Bernd Waltersberger Strukturdynamik mit ein- und zweiseitigen Bindungen aufgrund reibungsbehafteter Kontakte
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Bernd Waltersberger Strukturdynamik mit ein- und zweiseitigen Bindungen aufgrund reibungsbehafteter Kontakte
Universität Karlsruhe (TH) Schriftenreihe des Instituts für Technische Mechanik Band 5
Strukturdynamik mit ein- und zweiseitigen Bindungen aufgrund reibungsbehafteter Kontakte von Dipl.-Ing. Bernd Waltersberger
Dissertation, Universität Karlsruhe (TH) Fakultät für Maschinenbau, 2007
Impressum Universitätsverlag Karlsruhe c/o Universitätsbibliothek Straße am Forum 2 D-76131 Karlsruhe www.uvka.de
Dieses Werk ist unter folgender Creative Commons-Lizenz lizenziert: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/
Universitätsverlag Karlsruhe 2007 Print on Demand ISSN: 1614-3914 ISBN: 978-3-86644-153-8
Strukturdynamik mit ein- und zweiseitigen Bindungen aufgrund reibungsbehafteter Kontakte
Zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Ingenieurwissenschaften von der Fakultät für Maschinenbau der Universität Karlsruhe (TH), Karlsruhe Institut für Technologie (KIT), genehmigte Dissertation von
Dipl.-Ing. Bernd Waltersberger aus Hecklingen (Baden)
Tag der mündlichen Prüfung: Hauptreferent: Korreferent:
20. April 2007 Prof. Dr.-Ing. habil. Dr. h.c. Jörg Wauer Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Vielsack
VI
Kurzfassung In der vorliegenden Arbeit wird eine Formulierung für strukturdynamische Probleme mit reibungsbehafteten Kontakten auf der Grundlage von Maßdifferenzialeinschließungen angegeben. Diese Vorgehensweise bietet die Möglichkeit, die Dynamik von Systemen mit verteilten Parametern nach einer bewusst sehr grob durchgeführten räumlichen Diskretisierung konsistent in die Theorie der nicht-glatten Mechanik von Systemen mit endlichem Freiheitsgrad einzubetten. Ziel der Vorgehensweise ist es, Modellreduktionsverfahren in der Strukturdynamik auch bei einseitigen Bindungen anzuwenden. Die bei Systemen mit verteilten Parametern oftmals physikalisch unrealistischen Geschwindigkeitssprünge aufgrund stoßartiger Kontakte treten bei räumlich grob diskretisierten Strukturen als Näherungsfehler auf, die bei vielen Anwendungen toleriert werden können. Dazu ist es aber erforderlich, dass das nicht-glatte Ersatzsystem immer noch den Grundprinzipien der Mechanik gehorcht. Diese müssen bei einseitigen Bindungen und endlichem Freiheitsgrad in eine entsprechend erweiterte, an das Prinzip von Fourier angelehnte Axiomatik überführt werden. Der Übergang auf beliebige, räumlich diskretisierte mechanische Systeme unter Einarbeitung der idealen Kontaktmodelle gelingt zwanglos unter Zuhilfenahme mathematischer Strukturen, die die nicht-glatte Analysis zur Verfügung stellt. In der vorliegenden Arbeit wird, den neueren Arbeiten von Rockafellar folgend, auf die Begriffe des Subgradienten schlechthin und des regulären bzw. des Tangentialkegels schlechthin (entsprechendes gilt für die Normalkegel) zurückgegriffen. Die nicht-glatte Bewegung wird als Maßdifferenzialeinschließung formuliert. Bei nicht-glatter Bewegung haben die angegebenen Einschließungen an den Stellen mit Geschwindigkeitssprüngen den Charakter eines eigenständigen Bewegungsgesetzes und gehen somit nicht unmittelbar aus den Prinzipien für die glatte Bewegung hervor. Es handelt sich dann vielmehr um nicht-glatte konstitutive Gleichungen in Form von Stoßgesetzen. In der vorliegenden Arbeit wird das aus der Starrkörpermechanik stammende Stoßgesetz in Anlehnung an den Newtonschen Stoß als Maßdifferenzialeinschließung formuliert. Anhand verschiedener Beispiele, darunter auch ein Modell eines im Gravitationsfeld rotierenden Balkens mit Delamination und klappernder Delaminationfuge, kann demonstriert werden, dass insbesondere bei vorhandenen Starrkörpermoden eine modale Modellreduktionsmethode im Allgemeinen nur in Verbindung mit den vorgestellten, nicht-glatten Integrationsmethoden möglich ist. Die Vorgehensweise der modalen Reduktion wird um eine quasi-statische Modellreduktionstechnik erweitert, sodass eine erhebliche Reduktion bei hinreichend genauer globaler Bewegung ermöglicht wird.
VIII
Dank Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technische Mechanik der Universität Karlsruhe. Herrn Prof. Dr.-Ing. habil. Dr. h.c. Jörg Wauer danke ich für die Anregung zu dieser Arbeit und für die Übernahme des Hauptreferates. Herzliche Dankbarkeit empfinde ich besonders für die vertrauensvolle Förderung, die ich durch ihn während meiner Zeit am Institut für Technische Mechanik erfahren durfte. Herrn Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Vielsack vom Institut für Mechanik der Universität Karlsruhe danke ich für die Übernahme des Korreferates. Seine gründliche Durchsicht der Arbeit und seine kritischen aber stets förderlichen und wohlwollenden Diskussionsbeiträge trugen zum Gelingen dieser Arbeit erheblich bei. Ebenfalls danke ich Herrn Prof. Dr.-Ing. Hans-Jörg Bauer vom Institut für Thermische Strömungsmaschinen der Universität Karlsruhe für die Übernahme des Vorsitzes der Prüfungskommission. Herrn Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Seemann, Herrn Prof. Dr.-Ing. Carsten Proppe und Herrn Dr.-Ing. habil. Alexander Fidlin danke ich für ihr Interesse an meiner Arbeit, ihre verlässliche Diskussionsbereitschaft und ihre wertvollen Hinweise. Ebenso gilt mein Dank den Herren Diplomtechnomathematikern Christian Dörr und Ulrich Eitner sowie Frau Diplomingenieurin Manel Haj-Taieb. Die Zusammenarbeit mit ihnen während ihrer Diplomarbeiten war erfreulich effektiv. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Technische Mechanik danke ich herzlich für jeden individuellen Beitrag zu einer unvergesslich schönen Arbeitsatmosphäre. Besonders bedanke ich mich bei Herrn Dr.-Ing. Rainer Keppler, bei den Herren Diplomingenieuren Günther Stelzner, Pierre Barthels, Christian Wetzel und Wolfgang Stamm für die unzähligen wissenschaftlichen Diskussionen, für die Hilfe bei Lizenzproblemen und auch einfach so. Unschätzbare Unterstützung bekam ich von Mama und Papa, Albert und Evelyne, Stefan und meiner lieben Nadine – ihnen ein herzliches „Vergelt’s Gott“.
Karlsruhe, im April 2007 Bernd Waltersberger
X
Inhaltsverzeichnis Bezeichnungen und Schreibweisen
1
1 Einleitung 1.1 Thema der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ziele und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vergleich mit anderen Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 5 9 10
2
15 15 21 21 21 22 26 27
Dynamik des Massenpunkts mit einseitiger Bindung und Reibung 2.1 Das Prinzip von Fourier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Prinzip von Fourier auf anderen kinematischen Ebenen . . . . . 2.2.1 Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Prinzip der virtuellen Beschleunigungen . . . . . . . . . . . . . 2.3 Coulombsche Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Regularisierung der Variationsungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 Probleme der Strukturdynamik formuliert mittels Maßdifferenzialeinschließungen 3.1 Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems 3.1.1 Variationsungleichung für Strukturen mit einseitigen Bindungen 3.1.2 Formulierung des räumlich diskreten Problems als Zwangskraftbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Vollständige, reibkraftfreie Variationsungleichung . . . . . . . . 3.1.4 Rekonstruktion der Normalkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Polyedrische Näherung des Reibgesetzes . . . . . . . . . . . . . 3.2 Erweiterung auf unstetige Geschwindigkeitsverläufe . . . . . . . . . . . 3.2.1 Verhalten bei Unstetigkeitsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Stoß mit polyedrischer Näherung der Reibscheibe und Darstellung als lineares Komplementaritätsproblem . . . . . . . . . . . 3.2.3 Reibungsfreier Stoß und Zusammenhang mit Newtonschem Stoßgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Verallgemeinerung eines Gesetzes von Frémond zum reibungsfreien Stoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Zur Dissipativität der Stoßgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
29 29 30 40 43 45 45 48 49 50 51 52 54 55
XII
Inhaltsverzeichnis
4 Zur numerischen Behandlung von Maßdifferenzialeinschließungen 4.1 Implizites Zeitschrittverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Variante: Nichtlineares Komplementaritätsproblem bei exakter Reibscheibe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Variante: Darstellung ohne Komplementaritäten . . . . . . . . . 4.2 Ereignisgesteuerte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Anmerkung zur Lösbarkeit der Differenziell-Algebraischen Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Definition der Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Anmerkungen zur numerischen Bestimmung der Ereignisse . . . 4.4 Anmerkung zu Regularisierungs- und Penaltyverfahren . . . . . . . . . 4.4.1 Kontaktkraftmodelle mit lokaler Nachgiebigkeit in Normalenrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Gemischte Formulierung mit lokaler Nachgiebigkeit und subdifferenzieller Darstellung der Reibkraft . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Anwendungsbeispiele 5.1 Elementare Starrkörpersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Mehrfachstöße am Beispiel aneinandergereihter Massenpunkte 5.1.2 Algorithmus für ein Stoßgesetz mit zwei Zeitskalen . . . . . . 5.1.3 Validierung des Stoßgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Eingekeilte Scheibe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Elementare Systeme mit verteilten Parametern . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Wippender Balken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Quasi-statische Modellreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Rotierende Welle mit Delamination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Modellbildung des glatten Systems . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Nicht-glatte Modellbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Nicht-rotierender Balken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Rotierender Balken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
57 57 60 62 63 65 66 68 70 71 73 74 77 77 77 81 84 92 100 100 104 111 111 118 119 132
Zusammenfassung
149
Anhang
155
A Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis A.1 Effektiver Definitionsbereich, Supremum, Infimum und Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.2 Offene und abgeschlossene Mengen, abgeschlossene Hülle, Epigraf, Halbstetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.3 Indikatorfunktion, Abstand zu Mengen, Konvergenz von Mengenfolgen A.4 Mengenwertige Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.5 Mengenalgebra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.6 Konvexität von Mengen und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . A.7 Kegel, Tangential- und Normalkegel, Regularität . . . . . . . . . . . . . A.8 Normalkegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155 155 156 158 159 160 160 161 163
Inhaltsverzeichnis A.8.1 Dualraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.9 Polarkegel, Beziehungen zwischen Normal- und Tangentialkegel . . . . . A.10 Erweiterte Differenzierbarkeit: Richtungsableitung, Epi-Ableitung . . . A.11 Subgradient und Subdifferenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.11.1 Summen- und Kettenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.12 Konvexität bei Subdifferenzial, Legendre - Fenchel-Transformation A.13 Optimierungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B Das Komplementaritätsproblem
XIII 165 166 170 171 173 174 176 179
C Grundlagen der Maßtheorie 181 C.1 Borel-Maß auf Teilmengen der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . 181 C.2 Zusammenhang mit Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 C.3 Differenzialmaße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 D Einfaches Modell für Materialdämpfung 187 D.1 Ausgewählte Grundlagen der linearen Elastizitätstheorie . . . . . . . . 187 D.1.1 Dämpfungshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Literaturverzeichnis
190
1
Bezeichnungen und Schreibweisen Matrizen Matrizen der Dimension n × m werden vorwiegend mit Großbuchstaben bezeichnet, fett geschrieben und manchmal mit einer Dimensionsangabe indiziert: M = Mn×m ∈ Rn×m . Mit (M)ij wird der Eintrag von M in der i-ten Zeile und j-ten Spalte bezeichnet. x1 x2 Spaltenmatrizen Rn×1 ∋ x = .. werden vorwiegend mit Kleinbuchstaben . xn bezeichnet. Einheitsmatrix: I = diag ((1 . . . 1)⊺). Transposition: (M⊺)ij = (M)ji, i, j = 1 . . . n. Ungleichungen mit Spaltenmatrizen sind eintragsweise zu verstehen: x = (x1 x2 . . . xn )⊺ ≥ y = (y1 y2 . . . yn )⊺ :⇔ xi ≥ yi, i = 1, . . . , n Orthogonalität: x ⊥ y :⇔ x⊺y = 0. Komplementarität: 0 ≤ x ⊥ y ≥ 0 :⇔ x ≥ 0, y ≥ 0, x⊺y = 0. Wegen der Ungleichungen ist kein Eintrag negativ. Somit folgt aus der Orthogonalität eintragsweise xi yi = 0. Tildeoperator: Einer Spaltenmatrix a = (a1 a2 a3 )⊺ ∈ R3 wird eindeutig eine schiefsymmetrische Matrix e a ∈ R3×3 zugeordnet über
0 −a3 a2 e 0 −a1 . a := (a)∼ := a3 −a2 a1 0
Vektoren und Tensoren Vektoren: Physikalische Größen im Anschauungsraum, die vektoriellen Charakter haben (also unter Anderem der Parallelogrammregel, einer skalaren Multiplikation und einem Skalarprodukt genügen), werden mit einem Pfeil gekennzeichnet: ~x.
2 Ursprung: Vektoren sind in dieser Arbeit immer bezüglich des gleichen Ursprungs zu verstehen, sodass Punkte im Raum mit ihren Ortsvektoren identifiziert werden können. Bezugssysteme, Koordinatensysteme, Basen sind hier synonyme Begriffe, da sich immer auf den gleichen Ursprung bezogen wird. Drei linear unabhängige Basisvektoren ~b1 , ~b2 , ~b3 bilden dann ein Bezugssystem, das mit B : ~b1 , ~b2 , ~b3 oder einfach nur mit B bezeichnet wird. Orthonormierte Basisvektoren: Eine Basis B : ~b1 , ~b2 , ~b3 wird orthonormal genannt, falls ~bi · ~bj = δij = 1; i = j 0; i 6= j gilt. In dieser Arbeit werden orthonormale Basen verwendet, solange nichts anderes erwähnt wird. Koordinaten: Ein Vektor ~v kann in verschiedenen Basen etwa A : ~a1 ,~a2 ,~a3 und B : ~b1 , ~b2 , ~b3 dargestellt werden: ~v =
3 X
ai~ai =
i=1
3 X
bi~bi .
i=1
Die Spaltenmatrix der Koordinaten ai eines Vektors ~v bezüglich einer Basis A wird mit (~v )A bezeichnet: (~v )A := (a1 a2 a3 )⊺. Umgekehrt wird den drei Einträgen einer Koordinatenmatrix a = (a1 a2 a3 )⊺ über eine Linearkombination der Basisvektoren einer Basis A : ~a1 ,~a2 ,~a3 ein Vektor zugeordnet, der durch 3 X −−→ (a)A := ai~ai i=1
definiert ist. Skalarprodukt, Kreuzprodukt: Es seien Vektoren ~a, ~b, ~c sowie ihre jeweiligen Koordinatenmatrizen a := (~a)A = (a1 a2 a3 )⊺, b := . . . , c := . . . bezüglich einer Basis A : ~a1 ,~a2 ,~a3 gegeben. Gilt für das Skalarprodukt R ∋ α = ~a · ~b, d.h. auch α = ~b ·~a, genau dann ist auch α = a⊺b = b⊺a. Gilt für das Kreuzprodukt (Vektorprodukt) ~c = ~a × ~b, d.h. auch ~c = −~b × ~a, genau dann ist auch e c=e ab = −ba.
3 e sind die Koordinatenmatrizen bee und b Mit anderen Worten: Die Matrizen a züglich des Bezugssystems A der Tensoren ~a × (·) bzw. ~b × (·). Der Tildeoperator erweist sich somit als nützlich für die Auswertung des Kreuzprodukts in Koordinatendarstellung.
Koordinaten bezüglich eines Inertialsystems: Ein Vektor ~v kann immer mit einer bestimmten Koordinatendarstellung identifiziert werden, d.h. mit der Spaltenmatrix seiner Koordinaten bezüglich einer bestimmten Basis. In dieser Arbeit soll die Vereinbarung gelten, dass ein Vektor ~v durch
vx ~v = vy vz
mit den Koordinaten bezüglich eines ganz bestimmten kartesischen, orthonormierten Inertialsystems identifiziert werden kann. Das Inertialsystem kann im jeweiligen Zusammenhang genauer spezifiziert werden, falls dies für eindeutige Bezeichnungen erforderlich ist. Das Skalarprodukt und das Kreuzprodukt lassen sich dann analog über Matrizen berechnen. In einem bestimmten Inertialsystem seien ~a = (ax ay az )⊺ und ~b = (bx by bz )⊺ gegeben:
bx ~a · ~b = ~a⊺~b = (ax ay az ) by bz 0 −az ay bx ~a × ~b = ~a∼~b = 0 −ax by . schiefsymm. 0 bz Relative Ableitung nach der Zeit: Sind ein zeitabhängiges Bezugssystem und ein zeitabhängiger Vektor A : ~a1 (t),~a2 (t),~a3 (t) bzw. ~v (t) = v1 (t)~a1 (t) + v2 (t)~a2 (t) + v3 (t)~a3 (t) gegeben, so ist die relative Ableitung bezüglich A durch dA ~v(t) := dt
−−−−−−− → d (~v)A = v˙ 1 (t)~a1 (t) + v˙ 2 (t)~a2 (t) + v˙ 3 (t)~a3 (t) dt A
definiert. Sie entspricht also der üblichen Ableitung nach der Zeit, wenn man unterstellt, dass alle Basisvektoren ~ai konstant sind.
4
5
Kapitel 1 Einleitung 1.1
Thema der Arbeit
In dieser Arbeit wird der Begriff Strukturdynamik im Zusammenhang mit mechanischen Systemen mit verteilten Parametern verwendet, die bereits auf eine geeignet erscheinende Weise räumlich diskretisiert wurden – sei es beispielsweise durch Ersatzmodelle auf Basis vieler Starrkörper und diskreter, z.B. elastischer oder dissipativer Elemente, durch Reihenentwicklung der beschreibenden Funktionale (Verfahren von Ritz, Finite-Elemente-Methode) oder Kombinationen davon. Es liegt also ein mathematisches Modell mit endlichem Freiheitsgrad vor und man spricht in diesem Zusammenhang dann von einem System mit konzentrierten Parametern. Das Gegenstück zur strukturdynamischen Vorgehensweise könnten Verfahren bilden, welche die Systeme mit verteilten Parametern weitestmöglich mittels partieller Differenzialgleichungen beschreiben. Die Übergänge sind natürlich fließend und es sind Überschneidungen zu erwarten, da spätestens bei der numerischen Lösung bei beiden Betrachtungsweisen diskrete Systeme vorliegen. Während bei Systemen mit verteilten Parametern die Randbedingungen auf zusammenhängenden Gebieten formuliert werden, muss beim Übergang zum diskreten Ersatzmodell hingegen eine konsistente Diskretisierung der Randbedingungen erfolgen. Dies führt dazu, dass zum räumlich diskreten Ersatzmodell ebenfalls diskrete Nebenbedingungen hinzutreten. Man spricht auch von zweiseitigen (bilateralen) oder einseitigen (unilateralen) Bindungen, falls die Nebenbedingungen mittels Gleichungen (g = 0) formuliert werden können bzw. falls zur Formulierung Ungleichungen (g ≥ 0) unumgänglich sind. Es überrascht nicht, dass Probleme mit Kontakten und trockener Reibung zu mathematischen Modellen mit einseitigen Bindungen führen, schließlich lassen sich Gebiets- und Kontaktkrafteinschränkungen bequem durch Ungleichungen ausdrücken. Das Ergebnis der gröbsten strukturdynamischen Diskretisierung ist die Idealvorstellung des Starrkörpers. Sie ist unrealistisch, dennoch können mit ihr sehr viele technische mechanische Systeme ausreichend genau modelliert werden, denn die unrealistischen Konsequenzen der Starrkörperhypothese sind sehr oft vernachlässigbar. Ebenso verhält es sich mit der Hypothese einer idealen Bindung. Bei Starrkörpern ist sie ebenfalls unrealistisch, denn letztlich ist eine Bindung ja die mathematische Modellvorstellung einer realen technischen Vorkehrung, z.B. eines Gelenks, die aus realen Materialien hergestellt ist und damit keineswegs aus Starrkörpern besteht. Ähnliche Überlegungen
6
Kapitel 1. Einleitung
lassen sich auch auf zunehmend feiner diskretisierte Strukturen übertragen. In gewisser Weise scheint bei ihnen stets der Makel der Starrkörperhypothese durch, natürlich mit immer schwächerer Auswirkung. Es wird in dieser Arbeit nirgends um die Frage gehen, ob die sukzessive Verfeinerung der strukturdynamischen Diskretisierung wirklich beliebig nahe an die richtige Lösung des eigentlichen, kontinuierlichen Problems führt. Hier wird schlicht der Glaube daran – gestützt durch ingenieurmäßige Erfahrung – vorausgesetzt. Dass Zweifel grundsätzlich angebracht sind, zeigt die Tatsache, dass das kontinuumsmechanische Problem eines linear-elastischen Festkörpers mit einseitigen Randbedingungen und Volumenkräften und trockener Reibung zumindest bis 1997 ungelöst war und es vermutlich immer noch ist. Es ist noch unbewiesen, dass es überhaupt eine Lösung der partiellen Differenzialgleichungen gibt, die das Problem beschreiben [48]. Kurzum: Man verwendet Starrkörpermodelle, diskretisierte Strukturmodelle und ideale Bindungen nicht, weil sie vollends realistisch sind, sondern weil sie in vielen Fällen nicht so unrealistisch erscheinen, als dass sich der Mehraufwand für eine genauere Modellierung lohnt. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass das Festhalten an den Idealvorstellungen, etwa Starrkörper oder ideale starre Bindung, nicht um jeden Preis geschehen sollte. Denn der Zweck der Idealvorstellung ist die einfache Berechenbarkeit. Gerade bei mehreren einseitigen Bindungen und Systemen mit Stoßereignissen und Reibung sind längst Beispiele dafür bekannt, dass bereits bei recht einfachen Systemen Inkonsistenzen auftreten können, siehe Beispiel 1.1. Die Probleme treten nur aufgrund der Starrkörperhypothese oder eben aufgrund einer groben Diskretisierung auf. Solche Probleme sind also rechentechnischer Natur und keine grundsätzlichen Phänomene der Mechanik. Dennoch können solche Phänomene auf Systemzustände hinweisen, die in praktischer Hinsicht auch beim realen System problematisch sind.
Abbildung 1.1: Zu den Schwierigkeiten bei grober Diskretisierung aus Beispiel 1.1.
1.1. Thema der Arbeit
7
Beispiel 1.1 a) Die Intuition trügt, dass man einseitige Bindungen analog zu zweiseitigen behandeln kann, indem man die Bindungen jeweils als zweiseitig annimmt, solange die zugehörige Zwangskraft der Bindung entspricht, sich also in einem gewissen zulässigen Bereich befindet. Abbildung 1.1a zeigt eine Scheibe, die in einem durch die Linien A und B begrenzten, keilförmigen Bereich festgehalten wird und mit einer eingeprägten Kraft F~ belastet wird. Wenn die Scheibe beide Geraden berührt (sprich: beide Bindungen aktiv sind), dann mag es intuitiv richtig erscheinen, dass man zunächst beide Bindungen als zweiseitige Bindung annimmt, die in diesem Fall erforderlichen Zwangskräfte vorhersagt und dann diejenige Bindung entfernt, für die eine Zugkraft vorgesehen wurde. Es erscheint ja plausibel, dass die Flanken des Keils nur Druckkräfte übertragen können, deren Wirkungslinien Senkrechte zu den Begrenzungslinien A und B bilden. Diese Annahme führt zu Widersprüchen. Die skizzierte Anordnung zeigt einen Fall, bei dem das Krafteck (mit Schraffur unterlegt) nur so geschlossen werden kann, dass beide Bindungskräfte F~A und F~B an der Scheibe Zugkräfte sind. Die Gerade F liegt parallel zu F~ . Gemäß der Strategie, „ziehende“ Bindungen zu ignorieren, müssten beide Bindungen entfernt werden. Dies hätte offensichtlich zur Folge, dass die Scheibe von F~ in den von der Linie B abgetrennten Bereich hinein gezogen und daher die Bindung verletzt würde, was ein Widerspruch wäre. Das Wesen des Problems wurde bereits von Delassus erkannt [19]. Offensichtlicher Ausweg: Man darf nur solche „ziehende“ Bindungen entfernen, deren Fehlen nicht schadet. Hier hätte man also Bindung A entfernen dürfen, die Scheibe bliebe trotzdem im zulässigen Bereich. Es handelt sich dabei offensichtlich um ein kombinatorisches Problem. Bei m gleichzeitig aktiven Bindungen sind schlimmstenfalls 2m Fälle zu überprüfen, was bei vielen aktiven Bindungen schnell sehr aufwändig wird. Noch bleiben Fragen offen: Gibt es immer eine und auch nur eine konsistene Lösung dieses Problems? Es bleibt anzumerken, dass die Schwierigkeit nur aus der Hypothese der starren Bindung bzw. des Starrkörpers hervorgeht, also letztlich aus einer zu groben Diskretisierung. Es widerspricht dem Prinzip des elastischen Kontinuums, dass sich die Zustände an den beiden nicht unmittelbar benachbarten Kontaktpunkten unmittelbar beeinflussen können. Die Information über den Zustand kann sich nur mit endlicher Geschwindigkeit ausbreiten. b) Weitere Schwierigkeiten treten bei Stoßproblemen mit mehreren aktiven Bindungen auf. Abbildung 1.1b zeigt zwei horizontal reibungsfrei bewegliche Wagen jeweils der Masse 1 (in diesem Beispiel wird nur mit den dimensionslosen Maßzahlen der Größen gerechnet). Folgende Annahmen werden getroffen: Wagen 1 befindet sich am linken Anschlag A und relativ zu Wagen 2 in Ruhe, d.h. es gilt q1 ≡ 0, während Wagen 2 sich auf den rechten Anschlag B mit konstanter Geschwindigkeit q˙2 = −1 hinzu bewegt. Es findet ein plastischer Stoß bei B statt, wenn q2 = 0 gilt, d.h. unmittelbar nach dem Stoß hat Wagen 2 die Geschwindigkeit + q˙2 = 0. Nimmt man an, dass der Kontakt bei A nicht adhäsiv ist, dann erwartet man, dass sich der Wagen 1 unmittelbar nach dem Stoß mit der Geschwindigkeit + q˙1 = 1 weiter bewegt. Aufstellen der Impulsgleichungen für den Stoßzeitraum nach der Methodik, wie sie in den Grundlagenvorlesungen zur Technischen Mechanik für den Einfachstoß – dort in korrekter Weise – gelehrt werden,
8
Kapitel 1. Einleitung
liefert +
q˙1 − + q˙2 + q˙2 + q˙1 + q˙2
= − − q˙2 + λA , = − q˙2 + λA + λB , = 0, = 0,
wobei λA/B die in den Kontakten A bzw. B übertragenen Impulse bezeichnen. Hierbei wurde die Annahme des plastischen Stoßes fälschlicherweise auch auf Kontakt A übertragen, nämlich dass unmittelbar nach dem Stoß keine Relativgeschwindigkeit in den Kontaktstellen auftritt. Diese Unterstellung führt zu einem negativen Impuls λA = −1, der auf vorwiegende Zugkräfte im Kontakt A während des Stoßes zurückgeführt werden muss. Widerspruch! Man hätte also wissen müssen, dass bei dieser Konstellation der Geschwindigkeiten unmittelbar vor dem Stoß bei A gar keine Impulse übertragen werden können. Die kinematische Hypothese + q˙1 = 0 hätte durch eine kinetische Hypothese λA = 0 ersetzt werden müssen, was schließlich zusammen mit den restlichen Gleichungen + q˙1 = 1 ergeben hätte. Die Schwierigkeit besteht also darin, zu entscheiden, welche Hypothese gelten soll. Hätte sich Wagen 2 anfangs mit geschlossenem Kontakt A nach links in einen Anschlag bewegt, so wäre die Hypothese λA = 0 falsch gewesen. Auch bei diesem Beispiel findet man die Schwierigkeiten in der groben Diskretisierung begründet. Das Ereignis des Stoßes bei B kann in vollends realistischen Kontinuumsmodellen nicht unmittelbar eine Auswirkung auf den Zustand bei A haben. c) Dieses Beispiel zeigt, dass die Modellbildung aufgrund einer zu groben Diskretisierung bei einseitigen Bindungen zu unlösbaren Problemen führen kann. Abbildung 1.1c zeigt einen Wagen, der gleichzeitig an zwei Anschläge A und B stößt, wobei ein Stoß plastisch und einer elastisch, d.h. Relativgeschwindigkeit im Kontakt nach dem Stoß ist das Negative der Relativgeschwindigkeit vor dem Stoß, erfolgen soll. Offensichtlich hat dieses Problem beim Starrkörper keine Lösung. d) Abschließend noch ein Beispiel für Reibungsprobleme: Abbildung 1.1d zeigt zwei Quader 1 und 2, die horizontal gleiten oder jeweils haften können und horizontal mit der Kraft F1 bzw. F2 belastet sind. Von folgenden Annahmen wird ausgegangen: Ein Quader gleitet, wenn der Betrag der resultierenden Kraft den Wert 1 übersteigt. Wenn ein Quader gleitet, dann wirkt eine konstante Kraft mit dem Wert 1 entgegen der Gleitrichtung. Die Quader sind zunächst in Ruhe und berühren sich bei A. Es wirken die Kräfte F1 = 12 und F2 = 2. Jeder Quader kann einen von 3 Zuständen L, R oder H einnehmen: Gleiten nach links, nach rechts oder Haften. Damit sind insgesamt 32 Zustände auf Konsistenz zu prüfen und es ist darauf zu achten, dass die Quader bei A nicht ineinander eindringen. Bei m Reibkontakten sind 3m Fälle zu prüfen. Im vorliegenden Fall ist nur der Zustand L,L für Quader 1 bzw Quader 2 möglich. Beispielsweise ist der Zustand H,H inkonsistent, weil für Haften bei 2 im Kontakt A mindestens eine Kraft mit Wert -1 auf 2 übertragen werden muss und der Quader 1 somit zusätzlich zu F2 noch die Gegenkraft mit Wert 1 zu ertragen hat, womit der Betrag der Resultierenden auf Quader 1 den Wert 1 übersteigt. Der Zustand H,L führt zu Eindringen bei A. Auch in diesem Fall ist die Notwendigkeit der kombinatorischen Prüfung möglicher Zustände nur auf eine zu grobe Diskretisierung zurückzuführen. Im Kontinuum können sich die Zustände an nicht infinitesimal benachbarten Punkten nicht unmittelbar
1.2. Ziele und Aufbau der Arbeit
9
beeinflussen. Bei den angeführten Beispielen sind die Schwierigkeiten offensichtlich und sie scheinen mit wenigen zusätzlichen Maßnahmen vermeidbar. Das Ziel bei rechnergestützen Methoden für komplexere Strukturen ist es daher, diese Hilfsmaßnahmen als allgemein gültige Algorithmen zu formulieren.
Die vorliegende Arbeit ist in die gängige Erweiterung von Systemen starrer Körper auf Systeme elastischer Körper einzuordnen. Letztere werden in der Mehrkörperdynamik üblicherweise als räumlich diskretisierte Strukturen behandelt, die meistens aus einer abgebrochenen Reihenentwicklung hervorgehen, eine Vorgehensweise, die in diesem Zusammenhang auch Modellreduktion genannt wird. Meist wird so grob wie möglich diskretisiert, um den Rechenaufwand klein zu halten. Schwierigkeiten entstehen dabei, Bindungen konsistent zu diskretisieren, etwa Gelenkbindungen oder auch einseitige Bindungen aufgrund von flächenhaften Kontaktkonstellationen, d.h. die Undurchdringlichkeitsbedingungen des flächigen Kontakts müssen für die elastischen Mehrkörpersysteme in den generalisierten Koordinaten ausgedrückt werden, entsprechendes gilt für die Formulierung flächenhafter Reibung.
1.2
Ziele und Aufbau der Arbeit
Systeme starrer Körper mit einseitigen Bindungen wurden in der Vergangenheit in abstrakter Form als sogenannte Maßdifferenzialeinschließung modelliert. Es liegt nahe, dies auch bei räumlich diskretisierten Systemen zu tun, was in dieser Arbeit erfolgt, vgl. Kapitel 3, und dabei eine Reihe von Möglichkeiten bietet, Prinzipien der nicht-glatten Mechanik zu formulieren und zu ergänzen. Zu Beginn in Kapitel 2 werden die grundlegenden Modellierungstechniken für Coulombsche Reibung und Normalbindungen am Massenpunkt untersucht und mittels elementarer Variationsungleichungen dargestellt. Die vorgestellten Methoden bilden die Grundlage der formalen Überlegungen in Kapitel 3. Numerische Lösungsmethoden für Maßdifferenzialeinschließungen werden in Kapitel 4 behandelt. Dabei werden ereignisgesteuerte Methoden in Verbindung mit klassischen Lösern für Differenziell-Algebraische Gleichungen (DAE) sowie Zeitschrittverfahren auf Basis von numerischen Lösern für Variationsungleichungen und Komplementaritätsproblemen angesprochen. Da speziell bei modal diskretisierten räumlichen Strukturen hochfrequente Moden zu erwarten sind, wird ein Zeitschrittverfahren für diesen Zweck ausgebaut, das für steife Systeme geeignet erscheint. In dieser Arbeit stehen diese Verfahren im Vordergrund. Das soll niemals bedeuten, dass solche Verfahren generell anderen überlegen sind. Im Gegenteil: Anhand von Beispielen wird demonstriert, welche Probleme und Inkonsistenzen auftreten können. Daneben werden Lösungsmethoden auf Basis geeigneter Regularisierungen diskutiert, allerdings wesentlich knapper, vorwiegend mit dem Ziel, auf die vielen formalen Ähnlichkeiten hinzuweisen. Kapitel 5 schließt die Arbeit mit Anwendungsbeispielen ab.
10
1.3
Kapitel 1. Einleitung
Vergleich mit anderen Arbeiten
Klassischerweise werden mechanische Probleme, die nicht ohne Ungleichungen mathematisch modelliert werden können, in das Gebiet der nicht-glatten Mechanik eingeordnet. Einen äußerst umfangreichen Literaturüberblick, zumindest für Systeme mit endlichem Freiheitsgrad, mit über tausend Quellenangaben und theoretischer Zusammenfassung gibt Brogliato [12]. Jeder Versuch einer umfassenden Klassifizierung der Arbeiten muss scheitern. Versucht man es trotzdem, so dürften mindestens drei Strömungen erkennbar werden: 1. Formulierung der Grundprobleme der Kontinuumsmechanik mittels partieller Differenzialgleichungen und Ungleichungen sowie der zugeordneten Variationsaufgabe mittels variationeller Ungleichungen auf Basis empirischer, konstitutiver Gleichungen (z.B. geometrisch lineare Elastizitätstheorie, Prandl-Reuss Fließgesetze), [22, 60, 49]. Im Vordergrund stehen die Fragen nach Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen vorwiegend statischer Probleme. Bei statischen Problemen sind bei geometrisch einfachen Berandungen oft noch geschlossene Lösungen möglich, ansonsten kommen hauptsächlich Finite-Elemente-Methoden zum Einsatz. Anwendungen finden sich beispielsweise in der Kontaktmechanik für Kontinua und der Plastizitätstheorie. 2. Die weitestgehend analytische Untersuchung von „einfachen“ – damit ist nicht die tatsächliche Berechnung sondern vielmehr die Topologie des Systems gemeint – mechanischen Systemen mit endlichem Freiheitsgrad, vgl. beispielsweise [6, 30, 102]. Es ist dabei das Ziel, geschlossene Lösungen oder wenigstens geschlossene Näherungslösungen zu erhalten, sowie ein qualitatives Verständnis für den mechanischen Effekt und den Einfluss verschiedener typischer Parameter zu gewinnen. Wichtiges Anwendungsgebiet ist die Schwingungslehre (vibro-impact systems). Typische Rechenmethoden sind Multiskalenverfahren bezüglich der Zeit, Harmonische Balance, Mittelungsverfahren. 3. Systematische mathematische Modellbildung für komplexe Systeme mit „einfachen“, empirisch begründeten Kontakt- und Stoßgesetzen [71, 34, 96], z.B. Coulombsche Reibung und Entwicklung nicht-glatter konstitutiver Gleichungen. Ziel ist die rechnergestützte Behandlung der Probleme mit nicht-stetigem Geschwindigkeitsverlauf und daher vorwiegend die Beantwortung der Frage, welche mathematische Struktur das mechanische Problem aufwirft und wie numerische Verfahren dafür konstruiert werden können. Es zeigte sich in den genannten Arbeiten, dass das Problem als Maßdifferenzialeinschließung formuliert werden kann. Typische Anwendung ist die Simulation von Mehrkörpersystemen mit Reibung und Stößen. Die vorliegende Arbeit gehört in das dritte Themengebiet und hält sich dabei unverkennbar nahe an die grundlegenden Arbeiten von Moreau, z.B. [73, 72, 71, 70], und Stewart [96]. Ergänzend treten die konsistente Erweiterung der Formulierung auf den flächenhaften Reibkontakt, die Formulierung einer einseitigen Restitutionsformulierung mittels einer Maßdifferenzialeinschließung sowie deren Deutung als optimale Näherung an das klassische Stoßgesetz von Newton hinzu. Aus Sicht der Theorie der mechanischen Prinzipien für Systeme mit endlichem Freiheitsgrad wird die Nützlichkeit der mathematischen Strukturen aus der nicht-glatten Analysis erkennbar. Ihre Theorie hat sich unabhängig von der Anwendung für die Mechanik soweit entwickelt, dass sie eine Reihe wichtiger Aussagen für die nicht-glatte Mechanik fast ohne weiteres Zutun liefert. In der vorliegenden Arbeit wurde zu diesem Zweck das umfassende Buch von Rockafellar und Wets [88] zur nicht-glatten
1.3. Vergleich mit anderen Arbeiten
11
Analysis verwendet und es konnten dadurch wesentliche Erkenntnisse von Glocker [39] reproduziert werden. Dies geschieht aber nicht mehr auf Basis des ClarkeSubgradienten (generalized subgradient), sondern, dem Aufbau von [88] folgend, auf Basis des allgemeineren Subgradienten schlechthin. Die Unterschiede in der Vorgehensweise treten erst dann wesentlich hervor, wenn es um sogenannte nicht-reguläre Gebietseinschränkungen geht. Die Ergebnisse sind im Wesen die gleichen, doch die Verwendung des Subgradienten schlechthin lässt die mechanische Interpretierbarkeit der Formulierung elementarer erscheinen, denn sie vermeidet die für die Anwendung abstrakte Definition des Normalkegels als Polarkegel des Tangentialkegels, die so keine geometrische Deutung zulässt. Die vorliegende Arbeit liefert keinen Beitrag zum besseren Verständnis von Kontaktproblemen aus kontinuumsmechanischer Sicht oder aus Sicht der Festkörperphysik, z.B. in Form von Stoß-, lokalen Dissipationsgesetzen bzw. von mikroskopisch begründeten Reibkraftgesetzen, die aus Materialparametern abgeleitet sind. Sie hat dieses Defizit mit den meisten Arbeiten auf diesem Gebiet gemeinsam, z.B. [38, 84, 36, 98, 97, 100, 63]. Die Aussagekraft hinsichtlich lokaler Effekte im Kontaktgebiet kann nur so gut sein wie das zu Grunde liegende Strukturmodell. Vor allem die Abbildung lokaler Dissipationseffekte bei nahezu elastischen – also sehr fein diskretisierten – Systemen ist schwierig, wenn die Dissipation physikalisch in lokalen plastischen Verformungen begründet liegt, diese aber im Strukturmodell unberücksichtigt bleiben. Offensichtlich werden die Defizite, wenn es um die Behandlung des reibungsfreien Stoßes mit genau einer einseitigen Bindung geht. Die Vorgehensweise in dieser und in den genannten Arbeiten liefert in diesem Fall exakt (bzw. je nach Schrittweite mit beliebig kleinen Abweichungen) dieselben Ergebnisse wie sie auch aus den elementaren Stoßhypothesen nach Newton oder Poisson hervorgehen, die in den Grundlagen der Technischen Mechanik vermittelt werden, z.B. [92, 43], und schon längst auf reibungsfreie Einzelstöße in komplexen Starrkörpersystemen übertragen wurden, z.B. [109]. Die Kritik, die man an den elementaren Hypothesen zum Einfachstoß anbringt, ist somit auf die vorliegende Arbeit und die oben genannten Arbeiten übertragbar. Sieht man von stoßartigen Bewegungen ab, so entstehen auch bei Problemen mit Reibung Schwierigkeiten, vgl. Beispiel 1.1. Ebene Starrkörpermechanismen mit Reibungsproblemen und zugeordneten kombinatorischen Lösungsansätzen wurden in der Technischen Mechanik frühzeitig schon von Lötstedt [63, 62] diskutiert. Ähnliche Ansätze wurden später von Glocker [38] verwendet und um Überlegungen zum Stoß erweitert. Die kombinatorischen Probleme wurden in den genannten Arbeiten auf sogenannte Lineare Komplementaritätsprobleme zurückgeführt, deren Gebrauch in der statischen Kontaktmechanik schon bekannt war, vgl. [16, 17, 56]. Die genannten Ansätze können im Wesen als spezielle Lösungsvarianten der allgemeinen Formulierungen von Moreau angesehen werden. Die verwendete Vorgehensweise auf Basis von Maßdifferenzialeinschließungen kann keine Aussagen über die Verformungen derjenigen materiellen Strukturen machen, die mathematisch idealisiert durch Bindungen dargestellt sind. Dies ist offensichtlich, da ja die Bindungen als ideal starr angenommen werden. Verbergen sich hinter solchen Verformungen wissenswerte Informationen, dann muss auf eine verbesserte Modellbildung ausgewichen werden. Typischerweise werden zu diesem Zweck physikalisch begründete Kontaktkraftgesetze als konstitutive Gleichungen eingeführt. Dabei kommen Ersatzmodelle zum Einsatz, welche die aus der Hertzschen Flächenpressung resultie-
12
Kapitel 1. Einleitung
Abbildung 1.2: Kontakt mit lokalen Nachgiebigkeits- und Dissipationsmodellen: a) Normalrichtung. b) Tangentialrichtung für Reibung. rende Kontaktkraft über geeignete Kraftgesetze abbilden oder über parallel verlaufende Finite-Elemente Berechnung (Kosimulation) zur Verfügung stellen, z.B. [49, 42, 53, 93]. Liegt ein solches Kraftgesetz vor, dann ist die weitere Modellbildung vergleichsweise einfach, da dann Kontaktkräfte als eingeprägte Kräfte behandelt werden können. Viele Arbeiten, z.B. [21, 66], unterstellen schlicht eine gewisse Nachgiebigkeit an der materiellen Kontaktstelle und setzen mit freien Parametern Kontaktkraftgesetze an, die als Modell einer im Allgemeinen nicht-linearen Feder interpretiert werden können. Lokale Dissipation wird analog mit einem Dämpfermodell angesetzt, vgl. Abbildung 1.2a. Reibung in tangentialer Richtung wird mit ähnlichen Ansätzen modelliert, Abbildung 1.2b. Durch Betrachtung einer tangentialen Nachgiebigkeit, auch mit viskoser Dissipation, wird die tangential wirkende Haftkraft zur eingeprägten Kraft, die sofort aus dem Zustand des tangentialen Feder-Dämpferelements hervorgeht. Wird eine gewisse höchstmögliche Haftkraft überschritten, dann kann das Feder-Dämpferelement frei gleiten. Die formale Ähnlichkeit der Formulierung mit Fließgesetzen der Plastizitätstheorie, vgl. beispielsweise [22], lassen Analogieüberlegungen zu, worauf z.B. in [104, 95] hingewiesen wird. Es bleibt bei diesen Methoden die Schwierigkeit, die freien Parameter zur Beschreibung des Kontaktkraftgesetzes sinnvoll festzulegen. Sind z.B. ausgeprägte Randschichtn aber mit dennoch vernachlässigbaren Massenträgheiten bei den Kontaktpartnern vorhanden, dann können die Parameter über statische Messungen angepasst werden, wie beispielsweise in [4]. Über Schwierigkeiten bei der Anpassung der Parameter an dynamische Messungen berichtet [75]: Parameter, die eine bestimmte Messung in der Simulation reproduzieren, erweisen sich oftmals als völlig ungeeignet für die Simulation mit anderer Anregung aber ansonsten unverändertem Modell. Die Deutung der angepassten Parameter als Materialkonstanten ist daher häufig fragwürdig. Dennoch kann es sinnvoll sein, ein Modell mit lokaler Nachgiebigkeit zu verwenden, das nicht vollständig physikalisch begründbar ist. Ein Vorteil solcher Ansätze ist es, dass die Informationen über Zustände im Kontakt (z.B. Kräfte) aus lokalen kinematischen Größen (z.B. Federdehnung, Dämpfergeschwindigkeit) gewonnen werden können. Es umgeht somit die in Beispiel 1.1 angedeuteten Schwierigkeiten, die nur bei ideal starren Bindungen und grober Diskretisierung auftreten. In dieser Hinsicht erscheinen lokale Nachgiebigkeiten genauso sinnvoll wie die Vorgehensweise mittels numerischer Lösung von Maßdifferenzialeinschließungen in dieser Arbeit und ähnlichen Arbeiten. Man muss natürlich ebenso hoffen, dass die Ungenauigkeiten der Kontaktmodellierung
1.3. Vergleich mit anderen Arbeiten
13
vernachlässigbare Auswirkung auf die Gesamtbewegung des Systems oder zumindest auf die interessierenden Kenngrößen der Gesamtbewegung hat. Die Vorgehensweise, lokale Kontaktgesetze mit nur qualitativ begründeten Nachgiebigkeiten bzw. viskosen Eigenschaften auszustatten, wird häufig als Regularisierung bezeichnet. Es steht dabei eher das Ziel im Vordergrund, die idealen einseitigen Bindungen, also nicht-glatte oder gar unstetige Merkmale, möglichst glatt anzunähern, als tatsächlich lokales Verhalten physikalisch korrekt abzubilden [26, 85, 104]. Regularisierungen können zu sogenannten steifen Differenzialgleichungen führen [40], die vergleichsweise zeitaufwändiger numerischer Lösungsverfahren bedürfen, was hier bei mechanischen Systemen tatsächlich auf sehr steif bzw. sehr zäh modellierte Feder-Dämpfer Elemente zurückzuführen ist. Dies ist ein oft geäußerter Einwand gegen Regularisierungstechniken in der Dynamik [84, 83]. Es hängt von den zur Verfügung stehenden Rechnerressourcen ab, ob dieser Einwand relevant ist. Hinsichtlich Genauigkeit lässt sich wohl keine pauschale Aussage treffen außer der, dass die Modellbildung für die Vorhersage lokaler Größen bei jeglicher Vorgehensweise mangelhaft erscheint. Will man höchstens über gemittelte Kenngrößen (z.B. Schwerpunktbewegung) Bescheid wissen, so berichten Anwender jeglicher Methode über Erfolge. Allerdings lassen sich für Starrkörpersysteme Konfigurationen konstruieren, für die mittels Regularisierung bzw. lokaler Kontaktkraftgesetze qualitativ realitätsnähere Lösungen gefunden werden, z.B. [66, 97, 42]. Typischerweise sind dies Fälle, bei denen aufgrund der Idealvorstellung von starren Bindungen mehrere einseitige Kontakte beteiligt sind und daher Mehrdeutigkeiten möglich erscheinen. Schon eine beliebig kleine Nachgiebigkeit könnte die Situation entschärfen und manche Kontakte nicht mehr am Problem teilnehmen lassen. Vor allem bei Stoßvorgängen mit Mehrfachkontakten eröffnet die getrennte Anpassung der Feder- und Dämpfermodellparameter einen weitaus größeren Raum von Möglichkeiten als übliche Stoßhypothesen, die simulierte Bewegung an die tatsächlich beobachtete anzupassen.
14
Kapitel 1. Einleitung
15
Kapitel 2 Dynamik des Massenpunkts mit einseitiger Bindung und Reibung Um die mathematischen Methoden zur Beschreibung der grundlegenden mechanischen Phänomene im Zusammenhang mit einseitigen Kontakten und Reibung anschaulich zu machen, genügt die Untersuchung der Dynamik des Massenpunkts völlig. Das Wesen der Methodik besteht darin, die gesuchte Lösung x eines Problems über eine Menge von Ungleichungen, den sogenannten Variationsungleichungen, zu beschreiben, z.B. xy ≤ 0 für alle (Variationen) y ≥ 0, und davon auf die Lösung zu schließen, hier im Beispiel alle x ≤ 0. Die Dynamik des Massenpunkts kann man natürlich vollständig mit intuitiven Methoden behandeln. Für ein einfaches System stehen sie der im Folgenden verwendeten Vorgehensweise mittels Variationsungleichungen hinsichtlich Aufwand und Schreibarbeit in nichts nach oder sind ihr sogar überlegen. Es geht in diesem Kapitel in erster Linie darum, eine Vorgehensweise zu begründen, die für fast beliebig komplizierte Systeme ausgebaut werden kann.
2.1
Das Prinzip von Fourier
Die Erweiterung des Prinzips der virtuellen Arbeit von Johann Bernoulli auf einseitige Bindungen wird Fourier zugeschrieben, vgl. [41, 59]. Ursprünglich für die Statik formuliert, kann sie für die Dynamik eines Massenpunkts als Variationsungleichung im Sinne D’Alemberts in der Lagrangeschen Fassung gemäß ¨ ~ Fe − m~r · δ~r ≤ 0 (2.1)
angegeben werden, vgl. auch [81]. Dabei stellt F~e die resultierende eingeprägte Kraft dar. Die virtuelle Verschiebung δ~r muss „mit der Bindung g(~r) ≥ 0
(2.2)
kinematisch verträglich“ sein. Vereinbarungsgemäß bedeutet diese Sprechweise, dass die zur ursprünglichen Position ~r virtuell verschobene Position ~r ⋆ = ~r + δ~r geradlinig zu erreichen ist, ohne dabei in einer beliebig kleinen Umgebung um ~r das durch die Bindung (2.2) vorgeschriebene Gebiet zu verlassen. Die virtuell verschobene Position ist in Abbildung 2.1 skizziert und ihr zulässiger Bereich grau unterlegt.
16
Kapitel 2. Dynamik des Massenpunkts
Das Prinzip von Fourier – ein Axiom – ist leicht zu deuten, wenn man sich die Äquivalenz zur Darstellung m~r¨ − F~e g(~r) λN λN g(~r)
= ≥ ≥ =
λN ~n, 0, 0, 0
(2.3) (2.4) (2.5) (2.6)
mit ~n =
1 ~ r)| |∇g(~
~ r) ∇g(~
(2.7)
plausibel macht. Diese Form erlaubt eine Deutung im Sinne Lagranges, Newtons und Hamels [41], wonach F~z = λN ~n eine Kraft ist, deren einziges Merkmal die Bindung (2.4) ist, d.h. das verhinderte Eindringen, und somit als Zwangskraft oder Reaktionskraft zu deuten ist. Beziehung (2.7) definiert den gemäß |~n| = 1 normierten Gradientenvektor zur Bindungsgleichung, der daher in Richtung zunehmender Funktionswerte von g(~r) zeigt. Zum Nachweis der Gleichwertigkeit der Darstellungen wird zunächst mit F~z = m~r¨−F~e ein Residuum eingeführt. Es ist als Kraft zu deuten, die zu den eingeprägten Kräften hinzu kommt, um das Gleichgewichtsprinzip in der Dynamik zu erfüllen. Ausgehend von (2.1) folgt demnach F~z · δ~r ≥ 0. Für den Fall, dass der Massenpunkt ungebunden und also g > 0 ist, muss daraus schon F~z = ~0 folgen, denn andernfalls müsste lediglich ein δ~r gewählt werden, das entgegen F~z zeigt, um die geforderte Ungleichung zu verletzen. Eine solche virtuelle Verschiebung gibt es, weil sie zu keiner Bindung verträglich sein muss. Gilt nun g = 0 so wird die Verträglichkeit mit dieser Bindung nur sichergestellt durch δ~r = δα~n + δ~rT mit δα ≥ 0 und verbleibendem Tangentialanteil δ~rT = δ~r − δα~n, sodass δ~rT · ~n = 0 gilt. Die Richtung des Gradientenvektors ~n legt die mit der Bindung verträgliche Variation und dadurch δα ≥ 0 fest. Sicherlich ist das eingeführte Residuum gemäß F~z = λN ~n +~λT mit ~n ·~λT = 0 zerlegbar, sodass das Prinzip von Fourier F~z · δ~r = δαλN + δ~rT · ~λT ≥ 0 verlangt und damit wegen der Beliebigkeit der virtuellen Verschiebung zunächst ~λT = ~0 folgt. Andernfalls würde wiederum eine tangentiale Verschiebung δ~rT entgegen ~λT die Ungleichung insbesondere für δα = 0 verletzen. Damit muss immer noch δαλN ≥ 0 gelten, womit man wegen δα ≥ 0 schließlich λN ≥ 0 erhält. Aus dem Gesagten folgen die Beziehungen (2.3–2.6), beide Bindungsfälle g = 0, g > 0 zusammenfassend. Sie sind ebenfalls hinreichend für das Prinzip von Fourier, wie man nach einer skalaren Multiplikation von (2.3) mit einer zulässigen virtuellen Verschiebung δ~r = δα~n + δ~rT mit δα ≥ 0 sieht. Aufgrund der Normierung (2.7) kann der Skalar λN ≥ 0 sofort als Betrag der Zwangskraft aufgefasst werden. Die Beziehungen (2.4–2.6) drücken eine Unterscheidung sogenannter komplementärer Fälle aus, die auch symbolisch mit 0 ≤ g(~r)⊥λN ≥ 0 bezeichnet wird. Eine Komplementarität von λN (Kraft) und g (Abstand) liegt insofern vor,
2.1. Das Prinzip von Fourier
17
Abbildung 2.1: Zum Prinzip von Fourier für einen Massenpunkt. als aufgrund (2.6) nur jeweils eine Größe echt größer null sein kann. Diese Konsequenz ist natürlich höchst erwünscht, drückt sie doch gerade die Beobachtung aus, dass eine nicht verschwindende Kontaktkraft nur dann vorhanden sein kann, wenn der Kontakt geschlossen ist. Ein naturwissenschaftliches Axiom als abstrakter Ausdruck angesammelter Erfahrung kann nicht bewiesen, allenfalls durch widersprüchliche Konsequenzen widerlegt werden. Die nachgewiesene Gleichwertigkeit der Darstellungen darf nicht als Beweis des Prinzips von Fourier missverstanden werden. Die Newtonschen Axiome beschreiben stets den freien Massenpunkt. Dass eine Bindung eine Kraft ausübt und somit wieder die Newtonsche Axiomatik greift, ist eine Deutung, wenn auch eine sehr naheliegende. Die Gleichwertigkeit ist dennoch nützlich. Die Beziehungen (2.3–2.6) könnten mittels Kräftemessung experimentell direkt nachgewiesen werden, dahingegen scheint kein Experiment denkbar, das die Beziehungen (2.1–2.2) des Prinzips von Fourier unmittelbar nahe legt. Beispiel 2.1 Die Frage, welche Kraft erforderlich ist, um eine Bindung zu erzwingen, lässt sich ohne Erfahrung und daraus gefolgertem, weiteren Axiom nicht beantworten. Ein Massenpunkt der Masse m werde durch eine masselose Stange der Länge r auf einer Kreisbahn gehalten. In einem kartesischen x-y-Inertialsystem lauten nach Newton die Bewegungsgleichungen: x¨ Zx m = , y¨ Zy wobei Zx , Zy die noch unbekannten Zwangskraftkoordinaten sind, um die Bindung x2 + y 2 = r 2 zu erzwingen. Damit hat man 4 unbekannte Zeitfunktionen x, y, Zx , Zy aber letztlich nur 3 skalare Gleichungen, es fehlt also noch ein weiteres Gesetz. Die Newtonschen Gesetze reichen nicht aus. Intuitiv kommt die Erfahrung dadurch zum Ausdruck, dass man eine Kraft S in
18
Kapitel 2. Dynamik des Massenpunkts
Richtung der Stange durch 1 x x¨ m = S mit y¨ r y 2
2
0 = x +y −r
(2.8)
2
einführt, sodass die letztlich 3 skalaren Gleichungen (2.8), eine Kombination aus differenziellen und algebraischen Gleichungen, das System beschreiben können. Die Intuition wird genau durch das Prinzip von Fourier bestätigt, das auch bei zweiseitigen Bindungen funktioniert: Auf Geschwindigkeitsebene lautet die Bindungsgleichung nach Differenziation xx˙ + y y˙ = 0, woran sich auch die virtuellen Verschiebungen δx, δy halten müssen, denn sie sollen ja „kinematisch verträglich“ sein, d.h. es muss xδx + yδy = 0 gelten. Die virtuelle Verschiebung δ~r ist daher 1 δ~r = δx, − xy wobei ohne Einschränkung y 6= 0 gilt, andernfalls hätte man die virtuelle Verschiebung δx eliminieren müssen. Das Prinzip von Fourier fordert hier −m¨ r · δ~r ≤ 0, und dies ist mit ⊺ S x 1 − δx = 0 − xy y r sogar als Gleichung erfüllt. Umgekehrt wäre jede Abweichung von der vermuteten Zwangskraftrichtung im Widerspruch zum Prinzip von Fourier, das für beliebige δx ⊺ ! S x 1 x εx − δx = −(εx − εy )δx ≤ 0 + x −y y εy r y verlangt. Es kann nämlich immer ein δx gefunden werden, sodass die rechte Seite dieser Gleichung positiv ist, was dem Prinzip widerspricht. Besteht man also darauf, die Newtonschen Grundgesetze beibehalten zu wollen und das Erfüllen einer Bindung durch Kräfte F~Z zu erzwingen, so muss insgesamt m~r¨ = F~e + F~Z , F~Z · δ~r ≥ 0, g(~r) ≥ 0
(2.9) (2.10) (2.11)
für alle verträglichen Variationen δ~r verlangt werden. Die Zwangskraft F~Z tritt in dieser Darstellung als sogenannte Schlupfvariable der Ungleichung (2.1) des Prinzips von Fourier auf, die damit in (2.10) übergeht. Die Beziehung (2.10) legt es nahe, die Zwangskräfte bei einseitigen Bindungen durch die Eigenschaft zu beschreiben, dass sie keine negative virtuelle Arbeit verrichten. Das Prinzip von Fourier kann auch bei mehr als einer Bindung beibehalten werden, worauf zumindest für die Statik schon in [41] hingewiesen wurde. Sind beispielsweise zwei Bindungen g1 (~r) ≥ 0 und g2 (~r) ≥ 0 vorhanden, vgl. Abbildung 2.2, so ist
2.1. Das Prinzip von Fourier
19
Abbildung 2.2: Zum Prinzip von Fourier für zwei Bindungen. das Gleichgewichtsprinzip entsprechend zu erweitern: m~r¨ − F~e = λN 1~n1 + λN 2~n2 , g1 (~r) ≥ 0, g2 (~r) ≥ 0, λN 1 ≥ 0, λN 2 ≥ 0, λN 1 g1 (~r) = 0, λN 2 g2 (~r) = 0 mit ~ni =
1 ~ i (~r)| |∇g
~ i (~r), i = 1, 2. ∇g
(2.12) (2.13) (2.14) (2.15) (2.16)
Aus diesen Beziehungen folgt nach Multiplikation von (2.12) mit einer zulässigen virtuellen Verschiebung mit derselben Schlussweise wie vorher die Variationsungleichung (2.1) nach Fourier, nun selbstverständlich mit den Gebietseinschränkungen gemäß (2.13). Dabei wird stillschweigend eine Voraussetzung getroffen, die für die Äquivalenz ebenso wesentlich ist. Sind nämlich beide Bindungen aktiv, d.h. es gilt g1 = 0, g2 = 0, so sollen die Gradienten ~ni aller Bindungen in den für die Variation δ~r zugänglichen Bereich zeigen oder zumindest nicht aus dem Bereich hinaus weisen, also muss ~ni · δ~r ≥ 0 gelten, i = 1, 2. Diese Vereinbarung stellt für die resultierende Bindung g(~r) = min(g1 (~r), g2 (~r)) ≥ 0
(2.17)
sicher, dass durch die gleichzeitig geltenden Forderungen g1 = 0 und g2 = 0 eine ausgebuchtete Ecke des zulässigen Bereiches erzeugt wird, vgl. Abbildung 2.3. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass Bewegungen tangential zu einer Bindung an einer Ecke tatsächlich anstoßen können. Beispiel 2.2 In der Tat sind Begrenzungen denkbar, die dieser Anforderung nicht genügen. Wie in Abbildung 2.4 skizziert, kann bei eingebuchteten Ecken zu jeder Zwangskraft F~z eine virtuelle Verschiebung δ~r gefunden werden, die eine Komponente enthält, die entgegen F~z zeigt, sodass also in diesem Fall F~z · δ~r < 0 richtig ist. Infolge des
20
Kapitel 2. Dynamik des Massenpunkts
Abbildung 2.3: Resultierende Bindung bei Mehrfachbindung.
Abbildung 2.4: Nicht tangential reguläre Gebietsbegrenzung. Gleichgewichtsprinzips (2.12–2.15) liegt nämlich die Zwangskraft F~z im von den Gra~ ~ ~ dienten aufgespannten Raum {F |F = λN 1~n1 + λN 2~n2 , λN i ≥ 0} ∋ Fz . Schließlich folgt, dass die Forderung F~e − m~r¨ · δ~r ≤ 0 des Prinzips von Fourier (2.1) nicht gelten kann. Das Gleichgewichtsprinzip kann genau an derartigen Ecken nicht als äquivalente Variationsungleichung formuliert werden. Dort kann im Übrigen der Gebietsrand nichttangential durchstoßen werden, ohne das Gebiet zu verlassen; eine Eigenschaft, die den in der Literatur gebräuchlichen Namen Wiedereintrittsecke (re-entrant corner) erklärt. Der Sonderfall einer Wiedereintrittsecke ist für die vorliegende Arbeit nicht von Bedeutung und wird daher im Weiteren ausgeschlossen. Diese Beschränkung auf sogenannte tangential reguläre Gebiete (tangentially regular) dürfte für die meisten anwendungsbezogenen Problemstellungen unbedeutend sein. Eine ausführliche Behandlung dieses Sonderfalls ist z.B. in [65] zu finden.
2.2. Das Prinzip von Fourier auf anderen kinematischen Ebenen
2.2
21
Das Prinzip von Fourier auf anderen kinematischen Ebenen
Alternativ kann das Fouriersche Prinzip mit Hilfe virtueller Geschwindigkeiten bzw. virtueller Beschleunigungen ausgedrückt werden. Die Darstellungen können bei der Umsetzung in numerische Verfahren von Vorteil sein. In den Kapiteln 3 und 4 wird bei der Verallgemeinerung der Formulierung auf die wesentlichen Inhalte dieser Formulierung zurückgegriffen werden.
2.2.1
Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten
Bei zweiseitigen Bindungen wird diese Darstellung oft das Prinzip von Jourdain genannt. Formal ist die Darstellung identisch mit (2.1), d.h. ¨ ~ Fe − m~r · δ~v ≤ 0, (2.18) wobei immer noch (2.2), also g(~r) ≥ 0,
(2.19)
~ r(t)) · ~r˙ (t) ≥ 0 g(~ ˙ r (t)) = ∇g(~
(2.20)
~n · ~r˙ (t) ≥ 0 falls g(~r(t)) = 0
(2.21)
vorauszusetzen ist. Dabei ist δ~v die virtuelle Geschwindigkeit bei festgehaltenem Ort, d.h. δ~r = ~0, und ebenfalls wieder beliebig aber „verträglich mit den Bindungen“ zu wählen. Diese Sprechweise bedeutet, dass die virtuelle Geschwindigkeit lokal nicht aus dem zulässigen Gebiet hinaus weist, also δ~v · ~n ≥ 0 gilt, falls sich der Massenpunkt am Gebietsrand befindet. Andernfalls ist δ~v beliebig wählbar. Oft wird anstatt der Gebietseinschränkung (2.19) die Bindung über die Forderung einer nicht-negativen Entfernungsgeschwindigkeit gemäß auf Geschwindigkeitsebene angegeben, die aber nur gelten darf, falls g(~r(t)) = 0 gilt. Mit der Normierung (2.7) des Gradienten kann gleichwertig auch verlangt werden. Unter der Voraussetzung, dass die Bindung (2.19) zu Beginn der Bewegung erfüllt ist, erscheint die Äquivalenz von (2.19) und (2.21) plausibel, vgl. Bemerkung 2.3.
2.2.2
Prinzip der virtuellen Beschleunigungen
In analoger Weise wie das Prinzip von Jourdain auf Geschwindigkeitsebene, liefert das Prinzip der virtuellen Beschleunigungen F~e − m~r¨ · δ~a ≤ 0, (2.22) ~n˙ · ~r˙ (t) + ~n · ~r¨(t) ≥ 0 falls g(~r(t)) = 0, g(~ ˙ r (t)) = 0
(2.23)
eine Variationsformulierung auf Beschleunigungsebene. Die Verträglichkeit der virtuellen Beschleunigungen δ~a mit der Bindung ist für den Fall g(~r(t)) = 0 und g(~ ˙ r(t)) = 0 gesichert, falls der Massenpunkt virtuell in den zulässigen Bereich beschleunigt wird, also δ~a · ~n ≥ 0 gilt. Andernfalls ist δ~a beliebig wählbar.
22
Kapitel 2. Dynamik des Massenpunkts Bemerkung 2.3 1.) Aufgrund der stillschweigend vorausgesetzten zweifachen Differenzierbarkeit der vorkommenden Zeitfunktionen reicht es aus, in (2.23) nur für den Fall g(~r(t)) = 0, g(~ ˙ r(t)) = 0 nicht-negative Beschleunigungen g¨(~r(t)) zu fordern. Mit g(~ ˙ r(t)) < 0 gälte wegen der stetigen Differenzierbarkeit auch in einer Umgebung [t −Rε, t + ε] ∋ τ mit ε > 0 die t+ε Beziehung g(~ ˙ r(τ )) < 0 und somit g(~r(t+ε)) = t g(~ ˙ r (τ )) d τ < 0, was eine Verletzung der Nebenbedingung auf Lageebene bedeutete. Für g(~ ˙ r (t)) > 0 könnte in analoger Weise unmittelbar auf g(~r(t + ε)) > 0 geschlossen werden, sodass keine weitere Anforderung an g¨(~r(t)) bestünde, um die Bindung zu erfüllen. 2.) Der exakte Beweis der Äquivalenz von (2.19), (2.21) und (2.23) für alle Zeiten t, in der Literatur manchmal auch als Viabilitätslemma (Viability Lemma) bezeichnet, ist z.B. in [71, 101] zu finden. Es ist dabei unter anderem vorauszusetzen, dass die Bindung (2.19) zu Beginn der Bewegung etwa bei t = t0 erfüllt ist, also eine sogenannte konsistente Anfangsbedingung vorliegt. Der Nachweis der Äquivalenz beruht im Wesentlichen auf der gleichen Argumentation wie in Ziffer 1 dieser Bemerkungen.
2.3
Coulombsche Reibung
Ein Körper, der auf einer Unterlage ruht, dabei normal und tangential zu dieser belastet wird, kann innerhalb gewisser Grenzen beliebige Tangentialkräfte ertragen, ohne in Bewegung zu geraten. Gleitet der Körper hingegen, so kann die Bewegung empirisch gedeutet werden, indem eine aufgrund der Reibung wirkende tangentiale Kraft F~T unterstellt wird, die entgegen der Richtung der tangentialen Gleitgeschwindigkeit ~vT wirkt und dem Betrag nach proportional zur Normalbelastung FN ≥ 0 angenommen wird. Die Proportionalitätskonstante µ ist dann eine makroskopische und empirische Größe, die zwar anhand mikroskopischer Modelle qualitativ erklärt werden kann, aber zumindest im Zusammenhang mit dem Coulombschen Reibgesetz nicht unmittelbar aus solchen abgeleitet wird. Zusammengefasst bedeutet dies für den Massenpunkt ~vT = ~0 ⇒ |F~T | ≤ µFN , ~vT ~vT 6= ~0 ⇒ F~T = −µFN , |~vT |
(2.24)
wobei die häufig getroffene Annahme übernommen wurde, dass µFN der maximal ertragbare Betrag der Haftkraft ist. Hier werden also keine unterschiedlichen Koeffizienten für Haften und Gleiten verwendet. Es ist aber möglich, eine stetige Abhängigkeit µ(|~vT |) des Gleitreibungskoeffizienten vom Betrag der Tangentialgeschwindigkeit anzunehmen, um so Effekte spezieller empirischer Gleitreibungsmodelle besser abzubilden, z.B. Kennlinien nach Stribeck, vgl. [18]. Ein solcher Zusammenhang lässt sich immer durch eine Zerlegung FT = FT0 + FG (|~vT |) formulieren. Dabei ist FT0 eine Tangentialkraft, die durch (2.24) für konstanten Koeffizienten µ = µ(|~0|) erklärt ist. Der stetige Anteil FG (|~vT |) ist dann für die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Tangentialkraft beim Gleiten verantwortlich und wirkt daher wie eine eingeprägte Kraft, schließlich liegt ein Kraftgesetz vor. Die Zerlegung muss natürlich so gewählt werden, dass FG (|~0|) = 0
2.3.
23
Coulombsche Reibung
gilt, damit im Haftfall die Tangentialkraft einzig durch (2.24) erklärt wird. Der Term µFN kann aber ohne Einschränkung implizit von ~r, ~r˙, ~r¨ und der Zeit abhängen, z.B. wenn die Normalkraft in irgend einer Form vom Systemzustand oder als Zwangskraft von der Beschleunigung abhängt. Es ist offensichtlich, dass Reibung ohne Weiteres in die bisherige Formulierung des Fourierschen bzw. des Gleichgewichtsprinzips aufgenommen werden kann, indem im Falle von Gleiten die Reibkraft zur eingeprägten Kraft gezählt wird und im Falle des Haftens eine zweiseitige Bindung angenommen wird, die solange gilt, wie die zugehörige Zwangskraft die maximal ertragbare Haftkraft nicht überschreitet. Die Berücksichtigung der Gleitreibungskraft als eingeprägte Kraft setzt allerdings die Kenntnis der Normalbelastung FN voraus. Andernfalls ist die Darstellung als Variationsungleichung gemäß (2.1) zwar formal möglich, allerdings erscheint die dann unbekannte Größe FN explizit und wird durch diese Formulierung nicht eliminiert. In der Literatur ist daneben häufig ein weiterer Ansatz zu finden. Das Problem der Coulombschen Reibung wird als Variationsungleichung ausgedrückt, ohne die Fallunterscheidung mitzuführen, welche die tangentiale Wirkung der Reibung in eingeprägte Kraft bzw. zusätzliche Bindung in tangentialer Richtung unterteilt. Diese Darstellung kann bei allgemeineren theoretischen Überlegungen von Vorteil sein, vgl. Kapitel 3. Die Reibkraft wird als Lösung einer Menge von Ungleichungen beschrieben: Die Darstellung (2.24) der Coulombschen Reibung ist für den gegebenen Term µFN äquivalent zur Variationsungleichung F~T · (~vT⋆ − ~vT ) + µFN (|~vT⋆ | − |~vT |) ≥ 0,
(2.25)
die für alle Geschwindigkeitsvektoren ~vT⋆ in der Tangentialebene zu gelten hat. Kennzeichnet ein Einheitsvektor ~nN die Wirkrichtung der Normalkraft auf den Massenpunkt, dann erhält man die Tangentialprojektion ~vT eines Vektors ~v über ~vT = ~v − (~nN · ~v ) ~nN ~~ = T~ v ~ ~ mit T~ = I~ − ~nN ⊗ ~nN .
(2.26) (2.27) (2.28)
~ ~ Dabei ist I~ der Identitätstensor und somit T~ der Projektionstensor in die Tangentialebene zu ~nN . Die Gleichwertigkeit der Darstellungen wird im Folgenden gezeigt: Zunächst wird von (2.25) auf (2.24) geschlossen. Die Beziehung (2.25) liefert nach Umformung in die Darstellung F~T · ~vT⋆ + µFN |~vT⋆ | − F~T · ~vT + µFN |~vT | ≥ 0
(2.29)
die beiden Zwischenergebnisse F~T · ~vT + µFN |~vT | ≤ 0 und F~T · ~vT⋆ + µFN |~vT⋆ | ≥ 0,
(2.30) (2.31)
24
Kapitel 2. Dynamik des Massenpunkts die unmittelbar aus der Beliebigkeit von ~vT⋆ hervor gehen. Aus (2.31) folgt mit der Darstellung ~vT⋆ = v~eT für eine beliebige Tangentialgeschwindigkeit, ausgedrückt durch einen beliebigen tangentialen Einheitsvektor ~eT und beliebigen Skalar v ≥ 0, F~T · ~eT + µFN ≥ 0.
(2.32)
Dies schließt aber auch den Fall ein, dass ~eT und F~T entgegengesetzt parallel sind, woraus dann die Grenze |F~T | ≤ µFN
(2.33)
für die Tangentialkraft hervorgeht. Aus dieser Ungleichung folgt unmittelbar nach beidseitiger Multiplikation von |~vT | ≥ 0 |F~T ||~vT | ≤ µFN |~vT |.
(2.34)
Da allgemein für ein Skalarprodukt zweier Vektoren ~a · ~b = |~a||~b| cos(∠~a, ~b) wegen cos(∠~a, ~b) ∈ [−1, 1] die Abschätzung −|~a||~b| ≤ ~a · ~b ≤ |~a||~b| gilt, folgt daraus F~T · ~vT + µFN |~vT | ≥ 0,
(2.35)
sodass insgesamt mit (2.30) letztlich nur F~T · ~vT + µFN |~vT | = 0
(2.36)
gelten kann. Nimmt man an, dass für den Fall ~vT 6= ~0 die tangentiale Reibkraft gemäß ~vT ~2 +R F~T = (R1 − µFN ) |~vT |
(2.37)
~ 2 · ~vT = 0 verlangt werden dargestellt wird, wobei ohne Einschränkung R kann, da etwaige Anteile in Richtung von ~vT in R1 berücksichtigt sind, so ist für die Folgerung des zweiten Falls aus (2.24) nur noch R1 = 0 und ~ 2 = ~0 zu zeigen. Ersteres wird sofort ersichtlich, wenn man (2.37) in (2.36) R ~ 2 |2 ≤ (µFN )2 gelten einsetzt. Da zudem mit (2.33) auch |F~T |2 = (µFN )2 +|R ~ 2 = ~0 möglich sein. Ist hingegen ~vT = ~0, so gilt immer muss, kann nur R noch (2.33), womit der Schluss von der Variationsungleichung (2.25) auf die klassische Darstellung (2.24) vollzogen ist. Umgekehrt folgt aus (2.24) die Formulierung (2.25). Multipliziert man in der zweiten Implikation aus (2.24) die Gleichung skalar mit ~vT , so folgt F~T · ~vT + µFN |~vT | = 0.
(2.38)
2.3.
25
Coulombsche Reibung
Abbildung 2.5: Zur Variationsformulierung mit Reibung. Es ist also nur noch zu zeigen, dass für jede Tangentialgeschwindigkeit ~vT⋆ die Abschätzung F~T · ~vT⋆ + µFN |~vT⋆ | ≥ 0
(2.39)
gilt. Diese Beziehung ist aber anhand Abbildung 2.5 ersichtlich. Die Tangentialkraft F~T zeigt beim Gleiten immer entgegen der Richtung der Tangentialgeschwindigkeit ~vT 6= ~0. Das mit einer beliebigen Geschwindigkeit ~vT⋆ gebildete Skalarprodukt F~T · ~vT⋆ entspricht dem Betrag nach dem Inhalt der schraffierten Fläche und ist somit immer kleiner als der Inhalt |~vT⋆ ||µFN | der grau unterlegten Fläche. Dieser Zusammenhang ist aber genau die Aussage der Beziehung (2.39). Die Differenz von (2.39) und (2.38) liefert schließlich die Variationsungleichung (2.25). Damit ist insgesamt die Äquivalenz von (2.24) und (2.25) gezeigt. Wird die Coulombsche Kraft F~T formal wie eine eingeprägte Kraft behandelt, so erweitert sie das Prinzip von Fourier gemäß F~e + F~T − m~r¨ · δ~r ≤ 0, δ~r kinematisch verträglich, (2.40) F~T · (~vT⋆ − ~vT ) + µFN (|~vT⋆ | − |~vT |) ≥ 0, für alle ~vT⋆ , g(~r) ≥ 0.
(2.41) (2.42)
Eine gleichwertige Darstellung im Newtonschen Sinne kann analog zu (2.3–2.6) gefunden werden: m~r¨ − F~e g(~r) λN λN g(~r)
= ≥ ≥ =
λN ~n + F~T , 0, 0, 0,
F~T · (~vT⋆ − ~vT ) + µFN (|~vT⋆ | − |~vT |) ≥ 0 für alle ~vT⋆ ,
(2.43) (2.44) (2.45) (2.46) (2.47)
26
Kapitel 2. Dynamik des Massenpunkts
wobei (2.47) für eine von Variationsungleichungen befreite Variante durch (2.24) ersetzt werden kann und somit weitere Fallunterscheidungen nötig sind. Abschließend ist wiederholt darauf hinzuweisen, dass bisher die Normalbelastung FN im Reibkontakt als bekannt vorausgesetzt wurde. Nach Einführung der Zwangskraft F~Z = λN ~n für die einseitige Bindung kann man erfahrungsgemäß mit der Normierung (2.7) sofort FN = λN unterstellen, wenn die Reibung einzig auf die Bindung zurückzuführen ist.
2.4
Regularisierung der Variationsungleichungen
Ersetzt man in der Variationsungleichung (2.25) vorübergehend die Funktionen µFN | · | durch eine beliebige differenzierbare Funktion f (·), so erhält man den Ausdruck f (~vT⋆ ) ≥ f (~vT ) + (−F~T ) · (~vT⋆ − ~vT ) für alle ~vT⋆ .
(2.48)
Da f differenzierbar angenommen wurde, erscheint es plausibel, dass für beliebig nahe bei ~vT liegende ~vT⋆ die Variationsungleichung (2.48) durch den Gradienten von f , also ~ , erfüllt sein muss. Wird nämlich das ≥-Zeichen durch = ersetzt, dann −F~T = ∇f entspricht (2.48) gerade der Linearisierung von f in der Nähe von ~vT . Ein Ansatz zur Berechnung der Reibkraft ist daher das Annähern der nicht differenzierbaren Funktion µFN | · | durch eine differenzierbare Funktion, deren Gradient dann näherungsweise die Reibkraft liefert. Diese Vorgehensweise nennt man auch Regularisierung der Reibkraft, vgl. [55]. Beispiel 2.4 In diesem Zusammenhang ist eine differenzierbare Näherung f (·) an die Betragsfunktion | · |, also eine Regularisierung derselben, gesucht. Für ~v ∈ R3 liefert die Vorschrift 1 α|~v|2 ; falls |~v| < 2α fα (~v) := 1 |~v| − 4α ; sonst das Gewünschte. Für Regularisierungsparameter 0 < α → +∞ ist fα (~v) für jedes ~v beliebig nahe an |~v |. Die Gradienten 2α~v bzw. |~~vv| sowie die Funktionswerte der beiden 1 Fälle sind am Übergang bei |~v| = 2α identisch. Eine nahezu offensichtliche Alternative zur Regularisierung der Betragsfunktion für α → ∞ liefert die Vorschrift −1 1 1 1 fα (~v) := 1 + (~v · ~v ) 2 (1+ α ) α mit Gradient ((~v · ~v ) 2 ( α −1) )~v . 1
1
Die Vorgehensweise gemäß einer Regularisierung lässt sich mittelbar auch beim Prinzip von Fourier anwenden. Der Vergleich von (2.1) mit (2.3) erklärt die normale Zwangskraft F~Z := λN ~n zur Lösung der Variationsungleichung −F~Z · (~r ⋆ − ~r) ≤ 0 für alle mit der Bindung verträglichen ~r ⋆ ,
(2.49)
27
2.4. Regularisierung der Variationsungleichungen
wobei die Verträglichkeit der Variation ~r ⋆ = ~r + δ~r mit der Bindung g(~r) ≥ 0 wie in (2.1) definiert ist. Mit der zunächst hypothetischen Funktion Ψ gemäß der Vorschrift 0; g(~r) ≥ 0 Ψ(~r) := (2.50) +∞; sonst wird wegen g(~r) ≥ 0 an der Aussage von (2.49) durch Addition von Ψ(~r) = 0 und 0 ≤ Ψ(~r ⋆ ) ≤ +∞ zur linken bzw. rechten Seite nichts verändert: Ψ(~r) − F~N · (~r ⋆ − ~r) ≤ Ψ(~r ⋆ ) für alle mit der Bindung verträglichen ~r ⋆ .
(2.51)
Damit erhält man die gleiche formale Gestalt wie zuvor bei (2.25). Fände man eine differenzierbare Regularisierung f der Funktion Ψ, so wäre nach dem gleichen Argumentationsmuster wie bei (2.48) die Kraft über den Gradienten der Regularisierung ~ (~r) erklärt. Eine Möglichkeit der Regularisierung wird im folgenden gemäß −F~N = ∇f Beispiel diskutiert. Beispiel 2.5 Für die Regularisierung f von Ψ bietet sich eine Funktion an, die verschwindet, solange g(~r) ≥ 0 zutrifft und andernfalls sehr rasch groß wird, schließlich muss die Regularisierung in diesem Fall den Funktionswert +∞ repräsentieren. Da die Regularisierung differenzierbar sein muss, kann die Funktion nicht sprunghaft auf einen sehr großen Wert steigen. Eine Möglichkeit wäre die Vorschrift 0; g(~r) ≥ 0 . fα (~r) = 2 α (g(~r)) ; sonst 2 Wird mit g ein echter Abstand zu einer Referenzebene gemessen, d.h. g(~r) = ~n ·(~r −~r0 ), wobei ~n ein Einheitsnormalenvektor der Referenzebene und ~r0 der Ortsvektor zu einem ~ α (~r) = − ∇g| ~ g(~r) min(g(~r), 0) und daher beliebigen Punkt darauf ist, so ist F~Z = −∇f | {z } ~ n
|F~N | = −α min(g(~r), 0). Die Regularisierung erzeugt also die gleiche Reaktionskraft wie eine lineare Feder mit der Federsteifigkeit α, die auf das Eindringen min(g(~r), 0) ≤ 0 reagiert. Hier zeigt sich eine enge Verknüpfung mit einer völlig anders begründeten Methode. Wenn man meint, dass eine physikalische Modellvorstellung sinnvoll ist und derart vorliegt, dass sie einer Verletzung der Nebenbedingung eine definierte Kontaktkraft zuweist, dann ist die Kontaktkraft keine Zwangskraft mehr. Dann liegt ihr nämlich ein Kraftgesetz etwa der Form F~Z = F~ (g(~r)) zugrunde. Für den obigen Fall der linearen Feder bedeutet dies, dass ein endlicher Regularisierungsparameter α < +∞ einen physikalischen Sinn hätte, läge denn ein lineares Kontaktkraftgesetz zugrunde. Im ursprünglichen Sinn der Regularisierung erwartet man aber, dass erst der Grenzfall α → +∞ den richtigen Wert liefert, nämlich die Lösung der Variationsungleichung.
Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 1. Es wurden die grundlegenden mechanischen Phänomene im Zusammenhang mit einseitigem Normalkontakt und Reibung für die Dynamik des Massenpunktes beschrieben. Axiomatischer Ausgangspunkt war die Variationsungleichung des
28
Kapitel 2. Dynamik des Massenpunkts Prinzips von Fourier, das durch Einführen einer Zwangskraft, die keine negative virtuelle Arbeit verrichten darf, im Sinne des Newtonschen Grundgesetzes gedeutet wurde. Dabei lag die Vorstellung einer idealen Bindung zu Grunde, d.h. es kann zu keiner Verletzung der Nebenbedingung kommen, es sei denn im Zusammenhang mit Näherungsmethoden. Das Phänomen der Coulombschen Reibung wurde wie üblich auf eine einfache Kraftwirkung zurückgeführt. 2. Zur Beschreibung der Kontaktkräfte, sei es der gedeuteten Zwangskräfte oder der unterstellten Reibkräfte, wurde die Methodik der Variationsungleichungen verwendet. Alternative Beschreibungsmöglichkeiten mittels Fallunterscheidung in komplementären Formulierungen sowie Regularisierungsansätze wurden angedeutet. Besonders im Zusammenhang mit der Regularisierung wird die formale Verwandschaft der Kontaktkräfte mit Potenzialkräften deutlich, schließlich gehen die regularisierten Kontaktkräfte aus dem Gradienten einer regularisierten Funktion hervor. In diesem Zusammenhang wurde von anderen Autoren der Begriff Superpotenzial vorgeschlagen [82, 78], aus dem wenigstens mittelbar durch Gradientenbildung die Kontaktkraft hervorgeht. 3. Die Erweiterung der Theorie auf mehrere einseitige Nebenbedingungen auf Basis der bisher vorgestellten, sich an der Anschauung orientierenden Herleitungen wird mit zunehmender Anzahl von Nebenbedingungen immer schwieriger. Eine umfassende Formalisierung des Vorgehens wird auch im Hinblick auf eine größere Klasse von Problemstellungen als die Massenpunktmechanik nötig sein. Dies ist hauptsächlich Gegenstand des Kapitels 3. 4. Bisher wurde stillschweigend die zweifache Differenzierbarkeit der Ortsvektorfunktion ~r unterstellt. Damit sind im Besonderen Sprünge in den Geschwindigkeiten ~r˙ zunächst ausgeschlossen. Solche Sprünge sind natürlich in Verbindung mit einer idealen einseitigen Bindung ein wesentliches Element der Modellvorstellung in der nicht-glatten Mechanik. Provisorisch können sie in diesem Stadium der Modellbildung noch berücksichtigt werden, indem die Bewegung des Massenpunkts ohne Bindung modelliert wird, solange die einseitige Bindung nicht beansprucht wird. Tritt eine Bindung ein, dann wird die Bewegung gestoppt und unmittelbar danach mit neuen Anfangsbedingungen gestartet, sodass eine weitere Verletzung der Bindung unmittelbar nach Neubeginn der Bewegung ausgeschlossen werden kann. Die Lösung dieser Aufgabe ist nicht eindeutig, denn die bisherige Axiomatik des Prinzips von Fourier liefert keine Beschreibung der nicht-glatten Übergänge. Die zu diesem Zweck benötigte Information müssen sogenannte Stoßgesetze liefern. Dabei wird sich die Frage stellen, in welchen Grenzen diese im Zusammenhang mit idealen einseitigen Bindungen realitätsnah formuliert werden können. Die Formalisierung dieser Aufgaben bei mehreren Bindungen ist nicht ohne Weiteres möglich, vgl. ebenfalls Kapitel 3.
29
Kapitel 3 Probleme der Strukturdynamik formuliert mittels Maßdifferenzialeinschließungen Am Ende dieses Kapitels werden Formulierungen vorliegen, welche die Bewegung eines strukturdynamischen Systems mittels sogenannter Differenzialeinschließungen (DI, engl. Differential Inclusions) bzw. Maßdifferenzialeinschließungen (MDI, engl. Measure Differential Inclusions) beschreiben. Bis dahin wird größtenteils analog zu [71] vorgegangen, erweitert um Überlegungen, wie flächenhafte (nicht notwendigerweise ebene) Kontaktsituationen konsistent in die Theorie übernommen werden können. Eine DI ist, grob skizziert, eine Charakterisierung einer Funktion über die Zugehörigkeit ihrer Ableitung zu einer zeitabhängigen Menge in der Form q˙ ∈ C(t). Dies schließt gewöhnliche Differenzialgleichungen q˙ = f(t) ein, indem man einfach die Einschließung q˙ ∈ {f(t)} fordert. Kann Differenzierbarkeit nicht erwartet werden, z.B. bei Unstetigkeitsstellen, dann muss mit erweiterten Konzepten gearbeitet werden. Als nützlich hat sich die Formulierung von Inklusionen für Maßdichtefunktionen der Differenzialmaße der nichtdifferenzierbaren Funktionen erwiesen. Solche mathematischen Strukturen werden als MDI bezeichnet, vgl. [31, 69, 57, 71]. Die Formulierungen dieses Kapitels basieren auf den Grundlagen der nicht-glatten (auch: variationellen) Analysis und der Maßtheorie, die im Anhang A bzw. C zusammengefasst sind und hier vorausgesetzt werden. Die Schreibweise hält sich dabei an [90] und ist damit sehr suggestiv. Vor allem der ebendort verfolgte Ansatz der Einbettung der gewöhnlichen Differenziation in das nicht-glatte Konzept täuscht eine unkomplizierte Erweiterung vor. Dass dem nicht so ist, kann die im Anhang gegebene Zusammenfassung nur andeuten. Dem Anwender in der Mechanik bietet sich schließlich eine gut entwickelte Theorie an, die sich bequem ausnutzen lässt, wie in ähnlicher Weise auch schon in z.B. [39, 65] geschehen.
3.1
Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
Zunächst werden nur solche Bewegungen betrachtet, bei denen für jeden materiellen Punkt P einer Struktur die zeitliche Entwicklung seines Ortsvektors ~r zweifach dif-
30
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
ferenzierbar ist, also eine bezüglich eines Inertialsystems I absolute Beschleunigung I ~r¨ := d d~vt(t) existiert. Ein wesentlicher Gesichtspunkt nicht-glatter Systeme ist zwar genau das Nichtvorhandensein dieser Beschleunigungen im Allgemeinen, aber es zeigte sich schon in vielen Arbeiten, dass die Formulierung für stetige Geschwindigkeitsverläufe unter realistischen Bedingungen leicht auf Systeme mit Geschwindigkeitssprüngen erweiterbar ist. Hierbei muss aber nicht gelten, dass ~r zweifach stetig differenzierbar ist. Sprünge in den Beschleunigungen, die aus sich ändernden Bindungszuständen aufgrund Reibung hervorgehen, sind zugelassen. Manche Autoren bezeichnen auch Bewegungen mit Beschleunigungssprüngen als glatt (engl. smooth motion), solange Sprünge in den Geschwindigkeiten ausgeschlossen sind, vgl. z.B. [71]. Hinsichtlich der Anwendung in der Mechanik liefert dieser Abschnitt die auf allgemeine mechanische Systeme ausgerichtete Formalisierung der Überlegungen zur Coulombschen Reibung und zum Normalkontakt beim Massenpunkt aus Kapitel 2.
3.1.1
Variationsungleichung für Strukturen mit einseitigen Bindungen
Ausgangspunkt der Überlegung ist die Ungleichung Z ~ df/dV + df~T /dV − dm/dV ~r¨ · δ~v dV ≤ 0,
(3.1)
K
welche die axiomatische Grundlage für die Erweiterung des Prinzips von Fourier liefern soll, vgl. (2.1). Dabei werden für einen Körper K Dichtefunktionen zum Maß dV angenommen: Die vektorwertigen Dichten df~/dV und df~T /dV der eingeprägten Kräfte f~ bzw. der noch genauer zu spezifizierenden Kräfte f~T , die auf die Reibung zurückzuführen sind, daneben die Massendichte dm/dV , die im Innern des Körpers üblicherweise mit ρ bezeichnet wird. Dichten freier Momente werden nicht betrachtet, es wird angenommen, dass der Spannungstensor symmetrisch ist, und dass Momente nur als resultierende Kräftewirkung bei entsprechenden kinematischen Verschiebungshypothesen auftreten, z.B. beim Starrkörper, Balkentheorie nach Timoshenko. Alle Größen sind in Abhängigkeit vom jeweiligen materiellen Punkt P und gegebenenfalls ~ von der Zeit erklärt, d.h. ~r(P, t), df/dV (P, t) usw. Die Integration soll zunächst symbolisch so zu verstehen sein, dass sie sich additiv über alle Körper erstreckt, sollten mehrere beteiligt sein. Ferner soll das Maß dV und die zugehörigen Dichtefunktionen am Rand der Körper so messen, als lägen Oberflächenintegrale vor. Die Massendichte wird daher am Rand verschwinden, die Kraftdichten sind dort als zu Oberflächenkräfte gehörig zu deuten. Eine Schwierigkeit tritt bei der genauen Beschreibung der Variationen δ~v (P, t) auf. Im Allgemeinen sind sie für kontinuierliche Körper ein kontinuierliches Feld und werden als Elemente eines bestimmten Funktionenraums erklärt und in manchen Zusammenhängen auch Testfunktionen genannt. Mit Blick auf eine Diskretisierung des Problems im frühen Stadium wird unterstellt, dass die Variation lokal für jeden einzelnen Punkt P erklärt werden kann und entsprechend die Bewegung ~r(P, t) immer in einem zulässigen Gebiet C(P, t) liegt, das nur lokal von einem festen materiellen Punkt P abhängt und nicht von einem ganzen Verschiebungsfeld (P, t) 7→ ~r. Somit ist C(P, t) lediglich eine zeitabhängige Menge, aber kein Funktionenraum, mit der die Bindungen der Struktur
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
31
ausgedrückt werden. Üblicherweise werden die zugehörigen Variationen nur verbal erklärt, indem man fordert, dass sie mit „den Bindungen verträglich“ sein sollen. Dies drückt eine Vorstellung aus, die sich in abstrakter Weise in der Definition des sogenannten Tangentialkegels wiederfindet, vgl. A.36 (auf Definitionen, Beispiele, Sätze usw. des Anhangs wird durch die bloße Angabe der entsprechenden Nummerierung verwiesen). Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Forderung (3.1) unter Berücksichtigung von ~r(P, t) ∈ C(P, t), δ~v (P, t) ∈ TC(P,t)
(3.2) (3.3)
für alle materiellen Punkte P zu gelten hat, wobei TC der Tangentialkegel schlechthin an eine Menge C nach A.36 ist. Eine räumliche Diskretisierung der Struktur ist gegeben, wenn eine Vorschrift ~r(P, t) = ~r(P, q(t), t), ~r˙ (P, t) = ~v (P, q(t), v(t), t), ˙ ~r¨(P, t) = ~a(P, q(t), v(t), v(t), t)
(3.4) (3.5) (3.6)
unterstellt wird, mit der die Bewegungen, Geschwindigkeiten bzw. Beschleunigungen für jeden Punkt P angenähert durch die Angabe von endlich vielen (generalisierten) Koordinaten und Geschwindigkeiten q : t 7→ (q1 , . . . , qn ) bzw. v = q˙ dargestellt werden. Fasst man (3.4–3.6) als Transformation der generalisierten Koordinaten auf lokale Koordinaten bei P auf und damit als eine Transformation von derselben Gestalt wie in A.56, dann erlaubt A.56iii, mit den dort formulierten Voraussetzungen, die Darstellung von (3.1–3.3) bezüglich der generalisierten Koordinaten: Z ∂~r(q(t), t) ¨ ~ ~ δv dV ≤ 0, ∀δv ∈ TC(t) , (3.7) df/dV + dfT /dV − dm/dV ~r · ∂q K q(t) ∈ C(t) := {q ∈ Rn | ~r(P, q, t) ∈ C(P, t) ∀P } . (3.8) Es bedeutet für die Anwendung nur eine geringfügige Einschränkung, wenn die Bindungsmenge C(P, t) aus (3.2) über Niveaumengen der Form C(P, t) = {~r| g(P, t, ~r(P, t)) ≥ 0 ∀P ∈ Γc ⊂ bnd K}
(3.9)
beschrieben wird, wobei g eine bezüglich ~r differenzierbare Funktion ist. Die Bindung muss nicht für alle materiellen Punkte gefordert werden, sondern nur für Bereiche Γc , die erfahrungsgemäß auf den Rändern der Körper liegen, vgl. A.7, und als zeitunabhängig angenommen werden. Das ≥-Zeichen kann auch bei einer Menge von Punkten P durch ein =-Zeichen ersetzt werden, falls dort zweiseitige Bindungen zwischen materiellen Punkten ausgedrückt werden sollen. Für die Darstellung mit diskreten Koordinaten kann (3.9) bei der rechnerischen Auswertung im Allgemeinen nicht für alle materiellen Punkte erfüllt werden. Deshalb wird (3.8) durch eine Darstellung ersetzt, die als Mittelung der punktweise geforderten Beziehung (3.9) zu deuten ist: q(t) ∈ C3 (t) := {q ∈ Rn | gi(q, t) ≥ 0, i = 1, . . . , m} mit Z gi(q, t) := hi g(P, t, ~r(P, q, t)) dΓ, i = 1, . . . , m. Γc
(3.10) (3.11)
32
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
Die Gewichtsfunktionen hi : P 7→ hi (P ) ∈ R+ sind sinnvollerweise linear unabhängig zu wählen und dürfen nicht negativwertig sein, damit die Mittelung den Sinn der Ungleichung nicht entstellt. Normiert gemäß Z ! hi dΓ = 1 (3.12) Γc
stellt (3.11) einen gewichteten Mittelwert der diskretisierten Niveaufunktion auf dem Kontaktrand Γc dar. Der Zweck der Mittelung ist die beliebig genaue Annäherung an die ursprüngliche Darstellung (3.8) für m → ∞. Es bleibt unbewiesen, ob Konvergenz in dieser Hinsicht tatsächlich gewährleistet ist. Beispiel 3.1 Ein wichtiger Fall einer einseitiger Bindung ist die Undurchdringlichkeitsbedingung (Impenetrabilitätsbedingung) der Oberflächen beim Kontakt zweier Festkörper K1 und K2 . Die Teile der jeweiligen Oberflächen, die sich berühren können, werden mit Γc1 ⊂ bnd K1 bzw. Γc2 ⊂ bnd K2 bezeichnet und als zeitlich konstant angenommen. Einem materiellen Punkt P an der Oberfläche Γc1 wird der nächstliegende materielle Punkt cp(P ) (closest point) auf Γc2 durch cp(P, t) := arg min (|~r(P, t) − ~r(P2 , t)|) P2 ∈Γc2
zugeordnet. Der nächstliegende Punkt auf dem zweiten Körper ist also derjenige, der den geringsten Abstand zu P hat. Bezeichnet ~n(P, t) einen gemäß |~n(P, t)| = 1 normierten und nach außen weisenden Normalenvektor für Punkte auf der Oberfläche, so wird Unduchdringlichkeit durch die Forderung g(P, t, ~r(P, t)) := (~r(cp(P ), t) − ~r(P, t)) · ~n(P, t) ≥ 0 für alle materiellen Punkte P ∈ Γc1 definiert. D.h., die Projektion des Vektors von P zum nächstliegenden Punkt auf dem zweiten Körper auf den Normalenvektor ist nicht-negativ. Die so definierte Begrenzungsfunktion g wird auch Spaltfunktion (gap function) genannt. Für den Kontakt zweier Körper wird damit die Bindungsmenge aus (3.9) zu C(P, t) = {~r| g(P, t, ~r(P, t)) ≥ 0 ∀P ∈ Γc1 } . Die rechnerische Umsetzung der Kontaktpunktfindung ist sehr aufwändig. Es stellt besonders bei elastischen Körpern alleine die systematische numerische Berechnung der Spaltfunktion schon ein abgegrenztes Forschungsgebiet dar, siehe z.B. [45]. In der vorliegenden Arbeit wird dieses Thema nicht weiter allgemein verfolgt. Es kann gezeigt werden, vgl. Bemerkung 2.3, dass die Zugehörigkeit q(t) ∈ C3 (t) für alle Zeiten t ∈ [t0 , t1 ] sichergestellt ist, falls q(t0 ) ∈ C3 (t0 ) und v(t) ∈ C2 (q(t), t) (fast immer)
(3.13) (3.14)
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
33
gilt, mit C2 (q(t), t) :=
v ∈ Rn | J⊺Ni (q(t), t)v + aNi (q(t), t) ≥ 0 ∀i ∈ AN3 (q(t), t) , (3.15) ⊺
g˙i (q(t), v(t), t) =
JNi (q(t), t)v + aNi (q(t), t), |{z} |{z} ∂gi ∂q
(3.16)
∂gi ∂t
AN3 (q(t), t) := {i = 1, . . . , m| gi(q(t), t) ≤ 0} .
(3.17)
Somit ist AN3 die Indexmenge der auf Lageebene aktiven Bindungen. Entsprechend werden die Indexmengen AN2 (q(t), v(t), t) := {i ∈ AN3 (q(t), t)| g˙i(q(t), v(t), t) ≤ 0} , ˙ AN1 (q(t), v(t), t) := {i ∈ AN2 (q(t), t)| g¨i(q(t), v(t), v(t), t) ≤ 0}
(3.18) (3.19)
der auf Geschwindigkeits- bzw. Beschleunigungsebene aktiven Bindungen erklärt. Interpretation: Anstatt eine Zugehörigkeit bezüglich der generalisierten Koordinaten (sprich: auf Lageebene) zu fordern, wird eine Zugehörigkeit bezüglich der generalisierten Geschwindigkeiten erklärt (sprich: auf Geschwindigkeitsebene). Gemäß der Sprechweise bei zweiseitigen Bindungen – algebraische Nebenbedingungen mit Index 3 (Lageebene) bzw. Index 2 (Geschwindigkeitsebene), Index 1 (Beschleunigungsebene)– werden die Mengen und Indexmengen mit der jeweils entsprechenden Zahl gekennzeichnet. Beziehung (3.13) stellt konsistente Anfangsbedingungen sicher, sodass es ausreicht, wenn durch (3.14) die Geschwindigkeiten wieder in den zulässigen Bereich geschickt werden, wenn das System die Ränder berührt. Entsprechend kann die Zugehörigkeit auf Beschleunigungsebene durch die Forderungen q(t0 ) ∈ C3 (t0 ), v(t0 ) ∈ C2 (t0 ), ˙ v(t) ∈ C1 (q(t), v(t), t) (fast immer)
(3.20) (3.21) (3.22)
sichergestellt werden, wobei C t) := 1 (q(t),n v(t), ⊺ a ∈ R | JNi (q(t), t)a + bNi (q(t), v(t), t) ≥ 0 ∀i ∈ AN2 (q(t), v(t), t) , ˙ g¨i (q(t), v(t), v(t), t) = J⊺Ni (q(t), t)v˙ + bNi (q(t), v(t), t), d d bNi (q(t), v(t), t) := (JNi (q(t), t)⊺) v(t) + (aNi (q(t), t)) dt dt
(3.23) (3.24) (3.25)
zu gelten hat. Der Nachweis der Gleichwertigkeit der Zugehörigkeiten auf unterschiedlichen kinematischen Ebenen beruht, wie in Bemerkung 2.3 angedeutet, auf einem Stetigkeitsargument bezüglich einer Integration. Daher erscheint es plausibel, dass die Zugehörigkeit (3.10) auf Lageebene auch dann sichergestellt ist, wenn die entsprechenden Beziehungen auf Geschwindigkeits- bzw. Beschleunigungsebene lediglich „fast immer“ gelten, d.h. immer bis auf abzählbar unendlich viele Stellen (mit Worten der Maßtheorie: dt-fast-immer).
34
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
Künftig wird meistens auf das Mitführen der Argumentliste zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet. In dieser Arbeit wird angenommen, dass nur gemäß (3.4) diskretisiert wird und die Geschwindigkeiten bzw. Beschleunigungen direkt durch Differenziation gewonnen werden, sodass die Beziehungen ~r = ~r(P, q(t), t), ∂~r ∂~r v+ , ~r˙ = ∂q ∂t ∂~r d ∂~r d ∂~r ¨ ~r = v˙ + v+ ∂q d t ∂q d t ∂t | {z }
(3.26) (3.27) (3.28)
=:~a2 (q,v,t)
diejenigen in (3.4–3.6) ersetzen. Die Ungleichung in (3.7) geht dadurch in Z ⊺ ∂~r ∂~r ⊺ − δv dV v˙ + ∂q ∂q K 1 Z ⊺ ∂~ r ~ df/dV − ρ~a2 dV + δv⊺ ∂q K 2 Z ⊺ ∂~ r δv⊺ df~T /dV dV ≤ 0 ∂q K 3
(3.29)
über. Kürzt man die Integrale durch M := [. . .]1 (Massenmatrix, positiv definit), f := [. . .]2 (Spaltenmatrix der generalisierten eingeprägten Kräfte), fT := [. . .]3 (Spaltenmatrix der generalisierten Reibkräfte)
(3.30) (3.31) (3.32)
ab, dann gelangt man zu folgender Darstellung der vollständigen Variationsungleichung (3.7): Prinzip 3.2 Allgemeines Prinzip von Fourier: Es gelte ˙ ≤ 0, ∀δv ∈ Tα δv⊺ (f + fT − Mv) für einen der drei Fälle: ˙ 1. α = 1 : Tα = TC1 (v). q ∈ C3 für t = t0 , v ∈ C2 für t = t0 , v˙ ∈ C1 fürt ≥ t0 . 2. α = 2 : Tα = TC2 (v). q ∈ C3 für t = t0 , v ∈ C2 für t ≥ t0 .
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
35
3. α = 3 : Tα = TC3 (q). q ∈ C3 für t ≥ t0 . Die Darstellungen der Tangentialkegel Tα (α = 1, 2, 3) sind unter bestimmten Bedingungen an die Begrenzungsfunktionen gi aus (3.11) mittels deren Gradienten möglich, vgl. A.56, wobei hier speziell die Formulierung A.57 greift. Sind diese Bedingungen erfüllt, dann stellt TC3 (q) = u ∈ Rn | J⊺Ni u ≥ 0, ∀i ∈ AN3 (3.33)
den Tangentialkegel zu C3 dar. Im Wesentlichen verbirgt sich hinter den abstrakten Bedingungen die exakte Fassung dessen, was man als „vernünftige“ Wahl der Begrenzungsfunktionen bezeichnen dürfte, z.B. dass ihre Gradienten nicht verschwinden sollen, vgl. Beispiel A.61. Weitere Schwierigkeiten können auftreten, wenn differenzierbare aber nicht stetig differenzierbare Begrenzungsfunktionen – beispielsweise der Bauart sin(x−1 ) – ins Spiel kommen, vgl. [90]. Auch eine solche Komplikation dürfte in der Anwendung vermeidbar sein. Die Schwierigkeiten werden umgangen, wenn man Zugehörigkeiten zu sogenannten polyedrischen Mengen fordert, vgl. A.58, d.h. wenn der Bewegungsraum durch mehrere, sich schneidende Ebenen begrenzt wird. Solche Zugehörigkeiten werden beim Prinzip 3.2 auf Geschwindigkeits- bzw. auf Beschleunigungsebene verlangt. Gemäß A.58 findet man TC2 (v) = u ∈ Rn | J⊺Ni u ≥ 0, ∀i ∈ AN2 , (3.34) ⊺ ˙ = u ∈ Rn | JNi u ≥ 0, ∀i ∈ AN1 . TC1 (v) (3.35)
Die Tangentialkegel sind zunehmend immer weiteren Einschränkungen unterworfen, dementsprechend gilt die Ordnung ˙ ⊃ TC2 (v) ⊃ TC3 (q). TC1 (v)
(3.36)
In dieser Arbeit werden im Weiteren nur noch die Formulierungen des Prinzips 3.2 auf Geschwindigkeits- bzw. auf Beschleunigungsebene behandelt. Generalisierte Reibkräfte Der Term δv⊺fT aus (3.29) bzw. (3.32) ist noch genauer zu bestimmen. Es fehlt bisher ein Gesetz für die generalisierten Reibkräfte. Ausgangspunkt sollen die Überlegungen zur trockenen Reibung nach Coulomb in Abschnitt 2.3 sein. Die Modellvorstellungen zur Reibung in dieser Arbeit gehen nicht über Entsprechendes zu dem hinaus, was in Abschnitt 2.3 für den Massenpunkt erklärt wird. Erfahrungsgemäß sieht man Reibung als Effekt in der gemeinsamen Tangentialebene zweier sich berührender Körper, sodass die in Beispiel 3.1 beschriebene Anordnung betrachtet wird. Die Reibkräfte wirken nur an der Oberfläche, die Integrale werden zu Oberflächenintegralen mit entsprechenden vektoriellen Kraftdichten df~T /dΓ. Der Einfachheit halber wird für einen materiellen Punkt P ∈ Γc1 ein lokales, orthonormiertes Koordinatensystem A(P ) : ~n(P ), ~t1(P ), ~t2 (P ) eingeführt, d.h. die Vektoren
36
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
~t1 und ~t2 spannen die Tangentialebene bei P auf. Ihre Wahl ist natürlich nicht eindeutig, jede um ~n(P ) gedrehte Anordnung der tangentialen Vektoren ist genauso zulässig. Die Relativgeschwindigkeit ∂~r ∂~r ∂~r ∂~r ~vrel (P, q, v, t) := v+ − v+ (3.37) ∂q ∂t P ∂q ∂t cp(P )
eines Punktes P bezeichnet die Differenz seiner Absolutgeschwindigkeit zur Absolutgeschwindigkeit seines nächstliegenden Punktes auf dem zweiten Körper, hier bereits nach einer räumlichen Diskretisierung. Es seien ⊺ vT (P, q, v, t) := ~t1 · ~vrel (P, q, v, t), ~t2 · ~vrel (P, q, v, t) , (3.38) ⊺ rT (P, q, t) := ~t1 · ~r(P, q, t), ~t2 · ~r(P, q, t) , (3.39) ⊺ dλT /dΓ := ~t1 · df~T /dΓ, ~t2 · df~T /dΓ (3.40) die Matrizen der Koordinaten der entsprechenden vektoriellen Funktionen in tangentialer Richtung. Das Coulombsche Gesetz (2.24) für den Massenpunkt muss entsprechend für materielle Punkte P ∈ Γc1 gemäß vT = 0 ⇒ kdλT /dΓk ≤ µ dFN /dΓ,
(3.41)
vT vT = 6 0 ⇒ dλT /dΓ = −µ dFN /dΓ kvT k definiert werden. Die Kraftdichtefunktion am Punkt P in tangentialer Richtung bezieht sich dabei auf Körper K1 . Wegen „Actio=Reactio“ ist am Punkt cp(P ) ∈ bnd K2 die entsprechend negative Dichtefunktion anzusetzen. Damit entsteht die Berechnungsvorschrift "Z !⊺ # ∂r ∂r T T δv⊺fT = δv⊺ dλT /dΓ dΓ , (3.42) − ∂q ∂q Γc1 P cp(P ) 3
die schließlich fT = [. . .]3 unter Beachtung von (3.41) als entsprechendes Integral erklärt. Die rechnerische Auswertung kann (3.41) nur in einer gemittelten Weise für alle Punkte P ∈ Γc1 berücksichtigen. Ein möglicher Ansatz ist die Zerlegung des potenzis S ellen Kontaktbereichs Γc1 = Γi in s disjunkte Teile Γi , sodass der Term i=1
s X i=1
JTi λTi ≈ fT
das Integral in (3.42) mit JTi λTi
1 := R dΓ Γi
Z
Γi
!⊺ ∂rT ∂rT − dΓλTi ∂q P ∂q cp(P )
(3.43)
37
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
R annähert. Der Ausdruck λTi / Γi dΓ kann als Mittelwert der Kraftdichte, also als mittlerer Randspannungsvektor (genauer: seine Koordinaten in tangentialer Richtung bezüglich des Koordinatensystems A) im Bereich Γi gedeutet werden. Mit (3.43) ist (3.44)
vTi := J⊺Ti v + aTi
als mittlere Tangentialgeschwindigkeit in Γi und aTi als entsprechender Mittelwert für den bezüglich A dargestellten tangentialen Anteil des Vektors ∂~r ∂~r − ∂t P ∂t cp(P )
aus (3.37) zu deuten. Das Gesetz (3.41) für die Reibkraft geht in diskreter Fassung in vTi = 0 ⇒ kλTi k ≤ µFNi
(3.45)
vTi vTi = 6 0 ⇒ λTi = −µ FNi kvTi k
über, wobei FNi eine gegebene Normalbelastung darstellt, die ebenfalls als Mittelwert für die Dichtefunktion dFN /dΓ in Γi aufzufassen ist. In Abschnitt 2.3 wurde gezeigt, dass das Reibgesetz gleichwertig als Variationsungleichung formuliert werden kann, vgl. (2.25). Wie sich zeigen wird, erlaubt eine solche Darstellung den Zugang zu einer Reihe weiterer gleichwertiger Darstellungen, die unmittelbar aus den Grundlagen der nicht-glatten Analysis hervorgehen. Für die bessere Lesbarkeit werden dazu die Abkürzungen Di := λ ∈ R2 | kλk ≤ µFNi , (3.46) σDi (·) := µFNi k · k (3.47) eingeführt. Es sind Di die Mengen der zulässigen Tangentialkräfte (in Koordinaten bezüglich A). Sie sind jeweils konvex, vgl. A.28. Die konvexe Funktion σDi , vgl. A.32, ist die sogenannte Supportfunktion zu Di , vgl. A.87. Wie schon bei den Betrachtungen zum Massenpunkt im Zusammenhang mit der Variationsungleichung (2.25) angemerkt, können die Terme µFNi implizit von den generalisierten Koordinaten bzw. Geschwindigkeiten und der Zeit abhängen. Definition 3.3 Eine Kraft gehorcht dem Coulombschen Reibgesetz für, wenn sie, dargestellt in Koordinaten bezüglich eines lokalen, tangentialen Koordinatesystems, eine der folgenden gleichwertigen Beziehungen erfüllt: i) ii) iii) iv) v) vi)
(3.45), σDi (u) ≥ σDi (vTi ) + (−λTi )⊺(u − vTi ) ∀u ∈ R2 , −λTi ∈ ∂σDi (vTi ) = ∂Ψ⋆Di (vTi ), λTi ∈ ∂σDi (−vTi ) = ∂Ψ⋆Di (−vTi ), −vTi ∈ ∂ΨDi (λTi ) = NDi (λTi ), λTi = arg min2 vT⊺i λT + ΨDi (λT ) λT ∈R vii) λTi = arg min2 vT⊺i λT mit Nebenbedingung kλT k ≤ µFNi . λT ∈R
38
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
Der Nachweis der Gleichwertigkeiten ist nicht sehr anschaulich und rein formal. Er verwendet jedoch viele typische Argumente, die auch an anderer Stelle für die Anwendung in der Mechanik nützlich sind: ii) ist die zum Reibgesetz i) gleichwertige Variationsungleichung, wie schon für (2.25) gezeigt. ii)⇔iii), denn ii) ist nach A.85 gerade die Bedingung zur Zugehörigkeit zum Subdifferenzial für konvexe Funktionen, die Identität der Supportfunktion mit der Legendre-Fenchel Konjugierten der Indikatorfunktion sichert A.87. ii)⇔iv), denn falls vTi 6= 0 ist die Supportfunktion stetig differenzierbar und nach A.74 der Subgradient identisch mit dem Gradienten, der die geforderte Eigenschaft hat. Für vTi = 0 vereinfacht sich die Beziehung in ii) zur Beziehung σDi (u) ≥ (−λTi )⊺u ∀u ∈ R2 , die somit auch für alle −u ∈ R2 gelten muss. Wegen σDi (u) = σDi (−u) ist damit auch in diesem Fall iv) gezeigt. Hier ist zu beachten, dass der Ausdruck ∂f (−y) den Subgradienten von f , ausgewertet an der Stelle −y, bezeichnet und nicht den Subgradienten der Funktion g(x) := f (−x) gemäß der Kettenregel A.81. iv)⇔v) ist genau die Inversionseigenschaft A.91 der Legendre-Fenchel Transformation. Die Identität des Subdifferenzials des Indikators einer Menge mit dem Normalkegel einer Menge liefert A.79. v)⇔vi)⇔vii), denn v) ist nach A.94 die notwendige und aufgrund der Konvexität auch hinreichende verallgemeinerte Optimierungsbedingung zu vi). Die Nebenbedingungen der Optimierung werden in vii) ausdrücklich angegeben. Die Darstellungen des Reibgesetzes in Definition 3.3 lassen sich anschaulich interpretieren. Beispiel 3.4 Es wird angenommen, dass ein linienförmiger Reibkontakt vorliegt, d.h. die Tangentialgeschwindigkeit hat in jeder Lage eine durch die Lage des Systems kinematisch eindeutig festgelegte Richtung. Abbildung 3.1a zeigt den Grafen der Supportfunktion. Sie ist überall differenzierbar, nur nicht bei null. Die Ableitung ist in Abbildung 3.1c dargestellt, bei null wird die Ableitungsfunktion mengenwertig und darf alle Werte im Intervall [−µFN , µFN ] annehmen. Diese Erweiterung der Idee der Ableitung leistet der Subgradient. Er ist Bestandteil eines formalen Konzepts der nichtglatten Analysis, das den Ableitungs- bzw. Gradientenbegriff für Funktionen erweitert, die nicht überall gewöhnlich differenzierbar sind, vgl. A.71 bzw. A.73. Ein wesentliches Merkmal dieses Konzepts ist die Erweiterung des Gradienten auf Mengen, weshalb im Allgemeinen Zugehörigkeiten (x ∈ M) formuliert werden und daher viele passende Konstruktionen für die Anwendung in der Mechanik vorliegen. Während Abbildung c) die für eine gegebene Geschwindigkeit vT erlaubten Kräfte λT darstellt – dies entspricht der Darstellung iii) bzw. iv) in Definition 3.3 –, zeigt Abbildung d) die Umkehrung (d.h. Spiegelung des Schaubilds an der Hauptdiagonalen). Dies entspricht der Darstellung v). Wenn Abbildung a), grob skizziert, die „Stammfunktion“ von Abbildung c) zeigt, welche Stammfunktion hat dann Abbildung d) ? Die Antwort gibt die Legendre-Fenchel-Transformation. Sie liefert, im Allgemeinen nur bei konvexen Funktionen und unter gewissen Stetigkeitsvoraussetzungen, die
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
39
Stammfunktion, hier in Abbildung b), der Umkehrung. Dazu ist der Funktionenbegriff auszudehnen. Hier wird beispielsweise die sogenannte Indikatorfunktion einer Menge, vgl. A.15, als Stammfunktion verwendet. Sie verschwindet für Elemente innerhalb der Menge, andernfalls ist sie +∞. Sie idealisiert die Vorstellung eines Potenzialtopfs mit „unendlich“ hohen Wänden. Dass solche zunächst aus der Anschauung heraus konstruierten Objekte Platz in einer abgeschlossenen Theorie finden, ist der hohe Nutzen der nicht-glatten Analysis. Die Darstellung iv) mit Hilfe des Normalkegels ist in Abbildung 3.2 skizziert. Grob umrissen ist der Normalkegel zu einer Menge an einem Punkt dieser Menge die Menge aller auswärtigen Normalenvektoren zu diesem Punkt. Erweiterungen für nichtdifferenzierbare Berandungen, also für Ecken, liefert die nicht-glatte Analysis, vgl. A.43 bzw. A.44. Hier im Beispiel wird die Menge aller zulässigen Reibkräfte betrachtet und als sogenannte Reibscheibe dargestellt: Ein Kreis in der Tangentialebene mit dem Radius µFN , entsprechend der maximalen Reib- bzw. Haftkraft. Die Menge hat also eine glatte Berandung, der Normalkegel ist am Rand, d.h kλT k = µFN > 0, der radiale Strahl αλT , α ≥ 0. Das ist aber genau eine Eigenschaft, die zur Formulierung des Reibgesetzes nützlich ist: Beim Gleiten soll die Tangentialgeschwindigkeit vT in die Gegenrichtung der Kraft λT zeigen, also −vT ∈ ND (λT ) gelten. Ist die Tangentialkraft dem Betrag nach kleiner als µFN , also wenn λT echt im Innern der Reibscheibe liegt, dann kann nur Haften der Fall sein und es muss −vT ∈ {0} gelten. Nach A.47 gilt für eine solche Kraft tatsächlich ND (λT ) = {0}. Anhand der Abbildung 3.2 lässt sich auch erkennen, dass die Reibkraft nach folgender Anweisung konstruiert werden kann: Bei gegebener Geschwindigkeit vT wähle man λT so, dass die Projektion in Geschwindigkeitsrichtung dem Betrag nach maximal aber nicht größer als µFN wird. Damit muss λT parallel zu vT liegen. Sie wird entgegen vT zeigen, wenn die Projektion möglichst klein, d.h. negativ, ausfällt, die Dissipation daher maximal wird. Dies ist aber genau die Minimierungsforderung von vii). Da die Indikatorfunktion außerhalb der Reibscheibe den Wert +∞ annimmt, findet die formal unbeschränkte Optimierungsaufgabe vi) dort kein Minimum und ist daher gleichwertig zu vii). Diese Darstellung wird auch als Prinzip der maximalen Dissipation bezeichnet. Das Reibgesetz lässt sich auch auf Beschleunigungsebene angeben. Dabei liegt die Modellvorstellung zu Grunde, dass nicht gleitende Kontakte mit vTi = 0 dennoch nicht haften, wenn die tangentiale Relativbeschleunigung nicht verschwindet. Der Kontakt befindet sich in tangentialer Richtung sozusagen gerade im Ansatz zur Bewegung: i) vTi = 0 : v˙ Ti = 0 ⇒ kλTi k ≤ µFNi , v˙ Ti 6= 0 ⇒ λTi = −µ FNi ii) vTi 6= 0 :
⇒ λTi = −µ FNi
v˙ Ti ; kv˙ Ti k
(3.48)
vTi . kvTi k
Für den Fall v˙ Ti = 0 gelten somit alle Darstellungen aus Definition 3.3 analog, wenn vTi durch v˙ Ti ersetzt wird.
40
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
Abbildung 3.1: Interpretation der Formulierungen des Coulombschen Reibgesetzes.
3.1.2
Formulierung des räumlich diskreten Problems als Zwangskraftbeziehung
Bisher wurden mit dem Prinzip 3.2 und der Definition 3.3 der Reibkraft lediglich axiomatisch die Beziehungen festgelegt, die das mechanische Problem beschreiben. Es könnten zu diesem Zweck beliebig realitätsferne Formulierungen aufgestellt werden. Dass die Darstellung als Variationsungleichung tatsächlich sinnvoll, zeigt besser eine gleichwertige Formulierung, die sich mit Hilfe von Zwangskräften deuten lässt. Ausgangspunkt ist die Formulierung des Prinzips 3.2 auf Geschwindigkeitsebene. Die folgenden Überlegungen lassen sich leicht in analoger Weise entsprechend auf Beschleunigungsebene übertragen, darauf wird nur noch bei Bedarf eingegangen. Die bisherigen Überlegungen zur Coulombschen Reibung für den flächenhaften Kontakt ergeben zusammengefasst: Prinzip 3.5 Allgemeines Prinzip von Fourier auf Geschwindigkeitsebene: Es lautet ˙ ≤ 0, ∀δv ∈ TC2 (v) δv⊺ (f + fT − Mv)
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
41
Abbildung 3.2: Interpretation des Coulombschen Reibgesetzes als Prinzip der maximalen Dissipation. mit
fT =
s X
JTi λTi ,
i
−λTi ∈ ∂σDi (vTi ), vTi = J⊺Ti v + aTi .
Die Formulierung auf Geschwindigkeitsebene setzt natürlich immer konsistente Anfangsbedingungen
q ∈ C3 für t = t0 , v ∈ C2 für t = t0 voraus, die künftig stillschweigend als erfüllt gelten sollen. Elementare Aussagen der nicht-glatten Analysis zeigen die Gleichwertigkeit des Prinzips 3.5 zu folgender Gleichgewichtsbeziehung:
Prinzip 3.6 Gleichgewichtsprinzip bei einseitigen Bindungen: Es lautet
Mv˙ = f + fN + fT
42
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen mit fN =
X
J Ni λ Ni ,
i∈AN3
−λNi ∈ ∂ΨR+ (vNi ), vNi = J⊺Ni v + aNi (3.49) und fT =
s X
JTi λTi ,
i=1
−λTi ∈ ∂σDi (vTi ), vTi = J⊺Ti v + aTi . (3.50) Der Nachweis der Gleichwertigkeit der Prinzipien beruht im Wesentlichen auf der Polarität, vgl. A.51, von Normal- und Tangentialkegel bei (tangential) regulären Mengen: Setzt man ein Residuum fN := −f − fT + Mv˙ an, so wird die Variationsungleichung in Prinzip 3.5 zu −δv⊺fN ≤ 0 ∀δv ∈ TC2 (v). Diese ˆC2 (v) = NC2 (v), wobei die Form ist nach A.52 gleichwertig zu −fN ∈ N ˆ mit dem Normalkegel schlechtIdentität des regulären Normalkegels N hin per Definition A.45 wegen der Konvexität und somit Regularität von C3 gilt, vgl. A.55. Die Menge C2 ist nach A.59 konvex, weil sie polyedrisch ist. Mittels der Indikatorfunktion lässt sich gemäß A.80 die Zugehörigkeit zum Normalkegel subdifferenziell mit −fN ∈ ∂Ψ TC2 (v) schreiben. Die Menge C2 kann auch durch den Schnitt C2 = i∈A3 C2i mit C2i := v ∈ Rn | J⊺Ni v + aNi ≥ 0 erklärt werden. Die Indikatorfunktion ist P P dann offenbar ΨC2 = i∈A3 ΨC2i = i∈A3 ΨR+ J⊺Ni v + aNi , denn sie ist dann und nur dann null, wenn alle Summanden verschwinden, d.h., wenn alle Bindungen auf Geschwindigkeitsebene erfüllt sind. Es wird natürlich stillschweigend vorausgesetzt, dass die Geschwindigkeitsbindungen C2i alle erfüllt werden können, d.h. C2i ∩ C2j 6= ∅ für jede Paarung i, j. Mit anderen Worten: Damit sind alle Voraussetzungen fürP die Summenregel A.83 erfüllt P und demgemäß gilt ∂ΨC2 = i∈A3 ∂ΨC2i = i∈A3 JNi ∂ΨR+ J⊺Ni v + aNi . Die vorige Identität gilt gemäß A.81ii. Die dort geforderten Voraussetzungen V1 und V2 sind erfüllt: V1, weil die Menge R+ konvex und damit ihre Indikatorfunktion konvex ist, vgl. A.77; V2, weil die bezüglich der Kettenregel innere Funktion identisch mit ihrer Linearisierung ist. Damit ist die Äquivalenz gezeigt. Die entscheidende Voraussetzung für den Nachweis, nämlich diejenige der tangentialen Regularität der Menge der Bindungen C2 , ist bereits wegen der gegebenen polyedrischen Darstellung von C2 erfüllt. Diese wiederum beruht letztlich auf der Annahme, dass die ursprüngliche Bindung auf Lageebene C3 in (3.10) mittels einer Reihe von Begrenzungsfunktionen gi (q, t) ≥ 0 möglich ist. Dadurch ist bereits die Regularität von
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
43
C3 gewährleistet, zumindest dann, wenn man gemäß A.57 „vernünftige“ Begrenzungsfunktionen unterstellt. Die tangentiale Regularität war die Eigenschaft, die bereits für die Probleme des Massenpunkts in Kapitel 2 erforderlich war, um die Variationsungleichung (2.1) in die Gleichgewichtsdarstellung (2.12–2.15) zu überführen. Es erscheint nun auch plausibel, dass nicht-reguläre Mengen wie in Beispiel 2.2 nicht durch differenzierbare Begrenzungsfunktionen beschrieben werden können. Auch für die Formulierung der Bindungszwangskräfte fN gibt es eine Reihe gleichwertiger Darstellungen, die sich im Nachweis der Äquivalenz bereits andeuteten: Bemerkung 3.7 Die folgenden Darstellungen sind gleichwertig zur Formulierung (3.49) der Zwangskraft im Gleichgewichtsprinzip 3.6: P i) −fN ∈ NC2 (v) = i∈AN NR+ (vNi ), 3 P ii) fN = J λ , wobei N N i i i∈AN3 0 ≤ λNi , 0 ≤ vNi , λNi vNi = 0, vNi = J⊺Ni v + aNi ; i ∈ AN3 . Damit wird erkennbar, dass zusammen mit den Darstellungen der generalisierten Reibkräfte aus Definition 3.3 eine kaum überschaubare Menge an Kombinationsmöglichkeiten der unterschiedlichen Formulierungen der generaliserten Kontaktkräfte fN und fT in generalisierter Normal- bzw. Tangentialrichtung vorliegt. Letzlich sind alle Darstellungen gleichwertig. Es wird sich bei der numerischen Behandlung des Problems zeigen, dass sich bestimmte Kombinationen nützlich hervortun, s. Kapitel 4.
3.1.3
Vollständige, reibkraftfreie Variationsungleichung
Traditionellerweise zeichnen sich Variationsformulierungen in der glatten Mechanik durch die Eigenschaft aus, dass sie die Bindungskräfte eliminieren. Übertragen auf die in dieser Arbeit diskutierten Probleme bedeutet dies, dass eine Variationsungleichung zu suchen ist, die alle generalisierten Kontaktkäfte, also auch die generalisierten Reibkräfte fT , eliminiert. Es ist zu bemerken, dass die Elimination der Reibkräfte unabhängig davon erfolgt, ob Gleiten vorliegt und die Reibung eine eingeprägte Kraft liefert oder ob Haften vorliegt, die Haftkraft somit zur Zwangskraft wird. Die mathematische Struktur der nicht-glatten Analysis erlaubt in dieser Hinsicht eine vereinheitlichte Form. Dass dies möglich ist, ist nicht völlig überraschend. Bereits in [22] wurde ein analoges Vorgehen anhand linear-elastischer Körper mit gegebenen Reibkräften bei komplizierteren, kontinuumsmechanischen Problemen angewandt. Für den in der vorliegenden Arbeit behandelten einfacheren Sonderfall eines Systems mit endlichem Freiheitsgrad steht daher nicht so sehr das Ziel im Vordergrund, sondern vielmehr der Weg dorthin, insofern, als geklärt werden muss, wie das erahnte Ergebnis mittels der zur Verfügung stehenden mathematischen Strukturen erreicht wird. In der vorliegenden Arbeit wird dazu das Subdifferenzial bzw. die Subableitung schlechthin gemäß [90] verwendet und kommt damit zu analogen Ergebnissen wie in [39]. Dort beruht die Argumentation auf dem sogenannten verallgemeinerten Subgradienten [89], der in die in [90] behandelte Theorie eingebettet ist.
44
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen Zunächst werden die verallgemeinerten Kontaktkräfte subdifferenziell angegeben: s X −fT ∈ JTi ∂σDi J⊺Ti v + aTi = ∂FT (v), wobei (3.51) i=1
FT (v) :=
s X i=1
σDi J⊺Ti v + aTi .
(3.52)
Dies gilt aufgrund der Kettenregel A.81 für Subdifferenziale bei konvexen Funktionen. Die Supportfunktion, im Wesentlichen eine Betragsfunktion, ist konvex, woraus ferner ihre Regularität folgt und damit die Anwendung der Summenregel A.83 ermöglicht wird. Analoges gilt für die Zwangskraft: −fN ∈ ∂ΨC2 (v).
(3.53)
−fN T := −fN − fT ∈ ∂FN T (v), wobei FN T (v) := ΨC2 (v) + FT (v)
(3.54) (3.55)
Dies folgt unmittelbar aus der Normalkegelbedingung in Bemerkung 3.7i und der gemäß A.80 gleichwertigen Darstellung über das Subdifferenzial des Indikators. Schließlich kann die gesamte Kontaktkraft über erneute Anwendung der Summenregel subdifferenziell gemäß
dargestellt werden. Die Summenregel A.83 kann angewandt werden, weil die Summanden, insbesondere die Indikatorfunktion der konvexen Menge C2 , vgl. A.77, konvexe und somit reguläre Funktionen sind. Aus dem Gleichgewichtsprinzip 3.6 folgt damit f − Mv˙ = −fN T ∈ ∂FN T (v).
(3.56)
˙ ≤ d FN T (v)(δv) ∀δv ∈ Rn δv⊺ (f − Mv)
(3.57)
˙ ≤ d FT (v)(δv) ∀δv ∈ TC2 (v), δv⊺ (f − Mv)
(3.58)
Dies kann gemäß der elementaren Beziehung A.75 der nicht-glatten Analysis gleichwertig durch ausgedrückt werden. Dabei durfte nach A.78 der Subgradient schlechthin (∂) statt des ˆ verwendet werden, weil FN T als Summe konvexer Funktionen ebenfalls regulären (∂) eine konvexe und somit reguläre Funktion ist, vgl. A.76 bzw. A.85. Der Ausdruck d f (x)(y) bezeichnet die sogenannte untere Subableitung der Funktion f an der Stelle x in Richtung y, vgl. A.68. Die Subableitung erweitert den Begriff der Richtungsableitung auf nicht-glatte Funktionen. Bei differenzierbaren Funktionen ist die Subableitung d f (x)(y) im Wesentlichen identisch mit der Richtungsableitung (∇f (x)) y. Die Variationsungleichung (3.57) ist zunächst ohne Einschränkung an die Variationen δv zu erfüllen. Mit A.70 gilt aber auch sodass die Variationen wie gewohnt aus dem Tangentialkegel entnommen sind. An dieser Stelle bleibt noch zu bemerken, dass diese Formulierungen nur dann nützlich sind, wenn die Normalkraft FNi in der Supportfunktion (3.47) vorgegeben ist. Andernfalls gilt auch hier, dass die formale Herleitung zwar immer noch gilt, implizit taucht dann aber in (3.58) die unbekannte Normalkraft auf, womit dann die Darstellung als Variationsungleichung nicht mehr die vollständige Elimination der Unbekannten ermöglicht.
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
3.1.4
45
Rekonstruktion der Normalkräfte
Falls die Normalkraft FNi in der Supportfunktion (3.47) zur Berechnung der generalisierten Reibkraft nicht explizit vorgegeben ist, so ist sie erfahrungsgemäß in einer bestimmten Weise von der generalisierten Normalkraft fN und letztlich von den λNi abhängig. Die Art der Abhängigkeit zeigt sich im Vergleich der virtuellen Arbeiten mit (3.11): ⊺ Z X X ∂g(P, t, ~r(P, q, t)) ⊺ ⊺ δv dΓ. (3.59) J Ni λ Ni = hi (P )λNi δv ∂q Γ c i∈A i∈A N3
N3
Die Gewichtsfunktionen hi dürfen somit als Ansatzfunktion für eine unbekannte Randkraft am Kontaktrand Γc aufgefasst werden. Ein solcher Ansatz liefert zumindest das gleiche Ergebnis für die virtuelle Arbeit. Damit kann auf Γc X FNi (P ) = hi (P )λNi (3.60) i∈AN3
angenommen werden. Die räumlich diskretisierte Normalbelastung erweist sich daher als linear in den λNi . Dies hat letztlich zur Folge, dass in diesem Fall die Menge ∂FN T (v) = NC2 (v) + ∂FT (v) in (3.56) zum Kegel wird, da jede positive Streckung αf ∈ ∂FN T (v), α > 0, erfüllt, falls f ∈ ∂FN T (v) gilt. Dies wird deutlich, wenn alle zur Einschließung f ∈ ∂FN T (v) erforderlichen λNi ebenfalls mit α > 0 skaliert werden. Wird z.B. angenommen, dass die Gebiete Γi ⊂ Γc , an denen die Gewichtsfunktionen hi nicht verschwinden, disjunkt sind und eine Partitionierung von Γc bilden. Entsprechend normiert nach (3.12) kann dann FNi = λNi als Durchschnittswert der Normalbelastung im entsprechenden Gebiet angenommen werden.
3.1.5
Polyedrische Näherung des Reibgesetzes
Die Darstellungen des Reibgesetzes als Optimierungsproblem in Definition 3.3 vi) und vii) lassen eine anschauliche Näherungsdarstellung zu, die bei der numerischen Auswertung und bei manchen theoretischen Fragestellungen nützlich sein kann. Hierbei wird die Reibscheibe, also das Gebiet des Optimierungsproblems, durch ein Polygon angenähert, vgl. beispielsweise [56]. Das Polygon wird wie folgt konstruiert, vgl. Abbildung 3.3. In der lokalen Tangentialebene, aufgespannt durch die Vektoren ~t1 (P ), ~t2 (P ), wird der Einheits-Reibscheibe ein regelmäßiges Polygon einbeschrieben. Dabei spannen die Einheitsvektoren ~e1 , . . . , ~er das Polygon so auf, dass zu jedem Vektor ~ek ein Vektor ~eℓ = −~ek existiert. Bezüglich des lokalen Koordinatensystems A(P ) : ~n(P ), ~t1 (P ), ~t2(P ) bezeichnen die Spaltenmatrizen ek = (~t1 · ~ek , ~t2 · ~ek )⊺ die Koordinaten von ~ek bezüglich der Tangentialrichtungen. Die Reibkraft setzt sich somit, nicht notwendigerweise eindeutig, gemäß λT =
r X
βk ek
(3.61)
k=1
zusammen, wobei auf das Mitführen des Index i bei λTi verzichtet wurde. Die Überlegung überträgt sich entsprechend auf alle Reibkontakte. Die überzähligen Koordinaten
46
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
Abbildung 3.3: Polyedrische Näherung der Reibscheibe. βk der Reibkraft müssen noch die Nebenbedingungen
µFN −
r X k=1
βk ≥ 0,
(3.62)
βk ≥ 0
(3.63)
erfüllen, damit die angenäherte Reibkraft innerhalb des Polygons liegt. Das der Definition 3.3 vii) entsprechende Optimierungsproblem mit polyedrischer Näherung lautet (β1 , . . . , βr ) = arg min (v JT + ⊺
η1 ,...,ηr
mit den Nebenbedingungen ηk ≥ 0, µFN −
r X k=1
a⊺T )
r X
ηk ek
(3.64)
k=1
ηk ≥ 0.
(3.65)
Mit den Abkürzungen
B := [e1 . . . er ], R ∋ 1 := (11 . . . 1)⊺, β := (β1 . . . βr )⊺ r
(3.66) (3.67) (3.68)
geht die Optimierungsaufgabe in das lineare und konvexe Problem β = arg minr (v⊺JT + a⊺T ) Bη,
(3.69)
0 ≤ η, 0 ≤ µFN − 1⊺η
(3.70) (3.71)
η∈R
über. Aufgrund der Konvexität ist das Optimierungsproblem gleichwertig zu den lokalen Optimierungskriterien, den Karush-Kuhn-Tucker Bedingungen 0 ≤ B⊺i J⊺Ti v + 1i zi + B⊺i aTi ⊥ βi ≥ 0, 0 ≤ µiFNi − 1⊺i βi ⊥ zi ≥ 0,
(3.72) (3.73)
47
3.1. Differenzierbare Geschwindigkeitsverläufe in Teilzuständen des Systems
vgl. A.94. Die Bedingungen können auch sofort aus z.B. [15, 33] als lokale Optimierungsbedingungen zum hier vorliegenden linearen Problem entnommen werden. Hierbei wurden die Indizes für die räumlich diskretisierten Reibkontakte i = 1, 2, . . . , s wieder mitgeführt. In Abschnitt 3.1.4 wurde gezeigt, dass sich die mittlere Normalbelastung FNi linear aus den λNi rekonstruieren lässt, falls die FNi nicht vorgegeben sind. In diesem Fall kann eine Darstellung 0 ≤ µ⊺i λN − 1⊺i βi ⊥ zi ≥ 0 gefunden werden, die Beziehung (3.73) entsprechend ersetzt. Dabei gilt X fN = JNi λNi =: JN λN ,
(3.74)
(3.75)
i∈AN3
λN := (λNi ; i ∈ AN3 )⊺
gemäß Bemerkung 3.7. Bildet man die Matrizen JT1 B1 . . . JTs Bs , JP := λP := (β1⊺ . . . βs )⊺, ⊺ B1 aT1 .. aP := , . ⊺ Bs aTs aNi .. aN := , . mit i ∈ AN3 11 12 E := , . . . 1s ⊺ µ1 .. µ := . , µ⊺s z := (z1 . . . zs )⊺
(3.76)
(3.77) (3.78) (3.79)
(3.80)
(3.81)
(3.82) (3.83)
und vergleicht die generalisierte Reibkraft fT in Prinzip 3.6, so erkennt man, dass in polyedrischer Darstellung fT =
s X
JTi Biβi = JP λP
(3.84)
i=1
gilt. Prinzip 3.6 lässt sich damit in polyedrischer Näherung der Reibscheibe gemäß Mv˙ = f + JN λN + JP λP , 0 ≤ J⊺N v + aN ⊥ λN ≥ 0, 0 ≤ J⊺P v + Ez + aP ⊥ λP ≥ 0; 0 ≤ µλN − E⊺λP ⊥ z ≥ 0
(3.85) (3.86) (3.87)
48
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
darstellen. Zur Beurteilung des Näherungsfehlers wird nochmals Abbildung 3.3 herangezogen. Das exakte Reibgesetz nach Definition 3.3 vii in Form eines Optimierungsproblems definiert λT als denjenigen Vektor, dessen Projektion auf die gegebene Tangentialgeschwindigkeit vT möglichst klein ist und innerhalb der Reibscheibe liegt. Bei polyedrischer Näherung zeigt also λT immer in eine Ecke des Polygons und somit im Allgemeinen nicht direkt entgegen vT . Jedoch kann die Abweichung von der exakten Stellung beliebig klein gemacht werden, indem die Anzahl der Ecken des Polygons entsprechend groß gemacht wird. Dies führt aber offensichtlich zu einer großen Anzahl von Schlupfvariablen in z.
3.2
Erweiterung auf unstetige Geschwindigkeitsverläufe
Die Modellvorstellung zur Bewegung eines Systems mit konzentrierten Parametern, d.h. nach erfolgter räumlicher Diskretisierung, beinhaltet Sprünge in den generalisierten Geschwindigkeiten v. Für mechanische Systeme wird üblicherweise angenommen [70, 96], dass v von beschränkter Variation ist, vgl. C.3. Dies bedeutet, grob skizziert, dass die Geschwindigkeiten fast überall stetig differenzierbar verlaufen, mit Ausnahme an abzählbar unendlich vielen Stellen, an denen – neben den schon in Abschnitt 3.1 zugelassenen Sprüngen in den generalisierten Beschleunigungen – ein endlicher Sprung auftreten kann. Die Geschwindigkeit besitzt nach C.5 ein Differenzialmaß dv, das wiederum nach C.9 eine Dichtefunktion dv/dτ zu einem positiven Maß dτ hat. An stetigen Stellen kann die Dichtefunktion dv/dt bezüglich eines Jordan-Maßes ˙ die ja aufgrund der dt formuliert werden und ist identisch mit der Beschleunigung v, Stetigkeit existiert. Beziehung (3.56) kann somit bei Stetigkeit der Geschwindigkeiten auch durch fdt/dt − Mdv/dt ∈ ∂FN T (v)
(3.88)
dargestellt werden, wobei die Dichtefunktion dt/dt in trivialer Weise identisch 1 ist. Da die rechte Seite der Einschließung nach den Überlegungen in Abschnitt 3.1.4 ein Kegel ist, kann gemäß C.10 die vorige Beziehung für beliebige positive Maße dτ angegeben werden, ohne die Aussage zu verändern: fdt/dτ − Mdv/dτ ∈ ∂FN T (v).
(3.89)
Da es offenbar auf das Maß nicht ankommt, schreibt man abkürzend für (3.89) auch fdt − Mdv ∈ ∂FN T (v)
(3.90)
und nennt diese Struktur Maßdifferenzialeinschließung. Das Verhalten des Systems an Unstetigkeitsstellen geht nicht aus den bisherigen Formulierungen hervor. Es bedarf weiterer Gesetze, die in diesem Zusammenhang Stoßgesetze genannt werden. Es zeigt sich, dass die Formulierung größtenteils übernommen werden kann, wenn man analog zur Bindungsmenge C2 eine weitestgehend gleichwertige Menge über Cε,u := v ∈ Rn | J⊺Ni v + εi J⊺Ni u + (1 + εi )aNi ≥ 0 ∀i ∈ AN3 (3.91)
49
3.2. Erweiterung auf unstetige Geschwindigkeitsverläufe
definiert, wobei ε = (ε1 , . . . , εm )⊺ und u ∈ Rn mit 0 ≤ εi ≤ 1 gegebene Parameter sind. Sie werden später als Stoßzahlen eines verallgemeinerten Stoßgesetzes nach Newton gedeutet. Aus Bemerkung 3.7 (S. 43) geht hervor, dass für den stetigen Teil der Bewegung mit v = + v = − v die Identität −fN ∈ NC2 (v) = NCε, − v ( + v) = ∂ΨCε, − v ( + v)
(3.92)
gilt. Dies erkennt man anhand Bemerkung 3.7ii. Für v = + v = − v wird die Aussage der zweiten Ungleichung in 3.7ii nicht verändert, wenn man sie mit 1 + εi > 0 multipliziert. Ersetzt man also die rechte Seite in (3.90) gemäß fdt − Mdv ∈ NCε, − v ( + v) + ∂FT ( + v),
(3.93)
so hat man offensichtlich für den stetigen Teil der Bewegung gegenüber (3.90) nichts verändert. Für Unstetigkeitsstellen hingegen hat man ein neues Bewegungsgesetz konstituiert, das hinsichtlich seiner Konsequenzen noch genauer zu deuten ist.
3.2.1
Verhalten bei Unstetigkeitsstellen
Angenommen, die Geschwindigkeit habe zum Zeitpunkt t0 eine Unstetigkeit, dann bemaßt das Differenzialmaß dv die Menge {t0 } mit dv({t0 }) = dv/dτ (t0)dτ ({t0 }) = + v − − v, das Jordan-Maß dt liefert dt({t0 }) = dt/dτ (t0 )dτ ({t0 }) = 0, vgl. C.5 bzw. C.2. Multipliziert man (3.89) an der Stelle t0 mit dτ ({t0 }) > 0, ein solches Maß muss gemäß C.9 existieren, dann ändert sich die Aussage wegen der Kegeleigenschaft der rechten Seite nicht, vgl. C.10 und man erhält mit (3.93) die Einschließung −M( + v − − v) ∈ NCε, − v ( + v) + ∂FT ( + v).
(3.94)
Die Deutung wird einfacher anhand der gleichwertigen Darstellung M( + v − − v) =
λTi +
X
J Ni λ Ni +
X
JTi λTi mit
(3.95)
i
i∈AN3
λNi ≥ 0, vi := + εiJ⊺Ni − v + (1 + εi )aNi ≥ 0, λNi vi = 0; i ∈ AN3 , = arg min2 + vT⊺i λT mit Nebenbedingung kλT k ≤ µλNi ,
vTi =
λT ∈R ⊺ + JTi v +
J⊺Ni + v
aTi ,
die aus den Darstellungen in Bemerkung 3.7ii bzw. Definition 3.3vii hervorgeht. Die gesuchte Geschwindigkeit + v unmittelbar nach der Unstetigkeitsstelle muss all diese Bedingungen erfüllen. Die λNi und λTi sind als gebietsweise gemittelte Impulse in Normal- bzw. Tangentialrichtung zu deuten, die während der Unstetigkeit übertragen werden. Wenn in Normalenrichtung ein echt positiver Impuls übertragen wird, dann ist dies nur möglich, wenn im Mittel die am Kontakt übertragene Kraft positiv war. In die sem Fall wird die zweite Ungleichung zur Gleichung J⊺Ni + v + aNi = −εi J⊺Ni − v + aNi .
50
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
Sie kann wie folgt gedeutet werden: Wenn ein Kontakt im Mittel in Normalenrichtung belastet wird, dann ist die gemittelte Entfernungsgeschwindigkeit unmittelbar nach der Unstetigkeit das εi -fache der Aufprallgeschwindigkeit. In tangentialer Richtung wird das µ-fache des Impulses in Normalenrichtung übertragen, wenn der Kontakt im räumlichen Mittel nach dem Stoß gleitet. Der Impuls ist entgegengesetzt parallel zur gebietsweise gemittelten Gleitgeschwindigkeit nach dem Stoß. Haftet der Kontakt, dann wird nur die Stärke des Impulses gemäß der Nebenbedingung des Optimierungsproblems eingeschränkt. Die Ausdrücke aTi bzw. aNi , die nur bei expliziter Zeitabhängigkeit der Begrenzungsfunktionen auftauchen, vgl. (3.16), werden als stetig vorausgesetzt, sodass immer + aTi = − aTi usw. angenommen werden darf.
3.2.2
Stoß mit polyedrischer Näherung der Reibscheibe und Darstellung als lineares Komplementaritätsproblem
Wie sich zeigen wird, lässt die polyedrische Näherung der Reibscheibe gemäß den Überlegungen in Abschnitt 3.1.5 eine Diskussion des Verhaltens bei Unstetigkeitsstellen mit Hilfe eines Komplementaritätsproblems zu, vgl. Anhang B. Das Stoßgesetz (3.95) geht über in M + v = M − v + JN λN + JP λP , 0 ≤ J⊺N + v + Diag(ε)J⊺N − v + (I + Diag(ε)) aN ⊥ λN ≥ 0, 0 ≤ J⊺P + v + Ez + aP ⊥ λP ≥ 0; 0 ≤ µλN − E⊺λP ⊥ z ≥ 0. Elementare Umformungen liefern die Darstellung + v −M − v M −JN −JP 0 ⊺ − ⊺ J 0 0 0 λN + Diag(ε)JN v + (I + Diag(ε)) aN N ⊺ JP 0 0 E λP aP ⊺ 0 µ −E 0 z 0
λN s1 0 ≤ λP ⊥ s2 ≥ 0 . z s3
(3.96)
0 s1 = s2 , s3 (3.97)
Damit liegt das Verhalten an der Unstetigkeitsstelle als gemischtes Lineares Komplementaritätsproblem MLCP vor. In der bekannten Literatur liegen lediglich Beweise vor, dass MLCP von dieser Form sicher dann eine Lösung besitzen, wenn M symmetrisch und positiv definit ist, was bei der Massenmatrix erfüllt ist, weiterhin wenn mit λN ≥ 0 auch µλN ≥ 0 sichergestellt ist, was nach den Überlegungen zu (3.74) zutrifft, und schließlich wenn die Parameter ε sowie aP und aN verschwinden [2]. Diese Bedingungen sind erfüllt, wenn die Begrenzungsfunktionen nicht explizit zeitabhängig sind und plastische Stöße modelliert werden. Allerdings zeigen numerische Untersuchungen von mechanischen Systemen, dass das MLCP praktisch immer eine Lösung hat, auch wenn dies nicht streng nachgewiesen werden kann.
3.2. Erweiterung auf unstetige Geschwindigkeitsverläufe
3.2.3
51
Reibungsfreier Stoß und Zusammenhang mit Newtonschem Stoßgesetz
Unter Vernachlässigung aller tangentialer Wirkungen aufgrund der Reibung geht (3.95) in das Stoßgesetz M + v = M − v + JN λN , 0 ≤ J⊺N + v + Diag(ε)J⊺N − v ⊥ λN ≥ 0
(3.98)
über. Es werden also die Matrizen gemäß (3.75) entsprechend definiert. Dabei bedeutet es keine Einschränkung, wenn die Massenmatrix M als Einheitsmatrix angenommen wird. Nach einer Choleski-Zerlegung [54] der positiv definiten Massenmatrix M = QQ⊺ in das entsprechende Quadrat einer positiv definiten, also regulären Matrix Q und Koordinatentransformation gemäß M + z = Q Q⊺ + z | {z } := + v
kann nämlich immer eine solche Darstellung angegeben werden. Ferner wird nur der Fall aNi = 0, d.h. es gibt keine explizit zeitabhängigen Begrenzungen, behandelt Würde man das Newtonsche Stoßgesetz ohne Weiteres auf Mehrfachkontakte übertragen, wie z.B. in [79, 58, 75], so müsste lediglich v = − v + JN λN , J⊺N + v = − Diag(ε)J⊺N − v +
(3.99) (3.100)
verlangt werden. Dass diese Forderungen nicht immer sinnvoll erfüllt werden können oder sogar überhaupt keine Lösung haben, wurde schon in den Beispielen 1.1 b) und c) gezeigt. Es kann höchstens eine optimale Lösung für die Forderungen v = − v + JN λN + r 1 , J⊺N + v = − Diag(ε)J⊺N − v + r2 +
(3.101) (3.102)
im Sinne eines in geeigneter Weise minimalen Residuums r = (r⊺1 r⊺2 )⊺ erwartet werden, wobei sinnvollerweise nur nicht-negative Impulse λN ≥ 0 zulässig sind. Dass die Vorgehensweise in den oben zitierten Literaturstellen dennoch erfolgreich angewandt werden konnte, lässt sich wohl dadurch erklären, dass es sich bei den untersuchten Problemen immer um räumlich sehr fein diskretisierte Strukturen handelte. Die mathematische Unlösbarkeit des Stoßproblems, die an sich nicht physikalisch motiviert ist, wurde so vermieden. Theoretisch ausschließen lässt sie sich nicht und wird mit immer gröberer räumlicher Diskretisierung zunehmend wahrscheinlicher. Gesucht ist also + 1 v x := := arg min (Ay − b)2 (3.103) λN y 2 | {z } =r2
unter der polyedrischen Nebenbedingung B⊺y := λN ≥ 0.
(3.104)
52
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
Dabei ist die Quadrierung einer Spaltenmatrix v gemäß v2 := v⊺v zu verstehen, und es gelten die Abkürzungen I −JN , (3.105) A := −J⊺N 0 0 I , B⊺ := (3.106) − v b := . (3.107) Diag(ε)J⊺N − v Dadurch wird (3.103) zu einem quadratischen, konvexen und beschränkten Optimierungsproblem. Die gleichwertigen lokalen Optimierungsbedingungen (Karush-KuhnTucker Bedingungen), vgl. A.94, lauten Ax − b − Bz = 0, 0 ≤ z ⊥ B⊺x ≥ 0.
(3.108) (3.109)
Auswerten der Matrizenoperationen und elementare Umformungen liefern daraus sofort das eingangs aufgestellte Stoßgesetz (3.98). Eine Deutung des Stoßgesetzes in Normalenrichtung in (3.95) ist somit ebenfalls klar: Die Beziehungen können als die dem idealen Newtonschen Stoßgesetz am nächsten liegenden Lösungen aufgefasst werden. Bei Bewegungen gemäß (3.94), allerdings unter Abwesenheit von Reibung, d.h. FT ≡ 0, kann daher der Übergang an Unstetigkeitsstellen auf ein Optimierungsproblem zurückgeführt werden. Das wird nochmals deutlich, wenn in (3.94) der Normalkegel subdifferenziell über die Indikatorfunktion dargestellt wird, sodass −M( + v − − v) ∈ ∂ΨCε, − v ( + v)
(3.110)
gilt. Diese Beziehung ist aber genau die lokale Optimierungsbedingung A.94 für das Problem 1 + − ⊺ − v = arg minn ΨCε, − v (v) + (v − v) M(v − v) . (3.111) v∈R 2 Damit zeichnet sich die Geschwindigkeit + v unmittelbar nach der Unstetigkeitsstelle p ⊺ als diejenige aus, die bezüglich der Norm k · kM := (·) M(·) am nächsten bei − v und gleichzeitig in Cε, − v liegt.
3.2.4
Verallgemeinerung eines Gesetzes von Frémond zum reibungsfreien Stoß
In den folgenden Abschnitten wird auf die Behandlung von explizit zeitabhängigen Begrenzungen ebenfalls verzichtet, es gilt also aNi = 0. Die analogen Ausführungen ohne diesen Verzicht sind möglich, erfordern aber eine etwas aufwändigere Formulierung und liefern keine zusätzliche Erkenntnis. Eine weitere Möglichkeit, reibungsfreie Bewegung auch bei Unstetigkeiten zu beschreiben, ist durch die Einschließung X fdt + JNi λDi dτ − Mdv ∈ NC2 ( + v) (3.112) i∈AN3
53
3.2. Erweiterung auf unstetige Geschwindigkeitsverläufe mit λDi := −mi J⊺Ni ( + v + − v)
(3.113)
gegeben, wobei dτ := sign kdvk gilt. Diese Einschließung kann mit (3.75) und den gegebenen Parametern m := Diag(mi ≥ 0, i ∈ AN3 ) abkürzend auch durch JN mJ⊺N ( + v + − v)dτ + Mdv = fdt + JN λN , 0 ≤ J⊺N + v ⊥ λN ≥ 0
(3.114)
(M + JN mJ⊺N ) + v = (M − JN mJ⊺N ) − v + JN λN , mit | {z } | {z }
(3.115)
formuliert werden. Für den stetigen Teil der Bewegung gilt + v = − v und weil die Bindungen auch auf Geschwindigkeitsebene gelten müssen, vgl. Bemerkung 2.3, gilt darüber hinaus auch J⊺N − v = 0, sodass im stetigen Teil der Bewegung die Einschließung (3.112) wieder mit der ursprünglichen Einschließung (3.90) identisch ist, mit Ausnahme natürlich der dort noch berücksichtigten Reibung. Analog zu den Überlegungen in Abschnitt 3.2.1 geht die Einschließung an einer Unstetigkeitsstelle t = t0 in c =:M
=:M
0≤
J⊺N + v
⊥ λN ≥ 0
über. Dies stellt ein MLCP dar, das nach Elimination von c −1 M − v + J⊺ M c −1 JN λN ⊥ λN ≥ 0 0 ≤ J⊺ M N
N
+
v als LCP (3.116)
c ist invertierbar, weil die Massenmatrix M und formuliert werden kann. Die Matrix M der Summand JN mJN positiv definit sind. Das MLCP und das LCP haben eine Lösung, da (3.115) auch subdifferenziell gemäß 1 + ⊺c + + + ⊺ − 0 ∈ ∂ Ψc2 ( v) − v M v + v M v (3.117) 2 geschrieben werden kann. Das sind nach A.94 wieder lokale Optimierungsbedingungen, c + v − + v ⊺M − v somit zeichnet sich + v als Minimierer der konvexen Funktion 12 + v⊺M ⊺ + unter der Nebenbedingung JN v ≥ 0 aus. Aufgrund der Konvexität hat das Optimierungsproblem eine Lösung. Beispiel 3.8 Für einen Einfachstoß reduziert sich das betrachtete Stoßgesetz zu einem Stoßgesetz nach Frémond [35]: Ein Massenpunkt der Masse m stößt gegen eine starre Wand mit der Geschwindigkeit − v < 0. Das Stoßgesetz verlangt (m + m1 ) + v = (m − m1 ) − v + λN mit 0 ≤ + v, 0 ≤ λN , + vλN = 0, bzw. nach Umformung 1 1 − 0 ≤ + v = m−m v + m+m λN ⊥ λN ≥ 0. m+m1 1 m−m1 − Für große Massen m > m1 ist m+m v < 0, daher ist ein Impuls λN > 0 erforder1 + lich, um 0 ≤ v zu erfüllen. Aufgrund der Komplementarität muss aber streng + v = 0 gelten, d.h. bei großen Massen ist der Stoß plastisch. m−m1 − Für kleine Massen m < m1 kann sofort + v = m+m v > 0 gefolgert werden. Das 1 Eindringen wird allein durch den lokalen Impuls (3.113) verhindert, der als mittlere Wirkung einer stets der Geschwindigkeit während der Berührungsphase entgegenwirkenden Kraft gedeutet werden kann. Es ist kein zusätzlicher Impuls λN erforderlich.
54
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen
3.2.5
Zur Dissipativität der Stoßgesetze
Das durch die Maßdifferenzialeinschließung (3.93) bzw. (3.112) definierte Verhalten bei Unstetigkeitsstellen folgt nicht unmittelbar aus einem Naturgesetz. Es stellt lediglich eine Idealisierung dar, von der man annimmt, dass die zur Verfügung stehenden Parameter eine Anpassung an reales Verhalten erlauben. Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Realitätsnähe der Modellbildung ist die Dissipativität. An Unstetigkeitsstellen darf das autonome System sinnvollerweise keine Energie gewinnen. Betrachtet wird die Änderung an kinetischer Energie, die es als nicht positiv abzuschätzen gilt. Als Maß für die Energie dient T = 12 v⊺Mv. Von explizit zeitabhängigen Begrenzungen wird abgesehen, da diese dem System in physikalisch realistischer Weise Energie zuführen könnten, wie z.B. ein Anschlag mit eingeprägter Bewegung, der auf einen ruhenden Massenpunkt trifft. Reibungsfreier Stoß Es gelte (3.98) und damit auch 2( + T − − T ) = ( + v + − v)⊺M( + v − − v) = ( + v + − v)⊺JN λN = + v ⊺J N λ N + − v ⊺J N λ N = λ⊺N (I − Diag(ε))J⊺N − v ≤ 0.
(3.118)
Die letzte Gleichung folgt direkt aus der Komplementarität in (3.98). Die Abschätzung gilt, weil nach Voraussetzung keine Aufprallgeschwindigkeit in J⊺N − v ≤ 0 unmittelbar vor dem Stoß positiv ist, ferner gilt λN ≥ 0 aufgrund der Komplementarität. Verallgemeinerung des Stoßes nach Frémond Es gelte (3.115), woraus 2( + T − − T ) = ( + v + − v)⊺M( + v − − v) = ( + v + − v)⊺ JN λN − JN mJ⊺N ( + v + − v) = + v⊺JN λN + − v⊺JN λN −( + v + − v)⊺JN mJ⊺N ( + v + − v) | {z } | {z } | {z } =0
≤0
≤0
(3.119)
folgt. Der erste Term der Gleichung verschwindet aufgrund der Komplementarität. Die erste Abschätzung gilt wegen der nicht positiven Aufprallgeschwindigkeiten. Die zweite Abschätzung gilt, weil JN mJ⊺N positiv definit ist. Reibstoß Die dissipative Abschätzung zum Reibstoß ist im Allgemeinen nicht möglich. Das hier verwendete Vorgehen gelingt nur für den plastischen Stoß mit ε = 0 und der polyedrischen Näherung der Reibscheibe gemäß (3.96). Zunächst stellt man die Identität 1 + ⊺ v M( + v − − v) = + T − − T + ( + v − − v)⊺M( + v − − v) (3.120) |2 {z } ≥0
3.2. Erweiterung auf unstetige Geschwindigkeitsverläufe
55
fest. Die Abschätzung gilt, weil die Massenmatrix positiv definit ist, und daher folgt +
T − −T ≤ =
v M( + v − − v) + ⊺ v J λ + + v ⊺J P λ P | {zN N} + ⊺
=0 ⊺
= −z E λP = −z⊺µ⊺λN ≤ 0. ⊺
(3.121)
Dabei folgt das Verschwinden des ersten Terms in der ersten Gleichung aus der ersten Komplementaritätsbedingung in (3.96), die anschließenden beiden Gleichungen folgen aus der zweiten bzw. dritten Komplementarität. Die Abschätzung zum Schluss gilt, weil der Term µ⊺λN die stets positiven Normalbelastungen darstellt, vgl. (3.74), und z ≥ 0 aufgrund der dritten Komplementarität gilt. Es lässt sich somit zeigen, dass sich die vorgestellten Maßdifferenzialeinschließungen bei den reibungsfreien Varianten an den Unstetigkeitsstellen dissipativ verhalten. Mit Reibung kann dies nur für den plastischen Stoß sicher erwartet werden. Für Probleme mit räumlichen, elastischen Strukturen, die über alle drei Raumparameter beschrieben werden, ist das plastische Stoßverhalten sicherlich das einzig vernünftige. Elastische Körper treten realistischerweise immer eine endliche Zeit lang in Kontakt, sodass diese Stoßannahme keine starke Einschränkung darstellt. Der allgemeine Nachweis der Dissipativität bei teilelastischem Stoßverhalten mit Reibung ist nicht möglich, vgl. [97]. Der Versuch eines solchen Nachweises in [38] für ein Stoßgesetz angelehnt an das von Poisson ist fehlerhaft, wie in [2] gezeigt wurde.
Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 1. Die Überlegungen aus Kapitel 2 angewandt auf einen Massenpunkt wurden konsistent auf Systeme mit einem beliebigen endlichen Freiheitsgrad auf den Grundlagen der nicht-glatten Analysis übertragen. Als mechanisches Prinzip für Systeme mit einseitigen Bindungen und Reibung wurde das Prinzip von Fourier in allgemeiner Form dargestellt. Flächenhafte Kontaktsituationen können im Rahmen der räumlichen Diskretisierung konsistent räumlich diskretisiert werden. Das Gebiet der einseitigen Begrenzung wurde durch eine Niveaumenge bestehend aus einer endlichen Zahl von Begrenzungsfunktionen angenähert. 2. Es wurde eine Darstellung mittels Maßdifferenzialeinschließungen angegeben, die den stetigen Teil der Bewegung gemäß dem Prinzip von Fourier beschreibt. Die Einschließung erlaubt ebenfalls die Formulierung mehrerer Varianten des Verhaltens bei Unstetigkeitsstellen. Eine Variante wurde als optimale Näherung an das klassische Stoßgesetz nach Newton gedeutet. Ein Stoßgesetz nach Frémond konnte als Komplementaritätsproblem dargestellt werden. 3. In der vorliegenden Arbeit beruht der Nachweis der Gleichwertigkeit der Variationsungleichung des Prinzips 3.5 zur Gleichgewichtsbeziehung des Prinzips 3.6 auf der Beziehung zwischen Normal- und Tangentialkegel gemäß Satz A.51. In vielen Arbeiten, vgl. beispielsweise [98, 12, 39] wird eine entsprechende Beziehung schlicht als Definition des Normalkegels verwendet. Formal ist dies völlig korrekt.
56
Kapitel 3. Strukturdynamik mittels Maßdifferenzialeinschließungen Allerdings geht dadurch die geometrische Deutung des Normalkegels durch die in der vorliegenden Arbeit verwendete Definition A.43 verloren und damit auch die Vorstellung eines tatsächlichen „Senkrecht-Stehens“ der Zwangskräfte. 4. Die systematische Berechnung der Massenmatrix M und der Matrix der generalisierten eingeprägten Kräfte f aus (3.30–3.31) für Systeme starrer aber auch angenähert für elastischer Körper ist eine der wichtigsten Aufgabenstellungen der Mehrkörperdynamik und wird in dieser Arbeit nicht weiter allgemein behandelt. Systematische Darstellungen bzw. Zusammenfassungen verschiedener Verfahren sind z.B. in [94, 109, 53] zu finden. Es ist bisher zu erkennen, dass die Bereitstellung der Matrizen M und f innerhalb der Variationsprinzipien eine Aufgabe ist, die getrennt von der Berechnung der generalisierten Reibkräfte fT angegangen werden kann. 5. Es wurde schon einleitend in Kapitel 2 erwähnt, dass zunächst unterschiedliche Ansätze zur Lösung des Problems mit verteilten Parametern bei der theoretischen Analyse sehr ähnlich zueinander sind (letztlich versuchen ja alle Ansätze, dasselbe Problem zu lösen). Bei den in der vorliegenden Arbeit nur am Rande behandelten FE-Methoden, für die es bei der Behandlung von Kontaktproblemen eine Reihe verschiedener Ausprägungen gibt, steht eigentlich immer die schwache Formulierung des Kräftegleichgewichts und damit, mit geeigneten Testfunktionen, die Formulierung der virtuellen Arbeit der Kontaktkräfte als Ausgangspunkt fest [60, 23]. Der entsprechende Anknüpfungspunkt zu den von Kontaktproblemen von Systemen mit konzentrierten Parametern stammenden Formulierungen der vorliegenden Arbeit ist daher die Variationsungleichung in Prinzip 3.5 mit den virtuellen Arbeiten (Leistungen) δv⊺fN und δv⊺fT der generalisierten Normalbzw Reibkräfte. 6. Wie bereits in den abschließenden Bemerkungen zu Kapitel 2 auf S.28 angedeutet, wird in Definition 3.3 nochmals die Motivation für eine gebräuchliche Sprechweise erkennbar: Da die Kraft λT einer verallgemeinerten Gradientenbildung entstammt, nämlich dem Subgradienten einer Stammfunktion σD bezüglich der Geschwindigkeit vT , wird σD auch als (hier konvexes) Superpotenzial bezeichnet bzw. λT als Superpotenzialkraft.
57
Kapitel 4 Zur numerischen Behandlung von Maßdifferenzialeinschließungen In der vorliegenden Arbeit werden im wesentlichen zwei Verfahren zur Lösung der Maßdifferenzialeinschließungen diskutiert. Zunächst die an Moreau [71] angelehnte Methode, welche die Einschließungen in einem Zeitschrittverfahren durch Approximation der Dichtefunktionen über Differenzenquotienten annähert. Anschließend wird die intuitiv naheliegende ereignisgesteuerte Methode diskutiert. Dabei wird der stetige Teil der Bewegung über Differenziell-Algebraische Gleichungen mittels zweiseitiger Bindungen beschrieben. Ereignisse kennzeichnen zu erwartende Unstetigkeiten bzw. Änderungen des Bindungszustands. Über konsistente Übergangsbedingungen sind die neuen Anfangsbedingungen für die anschließende, nun wieder stetige Bewegung zu finden. Zum Abschluss wird noch knapp auf den formalen Zusammenhang mit Regularisierungsmethoden bzw. Methoden mit lokalen Kontaktkraftgesetzen eingegangen.
4.1
Implizites Zeitschrittverfahren
Ausgangspunkt für die zeitliche Diskretisierung ist die Darstellung (3.89) der Maßdifferenzialeinschließung, allerdings mit der rechten Seite von (3.93): fdt/dτ − Mdv/dτ ∈ NCε, − v ( + v) + ∂FT ( + v).
(4.1)
Im stetigen Teil der Bewegung können die Dichtefunktionen bezüglich des JordanMaßes dt angegeben werden, sodass die Dichtefunktionen gemäß C.8 als Beschleunigungen aufgefasst werden können und mittels der Approximation k+1
dv/dt ≈
v − kv h
(4.2)
angenähert werden. Dabei ist h > 0 die Zeitschrittweite und eine Größe k x die zeitdiskrete Näherung an den Funktionswert x(k t) mit k t = kh, k = 0, 1, 2, . . .. Mit + v ≈ k+1 v und − v ≈ k v wird (4.1) durch κ1 fh − κ2 M k+1 v − k v ∈ NCε,k v (k+1 v) + ∂FT (k+1v) (4.3) angenähert, wobei κ1 f und κ2 M die Auswertung der im Allgemeinen von q, v und t abhängigen Matrix der generalisierten Kräfte bzw. der Massenmatrix zum Zeitpunkt
58
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen
t ist. Die unbestimmten Ausdrücke κ1 bzw. κ2 können je nach Verfahrenstyp zu k oder k + 1 gewählt werden. Ferner wurde auf dem Weg zu (4.3) die linke Seite mit dem Skalar h > 0 multipliziert, die Einschließung bewahrt gemäß C.10 ihre Gültigkeit aufgrund der Kegeleigenschaft – für ihren Nachweis vgl. Abschnitt 3.1.4 – der rechten Seite. Es ist zu erkennen, dass für hinreichend kleine Zeitschrittweiten h > 0 die Einschließung (4.3) beliebig genau die Einschließung der unstetigen Übergangsbedingungen (3.94) annähert, da κ1 fh → 0 für h ց 0 gilt. Man darf also von diesem Zeitschrittverfahren erwarten, dass es auch das Verhalten an Unstetigkeitsstellen beliebig genau approximiert. Es kommt hier eine teilimplizite Variante mit der Approximation k
k+1
v≈
q − k q k+1 ≈ v h
und ferner mit κ1 = k + 1 und κ2 = k zum Einsatz, die gemäß k+1 fh − k M k+1 v − k v ∈ NCε,k v (k+1 v) + ∂FT (k+1 v)
(4.4)
(4.5)
bzw. mit polyedrischer Näherung der Reibscheibe gemäß Abschnitt 3.1.5 M k+1 v = k M k v + k+1 f + k JN k+1 λN + k JP k+1 λP , ⊺ 0 ≤ k JN k+1 v + Diag(ε) k JN k v + (I + Diag(ε)) k aN ⊥ k+1 λN ≥ 0, 0 ≤ k JP k+1 v + k E k+1 z + k aP ⊥ k+1 λP ≥ 0, ⊺ 0 ≤ µ k+1λN − k E k+1 λP ⊥ k+1 z ≥ 0 k
in [3] vorgestellt wurde. Dabei werden entsprechend der Beziehung (3.75) in k JN = . . . , JNi , . . . i ∈ AN3 ( k q)
(4.6)
(4.7)
nur die zum Zeitpunkt k t auf Lageebene aktiven Bindungen berücksichtigt. Dieses Verfahren entspricht im Falle gewöhnlicher Differenzialgleichungen – d.h. rechte Seite der Einschließung ist die Menge {0} und die Massenmatrix M ist konstant – dem impliziten Euler-Verfahren. Die Auswertung der Kraft erfolgt schließlich mit den noch unbekannten Werten des Zeitschritts k + 1. Das implizite Euler-Verfahren hat die Eigenschaft der sogenannten A-Stabilität und weist die Konvergenzordnung 1 auf, vgl. [40]. Damit ist das Verfahren unbedingt stabil, was für die Praxis bedeutet, dass die numerische Lösung selbst steifer Systeme bei großen Schrittweiten nicht unbegrenzt anwächst, wenn dies die strenge Lösung nicht tut. Eine Konvergenzordnung p weist in Konsequenz, grob gesprochen, darauf hin, dass die Abweichung der strengen Lösung von der numerischen Approximation an einer Stelle k t = kh ein Term der Ordnung o(hp ) darstellt. Für p = 1 gilt daher grob, dass eine Halbierung der Zeitschrittweite zur Halbierung des zeitlichen Diskretisierungsfehlers führt. Der Term k+1 f wird für f(q, v, t) durch eine Taylor-Reihe erster Ordnung unter Elimination der Lagen k+1 q gemäß (4.4) zu k+1 f ≈ k f + h k Gq k+1 v + k Gv k+1 v − k v + h k Gt (4.8)
59
4.1. Implizites Zeitschrittverfahren angenähert, wobei die quadratischen Jacobi-Matrizen gemäß ∂f , ∂q ∂f := , ∂v ∂f := ∂t
(4.9)
Gq := Gv Gt
(4.10) (4.11)
definiert sind. Der hochgestellte Index k bei den Jacobi-Matrizen bedeutet, dass diese Ausdrücke bei t = k t ausgewertet werden sollen. Ersetzt man k+1 f in (4.6) durch (4.8), so erhält man nach Umsortieren analog zu (3.97) ein MLCP, wobei alle nicht indizierten Größen zum Zeitpunkt k t gelten sollen: k+1 c −JN −JP 0 v 0 −M k v − hb f M J⊺ k+1 λN Diag(ε)J⊺ k v + (I + Diag(ε)) aN s1 0 0 0 N N = J⊺ k+1 λP + aP s2 , 0 0 E P k+1 z s3 0 0 µ −E⊺ 0
mit
0≤
k+1
(4.12)
λN s1 λP ⊥ s2 ≥ 0 k+1 z s3
k+1
c := M − h2 Gq − hGv , M bf := f − Gv k v + hGt .
(4.13)
k+1
(4.15)
(4.14)
Die Zustände im nächsten Zeitschritt k + 1 erweisen sich damit als Lösung des MLCP (4.12). Die neuen Lagen werden mit den Lösungen des MLCP aus (4.4) berechnet: q = k q + h k+1 v.
c positiv definit, weil die MassenFür hinreichend kleine Zeitschrittweiten h > 0 ist M matrix positiv definit ist. In diesem Fall kann wieder wie in Abschnitt 3.2.2 für aP = 0, aN = 0 und ε = 0 streng gezeigt werden, dass eine Lösung des MLCP existiert, falls c zudem symmetrisch ist. In den anderen Fällen erscheint es physikalisch plausibel, M dass eine Lösung gefunden wird, aber ihre Existenz ist im strengen mathematischen Sinne bisher noch nicht allgemein bewiesen. In vielen Fällen entstammt die generalisierte ⊺ Kraft einem konvexen bzw. streng konvexen Potenzial U(q) ∈ R, sodass f = − ∂U gilt. Aufgrund der Konvexität (strengen ∂q 2
U Konvexität) muss die Matrix (−Gq )ij = ∂q∂i ∂q eine positiv semidefinite (bzw. positiv j definite) Hesse-Matrix der Potenzialfunktion sein, die wegen der Vertauschbarkeit der partiellen Ableitungen zudem symmetrisch ist. Entsprechendes gilt für geschwindigkeitsproportionale Kräfte, die einer Dissipationsfunktion entstammen und in analoger Weise auf eine positiv semidefinite sowie symmetrische Matrix −Gv schließen lassen. In
60
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen
c für alle Zeitschrittweiten h > 0 positiv definit und symmetrisch, solchen Fällen ist M und eine Lösung des MLCP muss zumindest für aP = 0, aN = 0 und ε = 0 existieren. Man darf von dieser Vorgehensweise erwarten, dass insbesondere solche Systeme angegangen werden können, die im elastischen Sinne sehr steif sind, bei denen also kleine Änderungen in den Verschiebungen q zu sehr großen Änderungen im elastischen Potenzial U(q) führen (entsprechendes gilt stillschweigend immer auch für geschwindigkeitsabhängige Dissipationsfunktionen). In der Praxis wird man auch erwarten dürfen, dass nicht alle Beiträge zur generalisierten Kraft f =: fs + fns zu einer Versteifung des Systems führen, sodass nur die steifen Anteile fs im vorgestellten Sinne implizit behandelt werden müssen und der Rest fns rein explizit behandelt werden kann. c positiv definit und damit invertierbar ist, Setzt man von nun an voraus, dass M dann kann das MLCP (4.12) durch Elimination von k+1
c −1 M k vhb v=M f + JN k+1 λN + JP
k+1
λP
in der Gleichungsbedingung des MLCP in das LCP
(4.16)
(4.17)
0 ≤ Ax + b ⊥ x ≥ 0 mit
c −1 JN J⊺ M c −1 JP 0 J⊺N M N c−1 JN J⊺ M c−1 JP E , A := J⊺P M P µ −E⊺ 0 k+1 λN x := k+1λP , k+1 z ⊺ c −1 k b JN M M v + hf + Diag(ε)J⊺N k v + (I + Diag(ε)) aN b := c −1 M k v + hb J⊺P M f + J⊺P aP 0
(4.18)
(4.19)
(4.20)
überführt werden. Mit einer Lösung x des LCP(A, b) – für numerische (M)LCP-Löser vgl. Anhang B – werden über (4.16) und (4.15) die Geschwindigkeiten bzw. Lagen des nächsten Zeitschritts k + 1 berechnet.
4.1.1
Variante: Nichtlineares Komplementaritätsproblem bei exakter Reibscheibe
Als Konsequenz der polyedrischen Näherung der Reibscheibe lässt sich das Problem der Berechnung der Größen des nächsten Zeitschritts auf ein lineares (M)CP zurückführen. Für lineare Komplementaritätsprobleme ist die Existenz- und Lösungstheorie weit ausgebaut. Diesen Vorteil bezahlt man mit dem Nachteil, dass eine gute Approximation der Reibscheibe ein Polygon mit sehr vielen Ecken und dementsprechend vielen Unbekannten in λP erfordert. Dies führt zu sehr großen Systemen in den Komplementaritätsproblemen (4.12) bzw. (4.17).
61
4.1. Implizites Zeitschrittverfahren
Unter Verzicht auf eine lineare Formulierung des Komplementaritätsproblems kann eine alternative Darstellung angegeben werden. Ausgangspunkt der Überlegung ist die Darstellung der Reibscheibe aus (3.46) in der gleichwertigen Form Di := λ ∈ R2 | kλk2 ≤ (µFNi )2 =: αi2 . (4.21)
Die tangentiale Wirkung aufgrund der Reibung wird gemäß (3.49) dargestellt. Für die nicht-glatte Bewegung, zeitdiskret entwickelt nach (4.5), gilt daher k
M
k+1
v − kv =
k+1
fh +
X
JNi k+1 λNi +
s X
JTi k+1 λTi
(4.22)
i=1
i∈AN3
mit 0≤
k+1
λNi ⊥ J⊺Ni ( k+1 v + εi k v) + (1 + εi )aNi ≥ 0,
− k+1 vTi ∈ ∂ΨDi ( k+1 λTi ) = NDi ( k+1λTi ), k+1 vTi = J⊺Ti k+1 v + aTi ,
(4.23) (4.24) (4.25)
wobei der Parameter αi = αi ( k+1 λN ) der Reibscheibe in einer aus der Modellierung hervorgehenden Weise von k+1 λN abhängt. Die Form der tangentialen Wirkung ist eine gleichwertige Darstellung gemäß Definition 3.3vi. Am Ende dieses Abschnitts wird gezeigt, dass die Einschließung (4.24) gleichwertig zur folgenden komplementären Darstellung ist: Es gibt ein k+1 zi ∈ R : −αi ( k+1λN ) k+1 vTi = k+1 zi k+1 λTi , 0 ≤ k+1 zi ⊥ αi2 ( k+1λN ) − k k+1 λTi k2 ≥ 0.
(4.26) (4.27)
Ersetzt man also (4.24) durch (4.22–4.27), so liegt insgesamt für jeden Zeitschritt ein nicht-lineares, gemischtes Komplementaritätsproblem (NMCP) mit den Gleichungsbedingungen (4.22, 4.26) und den Komplementaritäten (4.23, 4.27) vor. Es ist zu bemerken, dass die Terme in den Komplementaritäten differenzierbare Funktionen sind, sodass entsprechende Jacobi-Matrizen für numerische Lösungsverfahren gewonnen werden können. Beziehung (4.26) kann im Allgemeinen nicht nach k+1 λTi aufgelöst werden, da k+1 zi verschwinden kann. Eine entsprechende Fallunterscheidung ist an dieser Stelle nicht sinnvoll, da bei sehr vielen Kontaktstellen, etwa m Stück, jede Kombinationsmöglichkeit verschwindender k+1zi geprüft werden müsste, womit wieder ein kombinatorisches Problem mit 2m Fallunterscheidungen vorläge. Die Hilfsgröße k+1zi kann als Betrag der mittleren Gleitgeschwindigkeit interpretiert werden, falls der Kontakt belastet ist, d.h. αi > 0 gilt. Es steht noch der Nachweis der Gleichwertigkeit aus. Dazu wird die Reibscheibe durch Dα = {λ ∈ R2 | kλk2 ≤ α2 } beschrieben. Damit ist der Normalkegel (vgl. Beispiel 3.4) durch n falls R , {0} , NDα (λ) = {βλk β > 0} ,
kλk = α = 0 (i); kλk < α (ii); kλk = α > 0 (iii)
(4.28)
62
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen gegeben. Zu zeigen ist (iv): −v ∈ NDα (λ) ⇔ (v): ∃z ∈ R :
−αv = zλ sowie
0 ≤ z ⊥ α2 − kλk2 ≥ 0.
Dazu wird für jeden der Fälle (i-iii) in (4.28) die Gleichwertigkeit von (iv) und (v) gezeigt. (i): d.h. (iv): v ∈ Rn . Dies wird erreicht, indem für (v) ein beliebiges z ≥ 0 gewählt wird. Da α = 0 gilt, folgt λ = 0 und daher ist die Gleichung in (v) immer erfüllt, woraus im Rückschluss (iv) folgt. (ii): d.h. (iv): −v = 0. Wähle z = 0. Umgekehrt gilt α 6= 0, falls (v) erfüllt ist, und ferner aufgrund der Komplementarität z = 0 und damit v = 0. (iii): d.h. (iv): ∃β < 0 : −v = βλ. Wähle z = αβ . Da α 6= 0 ist die Umkehrung klar, schließlich muss die Gleichungsbedingung in (v) zutreffen.
4.1.2
Variante: Darstellung ohne Komplementaritäten
Gemäß A.97 kann eine Normalkegeleinschließung gleichwertig als implizite Gleichungsbedingung mit Hilfe des Proximalpunkts, vgl. A.95, ausgedrückt werden. Zu diesem Zweck wird die Komplementarität (4.23) gemäß A.58 bzw. A.60 mit k+1
vNi := J⊺Ni ( k+1 v + εi k v) + (1 + εi )aNi
(4.29)
gleichwertig durch
k+1
− k+1 λNi ∈ ∂ΨR+ (k+1 vNi ) = NR+ ( k+1vNi ) A.88
vNi ∈ ∂Ψ⋆R+ (− k+1 λNi ) = ∂ΨR− (− k+1λNi ) = NR− (− k+1 λNi ) − k+1 vNi ∈ NR+ (− k+1 λNi ) k+1 λNi − proxR+ k+1 λNi − β k+1 vNi = 0
A.91
(4.30)
⇔
(4.31)
⇔
(4.32) (4.33)
⇔
A.97
dargestellt. Dabei ist β > 0 ein beliebiger Skalar. Die Gleichungsbeziehung (4.33) ersetzt die Komplementarität (4.23). Die tangentialen Wirkungen aufgrund der Reibung können in analoger Weise dargestellt werden. Einschließung (4.24) kann mittels der Proximalpunktdarstellung nach A.97 sofort durch die Gleichung k+1 λTi − proxDi k+1λTi − β k+1 vTi = 0 (4.34)
ersetzt werden. Schließlich reduziert sich in der zeitdiskreten Darstellung die Aufgabe in einem Zeitschritt auf das Lösen des nicht-linearen Gleichungssystems k
M
k+1
v − kv −
k+1
fh − k+1
X
i∈AN3
JNi k+1 λNi −
λNi − proxR+
k+1
λTi − proxDi
k+1
s X
JTi k+1 λTi = 0,
i=1
λNi − β k+1 vNi
k+1
λTi − β
k+1
vTi
(4.35)
= 0,
(4.36)
= 0
(4.37)
4.2. Ereignisgesteuerte Verfahren
63
mit k+1 k+1
vNi = J⊺Ni ( k+1v + εi k v) + (1 + εi)aNi , vTi =
k+1
q =
J⊺Ti k+1 v + k k+1 q+h
aTi ,
v.
(4.38) (4.39) (4.40)
Der Skalar β > 0 kann beliebig gewählt werden, vgl. A.97.
4.2
Ereignisgesteuerte Verfahren
Ereignisgesteuerte Verfahren zur Lösung der Maßdifferenzialeinschließung gründen auf der Idee, dass der stetige Teil der Bewegung mittels eines Systems gewöhnlicher Differenzialgleichungen unter Berücksichtigung weiterer algebraischer Nebenbedingungen beschrieben werden kann. Zu bestimmten definierten Zuständen, den Ereignissen oder Schaltbedingungen, kann sich der Bindungszustand ändern. Der neue Bindungszustand und die zugehörigen neuen Anfangsbedingungen für die anschließende stetige Phase der Bewegung müssen konsistent gemäß den Maßdifferenzialeinschließungen berechnet werden. Dies bedeutet, dass jede neue Phase der Bewegung mit der Entscheidung (manchmal auch Schaltentscheidung genannt) beginnen muss, welcher Bindungszustand tatsächlich für die kommende Phase erforderlich (d.h. konsistent) ist. Eine Integrationsphase beginne zum Zeitpunkt t = t0 . Zu Beginn wird stets die Indexmenge der auf Beschleunigungsebene aktiven Kontakte bestimmt. Dazu werden alle auf Geschwindigkeitsebene geschlossenen Normalkontakte aus (3.18) betrachtet, AN2 (t) = {i ∈ AN3 (t)| g˙i ≤ 0}
(4.41)
sowie alle tangential haftenden Kontakte AT2 (t) = {i = {1, . . . , s}| kvTi k = 0}
(4.42)
vTi = J⊺Ti v + aTi .
(4.43)
mit
Kontakte aus AN3 , die bereits im Öffnen begriffen sind, d.h. für die g˙i > 0 gilt, stellen keine Bindung auf Geschwindigkeitsebene dar. Gemäß den Überlegungen zu (3.48) setzt ein haftender Kontakt mit kvTi k = 0 gerade zum Gleiten an, wenn die Relativbeschleunigung v˙ Ti 6= 0 nicht verschwindet. Die Menge der auf Beschleunigungsebene tatsächlich aktiven Kontakte wird daher aus der Lösung des folgenden Problems bestimmt, wobei hier sofort von der polyedrischen Näherung der Reibscheibe ausgegangen wird: M + v˙ = f + (R + JN ) + λN + JP + λP , 0 ≤ J⊺N + v˙ + bN ⊥ + λN ≥ 0, 0 ≤ J⊺P + v˙ + E + z + bP ⊥ λP ≥ 0; 0 ≤ µ + λN − E⊺ + λP ⊥ + z ≥ 0.
(4.44)
64
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen
Dabei gelten die Abkürzungen X JN + λN := J Ni + λ Ni ,
(4.45)
i∈AN2 (t0 )
JP
bP
(3.77)
:=
(3.79)
:=
v˙ Ti
=:
R + λN
:=
. . . , JTi Bi, . . . ; i ∈ AT2 (t0 ) , .. . ⊺ Bi bTi , .. . i ∈ AT2 (t0 ) bTi , vTi ⊺+ JTi −µi λN . kvTi k
J⊺Ti v˙ + s X
(4.46)
(4.47)
(4.48) (4.49)
i∈A / T2 (t0 )
Beziehung (4.49) stellt die generalisierte Gleitreibungskraft der nicht haftenden Kontakte gemäß (3.48ii) dar, die nach den Überlegungen in Abschnitt 3.1.4 in dieser Weise von + λN abhängen muss. Die Beziehungen (4.44) stellen ein MLCP für die unbekannten Anfangsbeschleunigungen + v˙ sowie für die mittleren Anfangskontaktkräfte + λN und + λP dar. Die Schlupfvariablen aus + z mit + zi > 0 zeigen gerade im Ansatz zum Gleiten begriffene Kontakte an. Damit können die in der nun folgenden Phase der stetigen Bewegung auf Beschleunigungsebene aktiven Kontakte identifiziert werden: Zunächst erhält man die Normalbindungen AN1 (t0 ) := AN2 (t0 ) \ {i| 0 < J⊺Ni + v˙ + bNi },
(4.50)
wobei diejenigen Kontakte nicht mehr berücksichtigt werden, die in den zulässigen Bereich hinein beschleunigt werden. Solche Kontakte halten keine Bindung aufrecht. In tangentialer Richtung verbleiben nur diejenigen Kontakte als haftend, die nach Lösung des MLCP keine Relativbeschleunigung aufweisen: AT1 (t0 ) := AT2 (t0 ) \ {i| + zi > 0}.
(4.51)
Damit stehen die beschreibenden Beziehungen des stetigen Teils der Bewegung fest: Mv˙ = f + (R + JN ) λN + JT λT , X JN λN := J Ni + λ Ni ,
(4.52)
JT λT :=
(4.54)
(4.53)
i∈AN1 (t0 )
X
JTi λTi ,
i∈AT1 (t0 )
RλN :=
s X
i∈A / T1 (t0 )
JTi
−µ⊺i + λN
vTi kvTi k
.
(4.55)
Dazu kommen die algebraischen Nebenbedingungen J⊺N v˙ + bN = 0, J⊺T v˙ + bT = 0,
(4.56) (4.57)
65
4.2. Ereignisgesteuerte Verfahren
welche die aktiven Bindungen (geschlossene Normalkontakte bzw. haftende Tangentialbindungen) auf Beschleunigungsebene aufrecht erhalten. Somit ist durch Lösen des MLCP (4.44) die Schaltentscheidung über die in der anstehenden Integrationsphase beteiligten Bindungen bei gegebenen Anfangslagen und -geschwindigkeiten getroffen. Eine Zusammenfassung der Beziehungen (4.52–4.57) liefert v˙ f M − (R + JN ) −JT J⊺N 0 0 λN = −bN . (4.58) ⊺ λT −bT J 0 0 {z } | {z } | T :=A
:=x
Allgemein formuliert, liegt mit (4.52–4.57) ein System sogenannter differenziell-algebraischer Gleichungen (DAE) vor, für die eine Reihe von numerischen Lösungsverfahren vorliegen, vgl. [5, 25, 40]. Im Folgenden wird kurz darauf eingegangen, wie das vorliegende DAE-Problem auf eine gewöhnliche Differenzialgleichung zurückgeführt werden kann, vgl. [24]. Formales ˙ Auflösen von (4.58) nach x liefert die generalisierten Beschleunigungen v˙ = v(q, v, t), die gewöhnlichen numerischen Differenzialgleichungslösern für Systeme der Gestalt · q v y˙ := = f (y, t) := (4.59) ˙ v v(q, v, t) zur Verfügung gestellt werden. Die Bindungen werden durch (4.56–4.57) nur auf Beschleunigungsebene erfüllt, es handelt sich damit um ein sogenanntes Index -1-Problem. Aufgrund numerischer Fehler werden die Bindungen auf Lage- bzw. Geschwindigkeitsebene verletzt, sodass es ratsam sein kann, gelegentlich die generalisierten Lagen und Geschwindigkeiten mit minimalem Aufwand unter der Nebenbedingung zu korrigieren, dass die Bindungen auf allen kinematischen Ebenen einzuhalten sind, vgl. [24].
4.2.1
Anmerkung zur Lösbarkeit der Differenziell-Algebraischen Gleichungen
Gleichung (4.58) kann im Allgemeinen nicht nach den gesuchten Beschleunigungen und Zwangskräften aufgelöst werden, da A im Allgemeinen nicht invertierbar ist. Für den reibungsfreien Fall (d.h. R = 0, λT = 0) nimmt (4.58) die Gestalt M −J v˙ f = (4.60) J⊺ 0 λ −b | {z } =:A
an. Da die Massenmatrix M positiv definit ist, kann man zeigen, dass A invertierbar ist, wenn J vollen Rang hat, vgl. [112]. Die mechanische Interpretation ist klar: Die Spalten von J werden durch die Gradienten der aktiven Begrenzungsfunktionen gebildet. Sind diese überzählig und daher nicht mehr linear unabhängig, dann tritt Rangabfall auf und die Bindungskräfte können nicht mehr eindeutig den Bindungen zugeordnet werden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass auch bei Rangabfall Lösungen zu (4.60) existieren. Diese können zwar nicht mehr über Inversenbildung von A bestimmt werden, doch kann eine Lösung über eine Pseudoinverse ermittelt werden. In der Simulationsumgebung
66
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen
MATLAB ist die Lösung linearer Gleichungssysteme über die /-Pseudoinverse sogar numerisch weniger aufwändig [1]. Es bleibt noch zu klären, wie beliebige Lösungen von (4.60) zu deuten sind. Man erkennt, dass (4.60) die lokalen Optimierungsbedingungen zu 1 v˙ = arg min ky − M−1 fk2 y∈R 2
(4.61)
unter der Nebenbedingung J ⊺y + b = 0
(4.62)
sind, vgl. A.94. Aufgrund der Konvexität des Optimierungsproblems ist die Lösung der lokalen Optimierungsbedingungen sowohl notwendig wie auch hinreichend für die Existenz des Optimums. Da die Zielfunktion des Problems streng konvex ist, lässt sich das Optimum sogar eindeutig bestimmen. Das heißt für das mechanische Problem, dass jede Lösung von (4.60) eindeutig in den Beschleunigungen v˙ ist. Linear abhängige Bindungen entstehen aufgrund bewusster oder unbewusster Mehrdeutigkeiten in der Modellierung und lassen sich oft nicht vollständig ausschließen. Zumindest für den reibungsfreien Fall verhindern sie nicht die Eindeutigkeit der Bewegung. Im allgemeinen Fall mit Reibung gibt es auch Konstellationen, bei denen (4.58) keine Lösung besitzt. Numerische Differenzialgleichungslöser mit Schrittweitensteuerung nähern sich diesen Punkten mit zunehmend kleineren Schrittweiten, weil Komponenten in der Lösung sehr schnell anwachsen. Solche Schwierigkeiten treten auf, wenn die Normalbindungen auf Beschleunigungsebene bei vorhandener Gleitreibung nicht mit endlichen Zwangskräften aufrecht erhalten werden können und sind ebenfalls ein Hinweis auf einen bewussten oder unbewussten Modellierungsfehler, der im Zusammenhang mit zu grober räumlicher Diskretisierung steht (Starrkörper). In der Mechanik ist dieses Problem eng mit dem Namen Painlevé verknüpft [80], und immer wieder Gegenstand der Diskussion. Die im Abschnitt 4.1 diskutierten Zeitschrittverfahren übergehen dieses Problem, indem sie in jedem Teil der Bewegung mit Unstetigkeiten in den Geschwindigkeiten reagieren können und so typischerweise zu einem unstetigen, abrupten Abbremsen der Gleitbewegung führen. Für weitere Bemerkungen zum Problem von Painlevé siehe beispielsweise [41, 97].
4.3
Definition der Ereignisse
Während der Integration der stetigen Bewegung ist simultan zu überprüfen, ob Zustände eintreten, die den Gültigkeitsbereich der Gleichungen (4.52–4.57) verletzen können. Diese Ereignisse beenden die Integrationsphase zum Zeitpunkt t1 : Definition 4.1 Ereignisse, bei denen die stetige Integrationsphase unterbrochen wird. Kinematische Ereignisse: i) Es treten Normalbindungen hinzu: AN1 (t0 ) 6= AN2 (t1 ).
ii) Gleitende Kontakte halten an: AT1 (t0 ) 6= AT2 (t1 ).
4.3. Definition der Ereignisse
67
Kinetische Ereignisse: iii) Eine mittlere Normalkraft erfährt einen Nulldurchgang von oben: λNi = 0, i ∈ AN1 (t0 ).
iv) Die mittlere tangentiale Haftkraft überschreitet die maximal ertragbare Haftkraft: kλTi k − µ⊺i λN = 0, i ∈ AT1 (t0 ). Die für die kinetischen Ereignisse erforderlichen Größen λN und λTi werden zu jedem Zeitpunkt der stetigen Integrationsphase aus der Lösung der Gleichung (4.58) gewonnen. Jedes Ereignis erfordert einen Abbruch der aktuellen Integrationsphase und einen Neustart der anschließenden Phase mit dem MLCP (4.44), mit dessen Hilfe die neuen, auf Beschleunigungsebene aktiven Bindungen wie oben beschrieben ermittelt werden. Die Ereignisse ii)-iv) bewirken keine Änderung in den Anfangsbedingungen für die generalisierten Lagen und Geschwindigkeiten q bzw. v. Bei diesen Ereignissen ii)-iv) genügt also die Neubestimmung der Indexmengen AN1 und AT1 aus (4.50) bzw. (4.50) für eine neue Integrationsphase der Beziehungen (4.52–4.57) zur stetigen Bewegung. Lediglich Ereignis i) erfordert die Bestimmung neuer Anfangsbedingungen, denn es kann ein Stoß aufgrund einer hinzutretenden Normalbindung stattfinden. Vor Beginn der nächsten Integrationsphase mit dem MLCP (4.44) ist daher zunächst die neue Anfangsbedingung + v bezüglich der generalisierten Geschwindigkeit über das Stoßgesetz MLCP (3.97) aus Abschnitt 3.2.2 zu berechnen. Die generalisierten Lagen q überdauern das Stoßereignis unverändert. Das Stoß-MLCP (3.97) ist mit allen zum Zeitpunkt t1 auf Geschwindigkeitsebene aktiven Bindungen in AN2 (t1 ) bzw. AT2 (t1 ) auszuführen. Beispiel 4.2 Die Bestimmung konsistenter Anfangsbedingungen zu Beginn einer Integrationsphase über das MLCP (4.44) entscheidet über die für die kommende Integrationsphase benötigten Bindungen.
Abbildung 4.1: Entscheidung über aktive Bindungen mit Hilfe eines Komplementaritätsproblems. a) Ein Massenpunkt startet mit verschwindender Anfangsgeschwindigkeit von einem Anschlag (zulässiger Bereich g(q) = q ≥ 0) bei q = 0, siehe Abbildung 4.1a. Dabei wird der Massenpunkt durch eine Kraft f > 0 belastet. Intuitiv ist bei diesem einfachen Beispiel klar, dass auf Beschleunigungsebene die Bindung nicht aktiv ist, da
68
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen
der Massenpunkt zu Beginn der Bewegung in den zulässigen Bereich beschleunigt wird. Das Problem kann also zunächst so behandelt werden, als läge keine Bindung vor. Analytisch wird dies durch das MLCP (4.44) bestätigt, das im reibungsfreien Fall im vorliegenden Beispiel in m + q¨ = f + λN , 0 ≤ + q¨ ⊥ λN ≥ 0 übergeht. Elimination von 0≤
+
q¨ liefert das LCP
1 1 λN + f ⊥ λN ≥ 0, m m
(4.63)
f das offensichtlich die Lösung λN = 0 hat, was + q¨ = m > 0 nach sich zieht. Die Theorie, vgl. B.2, bestätigt die Existenz einer eindeutigen Lösung, da m1 > 0 gilt und m1 somit eine positiv definite Matrix ist. b) In analoger Weise kann nun auch geklärt werden, wie das in der Einleitung in Beispiel 1.1a (S. 6) angeführte Problem entschieden wird. In der dort und auch in Abbildung 4.1b skizzierten Anordnung kann der eingekeilte Massenpunkt nur von zwei Zugkräften gehalten werden, falls zweiseitige Bindungen angenommen werden, was ja in der stetigen Integrationsphase immer getan wird. Würde nun ohne MLCP (4.44) zu Beginn der kommenden Integrationsphase gearbeitet, wären beide unter Zug stehenden Bindungen aus der Liste der aktiven Kontakte zu entfernen und es käme zu einer Verletzung der Gebietseinschränkung. Das MLCP (4.44) für das vorliegende reibungsfreie Problem lautet + q¨1 sin β 0 sin α λ N1 m 0 =f + , + q¨2 − cos β 1 − cos α λ N2 0 m {z } | {z } | {z } | {z } | {z } | =:M
0 0
+q ¨
≤
=:f
0 sin α 1 − cos α
⊺
+
q¨1 + q¨2
=:JN
⊥
λ N1 λ N2
=:λN
≥
0 0
.
¨ ≥ 0 die Gebietseinschränkung auf Beschleunigungsebene dar. EliDabei stellt J⊺N + q + ¨ liefert das LCP mination von q 0 ≤ J⊺N M−1 JN λN + J⊺N M−1 f ⊥ λN ≥ 0. Für 0 < α ≥ π/2 hat JN vollen Rang und damit ist J⊺N M−1 JN positiv definit, das LCP und somit auch das MLCP haben jeweils genau eine Lösung.
4.3.1
Anmerkungen zur numerischen Bestimmung der Ereignisse
Bis auf das Ereignis ii) in Definition 4.1 sind alle Ereignisse echte Nullstellen im Sinne eines Durchgangs einer jeweilig zu kontrollierenden Funktion vom Positiven ins Negative (bzw. umgekehrt) und können mit numerischen Nullstellensuchverfahren (z.B. Intervallhalbierung) zuverlässig gefunden werden. In der Simulationsumgebung MATLAB können numerische Integrationsverfahren direkt mit der sogenannten event-location Prozedur verknüpft werden, um so bequem den Integrationsprozess anzuhalten [1].
69
4.3. Definition der Ereignisse
Ereignis ii) hingegen wird über eine Berührnullstelle (doppelte Nullstelle) definiert. Gesucht wird der Zeitpunkt, zu dem eine mittlere Tangentialgeschwindigkeit dem Betrag nach verschwindet, also kvTi k = 0 gilt. Solche Nullstellen können von numerischen Verfahren nicht gefunden werden, da die Null niemals exakt getroffen wird. Abhilfe schafft z.B. eine Toleranzgrenze tol > 0 für Werte, die als nahezu null interpretiert werden sollen. Dazu wird die mittlere Relativgeschwindigkeit v1i vTi = (4.64) v2i bezüglich des lokalen tangentialen Koordinatensystems analog zu (3.38) dargestellt, sodass v1i und v2i ihre Koordinaten bezüglich der Richtungsvektoren ~t1 bzw. ~t2 sind. Willkürlich wird eine Richtung gewählt, hier 1, und der Zeitpunkt t1 bestimmt, zu dem ein Nulldurchgang gemäß ↓
(4.65)
↑
(4.66)
v1i − tol = 0 oder v1i + tol = 0 ↓
↑
eintritt. Die Symbole = und = bezeichnen einen Nulldurchgang vom Positiven ins Negative bzw. umgekehrt. Die Integration wird aber erst unterbrochen, nachdem festgestellt wurde, dass die andere Koordinate v2i (t1 ) klein genug ist, sodass insgesamt vTi = (vii v2i )⊺ als haftend interpretiert werden kann, z.B. falls kv2i (t1 )k < tol. Ist dies nicht der Fall, so wird die Integration fortgesetzt, allerdings nun unter Beobachtung der Nulldurchgänge ↓
(4.67)
↑
(4.68)
v2i − tol = 0 oder v2i + tol = 0
der anderen Richtung, hier also entsprechend 2. Dadurch wird sichergestellt, dass die Integration erst dann vollständig unterbrochen wird, falls notwendigerweise −tol v1i +tol ≤ vTi = ≤ (4.69) −tol v2i +tol gilt. Die Vektoren der Relativgeschwindigkeit, die als haftend interpretiert werden, liegen demnach in einem Quadrat der Kantenlänge 2tol. Wird die entsprechende Bindung in der anschließenden Integrationsphase als haftend aufrecht erhalten, dann trägt der nicht verschwindende Geschwindigkeitsvektor zur Drift in den tangentialen Bindungen bei, die gegebenenfalls durch Projektionsverfahren korrigiert werden muss.
70
4.4
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen
Anmerkung zu Regularisierungs- und Penaltyverfahren
Der Vollständigkeit halber werden an dieser Stelle noch die formalen Zusammenhänge zwischen den bisher vorgestellten Verfahren und den Ansätzen zur Lösung über Regularisierungs- und Penaltyverfahren aufgezeigt. Ziel wird es sein, die nicht-glatten Einschließungen über Subdifferenzialrelationen durch gewöhnlich differenzierbare Darstellungen anzunähern, wie dies schon in Abschnitt 2.4 für den Massenpunkt angedeutet wurde. Ausgangspunkt der Überlegung ist Prinzip 3.6. Die Bewegungsgleichungen lauten Mv˙ = f +
X
J Ni λ Ni +
i∈AN3
s X
JTi λTi
(4.70)
i=1
mit −λNi ∈ ∂ΨR+ (vNi ), vNi = J⊺Ni v + aNi ,
(4.71) (4.72)
−λTi ∈ ∂σDi (vTi ), σDi (·) = µ⊺i λN k · k, vTi = J⊺Ti v + aTi .
(4.73) (4.74) (4.75)
Wie in den Beispielen 2.5 und 2.4 werden die Indikator- bzw. Supportfunktionen in den Einschließungen (4.71) bzw. (4.73) durch differenzierbare Funktionen angenähert. Aufgrund A.74 kann bei differenzierbaren Funktionen der Subgradient durch den gewöhnlichen Gradienten dargestellt werden, womit letztlich dann gewöhnliche Differenzialgleichungen vorliegen. Die Indikatorfunktion in (4.71) wird durch 0; vNi ≥ 0 b ΨR+ ,α (vNi ) := (4.76) 2 α (vNi ) ; sonst 2 regularisiert (Regularisierungsparameter α → ∞), womit man nach Gradientenbildung das regularisierte Kraftgesetz −λNi = α min(vNi , 0)
(4.77)
erhält. In tangentialer Richtung wird die Supportfunktion analog zum Vorgehen in Beispiel 2.4 durch −1 1 (1+ 1 ) 1 ⊺ σ bDi ,α (vTi ) := µi λN 1 + vT⊺i vTi 2 α (4.78) α angenähert, sodass daraus nach Gradientenbildung 1 ( 1 −1) −λTi = µ⊺i λN vT⊺i vTi 2 α vTi
hervorgeht.
(4.79)
4.4. Anmerkung zu Regularisierungs- und Penaltyverfahren
71
Regularisierung bedeutet, dass man mit α → ∞ eine beliebig genaue glatte Approximation der nicht-glatten Funktionen erzeugt. In der Praxis wird man sich mit einer sehr großen Zahl α < ∞ begnügen müssen, sodass man die Kraftwirkung (4.77) in Normalenrichtung als die Kraft eines linear viskosen Dämpfers deuten kann, der nur bei Eindringen in die Bindung eine Kraft entgegen und proportional (Proportionalitätskonstante α) der Eindringgeschwindigkeit erzeugt. Für endliche Regularisierungsparameter α < ∞ werden somit die mittleren Kontaktkräfte in Normal- und Tangentialrichtung mit Hilfe von (4.77) bzw. (4.79) durch Kontaktkraftgesetze dargestellt, die nur vom aktuellen Systemzustand, also von den generalisierten Lagen und Geschwindigkeiten und der Zeit abhängen. Es liegt nahe, weitere Kontaktkraftgesetze zu entwickeln, die eher physikalisch motiviert sind, als dass sie zur Regularisierung der subdifferenziellen Einschließungen (4.71) bzw. (4.73) dienen.
4.4.1
Kontaktkraftmodelle mit lokaler Nachgiebigkeit in Normalenrichtung
Lokale Nachgiebigkeit bedeutet, dass eine Verletzung der mittleren Abstandsbedingung gi ≥ 0 aus (3.10) zugelassen werden soll. Die Kontaktkraft geht aus einem Kraftgesetz als Funktion der Verletzung hervor, z.B. gemäß −λNi := H(−gi ) min(0, −(−H(−gi )ci gi )κ + di g˙ i ),
(4.80)
wobei H(x) :=
1, x > 0 0, sonst
(4.81)
die Heaviside-Sprungfunktion darstellt. Durch die Wahl eines Exponenten κ ≥ 1 mit entsprechendem Parameter ci > 0 kann ein vereinfachtes Kontaktkraftgesetz nach Hertz berücksichtigt werden [49]. Beispiel 4.3 Dem Kraftgesetz (4.80) liegt schon eine Reihe vereinfachender Annahmen zugrunde, die hier für den Fall κ = 1, d.h. linear elastische Kontaktkraft, angedeutet werden sollen.
Abbildung 4.2: Modell eines Kraftgesetzes mit lokaler Nachgiebigkeit.
72
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen
Lokale Nachgiebigkeiten gehen aus einem einfachen Randschichtmodell hervor, das in Abbildung 4.2 skizziert ist. Die Randschicht wird als Feder-Dämpfer-System (Parallelschaltung, hier linear visko-elastisch) angenommen. Es ist unmittelbar klar, dass die Randschicht damit eine eigene Dynamik aufweist, z.B. hier in der inneren Variablen s(t), wenn kein Kontakt herrscht. Ein Massenpunkt (Masse m) hat keinen Kontakt mit der Randschicht, falls q + s > 0 gilt. Man erhält durch Freischnitt des Feder-DämpferSystems das Kontaktkraftgesetz −λN = cs + ds. ˙ Damit im Falle eines offenen Kontakts λN = 0 gilt, muss die Randschicht in diesem Fall die Differenzialgleichung cs + ds˙ = 0 erfüllen. Das dynamische Verhalten des Gesamtsystems wird somit durch mv˙ = f + λN , q˙ = v, −v, falls q + s ≤ 0 UND λN > 0 s˙ = − dc s, sonst mit λN = −cs − d
−v, falls q + s ≤ 0 UND λN > 0 − dc s, sonst
als gewöhnliche Differenzialgleichung erster Ordnung beschrieben, allerdings mit aufgrund der Schaltbedingung unstetiger rechter Seite, was bei der Wahl numerischer Lösungsverfahren zu berücksichtigen ist. In der vereinfachten Darstellung (4.80) wird die Dynamik der Randschicht vernachlässigt, was bei typischerweise sehr großen Steifigkeiten der Randschicht zulässig ist, vgl. [105]. In allgemeiner Betrachtung führt die Regularisierung des Normalkontakts mit innerer Variablen bei Reibungsfreiheit auf Systeme der Art Mv˙ = f +
m X
J Ni λ Ni ,
i
q˙ = v, −g˙ i , falls gi + s ≤ 0 UND λNi > 0 s˙ i = − dcii si , sonst
(4.82)
mit λNi = −ci si − di
−g˙ i , falls gi + s ≤ 0 UND λNi > 0 . − dcii si , sonst
(4.83)
Die Regularisierung (4.79) in tangentialer Richtung kann ebenfalls durch ein Reibkraftgesetz mit tangentialer Nachgiebigkeit ersetzt werden. Dabei kommen Reihenschaltungen von Feder-Dämpfer-Systemen mit Reibelementen in Betracht, wie in Abbildung 1.2 (S. 12) bereits angedeutet. In der vorliegenden Arbeit wird darauf nicht näher eingegangen und z.B. auf [95, 53] verwiesen. Auch dort führen die Formulierungen auf gewöhnliche Differenzialgleichungen mit inneren Variablen und unstetigen rechten Seiten.
4.4. Anmerkung zu Regularisierungs- und Penaltyverfahren
4.4.2
73
Gemischte Formulierung mit lokaler Nachgiebigkeit und subdifferenzieller Darstellung der Reibkraft
Ein wesentlicher Nutzen der Regularisierungs- und Penaltyverfahren liegt in der Überführung von Zwangskräften hin zu eingeprägten Kräften. Die Darstellungen der Normalkräfte über die verschiedenen Vorgehensweisen gemäß (4.77) bzw. (4.80) haben gemeinsam, dass mit ihnen jeweils Kraftgesetze der Gestalt (4.84)
λNi = fNi (v, q, t) bzw. in Matrixform f ′ N := (. . . , fNi , . . .)⊺
(4.85)
vorliegen, die explizit nur von den generalisierten Geschwindigkeiten, Lagen und der Zeit abhängen. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt erneut die Gleichgewichtsformulierung aus Prinzip 3.6, so gilt nun X (4.86) Mv˙ = f + fG + JNi fNi (v, q, t) +fT , i∈AN3
{z
|
=:f ′
}
wobei hier bereits berücksichtigt ist, dass sich ein Teil der tangentialen Kontakte im Gleitzustand befindet, die so entsprechend dem Reibgesetz (3.48) auf Beschleunigungsebene eine generalisierte Gleitkraft fG =
m X
JTi µ⊺i f ′ N (v, q, t)
i∈A / T2
−vTi kvTi k
(4.87)
bewirken. Es müssen daher lediglich noch die Kräfte der im Mittel haftenden Kontakte auf Beschleunigungsebene gemäß (3.48ii) erklärt werden: X fT = JTi λTi , (4.88) i∈AT2
−λTi
v˙ Ti
∈
∂σDi (v˙ Ti ), d := J⊺Ti v + aTi =: J⊺Ti v˙ + bTi . dt
(4.89) (4.90)
Da die Kontaktkräfte in Normalenrichtung nach der Regularisierung sowie die Kräfte der im Mittel gleitenden Kontakte wie eingeprägte Kräfte behandelt werden können, werden sie zur Matrix f ′ hinzu gezählt, die künftig alle eingeprägten Kräfte sammelt. Damit ist auch die Supportfunktion σDi (·) = µ⊺i f ′ N (v, q, t)k · k
(4.91)
nur durch eingeprägte Kräfte parametrisiert. Kürzt man analog zum Vorgehen bei der Herleitung von (3.52) durch ein Superpotenzial X ˙ := FT′ (v) σDi J⊺Ti v˙ + bTi (4.92) i∈AT2
74
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen
ab, das hier auf Beschleunigungsebene gilt, so wird letztlich die Bewegung durch ˙ f ′ − Mv˙ ∈ ∂FT′ (v) beschrieben. Diese Beziehung erweist sich in der Darstellung 1 ⊺ ′ ⊺ ′ ˙ − v˙ f + v˙ Mv˙ 0 ∈ ∂ FT (v) 2
als die lokale Optimierungsbedingung gemäß A.93 des Problems 1 ⊺ ′ ⊺ ′ v˙ = arg minn FT (y) − y f + y My . y∈R 2
(4.93)
(4.94)
(4.95)
Die Zielfunktion ist streng konvex, da die Massenmatrix M positiv definit und das Superpotenzial FT′ zumindest konvex ist. Eine Summe konvexer Funktionen ist streng konvex, wenn mindestens ein Summand streng konvex ist. Aufgrund der Konvexität sind die lokalen Optimierungsbedingungen (4.94) gleichwertig zum Optimierungsproblem (4.95), das ebenfalls aufgrund der strengen Konvexität eine eindeutige Lösung hat. Das bedeutet, dass dadurch die generalisierte Beschleuningung zu jeder Zeit als Lösung des Optimierungsproblems (4.95) eindeutig vorliegt.
Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 1. Es wurden Lösungsverfahren für die in Kapitel 3 hergeleiteten Maßdifferenzialeinschließungen vorgestellt. Es wurde gezeigt, dass die Formulierungen für flächenhafte Kontaktsituationen in ein implizites Zeitschrittverfahren überführt werden können, das auch die Behandlung von steifen Problemen erlaubt. Mittels eines alternativen, ereignisgesteuerten Verfahrens können die Einschließungen gelöst werden, indem die Zeitpunkte möglicher Zustandswechsel bestimmt werden und mit entsprechenden Übergangsbedingungen die stetigen Phasen der Bewegung mittels gewöhnlicher Differenzialgleichungslöser behandelt werden. Abschließend wurden die formalen Zusammenhänge zu Regularisierungsverfahren gezeigt. Solche Verfahren führen in der Regel auf Differenzialgleichungen mit unstetigen rechten Seiten. 2. Das verwendete Zeitschrittverfahren erfordert keine explizite Bestimmung der Schaltzeitpunkte. Die Bindungen werden an den durch die Schrittweite gegebenen Zeiten auf Geschwindigkeitsebene erfüllt. Eine bis zu diesem Zeitpunkt bereits vorhandene Verletzung der Nebenbedingung bleibt bestehen. Bei zunehmend kleineren Schrittweiten kann eine potenzielle Verletzung theoretisch beliebig klein gemacht werden. In der Praxis können allerdings die Schrittweiten nicht beliebig klein gewählt werden, da sich bei immer kleineren Schrittweiten Rundungsfehler zunehmend störend auswirken. Im Allgemeinen kann nicht ausgeschlossen werden, dass zwischen zwei aufeinander folgenden Zeitpunkten k t und k+1t zur Zeit t⋆ mit k t < t⋆ < k+1 t = h + k t eine Begrenzungsfunktion gemäß gni (q(t⋆ ), t⋆ ) < 0 negativ wird, obwohl sie dies an den beiden aufeinander folgenden Kontrollzeitpunkten k t und k+1 t nicht war. Diese Verletzung der Nebenbedingung wird nicht erkannt. Die Schrittweite muss also so klein gefordert werden, dass die Änderungen der Begrenzungsfunktionen hinreichend genau aufgelöst werden. In der
4.4. Anmerkung zu Regularisierungs- und Penaltyverfahren
75
Praxis wird die Schrittweite in den seltensten Fällen aber durch diese Forderung begrenzt sondern vielmehr durch die vergleichsweise geringe Konvergenzordnung des Verfahrens, sodass zur genauen Auflösung der Dynamik eine weitaus geringere Schrittweite erforderlich sein dürfte, als dies die Auflösung der Begrenzungsfunktionen erfordert. Zum prinzipiellen Problem einer zu groben Auflösung der Kontrollzeitpunkte bei gleichzeitig davon unabhängigen Schrittweiten der numerischen Integration vgl. z.B. [103]. 3. Die Konvergenz von Zeitschrittverfahren im Zusammenhang mit unstetigen Geschwindigkeitsverläufen wurde in [69, 96] behandelt. Im Gegensatz zu gewöhnlichen (stetigen) Differenzialgleichungen werden bei Maßdifferenzialeinschließungen Unstetigkeiten in den Geschwindigkeiten im Sinne von Funktionen mit beschränkter Variation zugelassen, vgl. C.3. Die diskutierten Zeitschrittverfahren können somit zu jedem Zeitpunkt Geschwindigkeitssprünge erzeugen, falls dies zur Erfüllung der Einschließungen erforderlich ist. Im Allgemeinen ist auch dann mit Unstetigkeiten in den Geschwindigkeiten zu rechnen, wenn keine Stöße auftreten, also auch dann, wenn keine neuen Bindungen hinzutreten. Die Verfahren können damit auch solche Problemstellen umgehen, bei denen ereignisgesteuerte Verfahren in Singularitäten geraten, wie z.B. beim Problem von Painlevé, vgl. Abschnitt 4.2.1. 4. Die numerische Effizienz eines Verfahrens wird maßgeblich durch seine Konvergenzordnung bestimmt. Das verwendete Zeitschrittverfahren hat lediglich eine Konvergenzordnung von 1 und erfordert daher sehr kleine Schrittweiten. Allerdings wurde in [51] gezeigt, dass explizite Verfahren in der Nähe von Unstetigkeiten der rechten Seite generell nur eine Konvergenzordnung von 1 aufweisen. Wird also alternativ zu den Zeitschrittverfahren ein auf Regularisierung basierendes Verfahren verwendet, dann ist bei sehr vielen Kontaktstellen zu erwarten, dass die Lösung des regularisierten Problems mittels expliziten Verfahren ebenso aufwändig wie bei Zeitschrittverfahren ist. Implizite Verfahren können bei unstetiger rechter Seite zu Problemen führen, falls die Unstetigkeit nicht sinnvoll ausgeglättet werden kann (und damit keine Unstetigkeit mehr wäre), worauf z.B. in [68] hingewiesen wird. Üblicherweise wird dieser Schwierigkeit wieder mit ereignisgesteuerten Methoden begegnet. Die Integration wird bei einer Unstetigkeitsstelle unterbrochen und nach der Unstetigkeit erneut gestartet. In den einzelnen Integrationsphasen sieht der Löser von der Unstetigkeit nichts. Nachteilig dabei ist, dass zum einen die Bestimmung der Ereignisse sehr zeitaufwändig sein kann, wenn sehr viele potenziellen Unstetigkeiten (z.B. sehr viele Kontaktstellen) vorhanden sind. Darüber hinaus arbeiten implizite Mehrschrittverfahren in den ersten Schritten nach dem Start als explizite Verfahren mit niedriger Konvergenzordnung, bis alle Anfangswerte für implizite Mehrschrittverfahren vorliegen [40]. Das bedeutet, dass bei Systemen, die ständig im Zustandswechsel begriffen sind, die Effizienzgewinne gegenüber dem vorgestellten Zeitschrittverfahren gering ausfallen, wenn überhaupt welche vorhanden sind. 5. Die mittels der Optimierungsaufgabe (4.95) gewonnene Beschleunigung kann in einer gewöhnlichen numerischen Integrationsroutine gemäß (4.59) verwendet wer-
76
Kapitel 4. Zur Numerik von Maßdifferenzialeinschließungen den. Aufgrund des in jedem Zeitschritt zu lösenden Optimierungsproblems resultieren wieder gewöhnliche Differenzialgleichungen mit unstetigen rechten Seiten, was wiederum bei der Wahl der Integrationsverfahren zu beachten ist, vgl. Ziffer 4 dieser Schlussbemerkungen.
77
Kapitel 5 Anwendungsbeispiele 5.1
Elementare Starrkörpersysteme
Es wird sich zeigen, dass die in den Kaptieln 3 und 4 vorgestellten Verfahren prinzipiell auch für Starrkörpersysteme mit Punktkontakt geeignet sind. Allerdings können aufgrund der Idealvorstellung einer perfekt starren Bindung insbesondere beim Starrkörper Inkonsistenzen auftreten, die nicht das intuitiv erwartete Ergebnis reproduzieren. Anhand spezieller Anordnungen werden grundsätzliche Möglichkeiten diskutiert, wie solchen Inkonsitenzen mit gezielten Erweiterungen der Modellbildung begegnet werden kann.
5.1.1
Mehrfachstöße am Beispiel aneinandergereihter Massenpunkte
Ein klassisches Beispiel für Mehrfachstöße ist der Stoß einer Kugel auf zwei oder mehrere einander berührende Kugeln in einer Anordnung wie z.B. in Abbildung 5.1. Solche Anordnungen sind in der Literatur bereits ausgiebig diskutiert, z.B. [13, 42, 50]. Hier wird nur knapp darauf eingegangen, welche Inkonsistenzen bei der Behandlung solcher Probleme mit den vorgestellten Methoden auftreten können. Modell Die Modellparameter für die Maßdifferenzialeinschließung (3.93) sind: Massenmatrix m1 0 0 M = 0 m2 0 , 0 0 m3
(5.1)
generalisierte Lagen
(5.2)
q = (q1 q2 q2 )⊺, die über +
q(t) =
−
q(t0 ) +
Z
t
t0
dv
(5.3)
78
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.1: Mehrfachstöße bei Massenpunkten. aus den generalisierten Geschwindigkeiten v mit dem Maß dv hervorgehen. Die Undurchdringlichkeitsbedingungen sind hier offenbar ⊺ −1 g1 (q) = q2 − q1 − r = 1 q − r ≥ 0, (5.4) 0 | {z }
J⊺N
1
⊺ 0 g2 (q) = q3 − q2 − r = −1 q − r ≥ 0, 1 | {z }
(5.5)
J⊺N
2
sodass
AN3 = {i = 1, . . . , m| gi ≤ 0}
(5.6)
die Indizes der auf Lageebene aktiven Bindungen enthält und C3 = {q ∈ Rn | gi(q) ≥ 0, i = 1, 2} , C2 := {v ∈ Rn | g˙ i (v, q) ≥ 0, i ∈ AN3 }
(5.7) (5.8)
hier den zulässigen Bewegungsraum gemäß (3.10) auf Lage- bzw. Geschwindigkeitsebene darstellen. Zu Beginn der Bewegung ist mit g1 > 0 der erste Kontakt offen, der zweite (g2 = 0) geschlossen und die Anfangsgeschwindigkeit mit − v(0) = (v10 0 0) gegeben. In diesem Beispiel ist nur der Geschwindigkeitssprung von Interesse, der beim Starrkörpermodell eintritt, wenn beide Bindungen aktiv werden, also wenn g1 = g2 = 0 gilt. Hier zeigt sich, ob das abstrakte Gesetz, das den Übergang beschreibt, realitätsnahe Ergebnisse liefert. Als realitätsnah dürfte eine Lösung eingestuft werden, bei der unmittelbar nach dem Stoß die Masse 1 in Kontakt mit Masse 2 bleibt und beide jeweils ruhen und sich Masse 3 mit der ursprünglichen Geschwindigkeit von Masse 1 weiter bewegt. Ein solches Bewegungsmuster erhält man in sehr guter Näherung, wenn man den Kontakt mit lokalen Nachgiebigkeiten (ohne Dämpfung) gemäß (4.82) modelliert. Das Stoßgesetz (3.96), das im hier vorliegenden Fall ohne Reibung und ohne explizite Zeitabhängigkeit im Sinne Newtons gemäß (3.98) interpretiert werden kann,
79
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
Abbildung 5.2: (Beispiel 5.1) Geschwindigkeiten nach Stoß, Stoßzahlen εi = 1. kann solche Lösungen prinzipiell nicht liefern. Schreibt man nämlich die zu erfüllende Komplemetaritätsbedingung in (3.98) zeilenweise, d.h. 0 ≤ J⊺Ni ( + v + εi − v) ⊥ λi ≥ 0,
(5.9)
so erkennt man, dass ein Öffnen (J⊺Ni + v > 0) eines bereits vor dem Stoß geschlossenen Kontakts (J⊺Ni − v = 0) nur möglich ist, wenn kein Impuls übertragen wird, also λi = 0 gilt. Das bedeutet, dass bereits geschlossene Kontakte nur durch äußere Wirkungen geöffnet werden können, nicht aber durch am selben Kontakt übertragene impulsive Kontaktkräfte. Beispiel 5.1 Parameter: m1 = m2 = m3 = 1kg, v01 = 1 ms Abbildung 5.2 zeigt den Geschwindigkeitsverlauf über den Stoßzeitpunkt hinweg für Stoßzahlen ε1 = ε2 = 0. Die Massen 2 und 3 trennen sich nicht, wie theoretisch vom Stoßgesetz gefordert, sondern bewegen sich jeweils mit der Geschwindigkeit v2 = v3 = 23 v01 . Damit der Impuls erhalten bleibt – diese Größe wird durch das Stoßgesetz konsistent behandelt – bewegt sich Masse 1 mit der Geschwindigkeit v1 = − 13 v01 . Bei einem plastischen Stoß (ε1 = ε2 = 1) bewegen sich nach dem Stoß alle Massen mit der gleichen Geschwindigkeit v1 = v2 = v3 = 13 v01 , vgl. Abbildung 5.3.
80
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.3: (Beispiel 5.1) Geschwindigkeiten nach Stoß, Stoßzahlen εi = 0. Eine Möglichkeit, das Trennen bestehender Bindungen beim Stoß zu gestatten, liefert grundsätzlich ein Stoßgesetz in Anlehnung an Poisson [38]. Der Stoß, der immer noch zu einem einzigen Zeitpunkt stattfindet, wird gedanklich in eine Kompressionsphase und eine Restitutionsphase aufgeteilt. Kompressionsphase: Diese wird als plastischer Newtonscher Stoß (ε = 0) angenommen, vgl. (3.94) : −M(vK − − v) ∈ NC2 (vK ).
(5.10)
MvK = M − v + JN λNK , 0 ≤ J⊺N vK ⊥ λNK ≥ 0.
(5.11)
−M( + v − vK ) + JN Diag(e1 , . . . , em )λNK ∈ NC2 ( + v).
(5.12)
Dies ist die Einschließung (3.94) für den Sonderfall, dass keine Reibung herrscht und ε = 0 gilt. Die gleichwertige Komplementaritätsformulierung ist nach (3.98):
Nach Lösung dieses MLCP liegen die generalisierten Geschwindigkeiten vK am Ende der Kompressionsphase sowie die an den Kontakten übertragenen Impulse λNK vor. Restitutionsphase: Der Idee von Poisson folgend wird in dieser Phase angenommen, dass jeweils ein bestimmter Bruchteil 0 ≤ ei ≤ 1 der in der Kompressionsphase übertragenen Impulse wieder dafür sorgt, dass die Kontakte möglicherweise geöffnet werden:
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
81
Die Kegeleinschließung stellt sicher, dass die generalisierten Geschwindigkeiten nach dem Stoß tatsächlich kinematisch zulässig bleiben und die Bindungen nicht verletzen, dass also + v ∈ C2 gilt. Falls nämlich die generalisierten Geschwindigkeiten nicht auf dem Rand von C2 liegen, sondern im Inneren, dann ist NC2 = {0}. Die Komplementaritätsformulierung mit der Normalkegeldarstellung A.58 liefert dann das MLCP M + v = MvK + JN (Diag(e1 , . . . , em )λNK + λ+ ) , 0 ≤ J⊺N + v ⊥ λ+ ≥ 0,
(5.13)
dessen Lösungen + v und λ+ die gesuchten Geschwindigkeiten nach dem Stoß darstellen bzw. die zusätzlichen Impulse, die erforderlich sind, um ein Eindringen zu verhindern. Allerdings lässt das Poissonsche Stoßgesetz nur unter bestimmten Umständen ein Trennen bestehender Bindungen zu. Es lässt sich zeigen, dass für paarweise gleiche Bruchteile der übertragenen Impulse e = e1 = . . . = em das Poissonsche Stoßgesetz mit dem Newtonschen Stoßgesetz bei ε1 = . . . = εm = e identisch ist, vgl. [2]. Argumentiert man, dass das Verhalten im Kontakt durch eine vorher festgelegte Zahl ei bzw. ε1 im Sinne eines Materialparameters bestimmt wird, unabhängig vom Zustand des Kontakts, und man unterstellt aus Symmetriegründen für jeden Kontakt denselben Parameter ei , dann liefert auch das Poissonsche Stoßgesetz nicht das erhoffte Trennen der bestehenden zweiten Bindung im Beispiel 5.1. Beispiel 5.2 Es gelten dieselben Parameter wie in Beispiel 5.1. Betrachtet werden hier die Relativgeschwindigkeiten + v2 − + v1 und + v3 − + v2 in den Kontakten 1 bzw. 2 in Abhängigkeit von den jeweiligen Impulsbruchteilen e1 und e2 . Sie sind in den Abbildungen 5.4 bzw. 5.5 als Schaubilder dargestellt. Man erkennt, dass es keine Kombination der Bruchteile e1 und e2 gibt, die das Stoßergebnis zur Folge hätten, dass die Massen 1 und 2 unmittelbar nach dem Stoß in Ruhe sind und Masse 3 sich mit v3 = v01 fortbewegt. In diesem Fall müsste + v3 − + v2 = v10 gelten, was offensichtlich nie eintritt. Die Schlussfolgerung an dieser Stelle kann somit nur sein, dass keines der oben angegebenen Stoßgesetze in der Lage ist, auch nur elementare Stoßprozesse für alle Fälle korrekt wiederzugeben. Eine Ursache dafür ist in der Grundannahme zu suchen, dass bei einem Mehrfachstoß alle Kontakte zum gleichen Zeitpunkt den berechneten Impuls übertragen, was sofort aus der Starrkörperannahme hervorgeht. Gerade beim Mehrfachstoß scheint es plausibel, dass es eine gewisse zeitliche Auflösung der Impulsspitzen in den einzelnen Kontakten gibt. Eine solche Auflösung kann letztlich durch kein Starrkörpermodell abgebildet werden. Diese Schwachstelle kann durch eine Betrachtung einer Stoßsequenz abgemildert werden, wozu im Folgenden ein Verfahren vorgestellt wird.
5.1.2
Algorithmus für ein Stoßgesetz mit zwei Zeitskalen
Die Grundidee eines sequenziellen Stoßes ist einfach. Tritt auf der gewöhnlichen Zeitskala mindestens eine neue Bindung hinzu, wird bezüglich einer schnellen Zeitskala eine plausible Stoßabfolge entschieden. Die schnelle Zeit wird als „unendlich schnell“ betrachtet, d.h. alle impulsiven Kräfte wirken in einem unendlich kurzen Intervall, aber dennoch in einer gewissen Reihenfolge.
82
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
1 0.9 0.8 0.7
v2−v1 / (m/s)
0.6 0.5 0.4 0.3 0.2 1
0.1 0.9 0.8
0 0.7
1 0.6
0.9 0.8
0.5
0.7
0.4
0.6 0.5
0.3
0.4
0.2
0.3 0.2
0.1
0.1 0
0
e
1
e
2
Abbildung 5.4: (Beispiel 5.2) Relativgeschwindigkeit
+
v2 − + v1 bei Stoß nach Poisson.
In das Zeitschrittverfahren aus Kapitel 4 wird vor der Lösung der zeitdiskreten Einschließung (4.5) im k-ten Zeitschritt zunächst eine plausible Reihenfolge der Stöße bestimmt. Das Verfahren wird hier nur für reibungsfreie Probleme formuliert. Die formale Verallgemeinerung ist problemlos. Dazu wird die Indexmenge Aseq (v, q, t) :=
i ∈ AN3 | vNi (v, q, t) = J⊺Ni v + aNi < −tol ≤ 0
(5.14)
eingeführt, welche nur die Kontakte sammelt, die tatsächlich stoßen, sich also mit endlicher Geschwindigkeit annähern. Aus numerischen Gründen kann es zweckmäßig sein, eine kleine Toleranz tol ≪ 1 zuzulassen, da andernfalls auch tatsächlich bestehende Bindungen, für die theoretisch vNi (v, q, t) = 0 gilt, aufgrund von Rundungsfehlern in Aseq aufgenommen werden könnten. Schema 5.3 Algorithmisches Vorgehen zur Komplementaritätsformulierung eines sequenziellen Stoßgesetzes: 1. Zeitschritt schnelle Zeitskala: l = 1,
83
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
0.5 0.45 0.4 0.35
v3−v2 / (m/s)
0.3 0.25 0.2 0.15 0.1 1
0.05 0.9 0 1
0.8 0.7 0.6
0.9
0.8
0.5
0.7
0.6
0.4 0.5
0.4
0.3 0.3
0.2 0.2
0.1
0.1
0
0
e2
Abbildung 5.5: (Beispiel 5.2) Relativgeschwindigkeit
+
e1
v3 − + v1 bei Stoß nach Poisson.
Zeitschritt gewöhnliche Zeitskala k: l
u := k v, l J := . . . JNi . . . ; i ∈ Aseq ( k v, k q, k t) ,
M :=
k
M.
2. Iteration über l: Löse Stoßproblem lediglich mit den stoßenden Kontakten: M l+1 u = M l u + l J l+1 λ, ⊺ 0 ≤ l JN l+1 u + Diag(ε) l JN l u + (I + Diag(ε)) l aN ⊥ l+1 λ ≥ 0. Das bedeutet, dass bereits geschlossene Kontakte mit gi = 0 aber vNi ≥ −tol nicht am Stoß beteiligt sind. Genau hier findet eine Entscheidung über die Reihenfolge der Stöße statt. Auf der schnellen Zeitskala finden die nächsten Stöße bei gleich bleibender Lage und Zeit nun mit den Kontakten statt, die nach Lösung des MCP eindringen: i) Falls Aseq ( l+1 u, k q, k t) 6= ∅ UND l < lmax :
84
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
l+1
J := . . . JNi . . . ; i ∈ Aseq ( l+1 u, k q, k t) , l → l + 1, weitere Iteration: gehe zu 2.)
ii) sonst: Abbruch der Iteration über l, gehe zu 3.). 3.
v := l u, weiter auf langsamer Zeitskala mit (4.5) und Zeitschritt k → k + 1 wie in Abschnitt 4.1. k
Es ist theoretisch möglich, dass die Iteration in 2.) niemals abbrechen kann, vgl. Beispiel 5.5. Daher wird die Anzahl der Iterationen durch einen willkürlichen Parameter lmax nach oben begrenzt. Dieses Stoßgesetz hat heuristischen Charakter, nachprüfbar realitätsnahe Lösungen dürfen ohnehin nur für einfache Systeme erwartet werden. Da aber das Öffnen von bestehenden Bindungen eine elementare Beobachtung bei Stoßvorgängen ist, sollte wenigstens ein nicht-glattes konstitutives Gesetz zur Verfügung stehen, das näherungsweise solche Situationen beschreibt. Beispiel 5.4 Es gelten dieselben Parameter wie in Beispiel 5.1. Im vorliegenden Beispiel wird nun aber das Stoßgesetz gemäß Schema 5.3 verwendet. Abbildung 5.6 zeigt die Geschwindigkeiten nach dem Stoß bei Stoßzahl εi = 1 für beide Kontakte. Masse 2 bleibt immer in Ruhe, Masse 3 bewegt sich nach dem Stoß als einzige der Massen weiter mit v3 = v10 . Abbildung 5.7 zeigt die Geschwindigkeiten nach dem Stoß bei Stoßzahl εi = 0.5 für beide Kontakte. Man erkennt deutlich eine Verteilung der Geschwindigkeiten, die letztlich zu einem allmählichen Auseinanderdriften der Massen führt, s. Abbildung 5.8. Beispiel 5.5 Die in Abbildung 5.9 skizzierte Anordnung lässt keine endliche Stoßsequenz zu. Die dicht anliegenden Scheiben können sich aufgrund des inneren bzw. äußeren Führungsrings nur auf einer Kreisbahn bewegen. Die zentral anstoßende Scheibe mit der Geschwindigkeit ~v0 löst eine Stoßsequenz aus, die ohne Abbruch im Kreis läuft.
5.1.3
Validierung des Stoßgesetzes
In [13] wurden Messungen zu Mehrfachstößen durchgeführt. Dabei wurden aneinandergereihte Kugeln in einer Anordnung untersucht, wie sie in Abbildung 5.1 dargestellt ist. Es standen vier unterschiedliche Kugeltypen A, B, C, D zur Verfügung, die sich in Masse und wechselseitiger Stoßzahl unterschieden, vgl. Tabelle 5.1, S. 86. Die Stoßzahlen wurden experimentell anhand eines Einfachstoßes zweier Kugeln bestimmt. In einer weiteren experimentellen Anordnung wurden die Kugeln bifilar aneinandergereiht aufgehängt, sodass eine Kugel jeweils ein mathematisches Pendel darstellt. Die Kugeln waren so angeordnet, dass sich in der Ruhelage alle benachbarten Kugeln berührten und zudem alle Fäden vertikal ausgerichtet waren. Für das Mehrfachstoßexperiment wurde der ersten Kugel durch entsprechendes Auslenken des ersten Pendels Anfangsgeschwindigkeiten zwischen v10 = 0.5m/s bis v10 = 2m/s erteilt. Durch eine Messung
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
85
Abbildung 5.6: (Beispiel 5.4) Geschwindigkeiten nach Stoß, v2 ≡ 0, Stoßzahlen εi = 1. mit Hilfe einer Hochgeschwindigkeitskamera wurden die Schwerpunktsgeschwindigkeiten der Kugeln unmittelbar nach dem Stoß bestimmt. In mehreren Experimenten wurden hinsichtlich Anzahl und Kugeltyp unterschiedliche Kombinationen untersucht. In der vorliegenden Arbeit wurden alle in [13] veröffentlichen Ergebnisse mit dem Stoßgesetz aus Schema 5.3 rechnerisch überprüft und es ist festzuhalten, dass alle Ergebnisse der Experimente die theoretischen Vorhersagen gut bestätigen, vgl. Abbildungen 5.10– 5.13.
86
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.7: (Beispiel 5.4) Geschwindigkeiten nach Stoß, Stoßzahlen εi = 0.5.
Kugeltyp A B C D
Masse/ kg 0.045 0.053 0.053 0.166
A 0.97
symm.
B 0.53 0.36
C 0.31 0.28 0.27
D 0.94 0.38 0.3 0.85
Tabelle 5.1: Massen und wechselseitige Stoßzahlen für unterschiedliche Kugeltypen aus Experiment, Quelle [13].
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
87
Abbildung 5.8: (Beispiel 5.4) Lagen, Stoßzahlen εi = 0.5
Abbildung 5.9: (Beispiel 5.5) Ein System mit nach Schema 5.3 nicht abbrechender Stoßfolge.
88
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.10: (Abschnitt 5.1.3) Geschwindigkeiten nach Stoß, Messergebnisse (Quelle [13]) streuen zwischen +-Zeichen.
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
89
Abbildung 5.11: (Abschnitt 5.1.3) Geschwindigkeiten nach Stoß, Messergebnisse (Quelle [13]) streuen zwischen +-Zeichen.
90
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.12: (Abschnitt 5.1.3) Geschwindigkeiten nach Stoß, Messergebnisse (Quelle [13]) streuen zwischen +-Zeichen.
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
91
Abbildung 5.13: (Abschnitt 5.1.3) Geschwindigkeiten nach Stoß, Messergebnisse (Quelle [13]) streuen zwischen +-Zeichen.
92
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.14: Eingekeilte Scheibe.
5.1.4
Eingekeilte Scheibe
Die in Kapitel 3 vorgestellte Formulierung basiert auf der Annahme einer ideal starren Bindung. Selbst bei nicht stoßartigen Bewegungen führt diese Idealvorstellung zu offensichtlichen Inkonsistenzen. Eine wesentliche Inkonsistenz ist, dass die Lösungen für die Maßdifferenzialeinschließungen im Allgemeinen nicht eindeutig sind. Das bedeutet, dass das reale mechanische Verhalten durch weitere Einflüsse bestimmt wird, die in der idealen Modellbildung prinzipiell nicht berücksichtigt werden können. Ein klassisches Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Problem der eingekeilten Scheibe, das z.B. in der Partikeldynamik als Benchmarkproblem dient, vgl. [66]. Hier im Beispiel liegt eine Anordnung wie in Abbildung 5.14 skizziert vor. Die Scheibe berührt beide Schenkel des Keils, es sind somit zunächst beide Bindungen aktiv. An beiden Kontakten liegt jeweils derselbe Reibkoeffizient µ vor. Die Scheibe wird mit einer äußeren Kraft belastet, die bezüglich des angegebenen 1-2-Koordinatensystems die Koordinatenmatrix fa hat. Darüber hinaus wirkt auf die Scheibe ein äußeres Moment M in positiver Drehrichtung. Es ist offensichtlich, dass für den Haftfall keine eindeutige Zwangskraftbelastung angegeben werden kann, da vier unbekannte Zwangskräfte (pro Kontaktstelle eine Normal- und eine Tangentialkraft), jedoch nur drei Gleichgewichtsbedingungen vorliegen. Dieser offensichtliche Fall der Nicht-Eindeutigkeit ist jedoch nicht weiter von Interesse. Vielmehr steht die Frage im Vordergrund, ob eindeutig entschieden werden kann, ob eine ruhende Scheibe einer gegebenen Belastung standhält, oder ob haftende Kontakte losbrechen. Im letzteren Fall sind nicht verschwindende Beschleunigungen notwendig, um das dynamische Kräftegleichgewicht, dann bei gleitenden Kontakten, zu erfüllen. Dieses Problem wurde in [66] diskutiert und anhand zahlreicher Fallunterscheidungen analytisch geklärt. Hier werden nur die wesentlichen Resultate wiedergegeben: Es wurde der Fall fa = −f (cos β sin β)⊺, f > 0, β = α/2 untersucht, also eine bezüglich der äußeren Kräfte symmetrische Anordnung, bei der
93
5.1. Elementare Starrkörpersysteme die Scheibe von der äußeren Kraft zentrisch in den Keil gedrückt wird. Mit φ = (π − α)/2
wurde gezeigt, dass nur für vergleichsweise spitze Keile, also gemäß Abbildung 5.14 für stumpfe Winkel φ mit tan φ >
1 µ
(5.15)
und große Momente mit |M| > M0 := rf
µ cos φ(1 + µ2 )
(5.16)
immer sowohl Lösungen existieren, bei denen das System in Ruhe bleibt, wie auch Lösungen, bei denen die Scheibe in Rotation versetzt wird, also Gleiten in den Kontakten vorliegt. Jede andere Keilwinkelkonfiguration mit tan φ ≤ µ1 lässt eine eindeutige Entscheidung zu, ob Haften vorliegen muss (mit nicht eindeutigen Zwangskräften) oder ob Gleiten eintritt. Es bleibt an dieser Stelle zu untersuchen, welche Entscheidung diesbezüglich die in Kapitel 4 vorgestellten Methoden treffen. Modell Die Modellparameter Massenmatrix m 0 M= 0 m 0 0
für die Maßdifferenzialeinschließung (3.93) sind: 0 0 , JS
(5.17)
generalisierte Lagen
(5.18)
q = (q1 q2 q2 )⊺, generalisierte Kräfte
(5.19)
f = (−f cos β, −f sin β, M)⊺. Die Undurchdringlichkeitsbedingungen sind hier ⊺ 0 g1 (q) = q2 − r = 1 q − r ≥ 0, 0 | {z }
(5.20)
J⊺N
1
⊺ sin α g2 (q) = q1 sin α − q2 cos α − r = − cos α q − r ≥ 0. 0 | {z } J⊺N
2
(5.21)
94
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Das lokale, tangentiale Koordinatensystem bilden die Vektoren ~t1 = ~a1 , ~t2 = ~a3 für Kontakt 1 bzw. ~t1 = cos α ~a1 + sin α ~a2 , ~t2 = ~a3 . Tangentiales Haften wird bezüglich dieser Systeme auf Geschwindigkeitsebene durch ⊺ 1 0 ! vT1 = 0 0 v = 0, (5.22) −r 0 | {z } vT2
J⊺T
1
⊺ cos α 0 ! = sin α 0 v = 0 r 0 | {z }
(5.23)
J⊺T
2
erzwungen. Über diese Beziehungen können entsprechend die Matrizen JTi ermittelt werden. Man beachte, dass die Reibkraft bei diesem ebenen Problem stets dieselbe Richtung hat also ein linienförmiger Reibkontakt vorliegt (da die aus Tangential- und Normalkraft resultierende Kontaktkraft stets in einer Ebene liegt, spricht man auch von zweidimensionalen Kontaktproblemen). Die polyedrische Näherung der Reibscheibe aus Abschnitt 3.1.5 ist in diesem Fall exakt, da die Reibscheibe zum Intervall [−µλNi µλNi ] zusammenfällt. Gemäß (3.61) wird dann die Reibscheibe für den i-ten Kontakt jeweils alleine aus den Vektoren mit den Koordinatenmatrizen ⊺ 1, 0 , e1i = (5.24) ⊺ −1, 0 e2i = (5.25)
aufgespannt. Damit liegen alle Parameter für eine numerische Simulation vor. Numerische Untersuchungen des Losbrechverhaltens der ruhenden Scheibe mit den Lösungsmethoden aus Kapitel 4, die mit einem Moment |M| > M0 gemäß (5.16) belastet wird, ergaben ein einfaches Ergebnis: Es konnte keine Parameterkombination gefunden werden, bei der die Scheibe in Bewegung versetzt wird. Dieses Verhalten ist alleine durch den verwendeten Lösungsalgorithmus für die anfallenden Komplementaritätsprobleme bedingt. Dabei wurde lediglich das Übergangsverhalten von Haften ins potenzielle Gleiten untersucht, was bei einer verschwindenden Zeitschrittweite möglich ist. Bei endlichen Schrittweiten hängt das Losbrechverhalten schlimmstenfalls sogar von der Schrittweite ab und lässt sich somit nicht sicher vorhersagen. Lokale Nachgiebigkeit Wie sich zeigen wird, kann die Situation störender Mehrdeutigkeiten der Lösungen entschärft werden, wenn lokale Nachgiebigkeiten in Normalenrichtung zugelassen werden. Dies entspricht dem Vorgehen gemäß den Regularisierungsansätzen aus Abschnitt 4.4. Das Problem der Nicht-Eindeutigkeit des Beschleunigungszustandes bei der eingekeilten Scheibe lässt sich auf die idealisierte Starrheit der Normalbindung zurückführen. Führt man nämlich eine Regularisierung wie in Abschnitt 4.4.2 ein, bei der lediglich die Kontaktkraft in Normalenrichtung regularisiert wird, die tangentiale Wirkung aber nach wie vor nicht-glatt formuliert wird, also nach einem der Gesetze in Definition 3.3, dann ist die Eindeutigkeit sofort wieder gesichert. Dies wurde aus der Eindeutigkeit der Lösung des gleichwertigen Optimierungsproblems (4.95) gefolgert.
95
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
Darüber hinaus ermöglicht die Formulierung mittels lokaler Nachgiebigkeit ein Bewegungsverhalten, das durch ideale starre Bindungen in keiner Weise abgebildet werden kann. Dies wird im Folgenden kurz diskutiert. Unterstellt man, dass die Scheibe gleitet und beide Bindungen aktiv sind, so können die Bewegungsgleichungen anhand des Freischnitts in Abbildung 5.14b ermittelt werden. Dort wurde eine Drehbewegung in positive Richtung angenommen. Die Kontaktkraft in Normalenrichtung wird gemäß des vereinfachten Ansatzes (4.80) berechnet. Hier im Beispiel linear-elastisch und ohne Dämpfung, sodass bei Kontakt (5.26) (5.27)
λN1 = −c1 (q2 − r), λN2 = −c2 (q1 sin α − q2 cos α − r)
gilt. Unter Berücksichtigung der Gleitreibungskräfte und unter der Voraussetzung, dass der Kontakt bestehen bleibt, erhält man mit den Kontaktsteifigkeiten c = c1 = c2 die Bewegungsgleichung (5.28)
M¨ q + Kq = f + fc , wobei
c sin α (1 + µ cos α)
K = c sin α (− cos α + µ sin α) −rcµ sin (a)
−c (sin α cos (a) + µ + µ cos2 α) 0 −c (−1 − cos α + µ sin α cos α) rcµ (−1 + cos α)
0 0
(5.29)
gilt und fc verbleibende konstante Anteile enthält. Das aus (5.28) hervorgehende homogene System führt zum Eigenwertproblem b = 0, Ms2 + K q (5.30)
das neben dem Eigenwert s0 = 0, der von der ungefesselten Starrkörperdrehung – also der Nullspalte in K – stammt, noch zwei weitere Eigenwerte der Gestalt p (5.31) s21/1 = ω 2 (a1/2 (µ, α) + b(µ, α))
besitzt, wobei ω 2 := mc aus einer typischen, hohen Schwingkreisfrequenz der Regularisierung hervorgeht. Die dimensionslose Diskriminantenfunktion b(µ, α) – sie ist für beide Eigenwerte identisch – hängt nur von der Reibzahl und vom Keilwinkel ab und ist damit unabhängig von der Wahl der Regularisierungssteifigkeit. Über Stabilität des linearen Modells entscheidet der Realteil Re(s). Ist er positiv, dann sind aufklingende Schwingungen √ zu erwarten. Ein positiver bzw. ein negativer Realteil für einen Eigenwert s = ± s2 liegen vor, sobald der Imaginärteil Im(s2 ) nicht verschwindet. Damit gibt die Nullniveaulinie der Diskriminantenfunktion die Stabilitätsgrenze an, vgl. Abbildung 5.15. Ein typischer Verlauf der Real- bzw. Imaginärteile der Eigenwerte ist in Abbildung 5.16 dargestellt. Das Verhalten der Eigenwerte bei zunehmender Reibzahl entspricht einer Charakteristik, die auch unter dem Namen Modenkopplung bekannt ist, vgl. [46]: Sobald Instabilität auftritt, ein Realteil also positiv wird, sind die Imaginärteile der Eigenwerte dem Betrag nach identisch.
96
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.15: Stabilitätsgrenze gegeben durch den impliziten Grafen b(µ, α) = 0 der Diskriminantenfunktion in (5.31). Die Modellierung des Instabilitätsphänomens erfolgt beim vorliegenden Beispiel in sehr vereinfachender Weise am linearen Modell. Tritt eine Instabilität auf, so ist zu erwarten, dass sich bei aufklingenden Schwingungen der Kontakt wieder löst, sodass die äußere Kraft fa die Scheibe wieder zurück in den Keil drücken kann. Dies wird im folgenden Beispiel untersucht. Beispiel 5.6 Es gelten folgende Modellparameter für alle Simulationen: Masse der Scheibe m = 1kg, Radius der Scheibe r = 0.1m, Trägheitsmoment JS = 12 mr 2 , Keilwinkel α = π4 , Kraftwinkel β = α2 , Regularisierungsparameter (für die Simulation wurde eine schwache Dämpfung gewählt) c = c1 = c2 = 105 N , d1 = d2 = m kg m 0.5 s , Erdbeschleunigung g = 9.81 s2 . Das Antriebsmoment M < 0 wurde so gewählt, dass sich die Scheibe permanent dreht. Für den angegebenen Keilwinkel erhält man eine kritische Reibzahl von exakt µ = 1. Abbildung 5.17 zeigt das Verhalten des nicht-linearen Systems bei einseitigem Kontakt. Dabei liegt eine bezüglich des linearen Modells zu stabilem Verhalten führende Reibzahl µ = 0.95 bei unterschiedlicher Belastung f = mg in a) bzw. f = 10mg in b) vor. Man erkennt, dass anfängliche Schwingungen, die auf die künstliche Elastizität aufgrund der Regularisierung zurückzuführen sind, bei schwacher Dämpfung abklingen und sich bezüglich der translatorischen Auslenkungen ein stationärer Zustand einstellt. Eine
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
97
Abbildung 5.16: Verlauf der Real- bzw. Imaginärteile der Eigenwerte für α = π/4. Vergrößerung der Kraft führt zu einer entsprechend größeren Ruheauslenkung. Das überkritische Verhalten für eine Reibzahl µ = 1.05 zeigt Abbildung 5.18. Es ist zu erkennen, dass das bei bestehendem Kontakt instabile Verhalten zu einem Aufklingen der Schwingung führt. Die Schwingweiten werden aber so groß, dass der Kontakt sich löst (q2 > 0) und die Anpresskraft den Kontakt wieder schließt. Letztlich zeigt zumindest die numerische Simulation, dass sich im nicht-linearen Gesamtsystem ein stabiler Grenzzyklus einstellt, vgl. Abbildung 5.19, wobei sich die Kontakte andauernd öffnen und schließen. Es fällt auf, dass eine Vergrößerung der Anpresskraft zu einer Vergrößerung der Schwingweite führt. Diese Charakteristik ist beim zugrunde liegenden, linearen Ersatzsystem verständlich, da es ja zu instabilem Verhalten führt und somit anfachend wirkt. Absolut betrachtet zeigen die Verläufe der nicht-linearen Systeme mit stabilem bzw. instabilem linearen Ersatzsystem im Vergleich zum Scheibenradius nur kleine Unterschiede. Allerdings erfordert die numerische Simulation des überkritischen Systems bedingt durch das häufige Öffnen und Schließen der Kontakte einen erheblich größeren Rechenaufwand. Das Verhältnis der Simulationszeiten beträgt etwa 10.
98
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.17: (Beispiel 5.6) Verlauf der Vertikalauslenkung bei unterkritischer Reibzahl µ = 0.95 und bei Anpresskräften 1mg (Abbildung a) und 10mg (Abbildung b).
Abbildung 5.18: (Beispiel 5.6) Verlauf der Vertikalauslenkung bei überkritischer Reibzahl µ = 1.05 und bei Anpresskräften 1mg (Abbildung a) und 10mg (Abbildung b).
5.1. Elementare Starrkörpersysteme
99
Abbildung 5.19: (Beispiel 5.6) Phasenporträt und Orbit bei überkritischer Reibzahl µ = 1.05.
100
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
5.2
Elementare Systeme mit verteilten Parametern
5.2.1
Wippender Balken
Abbildung 5.20: Ungefesselter elastischer Balken mit einseitiger Begrenzung. Betrachtet wird ein ungefesselter, schlanker, elastischer Balken, wie in Abbildung 5.20 skizziert, der sich in der Ebene unter kleinen Verschiebungen nur vertikal bewegen kann. Die Bewegung wird durch einen starren, horizontalen Anschlag wie skizziert eingeschränkt. Die Parameter des Balkens sind: Länge L, Flächenmoment I, E-Modul E, Schubmodul G, Querschnittsfläche A, effektive Querschnittsfläche für Querschub AS (Querschubzahl κS ), Massendichte ρ. Die Querschubzahl wird gemäß der in [110] gegebenen Definition verwendet und entspricht damit dem Kehrwert des in [43] entsprechend verwendeten Schubkorrekturfaktors. Der starre Anschlag erstreckt sich ab der Stelle A von x = a bis zur Stelle B bei x = b. Die horizontale Verschiebung des Balkens an der Stelle x wird durch w(x, t) angegeben. Der Balken wird hier mittels finiter Timoshenko Balkenelemente räumlich diskretisiert, worauf nicht näher eingegangen wird. Es wird dazu auf z.B. [47] verwiesen. Entscheidend an dieser Stelle ist lediglich, dass nach der räumlichen Diskretisierung ein Verformungsansatz w(x, t) =
n X
Ni (x)qi (t) =: N⊺(x)q(t)
(5.32)
i=1
mit N := (N1 , . . . , Nn )⊺, q := (q1 , . . . , qn )⊺
(5.33) (5.34)
vorliegt. Ein entsprechender Ansatz liegt analog für die Querschnittsverdrehung vor, die bei der Balkentheorie nach Timoshenko als kinematisch von der Verschiebung w entkoppelte Verformungsgröße auftritt. Die generalisierten Koordinaten q beinhalten die Knotenverschiebungen und -verdrehungen. Je nach Polynomgrad p der Elementansatzfunktion (a0 + a1 x + . . . + ap xp ) für jeweils eine Verformungsgröße besitzt ein finites
5.2. Elementare Systeme mit verteilten Parametern
101
Balkenelement p + 1 Knoten. Nach der kinematischen Assemblierung der einzelnen Elemente folgt Z −ρ~r¨ + f~′ · δ~r dV = δq⊺ (−M¨ q − Dq˙ − Kq + fa ) , (5.35)
womit die entsprechenden Terme der Integrale (3.29) des Prinzips 3.5 feststehen. Dabei ist f~′ = f~el′ + f~d′ + f~a′ eine entsprechende Kraftdichte: Im vorliegenden Beispiel wirken innere elastische bzw. dissipative Kräfte mit Z f~el′ · δ~r dV = −δq⊺Kq, (5.36) Z ˙ f~d′ · δ~r dV = −δq⊺Dq. (5.37) Wie in der Strukturdynamik üblich, wird die Dämpfung über eine superponierte Dämpfungsmatrix (5.38)
D = α1 M + α2 K
mittels der Parameter α1 und α2 abgeschätzt – eine Annahme, die auch als Bequemlichkeitshypothese, vgl. [28, 87], oder Rayleigh-Dämpfung, vgl.[8], bezeichnet wird. Dabei stellt der erste Summand in (5.38) die Einflüsse äußerer dissipativer Kräfte dar. Der zweite Summand dient zur Berücksichtigung der Materialdämpfung, vgl. Anhang D. Als äußere Kraft verbleibt hier im Beispiel die Gewichtskraft im Schwerefeld (Erdbeschleunigung g) mit Z Z L ′ ⊺ ~ fa · δ~r dV = δq −N(x)ρAg d x =: δq⊺fa . (5.39) 0
Mit den Lösungen vi , Ω2i des Matrizeneigenwertproblems −Ω2i M + K vi = 0
(5.40)
kann (5.35) bezüglich der gemäß q = Vy, V := [v1 , . . . , vn′ ]
(5.41) (5.42)
transformierten generalisierten Koordinaten y angegeben werden. Falls n′ = n gilt, so hat man die Zahl der generalisierten Koordinaten nicht verändert, sondern lediglich auf eine gleichwertige Darstellung umgestellt. Häufig reduziert man die Anzahl n′ < n der generalisierten Koordinaten mit der Begründung, dass hochfrequente Schwingungsmoden nur schwach angeregt werden und diese oft vernachlässigt werden können. Dann stellt die Transformation natürlich eine weitere Näherung dar, die auch modale Reduktion genannt wird. Mit massenormalisierten Eigenvektoren vi , d.h. nach einer stets möglichen Normierung gemäß vi⊺Mvi = 1,
(5.43)
102
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
geht (5.35) in Z
−ρ~r¨ + f~′ · δ~r dV = δy⊺ −I¨ y − D′ y˙ − K′ y + V⊺fa | {z } =:f ′ a
(5.44)
über, wobei
K′ = Diag(Ω21 , . . . , Ω2n′ ), D′ = α1 I + α2 K′
(5.45) (5.46)
gilt. Die quadratischen Matrizen in (5.44) haben nun alle Diagonalgestalt. Nicht-glatte Modellbildung Es wird hier nur die reibungsfreie Bewegung untersucht. Die Gebietseinschränkung gemäß (3.9) fordert im vorliegenden Beispiel w(x, t) ≥ 0, ∀t, x ∈ [a, b].
(5.47)
Die räumliche Diskretisierung der Gebietseinschränkung durch Mittelung nach (3.11) liefert mit dem Verschiebungsansatz (5.32) gi (q, t) = =
Z
b
hi (x)N⊺(x) d x q
a J⊺Ni q,
(5.48) (5.49)
womit JNi :=
Rb a
hi (x)N(x) d x
(5.50)
definiert ist. Dabei sind die hi Gewichtsfunktionen der Mittelwertbildung, vgl. (3.11). Nach Prinzip 3.5 ist mit fN := −M¨ q − Dq˙ − Kq + fa
(5.51)
der glatte Teil der Bewegung durch ˙ δq⊺fN ≥ 0 ∀ δq ∈ TC2 (q) beschrieben. Mit Bemerkung 3.7ii gilt Z b X fN = hi (x)λNi N(x) d x a
(5.52)
(5.53)
i∈AN3
mit
0 ≤ λNi , 0 ≤ vNi , λNi vNi = 0, ˙ i ∈ A N3 . vNi = J⊺Ni q;
(5.54) (5.55)
5.2. Elementare Systeme mit verteilten Parametern
103
Vergleicht man (5.53) mit Variationsausdrücken für äußere Kräfte, z.B. (5.39), dann darf man den Term X FN (x) = hi (x)λNi (5.56) i∈AN3
als Zwangskraftstreckenlast für die Undurchdringlichkeitsbedingung deuten. Dies stellt einen Spezialfall für die allgemeine Beziehung in Abschnitt 3.1.4 dar. Lässt man als Gewichtsfunktionen Dirac-Delta Funktionen zu, dann fordert man damit, dass die Undurchdringlichkeitsbedingung nur an diskreten Stellen xi erfüllt sein muss, womit man schließlich gi (q, t) = N⊺(xi )q
(5.57)
erhält (bei mit FE-Methoden diskretisierten Strukturen wird die Undurchdringlichkeitsbedingung oft nur an den Knoten selbst gefordert). Man kann theoretisch beliebig viele solcher Bedingungen fordern. Es ist aber klar, dass überzählige Bedingungen vorhanden sein müssen, wenn die Anzahl der Bedingungen die Anzahl der generalisierten Koordinaten übersteigt. Der große Vorteil der in Kapitel 4 vorgestellten Berechnungsmethoden ist, dass sie bei überzähligen Bindungen nicht abbrechen. Es wurde darüber hinaus gezeigt, dass im reibungsfreien Fall die sich einstellende Bewegung auch bei überzähligen Bindungen eindeutig ist, sodass im Modellbildungsprozess nicht darauf geachtet werden muss, an welchen Stellen sinnvollerweise Undurchdringlichkeitsbedingungen formuliert werden. Das folgende Beispiel dient in erster Linie zur Demonstration, dass die Technik der modalen Modellreduktion bei einseitigen Bindungen nur in Kombination mit den in Kapitel 4 vorgestellten Methoden für eine erhebliche Reduktion eingesetzt werden kann. Beispiel 5.7 Modellparameter für numerische Simulation (es werden hier nur die Zahlenwerte der Größen angegeben, die aus der Verwendung von den SI-Einheiten m, kg, s hervorgehen): E = 210 · 109 , G = 81 · 109 , ρ = 7500, A = 0.022, κS = 1.2 (Rechteckquerschnitt), I = 0.014 /12, L = 1, g = 9.81, a = 0.4, b = 0.6, α1 = 0.01, α2 = 10−4 , plastischer Stoß. Die verwendeten Modellparameter für Dämpfung sind in diesem und auch in den folgenden Beispielen nicht unmittelbar physikalisch motiviert. Sie sollen lediglich ein schwaches Abklingen der hochfrequenten Anteile ermöglichen. Die Annahme eines plastischen Stoßes folgt aus der Modellvorstellung einer endlichen Kontaktzeit, die beim verteilten linear-elastischen System mit drei räumlichen Parametern immer gilt, beim hier vorliegenden einparametrigen Kontinuum als gute Näherung gelten kann. Der Balken wurde in 40 Elemente mit kubischer Interpolation unterteilt. Die Anfangsbedingungen wurden so gewählt, dass der Balken in Ruhe und gerade ist und ferner die beiden Starrkörpermoden so eingestellt sind, dass der Balken bei A aufliegt und bei B einen vertikalen Abstand zur Unterlage von 0.01 hat, vgl Abbildung 5.21. Abbildung 5.22 zeigt zunächst, dass bei 10 verwendeten Eigenmoden von einer guten Konvergenz der Lösungsverfahren und der modalen Näherung ausgegangen werden kann. Zumindest ist gegenüber einer Näherung mit Freiheitsgrad 15 praktisch kein Unterschied in der makroskopischen Bewegung zu sehen.
104
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.21: (Beispiel 5.7) Anfangslage des wippenden Balkens. Zum Vergleich zeigt Abbildung 5.23 bei 3 beibehaltenen Eigenmoden ein gewöhnliches Integrationsverfahren, das Bindungen lediglich löst, wenn Zugkräfte anliegen. Es stellt sich praktisch keine Wippbewegung ein, wie der vergrößerte Ausschnitt in Abbildung 5.23b zeigt. Diese Simulation wurde mit nur zwei diskreten Auflagepunkten bei A und B durchgeführt, da das System insgesamt nur den Freiheitsgrad 3 besitzt und die gewöhnlichen Integratoren abbrechen, wenn die Zahl der Bindungen dem Freiheitsgrad entspricht. Abbildung 5.24 zeigt den Vorteil der in Kapitel 4 vorgestellten Verfahren. Schon bei nur drei beibehaltenen Eigenmoden (Abbildung a) stellt sich zumindest qualitativ eine gute Approximation der exakten Bewegung ein. Es ist also im vorliegenden Beispiel entscheidend, dass sich Bindungen nahe bei A unmittelbar dann lösen können, wenn der Balken in der Nähe von B auftrifft. Es sind sehr viele Moden erforderlich, um diesen Wellenausbreitungseffekt bei gewöhnlichen Integratoren aufzulösen. Offenbar zeigt die Technik der modalen Modellreduktion tendenziell die gewünschte Wirkung: Bei zunehmender Modenzahl wird praktisch Konvergenz beobachtet. Der modalen Modellreduktion haftet aber immer noch ein entscheidender Nachteil an. Verformungen, die auf lokale Belastungen zurückzuführen sind, lassen sich nur unter Verwendung sehr vieler Moden ausreichend genau abbilden. Insbesondere rein statische Belastungen werden so nicht exakt erfasst. Bei zweiseitig gekoppelten Strukturen behilft man sich oft damit, dass man die Basis V für die Koordinatentransformation nach (5.41) zur Modellreduktion um statische Einheitsverformungen erweitert, vgl. z.B. [37]. Sie erhält man, wenn man die Struktur an allen Koppelstellen außer einer fest einspannt. An der noch freien Koppelstelle belastet man die Struktur mit einer Einheitslast. Die so gewonnene Verformung wird als zusätzlicher Anteil in die Transformationsbasis aufgenommen. Entsprechend verfährt man mit allen Koppelstellen. Die Eigenmoden werden nur noch von der fest eingespannten Struktur extrahiert, sodass letztlich wieder eine vollständige Basis vorliegt. Tatsächliche Reduktion ist also erst gewährleistet, wenn nicht sämtliche Eigenmoden der eingespannten Struktur verwendet werden.
5.2.2
Quasi-statische Modellreduktion
Bei einseitigen Kopplungen erweist sich die im vorigen Abschnitt knapp skizzierte Modellreduktionsmethode als unpraktikabel. Die Koppelstellen können im Verlauf der Bewegung wechseln, sodass eine Entscheidung über die verwendeten statischen Moden im Vorfeld nicht möglich ist.
5.2. Elementare Systeme mit verteilten Parametern
105
Abbildung 5.22: (Beispiel 5.7) Verlauf der Auslenkungen an den Stellen A bzw. B bei 10 bzw 15 beibehaltenen Eigenmoden. An dieser Stelle wird deshalb eine Methode eingeführt, die zumindest für das hier diskutierte Beispiel diese Schwierigkeit umgeht. Das Wesen dieser Vorgehensweise liegt darin, dass in der Praxis unter Umständen davon ausgegangen werden kann, dass hochfrequente Eigenmoden keine Eigendynamik besitzen, d.h. eine auf eine hochfrequente Mode wirkende generalisierte Kraft führt sofort zu einer quasi-statischen Veränderung der modalen Koordinate, d.h. Trägheitseffekte werden vernachlässigt. Formal lässt sich diese Vorgehensweise anhand (5.44) begründen. Transformiert man zunächst ein räumlich hinreichend fein diskretisiertes System auf modale Koordinaten, ohne den Freiheitsgrad zu reduzieren, d.h. es gilt n′ = n in (5.41), dann nehmen die Matrizen in (5.44), hier ohne Dissipation, die Gestalt ′ ′ ¨1 I 0 y K1 0 y1 f a1 ′ ′ −I¨ y−Ky+f a =− − + (5.58) ′ ¨2 0 I2 y 0 K2 y2 f ′ a2 entsprechend der Partitionierung K′ 1 = Diag(Ω21 , . . . , Ω2m ), K′ 2 = Diag(Ω2m+1 , . . . , Ω2n )
(5.59) (5.60)
an. Das Wesentliche der Modellreduktion besteht nun darin, dass typischerweise die Terme Ω2m+1 , . . . , Ω2n ≫ 1 ab einer willkürlich aber zweckmäßig gewählten Modenan-
106
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
¨ 2 bei tieffrequenter Anregung zahl m sehr groß sind, sodass die Beschleunigungen y vernachlässigt werden können, also I2 ≈ 0 gesetzt werden darf. Berücksichtigt man die s einseitigen Abstandsbedingungen (5.49) in der Gestalt, dass ⊺ JN1 Vy .. J⊺y := (5.61) ≥0 . ⊺ JNs Vy gilt, dann wird mit entsprechender Partitionierung J1 J = J2
der glatte Teil der Bewegung durch das System ′ ′ ¨1 I 0 y K1 0 y1 J1 f a1 + = λ+ , ¨2 0 0 y 0 K′ 2 y2 J2 f ′ a2
(5.62)
(5.63)
0 ≤ J⊺1 y1 + J⊺2 y2 ⊥ λ ≥ 0 beschrieben. Die Gleichung kann nach −1
y2 = K′ 2 (J2 λ + f ′ a )
(5.64)
aufgelöst werden, da ohne Einschränkung angenommen werden darf, dass die hohen Frequenzen von null verschieden sind, sodass die Diagonalmatrix K′ 2 invertierbar ist. Schließlich erhält man nach Elimination von y2 die Beziehungen ¨ 1 + K′ 1 q1 = J1 λ + f ′ a1 , q ⊺ ′ −1 ′ 0 ≤ J⊺1 y1 + J⊺2 K′ −1 2 J2 λ + J2 K 2 f a2 ⊥ λ ≥ 0
(5.65) (5.66)
zur Beschreibung der glatten Bewegung. Damit erhält man ein System der Gestalt ¨ = −Dq˙ − Kq + Jλ + f(q, q, ˙ t), q
(5.67)
0 ≤ J q + Cλ + a ⊥ λ ≥ 0, ⊺
wobei Dissipation nur in den beibehaltenen generalisierten Koordinaten berücksichtigt ist. Die generalisierten Zwangskräfte λ tauchen nun direkt in den kinematischen Komplementaritätsbedingungen auf, da die Dynamik der hochfrequenten Moden vernachlässigt wurde und somit Kräfte unmittelbar quasi-statisch auf die Verschiebungen wirken können. Auf dieses System wird ein implizites Schema mit Zeitschrittweite h zur zeitlichen Diskretisierung analog zu dem in Abschnitt 4.1 vorgestellten Verfahren angewandt. Die vorliegenden Differenzialquotienten werden durch die Differenzenquotienten q − kq =: h k+1 v − kv k+1 ¨ = q h
k+1
k+1
q˙ =
k+1
v,
(5.68) (5.69)
107
5.2. Elementare Systeme mit verteilten Parametern
angenähert. Damit wird (5.67) zeitlich diskretisiert, wobei gemäß dem impliziten Schema die Ausdrücke auf der rechten Seite der Gleichung, mit Ausnahmen der explizit nur von der Zeit abhängigen Kräfte, zu den Zeitpunkten k + 1 ausgewertet werden: k+1
v − k v = −hD k+1 v − h2 K k+1v − hK k q + J k+1 λ′ + h k f, 2 ⊺ k+1
0≤h J
v + hJ
⊺k
q+C
k+1
k
λ +h a⊥ ′
k+1
(5.70)
λ ≥ 0. ′
Dabei wurden die Terme h k+1λ durch k+1 λ′ ersetzt. Somit können auch Geschwindigkeitssprünge k+1v − k v bei Unstetigkeitsstellen für h ց 0 zugelassen werden, da insgesamt endliche Kräfte k+1 λ′ zu erwarten sind. Für jeden Zeitschritt ist also das MLCP (5.70) nach k+1 v und k+1 λ′ zu lösen. Beispiel 5.8 Es gelten dieselben Parameter wie in Beispiel 5.7. Abbildung 5.25a zeigt die Simulation mit quasi-statischer Modellreduktion bei drei beibehaltenen Moden im Vergleich zur als hinreichend genau angenommenen Simulation aus Beispiel 5.7 mit modaler Reduktion bei 15 Moden. Gegenüber der reinen modalen Reduktion in Abbildung 5.24a kann eine leichte Verbesserung der Konvergenz beobachtet werden. Bei einer Simulation mit quasi-statischer Modellreduktion bei nur vier beibehaltenen Moden liegen fast deckungsgleiche Verläufe vor, vgl. Abbildung 5.25b und c. Damit liefert die quasi-statische Modellreduktion mit Freiheitsgrad 4 im vorliegenden Beispiel eine höhere Genauigkeit, als die rein modale Reduktion mit Freiheitsgrad 6, vgl. Abbildung 5.24b.
108
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.23: (Beispiel 5.7) Verlauf der Auslenkungen an den Stellen A bzw. B bei 3 beibehaltenen Eigenmoden und unter Verwendung gewöhnlicher Integrationsverfahren.
5.2. Elementare Systeme mit verteilten Parametern
109
Abbildung 5.24: (Beispiel 5.7) Verlauf der Auslenkungen an den Stellen A bzw. B bei 3 bzw. 6 beibehaltenen Eigenmoden und unter Verwendung der Verfahren aus Kapitel 4.
110
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.25: (Beispiel 5.8) Verlauf der Auslenkungen an den Stellen A bzw. B bei 3 bzw. 4 beibehaltenen Eigenmoden und unter Verwendung der quasi-statischen Modellreduktion.
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
5.3
111
Rotierende Welle mit Delamination
5.3.1
Modellbildung des glatten Systems
Abbildung 5.26: Rotor mit Delamination. Abbildung 5.26 zeigt das Modell eines rechteckigen Balkens mit durchgehender Delamination. Der Balken der Gesamtlänge L, Höhe a und Breite b ist in vier Teilbereiche aufgeteilt, die jeweils als Euler-Bernoulli Balken geometrisch linear modelliert werden (Länge Li , E-Modul Ei , Flächenträgheitsmomente I1i und I2i bzgl. ~b1 bzw. ~b2 Richtung, Querschnittsfläche Ai , längenspezifische Masse νi = ρAi ). Die Lage der Delaminationsfuge ist durch den Abstand h von der Kante parametrisiert. Gegeben sind ein Inertialsystem A : ~a1 ,~a2 ,~a3 und ein mitrotierendes Bezugssystem B : ~b1 , ~b2 , ~b3 , das sich um die Achse ~a3 = ~b3 mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit Ω dreht, vgl. Abbildung 5.26b. Somit gilt für die Koordinatentransformationsmatrix, mit deren Hilfe die Koordinaten eines Vektors ~v bezüglich der verschiedenen Bezugssysteme gemäß (~v )A = TAB (~v )B , (~v )B = TBA (~v )A , (TAB )⊺ = TBA
(5.71) (5.72) (5.73)
angegeben werden [94] (zur Schreibweise vgl. Anmerkungen auf S. 2), die Darstellung cos(Ωt) − sin(Ωt) 0 (5.74) TBA = sin(Ωt) cos(Ωt) 0 . 0 0 0
112
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Ein Punkt auf der Mittellinie des i-ten Balkens an der Stelle 0 ≤ x ≤ Li hat bezüglich des mitrotierenden Systems in unverformter Lage die Koordinaten 0 x01 (5.75) xi (x) = x02 + 0 , x0 x | {z3 } =:x0i
vgl. Abbildung 5.26c. Die Verschiebung dieses Punktes ist u1i (x) ui (x) = u2i (x) . u3i (x)
(5.76)
Die Auswertung der Integrale (3.29) des Prinzips 3.5 erfordert hier die Betrachtung des Terms Z −ρ~r¨ + f~′ · δ~r dV, (5.77)
wobei ρ die übliche Massendichte bezüglich des Volumenintegrals und f~′ eine entsprechende Kraftdichte sind. Beim hier verwendeten Balkenmodell wird die Masse üblicherweise als konzentriert entlang der Mittellinie angenommen, sodass nur der Term für die Beschleunigung der Punkte auf der jeweiligen Mittellinie des i-ten Balkens relevant ist. Dargestellt in Koordinaten bezüglich B erhält man dafür: d2 (~r¨i )B = TBA 2 TAB (xi + ui ) (5.78) dt e u˙ i + Ω e 2 (xi + ui ), ¨ i + 2Ω = u (5.79) wobei
∼ 0 0 −1 0 ˙ AB = Ω 1 0 0 , e = 0 = TBA T Ω Ω 0 0 0 1 0 0 2 e e e Ω = ΩΩ = −Ω 0 1 0 0 0 0
gilt. Damit liefert die Auswertung des Trägheitsterms in (5.77) den Ausdruck Z 4 Z 1 X ¨ e u˙ i + Ω e 2 (xi + ui ) d ξ ¨ i + 2Ω −ρ~r · δ~r dV = −νi Li δu⊺i u =
i=1 Z 1 0
(5.80)
(5.81)
(5.82)
0
˙ + NKc [u] ˙ − Nfc [x]) d ξ, (5.83) −δu⊺ (NM [¨ u] + NG [u]
wobei bei dieser, mit jeweils x = Li ξ, 0 ≤ ξ ≤ 1, teilweise entdimensionierter Darstellung Ausdrücke der Form ui (ξ) strenggenommen stets als ui (Li ξ) zu lesen sind. Dabei gelten in (5.83) die Abkürzungen NM [·] := Diag(νi Li I3 )(·), e NG [·] := Diag(2νi Li Ω)(·),
e 2 )(·), NKc [·] := Diag(νi Li Ω Nfc [·] := −NKc [·]
(5.84) (5.85) (5.86) (5.87)
113
5.3. Rotierende Welle mit Delamination für die Operatormatrizen in Blockdiagonalform sowie die Matrizen xxx1 xxx2 xxx := xxx3 xxx4
(5.88)
für xxx = u, δu, x. Für die Variation in Koordinaten bezüglich des mitrotierenden Systems B gilt (5.89)
(δ~ri )B = δui . Die Kraftdichte der eingeprägten Kräfte ′ f~′ = f~el′ + f~da + f~g′
(5.90)
ist als Summe mehrerer Bestandteile aufzufassen, hier elastische Kräfte, die einem Potenzial U entstammen, sodass Z f~el′ · δ~r dV = −δU (5.91) gilt, äußere Dämpfungskräfte ′ ˙i B = −da (u˙ i + Ω(u e i + xi )), (f~da ) = −dai (~r) i i B
(5.92)
f~g′ = ρ~g .
(5.93)
die proportional (Faktor dai > 0) zur Absolutgeschwindigkeit sind, ihr aber entgegen wirken, sowie Gravitationskräfte (Erdbeschleunigung ~g )
Der Ansatz (5.92) dient zur möglichst einfachen linearen Modellierung äußerer viskoser Dämpfungseinflüsse. In der Rotordynamik steht häufig nicht so sehr die genaue Abbildung des physikalischen Dissipationseffekts der äußeren Dämpfung im Vordergrund, sondern vielmehr die Möglichkeit, in einer heuristischen Weise bei erzwungenen Schwingungen Einschwingvorgänge abklingen zu lassen. Bei überkritischen Drehzahlen können übliche Dämpfungsansätze gemäß (5.38) zur Destabilisierung führen, vgl. Abschnitt 5.3.4. Für das linear-elastische Balkenmodell sind die Potenziale der jeweiligen Verschiebungsrichtungen entkoppelt und haben nach Variation bzw. Produktintegration die Gestalt Z L Z L 1 2 Biegung: δ EIuxx d x = EIδuxx uxx d x (5.94) 0 2 0 Z L = EIδuuxxxx d x + R1 , (5.95) 0 Z L Z L 1 2 Längsverformung: δ EAux d x = EAδux ux d x (5.96) 0 2 0 Z L = − EAδuuxx d x + R2 , (5.97) 0
114
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
vgl. [87], wobei hier der tiefgestellte Index eine partielle Ableitung nach der Längskoordinate x bedeutet. Setzt man voraus, dass die Ansatzfunktionen u(x) Vergleichsfunktionen sind, also sowohl geometrische wie auch dynamische Randbedingungen erfüllen, dann verschwinden beim hier vorliegenden selbst-adjungierten Problem nach Produktintegration der variierten Potenziale beim Gesamtsystem die Randterme der Art R1 bzw. R1 , sodass für die betrachtete Balkenstruktur Z Z 1 ′ ~ fel · δ~r dV = −δU = − δu⊺NKel [u] d ξ (5.98) 0
gilt. Dabei ist die Operatormatrix in Blockdiagonalform durch NKel [·] := Diag (N1 , . . . , N4 ) (·), EI1 ∂ 4 EI2 ∂ 4 EA ∂ 2 Ni := Diag , ,− L3 ∂ξ 4 L3 ∂ξ 4 L ∂ξ 2 i
(5.99) (5.100)
gegeben. Entsprechend erhält man die virtuellen Arbeiten der restlichen Beiträge: Z Z 1 ′ ~ ˙ − NP [u] + Nfda [x] + Nfg [fgB ] d ξ. (5.101) fda · δ~r dV = δu⊺ −NDa [u] 0
Dabei gelten die blockdiagonalen Operatormatrizen NDa [·] := Diag(dai Li I3 )(·), e NP [·] := Diag(da Li Ω)(·), i
Nfda [·] := −NP [·], Nfg [·] := Diag(Li I3 ),
sowie die generalisierte Gewichtskraft ν1 TBA (~g )A ν2 TBA (~g )A fgB = ν3 TBA (~g )A , ν4 TBA (~g )A
(5.102) (5.103) (5.104) (5.105)
(5.106)
dargestellt in Koordinaten bezüglich des mitrotierenden Systems B. Zusammengefasst erhält man damit den Ausdruck für den Term (5.77) der Variationsungleichung des Prinzips 3.5 : Z −ρ~r¨ + f~′ · δ~r dV = (5.107) −
Z
0
1
˙ + (NKel + NKc + NP ) [u]) d ξ δu⊺ (+NM [¨ u] + (NG + NDa ) [u] Z 1 + δu⊺ Nfda [x] + Nfc [x] + Nfg [fgB ] d ξ. 0
Die räumliche Diskretisierung des Variationsausdrucks (5.107) erfolgt über einen Ansatz n X u(ξ, t) ≈ Un (ξ)qn (t), (5.108) k=1
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
115
sodass q := (q1 . . . qn )⊺ die generalisierten Koordinaten sammelt. Damit gilt auch n X ˙ t) ≈ u(ξ, Un (ξ)q˙n (t), ¨ (ξ, t) ≈ u δu(ξ, t) ≈
k=1 n X
(5.109)
(5.110)
Un (ξ)¨ qn (t),
(5.111)
Un (ξ)δqn (t).
(5.112)
k=1 n X k=1
Den Ansatz (5.108) kann man mit entsprechend definierter Matrizenfunktion U(ξ) durch u(ξ, t) = U⊺(ξ)q(t)
(5.113)
abgekürzt darstellen. Als Ansatzfunktionen Un werden später zeitfreie Vergleichsfunktionen gewählt, damit die Voraussetzung für die Gültigkeit von (5.98) erfüllt ist. Zunächst kann man damit die räumlich diskretisierte Fassung des Variationsausdrucks bestimmen. Sämtliche darin vorkommenden Operatoren sind linear, sodass der Ansatz zum Variationsausdruck Z ′ ¨ ~ −ρ~r + f · δ~r dV = (5.114) δq⊺ (−M¨ q − (G′ + Da + Din ) q˙ − (Kel + K′c + P′ ) q + fc′ + f ′ da + fg )
führt, wobei die Matrizen mit den Einträgen (M)ij , . . . , (fg )j aus folgenden Rechnungen hervorgehen: Z 1 (M)ij = U⊺i NM [Uj ] d ξ, (5.115) 0 Z 1 ′ (G )ij = U⊺i NG [Uj ] d ξ, (5.116) 0 Z 1 (Da )ij = U⊺i NDa [Uj ] d ξ, (5.117) 0 Z 1 (Kel )ij = U⊺i NKel [Uj ] d ξ, (5.118) 0 Z 1 ′ (K c )ij = U⊺i NKc [Uj ] d ξ, (5.119) 0 Z 1 ′ (P c )ij = U⊺i NKc [Uj ] d ξ, (5.120) 0 Z 1 ′ (fc )j = U⊺j Nfc [x] d ξ, (5.121) 0 Z 1 ′ (f da )j = U⊺j Nfda [x] d ξ, (5.122) 0 Z 1 (fg )j = U⊺j NKc [fgB ] d ξ. (5.123) 0
116
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Materialdämpfung wird ähnlich zu (5.38) durch den Ansatz (5.124)
Din = α2 Kel
berücksichtigt, vgl. auch Anhang D. Man spricht hier im Zusammenhang mit rotierenden Bezugssystemen auch von innerer Dämpfung, vgl. [107], die sich – im Gegensatz zur äußeren Dämpfung – nicht als schief-symmetrischer Anteil bei der in den generalisierten Verschiebungen linearen Kräften, sondern nur als symmetrische und positivsemidefinite Matrix bei den in den generalisierten Geschwindigkeiten linearen Kräften bemerkbar macht. Im Vergleich mit (5.38) entfällt bei (5.124) mit α1 = 0 das Vielfache der Massenmatrix, das üblicherweise zur Berücksichtigung äußerer Dämpfungseinflüsse dient. Äußere Dämpfung wird beim vorliegenden rotierenden System schon durch (5.92) in der Modellbildung in angemessener Weise berücksichtigt. Aufgrund der Darstellungen (5.80) und (5.81) kann aus den mit einem Hochkomma versehenen Matrizen die Winkelgeschwindigkeit Ω herausgezogen werden, sodass es alternative Darstellungen der Form G′ K′ c P′ f ′c f ′ da
=: =: =: =: =:
(5.125) (5.126) (5.127) (5.128) (5.129)
ΩG, −Ω2 Kc , ΩP, Ω2 fc , Ωfda
gibt, wobei nun die Matrizen auf der rechten Seite nicht mehr von Ω abhängen. Die Matrizen M, Da erweisen sich damit als positiv-definit und symmetrisch, Kc und Kel zumindest als positiv-semidefinit und symmetrisch, letztere entstammt ja einem konvexen elastischen Potenzial. Aufgrund (5.80) sind die Matrizen G und P schiefsymmetrisch. Berechnung der Eigenfunktionen des nicht-rotierenden Systems Als Ansatzfunktionen in (5.108) werden Eigenfunktionen des nicht-rotierenden Systems verwendet. Diese können noch semi-analytisch gewonnen werden und sind für das Problem des rotierenden Systems Vergleichsfunktionen, da sie alle Rand- und Übergangsbedingungen erfüllen. Für das homogene Randwertproblem der Struktur bestehend aus Euler-Bernoulli Balken sind die Feldgleichungen klar [108]. Für den i-ten Balken gilt EI1i u1iξξξξ = 0, L4i EI2 νi u2itt + 4 i u2iξξξξ = 0, Li EAi νi u1itt − 2 u3iξξ = 0. Li
(5.130)
νi u1itt +
(5.131) (5.132) √
Nach einem Ansatz der Form u(ξ, t) = e −1ωt U(ξ) erhält man die zeitfreie allgemeine Lösung für die Feldgleichungen (j = 1, 2, i = 1, 2, 3, 4) Uji (ξ) = cji1 sin Kjiξ + cji2 cos Kjiξ + cji3 sinh Kjiξ + cji4 cosh Kjiξ
(5.133)
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
117
für die Querverschiebungen u1i und u2i , sowie U3i (ξ) = c3i1 sin K3i ξ + c3i2 cos K3i ξ für die Längsverschiebungen u3i . Dabei gilt 1/4 νi L4i ω 2 , j = 1, 2, Kji := EIji 1/2 νi L2i ω 2 K3i := . EAi
(5.134)
(5.135) (5.136)
Die insgesamt 40 Koeffizienten cjik müssen so bestimmt werden, dass sie den Randund Übergangsbedingungen der gekoppelten Balken genügen, denen auch die zeitfreien Lösungen entsprechen müssen. Hier wird ein beidseitig gelenkig gelagerter, delaminierter Balken betrachtet mit den geometrischen Randbedingungen Uj1 (ξ = 0) = 0, Uj4 (ξ = 1) = 0, j = 1, 2, 3.
(5.137) (5.138) (5.139)
Die dynamischen Randbedingungen Uj1ξξ (ξ = 0) = 0, Uj4ξξ (ξ = 1) = 0, j = 1, 2
(5.140) (5.141) (5.142)
drücken verschwindende Biegemomente aufgrund der gelenkigen Lagerung aus. Ferner ist an den Übergangsstellen der Balkenabschnitte die Kompatibilität der Verschiebungen als geometrische Übergangsbedingung zu berücksichtigen sowie die Gleichgewichte der Schnittkräfte und -momente. Als wesentlich hat sich die Kopplung h U11ξ (ξ = 1), 2L1 a−h U33 (ξ = 0) = U31 (ξ = 1) − U11ξ (ξ = 1), 2L1 h U32 (ξ = 1) = U34 (ξ = 0) + U14ξ (ξ = 0), 2L4 a−h U33 (ξ = 1) = U34 (ξ = 0) − U14ξ (ξ = 0) 2L4 U32 (ξ = 0) = U31 (ξ = 1) +
(5.143) (5.144) (5.145) (5.146)
der Querschnittsverdrehung mit den Längsverformungen erwiesen. Eine Vernachlässigung dieser Kopplung führt zu einer erheblichen Unterschätzung der Eigenfrequenzen, worauf bereits in [106] hingewiesen wird. Die restlichen geometrischen Übergangsbedingungen sind elementar. Sie drücken die Stetigkeit der Querverschiebungen und des Biegewinkels (beim verwendeten Euler-Bernoulli Balken entspricht er der ersten Ableitung der Querverschiebungen) an den Übergängen aus. Sie werden hier nicht im einzelnen angegeben. Die dynamischen Übergangsbedingungen findet man zweckmäßigerweise durch Anwendung des Prinzips von Hamilton. Es wird diesbezüglich auf [108] verwiesen, dort sind sämtliche Rand- und Übergangsbedingungen angegeben.
118
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Insgesamt erhält man dadurch 40 lineare Bestimmungsgleichungen für die Koeffizienten cjik , die in einer Spaltenmatrix c gesammelt werden, sodass für ein Gleichungssystem der Gestalt (5.147)
A(ω)c = 0
nicht-triviale Lösungen zu suchen sind. Bedingung für solche Lösungen ist das Verschwinden der Determinate von A(ω). Die Nullstellen ωk der transzendenten Gleichung (5.148)
det A(ω) = 0
sind die Eigenkreisfrequenzen des nicht-rotierenden Systems. Die k-te Eigenfunktion erhält man aus einer beliebigen nicht-trivialen Lösung ck des Systems A(ωk )ck = 0.
(5.149)
Die Matrix A(ωk ) ist per Definition nicht mehr invertierbar, denn ωk ist ja gerade ein Eigenwert, bei dem die Determinante der Matrix verschwindet. Numerisch werden daher die gesuchten Lösungen über den Nullraum (Kern) der Matrix A(ωk ) gewonnen, vgl. [9], dessen Erzeugung z.B. in der Simulationsumgebung MATLAB über den Befehl null implementiert ist.
5.3.2
Nicht-glatte Modellbildung
Die Gebietseinschränkung gemäß (3.9) fordert im vorliegenden Beispiel u12 (ξ, t) − u13 (ξ, t) ≥ 0, ∀t, ξ ∈ [0, 1],
(5.150)
d.h. die Verschiebungen in 1-Richtungen sind eingeschränkt: die Berührlinien der Balken 2 und 3 des delaminierten Bereichs dürfen sich nicht durchdringen. Mit den gemäß (5.88) gesammelten Verschiebungen u = (u11 , u21 , u31 , u12, . . . , u34 )⊺
(5.151)
kann (5.150) unter Verwendung der Abkürzung (5.113) mittels ⊺ VN U⊺(ξ)q(t) ≥ 0, ∀t, ξ ∈ [0, 1]
(5.152)
ausgedrückt werden, wobei eine geeignete Matrix VN = (0, 0, . . . , 1, 0 . . . , 0, −1, . . . , 0)⊺
(5.153)
die beteiligten Verschiebungen bereitstellt. Die räumliche Diskretisierung der Gebietseinschränkung durch Mittelung nach (3.11) liefert mit dem Verschiebungsansatz (5.113) Z 1 ⊺ gi (q, t) = hi (ξ)VN U⊺(ξ) d ξ q (5.154) =:
0 J⊺Ni q,
(5.155)
womit die JNi definiert sind. Dabei sind hi wiederum Gewichtsfunktionen der Mittelwertbildung, vgl. (3.11).
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
119
Wird Reibung zwischen den aneinandergrenzenden Oberflächen im delaminierten Bereich berücksichtigt, dann ist das Integral aus (3.43) zu berechnen. Im vorliegenden Beispiel bildet das globale Koordinatensystem mit den Einheitsvektoren in 2 und 3 Richtung bei angenommenen kleinen Verschiebungen ebenfalls das lokale, tangentiale Koordinatensystem mit den Tangentenvektoren ~t1 bzw. ~t2 , vgl. (3.38), sodass bezüglich dieser Vektoren die Spaltenmatrix vT (ξ, t) = (u˙ 22 (ξ, t) − u˙ 23 (ξ, t), u˙ 32(ξ, t) − u˙ 33 (ξ, t))⊺
(5.156)
die Koordinaten der tangentialen Relativgeschwindigkeit beinhaltet. Diese Beziehung kann mit dem Verschiebungsansatz (5.113) durch vT (ξ, t) = VT⊺ U⊺(ξ)q˙ ausgedrückt werden, wobei wiederum ⊺ 0, 0, . . . , 1, 0 . . . , 0, −1, . . . , 0 VT = 0, 0, . . . , 1, 0 . . . , 0, −1, . . . , 0
(5.157)
(5.158)
die entsprechenden Differenzen der Absolutgeschwindigkeiten bereitstellt. Nach Unterteilung der angrenzenden Oberflächen in gleich lange Teilbereiche der Länge ∆ξ geht das Integral aus (3.43) in Z i∆ξ 1 U(ξ)VT bL2 d ξ λTi (5.159) JTi λTi = b∆ξ (i−1)∆ξ über. Daher gilt JTi
L2 = ∆ξ
Z
i∆ξ
U(ξ)VT d ξ.
(5.160)
(i−1)∆ξ
Damit sind alle Matrizen für die nicht-glatte Modellierung berechenbar.
5.3.3
Nicht-rotierender Balken
Das Schwingungsverhalten des nicht-rotierenden Balkens mit Delamination wurde in der Literatur bereits ausgiebig diskutiert. Insbesondere im Bereich der Mechanik von Verbundwerkstoffen ist der delaminierte Balken das Referenzbeispiel für durch den vorherrschenden Schädigungstyp der Delamination beeinträchtige Strukturen [111]. Das grundsätzliche Problem der freien Schwingungen in der Ebene (im vorliegenden Beispiel die 1-3-Ebene) wurde bereits in [86] diskutiert, dort allerdings ohne Berücksichtigung der korrekten Übergangsbedingungen (5.143–5.146), sodass die Eigenfrequenzen unterschätzt wurden. Freie Schwingungen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der mögliche Kontakt der angrenzenden Balken im delaminierten Bereich nicht berücksichtigt wurde. In [106] wurde das Problem mittels Euler-Bernoulli-Balken analytisch untersucht und vor allem der erwähnte Einfluss der korrekten Kopplung von Biegung und Längsverformung im Übergangsbereich diskutiert. Erst durch diese Kopplung kann das typische, auch im Experiment (z.B. bei [74]) beobachtete Verhalten reproduziert werden, dass eine bezüglich der 1-Richtung mittige Delamination kaum Einfluss auf die ersten beiden Eigenfrequenzen hat, falls das Verhältnis der Delaminationslängen
120
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
L2 = L3 zur Balkenlänge L unter 60% liegt (im Falle eines beidseitig gelenkig gelagerten Balkens). In [74] wurde auch versucht, den Einfluss des Kontakts mittels linearer Ersatzmodelle zu berücksichtigen, indem im Kontaktbereich Annahmen über den Verlauf einer interlaminaren Kontaktkraftverteilung getroffen wurden. Dabei wurde aber stets davon ausgegangen, dass im Kontakt auch Zugkräfte übertragen werden, womit eine lineare Modellbildung möglich war. Der erwähnte geringe Einfluss der Delaminationslänge auf die niederen Eigenfrequenzen der Struktur legt nahe, dass Schadensidentifikationsverfahren basierend auf modalen Daten bei tieffrequenter Anregung schwierig anzuwenden sind. In [20] wird daher mit sehr hochfrequenter Anregung mittels Ultraschall-Spektroskopie gearbeitet, um modale Daten und letztlich Auskunft über eine vorliegende Schädigung zu gewinnen. Modellgestützte Identifikationsverfahren arbeiten vorwiegend auf der Basis linearer Modelle und passen die Modellparameter so an, dass aus dem Modell gefolgerte modale Größen bezüglich den gemessenen modalen Größen optimiert werden, z.B. [61]. In [75] wird ein Verfahren vorgeschlagen, dass insbesondere das nicht-lineare Verhalten aufgrund des Kontakts in Betracht zieht. Zum einen wird das Vorhandensein einer Schädigung identifiziert, wenn bei harmonischer Anregung der Struktur nichtharmonische Anteile im Antwortspektrum beobachtet werden. Sie werden auf das Klappern der Delaminationsfuge zurückgeführt. Die Identifikation der Schädigungsparameter (Lage L1 , h, Delaminationslänge L2 = L3 ) erfolgt über eine Minimierung des Residuums der absoluten Differenz von gemessener und simulierter Bewegung. Die benötigten Berechnungen sind sehr zeitaufwändig, da jeder Punkt im Parameterraum eine Simulation bis zum eingeschwungenen Zustand erfordert. Die Berechnungen wurden anhand eines FE-Modells mit Knoten-zu-Knoten Kontakt durchgeführt, wobei stoßartige Kontakte wie auch in [58, 79] mittels eines Restitutionsgesetzes behandelt wurden, was aufgrund der in allen zitierten Arbeiten verwendeten, sehr feinen räumlichen Diskretisierung ohne größere Schwierigkeiten möglich erscheint. Dauerhafter Kontakt wurde mittels eines Penalty-Verfahrens modelliert. Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Methode kann die Berechnung des eingeschwungenen Zustands erheblich beschleunigen, da mit den konsistenten Übergangsbedingungen eine Verwendung von Modellreduktionsmethoden auch bei einseitigen Bindungen ermöglicht wird. Im Folgenden Beispiel wird das lineare Modell des nicht-rotierenden Balkens validiert. Beispiel 5.9 Zahlenwerte der Modellparameter (SI-Einheiten kg − m − s): Abmessungen: L = 1, L1 = L/2 − L2 /2, a = 0.01, b = 2a, h = a/2, Dichte ρ = 7500, E-Modul E = 210 · 109 . Zunächst wird das lineare Modell anhand modaler Daten validiert, die mit einer FE-Rechnung unter Verwendung von Volumenelementen verglichen werden. Die Abbildungen 5.27 und 5.28 zeigen die ersten zehn Eigenfrequenzen der freien Schwingungen in der 1-3-Ebene bei verschiedenen Delaminationslängen L2 = L3 = 0.1 . . . 0.6. Es ist zu erkennen, dass wie erwartet die ersten beiden Eigenfrequenzen bei zunehmender Delaminationslänge kaum absinken. Bei der Betrachtung der Eigenformen ist zu bemerken, vgl. Abbildungen 5.29–5.30, dass insbesondere bei kurzen Delaminationslängen (hier L2 = 0.2) und mittiger Delamination die Moden, bei denen eine sichtbare Durchdringung der angrenzenden Oberflächen der Balken im delaminier-
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
121
ten Bereich eintritt, vergleichsweise hochfrequent sind. Aufgrund der hohen Symmetrie haben hier diese Moden keinen Anteil in den ungeschädigten Bereichen, da sich die Biegemomente des oberen und des unteren Balkens an den Übergangsstellen aufheben. Solche Moden sind mit Kräften, die im ungeschädigten Bereich angreifen, theoretisch überhaupt nicht, aufgrund immer auftretender Antimetrien in der Praxis nur sehr schwer anregbar.
122
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.27: (Beispiel 5.9) Vergleich der ersten Eigenfrequenzen analytisch–FEM. Delaminationslängen 0.1m und 0.2m.
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
123
Abbildung 5.28: (Beispiel 5.9) Vergleich der ersten Eigenfrequenzen analytisch–FEM. Delaminationslängen 0.4m und 0.6m.
124
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.29: (Beispiel 5.9) Eigenformen 1 bis 6 der freien Schwingungen in der 13-Ebene, Delaminationslänge 0.2m, mittige Delamination. Die unterbrochenen Linien zeigen den Verlauf der Oberflächenkontur im delaminierten Bereich.
Abbildung 5.30: (Beispiel 5.9) Eigenformen 7 bis 11 der freien Schwingungen in der 13-Ebene, Delaminationslänge 0.2m, mittige Delamination. Die unterbrochenen Linien zeigen den Verlauf der Oberflächenkontur im delaminierten Bereich
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
125
Abbildung 5.31: (Beispiel 5.10) Eigenformen 1 bis 5 der freien Schwingungen in der 1-3-Ebene, Delaminationslänge 0.6m, außermittige Delamination. Die unterbrochenen Linien zeigen den Verlauf der Oberflächenkontur im delaminierten Bereich. Die Möglichkeit der modalen Modellreduktion wird im folgenden Beispiel untersucht. Dazu wird ein Modell mit außermittiger Delamination gewählt. Beispiel 5.10 Modellparameter (SI-Einheiten kg−m−s): Abmessungen: L = 1, L2 = 0.6, L1 = L/2 − L2 /2, a = 0.01, b = 2a, h = 3/4a, Dichte ρ = 7500, E-Modul E = 210 · 109 , äußere Dämpfung dai = 0.5 nach Beziehung (5.92) in allen Balken i = 1, . . . , 4, harmonische Kraftanregung in der Mitte des Balkens 1 mit Amplitude 10 und Frequenz f = 22.8 (entspricht erster Eigenfrequenz). Aufgrund der vernachlässigbar kleinen Relativgeschwindigkeiten der angrenzenden Oberflächen im delaminierten Bereich können Reibungseinflüsse vernachlässigt werden, worauf auch in [91] hingewiesen wird. Die Abbildungen 5.31–5.32 zeigen zunächst die Eigenformen der verwendeten Modenbasis. Die Delamination liegt nun bezüglich der Querrichtung (1-Richtung) außermittig, sodass jede Schwingungsform zu einer Durchdringung im delaminierten Bereich führt. Die Konvergenz wird rechnerisch plausibel gemacht. Dazu wird die Simulation für einen hinreichend langen Zeitraum durchgeführt, bis sich ein periodischer Grenzzykel eingestellt hat. Wie Abbildungen 5.33–5.35 zeigen, kann bei einer Modenzahl von 10 praktisch von Konvergenz ausgegangen werden. Die Grafen zeigen den zeitlichen Verlauf der Delaminationsöffnung in der Mitte der Balken 2 und 3 bei einer verwendeten Modenzahl zwischen 10 und 8. Abbildung 5.36 zeigt das Phasenporträt des zeitlichen Verlaufs der Bewegung an einer Stelle am Ende des Balkens 1 bei für praktische Konvergenz hinreichender Modenzahl 11. Ein Vergleich mit dem Porträt bei Modenzahl 8 in Abbildung 5.37a zeigt einen fast identischen Verlauf bis auf den in der Vergrößerung in Abbildung b erkennbaren Geschwindigkeitssprung. Er ist unrealistisch und ist nur auf die für diese Konfiguration nicht ausreichend umfangreiche Modenbasis zurückzuführen. Dennoch kann es zweck-
126
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.32: (Beispiel 5.10) Eigenformen 5 bis 11 der freien Schwingungen in der 1-3-Ebene, Delaminationslänge 0.6m, außermittige Delamination. Die unterbrochenen Linien zeigen den Verlauf der Oberflächenkontur im delaminierten Bereich. mäßig sein, solche Inkonsistenzen zugunsten einer effizienten Simulation bei wenigen Freiheitsgraden zu tolerieren. Offenbar ist die Näherung an den restlichen Stellen recht genau. An solchen Sprungstellen kann es bei gewöhnlichen numerischen Integrationsmethoden geschehen, dass die Verfahren entweder abbrechen, weil überbestimmte Gleichungen vorliegen (zu viele Kontaktstellen) oder dass sie inkonsistente Zugimpulse berechnen. Die in Kapitel 4 vorgestellten Methoden gewährleisten hingegen einen konsistenten Übergang.
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
127
Abbildung 5.33: (Beispiel 5.10) Zur Konvergenz der modalen Näherung mit 10 und 11 modalen Koordinaten (Abbildung a, vergrößerter Ausschnitt in Abbildung b), Vergleich des Verlaufs der Delaminationsöffnung in der Mitte der Balken 2 und 3.
128
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.34: (Beispiel 5.10) Zur Konvergenz der modalen Näherung mit 9 und 11 modalen Koordinaten (Abbildung a, vergrößerter Ausschnitt in Abbildung b).
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
129
Abbildung 5.35: (Beispiel 5.10) Zur Konvergenz der modalen Näherung mit 8 und 11 modalen Koordinaten (Abbildung a, vergrößerter Ausschnitt in Abbildung b).
130
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.36: (Beispiel 5.10) Phasenporträt des zeitlichen Verlaufs an einer Stelle im ungeschädigten Bereich des Balkens (Ende des Balkens 1)
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
131
Abbildung 5.37: (Beispiel 5.10) Phasenporträt des zeitlichen Verlaufs an einer Stelle im ungeschädigten Bereich des Balkens (Ende des Balkens 1) bei 8 verwendeten Moden.
132
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
5.3.4
Rotierender Balken
Bei den vorangegangenen Beispielen stammt die Schwingungsanregung von zu diesem Zweck an einem bestimmten Ort angreifenden äußeren Kräften, wie sie z.B. mit einem elektro-dynamischen Shaker erzeugt werden können, vgl. [75]. Beim rotierenden Balken im Schwerefeld ist von Interesse, ob prinzipiell die in mitrotierenden Koordinatensystemen umlaufende Gewichtskraft als harmonischer Anregungsmechanismus in Frage kommt. Anhand ausgewählter Geometrien wird überprüft, ob es grundsätzlich möglich ist, Schwingungsformen anzuregen, bei denen das Klappern der Delaminationsfuge deutlich ausgeprägt ist. Dann bestünde zumindest die Möglichkeit, auf Identifikationsverfahren für den Delaminationsschaden wie in [75] zurückzugreifen, die auf dem ausgeprägten nicht-linearen Charakter der Schwingungsantwort auf harmonische Anregung basieren. Im mitrotierenden System gibt es allerdings zentrifugale Trägheitswirkungen (5.128), die unter Umständen die Delaminationsfuge im Betrieb hinreichend stark klaffen lassen können, sodass es fraglich ist, ob es unter der zusätzlichen harmonischen Anregung (5.123) zu einer praktisch relevanten Berührung der angrenzenden Oberflächen der Balken 2 und 3 kommt. Die Frage kann bereits anhand des linearen Modells geklärt werden. Die stationäre Auslenkung wird über die Lösung qstat der Gleichgewichtsbedingung (5.161) Kel − Ω2 Kc qstat = Ω2 fc {z } | =:Kstat (Ω)
der Ruhelage bestimmt, wobei äußere Dämpfung zu diesem Zweck vernachlässigt werden kann. Mit der Abstandsfunktion (5.152) kann die Fugenöffnung g(ξ) an einer (dimensionslosen) Stelle 0 < ξ < 1 über
(5.162)
⊺ gstat (ξ) = VN U⊺(ξ)qstat
bestimmt werden. Im vorliegenden Fall werden zur Diskretisierung der Funktionale (5.115–5.123) Eigenfunktionen des zugrunde liegenden, selbst-adjungierten Problems des nicht-rotierenden Balkens verwendet, sodass letztlich Kstat eine Diagonalmatrix ist. Die Eigenfunktionen sind im vorliegenden Beispiel hinsichtlich der Schwingungsrichtung entkoppelt. Insgesamt bedeutet dies, dass die Matrix Kstat in (5.161) singulär wird, wenn die Dreheigenkreisfrequenz Ω der Eigenkreisfrequenz einer Biegeeigenform entspricht. Dies erkennt man an den Operatoren (5.84,5.86) und der Identität (5.81). Somit ergeben also auch beim delaminierten Rotor die Eigenkreisfrequenzen der Biegung die kritischen Dreheigenkreisfrequenzen. Die komplexen Amplituden qdyn der Schwingungen bei harmonischer Gravitations√ anregung werden über die Frequenzgangrechnung (hier j = −1) (jΩ)2 M + −(jΩ)2 jG + jΩ(Din + Da ) + Kel + (jΩ)2 Kc − jΩjP qdyn ejΩt = | {z } Kdyn (jΩ)
(fcos + jfsin ) ejΩt
(5.163)
ermittelt, wobei die konstanten Matrizen fcos und fsin aus der Identität fcos cos Ωt + fsin sin Ωt := fgB (t)
(5.164)
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
133
hervorgehen. Aus dem Aufbau der Transformationsmatrix (5.74) ist nach Koeffizientenvergleich ersichtlich, dass sie eine solche Zerlegung der generalisierten harmonischen Gravitationsanregung fgB (t) aus (5.106) zulässt. Analog zu (5.162) werden die reellen Schwingungsamplituden bei Gravitationsanregung über ⊺ gdyn (ξ) = kVN U⊺(ξ)qdyn k
(5.165)
ermittelt, wobei hier bereits der Absolutbetrag der komplexen Amplitude erscheint. Somit liegt an einer Stelle ξ potenzielles Klappern vor, wenn gstat (ξ) − gdyn (ξ) < 0
(5.166)
gilt. Die Frequenzgangmatrix Kdyn (jΩ) in (5.163) kann im Allgemeinen bei bestimmten Drehkreisfrequenzen Ω singulär sein und es liegt dann Resonanz vor. Bei Rotorsystemen entspricht der Parameter der Anregungskreisfrequenz Ω dem in den Matrizen ΩG, ΩP, Ω2 Kc vorkommenden Systemparameter der Drehkreisfrequenz, sodass diese Resonanzstellen nur für den Anregungstyp der gleichfrequent umlaufenden Last gelten, wie er eben bezüglich eines mitrotierenden Bezugssystems typisch bei raumfesten Gewichtskräften ist. Dies legt für diese Erscheinung die Bezeichnung Gravitationsresonanz nahe. Es bleibt noch anzumerken, dass das Eigenschwingungsverhalten des linearen Systems für eine feste Drehkreisfrequenz Ω anhand des Eigenwertproblems ˆ=0 λ2 M + λ (ΩG + Din + Da ) + Kel − Ω2 Kc + ΩP q (5.167) hinsichtlich Stabilität beurteilt werden kann. Liegt ein Eigenwert λ mit positivem Realteil Re(λ) > 0 vor, dann führen kleine Störungen der Ruhelage zu aufklingenden Eigenschwingungen. Sprachlich etwas ungenau wird künftig dann gesagt, dass das System in diesem Fall instabil ist. Die von der Modellierung der (schwachen) äußeren Dämpfungseinflüsse in (5.92) stammenden Matrizen Da und P können für eine qualitative Diskussion der Stabilität zunächst vernachlässigt werden. Aus der elementaren Theorie für Matrizeneigenwertprobleme, z.B. [76], ist bekannt, dass das vorliegende System ohne äußere Dämpfung bei indefiniter Matrix Kstat = Kel − Ω2 Kc instabil und notwendigerweise nur durch das Vorhandensein der schief-symmetrischen Matrix ΩG stabilisiert werden kann, wenn die Bedingung det Kstat > 0
(5.168)
erfüllt ist. Mit anderen Worten: Obwohl Kel nach Voraussetzung positiv-definit ist, ist es Kstat bei hinreichend großer Drehkreisfrequenz nicht mehr, da (−Kc ) negativsemidefinit ist. Aufgrund der Diagonalgestalt von Kstat , vgl. (5.161), ist die zur Stabilisierung notwendige Determinantenbedingung (5.168) gleichwertig zur Forderung, dass die Anzahl der Biegeeigenkreisfrequenzen, die niedriger als die Dreheigenkreisfrequenz Ω sind, gerade ist. Die Dreheigenkreisfrequenz darf also notwendigerweise nur eine gerade Anzahl von kritischen Dreheigenkreisfrequenzen überschreiten, damit das System durch gyroskopische Wirkungen stabilisiert werden kann. Die Determinantenbedingung ist lediglich notwendig aber nicht hinreichend für Stabilität.
134
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Innere Strukturdämpfung Din 6= 0 führt bei abwesender äußerer Dämpfung und indefiniter Matrix Kstat stets zur Destabilisierung. Das ist die Aussage des Satzes von Thompson und Tait, vgl. ebenfalls [76]. Aus diesem Grund eignet sich Strukturdämpfung nicht, um Einschwingvorgänge in Rotorsystemen bei überkritischem Betrieb abklingen zu lassen. Dies wird nur, wenn überhaupt, durch äußere Dämpfung erreicht. In der vorliegenden Arbeit wird keine umfangreiche Stabilitätsanalyse am nichtlinearen System durchgeführt. Numerische Simulationen ergaben stets aufklingende Lösungen, wenn das zugrunde liegende lineare System wie eben beschrieben instabil war, sodass für die Anwendung davon ausgegangen wird, dass instabile lineare Grundsysteme hinreichend für instabiles Verhalten sind. Beispiel 5.11 Intakter Rotor mit quadratischem Querschnitt a = b, weder innere noch äußere Dämpfung. Aufgrund der Symmetrie der Biegesteifigkeiten EI1 = EI2 fällt die jeweils k-te Biegeeigenkreisfrequenz ωk der beiden Richtungen 1 und 2 zusammen. Für sie gilt q EI1 2 , k = 1, 2, . . .. Der Instabilitätsbereich entartet zu den abzählbarωk = (kπ) ρa2
unendlich vielen Stellen Ω = ωk , [52]. Die Welle wird als ausgewuchtet angenommen, sodass keine statischen Auslenkungen vorliegen.
Bei zunehmender Delaminationslänge vermindern sich lediglich die Biegekreisfrequenzen für die Biegung in der 1-3-Ebene. Diejenigen für die Biegung in der 2-3-Ebene hängen nicht von der Delaminationslänge ab. Ordnet man alle Biegeeigenkreisfrequenzen ωk und die Drehkreisfrequenz Ω gemäß ω1 ≤ . . . ≤ ωr < Ω < ωr+1 ≤ . . ., so lässt sich in Einklang mit dem Determinantenkriterium (5.168) lediglich Instabilität sicher vorhersagen, falls r eine ungerade Zahl ist. Andernfalls muss auf eine numerische Eigenwertanalyse zurückgegriffen werden, um Aussagen über Stabilität zu gewinnen. Beispiel 5.12 Modellparameter (SI-Einheiten kg−m−s): Abmessungen: L = 1, L2 = 0.1, L1 = L/2 − L2 /2, a = 0.01, b = a, h = 3/4a, Dichte ρ = 7500, E-Modul E = 210 · 109 , äußere Dämpfung dai = 1, harmonische Gravitationsanregung, reibungsfrei. Abbildung 5.38 zeigt den jeweils größten Realteil aller Eigenwerte. Auf der Abszisse sind die biegekritischen Drehzahlen, also die Eigenfrequenzen zur Biegung des nichtrotierenden Systems abgesetzt gekennzeichnet. Die Instabilitätsbereiche beschränken sich auf die bei schwacher äußerer Dämpfung sicher zu erwartenden zwischenkritischen Bereiche, sodass außerhalb zumindest im gezeigten Drehzahlbereich eine gyroskopische Stabilisierung möglich ist. Noch größere Drehzahlen sind wohl bei den vorliegenden Rotorabmessungen in der Praxis unrealistisch (226 Hz=13560 min−1 ). Trotz der vergleichsweise großen Delaminationslänge von 10cm erscheint der Rotor nach außen weit über die ersten beiden kritischen Bereiche hinaus nahezu ausgewuchtet, zumindest wenn man eine Stelle im intakten Bereich betrachtet. Abbildung 5.39 zeigt dies anhand der statischen Auslenkungen jeweils in der Mitte der Balken 1 bis 3 aufgrund der Fliehkraftwirkung. Abbildung 5.40 zeigt die Zwangsschwingungsamplituden bei Gravitationsanregung des linearen Modells (ohne Kontakt, daher auch die Bezeichnung freie Zwangsschwingungen) an denselben Stellen. Trotz der vergleichsweise schwachen äußeren Dämpfung sind die Gravitationsresonanzerscheinungen nur gering ausgeprägt (hier bei ca. 18 Hz
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
135
und 160 Hz). Sie reichen nicht aus, vgl. Abbildung 5.41, um die statische Auslenkung zu überwinden und somit ein Klappern der Delaminationsfuge in Drehzahlbereichen zu ermöglichen, bei denen sich das zugrunde liegende lineare System stabil verhält.
Abbildung 5.38: (Beispiel 5.12) Größter Realteil aller Eigenwerte bis zur 6. biegekritischen Drehzahl.
136
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.39: (Beispiel 5.12) Statische Auslenkungen an Stellen auf dem Rotor.
Abbildung 5.40: (Beispiel 5.12) Schwingungsamplituden bei Gravitationsanregung an Stellen auf dem Rotor.
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
137
Abbildung 5.41: (Beispiel 5.12) Differenz der statischen Auslenkung und Zwangsschwingungsamplitude nach Beziehung (5.166) in der Mitte der Balken 2 und 3.
138
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.42: (Beispiel 5.13) Größter Realteil aller Eigenwerte bis zur 4. biegekritischen Drehzahl. Beispiel 5.13 Modellparameter (SI-Einheiten kg−m−s): Abmessungen: L = 1, L2 = 0.6, L1 = L/2 − L2 /2, a = 0.01, b = a, h = 3/4a, Dichte ρ = 7500, E-Modul E = 210 · 109 , äußere Dämpfung dai = 1, harmonische Gravitationsanregung, reibungsfrei. Eine analoge Analyse bei einer Delaminationslänge von 60 cm zeigt ein ähnliches Ergebnis. Es erscheint praktisch nicht möglich, das Klappern der Delaminationsfuge anzuregen. Abbildung 5.42 zeigt zunächst die Stabilitätsbereiche anhand der maximalen Realteile. Es zeigt sich, dass das lineare Grundsystem bereits im ersten überkritischen Bereich ab ca. 38 Hz nicht mehr gyroskopisch stabilisierbar ist, es schließlich ab der dritten biegekritischen Drehzahl (43.1 Hz) bei keiner Drehzahl mehr sein wird. Abbildung 5.43 zeigt die Differenz der statischen Auslenkung und der Zwangsschwingungsamplitude bei Gravitationsanregung in der Mitte der Balken 2 und 3. Der Einfluss einer Gravitationsresonanzstelle ist schwach erkennbar. Im Drehzahlbereich, bei dem ein stabiles lineares Grundsystem vorliegt, lässt sich auch bei einer hier vorliegenden Delaminationslänge, die 60% der Rotorlänge entspricht, praktisch kein Klappern anregen. Wie die Beispiele 5.12 und 5.13 nahe legen, kann man beim rotierenden Balken mit Delamination im Allgemeinen nicht damit rechnen, dass die harmonische Gravitationsanregung zu einem ausgeprägten Klappern der Delaminationsfuge führt. Dennoch gibt es spezielle geometrische Konfigurationen, bei denen dieser Effekt eintritt, wie das folgende Beispiel zeigt. Der dabei untersuchte Balken wurde in [75] als nicht-rotierender Balken untersucht.
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
139
Abbildung 5.43: (Beispiel 5.13) Differenz der statischen Auslenkung und Zwangsschwingungsamplitude nach Beziehung (5.166) in der Mitte der Balken 2 und 3. Beispiel 5.14 Modellparameter (SI-Einheiten kg−m−s): Abmessungen: L = 3, L2 = 0.1, L1 = L/2 − L2 /2, a = 0.045, b = 0.04, h = 4/5a, Dichte ρ = 2800, E-Modul E = 69 · 109 (Aluminium), äußere Dämpfung dai = 1, innere Dämpfung mit α2 = 10−5 , harmonische Gravitationsanregung, reibungsfrei. Abbildung 5.44 zeigt zunächst die Stabilitätsbereiche anhand der maximalen Realteile. Es zeigt sich, dass das lineare Grundsystem bereits im ersten überkritischen Bereich ab einer Drehfrequenz von etwa 16.5 Hz nicht mehr gyroskopisch stabilisierbar ist. Die statischen Auslenkungen der neutralen Fasern der Balken 1, 2 und 3 in Abbildung 5.45 zeigen zumindest im ungeschädigten Bereich in der Mitte des ersten Balkens im unterkritischen Betrieb kaum einen Einfluss der Delamination. Die Auslenkung bleibt bezogen auf die Gesamtlänge des Rotors im Promillebereich. Abbildung 5.46 zeigt ausgeprägte Gravitationsresonanzen bei etwa 5.4 Hz und 13.5 Hz. Wie ein Vergleich mit Abbildung 5.47 zeigt, ist jedoch im vorliegenden Beispiel nur die erste, unterkritische Gravitationsresonanz stark genug, um ein Klappern der Delaminationsfuge anzuregen. Abbildung 5.48 zeigt den Verlauf der Öffnung der Delaminationsfuge im eingeschwungenen Zustand bei einer Drehfrequenz von 5.5 Hz in der Nähe der ersten Gravitationsresonanz. Abbildung 5.48a geht aus einer modalen Näherung mit 15 bzw. 16 beibehaltenen Eigenmoden hervor. Konvergenz erscheint plausibel, wie die Vergrößerung in 5.48b zeigt. Die Auswirkung einer weiteren Reduktion der Modenzahl zeigt Abbildung 5.49 (Öffnung der Delaminationsfuge in a) bzw. entsprechende Geschwindigkeit in b)). Es
140
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
ist zu erkennen, dass selbst eine drastische Reduktion mit nur 6 beibehaltenen Moden zu akzeptablen Ergebnissen führt, wenn man in Kauf nimmt, dass an der betrachteten Stelle sich die Fuge nicht vollständig schließt. Offenbar reicht die Modenbasis nicht aus, ein Schließen abzubilden, da bereits an einer anderen Stelle in der Fuge Kontakt besteht. Dieses Verhalten ist physikalisch unrealistisch, dennoch sind die Auswirkungen dieser Inskonistenz auf die globale Bewegung gering. Diese Schlussfolgerung gestattet auch eine Diskussion der Abbildung 5.50. Die Abbildungen zeigen das Phasenporträt eines Punktes auf der neutralen Faser nahe am Ende des Balkens 1. Dabei sind die Ergebnisse einer modalen Näherung mit 6 bzw. 16 beibehaltenen Moden abgebildet. Unterschiede sind erst in der Vergrößerung in Abbildung 5.50b deutlich zu erkennen. Dort erkennt man auch einen Geschwindigkeitssprung, der beim ursprünglich vorliegenden System mit verteilten Parametern physikalisch unrealistisch ist. Ferner ist erkennbar, dass selbst bei 16 beibehaltenen Eigenmoden ein solcher Sprung auftritt, in diesem Fall allerdings wesentlich geringer ausgeprägt erscheint. Wie schon in Beispiel 5.10 angemerkt wurde, kann es an solchen Sprungstellen bei gewöhnlichen numerischen Integrationsmethoden geschehen, dass die Verfahren entweder abbrechen, weil überbestimmte Gleichungen vorliegen (zu viele Kontaktstellen) oder dass sie inkonsistente Zugimpulse berechnen. Die in Kapitel 4 vorgestellten Methoden gewährleisten hingegen einen konsistenten Übergang. In der Praxis wird beim rotierenden Balken mit Delamination somit die Schwierigkeit bestehen, dass das nicht-lineare Antwortverhalten auf die harmonische Gravitationsanregung an den meisten Stellen nur sehr schwach ausgeprägt ist. Dies erkennt man z.B. daran, dass das Phasenporträt in Abbildung 5.50 offenbar kaum von einer bei einem linearen System zu erwartenden Ellipsenform abweicht. Die Anregung von Gravitationsresonanzstellen mit einem stärker ausgeprägten Klappern der Delaminationsfuge ist im vorliegenden Beispiel in der Praxis nicht möglich. Die dazu notwendigerweise erforderlichen Drehzahlen führen zu instabilem Verhalten des linearen Grundsystems.
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
141
Abbildung 5.44: (Beispiel 5.14) Größter Realteil aller Eigenwerte bis zur 3. biegekritischen Drehzahl.
Abbildung 5.45: (Beispiel 5.14) Statische Auslenkungen an Stellen auf dem Rotor.
142
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.46: (Beispiel 5.14) Schwingungsamplituden bei Gravitationsanregung an Stellen auf dem Rotor.
Abbildung 5.47: (Beispiel 5.14) Differenz der statischen Auslenkung und Zwangsschwingungsamplitude nach Beziehung (5.166) in der Mitte der Balken 2 und 3.
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
143
Abbildung 5.48: (Beispiel 5.14) Zur Konvergenz der modalen Näherung bei 15 bzw. 16 beibehaltenen Eigenmoden. Die Abbildungen zeigt die Öffnung der Delaminationsfuge in der Mitte der Balken 2 und 3, wobei Abbildung b) einen vergrößerten Ausschnitt zeigt.
144
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.49: (Beispiel 5.14) Zur Konvergenz der modalen Näherung bei 6 bzw. 16 beibehaltenen Eigenmoden. Abbildung a) zeigt die Öffnung der Delaminationsfuge in der Mitte der Balken 2 und 3. Abbildung b) zeigt die entsprechenden Öffnungsgeschwindigkeiten.
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
145
Die modale Reduktion in Verbindung mit den in Kapitel 4 vorgestellten Integrationsmethoden erweist sich auch beim rotierenden Balken als anwendbare Methode. Wie das abschließende Beispiel zeigt, kann sie im Vergleich zu reinen Penalty- oder Regularisierungsverfahren, vgl. Abschnitt 4.4, zu einem erkennbaren Zeitgewinn führen. Beispiel 5.15 Es gelten die gleichen Modellparameter wie in Beispiel 5.14. Für die Beurteilung des Rechenaufwands kommt im vorliegenden Beispiel ein Regularisierungsverfahren mit dem vereinfachten Kontaktmodell ohne innere Dynamik gemäß (4.80) zum Einsatz. Die verwendeten Regularisierungsparameter sind ci = 103 und di = 4 · 104 . Um zu aussagekräftigen Vergleichsergebnissen zu gelangen, wurden die Regularisierungsparameter so gewählt, dass eine leichte Verletzung der Bindungen eintritt. Abbildung 5.51 zeigt den Verlauf der Öffnung der Delaminationsfuge in der Mitte der Balken 2 und 3. Für eine exaktere Erfüllung der einseitigen Bindungen werden noch größere Regularisierungsparameter notwendig sein, die wiederum einen noch größeren Rechenaufwand nach sich ziehen. Dennoch lässt sich anhand der Abbildung erkennen, dass die globale Bewegung durch diese Wahl der Regularisierungsparameter ausreichend genau abgebildet wird. Im vorliegenden Beispiel kommt neben dem Regularisierungsverfahren ein ereignisgesteuertes Verfahren zum Einsatz. Beide wurden in MATLAB implementiert. Das ereignisgesteuerte Verfahren benötigt im vorliegenden Beispiel die geringsten Rechenzeiten, wenn für den glatten Teil der Bewegung ein explizites Integrationsverfahren verwendet wird (im vorliegenden Fall das in MATLAB implementierte Runge-KuttaVerfahren ode45). Hingegen liefert das Regularisierungsverfahren die schnellsten Rechenzeiten, wenn ein implizites Verfahren für steife Differenzialgleichungen angewandt wird (im vorliegenden Fall das in MATLAB implementierte Verfahren ode15s). Die Toleranzen wurden für beide Verfahren gleich eigestellt (10−5 ), sodass ein direkter Vergleich möglich ist. Dieser lässt auf einen deutlichen Rechenzeitvorteil für ereignisgesteuerte Verfahren in Kombination mit konsistent ermittelten Übergängen schließen. Abbildung 5.52 zeigt die Rechenzeiten der beiden Verfahren in Abhängigkeit von der Anzahl der beibehaltenen Moden bezogen auf die Rechenzeit des ereignisgesteuerten Verfahren bei 6 beibehaltenen Moden.
146
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Abbildung 5.50: (Beispiel 5.14) Zur Konvergenz der modalen Näherung bei 6 bzw. 16 beibehaltenen Eigenmoden. Abbildung a) zeigt das Phasenporträt der Bewegung eines Punktes auf der neutralen Faser am Ende des Balkens 1 (Vergößerung in b)).
5.3. Rotierende Welle mit Delamination
147
Abbildung 5.51: (Beispiel 5.15) Vergleich des ereignisgesteuerten Verfahrens mit Regularisierungsverfahren. Die Abbildung zeigt den Verlauf der Öffnung der Delaminationsfuge in der Mitte der Balken 2 und 3.
Abbildung 5.52: (Beispiel 5.15) Vergleich des ereignisgesteuerten Verfahrens mit Regularisierungsverfahren: Die Abbildung zeigt die Rechenzeiten der beiden Verfahren in Abhängigkeit von der Anzahl der beibehaltenen Moden bezogen auf die Rechenzeit des ereignisgesteuerten Verfahren bei 6 beibehaltenen Moden. .
148
Kapitel 5. Anwendungsbeispiele
Zusammenfassung In der vorliegenden Arbeit wurde eine Formulierung für strukturdynamische Probleme mit reibungsbehafteten Kontakten auf der Grundlage von Maßdifferenzialeinschließungen angegeben. Diese Vorgehensweise bietet die Möglichkeit, die Dynamik von Systemen mit verteilten Parametern nach einer bewusst sehr grob durchgeführten räumlichen Diskretisierung konsistent in die Theorie der nicht-glatten Mechanik von Systemen mit endlichem Freiheitsgrad einzubetten. Ziel der Vorgehensweise ist es, Modellreduktionsverfahren in der Strukturdynamik auch bei einseitigen Bindungen anzuwenden. Die bei Systemen mit verteilten Parametern oftmals physikalisch unrealistischen Geschwindigkeitssprünge aufgrund stoßartiger Kontakte treten bei räumlich grob diskretisierten Strukturen als Näherungsfehler auf, die bei vielen Anwendungen toleriert werden können. Dazu ist es aber erforderlich, dass das nicht-glatte Ersatzsystem immer noch den Grundprinzipien der Mechanik gehorcht. Diese müssen bei einseitigen Bindungen und endlichem Freiheitsgrad in eine entsprechend erweiterte Axiomatik überführt werden. Dazu wurde zunächst anhand der Dynamik des Massenpunkts die ideale Modellvorstellung von Normalkontakt und Reibung in Form einer idealen Undurchdringlichkeit bzw. der Coulombschen Reibung begründet. Als Grundlage einer Verallgemeinerung der Formulierung für Systeme mit beliebiger Anzahl an Kontakten und generalisierten Koordinaten wurde die Dynamik des Massenpunkts anhand verschiedener Varianten von Variationungleichungen formuliert, deren wesentliche Aussagen als eine Verallgemeinerung des Prinzips von Fourier aufgefasst werden können. Der Übergang auf beliebige, räumlich diskretisierte mechanische Systeme unter Einarbeitung der idealen Kontaktmodelle gelingt zwanglos unter Zuhilfenahme mathematischer Strukturen, die die nicht-glatte Analysis zur Verfügung stellt. In der vorliegenden Arbeit wird, den neueren Arbeiten von Rockafellar folgend, auf die Begriffe des Subgradienten schlechthin und des regulären bzw. des Tangentialkegels schlechthin (entsprechendes gilt für die Normalkegel) zurückgegriffen. Dies vermeidet auch die Definition des Normalkegels als Polarkegel des Tangentialkegels, die für die Anwendung wenig anschaulich ist. Somit konnte das Prinzip von Fourier in einer allgemeinen Fassung und darüber hinaus auf verschiedenen kinematischen Ebenen formuliert werden. Das Prinzip von Fourier stellt eine Variationsungleichung dar, wobei die Variationen über die Zugehörigkeit zum Tangentialkegel einer Menge definiert sind, die entsprechend der kinematischen Ebene der Formulierung aus der Gebietseinschränkung hervorgeht. Über die üblichen Beziehungen der nicht-glatten Analysis zwischen Tangential- und Normalkegel konnte ferner eine gleichwertige Darstellung im Sinne einer dynamischen Kräftegleichgewichtsbeziehung angegeben werden. Die Formulierung mechanischer Prinzipien für nicht-glatte Systeme schloss mit einer Variationsungleichung für den Sonderfall einer 149
150
Zusammenfassung
vorgegebenen Normalkraft beim Reibkontakt ab. Die nicht-glatte Bewegung wurde als Maßdifferenzialeinschließung formuliert. Sie ist bei glatter Bewegung gleichwertig zu den im Vorfeld angegebenen mechanischen Prinzipien. Bei nicht-glatter Bewegung haben die angegebenen Einschließungen an den Stellen mit Geschwindigkeitssprüngen den Charakter eines eigenständigen Bewegungsgesetzes und gehen somit nicht unmittelbar aus den Prinzipien für die glatte Bewegung hervor. Es handelt sich dann vielmehr um nicht-glatte konstitutive Gleichungen in Form von Stoßgesetzen. In der vorliegenden Arbeit wurde das aus der Starrkörpermechanik stammende Stoßgesetz in Anlehnung an den Newtonschen Stoß als Maßdifferenzialeinschließung formuliert. Dabei wurde der tatsächliche Zusammenhang zum echten Stoßgesetz nach Newton aufgezeigt, indem die Maßdifferenzialeinschließung an Unstetigkeitsstellen als optimale Näherung an den Newtonschen Stoß bei Mehrfachstößen identifiziert wurde. Die Formulierung von Stoßgesetzen wurde mit der Verallgemeinerung eines Stoßgesetzes nach Frémond auf Mehrfachstöße abgeschlossen. Zur numerischen Behandlung der Maßdifferenzialeinschließungen wurden ein implizites Zeitschrittverfahren und ein ereignisgesteuertes Verfahren beschrieben bei denen ein Zeitschritt bzw. der Übergang an Unstetigkeitsstellen mittels eines linearen Komplementaritätsproblems (bei polyedrischer Näherung der Reibscheibe) formuliert wurde. Insbesondere wurde eine Variante vorgestellt, die es beim Zeitschrittverfahren erlaubt, das Komplementaritätsproblem ohne Näherung der Reibscheibe mit nur einer zusätzlichen Schlupfvariable pro diskretem Reibkontakt zu formulieren. Diese Ausführung des Verfahrens führt allerdings auf gemischte, nicht-lineare Komplementaritätsprobleme. Abschließend wurde diskutiert, wie die nicht-glatten numerischen Verfahren in Regularisierungsmethoden übergehen. Die oben erwähnten Stoßgesetze können schon bei elementaren Starrkörpersystemen zu unrealistischen Ergebnissen führen. Dies wurde anhand des Beispiels eines Mehrfachstoßes aneinandergereihter Kugeln demonstriert. Es wurde ein Verfahren vorgestellt, wie das Zeitschrittverfahren durch eine Mehrskalenmethode geeignet modifiziert werden kann, um diese Inkonsistenz zu vermeiden. Die Modifikation entspricht einer allgemeinen algorithmischen Umsetzung einer Stoßsequenz und wurde als Einschließung formuliert. Simulationsergebnisse unter Berücksichtigung dieser Modifikation wurden mit bekannten Messergebnissen aus der Literatur verglichen und es zeigte sich eine sehr gute Übereinstimmung. Die eingekeilte starre Scheibe ist ein bekanntes Beispiel dafür, dass die Idealvorstellung einer perfekt starren Bindung in Verbindung mit Coulombscher Reibung zu mehrdeutigen Lösungen führen kann. In der vorliegenden Arbeit wurde allgemein gezeigt, dass lokale Nachgiebigkeit in den Normalkontakten ausreicht, um Eindeutigkeit wieder herzustellen. Die nicht-glatte Formulierung der Coulombschen Reibung kann beibehalten werden und braucht nicht durch einen Regularisierungsansatz ersetzt werden. Am Beispiel der eingekeilten Scheibe wurde ferner demonstriert, dass der Ansatz einer lokalen Nachgiebigkeit zu einem Instabilitätsphänomen führen kann, das sich unter Umständen nachteilig auf die Rechenzeit auswirkt. Als weiteres elementares Beispiel wurde der elastische freie Balken in der Ebene diskutiert, der durch einen linienhaften, einseitigen Anschlag in seiner Bewegung eingeschränkt wurde. Anhand des Beispiels konnte demonstriert werden, dass insbesondere bei vorhandenen Starrkörpermoden eine modale Modellreduktionsmethode nur in Verbindung mit den vorgestellten, nicht-glatten Integrationsmethoden möglich ist.
Zusammenfassung
151
Die Vorgehensweise der modalen Reduktion wurde um eine quasi-statische Modellreduktionstechnik erweitert und mit dem bereits vorgestellten Zeitschrittverfahren verknüpft, sodass eine erhebliche Reduktion bei hinreichend genauer globaler Bewegung ermöglicht wurde. Abschließend wurde das Beispiel des rotierenden Balkens mit Delamination diskutiert. Im Vordergrund stand die Fragestellung, ob es prinzipiell möglich ist, durch Gravitationsanregung das Klappern der Delaminationsfuge anzuregen und somit das System prinzipiell für Identifikationsverfahren zugänglich zu machen, die auf diesem stark nicht-linearen Effekt basieren. Es zeigte sich, dass dies bei speziellen geometrischen Konfigurationen zwar möglich ist, doch bei realitätsnahen Abmessungen und Drehzahlen überwiegt der Einfluss der zentrifugalen Wirkungen, welche die Delaminationsfuge tendenziell öffnen, gegenüber den Resonanzphänomenen der Gravitationsanregung, sodass dieser Effekt zur Schadensidentifikation im Betrieb wohl nicht in Frage kommt. Dennoch konnte anhand der Konfigurationen, bei denen das Klappern der Fuge prinzipiell angeregt werden konnte, gezeigt werden, dass modale Reduktionstechniken mit Erfolg in Verbindung mit den vorgestellten nicht-glatten Integrationsverfahren anwendbar sind. Im Vergleich mit Regularisierungsverfahren konnte etwa eine Halbierung der Rechenzeit festgestellt werden.
152
Zusammenfassung
Anhang
155
Anhang A Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis Die Literatur zur nicht-glatten Analysis, z.B. [90, 14, 88, 64], weist keinen einheitlichen axiomatischen Aufbau auf. Definitionen und äquivalente Aussagen sind in dieser Hinsicht austauschbar. Im Folgenden wird vorwiegend Rockafellar und Wets [90] zitiert und um wenige Beispiele erweitert. Es handelt sich um eine verkürzte Darstellung insofern, als nur diejenigen Begriffe und Aussagen der nicht-glatten Analysis wiedergegeben werden, die für die vorliegende Arbeit benötigt und üblicherweise nicht Inhalt der mathematischen Ausbildung ingenieurwissenschaftlicher Studiengänge sind. Ferner wird versucht, die Begriffsbildung möglichst einfach zu halten und auf einige in [90] verwendeten Begriffe zu verzichten (z.B. (engl.) horizon subgradient, horizon limits, geometrical derivability). Dies kann nur erreicht werden, indem im Folgenden einige Voraussetzungen schärfer formuliert werden, als es mit Hilfe der vermiedenen Begriffe möglich gewesen wäre. Für die vorliegende Arbeit ist die Darstellung dennoch allgemein genug. Beweise sind nicht aufgeführt, wenn sie sinngemäß in [90] zu finden sind.
A.1
Effektiver Definitionsbereich, Supremum, Infimum und Grenzwerte von Funktionen
Der Zahlenraum der nicht-glatten Analysis ist gemäß R = R ∪ {−∞, +∞} erweitert. Definition A.1 f : Rn ⊃ C → R:
Effektiver Definitionsbereich (effective domain) dom f := {x ∈ Rn |f (x) < ∞}. Es gelte die Vereinbarung, dass alle in dieser Arbeit vorkommenden Funktionen einen nicht-leeren effektiven Definitionsbereich haben, solche Funktionen werden (engl.) proper genannt. Definition A.2 M ⊂ R:
s ∈ R ist obere Schranke zu M :⇔ s ≥ x ∀x ∈ M,
s ∈ R ist untere Schranke zu M :⇔ s ≤ x ∀x ∈ M.
156
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis Definition A.3 M ⊂ R, S = s ∈ R|s ≥ x ∀x ∈ M , I = s ∈ R|s ≤ x ∀x ∈ M : R ∋ s = sup M ist Supremum zu M :⇔ s ≤ x ∀x ∈ S, R ∋ s = inf M ist Infimum zu M :⇔ s ≥ x ∀x ∈ I.
Das Supremum einer Menge ist also ihre kleinste obere Schranke, das Infimum dementsprechend die größte untere Schranke. Beide können jeweils auch außerhalb der Menge liegen, was sie somit vom Maximum bzw. Minimum unterscheidet, die nicht existieren müssen. Die Definitionen lassen sich sinnvollerweise auf Funktionen und Grenzwerte erweitern: Definition A.4 f : Rn ⊃ C → R, B(y, ε) = {x ∈ Rn | ε > kx − yk}: inf C f := inf f (x) := inf{f (x)|x ∈ C}, x∈C
supC f := sup f (x) := sup{f (x)|x ∈ C}, x∈C
lim sup f (x) := lim supB(y,ε) f (Limes Superior ), x→y
εց0
lim inf f (x) := lim inf B(y,ε) f (Limes Inferior ). x→y
A.2
εց0
Offene und abgeschlossene Mengen, abgeschlossene Hülle, Epigraf, Halbstetigkeit Definition A.5 C ⊂ Rn , B(y, ε) = {x ∈ Rn | ε > kx − yk}: C offen :⇔ ∀x ∈ C ∃ε > 0 : B(y, ε) ⊂ C.
Jedes Element einer offenen Menge hat eine Umgebung, deren Elemente ebenfalls in der Menge liegen. Der Rand der Menge gehört demnach nicht zur Menge. Definition A.6 C ⊂ A ⊂ Rn :
C abgeschlossen in A :⇔ A \ C offen. Die Abgeschlossenheit einer Menge wird über die Offenheit ihres Komplements definiert. Abgeschlossenheit ist somit im Allgemeinen nicht das Gegenteil von Offenheit. Eine offene Menge kann zur Abgeschlossenheit um einen Rand ergänzt werden: Definition A.7 C ⊂ Rn , B(y, ε) = {x ∈ Rn | ε > kx − yk}: Abgeschlossene Hülle (closure) von C: cl C := {x ∈ Rn | B(x, ε) ∩ C 6= ∅∀ε > 0}, Inneres (interior) von C: int C := {x ∈ Rn | ∃ε > 0 : B(x, ε) ⊂ C}, Rand (boundary) von C: bnd C := cl C \ int C. Die abgeschlossene Hülle einer Menge C ⊂ Rn ist, wie man zeigen kann, abgeschlossen in Rn .
A.2. abgeschlossene Hülle, Epigraf, Halbstetigkeit
157
Beispiel A.8 C = (0, 1) ist offen. Für jedes Element 0 < x < 1 gibt es ein Element . y ∈ C mit x2 ≤ y ≤ 1−x 2 cl C = [0, 1] ist abgeschlossen in R, da cl C \ R = (−∞, 0) ∪ (1, ∞) offen ist. Einer reellwertigen Funktion kann eine Menge zugeordnet werden, die als Epigraf von f bezeichnet wird und geometrisch als die Menge der Punkte auf oder oberhalb des Grafen der Funktion zu deuten ist: Definition A.9 f : Rn ⊃ C → R:
Epigraf von f : epi f := {( x, y) ∈ Rn × R| y ≥ f (x)}. In der nicht-glatten Analysis ist neben der Stetigkeit einer Funktion auch eine schwächere Eigenschaft nützlich. So können Funktionen unter-halbstetig (lower semicontinuous, lsc) bzw. ober-halbstetig (upper semicontinuous, usc) sein: Definition A.10 f : Rn ⊃ C → R: f lsc :⇔ lim inf f (x) = f (y), x→y
f usc :⇔ lim sup f (x) = f (y). x→y
Den Zusammenhang mit Stetigkeit zeigt Bemerkung A.11 f : Rn ⊃ C → R: f stetig ⇔ f lsc und usc.
Unstetige Funktionen können demnach noch halbstetig sein: 0; x ≤ 0 Beispiel A.12 f (x) = . 1; x > 0 lim inf f (x) = lim inf f (x) = lim(0) = 0 = f (0). Somit ist f lsc. x→0 εց0 ε>|x| ! εց0 lim sup f (x) = lim x→0
εց0
sup f (x)
ε>|x|
= lim(0) = 1 6= f (0). Somit ist f nicht usc und εց0
insgesamt unstetig.
Die Halbstetigkeit hat auch eine mengentheoretische Bedeutung: Satz A.13 f : Rn ⊃ C → R:
epi f ist abgeschlossen in Rn × R ⇔ f lsc. Manche Literatur nutzt diese Aussage zur Definition der unteren Halbstetigkeit. Ausgehend vom Epigrafen lässt sich ein weiterer Konvergenzbegriff für Funktionenfolgen definieren: Definition A.14 fk : Rn ⊃ C → R, k ∈ N: e-limk→∞ fk = f :⇔ lim epi fk = epi f . k→∞
Der Grenzwert ist also im epigrafischen Sinne diejenige Funktion, deren Epigraf die Grenzmenge der Folge der Epigrafen der einzelnen Glieder der Funktionenfolge darstellt.
158
A.3
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
Indikatorfunktion, Abstand zu Mengen, Konvergenz von Mengenfolgen
Die Zugehörigkeit zu einer Menge wird in der nicht-glatten Analysis mit Hilfe der Indikatorfunktion ausgedrückt: Definition A.15 C ⊂ Rn ∋ x: 0; x ∈ C Indikatorfunktion: ΨC (x) := +∞; x ∈ /C Der Begriff der Konvergenz von Folgen reeller Zahlen kann auf Mengenfolgen erweitert werden. Dazu ist zunächst der Begriff des Abstandes eines Elementes von einer Menge genauer zu klären: Definition A.16 x ∈ C ⊂ Rn : dC (x) := infn {ΨC (y) + kx − yk} = y∈R
(
inf kx − yk; C 6= ∅
y∈C
+∞;
C=∅
.
Der Abstand von einer Menge wird also als kleinste untere Schranke aller elementweise gewonnenen Abstände erklärt. Bei der zweiten Gleichung zeigt sich, dass die Indikatorfunktion ein nützliches Mittel zur Gebietseinschränkung bei Minimierungsproblemen ist. Ein Minimum einer additiv um eine Indikatorfunktion erweiterten Zielfunktion ist zumindest nicht dort zu suchen, wo die Indikatorfunktion +∞ als Funktionswert liefert. Beispiel A.17 Verschwindende Abstände sind notwendig aber im Allgemeinen nicht hinreichend für die Zugehörigkeit zu einer Menge. Mit z.B. C = [0, 1) gilt dC (1) = 0 = dC (0). Grenzwerte von Mengen (Grenzmengen) sind als Mengen von Elementen aufzufassen, deren Abstände gewisse Nullfolgen bilden: Definition A.18 C k ⊂ Rn ∀k ∈ N: Innere Grenzmenge (inner limit): lim inf Ck :=
x ∈ R | lim sup dCk (x) = 0 , k→∞ n o n Äußerer Grenzmenge (outer limit): lim sup Ck := x ∈ R | lim inf dCk (x) = 0 . k→∞
k→∞
n
k→∞
Mengenfolge {Ck } konvergiert gegen C:
{Ck } → C :⇔ lim inf Ck = lim sup Ck = C. k→∞
k→∞
Die Namensgebung erweist sich als schlüssig: Bemerkung A.19 Ck ⊂ Rn ∋ x ∀k ∈ N:
lim inf Ck (x) ⊂ lim sup Ck (x). k→∞
k→∞
Die innere Grenzmenge liegt also immer in der äußeren Grenzmenge, womit auf Mengenfolgen die Eigenschaft einer Zahlenfolge {ak } entsprechend übertragbar ist, dass lim inf ak ≤ lim sup ak gilt [44]. k→∞
k→∞
159
A.4. Mengenwertige Abbildungen
Beispiel A.20 Sei eine Mengenfolge Ck = 0, 1 + (−1)k gegeben. Für ungerade k ist Ck = (0, 0) leer, ansonsten Ck = (0, 1). Für die leere Menge gilt nach Definition A.16 der Abstandsfunktion d∅ = +∞, sodass es keine zu null konvergierende, kleinste obere Schranke gibt, womit lim inf Ck = ∅ feststeht. Die größte untere Schranke k→∞
der Abstandsfunktionen verschwindet für alle Elemente aus [0, 1] und nur für diese. Man beachte, dass auch die Intervallgrenzen 0 bzw. 1 eingeschlossen sind. Somit ist lim sup Ck = [0, 1] sogar abgeschlossen. k→∞
Die Abgeschlossenheit der Grenzmengen trifft immer zu: Satz A.21 Ck ⊂ Rn ∀k ∈ N:
lim sup Ck und lim inf Ck sind abgeschlossen in Rn . k→∞
k→∞
Beispiel A.22 Der Mengenkonvergenzbegriff leistet also nicht, dass z.B. Ck = 0, 1 − k1 gegen das offene Intervall (0, 1) konvergiert, sondern (0, 1 − k1 ) → [0, 1]. Selbst Folgen, deren Glieder jeweils dieselbe konstante Menge sind, konvergieren daher im Allgemeinen nicht zu eben dieser Menge, was (0, 1) → [0, 1] zeigt.
A.4
Mengenwertige Abbildungen Definition A.23 Eine Zuordnung S eines Elements einer Menge X zu einem Element der Potenzmenge (Menge aller Teilmengen) einer Menge Y wird mengenwertige Abbildung (set-valued mapping) oder Multifunktion (multifunction) genannt und mit dem Symbol ⇉ wie folgt bezeichnet: S : X ⇉ Y, X ∋ x 7→ S(x) ⊂ Y.
Auch für mengenwertige Abbildungen sind Grenzmengen definiert: Definition A.24 S : Rn ⇉ Rn : innere Grenzmenge: lim inf S(x) := x→y
lim inf S(xk ),
{xk }→y k→∞
äußere Grenzmenge: lim sup S(x) := x→y
T
S
{xk }→y
lim sup S(xk ). k→∞
Die Vereinigungen bzw. Schnitte sind für alle gegen y strebenden Folgen {xk } zu verstehen. Die Grenzmengen für mengenwertige Abbildungen lassen sich äquivalent über Punktfolgen beschreiben: Satz A.25 S : Rn ⇉ Rn ; {xk }, {uk } ⊂ Rn Folgen:
lim inf S(x) = {u ∈ Rn | ∀{xk } → y ∃{uk } → u : uk ∈ S(xk )}, x→y
lim sup S(x) = {u ∈ Rn | ∃{xk } → y ∃{uk } → u : uk ∈ S(xk )}. x→y
Damit ist eine zu Bemerkung A.19 analoge Eigenschaft nachweisbar: Bemerkung A.26 S : Rn ⇉ Rn : lim inf S(x) ⊂ lim sup S(x). x→y
x→y
160
A.5
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
Mengenalgebra Definition A.27 A, B ⊂ Rn , λ ∈ R, x ∈ Rn :
Summe, Differenz : Verschiebung: Streckung:
A ± B := {y ∈ Rn | ∃a ∈ A, b ∈ B : y = a ± b}, A ± x := A ± {x}, λA := {y ∈ Rn | ∃a ∈ A : y = λa}.
Summen und Differenzen von Mengen in diesem Sinne entsprechen im Allgemeinen nicht der Vereinigung (A ∪ B) bzw. der Differenzmenge (A \ B).
A.6
Konvexität von Mengen und Funktionen
Konvexität ist die Eigenschaft einer Menge, bei der sich alle Elemente innerhalb der Menge paarweise geradlinig verbinden lassen: Definition A.28 C ⊂ Rn :
C konvex :⇔ ∀x, y ∈ C : αx + (1 − α)y ∈ C∀α ∈ (0, 1). Beispiele für konvexe Mengen sind in trivialer Weise die leere Menge, Mengen, die nur aus einem Element bestehen, die reellen Zahlen R, der Raum Rn , Rn+ := {x ∈ Rn | x ≥ 0}, Rn− := {x ∈ Rn | x ≤ 0}. Satz A.29 Es sind Rn ⊃ A, B konvex, λ ∈ R.
Dann sind folgende Mengen ebenfalls konvex: i) A ∩ B,
ii) A ± B, iii) λA.
Vereinigungen konvexer Mengen sind im Allgemeinen nicht konvex. Ein Beispiel hierfür ist mit den konvexen Mengen A = {0} und B = {1} die Menge C = A ∪ B. Nicht jedes Element auf der Verbindungslinie liegt in C, z.B. 0.5 ∈ / C. Nicht-konvexe Mengen können konvexifiziert werden. Dazu ist der Schnitt aller konvexen Mengen zu nehmen, die C enthalten: Definition A.30 C ⊂ Rn :
Konvexe Hülle (convex hull) von C: con C :=
T
D⊃C
D mit Rn ⊃ D konvex.
Nach Satz A.29 ist der Schnitt konvexer Mengen konvex. Die konvexe Hülle von C ist insofern die „kleinste“ konvexe Menge, die C enthält, als sie per Definition die einzige Menge ist, die in allen konvexen Mengen liegt, deren Teilmenge sie ist. Man nennt p P eine Linearkombination λi xi genau dann eine Konvexkombination, wenn speziell p P
i=0
i=0
λi = 1 gilt. Wie sich zeigen lässt, besteht die konvexe Hülle einer Menge C aus allen
Elementen, die aus einer Konvexkombination von Elementen aus C hervorgehen:
A.7. Kegel, Tangential- und Normalkegel, Regularität
161
Satz A.31 C ⊂ Rn : p p P P n con C = x ∈ R | ∃λi ≥ 0, xi ∈ C : x = λi xi , λi = 1, N ∋ p ≥ 0 . i=0
i=0
Der Begriff der Konvexität ist auch für reellwertige Funktionen erklärt: ¯ x 7→ f (x): Definition A.32 Rn ⊃ C konvex, f : C → R,
f konvex :⇔ ∀x, y ∈ C : f (αx + (1 − α))y) ≤ αf (x) + (1 − α)f (y).
Streng konvexe Funktionen erfüllen die vorige Ungleichung streng, also mit < an Stelle von ≤. Konvexe Funktionen haben demnach die Eigenschaft, dass die Verbindungslinie zwischen zwei beliebigen Punkten des Grafen immer oberhalb des Grafen liegt. Zwischen der Konvexität von Mengen und Funktionen besteht daher folgender Zusammenhang: Satz A.33 f : Rn ⊃ C → R, x 7→ f (x): f konvex ⇔ epi f konvex.
Manche Literatur benutzt diese Aussage zur Definition einer konvexen Funktion. Beispiel A.34 Die Indikatorfunktion ΨC einer Menge C ⊂ Rn ist genau dann konvex, aber nicht streng konvex, wenn C konvex ist.
A.7
Kegel, Tangential- und Normalkegel, Regularität Definition A.35 ∅ = 6 K ⊂ Rn :
K Kegel :⇔ ∀x ∈ K : λx ∈ K∀λ ≥ 0.
Ein konvexer Kegel K ist spitz (pointed) :⇔ K ∩ −K = {0}. Kegel sind demnach Mengen K, die invariant unter positiver Streckung sind, d.h. es gilt K = λK für beliebige λ ≥ 0. Die Idee einer Tangentialmenge oder einer Variation zu einem Element x ∈ C ⊂ Rn soll im Folgenden genauer gefasst werden. Mit x ∈ C und den konvergenten Folgen Rn ⊃ {vk } → v, R ⊃ {tk } ց 0 verbirgt sich hinter der Forderung vk tk + x ∈ C für k → ∞ die Vorstellung, dass das Ergebnis einer beliebig kleinen Verschiebung von x in Richtung v noch in C liegt: Definition A.36 x ∈ C ⊂ Rn :
Tangentialkegel (schlechthin, auch Kontingent-Tangentialkegel oder BoulingantKegel ) an C bei x: n o TC (x) := v ∈ Rn | ∃{tk } ց 0 ∃{vk } → v : vk ∈ t1k (C − x) .
In der Tat kann man zeigen, dass die so definierte Menge TC (x) einen Kegel darstellt und daher der Name berechtigt ist. Im Rückblick auf Satz A.25 ist folgender Zusammenhang erkennbar:
162
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis Bemerkung A.37 1 TC (x) = lim sup (C − x) t tց0 1 = lim sup (C − y). →x t tց0, y−− C
Die Schreibweise y−−C→ x bedeutet, dass y innerhalb der Menge C gegen x strebt. Die zweite Gleichung folgt aus Satz A.25 aufgrund der Existenz der Folge {xk } mit xk = x ∈ C, für die offensichtlich {xk }−−C→ x gilt. Die vorige Bemerkung liefert die Anregung zur Definition A.38 x ∈ C ⊂ Rn :
Regulärer Tangentialkegel an C bei x: TbC (x) := lim inf 1t (C − y). →x tց0, y−− C
Auch für die so definierte Menge lässt sich zeigen, dass sie tatsächlich ein Kegel ist. Satz A.25 liefert eine entsprechende Beschreibung über Folgen: Bemerkung A.39 x ∈ C ⊂ Rn : n b TC (x) = v ∈ Rn | ∀{tk } ց 0 ∀{xk }−−C→ x ∃{vk } → v : vk ∈
1 (C tk
o
− xk ) .
Aus Bemerkung A.26 folgt, dass der reguläre Tangentialkegel stets im KontingentTangentialkegel enthalten ist: Bemerkung A.40 C ⊂ Rn : TbC (x) ⊂ TC (x).
Die Darstellungen der Tangentialkegel in Bemerkung A.37 bzw. Definition A.38 erlauben eine anschauliche Deutung: Beispiel A.41 Die Grenzmengen der Ausdrücke 1t (C − y) denke man sich für t → 0, d.h. 1t → ∞, als „unendlich“-fache Vergrößerung der bei y zentrierten Menge C. So erhält man den Kontingent-Tangentialkegel TC (x) nach Definition A.24 als Vereinigung aller Vergrößerungen bei y = x. In Abbildung A.1 ist der Kontingent-Tangentialkegel an einer nicht-glatten Ecke einer Menge C bei x dargestellt. Die nicht-glatte Ecke wird in unendlich-facher Vergrößerung zu einem Keil mit geraden Begrenzungslinien. Es erscheint bei dieser Betrachtung plausibel, dass das Element u nicht zum KontingentTangentialkegel gehört, was sich auch streng zeigen lässt. Andernfalls müsste es nämlich gemäß Definition A.36 konvergente Folgen {vk } → u und {tk } → 0 mit vk tk + x ∈ C für alle k geben. Da x aber bereits auf dem Rand von C und dazu vk für hinreichend großes k beliebig nahe an u liegt, endet die Verschiebung von x um vk tk für ein hinreichend großes k zwingend außerhalb von C, möge tk 6= 0 noch so klein sein. Es kann daher keine solche nach u strebende Folge geben, also liegt u nicht in TC (x). Der reguläre Tangentialkegel an C bei x ist in Abbildung A.2 dargestellt. Nach den Definitionen A.38 und A.24 ist der Schnitt aller Grenzmengen gewisser Mengenfolgen t1k (C − xk ) zu
A.8. Normalkegel
163
Abbildung A.1: Kontingent-Tangentialkegel an nicht-glatter Ecke bei x. betrachten. Anschaulich ausgedrückt: Unendlich-fache Vergrößerungen an glatten Stellen beliebig nahe bei der nicht-glatten Ecke x ergeben durch Geraden (den Tangenten) begrenzte Halbräume. Als Schnitt solcher Halbräume an Elementen, die sich beliebig nahe bei x links bzw. rechts davon befinden, verbleibt der eingezeichnete Keil. Es gibt Mengen mit Ecken, bei denen der reguläre mit dem Kontingent-Tangentialkegel zusammenfällt. Dies ist in Abbildung A.3 dargestellt. Die Identität des regulären Tangentialkegels mit dem Kontingent-Tangentialkegel an bestimmten Elementen einer Menge weist sie als regulär (auch tangential-regulär ) an diesen Elementen aus. Darauf wird in Satz A.53 genauer eingegangen. Anhand der skizzierten Mengen ist zu erkennen, dass die beiden Tangentialkegelausführungen bei solchen nicht-glatten Ecken identisch sind, die eine Ausbuchtung darstellen, siehe Abbildung A.3. Bei eingebuchteten Ecken wie in den Abbildungen A.1 und A.2 trifft diese Identität nicht zu. Die Tangentialkegel bei x sind in den Abbildungen jeweils verschoben um x dargestellt, sodass sie affin-tangential erscheinen. In Wahrheit – es handelt sich schließlich um Kegel – ist in ihnen die Null enthalten. Sie liegt jeweils an der Ecke des Kegels. Elemente eines regulären oder Kontingent-Tangentialkegels bei x ∈ C nennt man tangential an C bei x im regulären Sinne bzw. tangential schlechthin. Liegt ein Element nicht auf dem Rand der Menge, sondern in ihrem Innern, so ist dort der ganze Raum tangential zu ihr:
A.8
Bemerkung A.42 x ∈ C ⊂ Rn : x ∈ int C ⇒ TC (x) = TbC (x) = Rn .
Normalkegel
Mit der Erweiterung des Tangentenbegriffs in der nicht-glatten Analysis geht eine Verallgemeinerung des Normalenbegriffs einher.
164
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
Abbildung A.2: Regulärer Tangentialkegel an nicht-glatter Ecke bei x. Definition A.43 x ∈ C ⊂ Rn : bC (x) := {v ∈ Rn | v⊺(y − x) ≤ o(ky − xk)∀y ∈ C}. Regulärer Normalkegel : N
Das Symbol o(ky − xk) bezeichnet im Zusammenhang mit der Menge C einen Term mit der Eigenschaft, dass o(ky−xk) → 0 für y−−C→ x und y 6= x strebt. Der reguläre ky−xk Normalkegel an einer Menge C bei x enthält damit alle Elemente, die hinreichend nahe bei x keinen Anteil in Richtung eines beliebigen Elementes von C haben. Auch für den regulären Normalkegel lässt sich zeigen, dass die Menge tatsächlich ein Kegel ist. In der mathematischen Literatur wird ein weiterer Normalkegeltyp verwendet: Definition A.44 x ∈ C ⊂ Rn :
bC (y). Normalkegel (schlechthin): NC (x) := lim sup N →x y−− C
Mit Hilfe der beiden Normalkegeltypen werden reguläre (tangential-reguläre) abgeschlossene Mengen, beschrieben: Definition A.45 x ∈ C ⊂ Rn , C abgeschlossen:
C (tangential ) regulär (auch regulär im Sinne von Clarke) bei x :⇔ bC (x). NC (x) = N Eine Menge C wird regulär genannt, wenn sie für alle x ∈ C regulär ist.
Abgeschlossenheit der Menge C ist hier Voraussetzung für Regularität. In [90] wird nur lokale Abgeschlossenheit gefordert. In der vorliegenden Arbeit ist aber die stärkere Forderung immer erfüllt und stellt daher keine Einschränkung dar. Beispiel A.46 In Abbildung A.4 ist eine bei x nicht-reguläre Menge dargestellt. Der reguläre Normalkegel bei x schrumpft auf die einzig aus der Null bestehende Menge zusammen. Anschaulich ist klar, dass bei eingebuchteten Ecken die Null das einzige Element ist, das zu jedem Element x⋆ ∈ C keinen Anteil in ebendessen Richtung
A.8. Normalkegel
165
Abbildung A.3: Beispiel für identische reguläre und Kontingent-Tangentialkegel an nicht-glatter Ecke bei x. x⋆ − x hat. Der Normalkegel schlechthin besteht aus den zwei von der Null ausgehenden Strahlen. Sie sind im Sinne der Definition A.44 des Normalkegels angesichts der bC (xk ) für Definition A.24 die äußeren Grenzmengen der mengenwertigen Abbildung N Folgeglieder xk −−C→ x. An glatten Stellen xk auf dem Rand ist der reguläre Normalkegel ein nach außen weisender, senkrecht zur Berandung stehender Strahl, der von der bC (xk ) = 0. Null ausgeht. Für Folgen, die nicht über den Rand nach x verlaufen, gilt N Schließlich führt die nach Definition A.24 geforderte Vereinigung der Grenzmengen nur zu den beiden eingezeichneten Strahlen. Abbildung A.5 zeigt eine bei x reguläre Menge. Der reguläre Normalkegel ist mit dem Normalkegel schlechthin identisch. Im Innern einer Menge kann nur die Null normal sein: Bemerkung A.47 x ∈ C ⊂ Rn :
bC (x) = 0. x ∈ int C ⇒ NC (x) = N
A.8.1
Dualraum
Die Winkelbeziehungen in der Theorie der Normalkegel ist im vorigen Abschnitt bereits in vereinfachter Weise mittels des Standardskalarprodukts der Matrizenrechnung – also Operationen der Form x⊺y ∈ R – dargestellt. Im Allgemeinen werden Skalarprodukte als Dualitätspaarungen in der Theorie der Dualräume behandelt, siehe z.B. [10, 32]. Der Vollständigkeit halber wird an dieser Stelle kurz darauf eingegangen, nur um anschließend wieder den Übergang zur vereinfachten Darstellung korrekt einzuführen. Definition A.48 V Vektorraum über R: Dualraum V ⋆ := {φ : V → R| φ(αx + βy) = αφ(x) + βφ(y) ∀α, β ∈ R, x, y ∈ V }.
166
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
Abbildung A.4: Normalkegel an einer bei x nicht-regulären Menge. Der Dualraum ist also die Menge aller linearen Abbildungen von V auf die reellen Zahlen und man kann zeigen, dass er selbst ein Vektorraum über R ist. Anstatt φ oder φ(x) wird häufig hφ, ·i bzw. hφ, xi geschrieben. Solange nichts anderes vereinbart wird, reicht es für die vorliegende Arbeit aus, alle vorkommenden endlich dimensionalen Vektorräume als den Rn aufzufassen, was spätestens P nach einer Koordinatendarstellung x = (α1 . . . αn )⊺ ∈ Rn eines Elements n V ∋ x = i=1 αi vi bezüglich einer Basis {v1 , . . . , vn } ⊂ V als plausibel erscheint. Dies erspart die exakte Buchführung bei Mengendefinitionen und erleichtert das Konzept des Dualraums. Elemente φ des Dualraums können eindeutig Zeilenmatrizen φ⊺ aus R1×n zugeordnet werden. Dualitätspaarungen hφ, xi können sofort als das übliche Matrizenskalarprodukt φ⊺x aufgefasst werden. Beispiel A.49 In der Mechanik werden Geschwindigkeiten (bzw. Verschiebungen) ~v ∈ V und Kräfte hF~ , ·i ∈ V ⋆ häufig als Elemente verschiedener, aber zueinander dualer Räume verstanden, wobei V gelegentlich der Anschauungsraum genannt wird. Die Lineare Abbildung hF~ , ~v i wird als Leistung (bzw. Arbeit) definiert. Ein Element F~ ∈ V wird über hF~ , ~v i = F~ · ~v mit hF~ , ·i ∈ V ⋆ identifiziert, womit man zum anschaulichen vektoriellen Kraftbegriff gelangt.
A.9
Polarkegel, Beziehungen zwischen Normal- und Tangentialkegel
Normalen und Tangenten spielen auch in der nicht-glatten Analysis die Rolle polarer Paarungen. Definition A.50 Rn ⊃ K Kegel:
Polarkegel zu K: K ⋆ := {v ∈ Rn | v⊺x ≤ 0∀x ∈ K}.
A.9. Polarkegel, Beziehungen zwischen Normal- und Tangentialkegel
167
Abbildung A.5: Normalkegel an einer bei x regulären Menge. Der Polarkegel zu K besteht also aus allen Elementen, die keinen Anteil in positiver Richtung zu Elementen aus K haben. Satz A.51 x ∈ C ⊂ Rn : bC (x) = TC (x)⋆ . N
TbC (x) = NC (x)⋆ , falls C abgeschlossen.
Es gilt also im Allgemeinen nicht, dass die jeweils regulären Normal- und Tangentialkegel polar zueinander sind. Die erste Polaritätseigenschaft des vorigen Satzes bedeutet elementweise: Bemerkung A.52 C ⊂ Rn : bC (x) ⇔ u⊺w ≤ 0 ∀w ∈ TC (x). u∈N
Die rechte Seite der Äquivalenz in Bemerkung A.52 nennt man Variationsungleichung oder auch variationelle Ungleichung. Die vollständige Polarität aller Varianten der Normal- und Tangentialkegel erweist sich als ein Kriterium für Regularität: Satz A.53 x ∈ C ⊂ Rn , C abgeschlossen:
Die folgenden Aussagen sind äquvivalent: bC (x). i) C regulär bei x, d.h NC (x) = N ii) TC (x) = TbC (x).
iii) TC (x) = NC (x)⋆ . iv) NC (x) = TC (x)⋆ .
Manche Literatur benutzt Aussage ii) des vorigen Satzes zur Definition der (tangentialen) Regularität. Die jeweils regulären Kegelvarianten sind konvex:
168
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis Satz A.54 x ∈ C ⊂ Rn : bC (x) und TbC (x) sind konvex. N
Konvexität der Grundmenge vereinfacht die Darstellung der Kegel: Satz A.55 x ∈ C ⊂ Rn , C konvex und abgeschlossen: bC (x) = {u ∈ Rn | u⊺(y − x) ≤ 0 ∀y ∈ C}. NC (x) = N
TC (x) = TbC (x) = cl {v ∈ Rn | ∃λ > 0 : x + λv ∈ C}.
C ist somit auch regulär.
Die Beschreibung von Mengen über die Zugehörigkeit des Abbildes zu einer bestimmten anderen Menge ist bei vielen Anwendungen ein nützliches Mittel. Die zugehörigen Kegel lassen sich wie folgt beschreiben. Satz A.56 Rm ⊃ D abgeschlossen, F (·) = (f1 (·), . . . , fm (·))⊺ : Rn → Rm stetig differenzierbar, x ∈ C = {x ∈ Rn | F (x) ∈ D}:
i)
n o bC (x) ⊃ ∇⊺F (x)λ ∈ Rn | λ ∈ N bD (F (x)) , N
TC (x) ⊂ {v ∈ Rn | ∇F (x)v ∈ TD (F (x))}. bD (F (x)) aus ∇⊺F (x)λ = 0 schon λ = 0 folgt, dann gilt ii) Falls für λ ∈ N sicherlich NC (x) ⊂ {∇⊺F (x)λ ∈ Rn | λ ∈ ND (F (x))}, n o TbC (x) ⊃ v ∈ Rn | ∇F (x)v ∈ TbD (F (x)) .
iii) Falls zusätzlich zur Voraussetzung in ii) D regulär bei F (x) ist, dann gilt bC (x) = {∇⊺F (x)λ ∈ Rn | λ ∈ ND (F (x))}, NC (x) = N TC (x) = TbC (x) = {v ∈ Rn | ∇F (x)v ∈ TD (F (x))}. Somit ist C ebenfalls regulär.
Die Matrix ∇F (x) bezeichnet die Jacobimatrix. Ihre Einträge sind gemäß (∇F (x))ij = fi (x) erklärt. Die Transponierte der Jacobimatrix wird mit ∇⊺F (x) bezeichnet. ∂xj Die Bedingungen in ii) des Satzes A.56 nennt man (engl.) constraint qualification. Hinreichend für ihre Erfüllung ist offensichtlich, dass die Gradientenmatrix ∇F (x) vollen Rang hat. Es gibt aber wesentlich schwächere Bedingungen dafür, z.B.: Bemerkung A.57 Bedingung ii) des Satzes A.56 ist speziell für D = {(y1 , . . . , ym )⊺ ∈ Rm | yi ≥ 0 falls i = 1, . . . , r; yi = 0 falls i = r + 1, . . . , m} gleichwertig zur Forderung, dass ∇fi (x) für i = r + 1, . . . , m linear unabhängig sind und es zudem ein Element v ∈ Rn gibt, sodass ∇fi (x)v > 0 für alle i = 1, . . . , r mit fi (x) = 0 und ∇fi (x)v = 0 für alle i = r + 1, . . . , m gilt.
A.9. Polarkegel, Beziehungen zwischen Normal- und Tangentialkegel
169
Für polyedrische Mengen vereinfachen sich die Darstellungen der Kegel: Satz A.58 A ∈ Rn×m , b ∈ Rm , x ∈ C ⊂ Rn :
Falls C polyedrisch ist, also falls es Matrizen A, b gibt, sodass n ⊺ m C = x ∈ R | A x + b ∈ R+ ist, dann gilt: n o n ⊺ b m NC (x) = NC (x) = Aλ ∈ R | λ ∈ NR+ (A x + b) , n o ⊺ TC (x) = TbC (x) = v ∈ Rn | A⊺v ∈ TRm (A x + b) . +
Für polyedrische Mengen gilt also sofort die Darstellung iii) aus Satz A.56. Die Voraussetzungen aus ii) und iii) brauchen nicht verlangt werden. Bemerkung A.59 Polyedrische Mengen sind konvex. Gilt nämlich A⊺x1 + b ≥ 0 und A⊺x2 + b ≥ 0, dann folgt für jeden Punkt der Verbindungslinie x = αx1 + (1 − α)x2 mit 0 ≤ α ≤ 1, dass A⊺x + b = αA⊺x1 + b + (1 − α) (A⊺x2 ) ≥ 0 wird. Dies sieht man sofort, wenn man die Identität b = αb + (1 − α)b verwendet. m Die Kegel für den sogenannten positiven Orthanten Rm werden wie folgt + des R berechnet: Bemerkung A.60 x = (x1 , . . . , xm )⊺ ∈ Rm +: bRm (x) = λ ∈ Rm | λ⊺x = 0 , i) NRm (x) = N +
+
−
ii) TRm (x) = TbRm (x) = {(v1 , . . . , vm )⊺ ∈ Rm | xi = 0 ⇒ vi ≥ 0 ∀i = 1, . . . , m}. + +
Wegen λ ≤ 0 und x ≥ 0 ist die Bedingung λ⊺x = 0 in i) der vorigen Bemerkung gleichwertig zu den eintragsweisen Forderungen xi λi = 0. Solche Beziehungen werden auch als Komplementaritätsbedingungen bezeichnet, da nie beide Einträge xi bzw. λi zugleich von null verschieden sein können. Beispiel A.61 Die Voraussetzungen zu Satz A.56 in ii) und iii) sind berechtigt. Für die reguläre Menge C = {0} = {x ∈ R|x ∈ {0}} erhält man die Kegel TC (0) = {0} und NC (0) = R, die wegen der erfüllten Voraussetzungen in ii) und iii) des Satzes A.56 mit den eben dort beschriebenen Kegeln übereinstimmen. Alternativ lässt sich C zum Beispiel über C = {x ∈ R| F (x) = x2 ∈ R− } beschreiben. Mit ∇F (0) = 2x|x=0 = 0 liefern die Formeln in iii) – freilich unter Missachtung der Voraussetzungen – fälschlicherweise NC (0) = {0} und TC (0) = R. In der Tat ist die Voraussetzung in ii) nicht erfüllt. Ergänzend wird noch die Summenregel für Normalkegel zu Schnittmengen angegeben, die indirekt aus Satz A.56 folgt. Bemerkung A.62 x ∈ C = C1 ∩ . . . ∩ Cm , Ci ⊂ Rn abgeschlossen: ˆC (x) ⊃ N ˆC1 (x) + . . . + N ˆCm (x). i) N ii) Falls aus yi ∈ NCi (x) und y1 + . . . + ym = 0 schon yi = 0 folgt: NC (x) ⊂ NC1 (x) + . . . + NCm (x).
iii) Falls zusätzlich zur Voraussetzung in ii) alle Ci bei x regulär sind (womit auch C dort regulär ist): NC (x) = NC1 (x) + . . . + NCm (x).
170
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
Die jeweils regulären Ausführungen der Normal- bzw. Tangentialkegel sind im Allgemeinen nicht konvex. Abhilfe verschafft zunächst ein naheliegendes Mittel, nämlich die Kegel um die Konvexe Hülle zu erweitern: Definition A.63 x ∈ C ⊂ Rn :
¯C (x) := cl con NC (x), konvexifizierter Normalkegel(auch Clarke-Normalkegel): N konvexifizierter Tangentialkegel: T¯C (x) := cl con TC (x). Die konvexifizierten Ausführungen erlauben eine Erweiterung der Polaritätsbeziehungen: Satz A.64 x ∈ C ⊂ Rn , C abgeschlossen:
¯C (x) = TˆC (x)⋆ , TˆC (x) = N ¯C (x)⋆ , N ˆC (x)⋆ , N ˆC (x) = T¯C (x)⋆ . T¯C (x) = N
Zu beachten ist, dass die Polaritätsbeziehungen nur die regulären Kegel verknüpfen.
A.10
Erweiterte Differenzierbarkeit: Richtungsableitung, Epi-Ableitung
Der übliche strukturelle Zusammenhang, verschiedene Ableitungsbegriffe ausgehend von Richtungsableitungen durch die Anwendung entsprechend verschiedener Grenzwertbegriffe anhand des Differenzenquotienten zu definieren, lässt sich auf die nichtglatte Analysis übertragen. Zunächst wird der klassische Ableitungsbegriff wiederholt: Definition A.65 f : Rn → R, x, w ∈ Rn :
f differenzierbar bei x :⇔ ∃v ∈ Rn : f (w) = f (x) + v⊺(w − x) + o(|w − x|). Zur o(·)-Notation vgl. Definition A.43.
Wenn das so definierte Element v existiert, dann ist es eindeutig und wird üblicherweise mit v = ∇⊺f (x) bezeichnet und Gradient genannt. Der Gradient ∇f einer skalaren Funktion f ist als Zeilenmatrix aufzufassen, vgl. Anmerkung nach Satz A.56. Definition A.66 f : Rn → R, x, w ∈ Rn , 0 6= τ ∈ R: Differenzenquotient: ∆τ f (x)(w) :=
f (x+τ w)−f (x) . τ
Den klassischen Zusammenhang zwischen Differenzenquotient und Gradient liefert Bemerkung A.67 f : Rn → R differenzierbar, x, w ∈ Rn , 0 6= τ ∈ R: lim ∆τ f (x)(w) = ∇f (x)w.
τ →0
A.11. Subgradient und Subdifferenzial
171
Dieser Grenzwert wird auch als Richtungsableitung von f in Richtung w bezeichnet. Die rechte Seite der Gleichung in Bemerkung A.67 ist als Projektion der Richtung auf den Gradienten zu deuten. Offensichtlich besteht eine Vielzahl von Möglichkeiten, den Differenzenquotienten mit entsprechenden Grenzwertbegriffen zu kombinieren, um dadurch – Existenz des Grenzwerts vorausgesetzt – einen Richtungsableitungsbegriff über den zugehörigen Differenzialquotienten zu definieren. Es muss bei angewandten Problemstellungen von Fall zu Fall entschieden werden, welche Begriffe zur Beschreibung der Sachverhalte am geeignetsten sind. Definition A.68 f : Rn → R, x, w ∈ Rn , 0 6= τ ∈ R: i) Einseitige Richtungsableitung: f ′ (x; w) := lim ∆τ f (x)(w), τ ց0
ii) Untere Subableitung (lower subderivative) auch untere Epi-Ableitung (lower epi-derivative): d f (x)(w) := lim inf ∆τ f (x)(w′ ). ′ τ ց0, w →w
In der nicht-glatten Analysis nimmt die Subableitung eine hervorragende Stellung ein, da über sie Verbindungen zu den bereits bekannten Strukturen des Normal- bzw. Tangentialkegels aufgebaut werden können. Satz A.69 f : Rn → R, f (x) < ∞:
epi d f (x)(·) = Tepi f ((x, f (x))).
Für ein festes Element x ist also der Epigraf zur Subableitung d f (x)(·) der Tangentialkegel schlechthin an den Epigrafen zu f bei (x, f (x)). Bei der Funktion d f (x)(·) ist x als Parameter aufzufassen, der Funktionswert bei der unabhängigen Variablen w ist d f (x)(w). Die Subableitung der Indikatorfunktion liefert die Indikatorfunktion des Tangentialkegels: Satz A.70 C ⊂ Rn ∋ x: d ΨC (x)(·) = ΨTC (x) (·).
A.11
Subgradient und Subdifferenzial
Eine mengenwertige Erweiterung des Gradientenbegriffes auf nicht-glatte Funktionen liefert die Theorie der Subgradienten. Definition A.71 f : Rn → R, f (x) < ∞:
Reguläres Subdifferenzial : ˆ (x) := {v ∈ Rn |f (y) ≥ f (x) + v⊺(y − x) + o(ky − xk) ∀y ∈ Rn }. ∂f ˆ (x). v ∈ Rn regulärer Subgradient zu f bei x :⇔ v ∈ ∂f
172
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
Die Deutung des Subdifferenzials gelingt über die Gleichung f (x) + v⊺(y − x) einer linear-affinen Abbildung mit dem bestimmten Wertepaar (x, f (x)) ∈ Rn × R. Das Subdifferenzial enthält alle Parameter v, mit denen diejenigen linear-affinen Abbildungen definiert werden, die zumindest in einer Umgebung von (x, f (x)) – zur o(·) Notation vgl. Anmerkungen nach Definition A.43 – nicht oberhalb der Funktionswerte von f liegen. Im Raum Rn × R entspricht dann (v, −1) dem Normalenvektor gemäß der Normalenformdarstellung einer Ebene durch den Punkt (x, f (x)): Satz A.72 f : Rn → R, f (x) < ∞: n o ˆ (x) = v ∈ Rn |(v, −1) ∈ N ˆepi f (x, f (x)) . ∂f
Dieser Zusammenhang motiviert zur Definition weiterer Ausführungen eines Subdifferenzials: Definition A.73 f : Rn → R, f (x) < ∞:
(allgemeines) Subdifferenzial: ∂f (x) = {v ∈ Rn |(v, −1) ∈ Nepi f (x, f (x))}, ¯ (x) = v ∈ Rn |(v, −1) ∈ N ¯epi f (x, f (x)) . Clarke-Subdifferenzial : ∂f
Jeder Vorstellung eines Normalkegels (hier derjenige schlechthin bzw. von Clarke, vgl. Definitionen A.44 bzw. A.63) wird somit ein Subdifferenzialbegriff zugeordnet. Bei Differenzierbarkeit wird die Verbindung zum Gradienten ersichtlich. Das Subdifferenzial – eine Menge – besteht dann nur aus einem Element, dem Gradienten: Satz A.74 f : Rn → R differenzierbar: ˆ (x) = {∇⊺f (x)}; i) ∂f
ii) falls f zusätzlich stetig-differenzierbar ist: ∂f (x) = {∇⊺f (x)}. Einen Zusammenhang mit der Subableitung zeigt Satz A.75 f : Rn → R, f (x) < ∞: ˆ (x) = {v ∈ Rn |v⊺y ≤ d f (x)(y)∀y ∈ Rn }. ∂f Die Regularitätseigenschaft von Mengen kann auf Funktionen übertragen werden. Definition A.76 f : Rn → R:
f (subdifferenziell) regulär bei x :⇔ f (x) < ∞ und epi f regulär. Für die Indikatorfunktion Ψ gilt folgendes: Bemerkung A.77 x ∈ C ⊂ Rn :
ΨC regulär bei x bzw. konvex ⇔ C regulär bei x bzw. konvex. Bei Regularität verschwinden die Unterschiede zwischen den Subdifferenzialdarstellungen: Satz A.78 f : Rn → R, f lsc., f (x) < ∞: ˆ (x) = ∂f (x) = ∂f ¯ (x). f regulär bei x ⇔ ∂f
A.11. Subgradient und Subdifferenzial
173
Ein Beispiel zeigt, wie das Subdifferenzialkalkül auch ausgefallene, nicht differenzierbare Funktionen handlich machen kann. Beispiel A.79 Die Indikatorfunktion ΨC (x), vgl. Definition A.15, für eine Menge C ⊂ Rn ∋ x besitzt ein Subdifferenzial: ˆ C (x) = N ˆC (x). ∂Ψ Ein Vergleich mit der Definition A.71 des Subdifferenzials zeigt nämlich, dass diese im Falle der Indikatorfunktion in die Definition A.43 des Normalkegels übergeht, da f (x) = Ψ(x) = 0 für x ∈ C gilt. Die analoge Aussage lässt sich für alle Subdifferenziale zeigen: Bemerkung A.80 i) ∂ΨC (x) = NC (x), ˆ C (x) = N ˆC (x), ii) ∂Ψ ¯ C (x) = N ¯C (x). iii) ∂Ψ
A.11.1
Summen- und Kettenregel
Unter bestimmten – allerdings starken – Voraussetzungen können die von der Differenzialrechnung bekannten Regeln auf Subdifferenziale verallgemeinert werden. Satz A.81 f (x) = g(F (x)), mit g : Rm → R, f (x) < ∞ und lsc., F : Rn → Rm , stetig differenzierbar: ˆ (x) ⊃ ∇⊺F (x)∂g(F ˆ i) x ∈ dom f : ∂f (x)); ii) es sei Flin die Linearisierung von F und es gelte zusätzlich (V1): g konvex und (V2): dom g ∩ Flin (Rn ) 6= ∅: ˆ (x) = ∇⊺F (x)∂g(F (x)) = ∇⊺F (x)∂g(F ˆ ∂f (x) = ∂f (x)).
Bemerkung A.82 f (x) = g(F (x)), mit g : Rm → R, g(x) < ∞ und lsc., F : Rn → Rm , stetig differenzierbar, rang(∇F (x)) = m: i) ∂f (x) = ∇⊺F (x)∂g(F (x)), ˆ (x) = ∇⊺F (x)∂g(F ˆ ∂f (x)).
ii) g regulär bei F (x) ⇔ f regulär bei x.
Die erhoffte Analogie der Kettenregel tritt also erst bei ii) des Satzes A.81 ein. Während V2 keine wesentliche Einschränkung darstellt – das Bild der Linearisierung von F kann bei Anwendungen wohl ohne Einschränkung wenigstens teilweise dort vermutet werden, wo die angekettete Funktion g einen endlichen Wert liefert – so ist V1 doch ein erhebliches Hindernis auf dem Weg zur intuitiven Anwendung des Subdifferenzialbegriffs. Wenigstens zeigt die Bemerkung, dass Anwendungen unter der schwächeren Einschränkung (ohne Konvexität und damit Regularität zu fordern) möglich sind, dass die Jacobi Matrix keinen Rangabfall aufweist. In [90] werden die Voraussetzungen V1 und V2 etwas schwächer formuliert, dafür wird allerdings unter anderem der Begriff des
174
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
(engl.) horizon subgradient ∂ ∞ f benötigt, auf dessen Einführung hier verzichtet werden soll. Das Ergebnis der Anwendung des Gradienten von F auf das mengenwertige Subdifferenzial ist als Bild eben dieser Menge zu verstehen. Bemerkenswert bei der Summenregel ist, dass immerhin Regularität der Summandenfunktionen erforderlich ist, um die Analogie zur gewöhnlichen Differenzialrechnung herzustellen. Satz A.83 f = f1 + . . . + fm mit fi : Rn → R, x ∈ dom f , fi regulär (und somit auch f ) und dom fi ∩ dom fj 6= ∅, i, j = 1, . . . , m: ∂f (x) = ∂f1 (x) + . . . + ∂fm (x).
Aufgrund der Regularität gilt die Identität in Satz A.83 auch für die jeweils regulären ˆ Die analog zur Kettenregel ebenfalls formulierbare TeilmengenrelaSubdifferenziale ∂. tion (⊃ anstatt =) unter schwächeren Voraussetzungen wird nicht mehr aufgeführt, da für Anwendungen in der vorliegenden Arbeit die Identität im Vordergrund steht. Die Streckung erfordert nur wenige Einschränkungen: Bemerkung A.84 f : Rn → R, f (x) < ∞, λ > 0: ˆ (λx) = λ∂f ˆ (x), ∂f ∂f (λx) = λ∂f (x). Für das reguläre Subdifferenzial geht dieser Zusammenhang unmittelbar aus der Definition A.71 hervor. Multiplikation mit einer negativen Zahl hingegen ändert das Ungleichheitszeichen, daher sind im Allgemeinen nur positive Streckungen möglich.
A.12
Konvexität bei Subdifferenzial, Legendre - Fenchel-Transformation
Bei konvexen Funktionen vereinfachen sich die Subdifferenzialdarstellungen erheblich. Satz A.85 f : Rn → R konvex, x ∈ dom f :
i) f regulär, ˆ (x) = ∂f ¯ (x) = {v ∈ Rn |f (y) ≥ f (x) + v⊺(y − x) ∀y ∈ Rn }. ii) ∂f (x) = ∂f Einer zunächst beliebigen Funktion wird ihre (im Sinne Legendre-Fenchels) konjugierte Funktion zugeordnet: Definition A.86 f : Rn → R : Konjugierte von f :
f ⋆ : Rn → R, y 7→ f ⋆ (y) := sup {y⊺x − f (x)}. x∈Rn
Beispiel A.87 Konjugierte der Indikatorfunktion einer Menge C ⊂ Rn . Die Suche nach dem Supremum in der Definitionsgleichung der Konjungierten kann bei Indikatorfunktionen auf C beschränkt werden, da das Supremum (kleinste obere Schranke) nicht außerhalb von C liegen kann, schließlich gälte dort −f (x) = −∞: Ψ⋆C (y) = sup {y⊺x} =: σC (y). x∈C
A.12. Legendre-Fenchel-Transformation
175
Die Funktion σC wird auch Supportfunktion der Menge C genannt. Für die abgeschlossene Kugel (Radius α ≥ 0) B(0, α) = {x ∈ Rn |α ≥ kxk} gilt Ψ⋆B(0,α) (y) = αkyk, da das Supremum von y⊺x angenommen wird, wenn x parallel zu y 6= 0 liegt und 2 y gilt, woraus x⊺y = α kyk und damit die die maximale Länge α hat, d.h. x = α kyk kyk Behauptung folgen. Für y = 0 ist das Supremum in trivialer Weise die Null. Indikatorfunktionen von Kegeln gehen durch Konjugation in die Indikatorfunktion des Polarkegels über: Bemerkung A.88 Rn ⊃ K Kegel:
Ψ⋆K = ΨK ⋆ .
Die Bedeutung der Konjugierten wird bei der folgenden Eigenschaft ersichtlich, die auch als Legendre-Fenchel-Transformation für konvexe Funktionen bezeichnet wird: Satz A.89 f : Rn → R, konvex und lsc.: i) f ⋆ konvex und lsc.,
ii) f ⋆⋆ := (f ⋆ )⋆ = f . Jede konvexe, lsc. Funktion ist also die Konjugierte genau einer Funktion, d.h. analog zur z.B. Laplace- oder Fourier-Transformation lassen sich Korrespondenzen f (x) ←→ f ⋆ (y) zu Funktionen im Bildbereich entwickeln, hier einige der elementaren: Bemerkung A.90 f : Rn → R, konvex und lsc., α ∈ R: f (x) − x⊺w ←→ f ⋆ (y + w), f (x) + α ←→ f ⋆ (y) − α, 1 αf (x) ←→ αf ⋆ ( y); nur für α > 0. α Die Legendre-Fenchel-Transformation ist – im Gegensatz zur Laplace- oder Fourier-Transformation – keine lineare Operation. Die Bedeutung der Legendre-Fenchel-Transformation für die Anwendung in der vorliegendem Arbeit zeigt sich in der folgenden Inversionseigenschaft: Satz A.91 f : Rn → R, konvex und lsc.: Folgende Aussagen sind äquivalent: i) y ∈ ∂f (x),
ii) x ∈ ∂f ⋆ (y),
iii) f (x) + f ⋆ (y) = y⊺x. Damit hat die Legendre-Fenchel-Transformation auf Ebene der Subdifferenziale die gleiche Eigenschaft wie die klassische Legendre-Transformation bei gewöhnlich differenzierbaren Funktionen.
176
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
Beispiel A.92 Gilt für eine streng konvexe und differenzierbare Funktion f , hier nur reellwertig, y = d f (x)/ d x =: f ′ (x), und wird unterstellt, dass die Umkehrung f ′−1 (y) immer existiert, so liefert die klassische Legendre-Transformation diejenige Funktion f ⋆ , für die x = f ′−1 (y) = d f ⋆ (y)/ d y gilt, nämlich f ⋆ (y) = f ′−1 (y)y − f (f ′−1 (y)). Eine Anwendung: Eine Federkraft y(x) = cx hat offensichtlich bei einer Auslenkung x das Potenzial f (x) = c/2x2 , welche Stammfunktion hat die Auslenkung? 2 Die Lösung ist f ′ (x) = cx ⇒ f ′−1 (y) = yc und damit f ⋆ (y) = yc y − c/2( yc )2 = y2c . Die Ableitung von f ⋆ liefert offensichtlich die Umkehrung x(y) der Federkraftfunktion y(x) = cx.
A.13
Optimierungsprobleme
Konvexe Funktionen spielen auch bei Optimierungsaufgaben eine wichtige Rolle: Satz A.93 (Verallgemeinerte Regel von Fermat) f : Rn → R konvex: f hat bei x ein Minimum, d.h.
x = arg minn f (x) = arg infn f (x) ⇔ ∂f (x) ∋ 0. x∈R
x∈R
Das Minimum wird angenommen und ist daher mit dem entsprechenden Infimum identisch. Ist f nicht konvex, dann ist die Zugehörigkeit der Null zum Subdifferenzial wenigstens noch notwendig für ein lokales Minimum. Satz A.93 ist somit die Verallgemeinerung der lokalen Optimierungsbedingung für differenzierbare Funktionen, bei der notwendigerweise ∇⊺f (x) = 0 gefordert wird. Satz A.93 erlaubt die Formulierung von beschränkten Optimierungsaufgaben, indem die Menge, in der das Optimum zu suchen ist, durch die Indikatorfunktion eingeschränkt wird: Bemerkung A.94 f : Rn → R konvex, C ⊂ Rn konvex:
f hat bei x unter der Einschränkung x ∈ C ein Minimum, d.h. x = arg inf f (x) ⇔ ∂f (x) + NC (x) ∋ 0. x∈C
D.h. bei differenzierbarer Funktion f : x = arg inf f (x) ⇔ −∇⊺f (x) ∈ NC (x). x∈C
Dies folgt sofort aus der Beziehung ∂ (f (x) + ΨC (x)) = ∂f (x) + ∂ΨC (x), die mit Satz A.83 aufgrund der Konvexität – und somit Regularität – von ΨC und f gilt. Die Indikatorfunktion ist konvex, weil C konvex ist, Bemerkung A.77. Subdifferenziale von Indikatorfunktionen liefert Bemerkung A.80. Mit den Darstellungen des Normalkegels aus Satz A.56 lassen sich somit bekannte Aussagen der Theorie zur konvexen Optimierung unter Nebenbedingungen reproduzieren, wie z.B. der Satz von Karush, Kuhn und Tucker, vgl. [15, 33]. Eine Anwendung der Optimierungstheorie findet sich in folgender
A.13. Optimierungsprobleme
177
Definition A.95 z ∈ Rn ⊃ C ∋ x, C konvex:
x ist Proximalpunkt (engl. proximal point) in C zu z: x = proxC (z) :⇔ arg inf 21 kz − yk2 . y∈C
Der Proximalpunkt ist also das Element in C, das am nächsten bei z liegt. Die Darstellung des Problems als beschränkte Optimierung in C mittels der Indikatorfunktion liefert unmittelbar gemäß Bemerkung A.94 die folgende Aussage: Bemerkung A.96 z ∈ Rn ⊃ C ∋ x, C konvex: Die folgenden Aussagen sind gleichwertig: i) x = proxC (z), ii) arg infn 12 kz − yk2 + ΨC (y) , y∈R
iii) z − x ∈ ∂ΨC (x) = NC (x).
Wählt man z := x+αy, wobei α > 0 beliebig sein kann, dann wird die Gleichwertigkeit der Versionen i) und iii) der Bemerkung A.96 zur folgenden Aussage ersichtlich, wenn man für den Kegel NC beachtet, dass mit y ∈ NC (x) auch für jede positive Streckung αy ∈ NC (x) gilt: Bemerkung A.97 y ∈ Rn ⊃ C ∋ x, C konvex, α > 0: y ∈ NC (x) ⇔ x − proxC (x + αy) = 0.
Damit kann eine Normalkegeleinschließung bei konvexen Mengen gleichwertig als implizite Gleichungsbedingung formuliert werden.
178
Anhang A. Grundbegriffe der nicht-glatten Analysis
Anhang B Das Komplementaritätsproblem Viele Formulierungen mechanischer Probleme der vorliegenden Arbeit führen auf eine in der mathematischen Literatur, z.B. [17, 77, 27], ausgiebig behandelte algebraische Struktur, das sogenannte Komplementaritätsproblem CP (engl. Complementarity Problem). Definition B.1 Gemischtes (engl. mixed) Komplementaritätsproblem MCP. F1 : Rn+m → Rn , F2 : Rn+m → Rm :
Die Menge MCP(F1 ,F2 ) bezeichnet die Menge aller Lösungen x1 ∈ Rn , x2 ∈ Rm der Bedingungen F1 (x1 , x2 ) = 0, 0 ≤ F2 (x1 , x2 ) ⊥ x2 ≥ 0. Sind keine Gleichungsbedingungen vorhanden, d.h. es liegt mit n = 0 keine Funktion F1 vor, dann sind nur noch die Komplementaritätsbedingungen vorhanden und man spricht bei nicht-linearer Funktion F2 von einem nicht-linearen Komplementaritätsproblem und bezeichnet die Lösungsmenge entsprechend mit NCP(F2 ). Falls die Funktionen linear-affin sind, d.h es gibt entsprechend dimensionierte Matrizen, sodass F1 (x1 , x1 ) = A11 x1 + A12 x2 + b1 , F2 (x1 , x1 ) = A21 x1 + A22 x2 + b2 gilt, dann spricht man von einem gemischten Linearen Komplementaritätsproblem MLCP mit Lösungsmenge MLCP(Aij , bi ) bzw. analog von einem Linearen Komplementaritätsproblem mit Lösungsmenge LCP(A22 , b2 ) beim Wegfall der Gleichungsbedingungen. Vom gemischten zum reinen Komplementaritätsproblem kann man, falls dies möglich ist, durch Auflösen der Gleichung F1 (x1 , x1 ) = 0 nach x1 und entsprechende Elimination in den Komplementaritätsbedingungen gelangen. Zur Existenz und Eindeutigkeit der Lösungen gibt es insbesondere für das LCP eine Reihe von Aussagen. Eine der wichtigsten ist Bemerkung B.2 Ist A positiv definit, dann hat das LCP(A,b) für alle b eine eindeutige Lösung. 179
180
Anhang B. Das Komplementaritätsproblem
Es gibt eine Reihe numerischer Lösungsverfahren für Komplementaritätsprobleme. Erwähnt werden sollen hier der Lemke-Algorithmus, ein dem Simplexalgorithmus verwandtes Pivotverfahren, vgl. [67], und ein auf sukzessiver Linearisierung basierendes Iterationsverfahren PATH von Ferris et. al. [29], das in der vorliegenden Arbeit vorwiegend verwendet wird.
181
Anhang C Grundlagen der Maßtheorie Die intuitiven Vorstellungen über die Funktionen, mit deren Hilfe Vorgänge in der Mechanik von Systemen mit endlichem Freiheitsgrad beschrieben werden, müssen in ein mathematisches Konzept eingebunden werden. Im Zusammenhang mit Funktionen, die Sprungstellen aufweisen, hat sich die Einbettung in das Konzept der Maßtheorie bewährt, was auch die Ausführungen in den Kapitel 3 und 4 belegen. Im Folgenden werden die Grundlagen der Maßtheorie vorwiegend aus [70] und ferner aus [11, 99] knapp und letztlich unvollständig interpretiert, aber doch soweit, dass erkennbar wird, dass sie insgesamt das abstrakte Gegenstück zur mechanischen Vorstellung bilden.
C.1
Borel-Maß auf Teilmengen der reellen Zahlen
Ein Maß m : R ⊃ C → Rn : C 7→ m(C) stellt, grob skizziert, eine Zuordnung einer Menge zu einer Zahl bzw. zu einem Zahlentupel dar. Beispiel C.1 C ⊂ R. Jordan Maß µ für reelle Intervalle C = [a, b): µ(C) := b − a. Dirac Maß δ: 1, falls 0 ∈ C δ(C) := . 0, sonst
Mittels eines Maßes lassen sich also Teilmengen allgemein messbar machen oder schlicht messen bzw. ihnen ein Maß zuordnen. Das sehr abstrakte Konzept der Maßtheorie lässt Gegenbeispiele dafür zu, dass allen Teilmengen der reellen Zahlen Maße zugewiesen werden können [7]. Im Allgemeinen sind Maße nicht einfach auf der Menge aller Teilmengen (d.h. auf der Potenzmenge) der reellen Zahlen definierbar. Die in dieser Hinsicht zulässige Ansammlung von Teilmengen der reellen Zahlen nennt man σ-Algebra von R, bzw. mit zusätzlichen Bedingungen Borel-σ-Algebra und ihre Elemente daher Borel-Mengen. Auf die genauen Definitionen wird verzichtet. Stattdessen werden die Konsequenzen für ein auf einer Borel-σ-Algebra definiertes Maß m aufgeführt, das man Borel-Maß nennt: 1. Leere Mengen werden mit null bewertet: m(∅) = 0.
182
Anhang C. Grundlagen der Maßtheorie
2. Es sei {Ci } eine abzählbare Ansammlung von paarweise disjunkten BorelMengen, d.h. Ci ∩ Cj = ∅ für i 6= j. Die Vereinigung der Mengen wird mit der Summe der einzelnen Maße bewertet: S P m( Ci ) = m(Ci ).
3. Entsprechendes gilt für Differenzmengen. Falls A ⊂ C ist, dann gilt m(C \ A) = m(C) − m(A).
Es ist bemerkenswert, dass dadurch messbare Mengen C mit nur einem einzigen Element t ∈ C nicht ausgeschlossen sind, siehe das Dirac-Maß, und man schreibt dann auch m(t) anstatt m({t}). Borel-Maße leisten also vieles, was zwar intuitiv wünschenswert erscheint, aber offenbar in der Realität der abstrakten mathematischen Begriffsbildung überhaupt nicht unmittelbar ersichtlich ist. Im Folgenden werden nur noch Borel-Maße betrachtet.
C.2
Zusammenhang mit Integration
Die gewöhnliche Integration lässt sich in die Maßtheorie einbetten. Gegeben seien eine stetige, reellwertige Funktion f , ein Intervall [a, b] ⊂ R, beliebige Stützstellen ti mit a = t0 < t1 < . . . < tN = b und damit halboffene Intervalle Ii := [ti , ti+1 ) und beliebige Zwischenpunkte t∗i ∈ Ii . Unter bestimmten Bedingungen an ein Maß m kann man zeigen, dass der Grenzwert lim
N →∞
N −1 X
f (t∗i )m(Ii )
+ f (b)m({b}) =:
i=0
Z
f m =: [a,b]
Z
b
fm
a
existiert – bemerkenswerterweise unabhängig von der Wahl der Stützstellen und Zwischenpunkte. Beispiel C.2 Riemann-Integral. Unter bestimmten Stetigkeitsanforderungen an eine Funktion f wird mit dem Jordan-Maß µ das Integral Z
[a,b]
f µ = lim
N →∞
N −1 X
f (t∗i )µ(Ii )
i=0
P −1 ∗ wegen µ(Ii ) = ti+1 − ti zum Grenzwert der Riemann-Summe N i=0 f (ti )(ti+1 − ti ) und somit zum Riemann-Integral. RBezeichnet man das Jordan-Maß suggestiv mit b dt := µ, so erhält man das Integral a f dt. Man beachte, dass d hier keinen Operator darstellt, sondern nur der Bezeichnung dient. Oft wird neben dem Jordan-Maß auch das Lebesque-Maß verwendet, das für allgemeinere Mengen definiert werden kann. In der vorliegenden Arbeit werden nur reelle Intervalle von R gemessen, sodass man davon ausgehen kann, dass beide Begriffe synonym verwendbar sind.
183
C.3. Differenzialmaße
C.3
Differenzialmaße für Funktionen mit beschränkter Variation
Angesichts der engen Verbindung der Maßtheorie mit der Integration stellt sich die Frage, unter welchen Umständen Funktionen Ergebnis einer Integration sind. Mit anderen Worten: Wann gibt es zu einer Funktion v ein entsprechendes Maß m, sodass v(t) das Integral von m ist? Ein entscheidender Begriff ist in diesem Zusammenhang derjenige der Variation einer Funktion. Sie ist, grob umrissen, die Summe aller absoluten Differenzen beliebig nahe benachbarter Funktionswerte. Entsprechend gilt: Definition C.3 v : R → Rn , t 7→ v(t):
v ist von beschränkter Variation im Intervall [a, b] :⇔ P var[a,b] v := sup i kv(ti) − v(ti+1 )k < ∞, P
P = {t0 , . . . , tN }, N ∈ N mit a = t0 < t1 , . . . , < tN = b. Beispiel C.4 Für eine reellwertige Funktion f ist die Kurve v(t) = (f (t), t)⊺ die Parametrisierung des Grafen. Die Variation var[a,b] v stellt somit ein Maß für die „Länge“ der Kurve dar, wenn man davon ausgeht, dass an Sprungstellen von f ein vertikaler Strich durchgezogen wird. Bei stetigem f ist die endliche Variation var[a,b] v tatsächlich die sogenannte Rektifizierung der Kurve v. Damit kann die eingangs gestellte Frage beantwortet werden. Es lässt sich nämlich folgender Zusammenhang zeigen: Bemerkung C.5 Falls v von beschränkter Variation ist, dann gibt es ein Maß, hier suggestiv mit dv bezeichnet, sodass R dv = + v(b) − − v(a) mit [a,b] +
v(t0 ) := lim v(t) bzw. − v(t0 ) := lim v(t) tցt0
tրt0
gilt. Ein solches Maß wird auch Differenzialmaß genannt. Ein Differenzialmaß einer Funktion bemaßt damit ein Intervall mit dem Zuwachs der Funktion auf ihm. Bemerkung C.6 Es sind demnach auch Intervalle messbar, die aus einem R einzigen Element bestehen: {t} dv = dv({t}) = + v(t) − − v(t).
Bei Sprungstellen der Funktion erhält man aus diesem Integral offensichtlich die nicht verschwindende Differenz der einseitigen Grenzwerte. Im Rahmen der Maßtheorie können also auch unstetige Funktionen Ergebnis einer Integration sein. Die Annahme beschränkter Variation ist für viele Anwendungen keine wesentliche Einschränkung: Bemerkung C.7 v von beschränkter Variation auf [a, b]: v ist fast überall stetig, d.h. bis auf eine Menge von abzählbar unendlich vielen Stellen.
184
Anhang C. Grundlagen der Maßtheorie
Damit ist eine Funktion mit beschränkter Variation in der Mechanik die Kandidatin zur modellhaften Beschreibung des Geschwindigkeitsverlaufs bei Problemen mit Stößen. Es bleibt noch die Frage zu klären, wie die Differenzialmaßbeziehungen für stetige Funktionen aussehen. Bemerkung C.8 Es sei v absolut stetig, z.B. Lipschitz-stetig. Dann gibt es zu einem Jordan-Maß dt eine absolut stetige sogenannte Dichtefunktion – hier suggestiv mit dv/dt bezeichnet, sodass Z dv/dt dt = v(b) − v(a) [a,b]
gilt. Die Dichtefunktion dv/dt stimmt an höchstens abzählbar unendlich vielen Stellen nicht mit der gewöhnlichen Ableitung v˙ überein. Hier und im Folgenden dient das Symbol / bei der Dichtefunktion nur der Bezeichnung und stellt keinen Operator dar, d.h. die Dichtefunktion ist nicht unmittelbar der Quotient aus den Maßen an einzelnen Stellen. Etwas unpräzise wird dieser Sachverhalt durch die Schreibweise dv = dv/dt dt wiedergegeben – unpräzise deshalb, weil die Funktion dv/dt(I) im Gegensatz zu den Maßen, die ja auf Intervallen definiert sind, für Intervalle I nicht erklärt ist. Im Rahmen der gewöhnlichen Integralrechnung ist dieser Zusammenhang offensichtlich der Hauptsatz der Integral- und Differenzialrechnung, was die suggestive Schreibweise motiviert. Man kann zeigen, dass für Rn -wertige Maße der Raum Rn die sogenannte RadonNikodym-Eigenschaft hat. Auf diese wird nicht im Detail eingegangen, sondern nur eine Konsequenz erwähnt, die in gewisser Weise eine Verallgemeinerung der Bemerkung C.8 darstellt. Bemerkung C.9 Sei v : R → Rn eine Funktion beschränkter Variation, womit auch ein Differenzialmaß dv sicher existiert. Dann gibt es ein positives, d.h. R+ -wertiges Maß dτ und eine Dichtefunktion dv/dτ : R → Rn mit der Eigenschaft Z dv/dτ dτ = + v(b) − − v(a), [a,b]
denn zumindest die Wahl dτ (·) = kdv(·)k ist immer möglich. In diesem Fall gilt fast immer kdv/dτ (t)k = 1. R Da nach Bemerkung C.5 für v ein Differenzialmaß dv mit [a,b] dv = + v(b) − − v(a) existiert, wird analog zur Bemerkung C.8 die Aussage in Bemerkung C.9 mit d v = dv/dτ dτ symbolisiert. Die Sprechweise „fast immer“ oder auch „m-fast-immer“ im Zusammenhang mit einem Maß m bedeutet, dass eine Eigenschaft immer gilt bis auf Stellen, die insgesamt eine sogenannte m-Nullmenge E bilden, d.h. eine Menge E mit m(E) = 0. Bei Dichtefunktionen, etwa dv/dτ , bedeutet dies, dassR sie auf dτ Nullmengen abgeändert werden können, ohne dadurch den Integralwert [a,b] dv/dτ dτ zu verändern.
C.3. Differenzialmaße
185
Eine nützliche Interpretation der Bemerkungen C.8 und C.9 für die Anwendung erscheint plausibel: Es gibt somit auch für Funktionen mit Sprungstellen eine Dichtefunktion, d.h. der Sprung im Integrationsergebnis muss nicht durch schwer begreifliche Unendlichkeitsstellen in der zu integrierenden Funktion erklärt werden. Es gibt eben ein Maß, hier dτ , welches das Intervall, das nur aus der Sprungstelle selbst besteht, mit einem nicht verschwindenden, positiven Wert bemaßt. Für die Anwendung in der vorliegenden Arbeit hat das bisher Gesagte mittelbar eine wichtige Konsequenz. Bemerkung C.10 K mengenwertige Funktion, sodass Rn ⊃ K(t) Kegel für alle t ∈ R, v : R → Rn von beschränkter Variation mit Differenzialmaß dv mit zwei Dichtefunktionen dv/dµ, dv/dν zu verschiedenen, positiven Maßen dµ, dν: dv/dµ(t) ∈ K(t) ⇒ dv/dν(t) ∈ K(t), fast immer. Zeichnet sich also eine Funktion, hier v, dadurch aus, dass eine Dichtefunktion ihres Differenzialmaßes immer in einem durchaus auch von t ∈ R abhängigen Kegel liegt, so ist damit die Funktion schon erklärt. Dies gilt unabhängig davon, bezüglich welchen Maßes die Dichtefunktion formuliert ist. Der Beweis beruht im Wesentlichen auf der Formalisierung der Argumentation, dass eine Dichtefunktion nur aus einer positiven Streckung der anderen hervorgehen kann und somit ebenfalls im Kegel liegen muss. Die Streckung dv/dν = dv/dµ · dµ/dν liegt daher ebenfalls im Kegel, wenn schon dv/dµ darin liegt, wobei dµ = dµ/dν dν gilt. Die Existenz der positiven Dichtefunktion dµ/dν erscheint zwar plausibel, sicher ist sie allerdings erst aufgrund des Satzes von Radon-Nikodym, auf den hier nicht genauer eingegangen wird.
186
Anhang C. Grundlagen der Maßtheorie
187
Anhang D Einfaches Modell für Materialdämpfung In diesem Abschnitt gilt die Einsteinsche Summationskonvention, dass über in einem Term doppelt vorkommende Indizes zu summieren ist. Beispielsweise ist somit der Ausdruck ai bj
∂cik,j ∂xk
als Mehrfachsumme XXX i
j
k
ai bj
∂cik,j ∂xk
aufzufassen, wobei die Bereiche der Summationsindizes aus dem Zusammenhang hervorgehen (z.B. i = 1, 2, 3 für 3 Raumrichtungen k = 1, . . . , N für N Ansatzfunktionen).
D.1
Ausgewählte Grundlagen der linearen Elastizitätstheorie
Die Grundlagen werden nur soweit wiedergegeben, wie sie für die plausible Erklärung des üblichen Ansatzes für Materialdämpfung D = αKel
(D.1)
(„Dämpfung proportional zur elastischen Steifigkeit“) erforderlich sind. Es ist ein Koordinatensystem A : ~a1 , ~a2 , ~a3 gegeben. Es sind diesbezüglich ui (x1 , x2 , x3 , t); i = 1, 2, 3 die Koordinaten des Verschiebungsvektors eines materiellen Punktes mit den materiellen Koordinaten xi bezüglich A und ferner 1 ∂ui ∂uj εij (x1 , x2 , x3 , t) = + (D.2) 2 ∂xj ∂xi
188
Anhang D. Einfaches Modell für Materialdämpfung
die Koordinaten des linearen Dehnungstensors. Damit liefert die allgemeine konstitutive Gleichung für linear-elastische Materialien (D.3)
σij = Eijkl εkl die Koordinaten des Spannungstensors bezüglich A, wobei
(D.4)
Eklij = Eijkl = Ejikl = Ejilk = Eijlk
die Koordinaten des Elastizitätstensors mit den entsprechenden Symmetrieeigenschaften darstellen. Ist ein elastisches Potenzial eines Körpers K ist durch Z Z 1 1 εij Eijkl εkl dV = σij εij dV (D.5) U = 2 K 2 K
gegeben, so kann die virtuelle Arbeit der (reversiblen) elastischen Kräfte (Kraftdichte f~el′ ) auch über die Variation des Potenzials gemäß Z Z ′ f~el · δ~r dV = −δU = − εij Eijkl δεkl dV, (D.6) K
K
wobei für diese Darstellung die Symmetrieeigenschaften des Elastizitätstensors benötigt werden. In der vorliegenden Arbeit wird die räumliche Diskretisierung stets über gemischte Ansätze der Form ui (x1 , x2 , x3 , t) = Nik (x1 , x2 , x3 ) qk (t); k = 1, . . . , N
(D.7)
durchgeführt, wobei die Nik Ansatzfunktionen sind. Der Ansatz ist hier für die lineare Theorie schon als linear in den generalisierten Koordinaten qk angenommen. Diese Vereinfachung liegt bei komplizierten nicht-linearen, aus speziellen Kinematikannahmen hervorgehenden Verschiebungshypothesen (z.B. in der Balken- oder Schalentheorie) gegebenenfalls erst nach einer Linearisierung vor. Der Diskretisierungsansatz führt mit (D.2) auf die räumliche Diskretisierung der Tensorkoordinaten 1 ∂Nik ∂Njk εij = + qk (D.8) 2 ∂xj ∂xi und mit der Abkürzung 1 Hijk (x1 , x2 , x3 ) := 2
∂Nik ∂Njk + ∂xj ∂xi
(D.9)
auf die Darstellungen εij = Hijk qk , δεij = Hijk δqk , σij = Eijkl Hkln qn und schließlich mit (D.6) auf Z δU = δqn Hijn Eijkl Hklm dV qm . K
(D.10) (D.11) (D.12)
(D.13)
D.1. Ausgewählte Grundlagen der linearen Elastizitätstheorie
189
Daraus gehen die Einträge der elastischen Steifigkeitsmatrix Kel als entsprechendes Integral Z (Kel )mn = Hijn Eijkl Hklm dV (D.14) K
hervor.
D.1.1
Dämpfungshypothese
Die Grundannahme besteht darin, dass die Spannungen σij′ , die im Material durch Dissipation hervorgerufen werden, gemäß σij′ = αEijkl εkl,t, (),t :=
∂ ∂t
(D.15)
proportional (Proportionalitätskonstante α) zu den Dehnungsgeschwindigkeiten sind. Damit wird die Vorstellung modelliert, dass die dissipativen und elastischen Mechanismen zueinander parallel wirken. Entsprechend gilt Z Z ′ ~ fd · δ~r dV = − αεij,tEijkl δεkl dV, (D.16) K
K
für die virtuelle Arbeit der dissipativen inneren Kräfte (Kraftdichte f~d′ ). Vergleicht man (D.16) mit (D.6) und verfährt analog zu (D.7 – D.11), allerdings nun mit (D.17)
εij,t = Hijk q˙k , so ist zu erkennen, dass für die räumlich diskrete Fassung Z Z ′ f~d · δ~r dV = −δqn α Hijn Eijkl Hklm dV q˙m K K {z } |
(D.18)
=(Kel )mn
= −δqn (D)mn q˙m
(D.19)
der virtuellen Arbeit der inneren dissipativen Kräfte dieselben Integrale wie für die Steifigkeitsmatrix Kel auszuwerten sind. Aus dem Vergleich der virtuellen Arbeit der dissipativen Kräfte geht damit die Dämpfungsmatrix gemäß (D.1) hervor.
190
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