helfen können, dann sollten wir ihnen wenigstens die Schmerzen und die Angst vor dem Tod nehmen. Leider hat unsere Gesellschaft für diese Art von Dienstleistungen nicht das geringste Verständnis. Dabei projizieren und verstärken wir doch nur die Wunschvorstellungen unserer Patienten in einer Form, die sie letztlich friedlich einschlafen läßt ... Ich muß sie allerdings noch einmal an die strikte Vertraulichkeit unseres Arrangements erinnern. Meine Mitarbeiter riskieren nicht nur den Verlust ihrer Approbation, sondern sogar eine Anklage wegen aktiver Sterbehilfe.« »Wie könnte ich etwas tun, das Sie und Ihre Arbeit gefährdet? Auf meine Verschwiegenheit können Sie immer zählen, Herr Professor. Noch einmal vielen, vielen Dank.« Der Professor reicht der kleinen Frau die Hand zum Abschied: »Ich wünschte, Sie wären früher zu uns gekommen. Aber gegen die Hoffnung kommt wohl niemand an, auch wenn sie noch so gering ist ...« »Leben Sie wohl, Herr Professor.« »Auf Wiedersehen, Frau Rothenbach.« Die kleine, grauhaarige Frau schaut nicht zurück, als sie das Klinikgebäude verläßt. Auf dem Weg zum Parkplatz wirft sie die unscheinbare schwarze Kassette in einen Müllcontainer. Sie hat es eilig. Es gibt viel zu tun, wenn ein Mensch gestorben ist. © 1999 by Frank W. Haubold
Vor Sonnenaufgang Auch das noch!
Obwohl weit und breit keine Baustelle zu sehen war, blockierte ein Gitter mit einem gelben Umleitungsschild seine Fahrspur und zwang Martin, nach rechts abzubiegen. Merkwürdig, daß er auf der Herfahrt nichts von der Straßensperrung bemerkt hatte. Einen Augenblick überlegte Martin, ob das Schild nicht irgendwie anders ausgesehen hatte als die üblichen Umleitungsschilder mit ihren Nummern und Richtungspfeilen. Aber was half's, er mußte sehen, daß er irgendwie nach links auf die Ausfallstraße in Richtung Autobahn kam. Er war müde und wie meist nach den Besuchen bei seinen Eltern ein wenig deprimiert. Ein Gefühl, das nichts mit den mehr oder weniger banalen Dingen zu tun hatte, die sie üblicherweise miteinander besprachen. Möglicherweise hatten die verborgenen Stimmen damit zu tun, die das alte Haus mit ihrem schäbigen »Es-wird-nie-mehr-sein«-Gezischel erfüllten. Oder aber die nie ausgesprochene Befürchtung, daß der Abschied vielleicht schon ein Abschied für immer sein könnte. Martin wußte es nicht. Und doch war da dieses dumpfe Unbehagen, als hätte er etwas Wichtiges für immer verloren ... Verdammt finstere Gegend hier, dachte Martin als er zum zweiten Mal eine nach links einmündende Gasse übersehen hatte. Natürlich hätte er wenden können, aber auf ein paar hundert Meter mehr kam es jetzt auch nicht mehr an. Erst jetzt bemerkte er, daß die Straße keineswegs unbeleuchtet war, nur daß die von feuchten Nebelschwaden eingehüllten Laternen nicht mehr als ein paar gelblich-trübe Lichtpfützen auf das feuchte Kopfsteinpflaster warfen. Überhaupt wirkten die von verfallenden Fabrikgebäuden und Häuserzeilen gesäumten Straßen noch enger und trostloser, als Martin sie in Erinnerung hatte. Nur wenige Fenster waren beleuchtet, und auf den holprigen Bürgersteigen war kein Mensch zu sehen. »Hier draußen ist wirklich die Welt zu Ende«, murmelte Martin verdrossen, dann erstarb das Motorengeräusch seines Wagens so plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Behutsam ließ Martin den Audi ausrollen und versuchte vergeblich, den Motor neu zu starten. Es klickte nicht einmal. Dafür leuchtete auf dem Armaturenbrett eine halbes Dutzend farbiger Warnsignale auf, die in froher Einmütigkeit eine Reihe unsinniger Botschaften wie etwa den gleichzeitigen Mangel an Benzin, Öl und Bremsflüssigkeit verkündeten. In einer Art Reflex tastete Martin nach dem Griff der Motorhaubenentriegelung, bevor ihm einfiel, daß ein Blick in den Motorenraum nicht das geringste ändern würde. Der Wagen mußte in die Werkstatt. Die Nummer des Abschleppdienstes stand auf der Rückseite eines Aufklebers auf seiner Frontscheibe, aber wo konnte er um diese Zeit telefonieren? Martin hatte noch nie über den Kauf eines Mobiltelefons nachgedacht, da er diese Dinger ebenso verabscheute wie die Typen, die sie vorzugsweise benutzten. Vorurteile hatten ihren Preis, und so mußte Martin sich wohl oder übel zu Fuß auf die Suche nach einer Telefonzelle machen. Beim Aussteigen registrierte er erleichtert, daß es aufgehört hatte zu regnen. Die Luft war feucht und trug einen schwer zu definierenden
Geruch nach Teer oder Farbe mit sich, der Martin seltsam vertraut erschien. Martins Weg führte vorbei an dunkel überwucherten Gewächshäusern und einer Reihe baufälliger Vorstadthäuser, die sich haltsuchend aneinanderklammerten und mit staubblinden Fensteraugen gleichgültig ins Leere starrten. Irgendwo bellte ein Hund heiser den wolkenverhangenen Nachthimmel an. Wie sollte er in dieser Gegend eine Telefonzelle finden? In diesem Moment fiel ihm zu seiner Erleichterung das neue Hotel am Schützenplatz ein, »Landhotel König« oder so ähnlich. Die Rezeption würde um diese Zeit mit Sicherheit noch besetzt sein ... Nur noch wenige hundert Meter, und er hatte es geschafft. Automatisch beschleunigte Martin seinen Schritt, bis sein Blick - eher zufällig - am Schaufenster von Tempels Lampengeschäft hängenblieb. Die Auslage war leer und ein handgeschriebenes Pappschild verkündete mutlos: »Geschäftsräume zu verkaufen!« Welcher Irre sollte in dieser Gegend ein Geschäft eröffnen? Als Martin vor Jahren auf der Suche nach einer neuen Lampe für das elterliche Wohnzimmer hier gewesen war, hatte er sich noch über das Durchhaltevermögen der alten Tempels gewundert. Das Sammelsurium aus mehr oder weniger altmodischen Lampenschirmen hatte wie eh und je die engen Verkaufsräume ausgefüllt, die noch immer von einer riesigen Eule aus bemaltem Porzellan bewacht wurden. Martin erinnerte sich, wie er sich als Kind die Nase an der Fensterscheibe plattgedrückt hatte, nur um einen Blick auf das Monstrum mit den glühenden Augen werfen zu können. Obwohl das Geschäft wahrscheinlich längst geräumt war, konnte Martin der Versuchung nicht widerstehen, ein letztes Mal nach dem Ungeheuer seiner Kindheit Ausschau zu halten. Täuschte er sich, oder zeichneten sich im Hintergrund des Raumes tatsächlich die Umrisse der Rieseneule ab? Angestrengt starrte Martin durch die schmutzige Scheibe ins Dunkel, ohne sich Gewißheit verschaffen zu können. Doch was war das? Einen Augenblick lang glaubte Martin die Rücklichter eines vorbeifahrenden Fahrzeugs im Spiegelbild der Schaufensterscheibe zu sehen. Doch als er sich umsah, lag die Straße noch immer still, beinahe wie ausgestorben hinter ihm. Kein Fahrzeug, kein Passant, nur das Singen des Windes in den Drähten längst stillgelegter Telefonleitungen. Nein, das rötliche Lichtschein, den er gesehen hatte, mußte aus dem Inneren des verlassenen Geschäftes stammen. Und jetzt sah es Martin. Glühende Augen starrten ihm aus der Tiefe des Raumes entgegen, dort wo er die Umrisse des alten Porzellanmonstrums vermutet hatte. Das
Leuchten wurde rasch stärker - wie vom Wind angefachte Glut - und tauchte schließlich Gesicht und Körper des Vogelwesens in düsterrotes Licht. Martin konnte seinen Blick nicht abwenden. Er war nicht ängstlicher als andere Männer, und wenn ihm jemand prophezeit hätte, daß er sich eines Tages von einem altmodischen Rauchverzehrer erschrecken lassen würde, hätte er vermutlich gelacht. Jetzt war ihm nicht nach Lachen zumute, zumal er das beunruhigende Gefühl hatte, daß er es hier keineswegs nur mit einem versehentlich eingeschalteten Elektrogerät zu tun hatte. Wie hypnotisiert starrte er in die leuchtenden Augen des Vogelmonstrums, bis graue Nebelschwaden vor seinen Augen zu tanzen begannen und ihm schwindelig wurde. Benommen taumelte Martin zurück und registrierte beinahe unbewußt, daß sich die Perspektive ebenso zu verändern begann wie das Innere des Schaufensters. Ein diffuses Leuchten erfüllte den Raum und plötzlich sah er sich einer ganzen Armee glutäugiger Fabelwesen gegenüber, die ihn reglos und unverwandt anstarrten. Die Invasion der Rauchverzehrer, dachte Martin in einem Anflug von Galgenhumor und spürte seine Beine weich und nachgiebig werden. Er kannte dieses Gefühl und erwartete jeden Augenblick den Schmerz des Aufpralls. Daß er ausblieb, erfüllte ihn mit einer Art Dankbarkeit, die ihn in das Dunkel der Bewußtlosigkeit begleitete ... *** Als Martin zu sich kam, fand er sich auf dem Rücken eines riesigen Vogels wieder. Das unheimliche Wesen schwebte mit weiten Schwingen über dem Land dahin und stieß dabei Töne aus, die sich manchmal zu einer traurigen Melodie reihten. Sein Flug begann in großer Höhe, wo Felder und Wiesen wie braune und grüne Rechtecke auf einem großen Flickenteppich aussahen, gesäumt von Nähten aus silbernen Flüssen. Er konnte erkennen, wie klein die roten Dächer der Häuser in den Tälern dagegen waren und wie winzig die Menschen und Tiere auf den Feldern. Martin sah Autos, Panzer und Lastwagen, die aus der Vogelperspektive wie Spielzeug wirkten. Erst als sie an Höhe verloren, bemerkte Martin, daß der bunten Spielzeugwelt dort unten etwas zugestoßen sein mußte. Es war still, zu still. Kein Rauch drang aus den Schornsteinen der Häuser. Autos und Lastwagen standen kreuz und quer auf Straßen und Feldwegen. Auf den Wiesen lagen tote Tiere, deren Kadaver schwarz in der Sonne verwesten. Noch konnte er keine Einzelheiten erkennen, aber ihm war klar, daß die dunklen Häufchen vor den Häusern tote Menschen sein mußten. Und daß sie wie die weidenden Tiere einen ebenso überraschenden wie grausamen Tod gestorben waren.
»Ich will das nicht sehen!« schrie Martin lautlos, doch niemand hörte ihn. Sie verloren weiter an Höhe, und er bemerkte plötzlich, daß das Vogelmonstrum den Kopf gedreht hatte und ihn mit leuchtenden Augen anstarrte. »Thorocid - ein VX-Derivat«, sagte eine Stimme so deutlich, als entstünden die Worte direkt in Martins Kopf. Er hätte schwören können, daß der Vogel dabei nicht einmal den Schnabel bewegt hatte. »Wer bist du?« wollte Martin fragen, brachte jedoch nicht viel mehr als ein heiseres Krächzen zustande. »Ein C-Gebiet mit immerhin 1,5 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit«, verkündete die Stimme scheinbar zusammenhanglos und ließ ihn mit seinen Gedanken und Zweifeln allein. Sie kreisten jetzt nur noch wenige Meter über den Dächern eines Dorfes, durch das der Sommerwind kaum sichtbare, gelbliche Nebelschwaden trieb. Die Türen der meisten Häuser standen offen. Offenbar hatten sich ihre Bewohner mit letzter Kraft hinaus ins Freie geschleppt. Viele hatten sich in ihrer Verzweiflung sogar aus den Fenstern gestürzt. Die Menschen waren keinen leichten Tod gestorben. Die meisten von ihnen hatten sich im Todeskampf übergeben und die Reste ihrer zerfetzten Lungen ausgespien. Ganze Familien lagen, wie von einer gewaltigen Faust niedergestreckt, neben den Kadavern ihrer Haustiere. Unter Bäumen und Sträuchern sammelten sich die grauen Federhäufchen verendeter Vögel. Das Verhängnis, das über das Dorf und seine Bewohner hereingebrochen war, hatte nicht einmal vor den niedrigsten Kreaturen haltgemacht. Der letzte Regen, der hier gefallen war, war ein schwarzer Regen lebloser Insekten ... Martin wollte die Augen schließen, sich abwenden, doch eine unsichtbare Kraft hielt ihn gefangen, während sich die Bilder in sein Hirn brannten: Schwarze Lippen grinsten über gebleckten Zähnen. Hände mit abgebrochenen Fingernägeln hatten sich tief in die Erde gekrallt. Aus aufgedunsenen Gesichtern starrten trübe Augäpfel wie weiße Eierschalen ins Leere. Weit aufgerissene Münder schrien lautlos um Hilfe. Ein kleines Mädchen hielt seine Puppe im Todeskampf fest umklammert, in deren goldenem Haar schwarz erbrochenes Blut klebte. Martin weinte. Er wünschte sich, winzig klein zu sein, sich in einen Winkel verkriechen zu können und nie wieder etwas sehen zu müssen.
Kreischend schlug der riesige Vogel mit den Flügeln und stieg steil nach oben. Doch obwohl sie rasch an Höhe gewannen, wurde es merkwürdigerweise wärmer. Wind kam auf und trug beißenden Qualm mit sich, der in den Augen brannte und zum Husten reizte. Mit der zunehmenden Hitze änderte sich auch das Bild der unter ihnen dahinziehenden Landschaft. Grüntöne wurden zu Gelb und Ocker, immer häufiger durchbrochen von schwarz verbrannten Flächen und schwelenden Bränden. Ganze Wälder waren den Flammen zum Opfer gefallen, verkohlte Stümpfe qualmten zwischen den glühenden Resten umgestürzter Bäume. Der heiße Wind brannte auf Martins Haut und trocknete seine Kehle aus. Die Hitze drohte ihm den Atem zu nehmen, doch das Vogelmonstrum schien nichts davon zu spüren. Unbeirrt strebte es seinem unbekannten Ziel zu. Unter ihnen erstreckte sich jetzt eine ausgebrannte Trümmerlandschaft ohne erkennbare Strukturen - eine hitzeflirrende, graue Wüste mit vereinzelten, rötlich schimmernden Glutherden. Und dann sah Martin die Stadt. Eigentlich war »Stadt« nicht das richtige Wort für den ausgeglühten Kadaver, der vor ihnen lag. Es gab kein Wort für das, was aus der aufstrebenden Großstadt mit ihren Geschäftsvierteln, Wolkenkratzern und Nobelhotels geworden war. Martin erinnerte sich vage an die vergilbten Aufnahmen der im zweiten Weltkrieg zerbombten Innenstädte, deren Ruinen wie mahnende Zeigefinger in den Himmel ragten. Hier existierte nichts dergleichen. Nur eine formlose schlackeähnliche Masse, die in ihrer Tiefe in einem unheimlichen Leuchten erglühte. Mitunter riß die dunkle Kruste auf einer Länge von mehreren hundert Metern auf und gab den Blick auf das unter der Oberfläche tobende Inferno frei. Bösartig zischend bahnten sich Kaskaden glühender Dämpfe ihren Weg durch die blasenschlagende Masse. Entsetzt starrte Martin auf seine verbrannten Hände, von denen sich die Haut in Fetzen abzulösen begann. Winzige Flammen fraßen Löcher in den Stoff seiner Kleidung, ohne daß er Schmerzen verspürte. Die mörderische Hitze hatte jedes Gefühl ausgelöscht. »Trägerrakete SS-18 Typ ›Satan‹ RS-20 mit Zehnfachsprengkopf«, kommentierte die Stimme in seinem Kopf leidenschaftslos. »Gesamtsprengkraft 7,5 Megatonnen, Energiedosis im Epizentrum etwa 5000 Röntgen. Überlebenswahrscheinlichkeit im Umkreis von 50 Kilometern: 0 Prozent.«
»Wir verbrennen!« schrie Martin und schlug mit seinen blutverkrusteten Händen auf den Hals des Monstrums ein, das noch immer keinerlei Anstalten machte, sich vom Ort des Vernichtung zu entfernen. Dumpf grollend öffnete sich unmittelbar unter ihnen eine neue Glutblase und spie eine Magmafackel in den schwefelfarbenen Himmel, die sich wie eine lodernde Feuerblume entfaltete, bevor sie in einem Schwall hellroter Funken zerbarst. Und plötzlich - während sein Hemd in Flammen aufging und seine Haare und Augenbrauen knisternd verbrannten - begriff Martin. Es war nicht real! Kein Lebewesen - erst recht kein Mensch - konnte in diesem Inferno länger als ein paar Sekunden überleben. Und doch empfand Martin im Augenblick der Erkenntnis keine Erleichterung, denn er begann zu ahnen, weshalb ihn das unheimliche Wesen hierher gebracht hatte. Eine Frage blieb offen, und er mußte all seinen Mut zusammennehmen, um sie zu stellen: »Wann?« Martin hatte keine direkte Antwort erwartet, und so zuckte er erschrocken zusammen, als die Stimme in seinem Kopf erneut zu dröhnen begann: »Morgen, noch vor Sonnenaufgang.« Die Worte hallten noch wie Glockenschläge in Martins Bewußtsein nach, als der Vogel plötzlich seine Schwingen ausbreitete und steil nach oben zog. Sie flogen einen weiten Bogen und hatten die ausgebrannte Stadt bald hinter sich gelassen. Die Hitze verflog, und je mehr sie an Höhe gewannen und sich vom Zentrum der Explosion entfernten, desto kühler wurde es. Martin fror plötzlich. Kälte fraß sich in seine Glieder, und er spürte, daß er jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren würde. Vergebens versuchte er, sich am Hals der Kreatur festzukrallen. Plötzlich verwandelte sich der Körper des Wesens in glattes Eis, so daß Martin abrutschte und schreiend in die Tiefe stürzte. Das Letzte, was seine Augen registrierten, war eine Panzerkolonne, deren Geschütztürme sich ineinander verkeilt hatten, während die winzigen Körper der Soldaten wie ausgetrocknete Käferlarven die graue Straße säumten ... *** Als Martin erwachte, fror er noch immer. Dazu kamen ein taubes Gefühl im Nacken und ein dumpfer Schmerz in seinem rechten Unterarm, mit dem er wahrscheinlich unbewußt
seinen Sturz aufgefangen hatte. Stöhnend richtete er sich auf und griff in einer Art Reflexbewegung nach seiner Brieftasche. Sie befand sich an Ort und Stelle. Diese Gegend war so verlassen, daß es nicht einmal Taschendiebe gab. Noch halb benommen schaute Martin auf die Uhr und registrierte erschrocken, daß es bereits auf fünf Uhr morgens zuging. Wenn das stimmte, dann hatte er die halbe Nacht ohne Bewußtsein auf dem feuchten Bürgersteig gelegen! Jetzt wunderte sich Martin nicht mehr über die Kälte und das Zittern in seinen Knien. Was war überhaupt passiert? Zögernd und bruchstückhaft kehrte die Erinnerung zurück. Er war zu Fuß unterwegs gewesen, weil irgend etwas mit dem Wagen nicht in Ordnung war. Ja, genau - das Mistding war einfach stehengeblieben. Er mußte eine Werkstatt rufen, aber wie? Am besten war, er schaute sich die Sache noch mal in Ruhe an. Manchmal erholten sich die Karren ja auch von selbst ... Martin dachte an seinen alten Ford, der einen Defekt an der Zündung gehabt hatte und immer stehengeblieben war, wenn es ihm zu heiß wurde. Eine halbe Stunde später war dann stets alles wieder okay gewesen. Es hatte keinen Zweck in dieser öden Gegend nach einer Telefonzelle zu suchen, und so wie Martin im Augenblick vermutlich aussah, würde ihm kein Nachtportier der Welt die Tür öffnen. Außerdem sehnten sich seine schmerzenden Glieder nach der weichen Bequemlichkeit des Fahrersitzes. Also machte sich Martin seufzend auf den Rückweg und empfand ein beinahe irrational zu nennendes Gefühl der Erleichterung, als er den Audi ein paar hundert Meter zurück unversehrt vorfand. Dankbar ließ er sich auf den Fahrersitz zurückfallen und drehte den Zündschlüssel. Noch bevor der Motor gehorsam aufbrummte, wußte Martin, daß er anspringen würde. Was auch immer gestern abend mit dem Wagen losgewesen war, es war vorbei ... Martin stellte die Heizung auf volle Leistung und gab Gas. Schnell hatte er die Ausfallstraße in Richtung Autobahn erreicht. An der nächsten Ampelkreuzung registrierte er überrascht, daß Gitter und Umleitungsschild auf der Zufahrtsstraße verschwunden waren. »Verdammt merkwürdig«, murmelte er nachdenklich und dachte darüber nach, wie er Marion seine Verspätung erklären sollte. Die Erinnerung setzte schlagartig ein, als er die Autobahnbrücke Nordwest passierte und die Lichter der Stadt unter sich liegen sah. Trotz der frühen Stunde huschten bereits
Dutzende ameisenkleiner Wagen lautlos über die taghell beleuchtete Stadtautobahn in Richtung Zentrum. Noch dämmerte die riesige Stadt im Halbschlaf dahin, doch schon in wenigen Stunden würde sie zu dröhnender Geschäftigkeit erwachen. Wenn es sie dann noch gab, dachte Martin, während sich die alptraumhaften Bilder des ausgeglühten, steinernen Torsos mit unbarmherziger Deutlichkeit in sein Bewußtsein drängten. Noch vor Sonnenaufgang ... Normalerweise war Martin weit davon entfernt, seinen Träumen - so unangenehm und realistisch sie manchmal auch sein mochten - übermäßig viel Bedeutung zuzumessen. Träume dienten seiner Ansicht nach vorrangig dazu, das Bewußtsein von überflüssigem Ballast zu befreien. Was ihm Angst machte, war allein das Gefühl, daß es sich bei seinen nächtlichen Erlebnissen keineswegs um einen gewöhnlichen Alptraum gehandelt hatte. »Noch vor Sonnenaufgang«, verkündete eine Stimme in Martins Kopf, die er nur zu gut in Erinnerung hatte. Ein kalter Klumpen nistete sich in Martins Magengrube ein und machte sich daran, seine Eingeweide in einen Satz Eiswürfel zu verwandeln. Die Stadt lag längst hinter ihm, doch die Bilder seiner nächtlichen Vision blieben. Sie wiederholten sich mit unerbittlicher Präzision wie ein Film, der in umgekehrter Richtung abgespielt wird. Martin sah die graue Aschewüste wieder, den verbrannten Waldgürtel und schließlich das unversehrt wirkende Spielzeugdorf mit seinen grausig entstellten Bewohnern. Das Schlimmste aber war, daß Martin plötzlich klar geworden war, woher er das Dorf kannte und wer das Mädchen mit der goldhaarigen Puppe war ... »Noch vor Sonnenaufgang«, wiederholte die Stimme ungeduldig. Martin wußte jetzt, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Kälte breitete sich in seinem Körper aus und nahm ihm den Atem. Keuchend löste er den Sicherheitsgurt und preßte seinen rechten Fuß gegen das Gaspedal. Zornig röhrte der Motor auf, während die Tachometernadel träge nach oben taumelte ... 130 ... 140 ... 150. Als die gelb blinkenden Warnleuchten der Brückenbaustelle in Sicht kamen, hatte er den Audi bereits auf 190 Stundenkilometer beschleunigt. »Ich will das nicht sehen!« schrie Martin in das überlaute Dröhnen des Motors und zog das Lenkrad entschlossen nach links. Mit einem letzten Blick in den Rückspiegel registrierte er, daß hinter ihm - über der Stadt - die Sonne aufging. Es war eine neue, sehr helle Sonne, und ihr gleißendes Licht hatte Martin eingeholt, noch bevor sein Wagen am Mittelpfeiler der Eisenbahnbrücke zerschellte. © 1999 by Frank W. Haubold
Stille Nacht Gelbe Lichterpaare gleiten lautlos über verschneite Straßen. Männer in roten Mänteln hasten durch die Nacht. Masken, die Masken verbergen. Stille zieht ein. Das tausendgliedrige Tier hat sich in seine Höhle zurückgezogen. Der harzige Geruch sterbender Bäume durchzieht die Stuben. Reglos lächeln Puppenaugen in erhitzte Kindergesichter. Geschenkberge bitten talmiglitzernd um Vergebung. Marie starrt in das helle Licht der Kerzen. Das Gesicht des Mannes liegt im Schatten, und das ist gut so. Marie weiß nicht, ob sie sein Lächeln ertragen könnte. Oma Elfi ist zu Besuch. Die beiden trinken Glühwein. Marie weiß, daß er sie nicht schlagen wird an diesem Abend, dem heiligen. Und sie hofft, daß er zu betrunken sein wird, um das Tier freizulassen, das sich in ihre Seele bohrt. "Stille Nacht", dröhnt aus den Lautsprechern der neuen HiFi-Anlage. Marie denkt an Mamas Geschenk, das sie unter unter ihrem Kopfkissen versteckt hat. Ihre Augen glänzen, als der Mann sie auf die Stirn küßt. sie prägt sich die Linien seines hageren Halses ein. Das Tier mag kein Licht. Deshalb schließt er abends immer die Rolläden, vielleicht auch wegen der Schreie. "Du darfst nicht an früher denken, als er noch ein Mensch war", hat Mama gesagt. "Wenn du schwach wirst, bringt er dich um." Marie weiß, daß Mama recht hat. Heute abend wird sie nur an das Tier denken, nicht an dieses früher, als Mama noch bei ihnen war. Nicht heute abend. Oma Elfi sagt, Mama wäre jetzt ein Engel, aber das weiß Marie besser ... Sie öffnet ihre Geschenkpakete, stößt kleine, spitze Jubelschreie aus. Er mag ihre Schreie, er und das Tier. Marie schließt die Augen, als sie ihn auf den Mund küßt. Er riecht nach Glühwein und Rauch. Es ist noch nicht einmal acht, und seine Augen sind schon ein wenig gläsern. Der Glühweintopf ist noch fast voll. "Danke Papa", sagt Marie zu der Maske, hinter der sich das Tier verbirgt. "Du bist lieb." Oma Elfi lächelt gerührt. *** Es ist spät. Draußen verkündet Glockenklang das Ende der Mitternachtsmesse. Eine unübersehbare Menschenmenge quillt aus den Toren der Kathedrale. Die Männer tragen lange, dunkle Mäntel über ihren Feiertagsanzügen, die Frauen wetteifern mit ihren Frisuren und der Höhe ihrer Spenden für den neuen Altar. Bekannte und Geschäftspartner verabschieden sich händeschüttelnd. Motoren brummen auf, und wenig später liegt der
Marktplatz wieder still im warmen Schein der Lichterketten. Marie hat eine Kerze angezündet. Nur eine, sonst würde man die häßlichen Flecke an Wand und Decke sehen - und Mamas Weihnachtsgeschenk, das jetzt voller Blut ist. Der Mann auf der Couch liegt still. Marie hat einen Schal um seinen Hals gewickelt, damit er nicht friert. Das Tier ist tot. Marie ist sich da ganz sicher, sie hat nachgesehen. Ihr ist kalt, und sie sich wünscht sich, irgendetwas fühlen zu können: Zorn, Mitleid, Genugtuung. Doch da ist nichts, nur die Kälte, die sich erbarmungslos in ihren Körper frißt. Die bunten Kisten und Kästchen unter dem Weihnachtsbaum werden plötzlich größer und stürzen auf sie zu. Doch Marie fällt weich. Ein riesiger, albern grinsender Plüschteddy mit dem Schal von Papas Lieblingsmannschaft dämpft ihren Sturz. Marie starrt in das flackernde Licht der Kerze und würde gern weinen. Wenn sie erst wieder weinen kann, wird alles gut werden, hat Mama gesagt. © 1999 by Frank W. Haubold
Odyssee in Rot Wo bin ich?" Der Mann erwartete keine Anwort und erhielt auch keine. Er war allein, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, wie er an diesen verlorenen Ort gelangt war. Rotes Licht flutete vom roten Himmel auf rotes Land. Die Welt um ihn herum leuchtete wie das Abendrot vor einer stürmischen Nacht. Eher irritiert als erschrocken hatte der Mann festgestellt, daß er nicht einmal die Umrisse seines eigenen Körpers erkennen konnte. Dabei war er durchaus vorhanden, wie ihm seine tastenden Hände bestätigten. Offenbar überstrahlte das rote Licht alle anderen Farben. Daß er nackt war, kam dem Mann unter diesen Umständen weniger merkwürdig vor, auch wenn er sich aus einem Reflex heraus nach allen Seiten umsah. Ist da jemand?" rief der Mann und lauschte dem dumpfen Klang seiner Worte nach. Niemand antwortete.
Der Mann schloß die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Auch wenn er sich im Augenblick nicht erinnern konnte, irgendwie mußte er doch hierhergekommem sein. Er durchforschte sein Gedächtnis nach einem Anhaltspunkt, nach etwas, das gestern, vorgestern oder letzte Woche geschehen war. Nichts. Es ist gerade so, als wäre es nie gewesen. Kapitän Hollis in "Der illustrierte Mann". Sein Langzeitgedächtnis war also noch intakt. Was fehlte, waren persönliche Erinnerungen. Der Mann wußte nicht einmal seinen Namen. Nicht, daß er ihn sehr vermißt hätte, aber befremdlich war die Tatsache schon. Ausgesprochen befremdlich. Im Augenblick benötigte er allerdings weniger seinen Namen als vielmehr einen Orientierungspunkt oder eine Idee, wohin er sich wenden sollte. Machte es überhaupt Sinn, weiterzugehen, wenn weder Weg noch Ziel erkennbar waren? Der Mann erwog die Alternativen und setzte sich in Bewegung. Die Tatsache, daß er den Boden unter seinen Füßen spüren konnte, minderte das Gefühl der Verlorenheit. Wenigstens gab es zwei Dinge, die existierten: der Boden und er selbst. Und wenn ich nun im Kreis laufe? Die Vorstellung war nicht beängstigender als die endlos rote Wüste vor ihm. Der Mann lief weiter und wunderte sich nur wenig darüber, daß er weder Hunger noch Erschöpfung spürte. Manchmal blieb er stehen, ging in die Hocke und berührte mit seinen Fingerspitzen den Boden. Der Sand war festgebacken und fühlte sich warm an. Nein, eigentlich war es das Fehlen jeglicher Temperaturwahrnehmung, das der Mann als Wärme empfand. Deshalb fror er auch nicht, obwohl er nackt war. Der Mann lief weiter, seine Beine hatten mittlerweile ihren Rhythmus gefunden, so daß es beinahe schien, als liefe er von selbst. Wie lange bin ich eigentlich schon unterwegs? Da der Mann sich nicht am Stand der Sonne orientieren konnte, die sich irgendwo hinter den leuchtenden Dunstschleiern verbarg, blieb die Frage unbeantwortet. Offenbar fehlten in dieser Welt nicht nur die Kontraste, sondern auch der gewohnte Wechsel zwischen Tag und Nacht. Wenn es keine Möglichkeit gab, die Zeit zu messen, dann war sie letztendlich bedeutungslos. Der Mann dachte darüber nach und erschrak. Dennoch lief er weiter. Seine Beine trommelten ihren Rhythmus auf den roten Sand, der irgendwo da vorn in einen ebenso roten Himmel überging.
Der Mann war schon einige Zeit unterwegs, als er in der Ferne einen dunklen Fleck wahrzunehmen glaubte. Er blieb stehen, rieb sich die Augen und schaute wieder nach vorn. Der Fleck war immer noch da. Mit neuer Hoffnung begann der Mann wieder zu laufen. Dabei ließ er den dunklen Fleck nicht aus den Augen. Schließlich war es nicht mehr nur ein Fleck, sondern ein quaderförmiges Gebilde, das aussah, als schwebe es frei in der Luft. Näherkommend erkannte der Mann, daß es sich um eine Art Wagen handelte, ein Wohnwagen vielleicht oder ein fahrbarer Verkaufsstand. Ungeduldig beschleunigte er seinen Schritt, bis er schließlich Einzelheiten erkennen konnte. Vor ihm, beinahe zum Greifen nah, stand ein bunt gestrichener Verkaufswagen, über dessen Fenster ein schwarzes, mit goldenen Lettern bemaltes Schild prangte: "Emilio Francetti - Seifenblasen". Obwohl der Mann noch nie eine Fata Morgana zu Gesicht bekommen hatte, begann er in diesem Augenblick an der Glaubwürdigkeit seiner Wahrnehmungen zu zweifeln. Sein Gemütszustand und der bunte Jahrmarktswagen inmitten der roten Wüste schienen alle Voraussetzungen für ein derartiges Phänomen zu besitzen. Gleich würde das Trugbild verschwinden... Doch seine Befürchtungen bestätigten sich nicht. Ungläubig strich er mit der Hand über die lackierten Bretter, fühlte Nagelköpfe und die zarten Streifen, die der Malerpinsel hinterlassen hatte. Daß seine Hände ebenso unsichtbar blieben wie der Rest seines Körpers, minderte sein Hochgefühl nur unwesentlich. Die Klappe des Verkaufsfensters war offen, so daß der Mann in den Innenraums sehen konnte. Der Anblick verschlug ihm beinahe den Atem, denn die Wände des Wägelchens waren mit schwarzem Samt ausgeschlagen und auf den stufenförmigen Auslagen schillerten Hunderte von Glaskugeln in allen Farben des Regenbogens. Zudem hatte er den Eindruck, als befänden sich hinter dem Verkaufsraum noch weitere Räume, deren Wände ebenfalls bis an die Decke mit blitzenden Kugeln vollgestopft waren. Die Anordnung erinnerte ihn an ein Bild, das er irgendwo gesehen hatte, auf dem ein gemalter Spiegel das gleiche Bild mit einem wiederum gemalten Spiegel zeigte, und auf diese Weise eine enorme Tiefe suggerierte. Wahrscheinlich beruhte die Anordnung der Kugeln auf einer ähnlichen optischen Täuschung. Was den Mann allerdings noch mehr faszinierte, war das Innere der gläsernen Kugeln. Irgend etwas schien sich darin zu bewegen, auch wenn er auf Grund der Entfernung nicht erkennen konnte, was. Das Knattern eines Motors riß ihn aus seinen Betrachtungen. Der Mann fuhr herum und
erblickte ein merkwürdiges Gefährt, das sich in zügiger Fahrt seinem Standort näherte. Die Räder hinterließen keinerlei Spuren, so daß der Eindruck entstand, als schwebe der Wagen irgendwo zwischen Himmel und Erde. Das Trommelfeuer aus dem Auspuff des altertümlichen Rennwagens wurde rasch lauter, und bald konnte der Mann Einzelheiten erkennen: Die Sitze des schwarzen Cabriolets waren mit rotem Leder gepolstert, und am Steuer saß ein elegant gekleideter Mann mit Lederkappe und Rennfahrerbrille, die den größten Teil seines Gesichts verbargen. Einige Meter vor dem Verkaufswagen verstummte das infernalische Geräusch, und das Gefährt rollte langsam aus. Der Fahrer schob seine Brille nach oben und winkte dem Mann zu. "Wieso kann er mich sehen? fragte sich der Mann, winkte aber dennoch halbherzig zurück. "Benvenuto, il mio amico, willkommen in meiner bescheidenen Hütte!" grüßte der Fremde ebenso lautstark wie überschwenglich und machte Anstalten, den Mann zu umarmen. Sein braungebranntes Gesicht wirkte freundlich und offen, auch wenn der forschende Ausdruck in seinen Augen nicht recht zu seiner herzlichen Begrüßung passen wollte. Das Alter des Fremden ließ sich nur schwer schätzen, seine schlanke Gestalt und das dichte schwarze Haar ließen ihn vermutlich jünger erscheinen, als er in Wirklichkeit war. "Guten Tag", erwiderte der Mann höflich. "Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo wir uns hier befinden?" "Oh ja, das kann ich, lieber Freund", verkündetet der Fremde großspurig. "Im Augenblick befindest du dich unmittelbar vor Emilio Francettis grandioser Seifenblasenschau und der Chance deines Lebens, ha ha. Ich hoffe, du siehst mir die vertrauliche Anrede nach, aber unsere Zeit ist zu wertvoll, um sie mit Förmlichkeiten zu verschwenden. Du möchtest dir doch sicher ein paar von meinen Ausstellungsstücken ansehen?" "Gewiß, doch", murmelte der Mann verlegen. "Aber für den Augenblick interessiert mich eher, was das für eine seltsame Wüste ist und weshalb ich mich an nichts erinnern kann." Der Fremde lächelte und erwiderte freundlich: "Ich fürchte, dafür gibt es einen recht unerfreulichen Grund, mein armer Freund: Du bist leider schon ein Weilchen tot, und Tote haben nun einmal gewisse Schwierigkeiten mit ihren Erinnerungen." "Unsinn", erwiderte der Mann, aber sein Widerspruch klang wenig überzeugend. Bis zu diesem Augenblick war es ihm gelungen, seine Ängste zu verdrängen. Er hatte versucht, vor ihnen davonzulaufen, hatte sich keine Pause gegönnt, um nicht über seine Situation nachdenken zu müssen... Das bedeutete allerdings nicht, daß er die Worte des Fremden ernstnahm. Unter anderen
Umständen hätte er ihn einfach ausgelacht und wäre seiner Wege gegangen. Aber was waren seine Wege? "Du glaubst mir nicht", stellte Francetti bekümmert fest. "Wahrscheinlich nimmst du sogar an, daß ich mir einen Scherz mit dir erlaube. Einen üblen Scherz, wie ich meine, denn mit diesen Dingen spaßt man nicht." Das Zucken in seinen Mundwinkeln strafte den Ernst seiner Wort allerdings Lügen. "Dreh dich um, Martin Lundgren!" befahl der Fremde plötzlich mit einer Stimme, die jeden Widerspruch ausschloß. "Dreh dich um, und dann nenne mich einen Lügner!" Der Mann zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Wie war es nur möglich, daß er ihn vergessen hatte? Martin versuchte, Francettis spöttischem Blick standzuhalten und wandte sich schließlich mit einem gewollt gleichmütigen Schulterzucken um. Bengende Hitze schlug ihm ins Gesicht. Die Stadt brannte. Aber das war nur der erste Eindruck, verursacht durch den heißen Wind und die aschefarbenen Rauchwolke, die über der Stadt stand. In Wirklichkeit existierte nichts mehr, das noch hätte brennen können. Die ausgeglühten Skelette der Hochhäuser bohrten sich wie verdorrte Finger in den grauen Himmel. Lava quoll aus breiten, kirschrot glühende Rissen, die die Straßen wie ein feuriges Muster durchzogen. Bösartig zischend bahnten sich Kaskaden glühender Dämpfe ihren Weg durch die blasenschlagende Masse. Nur der Fluß wälzte sich träge und unbeeindruckt an der toten Stadt vorbei, trug geduldig die Last der Trümmer und der verkohlten Körper, die der Feuersturm vor sich hergetrieben hatte. Dichter Nebel stieg von seiner Oberfläche auf, der die Toten barmherzig vor den Blicken des Betrachters verbarg. Martin sank auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Er hatte die Stadt sofort erkannt. Schließlich hatte er den größten Teil seines Lebens dort verbracht... "Das ist nicht wahr", flüsterte er verzweifelt. "Wirklich nicht?" Die Stimme Francettis klang jetzt sanft, beinahe mitfühlend. "Ich weiß, es tut weh, aber du solltest dir über deine Situation klar werden. Es macht keinen Sinn, Dingen nachzutrauern, die nicht mehr zu ändern sind. Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen!"
"Was?" Martin ließ die Hände sinken und wandte sich vorsichtig um. Die Stadt war verschwunden. Die rote Wüste hatte die schrecklichen Bilder ausgelöscht. "Nun mach schon, komm!" Der Fremde streckte Martin die Hand entgegen und half ihm auf. "Bevor wir uns meine kleine Sammlung ansehen, sollten wir uns etwas stärken, du siehst etwas blaß aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf." Trotz des gerade überstandenen Schreckens mußte Martin lächeln. Vorsichtig stieg er die kleine Holztreppe hinauf und trat durch die winzige Tür, die der Besitzer mit übertriebener Höflichkeit für ihn aufhielt. Erstaunt registrierte er, daß der Innenraum wesentlich geräumiger schien, als er angesichts der Größe des Wägelchens angenommen hatte. Die Luft war stickig und roch nach heißem Metall und Kräutern. Auf einem kleinen Holztisch stand ein Petroleumkocher mit einer dampfenden Teekanne. Zwei grob gezimmerte Hocker, Teegläser und eine Keramikschale mit braunem Kandiszucker vervollständigten die spartanische Ausstattung des Wagens, der in der Hauptsache der Präsentation der regenbogenfarbenen Glaskugeln zu dienen schien. "Nimm Platz, amico mio", forderte der Fremde Martin freundlich auf und rieb sich die Hände wie jemand, der aus großer Kälte an den heimischen Herd zurückgekehrt war. Trink einen Schluck Tee mit mir, und dann unterhalten wir uns übers Geschäft." "Was bedeuten all diese Kugeln hier?" fragte Martin neugierig. "Seifenblasen sind das bestimmt nicht." "Das kommt auf den Standpunkt an, mein Freund", entgegnete Francetti lächelnd, während er Tee einschenkte und Zucker dazugab. "Leute wie du halten Seifenblasen für etwas Vergängliches, weil sie nach ein paar Sekunden zerplatzen, während sie selbst im Durchschnitt 80 Jahre alt werden. Ein Lebewesen, eine Mikrobe vielleicht, das nur ein paar Sekunden lang lebt, würde die Seifenblase als eine festen Bestandteil seiner Umwelt ansehen. Genauso ergeht es dir jetzt. Die Seifenblasen hier sind Teil eines anderen Universums und deshalb stabiler und langlebiger, als du dir vorstellen kannst." "Und wie lange dauert es, bis sie zerplatzen?" erkundigte sich Martin beklommen. "Ein paar Sekunden oder hundert Jahre. Trinken wir auf die Vergänglichkeit", erwiderte der Fremde ernst, "und auf das Leben." Zögernd griff Martin nach dem Glas mit der goldbraunen, heißen Flüssigkeit und führte es vorsichtig zum Mund. Der Kräuterduft wurde stärker und mischte sich mit einem fremdartigen, leicht harzig erscheinenden Geruch, der ihn zunächst davon abhielt zu trinken. "Trink, mein Junge", lächelte sein Gastgeber und nahm selbst einen kräftigen Schluck. "Es ist sozusagen ein Geschenk des Hauses." Einen Augenblick lang glaubte Martin ein merkwürdiges Glitzern in Francettis Augen wahrzunehmen, aber das konnte auch ein Lichtreflex gewesen sein.
Vorsichtig kostete er von der dampfenden Flüssigkeit, deren herb-würziges Aroma ihn an exotische Früchte denken ließ. Kaum hatte Martin sein Glas abgesetzt, verspürte er das Verlangen nach mehr, so daß er kaum der Versuchung widerstehen konnte, den Rest des Getränks auf einen Zug auszutrinken. Dankbar genoß er die Wärme, die sich vom Magen her in seinem Körper ausbreitete. Aber war das wirklich nur Wärme? Das zufriedene Lächeln seines Gastgebers beunruhigte Martin mehr als das angenehme Schwindelgefühl, das seinen Körper leichter, beinahe schwerelos erscheinen ließ. Vielleicht war das Getränk doch mit Alkohol versetzt gewesen, auch wenn er nichts davon geschmeckt hatte. Irgend etwas hatte sich verändert, veränderte sich noch immer. Die regenbogenfarbenen Kugeln wurden durchsichtig und verschwanden, selbst die Holzwände um ihn herum verloren ihre Konturen, wurden transparent und gaben schließlich den Blick in eine völlig veränderte Landschaft frei. Eine Flut von Farben, Tönen und Gerüchen stürzte auf Martins Sinne ein und löschte innerhalb von Sekunden jeden Gedanken an die rote Wüstenlandschaft und den geheimnisvollen Fremden aus. Martin saß vor einem kleinen Café, knapp fünfzig Meter oberhalb des Strandes, und genoß den Blick auf das Meer. Kinder warfen sich kreischend in den Gischt der träge heranrollenden Wellen und ließen sich in Richtung Ufer tragen. Eine Dreimastbark glitt mit geblähten Segeln vorbei, gefolgt von einem Schwarm lärmender Möwen. Es roch nach Tang und den blühenden Sträuchern, die rings um das kleine Anwesen der Sonne entgegenwucherten. Das Bier war wunderbar kühl. Es machte Spaß, mit dem Finger über die beschlagene Oberfläche des Glases zu fahren. Im Vorgarten legte der Koch die ersten Fleischspieße auf den Holzkohlengrill. Am Nachbartisch saß eine junge Frau vor ihrem Capuccino und las. Das straff nach hinten gekämmte und zu einem Knoten gebundene Haar verlieh ihrem gebräunten Gesicht eine strenge Note, die in reizvollem Gegensatz zu den weichen Schwüngen ihrer dunkel geschminkten Lippen stand. Beinahe unwillkürlich glitt Martins Blick dorthin, wo sich ihre übereinandergeschlagenen Oberschenkel trafen. Der schmale Stoffstreifen ihres Bikiniunterteils war ein wenig verrutscht... Als die Dunkelhaarige aufsah und sich ihre Blicke für kurze Zeit begegneten, schoß ihm die Röte ins Gesicht. Die junge Frau lächelte, nippte an ihrem Glas und wandte sich wieder ihrer Lektüre zu. Martin winkte dem Kellner und bestellte drei Fleischspieße, ohne Knoblauchsauce. Vielleicht mochte das Mädchen den Geruch nicht...
"Du bist zwanzig Jahre alt, Martin Lundgren, flüsterte eine spöttische Stimme in seinem Kopf. Ist es nicht großartig, so jung zu sein? Und am Leben... ha ha? Erschrocken fuhr Martin zusammen. Doch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, verblaßten der azurfarbene Himmel, die Blüten und das Grün der Weinstöcke. Die Dunkelhaarige ließ ihr Buch sinken und sah neugierig zu ihm herüber. Plötzlich gerieten ihre Gesichtszüge in Bewegung, verzogen sich zu einer androgynen Grimasse und verwandelten sich schließlich in die Francettis, der Martins Verwirrung sichtlich genoß. Schwarz glänzte der Samt an den Wänden, die sich erneut mit schillernden Kugeln füllten, während die rote Wüste draußen Strand und Meer verschlang. "Kennst du das Märchen vom Fischer und seiner Frau?" lachte Emilio Francetti, und Martin haßte ihn dafür. Das Lächeln glitt von den Mundwinkeln des Fremden, und seine dunklen Augen musterten Martin ernst und nachdenklich. "Wir sollten zum Geschäft kommen, mein Freund. Nicht, daß mich die Unterhaltung mit dir langweilen würde, aber die Zeit drängt. Mein Angebot kennst du ja nun." "Welches Angebot?" "Ein neue Chance", versetzte Francetti mit einer Spur von Ungeduld in der Stimme. "Keine ewige Jugend, keine Garantie für Gesundheit und Glück, einfach ein neues Leben in einer Umgebung, die dir etwas vertrauter ist als diese hier." Unwillkürlich folgte Martins Blick der Geste des Fremden hinaus in die Wüste. Warum sollte ich Ihnen glauben?" erkundigte er sich heiser. "Und was wollen Sie dafür haben - meine Seele?" Der Fremde lachte. Und das Schlimme daran war, daß Francettis Lachen keineswegs boshaft oder höhnisch klang, sondern einfach nur amüsiert. "O amico mio, deine... Seele", brachte der Italiener mühsam zwischen zwei Lachsalven hervor. "das ist wirklich... köstlich." Was verlangen Sie sonst?" Martin mochte es nicht, wenn er ausgelacht wurde. Nicht einmal hier, am Ende der Welt. Am Ende der Welt? Martin spürte, wie sein Mund trocken wurde, als der Fremde unvermittelt aufstand und nach ein paar Schritten in einer Öffnung zwischen den samtschwarzen Wänden verschwand. Er beeilte sich, ihm zu folgen und stand plötzlich in einem endlos
erscheinenden Gang, dessen Wände allesamt bis an die Decke mit schillernden Kugeln gefüllt waren. Was er von draußen für eine geschickte optische Täuschung gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Aufbewahrungsort von Tausenden und Abertausenden jener merkwürdigen Objekte, die Francetti als "Seifenblasen" bezeichnete. "Du möchtest dir also ein neues Leben verdienen?" erkundigte sich der Fremde lächelnd, der nur ein paar Meter entfernt auf ihn gewartet hatte. "Das ist leider nicht ganz einfach, weil gewisse Umstände dagegensprechen." "Welche Umstände?" "Umstände, die mit der Natur dieser kleinen Wunderwerke zu tun haben", erwiderte Francetti und reichte Martin eine der schillernden Kugeln. "Greif ruhig zu, sie sind stabiler, als du annimmst." Vorsichtig nahm Martin die zerbrechlich scheinende "Seifenblase" entgegen und hätte sie dennoch um ein Haar fallengelassen. Die Kugel war körperwarm und elastisch wie ein zu weich aufgepumpter Gummiball. Martin konnte spüren, wie sich die schillernde Hülle unter dem Druck seiner Hände verformte. Obwohl die über die Oberfläche tanzenden Farbschlieren das Innere der Kugel weitgehend verbargen, erkannte er, daß sich etwas darin bewegte. Neugierig beugte er sich über einen transparent erscheinenden Fleck und erkannte zu seiner Überraschung ein winziges, kaum spannengroßes Wesen, das mit verbissenem Gesicht und splitterfasernackt auf der Stelle lief. Die offenkundige Vergeblichkeit seiner Bemühungen schien es nicht zu bemerken, oder es störte sich nicht daran. "Was ist das?" murmelte Martin verblüfft. "Ein Hologramm?" "Nicht doch, mein Freund, das ist Steven G. Rodman, 45 Jahre alt, Wertpapierhändler auf seiner morgendlichen Trainingsrunde", erklärte der Fremde nachsichtig lächelnd. "Die Kriminalität ist in diesem New Yorker Stadtteil erfreulich gering, so daß die Tour durch den Park kein ernsthaftes Risiko darstellt." "New York?" erkundigte sich Martin ungläubig. "Ich sehe nur einen nackten Zwerg, den jemand in eine Plastikkugel gesperrt hat." "Das liegt daran, daß es kein New York gibt, keinen Stadtpark und nicht einmal den teuren Laufanzug, den unser Freund üblicherweise bei seinen Trainingseinheiten trägt." "Dieser Kerl rennt nackt in einer Kugel herum und merkt es nicht einmal?" "So ist es", bestätigte Francelli zufrieden. "Aber du müßtest ihn erst einmal erleben, wenn er sich daranmacht, seine imaginäre Gattin mit seinem ebenso imaginären Hausmädchen zu betrügen. Ein Bild für die Götter, kann ich dir sagen. Leider findet diese Übung erst in etwa zwei Stunden Rodmanscher Zeit statt."
"Rodmanscher Zeit?" "Ja, natürlich. Wenn weder die Stadt noch Rodmans Villa samt Hausmädchen existieren, weshalb sollte dann die von ihm wahrgenommene Zeit real sein? All diese Dinge existieren ausschließlich im Bewußtsein unseres Freundes. Was ihm nichts auszumachen scheint, oder?" Der amüsierte Unterton in der Stimme des Fremden ließ allerdings die Vermutung zu, daß ihm die Befindlichkeiten des eingesperrten Zwerges herzlich gleichgültig waren. Martin hatte das seltsame Ausstellungsstück mittlerweile wieder an seinen Platz gestellt und machte sich mit leicht abwesenden Gesichtsausdruck daran, das Innere der benachbarten Kugeln zu erkunden. Die Erklärungen Francettis hatte er zwar zur Kenntnis genommen, weigerte sich aber instinktiv, ihnen Glauben zu schenken. Fasziniert beobachtete er das seltsame Gebaren der zwergenhaften Wesen im Inneren der regenbogenfarbenen Kugeln und fragte sich, mit welchen Tricks Francetti die Illusion ihrer Lebendigkeit erzeugt hatte. Er sah nackte Kinder, die mit selbstvergessener Miene unsichtbare Bälle in unsichtbare Basketballkörbe schleuderten, Männer, die mit starrem Blick auf unsichtbare Computertastaturen einhieben und Frauen, die unsichtbaren Babys die Brust gaben, bevor sie sie in ebenso unsichtbaren Windeln verstauten. Er sah andere Frauen, jüngere und ältere, die sich imaginären Liebhabern hingaben, und Männer, die sich betranken und danach mit unsichtbaren Rivalen prügelten, bis sie aus Mund und Nase bluteten. Die ganze Zeit über spürte Martin den forschenden Blick Francettis auf seinem Gesicht ruhen, so daß er sich schließlich umwandte und ihn zur Rede stellte: "Dann bilden sich diese Leute das Blut und ihre Schmerzen wohl auch nur ein?! Und was soll dieses alberne Puppentheater überhaupt?" "Ich hatte gehofft, daß du ein wenig schneller begreifst, Martin Lundgren", erwiderte der Fremde nachsichtig. "In Wahrheit befindet sich in all diesen Seifenblasen nichts, das du in Lage wärest wahrzunehmen. Was ich deutlich machen wollte, war, daß sich in jeder dieser Kugeln ein menschliches Bewußtsein befindet, das mit ihr entsteht und vergeht. Hättest du mir das ohne diesen kleinen Kunstgriff geglaubt?" "Ich glaube Ihnen auch so kein Wort", versetzte Martin störrisch und schrak zusammen, als in unmittelbar vor ihm eine große schillernde Kugel mit einem dumpfen Geräusch zerbarst, ohne die geringste Spur zurückzulassen. "Rafael Molinos, 23 Jahre alt, CET-Dealer und auch sonst ein ziemlich unangenehmer Bursche", erklärte Francelli gelassen. "Dieses Mal hat er sich allerdings mit den falschen Leuten angelegt. - Aber wir kommen vom Thema ab. Eigentlich wollte ich dir nur klarmachen, was es mit den "Seifenblasen" auf sich hat. Der Außenstehende mag vielleicht den Eindruck haben, daß es auf eine mehr oder weniger nicht ankommt, aber ich versichere dir, daß dem leider nicht so ist. Tatsache ist, daß ein neues Leben nur im Tausch gegen ein anderes, vor der Zeit beendetes, zu haben ist. Verstehst du, was ich
meine?" "Ich muß also jemanden umbringen", murmelte Martin heiser, "wenn ich zurück will." "Das ist eine ebenso emotionale wie unzutreffende Sicht der Dinge", korrigierte ihn der Fremde nachsichtig und zog ein schmales Stilett aus seinem Gürtel. Lichtreflexe tanzten wie glühende Funken über die geschliffene Klinge. "Du ersetzt den Traum eines Fremden durch deinen eigenen, daran ist nichts Verwerfliches. Und ich versichere dir, daß dein Traum ein Leben lang währen wird. Na, was ist?" Martin schüttelte den Kopf, doch seine Rechte griff - wenn auch widerstrebend - nach dem Dolch, den ihm der Fremde hinhielt. Der Griff des Messers fühlte sich angenehm kühl an, und er genoß die Empfindung ebenso wie die Illusion der Macht, die ihm der Besitz der Waffe verlieh. Francetti lächelte. Es war das überzeugende Lächeln eines Mannes, der sich seiner Sache sicher ist, und gerade das machte Martin mißtrauisch. "Und was wird aus mir?" erkundigte er sich mißtrauisch. "Ein nackter Zwerg wie dieser Rodman?" "Du bist ein Narr, Martin", versetzte der Fremde ohne Groll, "nicht unsympathisch, aber ein wenig schwer von Begriff. Da die äußere Wahrnehmung und die individuell verstreichende Zeit dieser - Wesen eine Illusion ist, besitzen sie auch keinen Körper, obwohl sie vermutlich das Gegenteil beschwören würden. Sie sind Teil ihres eigenen Traumes, sonst hätte unser Freund Molinos doch nicht spurlos verschwinden können, oder?" Das klang plausibel, doch noch war Martin nicht überzeugt. "Und wer garantiert mir, daß mein Traum Bestand hat? Schließlich kann ich mich ja nicht mehr wehren, wenn ich einmal dort bin..." Martin deutete auf eine Lücke zwischen den schimmernden Kugeln. "Niemand", erwiderte Francetti ernst. "Leben bedeutet Risiko, selbst wenn es nur ein Traum ist. Seine Einzigartigkeit besteht ja gerade in der Gewißheit, daß es irgendwann zu Ende sein wird." Der Fremde hatte recht, aber das machte Martins Entscheidung nicht leichter. Er mußte ein menschliches Bewußtsein auslöschen, um selbst leben zu können. Daß kein Blut fließen würde, war dabei ohne Belang. Anschlüssig ließ Martin seinen Blick über die samtschwarzen Regalwände schweifen. Manchmal beugte er sich über eine der schimmernden Kugeln betrachtete ihren Inhalt mit einer Mischung aus Mitleid und Abneigung.
Offensichtlich brauchst du ein wenig Unterstützung", ließ sich Francetti vernehmen und nahm eine perlmuttfarbene Kugel aus den oberen Ablagen. "Joseph Grünthal, 68 Jahre alt, unheilbar krank. Die Ärzte haben ihn aufgegeben und in ein Einzelzimmer gesteckt, wo er sterben wird. Er leidet Höllenqualen, weil er zuwenig Morphium bekommt. Schau ihn dir ruhig an, mein Freund." Martin trat näher und beugte sich über die von winzigen schwarzen Rissen durchzogene Kugel. Der Fremde hatte nicht übertrieben. Dieser Mann würde sterben. Schon bald. Die fahle Haut spannte sich wie Pergament über den Knochen seines ausgemergelten Körpers. Seine Augen lagen tief in den Höhlen des haarlosen Schädels und starrten ins Leere. Das Gesicht des Kranken war nicht mehr als eine wachsfarbene, schmerzerfüllte Maske. Martins Rechte umkrampfte den Griff des Messers. Im diesem Augenblick drehte der Sterbende seinen Kopf zur Seite, und seine blassen Lippen verzerrten sich zu einem mumienhaften Lächeln. Offenbar hatte er etwas gesehen, das ihn sein Leiden vergessen ließ, denn seine Augen leuchteten förmlich auf und füllten sich mit Leben. Martin wußte nicht, wem die Aufmerksamkeit des todkranken Mannes galt, aber wußte, daß er um jeden Augenblick kämpfen würde, der ihm noch blieb. Die Hand mit dem Messer sank herab. "Ich kann nicht", flüsterte Martin unglücklich. "Schon gut", beruhigte ihn der Fremde und legte die Kugel zurück an ihren Platz. "Ich kann dich verstehen, auch wenn es für den alten Mann besser gewesen wäre, wenn du dich seiner angenommen hättest." Ein Schatten glitt über Francettis Gesicht, das aber gleich darauf wieder den gewohnt wohlwollenden Ausdruck zeigte. Aber vielleicht kannst du dem Mädchen hier helfen, das zwar gesund ist, aber ohne deine Hilfe auf sehr unangenehme Weise sterben wird." Die Kugel, auf die der Fremde wies, befand sich unmittelbar vor Martin in Augenhöhe, und ihre grazilen Wände erschienen beinahe durchsichtig. Das dunkelhaarige Mädchen in ihrem Inneren sah allerdings nicht so aus, als benötige es Hilfe. Seine verführerische Nacktheit irritierte Martin und machte ihn ein wenig verlegen. Offenbar wartete es auf jemanden, denn es trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und zupfte sein unsichtbares Kleid zurecht. "Monica Marquez, 17 Jahre", erklärte Francetti mit kaum unterdrückter Nervosität. "Sie wartet in einem Hotelzimmer auf ihren neuen Freund José, der unter seinem richtigen Namen Mario Guzman in fünf Bundesstaaten zur Fahndung ausgeschrieben ist. Er handelt mit Implantaten. Er wird ihr die Kehle durchschneiden und sie dann wie ein
Stück Vieh ausweiden. Wenn du es nicht verhinderst, Martin." "Woher wollen Sie das wissen?" flüsterte Martin zweifelnd. "Das Mädchen schien etwas gehört zu haben und öffnete mit einem Lächeln eine unsichtbare Tür. "Jetzt!" rief der Fremde. "Uns bleibt keine Zeit mehr!" Im gleichen Augenblick taumelte das Mädchen zurück und griff sich mit beiden Händen an den Hals. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, viel Blut. Martin stand wie versteinert und beobachtete, wie eine unsichtbare Kraft das Mädchen an den Haaren emporriß und seinen Hals mit einem neuen Schnitt halb durchtrennte. Eine hellrote Fontäne schoß aus der klaffenden Wunde, während der Körper des Mädchens erschlaffte. Die Kugel zerbarst mit einem dumpfen Blob, und Martin taumelte erschrocken zurück. "Narr, Feigling, Dummkopf!" ereiferte sich Francetti. Seine Augen blitzten vor Zorn. "Du hättest sie retten können, sie vor diesem Monstrum beschützen. Aber du bist und bleibst ein Feigling!" "Es ging alles so... schnell", versuchte sich Martin zu entschuldigen, doch der Fremde hatte sich schon wieder beruhigt. "Also gut, Martin", erklärte er im Tonfall eines Lehrers, der sich mit einem besonders hartnäckigen Fall von Begriffsstutzigkeit konfrontiert sieht. "Zwei Möglichkeiten hast du ausgelassen, jetzt bleibt dir nur noch eine einzige. Oder hast du es dir mittlerweile anders überlegt?" Martin schüttelte den Kopf. Wenn er die Augen schloß, konnte er die weißen Schaumkronen der Wellen sehen, die träge an den Strand rollten. Er spürte den salzigen Geschmack des Meeres auf der Zunge und roch den Duft unzähliger Blüten. Nein, er wollte zurück. Nach Hause... Francetti schien nichts anderes erwartet zu haben und zwinkerte ihm aufmunternd zu: "In Ordnung, jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, daß deine zarte Seele bei dieser Operation keinen Schaden nimmt. - Ja, das könnte eine Möglichkeit sein..." "Wovon sprechen Sie?" erkundigte sich Martin ungeduldig, während der Fremde mit raschen Schritten voranging, bis er das Gesuchte gefunden hatte. "Ich spreche von Isao Tanaki, 38 Jahre alt", erwiderte Francetti und zeigte Martin die entsprechende Kugel. "Er ist Pilot und einziges Besatzungsmitglied der 'Hermes', eines Versorgungschiffes der lunaren Allianz. Unglücklicherweise befindet sich das Schiff auf Kollisionskurs mit einem faustgroßen Meteoriten, der in etwa zwei Minuten die Kabinenwand mit der Wucht eines Artilleriegeschosses durchschlagen wird. Der Unterdruck wird Tanakis Augen aus den Höhlen reißen und seine Lungen explodieren
lassen. Ein Ende, das du ihm ersparen solltest..." Betroffen starrte Martin auf den schmächtigen Asiaten, der bequem zurückgelehnt in einem imaginären Pilotensessel saß und an unsichtbaren Knöpfen hantierte. Tanaki, der Name sagte ihm irgend etwas, aber die Erinnerung war zu vage, um eine konkrete Assoziation hervorzurufen. Außerdem wurde die Zeit knapp. Die 'Hermes' und ihr ahnungsloser Pilot rasten dem Untergang entgegen. Wenn er zu lange zögerte, würde Tanaki in ein paar Sekunden die Reste seiner gefrorenen Lungen ausspeien... Martin packte das Messer fester und holte aus. Der Fremde lächelte sein gewinnendes Dompteurlächeln und nickte unmerklich. Der 'Hermes' und Isao Tanaki blieben jetzt nur noch Sekunden. "Ich muß es tun", flüsterte Martin lautlos und stieß zu. Die silberne Klinge des zwanzig Zentimeter langen Stiletts fand ihr Ziel wie von selbst. Im Inneren der schillernden Seifenblase jagte der Pilot Tanaki in seinem unsichtbaren Raumschiff weiter der Mondbasis entgegen. Es gab keinen Meteoriten, hatte nie einen gegeben, würde nie einen geben. Martin hatte es in den Augen des Fremden gelesen. Emilio Francetti war tot. Die Klinge steckte noch immer in seiner Brust, dort, wo sich bei Menschen das Herz befindet. Als die regenbogenfarbenen Kugeln verschwanden und die Wände durchscheinend wurden, wußte Martin, daß er die Prüfung bestanden hatte. Der rote Wüstensand war immer noch rot, aber der Himmel hatte sich verändert. Er war nachtschwarz und das kalte Licht der Sterne mischte sich mit den purpurfarbenen Strahlen einer fernen, müden Sonne. Der Kanal lag im Schatten, doch an seinem Ufer brannte ein kleines, funkensprühendes Feuer. Sein flackerndes Licht tanzte über die grazilen Schmetterlingssegel eines Sandschiffes. Einen Augenblick lang fürchtete Kapitän Martin Lundgren, unter der Last seines Raumanzugs zusammmenzubrechen. Mit weichen Knien stolperte er vorwärts in Richtung Feuer, wo ihn die Marsianer erwarteten. Alle drei trugen aus Bronze gehämmerte Masken und starrten ihm aus schwarzen
Augenschlitzen entgegen. Willkommen", sagte eine Stimme in seinem Kopf, und Martin begann zu weinen wie ein verirrtes Kind, das heimgefunden hat. - Ende © Frank W. Haubold, 2000
Schattenbruder Leseprobe aus dem Mysterythriller »Abbadon« But I Everybody Bob Dylan
would
not must
feel
so get
all
alone, stoned.
Ingolf Hermann wartete. Schon vor einer halben Stunde hatte er hinter der spaltbreit geöffneten Tür seines Zimmers Posten bezogen. Normalerweise fuhr Ganschow an jedem Wochentag gegen sechzehn Uhr in die Stadt. Welcher Art die Geschäfte waren, die sein Stiefvater um diese Zeit dort erledigte, wußte Ingolf nicht. Sie waren ihm auch gleichgültig. Hauptsache, er war aus dem Haus. Es dauerte dennoch bis Viertel vor fünf, bis sich die Tür des Büros im ersten Stock endlich öffnete, und der Mann, den er über alle Maßen verabscheute, das Haus verließ. Ingolf lief noch einmal zurück zum Fenster und wartete, bis der hagere grauhaarige Mann in seinen Wagen gestiegen und davongefahren war. Erst dann atmete er tief durch und machte sich auf den Weg nach unten. Natürlich war die Tür mit der Aufschrift »H. Ganschow - Geschäftsführer« abgeschlossen. Dieser Schweinehund traut niemandem hier über den Weg, dachte Ingolf verächtlich und zog das Duplikat des Reserveschlüssels aus seiner Hosentasche, das er bei einem Schlüsseldienst am anderen Ende der Stadt hatte anfertigen lassen. Der Nachschlüssel drehte sich wie von selbst in dem neuen Sicherheitsschloß, das sein mißtrauischer Stiefvater erst vor einem halben Jahr hatte einbauen lassen. Also hatte der alte Schlossermeister, der Ingolf die ganze Zeit über unverschämt
angegrinst und einen weit überzogenen Preis gefordert hatte, doch gute Arbeit geleistet. Ingolf atmete auf, als sich die dick gepolsterte Bürotür hinter ihm geschlossen hatte. Er konnte sich Zeit lassen, denn vor neunzehn Uhr kehrte Harry Ganschow nie aus der Stadt zurück. Behutsam nahm Ingolf das geschmacklose Aktgemälde von der Wand, das den Tresor verdeckte. Jetzt würde sich herausstellen, ob Abaddon ihm die richtige Kombination verraten hatte. Bisher hatte ihn Abaddon allerdings noch nie belogen. Für Ingolf war er längst mehr als ein Traumbild. Abaddon war sein Bruder, gewissermaßen ein Teil von ihm selbst ... Dennoch schlug Ingolf das Herz bis zum Hals, als er die sechs Ziffern der Safekombination nacheinander einstellte und durch einen Druck auf den Wählknauf bestätigte. Kein noch so leises Klicken verriet ihm, ob die vorangegangenen Eingaben korrekt gewesen waren. Dann kam der entscheidende Augenblick. Der vorher in der Senkrechten gesperrte Verschlußhebel ließ sich ohne größere Kraftanstrengung nach oben ziehen, und die schwere Tresortür schwang auf. Mit offenem Mund starrte Ingolf auf die sorgfältig aufgestapelten und mit Banderolen versehenen Geldbündel, die fast das gesamte obere Tresorfach ausfüllten. Obwohl ihn Abaddon gewarnt hatte, konnte Ingolf der Versuchung nicht widerstehen, eines der Banknotenbündel in die Hand zu nehmen und durchzuzählen. Es waren allesamt Hunderter. Fünfzig Stück in einem einzigen Bündel. Ingolf überschlug im Kopf die Gesamtmenge und kam auf die schwindelerregende Summe von mehr als hunderttausend Mark. Ingolf, der im anderen Teil Deutschlands aufgewachsen war, wo man für eine einzige DMark locker vier bis fünf Ostmark hinlegen mußte, war fassungslos. Seine Mutter hatte es also hier im Westen wirklich zu etwas gebracht. Abaddon hatte also wieder einmal recht behalten. Sofort fielen ihm dessen eindringliche Ermahnungen wieder ein, und er legte das Bündel zurück in den Safe. Er war nicht hier, um zu stehlen, sondern um etwas herauszufinden. Etwas, das nach Abaddons Auffassung ungeheuer wichtig für ihn war. Es dauerte nicht lange, bis er den Aktenordner mit der Aufschrift »Versicherungen« gefunden hatte. Schon beim ersten flüchtigen Durchblättern stieß Ingolf auf die gesuchte
Police für die Gebäudeversicherung. Sie belief sich auf eine atemberaubende sechsstellige Summe. Und als Besitzer und Versicherungsnehmer war nicht etwa der Name seines Stiefvaters eingetragen, sondern der von Ingolfs Mutter, Margit Ganschow, geborene Hermann! Wenn seine Mutter die Besitzerin der Pension war, weshalb ließ sie sich dann von diesem Ganoven Ganschow wie ein Dienstmädchen behandeln? Und warum ergriff sie immer die Partei ihres Mannes, wenn es zwischen Ingolf und seinem Stiefvater Streit gab? Ließ es sogar zu, daß dieses Scheusal ihn schlug? Liebte sie diesen brutalen Dreckskerl etwa mehr als ihr eigenes Kind? Noch bevor Ingolf den Aktenordner in den Safe zurückgestellt hatte, ließ ihn ein Geräusch erschrocken herumfahren. Harry Ganschow stand in der Tür. Seine mißtrauische grauen Augen wanderten zwischen Ingolfs entsetztem Gesicht und der Wand mit dem weit geöffneten Tresor hin und her. Auf seine Wangen bildeten sich hektische rote Flecken. Er sagte kein einziges Wort, als er mit geballten Fäusten auf seinen Stiefsohn zuging, und das machte es noch schlimmer. »Ich...«, brachte Ingolf hilflos hervor, dann traf ihn ein brutaler Fausthieb in den Magen. Mühsam nach Luft schnappend krümmte sich Ingolf zusammen. Einen Augenblick später war sein Mund eine einzige blutende Wunde. Harry Ganschows Fuß hatte mit voller Wucht Ingolfs Kinn getroffen und ihm den Unterkiefer gebrochen. Erschrocken sah Ingolf den hellen Parkettfußboden auf sich zustürzen. Sein Kopf schlug hart gegen den Marmorfuß der Stehlampe, und er verlor das Bewußtsein... Das rettete ihm vermutlich das Leben, denn als sein am Boden liegendes Opfer auf den nächsten Tritt in die Hodengegend nicht mehr reagierte, verlor Harry die Lust an der seiner Meinung nach längst überfälligen Züchtigung seines mißratenen Stiefsohnes und ließ von ihm ab. »Fett, feige und verlogen«, murmelte er verdrossen, während er sich an der Hausbar bediente. »Beklaut seine eigenen Eltern ...« Als Ingolf zu sich kam, hing sein Kinn, in dem trotz der Betäubungsspritzen noch immer dumpf die Schmerzen pochten, in einem Käfig von Metallstäben. Er konnte den Kopf trotz aller Anstrengung nicht mehr bewegen. Das Gefühl der Hilflosigkeit war schlimmer als der Schmerz. Ein blau bekittelter Quälgeist zog sein rechtes Augenlid nach oben und blendete ihn mit einer kleinen Taschenleuchte. »Aufwachen, Herr Hermann!« drang ein durchdringende Frauenstimme durch die Wattestopfen in seinen Ohren. »Aufwachen!«
Ingolf war speiübel. Doch er konnte sich nicht einmal zur Seite drehen, um sich zu übergeben. Während er heftig aufstieß, fühlte er den widerlich sauren Geschmack seines Mageninhalts im Mund. Als er verzweifelt nach Luft schnappte, geriet etwas davon in seine Luftröhre und erstickte ihn beinahe in einem Hustenanfall. Jemand preßte ihm einen Gummikeil zwischen die Zähne und stocherte mit einem Rohr in seinem Rachen herum, das die Flüssigkeit schmatzend absaugte. Ingolf wäre gern gestorben. Er sehnte sich zurück in das warme Dunkel der Bewußtlosigkeit. Doch seine Peiniger hatten andere Pläne mit ihm. Sie stachen Kanülen in seine Armbeuge, klebten Elektroden auf seine Haut, schlossen Schläuche und Kabel an und verbanden sie mit einer verwirrenden Vielzahl von Geräten, die summende und piepende Geräusche von sich gaben. Dann karrten sie ihn mit seinem Bett durch endlose, hell erleuchtete Gänge, schoben ihn in Fahrstühle und stellten ihn schließlich ein sparsam möblierten, halbdunklen Zimmer ab, das für die nächsten vier Wochen sein Domizil werden sollte. Aber auch hier ließen sie ihn nicht in Ruhe. Schwestern in makellos weißen Kitteln steckten ihm Thermometer in den Hintern, maßen seinen Puls und seinen Blutdruck und trugen die Ergebnisse in große Mappen ein. Sie ließen Ingolf aus einer Schnabeltasse trinken und fütterten ihn wie ein kleines Baby. Sie gaben ihm einen Klingelknopf in die Hand, auf den er drücken sollte, wenn er ein Geschäft zu verrichten hatte. Sie wechselten mit stets gleichbleibenden Lächeln seinen Schieber. Sie klopften ihm ermutigend auf die Schulter und erkundigten sich in regelmäßigen Abständen nach seinem Befinden, ohne die Anwort abzuwarten, die er ohnehin nicht geben konnte. Ingolf haßte sie dafür. Er stellte sich vor, wie das Lächeln von ihren Gesichtern fallen würde, wenn er einer von ihnen seine Faust in den Magen rammte. Oder noch besser, sie bei dem Haaren packte und ihr die Kehle durchschnitt. Die Vorstellung erregte ihn und machte die Schmerzen erträglich. Manchmal trug eine der unnahbar lächelnden Krankenschwestern, die er in seinen Fieberträumen zu Tode quälte, die Züge seiner Mutter. Sie hatte Ingolf noch nicht ein einziges Mal besucht. Abaddon hatte recht. Margit war nicht mehr seine Mutter. Sie hatte ihn verraten. Für das Personal in der Klinik waren Ingolfs Eltern auf einer unaufschiebbaren
Geschäftsreise in den Staaten. Eines Tages würde er dafür sorgen, daß die beiden eine noch wesentlich weitere Reise unternahmen ... Dennoch verlor sich Ingolf nicht in seine blutigen Rachevisionen. Dafür sorgte schon Abaddon, sein einziger Freund. Abaddon hatte ihn nicht im Stich gelassen. Jetzt, wo Ingolf seinen Rat und seinen Trost besonders nötig hatte, war er in jeder Nacht bei ihm. Er saß neben Ingolfs Bett, hielt seine Hand, tröstete ihn und schmiedete mit ihm Pläne. Abaddon repräsentierte all das, was Ingolf gern gewesen wäre. Er war größer als Ingolf, schlank und besaß ein schmales, intelligentes Gesicht mit dunkel glänzenden Augen. Augen, mit denen er in den Tiefen von Ingolfs Seele lesen konnte wie in einem offenen Buch. Er kannte Ingolfs geheimsten Gedanken und Ängste, und er war der einzige, der nie über ihn gelacht hatte. Und er wußte alles. Abaddon konnte zum Beispiel sofort erkennen, ob ein Mensch gut oder böse war. Zumindest wußte er es, wenn er böse war. So hatte er Ingolf auch über den wahren Charakter seiner Großmutter aufgeklärt, und Ingolf hatte ihm in seiner dummen Vertrauensseligkeit zunächst nicht geglaubt. Bis er dann den Brief vom Referat Jugendhilfe gefunden hatte. Genau an der Stelle im Küchenschrank, die Abaddon ihm genannt hatte. Man hatte seine Großmutter darüber informiert, daß Ingolfs Mutter einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt hatte, und ihr nahegelegt, auf ihrem Sorgerecht zu beharren. Im Interesse seiner Entwicklung zu einer sozialistischen Persönlichkeit ... Und seine Großmutter hatte das auch getan, ohne Ingolf nach seiner Meinung zu fragen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er in der Zone versauern können. Sie hatte ihn hintergangen und ihre Strafe dafür bekommen. Obwohl Ingolf noch immer ein Schauer über den Rücken lief, wenn daran zurückdachte, wie prompt und tödlich die Bienen auf die Wiederholung der fremdartigen Worte, die ihm Abaddon ins Ohr geflüstert hatte, reagiert hatten ... Die langen Wochen im Krankenzimmer und die Gespräche mit Abaddon gaben Ingolf die Gelegenheit, sich über seine Gefühle gegenüber seinen Mitmenschen klar zu werden. Das Ergebnis war nicht besonders erfreulich. Er haßte nicht nur das Klinikpersonal und die beiden Fremden, die sich als seine Eltern ausgaben. Er verabscheute auch seine Lehrer und Mitschüler. Vor allem die Mädchen, die sich wegen seines Dialekts und seiner fülligen Statur über ihn amüsierten. Sie behandelten ihn zwar nicht direkt unhöflich, aber seine zaghaften Versuche, ihre Anerkennung oder gar Freundschaft zu erringen, scheiterten sehr schnell an ihrer kühlen Distanz. Er konnte ihre spöttischen Blicke in seinem Rücken spüren, wenn Margit ihn mit dem protzigen BMW der Ganschows von der Schule abholte. Ingolf konnte noch so viel Geld für Kosmetik und neue Klamotten ausgeben, er blieb stets ein Außenseiter. Ein dicker unbeholfener Junge aus der Zone halt, der einfach nicht dazugehörte. Eine Einladung zu einer ihrer Partys hatte Ingolf in den vier Jahren, die er jetzt das Gymnasium besuchte, noch nie erhalten ... Obwohl Ingolf, nachdem man die Stäbe der Fixatur aus seinen Kieferknochen entfernt
hatte, nur sehr langsam und unter höllischen Schmerzen wieder zu sprechen lernte, verstand Abaddon ihn mühelos. Worte waren eigentlich überflüssig, denn sein nächtlicher Gefährte kannte die Antworten, bevor Ingolf sie ausgesprochen hatte. Und er hatte die unschätzbare Fähigkeit, die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn sie unangenehm waren: »Das nächste Mal wird er dich totschlagen, Ingolf.« »Ich weiß«, flüsterte der Junge verzweifelt. »Aber was soll ich tun?« »Bevor du überhaupt etwas tust, mußt du dir über deine Interessen klar werden. Und über deine Gefühle erst recht. Du kannst niemanden töten, wenn du es nicht mit ganzem Herzen möchtest.« So selbstverständlich, wie Abaddon das Wort »töten« aussprach, verlor es für Ingolf den Schrecken. Es wurde zu einer annehmbaren Alternative. Erst recht, als die Stimme aus der Dunkelheit gelassen fortfuhr: »Und ich bin sicher, daß du sehr erleichtert sein wirst, wenn du es endlich getan hast.« Wenn er jemals den Mut dazu aufbrachte. »Aber man wird es herausbekommen und mich einsperren«, gab Ingolf schließlich zaghaft zu bedenken. »Eingesperrt werden nur die Dummköpfe, Ingolf. Und du willst mir doch nicht weismachen, daß du ein Dummkopf bist?« Darauf gab es wenig zu sagen. Doch die entscheidende Frage stand Ingolf noch bevor. Sie betraf Margit. »Bist du wirklich bereit, sie zu töten?« Die ungeheuerliche Anwort hatte Ingolf in seinen Fieberphantasien längst gegeben. Er haßte Margit viel intensiver als seinen Stiefvater. Ganschow war ihm gleichgültig, aber seine Mutter hatte er einmal geliebt. Auch wenn das sehr lange her war. Sie hätte bei ihm bleiben müssen. Damals, als er sie brauchte. Sie war doch alles gewesen, was er besaß ... Dennoch wehrte er sich mit einer halbherzigen Gegenfrage: »Wen?« Abaddon wartete schweigend. Er war sich seiner Sache sicher. »Ja, verdammt noch mal!« hatte Ingolf schließlich zugegeben, und die Antwort hatte ihn nicht wenig erleichtert.
»Dann sollten wir schleunigst darüber nachdenken, wie wir ihnen den Weg in eine bessere Welt ebnen können«, hatte Abaddon mit einem wissenden Lächeln erklärt und Ingolf in die Einzelheiten des Planes eingeweiht. Er tat dies so klar und anschaulich, daß Ingolf schließlich das Gefühl hatte, daß es sein eigener Plan war, der ihm bis zu seiner Entlassung aus Klinik nicht mehr aus dem Kopf ging ... Nach seiner Genesung spielte Ingolf die Rolle des reumütigen Sünders so überzeugend, daß es seinen »Eltern« leichtfiel, zur Tagesordnung überzugehen. Margit war ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage, die Veränderungen in Ingolfs Wesen wahrzunehmen. Und Ganschow kümmerte sich ohnehin nicht um ihn. Die beiden hatten mit sich und ihrem Geschäften vollauf zu tun. Geschäfte, die nicht legal sein konnten, wie Ingolf nach seinem Fund im Wandtresor klar geworden war. Summen in dieser Größenordnung bewahrte man nicht im Safe auf, wenn man ein reines Gewissen hatte. Aber das alles würde schon bald ein Ende haben. Doch zunächst mußte er sich um den alten Telefonapparat des Hausmeisters kümmern. Auf technischem Gebiet war Ingolf begabter als die meisten seiner Mitschüler. Praktika in Physik oder Chemie gehörten für ihn zu den Sternstunden des Unterrichts. Auch auf Grund der Tatsache, daß er dabei wenig oder gar nicht sprechen mußte. So hätte es Abaddons Hinweise im Bezug auf die verdeckten Schrauben im Gehäuse oder die Funktionsweise der Klingelspule gar nicht bedurft. Ingolf brauchte nur wenige Minuten, um den altmodischen Apparat in der gewünschten Weise zu verändern. Der zweite Teil und entscheidende Teil seines Vorhabens war technisch kaum anspruchsvoller, aber von der Wahl des Zeitpunkts her wesentlich sensibler. Eine zweite Chance würde es nicht geben. Es dauerte eine ganze Woche voller quälender Anspannung, bis Ingolf sich endlich zum Handeln entschließen konnte. Margit und Ganschow waren bei Geschäftsfreunden eingeladen gewesen und erst nach Mitternacht heimgekommen. Keineswegs nüchtern, wie ihm Margits unmotiviertes Kichern auf der Treppe verriet. Und ihre spitzen Schreie, die kurz darauf das rhythmische Quietschen des Bettgestells im Nachbarzimmer begleiteten. Ingolf bedauerte, daß er die beiden nicht mit eigener Hand totschlagen durfte.
Mit einem Knüppel, der Ganschows Schädel wie eine reife Melone platzen lassen würde ... Da er das Risiko für sich selbst so gering wie möglich halten wollte, wartete er dennoch bis in die frühen Morgenstunden, bis er sich barfuß in den Heizungskeller schlich. Dieses Mal mußte er sich auf Abaddons Informationen über die nagelneue Flüssiggasanlage verlassen. Er setzte den mitgebrachten Gabelschlüssel erst an, nachdem er die Überwurfmutter hinter dem Verdunster mit seinem Taschentuch abgedeckt hatte. Wenn es eine Untersuchung gab, konnten ihn frische Kratzer verraten. Es dauerte endlose Sekunden, bis die Verschraubung endlich nachgab. Mit der Überwurfmutter stellte er den die Fluß des ausströmenden Gases so ein, daß man das Geräusch durch die geschlossene Kellertür nicht wahrnehmen konnte. Er wechselte das Telefon aus und stellte es zur Vorsicht auf den Sims des geöffneten Kellerfensters. Dann schloß er die Tür ab, steckte den Schlüssel ein und schlich sich wieder nach oben. An Schlaf war nicht zu denken. Er hatte Angst. Am liebsten hätte er sich angezogen und wäre davongerannt. Aber wie hätte er das der Polizei erklären sollen, wenn alles vorbei war? Die Stunden auf dem Pulverfaß waren der Preis, den Ingolf für seine Befreiung zu bezahlen hatte. Das hatte ihm Abaddon nicht nur einmal erklärt. Doch Abaddon war nicht hier, und er würde auch nicht in die Luft fliegen, wenn irgendein zufälliger Funke das Gas-Luft-Gemisch im Keller vorzeitig hochgehen ließ. Vielleicht war es noch nicht zu spät, um das Gas abzustellen ... »Du solltest etwas mehr Vertrauen zu deinen Freunden haben, Ingolf«, drang plötzlich eine ruhige Stimme aus dem Dunkel. Dankbar leistete Ingolf seinem Bruder Abbitte. Abaddon war bei ihm. Jetzt konnte ihm nicht mehr passieren. Alles würde gut werden. Erleichtert fühlte Ingolf die beruhigende Wärme von Abaddons schwerer Hand auf seiner Stirn und war Augenblicke später fest eingeschlafen. -
Der Rest war ein Kinderspiel gewesen. Wenn man einmal davon absah, daß das schrille Klingeln des Weckers Ingolf beinahe zu Tode erschreckt hatte. Doch dann war alles nach Plan gelaufen. Er hatte sich angezogen, mühsam sein Frühstück hinuntergewürgt und war dann zur Bushaltestelle gelaufen. Nicht ohne vorher noch einen letzten Abstecher in den Heizungskeller unternommen zu haben. Viel war nicht mehr zu tun gewesen. Er hatte das Fenster geschlossen und das Telefon auf den Boden gestellt. Den Schlüssel hatte er steckenlassen. Ingolf sah auf die Uhr. In fünf Minuten begann sein Unterricht. Er mußte sich beeilen. Er betrat die Telefonzelle gegenüber dem Schulgebäude und warf die beiden Zehnpfennigstücke ein. Jetzt noch die Durchwahl zum Hausmeister. Der alte Mann lag mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus und ahnte nicht einmal, was für ein Glückspilz er war. Trotz seines Hochgefühls zitterte Ingolfs Hand beim Wählen. Nach der letzten Ziffer verharrte sein rechter Zeigefinger für einige Sekunden. Dann gab er entschlossen die Wählscheibe frei. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Drehwähler in den Vermittlungsstellen zur Ruhe gekommen waren und das Freizeichen ertönte. Die Druckwelle der Gasexplosion, die das vierstöckige Gebäude am Rande der Südvorstadt aus den Fundamenten riß, war so heftig, daß im Umkreis von fünfhundert Metern Fensterscheiben zu Bruch gingen. Selbst hier - am anderen Ende der Stadt - war der Donner der Explosion, die innerhalb von Sekunden das Leben von fünfzehn Menschen ausgelöscht hatte, noch überaus deutlich zu hören. Doch nur in Ingolf Hermanns Ohren klang er wie Musik ... © Frank W. Haubold, 1997
Thors Hammer Leseprobe aus dem Mysterythriller »Abaddon« (Auszug) Thor stand am Mitternachts-Ende der Welt: Die Streitaxt warf er , die schwere: 'So weit der sausende Hammer fällt, Sind mein das Land und die Meere!' Endlich wurde es Tag. Graue Nebel schlichen sich von Osten her heran und tauchten die Landschaft in diffuses, milchiges Licht. Der Mann auf dem Feldbett starrte auf des schmutziggraue Fensterviereck und fragte sich, wieviel Zeit ihm noch blieb. Das Warten und das nie verstummende Gewittergrollen der näherrückenden Front zerrten an den Nerven. Etwa eine Woche noch, schätzte der Mann, dann war so oder so alles vorbei. Auch für ihn. Ursprünglich hatte er vorgehabt, sich vor dem Einmarsch der Russen eine Kugel durch den Kopf zu schießen. Das würden jetzt vermutlich andere besorgen ... Der Mann hatte keine Angst vor dem Tod. Der Krieg ging mittlerweile in das siebente Jahr, und der Mann hatte Dinge gesehen, die kein Mensch sehen sollte. Er hatte seine Familie, den Glauben an sein Land und zuletzt den an Gott verloren. Er war müde und freute sich auf das stille Dunkel, das ihn erwartete. In einer Februarnacht hatten Fliegerbomben die Stadt zerstört, in der der Mann bis zu seiner Einberufung gelebt hatte. Ein Volltreffer hatte das kleine Reihenhaus in der Südvorstadt in einen Krater verwandelt und ausgelöscht, was ihn am Leben gehalten hatte. Von seiner Frau und den Zwillingen war nichts geblieben, was man hätte begraben können. Es war, als hätte es sie nie gegeben ... Danach hatte der Mann nächtelang wachgelegen und nachgedacht. Und als er schließlich zu dem Ergebnis gekommen war, daß es keinen Gott gab, hatten die Träume angefangen. In seinem wirklichen Leben war der Mann nur ein einziges Mal geflogen, und das war
unmittelbar nach seiner Verwundung gewesen. Damals hatte er einen Granatsplitter im Oberschenkel und lag fiebernd im Laderaum einer klapprigen Ju 52, durch deren kleine Bullaugenfenster er so gut wie nichts erkennen konnte. Doch in seinen Träumen flog der Mann immer. Er saß auf dem Rücken eines riesigen Vogels, der sein Gewicht nicht einmal zu spüren schien. Das unheimliche Wesen schwebte mit weiten Schwingen über dem Land dahin und stieß dabei Töne aus, die sich manchmal zu einer traurigen Melodie reihten. Sein Flug begann stets in großer Höhe, wo Felder und Wiesen wie braune und grüne Rechtecke auf einem großen Flickenteppich aussahen, gesäumt von Nähten aus silbernen Flüssen. Der Mann konnte erkennen, wie klein die roten Dächer der Häuser in den Tälern dagegen waren und wie winzig die Menschen und Tiere auf den Feldern. Es gab auch Autos, Panzer und Lastwagen in den Träumen des Mannes, die aus der Vogelperspektive wie Spielzeug aussahen. Erst als sie an Höhe verloren, bemerkte der Mann, daß der bunten Spielzeugwelt dort unten etwas zugestoßen sein mußte. Es war still, zu still. Kein Rauch drang aus den Schornsteinen der Häuser. Autos und Lastwagen standen kreuz und quer auf Straßen und Feldwegen. Pferdegespanne waren umgekippt, und die Kadaver der Zugpferde verwesten schwarz in der Sonne. Noch konnte der Mann keine Einzelheiten erkennen, aber ihm war klar, daß die dunklen Häufchen vor den Häusern tote Menschen sein mußten. Und daß sie wie die Pferde und die anderen Tiere einen ebenso überraschenden wie grausamen Tod gestorben waren. Ich will das nicht sehen! schrie der Mann lautlos, doch niemand hörte ihn. Sie verloren weiter an Höhe, und der Mann bemerkte plötzlich, daß der Vogel den Kopf gedreht hatte und ihn mit leuchtenden Augen anstarrte. »Die Spur der dunklen Reiter«, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die ihm seltsam vertraut erschien. Welcher dunklen Reiter? fragte der Mann. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, antwortete die Stimme scheinbar zusammenhanglos und ließ ihn mit seinen Gedanken und Zweifeln allein. Sie kreisten jetzt nur noch wenige Meter über den Dächern eines Dorfes, durch das der Sommerwind kaum sichtbare, gelbliche Nebelschwaden trieb.
Die Türen der meisten Häuser standen offen. Offenbar hatten sich ihre Bewohner mit letzter Kraft hinaus ins Freie geschleppt. Viele hatten sich in ihrer Verzweiflung sogar aus den Fenstern gestürzt. Die Menschen waren keinen leichten Tod gestorben. Die meisten von ihnen hatten sich im Todeskampf übergeben und die Reste ihrer zerfetzten Lungen ausgespien. Ganze Familien lagen, wie von einer gewaltigen Faust niedergestreckt, neben den Kadavern ihrer Haustiere. Unter Bäumen und Sträuchern sammelten sich die grauen Federhäufchen verendeter Vögel. Das Verhängnis, das über das Dorf und seine Bewohner hereingebrochen war, hatte nicht einmal vor den niedrigsten Kreaturen haltgemacht. Der letzte Regen, der hier gefallen war, war ein schwarzer Regen lebloser Insekten ... Der Mann wollte die Augen schließen, sich abwenden, doch eine unsichtbare Kraft hielt ihn gefangen, während sich die Bilder in sein Hirn brannten: Schwarze Lippen grinsten über gebleckten Zähnen. Hände mit abgebrochenen Fingernägeln hatten sich tief in die Erde gekrallt. Aus aufgedunsenen Gesichtern starrten trübe Augäpfel wie weiße Eierschalen ins Leere. Weit aufgerissene Münder schrien lautlos um Hilfe. Ein kleines Mädchen hielt seine Puppe im Todeskampf fest umklammert, in deren goldenem Haar schwarz erbrochenes Blut klebte. Der Mann weinte. Er wünschte sich, winzig klein zu sein, sich in einen Winkel verkriechen zu können und nie wieder etwas sehen zu müssen. Kreischend schlug der riesige Vogel mit den Flügeln und stieg steil nach oben. Der Mann fror plötzlich. Die Kälte fraß sich in seine Glieder, und er spürte, daß er jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren würde. Vergebens versuchte er, sich am Hals der Kreatur festzukrallen. Plötzlich verwandelte sich der Körper des Wesens in glattes Eis, so daß der Mann abrutschte und schreiend in die Tiefe stürzte. Das Letzte, was seine Augen registrierten, war eine Panzerkolonne, deren Geschütztürme sich ineinander verkeilt hatten, während die winzigen Körper der Soldaten wie erdfarbene Häufchen die graue Straße säumten ... Der Mann erwachte schweißgebadet und ohne das Gefühl der Erleichterung, das sonst das Erwachen aus einem Alptraum begleitet. Die Bilder blieben.
Der Mann wußte mittlerweile, wer die dunklen Reiter waren, auf die die Stimme in seinem Traum angespielt hatte. Und er wußte auch, daß sie anders als auf dem Holzschnitt Albrecht Dürers nicht auf feurigen Rossen daherkommen würden ... Als ihm nach seiner Genesung das Kommando über die neu zusammengestellte Wachkompanie übertragen worden war, hatte er schon bald erfahren müssen, daß es kein gewöhnliches Waffendepot war, das er hier mit seinen Männern bewachen sollte. Schon die seltsame Reaktion der Bewohner der nahegelegenen Kleinstadt auf der Herfahrt hatte ihn stutzig gemacht. Ein Nest namens Meerenberg mit holprigen, beinahe menschenleeren Straßen. Die wenigen Passanten musterten die Ankömmlinge mißtrauisch und verweigerten jede Auskunft. Keiner von ihnen war bereit gewesen, den Soldaten den Weg zum ehemaligen Silberbergwerk zu zeigen. Eine alte Frau mit verweinten Augen hatte sogar etwas von Mördern gemurmelt und ausgespuckt. Eine Bemerkung, die sie leicht hätte den Kopf kosten können ... Dabei führte eine frisch asphaltierte Straße unmittelbar zum Stützpunkt, der sogar einen eigenen Eisenbahnanschluß besaß. Die von einer dünnen Rostschicht bedeckten Gleise führten direkt in den Hauptstollen, dessen Tor wie sämtliche Zugänge zum ehemaligen Bergwerk verschlossen und versiegelt worden war. Der Mann hatte von Anfang ein ungutes Gefühl gehabt, das sich noch verstärkte, als sie das Gelände bei ihrem Eintreffen völlig verlassen vorfanden. Mit Ausnahme einer massiven Baracke waren sämtliche Gebäude bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Dabei deutete nichts auf einen Bombenangriff hin. Es gab keine Krater, und der hohe Stacheldrahtzaun wies keinerlei Beschädigungen auf. Nein, hier hatte jemand absichtlich Spuren verwischt, und der Mann machte sich keine Illusionen darüber, wer ... Frank W. Haubold, 1998