Stella Rimington
Stille Gefahr
s&p 05/2007
Sie ist 35, hat eine Affäre mit einem verheirateten Mann und trägt am lieb...
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Stella Rimington
Stille Gefahr
s&p 05/2007
Sie ist 35, hat eine Affäre mit einem verheirateten Mann und trägt am liebsten lila Schuhe: MI5-Geheimagentin Liz Carlyle. Als ein Anschlag islamistischer Terroristen droht, ist Liz im Einsatz. Die Attentäter haben eine Unsichtbare in Stellung gebracht, so werden Terroristen genannt, die aus dem Zielland stammen. In diesem Fall ist es eine junge Frau: Sie sorgt für perfekte Tarnung auf britischem Boden. Was ist das Ziel der Terroristen? Der Urlaubssitz der Königin? Eine Militärbasis der Amerikaner? In einem Wettlauf gegen die Zeit setzt Liz alles daran, das Geheimnis der Unsichtbaren zu enthüllen und einen Anschlag zu verhindern. ISBN: 3-453-35008-1 Original: AT RISK (2004) Aus dem Englischen von Martin Richter Verlag: Diana Erscheinungsjahr: 02/2005 Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kampa Werbeagentur, München – Zürich
Buch Liz Carlyle ist 35 Jahre alt, ihre Lieblingsschuhe sind lila, und sie kauft ausnahmslos Designerschnäppchen. An einem verregneten Montagmorgen wird die Sorge, zu spät zur Arbeit zu kommen, nur von den hässlichen Rändern, die der Regen auf ihren Schuhen hinterlässt, übertroffen. Und während Liz darauf wartet, dass die U-Bahn weiterfährt, beginnt nicht weit entfernt, in Thames House in der Londoner City, ihr nächster Einsatz. Denn Liz Carlyle ist Geheimagentin des MI 5 – des inländischen Geheimdienstes. Ein Anschlag islamistischer Terroristen bedroht Großbritannien. Es heißt, die Gegner haben eine »Unsichtbare« in Stellung gebracht. So werden Terroristen genannt, die aus dem Zielland stammen, unbehelligt können sie Grenzen passieren und sich im Land frei bewegen. In diesem Fall sorgt eine junge Engländerin für perfekte Tarnung. Fieberhaft machen Liz und ihre Kollegen sich an die Arbeit. Was ist das Ziel der Terroristen? Der Urlaubssitz der Königin? Eine Militärbasis der Amerikaner? Meisterhaft kombiniert Liz jeden Fetzen Information und setzt ihre Intuition ein, um die Gedanken der Unsichtbaren zu erkennen und eine Katastrophe zu verhindern.
Autor Die Engländerin Stella Rimington fing in Indien als Halbtagssekretärin beim Secret Service, dem englischen Geheimdienst, an. In den folgenden Jahren arbeitete sie in den Bereichen Staatsgefährdung, Spionage und Terrorismus. 1992 wurde sie Chefin des MI 5, des inländischen Geheimdienstes, den sie bis 1996 leitete. Sie war die erste Frau, die diese Position innehatte. Über ihre Beziehung zum Schreiben sagte Stella Rimington in einem BBC-Interview: »Persönliche Erfahrung ist das Rohmaterial der Fantasie. Obwohl ich einen Thriller geschrieben habe, der vollkommen frei erfunden ist, habe ich als Basis dafür in gewisser Weise mein Leben benutzt, nicht nur meinen Job im Geheimdienst, sondern auch andere Aspekte meines Lebens.«
Für meine Enkelin Charlotte
1 Mit ruhiger Endgültigkeit blieb der Zug stehen. Ein langes hydraulisches Keuchen, dann Stille. Mehrere Augenblicke bewegte sich niemand im voll besetzten U-Bahn-Waggon, doch als die Stille und das Schweigen sich vertieften, begannen die Leute zu blinzeln. Die Fahrgäste spähten besorgt aus den Fenstern in die Dunkelheit, als hofften sie auf irgendeine Vision oder Enthüllung, die das Ganze erklärte. Sie standen auf halber Strecke zwischen Mornington Crescent und Euston, schätzte Liz Carlyle. Es war Montagmorgen, fünf nach acht, und sie würde so gut wie sicher zu spät zur Arbeit kommen. Um sie herum hing der Geruch der feuchten Kleidung anderer Leute. Eine regennasse Aktentasche, die nicht ihr gehörte, ruhte auf ihrem Schoß. Liz vergrub das Kinn in ihrem Samttuch, lehnte sich zurück und streckte vorsichtig die Beine aus. Sie hätte nicht die spitzen, pflaumenfarbenen Schuhe anziehen sollen. Sie hatte sie vor ein paar Wochen auf einem sorglosen und extravaganten Shoppingtrip gekauft, aber jetzt fingen die Spitzen an, sich von der Nässe auf dem Weg zum Bahnhof zu wölben. Aus Erfahrung wusste sie, dass der Regen hässliche bleibende Spuren auf dem Leder hinterlassen würde. Ebenso ärgerlich war es, dass die Absätze genau so schmal waren, dass sie in den Fugen zwischen Pflastersteinen stecken blieben. Auch nach zehn Jahren als Angestellte in Thames House hatte Liz die Kleiderfrage immer noch nicht zufriedenstellend gelöst. Der Standardlook, dem sich die meisten Leute mit der Zeit anzupassen schienen, lag irgendwo zwischen gesetzt und unscheinbar. Dunkle Hosenanzüge, seriöse Röcke und Jacketts, 5
bequeme Schuhe – was es so bei John Lewis oder Marks and Spencer gab. Während einige ihrer Kollegen diesen Stil bis ins Extrem steigerten und eine fast russische Farblosigkeit kultivierten, versuchte Liz ihn instinktiv zu unterwandern. Oft verbrachte sie den Samstagnachmittag damit, an den Kleiderständen auf dem Camden Market nach extravaganten Schnäppchen zu suchen, die zwar nicht den Regeln des Hauses widersprachen, dafür aber ein paar erstaunte Blicke hervorriefen. Es war ein bisschen wie in der Schule, und Liz lächelte, als sie sich an die grauen Faltenröcke, erinnerte, die sich in der Klasse auf die vorgeschriebene Länge herunterziehen ließen und für die Busfahrt weit übers Knie hochgestreift wurden. Vielleicht war es etwas schrullig, mit vierunddreißig noch die gleichen Kämpfe zu führen, aber etwas in ihr wehrte sich nach wie vor dagegen, sich von der Seriosität und Geheimhaltung der Arbeit in Thames House aufsaugen zu lassen. Ein Pendler, der sich am Haltegriff festhielt, bemerkte ihr Lächeln und musterte sie von oben bis unten. Liz wich seinem abschätzenden Blick aus und taxierte ihn ihrerseits, was ihr bereits zur zweiten Natur geworden war. Er war elegant angezogen, wenn auch mit einer leicht konservativen Pingeligkeit, die nicht in die Geschäftswelt passte. Vielleicht ein Professor? Nein, er trug einen Maßanzug. Ein Mediziner? Die gepflegten Hände sprachen dafür, ebenso sein freundlicher, aber unübersehbar arroganter Blick. Ein Facharzt, der seit ein paar Jahren eine eigene Praxis mit einem Dutzend gehorsamer Helferinnen führte und auf dem Weg zu einem der größeren Uni-Krankenhäuser war, beschloss Liz. Und neben ihm ein Gothic-Girl. Angeschweißte lilafarbene Haarsträhnen, ein Sisters-of-Mercy-T-Shirt unter der Bondage-Jacke und überall Piercings. Normalerweise ein bisschen früh am Tag für sie, arbeitet wahrscheinlich in einem Klamotten- oder Plattenladen oder … nein, ich hab’s. Der blass glänzende Streifen am 6
Daumen, wo die Schere drückte. Sie war Friseurin und verbrachte den Tag damit, nette Vorort-Mädchen in Filmvamps zu verwandeln. Liz senkte den Kopf, berührte erneut das seidige lila Tuch mit der Wange und umgab sich mit einem schwachen Duft, der ihr sofort Marks Anwesenheit – seine Augen, seinen Mund und sein Haar – ins Bewusstsein rief. Er hatte ihr das (natürlich fürs Büro völlig unpassende) Parfüm bei Guerlain auf den Champs Elysées gekauft und das Tuch bei Dior an der Avenue Montaigne. Wie er ihr später erzählte, hatte er bar bezahlt, um alle Spuren zu verwischen. Schon immer besaß er einen untrüglichen Instinkt für die Feinheiten des Ehebruchs. Sie erinnerte sich an jede Einzelheit des Abends. Auf dem Rückweg von Paris, wo er eine Schauspielerin interviewt hatte, war er ohne Vorwarnung in Liz’ Souterrainwohnung in Kentish Town erschienen. Sie hatte in der Wanne gelegen, La Bohème gehört und halbherzig versucht, einen Artikel im Economist zu verstehen, und dann stand er auf einmal vor ihr, der Boden war mit teurem, weißem Einwickelpapier übersät, und die Wohnung roch wundervoll und durchdringend nach Vol de Nuit. Hinterher hatten sie eine Flasche Moët aus dem Duty-FreeShop geöffnet und waren zusammen in die Wanne gestiegen. »Wartet Shauna nicht auf dich?«, hatte Liz mit schlechtem Gewissen gefragt. »Wahrscheinlich schläft sie schon«, antwortete Mark unbeschwert. »Sie hat übers Wochenende die Kinder ihrer Schwester gehütet.« »Und du …« »Ich weiß. Die Welt ist ungerecht, nicht?« Warum er Shauna überhaupt geheiratet hatte, war für Liz zunächst völlig unverständlich gewesen. Nach alldem, was er von ihr erzählt hatte, schienen sie überhaupt keine Gemeinsamkeiten zu haben. Mark Callendar war verantwortungslos und 7
hedonistisch und besaß ein fast katzenhaftes Einfühlungsvermögen, das ihn zu einem der gesuchtesten Porträtautoren im Printjournalismus machte. Seine Frau dagegen war eine feministische Universitätsdozentin von verbissener Ernsthaftigkeit. Ständig warf sie ihm seine Unzuverlässigkeit vor, ständig wich er ihrem humorlosen Zorn aus. Es schien so sinnlos zu sein. Aber Liz’ Problem hieß nicht Shauna, es hieß Mark. Die Beziehung war völliger Wahnsinn, und wenn sie nicht bald etwas unternahm, konnte es sie ihren Job kosten. Sie liebte Mark nicht und fürchtete sich vor dem Gedanken, was passieren würde, wenn das Ganze ans Tageslicht kam. Lange hatte es so ausgesehen, als werde er Shauna verlassen, aber dem war nicht so, und Liz bezweifelte inzwischen, dass er es je tun würde. Nach und nach hatte sie verstanden, dass Shauna sein negativer Pol war, der Gleichstrom zu seinem Wechselstrom, der Hardy zu seinem Laurel. Gemeinsam waren sie eine voll funktionstüchtige Einheit. Während sie hier in dem stehenden Zug saß, kam Liz der Gedanke, dass Mark am meisten die Verwandlung reizte. Wie er sie überfiel, sie durcheinander wirbelte, über ihre Ernsthaftigkeit lachte und sie in einen Paradiesvogel verwandelte. Hätte sie in einer hellen, modernen Wohnung mit Blick auf einen Londoner Park und Schränken voller Designersachen gelebt, wäre sie für ihn völlig uninteressant gewesen. Sie musste wirklich Schluss machen. Natürlich hatte sie ihrer Mutter noch nicht von ihm erzählt, deshalb durfte sie sich jedes Mal, wenn sie übers Wochenende zu ihr nach Wiltshire fuhr, eine gut gemeinte Predigt darüber anhören, wie man »jemand Nettes« kennen lernen konnte. »Ich weiß, wie schwierig es ist, wenn du nicht über deinen Beruf reden darfst«, hatte ihre Mutter am Abend zuvor gesagt und von dem Fotoalbum aufgeblickt, das sie gerade sortierte, »aber neulich stand in der Zeitung, dass in diesem Gebäude über 1900 Leute mit dir zusammenarbeiten und es alle möglichen 8
Aktivitäten gibt. Warum machst du nicht bei der Theatergruppe mit oder lernst lateinamerikanische Tänze oder so was?« »Mama, bitte!« Sie stellte sich vor, wie eine Gruppe Mitarbeiter aus der Nordirland-Abteilung und von der A4Überwachung mit funkelnden Augen, ans Hemd gehefteten farbigen Rüschen und Rumbarasseln auf sie zutänzelte. »War nur ein Vorschlag«, sagte ihre Mutter milde und wandte sich wieder dem Album zu. Kurz darauf nahm sie eins von Liz’ alten Klassenfotos heraus. »Erinnerst du dich an Robert Dewey?« »Ja«, antwortete Liz vorsichtig. »Hat in Tisbury gewohnt und sich beim Schul-Picknick in Stonehenge in die Hose gemacht.« »Er hat gerade ein neues Restaurant in Salisbury eröffnet. Um die Ecke vom Theater.« »Wirklich? Sieh mal einer an«, murmelte Liz. Das war ein deutlicher Seitenhieb, und eigentlich ging es darum, dass sie nach Hause kommen sollte. Sie war in dem kleinen achteckigen Torhaus aufgewachsen, das ihre Mutter jetzt allein bewohnte, und ihre unausgesprochene Hoffnung war, Liz werde wieder aufs Land ziehen und heiraten, bevor sie zu einem ewigen Großstadtsingle mutierte. Nicht unbedingt Robert Dewey – den mit der feuchten Hose –, aber jemanden in der Art. Jemanden, mit dem sie ab und zu in französische Restaurants oder ins Theater gehen und all die anderen großstädtischen Vergnügungen genießen konnte, an die sie sich zweifellos gewöhnt hatte. Sie hatte sich letzte Nacht noch aus dem mütterlichen Netz befreit, was bedeutet hatte, dass sie erst abends um zehn auf der Autobahn war und die Wohnung in Kentish Town nicht vor Mitternacht erreichte. Als sie hereinkam, bemerkte sie, dass die Wäsche vom Samstagvormittag im Seifenwasser schwamm, da die Maschine in der Mitte des Programms stehen geblieben war. Jetzt war es viel zu spät, sie noch einmal zu starten, ohne die 9
Nachbarn zu verärgern, deshalb durchwühlte sie den Haufen mit Wäsche für die Reinigung nach der am wenigsten zerknitterten Büromontur, hängte sie über die Badewanne und duschte dann. Wenn sie Glück hatte, würde der Dampf die Sachen ein wenig glätten. Als sie endlich im Bett lag, war es fast ein Uhr nachts. Sie hatte etwa fünfeinhalb Stunden geschlafen und das Gefühl, mit verschwollenen Augen auf einer Welle der Müdigkeit zu schwimmen. Mit einem Keuchen und einem langen Zittern setzte sich die U-Bahn wieder in Bewegung. Sie würde auf jeden Fall zu spät ins Büro kommen.
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2 Thames House, die Zentrale des Inlandsgeheimdienstes MI 5, liegt an der Millbank. Das riesige und eindrucksvolle achtstöckige Sandsteingebäude kauert wie ein großes, bleiches Gespenst ein paar hundert Meter südlich des Parlaments. An diesem Morgen roch es hier wie immer nach Dieselabgasen und dem Fluss. Regen und Wind ließen Liz den Mantel fester um sich ziehen. Sie achtete auf die feuchten Platanenblätter, auf denen man leicht ausrutschen und sich den Knöchel verstauchen konnte, und eilte die Eingangstreppe hinauf. Mit schwingender Umhängetasche drückte sie eine der Türen auf, begrüßte die Wachmänner am Tresen mit einer kurzen Handbewegung und schob den Dienstausweis in die Sperre. Eine der Sicherheitsschleusen öffnete sich, sie trat hinein und war für einen Moment eingeschlossen. Als sei sie in nur einem Augenblick Lichtjahre gereist, trat sie in eine andere Dimension, als die hintere Tür der Schleuse aufging. Thames House war ein Ameisenhaufen, eine Stadt aus Stahl und getöntem Glas, und Liz spürte eine kleine Veränderung in ihrem Inneren, als sie die Sicherheitszone durchquerte und mit dem lautlosen Fahrstuhl in den fünften Stock fuhr. Als die Türen sich öffneten, eilte sie nach links zur Abteilung 5/AX, der Agentenführung. Das von Neonröhren erhellte Großraumbüro wirkte wegen der Kleiderständer neben jedem Schreibtisch ein wenig unordentlich. Hier hing die Arbeitskleidung der Agentenführer, bei Liz eine abgetragene Jeans, ein schwarzer Fleecepullover und eine Lederjacke mit Reißverschluss. Ihr Schreibtisch war bis auf einen grauen Computer, ein Touchtone-Telefon und einen FBI-Kaffeebecher leer, daneben stand ein Aktenschrank mit Kombinationsschloss, aus dem sie eine dunkelblaue Mappe nahm. 11
»Fünf Minuten vor der Zeit ist die wahre Pünktlichkeit«, murmelte Dave Armstrong am Schreibtisch neben ihrem, die Augen auf den Bildschirm geheftet. »Die verdammte U-Bahn«, erwiderte Liz und schloss den Schrank wieder. »Der Zug ist einfach stehen geblieben. Zehn Minuten lang. Keine Ansage, gar nichts.« »Na ja, der Fahrer konnte seinen Joint ja wohl kaum auf dem Bahnhof rauchen, oder?«, sagte Armstrong ohne eine Miene zu verziehen. Liz war allerdings mit der Aktenmappe, doch ohne Mantel und Tuch schon fast wieder an der Tür. Auf dem Weg zu Raum 6/40, einen Stock höher, eilte sie in eine Toilette, um ihr Aussehen zu kontrollieren. Im Spiegel sah sie ein Bild unerwarteter Ruhe. Ihr feines, mittelbraunes Haar umrahmte mehr oder weniger gleichmäßig das blasse Oval ihres Gesichts. Die graugrünen Augen waren vielleicht von der Müdigkeit leicht gerötet, aber der Gesamteindruck war akzeptabel. Ermutigt ging sie nach oben. Die Arbeitsgruppe »Terrorismusbekämpfung«, der sie seit fast einem Jahr angehörte, kam jeden Montag um halb neun zusammen. Diese Sitzungen sollten die Einsätze gegen Terrornetzwerke koordinieren und die Aufklärungsziele für die jeweilige Woche festlegen. Die Gruppe stand unter dem Vorsitz von Liz’ fünfundvierzig Jahre altem Abteilungsleiter Charles Wetherby und bestand aus MI 5-Analytikern und Agentenführern sowie Verbindungsleuten vom Auslandsgeheimdienst MI 6, vom Abhörzentrum der Regierung und vom Special Branch, der für Staatsschutz und organisiertes Verbrechen zuständig war. Wenn nötig, nahmen auch Vertreter des Innen- und Außenministeriums teil. Die Gruppe war unmittelbar nach dem 11. September 2001 eingerichtet worden, da der Premierminister forderte, es dürfe bei den mit Terrorismus befassten Diensten keinerlei Informationsstaus oder Kompetenzstreitigkeiten geben. Niemand war in der Stimmung gewesen, 12
dem zu widersprechen. In ihren ganzen zehn Jahren beim MI 5 konnte Liz sich an keine so geschlossene Front erinnern. Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass die Tür des Sitzungsraums offen stand und noch niemand saß. Danke, lieber Gott! Sie würde keine geduldigen männlichen Blicke zu ertragen brauchen, wenn sie ihren Platz an dem langen, ovalen Hartholztisch einnahm. Gleich hinter der Tür erzählte ein aggressives Duo vom Special Branch einem Kollegen von Liz die Hintergründe der Titelgeschichte des heutigen Daily Mirror – eine wüste Story über einen Moderator vom Kinderfernsehen und dessen Koksorgien mit Strichjungen in einem Fünfsternehotel in Manchester. Der Mann vom Abhörzentrum hielt sich nah genug, um alles mitzukriegen, aber weit genug, um sich jedem Verdacht offensichtlicher Lüsternheit zu entziehen. Der Vertreter des Innenministeriums las den Pressespiegel. Charles Wetherby stand erwartungsvoll am Fenster. Sein perfekt gebügelter Anzug und seine polierten Oxford-Schuhe waren ein stummer Vorwurf gegen Liz’ Kleidung, an der die feuchte Badezimmerluft leider keine Wunder vollbracht hatte. Trotzdem glitt der Anflug eines Lächelns über sein unregelmäßiges Gesicht. »Wir warten auf Sechs«, murmelte er und nickte in Richtung Vauxhall Cross, einen Kilometer flussaufwärts. »Ich schlage vor, Sie atmen tief durch und üben sich in Geduld.« Liz versuchte es. Sie schaute auf die regenfeuchte Lambeth Bridge. Es war gerade Hochwasser, und der Fluss war dunkel und angeschwollen. »Hat sich am Wochenende irgendwas getan?«, fragte sie und legte die dunkelblaue Mappe auf den Tisch. »Nichts, was uns hier lange aufhält. Wie geht’s Ihrer Mutter?«
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»Sie ärgert sich, dass es nicht kälter ist. Der Frost soll die Rüsselkäfer umbringen.« »Geht doch nichts über einen guten Frost. Ich finde dieses Verschmelzen der Jahreszeiten schrecklich.« Er fuhr sich mit den knochigen Fingern durchs ergrauende Haar. »Sechs schickt anscheinend einen Neuen mit – einen von ihren Leuten aus Pakistan.« »Kennen wir ihn?« »Mackay. Bruno Mackay.« »Was erzählt man sich denn so über Mr Mackay?« »Er war in Harrow auf dem Internat.« »So wie in der Geschichte mit der Frau, die in ein Zimmer mit drei Internats-Absolventen kommt? Der aus Eton fragt, ob sie Platz nehmen möchte, der aus Winchester zieht einen Stuhl vor, und der aus Harrow …« »… setzt sich drauf«, ergänzte Wetherby mit dünnem Lächeln. »Genau so.« Liz wandte den Blick wieder zum Fluss und war dankbar, dass sie mit ihrem Vorgesetzten so reden konnte. Jenseits der Themse sah sie die regennassen Mauern von Lambeth Palace. Wusste Wetherby von Mark? Sehr wahrscheinlich. Er wusste ja auch sonst fast alles von ihr. »Na, dann sind wir ja komplett«, murmelte er mit einem Blick über ihre Schulter. Der MI 6 war durch Geoffrey Fane, den Koordinator für AntiTerror-Einsätze, und den Neuen, Bruno Mackay, vertreten. Man schüttelte sich die Hand, und Wetherby schritt rasch durch den Raum, um die Tür zu schließen. Auf jedem Platz lag eine Zusammenfassung der Wochenendberichte aus Übersee. Wetherby hieß Mackay in Thames House willkommen und stellte ihn dem Team vor. Der MI 6-Mann sei gerade aus
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Islamabad zurück, wo er als hoch geschätzter stellvertretender Abteilungsleiter tätig war. Mit einer Geste der Bescheidenheit hob Mackay abwehrend die Hände. Er war sonnengebräunt und grauäugig, sein Flanellanzug stammte offensichtlich aus der Savile Row, und er stach aus dieser eher unauffälligen Runde heraus. Als er sich vorbeugte, um Wetherby zu antworten, musterte Geoffrey Fane ihn mit kühlem Wohlwollen. Offenbar hatte er einige Anstrengungen unternommen, um den jüngeren Mann ins Team einzuschleusen. Auf Liz, die von der zurückhaltenden, selbstironischen Kultur von Thames House geprägt war, wirkte Mackay ein wenig hochstaplerisch. Für einen Mann seines Alters, er war höchstens zwei- oder dreiunddreißig, war er viel zu teuer angezogen. Sein gutes Aussehen – tiefe Bräune, gerader, grauer Blick, wohlgeformte Nase und Mund – war viel zu betont. Er war ein Mann, den man nicht so schnell vergaß, und jede Faser ihrer Professionalität sträubte sich gegen so etwas. Einen Moment lang und ohne Ausdruck traf sich ihr Blick mit dem Wetherbys. Nach der Begrüßung arbeitete sich die Gruppe durch die Überseeberichte. Geoffrey Fane machte den Anfang. Er war ein hoch gewachsener, hagerer Mann – wie ein Reiher in gestreiften Hosen, hatte Liz immer gedacht –, der seine Karriere in der Nahost-Abteilung des MI 6 gemacht hatte, wo er sich den Ruf völliger Skrupellosigkeit erwarb. Er sprach über das ITS, das Islamische Terrorsyndikat, wie der Oberbegriff für Gruppen wie al-Qaida, Islamischer Dschihad, Hamas und zahlreiche andere lautete. Nachdem Fane geendet hatte, wandte er sich mit herablassendem Blick zu seinem jüngeren Kollegen nach links. Bruno Mackay beugte sich nach vorn, zog an seinen Manschetten und schaute auf seine Notizen. »Wenn ich kurz zu meinem alten Revier zurückkehren dürfte«, begann er. »Der pakistanische Geheimdienst hat gemeldet, dass Dawud al-Safa gesehen wurde. Laut Bericht besuchte er wohl ein Trainingscamp bei Takht-i15
Suleiman im nordwestlichen Stammesgebiet und nahm womöglich Kontakt zu einer Gruppe namens ›Kinder des Himmels‹ auf, die unter Verdacht steht, vor sechs Monaten einen Wachtposten der US-Botschaft in Islamabad ermordet zu haben.« Es störte Liz sehr, als Mackay die islamischen Namen so aussprach, dass jedem klar sein musste, wie gut sein Arabisch war. Was hatten diese Leute bloß? Warum hielten sie sich alle für Lawrence von Arabien oder Ralph Fiennes in Der Englische Patient? Ein komplizenhaftes Zwinkern von Wetherby verriet ihr, dass er ihre Meinung teilte. »Wir haben in Vauxhall das Gefühl, dass seine Aktivität von Bedeutung ist«, fuhr Mackay gewandt fort. »Aus zwei Gründen. Erstens: Al-Safa ist vor allem ein Geldbote zwischen Riad und den Terrorgruppen in Asien. Wenn er unterwegs ist, liegt was Übles in der Luft. Zweitens: Die ›Kinder des Himmels‹ sind eine der wenigen ITS-Gruppen, die möglicherweise westliche Mitglieder haben. Ein sechs Monate alter Bericht des pakistanischen Geheimdienstes erwähnt die Anwesenheit im Lager von, ich zitiere, ›zwei, vielleicht drei Personen von eindeutig westlichem Aussehen‹.« Er streckte die spachtelförmigen, gebräunten Finger vor sich auf dem Tisch aus. »Wie wir am Wochenende allen Abteilungen mitgeteilt haben, befürchten wir, dass die Gegenseite womöglich einen Unsichtbaren in Stellung bringen will.« Er ließ die Bemerkung einen Augenblick im Raum stehen. Die absichtliche Theatralik seines Vortrags schwächte die Wirkung seiner Aussage nicht ab. Ein »Unsichtbarer« war CIA-Jargon für den schlimmsten Geheimdienstalbtraum: ein Terrorist aus dem Zielland, der die Grenzen unkontrolliert überschreitet, sich frei im Land bewegt und dessen Institutionen mühelos infiltriert. Ein Unsichtbarer war die schlimmste Nachricht überhaupt.
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»Angesichts dieser Situation schlagen wir vor, die Grenzkontrollbehörden mit an Bord zu holen«, fuhr Mackay fort. Der Mann vom Innenministerium runzelte die Stirn. »Wie definieren Sie die möglichen Ziele und das Timing des Ganzen? Wir sollten wohl besser die Sicherheitsstufe aller Regierungsgebäude von Schwarz auf Rot erhöhen, aber das schafft Verwaltungsprobleme, und ich möchte es nicht zu früh tun.« Mackay warf einen Blick auf seine Notizen. »Pakistan kontrolliert bereits alle Passagierlisten aus dem Land, mit besonderem Augenmerk auf … Moment, Reisende unter fünfunddreißig, die keine Geschäftsleute sind und sich länger als dreißig Tage im Land aufhielten. Sie passen also auf. Bisher gibt es keine Hinweise auf mögliche Ziele, aber wir haben das Ohr dicht am Boden.« Er schaute zu Wetherby und dann zu Liz hinüber. »Wir müssen in ständiger Verbindung mit unseren Agenten auf dieser Seite bleiben.« »Das geschieht bereits«, sagte Wetherby. »Wenn sie irgendetwas hören, kommt es uns ebenfalls zu Ohren, aber bis jetzt …« Er blickte fragend zu dem Mann vom Abhörzentrum hinüber, der unverbindlich die Lippen schürzte. »Momentan gibt es etwas mehr Hintergrundgeräusche als normal, aber keine speziellen Hinweise. Nicht annähernd die Aktivität, die man bei einem großen Anschlag erwarten würde.« Liz blickte verstohlen umher. Die Beamten vom Special Branch hatten wie üblich nichts gesagt. Sonst gaben sie sich als viel beschäftigte Leute, deren Zeit bei einem Kaffeeklatsch vergeudet wurde, aber diesmal saßen sie aufrecht und wachsam da. Ihre Augen trafen die von Mackay. Er lächelte nicht, schaute aber auch nicht weg, sondern starrte direkt zurück. Sie ließ den Blick weiter umherschweifen, wusste jedoch, dass der MI 6Mann sie noch immer beobachtete. 17
Wetherby beobachtete seinerseits Mackay, ohne dass sein müdes Durchschnittsgesicht irgendeine Regung verriet. Der Kreis hielt für einen langen, gespannten Moment an, dann fragte Fane allgemein nach MI 5-Agenten in den militanten Islamistenkreisen Englands. »Wie nah sind diese Leute dran? Würden sie Bescheid wissen, wenn ein ITS-Anschlag gegen dieses Land geplant wäre?« Wetherby überließ Liz das Feld. »In den meisten Fällen wohl eher nicht«, antwortete sie, denn sie wusste aus Erfahrung, dass Fane nicht auf Optimismus ansprach. »Wir haben aber Leute in den richtigen Umlaufbahnen. Mit der Zeit kommen sie näher ans Zentrum.« »Mit der Zeit?« »Wir sind nicht in der Lage, den Prozess zu beschleunigen.« Sie hatte beschlossen, Marzipan nicht zu erwähnen. Der Agent wäre zwar eine Trumpfkarte gewesen, aber er musste seinen Wert und seinen Mut erst noch beweisen. An diesem frühen Punkt seiner Agentenlaufbahn wollte sie ihn nicht präsentieren, ganz sicher nicht in einem so großen Kreis. Der undurchdringliche Wetherby tippte sich mit einem Bleistift an die Lippen, doch Liz las aus seiner Haltung, dass er ihre Entscheidung billigte. Sie hatte sich von Fane nicht zu einer Aussage drängen lassen, die später gegen sie verwendet werden konnte. Mackay beobachtete sie immer noch, wie sie mit einem leichten Schwindel feststellte. Sandte sie wie eine Fledermaus unwillkürlich irgendein sexuelles Signal aus? Oder war Mackay ein Mann, der glaubte, er müsse zu jeder Frau, die seinen Weg kreuzte, ein vertrauliches Verhältnis schaffen, damit er sich hinterher sagen konnte, er hätte sie haben können, wenn er gewollt hätte? Beide Möglichkeiten waren eher störend als schmeichelhaft.
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Über ihren Köpfen hatte eine Neonröhre zu flackern begonnen. Sie schien das Ende der Sitzung anzukündigen.
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3 Bei Trumper in der Jermyn Street, anderthalb Kilometer weiter nordwestlich, setzte sich Peregrine Lakeby auf den gut gepolsterten Friseurstuhl. Mit einer gewissen Zufriedenheit betrachtete er sich im Spiegel. Es ist nicht leicht, elegant auszusehen, während ein Friseur mit seinen Handtüchern und Bürsten um einen herumfuhrwerkt, aber Perry Lakeby gratulierte sich dazu, dass er sich trotz seiner zweiundsechzig Jahre gut gehalten hatte. Er hatte weder rote Äderchen noch hängende Tränensäcke oder ein Doppelkinn, die seine Altersgenossen so unattraktiv machten. Lakebys Augen waren klar und meergrün, seine Haut straff, das zurückgekämmte, dunkelgraue Haar war noch immer voll. Warum er dem Zahn der Zeit besser getrotzt hatte als andere, war Perry völlig schleierhaft. Er aß und trank zwar nicht im Übermaß, versagte sich aber auch nichts. Seine sportlichen Aktivitäten beschränkten sich auf gelegentliche Seitensprünge und ein paar Tage Rebhuhnjagd in der Saison. Auf Nachfragen hätte er sein gut erhaltenes Äußeres wahrscheinlich auf seinen Stammbaum zurückgeführt. Wie er gerne erzählte, waren die Lakebys eine alte angelsächsische Familie. »Gute Fahrt in die Stadt gehabt, Sir?« Perry zog missmutig eine Augenbraue hoch. »Ganz erträglich, bis auf die Handy-Proleten. Anscheinend finden diese Leute gar nichts dabei, aller Welt die Einzelheiten ihres abstoßenden Lebens zu erzählen. Und dann auch noch stundenlang.« Mr Parks Schere klapperte. »Bedaure, das zu hören, Sir. Geht’s heute Abend gleich wieder zurück?« »Ja, leider. Meine Frau hat Gäste. Das langweiligste Paar von ganz Norfolk, aber was will man machen!« 20
»So ist es, Sir. Wenn Sie bitte den Kopf etwas vorbeugen würden.« Perry fuhr durchschnittlich einmal im Monat mit dem Zug nach London und ging meist direkt zu Trumper. Irgendetwas an der dunklen Holztäfelung, den Dachshaarbürsten und dem Seifengeruch – vielleicht eine Erinnerung an die Schule – beruhigte ihn ungemein. Perry schätzte Kontinuität, und er war jetzt seit mehreren Jahrzehnten Kunde bei Trumper. Er hätte auch in Fakenham zum Friseur gehen und nahezu dasselbe Ergebnis für ein Drittel des Preises haben können, aber das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Seine Ausflüge nach London waren eine Flucht, nicht zuletzt vor den wachsamen Augen seiner Frau Anne, und sie hatten einen rituellen Charakter, an den er sich gewöhnt hatte. »Das Kinn etwas höher bitte, Sir.« Perry gehorchte, und Mr Park benetzte die Wangen seines Kunden mit einem kräftigen Rasierwasser. »Darf es sonst noch was sein, Sir?« Perry saß in einer angenehmen Aura von Talkumpuder und sizilianischer Limonenessenz. Nicht mal die Aussicht auf Ralph und Diane Munday, die seine Gin-Vorräte vernichteten, konnte ihm diesen Augenblick verderben. »Nein danke, das wär’s, Mr Park.« Er stand auf, und Mr Park half ihm in den Mantel mit Samtkragen, den er immer in London trug. Als er die Treppe zur Straße emporstieg, sah er, dass der Wind aufgefrischt, aber der Regen aufgehört hatte, und mehr konnte man von einem Dezembervormittag kaum verlangen. Mit dem geschlossenen Schirm in der Hand schlenderte Perry westwärts Richtung St. James’s, vorbei an den Geschäften mit Maßschuhen, Strumpfwaren, den Hutmachern, Parfümerien, Badausstattern, Manschettenknopfspezialisten und alteingesessenen Hemdenschneidern, in deren Fenstern sich bis oben hin 21
gestreifter Stoff stapelte. All diese Geschäfte munterten Perry Lakeby zusätzlich auf, denn sie bewiesen, dass es noch eine Welt gab, in der die alte Ordnung etwas galt und Leuten wie ihm Respekt entgegengebracht wurde. Wenn ein paar der alten Geschäfte zugemacht hatten und sich dort jetzt Handyläden oder unverhohlen egalitäre Herrenausstatter befanden, ignorierte er das. Er würde sich nicht den Tag verderben lassen. Vor New and Lingwood überlegte er, ob er sich eine Krawatte gönnen solle. Er hegte eine besondere Vorliebe für New and Lingwood – als er in Eton war, hatten sie dort eine Filiale gehabt, wahrscheinlich gab es sie immer noch. Im letzten Moment wandte er sich jedoch ab. Er konnte nicht mit einem neuen Schlips statt einem Geschenk für Anne nach Hause kommen, zudem hatte er keine Zeit, eins zu kaufen. Und offen gesagt auch kein Geld. In den letzten Monaten hatte er den Gürtel enger schnallen müssen, und wenn er sich gelegentlich auf gewissen Gebieten etwas gönnte, tat er es von seinen eigenen Mitteln. Diese Mittel waren sehr begrenzt und durften nicht für Seidentücher von Liberty oder Stephanotis-Badeöl von Floris vergeudet werden – egal unter welchen Umständen. Zigarren waren dagegen etwas anderes. Kipling schrieb einmal, eine Frau sei nur eine Frau, aber eine gute Zigarre sei ein Geschenk, und Perry dachte an genau diesen Satz, als er die Straße überquerte und Davidoff an der Ecke St. James’s betrat. Der Besitzer begrüßte ihn höflich und führte ihn in den Humidor-Raum. Es war einer von Perrys Lieblingsorten auf der Welt, und mehrere Momente lang sog er die nach Havannas duftende Luft ein. Wie immer war die Auswahl hervorragend, und Perry zögerte unschlüssig zwischen den Partagas, Cohibas und Bolivars. Schließlich schaltete sich der Besitzer ein und lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen schönen alten Humidor aus Tropenholz, in dem sich mehrere Dutzend El Rey del Mundos verschiedener Größen befanden. Perry nahm drei davon
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sowie eine Gran Corona und ein paar Lonsdales und bezahlte mit zwei großen Scheinen. Er überquerte St. James’s, wobei er den Taxis auswich, die heutzutage offenbar keinerlei Rücksicht mehr auf Fußgänger nahmen, und ging auf den unauffällig vornehmen Eingang von Brooks zu. Seine Patentochter hatte Geburtstag, und er lud sie um zwölf zum Lunch in den Club ein. Miranda Munday war das jüngste Kind seiner Nachbarn in Norfolk, und Perry wusste immer noch nicht genau, wie er dazu gekommen war, für ihr geistiges Wohl verantwortlich zu sein. Aufgrund einiger früherer Gelegenheiten wusste er dafür aber recht genau, was in den nächsten Stunden passieren würde. Die Vierundzwanzigjährige würde vom Ambiente völlig unbeeindruckt sein, von der gewölbten Decke und dem vergoldeten Stuck ebenso wie von den schweren, weinroten Vorhängen und den grünen Ledersesseln. Stattdessen würde sie die geringe Anzahl der weiblichen Mitglieder bemängeln, mit gerunzelter Stirn die Speisekarte lesen, einen Salat statt eines Hauptgerichts, Mineralwasser statt Rotwein und Kamillentee statt eines Desserts wählen und Perry endlos mit öden Einzelheiten ihrer Arbeit in der Werbebranche langweilen. Warum ist die Jugend bloß so schrecklich ernsthaft?, fragte er sich. Wo war der Spaß geblieben? Beim Eintreten grüßte er Jenkins, den Portier, zog den Mantel aus und stellte den Schirm in den langen Mahagoniständer. Halb zwölf. Noch eine halbe Stunde. Statt gleich die Treppe hinaufzugehen, wandte er sich spontan nach rechts zum Backgammon-Raum des Clubs, wo zwei Mitglieder gerade ein Spiel beendeten. »Morgen, Roddy«, sagte Perry. »Hallo, Simon.« Der Abgeordnete Roderick Fox-Harper und Simon Farmilow schauten ihn einen Augenblick an, ohne ihn zu erkennen. »Lakeby, nicht?«, sagte Farmilow schließlich. 23
»Peregrine Lakeby. Wie wär’s mit einer Partie?« Farmilow zog die Augenbrauen hoch. Er war ein bekannter Turnierspieler, aber wenn dieses Lämmchen sich ihm freiwillig zum Fraß vorwarf … »Ein Zehner pro Punkt?«, fragte Perry, den das Schweigen des anderen Mannes zum Leichtsinn provozierte. Das Spiel dauerte nicht lange. Farmilow warf gleich zu Beginn einen Sechserpasch, womit sich die Augenzahl automatisch verdoppelte. Ein paar Minuten später war seine Stellung gefestigt, und er drehte den Verdoppelungswürfel von zwei auf vier. Statt aufzugeben und nur vierzig Pfund zu verlieren, akzeptierte Perry die Erhöhung mit einem dünnen Lächeln, das auch dann noch unverändert blieb, als Farmilow ein Prime errichtete, Perry blockierte und ein Gammon erzielte. Wie beide wussten, verdoppelte ein Gammon alle bestehenden Augenzahlen. »Noch eins?«, fragte Perry mit leicht unsicher gewordener Stimme. »Warum nicht?«, stimmte Farmilow zu. Diesmal lief es etwas besser für Perry. Eine ordentliche Serie zu Beginn ermutigte ihn, zu verdoppeln, aber bald nahm sein Gegner ihm die letzten Steine ab. »Genug für heute?«, fragte Farmilow. »Ich glaube schon«, murmelte Perry. Er ging zu einem Tisch am Ende des Raums, stellte einen Wechsel für Farmilow über hundert Pfund aus und steckte ihn in den Schlitz des Holzkastens. Genauso gut hätte er Anne das verdammte Tuch kaufen können. Wenigstens wurden die Schulden erst Ende des Jahres fällig. Der Tag war noch nicht ruiniert. Miranda Munday wartete in der Eingangshalle. Ihre wenig aufregende Figur steckte in einem beigefarbenen Hosenanzug. Als sie gemeinsam die Treppe hinaufgingen, überlegte Perry, 24
dass sie wenigstens nach dem Lunch meistens bald Leine zog. Wenn er ein Taxi nahm, konnte er seine Verabredung in Shepherd Market um halb drei einhalten. Beim Gedanken an die Verabredung umfasste er das Geländer fester, die Haut in seinem Genick prickelte, und sein Herz schlug wie eine Regimentstrommel. Jeder Mann braucht ein geheimes Leben, sagte er sich.
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4 Auf der anderen Seite der Themse, anderthalb Kilometer weiter östlich, fuhr ein Eurostar-Zug aus Paris in Waterloo Station ein. Etwa in der Mitte des Zuges trat eine junge Frau aus der einschläfernden Wärme eines Zweite-Klasse-Waggons in die erfrischende Kühle des Bahnsteigs hinaus und wurde von der eiligen Menge zum Ausgang getragen. Elektronische Ansagen hallten entlang des überdachten Wegs und übertönten das Klappern der Gepäckwagen und das Surren der Kofferrollen – Klänge, die der jungen Frau so vertraut waren, dass sie sie kaum wahrnahm. In den letzten Jahren hatte sie die Reise von hier zum Gare du Nord und zurück wenigstens ein Dutzend Mal gemacht. Sie trug einen Parka über Jeans und Nike-Turnschuhen, eine braune Cordmütze mit Beatles-Aufdruck von einem Stand am Quai des Celestins, die sie tief in die Stirn gezogen hatte, sowie trotz des wolkigen Tags eine Pilotensonnenbrille. Sie wirkte wie Anfang zwanzig, trug eine Reisetasche und einen großen Rucksack, und nichts unterschied sie von den anderen Wochenendurlaubern, die fröhlich aus dem Zug quollen. Einem aufmerksamen Beobachter wäre womöglich aufgefallen, wie wenig von ihr überhaupt zu sehen war – der Parka verbarg ihre Figur, die Mütze das Haar und die Sonnenbrille die Augen –, und ein äußerst aufmerksamer Beobachter hätte sich vielleicht über ihre sonnenverbrannten Hände gewundert, die nicht zur Jahreszeit passten, aber an diesem Montagmorgen achtete niemand besonders auf die zweite Ladung Reisende. Die NichtEU-Bürger wurden vom Zoll in Empfang genommen, aber die große Mehrheit der Fahrgäste wurde durchgewunken. Am Schalter der Avis-Autovermietung reihte die Frau sich hinter vier anderen Wartenden ein, und falls sie die Überwa26
chungskamera über ihrem Kopf entdeckte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie schien sich vielmehr in einen Modeartikel der International Herald Tribune zu vertiefen. Ein lautes Piepen unter dem Schalter begrüßte sie, als sie an der Reihe war, und der Angestellte entschuldigte sich, um eine SMS zu lesen. Einen Moment später schaute er wieder auf und lächelte abwesend, als suche er nach einer schlagfertigen Antwort. Er behandelte sie höflich, sah aber an ihren eingerissenen Fingernägeln, den ungepflegten Händen und der Wahl eines Kleinwagens, dass sie nicht seiner vollen Aufmerksamkeit würdig war, deshalb warf er bloß einen flüchtigen Blick auf ihren Führerschein und Reisepass. Die Fotos waren anscheinend dieselben, beide stammten aus derselben Fotoautomatenserie und zeigten die übliche ausdruckslose, leicht verwirrte Miene. Sobald sie außer Sicht war, hatte er sie bereits vergessen. Die Frau warf ihr Gepäck auf den Beifahrersitz und fädelte sich mit dem schwarzen Astra in den Verkehrsstrom ein, der die Waterloo Bridge überquerte. Als sie beschleunigte und in die Unterführung einfuhr, spürte sie, wie ihr Herz raste. Atme tief durch, sagte sie sich, sei ruhig. Fünf Minuten später hielt sie in einer Parkbucht am Straßenrand. Sie nahm Reisepass, Führerschein und Wagenpapiere aus der Manteltasche und schob sie mit dem anderen Pass, den sie bei der Einreise vorgezeigt hatte, in die Reisetasche. Danach blieb sie sitzen und wartete, dass ihre Hände von der aufgestauten Anspannung zu zittern aufhörten. Da fiel ihr ein, dass es Mittag war. Sie sollte etwas essen. Aus der Seitentasche des Rucksacks holte sie ein Baguette mit Gruyère, einen Riegel Nussschokolade und eine Plastikflasche mit Wasser. Sie zwang sich, langsam zu kauen. Dann schaute sie in den Rückspiegel und fädelte sich wieder in den Verkehr ein.
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5 Während sie an ihrem Schreibtisch in 5/AX die Akte über Marzipan las, spürte Liz Carlyle das gewohnte Unbehagen. Als Agentenführerin war die Sorge ihre ständige Begleiterin, ein allgegenwärtiger Schatten. Die Wahrheit war schrecklich einfach. Um Agenten wirkungsvoll einzusetzen, musste man sie in eine riskante Lage bringen. Aber wusste Marzipan mit seinen zwanzig Jahren wirklich, welches Risiko er einging? Hatte er sich voll und ganz klar gemacht, dass er vielleicht noch eine Lebenserwartung von einigen Stunden hatte, falls er aufflog? Marzipan hieß Sohail Din und hatte sich aus freien Stücken gemeldet. Er war ein außergewöhnlich intelligenter junger Mann pakistanischer Abstammung, dessen wohlhabender Vater mehrere Zeitungsläden in Tottenham besaß, und hatte einen Jura-Studienplatz in Durham ergattert. Als frommer Moslem hatte er beschlossen, in dem Jahr Wartezeit in einer kleinen islamischen Buchhandlung in Haringey zu arbeiten. Die Arbeit war schlecht bezahlt, aber es war nicht weit von seinem Zuhause, und Sohail hoffte, es werde sich die Gelegenheit zu religiösen Diskussionen mit anderen ernsthaften jungen Männern ergeben. Rasch hatte sich aber gezeigt, dass der Ton dort weniger gemäßigt war, als es zunächst schien. Die Version des Islam, der die Männer anhingen, die dort kamen und gingen, unterschied sich stark von dem mitfühlenden Glauben, den Sohail zu Hause und in der örtlichen Moschee kennen gelernt hatte. Extremistische Ansichten waren ganz normal, junge Männer sprachen offen über ihre Absicht, sich als Mudschahedin ausbilden zu lassen und das Schwert des Dschihad gegen den
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Westen zu erheben, und jeder Terroranschlag gegen amerikanische oder israelische Ziele wurde bejubelt. Sohail verhielt sich unauffällig. Er widersprach nicht, war jedoch davon überzeugt, dass eine Weltanschauung, die den Mord an Zivilisten rechtfertigte, Gott nicht wohlgefällig sein konnte. Im Gegensatz zu den anderen Angestellten sah er keinen Grund, das Land seiner Geburt zu hassen oder das Rechtssystem zu verachten, dem er eines Tages dienen wollte. Der entscheidende Moment kam an einem Spätsommernachmittag, als drei arabisch sprechende Männer aus einem alten Mercedes stiegen und die Buchhandlung betraten. Einer seiner Kollegen hatte ihn angestoßen und auf den Ältesten der drei hingewiesen, eine unauffällige Gestalt mit schütterem Haar und ungepflegtem Bart. Nachdem die Männer in die Räume über dem Laden geführt worden waren, erfuhr Sohail, dies sei Rahman al-Masri, ein wichtiger Kämpfer. Vielleicht bedeutete sein Kommen, dass England endlich etwas von dem Terror spüren würde, den sein satanischer Verbündeter, die USA, anrichtete. An diesem Punkt beschloss Sohail, zu handeln. Nach Feierabend nahm er nicht wie sonst den Bus nach Hause, sondern studierte einen Stadtplan und fuhr dann mit der Bahn sechs Stationen nach Süden bis Cambridge Heath. Als er aus dem Bahnhof trat, vergewisserte er sich, dass ihm niemand folgte, setzte die Kapuze seines Mantels auf und ging durch den Nieselregen zum Polizeirevier Bethnal Green. Der Special Branch reagierte schnell. Rahman al-Masri war ein bekannter Aktivist. Der MI 5 wurde verständigt und die Buchhandlung unter Beobachtung gestellt, und als al-Masri und seine beiden Begleiter am nächsten Tag wieder gingen, wurden sie diskret begleitet. Die Geheimdienste der verbündeten Staaten waren informiert worden und arbeiteten eng zusammen, während al-Masri sich zunächst frei bewegen konnte. Schließlich wurde er auf dem Flughafen von Dubai von der dortigen Geheimpolizei festgenommen. Nach einer Woche 29
»intensiver Befragung«, wie es offiziell hieß, gab er zu, London besucht zu haben, um den dortigen Terrorzellen Instruktionen zu erteilen. Es sollte Angriffe auf Ziele im Bankenviertel geben. Durch die Warnung konnte der Special Branch die Beteiligten identifizieren und festnehmen. Eines der Hauptziele des gesamten Einsatzes war es gewesen, die ursprüngliche Informationsquelle zu schützen. Nach der Aktion verständigten sich ein hoher Special-Branch-Beamter und Charles Wetherby nach ausführlicher Durchleuchtung darauf, der junge Pakistani könne ein passender Kandidat sein, um vom MI 5 langfristig als Agent eingesetzt zu werden. Wetherby hatte Liz die Akte gegeben, und ein paar Tage später fuhr sie nach Tottenham. Ihre erste Begegnung fand im leeren Klassenzimmer einer Abendschule statt, wo Sohail einmal in der Woche einen Computerkurs machte. Es hatte sie schockiert, wie jung er war. Mit seiner schmalen Figur, der bescheidenen Art und dem ordentlichen Jackett samt Schlips wirkte er wie ein Schuljunge. Er strahlte jedoch auch Entschlossenheit aus, und im Gespräch mit ihm war sie von der Strenge seiner moralischen Überzeugungen überrascht. Mord sei durch nichts zu rechtfertigen, sagte er, und wenn die Beobachtung seiner Glaubensbrüder dabei half, Mord zu verhindern und den guten Namen des Islam vor denen zu schützen, die eine nihilistische Apokalypse anstrebten, dann wolle er es tun. Sie hatte ihn gefragt, ob er bereit sei, in der Buchhandlung zu bleiben und sich von Zeit zu Zeit mit ihr zu treffen, um Informationen zu liefern, und er hatte bejaht. Ohne dass sie es aussprach, hatte er erraten, welcher Organisation sie angehörte, und war offenbar nicht überrascht davon. Seitdem hatte es drei weitere Treffen in der Abendschule gegeben. Sohail notierte in einer verschlüsselten Datei auf seinem Laptop, wer die Buchhandlung besuchte, und während ein Mann vom Special Branch auf dem Flur unauffällig Wache hielt, las er Liz seine Berichte vor. Keine seiner Informationen 30
war so bedeutsam gewesen wie der Bericht über al-Masris Anwesenheit, aber es war klar, dass die Buchhandlung ein zentraler Anlaufpunkt für die »Durchgeknallten« war, wie der Special Branch sie nannte. Wenn irgendwo in England ein Anschlag geplant wurde, an der islamistische Terrorgruppen beteiligt waren, würde Sohail – Marzipan – schon früh davon erfahren. Er war für den Geheimdienst eine potenzielle Goldader. Das letzte Treffen war schwierig gewesen, zumindest für Liz. Sie hatte Sohail gefragt, ob er sich vorstellen könne, sein Studium noch ein weiteres Jahr zu verschieben, um in der Buchhandlung zu bleiben, und zum ersten Mal sah sie den Zwanzigjährigen zusammenzucken. Sie wusste, dass er darauf gezählt hatte, das anstrengende Doppelleben im kommenden Herbst zu beenden. Das Gefühl eines festen Austrittstermins hatte das Ganze vielleicht erst erträglich gemacht. Nun bat sie ihn, weitere zwölf Monate dazubleiben – zwölf Monate, in denen alles Mögliche passieren konnte. Vielleicht übte man Druck auf ihn aus, sich als Kämpfer ausbilden zu lassen. Mehrere der jungen Männer, die in den Räumen über der Buchhandlung Minztee getrunken und über den Dschihad geredet hatten, waren nach Pakistan und in die Lager gereist. Zumindest würde der Aufschub seinen Traum vom Anwaltsberuf ernsthaft gefährden. Sohails Besorgnis war kaum sichtbar gewesen, ein sekundenlanges Schaudern im Blick. Dann hatte er mit einem gelassenen Lächeln, als wolle er Liz beruhigen, eingewilligt, weiterzumachen. Sein Mut hatte Liz das Herz zusammengepresst. Sie betete, dass sie nie zu Sarfraz und Rukhsana Din gehen müsse, um ihnen zu sagen, ihr Sohn sei für sein Land und seinen Glauben gestorben. »Sorgenkind?«, fragte Dave Armstrong vom Nebentisch. 31
»Du weißt ja, wie das ist«, antwortete Liz, schloss die Marzipan-Datei und schob den Stuhl zurück. »Manchmal ist dieser Job richtig beschissen.« »Wem sagst du das. Und von dem so genannten Gulasch, das du in der Kantine gegessen hast, hast du sicher auch keine bessere Laune gekriegt.« Liz lachte. »War eine spontane Entscheidung. Was hattest du?« »Eine Art Huhn, glasiert mit Möbellack.« »Und?« »Die Wirkung war genau so, wie es auf der Dose steht.« Seine Hände klapperten kurz auf der Tastatur. »Wie war die Sitzung heute Vormittag? Ich hab gehört, das Team aus Legoland kam mal wieder zu spät.« »Das war wohl demonstrativ«, sagte Liz. »Ein Neuer war dabei. Ein ziemlich selbstzufriedener Harrow-Absolvent.« »Sag bloß, der MI 6 stellt jetzt arrogante Internatsschnösel ein«, murmelte Dave. »Kann ich mir gar nicht vorstellen.« »Er hat mich die ganze Zeit angestarrt«, fuhr sie fort. »Schamhaft oder schamlos?« »Schamlos.« »Du musst ihn umlegen. Tritt ihn mit der vergifteten Schuhspitze ins Bein wie Rosa Klebb.« »Okay … wart mal.« Liz beugte sich nach vorn zum Bildschirm, wo ein Symbol erschienen war. Sie klickte es mit der Maus an. »Ärger?« »Eine Nachricht von den Deutschen. Jemand hat bei einem Fälscher in Bremerhaven einen englischen Führerschein bestellt. Preis vierhundert Euro, gewünschter Name Faraj Mansur. Sagt dir das was?« 32
»Nein«, sagte Armstrong. »Wahrscheinlich bloß irgendein illegaler Einwanderer, der ein Auto mieten will, oder ein armer Teufel, dem sie den Lappen abgenommen haben. Es ist nicht jedes Mal ein Terrorist.« »Der MI 6 meint, ein Unsichtbarer vom islamischen Terrorsyndikat könnte unterwegs sein.« »Von wo?« »Aus einem der Lager an der Nordwestgrenze.« »Definitiv?« »Nein, bloß Gerüchte.« Sie speicherte die Nachricht und rief ihre Mails ab. Die Bürotür ging auf, und ein junger Mann mit harter Miene in einem T-Shirt mit dem Aufdruck ARISCHER WIDERSTAND kam herein. »Yo, Barney!«, sagte Dave. »Was tut sich bei den Rechten? Nach dem Haarschnitt und den Stiefeln hast du heute wohl noch eine Verabredung.« »Ja, in East Ham. Ein Vortrag über die heidnische Tradition Europas.« »Und worum geht es da?« »Hauptsächlich um New-Age-Hitlerkult.« »Super!« »Nicht wahr? Ich versuche, fies genug auszusehen, um an unseren Mann heranzukommen, aber nicht so schrecklich, dass mich unterwegs die Anti-Nazi-Liga zusammenschlägt.« »Ich finde, du siehst gerade richtig aus«, sagte Liz. »Vielen Dank.« Er grinste verschwörerisch. »Soll ich euch was zeigen?« »Du klingst wie ein Exhibitionist. Mach schnell, ich hab jede Menge Mails.«
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Barney griff unter seinen Schreibtisch, holte eine Gummimaske und ein Stück roten Filz hervor. »Für die Weihnachtsfeier. Ich hab einen Laden gefunden, der so was herstellt, und fünfzig Stück bestellt.« Liz starrte die Maske ungläubig an. »Das ist doch …« »Genau!« »Ist ja irre. Sieht genau aus wie er.« »Ich weiß, aber sag keinem was. Es soll eine Überraschung für Wetherby sein. Hier kann doch keiner länger als fünf Minuten was für sich behalten, deshalb verteil ich sie erst, wenn es so weit ist.« Liz lachte laut. Die Sorgen von Sohail Din wurden kurze Zeit völlig vom Gedanken daran verdrängt, wie ihr Abteilungsleiter, der bei Betriebsfeiern stets zu spät kam, fünfzig grinsenden David Shaylers mit Weihnachtsmannmützen gegenüberstehen würde.
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6 Als Liz nach Hause kam, wirkte die Souterrainwohnung in Kentish Town wie ein stummer Vorwurf. Sie war weniger schmutzig als vernachlässigt. Die meisten Sachen lagen da, wo sie sie zu Beginn des Wochenendes hingelegt hatte, die staubige CD in der offenen Lade des CD-Players, die Fernbedienung auf dem Teppich. Die Kaffeemaschine war halb voll und die Samstagszeitung überall verstreut. Ein leichter Begräbnisduft hing in der Luft. Der Winterjasmin, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte und den sie ins Wasser stellen wollte, bevor sie letzte Nacht schlafen ging, war bloß noch ein trauriges Bündel auf dem Tisch. Darum herum und auf dem Boden lagen vertrocknende Blütenblätter mit fünf Spitzen. Am Anrufbeantworter blinkte ein rotes Lämpchen. Warum war es so kalt? Sie überprüfte die Zentralheizung und merkte, dass die Schaltuhr zwei Stunden nachging. Hatte es am Wochenende einen Stromausfall gegeben? Vielleicht, aber Thermostate und Ähnliches hatten für Liz immer eine seltsame Macht gehabt, die sie undurchschaubar machte. Sie stellte die Zeit auf halb acht, worauf der Boiler mit einem befriedigenden Laut ansprang. Während sich die Wohnung in der nächsten halben Stunde erwärmte, räumte sie auf. Als sie sich endlich entspannen konnte, nahm sie eine Lasagne von dem Stapel im Gefrierschrank (Waren sie während des Stromausfalls, wenn es denn einer gewesen war, aufgetaut und wieder gefroren? Würde sie sich vergiften?), stach die Alufolie ein, schob die Packung in den Ofen und goss sich einen großen Wodka-Tonic ein. Auf dem Anrufbeantworter waren zwei Nachrichten. Die erste stammte von ihrer Mutter. Liz hatte einen Wildlederrock an der 35
Rückseite ihrer Schlafzimmertür in Bowerbridge hängen lassen. Hatte das Zeit, bis sie wiederkam? Die zweite war von Mark. Er hatte am selben Tag um zwölf Uhr sechsundvierzig aus dem Nobu in der Park Lane angerufen, wo er eine amerikanische Schauspielerin auf Spesen zum Lunch einladen sollte. Die Schauspielerin war jedoch noch nicht da, Mark hatte Hunger, und seine Gedanken waren zu der Souterrainwohnung in der Inkerman Road geschweift und der Möglichkeit, die Nacht mit der Mieterin besagter Wohnung zu verbringen. Eventuell nach einem Happen und einem Drink im Eagle in der Farringdon Road. Liz löschte beide Nachrichten. Die Idee, sich im Eagle zu treffen, wo gerne Journalisten vom Guardian hingingen, war idiotisch. Hatte er den Leuten bei der Zeitung etwa von ihr erzählt? Wussten schon alle, dass er das schickste aller journalistischen Accessoires besaß – eine Freundin beim Geheimdienst? Selbst wenn er niemandem was gesagt hatte, war klar, dass das Spiel die Grenzen des erträglichen Risikos überschritten hatte. Er spielte mit ihr und zog sie Zentimeter für Zentimeter in Richtung Selbstzerstörung. Liz nahm einen tiefen Schluck und wählte seine Handynummer. Sie würde hier und jetzt und ein für alle Mal Schluss machen. Es würde sehr wehtun, und sie würde sich schrecklich fühlen, aber sie wollte wieder die Kontrolle über ihr Leben gewinnen. Seine Mailbox sprang an, was wahrscheinlich bedeutete, dass er zu Hause bei Shauna war. Genau da, wo er sein sollte, dachte sie säuerlich. Sie ging durch die Wohnung und blieb beim Anblick der Waschmaschine und der halb mit grauem Wasser gefüllten Trommel stehen. Die Wäsche von letzter Woche lag jetzt zweieinhalb Tage da drin. Verzweifelt drückte sie den Startknopf, und die Maschine erwachte zum Leben.
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7 Als Anne Lakeby aufwachte, stand Perry am offenen Schlafzimmerfenster und schaute über den Garten aufs Meer. Es war ein klarer Tag mit einer leichten Brise, und ihr Mann sah in seinem langen chinesischen Bademantel fast wie ein Priester aus. Sein Haar war feucht, und er hatte es mit den beiden elfenbeinbesetzten Haarbürsten im Ankleideraum zu einem stumpfen Schimmer geglättet. Er hatte sich offenbar auch rasiert. Der alte Gauner macht immer noch was her, dachte sie, aber es passt nicht zu ihm, dass er sich so früh am Tag so viel Mühe gibt. Sie blinzelte zum Wecker und sah, dass es gerade erst sieben war. Obwohl Perry ein glühender Verehrer Margaret Thatchers gewesen war, hatte er ihre Vorliebe für frühes Aufstehen nie geteilt. Als Perry das Fenster zumachte, schloss Anne wieder die Augen und stellte sich schlafend. Die Tür ging zu, und fünf Minuten später erschien ihr Mann mit zwei Kaffeetassen auf einem Tablett. Das war wirklich beunruhigend. Was hatte er bloß gestern in London angestellt, um sich jetzt zu so einer Geste bemüßigt zu fühlen? Perry stellte das Tablett mit einem leisen Klappern auf den Boden und berührte seine Frau an der Schulter. Anne tat so, als wache sie auf. »Das ist ja … sehr nett.« Sie blinzelte schläfrig und griff nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch. »Welchem Umstand verdanke ich denn …« »Sagen wir der Klimaerwärmung«, sagte Perry aufgeräumt. »Nach gestern Abend hatte ich einen Riesenkater erwartet, aber ich hab noch mal Glück gehabt. Außerdem scheint die Sonne.
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Es ist ein Tag, um dankbar zu sein, und vielleicht auch, um die letzten Herbstblätter zu verbrennen.« Anne setzte sich auf und sortierte ihre Gedanken. Sie war nicht sicher, ob sie an diese zuvorkommende, Kaffee kochende Version ihres Ehemanns völlig glaubte. Ganz bestimmt führte er was im Schilde. Seine optimistische Art erinnerte sie an die Zeit, als er sie dazu brachte, die Aktien von Corliss Defence Systems zu kaufen. »Aber sie sind trotzdem schrecklich, nicht?«, fuhr Perry fort. »Wer? Dorgie und Diane?« Dorgie war Annes Spitzname für Sir Ralph Munday, dessen Hundegesicht sie an die Kreuzung aus Corgies und Dachshunden der Queen erinnerte. Da die Lakebys und die Mundays die beiden größten und wichtigsten Anwesen in Marsh Creake besaßen, betrachteten sie einander als Nachbarn, obwohl ihre Häuser eigentlich einen Kilometer voneinander entfernt lagen. »Wer denn sonst? Dieses verdammte Jagdchinesisch … Er redet, als hätte er das Ganze aus einem Buch auswendig gelernt. Und sie ist noch schlimmer, mit ihrem …« »Wo jagt er denn?« »In irgendeinem Revier bei Houghton, das ein paar Popstars gehört. Dorgs hat mir erzählt, eines der Mitglieder hätte sein Geld mit Internet-Pornos gemacht.« »Na ja, du gehst mit einem Waffenhändler auf die Jagd«, sagte Anne milde und rührte in ihrer Tasse. »Stimmt, aber das geht heutzutage ganz sauber zu. Man kann das Zeug nicht einfach aus einem Lastwagen an afrikanische Diktatoren verscheuern.« »Johnny Fortescue hat die Restaurierung der Bibliotheksdecke in Holt damit bezahlt, dass er elektrische Schlagstöcke an die irakische Geheimpolizei verkauft hat. Das hat Sophie mir selbst erzählt.« 38
»Damals war das bestimmt völlig koscher und vom Ministerium genehmigt.« Sie tranken ein paar Augenblicke stumm ihren Kaffee. »Sag mal, du kennst doch Ray?«, begann Anne. Perry schaute sie an. Ray Gunter war ein Fischer, der im Dorf wohnte und auf dem siebzig Meter breiten Privatstrand am Ende des Grundstücks ein paar Boote und ein Gewirr aus Hummernetzen aufbewahrte. »Aber sicher, nach all den Jahren. Was ist mit ihm?« »Müssen wir ihm unbedingt erlauben, hier dauernd übers Grundstück zu laufen? Ehrlich gesagt, ich kann ihn nicht ausstehen.« Perry runzelte die Stirn. »Wieso das denn?« »Er ist irgendwie … unheimlich. Man kommt um die Ecke, und da steht er plötzlich. Die Hunde mögen ihn auch nicht.« »Die Gunters haben hier mindestens seit der Zeit meines Großvaters ihre Boote liegen. Rays Vater …« »Ich weiß, aber Rays Vater ist tot. Und Ben Gunter war der netteste alte Knabe, den es gab, aber Ray ist einfach …« »Ungehobelt?« »Nein, schlimmer. Er ist unheimlich, wie ich schon sagte.« »Finde ich nicht. Er ist vielleicht nicht der größte Redner und trinkt wahrscheinlich ein bisschen viel, aber so sind Fischer nun mal. Ich glaube, wir können heftigen Ärger kriegen, wenn wir versuchen, ihn loszuwerden. Die Zeitungen hier würden sich die Hände reiben.« »Lass uns wenigstens herausfinden, wie unsere rechtliche Ausgangslage ist.« »Warum sollen wir dafür Geld ausgeben?«
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»Warum nicht? Wieso bist du derart …« Sie stellte die Tasse auf den Nachttisch und griff nach ihrer Brille. »Ich sag dir was, Sophie hat es mir erzählt. Kennst du seine Schwester?« »Ray Gunters Schwester? Kayleigh?« »Ja, Kayleigh. Anscheinend war das Mädchen, das bei den Fortescues im Garten arbeitet, mit ihr zusammen in der Schule und hat Sophie erzählt, Kayleigh arbeitet ein paar Abende die Woche als Stripperin in einem Club in King’s Lynn.« »Ach ja?« Perry zog die Brauen hoch. »Ich wusste gar nicht, dass King’s Lynn solche dunklen Versuchungen bietet. Hat sie gesagt, wie der Club heißt?« »Perry, hör auf. Ich will damit sagen, dass die jetzigen Gunters nicht mehr dieselben einfachen Fischer sind wie ihre Eltern.« Perry zuckte die Achseln. »Tempora mutantur, et nos mutamur in illis.« »Und was heißt das?« Er ging zurück zum Fenster und schaute auf die weite, glänzende Küste von Norfolk, die sich zu beiden Seiten erstreckte. »Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen«, murmelte er. »Ray Gunter hat uns nicht das Geringste getan.« Anne setzte die Brille ab und legte sie mit einem entnervten Klacken auf den Nachttisch. Perry konnte so begriffsstutzig sein, wenn er wollte. Außerdem machte sie sich Sorgen. Nach fünfunddreißig Jahren Ehe wusste sie, wann er etwas im Schilde führte – und jetzt führte er etwas im Schilde.
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8 Nu-Celeb Publications in Chelmsford, Essex, saßen in einem niedrigen Kasten im Gewerbegebiet südwestlich der Stadt. Die Firmenräume waren sparsam und zweckmäßig eingerichtet, aber warm, sogar um neun Uhr morgens. Melvin Eastman fror nicht gern, und in seinem Büro, dessen Glaswände die Sicht auf die Halle im Erdgeschoss freigaben, war der Thermostat auf zwanzig Grad gestellt. Er saß noch immer in dem Kamelhaarmantel, in dem er vor zehn Minuten hereingekommen war, an seinem Schreibtisch und studierte die Titelseite der Sun. Eastman war ein relativ kleiner Mann mit ordentlich frisiertem Haar von leicht unnatürlicher Schwärze. Sein Gesicht blieb beim Lesen reglos, schließlich beugte er sich vor und nahm eins der Telefone ab. »Ken, wie viele von den Mink-Parfait-Kalendern haben wir schon gedruckt?« Unten in der Halle schaute sein Vorarbeiter hoch. »Etwa vierzigtausend, Chef. Verkaufen sich zu Weihnachten sicher bestens. Wieso?« »Weil Mink Parfait sich auflösen.« Er nahm die Zeitung und hielt sie hoch, sodass der Vorarbeiter sie sehen konnte. »Sind Sie sicher, dass das stimmt, Chef? Nicht irgend so ein Werbetrick …« Eastman legte die Zeitung wieder hin. »Foxy Deacon bestätigte, dass die vierköpfige Girlgroup wegen persönlicher und musikalischer Differenzen künftig getrennte Wege geht«, las er vor. »›Wir wissen, dass es ein Schock für unsere Fans sein wird‹, sagt FHM-Covergirl Foxy (22), ›aber wir wollten aufhören, wenn wir auf dem Höhepunkt sind.‹ Insider
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behaupten, die Spannungen in der Band … und so weiter. Wir werden auf den Kalendern sitzen bleiben.« »So ein Mist, Chef. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Eastman legte den Hörer auf, und auf seinem blassen Mondgesicht erschien ein Stirnrunzeln. Der Tag fing nicht gut an. Nu-Celeb war nur ein Eisen, das er im Feuer hatte, das StarKalender-Geschäft war nur die Tarnung für andere, weniger legale Aktivitäten, die ihn zum mehrfachen Millionär gemacht hatten. Trotzdem ärgerte es ihn, wegen ein paar Flittchen zwanzig Riesen zu verlieren. Noch dazu Mischlingsflittchen. Melvin Eastman hielt nichts vom Traum eines multikulturellen Englands. Eine Schlüsselfigur in Eastmans anderen Geschäftsaktivitäten, ein Mann mit schmalem Gesicht namens Frankie Ferris, der eine schwarze Bomberjacke und eine Baseballkappe trug, saß an der Wand. Er hielt einen Becher Tee in der Hand und rauchte, wobei er die Asche nervös und unnötig oft in den Mülleimer schnippte. »Also Frankie, wie läuft’s?«, fragte er den Mann ruhig. »Alles klar, Mr Eastman.« »Kommt das Geld rein? Zahlen alle?« »Ja, kein Problem.« »Irgendwelche besonderen Bestellungen?« »Harlow und Basildon wollen Ketamine. Haben gefragt, ob wir ihnen eine Probe geben können.« »Kommt nicht infrage. Das Zeug ist wie Crack – nur für Neger und Durchgeknallte. Weiter.« »Acid.« »Dasselbe. Noch was?« »Ja, das Ecstasy. Auf einmal wollen alle Schmetterlinge.« »Nicht die Tauben?«
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»Tauben sind okay, aber die Schmetterlinge laufen am besten. Es heißt, sie sind stärker.« »Das ist doch Quatsch, Frankie, da ist dasselbe drin, das weißt du.« Frankie zuckte die Achseln. »Ich wollt’s Ihnen bloß sagen.« Melvin Eastman nickte und wandte sich ab. Er nahm einen Bankumschlag aus der Schublade und gab ihn Frankie. Frankie runzelte die Stirn und drehte den Umschlag ratlos um. »Ich geb dir diese Woche nur Dreihundertfünfzig, weil ich dich ganz klar zu gut bezahlt habe«, sagte Eastman ruhig. »Letzten Freitag hast du im Brentwood Sporting Club sechshundertfünfzig beim Black Jack verballert.« »T-tut mir Leid, Mr Eastman. Ich …« »So was sorgt für Aufsehen, Frankie, und Aufsehen können wir nicht gebrauchen. Ich zahl dir nicht tausend pro Woche, damit du sie in aller Öffentlichkeit verbrätst, verstanden?« Eastmans Stimme und Miene waren unverändert, aber die Drohung schwang deutlich mit. Wie Frankie wusste, war der letzte Mann, der seinen Arbeitgeber ernsthaft verärgert hatte, an den Schlammbänken vor Foulness Island angespült worden. Die Hundshaie hatten sein Gesicht angefressen, und er musste am Gebiss identifiziert werden. »Ich verstehe, Mr Eastman.« »Bestimmt?« »Ja, Mr Eastman, ganz bestimmt.« »Gut. Dann an die Arbeit.« Eastman gab Frankie ein Messer aus der Schreibtischschublade und zeigte auf vier Pappkartons, die an der Wand gestapelt waren. Laut Aufdruck waren es koreanische Scanner.
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Frankie schnitt den ersten Karton auf und hob den Scanner mitsamt der Styroporhülle heraus. Darunter lagen drei prall gefüllte, verschweißte Plastikbeutel. »Müssen wir sie überprüfen?« Eastman nickte. Frankie machte einen kleinen Schnitt in den ersten Beutel, nahm ein gefaltetes Papierchen heraus und reichte es Eastman. Dieser faltete es auf, berührte die weißen Kristalle mit der Zungenspitze, nickte und gab es Frankie zurück. »Ich glaube, die Kapseln und das E sind okay. Guck bloß mal nach, ob Amsterdam uns Tauben oder Schmetterlinge geschickt hat.« »Das hier sieht aus wie Tauben«, sagte Frankie nervös und schaute in einen Beutel Ecstasy-Tabletten. »Die räumen wohl ihr Lager.« Dasselbe geschah bei den drei anderen Kartons. Sorgfältig packte Frankie die Tüten mit Ecstasy, Temazepam und Methamphetaminkristallen in einen Rucksack und legte ein TShirt und ein Paar schmuddelige Unterhosen obendrauf. »Die Schmetterlinge gehen nach Basildon, Chelmsford, Brentford, Romford und Southend«, sagte Eastman, »die Tauben nach Harlow, Braintree, Colchester …« Das Telefon klingelte, und er hob die Hand, damit Frankie wartete. Während des Gesprächs sah er ihn ein- oder zweimal an, aber Frankie starrte auf die Firmenhalle hinunter, scheinbar von einem Gabelstapler fasziniert. Nimmt er Drogen, oder ist es bloß die Zockerei?, fragte sich Eastman. Sollte er die Peitsche durch etwas Zuckerbrot ausgleichen und ihm beim Rausgehen ein paar Scheine in die Tasche stecken? Schließlich entschied er sich dagegen. Der Kerl musste seine Lektion lernen. 44
9 »Faraj Mansur, sagt Ihnen der Name was?«, fragte Charles Wetherby und steckte die Schildpattlesebrille in die Innentasche seines Jacketts. Liz nickte. »Ja, jemand mit diesem Namen hat sich einen gefälschten englischen Führerschein in einer norddeutschen Hafenstadt gekauft … ich glaube, es war Bremerhaven. Die Deutschen haben uns gestern Bescheid gesagt.« »Irgendwelche Terrorismusverbindungen?« »Ich hab ihn in der Datenbank überprüft. Es gibt einen Faraj Mansur auf der langen Liste, die uns die Pakistanis geschickt haben. Alle Personen, mit denen Dawud al-Safa dieses Jahr bei seinem Besuch in Peshawar gesprochen oder Kontakt gehabt hat.« »Al-Safa, der Terroristen-Geldbote? Von dem Mackay gestern gesprochen hat?« »Ja. Dieser Mansur – das muss ein ziemlich verbreiteter Name sein –, ist einer von einem halben Dutzend Angestellten einer Autowerkstatt an der Straße nach Kabul. Anscheinend machte al-Safa da Station und sah sich ein paar Gebrauchtwagen an. Der pakistanische Geheimdienst hatte einige Mann auf ihn angesetzt, und als er weiterfuhr, ließen sie einen Mann da, um eine Liste der Angestellten zu erstellen.« »Und das ist alles?« »Ja, alles.« Wetherby nickte nachdenklich. »Ich frage deswegen, weil mich aus einem mir nach wie vor unbekannten Grund gerade Geoffrey Fane angerufen hat. Er hat darum gebeten, auf dem Laufenden gehalten zu werden.« »Über Mansur?«, fragte Liz überrascht. 45
»Über Mansur. Ich musste ihm sagen, dass es nach Lage der Dinge noch keine Informationen gibt.« »Und?« »Das war’s. Er hat sich bedankt und aufgelegt.« Liz ließ den Blick an den kahlen Wänden entlangschweifen und fragte sich, warum Wetherby sie zu einem Gespräch in sein Büro gebeten hatte, das sie auch am Telefon hätten führen können. »Bevor Sie gehen, Liz, ist alles in Ordnung? Ich meine, geht’s Ihnen gut?« Sie sah ihn an. Er war jemand, dessen Gesicht sie sich nie merken konnte, so sehr sie sich auch anstrengte. Manchmal erinnerte sie sich an das Braun seiner Haare und Augen wie das von welken Blättern, dann wieder an die seltsame Asymmetrie von Nase und Mund, aber das genaue Zusammenspiel seiner Züge entglitt ihr. Selbst jetzt, da er direkt vor ihr stand, wirkte er kaum greifbar. Wie immer schien ihre berufliche Beziehung von einer subtilen Ironie gefärbt zu sein, als hätten sie sich zu einer anderen Zeit in einer anderen Situation bereits kennen gelernt. Aber das hatten sie nicht, und an Privatem wusste Liz sehr wenig von ihm. Seine Frau hatte angeblich irgendeine chronische Krankheit, und er hatte ein paar Söhne in der Schule. Sie wohnten irgendwo an der Themse – vielleicht Shepperton oder Sunbury? Einer von diesen verschlafenen Orten im Westen. Mehr wusste sie nicht. Seine Vorlieben, Interessen oder sein Auto kannte sie nicht. »Sehe ich aus, als ob’s mir nicht gut geht?« »Sie sehen fantastisch aus, aber ich weiß, dass diese MarzipanSache nicht leicht war. Er ist sehr jung, nicht wahr?« »Ja, das stimmt.« Wetherby nickte kaum sichtbar. »Er ist einer unserer wertvollsten Leute – oder verspricht es zu werden –, deshalb hab 46
ich den Jungen Ihnen anvertraut. Sie lassen sich von ihm informieren und geben es nur an mich weiter. Ich möchte nicht, dass er jetzt schon zu bekannt wird.« Liz nickte. »Ich glaube, er ist auf Fanes Radar noch nicht aufgetaucht.« »Dann soll es auch so bleiben. Wir müssen diesen jungen Mann langfristig aufbauen, und das heißt, ohne Druck aus irgendeiner Richtung. Konzentrieren Sie sich darauf, ihn sicher in Stellung zu bringen. Wenn er so gut ist, wie Sie sagen, werden die Erfolge sich einstellen.« »Sofern Sie es abwarten wollen.« »So lange wie nötig. Glaubt er immer noch, dass er nächstes Jahr sein Studium beginnt?« »Nein. Aber ich weiß nicht, ob er es seinen Eltern erzählt hat.« Wetherby nickte mitfühlend, stand auf und ging zum Fenster. Er schaute einen Moment auf den Fluss, dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Was würden Sie eigentlich machen, wenn Sie nicht hier arbeiten würden?« Liz sah ihn an. »Komisch, dass Sie mich das fragen«, antwortete sie schließlich. »Ich hab mich nämlich heute Morgen mehr oder weniger dasselbe gefragt.« »Warum gerade heute Morgen?« »Ich habe einen Brief bekommen.« Er wartete. Sein Schweigen hatte etwas Nachdenkliches, Ungezwungenes, als hätten sie alle Zeit der Welt. Liz begann von ihrem Leben zu erzählen, zunächst zögernd, weil sie nicht sicher war, wie viel er schon wusste. Ihre flüssige Schilderung überraschte sie selbst. Es war, als trage sie eine gut auswendig gelernte Tarngeschichte vor. Plausibel – sogar nachprüfbar –, aber nicht ganz wirklich. Ihr Vater war über dreißig Jahre lang Verwalter des Anwesens Bowerbridge im Tal des Nadder bei Salisbury gewesen. Er hatte 47
mit ihrer Mutter im Torhaus gewohnt, wo Liz aufgewachsen war. Vor fünf Jahren war Jack Carlyle jedoch gestorben, und kurz danach hatte der Besitzer Bowerbridge veräußert. Die Wälder wurden an einen örtlichen Farmer verkauft und das Hauptgebäude mit gestutzten Bäumen, Gewächshäusern und umfriedetem Garten an den Besitzer einer Kette von Gartencentern. Der großzügige ehemalige Besitzer hatte es zur Bedingung gemacht, dass die Witwe seines früheren Verwalters ihr Leben lang mietfrei im Torhaus wohnen konnte und das Erstkaufsrecht besaß. Da Liz in London arbeitete, bewohnte ihre Mutter das achteckige Haus alleine, und als der neue Besitzer Bowerbridge House und die Gärten in eine spezialisierte Gärtnerei umwandelte, nahm sie dort eine Teilzeitstelle an. Susan Carlyle kannte und liebte das Anwesen, weswegen die Arbeit wie für sie gemacht war. Nach kaum einem Jahr arbeitete sie Vollzeit in der Gärtnerei, und achtzehn Monate später leitete sie den Betrieb. Während Liz’ Wochenendbesuchen machten sie lange Spaziergänge auf den gepflasterten und ungepflasterten Wegen, und ihre Mutter erklärte ihre Hoffnungen und Pläne für die Gärtnerei. Wenn sie an den creme- und lilafarbenen Fliederbüschen vorbeigingen, wo der Duft schwer in der Luft hing, murmelte Susan die Namen wie eine Litanei – Masséna, Decaisne, Belle de Nancy, Persica, Congo … Es gab auch viele Hektar mit weißen und roten Kamelien, mit gelben, malvenfarbenen, purpurnen und rosa Rhododendren sowie Haine mit nach Wachs duftenden Magnolien. Im Hochsommer bot sich hinter jeder Ecke eine neue und atemberaubende Überraschung. Bei anderen Gelegenheiten, wenn der Regen gegen die Scheiben schlug und der feuchte Geruch grüner Pflanzen um sie herum aufstieg, schlenderten sie über die Eisengänge der hundert Jahre alten Gewächshäuser, und Susan erklärte die 48
verschiedenen Zuchtmethoden, während sich die Reihen von Ablegern und Setzlingen unendlich vor ihnen hinzogen. Sie hoffte ganz offensichtlich, dass Liz in, nicht allzu ferner Zukunft beschließen würde, London zu verlassen und die Verwaltung der Gärtnerei zu übernehmen. Mutter und Tochter würden glücklich im Torhaus zusammenleben, und irgendwann würde »der Richtige« vorbekommen, eine Art Lancelot oder so. Liz war gar nicht grundsätzlich gegen diese Idee. Der Traum, nach Hause zu kommen, in dem Zimmer aufzuwachen, in dem sie als Kind geschlafen hatte, und ihre Tage umgeben von dem Ziegelrot und Grün von Bowerbridge zu verbringen, war verführerisch. Und sie hatte auch nichts gegen Ritter auf weißen Rössern. Sie wusste aber, dass das Geldverdienen auf dem Land eine Knochenarbeit war und eine freiwillige Verengung des Horizonts erforderte. So, wie die Dinge lagen, waren ihre Interessen, ihre Freunde und ihre Meinungen alle großstädtisch, und sie war vermutlich nicht für das Landleben gemacht. Der ganze Regen, die ganzen herrischen Frauen mit ihren kleinen Snobismen und ihren Geländewagen, die Provinzzeitungen voller Scheinnachrichten und Reklame für Landmaschinen. Obwohl sie ihre Mutter liebte, wusste Liz, dass sie einfach nicht die Nerven dafür haben würde. Dann war an diesem Morgen der Brief gekommen, in dem stand, dass Susan Carlyle sich zum Kauf entschlossen hatte. Dass sie ihre Ersparnisse, das Gehalt von der Gärtnerei und die Lebensversicherung ihres verstorbenen Mannes in das Torhaus von Bowerbridge investierte. »Glauben Sie, Ihre Mutter will Sie dorthin zurückholen?«, fragte Wetherby ruhig. »In gewisser Weise schon«, sagte Liz. »Gleichzeitig ist es eine sehr großzügige Entscheidung. Ich meine, sie kann da den Rest ihres Lebens umsonst wohnen, deshalb denkt sie an mich. Das Problem ist nur«, sie stellte das Glas ab und zuckte verzweifelt 49
die Achseln, »sie hofft wohl auf … eine vergleichbare Geste. Und im Moment kann ich einfach nicht in solchen Begriffen denken.« »Der Ort, an dem man aufgewachsen ist, hat was Besonderes«, sagte Wetherby. »Man kann nie wieder ganz zurückkehren. Erst wenn man sich verändert hat und ihn mit anderen Augen sieht. Und manchmal nicht einmal dann.« Ein heftiges Pochen ertönte im Heizkörper hinter seinem Schreibtisch, und es roch leicht nach erhitztem Staub. Draußen hob sich die Londoner Skyline schwach vom Winterhimmel ab. »Tut mir Leid«, sagte Liz, »Ich wollte sie nicht mit meinen kleinen Sorgen belasten.« »Es ist keine Last.« Sein leicht melancholischer Blick umspielte sie. »Wir schätzen Sie hier sehr.« Sie saß einen Moment unbeweglich und war sich all der unausgesprochenen Dinge bewusst, dann stand sie rasch auf. »A – du bist befördert worden«, tippte Dave Armstrong, als sie ein paar Minuten später wieder an ihrem Schreibtisch saß. »B – du bist gefeuert. C – trotz massiven offiziellen Missfallens veröffentlichst du deine Memoiren. D – keins davon.« »Nein, ich laufe nach Nordkorea über«, sagte Liz. »Pjöngjang ist zu dieser Jahreszeit einfach traumhaft.« Sie drehte sich sinnend in ihrem Stuhl. »Hast du schon mal mit Wetherby über was anderes als die Arbeit gesprochen?« »Ich glaube nicht«, sagte Dave und tippte nachdenklich auf seiner Tastatur. »Er hat mich mal gefragt, wie’s gerade beim Cricket steht, aber das war wohl das Persönlichste. Wieso?« »Nur so. Wetherby ist irgendwie eine schattenhafte Figur, sogar hier, oder?« »Du meinst, er sollte mal in einer Prominenten-Kochshow auftreten? Als Zeichen der neuen Verantwortlichkeit?« »Du weißt genau, was ich meine.« 50
»Ich denke schon.« Er schaute auf den Bildschirm und runzelte die Stirn. »Sagt dir ›miladun nabi‹ irgendwas?« »Ja, miladun nabi ist der Geburtstag des Propheten. Ende Mai, glaube ich.« »Danke.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem blinkenden Licht an ihrem Telefon zu. Zu ihrer Überraschung hatte Bruno Mackay eine Nachricht hinterlassen und sie zum Lunch eingeladen. »Ich weiß, es ist schrecklich kurzfristig, und Sie haben bestimmt schon einen Termin«, sagte er mit gelangweilter Stimme, »aber es gibt da etwas, worüber ich gern mit Ihnen … klönen würde, wenn es geht.« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Typisch MI 6, diese Anspielung, der ganze Tag – und die Arbeit der Terrorismusbekämpfung – sei in Wirklichkeit bloß eine ewige Cocktailparty. Klönen? Sie klönte nie über irgendwas. Sie machte sich Sorgen, und zwar allein. Aber warum nicht? Zumindest wäre es eine Gelegenheit, Mackay aus der Nähe zu betrachten. Trotz des neuen Kooperationsabkommens würden MI 5 und MI 6 niemals problemlos zusammenarbeiten. Je besser sie ihr Pendant kannte, desto weniger leicht konnte er sie ausschalten. Sie wählte die Nummer, die er hinterlassen hatte, und er hob beim ersten Klingeln ab. »Liz!«, sagte er, bevor sie den Mund öffnen konnte. »Sagen Sie, dass Sie Zeit haben.« »Na gut.« »Wunderbar! Ich komme und hol Sie ab.« »Nicht nötig. Ich kann sehr gut …« Er schnitt ihr das Wort ab. »Können Sie um Viertel vor eins an Ihrem Ende der Lambeth Bridge sein?« 51
»Ja, wir sehen uns.« »Okay.« Sie legte auf. Es versprach, sehr interessant zu werden, aber sie musste auf der Hut sein. Sie drehte den Stuhl zum Bildschirm zurück und wandte die Gedanken Faraj Mansur zu. Fanes Unruhe rührte wahrscheinlich daher, dass er nicht wusste, ob der Käufer des gefälschten Führerscheins in Bremerhaven dieselbe Person war wie der Mann, den al-Safa in Peshawar aufgesucht hatte. Vermutlich ließ er einen seiner Leute gerade die Autowerkstatt in Pakistan überprüfen. Wenn es sich um verschiedene Personen handelte und noch immer ein Faraj Mansur an der Straße nach Kabul Autos reparierte, war ganz klar der MI 5 am Zug. Die Chancen standen gut, dass sie wirklich verschiedene Personen waren und der Mansur in Bremerhaven ein Wirtschaftsflüchtling war, der die Reise nach Europa – sicher eine höllische Odyssee in irgendeinem Container – teuer bezahlt hatte und jetzt über den Kanal hereinzukommen versuchte. Vielleicht hatte er einen Cousin in einer englischen Großstadt, der ihm einen Job als Fahrer verschaffen konnte. Gut möglich, dass die ganze Angelegenheit eher die Ausländerbehörde anging als den Geheimdienst. Sie schob sie zu den weniger drängenden Dingen in ihrem Kopf. Um halb eins spürte sie eine seltsame Vorfreude. Wie das Glück es wollte – oder auch nicht –, war sie schick angezogen. Da ihre Bürosachen entweder noch feucht von der Wäsche waren oder zerknittert auf dem Haufen für die Reinigung lagen, musste sie das Ronit-Zilkha-Kleid anziehen, das sie für eine Hochzeit gekauft hatte. Es hatte ein Vermögen gekostet, sogar heruntergesetzt, und war für die Arbeit in einer Behörde völlig unpassend. Schlimmer noch, die einzigen Schuhe, die dazu passten, waren aus gerippter Seide. Wetherby hatte nur die Brauen kaum merklich hochgezogen, aber nichts gesagt. 52
Zwanzig vor eins landete ein Anruf auf ihrem Apparat, der wahrscheinlich schon ein paar Mal kreuz und quer durchs Gebäude gegangen war. Eine Gruppe von Fotografen, die sich als Flugzeugfans bezeichneten, war von der Polizei in der Nähe der US-Luftwaffenbasis Lakenham festgenommen worden, und der Sicherheitsdienst der Airforce bestand darauf, dass sie vor ihrer Freilassung durchleuchtet wurden. Liz brauchte eine paar Minuten, um den Kelch an die Ermittlungsabteilung weiterzugeben, aber sie schaffte es und eilte aus dem Büro, wobei ihr Mantel das Zilkha-Kleid teilweise verdeckte. Die Lambeth Bridge war nicht der ideale Treffpunkt im Dezember, wie sie rasch feststellte. Nach einem schönen Vormittag hatte der Himmel sich zugezogen. Ein unruhiger Wind strich flussabwärts, zerzauste ihr das Haar und wirbelte Staub und Papier um ihre Seidenschuhe auf. Außerdem herrschte auf der Brücke absolutes Halteverbot. Nachdem sie fünf Minuten mit tränenden Augen gewartet hatte, hielt ein silberner BMW abrupt am Bordstein, und die Beifahrertür ging auf. Von einem heftigen Hupkonzert begleitet stieg sie ein, und Mackay, der eine Sonnenbrille trug, ordnete sich wieder in den Verkehr ein. Eine CD lief, und der Klang von Tabla, Sitar und anderen Instrumenten erfüllte den luxuriösen Innenraum des Wagens. »Fateh Nusrat Ali Khan«, sagte Mackay, als sie um den Millbank-Kreisverkehr fuhren. »Ein absoluter Superstar in Indien. Kennen Sie ihn?« Liz schüttelte den Kopf und versuchte, ihr windzerzaustes Haar irgendwie zu ordnen. Sie lächelte in sich hinein. Der Mann war zu schön, um wahr zu sein – ein typisches MI 6-Genie. Sie fuhren jetzt über die Brücke, und die Musik kam zu einem erregenden Höhepunkt. Als sie sich in den kriechenden Verkehr auf dem Albert Embankment einordneten, war die CD zu Ende. Mackay nahm die Sonnenbrille ab. 53
»Also, Liz, wie geht es Ihnen?« »Es geht mir … gut, danke«, antwortete sie. »Schön.« Sie schaute ihn von der Seite an. Er trug ein blassblaues Hemd, den obersten Knopf geöffnet und die Ärmel halb hochgerollt, sodass ein gutes Stück seines muskulösen, gebräunten Unterarms zu sehen war. Die Armbanduhr, ein Breitling Navitimer, schien wenigstens ein Pfund zu wiegen. Und er hatte eine verblasste Tätowierung. Ein Seepferdchen. »Wie komme ich zu der Ehre …?« Er zuckte die Schultern. »Wir arbeiten an ähnlichen Fällen. Ich dachte, wir essen eine Kleinigkeit, trinken ein, zwei Glas Wein und tauschen uns mal aus.« »Mittags trinke ich nichts«, erwiderte Liz und bedauerte im selben Moment ihren Ton. Sie klang kratzbürstig und defensiv, dabei gab es keinen Grund zu der Annahme, Mackay wolle mehr als bloß freundlich sein. »Sorry, dass es so kurzfristig ist«, sagte er und warf ihr einen Blick zu. »Macht nichts. Ich gehe sonst nicht zum Lunch, es sei denn, Sie rechnen ein Kantinen-Sandwich mit ein paar Überwachungsberichten am Schreibtisch dazu.« »Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie sehen sehr wohl aus, als würden Sie sonst zum Lunch gehen«, sagte Mackay und warf ihr einen weiteren Blick zu. »Das nehme ich als Kompliment. Ich bin so angezogen, weil ich heute Nachmittag einen Termin habe.« »Ach so. Haben Sie einen Agenten bei Harrods?« Sie lächelte und schaute weg. Das riesige und unduldsame MI 6-Gebäude erhob sich über ihnen, dann lenkte Mackay den Wagen mit der linken Hand in die verwinkelten Einbahnstraßen von Vauxhall. Zwei Minuten später bogen sie in eine schmale 54
Sackgasse an der South Lambeth Road ein. Mackay parkte den BMW auf dem Vorplatz einer kleinen Autowerkstatt und öffnete Liz die Tür. »Sie können doch nicht hier stehen bleiben«, wandte sie ein. »Ich hab eine kleine Abmachung mit denen«, sagte Mackay lässig und winkte einem Mann im ölverschmierten Overall zu. »Nur in bar, deshalb geht es nicht auf Spesen, aber sie passen auf den Wagen auf. Haben Sie Hunger?« »Ich glaube schon.« »Sehr schön.« Er rollte die Ärmel seines Hemdes herunter, nahm ein dunkelblaues Jackett vom Rücksitz und zog es an, dann band er sich einen indigofarbenen Schlips um. Hatte er das bloß für die Fahrt ausgezogen, damit ich ihn nicht für zu steif halte?, fragte sich Liz. Er schloss den Wagen mit einem raschen Piepen der Fernbedienung ab. »Können Sie in den Schuhen ein paar hundert Meter gehen?« »Mit ein bisschen Glück.« Sie wandten sich wieder zum Fluss, liefen durch eine Unterführung und kamen am Fuß einer neuen Luxuswohnanlage südlich der Vauxhall Bridge heraus. Mackay grüßte die Wachmänner und führte Liz durchs Atrium in ein hübsches und betriebsames Restaurant. Die Tischdecken waren blütenweiß, Silberbesteck und Gläser blitzten, und das dunkle Panorama der Themse war von Vorhängen über Panzerglas eingerahmt. Die meisten Tische waren besetzt. Als sie eintraten, brachen die gedämpften Gespräche für einen Augenblick ab. Liz gab den Mantel an der Garderobe ab und folgte Mackay zu einem Tisch mit Blick auf den Fluss. »Das ist alles sehr schön und unerwartet«, sagte sie aufrichtig. »Danke für die Einladung.« »Danke, dass Sie Zeit hatten.« 55
»Ich nehme an, ein paar von den Leuten gehören zu Ihrem Verein?« »Ein oder zwei, und als Sie gerade hereinkamen, haben Sie meinen Status um ein Vielfaches gesteigert. Sie werden merken, dass man uns diskret beobachtet.« Sie lächelte. »Es entgeht mir nicht. Sie sollten Ihre Kollegen zu einem unserer Überwachungskurse schicken.« Sie studierten die Karte. Mackay beugte sich vor und behauptete, er könne vorhersagen, was Liz bestellen würde. Er gab ihr einen Kugelschreiber und bat sie, ihre Wahl anzukreuzen. Liz hielt die Karte unter den Tisch, damit er sie nicht sah, und kreuzte den Salat mit geräucherter Entenbrust an, schrieb aber »als Hauptgericht« daneben. »Okay«, fuhr Mackay fort. »Jetzt falten Sie die Karte zusammen und stecken sie in die Tasche.« Sie tat es. Ganz sicher hatte er nicht gesehen, was sie schrieb. Als die Kellnerin kam, bestellte Mackay ein Rehsteak und ein Glas Barolo. »Für meine Kollegin bitte den Entenbrustsalat, aber als Hauptgericht«, setzte er mit einem feinen Lächeln hinzu. »Sehr clever«, sagte Liz stirnrunzelnd. »Wie haben Sie das gemacht?« »Geheim. Suchen Sie sich einen Wein aus.« Sie hätte gern welchen getrunken, hatte aber das Gefühl, sie müsse bei ihrer früheren Äußerung bleiben. »Nein, danke.« »Ein Glas. Zur Gesellschaft.« »Okay, aber nur eins. Sagen Sie mir jetzt, wie Sie …« »Streng geheim.«
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Liz drehte sich um. Niemand hatte sehen können, was sie schrieb. »Scherzkeks. Raus damit.« »Wie ich schon sagte …« »Nun los«, sagte sie ungeduldig. »Also schön. Wir haben Kontaktlinsen entwickelt, mit denen man durch Papier sehen kann. Ich trage gerade welche.« Sie musterte ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen. Trotz ihres Willens, objektiv zu bleiben und den Lunch als eine Art Aufklärungsmission zu betrachten, wurde sie allmählich ärgerlich. »Wissen Sie was«, fuhr er leise fort, »sie funktionieren auch bei Stoff.« Bevor Liz antworten konnte, fiel ein Schatten auf das weiße Tischtuch, und als sie aufblickte, stand Geoffrey Fane vor ihr. »Elizabeth. Ich freue mich, Sie auf unserer Seite des Flusses zu sehen. Hoffentlich kümmert Bruno sich auch ordentlich um Sie?« »O ja«, sagte sie. Fanes Bemühungen um Freundlichkeit ließen sie irgendwie frösteln. Er machte eine leichte Verbeugung, »Grüßen Sie bitte Charles Wetherby von mir. Wie Sie wissen oder wissen sollten, schätzen wir Ihre Abteilung sehr.« »Danke. Ich werde es ausrichten«, sagte Liz. In diesem Moment kam das Essen. Als Fane wegging, sah Liz zu Mackay und bemerkte gerade noch einen Blick des Einverständnisses – oder den Schatten eines solchen Blicks – zwischen den beiden Männern. Wieso? Sicher nicht bloß, weil einer von ihnen eine Frau zum Essen einlud. War das Ganze geplant? Fane war nicht sehr überrascht gewesen, sie zu sehen. »Wie ist es eigentlich, wieder hier zu sein?«, fragte sie. 57
Mackay fuhr sich mit der Hand durch das sonnengebleichte Haar. »Es ist gut. Islamabad war faszinierend, aber anstrengend. Ich war nicht als akkreditierter Diplomat da, deshalb konnte ich mich auf die Agentenführung konzentrieren, aber es war auch viel mehr Stress.« »Haben Sie außerhalb der Botschaft gewohnt?« »Ja, in einem Vorort. Offiziell habe ich in einer Bank gearbeitet, also bin ich jeden Tag im Anzug aufgekreuzt und habe abends Einladungen angenommen. Danach habe ich meistens die ganze Nacht Informationen von Agenten bekommen oder Berichte nach London chiffriert und gemailt. Alles in allem war es faszinierend, direkt an der Front zu sein, aber auch ganz schön anstrengend.« »Was hat Sie eigentlich an dem Job gereizt?« Ein Lächeln spielte um seinen Mund. »Wahrscheinlich dasselbe wie Sie. Die Chance, die Täuschung zu pflegen, die für mich so natürlich ist.« »Wirklich? War sie immer so natürlich?« »Man hat mir erzählt, ich hätte schon als kleines Kind gelogen, und ich bin nie ohne Spickzettel zu Klassenarbeiten gegangen. Ich hab vorher die ganze Nacht hindurch alles Wichtige auf Luftpostpapier geschrieben und es dann in einen leeren Kugelschreiber geschoben.« »Sind Sie so zum MI 6 gekommen?« »Nein, leider nicht. Ich glaube, die haben auf den ersten Blick gesehen, was für ein verlogener Bursche ich bin, und mich engagiert.« »Welchen Grund haben Sie für Ihre Bewerbung angegeben?« »Patriotismus. Schien damals das Richtige zu sein.« »Ist das auch der wahre Grund?« »Na ja, Sie kennen doch den Ausspruch, ›Patriotismus ist die letzte Ausflucht eines Halunken‹. In Wirklichkeit waren es 58
natürlich die Frauen. All die glamourösen Sekretärinnen im Außenministerium. Ich hatte immer schon einen MissMoneypenny-Komplex.« »Ich sehe hier aber nicht viele Miss Moneypennys.« Seine grauen Augen blickten amüsiert umher. »Dann hab ich mich wohl geirrt. Trotzdem, die Hoffnung stirbt zuletzt. Wie war’s bei Ihnen?« »Ich hatte nie einen Agentenkomplex. Ich war bei der ersten Staffel, die sich auf die ›Warten Sie auf Godot?‹-Anzeige beworben hat.« »Wie Ihr schwatzhafter Exkollege Mr Shayler.« »Genau.« »Glauben Sie, dass Sie bis zum Schluss dabei bleiben? Bis fünfundfünfzig oder sechzig oder wann man bei Ihnen aufhört? Oder gehen Sie weg zu Lynx oder Kroll oder einer dieser privaten Sicherheits-Beratungsfirmen? Oder werden Sie gar Kinder mit einem Banker haben?« »Sind das die Alternativen? Nicht gerade verlockend.« Die Kellnerin kam, und bevor Liz protestieren konnte, hatte Mackay auf ihre Gläser gedeutet. Liz benutzte die kurze Unterbrechung, um die Situation zu analysieren. Bruno Mackay war ein furchtbarer Charmeur, aber ohne Zweifel auch ein unterhaltsamer Gesprächspartner. Der Tag war viel besser, als wenn er sie nicht angerufen hätte. »Ich glaube, es wäre nicht leicht für mich, den Geheimdienst zu verlassen«, sagte sie vorsichtig. »Er ist seit zehn Jahren meine Welt.« Er legte seine Hand auf ihre. »Wissen Sie, was ich glaube? Wir sind alle aus unserer Vergangenheit vertrieben.« Liz sah auf seine Finger und die große Breitling-Uhr an seinem Handgelenk, und nach einem Moment nahm er die Hand weg und gab der Kellnerin ein Zeichen. Die Geste war ruhig, 59
wie alles an ihm, und hinterließ kein Gefühl von Verlegenheit oder Zweifel. Bedeuteten seine Worte eigentlich etwas? Sie klangen, als hätte er sie schon oft ausgesprochen. Zu wie vielen Frauen hatte er schon genau dasselbe in genau demselben Ton gesagt? »Was ist mit Ihnen?«, fragte sie. »Von wo sind Sie vertrieben?« »Von keinem sehr ausgefallenen Ort«, antwortete er. »Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich noch ziemlich klein war, und ich wuchs abwechselnd bei meinem Vater im Tal des Tests und meiner Mutter in Südfrankreich auf.« »Leben sie beide noch?« »Ja, leider. Sie sind verdammt zäh.« »Sind Sie gleich nach dem Studium zum MI 6 gegangen?« »Nein, ich habe in Cambridge Arabisch studiert und anschließend als Nahostexperte bei einer Bank in London angefangen. Gleichzeitig habe ich ein bisschen Soldat bei der HAC gespielt.« »Bei wem?« »Der Honourable Artillery Company. Macht Spaß, auf der Hochebene bei Salisbury Granaten knallen zu lassen. Die Bank wurde mir aber schnell langweilig, deshalb habe ich die Eingangsprüfung beim Außenministerium gemacht. Möchten Sie einen Nachtisch?« »Nein, danke, und ich wollte eigentlich auch kein zweites Glas Wein. Ich muss allmählich zurück.« »Unsere jeweiligen Chefs haben bestimmt nichts gegen ein wenig … internen Austausch«, protestierte Mackay. »Trinken Sie wenigstens einen Kaffee.« Sie stimmte zu, und er winkte die Kellnerin herbei.
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»Wie haben Sie denn nun wirklich gesehen, was ich auf die Speisekarte geschrieben habe?«, fragte sie, als der Kaffee vor ihnen stand. Er lachte. »Hab ich gar nicht, aber jede Frau, mit der ich hier gegessen habe, hat bisher dasselbe bestellt.« Liz starrte ihn an. »Sind wir so vorhersehbar?« »Eigentlich war ich erst einmal hier, und zwar mit einem halben Dutzend Leuten, darunter drei Frauen. Alle drei haben dasselbe bestellt wie Sie. Ende der Geschichte.« Sie schaute ihm direkt in die Augen und atmete tief durch. »Wie alt waren Sie noch mal, als Sie mit dem Lügen anfingen?« »Ich habe keine Chance, was?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte Liz. Sie trank den Fingerhut voll Espresso in einem Zug aus. »Aber mit wem Sie zu Mittag essen, geht mich gar nichts an.« Er sah sie mit einem wissenden Halblächeln an. »Könnte es aber.« »Ich muss los.« »Nehmen Sie noch einen Brandy oder einen Calvados oder so was. Es ist kalt draußen.« »Nein, vielen Dank, ich muss wirklich los.« Er hob kapitulierend die Hände und verlangte die Rechnung. Draußen war der Himmel bleigrau. Der Wind riss an ihrem Haar und ihren Kleidern. »Es war sehr nett«, sagte er und nahm ihre Hände. »Ja«, stimmte sie zu und zog die Hände zurück. »Wir sehen uns am Montag.« Er nickte, noch immer mit halbem Lächeln. Zu Liz’ Erleichterung stieg gerade jemand aus einem Taxi.
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10 Der Strand von Dersthorpe war immer ein melancholischer Ort, und im Dezember kam er Diane Munday wie das Ende der Welt vor. Trotz der Daunen-Skijacke fröstelte sie, als sie aus dem Cherokee mit Allradantrieb stieg. Diane wohnte nicht in Dersthorpe. Sie war eine hübsche Frau Anfang fünfzig mit teuren Strähnchen im blonden Haar und einer Sonnenbräune aus Barbados und wohnte mit ihrem Ehemann Ralph in einem klassizistischen Gutshaus am Rand von Marsh Creake, fünf Kilometer weiter östlich. Außerhalb des Ortes gab es einen guten Golfplatz, einen kleinen Segelclub und den Trafalgar Pub. Wenn man an der Küste weiterfuhr, kam man nach Brancaster und zum eigentlichen Jachtclub, und vier Kilometer weiter lag Burnham Market, das so schick und teuer war, dass es Chelsea-on-Sea hätte heißen können. Dersthorpe war damit nicht zu vergleichen. Es besaß einen Country-and-Western-Pub, einen Busparkplatz, einen kleinen Londis-Supermarkt und eine Siedlung mit Sozialwohnungen, über die stets der Wind pfiff. Im Sommer gab es einen Imbisswagen ohne Genehmigung an der Promenade. Westlich von Dersthorpe befand sich der verlassene Küstenstreifen, wo über ein bis zwei Kilometer verteilt fünf Bungalows aus den fünfziger Jahren standen. Irgendwann in jüngerer Zeit waren sie rosa, gelb und orange gestrichen worden, um wahrscheinlich der gnadenlosen Monotonie der Natur Widerstand zu leisten. Die salzige Luft hatte die Farbe jedoch schon lange wieder ausgelaugt, und sie blätterte von den Brettern, sodass sich erneut blasse Uniformität einstellte. Keiner der Bungalows hatte eine Telefonleitung oder eine Fernsehantenne.
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Vor einem Jahr hatte Diane Munday die Bungalows als Geldanlage gekauft. Sie hatten ihr nicht gefallen – offen gesagt fand sie sie scheußlich –, aber ein Blick auf die Rendite des vorigen Besitzers hatte sie überzeugt, dass sie einen ordentlichen Gewinn bei minimalem Aufwand versprachen. Im Spätherbst und Winter standen sie meistens leer, aber selbst dann mietete sich ab und zu ein Vogelbeobachter oder Schriftsteller ein. Einer überraschenden Zahl von Menschen gefiel die fast völlige Leere, so seltsam das Diane auch vorkam. Das ewige Plätschern der Wellen auf den Steinen, der Wind in den Salzwiesen und das leere Zusammentreffen von Meer und Himmel waren offenbar mehr als genug. Hoffentlich würde es auch der jungen Frau genügen, die gerade mit dem Rücken zum westlichsten Bungalow stand. Sie sagte, sie sei Studentin und wolle ihre Abschlussarbeit fertig schreiben. In ihrem Parka, den Jeans und Wanderstiefeln blickte sie erwartungsvoll zum Horizont, während der Wind ihr das Haar ins Gesicht blies und das Meer an den grauen und weißen Kieseln vor ihren Füßen zerrte. Wie die Geliebte des französischen Leutnants, dachte Diane, die seit langem Jeremy Irons mochte, aber jünger und nicht so hübsch. Wie alt war sie wohl? Vielleicht zwei- oder dreiundzwanzig? Wahrscheinlich konnte sie ganz vorzeigbar aussehen, wenn sie sich die Mühe machte. Das Haar brauchte Pflege – der stumpfe, hellbraune Bubikopf schrie förmlich nach einer guten Tönung –, doch die Fülle war da. Nicht dass Mädchen in dem Alter sich was sagen ließen. Diane hatte es bei Miranda versucht und eine Abfuhr geerntet. »Ein schönes Fleckchen, nicht?«, sagte sie und setzte ein besitzerstolzes Lächeln auf. »So friedlich.« Die junge Frau runzelte abwesend die Stirn. »Was soll es pro Woche kosten, mit Kaution?«
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Diane setzte den Preis so hoch an, wie sie sich traute. Nach ihrem Parka und dem schmutzigen Astra zu schließen, wirkte die Frau nicht besonders wohlhabend, aber auch nicht so, als wolle sie noch lange weitersuchen. Bestimmt übernahmen die Eltern die Kosten. »Kann ich bar bezahlen?« »Aber sicher«, antwortet Diane lächelnd. »Dann ist ja alles klar. Ich bin Diane Munday, und Sie sind …« »Lucy. Lucy Wharmby.« Sie schüttelten sich die Hand, und Diane bemerkte den überraschend festen Händedruck der anderen. Dann fuhr sie zurück nach Osten, Richtung Marsh Creake. Die Frau, die sich Lucy Wharmby nannte, sah ihr gedankenverloren nach. Als der Cherokee endlich in Dersthorpe verschwunden war, holte sie ein leichtes Nikon-Fernglas unter dem Mantel hervor und beobachtete die Küstenstraße. An einem klaren Tag würde ein Wagen aus Osten oder Westen wohl auf anderthalb Kilometer zu sehen sein. Sie öffnete die Fahrertür des Astras, nahm die Tasche und den Rucksack heraus und trug sie durch die Vordertür des Bungalows ins weiß gestrichene Wohnzimmer. Auf den Tisch vor dem Fenster, das aufs Meer hinausging, legte sie ihr Portemonnaie mit Klettverschluss, das Fernglas, eine Quarztaucheruhr, ein Taschenmesser, einen kleinen NATO-Survivalkompass und ihr Nokia-Handy. Sie schaltete das Telefon ein, das sie letzte Nacht in ihrem Motelzimmer an der All aufgeladen hatte. Es war kurz vor drei. Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen auf einen niedrigen Diwan an der Wand, schloss die Augen halb vor dem trüben Licht und begann ihren Geist von allem zu entleeren, was für ihre Aufgabe unwichtig war.
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11 Der Anruf erreichte Liz kurz nach halb vier an ihrem Schreibtisch. Er war über die Zentrale gekommen, weil der Anrufer die öffentlich bekannte Nummer des MI 5 wählte und einen mehrere Jahre alten Decknamen von Liz nannte, den sie benutzt hatte, als sie in der Abteilung für organisiertes Verbrechen gearbeitet hatte. Der Mann rief aus einer Telefonzelle in Essex an und war gebeten worden, zu warten, während man Liz fragte, ob sie ihn sprechen wollte. Er hatte sich Zander genannt. Sobald man Liz den Codenamen nannte, ließ sie ihn durchstellen. Sie hatte schon lange nichts mehr von Frankie Ferris gehört und wusste nicht, ob sie je wieder von ihm hören wollte. Wenn er sie aber nach dreijährigem Schweigen anrief, und zwar entgegen aller Agentenregeln über die Zentrale, hatte er vielleicht etwas Wichtiges zu erzählen. Sie war Ferris zum ersten Mal begegnet, als sie als Agentenführerin an den Ermittlungen gegen den Chef eines Gangstersyndikats in Essex namens Melvin Eastman beteiligt gewesen war. Neben anderen Verbrechen stand er im Verdacht, große Mengen Heroin von Amsterdam nach Harwich zu transportieren. Die Überwachungsabteilung hatte Ferris als einen seiner Fahrer identifiziert, und nach sanftem Druck durch den Special Branch in Essex hatte er sich bereit erklärt, Informationen über das Syndikat zu liefern. Essex hatte ihn an den MI 5 weitergereicht. Schon seit Beginn ihrer Arbeit im Geheimdienst verstand Liz die Dynamik der Agentenführung instinktiv. Am einen Ende der Skala gab es Agenten wie Marzipan, die aus Patriotismus oder moralischer Überzeugung Informationen über ihre Kollegen lieferten. Am anderen Ende waren die, die allein aus Eigennutz 65
oder für Geld arbeiteten. Zander stand in der Mitte. Bei ihm ging es vor allem um emotionale Dinge. Er wollte Liz’ Anerkennung. Er wollte, dass sie ihn schätzte, ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmete, sich hinsetzte und seiner Aufzählung von Ungerechtigkeiten lauschte. Da sie dies erkannte, hatte Liz sich die Zeit genommen, und allmählich waren die Informationen wie Blumensträuße für sie eingetroffen. Manche davon waren von zweifelhaftem Wert; wie so viele Agenten, die das Lob ihrer Verbindungsleute suchten, neigte Ferris dazu, Liz mit irrelevanten Nichtigkeiten zu überschütten. Allerdings gelang es ihm, die Festnetz- und Handynummern von einigen Partnern Eastmans weiterzugeben sowie die Kennzeichen der Wagen, die zu der Fabrikhalle in Romford kamen, wo Eastman damals seine Zentrale hatte. Das war nützlich und trug zum Wissen bei, das der MI 5 über Eastman besaß, aber Ferris stieß nie in Eastmans inneren Kreis vor und hatte wenig oder gar keinen Zugang zu wichtigen Informationen. Er verbrachte seine Zeit als eine Art gut bezahlter Taxifahrer, fuhr weibliche Croupiers aus Eastmans Casinos zum Lunch mit seinen Geschäftspartnern und lieferte geschmuggelte Zigaretten an Pubs und Kartons mit raubkopierten CDs und DVDs an Marktstände. Schließlich hatte es sich als unmöglich erwiesen, stichhaltige Beweise gegen den höchst wachsamen Eastman zu sammeln, und dadurch war er immer mächtiger geworden. Wahrscheinlich handelt er inzwischen mit schlimmeren und profitableren Dingen als schlechten CDs, dachte Liz. Auf jeden Fall lieferte er regelmäßig Ecstasy an die vielen Clubbesitzer in seinem Revier, was hohe Gewinne einbrachte, und der Special Branch war sicher, dass mehrere seiner legalen Aktivitäten nur Tarnung für andere Geschäfte waren. Essex war aktiv geblieben, und als Liz in Wetherbys Abteilung für Terrorismusbekämpfung wechselte, hatte ihn ein knallharter Nordire namens Bob Morrison vom Special Branch 66
übernommen. Eigentlich hätte Ferris nicht Liz, sondern ihn anrufen sollen. »Was gibt’s, Frankie?«, sagte Liz. »Große Lieferung am Freitag, an der Landspitze. Zwanzig plus ein Extra aus Deutschland.« Ferris’ Stimme war ruhig, aber er wirkte merklich nervös. »Das musst du Bob Morrison erzählen, Frankie. Ich weiß nicht, was es bedeutet, und kann da nicht aktiv werden.« »Verdammt, ich sag Morrison überhaupt nichts – das ist für Sie.« »Was soll das bedeuten, Frankie? Ich bin aus dem Spiel raus, und du solltest mich nicht mehr anrufen.« »Freitag, an der Landspitze«, wiederholte er drängend. »Zwanzig plus ein Extra. Aus Deutschland. Haben Sie das?« »Ich hab’s aufgeschrieben. Wer ist die Quelle?« »Eastman. Hat einen Anruf gekriegt, als ich vor ein paar Tagen da war. Er war total wütend, ist richtig explodiert.« »Arbeitest du noch für ihn?« »Hier und da.« »Noch was?« »Nein.« »Bist du in einer Telefonzelle?« »Ja.« »Dann ruf noch jemanden an, bevor du gehst. Lass diese Nummer nicht als letzte stehen.« Sie legten auf, und Liz starrte mehrere Minuten auf das, was sie notiert hatte. Dann kontaktierte sie den Special Branch in Essex und fragte nach Bob Morrison. Nach ein paar Minuten meldete er sich von einer Telefonzelle an der Autobahn. »Hat Ferris gesagt, warum er Sie angerufen hat?«, fragte er mit undeutlicher Stimme. 67
»Nein, aber er wollte auf keinen Fall mit Ihnen reden.« Es gab eine kurze Stille. Die Leitung war schlecht, und Liz hörte ein Hupen zwischen dem Rauschen. »Frankie Ferris ist als Quelle eine Niete«, sagte Morrison. »Neunzig Prozent von dem Geld, das Eastman ihm zahlt, verspielt er, und ich würde mich nicht wundern, wenn er auch Drogen nimmt. Wahrscheinlich hat er sich das Ganze ausgedacht.« »Schon möglich«, erwiderte Liz nachdenklich. Es rauschte lange. »… werden nichts Nützliches aus ihm rauskriegen, solange Eastman ihm Geld gibt.« »Und wenn er damit aufgehört hat?«, fragte Liz. »Dann würde ich keine zehn Pence auf seinen Kopf wetten.« »Glauben Sie, Eastman würde ihn beseitigen?« »Er würde wohl drüber nachdenken. Frankie weiß genug, um ihn abzusägen. Aber ich glaube, so weit kommt es nicht. Melvin Eastman ist ein Geschäftsmann. Es ist einfacher, ihn als Betriebsausgabe zu betrachten, ihm ein paar Scheine …« Noch mehr Hupen. »Sie sind …« »… nichts Nützliches von ihm. Im Grunde sind die beiden aufeinander angewiesen.« »Okay. Soll ich Ihnen rüberschicken, was Frankie mir erzählt hat?« »Ja, warum nicht.« Sie legten auf. Liz hatte korrekt gehandelt. Ob jemand die Informationen weiterverfolgte, war eine andere Frage. Erneut las sie die fragmentarischen Sätze. Eine Lieferung wovon? Drogen? Waffen? Menschen? Eine Lieferung aus Deutschland? Wo war der Ausgangspunkt? Wenn es eine Lieferung übers Meer war, wie das Wort »Landspitze« nahe 68
legte, sollte sie sich vielleicht die norddeutschen Häfen ansehen. Nur um ganz sicherzugehen – und es konnte Stunden dauern, bis Morrison wieder an seinem Schreibtisch war –, beschloss sie, einen Kontaktmann beim Zoll anzurufen. Was war von den deutschen Häfen aus die nächste englische Küste? Es musste in Norfolk oder Suffolk sein, was zu Eastmans Revier gehörte. Kein kleines Schiff mit einer illegalen Ladung aus dem Nordosten würde das Risiko eingehen, durch den Kanal zu fahren. Es würde die hundertfünfzig Kilometer unbewachter Küste zwischen Felixstowe und der Wash-Bucht ansteuern.
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12 Die Susanne Hanke war ein zweiundzwanzig Meter langer Krabbenkutter, und nach über dreißig Stunden auf See hasste Faraj Mansur jeden einzelnen Rostfleck auf ihr. Er war ein stolzer Mann, sah aber nicht wie einer aus, als er im voll gekotzten Laderaum mit seinen zwanzig Mitpassagieren kauerte. Die meisten waren Afghanen wie Faraj, doch es waren auch Pakistanis, Iraner, ein paar irakische Kurden und ein stumm leidender Somalier dabei. Alle trugen die gleichen blauen Mechanikeroveralls. In einem Lagerhaus bei den Docks von Bremerhaven hatten sie die verschwitzten Sachen ausgezogen, die sie auf der Reise aus ihren Ländern getragen hatten. Sie konnten duschen und sich rasieren und bekamen Jeans, Pullis und Jacken aus den verschiedenen Secondhandläden in der Stadt. Sie bekamen auch die Overalls, und als die einundzwanzig Männer um den brennenden Haufen ihrer alten Sachen herumsaßen, wirkten sie auf den ersten Blick wie eine Gruppe Gastarbeiter. Bevor der Kutter auslief, bekamen sie Kaffee, Brötchen und heißes Lammragout in Aluschalen, was sich in den achtzehn Monaten, seit es die »Karawane« gab, als akzeptabel für die meisten Kunden erwiesen hatte. Die Karawane bot nach den Worten ihrer Organisatoren »geheimen Transport der Klasse eins« für Wirtschaftsflüchtlinge aus Asien nach England und Nordeuropa. Die Fahrt war nicht luxuriös, aber man hatte versucht, einen humanen und funktionierenden Service zu bieten. Für zwanzigtausend Dollar wurden den Kunden eine sichere Reise, EU-Papiere (einschließlich Pässen) und bei der Ankunft vierundzwanzig Stunden in einem Wohnheim versprochen.
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Das stand in deutlichem Kontrast zu früheren Menschenschmuggelaktionen. In der Vergangenheit hatten Migranten bei Reisebeginn horrende Summen in bar gezahlt und waren schmutzig, traumatisiert und halb verhungert auf Autobahnrastplätzen an der südenglischen Küste ohne Geld oder Papiere abgesetzt worden. Viele waren unterwegs gestorben, meist waren sie in abgedichteten Containern oder Lastwagen erstickt. Die Organisatoren der Karawane wussten jedoch, dass ihnen im Zeitalter weltweiter elektronischer Kommunikation langfristig am ehesten der Ruf der Effizienz nützte. Deshalb die Overalls, deren Zweck klar wurde, sobald die Susanne Hanke aus Bremerhaven auslief. Der Kutter hatte nur anderthalb Meter Tiefgang und hielt zwar jeden Wellengang in der Nordsee aus, rollte und schwankte aber wie verrückt. Seit dem Auslaufen war das Wetter sehr schlecht, pausenlos bliesen die Dezemberböen. Außerdem erfüllte der Caterpillar-Motor mit 375 PS den umgebauten Laderaum mit Dieselgestank. Nichts davon machte dem bärtigen deutschen Kapitän der Susanne Hanke oder seiner zweiköpfigen Besatzung etwas aus, als sie im geheizten Ruderhäuschen stetig Kurs nach Westen hielten. Auf die Passagiere war die Wirkung dagegen verheerend. Fröhlich ausgetauschte Zigaretten und optimistisch angestimmte indische Filmsongs wurden rasch von Seekrankheit und Elend abgelöst. Die Männer versuchten, auf den Bänken sitzen zu bleiben, aber die Bewegung des Schiffs warf sie entweder nach hinten gegen die Schiffswand oder nach vorn in das eiskalte Bilgenwasser zu ihren Füßen. Bald waren die Overalls fleckig von Erbrochenem und Galle, manchmal auch von Blut aus angeschlagenen Nasen. Über ihren Köpfen schwangen die Koffer und Seesäcke im Gepäcknetz wild hin und her. Während der Fahrt war das Wetter immer schlechter geworden. Die für die Männer unter Deck unsichtbaren Wellen schlugen hoch. Während sich der Rumpf hob und senkte, 71
klammerten sich die Männer aneinander, wurden aber Stunde um Stunde im metallbeschlagenen Laderaum hin und her geworfen. Ihre Körper waren mit Prellungen übersät, ihre Füße eiskalt, die Kehlen wund vom Kotzen, und sie hatten jede Spur von Würde aufgegeben. Faraj Mansur konzentrierte sich aufs Überleben. Die Kälte hielt er aus, er kam aus den Bergen. Mit Ausnahme des Somaliers, der links von ihm schrecklich stöhnte, hielten sie alle die Kälte aus. Doch die Übelkeit war etwas anderes, und er machte sich Sorgen, sie schwäche ihn so sehr, dass er sich nicht mehr verteidigen konnte. Die Migranten waren auf die Härte der sechshundert Kilometer weiten Überfahrt nicht vorbereitet gewesen. Die Strecke durch den Iran in einem glühend heißen Container war unangenehm gewesen, aber ab der Türkei – durch Mazedonien, Bosnien, Serbien und Ungarn – waren sie relativ problemlos vorwärts gekommen. Es hatte ängstliche Momente gegeben, aber die Fahrer der Karawane wussten, wo die Grenze durchlässig war und wo sich die Grenzposten am leichtesten schmieren ließen. Die meisten, wenn auch nicht alle Grenzübertritte hatten bei Nacht stattgefunden. In Esztergom in Nordwestungarn hatten sie einen leeren Fußballplatz und einen alten Ball gefunden, sodass sie etwas spielen und eine Zigarette rauchen konnten, bevor sie wieder in den Lastwagen kletterten, um die March in die Slowakei zu überqueren. Der letzte Grenzübertritt nach Deutschland hatte in Liberec stattgefunden, achtzig Kilometer nördlich von Prag, und einen Tag später stiegen sie in Bremerhaven aus. Sie schliefen zwischen den unbenutzten Dreh- und Werkbänken im Lagerhaus. Der Fotograf war gekommen, und zwölf Stunden später hatte man ihnen ihre Ausweise ausgehändigt, Faraj außerdem einen englischen Führerschein. Mit seinen übrigen Papieren steckte er in der Innentasche der Windjacke, die er unter seinem Overall trug. 72
Faraj stemmte sich gegen die Bank und machte die Bewegungen der Susanne Hanke mit. Bildete er sich das nur ein, oder wurden diese höllischen Wellenberge allmählich niedriger? Er drückte auf den blauen Lichtknopf an seiner Armbanduhr. Es war kurz nach zwei Uhr morgens. Im schwachen Licht des Zifferblatts sah er die bleichen, verängstigten Gesichter seiner Mitreisenden, die sich wie Gespenster aneinander kauerten. Um sie zu ermutigen, schlug er ein gemeinsames Gebet vor. Um halb drei sah Ray Gunter schließlich das Licht der Susanne Hanke. Es war zu schwach für das bloße Auge, aber im Restlichtverstärker war es ein deutlicher grüner Fleck am Horizont. »Na also«, murmelte er und warf den Zigarettenstummel auf den Kiesstrand. Seine Hände waren eiskalt, doch wie immer glich die Spannung die Kälte aus. »Geht’s los?«, fragte Kieran Mitchell. »Ja.« Sie schoben gemeinsam die Boote ins Wasser und spürten die Gischt im Gesicht und das eiskalte Wasser an den Knöcheln. Da er der erfahrenere Seemann war, fuhr Gunter das vordere Boot. Er brach eine fluoreszierende blaue Rettungsfackel auf und steckte sie in den Halter am Heck. Die Boote durften den Kontakt nicht verlieren. Dicht nebeneinander ruderten die beiden Männer durch die Brandung hinaus und stemmten sich dem starken Ostwind entgegen. Sie trugen schweres Ölzeug und Schwimmwesten. Fünfzig Meter vor der Küste zogen sie die Ruder ein und starteten die Außenbordmotoren. Als sie ansprangen, trug der Wind das Geräusch fort. Mitchell folgte Gunters Boot, den Blick fest auf die Fackel gerichtet. Nach zehn Minuten hatten sie die Susanne Hanke erreicht. Die Passagiere hatten die schmutzigen Overalls ausgezogen (die für 73
die nächste Gruppe gewaschen werden würden), kamen mit ihrem wenigen Gepäck aus dem Laderaum und stiegen mit Hilfe der Besatzung die Leiter zu den Booten hinunter. Bei der fast völligen Dunkelheit und dem hohen Seegang war das eine langsame und gefährliche Prozedur, doch nach einer halben Stunde saßen alle einundzwanzig Männer mit dem Gepäck zu ihren Füßen in den Booten. Alle bis auf einen. Eine höfliche, aber entschlossene Gestalt bestand darauf, den schweren Rucksack auf dem Rücken zu tragen. Dein Pech, Kumpel, wenn du damit über Bord gehst, dachte Mitchell. Kieran Mitchell sprach nur ein Wort Urdu – »khamosch« für »Ruhe« –, aber er brauchte nicht einmal das. Wie üblich war die Fracht eingeschüchtert und respektvoll. Als selbst erklärter Patriot hegte Mitchell keine Sympathie für illegale Einwanderer und hätte die ganze Bande am liebsten in ihre Heimat zurückgeschickt. Als Geschäftsmann – und zwar als Geschäftsmann, der von Melvin Eastman bezahlt wurde – waren ihm jedoch die Hände gebunden. Die Rückfahrt zur Küste war der Teil, den Mitchell fürchtete. Die alten Fischerboote aus Holz trugen gerade zwölf Personen und lagen furchterregend tief im Wasser. Gunters Passagiere blieben wegen seiner Steuerkunst mehr oder weniger trocken, aber die von Mitchell hatten weniger Glück. Fast ohne Unterlass brachen Wellen ins Boot und durchnässten sie. Schließlich half ihm die zitternde und zerzauste Gruppe, das Boot an Land zu ziehen, und fiel dann – wie jede Ladung – geschlossen auf die Knie, um Gott für die sichere Ankunft zu danken. Alle außer einem, dem Mann mit dem schwarzen Rucksack, der nur dastand und sich umsah. Sobald die Boote an ihrem Platz waren, zogen Gunter und Mitchell Schwimmwesten und Ölzeug aus. Gunter schloss einen kleinen Holzschuppen am Rand des Strands auf und hängte die Sachen hinein, während Mitchell die Männer in einer Reihe aufstellte und vom Meer wegführte. 74
Nach dem Kiesstrand kam ein Grasweg, der zu einem offenen schmiedeeisernen Tor führte, das Mitchell hinter ihnen schloss. Sie wanderten bergauf, und die Silhouetten der Bäume hoben sich vor dem scheinbaren Morgenlicht ab. Dann folgten gestutzte Hecken und eine ebene Rasenfläche, bevor der Weg nach links abbog. Eine hohe Mauer mit einer Tür tauchte vor ihnen auf. Gunter schloss sie auf, und Mitchell zog sie hinter dem letzten Mann wieder zu. Nun waren sie in einer schmalen Seitenstraße zwischen der Mauer und Bäumen auf der anderen Seite. Etwa dreißig Meter weiter war undeutlich der Umriss eines Sattelschleppers nah bei den Bäumen zu erkennen. Mitchell öffnete das Vorhängeschloss an der Rückseite des Lasters und kletterte vor den Migranten hinein. Als alle an der Vorderseite des Containers waren, schob er hinter ihnen eine mit Seilen und Säcken behängte Leichtmetallbarriere vor, die als falsche Containerwand diente. Dadurch waren sie in einen ungefähr einen Meter tiefen Raum mit einer Lüftung an der Decke gepfercht. Das Arrangement war nicht narrensicher, aber für einen oberflächlichen Beobachter – zum Beispiel einen Polizisten, der mit einer Taschenlampe von hinten hineinschaute – war der Laster leer. Mitchell fuhr, und Gunter saß neben ihm. Die ersten fünf Minuten krochen sie ohne Licht eine unebene Nebenstraße entlang. Als sie die Hauptstraße sahen, machte Mitchell die Scheinwerfer an und beschleunigte. »Da draußen war Windstärke neun« sagte er. »Die haben sich bestimmt die Seele aus dem Leib gekotzt.« »Die sahen schon angeschlagen aus«, bestätigte Gunter und griff in die Tasche nach seinen Zigaretten und dem Feuerzeug. Meistens ging er an diesem Punkt nach Hause ins Bett, doch heute fuhr er bis King’s Lynn mit, wo seine Schwester Kayleigh in einer Sozialwohnung lebte. Er hätte lieber seinen eigenen Wagen genommen, aber diese bekloppte Munday-Kuh war ihm mit ihrem Geländewagen hinten reingefahren. Der Toyota stand 75
in Brancaster und bekam eine neue Stoßstange, einen neuen Auspuff und neue Rücklichter. Der alte Auspuff war ohnehin im Eimer gewesen, aber die Werkstatt hatte bereitwillig einen neuen eingebaut und der Versicherung auf die Rechnung gesetzt. Traf ja keine Armen. Zwanzig Minuten später erreichte der Laster den Parkplatz einer LKW-Raststätte an der A148 außerhalb von Fakenham. Hier sollte nach den Anweisungen der Extra aussteigen. Während die Hydraulik des Sattelschleppers zischend ausatmete, nahm Gunter eine schwere Stabtaschenlampe aus dem Fach neben dem Beifahrersitz und sprang aus dem Fahrerhaus. Er schloss die hintere Ladetür auf, kletterte hinein, knipste die Lampe an und öffnete die geheime Kabine einen Spalt breit. Der Mann mit dem Rucksack stand auf. Er war mittelgroß und zierlich, hatte störrisches schwarzes Haar und lächelte eifrig. Der schwere Rucksack, teuer wirkend, aber ohne Markennamen, hing ihm auf den schmalen Schultern. Ein echtes Opfer, dachte Gunter. Kein Wunder, dass diese Pakis ständig rumgeschubst wurden. Trotzdem hatte er zwanzig Riesen für die Reise aufgetrieben. Sicher die ganzen Ersparnisse seines Vaters und wahrscheinlich noch von einem halben Dutzend Tanten. Und das Ganze, damit der arme Hund sein Leben lang in irgendeiner Stadt wie Bradford in der Küche schuften oder Zeitungen verkaufen konnte. Unglaublich. Als er die falsche Wand wieder vorschob, musterte Gunter den jungen Asiaten – die abgetragenen Jeans, die billige Windjacke und das schmale, müde Gesicht. Nicht zum ersten Mal in seinem Leben dankte er Gott von Herzen, dass er als Weißer und in England geboren war. Er sah zu, wie der Mann hinunterkletterte, sich im Dunkeln umsah und den schweren Rucksack zurechtrückte. Was ist da 76
drin, dass er es so sorgfältig bewacht?, fragte sich Gunter. Ganz sicher was Wertvolles, vielleicht sogar Gold. Er wäre nicht der erste Illegale, der was von dem glänzenden Zeug mitbrachte. Gunter kletterte ebenfalls herunter und schloss den Laster ab. Aus dem offenen Fenster des Fahrerhauses zog der Rauch von Mitchells Zigarette. Mansur streckte die Hand aus. »Danke«, sagte er. »Kein Problem«, erwiderte Gunter schroff. In seiner schwieligen Pranke verschwand Mansurs Hand fast. Der Afghane nickte, noch immer mit einem angedeuteten Lächeln. Den Rucksack auf dem Rücken, ging er zu dem etwa dreißig Meter entfernten, weiß gestrichenen Toilettenhäuschen. Gunter fasste spontan einen Entschluss, und als sich die Tür des Häuschens geschlossen hatte, folgte er Mansur. Er machte die Lampe aus, drehte sie um und hielt sie am geriffelten Griff fest. In dem Häuschen sah er, dass bis auf eine besetzte Kabine alles leer war. Er bückte sich und erblickte das Unterteil von Mansurs Rucksack durch den Spalt unter der Tür. Es zitterte etwas, als würde der Inhalt umgepackt. Hab ich’s doch gewusst, dachte Gunter, der raffinierte Scheißer hat da was drin. Er schüttelte den Kopf über die Hinterlist der Asiaten im Allgemeinen und ging zum Pissoir, um zu warten. Als Mansur einige Minuten später mit dem Rucksack auf einer Schulter aus der Kabine trat, griff Gunter ihn mit der großen Taschenlampe wie mit einem metallbeschlagenen Schlagstock an. Die improvisierte Waffe traf Mansur am Oberarm, er schwankte, und der Rucksack glitt zu Boden. Er keuchte vor Schmerz und verfluchte sich, dass er vor Müdigkeit unaufmerksam gewesen war. Verzweifelt fasste er nach dem Rucksack, aber der Fischer war schneller und schlug mit der Taschenlampe nach seinem Kopf, sodass der Afghane sich zurückwerfen musste, damit er ihm nicht den Kiefer oder den Schädel einschlug. 77
Gunter schob den Rucksack außer Reichweite und trat Mansur in den Bauch. Während sein Opfer sich am Boden krümmte, griff er nach dem Rucksack, doch dessen Gewicht bremste ihn. Das kurze Zögern, ehe er ihn über die Schulter schwang, genügte Mansur, um verzweifelt in seine Windjacke zu fassen. Er wollte rufen, um Gunters Aufmerksamkeit auf die schallgedämpfte Pistole zu richten, damit der dämliche englische Kerl den Rucksack fallen ließ, bevor es zu spät war, aber er brachte keinen Laut hervor. Er durfte den Rucksack nicht verlieren, das wäre das Ende gewesen. Faraj Mansur hatte nur eine Alternative. Der Schuss war nicht lauter als das Brechen eines Stocks. Das einzige etwas lautere Geräusch war das Einschlagen der großkalibrigen Kugel.
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13 Mit einer Gartenschere in der Hand ging Anne Lakeby zielbewusst an der Böschung mit Zierriedgras am Ende der Rasenfläche entlang und schnitt die toten Halme ab. Es war ein schöner Morgen, kalt und klar, und ihre Gummistiefel hinterließen scharf umrissene Eindrücke im gefrorenen Gras. Das schulterhohe Gras verdeckte die Sicht auf den Strand, aber dahinter war das bräunliche Glitzern des Meers zu sehen. In ihrer Jugend hatte man Anne »hübsch« genannt, aber im Alter hatte sich ihr langes Gesicht zu einer wohlwollenden Hagerkeit zusammengezogen. Sie war robust und praktisch veranlagt, eine Stütze der örtlichen Wohltätigkeitsveranstaltungen und im Ort beliebt. Es gab nur wenige Ereignisse in und um Marsh Creake, bei denen ihr lautes, wieherndes Lachen nicht zu hören war. Wie das Haus selbst war sie zu einer Art Wahrzeichen der Gegend geworden. In den fünfunddreißig Jahren ihrer Ehe hatte Anne das große, graue spätviktorianische Haus, das ihr Mann geerbt hatte, niemals lieb gewonnen. Perrys Urgroßvater hatte es gebaut, um ein viel schöneres zu ersetzen, das abgebrannt war, und sie hatte es immer streng und abweisend gefunden. Der Garten war jedoch ihr ganzer Stolz und ihre Freude. Die alten Ziegelmauern, der abfallende Rasen zum Meer, das subtile Zusammenspiel von Oberflächen und Farben in den alten Hecken, all das erfreute sie tief und dauerhaft. Sie arbeitete hart daran, es zu erhalten, und öffnete den Garten mehrmals im Jahr für das Publikum. Zu Frühlingsbeginn kamen die Leute von nah und fern, um die Schneeglöckchen und den Eisenhut zu bewundern. Perry hatte das Haus in die Ehe eingebracht, aber das war auch alles gewesen. Anne stammte aus einer der örtlichen 79
Großgrundbesitzerfamilien, hatte beim Tod ihrer Eltern viel geerbt und stets darauf geachtet, ihre Konten von denen ihres Mannes getrennt zu halten. Viele Ehepaare hätten eine solche Beziehung unmöglich gefunden, aber Anne und Perry kamen ohne allzu viele Spannungen miteinander aus. Sie hatte ihn gern, fühlte sich mit ihm wohl und war bis zu einem gewissen Grad bereit, ihm die kleinen Dinge zuzugestehen, die ihn glücklich machten. Sie wusste jedoch gern Bescheid, was in seinem Leben passierte, und im Moment gelang ihr das nicht. Irgendwas war los. Eine kalte Brise vom Meer brachte die Halme zum Rascheln und bewegte die gefiederten Spitzen der Gräser. Anne steckte die Schere in die Tasche und ging zu dem Pfad, der zum Meer hinunterführte. Genau wie der Rasen war er noch fest gefroren, aber Anne bemerkte, dass er vor kurzem ziemlich aufgewühlt worden war. Wahrscheinlich dieser verdammte Gunter. Sie sah ihn nicht oft, aber sie bemerkte dauernd Zeichen seiner Anwesenheit – Zigarettenstummel, tiefe Fußstapfen –, und allmählich ärgerte sie das sehr. Wenn man Ray Gunter den kleinen Finger gab, nahm er die ganze Hand. Er wusste, dass sie ihn nie gemocht hatte, und es war ihm völlig egal. Warum Perry es sich gefallen ließ, dass dieser Kerl bei Tag und Nacht kreuz und quer über ihr Grundstück trampelte, war ihr schleierhaft. Sie wandte sich zum Haus zurück. Die Böschung mit den Riedgräsern war das Ende des eigentlichen Gartens. Der Rasen war von Beeten mit stark beschnittenen alten Rosen eingefasst und das Ganze von zwei Ziegelmauern umgeben, über denen sich Ahorn- und andere Laubbäume kahl vom Winterhimmel abhoben. Der Anblick verschaffte Anne einen Moment tiefer Befriedigung, bevor sie an den zweiten Grund für ihre Verärgerung dachte, dass nämlich Diane Munday beschlossen hatte, ihren Garten am selben Tag wie sie zu öffnen. Was in die Frau gefahren war, ahnte nur Gott. Sie wusste doch oder hätte es verdammt noch mal wissen müssen, dass der 80
Garten von Headland Hall immer am letzten Samstag vor Weihnachten geöffnet war. Zu dieser Jahreszeit gab es nicht allzu viel zu bewundern, aber es war eine Tradition. Die Leute zahlten ein paar Pfund, die dem St-John’s-Ambulanzdienst zugute kamen, um durch den Garten zu wandern, dann gingen sie – ob gläubig oder nicht – in die Kirche zum Weihnachtslieder-Gottesdienst und zu Glühwein. Doch Leute wie die Mundays ließen sich ja nichts sagen. Na schön, sie hatten ein hübsches Haus. Ein mehrere Millionen teures, elegantes Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert auf der anderen Seite des Dorfes, das von den üppigen Gehältern und Prämien bezahlt worden war, die Sir Ralph Munday sich in seinen letzten Dienstjahren im Londoner Bankenviertel genehmigt hatte. Der Garten von Creake Manor war auch in Ordnung – jedenfalls bevor ihn Diane in die manikürten Finger bekommen hatte. Jetzt gab es da lauter schmiedeeiserne Laternen wie in einem Hotel, verschnörkelte Spaliere und schreckliche kleine, schnell wachsende Koniferen. Dazu dieses Schwimmbecken, das sich anscheinend für den Teil einer römischen Villa hielt, und das rosa Pampasgras … Die Liste ließ sich beliebig ergänzen. Wenn die Mundays ihren Garten für die Öffentlichkeit öffneten, hatte das nichts mit Gartenkunst zu tun, sondern mit der eitlen Zurschaustellung von Reichtum. Dagegen habe ich nichts, dachte Anne – nicht jeder war mit denselben sozialen Vorteilen geboren wie sie. Und man wollte ja auch nicht hochnäsig und altmodisch wirken. Aber das dumme Weib hätte wenigstens das Datum überprüfen können. Das wäre wirklich das Mindeste gewesen. Ihre Gedanken wurden vom Donnern einiger Düsenjäger unterbrochen. Sie blickte zu den drei amerikanischen Jets auf, die lange Kondensstreifen über das harte Blau des Himmels zogen. Aus Lakenheath wahrscheinlich, nahm sie vage an, oder Mildenhall. Wie viel Kerosin verbrauchten diese Dinger? Wahrscheinlich jede Menge – genau wie Dianes lächerlich 81
großer Geländewagen. Das erinnerte sie daran, dass schon vor dem Frühstück Streifenwagen auf der Straße vor dem Haus hin und her gefahren waren. Sehr ungewöhnlich. Manchmal ging es hier zu wie am Piccadilly Circus. Anne schlenderte den Pfad zum Meer hinunter. Das Haus und der Garten lagen auf einer erhöhten Landspitze, an die auf beiden Seiten offenes Watt grenzte. Bei Flut war es überspült, aber bei Ebbe lag es offen und glänzend da, eine Domäne von Kormoranen, Seeschwalben und Austernfischern. An der Spitze der Landzunge, jenseits des Gartens, erstreckte sich der siebzig Meter breite Kiesstrand namens Hall Beach. Es war kilometerweit die einzige mögliche Anlegestelle für Boote, sodass die Lakebys ziemlich ungestört blieben. Jedenfalls, wenn Gunter nicht dort seine Boote und Netze lagern würde, dachte Anne mürrisch. Die Kiesel knirschten unter ihren Sohlen, und die Luft roch salzig. Letzte Nacht hatte es ziemlich gestürmt, aber jetzt war das Meer ruhig. Einen Augenblick schaute sie zum Horizont und folgte der Bewegung der Wellen, dann entdeckte sie etwas zwischen den nassen Kieseln zu ihren Füßen. Sie bückte sich und hob eine kleine Hand aus Silber auf, eine Art Talisman. Hübsch, dachte sie geistesabwesend, und steckte sie in die Tasche ihres Puffa-Anoraks. Sie ging mehrere Schritte, dann blieb sie wie angewurzelt stehen und fragte sich, woher um alles in der Welt sie gekommen war.
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14 Als Liz um halb neun an ihren Schreibtisch kam, erwartete sie eine Nachricht von der Telefonzentrale, sie solle sich dringend bei Zander melden. Sie warf einen Blick auf den FBI-Becher und überlegte, ob man vor dem Wasserkocher wohl Schlange stehen musste. Dann schaltete sie den Computer ein und öffnete Frankie Ferris’ verschlüsselte Akte. Die Nummer, die er hinterlassen hatte, gehörte zu einer Telefonzelle in Chelmsford, und sie sollte zu jeder vollen Stunde dort anrufen, bis er abhob. Um neun Uhr wählte sie die Nummer. Beim ersten Klingeln nahm er ab. »Kannst du reden?«, fragte Liz und legte sich Block und Bleistift bereit. »Im Moment ja. Ich bin in einem Parkhaus. Aber wenn ich auflege, werden Sie … Es geht darum, jemand ist bei der Übergabe draufgegangen.« »Jemand ist getötet worden?« »Ja, gestern Nacht. Ich weiß nicht wo, und ich kenne keine Einzelheiten, aber ich glaube, er ist erschossen worden. Eastman ist völlig ausgerastet und hat rumgeschrien von wegen Kameltreiber und Pakis und …« »Bleib bei der Sache, Frankie. Fang ganz vorne an. Hat dir das jemand erzählt, oder warst du in Eastmans Büro oder was?« »Ich bin zuerst ins Büro gegangen. Das ist im Gewerbegebiet in Wittle, wo …« »Nur die Geschichte, Frankie.« »Okay, also ich hab Ken Purkiss getroffen, das ist Eastmans Lagerverwalter. Er sagt, geh nicht rauf, da ist Chaos, der Boss ist total …« 83
»Weil jemand bei einer Übergabe getötet worden ist?« »Ja.« »Weißt du, was für eine Übergabe?« »Nein.« »Hat er gesagt, wo es passiert ist?« »Nein, aber ich denke mal, an dieser Landspitze, wo immer die ist. Ken meinte, er hätte gesagt, dass er sich bei den Deutschen beschwert hat, weil sie das Netzwerk überlasten. So in der Art, wo ihre Probleme aufhören, fangen seine an. Und das ganze Zeug mit den Pakis.« »Hast du selber mit Eastman gesprochen?« »Nein, Ken hat mir geraten, mich dünnezumachen, und ich bin abgehauen. Ich soll später noch zu ihm kommen.« »Warum erzählst du mir das alles, Frankie?«, fragte Liz, obwohl sie die Antwort kannte. Frankie hielt sich den Rücken frei. Wenn Eastman unterging, was bei einer Mörderjagd gut möglich war, wollte Frankie nicht mit ihm untergehen. Er wollte in einer Position sein, aus der er verhandeln konnte, solange er noch ein paar Karten in der Hand hatte, nicht aus einer Zelle heraus. Wenn Eastman sich andererseits herauswand, wollte er weiter für ihn arbeiten. »Ich will Ihnen helfen«, antwortete Frankie mit beleidigter Stimme. »Hast du mit Morrison gesprochen?« »Mit dem Arsch rede ich nicht. Entweder Sie und ich, oder der Deal platzt.« »Es gibt keinen Deal, Frankie«, sagte Liz geduldig. »Wenn du Informationen über einen Mord hast, musst du sie der Polizei mitteilen.« »Ich weiß nichts Handfestes. Nur das, was ich Ihnen erzählt habe, und das hab ich bloß gehört.« Er verstummte. 84
Liz sagte nichts. Sie wartete. »Vielleicht könnte ich …« »Ja?« »Ich könnte … gucken, ob ich was rauskriege. Wenn Sie wollen.« Liz überlegte. Sie wollte dem Special Branch in Essex nicht auf die Füße treten, aber Frankie schien fest entschlossen, nicht mit Morrison zu reden. Sie konnte die Informationen ja direkt dorthin weitergeben. »Wie erreiche ich dich?«, fragte sie schließlich. »Geben Sie mir eine Nummer. Ich ruf Sie an.« Liz tat es, und er legte auf. Sie starrte auf ihre Notizen. Deutsche. Araber. Pakistanis. Das Netzwerk überlastet. Ging es um Drogen? Jedenfalls klang es so. Drogen waren Melvin Eastmans Hauptgeschäft. Sein Sortiment sozusagen. Aber viele der Drogenschmuggler waren jetzt Menschenschmuggler. Wirtschaftsflüchtlinge aus China, Pakistan, Afghanistan und dem Nahen Osten gegen dicke Bündel harter Währung. Sehr verlockend, wenn man die Grenzkontrollen bestochen hatte und eine gute Transportroute kannte. Eastman hatte jedoch keine Kontakte nach Asien, so viel Liz wusste. Er war nicht der Typ dafür. Er kannte seine Grenzen, und den Afghanen, Kosovaren und der Chinesenmafia Konkurrenz zu machen, war mehrere Nummern zu groß für ihn. Letztlich war Melvin Eastman ein Gauner aus dem Londoner East End, der Drogen aus Amsterdam importierte und in Essex, Norfolk und Suffolk vertrieb. Er organisierte den Einzelhandel, und die Holländer entschieden über den Transport und die Menge der Ware. Es war ein lokal begrenztes Unternehmen – eigentlich ein Franchise-Geschäft –, und die Holländer unterhielten in England mindestens ein Dutzend davon. 85
Was hatte Eastman also mit Deutschen, Arabern und Pakistanis zu tun? Wer war umgebracht worden? Und am wichtigsten: Gab es eine Verbindung zum Terrorismus? Während sie noch immer auf ihre Notizen starrte, nahm Liz den Hörer ab und rief das Büro des Special Branch von Essex in Chelmsford an. Sie nannte den Code des Teams für Terrorismusbekämpfung und fragte, ob es letzte Nacht ein Tötungsdelikt gegeben habe. Nach kurzem Schweigen und dem leisen Klicken einer Tastatur wurde sie zum diensthabenden Beamten durchgestellt. »Nichts«, sagte er, »überhaupt nichts. Wir hatten einen Bericht, dass vor einem Nachtclub in Braintree ein Schuss aus einer Pistole abgefeuert wurde, aber … Moment, hier will mir jemand was sagen.« Einen Augenblick trat Stille ein. »Norfolk«, sagte er kurz darauf. »Anscheinend wurde heute früh in Norfolk eine Leiche gefunden, aber wir haben noch keine Einzelheiten.« »Danke.« Sie wählte die Nummer des Special Branch von Norfolk. »Wir haben einen Erschossenen«, bestätigte der Beamte in Norwich. »In Fakenham. Wurde heute Früh um halb sieben gefunden, und zwar in einer Toilette bei der Fairmile-Raststätte mit LKW-Abstellplatz. Das Opfer ist ein Fischer aus der Gegend, Ray Gunter. Die Kripo kümmert sich um den Fall, aber wir haben einen Mahn hingeschickt, weil unklar war, was für eine Waffe benutzt wurde.« »Wieso?« »Der Ballistiker sagte, bei der Munition handelt es sich um …«, man hörte das Rascheln von Papier, »7.62 Millimeter panzerbrechende Hartkernmunition.«
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»Danke«, sagte Liz und notierte sich das Kaliber. »Wie heißt ihr Mann vor Ort?« »Steve Goss. Wollen Sie seine Nummer?« »Ja, bitte.« Er gab sie ihr, und sie legte auf. Mehrere Minuten lang schaute sie auf ihre Notizen. Sie war keine Expertin, aber sie kannte sich gut genug mit Schusswaffen aus, um zu wissen, dass solche mit Kaliber 7.62 meist Armee- oder ehemalige Armeegewehre waren. Die Kalaschnikow war eine 7.62er, die alte SLR der britischen Armee genauso. Perfekt für das Schlachtfeld, aber ziemlich unhandlich für einen Mord auf kurze Entfernung. Und Hartkernmunition? Was bedeutete das Ganze? Sie drehte die Fakten im Geist hin und her. Egal, wie man sie zusammensetzte, sie sahen schlecht aus. Pflichtbewusst, aber mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit wählte sie Bob Morrisons Nummer. Erneut rief der Special-Branch-Beamte sie von einer Telefonzelle zurück, doch dieses Mal war die Verbindung besser. Er hatte von dem Mord an der Raststätte erfahren, allerdings nicht im Detail. Von dem Opfer Ray Gunter hatte er noch nie gehört. Liz wiederholte, was Ferris ihr erzählt hatte. Morrisons Reaktionen waren kurz, und sie spürte seinen Ärger darüber, dass seine Quelle ihn ignoriert hatte – egal wie nutzlos sie war – und jetzt ihr Bericht erstattete. »Zander sagt, Eastman war fuchsteufelswild«, sagte Liz. »Er hat über Pakis und Kameltreiber und überlastete Netzwerke geschimpft.« »An seiner Stelle wäre ich auch fuchsteufelswild. Das Letzte, was Eastman will, ist Ärger in seinem Revier.« »Gehört Norfolk zu seinem Revier?« »Ja, am Rand.«
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»Ich schicke Ihnen die Einzelheiten von Zanders Anruf rüber, okay?« »Ja, gerne. Wie ich schon sagte, ich glaube dem kleinen Mistkerl kein Wort, aber wenn Sie meinen, schieben Sie’s rüber.« »Ist unterwegs«, sagte Liz und legte auf. Würde er das Gespräch an den Special Branch in Norfolk weitergeben? Bestimmt sollte er das, aber er konnte auch aus Sturheit darauf sitzen bleiben. So würde er Liz in ihre Schranken weisen, und wenn jemand hinterher – Fragen stellte, konnte er sagen, Zander sei eine unzuverlässige Informationsquelle gewesen. Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass Morrison nichts sagen würde. Er war ein Aktenschieber, ein Mann, dessen ganzes Leben ein unduldsamer, pedantischer Weg des geringsten Widerstandes geworden war. Je wertvoller Frankies Information am Ende war, desto schlechter würde er aussehen, weil er ihn falsch behandelt hatte. Wahrscheinlich würde er das Ganze einfach begraben. Dagegen hatte Liz nichts, denn letztlich bedeutete es, dass sie mehr Teile des Puzzles besaß als alle anderen. Und so mochte sie es. Mit dem Bleistift in der Hand starrte sie auf den Notizblock und die Überschriften. Was sagten sie ihr? Was ließ sich vernünftigerweise vermuten? Irgendwas oder irgendwer war mit dem Schiff aus Deutschland gebracht und an der »Landspitze abgesetzt« worden. Das hatte mit Melvin Eastmans Geschäften zu tun, gehörte aber nicht direkt dazu. Sie hatte sogar den Eindruck, dass Eastman in der Klemme saß und die Dinge nicht mehr unter Kontrolle hatte. Gleichzeitig war ein Fischer – wahrscheinlich ein Bootseigner – auf einem LKW-Parkplatz in der Nähe der Küste von Norfolk erschossen worden. Und zwar
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mit einer Waffe, die nach Lage der Dinge ein Armeegewehr gewesen sein konnte. Liz holte sich eine Generalkarte mit Fakenham im Mittelpunkt auf den Bildschirm. Etwa fünfzehn Kilometer nördlich lag Wells-next-the-Sea an der langen Nordseeküste von Norfolk. Wells war die größte Stadt im Umkreis von dreißig Kilometern – der überwiegende Teil der Nordküste der Grafschaft bestand aus Marschland und Flussmündungen sowie gelegentlichen Dörfern, Vogelreservaten und weitläufigen privaten Anwesen. Es sah aus wie einsames, meerumschlungenes Land. Vielleicht ein paar Anlegestellen der Wasserwacht und Jachtclubs, aber ansonsten eine perfekte Schmugglerküste und keine vierhundertfünfzig Kilometer von den deutschen Häfen entfernt. Wenn man bei Sonnenuntergang aus Cuxhaven oder Bremerhaven auslief, konnte man sechsunddreißig Stunden später im Schutz der Dunkelheit hier ankern. Schon wieder Bremerhaven. Dort war ein britischer Führerschein für Faraj Mansur gefälscht worden. Gab es da eine Verbindung? In ihrem Hinterkopf ruhte still, aber bohrend Bruno Mackays Bericht, eine der Terrororganisationen sei dabei, einen Unsichtbaren für einen Anschlag in Marsch zu setzen. Konnte Faraj Mansur der Unsichtbare sein? Unwahrscheinlich – es wäre mit großer Wahrscheinlichkeit eine angelsächsische Person. Wer war also Faraj Mansur, und warum kaufte er in Bremerhaven einen gefälschten britischen Führerschein? War er ein britischer Staatsbürger, der den Führerschein verloren hatte und ein sauberes Dokument brauchte? Bremerhaven war eine bekannte Quelle für gefälschte Pässe und andere Papiere, und wenn Mansur keinen Pass wollte, legte das nahe, dass er keinen brauchte, weil er bereits Bürger des Vereinigten Königreichs war. Hatte das schon jemand überprüft? Mansur, schrieb sie und unterstrich den Namen. Britischer Staatsbürger? 89
Denn wenn er keiner war, gab es zwei Möglichkeiten. Dass er mit einem falschen Pass einreiste, den er zu einem anderen Zeitpunkt von einer anderen Quelle bekommen hatte, oder die ernstere, dass er auf eine Art nach England kam, für die er keinen Pass brauchte, und jemand war, dessen Einreise den Behörden unbekannt bleiben musste. Vielleicht ein wichtiger Aktivist des Islamischen Terrorsyndikats. Eine Kontaktperson von Dawud al-Safa, dessen Job in einer Autowerkstatt in Peshawar nur eine Tarnung für terroristische Aktivitäten war. Jemand, der es, unabhängig von seinen Papieren, nicht riskieren konnte, bei der Einreise kontrolliert zu werden. Jeder Instinkt, den Liz besaß, und jeder Sinn, den sie in einem Jahrzehnt Geheimdienstarbeit geschärft hatte, flüsterte von einer Bedrohung. Es wäre ihr schwer gefallen, diese Gefühle zu präzisieren, die sich darauf bezogen, wie Informationspartikel sich in ihrem Unterbewusstsein verbanden und Gestalt gewannen. Sia hatte jedoch gelernt, ihnen zu vertrauen. Bestimmte Konfigurationen, egal wie bruchstückhaft oder undeutlich, waren ausnahmslos gefährlich. Unter die Worte Mansur. Britischer Staatsangehöriger? schrieb sie: Arbeitet er noch in der Werkstatt? Die methodische Überprüfung der Nordküste von Norfolk erbrachte mehrere mögliche Landspitzen. Garton Head, die westlichste, stand aus den Stiffkey Marshes gut zweihundert Meter ins Meer vor, und ein ähnliches, aber namenloses Landstück stieß fünfzehn Kilometer weiter östlich in die Holkham Bay vor. Beide sahen wie schiffbare Landungspunkte aus. Eine dritte Möglichkeit war eine winzige Landzunge an der Brancaster Bay. Das Anwesen lag am Rand eines Dorfes namens Marsh Creake, ein paar Kilometer östlich von Brancaster. Sie überprüfte die drei Landspitzen erneut und versuchte, die Karte mit den Augen eines Schmugglers zu sehen. Sie waren bemerkenswert ähnlich, jede eine von Watt umgebene Landzun90
ge. Die Stelle an der Brancaster Bay bei Marsh Creake war vermutlich die unwahrscheinlichste, da dort ein riesiges Haus stand. Wer ein Anwesen dieser Größe bewohnte, ließ vor seiner Tür wahrscheinlich keine kriminellen Aktivitäten zu. Es sei denn, der oder die Besitzer wohnten gar nicht da. Das war auf ein paar Quadratzentimetern Karte auf dem Flachbildmonitor nicht zu erkennen. Sie musste sich dort selbst umsehen. Fünf Minuten später saß sie Wetherby in seinem Büro gegenüber, und er lächelte sein unregelmäßiges Lächeln. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn schnell für einen leicht exzentrischen Professor, einen Mann mit festen Schuhen und Fahrradklammern, der eher in ein stilles College als an die Spitze eines Hightech-Einsatzkommandos zur Terrorismusbekämpfung passte. Ihm zugewandt und damit für Liz nicht einsehbar standen zwei Fotos in Kunstlederrahmen. »Was genau wollen Sie herausfinden, wenn Sie dorthin fahren?«, fragte er. »Zumindest möchte ich die Möglichkeit ausschließen, dass es eine Verbindung zum Terrorismus gibt. Das Kaliber der Waffe macht mir Sorgen, genau wie dem Special Branch in Norfolk, da sie extra einen Mann für die polizeilichen Ermittlungen abgestellt haben. Mein Instinkt sagt mir zusammen mit Zanders Anruf, dass Eastmans Organisation auf irgendeine Art gekapert worden ist.« Wetherby rollte nachdenklich einen dunkelgrünen Bleistift zwischen den Fingern. »Weiß der Special Branch von Zanders Anruf?« »Ich habe die Information an Bob Morrison in Essex weitergegeben, das ist Zanders gegenwärtiger Agentenführer, aber es ist gut möglich, dass er darauf sitzen bleibt.« Wetherby nickte. »Von unserem Standpunkt aus wäre das nicht unbedingt schlecht«, sagte er schließlich. »Überhaupt nicht
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schlecht. Ich meine, Sie sollten hinfahren und in aller Stille mit dem dortigen Mann vom Special Branch reden – wie heißt er?« »Goss.« »Reden Sie mit Goss, und schauen Sie, was los ist. Erwecken Sie vielleicht den Eindruck, Sie interessieren sich für das organisierte Verbrechen, und ich warte auf Ihre Einschätzung. Wenn Sie dann noch nicht beruhigt sind, rede ich mit Fane, und wir werden direkt tätig. Falls es uns andererseits nicht betrifft … dann haben wir jedenfalls bei der Montagssitzung was zu besprechen. Sind Sie sicher, dass Zander sich das Ganze nicht bloß ausdenkt?« »Nein«, antwortete Liz aufrichtig. »Ich bin nicht sicher. Er sucht Aufmerksamkeit, und laut Bob Morrison hat er angefangen zu spielen, deshalb hat er ganz bestimmt Geldprobleme. Er ist in jeder Hinsicht ein unzuverlässiger Agent, aber das heißt keineswegs, dass er diesmal nicht die Wahrheit sagt.« Sie zögerte. »Es klang nicht ausgedacht. Er wirkte total verängstigt.« »Wenn Sie den Eindruck haben, bin ich auch der Meinung, dass Sie hinfahren sollten«, sagte Wetherby und steckte den Bleistift zurück in ein Steingutgefäß, das früher Fortnum-andMason-Marmelade enthalten hatte. »Trotzdem ist bloß die 7.62er Gewehrmunition ein Indiz dafür, dass der Mord das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen Drogendealern war oder eines schief gegangenen Menschenschmuggels. Vielleicht tragen Drogenschmuggler inzwischen Sturmgewehre. Vielleicht war Gunter einfach zur faschen Zeit am falschen Ort und hat etwas gesehen, das er nicht sehen sollte.« »Ich hoffe, dass es so war«, sagte Liz. Er nickte. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Tu ich das nicht immer?« 92
Er sah sie an, lächelte schwach und wandte sich ab.
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15 In dem winzigen Schlafzimmer des Bungalows schlief Faraj Mansur völlig unbeweglich. Hat er das gelernt?, fragte sich die Frau. War sogar dieser Teil seines Lebens der Kontrolle und Geheimhaltung unterworfen? Am Bettgestell hing der schwarze Rucksack, den er bei ihrer Begegnung getragen hatte. Würde er ihr erzählen, was darin war? Würde er offen zu ihr sein und sie gleichberechtigt behandeln, oder würde er erwarten, dass sie als Frau hinter ihm ging und sich ihm in allem unterordnete? Eigentlich war es ihr egal. Wichtig war nur, dass der Auftrag ausgeführt wurde. Die Frau war stolz auf ihr chamäleonartiges Wesen, ihre Bereitschaft, das zu sein, was von ihr jeweils erwartet wurde, und übernahm freudig jede Rolle, die sie spielen sollte. In Takht-i-Suleiman hatten die Ausbilder sie kaum beachtet, zumindest am Anfang, aber es hatte ihr nichts ausgemacht. Sie hatte zugehört, gelernt und gehorcht. Wenn sie sagten, sie solle kochen, hatte sie gekocht. Wenn sie sagten, sie solle die verschwitzten Kampfanzüge der anderen Rekruten waschen, hatte sie die Körbe ohne Widerspruch ins Wadi getragen, sich hingekauert und im Wasser geschrubbt. Und als man ihr die Augen mit einem Tuch verbunden hatte und sie ihr Gewehr auseinander nehmen sollte, hatte sie auch das getan, wobei ihre Finger schnell und sicher über Bauteile tanzten, von denen sie nur die arabischen Namen kannte. Sie war eine Marionette geworden, ein selbstloses Werkzeug der Rache, ein Kind des Himmels. Sie lächelte. Nur wer die Erfahrung der Initiation gemacht hatte, kannte die brennende Freude der Selbstaufgabe. Vielleicht – inschallah – würde sie diese Aufgabe überleben. Vielleicht nicht. Gott war groß.
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Bis dahin war manches zu tun. Wenn er aufwachte, würde Mansur sich waschen wollen – letzte Nacht im Auto hatte er nach Schweiß und Erbrochenem gerochen – und Hunger haben. Das Wasser wurde von einem eigenwilligen Gasboiler erhitzt, der alle fünf Minuten ausging – eine halbe Schachtel abgebrannter Streichhölzer lag im Badezimmermülleimer –, und der Elektroherd schien bald den Geist aufzugeben. Wahrscheinlich verkürzt die Salzluft die Lebensdauer der Geräte, dachte sie. Der Kühlschrank surrte laut, schien aber ansonsten zu funktionieren, und nachdem Diane am Vortag weggefahren war, hatte sie im Supermarkt in King’s Lynn Fertiggerichte gekauft, vor allem Currys. Sie hieß nicht Lucy Wharmby, wie sie Diane gesagt hatte, aber ihr richtiger Name war ihr inzwischen ebenso egal wie die Tatsache, wo sie lebte. Bewegung und Wandel lagen ihr jetzt im Blut, und irgendeine Art von dauerhafter Existenz war unvorstellbar. Es war nicht immer so gewesen. In einer fernen Vergangenheit, die jetzt eingefrorenen und unwirklich schimmerte, hatte es einen Ort namens Zuhause gegeben. Einen Ort, von dem sie mit kindlicher Einfalt immer geglaubt hatte, dass sie eines Tages an ihn zurückkehren könne. Sie konnte sich mit allen Einzelheiten an isolierte Augenblicke aus dieser Zeit erinnern. Wie sie altes Brot an die gierigen Gänse im Park verfütterte. Wie sie in ihrem Planschbecken in dem winzigen Garten im Süden von London lag, zum Apfelbaum emporschaute und den Nacken auf den Rand des Beckens presste, damit das Wasser aus ihrem Haar lief, Danach wurde es jedoch düsterer. Es folgte der Umzug von dem gemütlichen Londoner Haus in einen kalten Wohnblock in einer Universitätsstadt in Mittelengland. Ihr Vater übernahm eine angesehene Dozentenstelle, doch für die Bücher liebende Siebenjährige bedeutete es die Trennung von ihren Londoner Freunden und eine schreckliche neue Schule, in der Außenseiter gnadenlos von den Stärkeren schikaniert wurden. 95
Sie war furchtbar einsam, erzählte aber nichts ihren Eltern, denn inzwischen hatte sie aus dem gespannten Schweigen und den zugeknallten Türen geschlossen, dass die beiden ihre eigenen Probleme hatten. Stattdessen zog sie sich in sich selbst zurück. Ihre vorher sehr guten Leistungen in der Schule wurden schlechter, und sie bekam mysteriöse Magenschmerzen, wegen denen sie zu Hause bleiben musste und die weder durch konventionelle noch durch alternative Behandlung verschwanden. Als sie elf war, trennten sich ihre Eltern. Am Ende würde die Scheidung stehen. An der Oberfläche war es eine freundschaftliche Trennung. Ihre Eltern trugen ein angestrengtes Lächeln – das nicht ganz ihre Augen erreichte – zur Schau und sagten ihr, es werde sich für sie gar nichts ändern. Beide gingen jedoch rasch eine neue Beziehung ein. Ihre Tochter wechselte zwischen zwei Haushalten hin und her, blieb aber für sich. Die mysteriösen Magenschmerzen hielten an und isolierten sie noch mehr von Gleichaltrigen. Ihre Periode blieb aus. Eines Abends stieß sie die Faust durch eine Milchglastür und musste auf der Unfallstation des örtlichen Krankenhauses mit zehn Stichen in Hand und Handgelenk genäht werden. Als sie dreizehn war, beschlossen ihre Eltern, sie in ein fortschrittliches Internat zu schicken, das in dem Ruf stand, mit schwierigen Kindern zurechtzukommen. Die Teilnahme am Unterricht war freiwillig, und es gab keine festen Sportstunden. Stattdessen wurden die Schüler zu eigenen Kunst- und Theaterprojekten ermutigt. Im zweiten Schuljahr schickte ihr die Freundin ihres Vaters ein Buch zum Geburtstag. Es lag vierzehn Tage auf ihrem Nachttisch; im Großen und Ganzen war es nicht das, was sie interessierte. Als sie eines Nachts aber nicht schlafen konnte, griff sie schließlich danach und begann zu lesen. 96
16 Liz’ Handy klingelte, als sie auf dem nördlichen Autobahnring um London zwischen einem kleinen Schulbus und einem Tankwagen feststeckte. Sie hatte den dunkelblauen Audi Quattro von der bescheidenen Summe, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte, gebraucht gekauft. Er hatte eine Wäsche nötig, und der CD-Player war kaputt, aber der Wagen lief leise und sanft, sogar jetzt im Schritttempo. Während sie nach dem Handy auf dem Beifahrersitz tastete, steckte einer der Jungen im Schulbus ihr die Zunge heraus wie ein lüsterner Hund. Zwölf?, fragte sie sich. Vierzehn? Sie konnte das Alter von Kindern nicht mehr schätzen. Hatte sie es je gekonnt? Sie meldete sich. »Ich bin’s. Wo bist du?« Sie atmete tief durch. Jetzt machten auch andere Jungen am Schulbusfenster obszöne Gesten und lachten. Sie zwang sich, wegzuschauen. Sie hasste es, im Auto Anrufe anzunehmen, und sie hatte Mark gesagt, er solle sie niemals – unter keinen Umständen – während der Arbeitszeit anrufen. »Ich weiß nicht genau. Wieso? Was ist los?« »Wir müssen miteinander reden.« Die Schuljungen schütteten sich jetzt vor Lachen aus und schnitten Grimassen wie Dämonen auf einem mittelalterlichen Bild. Ein plötzlicher Regenschauer verwischte ihre Umrisse auf der Windschutzscheibe. »Was willst du?«, fragte sie. »Was ich immer gewollt habe. Dich. Wo fährst du hin?« »Ich bin ein, zwei Tage weg. Wie geht’s Shauna?« »Fit und kampfbereit. Ich rede dieses Wochenende mit ihr.«
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Sie machte den Scheibenwischer an. Die Jungen waren verschwunden. »Über etwas Bestimmtes? Oder hast du dir nur einen Termin für ein nettes Schwätzchen aufgeschrieben?« »Ich rede über uns, Liz. Ich werde ihr sagen, dass ich dich liebe und dass ich sie verlasse.« Liz starrte schockiert geradeaus, während ihre Zukunft zerbrach wie Spiegelglas. Das durfte nicht passieren. Es würde eine Scheidung geben, und man würde ihren Namen vor Gericht erwähnen. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?« »Ja.« Sie bog auf die M11 ab. Die roten Bremslichter der Autos waren vom Regen verzerrt. »Und?« »Und was?« »Was meinst du?« »Ich meine, das ist die schlechteste Idee, die ich je gehört habe.« »Ich muss es ihr sagen. Liz. Es ist nur fair.« Zorn überkam sie und verdunkelte ihre Gedanken. »Mark, wenn du das machst, dann versprech ich dir, dass wir …« »Dann sind wir zusammen, Liz. Nur wir zwei und die Nacht.« Eine Idee – der winzige Splitter einer Idee – blitzte vor der dunklen Wolke ihres Zorns auf. »Sag das noch mal.« »Nur wir zwei … und die Nacht?« Nacht. Stille. »Was ist los?«, fragte er. Es war immer noch da, gerade außer Reichweite. Und es war wichtig. »Ich ruf dich später zurück«, sagte sie. 98
»Liz … ich rede davon, meine Ehe zu beenden und Shauna zu verlassen. Über unsere Zukunft.« Nacht. Stille. Verdammt. »Ich muss Schluss machen. Ich ruf dich an.« »Ich liebe dich, Liz, aber ich kann nicht …« Zwei Fahrbahnen waren gesperrt. Blinkende Pfeile führten die Spuren zusammen. Verdammt. Sie durfte den Gedanken nicht verlieren. Mark würde versuchen sie wieder zu erreichen. Sie schaltete das Handy aus. Erst nach zehn Minuten konnte sie anhalten und Goss anrufen. »Kann ich ein paar Einzelheiten mit Ihnen klären?«, fragte sie. »Haben Sie zum Beispiel den genauen Todeszeitpunkt?« »Der Pathologe schätzt zwischen vier Uhr fünfzehn und vier Uhr fünfundvierzig.« »Waren noch andere Leute in der Nähe?« »Etwa ein Dutzend LKW-Fahrer, die in ihren Kabinen geschlafen haben.« »Und keinen hat der Schuss geweckt?« »Nein, anscheinend nicht.« »Haben Sie die Kugel gesehen?« »Ja, der Ballistiker hat sie rausgeholt.« »War es wirklich eine 7.62er?« »Ja, 7.62 Millimeter Hartkernmunition.« »Auf die Entfernung wahrscheinlich wie eine Dampfwalze auf einer Walnuss.« »Die werden garantiert die Wand neu verputzen.« Liz verstummte und dachte darüber nach. Windböen schlugen gegen den Wagen, Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. »Danke. Ich bin in ein paar Stunden da.«
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»Okay. Sie finden mich im Festsaal in Marsh Creake. In dem Dorf hat der Tote gewohnt. Der Detective Superintendent richtet da ein Lagezentrum ein.« Schließlich brauchte sie fast drei Stunden, bis sie den ersten Wegweiser nach Marsh Creake an einer Kreuzung sah. Auf beiden Seiten der schmalen Straßen erstreckten sich windgepeitschte Felder bis zum Horizont; über ihr hingen dunkle Regenwolken am weiten Himmel. Kleine Dörfer, oft nicht mehr als eine Hand voll Bauernhäuser, waren über die Landschaft verstreut. Ihre mit Naturstein verblendeten Mauern und die Dachziegel waren kilometerweit zu sehen. Im Spätsommer leuchten die Felder bestimmt golden, und die Entwässerungskanäle dazwischen reflektieren den blauen Himmel, dachte Liz. Zu dieser Jahreszeit war die Landschaft jedoch ein stumpfes Braun, die Getreidehalme waren schon lange in den feuchten Boden gepflügt, und die Marschgräser raschelten verstohlen. Man konnte hier endlos umherwandern, ohne irgendwo hinzukommen. Auf dem Weg nach Marsh Creake wurden die Felder vom Grün eines Golfplatzes abgelöst. Niemand spielte, aber ein paar Abgehärtete standen vor dem kleinen Clubhaus mit dem grün gestrichenen Wellblechdach herum. Sie fuhr weiter, auf der einen Seite die Bunker des Golfplatzes, auf der anderen Villen aus den Sechzigerjahren, und kam schließlich ans Meer. Es war Ebbe, und hinter einer niedrigen Mauer unmittelbar am Wasser lag das graugrüne Watt. Schmale, windgepeitschte Kanäle durchzogen es kreuz und quer, an ihren Rändern Wurmhäufchen. Hundert Meter weit draußen schritten Vögel an der Wasserlinie entlang und pickten zielsicher in den Boden. Als sie nach Osten blickte, weckten eine baumbestandene Landspitze und das Dach eines prächtig aussehenden klassizistischen Herrenhauses ihre Neugier. War das die Landspitze, die 100
sie auf der Karte gesehen hatte? Das war doch westlich von Marsh Creake gewesen. Sie beschloss, hinzufahren, um sich zu vergewissern. Zwei Minuten später hielt sie an. Rechts der Straße lagen die Ausläufer des Golfplatzes, links von ihr – gegenüber dem Punkt, wo der Golfplatz in riedbestandenes Marschland überging –, stand ein Gebäude mit Balkon und Holzverschalung: der Segelclub von Marsh Creake. Genau wie das Haus des Golfclubs war es sehr klein und befand sich an einem schmalen Wasserarm durch das Watt, in dem ein Dutzend Boote mit wenig Tiefgang lagen. Liz hörte den Wind an ihren Masten rütteln. Es wäre nahezu unmöglich, hier nachts eine Fracht an Land zu bringen. Markierungsbojen hingen an schlammigen Tauen, um bei Flut die Fahrrinne zu markieren, aber ohne Lichter war das Risiko zu groß, auf Grund zu laufen. Das war nicht Eastmans Landspitze. Hinter dem Clubhaus lag das klassizistische Anwesen, das sie gesehen hatte. Es nannte sich Creake Manor und sah sehr imposant aus. Auf der Kieszufahrt an der Vorderseite saß eine blonde Frau in einem metallicgrünen Cherokee, telefonierte mit einem Handy und blätterte, soweit Liz sehen konnte, in einer Zeitschrift. Währenddessen pustete der Motor im Leerlauf seine Abgase in einen Hortensienbusch. Als Liz vor dem Tor vorfuhr, blickte die Frau hoch, zunächst fragend, dann mit gedämpftem Unwillen. Liz warf ihr ein leeres Besucherlächeln zu und drehte ab. Der Garten ging hinter einer hohen Mauer wohl noch ein ganzes Stück weiter. Große Bäume – Stechpalmen, Eichen, eine Buche – erhoben sich über der verputzten Ziegelmauer. Creake Manor war das letzte Haus des Dorfes, wie Liz entdeckte, und ebenso wenig für Schmuggel geeignet wie der Segelclub. Sie kehrte zu der Weggabelung am Meer zurück und fuhr ins eigentliche Dorf. 101
Es hatte zwar einen kargen, altmodischen Charme, war aber nicht so herausgeputzt wie die Orte, wo reiche Wochenendurlauber aus London die Einheimischen vertrieben hatten. Im Wesentlichen bestand Marsh Creake aus einer Hand voll Häuser, die sich unregelmäßig entlang der Küstenstraße aufreihten. Es gab eine Tankstelle mit drei Zapfsäulen und einer Werkstatt mit öligem Boden und daneben den Trafalgar Pub, dessen Bleiglaslampen und Wände aus Backstein und Balken verrieten, dass er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden war. Neben dem Pub stand eine Mehrzweckhalle mit Giebeldach, durch deren Fenster aufgestapelte Stühle zu sehen waren. Während Liz weiter nach Westen fuhr, entdeckte sie einige Geschäfte und einen Laden für Bootsbedarf und Souvenirs, der über Winter geschlossen hatte. Dahinter erstreckten sich mehrere Straßen mit Backsteinhäusern und ein niedriger Block mit Sozialwohnungen. Hinter einer Biegung lag das westlichste Gebäude des Dorfes hinter einigen alten Kiefern. Headland Hall war ein grauer, ziemlich reizloser Kasten, dessen gotische Türmchen und Spitzbögen eher zu einem Hotel oder Rathaus als zu einem Privathaus passten. Auf der Seeseite des Hauses war durch die Bäume schemenhaft ein großer, von Mauern eingefasster Garten zu sehen, der sich bis zum Watt erstreckte. Das Haus war weniger elegant als Creake Manor, einen Kilometer weiter östlich, und der Garten weniger aufwändig. Dennoch gab es eine Symmetrie zwischen den beiden Häusern, die das Dorf wie Buchstützen einfassten, und vielleicht auch eine unausgesprochene Rivalität. Beide verkörperten unverhohlen Geld und Einfluss. Ist Headland Hall der Ort, wo die »zwanzig, plus ein Extra« an Land gebracht worden sind?, fragte sich Liz. Es war sicher nicht unmöglich. Nach einer Kehrtwendung und ein paar Minuten Fahrt erreichte Liz wieder das Ortszentrum. Sie parkte den Audi an der 102
Seepromenade und ging durch den steifen Ostwind, worauf ein paar Silbermöwen von der Lehne einer Betonbank aufstiegen und wegflogen. Über dem Eingang zum Festsaal stand die Inschrift IN MEMORIAM. Drinnen war es kalt und etwas feucht wie in selten benutzten Gebäuden. Ein großer Teil des Saals wurde von aufgestapelten Klappstühlen eingenommen. Am einen Ende befand sich eine kleine Bühne, hinter deren halb offenem Vorhang ein staubiges Klavier zu sehen war. Am anderen Ende standen ein Laptop und ein Drucker auf einer Tischplatte auf Böcken. Eine Polizistin und ein Beamter in Zivil schlossen gerade einen Videorekorder und einen Monitor mit einem Verlängerungskabel an. Als Liz sich umsah, kam ein drahtiger Mann mit rötlichem Haar in einem Wachsanorak auf sie zu. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich suche Steve Goss.« »Das bin ich, dann sind Sie …« »Liz Carlyle. Wir haben telefoniert.« »Genau.« Er warf einen Blick zu den regenbespritzten Fenstern. »Willkommen in Norfolk.« Sie lächelten und schüttelten einander die Hand. Liz schätzte ihn auf etwa fünfundvierzig. »Der Detective Superintendent ist noch am Tatort in der Raststätte, aber der Fotograf hat uns gerade die Bilder gemailt. Soll ich sie Ihnen mal zeigen, und danach gehen wir in den Pub ein Sandwich essen und wärmen uns auf?« »Gute Idee«, sagte Liz. Sie nickte den Polizisten zu, die sie wachsam beobachteten, ohne eine Miene zu verziehen. Dann stieg sie über ein Bündel Kabel und folgte Goss zum Tisch. Der Special-Branch-Beamte zog ihr einen Klappstuhl heran, setzte sich auf einen anderen und tippte auf der Tastatur herum. 103
»Okay, Gunter, Raymond … da ist es.« Mehrere Serien von verkleinerten Fotos erschienen auf dem Bildschirm. »Ich zeig Ihnen nur die wichtigen Bilder«, murmelte Goss, »sonst sitzen wir den ganzen Tag hier.« Liz nickte. »In Ordnung. Ich kann ja jederzeit nachfragen, wenn ich irgendwas noch mal sehen muss.« Das erste Bild, das Goss anklickte, zeigte den ganzen Parkplatz. Entlang der entfernten Begrenzung des großen, schmutzigen Platzes kauerten schwere Lastwagen mit feucht glänzenden Planen wie Urzeittiere. Links stand ein Fertigbau mit dem Schild FAIRMILE CAFE. Drinnen leuchteten trübe Neonröhren, und man konnte die bunte Weihnachtdekoration erkennen. Rechts befand sich ein Toilettenhäuschen aus Beton, hinter dem Polizisten in reflektierenden gelben Wetterjacken den Boden absuchten. Die folgenden Bilder zeigten das Innere das Cafés. Wenn es geöffnet war und der Teekessel dampfte, war es wahrscheinlich einigermaßen gemütlich, aber leer wirkte es trotz der Papierschlangen und aufgeblasenen Weihnachtsmänner sehr trist. Die dritte Serie war von dem Toilettenhäuschen. Zuerst war es von außen fotografiert, wo die Leute von Pathologie und Gerichtsmedizin umhergingen und froh über ihre blassblauen Overalls wirkten, während der Regen um die Wände peitschte. Dann folgte der menschenleere Innenraum – jedenfalls leer von lebenden Menschen. Er war weiß gekachelt und enthielt ein Waschbecken, zwei Pissoirs und eine Toilettenkabine. Eine Großaufnahme zeigte das kaputte Schloss der Kabinentür. Statt einer Rolle Klopapier hing ein Branchenbuch an einem Stück Schnur. Die letzten Bilder waren von Ray Gunter. Er trug einen weißen Pullover und eine dunkelblaue Adidas-Jogginghose und 104
lag auf dem Boden unter einer etwa einen Meter langen Lache aus getrocknetem Blut und Hirnmasse. Im Zentrum davon befand sich ein schwarzes Loch, wo die Kugel eine Kachel durchschlagen hatte. Ein langer, rotbrauner Fleck führte hinab zu der zusammengesunkenen Leiche. Der Schuss war durch die linke Braue eingedrungen und hatte das Gesicht nicht allzu sehr entstellt. Der Hinterkopf war jedoch eine formlose Masse, deren Inhalt sich auf dem Zementboden verteilt hatte. »Wer hat ihn gefunden?«, fragte Liz und kniff die Augen zusammen, um Distanz zum blutigen Schrecken des Bilds zu gewinnen. »Der Fahrer von einem Schwerlaster, kurz nach sechs.« »Und die Kugel?« »Wir hatten Glück. Sie hat das Toilettenhaus durchschlagen und steckte in der Außenmauer.« »Irgendwelche Körperspuren des Täters?« »Nein, wir haben den Boden und die Wände Millimeter für Millimeter abgesucht. Sie werden auch die Spuren unter den Fingernägeln des Opfers analysieren, aber ich habe da wenig Hoffnung.« »Wo stand der Mörder, als der Schuss fiel?« »Momentan noch schwer zu sagen, aber weit genug weg, dass es keine Pulverspuren beim Opfer grab. Vielleicht vier Meter. Wer immer es war, er wusste genau, was er tat.« »Wieso?« »Er hat auf den Kopf gezielt. Ein Brustschuss wäre viel einfacher gewesen, aber der Mörder wollte ihn mit einer Kugel erledigen. Gunter war schon tot, bevor er umgefallen ist.« Liz nickte nachdenklich. »Niemand hat was gehört?« »Keiner sagt aus, was gehört zu haben, aber da sind dauernd Laster gekommen und weggefahren, und es gab jede Menge Geräusche.« 105
»Wie viele Leute waren da?« »Ein gutes Dutzend Fahrer haben in ihren Kabinen geschlafen. Das Café hat um Mitternacht zugemacht und um sechs wieder geöffnet.« Er schaltete den Laptop aus und lehnte sich zurück. »Wenn die Bilder von der Überwachungskamera kommen, werden wir mehr wissen, das dauert vielleicht noch eine Stunde. Wie wär’s jetzt mit dem Drink?« »Dem Drink, der vorhin noch ein Sandwich war?« »Genau dem.« Nach der Kälte des Festsaals war die Wärme im Trafalgar höchst angenehm. Die kleinere Bar war eichengetäfelt und mit Lord-Nelson-Porträts, Tauen, Flaschenschiffen und anderen Marinesouvenirs dekoriert. Über dem Tresen hing eine gerahmte, alte australische Flagge. Es roch nach Möbelpolitur und Zigarettenrauch. Eine Hand voll Gäste mittleren Alters redete und verzehrte Ploughman’s Lunch, Salate und Bier. Goss bestellte ein Bitter, eine Tasse Kaffee für Liz und einen Teller getoastete Sandwiches. Liz erwartete nicht viel von dem Kaffee und wollte eigentlich auch kein Sandwich, aber sie hatte das Gefühl, sie solle etwas essen. Sie wusste, dass sie dazu neigte, es zu vergessen, wenn sie mitten in der Arbeit steckte. Zu ihrer Appetitlosigkeit trug außerdem Marks Anruf bei, ein stummes, aber unaufhörliches Pochen im Hintergrund. Falls er es ernst meinte, musste sie handeln. Sie würde die Geschichte abbrechen und ein für alle Mal einen Schlussstrich ziehen müssen. Später, dachte sie. Ich kümmere mich später darum. »Also, diese 7.62er Munition«, begann sie, als sie sich mit ihren Getränken an einen ruhigen Tisch in der Ecke gesetzt hatten. Goss nickte. »Deswegen bin ich hier. Es sieht so aus, als hätte jemand ein Armeegewehr benutzt, eine Kalaschnikow oder eine SLR.« 106
»Hatten Sie schon mal so eine Waffe im Zusammenhang mit organisiertem Verbrechen?« »Nicht bei uns. Viel zu sperrig. Der englische Durchschnittsgangster trägt lieber eine Pistole – am liebsten eine Statuswaffe wie eine Beretta mit neun Millimetern oder eine Glock. Profikiller bevorzugen Trommelrevolver, 38er mit kurzem Lauf zum Beispiel, weil sie keine Patronenhülsen für die Spurensuche verstreuen.« Liz rührte in ihrem Kaffee. »Wie sehen Sie denn das Ganze? Inoffiziell?« Er zuckte die Schultern. »Da Gunter ein Fischer war, dachte ich als Erstes, er hätte was mit Drogen- oder Menschenschmuggel zu tun gehabt und wäre mit irgendjemandem aneinander geraten. Mein zweiter Gedanke, zu dem ich immer noch neige, war der, dass er eine fremde Operation gestört hat – vielleicht von einer osteuropäischen Bande – und zum Schweigen gebracht werden musste.« »Aber wenn es so war, warum ist es dann fünfzehn Kilometer von der Küste entfernt in Fakenham passiert? An einem belebten Ort wie der Raststätte?« »Tja, das ist die Frage.« Er musterte sie aufmerksam. »Bedeutet Ihre Anwesenheit, dass Ihre Leute meinen, es gibt eine Verbindung zum Terrorismus?« »Wir wissen nicht mehr als Ihre Leute«, antwortete Liz. Formal stimmte das auch, da sie Bob Morrison von Zanders Anruf berichtet hatte. Goss schaute sie an, aber jeder Zweifel, den er vielleicht äußern wollte, wurde von der Ankunft der Sandwiches zum Schweigen gebracht. »Hat der Mord viel Wirbel gemacht?«, fragte sie, sobald die Bedienung weg war. »Ja. Als die Leiche gefunden wurde, gab es ein Riesenchaos. Wir mussten alles räumen und die LKW-Fahrer hinter die 107
Absperrung schicken. Sie können sich vorstellen, wie toll die das fanden.« »Wer hat Gunter eigentlich entdeckt?« »Ein Fahrer namens Dennis Atkins. Er fuhr gestern Abend aus Glasgow los und hat gegen Mitternacht beim Fairmile geparkt. Er sollte um halb neun Präzisionsdrehbänke in ein Industriegebiet bei Norwich liefern. Das Café hatte gerade aufgemacht, und er wollte sich vor dem Frühstück waschen.« »Kommt das alles hin?« Goss nickte. »Sieht ziemlich koscher aus. Atkins war völlig durch den Wind. Die Kripo hat in Glasgow und Norwich nachgefragt und seine Identität bestätigt.« »Viel Medieninteresse?« »Die Lokalzeitung war nach einer Stunde da, die großen Zeitungen bald danach.« »Was hat der Detective Superintendent ihnen gesagt?« Goss zuckte die Achseln. »Männliche Person erschossen aufgefunden. Erklärung folgt, sobald wir mehr wissen.« »Haben sie Gunters Namen genannt?« »Inzwischen ja. Sie haben mehrere Stunden versucht, seine einzige Angehörige zu finden, eine Schwester in King’s Lynn. Anscheinend ist sie gestern Abend zur Arbeit gegangen und gerade erst wiedergekommen.« »Was macht sie?« »Kayleigh? Nicht viel. Zieht sich ein paar Abende in der Woche vor dem Publikum im PJ-Club aus.« »Hat sie das gestern Nacht auch getan?« »Ja.« »Und der Tote – wissen wir, was er letzte Nacht gemacht hat? Außer, dass er erschossen wurde?« »Noch nicht.« 108
»Und keiner von den Wagen auf dem Parkplatz war seiner?« »Nein, die Polizei hat festgestellt, dass sie alle anderen Leuten gehören.« »Dann war er fünfzehn Kilometer von zu Hause ohne Auto in einer Raststätte.« »So sieht’s aus.« »War Gunter der Polizei bekannt? Ist er schon mal aktenkundig geworden?« »Nicht richtig. Vor ein paar Jahren war er nach einem Saufgelage in Dersthorpe an einer Schlägerei beteiligt, und es hieß, er hätte irgendwann auch ein Auto angezündet, aber es gab keine Anzeige. Der Wagen gehörte einem Kleindealer.« »War Gunter ein Dealer? Oder hat er Drogen genommen?« »Sagen wir mal so: Wenn er’s war, dann war er nicht wichtig genug, um uns aufzufallen.« »Aber eine Art Dorfganove?« Goss zuckte die Schultern. »Laut Kripo nicht mal das. Nur ein bisschen großmäulig und streitsüchtig, wenn er getrunken hatte.« »Ich nehme an, er war Single«, sagte Liz trocken. »Ja, aber nicht schwul, was mir als Erstes einfiel, als er in der Toilette gefunden wurde.« »Ist das Café denn ein Treffpunkt für Schwule?« »Es ist ein Treffpunkt für alles Mögliche. Diese Fernfahrer werden ganz schön spitz.« »Könnte Gunter da gewesen sein, um eine Frau aufzugabeln?« »Denkbar, und man konnte hier auch ein paar Nutten treffen, aber trotzdem bleibt die Frage: Wie kam er ohne Auto hierher? Wer hat ihn hergebracht? Wenn wir das wissen, bringt uns das wahrscheinlich weiter.« Liz nickte. »Was wissen wir über den Schuss?« 109
»Offen gesagt, nicht viel. Niemand hat was gehört, niemand hat was gesehen. Wenn die Spurensicherung nicht noch was findet, ist die Videoüberwachung unsere größte Hoffnung.« »Sind die Kameras gestern Nacht gelaufen?« »Der Besitzer vom Café sagt ja. Es ist anscheinend eine neue Anlage. Letztes Jahr wurden dauernd LKWs ausgeräumt, und die Fahrer haben gedroht, die Rast-Stätte zu boykottieren, wenn er keine anständige Sicherheitstechnik installiert.« »Dann hoffen wir das Beste.« »Ja, hoffen wir das Beste«, stimmte Goss zu. Sie redeten weiter, kreisten aber bald um bereits besprochene Punkte. Liz blieb dabei so neutral wie möglich. Der Special Branch gehörte zur Polizei, und von dort waren schon öfter Informationen zu Journalisten durchgedrungen – meist im Austausch gegen Bargeld. Goss war offenbar die bessere Sorte des Special-Branch-Beamten, so wie Bob Morrison zweifellos die schlechtere war, aber Liz war erleichtert, als der Detective Superintendent anrief und Bescheid gab, die Videobänder seien aus Norwich zurück. »Das Material ist anscheinend ziemlich schwach«, sagte Goss und steckte sein Handy wieder an den Gürtel. »Es muss bearbeitet werden, damit wir was damit anfangen können.« Liz blickte auf den Rest ihres Lunches. Die Hälfte der Sandwiches war übrig und das Pickle unberührt. Auch mit dem Kaffee hatte sie Recht gehabt. »Ich werde mal zahlen«, sagte sie. »Heute übernimmt mein Verein die Rechnung.« »Sehr großzügig von ihm«, gab Goss trocken zurück. »Sie kennen uns ja. Jeden Tag eine gute Tat.« Als Liz aufstand, klingelte das Telefon hinter dem Tresen. Die Bedienung hob ab und öffnete ein paar Sekunden später den Mund zu einem lautlosen Keuchen. Sie hat gerade von dem 110
Mord erfahren, riet Liz. Oder nein, sie wusste schon davon, hat aber erst jetzt gehört, dass Gunter das Opfer ist. Sie musste ihn gekannt haben, doch in einem Ort von dieser Größe kannte wohl jeder jeden. Direkt vor ihr trat ein junger Mann in einer Lederjacke und einem lila Schlips an den Tresen. Ein Journalist, dachte Liz, bestimmt von einem Boulevardblatt. Die besondere Mischung aus großstädtisch und schäbig war unverkennbar. »Noch ein Pint, Schätzchen«, sagte er, stellte sein Glas auf den Tresen und legte einen Zehn-Pfund-Schein daneben. Die Bedienung nickte andeutungsweise und wandte sich ab. Kurz darauf gab sie ihm das Bier, immer noch sichtbar verwirrt, und tippte den Preis in die Kasse. Als sie herausgab, sah Liz, wie die Augen des Mannes sich eine Sekunde lang weiteten. »Entschuldigung, ich glaube, Sie haben sich geirrt«, sagte sie zu der Bedienung. »Er hat mit einem Zehner bezahlt. Sie haben ihm auf zwanzig herausgegeben.« Die Bedienung erstarrte, während die Kasse vor ihr noch offen war. Sie war ein molliges Mädchen von etwa achtzehn Jahren mit nervösen dunklen Augen. »Was zum Teufel geht Sie das an?«, fragte der Mann in der Lederjacke und wandte sich an Liz. »Geben Sie ihr eine Chance, ihre Kasse stimmt sonst nicht.« Der Mann sah auf sein Bier. »Das ist mir so was von egal.« »Gibt’s ein Problem?«, fragte Steve Goss, der plötzlich neben Liz stand. »Nein. Der Mann hat aus Versehen zu viel rausgekriegt, aber er gibt es zurück.« »Ach so, verstehe«, sagte Goss ruhig. Der Mann in der Lederjacke musterte den kräftigen Beamten, dann schüttelte er den Kopf und lächelte, als habe er es mit
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Durchgedrehten zu tun, knallte einen Zehn-Pfund-Schein auf den Tresen und ging mit seinem Glas weg. »Danke«, sagte die Bedienung, sobald er außer Hörweite war. »Wenn die Kasse nicht stimmt, wird’s mir vom Lohn abgezogen.« »Ist der von hier?«, fragte Liz. »Nein, hab ihn noch nie gesehen. Als er vorhin reinkam, fragte er wegen dem …« »Mord?« »Ja. Beim Fairmile Café. Ob ich den Toten kenne und so.« »Und? Kannten Sie ihn?« Sie zuckte die Achseln. »Vom Sehen. Er war ein paar Mal da.« Sie blätterte ihren Block um und gab Liz die Rechnung. »Genau sieben Pfund.« »Danke. Kann ich eine Quittung haben?« Erneut schaute die Bedienung nervös. »Ist nicht so wichtig«, sagte Liz. Als sie wieder draußen waren, trieb der Wind den Regen unregelmäßig vor sich her. »Saubere Arbeit.« Goss grinste und zwängte die Hände in die Jackentaschen. »Was hätten Sie gemacht, wenn er das Geld nicht zurückgegeben hätte?« »Ich hätte den Kerl Ihnen überlassen. Wir sammeln nur Informationen. Für Gewalt sind wir nicht zuständig.« »Na, vielen Dank!« Sie gingen zurück zum Festsaal, wo Don Whitten, der für den Fall zuständige Detective Superintendent, gerade von der Raststätte eingetroffen war. Er war ein massiger Mann mit Schnurrbart, der Liz kräftig die Hand schüttelte und sich für die spartanischen Arbeitsbedingungen entschuldigte. 112
»Lässt sich hier irgendeine Heizung organisieren?«, fragte er und schaute ärgerlich die kahlen Wände an. »Hier friert man sich ja alles ab.« Die Polizistin, die vor dem Videorekorder kniete, stand mühsam auf. Der Detective Superintendent wandte sich ihr zu. »Rufen Sie im Revier an und lassen Sie einen Heizlüfter herbringen. Außerdem einen Wasserkocher, Teebeutel, Kekse, Aschenbecher und so weiter. Vielleicht kann man es hier etwas gemütlicher machen.« Die Beamtin nickte und drückte eine Taste auf ihrem Handy. Ein Polizist in Zivil hielt eine Videokassette hoch. »Norwich hat uns eine Kopie des Überwachungsvideos vom Fairmile Café gemacht, aber die Qualität ist unter aller Sau«, sagte er. »Die Kamera war nicht richtig eingestellt, und auf dem Band sind jede Menge Geisterbilder und Geflacker.« »So was hab ich befürchtet«, flüsterte Goss Liz zu. Er deutete auf einen Stuhl und nahm sich einen anderen. »Können wir es uns mal anschauen?«, fragte Whitten und setzte sich ebenfalls. Er nahm eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche, erinnerte sich, dass keine Aschenbecher da waren, und steckte sie ärgerlich wieder ein. Der Beamte in Zivil nickte. Wie er gesagt hatte, war auf dem Video kaum etwas zu erkennen. Nur die Zeitangabe war klar und deutlich. »Wir haben gerade mal zwei Bewegungen zwischen vier und fünf Uhr früh«, sagte er. »Nummer eins ist die hier.« Zwei zitternde weiße Lichter erschienen im Dunkel, als ein Fahrzeug auf den Parkplatz fuhr, langsam rückwärts rangierte und das Bild verließ. Dann erloschen die Scheinwerfer, und es wurde wieder schwarz auf dem Bildschirm. »Nach dem Abstand zwischen Vorder- und Rücklichtern nehmen wir an, es ist ein Schwerlaster, wahrscheinlich ein ziemlich langer, der wohl auch nichts mit unserem Fall zu tun 113
hat. Wie Sie sehen, ist es vier Uhr fünf. Um vier Uhr dreiundzwanzig wird es etwas interessanter. Gucken Sie mal.« Ein zweites Fahrzeug fuhr auf den Parkplatz, parkte jedoch nicht rückwärts ein. Das Fahrzeug, wahrscheinlich ein LKW, aber deutlich kürzer als der vorige, wendete in drei Zügen, hielt mitten auf dem Parkplatz und machte die Scheinwerfer aus. Wie zuvor wurde es dunkel auf dem Bildschirm. »Jetzt warten wir«, sagte der Beamte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Nach etwa drei Minuten schaltete ein deutlich kleineres Fahrzeug – eine Limousine, vermutete Liz – plötzlich die Scheinwerfer ein, setzte rasch rückwärts von seinem Platz am linken Rand des Parkplatzes zurück, fuhr um den geparkten LKW oder Lieferwagen herum und verließ den Ort. Mindestens weitere fünf Minuten vergingen, dann folgte ihm der LKW langsam. »Das ist alles bis fünf. Da der Gerichtsmediziner uns also vier Uhr dreißig plus minus fünfzehn Minuten als Todeszeitpunkt genannt hat …« »Können wir’s noch mal sehen?«, sagte Whitten. »Spulen Sie bitte da vor, wo nichts passiert.« Sie schauten es noch einmal an. »Also, einen Oscar für die beste Kameraführung gewinnt es jedenfalls nicht«, sagte Whitten und rieb sich die Augen. »Was halten Sie davon, Steve?« Goss runzelte die Stirn. »Ich würde sagen, das erste Fahrzeug ist bloß ein gewöhnlicher Laster. Ich würde gern mehr von dem zweiten sehen. Der Fahrer hat nicht eingeparkt, also wollte er wohl ziemlich schnell wieder wegfahren …« Unauffällig holte Liz ihren Laptop aus der Tasche. Sie hatte ein paar Fragen an die Ermittlungsabteilung vom MI 5 geschickt, und mit ein bisschen Glück waren die Antworten
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schon da. Als sie sich einloggte, bemerkte sie zwei Mails mit Zahlen statt Absendernamen. Liz identifizierte sie als Codes der Ermittlungsabteilung. Ihre Entschlüsselung dauerte ein paar Minuten, aber sie waren kurz und sachdienlich. Es gab nur einen Faraj Mansur in Großbritannien, nämlich einen fünfundsechzigjährigen Kioskbesitzer, der im Ruhestand in Southampton wohnte. Der pakistanische Geheimdienst hatte zudem bestätigt, dass Faraj Mansur nicht mehr in der Sher-Babar-Autowerkstatt außerhalb von Peshawar an der Straße nach Kabul arbeitete. Er war vor sechs Wochen verschwunden, ohne eine neue Adresse zu hinterlassen. Sein gegenwärtiger Aufenthaltsort war unbekannt. Liz schaltete den Laptop aus und packte ihn zurück in die Tasche, dann fixierte sie ein handgesetztes Plakat an der Wand, das für eine Vorstellung der Operette HMS Pinafore mit den Brancaster Players warb. Wie Whitten gesagt hatte, war der Saal bitterkalt und von dem gleichen strengen Bohnerwachsgeruch erfüllt wie alle Gebäude dieser Art. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ ihre Gedanken durch die unzusammenhängende Masse von Fakten wandern, die der Fall bis jetzt aufgeworfen hatte. Es dauerte nicht lange, bis sie über die 7.62er Hartkernmunition nachdachte.
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17 Faraj Mansur erwachte mit dem Gefühl, noch auf See zu sein. Er hörte noch das Krachen der Wellen, spürte den Sog, wenn die Susanne Hanke den Wellenberg erklomm und auf der anderen Seite ins Tal krachte. Dann entfernten sich der Lärm und das Meer, zogen sich hinter ein Fenster zurück – ein kleines Fenster mit Holzrahmen, der einen tiefgrauen Himmel umgab –, und ihm wurde klar, dass die Wellen ein Stück entfernt waren, an eine steinige Küste schlugen und er bekleidet und bewegungslos im Bett lag. Mit dieser Erkenntnis kamen auch das Wissen, wo er war, und die surreale Erinnerung an die Landung am Strand und den Angriff in der Toilette der Raststätte. Er durchlebte den Angriff von neuem, ließ ihn in seinem Inneren wie einen Film Bild für Bild ablaufen und kam zu dem Schluss, der Fehler, dass es so gekommen sei, habe bei ihm selbst gelegen. Er hatte die Rolle des unterwürfigen Flüchtlings etwas zu überzeugend gespielt und nicht an die geldgierige Dummheit des Engländers gedacht. Von dem Augenblick an, als er ihm die Annäherung erlaubt hatte, waren die Folgen unausweichlich gewesen. Es machte Faraj nicht viel aus, einen Mann getötet zu haben, und er hatte Gunters zerschmetterten Schädel mit kalter Nüchternheit betrachtet, bevor er entschied, dass ein zweiter Schuss unnötig war und er sich auf den Weg machen musste. Aber der Mord würde die Aufmerksamkeit auf die Region ziehen, und das war schlecht. Die britische Polizei war nicht dumm, sie würde erkennen, dass er nichts Alltägliches war, und die notwendigen Schritte ergreifen. Faraj klopfte an seine Hosentasche und überzeugte sich, dass er die verschossene Patrone vom Boden aufgesammelt hatte. Er hielt sie kurz an die Nase und roch den Rest Schießpulver. Er 116
hatte seine Waffe sorgfältig ausgesucht. Wer getroffen war, war auch tot, egal ob mit oder ohne kugelsichere Weste. Im entscheidenden Augenblick werde ich die wenigen Sekunden, die mir das einbringt, womöglich brauchen, überlegte er verbissen. Er setzte sich auf die Bettkante, die Füße auf dem Seegrasbodenbelag. Er hatte der Frau nichts von dem Mord an dem Bootsmann erzählt – sie musste ruhig bleiben, und das Wissen, dass die Polizei bald den Mörder suchen würde, hätte sie aufgeregt. Was ihn selbst anging, so fühlte er sich unbeteiligt wie ein außenstehender Beobachter seines eigenen Handelns. Wie unendlich seltsam sich an dieser kalten und einsamen Küste wiederzufinden, in einem Land, das er nie zu betreten gemeint hatte, in dem er aber ziemlich sicher sterben würde, darüber machte er sich keine Illusionen. Wenn es so geschehen sollte, würde es so geschehen. Der schwarze Rucksack hing am Bettgestell, wo er ihn letzte Nacht gelassen hatte. Die billige Windjacke, die er in Bremerhaven bekommen hatte, lag zusammengefaltet auf einem Stuhl neben dem Bett. Auf dem Bett ruhte die Pistole. Er konnte sich nur bruchstückhaft an die Fahrt vom Rastplatz zurück an die Küste erinnern. Er hatte versucht, wach zu bleiben, aber die Müdigkeit und die Nachwirkungen des Adrenalins, das während des Kampfes durch seinen Körper geschossen war, hatten seine Sinne betäubt. Außerdem war das Auto warm und weich gefedert gewesen. Die Frau hatte er kaum wahrgenommen. Einer ihrer Ausbilder hatte sie ihm beschrieben. Sie sei in Takht-i-Suleiman nicht geschont worden und dabei nicht wie die meisten weichen Frauen aus der Stadt zusammengebrochen, sagte der Mann. Sie war intelligent, eine Voraussetzung für den Untergrundkampf, und sie hatte Mut. Faraj behielt sich sein Urteil jedoch noch vor. Jeder konnte in der großspurige Atmosphäre eines Mudschahedin117
Trainingslagers mutig sein, wo das Schlimmste, was man zu fürchten hatte, Blutergüsse, Blasen und der Hohn der Ausbilder war. Um die einfachen Dinge über Waffen und Nachrichtenaustausch zu verstehen, die dort gelehrt wurden, brauchte man nicht sehr schlau zu sein. Die wichtigen Fragen wurden erst während der Aktion beantwortet. Der Moment, in dem Kämpfer in ihre Seele schauen und fragen: Woran glaube ich wirklich? Kann ich nun, da ich den Tod an meine Seite gerufen habe und seinen kalten Atem auf meiner Wange spüre, das tun. was getan werden muss? Er sah sich um. Neben dem Bett stand ein Stuhl mit einem zusammengefalteten roten Bademantel. Am Fuß des Bettes lag ein Handtuch. Er nahm die Einladung an, die diese Dinge aussprachen, und zog seine schmutzigen Sachen aus. In dieser Situation wirkte der Bademantel übertrieben luxuriös. Als er ihn anhatte, kam er sich ein wenig lächerlich vor. Vorsichtig und mit der Waffe in der Hand stieß er die Tür zum Wohnzimmer des Bungalows auf und ging barfuß hinein. Die Frau stand mit dem Rücken zu ihm und füllte gerade den Wasserkessel an der Spüle. Sie trug einen dunkelblauen Sweater mit halb hochgeschobenen Ärmeln, eine schwere Taucheruhr, Jeans und geschnürte Wanderstiefel. Als sie sich umdrehte und ihn sah, zuckte sie zusammen, und Wasser spritzte aus der Öffnung des Kessels auf den Boden. Ihre andere Hand fuhr ans Herz. »Tut mir Leid, ich hab mich so …« Sie schüttelte entschuldigend den Kopf und fasste sich. »Salaam aleikum.« »Aleikum as salaam«, antwortete er ernst. Einen Moment musterten sie einander. Ihre Augen waren blassgrün, ihr Gesicht nicht hässlich, prägte sich aber nicht ein. Sie ist jemand, an dem man auf der Straße achtlos vorbeigeht, dachte er. »Willst du ins Bad?«, fragte sie. 118
Er nickte. Der Gestank des Laderaums der Susanne Hanke – Erbrochenes, Bilgenwasser und Schweiß – hing noch immer an ihm. Die Frau hatte es bestimmt letzte Nacht im Auto gemerkt. Sie trat vor ihm ins Bad, gab ihm einen Toilettenbeutel mit Reißverschluss und ging hinaus. Er legte die Pistole auf den Boden und drehte den Heißwasserhahn auf. Ein Donnern ertönte aus dem Boiler an der Wand, und ein dünner, bräunlicher Wasserstrahl ergoss sich in die Wanne. Er öffnete den Toilettenbeutel. Neben den üblichen Waschsachen enthielt er eine umfangreiche Erste-Hilfe-Ausrüstung mit sterilen Verbänden und Nadeln, einen kleinen ölgefüllten Kompass und eine Taucheruhr wie ihre. Faraj nickte zufrieden und begann sich zu rasieren. Es würde eine Weile dauern, bis die Wanne voll war. Als er wieder aus dem Bad kam, hatte sie gekocht. Auf dem Tisch standen Teller und zugedeckte Schüsseln, und es roch nach gewürztem Huhn. In dem winzigen Schlafzimmer zog er die Sachen an, die sie am Vortag in King’s Lynn für ihn gekauft hatte. Sie waren von guter Qualität: ein blassblaues Twillhemd, ein marineblauer Sweater, Chinos und Wanderstiefel aus Wildleder. Zögernd kehrte er ins Wohnzimmer zurück, wo die Frau den Horizont mit einem Fernglas absuchte. Als sie ihn hörte, drehte sie sich um, ließ das Fernglas sinken und musterte ihn. »Du sprichst Englisch, nicht?« Faraj nickte und setzte sich an den Tisch. »Ich war auf einer englischsprachigen Schule in Pakistan.« Sie schaute ihn überrascht an. »Wir haben beide einen weiten Weg hinter uns«, sagte er. »Wichtig ist nicht, wo wir herkommen, sondern wo wir jetzt sind.« Sie nickte und griff dann hastig nach einem Vorlegelöffel. »Tut mir Leid«, sagte sie, »ich hoffe, es schmeckt. Es ist …« 119
»Es sieht sehr gut aus. Wir wollen essen.« Sie füllte seinen Teller. »Sind die Sachen bequem? Ich hab sie in der Größe gekauft, die man mir geschickt hat.« »Sie passen gut, aber sind sie nicht zu … vornehm? Die Leute werden gucken.« »Sollen sie doch. Sie werden einen angesehenen Rechtsanwalt oder Arzt sehen, der über Weihnachten Urlaub macht. Jemand, dessen Sachen zeigen, dass er zu ihnen gehört.« Er nickte langsam. »Das berühmte englische Kastensystem.« Sie zuckte die Achseln. »Es wird erklären, warum du hier bist. Hier kommt die Mittelschicht her, um Golf zu spielen, zu segeln und Gin zu trinken. England ist voller wohlhabender junger Asiaten.« »Und, sehe ich wie so jemand aus?« »Ja, sobald ich dir die Haare richtig geschnitten habe.« Einen Augenblick zog er die Augenbrauen hoch, sah dann ihre ernsthafte Miene und nickte zustimmend. Um solche Entscheidungen zu treffen, war sie hier. Um ihn unsichtbar zu machen. Er nahm Messer und Gabel und begann zu essen. Der Reis war zu lange gekocht und pappig, aber das Huhn war gut. Er nahm einen Schluck Wasser, dann fasste er in die Hosentasche, nahm die große Patronenhülse heraus und stellte sie aufrecht auf den Tisch. Die Frau musterte sie, sagte jedoch nichts. Faraj aß stumm und kaute mit der Gründlichkeit eines Mannes, der gewöhnt ist, mit wenig auszukommen. Als er fertig war, griff er nach der Streichholzschachtel auf dem Tisch, teilte mit dem Daumennagel ein Streichholz der Länge nach und benutzte es als Zahnstocher. Schließlich schaute er zu ihr auf und sagte: »Ich habe gestern Nacht einen Mann getötet.«
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18 »Was wissen wir über Peregrine und Anne Lakeby?«, fragte Liz. »Die klingen irgendwie exotisch.« »Sind sie auf ihre Art wohl auch«, antwortete Whitten. »Ich hab die beiden ein paar Mal getroffen, und sie ist viel netter als er. Sie ist sogar ganz amüsant. Er ist eher der etwas arrogante Adlige.« »Irgendeine Akte?«, fragte Liz hoffnungsvoll. Goss lächelte. »Das wär zu schön, um wahr zu sein.« »Was ist noch mal ihre Verbindung zu Gunter?« »Er durfte seine Fischerboote auf ihrem Küstenstück liegen lassen«, sagte Whitten. »Das ist alles, was ich weiß.« Die drei standen unter einem gewölbten Portal vor Headland Hall, und jetzt wirkte der Bau auf Liz noch mehr wie ein Gefängnis als am Vormittag. Die Lage vor dem Hintergrund des Watts und dem Glitzern des Meeres sprach von dickens’scher Mitleidlosigkeit, von Vermögen, das auf Kosten anderer aufgehäuft worden war. »Das Haus kaufe ich mir jedenfalls nicht, wenn ich den Jackpot gewinne«, murmelte Goss und betrachtete die schwere Haustür aus Eichenholz. »Sie, Chef?« »Nein. Ich tausche meine Frau gegen Foxy Deacon ein und kaufe mir ein Häuschen auf den Seychellen.« »Wer ist Foxy Deacon?«, fragte Goss. »Die Blonde von Mink Parfait.« »Die lösen sich auf«, warf Liz ein. »Ich hab’s heute im Autoradio gehört.«
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»Na, sehen Sie.« Whitten warf seinen Zigarettenstummel in die feuchten Büsche und griff nach dem Klingelknopf. In der Ferne ertönte ein Klingeln. Eine große Frau mit magerem Gesicht in einem Tweedrock und einer Daunenweste, die von Dornen in Mitleidenschaft gezogen war, öffnete die Tür. Als sie die drei sah, lächelte sie und enthüllte dabei ein Pferdegebiss. »Superintendent Whitten, nicht wahr?« »Detective Superintendent, Madam, jawohl. Das ist Detective Sergeant Goss und das hier eine Kollegin aus London.« Nun lächelte sie den beiden anderen zu. Hinter den guten Oberschichtmanieren war eine wache Besorgnis zu spüren. Sie weiß, dass ich keine Polizistin bin, dachte Liz. Und sie weiß, dass unser Kommen Ärger bedeutet. »Sie sind wegen dieser schrecklichen Sache mit Ray Gunter hier.« »Leider ja«, sagte Whitten. »Wir sprechen mit allen, die ihn kannten und vielleicht wussten, wo er unterwegs war.« »Natürlich. Treten Sie doch bitte ein.« Sie folgten ihr einen langen Korridor entlang, der mit gemusterten Fliesen ausgelegt war. Die Wände waren gesäumt von Fuchstrophäen, Jagddrucken und wenig beeindruckenden Familienporträts. Einige hingen fast ganz im Dunkeln, andere waren schwach von hohen Spitzbogenfenstern beleuchtet. Peregrine Lakeby las vor einem Kaminfeuer in einem hohen Zimmer mit Bücherregalen die Financial Times. Liz fiel auf, dass viele der Bücher gebundene Jahrgänge von Jagdzeitschriften waren – Horse and Hound, The Field, The Shooting Times – und dass ein ganzes Regal mit Wisdens Cricket-Jahrbüchern gefüllt war. Als sie den Raum betraten und von seiner Frau einen Platz angeboten bekamen, stand er auf,
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dann setzte er sich wieder mit höflicher Geduld. »Ich nehme an, Sie sind wegen des armen Mr Gunter hier?« Für sein Alter ist er ein gut aussehender Mann, dachte Liz, aber leider ist ihm das allzu sehr bewusst. Der Blick seiner graugrünen Augen hatte etwas leicht Eingebildetes. Wahrscheinlich hielt er sich für einen Schwerenöter. Whitten blätterte in einem Notizbuch und beantwortete die Frage. »Ja, Sir. Wir müssen ein paar Routinebefragungen durchführen. Wie ich Mrs Lakeby schon sagte, sprechen wir mit allen, die Gunter kannten.« Anne Lakeby runzelte die Stirn. »Gekannt haben wir ihn eigentlich nicht besonders gut. Nicht im strengen Sinne. Ich meine, er kam und ging, und man hat ihn gesehen, aber …« Ihr Ehemann stand auf, trat zum Kamin und stocherte mit einem antiken Bajonett im Feuer. »Anne, mach uns doch bitte eine schöne Tasse Kaffee. Bestimmt …« Er wandte sich zu Whitten und Goss. »Oder möchten Sie lieber Tee?« »Ist schon gut, Mr Lakeby«, sagte Whitten. »Für mich nicht.« »Für mich auch nicht«, schloss Goss sich an. »Miss …« »Nein, vielen Dank.« In Wahrheit hätte Liz sehr gern einen starken Kaffee getrunken, aber sie hatte das Gefühl, sie sollte sich solidarisch verhalten. Ihr war aufgefallen, dass Lakeby die beiden Männer nicht mit Namen anredete – eine feine, aber unmissverständliche Art, ihnen ihren Rang zu zeigen. Oder das, was er dafür hielt. »Dann nur für mich«, sagte Peregrine leichthin. »Falls wir noch Kekse haben, leg doch bitte ein paar dazu.« Anne Lakebys Lächeln wirkte einen Moment angespannt, dann verließ sie den Raum. Als sie weg war, lehnte Peregrine sich in seinem Sessel zurück. »Also, was ist denn eigentlich passiert? Ich hab gehört, 123
der arme Teufel ist erschossen worden, ausgerechnet. Ist das wahr?« »Ja, so ist es, Sir«, antwortete Whitten. »Haben Sie eine Ahnung, warum?« »Das versuchen wir gerade herauszukriegen. Können Sie mir sagen, wie gut Sie Mr Gunter kannten?« »Im Grunde hat er wie sein Vater und sein Großvater seine Boote auf unserem Strand liegen lassen. Hat uns eine symbolische Summe gezahlt und uns die erste Wahl von seinen Fischen angeboten – nicht dass er in den letzten Jahren noch viel gefangen hätte.« »Waren Sie mit dieser Absprache zufrieden?« »Ich sah keinen Grund, sie zu beenden. Ben Gunter, der Vater von Ray, war ein sehr feiner alter Knabe.« »Und Ray war nicht … so fein?« »Ray war ein ziemlich roher Diamant. Es gab ein paar Vorfälle wegen Alkohol, wie Sie sicher wissen. Wir hatten aber nie Ärger mit ihm, und ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand ihn umbringen sollte.« »Wissen Sie, wann Gunter zuletzt zum Fischen rausfuhr? Oder aus irgendeinem anderen Grund?« Lakebys träges Lächeln blieb unverändert, aber der graugrüne Blick wurde schärfer. »Was meinen Sie damit? Was sollte es für einen anderen Grund geben?« Whitten lächelte wohlwollend. »Keine Ahnung, Sir. Ich kenne mich mit Booten nicht aus.« »Nein, mir ist nicht bekannt, wann oder warum er zuletzt rausgefahren ist. Er hatte einen eigenen Torschlüssel und kam und ging, wie es ihm passte.« »Wer könnte es wissen?«
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»Wahrscheinlich der Fischhändler in Brancaster. Er heißt … da müssen Sie Anne fragen.« Whitten nickte und machte sich eine Notiz. »Um welche Zeit fuhr er gewöhnlich zum Fischen raus?« Peregrine blies die Backen auf und atmete nachdenklich aus. Du lügst, dachte Liz. Du hast schon die ganze Zeit gelogen. Du verbirgst etwas. Warum? »Kam auf die Flut an, aber meist bei Tagesanbruch. Dann brachte er den Fisch vormittags nach Brancaster.« »Haben Sie Fisch bei ihm gekauft?« »Ab und zu. Er hatte eine Lizenz für ein halbes Dutzend Hummerfangkörbe, und wenn wir Gäste hatten, haben wir ihm ein paar Hummer abgekauft. Oder Barsch, wenn er groß genug war, doch das war in den letzten Jahren selten.« »Also war er bloß ein Fischer? Hat er nur so sein Geld verdient?« »Soweit ich weiß, ja. Er hat ein Haus neben der Kirche geerbt, und ich glaube, er hat mal eine Hypothek aufgenommen, aber auf jeden Fall hatte er keinen anderen Job.« »Fällt Ihnen ein Grund ein, warum ihn jemand erschießen sollte?« Lakeby legte den Arm über die Rückenlehne. »Wollen Sie wissen, was ich glaube? Ich halte das Ganze für ein schreckliches Missverständnis. Ray Gunter war … na ja, er war kein großes Licht. Wahrscheinlich hatte er einen zu viel im Trafalgar gehoben oder in diesem widerlichen Laden in Dersthorpe und fing dann mit dem falschen Mann Streit an.« »Haben Sie eine Ahnung, was er nach Mitternacht im Fairmile Café wollte?« »Nicht die geringste. Ich hab den Bau immer für einen Schandfleck gehalten. Außerdem wissen Sie wohl, dass der Laden den Ruf hat, ein Schwulentreffpunkt zu sein.« 125
»War Gunter vielleicht deshalb da? Weil er einen Mann aufgabeln wollte?« Lakeby lachte kalt. »Möglich wär’s. Ich gebe zu, ich hab ihn nie in dem Licht betrachtet. Er war kein Adonis, wie Sie sicher gesehen haben Anne, hättest du Ray Gunter für einen Schwulen gehalten?« Mit leisem Klappern stellte seine Frau ein Tablett mit orientalischem Muster auf ein Tischchen vor dem Kamin. »Nein, eigentlich nicht – vor allem, weil er sich mit Cherisse Hogan getroffen hat.« »Wer um alles in der Welt ist Cherisse Hogan?« »Elsie Hogans Tochter. Du kennst doch Elsie. Unsere Putzfrau. Sie ist vor einer halben Stunde gegangen.« »Ich wusste nicht, dass sie Hogan heißt oder dass sie verheiratet ist.« »Sie ist nicht verheiratet. Sie hat Cherisse gekriegt, als sie noch zur Schule ging, deshalb bekam sie die Sozialwohnung in Dersthorpe.« »War das was Regelmäßiges … diese Treffen?«, fragte Whitten. »Nicht so regelmäßig, wie Ray Gunter wollte«, antwortete Anne. »Cherisse hat mehr als einen Bewunderer und war freigiebig mit ihrer Gunst, wie man früher so. sagte.« »Wo kann ich die junge Dame denn finden?« »An den meisten Tagen hinter dem Tresen vom Trafalgar.« Liz warf Goss einen verstohlenen Blick zu, aber der SpecialBranch-Mann zeigte keine Regung. Peregrine Lakeby beugte sich jedoch überrascht vor. »Das fette Mädchen?«, fragte er. Anne runzelte die Stirn. »Peregrine! Das ist nicht sehr galant.« »Wie lange waren sie und Gunter schon zusammen?«, unterbrach sie Whitten. 126
»Es war nicht die ungestörte Romanze, die er gern gehabt hätte«, sagte Anne. »Elsie meint, Cherisse hatte es auf größere Beute abgesehen.« »Und zwar?«, fragte Goss. »Den Wirt. Mr Badger.« Peregrine starrte sie an. »Clive Badger? Er ist der Schatzmeister vom Golfclub. Seine Kinder studieren, und er ist herzkrank.« »Mag schon sein, aber Elsie sagt, es wären zärtliche Blicke hinter dem Tresen ausgetauscht worden.« »Davon hast du mir gar nichts erzählt.« »Du hast ja auch nicht gefragt«, gab Anne lächelnd zurück. »Hier ist Gomorrha-on-Sea, wenn man sich ein bisschen umhört. Viel besser als Fernsehen.« Peregrine trank mit einer abschließenden Geste seinen Kaffee aus. »Na, ich kann nur sagen, hoffentlich hat Badger eine Lebensversicherung.« Er stellte die Tasse aufs Tablett, streckte sich und schaute bedeutungsvoll auf die Uhr. »Gibt es noch was? Wenn nicht, müsste ich noch … etwas erledigen.« »Das war alles«, sagte Whitten und blieb ruhig sitzen. »Vielen Dank für Ihre Zeit.« Er wandte sich an Anne. »Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen, bevor wir gehen?« Anne Lakebys Lächelte entblößte erneut ihr starkes Gebiss. »Sicher. Geh nur, Perry.« Lakeby zögerte, stand auf und trottete mit der schmallippigen Miene eines zu Unrecht vor die Tür Geschickten hinaus. Als seine Schritte auf dem Fliesenboden des Korridors erschallten, zog Anne Lakeby eine lange, weiße Gänsefeder aus ihrer Daunenweste und drehte sie zwischen den Fingern. »Um ganz offen mit Ihnen zu sein, ich konnte Ray Gunter nicht ausstehen«, sagte sie. »Er erschien aus dem Nebel wie ein Gespenst, das nach altem Fisch riecht, und verschwand wieder 127
ohne ein Wort. Erst letzte Woche habe ich zu Perry gesagt, ich möchte ihn nicht mehr hier haben, aber …« »Aber?« »Perry hatte irgendeine unerklärliche Sympathie für ihn. Wahrscheinlich zum Teil Loyalität zum alten Ben Gunter, obwohl der schon vor Jahren starb, und teilweise … sagen wir mal so: Wenn es ein Gerichtsverfahren gäbe und wir verlieren würden …« »Wäre es sehr viel schlimmer?« »Genau. In jeder Hinsicht. Doch davon und von den rechtlichen Dingen abgesehen, führte Ray Gunter bestimmt irgendwas im Schilde.« »Was denn?«, fragte Whitten. »Ich weiß es nicht. Ich habe nachts Geräusche gehört. Lastwagen, die an der Mauer entlangfuhren. Außerdem Geflüster.« »Das ist doch zu erwarten, wenn er seinen Fisch in die Stadt bringen musste.« »Um drei Uhr nachts? Vielleicht bin ich ja nur ein bisschen schrullig, und ich hätte sicher nichts gesagt, wenn Ray noch leben würde, aber …« Sie schüttelte den Kopf und verstummte. »Hat ihr Gatte diese Geräusche auch gehört?« »Nicht ein einziges Mal.« Sie zuckte fröhlich die Achseln. »Dadurch klinge ich natürlich noch seniler und reif für die Klapsmühle.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Whitten trocken. »Dürften wir uns wohl mal den Garten und die Stelle, wo Gunters Boote liegen, ansehen?« »Natürlich. Es ist heute ein bisschen windig, aber wenn Ihnen das nichts ausmacht …« Die vier gingen durchs Haus zum Hinterausgang, einem Raum mit Steinboden, wo Garten- und Jagdsachen hingen und ein 128
Schuhregal mit Gummistiefeln stand. Liz sah, dass der Garten sehr viel schöner war, als die strenge viktorianische Vorderseite vermuten ließ. Eine lange, rechteckige Rasenfläche erstreckte sich zwischen Blumenbeeten und Bäumen bis zu einer Front hoher Gräser und wahrscheinlich irgendeiner Böschung zum Meer. Durch die Bäume sah sie auf beiden Seiten das Watt, das von der Flut jetzt halb bedeckt war. »Das Besondere an Headland Hall ist, dass es weit und breit die einzige halbwegs anständige Anlegestelle ist, wie Sie sicher wissen«, erklärte Anne Lakeby. »Deshalb haben hier auch immer Boote gelegen. Der Segelclub hat bei Flut einen schmalen Meeresarm, aber kaum für etwas Größeres oder Schwereres als Optimisten.« »Ist das ein Bootstyp?«, fragte Whitten. »Ja, diese kleinen Dinger, auf denen die Leute segeln lernen. Kommen Sie und sehen Sie sich den Strand an.« Ein paar Minuten später standen sie zwischen den hohen Gräsern und schauten hinab auf den Kiesstrand und das Meer. »Es ist sehr abgeschieden, nicht wahr?«, fragte Liz. »Die Bäume und die Mauern dienen eigentlich als Windschutz«, sagte Anne, »aber Sie haben Recht. Es ist sehr abgeschieden.« »Ist heute jemand am Strand gewesen?« »Nur ich, heute Vormittag.« »Ist Ihnen irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?« Anne runzelte die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste.« »Auf welchem Weg ist Gunter gekommen und gegangen?« Anne zeigte auf eine niedrige Tür in der rechten Gartenmauer. »Da durch. Da geht’s zu einer Straße, die am Haus entlangführt. Er hatte einen Schlüssel.« Whitten nickte. »Wenn es möglich ist, würde ich einige meiner Leute mal kurz da nachschauen lassen.« 129
Anne nickte. »Mr Whitten, glauben Sie, Ray Gunter hatte mit irgendwas Illegalem zu hin? Drogen oder so etwas?« »Das können wir noch nicht sagen«, antwortete Whitten. »Ausgeschlossen ist es nicht.« Anne sah nachdenklich aus, sogar besorgt. Sie ist bedrückt wegen ihres Mannes, nicht wegen des seligen Ray Gunter, dachte Liz. Und sie hatte allen Grund dazu, denn Peregrine log zweifellos. Hatten Goss und Whitten das gemerkt? Hatten sie die Teile des Puzzles richtig zusammengesetzt? Wenn nicht, konnte sie Ihnen nicht helfen.
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19 Als sie die Zufahrt von Headland Hall verließen, sah Liz auf die Uhr. Es war drei Uhr nachmittags. »Ich muss zurück nach London«, sagte sie zu Whitten. »Kann ich mir vorher noch ansehen, wo Ray Gunter gewohnt hat?« »Sicher. Jemand von meinen Leuten bringt Sie hin.« Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, da der Regen von neuem einsetzte. »Was halten Sie von den Lakebys?« »Ich glaube, sie gefiel mir besser als er. Sie hatten Recht.« Er nickte. »Unterschätzen Sie nie die Oberschicht. Sie kann viel netter oder viel ekliger sein, als man für möglich hält.« »Das bezweifle ich nicht«, sagte sie lächelnd. Ray Gunter hatte in einem mit Kieseln verputzten Häuschen hinter der Autowerkstatt gewohnt. Die Eingangstür war mit gestreiftem Klebeband abgesperrt worden, und die Polizistin aus der Mehrzweckhalle schloss Liz die Tür auf. Von außen war das Haus sehr viel schöner als von innen. Die Wände zeigten Fettspritzer, und die Decken waren vom Zigarettenrauch vergilbt. Der Gasherd in der Küche war seit Monaten nicht gereinigt worden, und in der Steingutspüle stand ein Berg schmutziges Geschirr. Liz’ Blick glitt von einem Haufen alter Stiefel und Regenjacken in einer Ecke zum Küchentisch, wo eine Packung Toastscheiben über die Lokalzeitung verstreut war. Daneben standen ein Becher Margarine, ein offenes Glas Marmelade und ein Aschenbecher aus einer nicht abgewaschenen Aluschale vom Chinarestaurant. Sie öffnete den großen, frei stehenden Gefrierschrank. Er enthielt nichts als Fisch in Plastikbeuteln, die sorgfältig von Hand beschriftet waren. Pollack, Katzenhai, Steinbeißer, junger 131
Kabeljau, Weißfisch … Zumindest hier hatte Ray Gunter Ordnung gehalten, wenn auch sonst nirgends. Am Fuß der Treppe befand sich ein Tischchen mit einem Telefon. An die Wand daneben waren Telefonnummern mit Kugelschreiber oder Bleistift gekritzelt. Dazwischen stand als einziger Name Hogan mit einer Nummer, die Liz sich notierte. Im ersten Stock sah es nicht viel appetitlicher aus. Gunter hatte in einem Einzelbett mit eisernem Bettgestell geschlafen, auf dem eine schmuddelige Daunendecke lag. Ein muffiger, schimmliger Geruch hing in der kalten Luft. Das Nebenzimmer war nicht besser. An der Tür hing ein kleines Plastikschild mit der Aufschrift KAYLEIGHS ZIMMER. Seine Schwester, dachte Liz. Sie würde das Haus wahrscheinlich erben. Und verkaufen – es musste einiges wert sein, wenn es erst einmal entrümpelt und renoviert war. Es wäre ein perfektes Wochenendhäuschen. Gunter musste das gewusst haben. Warum hatte er es behalten? Hatte er außer dem Fischen noch eine andere Einkommensquelle gehabt? Sie ging wieder nach unten und suchte ein Telefonbuch, das sie schließlich auf dem Küchenboden entdeckte. Unter dem Namen Hogan fand und notierte sie eine Adresse in Dersthorpe, deren Nummer mit der an der Wand übereinstimmte. Draußen gab sie der Polizistin den Schlüssel zurück und sah sich dann die umliegenden Häuschen an. Alle trugen eindeutige Zeichen der Spießigkeit – akkurat gepflegte Rasenkanten, Glasfiguren in den Fenstern und antike Türklopfer an den glänzenden Haustüren. Seine Nachbarn würden über Ray Gunters Dahinscheiden keine Tränen vergießen, vermutete sie. Bis zum Frühjahr hätte Kayleigh das Haus sicher verkauft, und im Sommer würde es genauso aussehen wie die anderen. Auf dem Rückweg zu ihrem Wagen schaute Liz im Trafalgar vorbei. Der Pub war fast leer, und es gab keine Spur von 132
Cherisse Hogan hinter dem Tresen, bloß einen Mann mittleren Alters in einer Strickjacke, der Clive Badger sein musste. Ein ungewöhnlicher Traummann für ein Mädchen wie Cherisse, dachte sie, besonders wenn er ihr die Differenzen in der Kasse vom Lohn abzieht. Ein Blick in den Nebenraum zeigte ihr, dass Cherisse auch nicht dort war. Viel los war nur mittags und abends, wahrscheinlich fuhr sie am Nachmittag nach Hause. Liz fuhr langsamer, als sie auf dem Weg nach Dersthorpe an Headland Hall vorbeikam, aber draußen war kein Zeichen von Peregrine oder Anne Lakeby zu sehen, bloß die dunklen, sich im Wind neigenden Bäume. Sie brauchte nicht lange, um den Block mit Sozialwohnungen zu finden, wo Cherisse Hogan wohnte. Draußen traten zwei Jugendliche auf einem mit Unrat übersäten Parkplatz gelangweilt einen fast platten Fußball hin und her. Dersthorpe liegt gleich neben Marsh Creake, aber kulturell ist es eine andere Welt, dachte Liz. Bestimmt hatte noch nie jemand ein Wochenendhäuschen in Dersthorpe gekauft. Cherisse wohnte im dritten Stock. Statt ihrer Arbeitskleidung trug sie jetzt einen verknitterten schwarzen Sweater und Jeans. Im tiefen Ausschnitt war ein tätowiertes Teufelchen zu sehen. »Ja?«, sagte sie mit gerunzelter Stirn und schnippte ihre Zigarettenasche vor der Wohnungstür auf den Boden. »Ich war heute Vormittag im Pub«, sagte Liz. Cherisse nickte zurückhaltend. »Ich weiß.« »Ich möchte mit Ihnen über Ray Gunter reden. Ich arbeite mit der Polizei zusammen.« »Was heißt das, Sie arbeiten mit der Polizei zusammen?« Liz fasste in die Tasche und holte ihren Dienstausweis hervor. »Ich bin beim Innenministerium.«
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Cherisse starrte verständnislos auf den Ausweis, dann nickte sie und entfernte die Kette von der Tür. »Ist das Ihre Wohnung?«, fragte Liz und zwängte sich durch den Spalt, den Cherisse offen hielt. »Nein, die von meiner Mutter. Sie ist arbeiten. Meine Oma wohnt auch hier, aber sie ist mit dem Bus nach Hunstanton gefahren.« Liz schaute sich um. Die Luft in der Wohnung war verbraucht, doch es sah gemütlich aus. Ein elektrisches Kaminfeuer brannte, und auf dem Kaminaufsatz standen Glasfiguren und Fotos von Cherisse. An der Wand hing ein gerahmter Druck mit Wellen im Mond licht. Der Fernseher war ein Großbildmodell. Cherisse kenne Gunter, erzählte sie – sie kannte fast jeden in Marsh Creake –, aber sie habe nie was mit ihm gehabt. Trotzdem sei es gut möglich, dass er anderen erzählt habe, es sei so gewesen. Im Trafalgar Pub tat er gern so, als könne er sie ohne weiteres haben. »Warum?«, fragte Liz. »Er war halt so«, sagte Cherisse leichthin und drückte ihre Zigarette in einem Blechaschenbecher aus. »Wenn man … kräftig gebaut ist, meinen die Leute, sie dürften sagen, was sie wollen, und man wär nur da, damit sie Witze über einen machen können.« »Haben Sie die Sache mal gerade gerückt?« »Hätte ich machen können, aber schließlich war er ein zahlender Gast, und ich stehe nicht hinter dem Tresen, damit die Kunden sich wie Idioten vorkommen, auch wenn sie welche sind. Ray Gunter dachte, wenn er jemand beeindrucken will, braucht er nur von mir anzufangen.« »Wen wollte er denn beeindrucken?« »Ach, Hinz und Kunz. Kennen Sie sein Haus? Es kamen dauernd Leute, die es kaufen wollten. Als wär er ein Volltrottel, 134
der nicht wüsste, was es wert ist. Er ging mit ihnen ins Trafalgar und ließ sich den ganzen Abend von ihnen einladen.« »Noch jemand?« »Da war so ein Typ … Ich hab ihn Staffy genannt, weil er aussah wie ein Bullterrier.« »Wissen Sie, wie er richtig heißt?« Sie nickte. »Ich komme noch drauf. Einen Tee?« »Das wär schön.« Der Wasserkessel pfiff. Vor der Elektroheizung schien die Luft zu flimmern. Cherisse kam mit zwei Bechern zurück. »Danke, dass Sie mir heute Vormittag geholfen haben«, sagte sie zögernd. »War mir ein Vergnügen«, erwiderte Liz aufrichtig. Cherisse grinste. »Ihr Freund hat ihm gar nicht gefallen, das war klar.« »Ich dachte, er hätte vor mir Angst gehabt«, protestierte Liz. »Na, kann auch sein.« Es gab einen Augenblick der Stille, dann ließ jemand auf dem Parkplatz einen Motor aufheulen. »Haben Sie irgendeine Ahnung, was Ray gestern Nacht im Fairmile Café wollte?«, fragte Liz. »Nein.« »Wissen Sie, ob er was Illegales machte? Irgendwas, das mit seinen Booten zu tun hatte?« Sie schüttelte erneut den Kopf, ihre Miene war ausdruckslos und wirkte dann aber mit einem Mal konzentriert. »Mitch! So hieß er. Ich wusste, dass ich wieder drauf komme.« »Wer war er?« »Ich weiß nicht. Er war nicht von hier. Ich erinnere mich an ihn, weil Ray mit ihm nie an der Bar gesessen hat, so wie sonst.« 135
»Wo haben sie denn gesessen?« »In einer Ecke. Ich hab Ray mal gefragt, wer er ist, weil er mich so anstarrte, und Ray sagte, er würde ihm Hummer und so was abkaufen.« »Haben Sie das geglaubt?« Cherisse zuckte die Achseln. »Er hat mich nicht nett angestarrt.« Liz nickte und stellte den leeren Teebecher auf den Tisch. Nach der Hitze in der Wohnung der Hogans war die Kälte am Meer erfrischend. Die Telefonzelle roch nach Urin, und Liz war dankbar, als Wetherby beim ersten Klingeln abhob. »Was gibt’s?«, fragte er. »Sieht nicht gut aus. Ich fahre jetzt zurück.« »Ich erwarte Sie«, sagte Wetherby.
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20 Mit jedem Klappern der Schere fiel eine weitere schwarze Strähne zu Boden. Draußen war der Himmel dunkel und regenschwer. Faraj Mansur saß vor ihr auf einem Holzstuhl mit einem weißen Badetuch um die Schultern. Er sah nicht wie ein Mörder aus, aber nach seinen eigenen Worten war er genau das – und das nur eine Stunde, nachdem er England zum ersten Mal betreten hatte. Dadurch wurde sie … was? Eine Komplizin? Eine nachträgliche Helfershelferin? Es war egal. Wichtig waren nur die Operation und ihr sicherer Ablauf. Wichtig war nur, dass sie unsichtbar blieben. Natürlich gab es viel, was sie nicht wusste. Es musste so sein, sie wollte es gar nicht anders. Wenn sie festgenommen und irgendwelchen Wahrheitsdrogen oder Verhörtechniken unterzogen wurde, die die Geheimdienste inzwischen verwendeten, war es von größter Wichtigkeit, dass sie ihnen nichts zu erzählen hatte. Sie schauderte und hätte ihn fast geschnitten. Wenn sie zusammen gesehen oder sonst irgendwie in Verbindung gebracht wurden, war es ihr Endspiel, dann gäbe es keinen Ort mehr, wo sie sich verstecken konnte. Sie hatte jedoch genug über Faraj Mansur erfahren, um zu wissen, dass er ein höchst professioneller Aktivist war. Wenn er gestern Nacht den Fischer erschossen hatte, war es sicher die beste Handlungsweise in jenem Moment gewesen. Wenn es ihn nicht belastete, dass er das Leben des Mannes ausgelöscht hatte, sollte es sie auch nicht belasten. Er war in ihren Augen ein recht gut aussehender Mann. Nach dem Aufwachen hatte er ihr noch besser gefallen – ein Kämpfer 137
mit zerzaustem Haar. Rasiert und mit kurzen Haaren sah er wie ein erfolgreicher Webdesigner oder Werbefachmann aus. Sie gab ihm die Stahlschere, nahm das Fernglas, trat hinaus auf den Kiesstrand und beobachtete den Horizont. Nichts. Niemand. Das Buch, das sie kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag angefangen hatte, war eine Biografie Saladins, des Anführers der Sarazenen, der im zwölften Jahrhundert mit den Kreuzrittern um Jerusalem kämpfte. Die ersten Seiten hatte sie nur überflogen und an andere Dinge gedacht. Sie hatte sich nie viel aus Geschichte gemacht, und die Ereignisse, von denen sie las, hatten in einer so entfernten Vergangenheit stattgefunden, dass sie genauso gut Science Fiction hätten sein können. Unerwarteterweise begann sie sich jedoch für die Hauptfigur des Buchs zu interessieren. Sie stellte sich Saladin als magere Gestalt mit Adlergesicht, schwarzem Vollbart und spitzem Helm vor. Sie lernte, den Namen seiner Frau Asimat in arabischen Schriftzeichen zu schreiben, und stellte sich vor, ihr zu ähneln. Als sie schließlich von der Kapitulation Jerusalems vor dem Sarazenenfürsten im Jahr 1187 las, hatte sie keine Zweifel, dass dies das Ende war, das sie sich wünschte. Das Buch war der erste Schritt dessen, was sie später ihre orientalistische Phase nannte. Sie las wahllos alles über die islamische Welt, angefangen mit romantischen Liebesgeschichten, die in Kairo, Lucknow und Samarkand spielten. In der Hoffnung, die mystische Ausstrahlung einer Sheherazade zu gewinnen, färbte sie ihr braunes Haar tiefschwarz, parfümierte sich mit Rosenwasser und umrandete die Augen mit Kajal aus dem pakistanischen Laden an der Ecke. Ihre Eltern wunderten sich zwar, waren aber erfreut, dass sie an etwas Interesse fand und so viel Zeit mit Lesen verbrachte.
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Ihre frühen Eindrücke der islamischen Welt, verzerrt durch die Brille ihrer Teenager-Scheinwelt, wären den meisten Muslimen fremd vorgekommen, aber im Laufe weniger Jahre lösten dicke Bücher über islamische Glaubenslehre und Geschichte die romantischen Romane ab, und sie fing an, sich Arabisch beizubringen. Im Grunde sehnte sie sich nach einer Verwandlung. Seit Jahren hatte sie davon geträumt, ihre unglückliche und graue Vergangenheit hinter sich zu lassen und eine neue Welt zu betreten, wo sie zum ersten Mal vollkommen und mit Freude anerkannt sein würde. Der Islam bot offenbar genau die Verwandlung, die sie suchte. Er würde ihre innere Leere ausfüllen, das fürchterliche Vakuum in ihrem Herzen. Sie begann das nächst gelegene islamische Zentrum zu besuchen und nahm Koran-Unterricht, ohne ihren Eltern und Lehrern etwas davon zu erzählen. Bald ging sie regelmäßig in die Moschee. Sie hatte den Eindruck, dort anerkannt zu werden, wie sie nie zuvor anerkannt worden war. Ihr Blick traf sich mit dem anderer Gläubiger, und sie machte in ihren Augen jene sichere Gewissheit aus, die sie selbst fühlte. Dies war der richtige Weg. der einzige Weg. Die Wahrheiten des Islam waren absolut. Sie sagte ihrem Lehrer, sie wolle konvertieren, und er schlug ihr vor, mit dem Imam der Moschee zu sprechen. Er war ein vorsichtiger Mann, und etwas an diesem leidenschaftlichen Mädchen, das nie lächelte, beunruhigte ihn. Sie hatte jedoch die nötigen Studien getrieben, und er wollte sie nicht wegschicken. Er besuchte ihre Eltern, die sagten, sie hätten »absolut nichts dagegen«, und kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag wurde sie in die islamische Gemeinde aufgenommen. Noch im selben Jahr fuhr sie mit einer Familie, die Verwandte in Karatschi hatte, nach Pakistan. Bald sprach sie nicht nur fließend Arabisch, sondern auch Urdu. Mit zwanzig hatte sie Pakistan 139
noch zwei weitere Male besucht und bekam einen Studienplatz am Institut für orientalische Sprachen der Sorbonne. Zu Beginn des zweiten Studienjahres erlebte sie eine immer stärkere Frustration. Sie hatte das Gefühl, in einer völlig fremden Kultur gefangen zu sein. Der Islam verbot die Anbetung irgendwelcher Götter außer Allah, und dieses Verbot umfasste auch die Götzen Geld, Status und wirtschaftliche Macht, aber wo sie auch hinsah, ob unter Muslimen oder Ungläubigen, fand sie sich einem unverhohlenen Materialismus und der Anbetung dieser Götzen gegenüber. Als Reaktion darauf reinigte sie ihr Leben von allem überflüssigen Ballast und besuchte die Moscheen, in denen die strengste Form des Islam gepredigt wurde. Hier standen die religiösen Lehren im Kontext einer radikalen politischen Theorie. Die Imame predigten, es sei notwendig, alles außer dem Islam abzulehnen, besonders das, was von dem großen Satan Amerika kam. Ihr Glaube wurde zu ihrer Rüstung, und ihr Ekel vor der Kultur, die sie um sich herum sah – ein aufgeblähter und geistloser Korporatìsmus, dem alles außer dem eigenen Profit unwichtig war –, wuchs zu einer stummen, alles verzehrenden und andauernden Wut. Eines Tages saß sie bei der Rückkehr von der Moschee auf der Bank einer Metrostation, als sich ein junger, bärtiger Nordafrikaner in einer Lederjacke neben sie setzte. Sein Gesicht kam ihr entfernt bekannt vor. »Salaam aleikum«, murmelte er mit einem Blick zu ihr. »Aleikum as salaam.« »Ich habe dich beim Gebet gesehen.« Sein Arabisch war algerisch gefärbt. Sie schloss das Buch halb, schaute bedeutungsvoll auf die Uhr und sagte nichts. »Was liest du?«, fragte er. 140
Ohne eine Miene zu verziehen, zeigte sie ihm den Buchrücken. Es war ein Buch über Malcolm X. »Unser Bruder Malik Shabazz«, sagte er und benutzte den islamischen Namen des Bürgerrechtsaktivisten. »Friede seiner Seele.« »So sei es.« Der junge Mann beugte sich nach vorn und stützte die Arme auf die Knie. »Scheich Ruhallah predigt heute Nachmittag in der Moschee.« »So.« »Du musst kommen.« Sie sah ihn überrascht an. Trotz seiner ungepflegten Erscheinung strahlte er eine ruhige Autorität aus. »Was predigt denn dieser Scheich Ruhallah?«, fragte sie. Der junge Mann runzelte die Stirn. »Er predigt den Dschihad«, sagt er. »Den Krieg.«
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21 Auf der Rückfahrt nach London dachte Liz über Mark nach. Ihr Zorn über seinen letzten Anruf war verraucht, und sie brauchte eine Pause von der anstrengenden Analyse der aktuellen Ereignisse. Das würde keine verlorene Zeit sein. Während sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete, würde ihr Unterbewusstsein die Teile des Puzzles weiter hin und her schieben, über Landzungen, Terrornetzwerke und Hartkernmunition nachdenken und vielleicht ein paar Antworten finden. Wie würde es sein, wenn er Shauna verließ? Auf einer tollkühnen und völlig verantwortungslosen Ebene – der Mark instinktiv zuneigte – wäre es wunderbar. Sie würden Geheimnisse teilen, einander unaussprechliche Dinge sagen und sich nachts in dem sicheren Wissen zueinander drehen, dasselbe Verlangen zu spüren. Doch realistisch betrachtet war es in jeder Hinsicht unmöglich. Zunächst mal würde es ihrer Karriere beim MI 5 schaden. Man würde zwar nichts zu ihr sagen, aber sie als unsicheren Kantonisten betrachten und bei der nächsten Umstrukturierung auf eine risikolose und langweilige Stelle setzen – vielleicht im Personalbüro oder Personenschutz –, bis die Oberen davon überzeugt waren, dass sie ihr Privatleben unter Kontrolle hatte. Wie wäre es wirklich, mit Mark zusammenzuleben? Selbst wenn Shauna sich ruhig verhielt und keinen Ärger machte, würde ihr Leben sich drastisch verändern. Es gäbe neue und nur vage absehbare Grenzen all jener Freiheiten, die sie im Moment für selbstverständlich hielt. Es wäre zum Beispiel unmöglich, sich so zu verhalten wie heute – einfach ins Auto zu steigen und wegzufahren, ohne zu wissen, wann sie zurückkäme. Sie müsste ihre Abwesenheit erklären und mit einem Partner besprechen, der nicht zu Unrecht würde wissen wollen, wann sie wieder da 142
wäre. Wie die meisten Männer, die sich nicht gern festlegten, konnte Mark überaus besitzergreifend sein. Eine ganz neue Art von Stress würde in ihr Leben treten. Außerdem waren noch einige grundsätzlichere Fragen zu beantworten. Wenn Mark Shauna verließ, tat er das, weil ihre Beziehung von Anfang an nicht funktioniert hatte? Wäre die Ehe auch auseinander gegangen, wenn sie – Liz – nicht aufgetaucht wäre? Oder hätte es sonst funktioniert, von einigen kleinen Konflikten abgesehen? War sie eine Ehezerstörerin, eine Femme fatale? Sie hatte sich noch nie in so einer Rolle gesehen, aber vielleicht tat das niemand. Es ging nicht. Sie würde ihn anrufen, sobald sie wieder in London war. Wo war sie jetzt? Anscheinend irgendwo in der Nähe von Saffron Waiden. Sie war gerade durch ein Dorf namens Audley End gefahren, als sie ein vertrautes Gefühl verspürte. Ein Kribbeln, als hätte sie Kohlensäure im Blut. Ein wachsendes Gefühl der Dringlichkeit. Russland. Die Erinnerung, die ans Licht strebte, hatte irgendwie mit Russland zu tun. Und mit Fort Monkton, dem Ausbildungszentrum des MI 6, wo sie an einem Waffenseminar teilgenommen hatte. Während sie fuhr, hörte sie den ruhigen Bristoler Akzent des dortigen Waffenspezialisten Barry Holland und roch die Luft des unterirdischen Schießstands, wo sie und ihre Kollegen die Schießscheiben mit den Kugeln ihrer NeunMillimeter-Brownings durchlöcherten. Sie war fast auf der M25, als die Erinnerung schließlich ganz klar wurde und sie verstand, warum Ray Gunter mit Hartkernmunition erschossen worden war. Diese Erkenntnis brachte keinerlei Beruhigung. Kurz nach acht saß sie Wetherby gegenüber. Als sie ankam, hatte sie auf ihrem Schreibtisch eine Botschaft aus zwei Wörtern vorgefunden: Marzipan Fünfstern. Das bedeutete, Sohail Din 143
wollte dringend zu Hause angerufen werden. Sie hatte diese Nachricht noch nie von ihm bekommen und machte sich sofort deswegen Sorgen, denn eine Fünf-Sterne-Meldung bedeutete meistens, dass ein Agent Angst hatte, entdeckt zu werden, und den Kontakt entweder vorübergehend oder endgültig abbrechen wollte. Sie betete, dass es bei Marzipan nicht so wäre. Sie wählte seine Nummer, und zu ihrer Erleichterung nahm Sohail selbst ab. Im Hintergrund ertönte das Tonbandgelächter einer Fernsehshow. »Ist Dave da?«, fragte sie. »Falsch verbunden«, erwiderte Sohail. »Komisch. Kennen Sie Dave?« »Ich kenne sechs oder sieben Daves, und keiner von ihnen wohnt hier«, sagte Sohail. »Wiederhören.« Er würde sich also in sechs oder sieben Minuten von einer Telefonzelle aus melden. Sie hatte ihm beigebracht, niemals die in unmittelbarer Nähe seines Hauses zu benutzen. Inzwischen rief sie Barry Holland in Fort Monkton an, und als Sohail in der Leitung war, spuckte ihr Laserdrucker bereits die nötigen Informationen aus. Wetherby sieht müde aus, dachte sie. Die Schatten unter seinen Augen waren anscheinend tiefer geworden, und seine Züge hatten einen fatalistischen Ausdruck angenommen, der sie wünschen ließ, sie bringe bessere Neuigkeiten. Er war jedoch ausgesucht höflich, wie immer, und während sie redete, spürte sie seine gespannte Aufmerksamkeit. Sie hatte ihn noch nie etwas notieren sehen. »Ich stimme Ihnen bei Eastman zu«, sagte er und hielt wieder einen dunkelgrünen Bleistift in der Hand. »Er wird benutzt, und es sieht ganz so aus, als hätte er die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Es scheint sicher zu sein, dass es eine Verbindung nach Deutschland und von dort weiter nach Osten gibt. Dann ist 144
da noch der Lastwagen auf dem Parkplatz und die Wahrscheinlichkeit, dass dort irgendeine Übergabe stattfand.« Liz nickte. »Die Polizei geht davon aus, dass die benutzte Waffe ein Sturmgewehr war.« Auf seinem Gesicht erschien die ferne Andeutung eines Lächelns. »Sie denken offenbar anders.« »Mir ist da etwas eingefallen, was man uns in Fort Monkton erzählt hat. Der KGB und die Truppen des russischen Innenministeriums schafften Anfang der neunziger Jahre die alten Pistolen aus der Stalin-Zeit ab, weil es jetzt kugelsichere Westen gab, die der Munition standhielten.« »Weiter.« »Also entwickelten sie eine neue Generation von Pistolen mit starker Durchschlagskraft. Waffen wie die Gyurza, die über ein Kilo wog und Kugeln mit Tungstenkern verschoss, die kugelsichere Westen durchschlugen. Barry Holland hat uns damals welche gezeigt.« »Irgendwas mit Kaliber 7.62 dabei?« »Soweit ich weiß nicht. Aber es gab in den letzten Jahren viele neue Entwicklungen. Das FBI hat Testergebnisse von einem Ding, das noch nicht mal einen Namen hat. Es heißt bloß PSS.« Sie blickte auf den Ausdruck. »Pistolet samosarjadne spezialni.« »Schallgedämpfte Spezialpistole«, übersetzte Wetherby. »Genau. Es ist ein hässliches Ding, aber technisch allem voraus. Die leiseste Schusswaffe, die es überhaupt gibt. Man kann durch die Manteltasche schießen, und die Person, die neben einem steht, hört nichts davon. Gleichzeitig hat sie genug Kraft, um eine Zielperson mit kugelsicherer Weste zu töten.« »Ich dachte, Schalldämpfer reduzieren die Leistung.« »Konventionelle Schalldämpfer schon. Die Russen haben neu drüber nachgedacht und schallgedämpfte Munition entwickelt.« 145
Wetherbys linke Augenbraue hob sich einen oder zwei Millimeter. »Sie heißt SP-4. Das Ganze funktioniert so, dass die Explosion komplett innerhalb der Pistole stattfindet. Da keine Gase entweichen, gibt es keinen Lärm und kein Mündungsfeuer.« »Welches Kaliber?« »7.62 Hartkernmunition.« Wetherby lächelte nicht, sondern sah sie einen Moment nachdenklich an, senkte die Spitze des dunkelgrünen Bleistifts auf die Tischplatte und nickte. Dass er es nicht für nötig hielt, ihr zu gratulieren, verschaffte Liz eine seltsame Freude, trotz des düsteren Themas. »Warum hat unser Mann sich also die Mühe gemacht, an so eine Spezialwaffe zu kommen?« »Weil er erwartet, Leuten mit kugelsicheren Westen gegenüberzustehen. Polizei, Leibwächtern, Sondereinsatzkommandos. Er braucht die technische Überlegenheit, die die PSS ihm geben kann.« »Welche Schlussfolgerungen können wir noch ziehen?« »Er, oder wohl eher seine Organisation, hat Zugang zum besten Material. Das ist eine sehr seltene Waffe, die kriegt man nicht in einem Pub im East End oder auf einem Waffenbasar im pakistanischen Nordwesten. Bis jetzt sind sie nur an eine Hand voll russischer Spezialkräfte ausgegeben worden, die hauptsächlich Undercover-Operationen gegen militante Tschetschenen im Kaukasus ausführen. Wir werden nie genaue Informationen darüber bekommen, aber sie haben bestimmt Verluste gehabt, und man kann annehmen, dass eine oder zwei ihrer Pistolen in die Hände der Rebellen geraten sind.« »Und von da in die Hände der Mudschahedin-Waffenmeister … Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.«
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Wetherby warf einen düsteren Blick zum Fenster. Er schien dem unregelmäßigen Klopfen des Regens zu lauschen. »Sonst noch was?« »Ich fürchte, es kommt noch schlimmer«, sagte Liz. »Als ich heute Abend zurückkam, habe ich Marzipan wegen einer FünfSterne-Meldung zurückgerufen.« »Ja?« »Es gibt da einen arabischen Online-Newsletter, den seine Kollegen lesen. Er nimmt an, er stammt von militanten Islamisten in Saudi-Arabien – vielleicht der Gruppe von al-Safa –, die antiwestliche Operationen planen. Marzipan hat ihn nicht selbst gelesen – der Newsletter ist in einer Art Code geschrieben –, doch die anderen glauben anscheinend, es wird etwas hier in England passieren. Irgendein symbolisches Ereignis. Keine Hinweise auf was, wann oder wo, aber der Text heißt angeblich: ›Ein Mann mit dem Namen ›die Rache‹ ist gekommen.‹‹« Wetherby saß einen Augenblick da, ohne zu blinzeln. »Reden wir hier definitiv von einer islamistischen Terroroperation?«, fragte er vorsichtig. »Nicht irgendeiner Flaggenverbrennung oder der Ankunft eines neuen Imams?« »Marzipan sagte, seine Kollegen seien sich ziemlich sicher. Für sie bedeute der Brief einen bevorstehenden Angriff.« Wetherby kniff die Augen ein kleines Stück zusammen. »Sie glauben also, der Mann, von dem sie reden, ist unser lautloser Schütze aus Norfolk?« Liz sagte nichts, und Wetherby steckte seinen Bleistift in das Marmeladengefäß zurück, griff in eine der unteren Schubladen seines Schreibtischs, holte eine Flasche Laphroaig und zwei Gläser heraus und goss einen Schluck Whisky in jedes davon. Er schob Liz ein Glas hin, machte eine Handbewegung, um auszudrücken, dass sie dableiben solle, nahm den Hörer eines Telefons ab und wählte eine Nummer. 147
Liz merkte schnell, dass er seine Frau anrief. »Wie war es heute?«, fragte er leise. »War es sehr schlimm?« Die Antwort war offenbar länger. Liz konzentrierte sich auf den rauchigen Scotch-Geschmack, das Prasseln des Regens am Fenster, das Geräusch des Heizkörpers – auf alles außer das Telefongespräch. »Ich muss länger dableiben«, sagte Wetherby gerade. »Ja, ich fürchte, wir haben eine Art Krise und … Nein, ich würde es nicht tun, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre, ich weiß, dass du einen fürchterlichen Tag hattest … Ich ruf dich an, sobald ich im Auto sitze. Nein, bleib nicht wach.« Er legte den Hörer auf, nahm einen großen Schluck Whisky und drehte dann einen Bilderrahmen zu Liz, damit sie das Foto sehen konnte. Das Bild zeigte eine Frau in einem marineblau und weiß gestreiften T-Shirt an einem Cafétisch mit einer Tasse in der Hand. Sie hatte dunkles Haar, ein feinknochiges Gesicht und schaute mit amüsiert schiefer Kopfhaltung in die Kamera. Was Liz an der Frau jedoch am stärksten auffiel, war ihr Teint. Obwohl sie nicht älter als fünfunddreißig sein konnte, war ihre Haut elfenbeinfarben, so bleich und blutleer, dass sie fast durchsichtig wirkte. Zuerst dachte Liz, das hänge mit der Bildentwicklung zusammen, aber ein Blick auf die anderen Leute im Café zeigte ihr, dass die Farben mehr oder weniger stimmten. »Sie hat Knochenmarkaplasie«, erklärte Wetherby ruhig. »Einmal im Monat muss sie zur Bluttransfusion ins Krankenhaus.« »War das heute?« »Ja, heute Vormittag.« »Tut mir Leid«, sagte Liz. Ihr kleiner Triumph, die PSS identifiziert zu haben, erschien ihr jetzt fast kindisch. Sie zuckte
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die Achseln. »Ich bedaure, dass ich Neuigkeiten bringe, die Sie aufhalten.« Wetherby schüttelte kaum merkbar den Kopf. »Sie haben hervorragend gearbeitet.« Er rollte den Laphroaig im Glas und hob es mit einem angedeuteten Lächeln. »Abgesehen von allem anderen, haben Sie mir das Material geliefert, um Geoffrey Fane den Abend zu verderben.« »Na, das ist doch immerhin etwas.« Ein oder zwei Minuten saßen sie mit geleerten Gläsern in einmütiger Stille. Viele Büros um sie herum waren leer, und das ferne Geräusch eines Staubsaugers verriet Liz, dass die Putzkolonne bereits da war. »Gehen Sie nach Hause«, sagte er. »Ich werde alle verständigen, die informiert werden müssen.« »Okay, aber erst hole ich noch ein paar Informationen über Peregrine Lakeby ein.« »Fahren Sie morgen nach Norfolk zurück?« »Das halte ich für besser.« Wetherby nickte. »Dann halten Sie mich auf dem Laufenden.« Liz stand auf. Auf der Themse ertönte das traurige Tuten eines Lastkahns.
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22 Nach einer verregneten Nacht klarte der Himmel auf, und als Liz auf der M11 nach Norden fuhr, zischte der nasse Asphalt unter den Reifen des Audis. Sie hatte schlecht geschlafen; sie war nicht mal sicher, ob sie überhaupt geschlafen hatte. Die amorphe Masse von Sorgen, aus der die Untersuchung bestand, hatte ein zermalmendes Gewicht erreicht, und je verzweifelter sie unter der verknitterten Bettdecke einzuschlafen versuchte, desto schneller schlug ihr Herz. Es waren Menschenleben in Gefahr, so viel wusste sie, und das Bild von Ray Gunters zertrümmertem Schädel vervielfältigte sich unendlich in ihrem Geist. Ab und zu ging das Gesicht des toten Fischers in das von Sohail Din über. »Warum machst du nicht bei der Theatergruppe mit?«, schien er zu fragen, bis sie merkte, dass die Stimme ihrer Mutter gehörte. Sie konnte jedoch das Bild ihrer Mutter nicht heraufbeschwören, stattdessen erschien mit wissendem Lächeln eine Gestalt mit elfenbeinfarbener Haut in einem blauweiß gestreiften T-Shirt. Durch ihre transparente Haut verfolgte Liz den zögernden Weg des Bluts durch Venen und Arterien. »Ich sage ihr, dass ich dich liebe«, brüllte Mark irgendwo am Rand ihres Bewusstseins. »Ich rede von unserer Zukunft!« Sie musste doch geschlafen haben, denn irgendwann wachte sie auf jeden Fall auf, durstig und mit dem Geschmack von Wetherbys Laphroaig im Mund. Sie hatte vorgehabt, früh loszufahren und schnell aus London herauszukommen, aber anscheinend war ein großer Teil der Bevölkerung leider auf dieselbe Idee gekommen. Um elf war sie immer noch zehn Kilometer von Marsh Creake entfernt und hing auf einer schmalen Straße hinter einem Tieflader mit Roten Beten fest. 150
Der Fahrer hatte es überhaupt nicht eilig, und wenn er wusste, dass er bei jeder Unebenheit ein paar davon verlor, so machte es ihm nichts aus. Liz machte es dagegen schon was aus, und manchmal musste sie schnell reagieren, um den fallenden Knollen auszuweichen, von denen jede einen Scheinwerfer zerschlagen oder sonst wie einen dreistelligen Schaden am Audi verursachen konnte. Schließlich hielt sie mit völlig verspannten Schultern vor dem Trafalgar und fand Cherisse im leeren Pub beim Gläser polieren. »Sie schon wieder!«, sagte Cherisse und warf Liz ein träges Lächeln zu. Sie trug einen engen, lavendelfarbenen Sweater und sah auf ihre zigeunerische Art recht auffällig aus. Offensichtlich hatte sie sich von dem kurzfristigen Kummer erholt, den Ray Gunters Tod verursacht haben mochte. »Hätten Sie wohl ein Zimmer frei?«, fragte Liz. Cherisse zog die Augenbrauen hoch und ging dann ohne Eile in die halbdunkle Küche, um vermutlich mit ihrem Chef zu reden. Clive Badger kann sich gratulieren, falls die Gerüchte über die beiden stimmen, dachte Liz. Und sie waren ganz bestimmt wahr; Frauen wie Anne Lakeby hatten den Dreh raus, bei so etwas die Spreu vom Weizen zu trennen. Nach ein paar Minuten kam Cherisse mit einem Schlüssel wieder, an dem ein kleiner Blechanker hing, und führte Liz über eine schmale, mit Teppichboden ausgelegte Treppe nach oben zu einer Tür mit der Aufschrift TEMERAIRE. Die drei anderen Zimmer hießen SWIFTSURE, AJAX und VICTORY. TEMERAIRE war warm, hatte eine niedrige Decke, einen pflaumenfarbenen Teppichboden, einen gekachelten Kamin und einen Diwan mit einer Plüschtagesdecke. Liz brauchte nur wenige Minuten zum Auspacken. Als sie wieder hinunterging, war Cherisse noch immer allein in der Bar und machte Liz mit dem Kopf ein Zeichen, näher zu kommen.
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»Ich hab Ihnen doch von Mitch erzählt. Dem, der mit Ray getrunken hat.« »Der Sie an einen Bullterrier erinnert hat?« »Genau. Staffy. Er ist im Zigarettengeschäft.« »Sie meinen, er schmuggelt Zigaretten und verkauft sie gegen Bargeld, ohne Zoll zu zahlen?« »Ja.« »Woher wissen Sie das? Hat er Ihnen welche angeboten?« »Nein, Ray. Er sagte, Mitch könnte so viele besorgen, wie ich wollte, und ich könnte sie billig haben und den Leuten dann zum vollen Preis verkaufen.« »Moment mal, Cherisse. Sie sagen, dass Ray Ihnen das im Namen von Mitch angeboten hat?« »Ja, er dachte, er tut ihm einen Gefallen. Aber Mitch ist völlig ausgerastet. Er hat zu Ray gesagt, er hätte keine Ahnung, wovon er redet, und er sollte die Klappe halten, sonst wäre er draußen. Völlig ausgerastet.« »Und Sie meinen, Ray hatte Recht? Dass Mitch billige Zigaretten und Tabak verkauft?« Cherisse dachte nach. »Wär schon komisch, das zu sagen, wenn er es nicht macht, oder? Viele Leute machen so was. Wenn man im Pub arbeitet, kriegt man dauernd billigen Schnaps und Zigaretten angeboten. Besonders Zigaretten. Jeder hat ein paar Kartons draußen im Wagen.« »Haben Sie schon mal welche gekauft?« »Ich? Nein! Ich würde meinen Job verlieren.« »Also kauft Mr Badger auch keine?« Cherisse schüttelte den Kopf und setzte die oberflächliche Reinigung der Gläser fort. »Ich wollte es aber mal erwähnen«, sagte sie. »Dieser Mitch ist ein ekliger Kerl.« »Hört sich ganz so an«, antwortete Liz. »Danke.« 152
Sie starrte in die leere Bar. Die bleiche Wintersonne fiel durch die Bleiglasfenster, beleuchtete die Staubkörner in der Luft und vergoldete die Dekorationsstücke an den holzverkleideten Wänden. Wenn Mitch, wer immer das war, geschmuggelten Tabak verkaufte und es Ray Gunter gesagt hatte, warum war er so wütend, als Gunter es Cherisse erzählte? Ein großer Teil des Lebens eines Zigarettenschmugglers bestand darin, Wirte und Kneipenpersonal zu überzeugen, ihm die Ware abzukaufen. Liz fiel dafür nur ein Grund ein, nämlich dass Mitch vom Zigarettenschmuggel zu gefährlicheren Dingen aufgestiegen war. Dingen, bei denen unbedachtes Gerede tödlich sein konnte. Sie dankte Cherisse noch mal, ließ sich einen Zehner in Münzen wechseln und rief Frankie Ferris vom Telefon im Vorraum des Pubs aus an. Der Laden war überheizt und roch nach Möbelpolitur und Raumspray. Ferris war wie üblich sehr aufgeregt. »Seit diesem Mord herrscht hier echt Chaos«, flüsterte er. »Total … Eastman hat sich bis gestern Früh im Büro eingesperrt. Gestern Abend war er da bis …« »Hatte der Tote was mit Eastman zu tun?« »Ich weiß es nicht, und ich werd ihn auch nicht fragen. Jetzt zieh ich bloß den Kopf ein, und wenn die Polizei kommt, will ich richtigen …« »Richtigen?« »Schutz, halt. Okay? Ich geh schon ein großes Risiko ein, wenn ich mit Ihnen telefoniere. Was ist, wenn jemand …« »Mitch«, sagte Liz. »Ich brauche Informationen über einen Mann namens Mitch.« Kurze, angespannte Stille. »In Braintree«, sagte Ferris. »Heute Abend um acht auf dem obersten Deck vom Parkhaus am Bahnhof. Kommen Sie allein.« Er legte auf. 153
Der Kerl riecht Ärger, dachte Liz. Er will weiterhin Eastmans Geld einstecken, aber er will auch Rückendeckung, wenn alles hochgeht. Er weiß, dass er von Bob Morrison nichts kriegt, deshalb ist er zu mir gekommen. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie in die Mehrzweckhalle gehen solle, um herauszufinden, ob Goss und Whitten mit dem Fall weitergekommen waren. Dann entschied sie sich aber dafür, zunächst nach Headland Hall zu fahren und mit Peregrine Lakeby zu sprechen. Wenn sie sich erst mit den anderen kurzgeschlossen hatte, würde es schwieriger sein, Informationen für sich zu behalten. Mit einem leisen Knirschen auf dem Kies hielt der Audi vor Headland Hall. Dieses Mal öffnete Lakeby selbst die Tür. Er trug einen langen chinesischen Morgenmantel und ein Halstuch und war von einem schwachen Limonenduft umgeben. Er war offenbar erstaunt, Liz zu sehen, fasste sich aber rasch wieder und führte sie den gefliesten Korridor entlang in die Küche. An einem breiten Arbeitstisch aus gebeiztem Kiefernholz trocknete eine Frau mit einer Gemächlichkeit Weingläser ab, an der Liz sie sofort erkannte. Es musste Elsie Hogan sein, die Mutter von Cherisse, »Der Herd raucht wieder, Mr Lakeby«, sagte die Frau und warf Liz einen gleichgültigen Blick zu. Peregrine runzelte die Stirn, streifte einen Topfhandschuh über und öffnete vorsichtig eine Herdklappe. Rauch quoll heraus, er nahm ein Holzscheit aus einem hohen Korb, warf es hinein und schlug die Klappe wieder zu. »Das müsste es tun.« Die Frau sah ihn zweifelnd an. »Diese Scheite sind ein bisschen grün, Mr Lakeby. Ich glaube, das ist das Problem. Sind sie aus der Garage?«
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Peregrine schaute unschlüssig. »Schon möglich. Fragen Sie doch mal Anne, sie kommt in einer Stunde aus King’s Lynn zurück.« Er wandte sich an Liz. »Kaffee?« »Nein, danke«, erwiderte sie und dachte bedauernd, dass man zu einem Mann nicht das sagen konnte, was sie gleich zu Peregrine Lakeby sagen würde, während man gleichzeitig seinen Kaffee trank. Also sah sie zu, wie er Wasser aufkochte, Pulver in einen Kaffeebereiter löffelte, aufgoss, umrührte und das dampfende Ergebnis in eine Wedgwood-Porzellantasse goss. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Peregrine, nachdem sie die verrauchte Küche verlassen und sich wieder komfortabel in dem Salon voller Bücherschränke niedergelassen hatten. Liz begegnete seinem fragenden, leicht amüsierten Blick. »Ich möchte wissen, welche Absprache Sie mit Ray Gunter hatten«, begann sie ruhig. Peregrine legte nachdenklich den Kopf schief. Sein Haar formte über den Ohren zwei graue Schwingen. »Welche Absprache? Wenn Sie die Absprache meinen, nach der er seine Boote am Strand liegen ließ, hatten wir doch wohl schon alles ausführlich diskutiert, als Sie mit Ihren Kollegen da waren.« Sie haben ihm also nicht noch einen Besuch abgestattet, dachte Liz. »Nein«, sagte sie. »Ich meine die Absprache, nach der Ray Gunter nachts illegale Lieferungen an Land brachte und Sie sich bereit erklärten, nichts zu sehen oder zu hören. Wie viel hat Gunter Ihnen dafür bezahlt, dass Sie seine Aktivitäten ignorieren?« Peregrines Lächeln gefror. Die patrizische Maske zeigte winzige Risse. »Ich weiß nicht, wo Sie Ihre Informationen herhaben, Miss … äh … aber die Vorstellung, dass ich eine kriminelle Verbindung mit einem Mann wie Ray Gunter gehabt haben könnte, ist völlig absurd. Darf ich fragen, was – oder wer – Sie zu einer derart bizarren Schlussfolgerung gebracht hat?« 155
Liz holte zwei bedruckte Blätter aus ihrer Aktentasche. »Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, Mr Lakeby? Eine Geschichte über eine Frau, die in manchen Kreisen als ›die Marquise‹ bekannt ist, mit bürgerlichem Namen Dorcas Gibb?« Peregrine sagte nichts. Seine Miene blieb unverändert, aber sein Gesicht wurde immer blasser. »Seit längerer Zeit führt die Marquise ein diskretes kleines Unternehmen in Shepherd Market, wo sie und einige weitere Damen spezialisiert sind auf …« – sie blickte auf die Zettel – »Dominanz, Erziehung und Bestrafung.« Peregrine schwieg. »Vor drei Jahren erfuhr das Finanzamt von der Existenz dieser Firma. Die Marquise hatte anscheinend seit etwa zehn Jahren vergessen, Einkommensteuer zu zahlen. Es muss ihr einfach entfallen sein. Also fragte das Finanzamt bei der Sitte an, ob sie was dagegen hätte, die Dame mal daran zu erinnern, und die Sitte hatte gar nichts dagegen. Es gab eine Razzia. Nun raten Sie mal, auf wen man da – außer einem bekannten Anwalt und einem populären Labour-Politiker aus dem Oberhaus – gefesselt, geknebelt und mit runtergelassenen Hosen stieß?« Peregrines Blick wurde eisig. Sein Mund war eine dünne, angespannte Linie. »Mein Privatleben geht nur mich etwas an, und ich werde mich nicht in meinem eigenen Haus erpressen lassen, haben Sie das verstanden?« Er erhob sich vom Sofa. »Gehen Sie bitte, und zwar sofort.« Liz machte keine Bewegung. »Ich erpresse Sie nicht, Mr Lakeby, ich frage Sie lediglich nach den genauen Einzelheiten Ihrer geschäftlichen Beziehung zu Ray Gunter. Wir können es auf die einfache Art tun oder auf die schwierige. Die einfache Art bedeutet, dass Sie mir vertraulich alle Fakten mitteilen, die schwierige bedeutet eine Festnahme wegen des Verdachts der Verwicklung in organisiertes Verbrechen. Und da es, wie wir
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alle wissen, einen ständigen Informationsfluss zwischen der Polizei und der Boulevardpresse gibt …« Sie zuckte die Achseln, und Peregrine starrte ausdruckslos auf sie herab. Sie erwiderte seinen bohrenden Blick auf dieselbe Weise, und allmählich wurden sein Widerstand und seine Arroganz schwächer. Er setzte sich in Zeitlupe wieder hin, die Schultern hingen herab. »Aber wenn Sie mit der Polizei zusammenarbeiten …« »Ich arbeite nicht wirklich mit der Polizei zusammen, Mr Lakeby. Ich arbeite parallel zu ihr.« Seine Augen verengten sich wachsam. »Also …« »Ich behaupte nicht, dass Sie etwas Schlimmeres getan haben, als von Ray Gunter Geld zu nehmen«, sagte Liz ruhig, »doch ich muss Ihnen mitteilen, dass es hier um eine Frage der nationalen Sicherheit geht, und ich bin davon überzeugt, dass Sie die Sicherheit unseres Staates nicht wissentlich gefährden würden.« Sie machte eine Pause. »Wie lautet nun die Absprache mit Gunter?« Er starrte düster aus dem Fenster. »Wie Sie vermutet haben, sollte ich seine nächtlichen Aktivitäten auf dem Grundstück ignorieren.« »Wie viel hat er Ihnen bezahlt?« »Fünfhundert im Monat.« »In bar?« »Ja.« »Was waren das für Aktivitäten?« Peregrine lächelte gequält. »Dieselben wie seit hunderten von Jahren. Das hier war schon immer eine Schmugglerküste. Tee, Brandy aus Frankreich, Tabak aus Holland und Belgien … Als die Kanalhäfen und die Küste in Kent zu gefährlich wurden, hat man die Ladungen hierher geschickt.« »Das haben sie an Land gebracht? Schnaps und Zigaretten?« 157
»So hat man es mir gesagt.« »Wer? Gunter?« »Nein. Ich hatte nicht direkt mit Gunter zu tun. Da war noch ein Mann, dessen Namen ich nie erfahren habe.« »Mitch oder so ähnlich?« »Keine Ahnung. Wie ich schon sagte …« »Wie wurden Sie bezahlt?« »Das Geld lag in einem Kasten am Strand, wo Gunter seine Fischerausrüstung aufhob. Ich hatte einen Schlüssel für das Vorhängeschloss.« »Also haben Sie außer dem anderen Mann nie jemanden gesehen oder gehört?« »Nein, nie.« »Können Sie den anderen Mann beschreiben?« Peregrine überlegte. »Er sah … gewalttätig aus. Blass, mit Skinhead-Frisur Wie diese Hunde, die immer erschossen werden müssen, weil sie Kinder beißen.« »Wo und wann sind Sie ihm begegnet?« »Vor etwa anderthalb Jahren war Anne einen Tag weg, und er kam mit Ray Gunter zum Haus. Er fragte mich geradeheraus, ob ich an jedem Ersten im Monat fünfhundert Pfund dafür haben wollte, gar nichts zu tun.« »Was haben Sie darauf gesagt?« »Ich sagte, ich würde drüber nachdenken. Er hatte mich nicht gebeten, irgendwas Illegales zu tun. Am nächsten Tag rief er mich an, und ich sagte Ja, und am Ersten des folgenden Monats lag das Geld in dem Kasten, genau wie er sagte.« »Sagte er ausdrücklich, sie würden Tabak und Alkohol an Land bringen?« »Nein. Seine Worte waren, sie würden die Tradition fortsetzen, die Zöllner zu überlisten.« 158
»Damit hatten Sie kein Problem?« Er lehnte sich zurück. »Nein, offen gesagt nicht. Wenn man ein Haus dieser Größe zu unterhalten hat, ist die Mehrwertsteuer ein Fluch, und wenn Gunter und sein Kumpel dem Zoll für sein Geld was zu tun gaben, dann viel Glück.« »Können Sie mir noch etwas sagen? Über ihre Autos? Über die Schiffe, von denen sie die Ladung übernahmen?« »Nein, tut mir Leid. Ich habe mich ehrlich an meine Seite der Absprache gehalten und Augen und Ohren zugemacht.« Ehrlich, sehr passendes Wort, dachte Liz. »Ihre Frau hat nie etwas gemerkt?« »Anne?«, fragte er, fast schon wieder so aufgeplustert wie sonst. »Nein, warum um alles in der Welt sollte sie? Sie hat nachts manchmal was poltern gehört, aber …« Liz nickte. Der zweite Mann musste Mitch sein, wer immer dieser Kerl war. Und der Grund, warum er so wütend war, als Gunter Cherisse vom Zigarettenschmuggel erzählte, war der, dass die beiden etwas viel Größeres zu verbergen hatten. Gunter war offensichtlich unvorsichtig gewesen und kein idealer Komplize. Da ihm aber die Boote gehörten und er die hiesigen Gezeiten und Sandbänke kannte, war er ein entscheidendes Rädchen im Getriebe. Würde Frankie Ferris etwas über Mitch liefern? Am Telefon wirkte er so, als ob er den Kerl kannte, was wiederum darauf schließen ließ, dass Mitch zu Eastmans Leuten gehörte. Aber das passte genau zu Ferris – er wollte unbedingt beweisen, wie nützlich er war, auch wenn er dabei die Fakten übertrieb. Sie blickte Peregrine an. Die urbane Fassade war fast wiederhergestellt. Sie hatte ihm kurz Angst eingejagt, mehr nicht. Auf dem Weg hinaus kam sie an Elsie Hogan vorbei, die mit verschränkten Armen in der Küchentür stand. Peregrine würdigte sie keines Blickes, aber Liz tat es und bemerkte dabei 159
die kalkuliert ausdruckslose Miene der älteren Frau. Hatte Elsie wohl die letzten zehn Minuten mit dem traditionellen Dienstbotenhobby verbracht und an der Tür gehorcht? Würden bald reißerische Geschichten über blanke Hintern und Prügelorgien in der Oberschicht die Runde beim Schlange stehen vor Haltestellen, Postschaltern oder Supermarktkassen machen?
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23 In den sechsunddreißig Stunden seit seiner Ankunft hatte Faraj Mansur kaum geredet. Er hatte die Umstände des Mordes an dem Fischer beschrieben und sich vergewissert, dass es keinen besonderen Grund gab, warum die Polizei an die Bungalowtür klopfen sollte, aber ansonsten geschwiegen. Von halb neun bis um zehn war er am Abend seiner Ankunft im Dunkeln am Strand entlanggelaufen. Er hatte gegessen, was die Frau ihm hinstellte, und nach jeder Mahlzeit ein paar Zigaretten geraucht. Zur vorgeschriebenen Zeit hatte er gebetet. Jetzt war er jedoch in der Stimmung, sich zu unterhalten. Er nannte die Frau Lucy, da dieser Name in ihrem Führerschein und den anderen Papieren stand, sah sie zum ersten Mal näher an und nahm ihre Anwesenheit wahr. Die beiden beugten sich über den Esstisch und studierten eine Landkarte. Aus Vorsicht benutzten sie zum Zeigen trockene Grashalme; sie wussten, dass Fingerspitzen feine, aber leicht nachweisbare Fettspuren auf Kartenpapier hinterließen. Straße für Straße, Kreuzung für Kreuzung planten sie ihren Weg. Wo es möglich war, wählten sie Nebenstraßen. Keine schmalen Landstraßen, auf denen jedes Auto ein ungewöhnliches Ereignis war, aber solche, wo Kameras zur Geschwindigkeitskontrolle sich nicht lohnten und die Polizei kaum auf Raser oder Alkoholsünder lauern würde. »Ich schlage vor, wir parken hier und gehen den Rest zu Fuß«, sagte sie. Er nickte. »Sechs Kilometer?« »Vielleicht sieben. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es in ein paar Stunden. Die ersten fünf Kilometer gibt es einen Pfad, deshalb werden wir nicht auffallen.« 161
»Und das hier? Was ist das?« »Ein Entlastungskanal für Überschwemmungen. Es gibt Brücken, aber das gehört zu den Sachen, die wir noch rausfinden müssen.« Er nickte und starrte konzentriert auf die sanft gewellte Landschaft. »Wie gut sind die Sicherheitsleute?« »Es wäre dumm, anzunehmen, dass sie nicht sehr gut sind.« »Werden sie bewaffnet sein?« »Ja. Heckler-und-Koch-MPs und kugelsichere Westen.« »Wonach werden sie suchen?« »Nach allem, was aus dem Rahmen fällt. Nach Personen oder Sachen, die hier nicht ins Bild passen.« »Werden wir passen?« Sie warf ihm einen Seitenblick zu und versuchte ihn so zu sehen, wie andere es tun würden. Seine hellhäutigen afghanischen Züge und grünen Augen wiesen ihn eindeutig als Nichteuropäer aus, aber das galt für Millionen britischer Bürger. Der konservative Schnitt und die eigenwilligen Einzelheiten seiner Kleidung deuteten auf jemanden, der zumindest in England erzogen worden war, und zwar wahrscheinlich auf einer Privatschule. Er sprach perfekt Englisch, und sein Akzent klang nach klassischem BBC-World-Service. Entweder hatte er seine sehr gute Schule in Pakistan besucht, oder er hatte in England Freunde aus der Oberschicht. »Ja.« Sie nickte. »Wir werden passen.« »Gut.« Er zog die marineblaue Baseballmütze auf, die sie in King’s Lynn für ihn gekauft hatte. »Du kennst den Ort? Man hat mir gesagt, dass du ihn gut kennst.« »Ja. Ich bin seit ein paar Jahren nicht mehr da gewesen, aber es kann sich nicht sehr verändert haben. Die Karte ist neu, und es sieht genauso aus, wie ich es im Kopf hatte.«
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»Du wirst nicht zögern, das zu tun, was getan werden muss? Du hast auch keine Zweifel?« »Nein.« Er nickte erneut und faltete sorgfältig die Karte zusammen. »In Takht-i-Suleiman haben sie mit Hochachtung von dir gesprochen. Sie sagten, du hättest dich nie beklagt, und am wichtigsten sei, dass du wüsstest, wann du schweigen musst.« Sie zuckte die Achseln. »Es gab genug Leute, die das Reden übernommen haben.« »Die gibt es immer.« Er griff in die Tasche. »Ich habe etwas für dich.« Es war eine Pistole. Eine kleine automatische Waffe, so groß wie ihre Hand. Sie nahm sie neugierig entgegen, entfernte das Magazin mit den fünf Patronen, spannte sie und zog den Abzug durch. »Neun Millimeter?« Er nickte. »Sie ist aus Russland. Eine Malyah.« Sie wog die Waffe in der Hand, schob das Magazin wieder hinein und probierte den Sicherungshebel. Beide wussten, wenn sie die Pistole benutzen musste, war das Ende nicht fern. »Dann haben sie also beschlossen, dass ich bewaffnet sein soll?« »Ja.« Sie nahm ihren wasserfesten Gebirgsanorak, zog den Reißverschluss am Kragen auf, nahm die Kapuze heraus und steckte sie mit der Malyah wieder hinein. Die Kapuze verbarg die kleine Ausbeulung. Mansur nickte zufrieden. »Darf ich dich etwas fragen?«, sagte sie vorsichtig. »Ja.« »Es scheint, als ob wir uns viel Zeit lassen. Heute eine Erkundung, morgen ein Ruhetag … Worauf warten wir? Warum 163
… tun wir es nicht einfach? Jetzt, wo der Fischer tot ist, wird es immer wahrscheinlicher, dass …« »Dass sie uns finden?«, fragte er lächelnd. »Hier wird nicht jeden Tag jemand erschossen«, beharrte sie. »Es werden Polizisten kommen, Pathologen, Gerichtsmediziner, Ballistiker … Was wird deine Kugel ihnen zum Beispiel erzählen?« »Nichts. Es ist ein Standardkaliber.« »Vielleicht in Pakistan, aber nicht hier. Die britischen Sicherheitsleute sind nicht dumm, Faraj. Sie werden ihre besten Leute schicken. Und wenn du an britische Fairness glaubst, kannst du das vergessen. Sobald sie auch nur den geringsten Verdacht haben, was wir planen – und eine Durchsuchung hier würde es ihnen sagen –, werden sie uns sofort töten, mit oder ohne Beweis.« »Du bist wütend«, sagte er amüsiert. Beide waren sich bewusst, dass sie zum ersten Mal seinen Vornamen gebraucht hatte. Sie legte die Fäuste auf den Tisch und schloss die Augen. »Ich sage, dass wir nichts ausrichten werden, wenn wir tot sind. Und mit jedem Tag, der vergeht, wird es wahrscheinlicher, dass … sie uns finden und töten.« Er blickte sie ohne jede Regung an. »Es gibt Dinge, die du nicht weißt«, sagte er. »Wir warten nicht ohne Grund.« Einen Moment begegnete sie dem Blick seiner blassgrünen Augen – dem Blick, durch den er eher wie fünfzig als wie knapp dreißig wirkte – und senkte dann gehorsam den Kopf. »Ich sage nur, du solltest unsere Gegner nicht unterschätzen.« Faraj schüttelte den Kopf. »Ich unterschätze sie nicht, glaub mir. Ich kenne die Engländer und weiß, wie tödlich sie sein können.«
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Sie sah ihn einen Moment an, nahm dann das Fernglas, öffnete die Tür, trat hinaus auf den Kiesstrand und suchte den Horizont ab. »Ist irgendwas zu sehen?«, fragte er, als sie wieder hereinkam. »Nichts.« Er beobachtete sie und bemerkte, wie ihr Blick zu dem Anorak schweifte, in dem die Malyah versteckt war. »Was ist los?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, machte zögernd einen Schritt zur Tür und blieb stehen. »Was ist los?«, fragte er wieder, diesmal mit wärmerer Stimme. »Sie suchen uns. Ich spüre es.« Er nickte langsam. »So sei es.«
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24 Liz zog den Mantel fester um sich und setzte sich auf eine Bank mit Blick aufs Meer. Das Watt war jetzt nicht mehr zu sehen, und die steigende Flut klatschte unruhig gegen die Mauer vor ihr. Eine Möwe landete plump neben der Bank, sah dann, dass Liz nichts zu essen dabei hatte, und flog wieder auf. Es war kalt, und der Himmel färbte sich am Horizont zu einem drohenden Schiefergrau, doch im Moment lag Marsh Creake noch im Sonnenlicht. Das aufbereitete Videoband sollte laut Goss gegen Mittag aus Norwich zurück sein. Der Special-Branch-Mann war überrascht gewesen, Liz so schnell wiederzusehen, da Whittens Untersuchung noch keinen Hinweis auf Ray Gunters Mörder erbracht hatte. Der Detective Superintendent hatte Goss gesagt, er sei »zu achtundneunzig Prozent sicher«, der Mord stehe in Verbindung mit dem Drogenschmuggel. Nach seiner Theorie war Gunter zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, hatte gesehen, wie eine Lieferung an Land gebracht wurde, und dafür eine Kugel in den Kopf bekommen. Das ungewöhnliche Kaliber der tödlichen Kugel bereitete Whitten keine großen Sorgen; britische Gangster benutzten nach seiner Überzeugung jede Waffe, die sie in die Hand bekamen. Liz dachte weiterhin über das nach, was sie von Peregrine Lakeby und Cherisse Hogan gehört hatte. Auf einer anderen Ebene traf sie eine Entscheidung über Mark. Soweit es sie betraf, war die Affäre vorbei. Es würde Augenblicke geben, in denen sie sich nach seiner Stimme und seiner Berührung sehnte, aber das musste sie ertragen. Sie wusste, dass solche Momente rasch seltener werden und dann ganz aufhören würden, und auch die körperliche Erinnerung an ihn würde verblassen.
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Es würde nicht schmerzlos sein, aber das war Liz nicht neu. Beim ersten Mal war es am schlimmsten gewesen. Mehrere Jahre, nachdem sie beim MI 5 begonnen hatte, war sie zur Eröffnung der Fotoausstellung einer Frau gegangen, die mit ihr studiert hatte. Sie hatte sie nicht gut gekannt, und die Gästeliste musste aus diversen Adressbüchern zusammengestellt worden sein. Unter den Gästen war auch ein attraktiver, nachlässig gekleideter Mann in ihrem Alter gewesen. Er hieß Ed und war ebenfalls nur sehr entfernt mit der Fotografin bekannt. Sie flüchteten in einen Pub in Soho. Ed war freischaffender Fernsehredakteur und arbeitete an einem Film über den Lebensstil von New-Age-Nomaden. Er hatte gerade vierzehn Tage lang einen Stamm begleitet, der in einem alten Bus von Lagerplatz zu Lagerplatz zog, und nach seinem windgegerbten guten Aussehen hätte er selbst dazu gehören können. Liz war vorsichtig, aber ihre gegenseitige Anziehung war irgendwie unausweichlich, und bald verbrachte sie so manche Nacht in dem umgebauten Lagerhaus in Bermondsey, das er mit einer wechselnden Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern teilte. Sie erzählte ihm, sie arbeite in der Personalabteilung des Innenministeriums, der Job sei auf eine unspektakuläre Weise befriedigend und sie sei während der Arbeitszeit nicht erreichbar. Ed, der auf den ersten Blick nicht besitzergreifend wirkte, schien damit keine Probleme zu haben. Wegen seiner Recherchen war er tagelang, manchmal sogar wochenlang weg, und sie fragte ihn bewusst nie darüber aus, damit er nicht dasselbe bei ihr tat. Sie lebten die meiste Zeit getrennt, ihr Zusammensein wurde aber von leidenschaftlichen Momenten des Kontakts erhellt. Ed war intelligent, unterhaltsam, und er sah die Welt aus einer faszinierend ungewohnten Perspektive. Fast jedes Wochenende gab es eine Party oder sonstige Veranstaltung in Bermondsey, und nach einer anstrengenden Woche bei der Abteilung für organisiertes
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Verbrechen war die kaleidoskopische Künstlerwelt, in die sie zeitweise eintauchte, eine willkommene Abwechslung. Eines Sonntagvormittags lag sie in Bermondsey im Bett, die Zeitung um sich herum verstreut, und beobachtete die langsam dahingleitenden Lastkähne und Kohlenfrachter auf der Themse. »Wo arbeitest du noch mal genau?«, fragte er und blätterte eine Farbbeilage durch. »Westminster«, sagte Liz vage. »Und wo genau in Westminster?« »An der Horseferry Road. Wieso?« Er griff nach seinem Kaffeebecher. »Hab nur grad dran gedacht.« »Ach, bitte, erinnere mich nicht an die Arbeit«, gähnte sie. »Es ist Wochenende.« Er trank und stellte den Becher wieder auf den Boden. »Ist das im Horseferry House in der Dean Ryle Street oder im Grenadier House in der Horseferry Road?« »Im Grenadier House«, murmelte Liz vorsichtig. »Warum?« »Welche Hausnummer hat das Grenadier House?« Langsam setzte sie sich aufrecht hin und sah ihn an. »Ed, warum fragst du mich das?« »Welche Hausnummer? Sag’s mir.« »Nicht, bevor du mir erklärst, warum du das wissen willst.« Er starrte geradeaus. »Weil ich letzte Woche die Zentrale vom Innenministerium in Queen Anne’s Gate angerufen habe, um dir eine Nachricht zu hinterlassen. Ich sagte, du würdest in der Personalabteilung arbeiten, und sie haben mir die Nummer vom Grenadier House gegeben. Also hab ich dort angerufen und gesagt, ich möchte eine Nachricht für dich hinterlassen, doch die Frau am Apparat hatte deinen Namen offensichtlich noch nie gehört. Ich musste ihn zweimal buchstabieren, und dann dachte 168
sie, ich sei in der Warteschleife, aber ich hörte sie mit jemandem reden, und der erklärte ihr, man dürfe niemals eine positive oder negative Aussage über Personen treffen und dem Anrufer nur sagen, er solle Namen und Telefonnummer hinterlassen. Das hab ich dann gemacht, und natürlich hab ich nichts von dir gehört, also hab ich noch mal angerufen, und diesmal hat sich jemand anders meinen Namen und meine Nummer notiert, wollte aber nicht sagen, ob du da arbeitest oder nicht. Schließlich hab ich ein drittes Mal angerufen, und diesmal haben sie mich an einen Vorgesetzten durchgestellt, der sagte, meine früheren Anrufe würden bearbeitet und die betreffende Beamtin würde sich ohne Zweifel bei mir melden. Jetzt frag ich mich, was soll der ganze Mist? Was hast du mir verschwiegen, Liz?« Sie verschränkte die Arme fest über der Brust. Inzwischen war sie wütend genug. »Hör mal zu. Das Grenadier House ist an der Horseferry Road 99. Dort ist die Personalzentrale vom Innenministerium, die unter anderem dafür zuständig ist, dass die Beamten ausreichend geschützt werden. Demnach können Leute, die zum Beispiel Entscheidungen über Einwanderung oder Gefängnisangelegenheiten zu treffen haben, nicht von jedem, der zufällig ihren Namen aufgeschnappt hat, am Telefon genervt, bedroht oder unter Druck gesetzt werden. Zufällig war ich die ganze Woche nicht da, weil ich in Croydon zu tun hatte. Bestimmt finde ich deine Nachrichten morgen als Erstes auf dem Schreibtisch. Bist du nun zufrieden?« Er war mehr oder weniger zufrieden, aber sie hatte diese Seite an ihm nie zuvor bemerkt und war froh, dass sie während der Ausbildung eine sehr ähnliche Szene als Rollenspiel geübt hatten. Sie machte sich jedoch keine Illusionen, dass er es dabei bewenden lassen würde. »Entschuldige bitte«, hatte er gesagt. »Es ist nur so, dass dieser Teil deines Lebens so … unbekannt ist. Ich bilde mir Sachen ein.« 169
»Was für Sachen?« »Ist nicht wichtig.« Sie hatte gelächelt, und sie hatten gefrühstückt und später einen langen Spaziergang am Treidelpfad neben dem Grand Union Canal gemacht, vom Limehouse Basin an King’s Cross vorbei bis Regent’s Park. Es war ein windiger Wintertag, so ähnlich wie dieser, und eine Menge Leute ließen Drachen steigen. Es war das letzte Mal, dass sie ihn sah. Abends hatte sie einen Brief an ihn eingeworfen, in dem sie schrieb, sie habe jemand anders kennen gelernt, und sie könnten sich nicht mehr sehen. Die folgenden Wochen waren wirklich schrecklich gewesen. Sie fühlte sich verletzt, als sei eine ganze Schicht ihres Lebens – alles, was ihm Farbe und Abwechslung gab – brutal weggerissen worden. Sie vergrub sich in ihre Arbeit, aber wegen deren mühseliger Langsamkeit und zahlreicher Rückschläge fühlte sie sich nur noch schlechter. Mit mehreren Kollegen hatte sie versucht, Informationen über eine kürzlich gebildete Verbindung südosteuropäischer Gangsterbanden zusammenzutragen. Das Sammeln und Analysieren von Überwachungsprotokollen und Telefonmitschnitten war Routinearbeit mit Dutzenden von Zielpersonen. Schließlich fand Liz die winzige Ritze in der Rüstung des Syndikats, die zum Durchbruch führte. Der Fahrer eines WestLondoner Verbrechersyndikats hatte eingewilligt, ihr gegen garantierte Straffreiheit Informationen zu liefern. Er war ihr erster selbst rekrutierter Agent, und als Scotland Yard das ganze Netzwerk aufrollte, dessen Zentrale in Acton saß, und dazu noch ein Waffendepot und Crack im Wert von mehreren hunderttausend Pfund fand, war sie hochzufrieden. Der Bruch mit Ed war die einzig mögliche Konsequenz gewesen, obwohl er sehr wehgetan hatte.
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An diesem Punkt wurde ihr schließlich die Wahrheit klar. Sie war keinesfalls, wie sie manchmal gemeint hatte, ein eckiger Klotz in einem runden Loch. Sie war genau die richtige Person für den richtigen Job. Die Einstellungsbeamten hatten sie besser gekannt als sie sich selbst. Sie hatten gesehen, dass sich hinter ihren stillen, grünen Augen eine unbeirrbare Entschlossenheit verbarg. Ein Hunger nach der gnadenlosen Anspannung der Jagd. Wahrscheinlich suchte sie sich deshalb Männer aus, die zwar attraktiv, aber letztlich verzichtbar waren. Denn wenn die Leidenschaft, die zu Beginn gebrannt hatte, sich in etwas Anspruchsvolleres und Komplexeres zu verwandeln drohte, hatte Liz auf sie verzichtet. Jedes Mal – und es hatte vielleicht ein halbes Dutzend Affären gegeben, manche kürzer, manche länger – schien es sich zunächst anders zu entwickeln, doch im Rückblick war es stets gleich abgelaufen. Sie konnte ihre Unabhängigkeit nicht einschränken, um auf die emotionalen Bedürfnisse eines Partners einzugehen. Dass dieser Kreislauf sie dazu brachte, ihre eigenen Gefühle zu verleugnen, erkannte sie genau. Jeder Abschied war eine Amputation, ein Schnitt mit dem Skalpell, für den die einzige Heilung in der Arbeit lag. »Das Band ist da«, sagte der neben ihr aufgetauchte Goss. »Danke.« Sie kehrte zurück in die Gegenwart, zu Wind und Flut. »Sagen Sie, Steve, wie deutlich war zu sehen, dass es beim Fairmile Café eine Videoüberwachung gab?« »Überhaupt nicht. Die Kamera befand sich auf einem Baum. Wenn man nicht wusste, dass sie da ist, war sie nicht zu sehen.« »Ich dachte, diese Dinger sollen abschrecken.« »Eigentlich schon, aber in diesem Fall reichte das nicht. Es gab öfter Diebstähle aus den Lastern, und die Besitzer des Cafés hatten einen Verdacht, wer dahinter steckte. Im Grunde wollten sie Beweismaterial, das man vor Gericht verwenden konnte.« 171
»Also hätte jemand beim Ausspähen nicht mitgekriegt, dass da eine Kamera war?« »Nein, auf keinen Fall.« »Dann war es ein guter Platz für ein Treffen oder eine Übergabe.« »Wenn man nicht Bescheid wusste, ja.« Er schaute düster in den sich verdunkelnden Himmel. »Hoffen wir, dass wir endlich was haben. Wir müssen mit der Sache vorankommen.« »Hoffen wir’s«, sagte Liz. Im Festsaal war es inzwischen ziemlich stickig. Aschenbecher standen herum, ein Wasserkocher war angeschlossen, und ein Heizlüfter brummte leise unter der Bühne. Während die Polizistin das Video zurückspulte, nahmen Liz und Goss sich Stühle. Whitten und drei Beamte gingen zielstrebig vor dem Bildschirm hin und her. Es roch entfernt nach verschiedenen Aftershaves. »Können Sie die Szene finden, wo Sharon Stone die Beine auseinander macht?«, fragte einer der Beamten in Zivil die Polizistin, während die anderen kicherten. »Davon träumst du«, gab sie zurück und wandte sich an Whitten. »Wir sind so weit, Sir. Soll ich es laufen lassen?« »Ja, fangen wir an.« »Sie haben das erste Fahrzeug, das wir gestern gesehen haben, rausgenommen«, flüsterte Goss Liz zu. »Das war bloß ein Typ, der seinen Laster für die Nacht parkte.« »Okay.« Während die Polizisten sich setzten, erschien eine Totale des Parkplatzes auf dem Schirm. Die nachbearbeitete Version wirkte ausgebleicht und flackerte, sodass Liz die Augen zusammenkniff. Das Band war gekürzt, und die Zeitangabe begann um vier Uhr zweiundzwanzig. Sie lief eine Minute lang, 172
dann wackelte ein silberfarbener LKW ins Bild, dessen Scheinwerfer weiße Linien hinterließen. Ohne Eile machte er eine Wendung in drei Zügen mitten auf dem holprigen Parkplatz, sodass er zur Ausfahrt stand. Dann gingen die Scheinwerfer aus. Nach mehreren Sekunden Stille sprang eine kräftige Gestalt aus der Fahrerkabine. War das Gunter?, fragte sich Liz, als sie einen blassen Fleck an seinem Oberkörper sah, vielleicht der weiße Sweater des Fischers. Während die Gestalt zur Rückseite des Lasters ging und verschwand, flammte in der Kabine kurz ein Licht auf und erhellte eine zweite Gestalt auf dem Fahrersitz. »Zündet sich eine Zigarette an«, murmelte Goss. Zwei Schatten kletterten hinten aus dem Laster, erst der Mann aus der Kabine, dann ein anonymer schwarzer Fleck, der womöglich einen Mantel oder Rucksack trug. Die beiden verschmolzen für einen Moment, dann trennten sie sich. Nach einer kurzen Pause ging die dunklere Gestalt geradeaus aus dem Bild. Fünfundzwanzig Sekunden später folgte ihr die andere. Das Bild wurde schwarz und setzte bei vier Uhr sechsundzwanzig wieder ein. Der LKW stand noch da, aber in der Kabine war kein Licht zu sehen. Nach sechzig Sekunden kam die dunklere der beiden Gestalten aus der Richtung zurück, in die sie gegangen war, und verschwand hinter dem Laster. Vierzig Sekunden später schaltete ein geparktes Auto die Scheinwerfer ein und setzte schnell aus der Parklücke zurück. Drinnen waren kurz eine Person auf dem Fahrer- und eine auf dem Beifahrersitz zu erkennen, doch der Wagen selbst war bloß ein schwarzer und fast formloser Fleck, und es war unmöglich, das Kennzeichen festzustellen. Er umkurvte den Laster, fuhr rasch zur Ausfahrt und verschwand aus dem Bild. Danach trat lange Stille ein. »Hat jemand eine Idee?«, fragt Whitten schließlich.
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25 Das Dorf West Ford lag knapp fünfzig Kilometer südöstlich von Marsh Creake im Distrikt Fenland und bot nur wenig Unterhaltung. Es gab eine kleine Autowerkstatt, einen Laden mit Poststelle und einen Pub, den George and Dragon. Aber kaum was für einen sexuell frustrierten Neunzehnjährigen mit freier Zeit, dachte Denzil Parrish. Und Denzil würde in den nächsten zwei Wochen viel freie Zeit haben. Er war am Vorabend aus Newcastle, wo er studierte, nach Hause gekommen. Zunächst hatte er überlegt, bis Heiligabend im Studentenwohnheim zu bleiben, wo eine Menge Partys stattfinden sollten und alle eine heiße Phase vorhersagten, aber er hatte seine Mutter im letzten Jahr kaum gesehen – seit ihrer Hochzeit, um genau zu sein – und deswegen das Gefühl, er solle versuchen, etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Also hatte er das getan, was er für anständig hielt: einen Rucksack gepackt und sich in einen Zug nach Süden gequetscht, der so voll war, dass der Kontrolleur irgendwann aufgab – um so besser, da Denzil keine Fahrkarte hatte –, und nach mehreren Verspätungen und verpassten Anschlüssen war er nach Einbruch der Dunkelheit in Downham Market angekommen, ohne Aussicht auf einen Bus nach West Ford. Er lief über sechs Kilometer durch den Regen und hielt bei jedem Auto den Daumen raus, bevor ein amerikanischer Luftwaffensoldat von einem der Stützpunkte anhielt. Er kannte West Ford und trank mit Denzil noch ein Bier im George and Dragon, bevor er weiter nach Süden zur Basis Lakenheath fuhr. Nachdem er weg war, sah Denzil sich im Pub um. Wie üblich war kein Mädchen allein da. sodass es keinen Grund gab, weiterzutrinken, obwohl er das gern getan hätte. Doch sein Geld war zu knapp, um es für einsames Trinken zu verjubeln – 174
Trinken ohne Aussicht auf weibliche Bekanntschaft. Durch die Studiengebühren und alles andere war er sowieso schon mehrere tausend in den Miesen. Er hätte wirklich im Norden bleiben sollen. In diesem Moment hätte er auf einer Party sein und das Bier von anderen umsonst trinken können. Mit ein bisschen Glück hätte er sogar ein fröhliches schottisches Mädchen kennen gelernt. Aber es hatte eben nicht sollen sein, und nachdem der warme VW Passat des Amerikaners in der nassen Dunkelheit verschwunden war, war er nach Hause getrottet, wo nur ein dämliches Geschöpf herumsaß, das sich als Babysitterin vorstellte. Seine Mutter sei irgendwo eingeladen, sagte sie, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. Ein Abendessen mit Tanz. Niemand hätte was davon gesagt, dass jemand aus Newcastle käme. Denzil fand eine Tiefkühlpizza im Gefrierschrank und setzte sich neben die Babysitterin. Er war so niedergeschlagen, dass er nicht mal einen Annäherungsversuch machte. Heute schien zumindest die Sonne, das war schon ein Plus. Seine Mutter hatte sich dafür entschuldigt, dass sie unterwegs gewesen war, als er nach Hause kam, ihm rasch einen Kuss auf die Wange gedrückt und war hinausgeeilt, um ein Fläschchen für das Baby zu machen. Was denkt sich die Frau eigentlich?, fragte Denzil sich vage. In ihrem Alter noch ein Baby zu haben, war das nicht würdelos? Ach, egal. War ja ihr Leben. Und ihr Geld. Er hatte beschlossen, seinen Neoprenanzug rauszuholen und Kajak zu fahren. Schon seit Jahren hatte er ein Projekt im Kopf – eigentlich seit sie nach West Ford gezogen waren –, nämlich die systematische Erkundung der miteinander verbundenen Entwässerungskanäle in der Gegend. Der Methwold-FenEntlastungskanal war mit dem Auto nur zehn Minuten entfernt und versprach viele Kilometer menschenleeres, aber befahrbares Wasser. Er könnte sogar eine Angelrute mitnehmen und sehen, ob er einen Hecht erwischte. Der einzige Vorteil des postnatalen Zustands seiner Mutter war der, dass sie seltener das Auto 175
brauchte. Der alte, klapprige Honda Accord ist zwar nicht gerade ein Mädchenmagnet, aber im ländlichen Norfolk gibt es sowieso nicht viele Mädchen, dachte Denzil pessimistisch. Das Problem waren die Amerikaner, obwohl sie freundlich und sympathisch waren. Es gab hunderte von ihnen, meistens ungebundene, junge Männer, und abends konnten sie außerhalb der Basis nirgendwo hingehen als in die örtlichen Pubs. West Ford lag mehrere Kilometer von der nächsten Basis entfernt, trotzdem war an den meisten Abenden eine Hand voll von ihnen im George, und obwohl das in Ordnung war, bedeutete es, dass ein verarmter Geologiestudent keine großen Chancen hatte, dort ein halbwegs gut aussehendes Mädchen zu treffen. Er warf den Neoprenanzug in den Kofferraum des Accords, manövrierte den Glasfiber-Kajak aus der Garage auf das Wagendach, wo er ihn mit ein paar elastischen Gurten fixierte. Der Kajak hatte den Vorbesitzern des Hauses gehört, genauer gesagt ihrer Tochter, die das Interesse daran verloren hatte und ihn daließ, als die Familie wegzog. Er hatte mehrere Jahre lang Staub und Schwalbendreck im Dachstuhl der Garage angesetzt, bevor Denzil sich entschloss, ihn sauber zu machen. Anfangs wollte er ihn verkaufen, aber dann hatte er eine Probefahrt auf dem Entlastungskanal unternommen und mehr Spaß gehabt als erwartet. Er erzählte so was nicht bei der ersten Verabredung, doch Denzil war ein begeisterter Vogelbeobachter, und das lautlose Gleiten zwischen den dicht bewachsenen Ufern der Kanäle hatte ihm Rohrdommeln, Teichrohrsänger, Rohrweihen und andere seltene Arten aus der Nähe gezeigt. Auf dem Weg aus dem Dorf musste er hinter einem Traktor mit Anhänger bremsen, der die Straße blockierte. Der Traktorfahrer versuchte den mit Düngersäcken beladenen Anhänger rückwärts in ein Feld zu rangieren. Wegen seiner Unerfahrenheit stellte sich der Anhänger aber immer wieder quer und streifte den Torpfosten. Da die Aktion offensichtlich länger dauern würde, stellte Denzil den Motor ab und lehnte sich 176
schicksalsergeben im Sitz zurück. Während er wartete, bemerkte er ein junges Paar in Wandersachen, das über das Feld auf ihn zukam. Sie gingen schnell – viel schneller als Touristen sonst –, und ihr Schritt war zielbewusst. Zumindest bei der Frau. Der Mann, ein asiatisch aussehender Typ, wirkte entspannter. Seine Arme schwangen locker neben dem Körper, und er schien über den feuchten, unebenen Boden weniger zu gehen als zu gleiten. Denzil hatte erst einen Menschen so gehen sehen, und das war der drahtige alte Exsergeant der Royal Marines, in dessen Bergsteigerschule in Wales er in dem Jahr zwischen Abitur und Studium gearbeitet hatte. Geistesabwesend dachte Denzil kurz darüber nach, ob es sexuell abartig sei, wenn man auf eine Frau in Regenjacke und Wanderstiefeln scharf wäre, und beobachtete das Paar aus dem Autofenster. Keiner von beiden lächelte, keiner machte den Eindruck, als sei er in Urlaub. Vielleicht waren sie solche Überflieger aus London, von denen man hörte. Leute, die sich nie entspannen konnten und sogar in ihrer Freizeit – selbst hier im nassen East Anglia – anstrengenden und leistungsorientierten Aktivitäten nachgehen mussten. Aus der Nähe sah die Frau auf eine nüchterne, ungeschminkte Art ganz attraktiv aus. Nur ein Lächeln fehlte noch. Die Antwort auf die Frage der Perversion war wohl, dass es ganz okay war, bis zu dem Punkt, wenn man Frauen Schlechtwetterkleidung anziehen musste, um scharf auf sie zu werden. Dann hatte man ein echtes Problem. Der Wagen hinter ihm hupte, und Denzil sah, dass der Traktorfahrer es endlich geschafft hatte, den Anhänger ins Feld zu lenken, und die Straße frei war. Er ließ den Honda an, fuhr mit zitterndem Auspuff und unspezifischen erotischen Fantasien weiter und vergaß das Paar in Wandersachen sofort wieder.
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26 »Also, wie sehen Sie das?«, fragte Liz, als sie und Goss wieder an der Bar des Trafalgars saßen. Goss überlegte. »Nach diesem Band zu urteilen, tappen wir immer noch im Dunkeln. Ich glaube, Ray Gunter war einer der beiden Männer in der Fahrerkabine, er folgte der Person aus dem Laderaum zum Toilettenhäuschen und wurde erschossen. Die Frage ist, wer war hinten drin? Don Whitten glaubt, wir haben’s mit Menschenschmuggel zu tun, und die Person, die Gunter rausließ, gehörte zur Ladung, aber für diese Theorie gibt’s keinerlei Beweise. Alle möglichen Leute fahren hinten in LKWs mit, und die meisten Menschenschmuggler bringen ihre Ladung in eine Großstadt und setzen sie nicht in Raststätten auf dem Land ab, wo sie von Typen in Limousinen abgeholt werden.« »Sah eher wie ein Wagen mit Heckklappe aus«, sagte Liz. Sie fühlte sich etwas schuldig, weil sie Goss über Mitch, Peregrine Lakeby und die Anrufe von Zander im Dunkeln ließ, aber bis sie mit Frankie Ferris gesprochen hatte, was am Abend passieren sollte, sah sie keinen Sinn darin, ihre Entdeckungen mit jemandem zu teilen. Sie war sich jetzt fast sicher, dass jemand eine begrenzte Schlepperoperation von Melvin Eastman dazu benutzt hatte, um eine bestimmte Person nach England einzuschleusen. Jemanden, der es aus irgendeinem Grund nicht riskieren konnte, mit einem falschen Pass einzureisen. Eastmans Gezeter über »Pakis und Beduinen« ließ darauf schließen, dass die Person Moslem war, und wenn das der Fall war, deutete der Gebrauch der PSSPistole auf einen besonders gut ausgerüsteten Aktivisten hin. Es war besorgniserregend, egal, von welcher Seite man es betrachtete. 178
»Zweimal Schellfisch mit Pommes«, sagte Cherisse Hogan munter, stellte zwei große ovale Teller vor sie hin und kam kurz darauf mit einer Schüssel voller Soßentütchen wieder. »Ich hasse diese verdammten Dinger«, sagte Goss und zerrte mit seinen breiten Fingern an einem davon. Es zerplatzte ihm in der Hand. Liz sah ihm einen Moment wortlos zu, dann nahm sie eine Nagelschere aus ihrer Tasche, schnitt sauber ein Tütchen mit Remoulade auf und drückte es auf dem Tellerrand aus. »Vorsicht«, warnte Goss und rieb sich die Finger ab. »Bloß keine Sprüche wie ›Wo rohe Kräfte sinnlos walten‹.« »Würde mir nicht im Traum einfallen«, erwiderte Liz und gab ihm die Schere. Sie aßen in geselliger Stille. »Besser als die Kantine in Norwich«, sagte Goss nach ein paar Minuten. »Wie ist Ihr Fisch?« »Gut. Ich frag mich nur, ob das ein Fisch von Ray Gunter ist.« »Wenn ja, dann hat er seine Rache gehabt«, sagte eine vertraute Stimme. Sie schaute hoch. Bruno Mackay stand neben ihrem Ellbogen und hielt seine Autoschlüssel in der Hand. Er trug eine hellbraune Lederjacke und hatte eine Laptoptasche über der Schulter. »Hallo Liz«, sagte er und streckte die Hand aus. Sie schüttelte sie und zwang sich, zu lächeln. Bedeutete seine Anwesenheit das, was sie glaubte? Verspätet schaute sie zu Goss, der neben ihr mit fragender Miene erstarrt war. »Äh … Bruno Mackay«, sagte sie. »Und das ist Steve Goss vom Special Branch in Norfolk.« Goss nickte, senkte die Gabel und streckte langsam die Hand aus.
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Bruno schüttelte sie. »Man hat mich gebeten, herzukommen und die Last mitzutragen«, erklärte er mit einem breiten Grinsen. »Ein bisschen mitzuhelfen.« Liz bemühte sich, zurückzulächeln. »Wie Sie sehen, ist die Last gerade nicht so schwer. Haben Sie schon was gegessen?« »Nein, ich falle gleich um. Ich sage mal der Grazie am Tresen Bescheid. Passen Sie doch kurz auf die hier auf …« Er legte seine Schlüssel auf den Tisch und ging zur Bar, wo er bald in eine vertrauliche Unterhaltung mit Cherisse vertieft war. »Irgendwas sagt mir, Sie sind gelinkt worden«, murmelte Goss. Liz verbannte alle Gefühle aus ihrer Miene.. »Nein, ich hatte nur mein Handy ausgeschaltet. Ich hab sicher den Anruf verpasst, dass er unterwegs ist.« »Möchten Sie noch was?«, rief Bruno fröhlich vom Tresen. Liz und Goss schüttelten die Köpfe. Die Augen von Cherisse leuchteten, wie Liz ärgerlich bemerkte. Mackay fühlte sich offenbar wie zu Hause. »Ihr Kumpel ist wohl ein toller Hecht«, bemerkte Goss trocken. »Kann man so sagen«, bestätigte Liz. Der Rest der Mahlzeit verlief wenig entspannend. An den Nebentischen saßen zu viele Leute, als dass man den Fall hätte erörtern können, stattdessen fragte Mackay Goss über die Sehenswürdigkeiten der Gegend aus. Liz hatte den Eindruck, er behandele ihn wie jemanden von der Tourismusinformation. »Angenommen, ich würde ein Wochenendhaus suchen, welchen Ort würden Sie mir empfehlen?«, fragte Mackay und steckte die Kreditkarte wieder ein, nachdem er nonchalant für alle drei bezahlt hatte. Goss schaute ihn ruhig an. »Burnham Market vielleicht«, sagte er. »Das ist bei den Range-Rover-Leuten sehr beliebt.« 180
»Au, das hat aber gesessen.« Mackay grinste mit übernatürlich weißen Zähnen. Er stand auf und griff nach seinen Schlüsseln. »Liz, darf ich Sie ein oder zwei Stunden von Steve entführen, damit Sie mich auf den letzten Stand bringen?« »Ich soll um zwei wieder in Norwich sein, also müssen wir sowieso los«, sagte Goss. Er warf Liz ein verstohlenes Augenzwinkern zu und winkte Mackay zu. »Danke für die Einladung. Das nächste Mal bin ich dran.« »Bis dann«, sagte Mackay. »Entschuldigen Sie mich«, bat Liz, als Goss weg war. »Ich bin gleich wieder da.« Von der Telefonzelle an der Promenade aus rief sie Wetherby an. Er hob beim zweiten Klingeln ab und klang müde. »Warum?«, fragte sie. »Tut mir Leid. Sie müssen Mackay mitnehmen. Ich habe da keine Wahl.« »Wegen Fane?« »Genau. Er will seinen Mann vor Ort haben. Er besteht sogar darauf, was ja auch sein gutes Recht ist.« »Voller Informationsaustausch?« Eine ganz kurze Pause. »So lautet die Vereinbarung zwischen unseren Diensten.« »Verstehe.« »Nehmen Sie ihn hart ran«, schlug Wetherby vor. »Er soll sich sein Gehalt verdienen.« »Keine Frage. Bleibt er die ganze Zeit hier?« »So lange wie nötig. Er erstattet Fane direkt Bericht, genau wie Sie mir.« »Natürlich. Ich habe heute Abend ein viel versprechendes Treffen mit Zander. Ich rufe Sie hinterher an.« »Tun Sie das. Und nehmen Sie unseren Freund auch mit.« 181
Er legte auf, und Liz starrte einen Moment auf den Hörer in ihrer Hand. Üblicherweise ging man allein zu einem Agententreffen. Sie zuckte die Achseln und legte auf. Formal war Zander nicht mehr ihr Agent, sondern der vom Special Branch. Da sie zwischen den Zeilen las und mehr auf die Pausen als auf die Worte hörte, wusste sie, dass Wetherby wollte, dass sie ihr eigenes Spiel fortsetzte, egal wie die offiziellen Regeln waren. Sie bildete sich aber auch nicht ein, Mackay würde alles mit ihr teilen, was er und seine Zentrale wussten. Er würde ebenfalls sein eigenes Spiel spielen. Deshalb war es sinnvoll, wenn sie den Austausch begann. »Mein Zimmer heißt ›Victory‹.« Mackay grinste, als sie zurückkam. »Ich dachte, das interessiert Sie.« »Faszinierend. Sie haben sich also schon einquartiert?« »Ja, die Grazie hat mir das Zimmer gegeben.« »Hoffentlich ziehen Sie die Kleine nicht auf. Sie ist eine potenziell nützliche Quelle für den Fall, und ich möchte sie nicht verlieren.« »Keine Sorge, ich verscheuche sie nicht. Ich habe sogar das Gefühl, als wäre das gar nicht so einfach.« »Hängt sie schon an der Angel?« »Das meinte ich nicht. Ich meinte, sie erweckt nicht den Eindruck, als würde sie schnell Angst kriegen.« »Ach so. Wollen Sie einen Spaziergang machen, während ich Sie informiere, oder oben herumsitzen? Mit anderen Worten, Meeresbrise oder Heizungsluft?« »Gehen wir raus. Ich habe den Verdacht, das Frittierfett hatte seine beste Zeit schon hinter sich. Etwas frische Luft wäre ganz gut.« Sie gingen zuerst nach Osten bis Creake Manor, wo Liz ihm von ihrer ersten Erkundung des Dorfes und ihrer Mutmaßung über den Segelclub erzählte. Als sie am Haus vorbei waren, 182
drehten sie um und wanderten zurück zu Headland Hall, das Mackay interessiert betrachtete. Liz erzählte von den Ermittlungen, Zanders Anrufen, den Schlüssen, die sie aus der Hartkernmunition gezogen hatte, ihrer Befragung von Cherisse Hogan und Lakeby und ihrer starken Gewissheit, dass der Mann neben Ray Gunter in der Fahrerkabine des Lasters Mitch gewesen sei. Schließlich äußerte sie die Hoffnung, dieser Mitch sei ein Komplize von Melvin Eastman, und Zander werde bei seiner Identifizierung helfen. »Und wenn dieser Mitch identifiziert ist?«, fragte Mackay. »Dann kann ihn sich die Polizei schnappen«, antwortete sie. Mackay spitzte die Lippen und nickte langsam. »Sie haben gute Arbeit geleistet«, sagte er ohne Herablassung. »Wie steht es mit Lakeby? Wollen Sie ihn auch festnehmen lassen?« »Hat nicht viel Zweck, glaube ich – er ist bloß ein Glied in der Kette, die zu Mitch führt. Wenn wir Mitch im Sack haben und er redet, brauchen wir Peregine Lakeby nicht.« »Meinen Sie, er wusste, was wirklich auf seinem Strand passierte?« »Kaum. Ich glaube, er wollte das Geld nehmen und nicht weiter drüber nachdenken. Er hat sich hinter dem Gedanken versteckt, es wären ehrliche Schmuggler, die ein paar Kisten Schnaps und Zigaretten an Land brachten. Er ist zwar ein hochnäsiger Snob, aber ich halte ihn nicht für einen Verräter. Ich glaube, er hat irgendwann gemerkt, dass die Sache nur in einer Richtung läuft, sobald man anfängt, Geld von Kriminellen anzunehmen.« »Was mögen Sie für Süßigkeiten?«, fragte Mackay nach ein paar Schritten. »Süßigkeiten?«
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Mackay grinste. »Man kann nicht ohne eine Papiertüte mit was Buntem und Klebrigem an einer englischen Seepromenade spazieren gehen. Am besten mit einer Plastikschippe abgefüllt.« »Ist das offizielle MI 6-Politik?« »Absolut. Gehen wir mal gucken, was der Dorfladen so zu bieten hat.« In dem kleinen Geschäft glättete eine Frau im blauen Nylonoverall gerade einige Exemplare der Sun und des Daily Express. Außerdem gab es Plastikspielzeug, Strickmuster und Regale mit staubigen Bonbongläsern. »Fliegende Untertassen!«, rief Mackay ungläubig aus. »Die hab ich ja seit … und Liebesherzen!« »Nur zu«, sagte Liz. »Der Fisch hat mir gereicht.« »Ach, kommen Sie schon, nehmen Sie wenigstens eine Lakritzschlange an. Davon kriegt man eine schwarze Zunge.« Liz lachte. »Sie wissen wirklich, wie man eine Frau verwöhnt.« »Plombenzieher?« »Nein!« Schließlich kaufte er eine Tüte fliegende Untertassen. Als die Tür hinter ihnen mit einem Klingeln zuschlug, sagte er: »Ich hab früher immer das Brausepulver aus diesen Dingern rausgepult und für einen Fünfer pro Line verkauft. Es gibt keinen schöneren Anblick als eine Gruppe von reichen Internatsschülern, die das Zeug schniefen und so zu tun versuchen, als wären sie völlig zugedröhnt.« Er reichte Liz die Tüte. »Was meinen Sie, was hat unser Mann vor?« »Unser Mann?« »Der Schütze. Warum hat er sich so viel Mühe gemacht, herzukommen?« Sie hatte das am Vorabend mit Wetherby diskutiert, war jedoch zu keinem Ergebnis gekommen. »Irgendeine spektakulä184
re Aktion vielleicht? Es gibt Stützpunkte der US-Air Force in Marwell, Mildenhall und Lakenheath, aber die sind streng bewacht und wären sehr schwierige Ziele für einen Einzelnen oder sogar ein kleines Team. Dann gibt es da noch das Atomkraftwerk in Sizewell, die Kathedrale in Fly und verschiedene öffentliche Gebäude, aber auch das wäre sehr schwierig. Ich halte ein Attentat für wahrscheinlicher; der Finanzminister hat ein Haus in Aldeburgh, der Staatssekretär vom Finanzministerium eins in Thorpeness und der vom Wirtschaftsministerium in Sheringham … Nicht die prominentesten Ziele, international gesehen, doch es gäbe ganz sicher Schlagzeilen, wenn man einen von ihnen erschießt.« »Sind ihre Leute gewarnt worden?«, fragte Mackay. »Ja, allgemein, sie sollen die Sicherheitsstufe erhöhen.« »Die Queen ist über Weihnachten wahrscheinlich in Sandringham?« »Stimmt, aber auch da müsste man wirklich bekloppt sein, wenn man sich mit irgendeiner Waffe in die Nähe wagen würde. Die Bewachung ist lückenlos.« Mackay steckte sich eine fliegende Untertasse in den Mund. »Ich glaube, wir sollten umkehren und mal schauen, was die Cops rausgekriegt haben. Wann wollen Sie los nach Braintree?« »Spätestens um fünf.« »Okay. Dann gehen wir zurück zum Trafalgar, bestellen Kaffee bei der süßen Cherisse, breiten ein paar Karten aus und versuchen, uns in diesen Mann reinzudenken.«
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27 »Das ist ein seltsames Land«, sagte Faraj Mansur, entfernte das Magazin aus der PSS und legte es vorsichtig auf den Tisch. »Es ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe.« Die Frau, die sich Lucy Wharmby nannte, schälte Kartoffeln und führte das Messer schnell und effizient, sodass die Schalen feucht über ihre linke Hand hingen. »Es ist nicht überall so öde und ungeschützt«, erwiderte sie. Er wartete, bis sie zu Ende geredet hatte. Draußen warf die Sonne ihr fahles Licht aufs Meer, aber der Wind zerfetzte die Wellenkronen zu feiner Gischt. »Ich glaube, das Land formt die Menschen«, sagte er schließlich und kontrollierte den Abzug der PSS, bevor er das Magazin wieder hineinsteckte. »Und ich glaube, ich verstehe die Engländer jetzt besser, weil ich ihr Land gesehen habe.« »Es ist ein kaltes Land«, sagte sie. »Ich habe meine Kindheit in einer kalten Wohnung mit dünnen Wänden verbracht und meinen Eltern beim Streiten zugehört.« Er steckte die Pistole ein und zog seinen Gürtel fester. »Worüber haben sie gestritten?« »Damals wusste ich das nie so genau. Mein Vater war Universitätsdozent in einer Stadt namens Keele. Es war ein guter Job für ihn, und ich glaube, er wollte, dass meine Mutter mehr am Campus-Leben teilnimmt.« »Und sie wollte nicht?« »Sie wollte nicht aus London wegziehen. Es gefiel ihr nicht in Keele, und sie machte keine Anstrengung, die Menschen kennen zu lernen. Schließlich ließ sie sich wegen Depressionen behandeln.« 186
Faraj runzelte die Stirn. »Woran hat sie geglaubt?« »Sie glaubte an … Bücher und Filme und Italienreisen und gemeinsame Essen mit ihren Freunden.« »Und dein Vater? Woran hat er geglaubt?« »An sich selbst. An seine Karriere, die Bedeutung seiner Arbeit und den Respekt seiner Kollegen.« Sie viertelte die Kartoffeln mit kurzen, zornigen Bewegungen. »Später, als die Depressionen meiner Mutter schlimmer wurden, glaubte er, er hätte das Recht, mit seinen Studentinnen zu schlafen.« Faraj schaute auf. »Hat deine Mutter es gewusst?« »Sie hat es schnell rausgekriegt. Sie war nicht dumm.« »Hast du es auch gewusst?« »Ich hab’s mir gedacht. Sie haben mich in eine Schule nach Wales geschickt.« Sie strich sich das Haar mit dem Handrücken aus den Augen. »Da ist das Land ganz anders als hier. Es gibt Hügel, und einen oder zwei kann man fast Berge nennen.« Er sah sie mit geneigtem Kopf an. »Du lächelst. Zum ersten Mal sehe ich dich lächeln.« Das Lächeln und die Hand mit dem Messer erstarrten. »Warst du glücklich in dieser Schule in den Hügeln, die fast Berge waren?« Sie zuckte die Achseln. »Ich denke schon. Ich habe nie drüber nachgedacht.« Unwillkürlich stieg eine Erinnerung in ihr auf, die sie seit einigen Jahren nicht mehr gehabt hatte. Ihre Freundin Megan hatte die magischen Pilze in dem Kiefernwald hinter der Schule entdeckt. Hunderte wuchsen auf faulen Holzstücken auf dem Waldboden. Megan, die mit fünfzehn schon eine hervorragende Biochemikerin gewesen war – besonders in Hinsicht auf Drogen –, hatte sie sofort erkannt. 187
Am nächsten Tag hatten die beiden Freundinnen sich vom Unterricht befreien lassen, um eine Wanderung in der Natur zu machen, wie es die Schule erlaubte und sogar förderte. Mit einer Sandwichdose aus Blech und einer Flasche verdünntem Orangensaft waren sie in den Wald geeilt, hatten jede ein halbes Dutzend Pilze geschluckt, eine Decke ausgebreitet und sich hingelegt, um auf die Wirkung der psychedelischen Gifte zu warten. Wenigstens eine halbe Stunde passierte gar nichts, dann spürte sie zugleich Übelkeit und Angst. Die Kontrolle über ihre Reaktionen schien ihr zu entgleiten; ihre Glieder und der sich zusammenkrampfende Magen gehörten nicht länger zu ihr. Plötzlich verschwand die Angst, und es war, als ertrinke sie in Sinneseindrücken. Die Geräusche des Waldes, zuvor ein kaum hörbarer Chor aus fernem Vogelgesang, rauschenden Ästen und Insektensummen, wurden fast unerträglich intensiv. Gleichzeitig verwandelte sich das gedämpft durch die Kiefernäste fallende Licht in eine Phalanx aus regenbogenfarbenen Speeren. Ihre Nase, Kehle und Lunge füllten sich mit dem scharfen Terpentingeruch des Harzes. Nach einer Weile – vielleicht Minuten, vielleicht aber auch Stunden – formten sich diese gesteigerten Eindrücke zu einer Art erhabener Architektur. Sie durchwanderte eine endlose und sich ständig verändernde Szenerie aus himmelhohen Zikkuraten, hängenden Gärten und gewaltigen Kolonnaden. Sie war zugleich innerhalb und außerhalb ihrer selbst, eine Beobachterin ihres eigenen Wegs durch dieses seltsame, exotische Reich. Als sich die Vision später langsam auflöste, verspürte sie eine starke Melancholie, und als sie abends versuchte, über die Erfahrung mit Megan zu sprechen, konnte sie nicht die richtigen Worte finden. Tief im Inneren wusste sie aber, dass die Bilder, die sie gesehen hatte, nicht zufällig, sondern vorbestimmt waren. Sie waren ein Zeichen – ein flüchtiger Blick ins Paradies. Sie hatten ihren Weg und ihre Entschlossenheit bestärkt. »Ja«, sagte sie. »Ich war dort glücklich.« 188
»Wie ging die Geschichte deiner Eltern weiter?«, fragte er. »Scheidung. Die Familie zerbrach. Nichts Ungewöhnliches.« Sie umfasste den Griff des Küchenmessers mit zwei Fingern und ließ es fallen, sodass die Spitze in dem feuchten Schneidebrett stecken blieb. »Und deine Eltern?« Faraj ging durchs Zimmer, nahm eins der billigen Gläser auf dem Tisch in die Hand, betrachtete es geistesabwesend und stellte es wieder hin. Dann hockte er sich auf den Boden, als werfe er die westliche Kultur, die er angenommen hatte, mit den Kleidern ab, die sie für ihn gekauft hatte. »Meine Eltern waren Tadschiken aus Duschanbe. Mein Vater war ein Kämpfer, ein Offizier von Achmed Schah Massud.« »Dem Löwen von Panjir.« »So ist es. Möge er ewig leben. Als junger Mann war mein Vater Lehrer gewesen. Er sprach Französisch und ein bisschen Englisch, das er von den englischen und amerikanischen Soldaten lernte, die mit den Mudschahedin kämpften. Ich ging auf eine gute Schule in Duschanbe, und als ich vierzehn war, folgten wir Massud nach Afghanistan, wo ich auf eine englischsprachige Schule in Kabul kam. Mein Vater hoffte, ich würde nicht dasselbe Leben führen müssen wie er, die Familie meiner Mutter hatte etwas Geld, und beide sahen die Bildung als Mittel zu meinem Vorwärtskommen an. Ihr Traum war, dass ich ein Regierungsbeamter würde.« »Was passierte dann?« »Sechsundneunzig kamen die Taliban. Sie hatten Geld aus den USA und aus Saudi-Arabien und belagerten Kabul. Wir konnten der Beschießung nachts entkommen, und mein Vater ging nach Norden, um sich wieder Massud anzuschließen. Ich wollte ihn begleiten, aber er schickte mich mit meiner Mutter und meiner jüngeren Schwester ins Grenzgebiet. Wir hatten gehofft, von da Pakistan zu erreichen, um den Taliban ganz zu entfliehen, aber viele andere hatten dieselbe Idee gehabt, und nach Monaten des 189
Herumwanderns blieben wir mit anderen vertriebenen Tadschiken und Pathanen, die ebenfalls gegen die Taliban waren, in einem Dorf namens Daranj, östlich von Kandahar.« »Was habt ihr dort gemacht?« »Wir träumten davon, wegzukommen und ein besseres Leben in Pakistan zu finden.« Er verstummte und schien in einem Tagtraum zu versinken. Seine Augen waren offen, doch sein Gesicht regungslos. Dann kehrte er zurück. »Schließlich wurde uns klar, dass es keinen Weg gab, die Grenze legal zu passieren. Wir hätten hinüberkommen können – es gab Leute, die einen für Geld über die Berge brachten –, aber wir wollten keine staatenlosen Flüchtlinge sein. Dafür waren wir uns zu schade. Nach mehreren Jahren des Kampfes kam mein Vater zurück. Er war verwundet worden und konnte nicht mehr kämpfen. Allerdings war jemand bei ihm, ein Mann, den mein Vater überzeugt hatte, mich über die Grenze nach Pakistan mitzunehmen. Ein einflussreicher Mann, der mich in einer madrassah, einer islamischen Hochschule, in Peshawar unterbringen sollte.« »Und so kam es?« »So kam es. Ich nahm Abschied von meinen Eltern und meiner Schwester, überquerte mit dem Mann bei Chaman die Grenze und zog nach Norden. Eine Woche später waren wir in Mardan, nordöstlich von Peshawar, und ich wurde in die madrassah aufgenommen. Genau wie an der Grenze stellte mir niemand Fragen.« »Wer war dieser einflussreiche Mann?« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »So viele Fragen, so wenig Zeit. Was hättest du mit deinem Leben gemacht, wenn es anders gekommen wäre?« »Das stand nicht zur Debatte«, antwortete sie. »Für mich gab es nie einen anderen Weg.« 190
28 Liz bestand darauf, dass sie und Mackay ihren Wagen nahmen. Das Treffen mit Zander gehörte zu ihrem Einsatz, und sie wollte Mackay zeigen, dass er nur der Begleiter war und sich anzupassen hatte. Mackay spürte ihre Entschlossenheit und diskutierte nicht, stattdessen gab er demonstrativ nach und fragte sie sogar, ob er dem Anlass entsprechend angezogen sei. Sie bejahte. Die Kleidung würde kein Aufsehen erregen, obwohl die braune Lederjacke und die Chinos von deutlich gehobener Qualität waren. Es war die Kleidung zusammen mit der Persönlichkeit. In einem Raum voller Menschen fiel er einem sofort auf. Er wirkte nun mal großspurig. In Pakistan fällt ein Europäer wohl als Europäer auf, er ist von vornherein anders, vermutete Liz. In Essex gab es aber unendlich viele subtile Abstufungen, wie Menschen sich gaben. Sie hatte ihre Arbeitsgarderobe mitgebracht und die Lederjacke und die Jeans angezogen. Vor allem die Jacke sah billig und unmodisch aus. Typ alleinerziehende Mutter beim Einkaufen. Etwas Make-up, strähniges Haar, angespannte Miene. So war sie auf jeder Hauptstraße unsichtbar. Bald darauf waren sie auf dem Weg Richtung Swaffham. Liz fuhr vorsichtig und hielt sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. »Erzählen Sie mir noch mal, warum Zander sich für uns so weit aus dem Fenster lehnt«, sagte Mackay und griff hinter sich, um die Kopfstütze zu verstellen. »Was springt für ihn dabei raus, außer Ihrer Anerkennung?« »Meinen Sie, das reicht nicht?«
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Er grinste schuldbewusst. »Die verdient man sich wohl nicht so leicht; ich könnte auch ein bisschen brauchen. Aber gut, davon abgesehen.« »Ich bin seine Versicherung. Wenn er mir nützliche Informationen liefert, weiß er, dass ich ihm helfe, falls das Drogendezernat oder die Kripo ihn festnehmen. Deswegen wollte er nicht mit Bob Morrison reden. Morrison ist einer von den abgebrühten Special-Branch-Männern, die die Zanders dieser Welt nicht ausstehen können, und Zander weiß das.« »Scheint ein bisschen kurzsichtig von Morrison zu sein.« »Kommt wohl auf den Standpunkt an. Ich habe den Verdacht, früher oder später wird die Polizei Melvin Eastman hochnehmen und etwas wird kleben bleiben, und wenn das passiert, brauchen sie jemanden wie Zander, der als Zeuge gegen ihn aussagt.« »Nach dem, was Sie sagen, wäre dieser Eastman darüber gar nicht erfreut. Er würde versuchen, ihn umlegen zu lassen, und das weiß Zander garantiert.« »Bestimmt, aber wenn er mir vertraut – und ich hab ihn immer fair behandelt –, kann ich ihn vielleicht doch zu einer Aussage überreden.« Sie kamen vierzig Minuten zu früh in Braintree an und folgten den Wegweisern zum Bahnhof. »Können wir noch mal durchsprechen, wie Sie vorgehen wollen?« »Sicher. Er will, dass ich allein auf die oberste Etage des Parkhauses komme, deshalb setze ich Sie ein paar Minuten vorher draußen ab. Ich fahre hoch und parke. Sie folgen zu Fuß, postieren sich neben dem Treppenhaus und notieren die Autos, die reinfahren. Wenn ich Zander sehe, ruf ich Sie an und beschreibe Ihnen seinen Wagen. Sobald Sie sicher sind, dass ihm niemand gefolgt ist, rufen Sie zurück, und ich nehme Kontakt mit ihm auf.« 192
Mackay nickte. Es handelte sich um eine Standardsituation. Frankie Ferris war ein vorsichtiger Mensch, aber nach den Ereignissen der letzten Tage war es durchaus möglich, dass Eastman ihn beschatten ließ. Liz hielt vor dem Bahnhof, sie stellten ihre Handys auf Vibrationsalarm und programmierten die Nummer des anderen ein. Dann zog Mackay den Reißverschluss seiner Jacke zu, stieg aus und verschwand im Dunkel. Liz fuhr auf das oberste Parkdeck. Während sie im Lauf der nächsten halben Stunde wartete, fuhren noch drei Wagen weg. Mehrere Autos fuhren ins Parkhaus, aber alle parkten auf den halb leeren unteren Etagen. Schließlich kam um fünf vor acht ein silberner Nissan Aimera aufs oberste Parkdeck, und Liz erkannte Frankie Ferris hinter dem Lenkrad. Rasch drückte sie die Kurzwahltaste ihres Handys. »Geben Sie mir ein paar Minuten«, sagte Mackay gedämpft. Frankie parkte in der am weitesten von ihr entfernten Ecke, und sie sah ihn auf die Armbanduhr schauen, bevor er Scheinwerfer und Motor ausschaltete. Drei Minuten nach acht summte ihr Telefon. »Jemand ist ihm gefolgt«, sagte Mackay. »Dann breche ich ab«, erwiderte Liz sofort. »Warten Sie in fünf Minuten draußen auf dem Bürgersteig.« »Nicht nötig. Machen Sie weiter.« »Das Treffen ist geplatzt. Raus hier.« »Zanders Schatten hatte ein Problem. Er liegt außer Gefecht im Treppenhaus. Machen Sie weiter.« »Was haben Sie getan?«, zischte Liz. »Die Lage gesichert. Los jetzt! Sie haben drei Minuten.« Ihr Telefon verstummte.
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Liz sah sich um. Es gab kein Zeichen irgendeiner Bewegung. Voller Misstrauen stieg sie aus dem Audi und überquerte das Parkdeck. Als sie sich dem silbernen Almera näherte, sah sie das Seitenfenster heruntergleiten. Im gepolsterten Wageninneren wirkte Frankie dünn und ängstlich. »Nehmen Sie das«, sagte er mit zitternder Stimme. »Und tun Sie so, als ob Sie mich bezahlen.« Er reichte ihr eine kleine Papiertüte und Liz griff in die Tasche, und tat so, als gäbe sie ihm Geld. »Wer ist Mitch?«, fragte sie drängend. »Kieran Mitchell. Macht Transporte, ist Geldeintreiber und alles Mögliche. Er hat einen großen Laden auf einem eingezäunten Gewerbegebiet bei Chelmsford.« »Arbeitet er für Eastman?« »Mit ihm. Hat seine eigenen Leute.« »Kennst du ihn?« »Hab ihn mal gesehen. Er geht mit Eastman manchmal einen trinken. Sieht eklig aus. Weiße Wimpern wie ein Schwein.« »Sonst noch was?« »Ja, er ist bewaffnet. Und jetzt hauen Sie ab. Bitte.« Liz ging rasch zum Audi zurück und fuhr die Rampe hinunter. Eine Etage tiefer hielt sie für Mackay, der an einer Barriere lehnte. »Verdammt, was ist hier los?«, fragte sie wütend. Er sprang auf den Beifahrersitz. »Haben Sie Mitch identifiziert?« »Ja.« Sie drehte das Lenkrad bis zum Anschlag, um die Rampe hinunterzufahren. »Aber was zum Teufel haben Sie gemacht?« »Zander wurde verfolgt. Eastman hat offensichtlich was gerochen. Der Typ hat hier geparkt. Er kam eine Minute, nachdem Ihr Mann oben war.« »Woher wissen Sie, dass er ihm gefolgt ist?« 194
»Ich bin ihm zur Treppe nachgeschlichen, und er ging hoch, nicht runter. Also hab ich ihm eine verpasst.« Sie stieg so abrupt auf die Bremse, dass sie quietschte. »Was soll das heißen, eine verpasst?« Mackay fasste in die Tasche und holte einen schmalen Plastikgegenstand heraus, der einem Handy ähnelte. »Der C6-Elektroschocker von Oregon Industries alias der kleine Freund. Schickt sechshunderttausend Volt direkt ins zentrale Nervensystem. Ergebnis: Zielperson für drei bis sechs Minuten außer Gefecht gesetzt, je nach Konstitution. Ideal für Zellendurchsuchungen, Widerstand bei Festnahme oder Bändigung gewalttätiger Geisteskranker.« »Und in Großbritannien illegal«, gab Liz wütend zurück. »Es wird im Moment von der Londoner Polizei getestet, aber das wollen wir mal nicht so eng sehen. Der Punkt ist, dass Elektroschocker oft auch von Kriminellen benutzt werden, deshalb habe ich unserem Mann Uhr und Brieftasche abgenommen. Ich vermute, er wird das Ganze für sich behalten. Er würde verdammt dumm dastehen, wenn er Eastman gestehen müsste, er hätte seinen Job nicht gemacht, weil er in einem Treppenhaus ausgenommen wurde.« »Das hoffen Sie.« »Hören Sie zu, Zander ist aufgeflogen«, sagte Mackay. »Wenn er beschattet wurde, ist das doch klar. Wichtig war, Mitch zu identifizieren. Wir hätten bestimmt keine zweite Gelegenheit gehabt. Im Moment schlage ich vor, wir hauen hier ab, bevor der Typ wieder auf den Beinen ist.« Liz ließ die Kupplung bewusst unsanft kommen und den Audi vorwärts schießen. »Wenn Sie da gerade einen Unbeteiligten misshandelt haben …« »Dann wird es ihm bald wieder gut gehen«, erwiderte Mackay. »Diese Dinger hinterlassen keine bleibenden Schäden. Sie sind 195
an Polizisten in Los Angeles getestet worden – keine sehr komplexe Lebensform, gebe ich zu, aber …« »Was sollen wir jetzt mit der Uhr und der Brieftasche machen, die Sie ihm abgenommen haben?« »Den Besitzer rausfinden und überprüfen, ob er zu Eastmans Leuten gehört. Wenn Sie wollen, können wir sie ihm dann anonym mit der Post schicken und dazuschreiben, wir hätten sie im Parkhaus gefunden. Wie wär das?« Sie starrte nur stumm auf die Straße. »Liz, ich weiß, Sie ärgern sich, dass ich in Ihren Fall geplatzt bin, besonders nachdem Sie die ganze Vorarbeit gemacht haben. Ich verstehe es wirklich. Aber wir wollen doch schließlich beide dasselbe, nämlich diesen Mistkerl finden, bevor er noch mehr Leute umbringt, stimmt’s?« Sie atmete tief ein. »Damit hier eins klar ist«, sagte sie schließlich. »Wenn wir zusammenarbeiten sollen, legen wir zunächst die Regeln fest, und die erste lautet, dass wir sauber arbeiten. Keine Einzelaktionen, keine Wunderwaffen. Sie haben das Leben meines Agenten riskiert und damit die ganze Operation.« Mackay wollte antworten, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Wenn dieser Fall mit einer Festnahme endet und wir ungesetzlich gehandelt haben, wird es ein gefundenes Fressen für die Verteidigung sein. Wir sind hier in England, nicht in Islamabad, ist das klar?« Er zuckte die Achseln. »Zander ist ein toter Mann, und das wissen Sie.« Fr drehte sich zu ihr um. »Sie glauben, dass Bob Morrison von Eastman bezahlt wird, nicht?« »Dann sind Sie also auch drauf gekommen.« »Ich hab mich gefragt, warum Sie unbedingt wollen, dass Zander Mitch identifiziert, wo es doch viel einfacher gewesen wäre, den Special Branch in Essex zu fragen. Aber Sie hatten 196
Angst, dass Morrison Eastman Bescheid sagt und Mitch verduftet.« »Ich hielt es jedenfalls für möglich«, gab Liz zu. »Die Wahrscheinlichkeit beträgt eins zu hundert. Ich habe nichts gegen Morrison in der Hand, überhaupt nichts. Es ist bloßer Instinkt.« »Können wir in Zukunft unsere Instinkte austauschen?« »Gucken wir mal, wie es läuft.« Sie nahm eine Hand vom Lenkrad, holte die Papiertüte aus der Tasche, die Frankie Ferris ihr gegeben hatte, und reichte sie Mackay. »Zander war extrem nervös«, sagte sie. »Er wollte, dass ich so tue, als ob ich bei ihm Drogen kaufe, also muss er vermutet haben, dass Eastman ihn beschatten lässt. Gucken Sie mal, was da drin ist.« Mackay schaute in die Tüte. »Smarties. Toll!«
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29 Als Kieran Mitchell den Brentwood Sporting Club erreichte, wusste er, dass er den letzten Abend für lange Zeit in Freiheit verbrachte. Seine Frau Debbie, ganz aufgelöst vor Sorge und Stolichnaya-Wodka, hatte angerufen und gesagt, ein ganzer Haufen Polizisten sei da gewesen, und auf seiner Mailbox waren Nachrichten von Freunden aus wenigstens einem halben Dutzend Pubs und Clubs gewesen. Sie suchten ihn und klapperten systematisch alle seine Stammplätze ab. Er schaute sich in der gewohnten Umgebung um, als versuche er, sich die Einzelheiten ins Gedächtnis zu brennen – die Gäste auf den ochsenblutroten Ledersitzbänken, die weiblichen Croupiers in ihren engen roten Kleidern, der Zigarettenrauch zwischen den Lampen über den Black-Jack-Tischen. In den kommenden Monaten würde er etwas brauchen, an dem er sich festhalten konnte. Bitter prostete er seinem Spiegelbild hinter der Bar mit einem Glas Johnny Walker Black Label zu. Ein hässlicher Kerl war er immer gewesen, aber auch ein Mann, der die Dinge zusammenhalten konnte, wenn die Lage es erforderte. »Bist du allein da, Schätzchen?« Sie war um die vierzig. Blonde Strähnchen, Glitzertop, verzweifelter Blick. Es gab sie in jedem Casino, die Frauen, die alles verpulvert hatten und dann wie Mücken die männlichen Gäste umschwärmten. Mitchell wusste, für eine Hand voll Jetons hätte er sie zehn Minuten im Auto haben können, aber heute Abend war er einfach nicht in Stimmung. »Ich warte auf jemanden, tut mir Leid«, sagte er. »Jemand Nettes?« Darüber musste er lachen, antwortete jedoch nicht, und schließlich ging sie weg. Seit dem Moment, als er in die Toilette 198
des Fairmile Cafés gegangen war und Ray Gunters Leiche auf den Fliesen liegen sah, hatte er gewusst, dass der Schlepperring am Ende war. Die Polizei hatte keine Wahl, sie musste die Sache verfolgen, so weit die Spur führte. Und sie führte natürlich zu ihm. Er war mit Gunter gesehen worden, er war als Geschäftspartner von Melvin Eastman bekannt … Er nahm einen großen Schluck Scotch und füllte das gravierte Glas aus seiner eigenen Flasche nach. Jetzt war er am Arsch. Warum hatte Eastman sich bloß mit den dämlichen Krauts eingelassen? Bevor sie angekommen waren, hatte er ohne Probleme illegale Einwanderer für die Karawane transportiert. Asiaten, Afrikaner, Prostituierte aus Albanien und dem Kosovo, alle eingeschüchtert und respektvoll, wie es sich gehörte. Keine Probleme, kein Streit, und jeder ging zufrieden nach Hause. Sobald er jedoch den Paki gesehen hatte, hatte er gewusst, es würde Ärger geben. Eine raue Überfahrt machte die meisten weich, aber den nicht. Er war ein Durchgedrehter, eine ganz harte Nuss. Mitchell schüttelte den Kopf. Er hätte ihn ertränken sollen, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Mitsamt seines Rucksacks über Bord stoßen – er hatte gehört, die meisten Asiaten könnten nicht schwimmen. Ray Gunter, dieser Idiot, hatte natürlich den Rucksack bemerkt und beschlossen, ihn dem Paki abzunehmen. Er hatte nichts davon gesagt, ihn zu stehlen, aber im Nachhinein war es ganz offensichtlich. Und so hatte dieser durchgedrehte Paki ihn umgelegt. All diese Ereignisse führten ihn, Kieran Mitchell, in seinem schiefergrauen Seidenanzug und dem mitternachtsblauen Versace-Hemd zu diesem Augenblick. Zu diesem Glas Scotch, das auf Jahre hinaus sein letztes sein konnte. Mordkomplott, Einwanderungsvergehen, sogar Terrorismus. Er durfte gar nicht dran denken. Nicht zum ersten Mal kam ihm die Idee, zu verschwinden. Aber wenn er verduftete und sie ihn fanden – und das würden sie ganz bestimmt –, würde es noch schlechter für 199
ihn aussehen. Es würde ihm die einzige Karte aus der Hand schlagen, die er noch hatte. Die Karte, die er richtig ausspielen musste, um … Im Spiegel sah er, worauf er seit fast einer Stunde wartete. Bewegung am Eingang. Zielbewusste Männer in nicht allzu teuren Anzügen. Die Menge wich auseinander. In drei gemessenen Schlucken trank er seinen Scotch aus und griff nach der Garderobenmarke in seiner Hosentasche. Es war kalt draußen, deshalb hatte er den dunkelblauen Kaschmirmantel angezogen.
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30 Sobald Liz das Polizeirevier in Norwich betrat, spürte sie die stille Erregung. Die Aufklärung des Gunter-Mords stagnierte, und plötzlich gab es eine solide Spur in Gestalt eines wichtigen Partners von Melvin Eastman. Man hatte zunächst angedacht, Kieran Mitchell nach Chelmsford zu bringen, wo alle EastmanAkten aufbewahrt wurden, aber Don Whitten hatte auf Norwich bestanden. Dies war seine Mörderjagd, und jeder Handschlag der Ermittlungen würde in seinem Zuständigkeitsbereich stattfinden. Als Liz und Mackay den Besprechungsraum des Reviers betraten, war er bereits mit ungestüm wirkenden Beamten in Hemdsärmeln überfüllt, die einer nach dem anderen dem unbehaglich wirkenden Steve Goss gratulierten. Unter ihnen war auch Bob Morrison vom Special Branch in Essex, der als Beobachter geschickt worden war. Don Whitten hielt einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand und verfolgte das Treiben. Als Goss Liz sah, winkte er und löste sich aus der Menge. »Die meinen, ich hätte die Festnahme in die Wege geleitet«, murmelte er und fuhr sich durch das struppige rötliche Haar. »Ich fühle mich wie ein Hochstapler.« »Genießen Sie’s«, sagte Mackay. »Und beten wir, dass es keine Sackgasse ist«, setzte Liz hinzu. Sobald Mackay und sie Braintree verlassen hatten, rief sie Goss an und setzte ihn auf Kieran Mitchell an. Dann fuhren sie Richtung Osten nach Norwich und nahmen sich unterwegs jeder eine Pizza und ein italienisches Bier mit. Für den Moment hatte Mackay die Rolle des romantischen Verführers abgelegt, vielleicht um Liz’ Zorn zu besänftigen, und mit einem Mal erwies er sich als überraschend unterhaltsamer Begleiter. Er 201
verfügte über einen fast unerschöpflichen Schatz an Geschichten, die meisten über das Benehmen – oder schlechte Benehmen – seiner Geheimdienstkollegen. Zugleich nannte er aber nie jemanden direkt beim Namen, egal wie sehr Liz nachbohrte. Wenn Namen fielen, waren es nie die der Leute, welche die von Mackay beschriebenen Cowboyaktionen begangen hatten, sondern die ihrer Freunde, Kollegen oder Vorgesetzten. Er vermittelte einen Eindruck extremer Offenheit, verriet jedoch kaum mehr als das, was man sich in Geheimdienstkreisen ohnehin erzählte. Er durchschaut mich, dachte Liz, der das Spiel gefiel. Er weiß, dass ich ihn beobachte und warte, bis er einen Fehler macht. Er versucht, den tollkühnen Einzelgänger zu spielen, denn wenn er mich davon überzeugen kann, höre ich auf, ihn ernst zu nehmen. Und sobald ich ihn nicht mehr ernst nehme, legt er mich irgendwie rein. Das Ganze entbehrte nicht mal einer gewissen Eleganz. Sie hatte Goss am Telefon über die Gespräche mit Cherisse Hogan und Peregrine Lake informiert, die sie zu Kieran Mitchells Namen geführt hatten, und vorgeschlagen, er solle die Festnahme in die Wege leiten. Beeindruckt von ihrer Ermittlungsarbeit stimmte er zu, denn er verstand, dass sie bei der Affäre im Hintergrund bleiben musste. Liz hatte erwogen, Goss ihre Besorgnis wegen Bob Morrison mitzuteilen, schließlich aber beschlossen, die Sache ruhen zu lassen. Nur ein Instinkt sagte ihr, dass er von Eastman bezahlt werden könnte – sie hatte keinerlei Beweise außer seiner lässigen Pflichterfüllung und dem allgemeinen Eindruck der Käuflichkeit. Außerdem würde Eastman mit oder ohne Morrison erfahren, dass Kieran Mitchell festgenommen worden war, und entsprechende Vorbereitungen treffen. Falls Mitchell solide Informationen lieferte und bereit war, vor Gericht auszusagen, wäre Eastman sowieso aus dem Spiel. 202
Mit der Rückkehr von Mitchells Anwalt aus dessen Zelle traten wieder Ordnung und Ruhe ein. Mr Honan war eine elegante Gestalt mit dem soliden Ruf eines »Gangsteranwalts«. Er dankte dem Beamten, der ihn zu den Zellen und zurück begleitet hatte, und bat Whitten um ein Gespräch unter vier Augen. Während Whitten und Honan in einem der Vernehmungsräume Platz nahmen, führte Goss Liz und Mackay in den danebenliegenden Beobachtungsraum, wo ein halbes Dutzend Plastikstühle vor einer rechteckigen, einseitig verspiegelten Glasscheibe standen, die nur von dieser Seite durchsichtig war. Einen Augenblick später kam auch Bob Morrison herein und begrüßte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Im Vernehmungsraum auf der anderen Seite verströmte eine Neonröhre ihr hartes, bleichendes Licht. Die weiße Resopaloberfläche des Tisches war voller Brandflecken von Zigaretten. Es gab keine Fenster. »Könnten Sie bitte noch mal wiederholen, was Sie eben sagten?«, fragte Whitten. Seine durch die Lautsprecher im Beobachtungsraum verstärkte Stimme klang rauer als gewöhnlich. »Kurz gesagt – mein Mandant will nicht ins Gefängnis«, sagte Honan. »Im Gegenzug für die garantierte Immunität vor Strafverfolgung ist er bereit, auszusagen und die nötigen Beweise zu liefern, um Melvin Eastman wegen Drogenschmuggel, Zuhälterei und eines Mordkomplotts zu verurteilen.« Er zögerte, um das Angebot wirken zu lassen. Liz bemerkte, dass der links von ihr sitzende Morrison ungläubig den Kopf schüttelte. »Mein Mandant hat außerdem Informationen über den Mord an Ray Gunter, die er vollständig offen legen will. Verständlicherweise möchte er sich damit aber nicht selbst belasten.« 203
Whitten nickte. Massig saß er in seinem zerknitterten grauen Anzug da. Ein Falte erschien in seinem stoppeligen Nacken. »Darf ich fragen, womit er sich zu belasten glaubt, wenn er die Fakten im Fall Ray Gunter offen legt?« Honan schaute auf seine Hände. »Wie ich schon sagte, ich kann nur völlig unverbindlich sprechen, doch ich habe den Eindruck, der Bereich des Strafrechts, um den es sich handelt, könnte mit Einwanderung zu tun haben.« »Sie meinen Menschenschmuggel?« Honan schürzte die Lippen. »Ich sagte bereits, mein Mandant möchte nicht ins Gefängnis. Er hat die meiner Ansicht nach nicht ganz unbegründete Befürchtung, wenn er gegen Melvin Eastman aussagt und danach ins Gefängnis geht, wird man ihn umbringen. Eastman hat einen langen Arm, ob er sitzt oder nicht. Mein Mandant verlangt Immunität vor Strafverfolgung und eine neue Identität – das komplette Zeugenschutzprogramm. Im Gegenzug liefert er Ihnen die Beweise, um Melvin Eastman zu verurteilen.« »Das ist das Problem mit englischen Kriminellen«, murmelte Morrison. »Die meinen alle, sie wären in einem verdammten Mafiastreifen aus Hollywood.« Auf der anderen Seite der Scheibe ging Whittens Geduld mit Honan sichtlich rasch zu Ende. Dabei braucht er unbedingt jede Hilfestellung, die Mitchell ihm geben kann, dachte Liz. Laut Goss hatte Whitten die Presse vorerst ruhig gehalten, aber er musste bald eine handfeste Spur im Fall Gunter präsentieren, sonst riskierte er den Vorwurf der Inkompetenz. »Ich schlage Folgendes vor«, sagte er gerade. »Ihr Mandant erzählt uns sofort und bedingungslos alles, was er über den Mord an Ray Gunter weiß. Alles – genau wie es seine gesetzliche Pflicht ist. Wenn wir mit seiner Kooperation vollständig zufrieden sind, können wir gerne …« er zuckte schwer die Achseln, »die notwendigen Gespräche führen.« 204
»Das geht nicht«, zischte Liz und blickte hilfesuchend von Goss zu Mackay. »Wenn wir damit zum Oberstaatsanwalt und zum Innenministerium müssen, hängen wir tagelang fest. Mitchell muss jetzt auspacken.« »Könnten Sie nicht mit Whitten reden?«, fragte Mackay Goss. »Sagen Sie ihm …« »Keine Sorge«, gab Goss zurück. »Don Whitten weiß, was er tut. Die ganze Sache mit der Immunität bedeutet bloß, dass der Anwalt sich sein Honorar verdient. Er muss zu seinem Mandanten zurückgehen und sagen können, er hätte es versucht.« »Darf ich das als ein Ja verstehen?«, fragte Honan. »Eine Übereinkunft, dass Sie …« Whitten beugte sich nach vorne. Sein Blick glitt zu dem Tonbandgerät des Vernehmungsraums und der Videokamera. Beide waren ausgeschaltet. Als er sprach, war seine Stimme so leise, dass Liz den Kopf zu dem Lautsprecher an der Wand drehen musste. »Hören Sie zu, Mr Honan, niemand hier ist in der Lage, Kieran Mitchell irgendeinen Immunitätsdeal anzubieten. Wenn er kooperiert, werde ich dafür sorgen, dass die relevanten Leute davon erfahren. Wenn nicht – und es geht hier nicht bloß um eine Mörderjagd, sondern um die nationale Sicherheit –, dann verspreche ich Ihnen, mein Bestes zu tun, damit er nie mehr freie Luft atmet. Sie können ihm sagen, das ist mein bestes Angebot.« Eine kurze Pause entstand, dann nickte Honan, nahm seine Aktentasche und verließ den Raum. Kurz darauf erschien Whitten in der Tür des Beobachtungsraums. Er war rot im Gesicht, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Schön gemacht«, sagte Morrison. Whitten zuckte die Schultern. »Sie versuchen’s alle. Sie wissen, es ist ein Lockangebot, und wir wissen es auch …« 205
»Stimmt es, dass sein Leben in Gefahr ist?«, fragte Liz. »Wahrscheinlich«, erwiderte Whitten vergnügt. »Ich werde ihm sagen, wenn er in den Bau geht, bitten wir darum, dass er von den ganz schlimmen Jungs isoliert wird.« »Soll man ihn zu den Pädophilen stecken?« Morrison grinste. »So was in der Art.« Als Honan fünf Minuten später in den Vernehmungsraum zurückkehrte, kam er in Begleitung eines Polizisten und Kieran Mitchells. Es war Mitternacht.
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31 Die Frau saß vor dem Bungalow auf dem Fahrersitz des Astras. Es war fast völlig dunkel. Ihr Kopf lehnte bequem an der Kopfstütze, und ihr Gesicht wurde von den blauen und orangefarbenen Lichtern der Stereoanlage schwach von unten beleuchtet. Die Vierundzwanzig-Uhr-Nachrichten des Lokalsenders waren gerade vorbei, und die einzige Erwähnung des Mords an Gunter war die zuvor aufgenommene Stellungnahme eines Detective Superintendent Whitten gewesen, der sagte, dass die Ermittlungen weitergingen und die Polizei hoffe, den oder die Verantwortlichen so bald wie möglich zu fassen. Nach den Nachrichten spielten sie Easy-Listening-Stücke. Die Polizei weiß nichts, sagte sie sich und schaltete Frank und Nancy Sinatra mitten im Lied ab. Die haben keine systematische Fahndungsstrategie. Soweit sie wusste, gab es keine Videoüberwachung beim Fairmile Café, und selbst wenn, würden sie den Astra kaum identifizieren können. Schwarze Autos waren bei Nacht generell schwer zu filmen, deshalb hatten die Planer ihr auch gesagt, sie solle sich unbedingt einen besorgen. Sie war ziemlich sicher, dass keine Kamera da gewesen war; das war wohl einer der Hauptgründe, warum der Platz für das Treffen ausgesucht worden war. Die einzigen womöglich schwachen Glieder in der Kette waren die verschossene PSS-Kugel und der LKW-Fahrer, der an der Übernahme von dem deutschen Schiff beteiligt gewesen war. Das Geschäft des Fahrers hing ganz klar von seiner absoluten Verschwiegenheit ab. Seine Fracht zu verraten, hätte bedeutet, sich selbst zu verraten. Alles in allem droht von dem Fahrer keine Gefahr, sagte sie sich. Die PSS-Kugel machte ihr da schon mehr Kopfzerbrechen und sicher auch der Polizei und den Antiterrororganisationen. 207
Sie hatte es Faraj erklärt, aber er hatte nur fatalistisch die Achseln gezuckt und wiederholt, ihr Auftrag müsse am vorbestimmten Tag ausgeführt werden. Wenn das Warten die Wahrscheinlichkeit erhöhte, zu scheitern und von der Hand eines Armee- oder Einsatzkommandos der Polizei zu sterben, dann war es eben so. Der Auftrag war unveränderlich, die Bedingungen standen fest. Sie wusste, dass er ihr nur das Allernötigste erzählt hatte. Nicht aus Misstrauen, sondern falls sie gefasst würde. Ergebung, sagte sie sich. In der Ergebung in das Schicksal lag Stärke. Sie schloss den Astra hinter sich mit einem elektronischen Piepen ab und ging leise in den Bungalow. Die Tür zum Badezimmer war halb offen, Faraj stand mit nacktem Oberkörper am Waschbecken und wusch sich. Einen Moment verharrte sie in der Mitte des Raumes und starrte ihn an. Sein Körper war schmal wie eine Schlange, aber muskulös, und eine lange, blasse Narbe verlief diagonal von der linken Hüfte bis zum rechten Schulterblatt. Wie war es zu dieser Entstellung gekommen? Bestimmt nicht im Operationssaal, es erinnerte eher an einen Säbelhieb. Ohne die schicke englische Kleidung, die sie ihm gekauft hatte, sah er wie der Tadschike aus, der er war. Der Sohn eines Kriegers und vielleicht auch der Vater von Kriegern. War er verheiratet? Betete in diesem Augenblick gerade eine stolze Frau aus den Bergen für seine sichere Rückkehr? Dann drehte er sich um und musterte sie mit dem ausdruckslosen, gleichgültigen Blick des Mörders. Sie fühlte sich einen Moment lang nackt, unsicher und etwas beschämt. Es war ihr klar geworden, dass sie seinen Respekt mehr wollte alles andere auf der Welt und dass ihr seine Achtung nicht gleichgültig war. Wenn dies ihre letzte irdische Beziehung zu einem Menschen war, dann wollte sie nicht, dass sie aus gesenkten Blicken und entsagungsvollem Schweigen bestand. 208
Sie hob das Kinn ein oder zwei Millimeter und erwiderte seinen Blick fast zornig. Sie war jetzt ein Kämpfer, genau wie er. Sie hatte ein Recht auf die Achtung, die einem Kämpfer zukam. Sie wich nicht zurück. Ohne Eile wandte er sich ab und fuhr sich mit den nassen Händen durch das kurz geschnittene Haar. Dann ging er mit noch immer ausdrucksloser Miene auf sie zu und blieb stehen, als sein Gesicht nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war, sodass sie seine Seife riechen und ihn atmen hören konnte. Dennoch senkte sie weder den Blick noch bewegte sie sich. »Sag mir deinen islamischen Namen«, befahl er auf Urdu. »Asimat«, antwortete sie, obwohl sie sicher war, dass er ihn kannte. Er nickte. »Wie die Gefährtin von Salah ad-din.« Sie erwiderte nichts, starrte nur über seine Schulter geradeaus. Im Gegensatz zum wettergegerbten Braun seines Gesichts, des Nackens und der Hände war die Haut seines Rumpfs blass wie Knochen. Etwas an dem Anblick ließ sie erstarren. Wir sind schon tot, dachte sie. Wir schauen einander an und sehen die Zukunft. Keine Gärten, keine goldenen Minarette, keine Wünsche. Nur die Dunkelheit des Grabes und die kalten, erbarmungslosen Winde der Ewigkeit. Er hob die Hand, nahm eine lose Strähne ihres Haars und legte sie ihr sorgfältig hinters Ohr. »Bald ist es so weit, Asimat«, versprach er. »Schlaf jetzt.«
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32 »Erzählen Sie uns noch mal von den Deutschen«, sagte Don Whitten und glättete sich den Schnurrbart. Diesmal saß Bob Morrison neben ihm im Vernehmungsraum. Whitten und Kieran Mitchell hatten die letzte Stunde über Kette geraucht. Eine blaubraune Wolke hing im Schein der Neonröhre über dem Tisch. Mitchell warf seinem Anwalt einen Blick zu, und dieser nickte. Daraufhin senkte er die Lider, und in der öden Umgebung des Vernehmungsraums sah er in seinen Designersachen billig und genau wie ein Gangster aus. Liz beobachtete ihn durch die verspiegelte Scheibe und war sich sicher, dass er verzweifelt versuchte, die Kontrolle zu behalten und geduldig zu wirken, statt gereizt und erschöpft wie in Wirklichkeit. »Ich hab doch schon gesagt, ich weiß nichts über die Deutschen. Ich wusste nur, dass die Organisation ›die Karawane‹ heißt. Ich glaube, die Mannschaft auf dem Kutter waren Deutsche, und ich glaube, die Deutschen haben auch den Transport der Leute vom Festland bis zu dem Punkt organisiert, wo Gunter und ich sie an der Küste von Norfolk übernommen haben.« »Die Leute waren die Migranten?«, fragte Whitten, schaute zu seinem Kaffeebecher und sah, dass er leer war. »Ja, genau«, bestätigte Mitchell. »Wo kam das Boot her?« »Hab ich nie gefragt. Es gab zwei Boote, beides umgebaute Fischkutter. Ich glaube, das eine hieß Albertina Q und war in Cuxhaven registriert, das andere Susanne irgendwas aus Bremen … Breminger …«
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»Bremerhaven« murmelte Liz. Steve Goss saß neben ihr im Beobachtungsraum und öffnete gerade eine Papiertüte mit Käsebrötchen. Er schob ihr die Tüte hin, und sie nahm das kleinste. Sie hatte keinen besonderen Hunger, aber sie spürte, dass Goss sich unwohl gefühlt hätte, wenn er vor den Augen Mackays alle allein aufgegessen hätte. Ob es wohl eine Mrs Goss gab? »Offen gesagt, der Name von dem Boot hat mich nicht interessiert«, fuhr Mitchell fort. »Und Eastman hat sie immer ›die Deutschen‹ genannt oder ›die Krauts‹. Wenn sie Holländer oder Belgier gewesen wären, hätte ich’s nicht gemerkt. Ich weiß aber, dass die Organisation ›die Karawane‹ hieß.« »Und diese Karawane hat Eastman bezahlt?«, fragte Whitten. »Das nehme ich an. Er war von der Übernahme auf See bis zum Abgabepunkt in Ilford verantwortlich.« »Im Lagerhaus?« »Ja, im Lagerhaus«, sagte Mitchell müde. »Ich bin reingefahren, wir haben sie durchgezählt, und ich hab sie übergeben. Ein anderes Team hat mit den Papieren da gewartet und sie … irgendwohin gebracht.« »Wie viele waren noch jedes Mal dabei?« Whitten wiederholte seine früheren Fragen und verglich die Antworten mit seinen Notizen, um Widersprüche zu finden. Bis jetzt gab es keine. »Wenn es Mädchen waren, bis zu achtundzwanzig, sonst höchstens fünfundzwanzig. Mehr gingen in Gunters Boote nicht rein, besonders bei rauer See.« »Eastman hat also Sie bezahlt und Sie Gunter?« »Ja.« »Sagen Sie noch mal, wie viel.« Mitchells Kopf sank nach vorne. »Tausend pro Mädchen, tausendfünfhundert für Männer, zweitausend für Extras.« 211
»Also haben Sie in einer guten Nacht vierzig Riesen verdient.« »So in etwa.« »Wie viel haben Sie Gunter bezahlt?« »Fünf Riesen pauschal pro Transport.« »Und Lakeby?« »Fünfhundert im Monat.« »Hübsche Gewinnspanne.« Mitchell zuckte die Achseln und sah sich gelassen um. »Es war ein riskanter Job. Kann ich mal pinkeln gehen?« Whitten nickte, sprach die Zeit auf Band, schaltete das Gerät aus und rief den diensthabenden Beamten. Nachdem Mitchell den Raum verlassen hatte, erneut in Begleitung Honans, trat ein Moment Stille ein. »Glauben wir ihm?«, fragte Mackay, rieb sich die Augen und holte sein Handy aus der Tasche seiner Barbour-Jacke. »Warum sollte er uns anlügen?«, fragte Goss. »Er würde bloß die Person verteidigen, die seinen Partner erschossen und ihn um vierzig Riesen im Monat gebracht hat und außerdem schuld ist, dass er überhaupt geschnappt wurde.« »Eastman hätte ihm sagen können, er soll uns als Teil der Schadensbegrenzung falsche Informationen geben«, sagte Mackay, drückte auf die Kurzwahltaste für die Mailbox und hielt das Telefon ans Ohr. »Mitchell wäre nicht der erste Karrieregangster, der für seinen Boss den Kopf hinhält.« Liz drückte auf den Knopf der Sprechanlage zwischen den beiden Räumen. »Fragen Sie ihn bitte noch mal nach dem Fairmile Café?« »Sobald er wieder da ist«, antwortete Whitten. Er nickte in Richtung der Thermoskanne auf dem Tisch. »Möchte jemand die letzte Tasse?« Liz schaute zu den anderen. Es war Viertel vor zwei, und im 212
indirekten Licht der Neonröhren sahen ihre Gesichter grau und müde aus. Der Kaffee war jetzt garantiert kalt. »Erzählen Sie noch mal von Gunter«, begann Whitten, als Mitchell ihm wieder gegenübersaß. »Was hat er im Laster gemacht?« »Sein Wagen war liegen geblieben oder in der Werkstatt oder so was. Ich hab gesagt, ich lasse ihn in King’s Lynn raus, da wohnt seine Schwester.« »Weiter.« »Also ist er eingestiegen, und wir sind zum Fairmile Café gefahren, um den Extra abzusetzen.« »Erzählen Sie von ihm.« »Eastman hat gesagt, er wär irgendein Schieber aus Asien, der vom Kontinent eingeschleust wird. Er war kein Einwanderer wie die anderen, er hatte bezahlt, um rein- und nach einem Monat wieder rausgebracht zu werden.« »Nach einem Monat?«, warf Morrison ein. »Sind Sie sicher?« »Ja, das hat Eastman gesagt. Wenn die Ladung im Januar käme, sollte er mit dem Kutter zurück nach Deutschland.« »Ist so etwas schon mal passiert?« »Nein. Die ganze Sache mit dem Extra war mir neu.« »Weiter.« »Ray und ich haben die Leute an der Landspitze übernommen …« »Moment. Sind die Boote aus Deutschland immer dahin gekommen, oder gab es auch andere Stellen?« »Nein. Ich glaube, sie haben über andere Stellen nachgedacht, aber dann sind sie bei der Landspitze geblieben.« »Okay. Weiter.« »Wir haben die Leute übernommen, hinten im Laster verstaut, dann bin ich zum Fairmile gefahren, wo der Extra abgesetzt 213
werden sollte. Ray hat ihn hinten rausgelassen und ist ihm ins Toilettenhäuschen gefolgt.« »Wissen Sie, warum Gunter ihm gefolgt ist?«, fragte Whitten. »Hat er zu ihnen gesagt, er müsste auf die Toilette?« »Nein, allerdings hatte der Paki einen schweren Rucksack. Klein, aber gute Qualität und irgendwas Schweres war drin. Der Typ hat ihn keine Sekunde aus der Hand gegeben.« »Haben Sie den Pakistani aus der Nähe gesehen?« »Ja. Es war ziemlich dunkel am Strand, und da waren eine Menge Leute. Ein paar sahen sich ganz schön ähnlich, Pakistanis und Araber, dünne Gesichter, billige Klamotten. Sie sahen … fertig aus.« »Der Extra war anders?« »Ja. Er hatte eine andere Haltung. Als wär er mal jemand gewesen und würde sich von niemand unterkriegen lassen. Kein großer Typ, überhaupt nicht, aber hart, das hat man gemerkt.« »Wie sah er sonst aus? Haben Sie einen Blick auf sein Gesicht werfen können?« »Ein paar Mal. Er hatte ziemlich helle Haut. Scharfes Gesicht, dünner Vollbart.« »Dann würden Sie ihn also wiedererkennen?« »Ich denke mal. Aber wie ich schon sagte, es war dunkel, alle waren aufgeregt, und eine Menge von den Typen sind rumgelaufen … Ich könnte nichts beschwören, aber wenn Sie mir ein Foto zeigen, kann ich wahrscheinlich sagen, ob er’s nicht ist.« Hinter der Glasscheibe spürte Liz das ständige Pulsieren des Adrenalins. Sie fühlte sich schwerelos. Ein Blick zu Goss und Mackay sagte ihr, dass sie genauso atemlos und aufmerksam waren. »Was meinen Sie, warum ist Gunter ihm gefolgt?«, wiederholte Whitten. 214
»Er dachte wohl, der Typ hat was Wertvolles im Rucksack – die Reichen bringen Gold, Silber, alles Mögliche mit –, und er wollte es … ihm abnehmen.« »Also hielt Gunter ihn nicht für eine so harte Nuss wie Sie? Er meinte, der Pakistani sei leicht zu berauben?« »Ich weiß nicht, was er gedacht hat. Wahrscheinlich hat er weniger von dem Typen gesehen als ich. Ich habe ihn ja an Land gebracht.« »Okay, also Gunter folgt dem Typen ins Toilettenhäuschen. Sie hören nichts. Keinen Schuss …« »Nein. Gar nichts. Ein paar Minuten später ist der Paki zu einem Wagen gegangen und eingestiegen. Dann ist der Wagen vom Parkplatz gefahren.« »Haben Sie ihn gesehen?« »Ja, ein schwarzer Astra 1.4 LS. Ich konnte nicht erkennen, ob ein Mann oder eine Frau fuhr, aber ich hab mir das Kennzeichen aufgeschrieben.« »Und das wäre?« Mitchell schaute auf einen zerknitterten Zettel, den sein Anwalt ihm gab, und sagte es ihnen. »Warum haben Sie es aufgeschrieben?« »Weil ich keine Quittung für den Typ hatte. Er hatte sich nicht abgemeldet, und falls es später Ärger gab, wollte ich irgendwas als Beweis haben, dass ich ihn hingebracht hatte. Er war für mich schließlich zwei Riesen wert.« »Weiter«, sagte Whitten. »Na. ich hab zehn Minuten gewartet, und Ray ist nicht aufgetaucht, also bin ich ausgestiegen, rüber zu den Toiletten gegangen und …« »Und?«
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»Hab ihn gefunden. Erschossen. Das Hirn klebte an der Wand.« »Woher wussten Sie, dass er erschossen wurde?« »Er hatte ein Loch im Kopf, und in der Wand war auch ein Loch, wo sein Kopf gewesen war.« »Was haben Sie gedacht?« »Ich hab gedacht … es war unlogisch, weil ich gesehen hab, wie der Typ wegfuhr, aber ich dachte, ich bin der Nächste. Ich dachte, der Paki hat Ray umgelegt, weil er sein Gesicht bei Licht gesehen hat, und jetzt legt er mich um. Ehrlich gesagt, ich hatte eine Scheißangst. Ich wollte bloß weg.« »Also sind Sie weggefahren.« »Na klar. Ich bin ohne Pausen direkt nach Ilford und hab die anderen Typen abgesetzt.« »Wann haben Sie Eastman angerufen?« »Sobald ich in Ilford fertig war.« »Warum haben Sie ihn nicht gleich angerufen? Als Sie die Leiche fanden?« »Ich hab doch gesagt, ich wollte bloß weg und die ganze Sache zu Ende bringen.« »Wie hat Eastman auf Ihren Anruf reagiert?« »Er ist in die Luft gegangen, aber das wusste ich vorher. Ich hab ihn im Büro angerufen, und er ist … total ausgeflippt.« »Und seitdem? Was haben Sie gemacht?« »Eigentlich bloß auf Ihren Verein gewartet und meine Sachen geordnet. Mir war klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist.« »Warum sind Sie dann nicht von selbst gekommen und haben sich gestellt?« Mitchell zuckte die Achseln. »Musste noch Sachen erledigen und mit Leuten reden.«
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Es gab eine Pause, und Whitten nickte. Als er zur Tür ging, um den Aufsichtsbeamten zu rufen, berührte Honan Mitchell am Ellbogen, und die beiden standen auf. Ihnen gegenüber schaute Morrison auf die Uhr. Er runzelte die Stirn und eilte hinaus. »Meinen Sie, er will Eastman warnen?«, murmelte Mackay und legte die Stirn an die Scheibe. Liz zuckte die Schultern. »Es ist nicht völlig auszuschließen, oder?« Don Whitten kam mit schweren Schritten in den Beobachtungsraum. »Und? Kaufen wir ihm die Geschichte ab?«, fragte er. Goss blickte von den Notizen auf, die er studiert hatte. »Sie klingt logisch und stimmt mit den Fakten überein, die wir schon haben.« »Ich bin ja neu hier«, sagte Mackay, »aber ich meine, er sagt die Wahrheit, und bevor die örtliche Polizei morgen mit ihm redet, würde ich ihm gern ein paar Stunden lang Bilder von islamischen Aktivisten zeigen. Vielleicht können wir ein provisorisches Profil des Schützen erstellen.« »Das sehe ich auch so«, meinte Liz. »Und wir müssen dringend nach diesem schwarzen Astra fahnden – Details an alle Polizeikräfte, nationale Sicherheitspriorität und so weiter.« »Einverstanden, nur was sagen wir den Leuten?«, fragte Whitten. »Setzen wir die Suche in Beziehung zum FairmileMord?« »Ja. Schicken Sie eine landesweite Meldung raus, dass der Wagen gesucht und beobachtet werden muss, aber sich unter keinen Umständen jemand dem Fahrer oder den Insassen nähern darf. Stattdessen sollen sie sofort mit der Polizei in Norfolk Kontakt aufnehmen.« Sie warf Steve Goss einen Blick zu. Er nickte und wandte sich wieder an Whitten. »Wissen Sie, wo Bob Morrison hingegangen ist?« 217
Whitten schüttelte desinteressiert den Kopf. Er gähnte und steckte die Hände tief in die Anzugtaschen. »Ich tippe darauf, dass unser Schütze immer noch in der Nähe ist. Warum hat er sich sonst bei der Raststätte absetzen lassen, statt mit den anderen nach London zu fahren?« »Der Wagen hätte ihn überall hinbringen können«, sagte Goss. »Vielleicht wollte er nach Norden.« Mackay beugte sich vor. »Zunächst mal brauchen wir unbedingt Einzelheiten über diese Karawane. Die Deutschen, von denen uns Mitchell erzählt hat. Können wir Eastman nicht einfach gleich einkassieren und vierundzwanzig Stunden weich kochen?« »Er würde uns auslachen«, erwiderte Liz. »Ich habe Mr Eastman über die Jahre ganz gut kennen gelernt, und er weiß sehr genau um seine Rechte. Wir können ihn nur aus einer Position der Stärke zum Reden bringen, ebenso wie Mitchell. Sobald wir genug wissen, um ihn einzusperren, können wir ihn festnehmen und durch den Wolf drehen, ihm richtig einheizen, aber bis dahin …« Mackay blickte sie nachdenklich an. »Ich liebe es, wenn Sie so dreckig reden«, murmelte er. Whitten grinste, und Goss starrte Mackay ungläubig an. »Danke«, sagte Liz und rang sich ein Lächeln ab. »Das wäre unser Schlusswort für heute, glaube ich.« Sie lächelte, bis sie und Mackay im Audi saßen. Als sie ihre Gurte anlegten, wandte sie sich bleich vor Zorn ihm zu. »Wenn Sie noch ein einziges Mal meine Autorität auf diese Art untergraben, lasse ich Sie von dem Fall abziehen, und wenn ich Himmel und Erde dafür in Bewegung setzen muss. Sie sind hier der Anfänger, Mackay, und Sie sind nur geduldet. Von mir geduldet, ist das klar?« 218
Er streckte seelenruhig die Beine aus. »Liz, entspannen Sie sich. Es war eine lange Nacht, und ich habe einen Witz gemacht. Keinen sehr guten Witz, gebe ich zu, aber …« Sie trat voll aufs Gas, sodass er in seinen Sitz gepresst wurde, und fuhr vom Parkplatz des Polizeireviers. »Kein Aber, Mackay. Das hier sind meine Ermittlungen, und Sie unterstehen mir, verstanden?« »Das ist nicht ganz richtig«, erwiderte er ruhig. »Es sind die gemeinsamen Ermittlungen unserer Dienste, und bei allem Respekt für Ihre bisherigen Erfolge habe ich doch einen höheren Dienstgrad. Könnten wir die Temperatur also ein bisschen senken? Sie werden diese Leute nicht allein fangen, und selbst wenn, müssten Sie die Lorbeeren mit mir teilen.« »Glauben Sie wirklich, darum geht es? Wer die Lorbeeren erntet?« »Worum denn sonst? Und die Ampel eben war übrigens rot.« »Sie war noch gelb. Und Ihr Dienstgrad ist mir scheißegal. Wenn wir auch nur eine minimale Chance haben wollen, den Schützen zu finden, brauchen wir die hundertprozentige Unterstützung der örtlichen Polizei und des Special Branch. Dazu gehört, ihren Respekt zu gewinnen und zu behalten, und dazu gehört außerdem, mich nicht wie ein Dummchen zu behandeln.« Er hob entschuldigend die Hände. »Ich hab doch schon gesagt, Liz, es tut mir Leid, okay? Es sollte nur ein Witz sein.« Ohne Warnung lenkte sie den Audi nach links von der Straße, wo er durch zwei tiefe Pfützen rumpelte und abrupt zum Stehen kam. »Verdammt, was soll denn das?«, keuchte Mackay und rüttelte an der Verriegelung seines straffen Sicherheitsgurts.
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»Sorry«, sagte Liz leichthin. »Es sollte ein Witz sein. Außerdem muss ich ein paar Anrufe machen. Ich will wissen, wer den schwarzen Astra gemietet hat.«
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33 Etwa siebzig Minuten später hielt ein dunkelgrüner Rover vor einem Reihenhaus in Bethnal Green im Osten von London. Die Türen öffneten sich, und zwei unauffällige Männer gingen die Stufen zu einer Souterrainwohnung hinunter, wo der Größere der beiden dreimal lange klingelte. Die Nacht war kalt, und auf den Stufen war dünner Reif zu sehen. Nach einer kurzen Pause öffnete ihnen ein blinzelnder, besorgt aussehender junger Mann, der nur ein Badetuch um die Hüften trug. Ein oder zwei Schritte hinter ihm wartete eine vielleicht einige Jahre ältere Frau in einem zitronengelben Kimono. »Claude Legendre?«, fragte der größere der beiden Männer an der Tür. »Ja?« »Es gibt ein Problem im Avis-Büro in Waterloo. Bitte kommen Sie mit uns dorthin und bringen Sie die Schlüssel mit.« Legendre starrte auf das rosige Glühen des Nachthimmels hinter ihnen und begann zu frösteln. »Aber … wer sind Sie? Was heißt das, ein Problem? Was für ein Problem?« Der große Mann, der einen dicken schwarzen Pullover und darüber eine Jeansjacke trug, hielt ihm einen in Plastik eingeschweißten Dienstausweis unter die Nase. »Polizei, Sir. Special Branch.« »Zeigen Sie mal«, sagte die Frau und fasste an Legendre vorbei, um dem Mann die Karte aus der Hand zu nehmen. »Sie sehen nicht wie Polizisten aus. Ich …« »Ich habe die Situation gerade Ihrem Bezirksmanager für London, Mr Adrian Pocock, erklärt«, unterbrach sie der kleinere Mann. »Möchten Sie, dass ich ihn anrufe?« »Äh, ja bitte.« 221
Geduldig nahm der Polizist ein Handy aus der Tasche seiner olivgrünen Jacke, tippte eine Nummer ein und gab es Legendre. Es folgte ein mehrere Minuten dauerndes Gespräch, währenddessen die Frau eine Decke aus dem Haus holte und sie Legendre um die schmalen Schultern legte. Schließlich nickte der junge Franzose, beendete das Gespräch und gab das Telefon zurück. »Was ist hier los, Claude?«, fragte die Frau mit vor Sorge schriller Stimme. »Wer sind diese Leute?« »Ein Sicherheitsproblem, Cherie. Ich erklär’s dir später.« Er wandte sich zu den beiden Männern vor der Tür. »Okay, ich bin in zwei Minuten fertig.« Liz wurde um Viertel vor acht von ihrem Telefon geweckt. Ihr Mund war vom Zigarettenrauch der letzten Nacht trocken, und ihr Haar roch auch danach. Sie rollte sich unwillig auf die andere Seite und drückte auf die grüne Taste. Nach einer weitgehend schweigenden Rückfahrt waren sie und Mackay kurz nach halb vier wieder in Marsh Creake gewesen, und als sie gerade dabei war, ins Bett zu gehen, rief jemand vom Ermittlungsteam an und sagte, sie hätten den Manager der AvisFiliale im Eurostar-Bahnhof Waterloo identifiziert und seien mit ihm auf dem Weg, um dort die Kundenunterlagen und Videobänder durchzusehen. »Wir haben den Astra«, sagte er jetzt. »Er wurde letzten Montag von einer Englisch sprechenden Frau gemietet, sie hat im Voraus bar bezahlt und einen britischen Führerschein vorgezeigt. Der Manager, der wie die meisten Kunden Franzose ist, war selbst am Schalter und erinnert sich vage an sie, weil es ungewöhnlich ist, dass britische Kunden keine Kreditkarte benutzen. Das Geld wurde am Montagabend im Safe deponiert, Dienstagmittag bei der Bank eingezahlt und ist jetzt praktisch nicht mehr zu verfolgen.« 222
»Was ist mit dem Führerschein?«, fragte Liz und griff nach Stift und Notizbuch auf dem Nachttisch. »Name: Lucy Wharmby, Alter: dreiundzwanzig, geboren in Großbritannien, Adresse: Yapton, West Sussex, Avisford Road 17A. Die Fotos zeigen eine braunhaarige, europäische Frau mit ovalem Gesicht ohne besondere Merkmale.« »Weiter«, sagte Liz fatalistisch, denn sie wusste, was nun folgen würde. »Der Führerschein wurde neben Kreditkarten, einem Pass und anderen Papieren im August beim britischen Konsulat in Karatschi als gestohlen gemeldet. Lucy Wharmby ist Studentin am West Sussex College für Kunst und Design in Worthing und erhielt kurz nach Beginn des letzten Semesters einen Ersatzführerschein, der jetzt in ihrem Besitz ist.« »Haben Sie die Frau gefunden?« »Ich hab sie angerufen. Sie war zu Hause in Yapton, wo sie bei ihren Eltern wohnt. Die Nummer steht im Telefonbuch. Sie gibt an, noch nie in Norfolk gewesen zu sein.« »Und die Videokamera von Avis?«, fragte Liz. »Es hat ein bisschen gedauert, aber wir haben schließlich die richtige Person ausfindig gemacht. Die Kundin ist eine Frau, ungefähr im richtigen Alter und ganz klar so angezogen, um von Kameras nicht erkannt zu werden. Sie hat eine Sonnenbrille auf, eine Mütze ins Gesicht gezogen, damit man nicht viel sieht, und trägt einen langen Mantel, eine Art Parka, damit man auch ihre Figur nicht erkennt. Außerdem hat sie einen kleinen Rucksack und eine Reisetasche dabei. Mit Sicherheit kann ich nur sagen, dass sie weiß und einssiebzig bis einsfünfundsiebzig groß ist.« »Die Unsichtbare«, murmelte Liz. »Wie bitte?« »Nichts … Ich hab nur laut gedacht. Wir brauchen das ganze Team – können Sie dafür Wetherbys Okay einholen?« 223
»Natürlich. Was noch?« »Besorgen Sie sich die Passagierliste von dem Eurostar, der am Montagvormittag direkt vor dem Besuch der Frau am AvisSchalter eintraf. Sehen Sie nach, ob der Name Lucy Wharmby auf der Liste steht, wenn nicht, finden Sie raus, unter welchem Namen sie einreiste. Ich vermute, die Person, die wir suchen, ist eine britische Staatsbürgerin zwischen siebzehn und dreißig, die ihren eigenen Pass benutzt hat. Also achten Sie zunächst auf englische Namen, weiblich, siebzehn bis dreißig. Das wird immer noch eine ziemlich lange Liste – der Zug war wahrscheinlich voller Leute, die wegen Weihnachten nach Hause wollten –, aber jede einzelne Person muss überprüft werden. Rufen Sie alle an und schicken Sie, wenn es nötig ist, die Polizei vor Ort hin. Wo waren diese Frauen am Montagabend? Was haben sie seitdem gemacht? Wo sind sie jetzt?« »Verstanden.« »Informieren Sie mich sofort, wenn Sie was Ungewöhnliches finden. Alle, die falsch aussehen oder klingen. Alle, die aus irgendeinem Grund nicht da waren, wo sie sein sollten. Alle ohne wasserdichtes Alibi.« »Das wird ein bisschen dauern.« »Ich weiß. Setzen Sie so viele Leute darauf an, wie möglich.« »Geht klar. Ich halte Sie auf dem Laufenden.« »Tun Sie das.« Sie ließ sich in die Kissen zurückfallen und kämpfte gegen die Müdigkeit an. Nach einer heißen Dusche – wenn sie denn funktionierte – und ein paar Tassen Kaffee würden die Dinge vielleicht etwas klarer werden. Die Verfolgung nahm Gestalt an. Es gab den Mörder, es gab die Unsichtbare – den Mann und die Frau –, und beide waren gesehen worden. Es gab das Auto, den schwarzen Astra, den sie offensichtlich ausgewählt hatten, weil 224
er auf Videobändern kaum zu sehen war, genau wie die Kleidung der Frau, weil sie so viel verdeckte. Wieder fasste sie nach Stift und Notizbuch auf dem Nachttisch, öffnete es und schrieb die Wörter was, wer, wann, wo, warum. Die fünf grundlegenden Fragen. Auf keine davon hatte sie eine Antwort.
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34 Kaum einen Kilometer von der Zelle in Norwich entfernt, wo Kieran Mitchell die Nacht verbracht hatte, parkte ein schwarzer Astra in Bishopsgate. Farai Mansur stieg auf der Beifahrerseite aus, warf einen Blick auf die Autos, die klassizistischen Dächer und den Turm der Kathedrale und zog eine handgeschriebene Einkaufsliste aus der Innentasche seiner Jacke. Die Fahrerin schloss den Wagen mit der Fernbedienung ab, suchte in ihrer Tasche nach Kleingeld und ging zum Parkautomaten. Neben Faraj holte ein Mann mit einem grüngelben NorwichCity-Schal ein kleines Mädchen aus einem alten Volvo-Kombi und setzte es in einen Sportwagen. »Immer diese Samstagvormittage«, sagte er grinsend und nickte in Richtung von Farajs Zettel. »Nervt Sie das auch so?« Faraj zwang sich zu lächeln, ohne zu verstehen. »Der Wochenendeinkauf«, erklärte der Mann, schlug die Volvo-Tür zu und löste die Bremse des Kinderwagens mit der Schuhspitze. »Wenigstens ist heute Nachmittag das Aston-VillaSpiel.« »Ja«, sagte Faraj und spürte das Gewicht der PSS in seiner linken Achselhöhle. Dann fügte er hinzu: »Kennen Sie hier ein gutes Spielwarengeschäft?« Der Mann runzelte die Stirn. »Kommt drauf an, was Sie suchen. In der St. Benedict’s Street ist ein guter Laden, fünf Minuten von hier.« Er beschrieb ausführlich den Weg und deutete nach Westen. Die Frau kam zurück, hakte sich bei Faraj unter, nahm den Einkaufszettel und hörte dem Schluss des Gesprächs zu. »Vielen Dank.« Sie lächelte dem Mann zu und bückte sich, um die
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Plüschmaus aufzuheben, die dem kleinen Mädchen heruntergefallen war. »Sie heißt Angelina Ballerina«, sagte das Mädchen. »Wirklich?« »Und ich hab das Video von Barbie und der Nussknacker.« »Toll!« Kurze Zeit später erreichten die beiden Arm in Arm ein Schaufenster, in dem ein Weihnachtsmann mit Wattebart auf einem Schlitten voller Gameboys, Star-Wars-Laserschwertern und den neusten Harry-Potter-Accessoires saß. »Was ist los?«, fragte Faraj. »Nichts, wieso?«, erwiderte die Frau. »Du bist so still. Gibt es irgendein Problem? Ich muss es wissen.« »Es geht mir gut.« »Also kein Problem?« »Es geht mir gut, okay?« In dem kleinen, vollen und überheizten Laden mussten sie fast eine Viertelstunde warten, bis sie drankamen. »Silly-Putty-Knete, bitte«, sagte die Frau. Der junge Verkäufer mit roter Plastiknase und Weihnachtsmannmütze griff unter den Ladentisch und reichte ihr eine kleine Plastikpackung. »Ich … äh … ich brauche zwanzig davon«, sagte sie. »Ach ja, die gefürchtete Partytüte. Wir verkaufen auch fertig gemischte Tüten, wenn Sie wollen. Grüner Schleim, Dino-Eier …« »Sie haben … sie wollen bloß Silly Putty.« »Kein Problem. Zwanzigmal Silly Putty. Uno, dos, tres …«
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Als sie Faraj mit der Tüte aus dem Geschäft folgte, rief der Verkäufer hinter ihr her: »Hallo, Sie haben da was vergessen.« Ihr Herz blieb stehen. Er schwenkte die Einkaufsliste. Unter vielen Entschuldigungen drängte sie sich zurück zum Ladentisch und nahm sie. Man konnte die Notizen lesen: klare Gelatine, Isopropol, Kerzen, Pfeifenreiniger; seine Finger verdeckten den Rest. Draußen umklammerte sie Liste und Plastiktüte. Faraj sah sie mit verhaltenem Zorn unter dem Schirm seiner YankeesBaseballkappe an. »Entschuldigung«, sagte sie, während ihre Augen wegen der Kälte feucht wurden. »Ich glaube nicht, dass sie sich an uns erinnern werden. Sie haben sehr viel zu tun.« Trotzdem schlug ihr Herz noch immer heftig. Die Liste wirkte recht harmlos, aber für jeden, der militärische Erfahrung auf einem bestimmten Gebiet besaß, sandte sie ein unzweideutiges Signal aus. Natürlich würde so ein Verkäufer kaum … »Denk dran, wer du bist«, sagte er ruhig auf Urdu. »Erinnere dich, warum wir hier sind.« »Ich weiß, wer ich bin«, antwortete sie gereizt in derselben Sprache. »Und ich erinnere mich an alles, woran ich mich erinnern muss.« Sie schaute geradeaus. Am Ende einer Gasse fiel ihr Blick zwischen zwei Häusern auf das kalte Grau des Flusses. »Jetzt zu Superdrug oder Boots«, sagte sie energisch nach einem Blick auf die Einkaufsliste. »Wir müssen in eine Drogerie.«
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35 Liz starrte verzweifelt auf das Bild auf ihrem Laptop. Es stammte von der Videokamera der Avis-Filiale in Waterloo und zeigte die Frau, die den Astra gemietet hatte. Haar, Augen, Figur, alles war verhüllt. Sogar Handgelenke und Knöchel, die Rückschlüsse auf den Körperbau zugelassen hätten, waren von Kleidung bedeckt. Der einzige Hinweis bestand darin, dass die untere Gesichtshälfte straff war, nicht füllig, wie bei einem dickeren Körper. Sie wird durchtrainiert sein, dachte Liz. Sie kann sich schnell bewegen, wenn es sein muss. Und sie scheint mittelgroß zu sein – vielleicht etwas größer. Sonst – nichts. Das Bild war zu unscharf, um irgendeine Information über die Kleidung zu liefern, man sah nur, dass der Parka rechts geknöpft war und auf der verblassten Schulter ein kleines dunkelgrünes Rechteck hatte. Von einem Großhändler für ausgemusterte Militärsachen, den das Ermittlungsteam kurz vor neun Uhr früh aufgesucht hatte, wussten sie, dass an dieser Stelle mit großer Sicherheit eine aufgenähte deutsche Flagge entfernt worden war. Es war ein alter Bundeswehr-Parka, wie man ihn auf Märkten und in Läden in ganz Europa kaufen konnte. Bei den Wanderstiefeln waren sie weniger sicher gewesen und hatten sich an Mitarbeiter von Timberland und anderen Schuhfirmen gewandt. Liz war davon überzeugt, dass die Stiefel irgendeine weltweit erhältliche Marke sein würden. Ihre Zielperson war ein Profi, und sie würde es ihnen nicht leicht machen. Sie schaute auf die Uhr – zehn vor elf – und schaltete den Laptop aus. Draußen war es kalt, und ein feuchter Wind hatte den ganzen Morgen an den Fenstern ihres Zimmers gerüttelt, aber sie musste ein Stück laufen. Im Moment konnte sie nichts 229
tun. Beschreibung und Kennzeichen des Astras waren bereits an die Polizeistationen in ganz England gegangen, und Whittens Team überprüfte alle Werkstätten in einem Radius von achtzig Kilometern um Marsh Creake. Konnte sich jemand an den Wagen erinnern? Hatte jemand in den vierundzwanzig Stunden vor dem Mord an Ray Gunter eine größere Summe in bar bezahlt? Liz hatte die Ermittlungsabteilung schon ein paar Mal wegen der Passagierliste des Eurostars angerufen. Das Team wurde von Judith Spratt geleitet, die zusammen mit Liz vor zehn Jahren eingestellt worden war. »Es wird dauern«, hatte Judith ihr gesagt. »Dieser Zug war mindestens halb voll, und zweihundertdrei Passagiere waren weiblich.« Liz hatte diese Information sacken lassen. »Wie viele davon sind Britinnen?« »Etwa die Hälfte, würde ich sagen.« »Okay. Claude Legendre erinnert sich besonders an eine Frau Anfang zwanzig, und Lucy Wharmby, deren gestohlenen Führerschein unsere Zielperson benutzt hat, ist dreiundzwanzig. Könnt ihr euch zunächst mal auf weibliche Passagiere zwischen siebzehn und dreißig mit britischen Pässen konzentrieren?« »Sicher. Damit sinkt die Zahl auf … Moment … einundfünfzig, das ist etwas überschaubarer.« »Ruft bitte auch Lucy Wharmby an, damit sie euch ein halbes Dutzend aktueller Fotos mailt. Wahrscheinlich ähnelt sie unserer Zielperson ziemlich stark.« »Meinst du, der Führerschein wurde in Pakistan auf Bestellung gestohlen?«, fragte Judith. »Nehme ich an.« Als eine Stunde später die Fotos kamen, leitete die Abteilung sie an Liz weiter. Sie zeigten dieselbe Person wie der 230
Führerschein, eine attraktive, aber nicht besonders auffällige junge Frau. Sie hatte ein ovales Gesicht, braune Augen, braunes, schulterlanges Haar und war einsfünfundsiebzig groß. Das Team verlor keine Zeit. Von den einundfünfzig weiblichen Passagieren, die überprüft werden sollten, wohnten dreißig im Zuständigkeitsbereich der Londoner Polizei, der Rest über das ganze Land verstreut. Damit die Polizei die Personen aussortieren konnte, die offensichtlich nicht infrage kamen – farbige oder asiatische Frauen sowie sehr kleine, große oder übergewichtige –, wurden die Avis-Bilder an alle Polizeikräfte gemailt. Da die Überprüfung sehr dringend war, setzte die Polizei so viele Beamte wie nötig für den Telefondienst oder die Besuche vor Ort ein. Trotzdem ging es nur langsam vorwärts. Die Geschichte jeder Frau musste bestätigt, jedes Alibi überprüft werden. Warten gehörte immer zu den Untersuchungen, aber für Liz war es stets sehr frustrierend gewesen. Angespannt und bereit zum Handeln, ging sie die windige Seepromenade entlang und wartete auf Neuigkeiten. Mackay war währenddessen mit Steve Goss und dem Polizeiteam im Festsaal und informierte die Leiter aller großen zivilen und militärischen Einrichtungen in East Anglia, die mögliche Ziele für islamistische Terroranschläge darstellten. Es waren nicht wenige, von Schulen für Polizeihunde und Einrichtungen des Grenzschutzes bis zu Regimentshauptquartieren und amerikanischen Luftwaffenstützpunkten. Bei Letzteren schlug Mackay vor, die Patrouillen zu verdoppeln und gefährdete Zufahrtstraßen für den öffentlichen Verkehr zu sperren. Das Innenministerium setzte die Sicherheitsstufe für alle Regierungseinrichtungen von Schwarz auf Rot hoch. Mittags meldete sich Judith Spratt und bat um Rückruf, und Liz ging wieder in die Telefonzelle an der Promenade, von der sie inzwischen jede einzelne obszöne Schmiererei kannte. 231
Von den einundfünfzig Frauen auf der Polizeiliste waren inzwischen achtundzwanzig befragt und gestrichen worden, da sie glaubwürdige Alibis für die Mordnacht besaßen, fünf waren farbig und schieden sofort aus, und bei sieben »wichen die Körpermaße von den Daten ab«. Damit blieben elf Frauen übrig, von denen fünf allein und sechs in Haushalten mit mehreren Personen lebten. Neun waren den ganzen Vormittag über unterwegs gewesen und nicht per Handy erreichbar, eine war von einer Party in Runcorn vor zwölf Stunden nicht zurückgekommen, und eine andere war auf dem Weg, um jemanden im Krankenhaus in Chertsey zu besuchen. »Die aus Runcorn«, sagte Liz. »Stephanie Patch, neunzehn Jahre. Macht eine Ausbildung im Crown and Thistle Hotel in Warrington. Wohnt in Warrington bei ihren Eltern. Wir haben mit ihrer Mutter gesprochen. Sie sagte, Stephanie hätte in der Mordnacht im Hotel gearbeitet und wäre vor Mitternacht zu Hause gewesen.« »Was hat Stephanie in Paris gemacht?« »Sie wollte zu einem Popkonzert«, sagte Judith. »Die poo Fighters. Sie ist mit einer Freundin aus dem Hotel hingefahren.« »Kommt das hin?« »Ja, die Foo Fighters haben in der fraglichen Nacht im Palais de Bercy gespielt.« »Hat jemand mit der Freundin gesprochen?« »Anscheinend ist sie zu derselben Party in Runcorn gefahren und auch noch nicht zurück. Stephanies Mutter glaubt, sie sind noch nicht wieder da, weil eine oder beide sich tätowieren lassen wollten, womit sie wohl schon gedroht hatten. Sie hat der Polizei erzählt, ihre Tochter hätte vierzehn Ohrenpiercings und keinen Führerschein.«
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»Damit scheidet sie wohl aus. Was ist mit der, die zum Krankenhaus will?« »Lavinia Phelbs, neunundzwanzig. Restauratorin für Bilderrahmen beim National Trust, wohnt in Stockbridge in Hampshire. Sie besucht ihre verheiratete Schwester in Surrey, die letzte Nacht entbunden hat.« »Hat die Polizei schon mit ihr gesprochen?« »Nein, sie hat mit Mr Phelbs gesprochen, der einen Antiquitätenladen in Stockbridge hat. Lavinia hat den Wagen genommen, einen VW Passat Kombi, aber ihr Handy ausgeschaltet. Die Polizei wartet im Krankenhaus von Chertsey auf sie.« »Wird eine nette Überraschung für sie sein. Kommt eine von den anderen entfernt infrage?« »Da ist noch eine Kunststudentin aus Bath. Sally Madden, sechsundzwanzig, lebt allein in einem Apartment in einem Mietshaus im Gebiet Süd-Stoke. Sie hat einen Führerschein, aber laut einer Nachbarin eine Treppe tiefer kein Auto.« »Was machte sie in Paris?« »Wissen wir nicht. Sie war den ganzen Vormittag unterwegs.« »Sie könnte infrage kommen.« »Sehe ich auch so. Die Polizei in Somerset hat ihr Einsatzkommando in Alarmbereitschaft versetzt.« »Irgendwas über den Rest?« »Fünf von ihnen haben gesagt, sie wollten Weihnachtseinkäufe machen. Mehr haben wir im Moment nicht.« »Danke, Judith. Meld dich, wenn du was Neues hast.« »Mach ich.« Nachdem Steve Goss sie um halb eins angerufen hatte, ging Liz in den Festsaal, wo eine unaufgeregte Betriebsamkeit herrschte. Es waren mehr Stühle und Tische aufgestellt worden, und ein 233
halbes Dutzend Computerbildschirme warfen ihr blasses Licht auf die aufmerksamen Gesichter von Beamten, die Liz bisher noch nicht gesehen hatte. Leise, aber pausenlos wurde in Telefone gesprochen. Goss stand in Hemdsärmeln da und winkte sie zu sich herüber. »Eine kleine Tankstelle in einem Ort namens Hawfield, nördlich von King’s Lynn.« »Ja?« »Kurz nach sechs Uhr am Abend vor dem Mord im Fairmile Café bezahlt eine junge Frau mit zwei Fünfzig-Pfund-Scheinen für einmal Volltanken mit unverbleitem Benzin, außerdem mehrere Liter in einem Reservekanister. Der Angestellte weiß vor allem noch genau, dass sie sich Benzin über Hände und Jacke schüttete – er meint, es war eine grüne Ski- oder Wanderjacke –, wahrscheinlich während sie den Kanister füllte. Er macht eine freundliche Bemerkung zu ihr, aber sie guckt ihn an, sagt kein Wort und gibt ihm die Scheine, als hätte sie nichts gehört. Er hat sich gefragt, ob sie vielleicht taub ist. Außerdem kauft sie – jetzt kommt’s – eine Straßenkarte von Norfolk.« »Das ist sie. Das muss sie sein. Gibt es Videoaufnahmen?« »Nein, deshalb hat sie die Tankstelle wohl ausgesucht. Aber der Typ kann sich gut an sie erinnern. Anfang zwanzig, weit auseinander liegende Augen, mittelbraunes Haar, das von irgendeinem Gummiband zusammengehalten wurde. Ganz attraktiv, sagt er, und sie sprach mit einem ›mittel-vornehmen‹ Akzent.« »Hat die Tankstelle die beiden Scheine noch?« »Nein, die sind vor ein paar Tagen zur Bank gegangen. Whitten hat aber einen Identifizierungsmann drauf angesetzt. Er arbeitet mit dem Angestellten von der Tankstelle gerade an einem Phantombild.« 234
»Wann können wir es sehen?« »Wir haben es spätestens in einer Stunde auf dem Schirm.« »Wir haben sie direkt vor der Nase, Steve, ich kann sie praktisch riechen.« »Ja, ich auch, allein schon wegen des Benzins. Diese Karte deutet drauf hin, dass es hier passieren soll, was immer sie plant. Hat London schon irgendwas rausgefunden?« »Sie haben die Liste auf etwa ein Dutzend Frauen zusammengestrichen. Noch nichts von dem Astra, nehme ich an?« »Nein, und ich würde da auch nicht zu sehr drauf zählen. Wir haben die Einzelheiten durchgegeben, und hoffentlich hat jeder Streifenwagen im ganzen Land einen Zettel mit dem Kennzeichen am Armaturenbrett, aber … na ja, bei Autos braucht man verfluchtes Glück. Meistens finden wir sie erst, wenn sie irgendwo stehen gelassen werden.« »Können wir der Polizei in Norfolk noch mal sagen, dass die Suche nach dem schwarzen Astra für jeden Einzelnen oberste Priorität hat?« »Sicher.« »Außerdem sollen ein paar Leute in unauffälligen Wagen an den Zufahrtstraßen zu den amerikanischen Stützpunkten Wache halten.« »Das hat Mr Mackay auch schon vorgeschlagen, und Whitten leitet es gerade in die Wege.« Liz blickte sich um. »Wo ist Mackay?« »Er hat zu Whitten gesagt, er würde nach Lakenheath fahren, um mit dem Kommandeur zu sprechen.« »Okay«, sagte Liz. Nett von ihm, dass er mir Bescheid gegeben hat, dachte sie. »Ich hab gehört, auf diesen Stützpunkten gibt’s prima Hamburger«, sagte Goss. 235
Liz sah auf die Uhr. »Würde es auch ein Ploughman’s Lunch im Trafalgar tun?« »Ich denke schon.«
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38 Auf dem Rückweg von Norwich sahen sie zwei Streifenwagen. Sie warteten in einer Reihe an der Kreuzung der A1067 und der Umgehungsstraße, als ein unmarkierter roter Rover mit einer hohen Antenne nur knapp unter dem Tempolimit an ihnen vorbei nach Süden fuhr. Die konzentrierten Gesichter von Fahrer und Beifahrer ebenso wie der kontrollierte Fahrstil deuteten unmissverständlich auf Polizei hin, und die Angst verursachte ihr ein kurzes Gefühl der Übelkeit. »Fahr schon!«, sagte Faraj, der den roten Rover offenbar nicht als das erkannt hatte, was er war. »Was ist los?« Die Straße vor ihr war frei, aber jetzt kam Verkehr von rechts. Sie musste warten. Im Spiegel bemerkte sie das ungeduldige Gesicht des Fahrers hinter ihr, und als die Straße schließlich frei war, ließ sie die Kupplung mit einem Ruck kommen. »Ab jetzt fährst du sanft, okay?«, sagte Faraj. »Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir sehr empfindliches Material transportieren. Verstanden?« »Verstanden«, entgegnete sie und atmete tief durch, um die abklingende Angst zu kontrollieren. »Bei der nächsten Stelle, wo du halten kannst, tauschen wir, okay?« Sie nickte. Es war sicher wichtig, dass er sich mit dem Wagen vertraut machte. Wenn sie erschossen wurde … Wenn sie erschossen wurde … Sie stellte sich der Wahrheit, und das Gewicht der Furcht wurde zu ihrer Überraschung etwas leichter. Ich kann getötet werden, sagte sie sich. So einfach war das. Wenn es zu einer Schießerei kam, würde sie den besten Leuten gegenüberstehen, einer Anti-Terror-Einheit oder einem Armee-Einsatzkommando. 237
Sie hatte aber in der härtesten aller Schulen gelernt, dass sie selbst gut war, dass ihr Waffen gehorchten und der Nahkampf ihr besonderes, wenn auch spät entdecktes Talent war. Wenn sie erschossen wurde … Sie fuhr eine Viertelstunde lang ohne ein Wort und hielt an einer Bushaltestelle in Bawdeswell. Als sie die Plätze tauschten und sie sich anschnallte, sah sie das Blaulicht eines Streifenwagens einen halben Kilometer vor ihnen am Kreisverkehr. Er ließ kurz die Sirene ertönen, bog nach Westen ab und verschwand. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir diesen Mietwagen loswerden«, sagte sie. »Er war immerhin auf dem Parkplatz, wo du den Dieb getötet hast. Vielleicht hat jemand eine Verbindung hergestellt.« Er dachte einen Moment nach und nickte. Sie wusste, dass er den Streifenwagen gesehen und gehört hatte. »Wir brauchen einen anderen.« »Das war geplant«, sagte sie. »Ich miete ihn unter meinem richtigen Namen.« »Was machen wir mit diesem?« »Wir lassen ihn verschwinden.« »Wo?« »Ich weiß einen Ort.« Er nickte und fuhr los, wobei er den Astra mit abschätzigem Können kontrollierte. Sie sahen keine Streifenwagen mehr. Nachdem sie im Bungalow gegessen hatten und die Frau mehrere Minuten die Küste im Osten und Westen mit dem Fernglas abgesucht hatte, legte er die Einkäufe vom Vormittag auf den Küchentisch. Stumm krempelten sie sich die Ärmel hoch. Sie kannte den Ablauf gut – die Gruppe für GuerillaKriegsführung hatte ihn in Takht-i-Suleiman auswendig gelernt. Allerdings war es seltsam, ihn hier auszuführen. 238
Faraj brachte Wasser in einer Hartglasschale zum Kochen. Sorgfältig rührte er zwei Päckchen klare Gelatine mit einem Metallteelöffel ein. Dann zog er die blauweiß gestreiften Topfhandschuhe an und nahm die Schale vom Feuer. Er gab der Frau die Handschuhe, ließ die Mixtur ein paar Minuten abkühlen, goss dann eine halbe Tasse Frittierfett dazu und rührte um. Eine dünne, feste Schicht bildete sich auf der Oberfläche. Sie schöpfte sie ab und tat sie in eine kleine Tupperdose, die sie ins Gefrierfach des Kühlschranks stellte. Beide arbeiteten stumm. Die Atmosphäre war fast häuslich. Faraj schüttete den Rest weg, wusch die Schale aus und leerte dann die Packungen mit dem Silly Putty aus. Als er einen großen Klumpen des Materials aufgehäuft hatte, warf er ihn in die Schale, zog die gelben Gummihandschuhe an, die über der Spüle hingen, und begann, die übrigen Zutaten einzuarbeiten. Nach ein paar Minuten zog er die verschmierten Handschuhe aus, legte sie auf den Rand der Schale und ging zu dem Rucksack in seinem Zimmer. Das elektronische Hydrometer, das er herausnahm, steckte noch in der Originalverpackung. Er blickte kurz auf die russische Gebrauchsanweisung. In einem zweiten Beutel waren verschiedene Batterien in Pergamentpapier eingewickelt. Er steckte eine davon in das Hydrometer und prüfte die Dichte der graurosa Mixtur in der Schale. Da er noch nicht zufrieden war, vermischte er sie weiter, zuerst mit der Hand, dann mit dem Löffel. Es war eine ermüdende und schmutzige Arbeit, aber schließlich nahm die Mixtur die nötige Karamellkonsistenz an, und das Hydrometer zeigte den korrekten Wert. Beide wussten, dass der nächste Schritt, in dem die beiden höchst instabilen Mixturen ihrerseits vermischt werden mussten, der gefährlichste war. Mit ausdruckslosem Gesicht legte Faraj das Hydrometer auf den Tisch. 239
»Ich mache es zu Ende«, sagte sie und legte die Hand auf sein Handgelenk. Er starrte auf ihre Finger hinunter. »Nimm Waffen, Papiere und Geld und fahr ein paar hundert Meter vom Haus weg. Wenn … wenn es schief geht, setz dich ab. Kämpfe ohne mich weiter.« Er wandte den Blick von ihren Fingern ab und sah ihr in die Augen. »Du musst leben«, sagte sie. Sie umklammerte sein Handgelenk fester, was irgendwie mehr Mut erforderte als alles andere, was sie bisher tun musste. »Du weißt …« »Ich weiß«, sagte sie. »Geh. Wenn ich fertig bin, komme ich runter zum Meer.« Rasch entfernte er sich. Er benötigte kaum länger als eine Minute, um alles zusammenzuraffen, was er brauchte. An der Tür zögerte er und schaute zu ihr zurück. »Asimat?« Sie begegnete seinem ausdruckslosen Blick. »In Takht-i-Suleiman haben sie eine gute Wahl getroffen.« Sie wartete, bis sie das Knirschen der Kiesel nicht mehr unter den Autoreifen hörte, dann ging sie zum Kühlschrank. Vorsichtig nahm sie die gekühlte Tupperdose aus dem Gefrierfach und fügte die zerbrechlichen Krusten zu der Mixtur in der Schale. Sanft, aber stetig mischte sie die beiden Komponenten, bis sie die Konsistenz von Quark hatten, wobei sie ein Gebet murmelte, um ihre Hände zu beruhigen. C4, murmelte sie zu sich. Der Nord-, Süd-, Ost- und Westwind des Dschihad. Composition Compound 4, ein Plastiksprengstoff. Sie nahm eins von Diane Mundays billigen Supermarktmessern aus der Besteckschublade, setzte ihr Gebet fort und schnitt die Paste in drei gleich große Stücke. Mit Hilfe eines Esslöffels 240
formte sie jedes Stück zu einer Kugel von der Größe eines Tennisballs. Runde Ladungen garantierten die größte Sprengwirkung, hatte man ihr erklärt. Während sie ein paar Kerzen in der zerkratzten Teflonkasserolle schmolz, atmete sie tief durch. Das Schlimmste war vorüber, aber eine Prüfung lag noch vor ihr. »Zu heißes Wachs – und bumm!«, hatte der Ausbilder in Takht-i-Suleiman ihnen mit fröhlichen Augen erklärt. Er hatte den Kopf geschüttelt, weil die Vorstellung so urkomisch war. Zu kaltes Wachs hätte aber den Sprengstoff nicht richtig überzogen und damit nicht wirksam vor Feuchtigkeit oder plötzlichen Temperatur- oder Luftdruckschwankungen geschützt. Sie nahm die Kasserolle vom Feuer, wartete, bis sich ein blasser Film auf dem Wachs gebildet hatte, legte die drei Bälle mit dem Esslöffel hinein und rollte sie vorsichtig umher. Als sie gleichmäßig mit Wachs überzogen waren, schob sie sie mit dem Löffel nebeneinander, sodass sie in einer Reihe lagen. Allmählich wurde das Wachs hart und trüb. Die Ladungen sahen jetzt wie große weiße Pralinen aus, vielleicht belgische, wie die, die ihre Mutter … Hör auf, sagte sie sich. Dieses Leben ist vorbei. Aber es war nicht ganz vorbei, und das Gebet, das sie murmelte, hatte sich irgendwie in den Queen-Song »Bohemian Rhapsody« verwandelt, den ihre Eltern vor der Trennung gern im Auto gehört hatten. Und da waren sie, ihre nebelhaften Gestalten bewegten sich durch die Bungalowküche, lachten zusammen und riefen sie bei ihrem alten Namen, dem Namen, den sie ihr gegeben hatten. Wütend trat sie vom Küchentisch zurück, presste ein oder zwei Sekunden fest die Augen zusammen und schlug sich auf die Hosentasche, sodass ihre Hand schmerzhaft die geladene Malyah traf. »Asimat. Ich heiße Asimat. Ich heiße Asimat.«
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Die Freude, die Farajs Lob bewirkt hatte, war verflogen. An ihrer Stelle drohte der Selbstzweifel, der sich ab und zu wie eine dunkle Wolke am Rand ihres Bewusstseins auftürmte, sie unter sich zu begraben. Sie spürte einen Schmerz hinter dem Brustbein und das harte, bittere Pochen ihres Herzens. Doch sie riss sich zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Sprengstoff zu. Sie nahm drei Pfeifenreiniger, bohrte sie durch das abkühlende Wachs der mittleren Kugel – jetzt betete sie laut – und drehte die Enden als Kontakt für den Zünder zusammen. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete das Ergebnis. Es sah aus wie gewünscht, und das faltige, fröhliche Gesicht des Ausbilders in Takht-i-Suleiman schien zustimmend zu nicken. Die ›Kinder des Himmels‹ hatten immer die dreifache C4-Detonation bevorzugt. Es war sozusagen ihre Unterschrift, und sie, die Kämpferin Asimat, hatte jetzt unterschrieben. Nun fühlte sie sich ausgeglichener und geschützt vor den dunklen Wolken. Sie trug die kleine Voodoofigur mit den Pfeifenreinigergliedern zurück in den Kühlschrank. Sie war sehr leicht, am schwersten war noch das Wachs, und sie legte sie ehrfürchtig ins oberste Fach. Anschließend ging sie durch die Hintertür hinaus und über die Kiesel hinab zum Meer, wo sie ausdruckslos und unbewegt mit hängenden Armen dastand, während der Wind ihr das Haar ins Gesicht peitschte.
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37 »Wie sieht’s aus?«, fragte Liz und schlug den Kragen ihres Mantels hoch, während der Wind an der Tür der Telefonzelle rüttelte. Es war ihr siebter Anruf bei Judith Spratt. »Anscheinend haben wir eine Niete gezogen.« »Die Frau aus Bath?« »Sally Madden? Sie war den Abend und die Mordnacht über bei einer Freundin in Frome, deren Hund krank war.« »Habt ihr das überprüft?« »Die Freundin bestätigte es, und der Tierarzt in Frome erinnert sich, dass die beiden den Hund gegen fünf in seine Praxis brachten. Laut deinem Anruf von vorhin hat die Person, die wir suchen, um sechs in Norfolk getankt.« »Verdammt. Verdammt. Und keine von den anderen … zum Beispiel die Alleinlebenden, was ist mit denen? Oder die mit den Weihnachtseinkäufen?« »Alle haben für diesen Abend oder die Nacht ein Alibi. Oder sie wurden vorher von jemandem am Eurostar abgeholt, der bestätigen kann, dass sie kein Auto gemietet haben. Oder beides.« »Okay. Bevor du dasselbe bei den Frauen aus Frankreich und von außerhalb der EU machst, möchte ich, dass du mir einen Gefallen tust. Hast du gerade die Liste da?« »Ja.« »Gut. Streich alle überprüften Passagiere in der richtigen Altersgruppe.« »Hab ich gemacht.« »Wie viele Frauen sind übrig?«
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»Ungefähr zwanzig, die nicht aus der EU sind – Amerika, Australien und so weiter – und etwa fünfzig Französinnen.« »Woher weißt du, dass es Französinnen sind?« »Wie meinst du das?« »Wie hast du die Französinnen von den Engländerinnen getrennt, als du die Liste zuerst durchgegangen bist?« »Nach dem Namen.« »Nicht nach dem Pass?« »Nein, Frankreich und England werden beide als EU geführt.« »Okay. Geh bitte die französischen Namen durch und versuche, Vornamen zu finden, die nicht speziell französisch sind. Es könnten Engländerinnen sein. Kannst du das gleich machen?« »Ja. Also, da haben wir … Michelle Altaraz … Claire Dazat … Adrienne Fantoni-Brizeart … Michelle Gilabert … Michelle Gravat – das sind drei Michelles – Sophie Lecoq … Sophie Lemasson … Olivia Limousin … Lucy Renaud … Rita Sauvajon … und Anne Matthieu. Das sind alle.« »Mist. Die klingen alle sehr französisch. Ist da kein Fehler möglich, oder dass eine von ihnen doch Engländerin ist?« »Keine davon klingt sehr englisch.« Liz verstummte. Der Gedanke, über die Ermittlungsabteilung die Polizei zu bitten, weitere fünfzig Namen zu überprüfen, womöglich in Begleitung von Dolmetschern, brachte sie fast zur Verzweiflung. »Jetzt die aus den Nicht-EU-Ländern«, sagte sie schließlich. »Welche Frauen haben wir da in der richtigen Altersgruppe?« »Neun aus Australien, sieben aus den USA, fünf Japanerinnen, zwei aus Südafrika, zwei Kolumbianerinnen und eine Inderin.« »Vergiss die Japanerinnen, aber lass die anderen von deinem Team aufspüren und anrufen. Alle sollten bei der Einreise in Waterloo angegeben haben, wo sie wohnen. Wir suchen 244
jemanden mit britischem Akzent, okay? Mit ›mittelvornehmem‹ britischem Akzent. Falls das bei einer von ihnen zutrifft, lasst sie von der Polizei so schnell wie möglich überprüfen. Könntest du noch was für mich tun? Verschlüssle und maile mir die ganze Passagierliste, eingeteilt nach Alter, Geschlecht und Nationalität. Und stell bitte für heute Nacht ein Bereitschaftsteam zusammen.« »Mach ich.« Zehn Minuten später sah sie in ihrem Zimmer im Trafalgar die Liste auf dem Laptop an. Es war gerade halb drei. Was haben wir übersehen? Irgendwo auf der akkuraten Liste stand der Name der Unsichtbaren. Denk nach. Analysiere. Warum ist sie unter ihrem eigenen Namen eingereist? Weil diejenigen, für die sie arbeitet – irgendeine Zelle in irgendeinem Netzwerk – darauf bestanden hatten. Sie wollten ihre Operation nur dann durch falsche Papiere gefährden, wenn es unumgänglich war. Transparenz war ein zentrales Element der Unsichtbarkeit. Warum benutzte sie einen gestohlenen Führerschein, um das Auto zu mieten? Weil nichts sie mit diesem Vorgang verbinden würde, sobald sie im Land war. Alle Spuren rissen damit ab. Selbst wenn sie das Auto entdeckten, war die Mieterin nicht zu finden, sodass die Frau ihre echten Papiere benutzen konnte, wie und wo sie wollte. Bis auf Ray Gunter war der Plan perfekt, aber der Fischer war erschossen worden, und von da an ging die Sache schief. Aber nicht schnell genug. Was immer die Terrorzelle vorhatte, konnte nach wie vor geschehen. Hatte Mackay Recht? Planten sie einen Angriff auf einen amerikanischen Luftwaffenstütz245
punkt, auf Marwell, Lakenheath oder Mildenhall? Auf den ersten Blick waren dies die offensichtlichen Ziele in der Gegend, Symbole der verhassten militärischen Partnerschaft zwischen England und Amerika. Sie hatte jedoch Pläne der Stützpunkte gesehen, und sie waren riesig. Man kam wegen der Bewachung durch Polizei und Militär nicht in ihre Nähe, besonders jetzt, wo die Sicherheitsstufe auf Rot gesteigert worden war. Was für einen Angriff konnten zwei Menschen durchführen? Ein paar Wachen auf große Entfernung mit einem Präzisionsgewehr erschießen? Eine Granate auf eins der Außengebäude abfeuern? Wohl nur unter extremen Schwierigkeiten. Sie würden es nicht überleben, und die Medien würde man von der Geschichte fern halten, sodass die Wirkung der Attacke minimal wäre. Vielleicht eine Bombe? Aber wie sollte sie reingeschmuggelt werden? Jede Lieferung, ob Baseballs, Autoteile oder Hamburgerbrötchen, wurde durchleuchtet oder von Hand durchsucht. Kein Fahrzeug wurde außerhalb der Basis unbewacht stehen gelassen, sodass sich eine Bombe anbringen ließ. All diese Szenarien waren von den Planern der Royal Air Force, der Militärpolizei und der US-Air Force detailliert durchgespielt worden. Nein, sagte sich Liz, du musst das Problem von der anderen Seite angehen. Finde die Frau. Fang sie. Halt sie auf. Als sie wieder auf den Bildschirm blickte, kam ihr eine Idee. Hatte Claude Legendre sich geirrt? War die Frau in Wirklichkeit eine Französin, die Englisch sprach? Ihr Instinkt sagte Nein. Legendre hatte Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr mit englischen und französischen Kunden zu tun und bestimmt jede winzige Nuance des Unterschieds zwischen den beiden Nationalitäten verinnerlicht. Akzent, Sprachmelodie, Haltung, Stil … Wenn er sich erinnerte, dass die Frau Engländerin war, verließ Liz sich darauf. Und wenn ein 246
Tankstellenangestellter den Akzent derselben Frau als »mittelvornehm« bezeichnet hatte … Die Gesuchte sah britisch aus. Man erkannte keine Einzelheiten auf dem grobkörnigen Avis-Video, aber auf seltsame Art konnte man es spüren. Irgendetwas in der schüchternen Haltung des Oberkörpers und der Schultern vermittelte Liz eine spezifisch britische Mischung aus intellektueller Arroganz und unterschwelliger körperlicher Steifheit. Die Kleidung war wohl in mehr als einer Hinsicht eine Tarnung. Sie war gewöhnlich, damit man sie ignorierte, und formlos, damit sie nicht durch ihren Körperbau zu identifizieren war. Es war Kleidung, die sich der Beobachtung entzog. In Liz’ Augen war es aber auch das Outfit einer Frau, die jeder Kritik zuvorkommen wollte. Ihr werdet mir niemals vorwerfen können, nicht attraktiv genug zu sein, sagte diese Aufmachung, weil ich es nie versuchen werde. Ich verachte solche Tricks. Trotzdem hatte der Mann von der Tankstelle laut Steve Goss gesagt, sie sei attraktiv. Meinte er, dass sie hübsch im konventionellen Sinn war, oder war es etwas anderes? Manche Männer fühlten sich unbewusst von Frauen angezogen, bei denen sie mangelndes Selbstwertgefühl oder Angst spürten. Hatte diese Frau Angst? Ahnte sie etwas von Liz’ leisen, aber unermüdlichen Schritten hinter ihr? Seit dem Moment, als sie von Gunters Tod erfuhr, musste sie gewusst haben, dass die Operation nicht nach Plan lief. Nein, noch hat sie keine wirkliche Angst, dachte Liz. Die Arroganz schirmte sie noch davor ab. Arroganz und Vertrauen zu der Autorität, an die sie psychisch oder real gebunden war. Aber der Druck musste stärker werden, der Druck, in dem hermetisch abgeschlossenen Kokon zu bleiben, den sie für sich geschaffen hatte – und innerhalb dessen jedes Unheil
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gerechtfertigt war. Die Wirklichkeit und die Außenwelt mussten allmählich auf sie einwirken. England sickerte durch. Um fünf war es dunkel geworden. Nach der zunächst viel versprechenden Begegnung an der Tankstelle in Hawfield erwies sich das Phantombild als enttäuschend allgemein und nichts sagend. Die Frau trug eine blauschwarze Baseballkappe und eine olivfarbene Pilotensonnenbrille und ähnelte entfernt Lucy Wharmby, obwohl ihre Augen etwas weiter auseinander lagen. Das Bild ging sofort an die Ermittlungsabteilung und an alle beteiligten Polizeikräfte. Kurz darauf bat Judith Spratt um Rückruf, und als Liz erneut in der Telefonzelle stand, die jetzt praktisch ihre zweite Heimat war, sagte sie ihr, die Polizei habe bei keiner der Nicht-EU-Frauen zwischen siebzehn und dreißig etwas herausgefunden. Achtunddreißig Frauen waren inzwischen überprüft. Keine von ihnen war die Zielperson. »Was soll ich jetzt tun?«, fragte Judith. »Die örtlichen Polizeichefs wollen wissen, ob sie für heute Nacht Bereitschaftsteams einrichten sollen. Überprüfen wir jetzt die Französinnen?« »Müssen wir wohl.« »Du klingst nicht gerade überzeugt.« »Ich glaube einfach nicht, dass sie Französin ist. Mein Gefühl sagt mir, sie ist Engländerin. Trotzdem müssen wir’s wohl machen.« »Also anfangen?« »Ja, fang an.« Als Liz zurück ins Trafalgar kam, stand Mackay an der Bar und hielt ein Glas Scotch gegen das Licht. »Liz. Was nehmen Sie?« 248
»Dasselbe wie Sie.« »Ich habe einen Talisker.« »Klingt gut.« Vielleicht bringt es mich ja auf die richtige Spur zu unserem Phantompassagier, dachte sie müde. Hinter der Bar stand diesmal nicht Cherisse, sondern ein Mädchen mit kurz geschorenen, gebleichten Haaren, gerade mal achtzehn Jahre alt. Zwischen ihr und Mackay lag eine leichte, aber kaum wahrnehmbare Spannung in der Luft. »Also, wie war Ihr Tag?«, fragte er, als sie an einem ruhigen Tisch in der Ecke saßen. »Nicht besonders. Ich hab einem halben Dutzend Polizeibehörden die Zeit gestohlen und die Telefonrechnung hochgeschraubt, aber nicht die Unsichtbare identifiziert. Immerhin hatte ich mit Steve Goss ein gutes getoastetes Sandwich zu Mittag.« Er lächelte. »Wollen Sie mich neidisch machen?« Sie hob das Kinn. »Sie sind weit abgeschlagen. Steve ist rücksichtsvoll. Er ist nicht arrogant, und er informiert mich.« »Ach so, da drückt der Schuh.« Er nippte an seinem Whisky. »Ich dachte, ich hätte Ihnen eine Nachricht hinterlassen.« »Ja sicher, und der Scheck ist schon unterwegs. Rufen Sie mich an, Bruno, okay? Halten Sie mich auf dem Laufenden, hauen Sie nicht einfach ab.« Er schaute sie unverwandt an, was wohl einer Entschuldigung am nächsten kam. »Dann erzähl ich’s Ihnen eben jetzt«, sagte er. »Ich habe mit unseren Freunden in Lakenheath gesprochen, sie scheinen sehr wachsam und gut vorbereitet zu sein … und ich habe betont, dass sie das weiterhin sein müssen. Das ist eigentlich schon alles, und wenn man sieht, wie groß diese Stützpunkte sind, fragt man sich, was ein einzelner Typ und ein Mädchen da
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anrichten wollen. Haben Sie schon mal ein Steak von fünfhundert Gramm gegessen?« »Nicht, dass ich wüsste. Steve Goss dachte, die Air Force würde Ihnen Hamburger servieren.« »Gut getippt. Hamburger standen auch auf der Karte. Aber dieses Steak … unglaublich. Ich hatte schon Freundinnen, an denen weniger Fleisch war. Und offen gesagt, zwei Typen wie unsere beiden hätten sicher große Mühe, nah genug ranzukommen, um eine Stinger oder so was abzufeuern und vielleicht ein Flugzeug zu treffen. Womöglich könnten sie ein paar von den Typen am Tor umlegen, aber selbst das wäre ziemlich schwierig.« »Ich kenne diese Stützpunkte, und ich hab dasselbe gedacht. Mein Instinkt sagt mir, sie haben es auf ein weicheres Ziel abgesehen.« »Was genau?« »Keine Ahnung. Irgendwas.« Sie schüttelte den Kopf. »Verdammt!« »Entspannen Sie sich, Liz.« »Kann ich jetzt nicht, weil ich weiß, ich hab was übersehen. Wenn wir ausgetrunken haben, möchte ich, dass Sie sich die Passagierliste ansehen, vielleicht fällt Ihnen was auf.« »Gern. Wir gehen davon aus, dass die Frau bis zu dem Mord an Gunter keinen Grund hatte, ihre Handlungen irgendwie zu tarnen, richtig?« »Richtig. Sie musste bloß darauf achten, dass sie nicht wegen eines Verkehrsdelikts von der Polizei angehalten wurde. Solange sie dabei sauber blieb, war alles in Ordnung; ihre einzige Achillesferse war der gestohlene Führerschein. Also muss sie irgendwo auf der Liste stehen, aber jede britische Frau auf dieser Liste zwischen siebzehn und dreißig hat ein Alibi. Jede.« 250
»Dann ist es eine Französin. Eine Französin, deren Name englisch klingt. Davon gibt es viele.« »Wahrscheinlich ist es genau so«, sagte Liz und zuckte die Achseln. Sie wirkte nicht überzeugt. »Passen Sie auf, im Moment können wir nichts tun. Sollen wir mal nachsehen, was uns Bethany für ein Essen bieten kann, eine anständige Flasche Wein bestellen …« »Ich dachte, Sie sind noch satt von Ihrem Steak. Wer ist überhaupt Bethany? Die Halbwüchsige hinter dem Tresen, die so mürrisch guckt?« »Sie ist dreiundzwanzig. Und die Erinnerung an das Steak verfliegt schnell.« Warum nicht?, dachte Liz. Er hatte Recht. Bis die Französinnen überprüft waren, konnten sie nun mal nichts tun. Und sie sollte wirklich versuchen, ein wenig lockerer zu sein. »Gut«, lächelte sie. »Gucken wir mal, was Mr Badger und sein Team zu Stande kriegen.« »Sehr schön. Bis dahin ziehen wir uns zurück und analysieren die Passagierliste.« »Vielleicht sollten Sie Ihrer kleinen Freundin Bethany sagen, dass wir hier essen.« »Oh, sie weiß schon Bescheid«, murmelte er und leerte sein Glas. »Ich hab’s ihr gesagt, als ich vorhin zurückkam.« Ein plötzliches Zittern erfasste die Fenster. Draußen wurde der Wind stärker, der Regen lief an den bleiverglasten Scheiben herab, und die gelben Straßenlaternen verschwammen. Liz sah einen weißen Streifenwagen mit Heckklappe langsam die Promenade entlangfahren und die geparkten Wagen überprüfen.
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38 Zwanzig Minuten später hielt der weiße Streifenwagen auf dem Parkplatz unter der Sozialwohnung von Elsie und Cherisse Hogan. Sergeant Brian Mudie zog den Reißverschluss seines Anoraks zu und griff nach der schweren Taschenlampe unter seinem Sitz. »Scheinen hauptsächlich Garagen zu sein«, sagte seine Kollegin Wendy Clissold und spähte am Scheinwerferlicht entlang in den Regen hinaus. »Hier würde ich keinen Wagen draußen stehen lassen. Wenn man wiederkommt, sind die Reifen weg.« Mudie überlegte, ob er im Wagen bleiben und bloß aus dem Fenster leuchten solle, während Wendy Clissold einmal herumfuhr, aber Don Whittens Anweisung war gewesen, auszusteigen, in Garagenfenster und hinter Mauern zu schauen – allgemein überall herumzuschnüffeln. Also setzte er wieder seine Mütze auf. Der elastische Regenschutz für die Mütze lag im Handschuhfach, aber Mudie ließ ihn da, weil das Ding so bescheuert aussah wie eine Duschhaube für Frauen. Er bewegte die Zehen versuchsweise in den feuchten DocMartens-Schuhen und stieg aus. Der Wind blies heftig vom Meer, und er musste seine Mütze mit der freien Hand festhalten und die Tür mit dem Knie zudrücken. Drinnen leuchtete es kurz auf, als Wendy Clissold sich eine Zigarette anzündete. Gott, war sie eine schöne Frau. Er brauchte fünf Minuten, um den Parkplatz der Wohnanlage zu überprüfen und weitere acht, um mit der Lampe an den Wagen vor dem Lazy ›W‹ entlangzugehen, um zu sehen, dass keine der Klapperkisten vor dem Minimarkt ein fast neuer Astra war, wobei er zwei jungen Männern einen Heidenschreck 252
einjagte, die in einem Ford Capri an der Promenade einen Joint rauchten. Als er zurückkam, hatte Clissold die Heizung angemacht. Der Streifenwagen roch nach heißem Staub und dem Pfefferminz ihres Atemsprays. »Irgendwas gefunden?« fragte sie, während er den Anorak auf den Rücksitz warf. »Natürlich nicht. Gib mir mal ’ne Zigarette.« Er zündete sie an, und Wendy Clissold steuerte den Wagen langsam aus Dersthorpe hinaus und zurück Richtung Marsh Creake. Auf halber Strecke hielt sie auf einem Rastplatz und schaltete Motor und Scheinwerfer aus. Nur das schwache Rauschen des Polizeifunks war noch zu hören. Sie saßen stumm da, während er seine Zigarette zu Ende rauchte. »Bist du sicher, dass deine Frau nichts ahnt?«, fragte sie schließlich. »Doreen? Nein, sie hat viel zu viel mit ihren Seifenopern und Lottoscheinen zu tun. Offen gestanden, wär’s mir auch egal.« »Was ist mit Noelle? Du hast gesagt, sie hat gerade in der neuen Schule angefangen.« »Früher oder später wird sie’s rausfinden, nicht?«, meinte Mudie abschließend. Er öffnete das Fenster einen Spalt, warf den Zigarettenstummel hinaus und nahm Clissold in die Arme. Ein oder zwei Minuten später zog sie den Kopf zurück. Mudie blinzelte. »Was ist los, Schatz?« »Diese Ferienbungalows am Strand. In einem war Licht.« »Brancaster, Marsh Creake und Dersthorpe, hat Whitten gesagt, nichts vom Strand.« »Ich finde, wir sollten trotzdem mal nachsehen.«
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»Wenn sie uns besser bezahlen, tun wir auch was extra. Bis dahin können sie uns mal.« Sie zögerte. Der Regen prasselte gegen die Scheiben. Das Funkgerät rauschte. »Außerdem sollen wir um halb wieder in Fakenham sein«, sagte er und streichelte die warme Haut über dem Bund ihrer Uniformhose. »Bleiben uns gerade noch fünfzehn Minuten.« Sie rutschte zweifelnd, aber genüsslich auf dem Sitz umher. »Du bist ein schlechter Mensch, Sergeant Mudie, und du gibst mir ein schlechtes Beispiel.« »Was willst du jetzt tun, Wachtmeisterin Clissold?«, murmelte er und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. »Mich verhaften?«
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39 »Wie ist Ihr Fisch?«, fragte Bruno Mackay. »Viele Gräten und wenig Geschmack«, sagte Liz. »Ein bisschen, als ob man Baumwolle aus einer Haarbürste pult. Dafür ist der Wein wirklich klasse.« »Diese abgelegenen Kneipen haben manchmal gute Tropfen im Keller. Niemand bestellt sie, also bleiben sie jahrelang da liegen.« »Und warten auf einen Kenner wie Sie?«, fragte Liz schelmisch. »Im Grunde ja«, sagte Mackay. »Ah, da kommt Bethany mit der Remoulade.« »Die genau wie der Wein in aller Ruhe im Keller gereift ist …« »Wissen Sie was, Sie sind ganz schön schnell mit Ihren Urteilen.« Liz suchte noch nach einer Antwort, als ihr Telefon klingelte. Es war Goss. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir den Schützen haben, Mitchell hat den ganzen Tag Fotos angeguckt und ihn vorläufig identifiziert. Soll ich Ihnen die Daten rübermailen?« »Natürlich.« »Wie ist Ihre Adresse?« »Moment.« Sie reichte Mackay das Telefon. »Geben Sie Steve Goss Ihre E-Mail-Adresse. Wir haben den Schützen identifiziert.« Er nickte, und sie legte ihr Besteck weg, um zu demonstrieren, dass sie mit dem Fisch fertig war. 255
Zehn Minuten später kamen die Bilder. Die beiden saßen in Mackays Zimmer. Er hatte den Wein und die Gläser mitgenommen, aber der durchdringende Geruch nach billigem Raumspray verdarb Liz den Appetit. »Da kommt’s einem wirklich hoch«, stimmte Mackay zu, während der Anhang heruntergeladen wurde. »Schade, dass Ray Gunter nicht am Strand von Aldeburgh umgelegt wurde – da gibt es ein paar wundervolle Hotels und Restaurants.« Sie nickte in Richtung des Computers auf dem Toilettentisch. »Sie wissen, wer es sein wird, nicht?« Er runzelte die Stirn. »Nein, Sie?« »Ich bin mir ziemlich sicher«, sagte sie, während das bräunliche Bild eines Mannes mit Mudschahedin-Tuch auf dem Bildschirm erschien. »Faraj Mansur«, las er vor. »Und wer zum Teufel ist der Kerl?« »Ein ehemaliger Automechaniker aus Peshawar. Kontaktperson von Dawud al-Safar und Besitzer eines gefälschten britischen Führerscheins aus Bremerhaven.« Er starrte das Bild an. »Woher wissen Sie das? Was haben Sie mir alles verschwiegen?« »Was hat Geoffrey Fane Ihnen verschwiegen? Er hat sich nach dem Typen erkundigt, nachdem die Deutschen uns wegen des Führerscheins Bescheid gesagt hatten. Wollen Sie mir erzählen, Sie wissen gar nichts über diesen Mann? Sie sind doch Mr Pakistan.« »Genau das will ich. Wer ist er?« Sie erzählte ihm das Wenige, was sie wusste. »Also haben wir eigentlich nur einen Namen und ein Gesicht, sonst nichts«, sagte Mackay. »Keine bekannten Kontaktpersonen, kein …« 256
»Soweit ich weiß, nicht.« »Verdammt!« Er setzte sich aufs Bett, auf dem eine verblasste grüne Plüschtagesdecke lag. »Verdammt!« »Wenigstens wissen wir, wie er aussieht«, sagte Liz und betrachtete das schmale, scharf geschnittene Gesicht. »Nicht schlecht, würde ich sagen. Was wohl zwischen ihm und dem Mädchen passiert?« »Sehr interessant«, sagte Mackay trocken. »Ich nehme an, die Polizei hängt Steckbriefe aus.« »Ja. Es ist ein Anfang.« Er nickte. »Es kann nicht allzu viele Leute hier geben, die so aussehen.« »Da wäre ich mir nicht so sicher. Er ist ziemlich hellhäutig. Rasieren Sie ihn, verpassen Sie ihm eine modische Frisur, stecken Sie ihn in Jeans und eine Daunenjacke, und er wird auf keiner Hauptstraße in ganz England auffallen. Mein Instinkt sagt mir immer noch, wir sollten die Frau suchen. Wenn wir sie identifizieren können und ihr Leben unters Mikroskop legen, finden wir sie wahrscheinlich beide. Ist Ihnen irgendwas zu der Passagierliste des Eurostars eingefallen?« »Nur, dass das Leben einfach unfair ist.« »Was soll das denn heißen?« »Können Sie sich vorstellen, was man mit einem Namen wie Adrienne Fantoni-Brizeart oder Jean D’Alvéydre für eine Ausgangsposition im Leben hätte?«, fragte Mackay. »Jede Vorstellung wäre eine Liebeserklärung.« »Standen die Namen auf der Liste?«, fragte Liz. Irgendetwas, eine bohrende Idee … »Ja, ich meine schon.« »Sagen Sie die Namen noch mal.«
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»Es gab, soweit ich weiß, eine Frau namens Adrienne FantoniBrizeart und einen Mann namens Jean D’Alvéydre oder so ähnlich. Wieso?« »Ich weiß nicht. Irgendwas …« Sie kniff die Augen zusammen. Verdammt. »Nein. Es ist mir entfallen.« »Das kenne ich«, sagte Bruno mitfühlend. »Am besten speichern und vergessen. Das Gedächtnis spült es hoch, sobald es bereit ist.« Sie nickte. »Sie sind heute nach Lakenheath gefahren; waren Sie auch in Mildenhall oder Marwell?« »Nein. Ich wollte zwar auch nach Mildenhall, aber der Kommandeur war nicht da. Ich bin für morgen Früh da angemeldet. Wollen Sie mit?« »Nein, ich glaube, ich bleibe hier. Früher oder später findet jemand den Mietwagen. Whitten lässt überall danach …« Ein gedämpftes Piepen ertönte, und sie riss ihr Telefon vom Gürtel, ohne auf das Display zu achten. »Judith?« »Nein, hier ist nicht Judith. Ich bin’s, Mark. Also, ich hab dir doch gesagt, ich würde mit Shauna reden. Ich hab’s gemacht, und ich …« Sie hörte nicht länger zu. Sie konnte es sich nicht leisten, zuzuhören und den Gedanken zu verlieren, der gerade in diesem Moment ganz spontan … »Mark, ich bin in einer Sitzung, okay? Ich ruf dich morgen an.« »Liz, bitte, ich …« Sie ignorierte seinen Protest und beendete das Gespräch. Mackay grinste. »Wer war denn das?« Doch Liz war bereits aufgestanden. »Warten Sie, ich muss mir noch mal die Liste auf dem Laptop ansehen. Ich bin gleich zurück.« 258
Sie ging über den Korridor in ihr Zimmer, schaltete den Laptop an und gab ihr Passwort ein. Sie öffnete das Verzeichnis der eingegangenen E-Mails und fand rasch, was sie suchte. »Sie hatten Recht«, sagte sie zu Mackay, als sie wieder zurück war. »Es gibt einen Jean D’Alvéydre.« »Ja, und weiter?« Sie schaute auf die handgeschriebene Liste. »Außerdem Jean Boissevin, Jean Béhar, Jean Fauvet, Jean D’Aubigny und Jean Soustelle.« »Okay?« »Und ich wette alles, was Sie wollen, dass einer davon kein Jean wie in ›pardon‹ ist, sondern eine Jean wie in ›queen‹.« Mackay runzelte die Stirn. »Die zu den französischen Männern gerutscht ist, weil ihr Vorname französisch klingt, meinen Sie?« »Genau.« »Mein Gott«, murmelte er. »Das könnte es sein. Das könnte die Lösung sein.« Er nahm die Namensliste. »Das hier wäre mein Tipp.« »Ja, meiner auch.« Sie griff nach ihrer Tasche. »Warten Sie hier, ich bin in fünf Minuten wieder da.« Bei Tag war die Telefonzelle an der Promenade schon wenig einladend gewesen, aber jetzt war sie noch schlimmer. Es war eiskalt, der Zementboden war mit Zigarettenkippen übersät, und der Hörer stank nach dem Bieratem des letzten Anrufers. »Judith …«, begann Liz. »Bis jetzt leider nichts«, sagte Judith Spratt. »Ungefähr sechzig Prozent der französischen Namen sind überprüft, alle negativ.«
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»Jean D’Aubigny, zweite Seite bei den französischen Männern«, sagte Liz ruhig. Eine Pause entstand. »Mein Gott, ja. ich verstehe. Das könnte ein alter englischer Name sein. Ich …« »Ruf mich zurück.« Sie und Mackay hatten Zeit, den Wein und einen Kaffee zu trinken. Als Judith Spratt sich schließlich meldete, wusste Liz, dass sie die richtige Nase gehabt hatte. In der Telefonzelle wurde ihr Rücken gegen Mackays Brustkorb gepresst, aber das war ihr ganz egal. »Jean D’Aubigny, vierundzwanzig«, sagte Spratt. »Britische Staatsbürgerin, aktuelle Adresse: Corentin-Cariou, Paris, Passage de l’Ouled Naïl 17. Sie ist an der Dauphine der Sorbonne als Vollzeitstudentin für Urdu-Literatur eingeschrieben. Gratuliere!« »Danke«, sagte Liz und schaffte es, sich so weit umzudrehen, dass sie Mackay zunicken konnte. Er grinste breit und ballte triumphierend die Faust. Erwischt, dachte sie. Erwischt! »Die Eltern sind geschieden und leben in Newcastle under Lyme; keiner von beiden hat Jean zu Weihnachten erwartet, weil sie ihnen sagte, sie wolle mit Freunden von der Uni in Paris bleiben. Wir haben gerade mit ihrem Tutor gesprochen, einem Dr. Hussein. Er hat gesagt, er hätte sie seit dem Ende des vorletzten Semesters nicht mehr gesehen und angenommen, sie hätte das Studium abgebrochen.« »Können die Eltern uns Fotos schicken?« »Das versuchen wir gerade, und wir mailen sie dir durch, sobald wir was kriegen. Anscheinend hat Jean schon einige Jahre bei keinem von beiden mehr gewohnt, aber wir schicken trotzdem ein paar Leute hin. Wir bitten auch die Franzosen, sich mal unauffällig die Wohnung in Corentin-Cariou anzusehen.«
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»Wir brauchen alles«, sagte Liz. »Freunde, Kontaktpersonen, Schulkameraden … ihr ganzes Leben.« »Ich weiß«, antwortete Judith, »und wir kriegen es auch. Ruf regelmäßig deine Mails ab. Bleibst du noch in Norfolk?« »Ja. Ich bin ganz sicher, sie ist hier irgendwo.« »Dann sprechen wir uns später wieder.« Liz unterbrach die Verbindung und zögerte, während ihr Finger über den Tasten schwebte. Erst Steve Goss, dann Whitten. Ja!
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40 Was die Leute an den Strandbungalows fanden, war Elsie Hogan schleierhaft. Sie waren eng und kalt, man musste bis nach Dersthorpe fahren, wenn man bloß ein paar Teebeutel wollte, und in keinem gab es einen Fernseher oder ein Telefon! Trotzdem wusste Diane Munday offenbar, was sie tat. Wenn sie keinen Profit einbrachten, würde sie sie wohl nicht behalten. Elsie putzte für die Mundays an den Tagen, an denen sie nicht für die Lakebys putzte. Sie mochte Diane Munday nicht besonders, die gerne mal mit dem Finger über eine staubige Fußleiste fuhr und beim Zusammenrechnen der Stunden auf jede Minute achtete, aber Geld war Geld, und von dem, was die Lakebys ihr zahlten, konnte sie nicht überleben. Wenn Cherisse schwanger wurde … sie durfte gar nicht daran denken. Sonntagvormittag waren die Bungalows dran. Sie putzte sie nicht jedes Wochenende komplett, besonders wenn sie unbewohnt waren, aber sie hatte ein Auge darauf, und als sie jetzt in ihrem zehn Jahre alten Ford Fiesta langsam den unebenen Weg entlangkroch und die Scheibenwischer gegen den Dauerregen ankämpften, konnte sie gerade die Vorderseite des schwarzen Autos erkennen, das der Frau in Nummer eins gehörte. Eine Studentin, hatte Mrs Munday gesagt. An einem solchen Vormittag würde sie viel Zeit zum Lernen haben. Vom Fahrersitz des Astras beobachtete Jean D’Aubigny den sich langsam nähernden Fiesta durchs Fernglas. Sie war bis auf einen Meter an den Weg herangefahren, um bessere Sicht in beide Richtungen zu haben, und hatte während der letzten halben Stunde den BBC-Lokalsender gehört, da sie auf Neuigkeiten über den Gunter-Mord hoffte. Es war aber nichts gekommen, und sie konnte nichts tun, als durch den Regen
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spähen und versuchen, ihre wachsende Unruhe zu unterdrücken. Gerade war es zwanzig nach zehn gewesen. Wann würden sie das Ziel angreifen?, fragte sie sich zum hundertsten Mal. Weshalb das Warten? Der C4-Sprengstoff war extrem empfindlich, wie Faraj wusste, und ließ sich nicht lange lagern. Doch er blieb unerschütterlich. »Wir starten, wenn es so weit ist«, hatte er gesagt, und sie wusste, dass sie kein zweites Mal zu fragen brauchte. Sie blinzelte und starrte wieder durchs Fernglas, das sie ins halb offene Fenster des Astras geklemmt hatte. Langsam kroch das andere Auto wie eine Fata Morgana auf sie zu. Es war alt, wie sie jetzt erkannte, und mit ziemlicher Sicherheit zu klapprig, als dass Polizisten in Zivil oder andere Staatsdiener darin sitzen würden. Andererseits benutzten sie vielleicht absichtlich einen billigen alten Wagen, um an sie heranzukommen. Zur Sicherheit zog sie die Malyah und legte sie sich in den Schoß. Der Fiesta war fast vor ihr, und Jean konnte jetzt den Fahrer erkennen – eine bodenständig aussehende Frau mittleren Alters. Sie startete den Motor, legte den Gang ein, gab Gas und ließ die Kupplung kommen, um den Astra ein Stück zurückzusetzen und dem anderen Auto Platz zu machen. Doch sie hatte nicht den Rückwärtsgang eingelegt, sondern irgendwie den ersten oder zweiten Gang, und als die Kupplung kam, machte der Wagen einen Satz nach vorne und krachte dem Fiesta in die Seite. Es knirschte laut, der Astra kam keuchend zum Stehen, und Scheinwerferglas fiel klirrend zu Boden. Der Fiesta drehte sich auf dem feuchten Untergrund gegen den Uhrzeigersinn und blieb dann stehen. Scheiße, dachte Jean. Verdammte Scheiße! Sie stopfte die Malyah in den Bund ihrer Jeans und sprang mit pochendem Herzen aus dem Wagen. Die Stoßstange des Astras war eingedellt, und ein Scheinwerfer war kaputt. Auf der Fahrerseite des Fiestas war jedoch der ganze Kotflügel hinüber, und die Fahrerin saß reglos da und starrte geradeaus. 263
»Alles in Ordnung?«, rief Jean durchs geschlossene Fenster des Fiestas. Der Regen trommelte aufs Autodach und durchnässte ihr Haar. Das Fenster öffnete sich wenige Zentimeter, aber die Frau schaute immer noch geradeaus. Sie hatte den Motor ausgemacht und hielt die Schlüssel in der heftig zitternden Hand. »Mein Hals ist verletzt«, wimmerte sie kläglich. »Schleudertrauma.« So ein Quatsch, dachte Jean wütend und bückte sich neben dem Fenster, während der Regen ihr eiskalt den Rücken herunterlief. »Hören Sie, wir sind nicht so schwer zusammengestoßen«, sagte sie. »Ich gebe Ihnen …« »Wir sind nicht zusammengestoßen«, sagte die Frau mit inzwischen etwas festerer Stimme, »Sie haben mich angefahren.« »Okay, also gut. Ich hab Sie angefahren. Tut mir Leid. Ich gebe Ihnen hundertfünfzig Pfund – in bar – und wir …« Zu ihrem Entsetzen bemerkte Jean, dass die Frau jetzt ein Telefon in der Hand hielt und der offene Fensterspalt sich schloss. Sie griff nach dem Türöffner des Fiestas, aber der rostgefleckte Griff war abgeschlossen, und durch das vom Regen verwischte Fenster sah sie die Frau mit vor Argwohn zitternden Fingern eine Nummer eintippen. Ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken. Jean riss die Malyah aus dem Hosenbund, entsicherte sie und schrie: »Nein! Fallen lassen!« Die beiden Einschläge auf der Windschutzscheibe waren kaum lauter als der Regen, und die Frau sank im Gurt nach vorne. Einen Augenblick dachte Jean, sie habe geschossen, ohne es zu merken, doch dann lief Faraj mit der PSS auf den Wagen zu, stieß sie mit der Schulter beiseite und feuerte zwei weitere gezielte Schüsse durch das Seitenfenster ab. Der Körper der Frau zuckte bei jedem Einschlag und sank weiter nach vorne. 264
Faraj hob einen großen Stein vom Boden auf und zertrümmerte das durchlöcherte Seitenfenster, dann fasste er hinein und öffnete die Tür. Er wühlte unter der Leiche der Frau, und als er seinen bis zum Ellbogen blutigen Arm zurückzog, wischte er das Handy an ihrer Bluse ab, schaute aufs Display und unterbrach die Verbindung. »Pack alles ins Auto«, sagte er ruhig, während ihm der Regen über das bleiche Gesicht lief. »Los.« Dann eilte er zum Wasser und warf Elsie Hogans Handy und die vier glänzenden Patronenhülsen weit ins Meer. Im Bungalow stopfte Jean die Kleidung zusammen mit der Malyah-Munition, der Karte, dem Kompass, dem Taschenmesser, dem Handy, den beiden Wäschebeuteln und der Brieftasche mit dem Geld in ihren Rucksack. Tu was, sagte sie sich unruhig. Mach weiter. Denk nicht nach. Währenddessen nahm Faraj vorsichtig die C4Bombe aus dem Kühlschrank, legte sie in eine offene, mit einem Handtuch ausgeschlagene Keksdose und trug sie zum Auto. Alles andere, was der Spurensuche der Polizei genützt hätte – getragene Kleider, Bettwäsche und Decken, übrig gebliebene Lebensmittel – schichteten sie in der Mitte des Wohnzimmers auf und übergossen es mit Benzin aus dem Kanister, den Jean an der Tankstelle in Hawfield gefüllt hatte. Weitere benzingetränkte Tücher packten sie um Elsie Hogans Leiche im Ford Fiesta. »Fertig?«, fragte Faraj und blickte sich im Wohnzimmer des Bungalows um. Es stank nach Benzin. Es war zehn Uhr sechsundzwanzig, nur wenige Minuten nach dem Mord. Sie trugen Jeans, Wanderstiefel und wasserdichte dunkelgrüne Gebirgsanoraks. »Fertig«, sagte Jean und hielt ein Plastikfeuerzeug an den benzingetränkten Ärmel eines der Hemden, die sie für Faraj in King’s Lynn gekauft hatte. Sie liefen mit gesenkten Köpfen in
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den Regen hinaus. Während sie das Feuerzeug in den Fiesta hielt, schob er die Rucksäcke auf den Rücksitz des Astras. Dann fuhr sie los. Sie hatten Gott sei Dank geplant, schnell zu verschwinden. Sie wusste genau, wo sie hinfahren musste.
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41 Diane Munday brauchte mehrere Minuten, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Sie hatte Elsie Hogans Anruf nicht angenommen, sondern wie immer den Anrufbeantworter laufen lassen. Auf diese Weise brauchte sie keine unwichtigen Botschaften zwischen Ralph und seinen Golfkumpeln hin und her zu tragen, die nach Dianes Meinung allesamt schreckliche Langweiler waren. Als der Anruf gekommen war – »Mrs M? Mrs M …« -, hatte irgendetwas ihre Hand zögern lassen. »Hier ist Elsie, Mrs M«, hatte die Stimme zitternd gesagt. »Ich bin bei den Bungalows, und ich hab …« Dann irgendein Ruf, nicht von Elsie, sondern gedämpft und unverständlich. Ein zweifaches Klappern wie von einem Teelöffel auf Porzellan und ein langes, keuchendes Stöhnen. Das Klappern wiederholte sich, danach ein dumpfer Knall, dann nichts mehr. Stille im Hörer. Elsies Nummer war im Kurzwahlspeicher, und Diane versuchte, sie zurückzurufen, aber es war besetzt. Verblüfft hörte sie die Nachricht noch einmal ab. Sie ergab nicht mehr Sinn als vorher, aber Diane wusste, dass sie irgendwie darauf reagieren sollte, vielleicht hinfahren. Doch sie entschied sich dagegen. Sie befürchtete, irgendein öder medizinischer Zwischenfall könne stattgefunden haben. Wenn dem so war, konnte die Fahrt zum Bungalow dazu führen, dass sie Elsie ins Krankenhaus fahren, in King’s Lynn warten und irgendwas unterschreiben musste, womit ihr der Sonntagvormittag nicht nur verdorben, sondern völlig über den Haufen geworfen worden wäre. Mit wachsendem Unwillen sah sie sich um. Sie hatte gerade das kalorienarme Schokopulver auf ihren Cappuccino 267
geschüttet, die Mail on Sunday und Hello! warteten auf dem Küchentisch, und auf Classic FM sang Russell Watson. Also wirklich, dachte sie. Ich bin doch nicht ihre große Schwester. Die ganze Putzerei war immer gegen Bargeld und ohne jede Verpflichtung abgelaufen. Wenn Elsie Hogan schwindlig geworden war, hätte sie ihre fette Tochter anrufen sollen Der Pub machte erst um halb zwölf auf, und Cherisse Hogan war bestimmt zu Hause, lackierte sich die Nägel, guckte Fernsehen oder tat, was immer die Leute in Sozialwohnungen am Sonntagvormittag halt so taten. Es sei denn, sie war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen, was genauso möglich war. Normalerweise hätte Diane die Polizei oder Feuerwehr angerufen und die Mühe samt den Problemen ihnen überlassen. Dieses Mal jedoch zögerte sie. Sie wollte nicht, dass die Polizei beim Bungalow aufkreuzte und entdeckte, dass die junge Frau dort bar bezahlte. Sie wusste nicht genau, wie die Polizei mit den Leuten von der Steuer und vom Ordnungsamt zusammenhing, aber sie war ziemlich sicher, wenn sie anfingen, miteinander über sie zu reden, könnte es Probleme geben. Also wartete sie, trank ihren Kaffee und sagte sich, sie dürfe sich nicht vom Fleck rühren, falls Elsie noch mal anriefe. Nach fünf Minuten, in denen das Telefon stumm blieb, tippte Diane widerwillig noch einmal Elsies Nummer. Eine elektronische Stimme informierte sie, der Teilnehmer sei vorübergehend nicht erreichbar. Sie warf einen Blick durch die Glastür ins Freie. Es regnete immer noch in Strömen. Von irgendwo hinter Dersthorpe stieg eine dünne Rauchsäule in den stahlgrauen Himmel auf. Dieses Personal, dachte Diane ungehalten und fragte sich, wo sie die Schlüssel des Geländewagens hingelegt hatte. Man kam nicht ohne aus, aber mein Gott, was sie einen für Nerven kosteten. Auf dem Weg nach draußen schaute sie auf die Küchenuhr. Es war zehn Uhr dreißig. 268
42 Sie ließen den ersten Wagen durch. Es war ein Fiat Uno mit unlackierten Spachtelstellen, der nicht aussah, als würde er es noch weit schaffen. Dass sie den Astra an der Straße zwischen Dersthorpe und Marsh Creake geparkt hatten – zufällig dieselbe Stelle, wo Brian Mudie und Wendy Clissold letzte Nacht zwanzig glückliche Minuten miteinander verbracht hatten –, war ein kalkuliertes Risiko gewesen. Wenn ein Streifenwagen vorbeigekommen wäre, hätte das wohl das Ende bedeutet. Aber sie hatten Glück. Nach dem Fiat kam ein Nissan in ebenso schlechtem Zustand, und als er verschwand, sah man am Himmel hinter Dersthorpe einen stummen Pilz aus feuerrotem Rauch emporsteigen. Der Tank des Fiestas, dachte Jean, als der Rauch sich mit dem dichter werdenden grauen Rauch des Hauses verband. Bestimmt war die Feuerwehr schon unterwegs – irgendjemand hatte den Bungalow sicher brennen sehen –, aber sie kämen wahrscheinlich aus Fakenham. Mit etwas Glück dauerte es noch gut fünf Minuten, bevor die Polizei sich einschaltete, und mindestens zehn, bevor sie Straßensperren errichteten. Der Regen lief Jean übers Gesicht, aber seltsamerweise empfand sie keine Kälte. Verzweiflung und die reale Möglichkeit, gefasst zu werden, hatten sie jenseits der Furcht ins Gleichgewicht gebracht. Sie war jetzt ruhig und spürte das geringe, beruhigende Gewicht der Malyah in der Tasche ihres Anoraks. Ein silbernes Auto – sie hatte keine Zeit, es zu identifizieren, aber es wirkte neu und sportlich – kam näher, und sie hörte das Wummern der Basslautsprecher. Winkend und mit wehendem Haar trat sie auf die Straße und zwang den Fahrer zu einer Vollbremsung. 269
Er war Ende zwanzig, trug einen Ohrring und gegeltes Haar mit Mittelscheitel. Techno dröhnte aus dem Wagen. »Verdammt, wollen Sie sich umbringen?«, brüllte er wütend und öffnete halb die Tür. »Was ist los?« Sie riss die Malyah aus der Tasche und zielte auf sein Gesicht. »Aussteigen«, befahl sie. »Sofort! Oder ich schieße.« Er zögerte und riss den Mund auf. Sie zielte tiefer und schoss in den Sitz zwischen seinen in Jogginghosen steckenden Beinen. Der Wind verwehte den scharfen Knall. »Raus!« Mit vor Schock weit aufgerissenen Augen stolperte er aus dem Wagen. Der Schlüssel blieb stecken, Motor und CD-Player liefen weiter. »Auf den Beifahrersitz. Los!« Unsicher kletterte er wieder in den Wagen, während sie hineingriff und die Musik ausmachte. In der plötzlichen Stille bemerkte sie das laute Trommeln des Regens auf dem Autodach. »Anschnallen. Hände auf die Knie.« Er nickte stumm, und sie hielt ihn in Schach, während Faraj aus dem Astra stieg, die Rucksäcke in den Kofferraum des silbernen Wagens lud und sich mit der Karte und der Keksdose auf den Rücksitz setzte. Er trug die Yankees-Baseballkappe unter der Kapuze seines Anoraks, und sein Gesicht war kaum zu erkennen. Etwa dreißig Sekunden lang machte Jean sich mit Schaltung und Armaturenbrett vertraut. Der Wagen war irgendein Toyota. »Okay«, sagte sie, setzte zurück und fuhr Richtung Marsh Creake weiter. »Du verhältst dich ganz ruhig, verstanden? Sobald du irgendwas tust, schießt er dich in den Kopf.« Faraj zog die PSS aus der Tasche, lud das Magazin nach und ließ es mit einem metallischen Klicken einrasten. Der 270
kreidebleiche Mann nickte schwach. Jean ließ die Kupplung kommen. Als sie losfuhren, raste Diane Mundays metallicgrüner Cherokee in der Gegenrichtung vorbei. »Sag mir den Weg«, wandte sie sich auf Urdu an Faraj.
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43 Der Anruf kam um zehn Uhr neununddreißig. Wendy Clissold nahm ihn an, und Liz sah das Gesicht der Polizistin erstarren, als ihr klar wurde, was sie da hörte. Sie legte die Hand auf die Muschel, drehte sich um und rief durch den Saal: »Chef! Ein Haus und ein Auto brennen in Dersthorpe Strand. Unbekannte weibliche Leiche im Wagen.« Während Whitten den Hörer des Telefons vor sich abhob, beruhigte sich Clissolds Stimme. »Ich stelle Sie zu Detective Superintendent Whitten durch, Madam«, fuhr sie fort. »Geben Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Nummer, falls wir sie zurückrufen müssen.« Whitten lauschte konzentriert, während sie die Daten notierte. »Mrs Munday«, sagte er ruhig, »was ist passiert?« Binnen weniger Minuten war ein Ermittlungsteam auf dem Weg nach Dersthorpe Strand. Gerichtsmediziner kamen aus Fakenham, und die Feuerwehr war gerade in Burnham Market losgefahren. Das brennende Auto war von der fast hysterischen Diane Munday als das von Elsie Hogan identifiziert worden, und Diane war ziemlich sicher, dass es sich bei der Leiche ebenfalls um Elsie handelte. Liz beobachtete die Aktivitäten um sie herum und dachte über die Konsequenzen von Diane Mundays Bericht nach. Natürlich war es möglich, dass dies das Werk eines durchgedrehten Brandstifters war und nicht von Mansur und D’Aubigny, doch ihr Instinkt sagte ihr, das sei unwahrscheinlich. Aber ausgerechnet Elsie Hogan? Was hatte diese arme, bescheidene Frau je getan, um irgendjemanden zu stören? Um zehn Uhr fünfundvierzig kam ein Anruf vom Ermittlungs272
team, das auf dem Weg zu den Bungalows einen schwarzen Astra entdeckt hatte, welcher der Beschreibung im Zusammenhang mit dem Gunter-Mord entsprach. Der Astra stand am Rastplatz Dead Man’s Hole außerhalb von Dersthorpe, und ein Beamter war zur Bewachung dageblieben. Trotz des Regens war der Motor noch warm. Diane Munday, so fuhr der Anrufer fort, sei da gewesen, bevor das Feuer die Scheiben des Fiestas zerstörte, und hatte von Löchern in der Windschutzscheibe berichtet, die anscheinend von Schüssen stammten. Niemand hegte Zweifel an ihren Worten. Während Whitten den Chief Constable in Norwich informierte, rief Liz in Wetherbys Büro an. Die Ermittlungsbeamten hatte ihn über die Identifizierung von Faraj Mansur und Jean D’Aubigny informiert, und der Special Branch lieferte regelmäßig Berichte über die Befragung der Eltern von D’Aubigny. Wetherby hörte Liz schweigend zu, während sie die Ereignisse von Dersthorpe Strand zusammenfasste. »Ich berufe eine COBRA-Sitzung ein«, sagte er ruhig, nachdem sie geendet hatte. »Darf ich dort irgendwas über das wahrscheinliche Ziel der Terroristen sagen?« »Wir können bis jetzt nur raten«, antwortete Liz, »aber einer der US-Stützpunkte ist wohl am wahrscheinlichsten. Bruno Mackay ist gerade in Mildenhall und redet mit dem Kommandeur.« »Gut, das genügt mir. Informieren Sie mich regelmäßig.« »Mach ich.« Es gab eine kurze Pause. »Und, Liz?« »Ja?« »Seien Sie bitte vorsichtig.«
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Sie lächelte schwach und legte auf. Wenn es hart auf hart kam, und danach sah es momentan aus, bekam Wetherby Anfälle einer seltsam altmodischen Ritterlichkeit. Ganz sicher hätte er niemals zu einem Mann gesagt, er solle vorsichtig sein. Bei jedem anderen hätte sie diese Besorgnis zurückgewiesen, aber Wetherby war nicht jeder andere. Sie warf einen Blick zu Whitten hinüber. Wenn sie eine COBRA-Sitzung einberiefen, war es bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis ihm der Fall entzogen wurde. Die Abkürzung bezog sich auf den Cabinet Office Beratungsraum in Whitehall. Ein Vertreter des Innenministeriums würde wahrscheinlich den Vorsitz führen, und Leute von Verteidigungsministerium, Polizei und Special Air Services würden ebenfalls anwesend sein. Auch Geoffrey Fane würde da sein und wie ein Kranich die Diskussion verfolgen. Wenn die Lage entsprechend ernst eingestuft wurde, würde man den Fall auf Ministerebene beraten. Liz hatte die letzte Nacht zum größten Teil mit Whitten, Goss und Mackay im Festsaal gesessen und die eintreffenden Informationen über Jean D’Aubigny verfolgt, von denen es eine ganze Menge gab. Über Faraj Mansur kam dagegen fast nichts herein, außer der Nachricht vom pakistanischen Geheimdienst, eine Person dieses Namens habe vor mehreren Jahren eine radikale Koranschule in der Stadt Mardan an der Nordgrenze des Landes besucht. Es war schwer gewesen – am Ende konnten sie alle kaum noch die Augen offen halten –, aber es musste getan werden. Gegen fünf war Liz ins Trafalgar zurückgekehrt und hatte zu schlafen versucht, doch sie hatte zu viel Kaffee getrunken und kam nicht zur Ruhe. Sie lag in der rosafarbenen Bettwäsche da und sah, wie die graue Dämmerung langsam und unwillig den Spalt zwischen den Vorhängen erhellte. Schließlich schlief sie ein, wurde aber kurz darauf schon wieder durch einen Anruf von Judith Spratts Stellvertreterin geweckt, die sie auf eine neue E-Mail hinwies. 274
Mit schweren Lidern schaltete Liz den Laptop ein und entschlüsselte den Bericht. Nach mehreren Stunden Befragung in der Nacht hatten die Eltern von Jean D’Aubigny sich geweigert, dem Special Branch weitere Einzelheiten über ihre vermisste Tochter zu verraten. Zunächst hatten sie unter dem Eindruck gestanden, Jean sei wegen ihrer Verstrickung in den islamischen Fundamentalismus in Gefahr, und waren sehr hilfsbereit. Als ihnen jedoch klar wurde, dass sie weniger ein potenzielles Terrorismusopfer als eine gesuchte Verdächtige war, waren ihre Antworten vorsichtiger geworden. Schließlich behaupteten sie, ihre Menschenrechte würden verletzt und man unterziehe sie psychischer Folter durch Schlafentzug – das müsst ihr mir gerade erzählen, dachte Liz bitter. Sie lehnten jede weitere Kooperation ab und wandten sich an Julian Ledward, einen bekannten linken Anwalt. Brauche dringend, wiederhole dringend, D’Aubignys Verbindung zu dieser Gegend, tippte Liz als Antwort. Job? Ferien? Partner? Schulfreunde? (War sie in England auf einem Internat oder einer Universität?) Sagt den Eltern, sie riskieren das Leben ihrer Tochter, wenn sie weiter schweigen. Sie verschlüsselte die Antwort, schickte sie ab und hoffte das Beste. Nach einer Dusche und einem schweigsamen Frühstück mit Mackay im Speiseraum des Trafalgar war sie um halb acht wieder im Festsaal. Mackay war wie geplant zur Airforce-Basis in Mildenhall gefahren, bewaffnet mit einem Stapel ausgedruckter Porträts von Faraj Mansur und Jean D’Aubigny. Im Saal, den sie einfach nicht als »Lagezentrum« bezeichnen konnte, traf sie Don Whitten allein an. Der überquellende Aschenbecher neben ihm ließ erkennen, dass er dageblieben war, als sie um fünf ging. Zuletzt hatten sie gemeinsam auf ein großes DIN-A3-Bild von Jean D’Aubigny gestarrt. Es war vier Jahre alt und zeigte eine säuerlich dreinschauende junge Frau in einem schwarzen Pullover, die vor einem unscharf aufgenommenen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stand. 275
Kurzes, unmodisch geschnittenes Haar umrahmte ein blasses, ovales Gesicht. Die weit auseinander liegenden Augen blickten den Betrachter durchdringend an. »Ich habe auch eine Tochter in dem Alter« sagte Whitten. »Was macht sie?«, fragte Liz. »Sie wohnt zu Hause und macht uns jede Menge Sorgen. Aber nichts wie das hier. Gütiger Gott.« Liz nickte. »Wäre schön, wenn wir sie lebendig kriegen könnten.« »Sie glauben, wir schaffen es nicht?« Sie sah in die Augen der zwanzigjährigen Jean D’Aubigny. »Sagen wir mal so, ich glaube nicht, dass sie mit erhobenen Händen rauskommt. Ich glaube, sie will lieber zur Märtyrerin werden.« Whitten presste die Lippen zusammen. Sein stahlgrauer Schnurrbart hatte gelbe Stellen vom Nikotin. Er sah erschöpft aus. Jetzt, drei Stunden später, sah sie zu, wie er mit gemäßigter Verbissenheit einen Bogen von Nadeln in eine Landkarte vom Maßstab 1:10000 steckte. Jede der zwölf Nadeln kennzeichnete eine Straßensperre. Whitten hatte kalkuliert, dass die Gesuchten nicht weiter als achtzehn Kilometer von Dersthorpe weggefahren sein konnten, seit sie den alten Wagen stehen gelassen und sich – wahrscheinlich – einen neuen besorgt hatten. Dementsprechend hatte er die Sperren platziert. »Ich habe auch Hubschrauber und ein Einsatzkommando angefordert«, sagte er. »Wir kriegen zum Glück beides, das Einsatzkommando ist in einer Stunde bereit, aber wir kriegen auch Deputy Chief Constable Jim Dunstan. Ich bin nur noch zweiter Mann.« »Wie ist er so?«, fragte Liz mitfühlend.
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»Kein schlechter Mann, aber ich hab gehört, Ihren Verein mag er nicht besonders.« »Okay, danke für die Warnung«, sagte sie. Anfangs hatte sie Jean D’Aubignys Foto mit einer gewissen distanzierten Sympathie betrachtet und die Störung in dem bohrenden Blick gespürt. Jetzt sah sie in den beiden nur noch den Feind – zwei Leute, die bereit waren, ein harmloses Geschöpf wie Elsie Hogan zu töten, nur weil sie aus irgendeinem Grund zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Sie mussten gestoppt werden, bevor sie weitere Morde begingen und noch mehr sinnlosen Schmerz verursachten.
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44 Nach zwanzig Minuten Fahrt sah Jean die Straßensperre. Sie fuhren vorschriftsmäßig mit vierzig eine einspurige Straße voller Schlaglöcher entlang, die zu beiden Seiten von hohen Brombeer- und Holunderhecken gesäumt war. Laut Karte sollte die Straße bald auf eine andere treffen, die sie nach diversen Verzweigungen zwischen den Dörfern Denton und Birdhoe nach Süden führen würde. Sie hatten den Weg unter der Voraussetzung ausgesucht, noch den Astra zu fahren, da sie dort am unwahrscheinlichsten einem Streifenwagen begegnen würden. Unter den geänderten Umständen hätten sie versuchen können, den schnellsten Weg aus dem Gebiet zu nehmen und allen Straßensperren zuvorzukommen, aber letztlich war es wohl richtig, dem ursprünglichen Plan zu folgen, dachte Jean. Auf kleinen Nebenstraßen ging es zwar nur langsam vorwärts, aber sie waren in Deckung. Neben ihr war der junge Mann, dessen Auto sie fuhr, in ein stummes Schmollen versunken. Seine erste Angst vor den Waffen war einer dumpfen Wut über seine Hilflosigkeit und das Schicksal seines geliebten Toyotas gewichen. Jean sah das Blaulicht im selben Moment wie er. Sie fuhren an einer Lücke in der Hecke vorbei, durch die für einen Moment die Kreuzung mit der Straße nach Birdhoe einen Kilometer weiter sichtbar wurde. Das Blaulicht hatte nur einmal geflackert – wahrscheinlich aus Versehen, vermutete sie. Gott sei gepriesen, dass dieses Land so flach war. Dann setzte die Angst ein, hart und schmerzhaft. »Polizei«, murmelte der junge Mann ängstlich. Es war das erste Wort, das er sagte. »Ruhe!«, befahl Jean schroff. Ihr Herz schlug heftig. Waren sie gesehen worden? Wegen der Entfernung und der hohen 278
Hecken standen die Chancen gut, dass es nicht so war. »Zurück«, befahl Faraj. Jean zögerte. An der Lücke vorbei zurückzufahren, hätte der wartenden Polizei eine zweite Gelegenheit gegeben, sie zu entdecken. »Zurück«, wiederholte Faraj zornig. Sie traf eine Entscheidung. Kurz vor ihnen führte auf der rechten Seite ein schmaler Pfad zu einer bunten Ansammlung von Scheunen und Wirtschaftsgebäuden. Ein Wohnhaus war nicht zu sehen. Unter Missachtung von Farajs Protest bog sie langsam auf den Pfad ein. Von der Straßensperre aus waren sie unsichtbar. Sie mussten nur hoffen, dass keine Farmarbeiter in der Nähe waren. Zwanzig Meter weiter mündete der Pfad auf einen von Mauern umgebenen Hof, auf dem sich ein verrosteter Traktor mit Egge und ein Silagehaufen unter einer Plastikplane und alten Autoreifen befanden. Sie fuhr auf die andere Seite des Haufens, sodass der Wagen von der Straße aus nicht zu sehen war, und hielt an. Als sie sich Faraj zuwandte, nickte er, da er jetzt einsah, dass die Idee gut gewesen war. »Raus«, sagte Jean zu dem jungen Mann, in dessen ängstlichem Blick jetzt ein schwacher Hoffnungsfunke glomm. »In den Kofferraum.« Er gehorchte nickend und drückte sich tief und angstvoll hinein. Nach der Wärme im Wagen stach der Regen kalt auf Jeans Gesicht. Einen Moment schaute er ihr bittend in die Augen, dann spürte sie, wie Faraj ihr die PSS in die Hand drückte, und wusste, dass der Augenblick gekommen war. Um sich herum sah sie geisterhaft und durchsichtig ihre Mitrekruten aus Takht-i-Suleiman stumm brüllen und die Waffen schwingen. »Einen Feind des Islam töten, heißt wiedergeboren zu werden«, 279
flüsterte der Ausbilder. »Du wirst den Augenblick erkennen, wenn er gekommen ist.« Jean blinzelte, und sie verschwanden. Hinter ihrem Rücken lag die PSS schwer in ihrer Hand. Sie lächelte den jungen Mann an. Er hatte die Knie angezogen, sodass sie seine Brust berührten. Also ein Kopfschuss. Der Augenblick war unwirklich. »Mach mal kurz die Augen zu«, sagte sie. Der Schuss war lautlos und der Rückschlag kaum spürbar. Der junge Mann zuckte einmal und war tot. Es war das Einfachste auf der Welt. Der Kofferraum schloss sich mit einem hydraulischen Flüstern, und als sie sich umdrehte, um Faraj die Pistole zurückzugeben, wusste sie, dass nun nichts mehr zwischen ihnen stand. Sie wateten durch den breiten, braunen Misthaufen, ergriffen jeder einen Zipfel der Plane und zogen sie über die Silage und den Wagen. Ein halbes Dutzend Reifen rollten weg, und sie warfen drei davon zum Beschweren darauf. Der Regen trommelte auf den Misthaufen, die Silage und den rostigen Traktor. Es war eine Szenerie, an der man ahnungslos vorbeifuhr. Jean führte Faraj erst über den Hof, dann hinunter zu dem schmalen Entwässerungsgraben. Sie hatten die Rucksäcke geschultert und die Anoraks bis zum Hals geschlossen. Die Keksdose mit dem in Wachs eingeschlossenen C4-Sprengstoff lag oben in Farajs Rucksack. Das Wasser im Graben war eiskalt, als es bis zur Hüfte an ihr emporstieg, aber Jeans Herz raste immer noch vor Erleichterung, dass es eigentlich ganz einfach gewesen war, zu töten. Sie hatte nur einen flüchtigen Blick auf die Leiche geworden; der Einschlag der Kugel hatte ihr alles gesagt, was sie wissen musste, und jetzt hörte sie ihn wieder, wie das Geräusch eines Stiefels, der auf einen verfaulten Kürbis trat. 280
Wiedergeboren, neu erschaffen. Nach hundert Metern blieben sie stehen und spähten durch das tote Laub am Rand des Grabens. Faraj gab ihr das Fernglas. Ein Tieflader stand an einer Straßensperre, und ein Polizist kletterte über die Ladung aus blauen Kunstdüngersäcken. Such ruhig weiter, dachte Jean. Die Malyah war jetzt in ihrer Kapuze verborgen. »Dieser Graben führt uns nah an sie ran«, murmelte Faraj und beobachtete die offenen Felder vor ihnen. »Aber die Hecken sind kahl, und wenn wir über Land gehen, werden sie uns sehen. Wahrscheinlich haben sie gute optische Geräte.« »Das sind Dorfpolizisten, keine Soldaten«, sagte sie und blickte auf die Uhr. »Ich schätze, wir haben noch zwanzig bis, dreißig Minuten. Danach kommen Hubschrauber, Hunde, die Armee, alles.« »Dann geh weiter.« Sie kämpften sich durch das bis zur Hüfte reichende Wasser voran. Der Regen schlug ihnen ins Gesicht, und mit jedem Schritt entwich Sumpfgas um sie herum. Es war anstrengend. Der Schlamm saugte sich an ihren Stiefeln fest, und an manchen Stellen war die verrottende Vegetation neben dem Graben so dünn, dass sie gebückt gehen mussten. Die untere Hälfte von Jeans Körper war jetzt völlig gefühllos, und von Zeit zu Zeit wiederholte sich die Szene im Kofferraum vor ihrem inneren Auge. Winzige Details kamen zum Vorschein: das seltsame Gefühl der gedämpften inneren Detonation der PSS und der leise Peitschenknall, als die Hartkernkugel den Knochen traf. Der nur eine Viertelsekunde dauernde Blick hatte ausgereicht. Das Bild war jetzt in ihre Erinnerung gebrannt wie auf hoch empfindlichen Film. Zehn Minuten später – zehn eiskalte Minuten, die ihr wie eine Stunde vorkamen – waren sie dort, wo der Graben dem 281
Kontrollpunkt am nächsten kam. An manchen Stellen war das Wasser weniger als einen Meter breit, und die Böschung war glatt von dem Schlamm, der von den Feldern ablief. Jeans Rücken und Schenkel schmerzten vom Gewicht des Rucksacks und der Anstrengung des gebückten Gehens. Vorsichtig beobachtete sie den Polizeiposten durchs Fernglas, während Faraj reglos neben ihr wartete. Sie war hinter den Pflanzen geblieben, damit es keinen Lichtreflex von der Linse gab, und verschwommene Bilder dieser Blätter und graue Regenvorhänge hingen zwischen ihr und dem Kontrollpunkt. Undeutlich sah sie zwei Polizisten in fluoreszierenden gelben Regenmänteln einen Wagen überprüfen. Mehrere andere Autos warteten in einer Reihe, und die Beamten bewegten sich mit hängenden Schultern wie Menschen, denen ihre Arbeit keinen Spaß machte. Drei andere, unauffälligere Gestalten saßen in einem weißen Range Rover mit Polizeikennzeichen. Man sah kein Blaulicht, aber der Wind trug das schwache Knistern eines Funkgeräts heran. Sie sah den Hubschrauber noch bevor sie ihn hörte. Er war vielleicht fünf Kilometer östlich von ihnen und flog mit unregelmäßigem Kurs über die Felder und Wäldchen. Ab und zu durchschnitt ein dünner weißer Suchscheinwerfer den regengrauen Himmel. Bald hörte Jean das Sirren der Rotorblätter, während sie unter dem Skelett eines Erlenbuschs die Stirn zwischen den verrottenden Binsen und Wasserschwertlilienblättern auf den Boden presste. Farajs Gesicht war nur wenige Zentimeter neben ihr, er kauerte in derselben Haltung. Der Hubschrauber kam heran, sein Scheinwerfer glitt bedächtig über ein nahes Waldstück. Dann war er plötzlich über ihnen, und der schwere Rhythmus der Rotoren dröhnte bedrohlich über den nassen Feldern. Ganz kurz fiel der Scheinwerfer auf den Farmhof, den sie erst vor zehn Minuten verlassen hatten, und Jean weinte fast vor Erleichterung darüber, dass sie das Auto mit der Plane bedeckt 282
hatten. Es war verzweifelt knapp gewesen, und die Polizei hatte mit dem Einsatz der Helikopter wirklich schnell reagiert – sie gab sich nicht dem Irrglauben hin, es werde nur einer sein. Das war erst der Anfang. Bald würden Hundestaffeln und Soldaten kommen. Sie mussten weiter, oder sie würden sterben. Doch der Hubschrauberpilot zeigte keine Neigung, weiterzufliegen, und Jean begann vor Kälte und Anspannung zu zittern. Ihre Zähne klapperten. Faraj legte einen Arm um ihre Hüfte und drückte ihren Oberkörper gegen seine Brust, um sie ein wenig zu wärmen. Sie spürte, dass die Geste rein zweckgerichtet war; es lag kein Gefühl darin. »Sei stark, Asimat«, flüsterte er in die nasse Kapuze ihres Anoraks. »Denk dran, wer du bist.« »Ich habe keine Angst«, antwortete sie ruhig. »Ich bin nur …« Ihre Worte wurden vom Lärm des Hubschraubers über ihnen verschluckt. Der Wind der Rotoren wühlte die Oberfläche des Grabens auf, während der Scheinwerfer unaufhaltsam auf sie zukroch. Jean schloss fest die Augen, machte sich so starr wie möglich und betete. Über ihrem Kopf spürte sie das Zittern des verkrüppelten Erlenbuschs, das harte, weiße Licht stach herunter und bohrte sich zwischen ihre Augenlider. Ob sie InfrarotSichtgeräte benutzten? Wenn ja, dann … Plötzlich drehte der Hubschrauber ab. Er entfernte sich westwärts, als langweile ihn die ganze Sache. »Schnell, weiter«, drängte Faraj und löste sich von ihr. »Das war nicht der letzte, und der Regen wird nicht ewig dauern.« Erleichterung durchflutete sie. An der Straßensperre hörte sie mehrere Autos kurz hintereinander vorbeifahren. Die Polizisten hatten wohl den Hubschrauber beobachtet, vermutete sie. Sie hasteten weiter, den Körper gegen den Regen nach vorne gebeugt, und waren bald mehrere hundert Meter von der Straßensperre entfernt.
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»Noch anderthalb Kilometer, und wir sind beim Dorf«, sagte Jean atemlos und stützte sich auf den Rand des Grabens. »Das Problem ist, wenn jemand, der gerade durch die Sperre gefahren ist, uns auf die Straße klettern sieht, fährt er sofort zur Polizei zurück und gibt Bescheid. Inzwischen haben sie Beschreibungen und wahrscheinlich auch Fotos.« Faraj dachte einen Moment nach, nahm ihr Fernglas und beobachtete die Umgebung. »Gut«, sagte er schließlich. »Wir machen Folgendes.«
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45 Der Reparaturhangar der Basis Swanley Heath des Army Air Corps war riesig und für seine Größe beeindruckend warm. Der Chief Constable von Norfolk hatte angeordnet, dass sein Stellvertreter Jim Dunstan um elf Uhr vormittags die Leitung des Einsatzes übernehmen sollte, der inzwischen offiziell als Antiterroroperation eingestuft war. Dunstans erste Amtshandlung war es gewesen, den Stützpunkt Swanley Heath als Ausgangspunkt des gemeinsamen Einsatzkommandos zu bestimmen. Eine gute Entscheidung, dachte Liz. Swanley Heath lag auf halber Strecke zwischen Brancaster im Norden und den USStützpunkten Marwell, Mildenhall und Lakenheath im Süden. Das Einsatzkommando befand sich damit hoffentlich im Zentrum des Gebiets, durch das die gesuchten Personen sich bewegten. Die Basis war sicher und konnte ohne weiteres die etwa zwei Dutzend Menschen unterbringen, die den Einsatz organisierten, dazu ihre umfangreiche technische und elektronische Ausrüstung. Bis Mittag war nach fieberhaften Aktivitäten und vielen Einsatzfahrten mit Sirene und Blaulicht fast alles bereit. Das fünfzehn Personen starke Polizeiteam unter der Leitung von Dunstan, dem Don Whitten und Steve Goss zur Seite standen, arbeitete vor einer neun Quadratmeter großen elektronischen Karte der Region, die es von seinen militärischen Gastgebern geliehen hatte und auf der die Straßensperren, Hubschrauber und Suchtrupps markiert waren. Vor jedem Mitglied des Teams standen Laptops, Festnetz- und Mobiltelefone, fast alle im Einsatz. Vor Don Whitten stand außerdem ein Aschenbecher. Etwas entfernt parkten die drei unmarkierten Range Rover des Scharfschützenteams abfahrbereit in einer Reihe. Die neun 285
Mann Besatzung in ihren dunkelblauen Overalls und Stiefeln auf Bänken, reichten ein Exemplar der Sun herum, überprüften ihre Glock-17-Pistolen und MP5-Gewehre und starrten an die Decke des hohen Hangars. Von draußen hörte man ab und zu Gazelle- und Lynx-Hubschrauber des Army Air Corps von der Asphaltpiste starten. Offiziell nahm man bis auf Weiteres an, das Ziel der Terroristen sei entweder eine der drei US-Airforce-Basen oder Schloss Sandringham, wo die Queen wie jedes Jahr die Weihnachtstage verbrachte. Niemand konnte sich vorstellen, wie das Sicherheitsnetz um diese Einrichtungen überwunden werden sollte, aber angesichts der Waffen der beiden nahm man das Schlimmste an. Weder biologische noch chemische Waffen wurden ausgeschlossen. Auch nicht eine so genannte »schmutzige Bombe«, obwohl man in dem ausgebrannten Bungalow keine Spuren von Radioaktivität gefunden hatte. Um die beiden Squirrel-Hubschrauber der Polizei von Norfolk schnell in der Luft und über dem Einsatzgebiet zu haben, so erklärte Whitten Dunstan, hatte er sie mit ausgeschalteten Infrarotkameras in die Luft geschickt. Die Hubschrauber kamen aus Norwich, aber einer der beiden Spezialisten, die eigentlich zur Crew gehörten, hatte wegen eines Trauerfalls frei und der andere hatte sich bei einem Motivationswochenende den Knöchel gebrochen. Also waren die Squirrels nur mit je einem Piloten und einem Scheinwerfermann aufgestiegen. Wegen des Regens war die Sicht sehr schlecht, doch mit Hilfe der Scheinwerfer hatten sie das Gebiet gründlich abgesucht, und Whitten war zuversichtlich, D’Aubigny und Mansur seien immer noch in dem etwa zehn Quadratkilometer großen Gebiet, das im Norden von der Bucht bei Brancaster und im Westen vom Wash begrenzt wurde. Liz war sich da nicht so sicher. Außer ihrer Vorliebe für Morde waren die beiden auch nicht schlecht darin, sich zu 286
tarnen und über feindliches Terrain zu bewegen. Die Frau kannte sich offensichtlich gut aus. Was ist nur ihre Verbindung zu der Gegend?, fragte Liz sich zum hundertsten Mal. Warum hatte man sie ausgesucht? Nur weil sie Engländerin war, oder weil sie irgendein spezielles Wissen besaß? Die Ermittlungsabteilung durchleuchtete jede ihrer bekannten Kontaktpersonen, aber das Schweigen der Eltern war ein großes Hindernis. Verstanden sie nicht, dass es nur eine einzige Chance gab, ihre Tochter zu retten, nämlich sie festzunehmen, bevor es zum Showdown kam? Sie sah Don Whitten von der anderen Seite des Raums in ihre Richtung zeigen. Ein ordentlich gekleideter junger Mann in grüner Barbour-Jacke kam auf den Arbeitstisch zu, auf dem ihr Laptop stand. »Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo ich Bruno Mackay finde?« »Und Sie sind?« Er streckte die Hand aus. »Jamie Kersley, Hauptmann, SAS, Special Air Services.« Sie schüttelte ihm die Hand. »Er muss jeden Augenblick zurück sein.« »Sind Sie auch von der Firma?« »Leider nicht.« Er grinste wachsam. »Dann also vom Postfach?« Das war die Kurzform für Postfach 500, eine der früheren Postadressen vom MI 5 und einer seiner vielen Spitznamen. Liz wusste, dass die Armee traditionell eine bessere Beziehung zum MI 6 hatte. Sie ignorierte die Frage so höflich wie möglich. »Setzen Sie sich doch, Hauptmann Kersley. Wenn Bruno Mackay auftaucht, schicke ich ihn zu Ihnen.« »Äh … vielen Dank. Ich hab zwei Viermannteams draußen, die gerade einen Hubschrauber entladen. Ich schaue lieber mal nach dem Rechten und komme dann wieder her.« 287
Sie sah ihn flott abmarschieren und drehte sich dann zum Laptop um. SAS zahlreich eingetroffen, schrieb sie. Terrorziel aber immer noch unbekannt. Sehr ungewöhnlich. Gibt es etwas, das ich wissen sollte? Sie unterschrieb mit ihrer Identifikationsnummer, verschlüsselte die Nachricht mit wenigen Mausklicks und schickte sie an Wetherby. Nach kaum einer Minute war die Antwort da. Sie verfolgte, wie die chaotische Buchstaben- und Zahlenfolge sich in einen verständlichen Text verwandelte. Bin Ihrer Meinung, ist ungewöhnlich. SAS auf Wunsch von Fane da. Hat COBRA gesagt, ständige Bereitschaft wäre unverzichtbar. Ich weiß nicht mehr als Sie. Acht SAS-Soldaten betraten den Hangar. Trotz des Regens, oder vielleicht gerade deshalb, gingen sie barhäuptig und bewusst locker. Sie waren in schwarze, kugelsichere Kampfanzüge gekleidet und trugen eine große Auswahl an Waffen, darunter Maschinenpistolen und Präzisionsgewehre. Alles in allem eine gewaltige Feuerkraft, die da in Stellung gebracht wurde. Gegen was eigentlich?, fragte sich Liz.
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46 Der Pub in Birdhoe hieß Zum Pflug, und auf dem Schild über der Tür war auch einer abgebildet. Gegen halb eins war der Parkplatz fast voll. Der Sonntagslunch im Pflug war sehr beliebt, außerdem war es der einzige Pub im Umkreis von sechs oder sieben Kilometern. Jean D’Aubigny kam aus der Damentoilette an der Ecke des Parkplatzes, wo sie gewartet hatte, bis die Luft rein war, und sah sich um. Zum Glück regnete es immer noch. Niemand stand auf dem Parkplatz herum und schwatzte. Der Wagen, der sich am einfachsten stehlen ließ, war ein alter grüner MG, obwohl es nicht der unauffälligste war. Er war sicher ein Vierteljahrhundert alt, wirkte aber gut gepflegt, wenn auch kein Sammlerstück. Der große Vorteil war, dass er wegen seines Alters kein Lenkradschloss hatte. Jean konnte zwar ein Lenkradschloss knacken – ein Stück Rohr unter eine der Streben des Lenkrads zu klemmen und nach unten zu drücken, reichte meistens aus –, aber das ließ sich kaum unauffällig bewerkstelligen. Sie fasste einen Entschluss, ging zielbewusst auf den MG zu, schnitt das feuchte Vinylverdeck mit dem Taschenmesser auf, griff hinein, um die Tür zu öffnen, und stieg ein. Auf dem Beifahrersitz lag eine Schaffelljacke, die sie sich über die nassen Knie legte. Dann zog sie das Bein an und trat mit dem rechten Stiefelabsatz gegen die Verkleidung unter dem Lenkrad. Sie war aus Plastik, aber alt, und die Hälfte brach weg und legte den Weißblechzylinder der Zündung frei. Sie schaute sich rasch um, ob sie immer noch unbeobachtet war, riss die vier Kabel aus dem Zylinder und legte mit dem Messer die Drähte frei. Nacheinander berührte sie mit dem roten Kabel – der Hauptleitung – die übrigen Drähte. Beim dritten, dem 289
grünen, gab es einen kurzen Ruck, als der Anlasser sich drehte. Sie isolierte das grüne Kabel und verband rasch die anderen drei. Die Instrumententafel leuchtete jetzt. Sie trat die Kupplung durch und probierte ein paar Mal die Gangschaltung aus, bevor sie wieder den Leerlauf einlegte. Okay, sagte sie sich. Es geht los – Inschallah. Vorsichtig vermied sie die elektrischen Schläge, die sie bei ihren ersten Versuchen vor einer Sozialsiedlung im Südosten von Paris abgekriegt hatte, berührte das grüne Kabel mit den anderen dreien und trat sanft aufs Gas. Der MG heulte schrecklich laut auf, und Jean fuhr zusammen. Doch das feuchte Wetter schien den Lärm zu dämpfen, denn kein wütender Besitzer kam mit dem Bierglas in der Hand aus dem Pub gerannt. Stattdessen lief Regenwasser durch den Riss im Vinylverdeck auf Jeans Schoß. Als der Motor lief, schaltete sie Heizung und Scheibenwischer ein, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke. Selbst die sanftesten Fahrmanöver entlockten dem alten Sportwagen ein wütendes Knurren, und als Jean den ersten Gang einlegte, vom Parkplatz fuhr und scharf nach Süden abbog, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Auf der offenen Landstraße fühlte sie sich nicht weniger auffällig. Bestimmt kannten die Leute hier diesen Wagen. Aber die Gegend wirkte völlig verlassen. Die Leute waren wohl entweder im Pub oder zu Hause und guckten Sport oder Seifenopern im Fernsehen. Anderthalb Kilometer außerhalb des Dorfs kam sie zu der Stelle, die sie auf der Karte markiert hatten, wo der Graben, den sie durchwatet hatten, in einem Abzugskanal unter der Straße verschwand. Sie hielt direkt davor und ließ den Motor laufen. Nach wenigen Sekunden erschienen Farajs Kopf und Oberkörper, und er zog sich durch die nassen Brombeersträucher hinauf. Jean beugte sich hinüber, um die Tür zu öffnen, und Faraj 290
reichte den schwarzen Rucksack hinein, den sie im Fußraum vor dem Beifahrersitz neben ihren eigenen stellte. Faraj stieg tropfnass ein, rückte die Rucksäcke zwischen den Beinen zurecht und schloss die Tür. »Shabash!«, murmelte er. »Glückwunsch!« »Er ist nicht perfekt, aber er war am einfachsten zu stehlen«, sagte sie, während die Scheibenwischer geräuschvoll hin und her ruckten. Sie fuhr wieder auf die Straße. Der Tank war nur noch zu einem Viertel voll, und ihre kurze Hochstimmung verflog, als ihr klar wurde, dass sie nicht tanken konnten, weil der Wagen bestimmt verbleites Benzin brauchte. Im Moment hatte sie aber nicht die Kraft, das zu erklären. Ihre Sinne waren zugleich zum Zerreißen gespannt und abgestumpft wie bei einer Zeitlupe. Sie lief selbst auf Reserve. Es war alles zu kompliziert. »Weg hier«, sagte sie.
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47 »Warum dieser Mann?«, fragte Liz. »Wieso haben sie ausgerechnet ihn geschickt? Er ist noch nie hier gewesen, hat hier keine Angehörigen … Soweit wir wissen, hat er keinerlei Verbindung zu England.« »Das weiß ich nicht«, sagte Mackay. »Ich habe wirklich keine Ahnung. In Pakistan ist er uns bestimmt nie aufgefallen. Wenn er da ein Aktivist war, dann auf einer zu niedrigen Ebene für unseren Radar. Aber so ist das da leider, viel Rauschen, wenig Signale.« »Und das heißt?« »Das heißt, es gab zwar jede Menge aufgeregter Typen auf den Straßen, die gern schrien und die US-Fahne verbrannten – besonders wenn ein CNN-Team in der Nähe war –, aber nur wenige, die ihren Groll in direkte Aktionen umsetzten. Wenn die pakistanischen Agenten alle Mechaniker notiert haben, die alSafa auch nur angeguckt hat, haben sie das gemacht, was jeder Agent seit Urzeiten tut. Sie haben ihre Berichte aufgebauscht, um ihr Gehalt zu rechtfertigen.« »Aber bei Mansur hatten sie Recht, jedenfalls damit, ihn wenigstens zu den Akten zu nehmen.« »Sieht so aus, aber das ist wohl eher Zufall als Insiderwissen.« Sie saßen in Mackays BMW und waren auf dem Weg zur Basis Marwell. Der Mann vom MI 6 war kurz nach zwölf aus Mildenhall nach Swanley Heath zurückgekommen, und nachdem er seine Telefonnummer mit Jamie Kersley, dem SASHauptmann, ausgetauscht hatte (der übrigens auch in Harrow zur Schule gegangen war), hatte er mit Liz und dem Polizeiteam ein Sandwich zu Mittag gegessen. Danach wollte er zum letzten und nächst gelegenen US-Stützpunkt. Mackay hatte Liz gefragt, 292
ob sie mitkommen wolle, und da beide Terroristen identifiziert waren, es aber keine weiteren Spuren gab, schien das eine ebenso gut zu sein wie alles andere. Unter anderem wegen des furchtbaren Wetters war die Suche nach D’Aubigny und Mansur ins Stocken gekommen, obwohl Armee und Grenzschutzteams eingetroffen waren. Um Viertel vor eins besserte es sich endlich. Der Regen hatte fast aufgehört, und das harte Stahlgrau des Himmels war etwas heller geworden. »Sie werden einen Fehler machen«, sagte Mackay zuversichtlich. »Das passiert fast immer. Irgendwer wird sie sehen.« »Glauben Sie, die beiden sind noch innerhalb des Suchgebiets?« »Das müssen sie wohl. Ich würde sagen, Mansur könnte es allein schaffen, aber nicht beide zusammen.« »Unterschätzen Sie D’Aubigny nicht«, erwiderte Liz irgendwie gereizt. »Das ist kein abenteuerlustiger Teenager, sondern eine voll ausgebildete Kämpferin aus einem Lager an der Nordwestgrenze. Wenn einer von beiden bis jetzt Fehler gemacht hat, dann Mansur. Er hat sich von Ray Gunter angreifen lassen und uns wertvolle ballistische Informationen geliefert. Ich gehe jede Wette ein, er war es auch, der heute Vormittag Elsie Hogan getötet hat.« »Höre ich da ein wenig Mitgefühl heraus, sogar Bewunderung?« »Kein bisschen, Ich bin fast sicher, dass sie auch ein Killer ist.« »Woher wissen Sie das?« »Allmählich verstehe ich, wer sie ist und wie sie tickt. Ich möchte, dass sie anfängt, ununterbrochen Druck zu spüren. Sie muss das Gefühl haben, dass ihr keine Zeit zum Ausruhen 293
bleibt, nicht mal zum Nachdenken. Und zwar zusätzlich zu dem Druck, den sie ohnehin schon spürt, dem Gefühl, zwischen zwei völlig entgegengesetzten Welten zerrissen zu werden.« »So zerrissen kommt sie mir gar nicht vor.« »Vielleicht nicht nach außen, aber im Inneren bestimmt, und das macht sie so gefährlich. Sie muss sich durch gewaltsame Aktionen beweisen, dass sie es Ernst meint mit diesem … diesem militanten Weg« Er erlaubte sich ein verstohlenes Lächeln. »Wäre es Ihnen am liebsten, wir anderen ziehen uns einfach zurück und lassen Sie beide es auskämpfen?« »Witzbold. Bei jedem Feldzug ist die erste Stellung, die man besetzen muss, das Bewusstsein des Feindes.« »Klingt wie ein Zitat.« »Feliks Dzerschinsky.« »Der Gründer des KGB. Ein geeigneter Lehrmeister.« »Finde ich auch.« Mackay trat aufs Gas, um einen grünen MG zu überholen. Sie waren gerade durch das Narborough gekommen. »Einen Wagen in der Art hatte ich auch mal«, sagte er. »Einen alten MG Midget, Baujahr vierundsiebzig. Ich hab ihn für fünfhundert Pfund gekauft und selbst aufgemöbelt. Mein Gott, war das ein schöner Wagen. Türkis, innen braun, Chromstoßstangen …« »Und bestimmt mit enormer Anziehungskraft auf Mädchen. Die ganzen Miss Moneypennys.« »Na, es hat sie jedenfalls nicht abgeschreckt.« Einen Augenblick lang schaute er nachdenklich. »Der Typ, den wir besuchen, heißt Delves. Er ist Brite, weil Marwell offiziell ein Stützpunkt der Royal Air Force ist, aber er ist natürlich im Bilde über den Stand der Jagd nach Mansur und D’Aubigny. Der amerikanische Kommandeur heißt Colonel Greeley.« 294
»Also ist es mehr als bloß ein Höflichkeitsbesuch?« »Ja. Wir müssen annehmen, dass unsere Terroristen ihr Ziel sehr gründlich ausgespäht haben, egal welches. Oder dass jemand anders es für sie getan hat. Auf jeden Fall sollten wir die Sicherheitsvorkehrungen mit den Augen eines Terroristen betrachten. Wir müssen uns an ihre Stelle versetzen und herausfinden, wo die Schwachpunkte sind und wo wir zuschlagen würden.« »Sind Sie bei den beiden anderen Stützpunkten zu einem Ergebnis gekommen?« »Nur zu dem, dass die Sicherheitsvorkehrungen so gut wie undurchdringlich sind. Mein erster Gedanke war, dass ich es mit einer Boden-Luft-Rakete versuchen würde. Wie Sie wissen, besitzen die Islamisten immer noch eine ganze Menge Stingers. Ich wäre aber nie nahe genug an eine Startbahn herangekommen. Dann dachte ich daran, im Auto von jemandem, der da draußen wohnt, eine Bombe zu verstecken und sie fernzuzünden, sobald er auf der Basis ist, aber bei allen Beschäftigten von außerhalb werden die Autos durchsucht, und zwar sehr gründlich, nicht nur mal eben so. Diese Typen wissen, was sie tun, glauben Sie mir. Soweit ich gesehen habe, sind diese Basen so gut bewacht wie die Kronjuwelen.« »Jede Bewachung lässt sich überwinden«, sagte Liz. »Stimmt. Und die Leute, die wir suchen, wären nicht aktiv, wenn es da keinen Schwachpunkt gäbe. Ich sage nur, ich hab ihn noch nicht gefunden.« »Warum haben sie Mansur geschickt?, möchte ich wissen«, sagte Liz. »Was ist sein besonderes Können, seine Spezialität? Meinen Sie, es hat was damit zu tun, dass er in einer Autowerkstatt gearbeitet hat?« »Wenn er aktiv war, während er dort gearbeitet hat – und das sind keine Werkstätten wie bei uns, eher LKW-Rastplätze –, hatte es wohl mehr damit zu tun, aufzupassen und zu verfolgen, 295
wer da kommt und geht, so was in der Art. Spontan würde ich tippen, dass diese Leute vielleicht ein paar Jeeps und Motoren aus fünfter Hand verkauft haben, aber in Wirklichkeit Menschen und Waffen über die Grenze nach Afghanistan schmuggelten. Womöglich waren sie auch im Heroingeschäft. Das lässt sich da drüben schwer auseinander halten. Mansur war ganz bestimmt kein ausgebildeter Automechaniker mit einem gerahmten Zeugnis von Ford oder Toyota.« »Könnte er ein Selbstmordattentäter sein?« »Das müssen wir wohl annehmen, und die Frau soll ihn zu seinem Ziel bringen.« »Wenn es so ist, warum gab es dann eine Absprache, ihn anschließend wieder mit dem Schiff wegzubringen? Wissen Sie noch, dass Mitchell sagte, der Extra sollte nach einem Monat wieder nach Deutschland gebracht werden? Und warum hat er eine so raffinierte Waffe wie die PSS? Worauf wartet er?« »Um Ihre Fragen der Reihe nach zu beantworten, vielleicht soll ja die Frau rausgebracht werden. Die PSS deutet darauf hin, dass er ein bewachtes Ziel treffen soll, wahrscheinlich nachts. Und vielleicht hat er in Dersthorpe – das ich leider nie selbst besuchen konnte –, gewartet, bis irgendeine Bombe geliefert wurde.« »Also erstens: Ich weiß nicht, zweitens: Ich weiß nicht, und drittens: Ich weiß nicht«, gab Liz gereizt zurück. Mackay lächelte unbekümmert und streckte die Beine aus. »Sieht ganz so aus.«
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48 Eine Viertelstunde später wurden sie an einer Straßenbrücke über den Wissey von drei uniformierten Polizisten angehalten, von denen einer gut sichtbar eine Heckler-und-KochMaschinenpistole trug. Ein anderer hatte einen Hund an der Leine. Quer zum Straßenrand parkte außerdem ein Range Rover mit weiteren Uniformierten. Der Stützpunkt Marwell war zwei Kilometer entfernt und noch nicht einmal zu sehen. Liz und Mackay zeigten ihre Dienstausweise vor und standen neben dem BMW, während die Beamten über Funk nachfragten. Inzwischen durchsuchte der Polizist mit dem Hund sorgfältig den Wagen. »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Liz. »Es wäre ganz schön schwer, hier eine Stinger-Rakete einzuschmuggeln.« »Oder auch nur einen Klumpen C4«, sagte Mackay, als der Beamte ihnen ihre Ausweise zurückgab. Zwei Minuten später erreichten sie die äußere Umzäunung des Flugplatzes. Mackay hielt an, und sie überblickten die flache, unauffällige Landschaft mit einem Stahltor, einem entfernten Wachhäuschen, Dienst- und Verwaltungsgebäuden sowie endlosen Flächen von Gras und Beton. Flugzeuge waren nicht zu sehen. »Bitte lächeln!«, sagte Mackay, als eine Kamera über dem Nato-Drahtzaun sich misstrauisch auf sie richtete. Bald saßen sie in einem großen, gut geheizten Büro. Die Einrichtung war nicht mehr neu, aber gemütlich. An der Wand hing ein Bild der Queen neben Regimentswappen und Fotos von Piloten und Flugzeugen, die auf Diego Garcia, in Saudi-Arabien und Afghanistan aufgenommen waren.
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Oberstleutnant Colin Delves, ein Mann mit rosigem Gesicht in blauer Uniformhose und Pullover war der britische Kommandeur, sein Pendant von der Airforce, der braun gebrannte und kräftige Colonel Clyde Greeley, trug zivile Golfsachen. Liz, Mackay und Greeley tranken Kaffee, während vor Delves eine Dose Cola Light stand, als wolle er die besondere Beziehung zu den USA betonen. »Wir sind verdammt froh, Sie zu sehen, und dankbar für Ihre Mühe«, sagte Greeley und schwenkte die Bilder von D’Aubigny und Mansur, »aber es ist schwer zu sagen, was wir noch zusätzlich tun können.« »Ich glaube nicht, dass die beiden näher als einen Kilometer an unseren Zaun herankommen«, sagte Delves. »Da bewegt sich nicht mal ein Grashalm, ohne dass wir’s merken.« »Glauben Sie denn, Sie sind ein Terrorziel, Colonel?«, fragte Mackay. »Natürlich!«, antwortete Greeley. »Ich hab keinen Zweifel, dass wir das Hauptziel sind.« Delves schaute einen Moment unbehaglich drein, aber Greeley breitete die Arme aus. »Die Fakten sind bekannt, wenn man weiß, wo man suchen muss, und ich nehme an, unsere Terroristenfreunde wissen genau, wo sie suchen müssen. Von den drei Basen in East Anglia – dem achtundvierzigsten Kampfgeschwader in Lakenheath, dem hundertsten Tankgeschwader in Mildenhall und uns – waren wir als Einzige in Mittelasien eingesetzt.« »Wo genau?«, fragte Liz. »Bis vor ein paar Monaten hatten wir eine Staffel A-10Thunderbolts in Uzgen, Kirgisistan, drei AC-130-Maschinen in Bagram, und außerdem inoffiziell ein paar AC-130 in Fergana, Usbekistan. Polizeiarbeit, könnte man sagen.« »Waren Sie auch in Pakistan im Einsatz?«, fragte Liz. 298
»Ja, wir waren an der afghanischen Grenze im Einsatz«, antwortete Greeley mit dem Anflug eines Lächelns. »Haben Sie sich da neue Feinde gemacht, oder ist die Frage naiv?«, erkundigte sich Liz vorsichtig. »Wissen Sie, das glaube ich eigentlich nicht«, sagte Greeley nach kurzem Nachdenken. »Und die Frage ist bestimmt nicht naiv. Aber ich kann ehrlich sagen, außer vielleicht ein paar miesen Typen, die wir mit unseren Sidewinder- und MaverickRaketen aus ihren Höhlen gekitzelt haben, haben wir uns nur neue Freunde gemacht.« »Warum sollte dann dieser Mann aus Pakistan um die halbe Welt fahren, um gerade Ihren Flugplatz anzugreifen?«, beharrte sie. »Ich nehme an, wir sind ein symbolisches Ziel«, antwortete Greeley. »Wir sind amerikanische Soldaten auf britischem Boden, also symbolisieren wir die Allianz, die die Taliban stürzte.« »Aber nichts … Konkretes?«, fragte Liz. »Mit Verlaub, wer zum Teufel kann das schon sagen? Es gab Leute, die über unsere Anwesenheit sehr verärgert waren, und es gab welche – und das waren eindeutig mehr –, die sehr froh über unsere Anwesenheit waren.« Er deutete auf die Bilder von D’Aubigny und Mansur. »Was dieses schießwütige Duo und seinen Groll angeht, muss ich sagen, dass ich auf die Sicherheitsmaßnahmen unserer Basis vertraue.« Colin Delves erhob sich halb. Die Geste wirkte etwas unsicher, und Liz musste sich ins Gedächtnis rufen, dass offiziell der Mann von der Royal Air Force der Kommandeur war, nicht Greeley. »Clyde, ich schlage vor, falls unsere Gäste Zeit haben, wir zeigen ihnen die Basis, damit sie einen Überblick kriegen.« »Wie wär’s?«, grinste Greeley. 299
»Ja, gern«, sagte Liz, bevor Mackay antworten konnte. In den letzten achtundvierzig Stunden hatte er wahrscheinlich genug Landebahnen und Militärflugzeuge für den Rest seines Lebens gesehen. Sie folgten Delves und Greeley durch einen blitzblanken Korridor, in dem Menschen mit und ohne Uniform sauber ans schwarze Brett geheftete Befehle, Arbeitspläne und Einladungen zu Gottesdiensten und Freizeitveranstaltungen lasen. Alle schauten auf und lächelten, als Liz und Mackay vorbeikamen. Ihre Gesichter glänzten fast ebenso wie das Linoleum. Sie sind so jung, dachte Liz. Am Ausgang, der mit Papierschlangen und Weihnachtskarten von Kindern dekoriert war, warteten sie auf den Wagen, der sie herumfahren sollte. An den Wänden kündigten Plakate die Weihnachtsfeier der Basis und einen Benefiz-Plätzchenverkauf an. »Weihnachtsmannmäntel können beim Sozialzentrum ausgeliehen werden«, las Liz – einschließlich Perücke, Bart, Brille, Mütze, Handschuhen und Stiefeln. Der Wagen stellte sich als offener Jeep heraus, den eine junge Frau mit blondem Bubikopf fuhr. Clyde Greeley gab ihnen Baseballkappen mit der Aufschrift GO WARTHOGS!, dann kurvten sie in flottem Tempo über den regendunklen Asphalt. »Können Sie uns was über die Airforce-Leute sagen, die außerhalb der Basis wohnen?«, fragte Mackay und bog den Schirm seiner Kappe, damit es wenigstens einigermaßen cool aussah. »Sind die nicht mögliche Ziele eines Anschlags? Bestimmt weiß doch jeder, wo sie wohnen.« Delves übernahm die Antwort. »Wenn Sie hier fremd wären, würden Sie verdammt schwer an solche Informationen kommen«, bemerkte er lächelnd. »Wir haben ein extrem enges Verhältnis zu den Leuten in der Umgebung, und wer solche Fragen stellt, würde sehr schnell Bekanntschaft mit einem Militärpolizisten machen.« 300
»Aber Ihre Leute machen doch sicher ab und zu mal einen drauf?«, beharrte Mackay. »Na klar«, antwortete Greeley, dessen breites Lächeln seine grimmige Stimme Lügen strafte, »doch die Dinge haben sich seit dem 11. September sehr verändert. Die Zeit, als unsere jungen Männer und Frauen in den örtlichen Dartmannschaften mitspielten, sind lange vorbei.« »Werden sie in Selbstschutz und Beobachtung geschult?«, fragte Liz. »Angenommen, ich würde ein paar von ihnen vom Pub oder dem Kino zu ihrem Wohnort folgen …« »Wahrscheinlich würden Sie es nach etwa fünf Minuten mit Autos und vielleicht auch Hubschraubern zu tun bekommen. Sagen wir mal so, wenn jemand das probiert und wir nicht wissen, wer er ist, macht er es bestimmt kein zweites Mal. Wir sagen unseren Leuten, sie sollen nicht direkt in der Nachbarschaft in die Kneipe gehen. Wenn sie mal ein paar Bier trinken wollen, fahren sie mindestens zehn Kilometer, dann bleibt ihnen genug Zeit, einen Wagen zu bemerken, der ihnen vielleicht nach Hause folgt.« »Wie ist es mit Ihnen, Colonel?«, fragte Liz. »Ich wohne auf der Basis.« »Und Sie, Oberstleutnant?« Colin Delves runzelte die Stirn. »Ich wohne mit meiner Familie über zwanzig Kilometer entfernt, in einem der Dörfer. Ich fahre hier nie in Uniform weg, und ich glaube nicht, dass auch nur ein halbes Dutzend Leute im Dorf irgendeine Ahnung haben, was ich mache. Das Haus, in dem ich wohne, ist übrigens denkmalgeschützt und gehört dem Verteidigungsministerium. Ich habe Glück – das ist der letzte Ort, wo man einen aktiven Offizier vermuten würde.« »Wird es von der Polizei bewacht?«
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»Im weiteren Sinne, ja, aber nicht so, dass es Aufmerksamkeit erregt.« Als sie sich der langen Reihe von Kampfflugzeugen näherten, verstummte er. Sie trugen noch ihre grünbraune Tarnbemalung und schienen unter dem Gewicht der großen Doppeltriebwerke über dem Rumpf auf den hinteren Höhenleitwerken zu kauern. An einem halben Dutzend Maschinen arbeitete das Bodenpersonal, und mehrere Cockpitdächer standen offen. Aus jeder Flugzeugnase ragte eine siebenrohrige Kanone in den Himmel. Unter den Tragflächen hingen leere Raketenhalterungen. »Da wären wir«, sagte Greeley und konnte ein stolzes Beben in der Stimme nicht unterdrücken. »Sind das A-10s?«, fragte Mackay. »A-10-Thunderbolt-Kampfbomber«, bestätigte Greeley, »allgemein bekannt als Stachelschweine. Es sind Angriffs- und Unterstützungsmaschinen, die eine wichtige Rolle bei den Einsätzen gegen al-Qaida und die Taliban gespielt haben. Das Besondere an ihnen, abgesehen von der Raketenlast, die sie tragen können, ist, wie viel Abwehrfeuer sie überstehen. Unsere Piloten haben panzerbrechende Munition abgekriegt, Granaten … alles Mögliche.« Liz nickte, aber als er begann, mit Fachbegriffen um sich zu werfen, spürte sie, wie sie in eine fast hypnotische Trance verfiel. Mit Mühe zwang sie sich zur Aufmerksamkeit. »Bei Nacht, wirklich?«, fragte sie. »Absolut«, bestätigte Greeley. »Die Piloten müssen restlichtverstärkende Brillen tragen, aber ansonsten sind diese Maschinen rund um die Uhr einsetzbar. Mit der Kanone vorne und den Raketen unter den Tragflächen …« »Uzgen muss seltsam gewesen sein«, sagte Mackay. »Weit weg von zu Hause.«
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Greeley zuckte die Achseln. »Marwell ist auch weit weg von zu Hause, aber klar, Uzgen war das, was wir eine provisorische Basis nennen.« »Sind Sie angegriffen worden?« »Dort nicht. In Afghanistan gab es, wie gesagt, kleine Gruppen mit Granaten und panzerbrechender Munition, und wir hatten ein paar Mal Stinger-Alarm, jedoch nichts, was unsere Maschinen ernsthaft gefährdet hätte.« »Wie weit sind wir hier von der Umzäunung entfernt?«, fragte Mackay und betrachtete das Höhenleitwerk der nächsten A-10. »Vielleicht anderthalb Kilometer. Ich zeige Ihnen jetzt die Fatboys.« Die Fahrerin machte eine scharfe Kehre, und sie fuhren weitere fünf Minuten. Nach Südosten, sagte sich Liz, die versuchte, auf der flachen Gras- und Asphaltlandschaft nicht die Orientierung zu verlieren. Die sechs AC-130-Maschinen waren riesig, sogar aus der Entfernung. Große, dickbäuchige Dinger mit nach unten zeigenden Waffen wie Unterseefühler. Im Grunde seien es Hercules-Transportflugzeuge, erklärte Delves. Durch die zusätzlichen schweren Kanonen und Feuerleitsysteme waren die Maschinen jedoch dafür ausgerüstet, um feindliche Stellungen am Boden zu pulverisieren. »Vorausgesetzt, der Gegner hat keine Luftabwehr mehr«, bemerkte Mackay. »Diese Dinger geben nämlich ziemlich gute Ziele für Abfangjäger und Boden-Luft-Raketen ab.« Der Colonel grinste. »Die US-Air Force ist nicht an dem interessiert, was ihr Briten eine ausgeglichene Partie nennt. Solange der Gegner noch eine Luftwaffe hat, bleiben die Fatboys im Hangar.« Er zögerte, und sein Lächeln verschwand. »Diese beiden Terroristen, der Mann und die junge Frau.« 303
»Ja«, sagte Liz. »Wir können unsere Leute und unsere Flugzeuge schützen. Ich habe dreihundertsechsundsiebzig Leute und vierundzwanzig Flugzeuge nach Zentralasien begleitet, wir haben unsere Aufgaben erfüllt, und ich habe sie alle wieder heil zurückgebracht. Jeden Soldaten, jede Maschine. Ich bin stolz auf diese Bilanz, und ich lasse sie mir nicht von zwei Durchgedrehten verderben, die alte Frauen erschießen. Vertrauen Sie uns, okay?« Er deutete auf Delves, der heftig nickte. »Wir haben die Sache unter Kontrolle.«
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49 Zwanzig Minuten später fuhren Liz und Mackay im BMW zurück nach Swanley Heath. Sie saßen schweigend nebeneinander. Mackay hatte eine CD mit Bachs GoldbergVariationen eingelegt, aber Liz hatte ihn gebeten, sie auszumachen. Irgendetwas arbeitete in ihrem Unterbewusstsein. »Dieser Greeley«, sagte sie schließlich. »Ja?« »Was hat er gemeint, als er von Mansurs und D’Aubignys ›Groll‹ sprach?« »Wieso?« »Er hat von ›diesem schießwütigen Duo und seinem Groll‹ gesprochen. Warum hat er das gesagt? Welcher Groll?« »Ich nehme an, er meint denselben Groll, aus dem Islamisten in der ganzen Welt Zivilisten erschießen und in die Luft sprengen.« »Nein, das glaube ich nicht. Bei einer professionellen Terrorzelle würde man das Wort nicht gebrauchen. Sie haben Ray Gunter und Elsie Hogan nicht aus einem Gefühl von Groll ermordet. Warum hat er das Wort gebraucht, Bruno?« »Woher soll ich das wissen, Liz? Ich bin dem Typen noch nie im Leben begegnet.« Er bremste. Der BMW hielt exakt in der Spur. Besorgt wandte er sich zu ihr um. »Liz, Sie müssen einen Gang zurückschalten. Sie haben brillante Arbeit geleistet, und ich habe wirklich großen Respekt davor, wie Sie diese Sache vorangebracht haben, aber Sie müssen sich einfach beruhigen. Sie können nicht den ganzen Fall allein auf ihren Schultern tragen, sonst zerbricht er Sie, okay? Ich weiß, dass Sie mich für einen üblen CowboyAgenten halten, aber ich bin hier nicht der Feind.« 305
Sie blinzelte. Der Himmel über dem weiten, flachen Horizont war bedeckt. Der vorübergehende Energieschub von Greeleys und Delves’ Kaffee war vorbei. »Tut mir Leid«, sagte sie. »Sie haben Recht. Ich nehme es zu persönlich.« Aber er hätte Greeley durchaus treffen können, dachte sie. Zentralasien war schließlich kein riesiges Einsatzgebiet. Wir waren an der afghanischen Grenze … Warum hatte sie das Gefühl, als sei sie im freien Fall? Erschöpfung? Schlafmangel? Was wusste sie nicht? Was wusste sie nicht? Schweigend fuhren sie weiter Richtung Swanley Heath. Wenige Minuten vor der Basis kündigte ein Piepen des Handys eine SMS an. Sie lautete: RUF JUDITH AN. Sie hielten an einer Telefonzelle, Mackay stellte seine Rückenlehne herunter, und Liz stieg aus, um die Ermittlungsabteilung anzurufen. In der Ferne sah sie einen Suchtrupp der Polizei in leuchtenden gelben Jacken das Gelände durchkämmen. Es dämmerte rasch. »Okay, es sieht folgendermaßen aus«, begann Judith Spratt. »Wir wissen von ihren Eltern, dass Jean D’Aubigny mit dreizehn auf das Internat Garth House bei Tregaron in Wales kam, eine kleine Schule für schwer erziehbare Jungen und Mädchen, geleitet von einem früheren Jesuitenpater namens Anthony Price-Lascelles. Wir haben jemanden hingeschickt, doch die Schule ist über Weihnachten geschlossen, und PriceLascelle ist in Marokko in einem Ort namens Azemmour, wo er eine Wohnung hat. Der MI 6 hat heute Vormittag einen Mann hingeschickt, aber der Dienstbote sagte, Price-Lascelles sei den ganzen Tag in Casablanca, Ziel und Rückreisezeit unbekannt. Also sitzt der Typ vor seiner Wohnung und wartet auf ihn.« »Können wir niemand anders über die Schule befragen und rauskriegen, wer mit der Kleinen da war und so weiter?« »Das Problem ist, die Schule ist extrem klein. Sie hat eine Website, aber da sind kaum echte Informationen drauf. Wir 306
haben die üblichen Internetrecherchen gemacht und mit allen Exschülern geredet, die wir finden konnten, doch niemand erinnert sich genauer an Jean D’Aubigny, abgesehen davon, dass sie vor etwa zehn Jahren da war, langes, dunkles Haar hatte und sehr zurückhaltend war.« »Keine ehemaligen Lehrer, die wir fragen können?« »Wir haben keine gefunden, die sich an irgendwas Präzises in Verbindung mit ihr erinnern. Wir haben den Eindruck, die Schule hatte wenig Geld und das Personal wechselte häufig. Viele der Lehrer und Angestellten kamen aus Übersee und wurden höchstwahrscheinlich in bar bezahlt.« »Kann die Polizei nicht eine Durchsuchung der Akten vornehmen? Nach dem Antiterrorgesetz ist das doch sicher möglich.« »Ja, und sie sind auch schon dabei. Sobald wir was haben, melden wir uns.« »Was ist mit dem Wohnort der Eltern? In Newcastle under Lyme? Mit wem war sie in den Ferien zusammen?« »Die Eltern sagen nichts. Die Polizei hat sich umgehört und eine pakistanische Familie gefunden, die sie vom islamischen Zentrum kannte, aber das ist auch alles.« »Irgendwas aus Paris?« »Auch nichts Entscheidendes. Ein Kommilitone namens Hamidullah Souad kannte sie ganz gut. Sie haben sich gemeinsam auf Prüfungen vorbereitet und gingen wohl ein oder zweimal zusammen ins Kino, haben sich allerdings nicht mehr getroffen, nachdem sie ihm sagte, sie könne seinen Lebensstil nicht akzeptieren. Anscheinend hat sie sich ihren Unterhalt verdient, indem sie bei einer Sprachschule Englischunterricht für Geschäftsleute gab, aber das hörte auf, als jemand sich beschwerte, sie habe vor den Kunden ›extreme Ansichten‹ geäußert.« 307
»Also haben wir immer noch keine Verbindung zu East Anglia?« »Überhaupt keine. Muss es denn eine geben?« »Nein, sie könnte einfach Mansurs Fassade sein, dafür genügt es, wenn sie Engländerin ist. Aber jetzt sind die beiden auf der Flucht, und wenn sie früher schon mal hier war, könnte es uns verraten, wo sie sich versteckt halten, oder sogar, wo das Ziel ist. Also lasst bitte nicht nach, Judith.« »Natürlich nicht.« Zehn Minuten später waren sie und Mackay zurück in dem Hangar in Swanley Heath und saßen Deputy Chief Constable Jim Dunstan gegenüber. Er war ein großer, schroffer Mann mit schütterem sandfarbenen Haar, der die polternde Art des RugbyStürmers behalten hatte, als der er vor drei Jahrzehnten in Twickenham das Team von Polizei und Armee zum Sieg über die Ligaauswahl geführt hatte. »Verdammter Mist«, sagte er düster. »Nirgends was zu finden. Ich hab den ganzen Nachmittag Hubschrauber oben gehabt, unsere und die von der Armee, wir haben Hundestaffeln und Grenzschutztrupps, die den Wald von hier bis zur Küste durchkämmen, der Straßenverkehr wird praktisch im selben Umkreis kontrolliert …« »War nicht abzusehen, dass es schwierig wird?«, fragte Mackay diplomatisch. »Ja sicher, das hab ich auch dem Innenministerium gesagt. Ich hab ihnen erklärt, dass es ausnahmsweise nicht an den Ressourcen liegt und dass der Punkt kommt, wo man sich zurückhalten muss, oder man riskiert Durcheinander und Kompetenzwirrwarr. Ich glaube, unsere größte Hoffnung ist ein Hinweis aus der Bevölkerung, deshalb haben wir die Medien noch mal aktiviert. Wäre natürlich viel einfacher, wenn heute nicht Sonntag wäre, aber was soll man machen?« Er blickte von einem zum anderen. »Hat einer von Ihren Leuten was rausgekriegt?« 308
»Nichts, was auf ein bestimmtes Ziel deutet«, sagte Liz zutiefst frustriert. »Und nichts, was auf eine frühere Verbindung von D’Aubigny nach East Anglia hinweist. Die Eltern haben sich an einen engagierten Menschenrechtsanwalt gewendet, der ihnen sagt, sie sollen den Mund halten …« »Also ist es ihnen lieber, wenn dieser Schützenverein aus Hereford ihre Tochter wegbläst. Ich weiß. Toll.« Er verfolgte ohne jede Begeisterung die Aktivitäten um ihn herum und stieß das Kinn angriffslustig vor. »Was wir jetzt brauchen, ist Glück, verdammtes Glück. Im Moment ist das alles, worauf wir hoffen können.« Liz und Mackay nickten. Mehr war nicht zu sagen. Liz’ Handy brach das Schweigen. Wieder eine SMS, diesmal ein Buchstabencode, der eine E-Mail ankündigte. Sie zog sich an einen leeren Arbeitstisch zurück und schaltete ihren Laptop ein.
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50 »Steig aus!«, sagte Faraj drängend. »Leg die Taschen unter den Baum, und dann hilf mir mit dem Wagen.« Vorsichtig deponierte Jean die Rucksäcke unter der Weide. Es hatte wieder angefangen zu regnen, es dämmerte, und die Gegend war verlassen. Im Sommer wären vielleicht ein paar Menschen dort gewesen, etwa ein Angler, der auf Döbel oder Flussbarsche lauerte, oder ein paar Leute zum Picknicken. An einem nassen Dezembernachmittag gab es jedoch wenig, was einen Passanten auf den ausgefahrenen Feldweg und zu diesem öden Zusammenfluss von Kleiner Ouse und Methfold-FenEntwässerungskanal locken konnte. Jean D’Aubigny kannte die Stelle und wusste, dass es hier einsam und das Wasser tief war. Sie erinnerte sich so intensiv, dass es fast schmerzte, wie es war, sechzehn zu sein, den grünen, schlammigen Geruch des Flusses in der Nase zu haben und den Schwindel von Wodka und Zigaretten auf leeren Magen zu spüren. Es hatte einige Zeit gedauert, die Stelle zu finden, und sie waren dadurch aufgehalten worden, dass sie Nebenstraßen und Feldwege nehmen mussten, aber jetzt waren sie vierzig Kilometer südlich des Dorfs, wo sie den MG gestohlen hatten, und seit der Straßensperre hatten sie keine Polizei mehr zu Gesicht bekommen. Als sie die Straße nach King’s Lynn kreuzten, hatten sie eine entfernte Sirene gehört, und zehn Minuten später einen Hubschrauber mit militärischer Tarnfarbe weit im Norden gesehen, aber sonst nichts. Da der Diebstahl des Wagens bestimmt rasch angezeigt worden war, waren sie dankbar. Faraj kurbelte die Fenster herunter und öffnete das Vinylverdeck. Der Wagen stand neben der alten Brücke. Vor ihm führten 310
ein paar abbröckelnde Zementstufen zu einem schmalen Treidelpfad hinunter. Auf der anderen Seite des Flusses verlief der schmalere Entwässerungskanal weiter nach Norden. Der Fluss war hier zwar tief, aber die Strömung nur schwach, deshalb war die öde Stelle auch so gut zum Schwimmen gewesen. Jetzt allerdings würde man das nicht mehr tun. Das Wasser stand viel höher, als Jean sich erinnerte, und am Fuß der Stufen schwammen Blätter, Zigarettenkippen und Fastfoodpackungen. Sie schaute sich um. Nichts. Dann fasste Faraj sie fest am Handgelenk. Sie erstarrte und trat von der Brücke zurück. Im Entwässerungskanal war etwas. Irgendetwas bewegte lautlos die Gräser und das Schilfrohr. Ein Tier? Ein Polizeihund oder sogar ein Polizeitaucher? Nichts war zu sehen außer dem langsamen, erschreckenden Biegen der Halme. Beide hatten sich jetzt von der Böschung entfernt, kauerten hinter dem Auto und hielten ihre Pistolen in der Hand. Als ein Windstoß den Regen von den nassen Zweigen trieb, die über den Fluss hingen, entsicherten beide die Waffen. Dann teilte sich das Schilfrohr, und die spitze, graugrüne Nase eines Kajaks glitt lautlos hervor. Darin saß eine unbewegliche Gestalt in einem olivgrünen Regenumhang mit Kapuze. Jeans erste panische Befürchtung war, es sei ein Special-ForcesSoldat, und als die Gestalt langsam ein Fernglas hob, schien sich ihre Annahme zu bestätigen. Aber die Gestalt beobachtete die Vegetation am Wasser und ignorierte den MG völlig. Ein weiterer Schauer von Regentropfen prasselte von den Bäumen, dann flog ein kleiner, unauffälliger Vogel unter der Brücke hervor und setzte sich auf einen abgeknickten Binsenhalm. Ruhig und ohne Eile folgte das Fernglas dem Vogel, und nun war ein Lächeln auf dem Gesicht der Gestalt im Kajak zu sehen. Es war ein junger Mann, vielleicht ein Teenager, und seine Lippen bewegten sich in stummer Bewunderung des Vogels. 311
Jeans Herz schlug heftig, als die Übelkeit erregende Spannung nachließ. Sie sicherte ihre Pistole und warf einen Blick zur Seite, um sich zu vergewissern, ob Faraj gemerkt hatte, dass der junge Mann keine Bedrohung darstellte. Der Vogel musste ihre Bewegung bemerkt haben, denn er flog von seinem Sitz auf und verschwand wieder unter der Brücke. Der junge Mann sah ihm einen Moment hinterher, dann senkte er das Fernglas, paddelte vorwärts in den Teich an der Brücke, wendete den Kajak und glitt auf dem Weg davon, den er gekommen war. Sie beobachteten ihn oder zumindest die Bewegung des Schilfrohrs, bis nichts mehr zu sehen war. Zehn schmerzhaft lange Minuten warteten sie, ob er sich noch einmal blicken lassen würde, aber die Schilflandschaft, aus der er so unerwartet aufgetaucht war, hatte ihn wieder verschluckt. »Wir müssen den Wagen endlich loswerden«, sagte Jean schließlich. »Das vorhin waren Armeehubschrauber, und sie werden ihn durch die Bäume auf ihren Infrarotkameras entdecken.« Faraj nickte. »Dann los.« Er lehnte sich gegen den Wagen, vergewisserte sich, dass der Leerlauf eingelegt war, und löste die Handbremse. Sie schoben von hinten. Der alte MG war schwerer, als er aussah, hatte einen niedrigen Schwerpunkt, und es dauerte mehrere Sekunden, bis er sich auf dem Schlamm bewegte. Endlich näherte er sich den Stufen, rollte über die erste und blieb mit einem lauten Knirschen stecken. »Die Achse hängt fest«, murmelte Faraj. »Mistding. Wir müssen weiterschieben.« Sie pressten die Schultern gegen die hinteren Stoßstangen und schoben. Die Profilsohlen ihrer Stiefel gruben sich tief in den Boden. Zunächst geschah nichts, dann alles auf einmal. Die Zementverblendung der Ziegelstufen brach, das Heck des 312
Wagens schwang nach oben und brachte Jean aus dem Gleichgewicht, sodass Faraj sie packen musste, damit sie nicht in den Fluss rutschte, während der Wagen langsam die Stufen hinunterglitt. Unten überschlug er sich fast gemessen, landete mit gewaltigem Platschen auf dem Dach und sank. Nur ein Hinterrad schaute noch aus dem Wasser. »Mistding«, wiederholte Faraj, ließ Jean los und wischte sich das Flusswasser aus dem Gesicht. Er ging die gebrochenen, nassen Stufen hinunter, setzte sich auf die unterste und stemmte die Füße gegen das Rad. Dann lehnte er sich an die Treppe, drückte die Beine durch und stieß mit aller Kraft zu. Der Wagen wackelte ein wenig, bewegte sich aber nicht weiter. »Warte«, sagte Jean. Sie strich sich das nasse Haar zurück, ging neben ihm hinunter, legte einen Arm um ihn und packte seine Jacke, um sich zu abzustützen. Er zögerte einen Augenblick, dann tat er dasselbe. Sie spürte den Druck seines Arms gegen ihren Körper. »Bei drei«, sagte sie. »Jetzt!« Sie drückten, bis sie vor Anstrengung zitterten und die Stufen an Jeans Wirbelsäule schmerzten. An ihren Schultern spürte sie, wie Farajs Arm vor Anstrengung bebte. An ihrem Absatz gab der Reifen leicht nach. »Fast«, murmelte Faraj keuchend. »Noch mal, und dieses Mal hör nicht auf.« Sie füllte ihre Lunge wieder mit Luft. Erneut hinterließen die zementverkleideten Ziegel schmerzhafte Striemen auf ihrem Rücken. Ihr Körper zitterte vor Anstrengung, in ihren Ohren rauschte es, und ihr wurde schwindlig. »Nicht aufhören!«, keuchte Faraj. »Nicht aufhören!« Langsam, fast bedächtig löste sich das umgekippte Auto von dem unsichtbaren Hindernis, trieb einen Moment und versank im tiefen Wasser unter der Brücke. Während Jean nach Atem rang, sah sie zu, wie das Chrom der Stoßstangen verblasste, bis es nicht mehr zu sehen war. 313
Langsam stiegen sie die Treppe wieder hinauf, und Faraj untersuchte die Keksdose mit der C4-Bombe. »Alles okay?« Faraj zuckte die Achseln. »Sie ist noch da. Und wir sind auch noch da.« Jean überdachte ihre Lage. Sie fror, war schmutzig, hungrig und bis auf die Knochen durchnässt, und zwar schon seit Stunden. Außerdem hatten die Schrecken des Tages – das Auf und Ab des Adrenalins – eine fast halluzinierende Erschöpfung bewirkt. Sie spürte eine sie unbarmherzig verfolgende Gestalt, wie schon seit mehreren Tagen. Eine Gestalt, die sie Schritt für Schritt wie ein Schatten begleitete und ihr ebenso schreckliche wie verwirrende Dinge ins Ohr flüsterte. Vielleicht war es ihr früheres Selbst, das ihre Seele zurückzugewinnen suchte. In diesem Augenblick und an diesem Ort hätte sie alles geglaubt. Faraj erschien dagegen ungerührt. Er erweckte den Eindruck, als habe sich sein äußerlicher Zustand an irgendeinem Punkt von seinem Willen gelöst, sodass weder Schmerz noch Angst oder Müdigkeit eine Rolle in seinen Gedanken spielten. Es gab nur die Mission und die Strategie, die zu ihrer Ausführung nötig war. Jean beobachtete ihn, und soweit sie in diesem Moment überhaupt zu einer Reaktion fähig war, war sie von seiner eisernen Selbstbeherrschung beeindruckt. Sie machte ihr aber auch Angst. Es hatte Zeiten gegeben, besonders in Takht-i-Suleiman, wo sie sicher gewesen war, Glaube und Entschlossenheit hätten ihr dieselbe Macht verliehen. Jetzt war sie sich über nichts mehr sicher. Sie war wiedergeboren worden, gewiss, aber an einem Ort der völligen Erbarmungslosigkeit. Ihr wurde klar, dass Faraj diesen Ort schon seit langem bewohnte. In der Ferne, vielleicht acht Kilometer weit weg, hörten sie einen Hubschrauber. Einen Moment lang bewegte sich keiner von beiden. 314
»Schnell!«, sagte Jean. »Unter die Brücke.« Sie ließen die Rucksäcke unter dem Baum liegen, stolperten die Stufen zu dem schmalen Treidelpfad hinab und warfen sich gegen die feuchte Wand aus Sträuchern. Dornen zerrissen Jean Gesicht und Hände, dann waren sie auch schon hindurch und kauerten in fast völliger Dunkelheit unter dem Brückenbogen. Bis auf das Echo tropfenden Wassers gab es kein Geräusch. Sie spürte das Blut auf ihrem Gesicht. Nach etwa einer Minute kehrte das Dröhnen des Hubschraubers zurück, diesmal lauter, vielleicht fünf oder sechs Kilometer entfernt, und obwohl sie wusste, dass sie unsichtbar und weit von den Sichtgeräten an Bord. entfernt war, presste sie sich gegen die gekrümmte Ziegelmauer der Brücke. Das Dröhnen blieb mehrere Sekunden konstant und wurde dann leiser. Während Faraj ins schattenverhangene, trübe Wasser blickte, spähte Jean durch die Büsche und Blätter zum Himmel. Es war schon fast dunkel. Sie war vor Erschöpfung den Tränen nahe, zitterte vor Kälte und zog sich die Dornen aus den Wangen und dem Handrücken. »Wir sollten die Taschen herholen und über Nacht hier bleiben«, sagte sie tonlos. »Die Hubschrauber werden weitersuchen, aber ihre Infrarotkameras können keine Wärme durch Ziegel und Beton erkennen.« Er bemerkte die Schwäche in ihrer Stimme und warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Wenn sie uns im Freien finden, sind wir tot. Tot, Faraj. Hier unten sind wir wenigstens unsichtbar.« Er dachte schweigend nach und nickte schließlich.
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51 Liz wollte gerade ihre E-Mail abrufen und dekodieren, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie Don Whitten sich nach vorne beugte und die Hände vors Gesicht schlug. Er blieb einen Moment in dieser Haltung, dann sandte er mit verzerrtem Gesicht und geballten Fäusten stumme Flüche zum Hangardach empor. Inzwischen waren achtzehn Männer und drei Frauen versammelt. Sechs der Männer waren Armeeoffiziere, und alle außer Kersley, dem SAS-Hauptmann, trugen Kampfanzüge. Von den drei Frauen gehörte eine zum Royal Logistics Corps, eine zur örtlichen Kriminalpolizei, und die dritte war die Polizistin Wendy Clissold. Alle verstummten und starrten Whitten an. »Was gibt’s?«, fragte Dunstan mit ruhiger Stimme. »Ein junger Mann namens James Martindale hat gerade gemeldet, dass sein fünfundzwanzig Jahre alter grüner MG vor dem Pflug in Birdhoe gestohlen wurde. Es kann ab zwölf Uhr fünfzehn passiert sein, als er den Pub betrat.« Die Anwesenden atmeten kollektiv aus – ein Geräusch extremer Frustration. Niemand gab sich der Hoffnung hin, der Autodiebstahl könne nichts mit D’Aubigny und Mansur zu tun haben. Düster griff Whitten nach seinen Zigaretten. »Wie die meisten von Ihnen wissen, liegt Birdhoe einen Kilometer hinter den Straßensperren. Sie müssen uns querfeldein entwischt sein, als wir die Sperren aufgebaut haben. Jetzt haben sie vier Stunden Vorsprung. Sie können überall sein.«
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Die Armeeoffiziere blickten einander schmallippig an. Zwei Bataillone Armee und Grenzschutz sowie sechs Hubschrauber suchten immer noch im nordwestlichen Sektor. »War dieser Martindale den ganzen Nachmittag im Pub?«, fragte Steve Goss. »Er sagt, er ging mit seiner Verlobten zum Mittagessen hin und blieb dann da, um im Fernsehen Rugby zu gucken.« »Moment mal«, sagte Mackay und drehte den Kopf zu dem Tisch, wo Liz mit über der Tastatur schwebenden Fingern saß. »Ein grüner MG? So einen haben wir vorhin überholt! Ich hab Ihnen doch erzählt, ich hätte auch mal …« »Türkis?« »Ja, genau der – wo war das? Gucken wir mal auf den Schirm. Wir sind von hier aus nach Südwesten gefahren, etwa fünfzehn Minuten. Es muss also bei Castle Acre oder Narborough gewesen sein. Wenn unser Termin in Marwell um zwei war und es der richtige Wagen war – und davon gibt es heutzutage nicht mehr viele –, haben unsere Terroristen gegen ein Uhr fünfundvierzig Narborough passiert. Vor zwei Stunden und fünfzehn Minuten. Sie haben Recht«, wandte er sich an Whitten, »die beiden könnten inzwischen in London oder Birmingham sein.« »Aber warum stehlen sie ein so auffälliges Auto?«, fragte Liz. Die Polizisten warfen einander Blicke zu. »Weil es so leicht zu klauen ist«, sagte Whitten. »Die meisten Wagen, die jünger als zwanzig Jahre sind, haben ein Lenkradschloss. Man kann es knacken, wenn man das Lenkrad herumhebelt, aber dafür braucht man ziemlich viel Kraft. Das deutet darauf hin, dass die Frau den Wagen gestohlen hat.« »Okay. Aber ist es dann nicht eine Art letzte Zuflucht? Ein verzweifelter Versuch, so schnell wie möglich von den Straßensperren wegzukommen? Sie konnten nicht wissen, dass der Besitzer den ganzen Nachmittag im Pub sitzt; sie mussten 317
davon ausgehen, dass er jeden Moment rauskommen konnte, seinen Wagen vermissen und die Polizei anrufen würde. Bestimmt hätten sie es nicht riskiert, mit einem so auffälligen Auto, das womöglich jeder Polizist in England sucht, in eine Großstadt zu fahren.« Dunstan nickte. »Das sehe ich auch so. Sie sind sicher höchstens eine Stunde gefahren und auf Nebenstraßen geblieben, dann haben sie den Wagen stehen gelassen.« »Eine Stunde Fahrt auf Nebenstraßen bringt sie zur Basis Marwell«, sagte Mackay ruhig. Niemand antwortete. Die Kripobeamtin am Displaycomputer erzeugte eine rote Linie auf der Karte. Sie verlief von Dersthorpe Strand nach Süden, kreuzte die blaue Linie der Straßensperren und lief durch Birdhoe und Narborough nach Marwell. Die Linie verlief vertikal und fast schnurgerade. »Angenommen, Marwell ist ihr Ziel«, sagte Dunstan und schaute in die Runde. »Man kann annehmen, dass sie a) in einem gestohlenen Wagen nicht zu nah an eine gesicherte Regierungseinrichtung heranfahren, und b) sie den Wagen etwa eine Stunde hinter Narborough verlassen haben. Damit sind sie jetzt entweder am Ost- oder Westrand eines Radius von acht Kilometern um Marwell. Ich vermute, sie haben sich versteckt – sie hatten einen ziemlich anstrengenden Tag. Oder sie bereiten sich darauf vor, zu Fuß ans Ziel zu kommen. Sie werden es jetzt bestimmt nicht mehr riskieren, noch einen Wagen zu stehlen.« Whitten drückte seine Zigarette aus. »Was schlagen Sie also vor?« »Dass wir zwei Ringe um Marwell ziehen. Einen inneren mit einem Radius von acht Kilometern, den wir sofort mit Polizei und Grenzschutz durchkämmen. Wir geben ihnen Nachtsichtgeräte, Suchscheinwerfer, alles, was sie brauchen … Da kommt dann keiner durch.«
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Ein Mann mit kahlem Hinterkopf und den Abzeichen eines Oberstleutnants rechnete rasch mit einem Bleistift. »Das sind insgesamt ungefähr zweihundert Quadratkilometer. Wenn wir alle Suchteams aus dem Nordwestsektor einsetzen und noch ein Bataillon zusätzlich hinschicken …« »Dazu außerhalb ein zweiter Ring, acht Kilometer breit, das ist ein Gebiet von fünfhundertzwanzig Quadratkilometern, das wir und das Army Air Corps die ganze Nacht mit Infrarotkameras überfliegen …« Er sah sich um. »Hat jemand eine bessere Idee?« Niemand sagte etwas. »Was halten Sie davon?«, fragte er die Offiziere. Sie nickten. »In Ordnung«, meinte der Oberstleutnant, dann wandte er sich mit einem schwachen Lächeln an seine Kollegen. »Keiner soll sagen, wir hätten unsere tapferen amerikanischen Verbündeten nicht vor einer durchgedrehten Studentin und einem pakistanischen Automechaniker schützen können.« Die Offiziere lächelten, wenn auch nur andeutungsweise. Die Polizisten lächelten überhaupt nicht. »Detective Sergeant Goss«, fuhr Dunstan fort, »ich möchte, dass Sie unsere Verbindungsperson zu Colonel Greeley in Marwell sind. Ich rufe ihn sofort an und setze ihn ins Bild.« Goss nickte und verließ den Hangar im Laufschritt, wobei er Liz zuwinkte, als er an ihr vorbeikam. Kersley und der ranghöchste Mann von den Scharfschützen folgten ihm, um ihre jeweiligen Teams auf den letzten Stand zu bringen. Liz starrte ihnen einen Moment nach und lauschte dann dem unruhigen Crescendo, mit dem der Gazelle-Hubschrauber abhob, der Steve Goss an Bord hatte. Auf eine Weise, die sie nicht genau definieren konnte, schienen die Ereignisse außer Kontrolle zu geraten. Zu viele Dienste waren beteiligt und zu viele Leute anwesend. Außerdem sagte ihr der Instinkt, es habe eine Fehleinschätzung gegeben. Mansur und D’Aubigny waren 319
vielleicht bereit, im Verlauf ihrer Operation zu sterben, aber bis jetzt hatten ihre Handlungen nichts Selbstmörderisches. Die Vorstellung, dass die beiden sinnlos gegen eine Airforce-Basis anrannten und sich dabei abschießen ließen, war völlig abwegig, da war sie ganz sicher. Sie hatten einen anderen Plan. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ihre E-Mail noch nicht gelesen hatte, und sie stellte ohne weiteres Zögern die Verbindung zum MI5-Server her. Die entschlüsselte Nachricht war extrem lang, besonders für Wetherbys Verhältnisse. Liz – der beigefügte Bericht ist sehr wichtig. Nur für Sie, Mackay und Dunstan. Quelle geheim und verlässlich. Liz lächelte über den gewohnt kryptischen Stil und öffnete den Anhang. STRENG GEHEIM betr.: Mansur, Faraj Nach Berichten über terroristische Aktivitäten an der pak.afghan. Grenze bei Chaman startete am 17.12.2002 eine AC130 von einer US-Basis in Usbekistan (vermutlich Fergana) zu einer Such- und Angriffsmission. An Bord waren die Besatzung der Maschine sowie zwölf Mann eines Spezialkommandos … »Möchten Sie Tee? Es gibt Earl Grey und angeblich auch Kekse …« Liz schaute von dem Bericht auf. »Danke, Bruno. Das wäre toll. Und ich habe auch einen Riesenhunger, also wenn Sie etwas zu essen auftreiben könnten …« »Ist schon unterwegs. Schickt das Mutterschiff was Interessantes?«
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»Kann ich noch nicht sagen … Ich erzähl’s Ihnen, wenn Sie mir den schwarzen Tee mit zwei Stück Zucker und die Kekse bringen.« »Zwei Stück Zucker? Ahne ich da einen süßen Zahn?« »Nein.« Sie runzelte abwesend die Stirn und schaute mit einem Auge auf den Bildschirm. »Ich bin in meinen Zahnarzt verliebt.« Er schlenderte kopfschüttelnd weg, wobei seine Laptoptasche unter dem rechten Arm schwang. Auf dem Weg zu dem Resopalklapptisch, der als Kantinenbereich ausgewiesen war, begegnete er Wendy Clissold, die sich die Schläfen massierte und ein Alka-Seltzer in einem Pappbecher auflöste. »Haben Sie auch was gegen Nervensägen?«, sagte er so laut, dass Liz es hörte. Liz lächelte und wandte Wetherbys Nachricht wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu. Während sie las, erstarb jedoch ihr Lächeln. Die Aktivitäten um sie herum schienen zu verschwinden und das Summen im Hangar zu verstummen. Als Mackay zurückkam, starrte sie mit ausdruckslosem Gesicht und gefalteten Händen geradeaus.
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52 »Was meinst du, wie viel wissen sie?«, fragte Faraj. »Ich glaube, wir müssen damit rechnen, dass sie uns identifiziert haben«, antwortete Jean nach kurzem Nachdenken. Beide sprachen jetzt Urdu. »Die schwachen Glieder in der Kette sind der Lastwagenfahrer, der dich gesehen hat, und die anderen Migranten.« »Die anderen Migranten wissen nichts über mich. Alles, was ich ihnen erzählt habe, war falsch.« »Sie würden dich aber wieder erkennen. Genau wie die Frau, die mir das Haus vermietet hat, mich wiedererkennen würde. Sie wissen, wer wir sind, verlass dich drauf. Wir haben es mit Engländern zu tun, und die sind ein rachsüchtiges Volk. Es macht ihnen nichts aus, wenn ihre Rentner in Sozialwohnungen verhungern oder auf schmutzigen Krankenhausfluren vernachlässigt dahinvegetieren, aber wenn man einem von ihnen was tut – dem Fischer oder der alten Frau –, jagen sie dich bis ans Ende der Welt. Sie werden nie aufgeben, niemals. Die Leute, die den Einsatz gegen uns leiten, werden die besten sein, die sie haben.« »Wir werden sehen. Sollen sie ruhig ihren besten Mann schicken. Sie werden uns nicht aufhalten.« Jean runzelte die Stirn. »Sie haben ihren besten Mann geschickt. Er ist eine Frau.« Faraj bewegte sich auf dem schmalen, mit Steinplatten belegten Treidelpfad unter der Brücke. Eine Stunde zuvor hatten sie die trockenen Sachen angezogen, die Jean morgens in die Rucksäcke gepackt hatte. Aus instinktivem Schamgefühl hatten sie einander dabei den Rücken zugewandt, aber als Jean fast ausgezogen war, verlor sie unter dem niedrigen Ziegelbogen die Balance. 322
Sie ruderte mit den Armen und berührte plötzlich Faraj. Nur weil er sie festhielt, war sie nicht in den Fluss gefallen. Er umarmte sie einen Moment und ließ sie dann schweigend los. Sie hatten nichts gesagt, aber der Vorfall lag irgendwie zwischen ihnen. »Was soll das heißen, eine Frau.« »Sie haben eine Frau geschickt. Ich spüre ihren Schatten.« »Du bist verrückt!« Ärgerlich stützte er sich auf einen Ellbogen. »Was soll das dumme Gerede?« Sie zuckte die Achseln, obwohl sie wusste, dass er die Geste nicht sehen konnte. »Es ist egal«, sagte sie. Sie hörte ihn leise und verärgert ausatmen. Sie lagen Kopf an Kopf und hatten sich in die dünnen Decken gerollt, die Diane Munday für ihre Gäste bereit hielt. Nun, da sie trocken war, fror Jean nicht mehr ganz so sehr. Im Ausbildungslager war es schlimmer gewesen und der Boden härter. »Wir haben heute zwei Menschen getötet«, sagte sie, während der Kopf des jungen Toyota-Fahrers erneut vor ihren halb geschlossenen Augen aufplatzte. »Es war notwendig. Wir konnten nicht lange nachdenken.« »Ich bin nicht mehr derselbe Mensch wie heute Früh.« »Du bist jetzt stärker.« Vielleicht. War das Stärke, dieses Schlafwandeln? Diese eisige Distanz zu allem, was geschah? Vielleicht war es so. »Das Paradies wartet auf uns«, sagte Faraj. »Aber noch nicht jetzt.« Glaubt er das selbst?, fragte sie sich. Irgendetwas in seiner Stimme – ein ganz schwacher ironischer Unterton – machte sie unsicher. »Wer wartet auf dich in dieser Welt?«, fragte sie. Er hatte von Eltern und einer Schwester gesprochen. Hatte er eine Frau? 323
»Niemand.« »Dann hast du nie geheiratet?« Er schwieg. In der Dunkelheit spürte sie einen zähen Widerstand gegen ihre Fragen. »Morgen sind wir vielleicht tot«, sagte sie. »Jetzt können wir doch reden.« »Ich habe nie geheiratet«, sagte er, doch sein Ton verriet, dass es jemanden gegeben hatte. »Sie ist tot«, sagte er schließlich. »Entschuldige.« »Sie war zwanzig Jahre alt. Sie hieß Farzana und war Näherin. Meine Eltern hatten eine Frau mit guter Schulbildung für mich gewollt, eine Tadschikin, und sie war keines von beidem, aber … sie mochten sie sehr. Sie war ein guter Mensch.« »War sie schön?«, fragte Jean und spürte sofort, wie unpassend die Frage war. Er antwortete nicht, und sie starrte hilflos in den Nachthimmel. Nie war ihr die Distanz zwischen ihnen so groß vorgekommen. Weil er sich seiner Umgebung so schnell angepasst hatte, war es leicht gewesen, zu vergessen, dass er aus einer Welt kam, die von dieser so verschieden wie nur möglich war. »Erzähl mir von ihr«, sagte sie, denn sie spürte unbewusst, dass er trotz seines Widerstands reden wollte. Er bewegte sich unter seiner Decke und schwieg fast eine Minute lang.. »Willst du es wirklich wissen?« »Ja.« Einige Zeit hörte sie ihn atmen. »Ich war in Mardan«, begann er. »Auf der madrassah. Ich war älter als die meisten anderen Schüler – etwa drei- oder vierundzwanzig als ich hinkam –, und in religiösen Dingen viel weniger extrem. Ich glaube sogar, manchmal verzweifelten sie 324
an meiner Sorglosigkeit, aber ich machte mich nützlich, half in der Verwaltung, beaufsichtigte die Bauarbeiten, die sie machen ließen, und sorgte dafür, dass ihre beiden alten Fiat-Taxis liefen. Ich war fast zwei Jahre dort, dann kam ein Brief aus Daranj in Afghanistan, dass meine Schwester Laila sich verloben würde. Der Mann war Tadschike wie wir, und er hatte genau wie wir gehofft, in Pakistan legal sesshaft werden zu können. Jetzt hatte er den Plan aufgegeben und beschlossen, nach Duschanbe zurückzugehen. Meine Eltern wollten sie begleiten, aber zuerst sollte die Verlobung gefeiert werden. Als Lailas älterer Bruder war ich natürlich ein wichtiger Gast, aber mein Vater fürchtete, wenn ich über die Grenze nach Afghanistan käme, dürfte ich vielleicht nicht zurück nach Pakistan. Ich beschloss trotzdem, es zu versuchen, weil ich an der Verlobung teilnehmen und auch selbst heiraten wollte. Seit einiger Zeit standen Farzana und ich einander nah. Sie war die Tochter einer Pathanenfamilie, die nicht weit von uns in Daranj lebte. Briefe und Geschenke waren ausgetauscht worden, und beide Familien hatten zugestimmt, dass wir für einander bestimmt wären. Jedenfalls ging ich zurück über die Grenze und fuhr auf einem Lastwagen, der in Richtung Kandahar unterwegs war, nach Daranj. Ich kam am Tag der Verlobung an, lernte Khalid kennen, den meine Schwester heiraten sollte, und abends begann das Fest. Es gab die übliche Feier, die bis spät in die Nacht dauerte, und die übliche Hochstimmung. Du musst wissen, dass es im Leben dieser Menschen wenig Freude gab, deshalb durfte man die Gelegenheit, zu singen, zu tanzen und selbst gemachtes Feuerwerk zu zünden, nicht verstreichen lassen. Ich war der Erste, der das amerikanische Flugzeug sah. So etwas war in diesem Gebiet nicht ungewöhnlich, denn es gab regelmäßig Einsätze um Kandahar herum und an der Grenze, und niemand achtete groß darauf. Die meisten Leute aus Daranj hassten die Taliban, aber sie mochten auch die Amerikaner nicht 325
und halfen den Aufklärungstrupps nicht, die ab und zu durchs Dorf kamen. Trotzdem war es ungewöhnlich, dass das Flugzeug so tief flog. Es war riesig, eine AC-130, wie ich später erfuhr. Die Verlobungszeremonie hatte in einem kleinen Lager außerhalb der Stadt stattgefunden, und ich war in die nahen Hügel gewandert, um nachzudenken. Ich war glücklicher als je zuvor in meinem Leben. Ich hatte Farzana gefragt, ob sie mich heiraten wolle, sie hatte ja gesagt, und ihre Eltern hatten mich akzeptiert. Unter mir war das Fest von Laila und Khalid in vollem Gange, Feuerwerk knallte, Musik ertönte und Gewehrsalven wurden in die Luft abgefeuert. Als die Suchscheinwerfer angingen – einer an jedem Ende –, meinte ich erst, sie schickten irgendein freundliches Signal. Der Krieg gegen die Taliban war schließlich vorbei. In Kabul waren amerikanische und britische Truppen stationiert, und es gab eine neue Regierung. Also stand ich da und sah zu, wie das Flugzeug das Feuer auf unser Lager eröffnete. Nach wenigen Sekunden verstand ich natürlich, was da gerade geschah. Ich rannte winkend zum Lager zurück und schrie zu dem Flugzeug hoch – als hätten sie mich hören können –, dass die Leute bloß mit Feuerwerk knallten. Die ganze Zeit flog die Maschine in langsamen, methodischen Kreisen und beschoss jeden Zentimeter. Tote und Sterbende waren überall, Verwundete wälzten sich am Boden und rollten schreiend in der Asche. Ich rannte durch das Feuer, als wäre es Regen, und wurde wie durch ein Wunder nicht getroffen, aber ich fand weder meine Eltern noch meine Schwester oder sonst irgendjemand, den ich kannte. Auch Farzana nicht. Ich schrie ihren Namen, bis meine Stimme versagte, dann spürte ich, wie ich von den Füßen gerissen und auf den Felsboden geschleudert wurde. Ich war getroffen worden. Als Nächstes weiß ich nur, dass Khalid, mein künftiger Schwager, mich hochzog und anschrie, ich solle wegrennen. 326
Irgendwie schaffte er mich aus dem Inferno und zurück zu dem Hügel, auf dem ich vorher gestanden hatte. Ein Schrapnell hatte mich in der Seite getroffen, und ich verlor viel Blut, aber ich konnte mich unter einen Felsvorsprung retten. Danach wurde ich ohnmächtig. Im Mir-Wais-Krankenhaus in Kandahar kam ich wieder zu mir. Khalid hatte acht von uns in einen Lastwagen geladen und uns während der Nacht hingefahren. Meine Schwester Laila lebte, hatte aber einen Arm verloren, und meine Mutter hatte schwere Verbrennungen erlitten. Sie starb eine Woche später. Mein Vater, Farzana und ein Dutzend andere waren bei dem Angriff getötet worden.« Jean sagte nichts. Sie versuchte, im gleichen Rhythmus zu atmen wie er, aber er war zu ruhig und sie zu erschüttert. Wir sind im Recht, sagte sie sich. Eines Tages, lange nachdem wir und tausende andere wie wir unser Leben für den Kampf gegeben haben, werden wir siegen. Wir werden siegen. »In dieser Nacht berichtete CNN über ein ›Feuergefecht‹ bei Daranj. Der Reporter behauptete, al-Qaida nahe stehende Gruppen hätten versucht, ein amerikanisches Transportflugzeug mit einer Boden-Luft-Rakete abzuschießen. Der Versuch sei gescheitert, und die Terroristen seien angegriffen und zum Großteil getötet worden. Vierundzwanzig Stunden später brachte al-Dschasira einen Gegenbericht, in dem Khalid als Augenzeuge interviewt wurde. Sie sagten, ein US-Flugzeug habe offenbar einen willkürlichen Angriff auf eine Verlobungsfeier in einem afghanischen Dorf ausgeführt, bei dem vierzehn Zivilisten getötet und acht schwer verwundet worden seien. Unter den Toten waren sechs Frauen und drei Kinder. Keiner der Beteiligten hatte Verbindungen zu einer Terrororganisation. Nachdem die Air Force fast eine Woche lang jeden Kommentar zu dem Vorfall ablehnte, erklärte ein Sprecher, es sei mehr oder weniger so abgelaufen, wie al-Dschasira berichtet hatte, und nannte die Todesfälle ›tragisch‹. Als mildernde Umstände 327
gab er an, die Flugzeugcrew erkläre, sie sei unter Gewehrfeuer gekommen, und der Pilot behauptete, eine Boden-Luft-Rakete sei abgefeuert worden. Es wurden Bilder veröffentlicht, auf denen der Kommandeur der Einheit, Colonel Greeley, auf das zeigte, was er als Kugeleinschläge am Leitwerk einer.AC-130 bezeichnete. Im Lauf der folgenden Untersuchung, bei der die Crew völlig entlastet wurde, hieß es, man habe zwei Kalaschnikows und 7.62er-Patronenhülsen im Lager gefunden.« »Hast du bei der Untersuchung ausgesagt?« »Was hätte das genützt, außer die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen? Wie jeder andere wusste ich, wie es ausgehen würde. Nein, als meine Wunden geheilt waren, ging ich nach Mardan zurück.« »Das ist jetzt zwei Jahre her?« »Fast genau zwei Jahre. Innerlich war ich tot. Das Einzige, was noch zu tun übrig blieb, war die notwendige Rache. In der madrassah zeigten sie viel Mitgefühl, mehr als Mitgefühl. Sie schickten mich ein paar Monate in eines der Lager an der Nordwestgrenze und dann zurück über die Grenze nach Afghanistan. Ich nahm eine Arbeit in einer LKW-Raststätte an, die eine Fassade für eine der Dschihadi-Organisationen war, und mehrere Monate später stellte man mich einem Mann namens alSafa vor.« »Dawud al-Safa?« »Ja. Al-Safa interessierte sich für meine Geschichte. Seit einiger Zeit dachte er über eine Rache an denen nach, die für das Massaker in Daranj verantwortlich waren. Keine allgemeine Aktion, sondern eine zielgerichtete Vergeltung. Genau wie sie in unser Land gekommen waren, um zu bombardieren und zu töten, würden wir nun dasselbe tun. Die Amerikaner und ihre Verbündeten würden erkennen, wie weit unser Arm reichte und wie unbezwingbar unser Wille war. Al-Safa sagte, er habe gerade ein Lager in Takht-i-Suleiman besucht, wo das Schicksal 328
ihm eine Perle von unschätzbarem Wert geschenkt habe. Einen mutigen Kämpfer, eine junge Engländerin, die es gewagt hatte, den Namen Asimat, der Braut des Salah ad-din, und das Schwert des Dschihad anzunehmen. Außerdem hätte sie ganz besonderes Wissen, das es uns erlauben würde, eine zielgerichtete Racheaktion zu starten …« »Von all dem wusste ich nichts«, sagte sie. »Warum hat man mir nichts gesagt?« »Zu deiner eigenen Sicherheit und zu der unserer Mission.« »Weiß ich jetzt alles?« »Noch nicht. Vertrau mir, wenn die Zeit kommt, wirst du alles erfahren.« »Es wird morgen sein, nicht?« »Vertrau mir, Asimat.« Sie starrte in die Dunkelheit. In diesem Augenblick war die vom Regen tropfende Kammer unter der Brücke die ganze Welt. Wenn dies ihre letzte Nacht auf Erden war, dann sei es eben so. Sie streckte die Hand aus und fand seine raue Wange. »Ich bin nicht Farzana«, sagte sie ruhig, »aber ich gehöre dir.« Schweigen, und von jenseits der Stille, die sie umgab, das lange Seufzen des Windes. »Dann komm«, sagte er.
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53 »Wenigstens kennen wir jetzt das genaue Ziel«, sagte Jim Dunstan. Hinter ihm ertönte ein hydraulisches Summen, gefolgt von einem gedämpften Zittern, als sich der Haupteingang des Hangars schloss. »Ich fürchte, es herrschten nie große Zweifel, dass es eine der US-Basen sein würde«, bemerkte Bruno Mackay und riss einen Mars-Riegel auf. Ausnahmsweise waren alle Telefone ruhig. »Dann steht also fest, dass die AC-130, die am Vorfall in Daranj beteiligt war, in Marwell stationiert ist?«, fragte Whitten. »Nach dem Bericht ganz sicher«, antwortete Liz. »Wo stammt er her?«, fragte Mackay ein wenig gereizt. »Können Sie uns das sagen?« »Alles außer der Rolle von Faraj Mansur ist öffentlich zugänglich«, sagte Liz ausweichend. »Die Geschichte ist damals hier untergegangen – das nordirische Parlament war gerade suspendiert worden, und Saddam Hussein hatte seine Erklärung über Waffenbesitz abgegeben –, aber die arabische Presse hat sie groß rausgebracht.« Sie wandte sich an Mackay. »Es wundert mich, dass die Berichte nicht auch über Ihren Tisch gelaufen sind.« »Sind sie durchaus«, gab er zurück. »Soweit ich mich erinnere, haben sich die Fahnenverbrenner in Islamabad sehr aufgeregt. Ich war nur neugierig wegen der Verbindung zu Mansur. Dazu wird nämlich in keinem der Berichte etwas erwähnt, die wir von den Pakistanis oder unseren eigenen Leuten bekommen haben.« »Mir hat man versichert, die Quelle sei glaubwürdig«, sagte Liz und bemerkte, dass Don Whitten Mackays Unbehagen mit unverhohlener Freude beobachtete.
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»Morgen ist der Jahrestag«, sagte Jim Dunstan. »Werden sie sich daran halten?« »Symbole und Jahrestage sind für die Islamisten sehr wichtig«, sagte Mackay, der seine Autorität wiedergefunden hatte. »Der 11. September war der Jahrestag des britischen Mandats in Palästina und der Erklärung von George Bush senior über die ›Neue Weltordnung‹. Der zwölfte Oktober, als die Bombe in der Diskothek in Bali gezündet wurde und der Angriff auf die USS Cole stattfand, war der Jahrestag der Eröffnung der Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel in Camp David. Die Sache hier ist lokaler und vielleicht persönlicher, doch ich glaube, wir können darauf zählen, dass sie Himmel und Erde in Bewegung setzen werden, um das Datum einzuhalten.« »Können wir eine schmutzige Bombe völlig ausschließen?«, fragte der kahle Oberstleutnant. »Wenn sie so eine zünden wollten, bräuchten sie nicht sehr nah bei ihrem Ziel zu sein, ein paar Kilometer gegen den Wind würden reichen.« »Wir haben keine Spuren von radioaktivem Material am Bungalow in Dersthorpe oder im Astra gefunden«, sagte Whitten. »Wir haben sehr sorgfältig gesucht.« »Ich möchte wetten, dass sie C4 benutzen«, sagte Mackay. »Es ist der typische Sprengstoff der islamistischen Terroristen, und wie Sie wissen, kann man die meisten Bestandteile in jeder Geschäftsstraße kaufen. Die Frage ist: Wie wollen sie ihn hinbringen? Durch den Sicherheitsgürtel um diese Basen käme nicht mal eine Maus.« »Jean D’Aubigny«, warf Liz ein. »Sie ist der Schlüssel.« »Fahren Sie fort«, sagte Jim Dunstan. »Ich kann einfach nicht glauben, dass Mansurs Hintermänner einen Trumpf wie sie durch einen sinnlosen Angriff auf eine hochgesicherte Einrichtung verschwenden. Ich bleibe bei dem, was ich schon sagte: Sie muss irgendwelches besondere Wissen besitzen.« 331
Aber noch während sie es aussprach, war Liz sich nicht mehr sicher, ob es stimmte. Aktivisten bei hoffnungslosen Selbstmordaktionen zu vergeuden, war eine Spezialität der Islamisten. »Haben Ihre Leute inzwischen die Tür dieser Schule in Wales aufgekriegt?«, fragte Mackay bedeutungsvoll. »Ja. Sie schicken mir so schnell wie möglich eine Liste von D’Aubignys Mitschülern.« »Gut … sie haben sich damit Zeit gelassen, nicht?« »Es dauert auch seine Zeit«, antwortete Liz beißend. Wie Sie selbst wüssten, wenn Sie davon Ahnung hätten, wollte sie am liebsten hinzufügen. Ihre Kollegen mussten einen Durchsuchungsbefehl unterschreiben lassen, die örtliche Polizei informieren, ein Ermittlungsteam nach Wales bringen, die Alarmanlage der Schule ausschalten, die Schlösser an der Haustür und einem Aktenschrank öffnen – und sich dann durch Price-Lascelles chaotisches Ablagesystem hindurchfinden. »Offen gesagt sehe ich nicht, wie die Untersuchung der Schulzeit dieser Frau die Dinge weiterbringt«, sagte Jim Dunstan. »Ich glaube, wir haben alle Informationen gesammelt, die wir brauchen. Wir wissen, wen wir suchen und wie sie aussehen. Wir haben ein Ziel, wir haben ein Motiv, und wir haben ein Datum. Außerdem haben wir eine Gegenstrategie und Leute vor Ort, um sie umzusetzen. Jetzt brauchen wir bloß noch zu warten, also warum legen Sie sich nicht ein bisschen aufs Ohr, meine Dame?« Ihren Verein mag er nicht besonders, hatte Whitten über Jim Dunstan gesagt, und zunächst hatte sie gemeint, er habe sich geirrt. Aber der kettenrauchende Detective Superintendent mit den schweren Lidern hatte nicht untertrieben. Die alten Ressentiments existierten weiter. Hohe Polizisten mit ihrem öffentlichen Bekanntheitsgrad und ihrer Verantwortlichkeit misstrauten seit langem den geheimen Dienern des Staates, und die Tatsache, dass sie eine Frau war, nahm den Deputy Chief 332
Constable wahrscheinlich noch mehr gegen sie ein. Da half es auch nicht, dass Wendy Clissold als einzige andere Frau im Raum Don Whitten gerade eine Tasse Tee mit Milch und einem Stück Zucker brachte. Liz sah sich um. Die Gesichter der Anwesenden waren einigermaßen freundlich, doch die Botschaft war überall dieselbe. Dies war das Endspiel, wo Theorie in Handeln umgesetzt wurde. Der Denksport – das Informationen sammeln und die Analyse – war vorbei. Sie hatte nichts mehr beizutragen. Sie spürte noch etwas. Eine gedämpfte, aber eindeutige Erwartung. Vor allem die Armeeoffiziere waren wie Haie. Sie witterten das Blut im Wasser und waren ganz kribbelig vor Adrenalin. Sie wollten, dass Mansur und D’Aubigny einen Angriff auf Marwell versuchten, wurde ihr klar. Sie wollten, dass die beiden sich gegen die undurchdringliche Mauer aus bewaffneten Sicherheitskräften warfen. Sie wollten, dass sie draufgingen. Eine SMS kündigte eine E-Mail von Judith Spratt an. Habe Schülerliste von D’Aubignys Abschlussjahr. Sehe sie gerade durch.
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54 Als Denzil Parrish nach West Ford zurückkam, wusste er, dass der Abend nicht viel versprach. Seine Mutter hatte ihn schon im Voraus gewarnt, ihre neuen Schwiegereltern seien nicht die einfachsten Menschen – sie hatte sie »Vorstadtspießer« genannt –, aber sie hatte ihn auch gewarnt, dass man von ihm erwarte, einige Zeit in ihrer Gesellschaft zu verbringen und nicht jeden Abend in den Pub zu flüchten. Also hatte Denzil versprochen, sich zusammenzunehmen und sein Bestes zu tun. Dass die Eltern seines Stiefvaters eine ganze Woche bleiben wollten, hatte er erst erfahren, nachdem er zugesagt hatte, gleich nach Semesterende aus Newcastle zu kommen, und dieser Trick ärgerte ihn immer noch. Dass er sich heute bis weit nach Sonnenuntergang herumtrieb, war Teil der Strafe, die er dafür beschlossen hatte. Tief im Inneren verstand er jedoch die Zwangslage seiner Mutter und musste zugeben, dass er sich nicht erinnern konnte, sie jemals so glücklich gesehen zu haben wie seit ihrer zweiten Hochzeit. Seit Jessicas Geburt war sie fast … mädchenhaft, obwohl man zugeben musste, dass so etwas bei einer vierzig Jahre alten Frau nicht gerade erstrebenswert war. Aber egal, sie lächelte wieder, und dafür war Denzil dankbar. Er hielt kurz vor dem Gartentor und rangierte den Honda Accord rückwärts in die Einfahrt. In der Mitte der Rampe bremste er wieder und stieg aus, um das Garagentor zu öffnen und den Kajak vom Dachgestell zu nehmen. Es war auf seine Art ein fantastischer Tag gewesen. Er hatte sich nie als Einzelgänger gesehen, aber Norfolk im Winter – die ungemilderte Einsamkeit, der weite, regenverhangene Himmel – hatte etwas Besonderes, das zu seiner Stimmung passte. Am Methwold-Fen-Entwässerungsgraben hatte er eine Rohrweihe 334
entdeckt, die heutzutage wirklich selten war. Zuerst hatte er den Ruf gehört, das schrille, vom feuchten Wind gedämpfte Kwie, Kwie. Kurz darauf hatte er den Raubvogel auch gesehen, der fast entspannt durch die Luft glitt, dann ins Schilf stieß und nach einem Augenblick mit einem schreienden Moorhuhn in den Fängen wieder aufstieg. Fressen und gefressen werden. So ein Moment war unvergesslich. Ein solcher Moment passte auch irgendwie zu den Hubschraubern, die er ab und zu im Norden gesehen hatte. Was machten die da? Gab es ein Manöver? Einer der Hubschrauber war nah genug herangekommen, dass er seine Armeekennzeichen lesen konnte. Er schob das Garagentor hinauf, brachte den Kajak rein und hob ihn zwischen die Dachbalken. Dann parkte er den Wagen und schloss die Garage hinter sich, ging zurück zur Rampe und die Steinstufen zur Haustür hinauf. Zumindest hatte die zweite Ehe seiner Mutter der Familie einen materiellen Aufschwung gebracht. Er zog die nassen Regensachen aus und hängte sie zum Abtropfen in die Diele. Seine Mutter stand in der Küche und machte gerade eine Pause beim Kochen. Sie wollte eine Lammkeule vorbereiten und ein Glas Dörrpflaumenmus für Jessicas Nachtisch erhitzen. Das Baby lag ausnahmsweise friedlich auf einer Decke auf dem Boden und lutschte an seinen Zehen. Neben seiner Mutter und Halbschwester stand ein Polizist. Der Polizist lächelte, und Denzil erkannte ihn als Jack Hobhouse wieder. Er war ein kräftiger Mann mittleren Alters und hielt seine Uniformmütze mit dem Wappen der Polizei von Norfolk in der Hand. Er war schon mehrmals dagewesen, bevor Denzil aus Newcastle nach Hause gekommen war, zuletzt hatte er die Familie wegen einer neuer Alarmanlage beraten. »Denzil, Sergeant Hobhouse hat uns gewarnt. Anscheinend sind zwei Terroristen unterwegs. Nicht hier bei uns, aber sie 335
sind bewaffnet und haben wohl …« Auf einen plötzlichen Schrei hin nahm sie Jessica hoch, legte sie an ihre linke Schulter und klopfte ihr auf den Rücken. »Haben wohl …?«, fragte Denzil. »Sie haben ein paar Leute an der Nordküste ermordet«, sagte sie, worauf Jessica aufstieß und milchiger Schleim über die teure schwarze Strickjacke seiner Mutter herablief. »Da war doch die Sache mit dem Mann, der auf dem Parkplatz erschossen wurde.« »In Fakenham«, sagte Denzil und betrachtete angewidert den Fleck auf dem Rücken seiner Mutter. »Ich hab da was in der Zeitung gelesen. Eine englische Frau und ein Pakistani werden gesucht, nicht?« »Ja, genau«, bestätigte Hobhause. »Ich hab Ihrer Mutter schon gesagt, sie sind wohl nicht hier in der Gegend, aber …« Er wurde vom Klingeln des Telefons an der Wand unterbrochen. Denzil machte eine Bewegung, aber seine Mutter war schneller, hörte kurz zu und legte dann auf. Im selben Moment begann das Baby zu schreien. »Zwei Kilometer Stau wegen der Straßensperren«, übertönte sie verzweifelt das Geschrei. »Er meint, er kommt frühestens eine Stunde später. Und seine blöden Eltern können jeden Moment da sein. Da fällt mir ein, wir brauchen Wein und noch mehr Tonic Water … Mein Gott, Denzil, sind sie das?« »Ich … äh … ich muss mal weiter und lasse Ihnen das hier da«, murmelte Hobhouse, gab Denzil zwei Fotokopien und setzte die Mütze auf. »Rufen Sie uns jederzeit an, wenn Sie Fragen haben. Und natürlich, wenn Sie jemanden sehen.« Denzil nahm die Blätter, machte mit dem Daumen abwesend das Okay-Zeichen und spähte aus dem Fenster. Nach dem fünf Jahre alten Jaguar und der intoleranten Haltung des Paars zu schließen, das gerade ausstieg, waren »sie« es tatsächlich. 336
»Mama, du hast Kotze auf dem Rücken.« Er atmete tief ein, dachte kurz, aber sehnsuchtsvoll an den Frieden des Nachmittag und brachte das größte Opfer von allen. »Gib mir Jessica. Geh rauf und zieh dich um. Ich halte die Stellung.«
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55 Faraj sah ohne Regung zu, wie Jean mit nacktem Oberkörper auf dem Pfad unter der Brücke kniete und sich nach vorne beugte, um ihr Haar auszuspülen. Außerhalb des Brückenbogens herrschte eine graue, bedrohliche Dämmerung. Es war neun Uhr morgens und sehr kalt. Methodisch massierten Jeans Finger ihre Kopfhaut, eine dünne seifige Wolke trieb flussabwärts, und schließlich hob sie den Kopf und wrang das dunkle Haar aus. Sie kauerte immer noch über dem Wasser, nahm einen Plastikkamm aus dem Waschbeutel und kämmte das Haar mehrmals vom Nacken aus durch, bis es nicht mehr tropfte, dann schüttelte sie es aus und zog ihr schmutziges T-Shirt wieder an. Ihre Hände zitterten von dem kalten Wasser, sie hatte Kopfschmerzen vor Kälte, und der Hunger krampfte ihr die Eingeweide zusammen. Es war jedoch unbedingt notwendig, dass sie vorzeigbar aussah. Es war der Tag. Sie presste die Hände einen Moment unter die Achseln, um sie zu wärmen, dann suchte sie im Waschbeutel, fand eine Friseurschere und gab sie Faraj zusammen mit dem Kamm. Die Ereignisse hatten eine seltsame Klarheit angenommen. »Heute musst du mir die Haare schneiden«, sagte sie. Er nickte. Als er die Schere in die Hand nahm, runzelte er die Stirn und klapperte versuchsweise damit. »Es ist ganz einfach«, sagte sie. »Du arbeitest von hinten nach vorne und schneidest jede Strähne etwa so lang.« Sie hielt den Zeigefinger hoch. Mit noch immer gerunzelter Stirn setzte Faraj sich hinter sie, nahm Kamm und Schere und begann. Die abgeschnittenen
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Strähnen warf er sorgfältig in den Fluss. Nach fünfzehn Minuten legte er die Schere weg. »Fertig.« »Wie sieht es aus?«, fragte sie. »Sehe ich anders aus?« Ein zärtliches Wort. Nur ein einziges. »Du siehst anders aus«, sagte er brüsk. »Bist du fertig?« »Ich will noch mal auf die Karte gucken«, erwiderte sie und sah ihn von der Seite an. Er war noch keine dreißig, aber die Bartstoppeln an seinem Kinn waren silbern. Sein Gesicht war ausdruckslos. Sie nahm die Karte, kniff im Halbdunkel die Augen zusammen und betrachtete noch einmal die Topographie der Gegend. Sie waren nur noch fünf Kilometer Luftlinie vom Ziel entfernt. »Ich mache mir immer noch Sorgen wegen der Hubschrauber«, sagte sie. »Wenn wir querfeldein gehen und sie uns finden, ist es aus.« »Es ist weniger gefährlich, als noch ein Auto zu nehmen«, erwiderte er. »Wenn sie so schlau sind, wie du sagst, werden sie sowieso nicht hier suchen. Sie werden sich auf die Zufahrt zu den US-Basen konzentrieren.« »Wir sind hier ungefähr dreiundzwanzig Kilometer von Marwell entfernt, vielleicht auch fünfundzwanzig«, gab sie zu. Aber das schien trotzdem nicht sehr weit zu sein. Vor den Infrarotkameras hatte sie wirkliche Angst. Ihre Wärmeimpulse auf einem Bildschirm, zwei pulsierende rote Punkte, die größer und größer wurden, während der Lärm der Rotoren immer lauter wurde, jedes andere Geräusch und jeden Gedanken begrub … »Wir sollten auf dem Treidelpfad nach West Ford gehen«, sagte sie und kontrollierte angestrengt ihre Stimme. »Wenn wir dann Hubschrauber hören, schaffen wir es vielleicht bis unter die nächste Brücke.« 339
Er schaute ausdruckslos auf ihre Hände, die erneut zu zittern begonnen hatten. »Also gut, dann auf dem Pfad«, sagte er. »Pack die Sachen zusammen.«
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56 In der Kantine von Swanley Heath saß Liz vor einer nicht angerührten Scheibe Toast mit Butter und einer Tasse schwarzen Kaffees. Bis jetzt hatte die Ermittlungsabteilung nichts Interessantes über irgendwelche Namen auf der Liste geliefert. Mehrere Schüler wohnten in Norfolk oder Suffolk oder hatten das damals getan, aber obwohl sich die meisten an Jean D’Aubigny erinnerten, hatte niemand eine engere Beziehung zu ihr. Eine Einzelgängerin, hieß es allgemein. Jemand, der sich allein am wohlsten fühlte. In einer Schule wie Garth House, wo die meisten Kinder irgendwelche Probleme hatten, wurde der Wunsch nach Einsamkeit wohl respektiert, vermutete Liz. Kinder wussten, wann sie einander in Ruhe lassen mussten, und zwar oft besser als Erwachsene. Mark hatte sie letzten Abend angerufen, aber sie hatte ihn auf die Mailbox sprechen lassen. Sie würde nicht zurückrufen. Sie hatte von der Ermittlungsabteilung auch erfahren, dass D’Aubignys Eltern immer noch nichts sagen oder der Polizei sonst helfen wollten. Das ging vermutlich auf den Rechtsanwalt zurück, und falls man Druck auf sie ausübte – sie etwa wegen Behinderung der Justiz anklagte –, würde Julian Ledward den Fall als Gelegenheit zu einer großen Bürgerrechtskampagne benutzen. Trotz einer umfangreichen Suchaktion mit Hilfe der marokkanischen Polizei hatte der MI 6 Price-Lascelles immer noch nicht gefunden. Da der Schuldirektor vor seiner Abfahrt aus Azemmour mehrere Kanister mit Diesel in seinen Jeep geladen hatte, lautete die neueste Theorie, dass er nicht nach Casablanca gefahren war, wie sein Dienstbote gesagt hatte, sondern ins Atlasgebirge. Damit habe sich das Suchgebiet auf 341
etwa zweitausendfünfhundert Quadratkilometer ausgedehnt, berichtete Judith Spratt düster. Liz schaute sich um. Die Polizisten und Scharfschützenteams bildeten eine Gruppe, die Armeeoffiziere eine andere, das SASTeam eine dritte. Bruno Mackay stand beim SAS-Team und lachte in diesem Moment laut über etwas, was Jamie Kersley gerade gesagt hatte. Liz hatte sich neben Wendy Clissold gesetzt, die während des Frühstücks die meiste Zeit am Telefon gekichert hatte. Am anderen Ende des Tisches saßen in taktvoller Entfernung ein halbes Dutzend unerträglich höfliche Hubschrauberpiloten des Army Air Corps. »Die meinen, dass sie heute die Ami-Basis angreifen«, sagte Clissold. »Ja, das meinen sie«, sagte Liz. »Ich meine das nicht«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihr. Liz sah sich um. Es war Don Whitten, und er hatte offensichtlich keine gute Nacht verbracht. Die Äderchen in seinen Augen waren rot und seine Tränensäcke rötlich-grau. Im Gegensatz dazu waren seine Schnurrbartspitzen noch gelber als sonst. »Erinnern Sie mich dran, dass ich nie zur Armee gehe, Clissold. Die Betten sind nicht gut. Fängt schon damit an, dass man nicht drin rauchen darf.« »Ist das nicht eine Verletzung Ihrer Bürgerrechte, Chef?« »Ja, sollte man annehmen, nicht?«, sagte Whitten trübe. Er wandte sich an Liz. »Wie war es bei Ihnen? Erträgliches Quartier?« »Ja, ganz anständig. Unsere Hütte war sehr komfortabel. Möchten Sie was frühstücken?« Whitten klopfte sich suchend auf die Jackentaschen und schaute zum Tresen. »Ich weiß nicht, ob dieses ganze Gebratene 342
für einen Fitnessfreak wie mich gut ist. Ich bleibe mal bei einer Tasse Tee und einer Zigarette.« »Tee ist umsonst, Chef.« »Stimmt, Clissold. Haben Sie heute schon was von Brian Mudie gehört?« »Wie meinen Sie das, Chef?« Er schaute sie müde an. »Wenn er Sie anruft, sagen Sie ihm, ich will so schnell wie möglich die Liste der gefundenen Gegenstände von der Spurensuche bei dem Bungalowfeuer. Alles, jeden Knopf, jede Rasierklinge, jeden Pizzakarton und jede Verpackung. Vor allem will ich alles über die Verpackungen wissen.« Clissold sah sich unbehaglich auf die Finger. »Ich hab zufällig gerade mit Sergeant Mudie geredet. Sie stellen die Liste noch zusammen …« »Weiter.« »Eins hat er aber gesagt …« »Und?« »Als Sie klein waren, Chef, gab es da schon Silly Putty? Dieses elastische Zeug, das man knetet und …« Whitten sackte auf seinem Stuhl zusammen. Unter dem Neonlicht war seine Haut so bleich wie die einer Leiche. »Und?«, wiederholte er. »Über ein Dutzend geschmolzene Packungen, Chef. Alle leer.« Sein Blick traf sich mit dem von Liz. »Wie viel wäre das?«, fragte er tonlos. »Kommt auf die Größe der Packungen an, aber genug, um den Bau hier hochzujagen.« Verständnislos schaute Wendy von einem zum anderen.
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»C4-Sprengstoff«, erklärte Liz. »Diese Knete ist einer der wichtigsten Bestandteile. Die aus dem Spielzeugladen ist am besten.« »Was ist das Ziel?«, fragte Whitten. »Marwell scheint im Moment allgemein der Favorit zu sein.« »Aber das glauben Sie nicht, oder?« »Ich habe auch keinen besseren Vorschlag«, sagte Liz, »und uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Whitten schüttelte den Kopf. »Der Verein da drüben« – er nickte in Richtung der Armeeoffiziere – »ist der Ansicht, Mansur und D’Aubigny werden einfach einem unserer Suchtrupps in die Arme laufen. Sie trauen ihnen kein bisschen Intelligenz zu.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht haben sie Recht. Vielleicht machen wir die Dinge zu kompliziert. Vielleicht wollen die beiden nur die größte Menschenansammlung finden und …« Er deutete mit den Händen eine Explosion an. Vom Tisch der Armeeoffiziere ertönte erneut lautes Lachen. »Ich habe Jim Dunstan gesagt, dass wir ohne Sie nicht hier wären«, sagte Whitten. Liz schüttelte den Kopf. »Wo sind wir denn? Wir sitzen hinter Stacheldraht und tun so, als wüssten wir, was Sache ist. Wir warten auf ein schießwütiges Pärchen, das überall in East Anglia sein könnte, und meinen, sie spazieren offen durch die Gegend.« Whitten sah sie schweigend an. Liz war wütend auf sich selbst und biss versuchsweise von ihrem Toast ab, hatte aber wohl jeden Geschmackssinn verloren. Mehr als alles andere wollte sie zu ihrem Wagen hinausgehen und wegfahren. Einen Strich unter den Fall ziehen und ihn Polizei und Armee überlassen. Sie hatte alles getan, was sie tun konnte. Doch sie wusste, dass das nicht ganz stimmte. Es gab immer noch einen dünnen, aber logischen Faden, dem man folgen 344
musste. Wenn D’Aubignys Eltern geglaubt hätten, ihre Tochter habe keine Verbindung zu East Anglia und sei nie dort gewesen, hätten sie es zweifellos gesagt. Julian Ledward konnte sich aufblasen, wie er wollte, aber das Schweigen der Eltern musste bedeuten, dass sie etwas wussten. Wenn das der Fall war, handelte es sich um eine Verbindung, die schon bestand, bevor sie von zu Hause wegging, da ihre Eltern wenig über ihr späteres Leben wussten. Womit Liz wider bei der Schule war. Los, Judith. Finde den Schlüssel. Öffne die Tür. »Es ist wie ein Stierkampf«, sagte Wendy Clissold. Liz und Whitten wandten sich zu ihr. »Ich war mal bei einem in Barcelona«, sagte sie zögernd. »Der Stier kommt rein und dann der Matador, und alle wissen, dass … Blut fließen wird. Man macht sich fein, parfümiert sich und kauft eine Karte, um jemanden sterben zu sehen. Dann geht man nach Hause.« Whitten klopfte eine Zigarette auf die Tischplatte. Seine Augen hatten die Farbe von altem Bienenwachs. »Da gibt es aber einen großen Unterschied. Beim Stierkampf weiß man ziemlich genau, wer sterben wird.«
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57 Von der Stelle, an der sich die Kleine Ouse und der MethwoldFen-Entwässerungskanal trafen, waren es etwa fünf Kilometer Luftlinie nach West Ford, auf dem Treidelpfad eher sieben. Es ging auch nicht überall gut voran. Man musste über umgefallene Pfosten steigen, oder der Pfad verwandelte sich für hunderte von Metern in zertretenes Marschland. Woanders hatten Farmer das Wegerecht gebrochen und Stacheldrahtzäune bis zum Wasser gezogen. All diese Hindernisse mussten überwunden oder umgangen werden, und um zehn Uhr vormittags schwitzte Jean bereits heftig, trotz der Kälte am Wasser und des böigen Winds. Sie sahen mehrere Hubschrauber, aber die waren weit weg und schwärmten hinter ihnen über den trüben Horizont im Osten. Keiner kam ihnen näher als neun Kilometer; über ihren Köpfen jagten nur dünne Wolken im Wind. Mit jedem Schritt vergrößerten sie und Faraj die Entfernung zum Zentrum der Suche in Marwell. Mehrmals begegneten sie Leuten auf dem Pfad. Es waren Spaziergänger in Jacken und Mänteln, zwei ältere Angler mit Thermosflaschen, die unter ihren Regenschirmen ausharrten, und eine füllige Frau in einer türkisfarbenen Windjacke, die einen älteren Labrador ausführte. Schließlich kam gegen Viertel vor elf der Dorfrand in Sicht. Das erste Dutzend Häuser waren Kästen mit roten Dächern und pseudoklassizistischen Details, die zu einer Wohnsiedlung des späten zwanzigsten Jahrhunderts gehörten. Hinter ihnen wurde der Fluss schmaler und verlief zwischen einem von alten Eiben begrenzten Friedhof im Norden und einem Wäldchen im Süden, durch das sich ein öffentlicher Fußweg zog. Jean und Faraj waren am Südufer der Kleinen Oase, und eine flache Steintreppe führte zu dem Weg hinauf. Jean erinnerte 346
sich, wie es im Sommer vor zehn Jahren hier ausgesehen hatte – durch die Bäume fallendes, grünes Licht und in Spiralen aufsteigender Haschrauch. Im Dezember wirkte er jedoch nur wenig magisch. Der Weg war matschig und mit Flaschen und Fastfoodverpackungen übersät, und die Bäume sahen nass und schwarz aus. Sie boten jedoch Deckung, und das war alles, was im Moment nötig war. Jenseits der nassen Bäume lag das Cricketfeld des Dorfes. Wenn man dem Weg durch das Wäldchen folgte, kam man an der Rückseite des Cricketpavillons heraus, einem bröckelnden Dreißiger-Jahre-Bau, der an ein Renaissanceschlösschen im Taschenformat erinnerte. Faraj und Jean hatten es bei ihrem Besuch vor drei Tagen ausgekundschaftet und entdeckt, dass es eine Hintertür gab, durch die man hineinkam. Das Schloss war billig und würde nicht viel Widerstand leisten. Tatsächlich ging es mit Hilfe von Jeans Scheckkarte der Banque Nationale de Paris rasch auf, und sie stolperten mit ihren Rucksäcken ins Halbdunkel und zogen die Tür hinter sich zu. Erschöpft von der Anspannung der letzten Stunden ließen sie sich auf eine Holzbank fallen, die entlang einer der Wände verlief. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass sie hier drin höchstwahrscheinlich sicher waren, solange sie sich völlig ruhig verhielten und kein Licht machten. Wenn es eine Gefahr gab, drohte sie von anderen Leuten, die hier hereinwollten, Teenagern vielleicht, die einen Platz zum Sex oder Drogenkonsum suchten. Abgesehen davon fiel ihnen kein Grund ein, warum jemand mitten im Winter in einen Cricketpavillon gehen sollte. Jean sah sich um. Sie standen in einem Umkleideraum, der von zwei kleinen, hoch liegenden Fenstern voller Spinnweben erhellt wurde. Über der Bank waren Kleiderhaken angebracht, an einigen hingen noch Crickethemden, und in der Ecke befand sich ein schweres Steingutwaschbecken. Neben dem Becken 347
führte eine Tür in einen Toilettenraum. Es roch nach Feuchtigkeit und Leinsamenöl. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Vorderteil des Pavillons. Er hatte einen Holzboden und nach vorne eine verschlossene Tür und zwei grüne Holzläden, durch die man das Spiel beobachten konnte. Wie im Hinterraum fiel das schwache Licht durch zwei hohe Fenster an den Seitenwänden. Sie sah aufgestapelte Liegestühle und Körbe mit Schlägern, Handschuhen und Schienbeinschützern. An der Längswand hingen zwei Schiedsrichtertrikots und verschiedene staubige Mannschaftsfotos. »Play up, play up and play the game!«, murmelte Faraj. »Was?« »Bloß ein Gedicht, das ich mal in der Schule gelernt habe.« Jean starrte ihn einen Augenblick verständnislos an. »Wir müssen einen Beobachtungsposten einrichten, vielleicht ein Loch in diese Läden machen oder so was.« Er schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Außerdem haben wir kein Werkzeug dafür.« Er kletterte auf die Liegestühle und spähte durch das kleine Seitenfenster. »Versuch’s mal hier.« Er stieg wieder herunter, und sie nahm seinen Platz ein. Durch die kaum dreißig Zentimeter hohe und breite Öffnung konnte sie den nordwestlichen Teil des Spielfelds überblicken. Hinter dem Holzzaun, der es begrenzte, lag einige hundert Meter entfernt die Straße, und auf ihrer anderen Seite waren The Terrace und der George and Dragon Pub. Faraj verschwand im hinteren Raum, kam mit dem Fernglas wieder und gab es ihr. Vor The Terrace 1 stand ein dunkelroter Jaguar. Im Erdgeschoss sah sie durch die großen Fenster eine große, unbewegliche Gestalt. War er das? Der Mann, dem auf der anderen Seite der Welt das Todesurteil gesprochen worden war. Der mit seiner Familie sterben sollte, wie so viele unschuldige Menschen in Irak, Afghanistan und anderen Länder 348
ohne Warnung gestorben waren, nebenbei und durch Fremde, als wären sie nicht mehr als ein paar Pixel in einem Computerspiel, und dann als »Kollateralschaden« abgetan. Sie schüttelte den Kopf. Diese Leute würden erfahren, was Schaden bedeutete, und den Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Entfernten kennen lernen. Der große Mann ging vom Fenster weg, und Jean wollte schon das Fernglas senken, als sie eine Gestalt auf der Straße bemerkte. Ein Mann in einem hellen Regenmantel war gerade aus einem schwarzen Auto gestiegen, um Arme und Beine auszustrecken. »Da sind Wachleute«, flüsterte sie eindringlich. »Ein Mann in einem Wagen … und noch einer.« Faraj nickte. »Das war zu erwarten. Wir müssen von hinten ran.« »Zwischen den beiden Häusern gibt es einen Weg. Wenn es dunkel ist, gehe ich da rein. Im Garten gibt es wahrscheinlich eine Alarmanlage oder Scheinwerfer, aber ich kann die Bombe wohl über die Mauer hinunterlassen. Sie wird neben der Seitentür losgehen.« »Diese alten Häuser sind solide gebaut, nicht?« »Ziemlich solide.« »Vielleicht töten wir sie nicht alle.« »Es ist die einzige Möglichkeit, Faraj.« »Ich werde darüber nachdenken. Zieh dich um, du musst uns was zu essen kaufen.« Sie nickte und ging in den hinteren Raum. Dort wusch sie sich die Hände mit einem Rest Seife, den sie in einer Untertasse beim Waschbecken fand, und trocknete sie an einem der Crickethemden ab, wobei sie darauf achtete, den Kopf unter der Höhe der Fenster zu halten. Dann nahm sie ihren kleinen Makeup-Vorrat aus dem Waschbeutel und vollzog das fast vergessene 349
Ritual. Eine dünne Schicht Grundierung, ein Hauch Lidschatten und etwas Lippenstift. Sie wollte aussehen, als sei sie in einem komfortablen Mittelschichtshaus aufgewacht und habe mit Müsli und Orangensaft gefrühstückt, nicht wie eine Terroristin, die ungewaschen und hungrig unter einer Brücke geschlafen hatte. Sie nahm ein paar zusammengerollte Sachen aus dem Rucksack, einen lila Kaschmirpullover, graue Militärhosen und eine taillierte Jeansjacke mit Steppfutter. Alles stammte aus einem Pariser Kaufhaus der mittleren Preisklasse. Wie sie gehofft hatte, passten die Wanderstiefel auf eine studentische Art halbwegs zu diesen Sachen. Das Ganze passte auch zum letzten Teil, einem kleinen, grauen Tagesrucksack mit Riemen. Als sie fertig war, betrachtete sie sich im Spiegel des Umkleideraums. Die Verwandlung war erstaunlich. Das Haar fiel ihr nicht mehr strähnig auf die Schultern, sondern umrahmte sanft ihr Gesicht. Und das Make-up machte natürlich einen Riesenunterschied. An dem unauffälligen und konventionell femininen Geschöpf im Spiegel war nichts im entferntesten Bedrohliches. Zögernd ging sie nach vorn und zeigte sich Faraj. Er nickte schweigend, aber in seinem Blick lag irgendein unerklärlicher Ausdruck. »Ich gehe jetzt einkaufen«, sagte sie und klopfte sich auf die Hosentasche, um sich zu vergewissern, dass das Portemonnaie da war. »Ich baue inzwischen den Zünder an die Bombe«, sagte er. »Lass dich nicht erwischen, wenn du rausgehst.« »Wenn ich sechsmal klopfe, lass mich rein. Bei jeder anderen Zahl bin ich es nicht, oder sie haben mich festgenommen.« »Verstehe. Jetzt geh.«
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58 Mit einem raschen Blick durch eines der hohen Fenster vergewisserte sich Jean, dass die Luft rein war, und verließ den Pavillon. Sie ging zurück in den Wald, nahm dann den Weg nach Nordosten und kam an der Straße neben dem Cricketfeld heraus. Die Geschäfte – eine Autowerkstatt, ein Zeitungsladen und ein kleiner Supermarkt mit Postamt – lagen am vorderen Ende von The Terrace, und als sie die Straße überquerte, sah sie einen blonden jungen Mann die Stufen von Nummer 1 herunterschlendern. Genau wie sie schien er zu den Läden zu wollen. Das muss der Sohn des Mannes sein, dachte sie mit düsterer Vorahnung. Sie zwang sich zur Ruhe. Auf lange Sicht würde das, was sie heute vorhatten, Leben retten. Der Westen würde künftig zögern, bevor er Bomben und Kugeln auf diejenigen herabregnen ließ, die er für gesichtslos und unwichtig hielt. Die dreifache Detonation, bei der die britische Familie sterben würde, würde der Schrei jener zahllosen anderen sein, die überall auf der Welt ohne Stimme gestorben waren. Der junge Mann musste sein Leben mit den anderen opfern. Beide erreichten den Supermarkt gleichzeitig, und als sie die Tür aufstieß, trat er höflich zur Seite. Während sie ihren Korb mit Brot, Mineralwasser, Obst, Käse, Schokolade und zur Tarnung auch ein paar Weihnachtskarten und einer Packung Lametta füllte, spürte sie den Blick des jungen Mannes. Sie schaute verstohlen zwischen den Regalreihen hindurch und sah seine hoch gewachsene Gestalt in Jeans, T-Shirt und einer Motorradjacke. Er war unrasiert, und sein Haar stand auf einer Seite hoch, als habe er darauf geschlafen. Er bemerkte ihren Blick, grinste freundlich zurück, und sie schaute weg. Sie war bereit, ihn zu töten, aber sie konnte ihn nicht anlächeln. Und 351
warum – warum? – meinte sie, ihn schon einmal gesehen zu haben? Neben dem Tresen entdeckte sie mit einem Schock, der ihr Herz stillstehen ließ, ihr Foto auf der Titelseite des Daily Telegraph. Es war ein besonders unsympathisches Bild, das ihre Mutter vor drei oder vier Jahren zu Weihnachten gemacht hatte. FRAU (23) GESUCHT … Sie nahm ein Exemplar, zwang sich, nicht weiterzulesen, und faltete es zusammen, damit die Bilder innen lagen. »Wenigstens hat der Regen aufgehört!« Es war der junge Mann – eigentlich ein Junge, er konnte nicht älter als achtzehn sein –, der vor ihr in der Schlange stand. »Stimmt«, sagte sie ausdruckslos. »Aber für wie lange?« Wie beabsichtigt gab es auf diese Frage keine Antwort, deshalb sagte er nichts, sondern trat nur gut gelaunt von einem Bein aufs andere. Als das Mädchen an der Kasse seine Cornflakes und seinen Sechserpack Newcastle Brown Ale eingescannt hatte, bat er sie, alles auf die Rechnung zu setzen. »Auf welche?« »Die von Mrs Delves. Ich bin ihr Sohn.« Das Mädchen lehnte sich entspannt auf seinem Stuhl zurück. »Dann ist Jessica ja Ihre kleine Schwester. Gestern hat sie mich angelächelt. Die ist ja so süß!« »Jedenfalls hat sie eine starke Lunge.« »Geben Sie ihr einen dicken Schmatz von mir.« »Okay … und von wem soll ich ihr den geben?« Die junge Frau spreizte die Finger und senkte den Blick. Sie trug einen Verlobungsring mit einem blassblauen Stein. »Beverley«, sagte sie. »Okay, mach ich. Tschüss.« Er hatte den Ring gesehen und sie verstanden. Die unterschwellige, aber unüberhörbare Enttäuschung in seiner 352
Stimme hatte Jean jedoch auf eine Idee gebracht. Es würde nicht einfach sein, doch sie wusste, was sie tun musste. Während das Mädchen ihre Sachen einscannte und in eine Tüte packte, berührte sie den Arm des Jungen, als er gehen wollte. Überrascht schaute er sich zu ihr um. »Kann ich dich draußen was fragen?«, flüsterte sie. »Klar«, murmelte er. Jean drehte sich um und zog zwei Zehn-Pfund-Scheine aus dem Portemonnaie. Beverley war zu beschäftigt gewesen, um etwas zu merken. Draußen setzte Jean ihr freundlichstes Gesicht auf. Es war nicht leicht. Das Lächeln tat fast weh. »Tut mir Leid, dass ich dich so … angegrabscht habe, aber ich wollte dich fragen, ob du in der Gegend irgendwelche guten Pubs kennst? Ich bin hier zu Besuch«, sie nickte vage nach Westen, »und kenne mich nicht aus, deshalb …« Er kratzte sich gut gelaunt am Kopf und zerzauste das strohblonde Haar noch mehr. »Ja … da ist der George«, er deutete mit dem Daumen nach links, »aber der ist ein bisschen altmodisch, mehr was für die reifere Jugend. Ich gehe meistens in den Green Man, der ist anderthalb Kilometer die Downham Road runter.« »Ist der gut?« »Jedenfalls der beste in der Gegend, würde ich sagen.« »Gut«, sagte Jean und beantwortete seinen unruhigen, verlegenen Blick mit einem warmen Lächeln. »Kannst du mir beschreiben, wie ich zu Fuß dahin komme? Ich weiß nämlich nicht genau, ob ich den Wagen von meinen Eltern kriege.« Sie war über sich selbst erstaunt. Sie hatte gemeint, es werde fast unmöglich sein, so spontan zu lügen, aber es war einfach. Genauso einfach, wie das Töten gewesen war. »Da musst du erst über das Cricketfeld und dann …« 353
Er schaute zu Boden und atmete tief ein, bevor er ihr wieder in die fragenden Augen schaute. »Ich … ich könnte dich mitnehmen, wenn du willst. Ich wollte da heute Abend auch hin, also wenn …« Er zuckte die Achseln. Sie berührte seinen Unterarm. »Das wäre ja toll. Um wie viel Uhr?« »Oh … so gegen acht?« Er schaute sie ungläubig an. »Sagen wir halb neun? Hier? Wie wäre das?« »Das wäre toll!« Sie drückte seinen Arm. »Dann bleibt’s dabei. Also hier um halb neun.« »Okay. Prima. Wo wohnst du noch mal?« Aber sie ging schon davon.
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59 Auf dem Asphalt vor dem Hangar spielte das SAS-Team gegen die Scharfschützen Fußball und lag im Rückstand. Zweifellos hatten die Spieler mehr Spaß als ihre unmittelbaren Vorgesetzten, die drinnen saßen und auf Neuigkeiten warteten. Ab und zu klingelten Telefone und wurden eilig abgenommen, aber zuletzt war nichts Wichtiges gekommen. Hubschrauber, Grenzschutz und Armee suchten weiter. Das Gebiet war dünn besiedelt, und die Einwohner waren von diesen Aktivitäten und der großen Zahl der eingesetzten Kräfte in Tarnanzügen etwas verwundert. Im Lauf des Vormittags hatte man überall Flugblätter verteilt, und nun wusste jeder, dass eine Engländerin und ein Mann aus Asien wegen Mordes an Ray Gunter und Elsie Hogan gesucht wurden. Als ihr Telefon diesmal klingelte, nahm Liz in Ruhe ab. Den ganzen Vormittag über waren negative Meldungen aus allen Sektoren gekommen, sie fühlte sich zunehmend nutzlos, und nur die schreckliche Faszination des Endspiels hinderte sie daran, einfach nach London zurückzufahren. Wetherby hätte ihr unter diesen Umständen sicher dazu geraten; es war weder zum Vorteil des MI 5 noch von irgendjemand anderem, wenn sie blieb. Aber sie hatte Wetherby nicht um Rat gefragt, und bis alle Informationen über Garth House eingetroffen waren, würde Liz dableiben. Um halb vier sprach einer der Offiziere den Gedanken aus, den niemand von ihnen in Worte zu fassen wagte: Vielleicht bewachten sie das falsche Ziel. Hatte man sie getäuscht? Waren sie durch eine falsche Argumentationskette auf die falsche 355
Einrichtung gekommen? Könnten Lakenheath oder Mildenhall das tatsächliche Ziel sein? Die Frage stieß auf Schweigen, und alle wandten sich zu Jim Dunstan, der etwa fünfzehn Sekunden ausdruckslos vor sich hinstarrte. »Wir machen weiter wie bisher«, sagte er schließlich. »Mr Mackay versichert mir, dass der islamische Respekt vor Jahrestagen absolut ist, und uns bleiben noch mehrere Stunden bis Mitternacht. Ich vermute, dass Mansur und D’Aubigny irgendwo warten, um den Ring im Schutz der Dunkelheit zu durchbrechen, und in einer Stunde ist es dunkel. Wir machen weiter.« Kurz nach vier Uhr begann es in Strömen zu regnen. Der Regen prasselte grau auf das Hangardach und verwischte die Umrisse der wartenden Gazelle-Hubschrauber. Die Luft roch gefährlich elektrisch, und die Piloten warfen einander bei dem Gedanken an ihre Kollegen im Einsatz besorgte Blicke zu. »Das hat uns noch gefehlt«, sagte Don Whitten und stopfte die Hände frustriert in die Jackentaschen. »Es heißt, der Regen wäre der Freund des Polizisten, aber momentan ist er unser schlimmster Feind.« Liz wollte gerade antworten, als ihr Handy piepte. Die SMS kündigte eine E-Mail vom Ermittlungsteam an. Price-Lascelles noch nicht in Marokko kontaktiert, aber Maureen Cahill, früher Hausmutter in Garth House, identifiziert und kontaktiert. MC sagt, D’Aubignys beste Freundin war Megan Davies, mit sechzehn wegen wiederholten Drogenkonsums von der Schule verwiesen. MC behandelte D’Aubigny und MD in der Krankenstation nach Überdosis Psilocybin (Pilzgift). Laut Schulakten wohnten die Eltern John und Dwan Davies bei Gedney Hill, Lincolnshire, aber seitdem haben die Bewohner mehrfach gewechselt, jetziger Wohnort unbekannt. Verfolgen wir die Spur weiter? 356
Liz starrte einen Moment auf den Monitor, dann druckte sie die Nachricht aus. Die letzten Sätze deuteten an, dass sie sich an einen Strohhalm klammerte, aber es war die einzige Spur, die sie hatte. Wenn es eine Chance gab, wie gering sie auch sein mochte, Menschenleben zu retten, indem sie eine Untersuchung über den jetzigen Wohnort der Familie Davies anordnete, musste sie diese Chance ergreifen. Dass diese Untersuchung personalintensiv sein würde, wussten alle. Davies war ein sehr verbreiteter Name. Ja, mach weiter, tippte Liz ein. Benutze alle. Finde sie. Sie schaute nach draußen. Der Regen prasselte gnadenlos nieder, und es wurde dunkel.
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60 »Noch mal«, sagte Faraj. »Wenn wir beim Pub sind, sage ich, ich möchte meine Jacke im Wagen lassen. Falls es da eine Taschenkontrolle gibt, lege ich den Rucksack unter die Jacke. Ich bringe ihn dazu, so lange wie möglich im Pub zu bleiben, am besten bis sie schließen, und mich dann zum Haus mitzunehmen. Wenn wir den Pub verlassen, stelle ich den Zeitzünder auf eine Stunde, dazu drehe ich den roten Knopf ganz nach rechts. Im Auto lasse ich ein paar Münzen fallen und krieche zum Rücksitz, um sie aufzusammeln, dabei stopfe ich den Rucksack unter den Beifahrersitz. Wenn wir wieder im Haus sind, bleibe ich höchstens zehn Minuten, verabrede mich vielleicht mit ihm für morgen und haue dann ab. Ich gehe auf der Straße zurück zum Cricketfeld und klopfe sechsmal an die Tür des Pavillons. Danach haben wir etwa fünfunddreißig Minuten, um wegzukommen.« »Gut. Denk dran, dass er den Wagen nicht mehr benutzen darf, nachdem ihr da seid. Deshalb solltet ihr so spät wie möglich zurückfahren. Wenn die Möglichkeit besteht, dass er oder jemand anders von der Familie den Wagen noch mal nimmt, musst du das verhindern. Klau die Zündschlüssel oder leg das Auto lahm. Falls das nicht geht, bring den Rucksack ins Haus und versteck die Bombe da.« »Verstanden.« »Gut. Nimm jetzt den Rucksack.« Sie hatten alles präpariert, solange es noch hell genug war. Er hatte die C4-Ladung angeschlossen, wofür er bloß einen kleinen Schraubenzieher und Klemmen brauchte; zusammen mit der Digitaluhr und dem elektronischen Zünder steckte sie nun in einer Aluminiumdose. Am einen Ende der Schachtel war der 358
rote Knopf für die Zeiteinstellung, auf der anderen eine dicke, drei Zentimeter lange Antenne. Wenn nötig ließ sich die Bombe statt mit dem Zeitzünder auch über Funk zünden, und der Sender – nicht größer als eine Streichholzschachtel – steckte in der inneren Brusttasche von Farajs Jacke. Die maximale Entfernung für die Fernzündung waren allerdings vierhundert Meter, und es war klar, dass sehr viel schief gegangen war, wenn einer von ihnen bei der Explosion der Bombe noch so nah war. Jean rollte die Dose in die schlammbespritzten Jeans, die sie morgens ausgezogen hatte, und legte sie nach unten in den Rucksack. Sie waren zu dem Schluss gekommen, es sei sinnlos, die Bombe zu tarnen. Sie war leicht, wog kaum ein Kilo, aber der Sprengstoff nahm zu viel Platz ein, um in eine Kamera, ein Radio oder etwas anderes zu passen, das sie ohne Aufsehen tragen könnte. Außerdem war nicht anzunehmen, dass sie durchsucht würde. Sie legte ein schmutziges T-Shirt und ihren Make-up-Beutel auf die Jeans und zog den Reißverschluss zu, dann faltete sie ihre Regenjacke zusammen und schob sie durch den Träger, sodass sie davor hing. Er blinzelte, um sie in der Dunkelheit zu erkennen. »Bist du bereit, es zu tun, Asimat?« »Ich bin bereit«, sagte sie ruhig. Er nahm ihre Hand. »Es wird uns gelingen, und wir werden entkommen. In der Stunde der Rache werden wir viele Kilometer entfernt sein.« Sie lächelte. Eine unmögliche Ruhe schien über sie gekommen zu sein. »Ich weiß«, sagte sie. »Und ich weiß, dass deine Aufgabe nicht leicht ist. Mit diesem jungen Mann zu reden, wird sehr schwierig sein. Du musst stark sein.« »Ich bin stark, Faraj.«
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Er nickte und hielt ihre Hand in der Dunkelheit fest. Draußen schlug der Wind gegen den Pavillon und die dunklen, nassen Bäume. »Es ist Zeit«, sagte er.
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61 Denzil Parrish hatte nicht vor, dem Klischee des ungepflegten Studenten der Naturwissenschaften zu entsprechen, und sich sorgfältig vorbereitet. Nach einer halben Stunde Baden, Haare waschen und Rasieren zog er sich komplett frisch an. Begegnungen wie die von heute Vormittag waren Gelegenheiten, die nie wiederkehrten, und er war entschlossen, sie nicht zu vergeuden. Die Frau schien aus dem Weltraum zu kommen – cool, schick und selbstsicher. Er wusste nicht, wie sie hieß oder wo sie wohnte … Er wusste überhaupt nichts von ihr. War sie attraktiv? Ja, sie besaß eine Selbstbeherrschung, die eindeutig attraktiv war. Ihr Gesicht gehörte nicht zu denen, an die man sich sofort erinnerte. Weit auseinander liegende Augen, markante Wangenknochen und ein etwas schiefer Mund. Eine seltsame Dringlichkeit ging von ihr aus, als seien ihre Gedanken woanders. »Du siehst ja auf einmal so schick aus«, sagte sein Stiefvater, der gerade mit einem Bier aus der Küche ins Wohnzimmer kam. Aus Sicherheitsgründen war Colin Delves auf dem Weg von und nach Marwell nicht in Uniform und trug jetzt Jeans, Halbschuhe und die braune Lederjacke, die er gewöhnlich während der Fahrt anhatte. Trotz seiner legeren Kleidung umgab ihn aber eine spürbare Spannung. »Und du siehst ein bisschen kaputt aus«, erwiderte Denzil. »Lassen dich die Yankees zu hart schuften?« »War ein langer Tag«, sagte Delves und setzte sich in einen Sessel gegenüber des Fernsehers. »Es gab wieder mal eine Terrorwarnung. Diesmal glauben sie, Terroristen hätten die Basis im Visier, weil die Staffel in Afghanistan eingesetzt war. Also haben Clyde Greeley und ich entschieden, alle Leute, die 361
außerhalb wohnen, nach Hause zu schicken, mich eingeschlossen, und die Wachleute alles dichtmachen zu lassen.« »Ist diese Info für mich bestimmt?«, fragte Denzil. Sein Stiefvater zuckte die Achseln. »Es lässt sich wohl kaum ganz unter der Decke halten, weil sie Straßensperren um die Basis errichtet und drei Bataillone Soldaten hierher gebracht haben.« »Was wird mit ihnen passieren? Den Terroristen, meine ich.« »Sagen wir mal so, sie werden nicht in die Nähe der Basis kommen. Was hast du heute Abend vor?« »Den Pub«, sagte Denzil und setzte sich auf das chintzbezogene Sofa. »Ich gehe in den Green Man.« »Okay. Zieh bitte mal die Gardinen zu.« Die Gardinen aus abgenutztem gelben Damast hingen vor den großen Fenstern der Vorderseite. Denzil schaute einen Moment auf das große, dunkle Cricketfeld hinaus, wo sich der Pavillon vor den Bäumen und den verstreuten, vom Regen verwischten Lichtern der Häuser dahinter abhob. Es ist ein gutes Haus, dachte er, nur liegt es leider in der ödesten Gegend Englands. Draußen saßen wohl irgendwo die Sicherheitsleute im Auto und passten auf. Colin Delves’ Eltern kamen mit den erwartungsvollen Gesichtern von Leuten herein, die sich auf einen oder mehrere Drinks freuen. Angespornt durch das geheime Wissen der kommenden Ereignisse des Abends und aus Mitgefühl mit der Erschöpfung seines Stiefvaters übernahm Denzil die Bewirtung und schenkte ihnen reichlich ein. »Lieber Gott!«, sagte Charlotte Delves kurz darauf und fasste sich überrascht an die Perlenkette, »da ist ja genug Gin drin, um ein Pferd zu betäuben.« »Zum Wohl. Entspannt euch«, sagte Denzil.
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»Trinkst du nichts?« Royston Delves, der sein Geld im Rohstoffhandel gemacht hatte, war eine rosigere, fülligere Version seines Sohns. »Ich fahre noch«, sagte Denzil artig. »Ja, direkt zum Pub«, bemerkte Colin. Sie lachten immer noch, als Denzils Mutter mit Jessica hereinkam. Das Baby war gebadet, gepudert, steckte in einem sauberen weißen Strampelanzug und hatte sein Fläschchen bekommen. Jetzt war es müde und ließ sich vor dem Schlafengehen präsentieren. Das war der Moment, auf den Denzil gewartet hatte. Zwischen all dem Gurren und Schnalzen stahl er sich davon. Die Frau wartete vor dem Supermarkt, wie sie gesagt hatte. Zuerst sah Denzil sie nicht, aber dann kam sie rasch auf den Honda zu und stieg ein. »Ist leider keine tolle Karre«, sagte er, während sie sich anschnallte. »Stell dir vor, es wär ein Porsche.« »Ich glaube, ich mach mir nichts aus Porsches«, gab sie zurück. »Die sind ein bisschen protzig, nicht?« Er wandte sich zu ihr um. Sie trug dieselben Sachen wie am Vormittag und darüber eine dunkelgrüne Regenjacke. »Schön, dass du es so siehst.« Er grinste. »Wie war dein Tag?« »Ziemlich ruhig. Und deiner? Ich heiße übrigens Lucy.« »Ich bin Denzil. Was machst du denn so, Lucy?« »Leider was ziemlich Langweiliges. Ich arbeite für eine Firma, die Wirtschaftsberichte erstellt.« »Das … das klingt ja wirklich langweilig.« »Aber ich habe Träume«, sagte sie. »Was für Träume?« »Ich möchte reisen. Nach Asien, in den Fernen Osten … wo es heiß ist.« 363
»In Downham Market gibt es eine Sauna, aber viel heißer wird’s hier nicht.« Sie lächelte und blickte geradeaus. »Na ja, viel weiter komme ich vielleicht diese Weihnachten nicht. Und was machst du?« »Ich studiere Geologie in Newcastle.« »Ist das interessant?« »So weit würde ich nicht gehen, aber man kommt an ein paar interessante Orte. Nächstes Jahr gibt es eine GrönlandExkursion.« »Cool.« »Ja – sogar eiskalt. Aber ich mag die Kälte. So wie du die Hitze magst.« »Schade.« »Vielleicht können wir uns in der Mitte treffen. In einer gemäßigten Zone, dem Pub zum Beispiel.« Denzil fuhr auf den Parkplatz. »Da wären wir. Der Green Man. L’homme vert. El hombre …« »Sieht nett aus«, murmelte sie. »Kann ich meine Jacke und den Rucksack im Kofferraum lassen?«
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62 »Jawohl, Herr Minister«, sagte Dunstan. »Ich bin fest davon überzeugt, dass sie heute Nacht um jeden Preis zuschlagen werden. Wir glauben jetzt, es geht nicht um Dschihad, sondern um Familienehre. In diesem Kontext macht das keinen Unterschied … Nein. Ich danke Ihnen, Herr Minister. Auf Wiederhören.« Er legte auf. »Das Innenministerium«, erklärte er dem Dutzend Menschen, die ihm zusahen und zuhörten. »Diese beiden verdammten Typen sollen endlich irgendwas hochjagen, oder …« Ein Dutzend Augenpaare starrten ihn an. Der SAS-Hauptmann prustete los. Das Klingeln von Mackays Telefon beendete den peinlichen Moment. Der MI 6-Mann hob hastig ab. »Hallo? Vince? Wo bist du, Kumpel? Gut. Und du hast … Super! Gut gemacht. Bleib dran, ich …« Er hielt die Hand aufs Mundstück und winkte Liz zu sich. »Price-Lascelles, der Schuldirektor aus Wales. Unser Mann hat ihn gefunden. Die Verbindung ist schlecht.« Liz’ Augen weiteten sich. »Okay, ich komme rüber.« Sie ging zu seinem Tisch. Die Stimme des Schuldirektors war sehr leise und klang, als spräche er durch mehrere Bettdecken. »Guten … wollen … mit mir sprechen.« »Ich muss etwas über eine frühere Schülerin von Ihnen wissen. Jean D’Aubigny … Ja, Jean D’Aubigny!« »… mich gut an sie erinnern. Was wollen …?« »Hatte sie enge Freunde, die sie vielleicht in den Ferien besuchte oder mit denen sie in Verbindung blieb?« »Im Winter blieb?« 365
»WER WAREN JEAN D’AUBIGNYS BESTE FREUNDE?« »… schwieriges Mädchen, sehr scheu. Ihre beste Freundin war ein etwas … namens Megan Davies. Ihre Eltern … in Lincoln, glaube ich. Ihr Vater war bei der Luftwaffe.« »Sind Sie sicher?« »… mir jedenfalls gesagt. Nette Leute. John und Dawn, glaube ich … oft umgezogen, deshalb war Megan sehr unruhig. Schließlich mussten wir … Schule verweisen …. Drogen mitgebracht.« »Hat Jean D’Aubigny mal die Familie besucht?« »… ich weiß nicht. Vielleicht nachdem Megan die Schule verließ.« »Wohin ist Megans Familie von Gedney Hill aus gezogen?« »Kann ich Ihnen nicht sagen. Solange Megan bei uns war … noch da.« »Wissen Sie, auf welche Schule Megan danach ging? Auf welche Schule? Mr Price-Lascelles? Hallo?« Aber die Verbindung war unterbrochen. Alle im Raum starrten sie an. Mackay und Dunstan lächelten besonders nachsichtig. War sie völlig auf dem Holzweg? War das bloß eine Macke? Sie legte den Hörer auf, sah keinem der Anwesenden in die Augen und ging zu ihrem Tisch zurück. Sie öffnete die Kontaktdatei auf ihrem Laptop und rief das Verteidigungsministerium an. Eilig gab sie dem wachhabenden Beamten ihren Identifikationscode und ließ sich zum Archiv durchstellen. »Ich mache hier gerade Schluss«, sagte ein freundlicher junger Mann. »Sie müssen sich beeilen.« »Es dauert so lange, wie es dauert«, erwiderte Liz ruhig. »Hier geht es um die nationale Sicherheit, und wenn Sie sich nicht in einer Woche einen neuen Job suchen wollen, schlage ich vor, Sie bleiben da, bis wir fertig sind, ist das klar?« 366
»Selbstverständlich«, sagte der junge Mann verdrossen. »Personalakten der Royal Airforce«, sagte Liz. »John Davies, D-A-V-I-E-S, höherer Offizier, wahrscheinlich in der Verwaltung, Vorname der Ehefrau Dawn, Tochter Megan.« »Moment, ich …« Man hörte eine Tastatur klappern. »John Davies, sagen Sie … Ja, da ist er. Verheiratet mit Dawn, geborener Letherby. Er ist jetzt beim Stab.« »War er mal in Lincolnshire stationiert?« »Ja. Er war zweieinhalb Jahre Kommandeur von Gedney Hill.« »Gibt es den Stützpunkt noch? Ich hab nie davon gehört?« »Der wurde bei den Streichungen vor zehn Jahren verkauft. Dort wurde ausgebildet, und ich glaube die Einsatzkommandos haben da auch Hubschraubertraining gemacht.« »Wo war Davies danach?« »Sechs Monate auf Zypern, dann wurde er Kommandeur von Marwell in East Anglia. Das ist eine der amerikanischen …« Liz spürte, wie sie den Hörer umklammerte, und zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ich weiß, wo das ist. Wo hat er damals mit seiner Familie gewohnt?« »In einem Ort namens West Ford. Wollen Sie die Adresse?« »Gleich. Erst möchte ich, dass Sie Delves raussuchen, Colin Delves, D-E-L-V-E-S, der im Moment Kommandeur von Marwell ist. Hat er die gleiche Adresse?« Erneut hörte sie gedämpftes Tastenklappern, dann kurzes Schweigen. »Gleiche Adresse. West Ford, The Terrace 1.« »Danke.« Sie legte auf und sah sich um. »Wir bewachen das falsche Ziel«, sagte sie. Das eisige Schweigen war durch und durch feindlich. 367
»Es ist Jean D’Aubignys Mitgift, wegen der sie so schnell eingesetzt wurde. Sie hatte eine wichtige Information für die Terroristen – die Adresse des Kommandeurs von Marwell. Sie war da bei einer Schulfreundin zu Besuch. Wahrscheinlich kennt sie es wie ihre Westentasche. Sie wollen die Familie von Colin Delves umbringen.« Jim Dunstans Augenlider zuckten. Er wurde aschfahl. Ausdruckslos schaute er von Mackay zu Don Whitten. Der SAS-Hauptmann bewegte sich als Erster und tippte eine interne Nummer. »Einsatzteams sofort bereitmachen. Ich wiederhole – Einsatzteams bereitmachen.« »West Ford«, sagte Liz. »Das Dorf heißt West Ford.« Ein Dutzend erhobener Stimmen ertönten. Sie liefen hinaus, Rotoren sprangen an, und dann wurde der beleuchtete Hangar unter ihnen immer kleiner.
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63 Der Green Man war groß und nicht besonders schick. Eine beeindruckende Zahl von Zapfhähnen zierte den langen Eichentresen. Es gab keine Jukebox oder Spielautomaten, aber die Kundschaft war jung und guter Laune, und es war laut. Über den Köpfen hing eine Wolke aus Zigarettenrauch. Nach kurzer Suche fanden Jean und Denzil einen Tisch an der Wand, und Denzil ging die erste Runde holen. Während er am Tresen wartete, sah Jean ihn unauffällig sein Geld zählen. Er kam mit zwei Pint Suffolk-Bitter zurück. Als Muslimin hatte Jean seit Jahren keinen Alkohol mehr getrunken, aber Faraj hatte gesagt, sie solle wenigstens eines mittrinken, um guten Willen zu zeigen. Das Bier schmeckte leicht säuerlich, aber nicht unangenehm. Sie konnte damit wenigstens ihre Hände beschäftigen und außerdem darauf schauen, während sie redeten. Zu Beginn des Abends hatte sie den Fehler gemacht, Denzil in die Augen zu sehen, und sein offener, interessierter Blick war fast unerträglich gewesen. Mit ihm zu reden, war schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. Er war verlegen und schüchtern, aber auch sensibel, bescheiden und freundlich. Er war fast schmerzhaft darum bemüht, dass sie einen netten Abend mit ihm verbrachte, und sie spürte, wie er nach Gesprächsthemen suchte, die sie interessieren könnten. Sieh ihn nicht an, sieh durch ihn hindurch, sagte sie sich, aber es half nichts. Sie saß mit einem jungen Mann zusammen, den sie überraschenderweise sehr mochte. Und sie plante, ihn zu töten. Als sie dran war, Getränke zu holen, kam sie mit einem Pint in jeder Hand wieder und gab ihm beide. Ihr erstes Glas war noch halb voll. 369
»Das spart Zeit«, sagte sie. »Es ist ziemlich voll.« »Wenn die Amerikaner kommen, wird es erst richtig voll«, sagt er. »Außerdem wird’s dann für uns Jungs von hier viel schwieriger mit den Mädchen.« »Warum sind die Amerikaner denn heute nicht da?« »Die müssen wahrscheinlich auf der Basis bleiben. Anscheinend gibt es eine Terrorwarnung. Oben in Brancaster hat’s zwei Morde gegeben, und sie glauben, es könnte was mit Marwell zu tun haben.« »Was ist Marwell?« »Eine der Luftwaffenbasen, die von den Amerikanern genutzt werden, so wie Lakenheath … Mildenhall …« »Aber was hat das mit Brancaster zu tun? Ich dachte, da fährt man zum Segeln hin.« »Ehrlich gesagt, hab ich das Ganze nicht so genau verfolgt. Mein Stiefvater hat’s mir erzählt. Er ist …« Sie wartete. Denzil blickte verlegen auf sein Bierglas. »Er … äh … weiß hier besser Bescheid als ich. Es heißt, die Leute, die die Morde an der Küste begangen haben, könnten irgendeinen Angriff auf Marwell starten.« »Warum?« »Ich hab die Sache wirklich nicht verfolgt. Ich war die letzten Tage meistens weg.« »Ist das hier in der Nähe?« »Marwell? Vielleicht achtzehn Kilometer.« Er hob sein Glas, als wolle er prüfen, ob seine Hand noch ruhig sei. »Wo drei Bataillone Soldaten dazwischen sind, brauchen wir uns keine …« Sie wandte sich zu ihm. Allmählich spürte sie die Wirkung des Alkohols. »Und wenn nicht? Angenommen, heute Nacht wäre 370
alles zu Ende? Hättest du das Gefühl, du hättest … genug gelebt?« »Wow! Das ist ja eine Frage …« »Hättest du dieses Gefühl? Wärst du bereit, zu gehen?« Er kniff die Augen zusammen und lächelte. »Meinst du das im Ernst?« Sie zuckte die Achseln. »Ja.« »Na gut. Wenn ich wirklich sterben müsste, wäre es jetzt wahrscheinlich kein schlechter Zeitpunkt. Meine Mutter hat vor ein paar Jahren wieder geheiratet und ist zum ersten Mal glücklich, seit ich mich erinnern kann, und ich habe eine kleine Schwester – siebzehn Jahre jünger als ich, kannst du dir das vorstellen, siebzehn Jahre jünger –, die mich noch nicht kennen gelernt hat, also würde mein Tod ihr nicht wehtun, aber meine Mutter hätte immer noch sie. Ich hab beruflich noch nichts mit meinem Leben gemacht, also wäre noch nichts verschwendet, sozusagen … Ja, wenn ich gehen müsste, wäre es jetzt so gut wie irgendwann sonst.« »Was ist mit deinem Vater? Deinem richtigen Vater?« »Er hat uns verlassen, als ich klein war, also kann er uns nicht wirklich geliebt haben …« Er rieb sich die Augen. »Lucy, ich mag dich wirklich, aber warum müssen wir über so was reden?« Sie schüttelte den Kopf, ihr Blick ging ins Leere. Dann trank sie ihr Glas aus und schob es zu ihm hinüber. »Könntest du …?« »Ja, klar.« In ihrem Kopf war ein entfernter Donner, als halte sie das Ohr an eine riesige Muschel. Gestern Vormittag hatte sie einen jungen Mann im selben Alter mit einer schallgedämpften russischen Pistole getötet. Sie hatte ihn angelächelt und abgedrückt, den gedämpften Rückstoß gespürt und gesehen, wie der Inhalt seines Kopfes in die Ecke des Kofferraums spritzte. 371
Jetzt war sie wiedergeboren, ein Kind des Himmels, und endlich verstand sie, was der Ausbilder in Takht-i-Suleiman immer so lustig gefunden hatte – so lustig, dass er sich regelmäßig vor Lachen ausschüttete. Sie war als Tote wiedergeboren worden. Wie versprochen hatte der Augenblick alles verändert. Ein Schalter in ihrem Inneren war umgelegt worden und hatte alles lahmgelegt. Sie hatte befürchtet, zu viel zu fühlen, aber es war viel schlimmer. Sie fühlte überhaupt nichts. Zum Beispiel gestern Nacht. Sie und Faraj waren wie wiederbelebte Leichen gewesen. Sie zuckten in den Armen des anderen wie elektrisch geladene Frösche bei einem Schulexperiment. Und Jessica. Sie hatte noch nicht über das Baby nachgedacht. Sie hob den Unterarm und biss so fest sie konnte zu. Als sie den Mund öffnete und den Arm ansah, waren zwei blutende rote Halbmonde auf ihrer Haut. Der Schmerz war unwichtig, es kam nicht darauf an. Einen Augenblick lag, nur für den Bruchteil einer Sekunde, spürte sie die dunkle Anwesenheit ihrer Verfolgerin. »Noch ein Pint für Mademoiselle Lucy. Du bist doch nicht verheiratet, oder?« »Nein, absolut nicht.« Sie trank. »Dann erzähl mir mal, Lucy, was du hier so in der Gegend machst und warum du mit Fremden in den Pub gehst?« Die Vertrautheit hatte ihn ruhiger werden lassen und ermutigt. Ihr Kopf sank langsam nach vorn, bis ihre Stirn das Glas berührte. »Eine gute Frage, aber sehr schwer zu beantworten«, sagte sie. Er beugte sich vor. »Versuch’s mal.« Sie schwieg und nahm einen großen Schluck Bier, dann noch einen.
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»Dann eben nicht«, murmelte er, richtete sich auf und schaute weg. Der Alkohol rauschte durch ihren Körper. Damals mit Megan hatte sie nie viel gebraucht. Ein paar Gläser, und sie war hin. »Wenn ich dir sagen würde, dass dieses Gespräch das wichtigste in deinem Leben wäre …« »Ich …« Er zuckte die Achseln. »Kann schon sein.« In seinen Augen sah sie die Erkenntnis dämmern, dass der Abend nicht magisch enden würde und dass auch sie zu den exzentrischen, schwierigen Frauen gehörte, die nicht für ihn bestimmt waren. Sie nahm seine Hand, die groß, warm und feucht vom Bierglas war. Sie hielt sie an den Fingern fest, untersuchte seine Handfläche, und in diesem Moment wurde etwas – eigentlich alles – so völlig offensichtlich. Sie lachte laut auf. »Guck mal, eine lange Lebenslinie!« »In unserer Familie werden alle alt«, sagte er vorsichtig. Sie lächelte ihn an, ließ seine Hand los und trank ihr Bier aus. »Gib mir mal die Autoschlüssel, ich muss was holen.« Draußen nahm sie den Rucksack aus dem Auto, streifte die Jacke darüber und zog den Reißverschluss zu. Als sie zurück in dem Pub kam, blickte Denzil sie resigniert an. »Du wirst jetzt verschwinden, nicht? Und ich werde nie irgendwas über dich erfahren.« »Abwarten«, sagte sie, berührte einen Moment lang seine Wange und ging hinaus. Der Regen strich sanft über ihr Gesicht. Sie spürte den Boden unter ihren Füßen nicht, stattdessen schien sie zu schweben, getragen von einer Leichtigkeit des Geistes, die sie noch nie erfahren hatte. Es war keine Frage der Begründung – sie würde es einfach nicht tun. Sie brauchte nie mehr irgendjemandem oder irgendeinem Glauben zu gehorchen. Niemand konnte sie 373
töten, weder Faraj und seine Leute noch ihre Verfolgerin und ihre Verbündeten. Sie war schon tot. Wie lange sie ging, wusste sie nicht. Wahrscheinlich nicht länger als fünfzehn Minuten. Das Bier hatte ihre Blase gefüllt, und als sie mit heruntergelassener Militärhose am Straßenrand kauerte – eine Erinnerung an Takht-i-Suleiman, sah sie Denzil im Honda vorbeifahren. Sie lächelte, und Tränen liefen ihr mit Regen vermischt die Wangen herunter. Das Hubschraubergeräusch war zunächst leise, dann wurde es überall um sie herum zu einer dröhnenden, vernichtenden Furie. Das Cricketfeld vor ihr war von Scheinwerfern aus dem Himmel beleuchtet – eine Szene von überirdischer Theatralik und Schönheit. In ihrem Zentrum stand ein Armeehubschrauber, aus dem der schwarz gekleidete Chor sprang und auf seine Position rannte. Heckler-und-Koch-MPs, wie sie befriedigt feststellte. Die SAS. Und auf der Straße das Blaulicht von Streifenwagen vor der klassizistischen Fassade, noch mehr rennende Gestalten und das hüpfende Echo eines Megaphons. Jean D’Aubigny ging weiter. Sie hätte gern aufgehört zu weinen, aber die Schönheit des Ganzen und die perfekten Einzelheiten waren einfach zu viel. Ganz entfernt nahm sie das Klicken von entsicherten Gewehren wahr. Polizeischarfschützen, dachte sie, vergaß sie jedoch rasch wieder, denn im Mittelpunkt der Szene stand im Licht eines Polizeihubschraubers eine schmale, entschlossen wirkende Gestalt, die sie sofort erkannte. Das dunkle Haar der Frau war aus dem Gesicht gestrichen und ihre Lederjacke bis zum Kinn geschlossen. Jean lächelte. Irgendwie war alles so vertraut. Es war, als habe die Szene schon unendlich oft stattgefunden. »Ich wusste, dass Sie da sind!«, rief sie, aber der Wind und der Sog der Rotorenblätter verwehten ihre Worte.
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Im Pavillon beobachtete Faraj, wie die Sicherheitskräfte ausschwärmten, und wusste, dass er ein toter Mann war. Er sah die Soldaten aus dem Hubschrauber springen, das Cricketfeld in gleißendes Licht getaucht, und die Polizeischarfschützen sich aus den Hubschraubern auf die umliegenden Dächer abseilen. Dank des Fernglases wusste er aber eines genau: Der junge Mann hatte den Honda vor wenigen Minuten in die Garage gefahren. Die Bombe musste im Auto sein, und er richtete das Fernglas auf die Haustür des Ziels. Wo Jean war, wusste er nicht, wahrscheinlich mit dem jungen Mann im Haus, doch er musste handeln, bevor die Polizei es evakuierte und die ganze Operation umsonst war. Er nahm den Sender aus der Jackentasche, küsste ihn, sagte der Kämpferin Asimat Lebewohl und sprach den Namen seines Vaters und Farzamas, die er geliebt hatte. Als die Frau unsicher das beleuchtete Cricketfeld betrat, wusste Liz, dass sie Jean D’Aubigny vor sich hatte. Das Haar war nass und kurz geschnitten, das Gesicht viel magerer und schärfer als bei dem Teenager auf den Plakaten, aber sie war es zweifellos. Sie trug eine offene Regenjacke, darunter einen Rollkragenpullover und das graue Band eines Rucksacks. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte die Frau, als erkenne sie sie wieder, und die Lippen bewegten sich in dem vom Regen verwischten Gesicht. Sie sieht jünger als vierundzwanzig aus, dachte Liz, fast kindlich. Die Verbindung zwischen ihnen bestand einen Augenblick, dann zerriss die Nacht sie. Eine Welle der Dunkelheit dröhnte auf Liz zu – reine Energie, reiner Hass –, hob sie hoch und warf sie zu Boden wie eine Marionette. Der Boden wölbte sich ihr entgegen, und während die Druckwelle der Explosion über sie hinwegrollte und ihr den Atem aus den Lungen sog, wusste und verstand sie nichts. 375
Dann herrschte Stille – scheinbar eine lange Stille, während der Erde, Kleiderfetzen und Körperreste niederregneten, dann drehte sie den Kopf, der schrecklich schmerzte, und sah lautlos Menschen wie Geister unter den Scheinwerfern umherlaufen. Auf einer Seite kniete ein Polizist, dem blutiger Schleim aus Nase und Mund lief, mit zerfetzter Uniform auf allen vieren. Auf der anderen Seite lag Don Whitten im Mantel mit dem Gesicht auf dem Boden und zitterte, neben ihm saß ein Offizier und starrte ins Leere, Blut lief ihm aus beiden Ohren. In ihren Ohren hörte sie einen hohen Schrei wie einen Faden. Nicht von einem Menschen, sondern eine Art Echo. Ein Polizist rannte zu ihr und rief etwas, aber sie hörte nichts und winkte ihn weg. Noch mehr laufende Menschen, dann richteten die Hubschrauber ihre Scheinwerfer von ihnen weg auf den Pavillon und den Wald am anderen Ende des Cricketfelds. Sie mussten Mansur gefunden haben. »Fasst ihn lebend!«, versuchte sie zu rufen und rappelte sich auf, während der Regen ihr ins Gesicht schlug. Aber sie hörte ihre eigene Stimme nicht. Jetzt rannte sie unsicher über das nasse Gras und stieß Wendy Clissold und eine andere Gestalt weg. Sie lief im schrägen Winkel zu einem der SAS-Teams, die rasch und entschlossen den Pavillon umzingelten. Jeder Schritt, den sie machte, war wie ein Hammerschlag hinter ihren Augen, und sie schmeckte den warmen Eisengeschmack des Bluts im Mund. Außer dem Schrei in ihren Ohren hörte sie immer noch fast nichts und bemerkte deshalb Bruno Mackay nicht, bis er sie von hinten ansprang und mit den Armen um die nassen Jeans zu Fall brachte und festhielt. Sie stöhnte völlig benommen. »Bruno, wir … wir müssen …« »Nicht bewegen, Liz«, befahl er und drückte sie an den Handgelenken fest auf den Boden. »Bitte. Sie haben einen Schock.«
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Seine Stimme war nur ein Flüstern. Sie entblößte die blutbefleckten Zähne und wand sich. »Ich sagte nicht bewegen! Sonst werden wir noch erschossen.« Sie lag reglos da und sah zu, wie der Scheinwerfer des Polizeihubschraubers den Pavillon in grelles Licht tauchte. Tag statt Nacht. Sie wusste nicht mal genau, was sie vorgehabt hatte. »Ich bin okay«, murmelte sie. »Sie sind nicht okay«, zischte er. »Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung. Und wir müssen hier weg. Wenn es eine Schießerei gibt …« »Wir müssen Mansur lebend kriegen.« »Ich weiß, aber jetzt gehen Sie zurück, bitte. Lassen Sie die SAS ihren Job tun.« Die vier Soldaten liefen mit den Maschinenpistolen im Anschlag auf den Pavillon zu, gleichzeitig öffnete sich langsam die Vordertür, eine drahtige Gestalt trat auf die hell beleuchtete Spielerterrasse und kniff die Augen zusammen. Er trug Jeans und ein graues T-Shirt. Seine Hände waren erhoben. Er hatte keine Waffe. Liz starrte Faraj Mansur fasziniert an, auf dessen T-Shirt die ersten Regenspritzer erschienen. Mackay würdigte ihn jedoch kaum eines Blickes, und in einem plötzlichen, schrecklichen Blitz der Erkenntnis wusste Liz genau, was geschehen würde und warum. Einen Moment passierte nichts, dann brüllte einer der SASMänner: »Granate!« Aus wenigen Metern Entfernung gab jeder der vier Männer einen kontrollierten Feuerstoß auf Faraj Mansurs Brust ab. Sprachlos beobachtete Liz, wie er zusammenbrach. Nach kurzer Stille ging einer der Soldaten zu ihm und schoss ihn ohne langes Zögern zweimal ins Genick.
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Während Liz die hell erleuchtete Szene verfolgte, lief ihr der Regen übers Gesicht. Sie spürte, wie Mackays Arme sie von hinten festhielten, und riss sich los. Sie fühlte jetzt, wie das Blut auf ihrem Gesicht gerann und der Regen ihr durchs Haar und den Rücken herunterlief. Sie weinte fast vor Wut. »Verstehen Sie, was Sie da gemacht haben, verdammt noch mal?« Mackays Stimme war geduldig. »Liz, regen Sie sich ab.«
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64 Sie vernahm Schritte, ignorierte sie aber. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Erneut begann sie fortzutreiben, hörte dann jedoch ihren Namen, wie aus weiter Entfernung. Anschließend wieder Schritte. Unwillig öffnete Liz die Augen. Sie konnte sich nicht erinnern, wo sie war, aber nach dem gleichmäßigen Licht, das durch die dünnen Baumwollvorhänge fiel, schätzte sie, dass es Vormittag war. Sie blinzelte. Der Raum war groß und hatte himmelblaue Wände. Zwischen ihr und dem Fenster standen ein Tropf und ein Sauerstofftank auf einem Wagen. In ihren Nasenlöchern steckte eine Beatmungsröhre, in ihrem Rücken lagen viele Kissen, und die Matratze war auf einen bequemen Winkel von dreißig Grad hochgestellt. Von draußen hörte sie das entfernte Grollen von Düsentriebwerken. Langsam lichtete sich der Nebel des Beruhigungsmittels. Es war vorbei, und Faraj Mansur und Jean D’Aubigny waren tot, doch Teile des vorigen Abends hatte sie wegen der Explosion und ihrer Gehirnerschütterung für immer vergessen. An eines aber erinnerte sie sich ganz deutlich, und es verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung, dass sie Bruno Mackays Hilfe abgelehnt hatte und allein zu den Rettungswagen zurückgegangen war. Auf halbem Weg war sie auf die Knie gefallen, und eine Sanitätercrew des Army Air Corps war mit einer Tragbahre gekommen. Sie erinnerte sich an den Stich der Injektionsnadel, den sanften Kuss des Regens auf ihrem Gesicht, die Sirenen und Blaulichter. Dann waren da das Aufsteigen des Hubschraubers, das einschläfernde Brummen seines Motors und das schwache Knistern des Funkgeräts. Schließlich nichts mehr. Sie zog sich die Beatmungsröhre aus der Nase. Ihr Kopf schmerzte, und sie hatte einen faden Geschmack im Mund. Die 379
Temperatur war mittel, weder heiß noch kalt. Sie trug ein weißes Krankenhausnachthemd, das auf dem Rücken zugebunden war. Die Tür ging auf, und eine junge blonde Frau in Militärhose und einem US-Airforce-T-Shirt kam herein. »Hi! Wie geht’s Ihnen denn heute?« »Äh … ganz gut, glaube ich.« Liz blinzelte und versuchte sich aufzurichten. »Wo bin ich?« »Marwell. Air-Force-Krankenhaus. Ich bin Dr. Beth Wildor.« Sie hatte ein sehr bestimmtes Wesen und leuchtend weiße Zähne. Liz nickte. »Okay … kann ich aufstehen?« »Ich möchte Sie mir erst mal kurz ansehen.« »Sicher.« Die nächsten zehn Minuten über schaute Dr. Wildor ihr in die Augen und Ohren, maß ihren Blutdruck und machte weitere Tests, deren Ergebnisse sie auf einem Bogen eintrug. »Sie haben sehr starke Selbstheilungskräfte, Miss Carlyle. Als Sie letzte Nacht hergebracht wurden, ging es Ihnen gar nicht gut.« »Ich kann mich leider kaum erinnern.« »Wir nennen das Explosionstrauma. An manche Einzelheiten werden Sie sich der Erfahrung nach wahrscheinlich nie erinnern, aber das ist in diesem Fall vielleicht gar nicht so schlecht.« »Ist jemand gestorben?« »Außer den beiden Terroristen? Nein. Es gab Verletzte, aber keine Toten.« »Gott sei Dank.« »Absolut. Sie sind von der Polizei, richtig?« »Vom Innenministerium. Kann ich jetzt aufstehen?«
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»Wissen Sie, Miss Carlyle, es wäre mir lieber, Sie gehen es langsam an. Lassen Sie doch erst mal Ihren Besucher reinkommen, und wenn ich mit meiner Visite durch bin, reden wir noch mal drüber.« »Ich habe Besuch?« »Allerdings«, antwortete die Ärztin mit einem verschwörerischen Blitzen ihrer Zähne. »Und er scheint sehr besorgt um Sie zu sein.« »Wenn er Mackay heißt, will ich ihn nicht sehen.« »Ich glaube nicht, dass er so heißt. Es ist …« Sie schaute auf ihr Klemmbrett, »ein Mr Wetherby.« »Wetherby?« Sie spürte eine unerklärliche Überraschung. »Er ist hier?« »Direkt vor der Tür.« Sie blickte Liz ruhig an. »Ich nehme an, Sie möchten ihn jetzt sehen?« »Ja, sehr gern«, sagte Liz und versuchte vergeblich, sich ein Lächeln zu verkneifen. »Okay! Vielleicht möchten Sie sich ein, zwei Minuten frisch machen?« »Das wäre nicht schlecht.« »Ich sage ihm, in fünf Minuten.« Als Dr. Wildor weg war, schwang Liz die Beine über die Bettkante und ging zum Waschbecken. Sie fühlte sich unsicher und war von dem Gesicht im Spiegel schockiert. Sie sah verhärmt und müde aus, und um ihre Augen herum wirkte der Bluterguss von der Explosion wie eine dunkle Maske. Auf ihrem Nachttisch fand sie ein in Plastik eingeschweißtes Waschset, und nach dem Waschen legte sie sich so schicklich wie möglich ins Bett. Sie kam sich ein wenig absurd dabei vor.
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Wetherby kam mit einem Blumenstrauß herein. Sie hätte sich so etwas kaum vorstellen können, aber da stand er mit einem etwas grellen Strauß halbtropischer Blüten. »Kann ich die irgendwo hinlegen?«, fragte er und sah sich besorgt und unbeholfen um. »Am besten ins Waschbecken. Sie sind schön, vielen Dank.« Für einen Moment war er beschäftigt und drehte ihr dabei den Rücken zu. »Also … wie fühlen Sie sich?«, fragte er dann. »Besser als ich aussehe.« Er setzte sich etwas verlegen ans Bettende. »Sie sehen … na, ich bin froh, dass es nicht schlimmer ist.« Liz fiel ein, dass Krankenhausbesuche ein regelmäßiger Teil von Wetherbys Leben waren, und schämte sich ein wenig, wie eine tragische Heldin dazuliegen, wo sie doch eigentlich nichts Schlimmes hatte. »Ich habe gehört, es gab keine Toten bei uns?« »Detective Superintendent Whitten liegt nebenan. Er hat ein Schrapnell abgekriegt – wahrscheinlich die Bombenhülle – und ziemlich viel Blut verloren. Ein paar Armee-Leute hatten Schnittwunden, und es gab ein halbes Dutzend Fälle von Explosionstraumata wie bei Ihnen. Aber wie Sie sagen, keine Toten. Das haben wir zum großen Teil Ihnen zu verdanken.« »Es hat schon genug Leichen gegeben.« Sie schaute weg. »Sie wussten über Faraj Mansur Bescheid, nicht? Wer er wirklich war?« Er schaute sie fragend an. »Möchten Sie vielleicht frühstücken, während wir uns unterhalten?« »Ja, gern.« Er warf einen Blick zur Tür. »Ich sage Bescheid, damit Ihnen was gebracht wird. Was möchten Sie?« »Ich möchte aufstehen und in eine Cafeteria oder so was. Ich hasse es, im Bett zu essen.«
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»Dürfen Sie denn aufstehen? Ich würde mich nicht mit dieser Frau mit den weißen Zähnen anlegen.« »Ich riskier’s.« Liz lächelte. Sie war sich des leicht gezwungenen Protokolls bewusst, das sie daran hinderte, den Namen des anderen auszusprechen. Von plötzlichem Temperament getrieben, stieg sie in ihrem formlosen Nachthemd aus dem Bett und drehte sich einmal herum. Wetherby stand auf, verbeugte sich mit ironischer Galanterie und verließ das Zimmer. Sie sah ihn hinausgehen, erinnerte sich dann, dass ihr Nachthemd hinten offen war, und musste lachen. Vielleicht war sie noch nicht wieder ganz normal. Ihre Kleider waren verschwunden. Im Schrank neben dem Bett hatte aber jemand frische Unterwäsche, Turnschuhe, ein GOWARTHOGS!-T-Shirt und einen grauen Jogginganzug deponiert. Alles passte perfekt. In dieser Aufmachung öffnete sie die Tür. »Folgen Sie mir«, sagte Wetherby. »Sehr elegantes Ensemble übrigens.« Sie traten hinaus auf den Asphalt. Es war schneidend kalt. In der Ferne stand eine Phalanx Düsenjäger unter schwarzen Wolken, die Kanonen gen Himmel gerichtet. »Sie schaffen eine Wüste und nennen es Frieden.« »Wer hat das gesagt?«, fragte Liz. »Tacitus. Über das römische Reich.« Sie wandte sich ihm zu. »Ich nehme an, Sie waren die ganze Nacht auf und haben alles verfolgt.« »Ich war im COBRA-Lagezentrum, als ihr Anruf kam, dass Sie im Hubschrauber nach West Ford unterwegs sind. Fünf Minuten später meldete die Polizei eine Explosion mit wenigstens einem Dutzend möglicher Toter oder Verletzter, und gleich danach kam ein anderer Bericht über irgendeine 383
Schießerei mit der SAS. In Downing Street war zu dem Zeitpunkt die Hölle los, wie Sie sich denken können, aber inzwischen hatte ich zum Glück ein paar harte Fakten aus Jim Dunstan rausgekriegt – einschließlich der Tatsache, dass einer meiner Leute was abgekriegt hat.« Er lächelte trocken. »Der Premierminister war natürlich sehr besorgt. Er hat mir gesagt, er schließt Sie in seine Gebete ein.« »Das hat mich wohl gerettet. Aber ich habe nur Bruchteile des Ganzen mitbekommen. War genug Zeit, die Delves’ zu evakuieren? Eine Polizistin in meinem Hubschrauber hat versucht, sie anzurufen, aber es war besetzt, und sie ist nicht durchgekommen.« Wetherby nickte. »Das Gebiet zu evakuieren war Dunstans Hauptsorge, besonders weil die meisten Kräfte achtzehn Kilometer weit weg waren und die Basis hier bewacht haben. Schließlich konnte er die Wachleute von Delves warnen, und sie haben den Pub evakuiert und die Familie weggebracht.« »Wo sind sie alle hin?« »In den Gemeindesaal am anderen Ende des Dorfs.« »Währenddessen waren wir alle auf dem Cricketfeld. Auftritt Jean D’Aubigny …« »Auftritt Jean D’Aubigny. Dann die Explosion, gefolgt von totalem Chaos, soweit ich sehe. Es gab eine große Hubschraubersuche nach Mansur, jemand hat Wärmespuren am Pavillon gemeldet, und eins der SAS-Teams hat sich ihm genähert.« Er lächelte trocken. »Man hat mich informiert, dass Sie den Vorgang aus der Nähe verfolgt haben.« »Das werde ich in meinem Bericht ausführlich erwähnen«, murmelte Liz. »Keine Angst.« »Ich freue mich darauf.«
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Die Kantine war riesig – ein glänzender Ozean aus Automaten und Resopaltischen, hunderte von Quadratmetern groß. Mitten am Vormittag war aber nur wenig los, vielleicht ein Dutzend Menschen, die meisten in Sportkleidung, und die beiden waren die Einzigen am langen Selbstbedienungstresen. Liz nahm sich Kaffee, Orangensaft und Toast, Wetherby nur Kaffee. »Sie haben mich gefragt, ob ich wusste, wer Faraj Mansur wirklich war«, sagte er und rührte nachdenklich in seinem Kaffee. »Genau.« »Die Antwort lautet ja. Geoffrey Fane hat es mir heute Früh gesagt. Ich bin mit ihm im Hubschrauber hergeflogen.« »Wo ist Fane jetzt?« »Lässt sich wahrscheinlich auf dem Rückflug von Mackay Bericht erstatten.« Liz starrte ungläubig in die riesige, leere Kantine. »Diese Mistkerle. Sie haben uns absichtlich im Dunkeln gelassen, haben zugesehen, wie wir uns anstrengen und wie Menschen sterben.« »Sieht ganz so aus«, sagte Wetherby. »Wie sind Sie drauf gekommen?« »Durch Mackays Verhalten gestern. Als Mansur mit erhobenen Händen aus dem Pavillon kam, hat Mackay ihn kaum angesehen – dabei hatten wir den Mann eine Woche lang Tag und Nacht gejagt. Er hat sogar den Kopf abgewendet, als wollte er nicht erkannt werden.« »Sprechen Sie weiter.« »Die beiden kennen sich. Das ist die einzig mögliche Erklärung.« Wetherby starrte ausweichend auf den Cola-Automaten. »Faraj Mansur hat für den MI 6 gearbeitet, genau wie sein Vater
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vor ihm. Nach allen Berichten war er ein erstklassiger Agent. Sehr mutig und stabil.« »Und Mackay war sein Agentenführer?« »Er hat ihn geerbt. Mackay kam ungefähr zur Zeit der amerikanischen Intervention in Afghanistan nach Islamabad, und es scheint so, als hätte er etwas zu viel Druck auf Mansur ausgeübt. Auf jeden Fall hat Mansur sich dagegen gewehrt. Er hat Mackay gesagt, er würde sehr genau beobachtet, und darauf bestanden, den Kontakt vorläufig abzubrechen.« »Und Mackay ist auf Distanz gegangen?« »Es blieb ihm nichts anderes übrig. Mansur war ihr bester Mann in der Gegend. Er musste bei Laune gehalten werden.« »Dann hat die US-Air Force seine Familie erschossen.« »Stimmt. Ein tragischer Unfall oder tödliche Inkompetenz, je nach Blickwinkel, aber Mansur interpretiert es als Rache, als eine Strafe, weil er den Kontakt mit Mackay abgebrochen hat. So wechselt er – vielleicht wenig überraschend – die Seite und läuft zu den Islamisten über. Sein Vater und seine Verlobte sind tot, und man erwartet irgendeine Vergeltungsaktion von ihm. Es ist neben allem anderen eine Frage der Ehre.« »Auge um Auge.« »Genau.« »Auftritt D’Aubigny.« »Auftritt D’Aubigny. Irgendwo in Paris erzählt sie etwa zur selben Zeit ihren Verbindungsleuten, dass sie besondere Informationen besitzt. Sie kennt die Privatadresse des Kommandeurs von Marwell. Botschaften gehen um die Welt, und die Planer des islamischen Terrorsyndikats erkennen, dass sie mehrere symbolische Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Die Gelegenheit ist zu gut, um sie verstreichen zu lassen.«
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Liz schüttelte den Kopf. »Nach der Art, wie Mansur sich zuletzt benahm, würde ich sagen, dass es für ihn fast ausschließlich eine persönliche Sache war. Als er merkte, dass er die Familie von Delves nicht auslöschen konnte, gab er einfach auf. Er war bewaffnet und hätte mindestens einen der SAS-Leute mit Leichtigkeit erschießen können, aber zu dem Zeitpunkt …« Sie zuckte die Achseln. »Ich glaube, er sah keinen Sinn darin, dass noch mehr Leute starben. Wahrscheinlich hat er den Westen gar nicht besonders gehasst.« »Da mögen Sie Recht haben«, sagte Wetherby. Liz runzelte die Stirn. »Sagen Sie mir eins. Wenn unsere Informationen über Pakistan vom MI 6 weitergeleitet wurden und sie Informationen über Mansur zurückhielten, wie haben Sie dann rausgekriegt, dass seine Familie von der Air Force getötet wurde?« Wetherby schaute sie mit einem unterdrückten Lächeln an. »Wie Sie wissen, ist der wichtigste pakistanische Ansprechpartner vom MI 6 der Inter-Services-Geheimdienst, der dem Verteidigungsministerium untersteht. Dagegen redet der MI 6 sehr viel seltener mit dem Intelligence Bureau, das dem Innenministerium untersteht und sich mit dem ISG sozusagen nicht allzu gut verträgt.« »Sie haben Freunde im Intelligence Bureau?«, fragte Liz. »Ja, ich halte ein oder zwei Kontakte aufrecht. Leute, die ich direkt anrufen kann, wenn nötig. Ich habe ihnen den Namen Faraj Mansur gegeben, und ihre Datenbank hat einen Terrorismusverdächtigen ausgespuckt, dessen Vater und Verlobte in Daranj getötet wurden. Was sie nicht wussten und ich ihnen auch nicht sagte, war, dass Mansur ein britischer Agent gewesen war.« »Aber warum haben Fane und Mackay uns das alles nicht erzählt? Ich meine … wir hätten es doch verstanden, oder? Wir hätten dichtgehalten.« 387
»Es ist eine Frage der Informationspolitik«, erwiderte Wetherby. »Nach Fanes Auffassung hätten sie es allen sagen müssen – auch den Amerikanern – oder keinem. Sie haben sehr rasch entschieden, dass sie es keinem sagen.« »Warum?« »Stellen Sie sich vor, Mansur hat Erfolg. Er sprengt einen Londoner Nachtclub in die Luft oder richtet schweren Schaden an einer großen Armeeeinrichtung oder einem Unternehmen an, wobei vielleicht viele Menschen ums Leben kommen, und dann entdeckt die Welt, dass er ein früherer MI 6-Agent ist. Der Schaden wäre unkalkulierbar.« »Noch dazu, wenn die Einrichtung und die Toten amerikanisch sind …« »Genau. Es wäre ein Super-GAU gewesen. Viel besser, sie behalten es für sich, lassen ihn von uns aufspüren und dann eliminieren, bevor er etwas sagen kann.« Liz schüttelte den Kopf. »Sorry, ich verstehe den politischen Aspekt, aber ich halte das, was letzte Nacht passiert ist, immer noch für unentschuldbar. Es war schlicht und einfach Mord. Es gab keine Granate. Der Mann stand mit erhobenen Händen da.« »Liz, ich fürchte, das ist eine akademische Frage. Mansur und D’Aubigny haben mehrere unschuldige Menschen ermordet, und jetzt sind sie selbst tot. Über den SAS-Einsatz wird es eine Untersuchung geben, aber Sie können sich das Ergebnis denken.« Sie schüttelte erneut den Kopf. Hinter den großen Fenstern war der Himmel von einem zornigen Grau. Eine Gruppe junger Soldaten, Männer und Frauen, kam in die Kantine, sah sich kurz um und ging wieder hinaus. Liz griff nach ihrem leeren Kaffeebecher. »Wir haben verloren, oder?« Wetherby fasste über den Tisch und nahm ihre Hände in seine. 388
»Wir haben gewonnen, Liz. Sie haben diese Familie gerettet. Niemand hätte mehr tun können.« »Wir sind immer einen Schritt hinterhergehinkt. Ich habe versucht, mich in D’Aubigny hineinzudenken, aber ich hab es nicht geschafft.« »Sie sind so nah herangekommen, wie es möglich war.« »In dem Augenblick, als ihr Leben endete, stand sie mir gegenüber. Ich glaube, sie sagte sogar etwas zu mir, aber ich habe es nicht gehört.« Wetherby erwiderte nichts. Er ließ ihre Hände nicht los, und sie zog sie nicht weg. »Was machen wir jetzt?«, fragte Liz. »Ich dachte mir, wir suchen jemanden, der uns nach Swanley Heath fährt, damit wir Ihren Wagen holen. Dann begleite ich Sie zurück nach London.« »Okay«, sagte Liz.
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DANKSAGUNG Ich habe seit Jahren davon geträumt, einen Thriller zu schreiben, und hatte Liz, die Hauptperson, die ganze Zeit über im Kopf. Sie hat sich im Lauf der Zeit verändert und entwickelt, genau wie ich. Offensichtlich ist sie zum großen Teil autobiografisch, aber sie trägt auch Züge von anderen weiblichen Geheimdienstmitgliedern, denen ich in meinen Berufsjahren begegnet bin. Die anderen Hauptfiguren sind genau wie die Handlung vollkommen fiktiv. Sie entstanden zuerst im Juni 2001 während eines Gesprächs beim Essen in der Winstub Gilg im elsässischen Mittelbergheim. Ich danke John Rimington, der mir gegenübersaß, und auch dem Tokay Pinot Gris von Gilg, der das Gespräch und meine Fantasie anregte. Im Gegensatz zur Auffassung mancher Menschen sind die Kunst eines Erzählers und die eines Geheimdienstmitarbeiters sehr verschieden, und ohne die Ausdauer und Ermutigung meiner Verlegerin Sue Freestone bei Hutchinson hätte ich nicht die Rollen wechseln können. Mein großer Dank gebührt auch Luke Jennings, dessen Hilfe bei der Recherche und beim Schreiben das Ganze erst möglich machte.
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