Das Buch Alessia Cenci, Italiens erfolgreichste Rennreiterin, wird entführt. An drew Douglas, Mitglied einer privaten ...
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Das Buch Alessia Cenci, Italiens erfolgreichste Rennreiterin, wird entführt. An drew Douglas, Mitglied einer privaten Anti-Kidnapping-Beratungs firma, wird auf diesen Fall angesetzt. Er hat nur zwei Anhaltspunkte: ein Gesicht, das ihm nicht gefällt, und – Pferde … Ziemlich schnell begreift er, daß der Organisator dieser Entführung ein ebenbürtiger Gegner ist. Als es noch zu weiteren Kidnappings kommt, beginnt ein Rennen auf Zeit zwischen zwei Profis, bei dem nur eine Frage von Bedeutung ist: Wer macht zuerst den entscheidenden Fehler?
Der Autor
Dick Francis, geboren 1920, war viele Jahre Englands erfolgreichster Jockey, bis ein mysteriöser Sturz 1956 seine Karriere beendete. Seit 35 Jahren schreibt er jedes Jahr einen Roman. Dick Francis wurde un ter anderem dreifach mit dem Edgar Allan Poe Award und dem Grand Master Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau auf den CaymanInseln.
Dick Francis
Gefahr
Roman
Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch
Diogenes
Titel der 1983 bei Michael Joseph Ltd., London,
erschienenen Originalausgabe: ›The Danger‹
Copyright © 1983 by Dick Francis
Die deutsche Erstausgabe erschien 1985
unter dem Titel ›Die Gefahr‹
im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin
Copyright © der deutschen Übersetzung
Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M., Berlin
Umschlagzeichnung von
Tomi Ungerer
Liberty Market Ltd. ist erfunden,
aber ähnliche Organisationen gibt es.
Niemand, der mir bei der Entstehung
dieses Buches behilflich war, möchte erwähnt
werden, aber gedankt sei ihnen trotzdem.
Verpflichtet bin ich auch ›Kidnap and Ransom:
The Response‹ von Richard Clutterbuck.
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 1993
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 1993
Diogenes Verlag AG Zürich
ISBN 3 257 22600 4
Kidnapping ist eine Tatsache des Lebens. War es im mer, wird es immer sein. Das Erpressen von Lösegeld ist ein uralter Zeitvertreib, weniger riskant und zugleich lukrativer als Banküberfälle. Kidnapping im Stil des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt uns Züge und Flugzeuge voll Geiseln, das ge meinsame Sterben von Sportlern in München, den ein samen Tod bedeutender Männer. Unstet sind alle Kid napper, doch die politische Spielart, die nach Macht und Publizität ebenso dürstet wie nach Geld, läßt selbst Treibsand wie Fels erscheinen. Mir geht nichts über den einfachen Kriminellen, den Schurken, der zugreift und sagt, Geld her oder … Bei ihm weiß man doch mehr oder weniger, woran man ist. Kidnapping, sehen Sie, ist mein Fach. Meine Aufgabe als Teilhaber der Firma Liberty Mar ket Ltd. besteht sowohl darin, gefährdete Personen zu beraten, wie sie sich vor einer Entführung am besten schützen können, als auch in der Hilfe bei Verhandlun gen mit den Entführern nach erfolgtem Coup – damit das Opfer zu den günstigsten Bedingungen lebend zu rückkommt. Jede Form des Verbrechens ruft eine Gegenwehr her vor. Den Betrugs-, Drogen- und Morddezernaten könn te man das Entführungsdezernat hinzufügen. Nur ist dieses Dezernat nicht amtlich. Es arbeitet äußerst dis kret … und oft sind wir es.
Italien 1
I
n Bologna war alles zu spät. Ich bemühte mich, so still wie möglich zu stehen, während Wellen kalter Wut und heißer Angst an mir zerr ten, daß ich hätte durchdrehen können. Ich stand still … während ein Menschenleben, das viel leicht von mir abhing, bedenkenlos von anderen aufs Spiel gesetzt wurde. Stand still inmitten der Trümmer eines fast errungenen Erfolges, einer fast erwirkten Freiheit, einer schon greifbaren Rettung. Die gefährlichste, heikelste Phase einer jeden Entfüh rung ist die Übergabe des Lösegelds. In dem Moment, da es den Besitzer wechselt, muß irgend jemand irgendwie aus dem Dunkel heraustreten … und ein Entführer nähert sich seinem Wasserloch mit größerer Vorsicht als jedes Tier des Dschungels. Ein Verdacht, eine Spur, schon der leiseste Hinweis auf Beobachter reicht aus, daß er die Beine in die Hand nimmt und davonrennt. Danach, wenn die Angst in ihm gärt und seine Rachgier entbrennt, wird er am ehesten töten. Die Übergabe zu verpatzen heißt, die Gefahr für das Opfer hundertfach höherschrauben. Alessia Cenci, dreiundzwanzig Jahre alt, war zu dem Zeitpunkt bereits seit fünf Wochen, drei Tagen, zehn Stun den in den Händen der Entführer, und nie war sie näher daran gewesen, ihr Leben zu verlieren. 7
Enrico Pucinelli kletterte mit grimmigem Gesicht durch die Hecktür des Krankenwagens, in dem ich stand – ein Transporter, genauer gesagt, der von außen wie ein Kran kenwagen aussah, dessen dunkel getönte Fenster jedoch eine Bank, einen Stuhl und eine Masse elektronischer Aus rüstung im Innern verbargen. »Ich hatte dienstfrei«, sagte er. »Diese Befehle kamen nicht von mir.« Er sprach italienisch, aber mir zuliebe langsam. Als Männer verstanden wir uns sehr gut. Als Dolmetscher, die wir beide die Sprache des anderen besser verstanden, als wir sie sprechen konnten, brauchten wir Zeit. Wir redeten sehr artikuliert miteinander, jeder in seiner Muttersprache, und hörten aufmerksam zu; wenn nötig, baten wir um Wiederholung. Er war der Carabinieri-Offizier, der die amtlichen Er mittlungen leitete. Den Erfordernissen äußerster Vorsicht und minimalen sichtbaren Einsatzes hatte er durchweg zu gestimmt. Vor der Villa Francese, in der Paolo Cenci bleich auf Nachricht von seiner Tochter wartete, war nie ein heraldisch geschmücktes Fahrzeug mit hektisch krei sendem Blaulicht erschienen. Nirgends war ein Unifor mierter in das Blickfeld feindlicher Augen gerückt. Nicht, solange Pucinelli es hatte verhindern können. Wir waren uns einig gewesen, daß es in erster Linie auf die Sicherheit des Mädchens ankam und erst in zweiter auf das Ergreifen der Kidnapper. Längst nicht jeder Polizeibe amte sah das in dieser Reihenfolge; die Jagdinstinkte vie ler Gesetzeshüter werden allein durch das Aufbringen ih rer Beute befriedigt. Leider hatte Pucinellis diensttuender Kollege an diesem verhängnisvollen Abend, als er plötzlich die Chance er kannte, relativ leicht über die Kidnapper herzufallen, wenn sie das Lösegeld abholten, keinen Grund gesehen, sich zu 8
rückzuhalten. In die sommerlich schwüle Dunkelheit, in den sorgfältig ausgehandelten, geduldig abgedämpften Moment der größten Ruhe hatte er seinen Stoßtrupp pre schen lassen: fuchtelnde Gummiknüppel, Stimmengewirr, blendende Scheinwerfer, ominös zum Nachthimmel erho bene Pistolen, Sirenengeheul … die ganze moralische Ag gressivität einer gerechten Armee in wilder Verfolgung. Von dem Krankenwagen aus, der weit entfernt auf der Straße stand, hatte ich ungläubig, mit ohnmächtigem Zorn zugesehen, wie es geschah. Mein Fahrer hatte fluchend den Motor angelassen und uns im Schleichtempo näher an den Tumult herangebracht, und wir hatten beide recht deutlich die Schüsse gehört. »Man bedauert es«, sagte Pucinelli steif, mich beobach tend. Darauf hätte ich wetten können. So viele Carabinieri wa ren auf der schlecht beleuchteten Seitenstraße in Aktion gewesen, daß sie in der Ungewißheit, wo sie genau suchen sollten, ihr Ziel vollends verfehlt hatten. Zwei dunkelge kleideten Männern war es gelungen, mit dem Koffer, der den Gegenwert von sechshundertfünfzigtausend Pfund enthielt, ein verstecktes Fahrzeug zu erreichen, es zu star ten und davonzufahren. Zweifellos war die Aufmerksam keit der Gesetzeshüter, wie auch die meine, zu sehr auf den Anblick des jungen Mannes konzentriert gewesen, der kopfüber aus dem anderen Wagen kippte. Es war der Wa gen, den man die ganze Zeit über deutlich hatte sehen können; der Wagen, in dem das Lösegeld zu diesem ver pfuschten Rendezvous gebracht worden war. Der junge Student, Sohn eines Rechtsanwalts, war nie dergeschossen worden. Ich sah das leuchtende Rot auf sei nem Hemd, das schwache Flattern seiner Hand, und ich dachte daran, wie wach und zuversichtlich er bei unserem Gespräch war, ehe er aufbrach. Er sei sich über das Risiko 9
im klaren, hatte er gesagt, er werde ihre Anweisungen un bedingt befolgen, und er werde mich über Funk direkt vom Wagen zur Ambulanz auf dem laufenden halten. Ge meinsam hatten wir den winzigen, im Griff des Lösegeld koffers eingenähten Sender in Betrieb gesetzt. Wir hatten uns vergewissert, daß er korrekt als Zielgeber funktionier te und seine Botschaften das Radargerät im Krankenwagen erreichten. Im Innern des Krankenwagens zeigte eben dieses Such gerät unverkennbar, daß der Koffer auf dem Marsch war und sich rasch entfernte. Ich hätte ohne Zweifel die Kid napper entkommen lassen, denn das war für Alessia am sichersten, aber einer der Carabinieri hatte im Vorüberge hen das Echozeichen erblickt. Aufgeregt lief er zu dem bulligen Mann mit der Trillerpfeife, der den Einsatz zu lei ten schien. Durch den Lärm brüllte er ihm etwas zu und wies mit dem Finger auf unseren Wagen. In unschlüssiger Verwirrung sah der Beamte gequält zu uns herüber und kam dann im Laufschritt auf mich zu. Den dicken Kopf im Fenster der Fahrerkabine, starrte er stumm auf den Radarschirm, wo er unfehlbar die schlechte Neuigkeit ablas. Der Schweiß brach ihm aus. »Verfolgen!« sagte er heiser zu meinem Fahrer und wischte mein Bemühen, ihm auf italienisch mitzuteilen, warum er nichts dergleichen tun solle, beiseite. Der Fahrer hatte resigniert die Achseln gezuckt. Mit ei nem Ruck waren wir unterwegs gewesen, begleitet von ei nem wahren Aufgebot jaulender Fahrzeuge, deren Ge kreisch die leeren Straßen des von den Arbeitern längst verlassenen Industrieviertels erfüllte. »Seit Mitternacht«, sagte Pucinelli, »tue ich Dienst. Ich führe wieder den Befehl.« Düster sah ich ihn an. Der Krankenwagen stand jetzt mit abgestelltem Motor auf einer breiteren Straße. Das Peilge 10
rät zeigte eine konstante Spur und lokalisierte den Koffer in einem modernen Wohnblock der unteren Einkommens klasse. Vor dem Gebäude stand im Winkel zur Straßenkan te ein unscheinbarer schwarzer Wagen, dessen überhitzter Motor langsam abkühlte. Um ihn herum bildeten die Poli zeiautos, mit offenen Türen und flammenden Scheinwer fern, eine Art Schranke. Ihre Insassen lagen mit schußbe reiter Waffe in Deckung. »Wie Sie sehen, halten sich die Entführer in der vorderen Wohnung im dritten Stock auf«, sagte Pucinelli. »Sie ha ben die Wohnungsinhaber als Geiseln genommen und sa gen, sie würden die Leute umbringen, wenn wir ihnen kei nen freien Abzug geben, und auch Alessia Cenci würde mit Sicherheit sterben.« Ich hatte sie das alles aus dem offenen Fenster schreien gehört, die Wiederholung war kaum notwendig. »Binnen kurzem wird das Abhörgerät in Position sein.« Pucinelli sah unbehaglich in mein starres Gesicht. »Und bald können wir das Telefon mithören. Wir haben Leute oben auf der Treppe. Die nageln sie fest.« Ich schwieg. »Meine Männer behaupten, Sie hätten die Entführer lau fenlassen wollen … mitsamt dem Geld.« »Das stimmt.« Wir sahen uns ohne Lächeln an, wie Feinde fast, dabei vor kurzem noch Verbündete. Er war dünn und so ungefähr um die Vierzig. Dunkel, leidenschaftlich und energisch. Als Kommunist in einer kommunistischen Stadt mißbilligte er den Kapitalisten, dessen Tochter in Gefahr war. »Sie hatten auf den Jungen, der den Wagen fuhr, ge schossen«, sagte er. »Wir konnten sie unmöglich entkom men lassen.« »Der Junge hat sein Glück versucht. Das Mädchen muß noch immer gerettet werden.« 11
»Ihr Engländer«, meinte er. »Immer cool.« Der Zorn in mir würde Asbest versengt haben. Wenn seine Männer nicht ihren mißlungenen Hinterhalt gelegt hätten, wäre auf den Jungen gar nicht erst geschossen worden. Er wäre unversehrt ausgestiegen und hätte, wie angewiesen, das Lösegeld im Auto zurückgelassen. Pucinelli wandte seine Aufmerksamkeit der Bank mit den Funkgeräten zu. »Ich lasse einen Mann für den Emp fang kommen«, sagte er. »Ich werde auch hiersein. Sie können bleiben, wenn Sie wollen.« Ich nickte. Es war zu spät, um sonst noch etwas zu tun. Es hatte völlig meinem Instinkt und meiner Schulung widersprochen, mich auch nur in der Nähe des Übergabe ortes für das Lösegeld aufzuhalten, doch Pucinelli hatte meine Anwesenheit dort verlangt, als Gegenleistung für die versprochene Abwesenheit seiner Truppe. »Sie können unseren Wagen nehmen«, hatte er gesagt. »Unseren Funkwagen. Sieht aus wie eine Ambulanz. Sehr diskret. Das läßt sich machen. Ich schicke Ihnen einen Fahrer. Wenn die Entführer den Koffer haben, folgen Sie ihnen. Sie geben uns Bescheid, wo sie sich versteckt hal ten. Wenn das Mädchen dann frei ist, nehmen wir sie fest. Okay?« »Wenn das Mädchen frei ist, werde ich Ihnen sagen, wo hin sie das Geld gebracht haben.« Er hatte leicht die Augen zusammengekniffen, mir aber auf die Schulter geklopft und zustimmend genickt. »Zuerst das Mädchen.« Da man nie genau wußte, wann die Kidnapper die Über gabeprozedur ins Rollen bringen würden, hatte Pucinelli den Transporter vorsorglich in der Garage der Villa Fran cese abgestellt. Der Fahrer wohnte im Haus. Vier Tage nach unserem Signal an die Kidnapper, daß die vereinbarte Summe beschafft sei und für sie bereitliege, hatten sie ihre 12
Lieferbedingungen übermittelt. Wie zwischen Pucinelli und mir abgesprochen, hatte ich seine Dienststelle wegen der bevorstehenden Auslösung angerufen. Pucinelli war nicht da gewesen, wir hatten aber für die sen Fall vorgeplant. In Basis-Italienisch hatte ich gesagt: »Hier ist Andrew Douglas. Melden Sie bitte Enrico Puci nelli unverzüglich, daß der Krankenwagen losfährt.« Die Stimme am anderen Ende hatte gesagt, sie verstehe. Jetzt wünschte ich von ganzem Herzen, ich hätte mein Versprechen, Pucinelli zu informieren, nicht gehalten; aber Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizei war einer der obersten Grundsätze der Firma. Pucinellis Vertrauen zu mir, stellte sich nun heraus, war nicht gar so groß gewesen. Vielleicht hatte er geahnt, daß ich lieber die Fährte des Koffers verlieren würde, als mei ne Gegenwart am Ort der Übergabe zu verraten. Jedenfalls konnte von seinem Dienstfahrzeug aus sowohl der Peil sender im Koffer wie auch ein weiterer in dem Transporter verfolgt werden. Der diensttuende Kollege hatte aber auf meine Nachricht hin Pucinelli nicht verständigt. Er war einfach blind mit einem schweren Überfallkommando und Pucinellis Dienstwagen ausgerückt, um sich mit Ruhm zu bedecken. Dummer Eigensinn, menschliches Versagen, die Folgen konnten tödlich sein. Wie, in Gottes Namen, sollte ich es Paolo Cenci sagen? Und wer würde es dem Rechtsanwalt beibringen, daß es seinen Sohn erwischt hatte? »Der Junge, der den Wagen fuhr, lebt er?« fragte ich Pu cinelli. »Er wurde ins Krankenhaus überführt. Als sie ihn abhol ten, lebte er noch. Mehr weiß ich nicht.« »Man muß seinen Vater benachrichtigen.« Pucinelli sagte grimmig: »Das ist veranlaßt. Ich habe jemand hingeschickt.« 13
Dieser Schlamassel, dachte ich, wird dem Ruf der Firma gar nicht guttun. Es war unbedingt meine Aufgabe, eine Entführung möglichst still und leise bereinigen zu helfen, mit dem geringsten Aufsehen und minimalem Aufwand. Mein Job war es, Ruhe zu schaffen, zu planen, abzutasten, mit wie wenig sich ein Kidnapper begnügen würde. Die Verhandlungen mußten in einem ruhigen, geschäftsmäßi gen Klima erfolgen, man mußte feilschen ohne Zorn; das Timing mußte stimmen. Mein oberstes Ziel war es, das Opfer heil nach Hause zu bringen. Bisher war ich bei fünfzehn Entführungen der Berater vor Ort gewesen. Manchmal hatte es nur Tage, manchmal Wochen, manchmal Monate gedauert. Hauptsächlich weil Entführer ihre Opfer in der Regel unversehrt freilassen, wenn erst das Lösegeld in ihren Händen ist, hatte ich bis lang keine Katastrophe miterlebt. Bei Alessia Cenci, die als eine der besten Rennreiterinnen der Welt galt, sah es ganz danach aus, als bahnte sich die erste an. »Enrico«, sagte ich, »sprechen Sie nicht selbst mit den Entführern. Holen Sie jemand anders, der Entscheidungen mit Ihnen absprechen muß.« »Weshalb?« fragte er. »Das bringt Ruhe in die Sache. Nimmt Zeit in Anspruch. Je länger Sie reden, desto weniger wahrscheinlich ist es, daß sie die Leute in der Wohnung umbringen.« Er betrachtete mich kurz. »Also gut. Beraten Sie mich. Es ist ja Ihr Job.« Wir waren allein in dem Transporter. Wahrscheinlich schämte er sich sehr wegen des Fehlschlags seiner Mann schaft, sonst hätte er einen solchen Prestigeverlust nicht stillschweigend zugegeben. Schon bald nach meiner An kunft in der Villa war mir klargeworden, daß er es als lei tender Beamter noch nie mit einer wirklichen Entführung zu tun gehabt hatte, obwohl, wie er betonte, alle Carabi 14
nieri theoretisch im Umgang mit Entführungen geschult wurden, da es ein in Italien bedauerlich häufig verübtes Verbrechen war. Bis zu dieser Nacht hatten sich seine Theorie und meine Erfahrung ganz gut vertragen, und er wollte offenbar, daß das Bündnis bestehen blieb. Ich sagte: »Rufen Sie direkt von hier aus in der Woh nung an. Erklären Sie den Entführern, daß Sie Verhand lungen in die Wege leiten. Daß es noch dauern kann. Wenn ihnen die Zeit zu lang wird, sollen sie Sie anrufen. Geben Sie ihnen die Nummer … Es ist doch ein Anschluß hier im Wagen?« Er nickte. »Wir werden gerade verbunden.« »Wenn sich ihr Puls erst mal beruhigt hat, stabilisiert sich auch die Lage. Setzt man sie von vornherein zu sehr unter Druck, könnten sie noch einmal schießen.« »Und meine Männer würden feuern …« Er kniff halb die Augen zu und ging hinaus. Dann konnte ich hören, wie er durch ein Megaphon zu seinen Leuten sprach. »Nicht schießen. Ich wiederhole, nicht schießen. Warten Sie auf meine Befehle.« Wenig später kam er in Begleitung eines Mannes zurück, der ein Kabel ausrollte. »Techniker«, sagte er knapp. Der Techniker schloß das Kabel an einen der Schaltkä sten an und reichte Pucinelli ein Gerät, das aussah wie ein Mittelding zwischen Hörer und Mikrophon. Es hatte eine Direktverbindung zu dem Telefon in der Wohnung, denn nach einer kurzen Pause unterhielt sich Pucinelli offen sichtlich mit einem der Entführer. Der Techniker schnitt jedes Wort mit. Das Italienisch war zu idiomatisch für meine Ohren, aber ich bekam zumindest den Tonfall mit. Das fast hysterische Gebrüll des Kidnappers ließ dank der entschlossenen Ruhe Pucinellis allmählich nach und endete in einer leichter zu meisternden Erregung. Auf die letzte, ungestüme Frage 15
erwiderte Pucinelli nach einer Pause langsam und deut lich: »Dazu bin ich nicht ermächtigt. Ich muß mich an meine Vorgesetzten wenden. Bitte warten Sie auf deren Antwort.« Eine drohend gebrummte Zustimmung folgte, dann wur de mit einem Klicken aufgelegt. Pucinelli fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und warf mir ein winziges Lächeln zu. Belagerungen konnten sich über Tage hinziehen. Das wußte er wohl, aber immerhin hatte er die Verbindung hergestellt, den ersten wichtigen Schritt getan. Er warf einen Blick auf den Techniker. Ich erriet, daß er mich fragen wollte: Was nun? Wegen des Technikers und seiner Aufzeichnungen konnte er nicht. Ich sagte: »Sicher werden Sie bald Scheinwerfer auf die se Fenster richten, damit sich die Entführer ausgeliefert fühlen.« »Sicher.« »Und wenn sie sich in ein, zwei Stunden nicht ergeben, holen Sie bestimmt jemand her, der sich im Verhandeln auskennt. Der mit ihnen reden soll. Einen Gewerkschaftler vielleicht. Und danach einen Psychiater, der die geistige Verfassung der Entführer abschätzt und Ihnen sagt, wann der geeignetste Moment da ist, sie massiv unter Druck zu setzen, damit sie herauskommen.« Ich zuckte mißbilligend die Achseln. »Es ist Ihnen natürlich bekannt, daß diese Methoden bei anderen Geiselnahmen gute Erfolge ge bracht haben.« »Natürlich.« »Außerdem könnten Sie ihnen freilich auch sagen, daß sie, falls Alessia Cenci stirbt, nie wieder aus dem Gefäng nis herauskommen.« »Der Student … sie werden wissen, daß sie ihn erwischt haben …« 16
»Wenn man Sie fragt, werden Sie doch sicher sagen, daß er noch lebt. Dabei werden Sie auf jeden Fall bleiben, auch wenn er stirbt. Die sollen ja nicht glauben, sie hätten nichts zu verlieren.« Plötzlich sprudelte eine Stimme aus einem der bisher stummen Empfangsgeräte. Der Techniker und Pucinelli fuhren herum und hörten angespannt hin. Es war eine Frauenstimme, brabbelnd, weinend, für mich fast unver ständlich, aber im Kern wiederum klar genug. Die rauhe Stimme des Kidnappers durchschnitt das Ge brabbel, viel zu wütend, um irgendwen in Sicherheit zu wiegen. Eine Kinderstimme heulte auf, und eine andere rief: »Mama! Papa! Mama!« »Herrgott«, sagte Pucinelli, »Kinder! Es sind auch Kin der dabei.« Der Gedanke entsetzte ihn. In diesem einen Augenblick sorgte er sich mehr um sie als in den ganzen fünf Wochen um das entführte Mädchen. Zum erstenmal sah ich wirkliche Betroffenheit in seinem olivfarbenen Ge sicht. Er lauschte gebannt dem Durcheinander der Stim men, die jetzt aus dem Abhörgerät vor der Wohnung zu uns drangen. Schließlich, herausgelöst aus dem Stimmen gewirr, schrie ein Kidnapper die Frau an, sie solle den Kindern ein paar Kekse geben, damit sie still seien, sonst würde er sie eigenhändig aus dem Fenster werfen. Die Drohung wirkte. Relative Stille trat ein. Pucinelli nutzte die Gelegenheit, über Funk rasche Order an seine Zentrale zu geben. Er forderte Suchscheinwerfer, Unter händler und Psychiater an. Dabei sah er abwechselnd zu den Fenstern im dritten Stock hinauf und auf die vollge stopfte Straße. Beides erschien durch das abgetönte Glas des Transporters unwirklich trüb. Allerdings nicht so trüb, daß er etwas übersehen hätte, das ihm gehörig mißfiel. Mit einem Fluch stürzte er aus dem Wagen. Ich entdeckte den Grund seiner Aufregung und hätte ebenfalls fluchen kön 17
nen. Ein Fotograf mit Blitzlicht war aufgetaucht, das erste Kontingent der Presse. Die nächste Stunde hindurch lauschte ich den Stimmen aus der Wohnung, die ich nach und nach in Vater, Mutter, zwei Kinder, ein Baby und zwei Kidnapper sortierte; der eine, der am Telefon gesprochen hatte, ein brummender Baß, der andere ein eher ängstlicher Tenor. Der Tenor, dachte ich, würde sich eher ergeben, der Baß würde eher zum Killer. Bewaffnet waren sie beide, wie sich herausstellte. Der Techniker sprach zwischendurch rasch mit Pucinelli, der mir zuliebe alles noch einmal langsam wiederholte: Die Kidnapper hatten die Mutter mit den drei Kindern in ein Zimmer gesperrt und davon gesprochen, daß der Vater gefesselt war. Der Vater stöhnte ab und zu und wurde barsch aufgefordert, dies zu lassen. Auf der Straße wuchs die Menschenmenge von Minute zu Minute an. Es schien, als hätten alle Mietshäuser in der Nachbarschaft sich geleert, um die Reihen der nicht zah lenden Zuschauer zu füllen. Noch um zwei Uhr morgens durchkreuzten Scharen von Kindern jeden Versuch der Ca rabinieri, sie zurückzuhalten. Immer mehr Fotoapparate tauchten auf und fingen die jetzt geschlossenen Fenster ein, hinter denen dramatischerweise der Entführer mit dem Tenor sich soeben bereit erklärte, die Flasche für das Baby in der Küche aufzuwärmen. Ich knirschte mit den Zähnen, als nun auch noch ein ÜWagen des Fernsehens anrollte. Mit Lampen, Kameras und Mikrophon bewaffnet, sprangen die Insassen ins Freie, nahmen sofort erste Interviews auf und posaunten hinaus, was sie nur wußten. Die Entführung Alessia Cencis war bis dahin eine leise Angelegenheit gewesen. Die erste Schocknachricht über ihr Verschwinden hatte zwar Schlagzeilen gemacht, aber 18
nur kurz, denn die meisten Zeitungsredakteure sehen ein, daß es todbringend sein kann, Reporter auf derartige Sto ries anzusetzen. Eine Belagerung auf offener Straße hin gegen ist dem einen recht, dem anderen billig. Zynisch fragte ich mich, wie lange es wohl dauern würde, bis einer der rehbraun uniformierten Gesetzeshüter sich die Aus kunft vergüten ließ, wessen Lösegeld da oben im dritten Stock eigentlich verbarrikadiert war. Ich merkte, wie ich mechanisch eine Art Gedächtnisfoto aufnahm, ein deutliches Standfoto von der bewegten Sze ne draußen. Das war eine später bewußt weiterentwickelte Angewohnheit aus meiner Kinderzeit. Ein Spiel, um mir die Langeweile zu vertreiben, wenn meine Mutter mich im Auto hatte sitzen lassen, während sie einkaufen ging. Be sonders beliebtes Objekt meiner Beobachtung war immer die Sparkasse. Auf Breitband hielt ich alles fest, damit ich, falls irgendwelche Bankräuber herausgestürmt wären, in der Lage gewesen wäre, der Polizei jedes Auto, das in der Nähe geparkt hatte, samt Marke, Farbe und Kennzeichen zu beschreiben, und alle Leute, die gerade auf der Straße gewesen waren, gleich mit. Fluchtwagen und ihre Fahrer wären dem Adlerauge des zehnjährigen Andrew D. un möglich entgangen. Nie tat ein Bankräuber mir den Gefallen, auch nie ein flinker Juwelendieb. Ich ertappte keine Kindesräuberin bei den Kinderwagen vor der Bäckerei, keinen Rowdy, der alten Leutchen ihren Geldbeutel entriß, nicht einen Auto dieb, der an verschlossenen Wagentüren herumprobierte. Viele unschuldige Menschen hatte ich dem strengen Arg wohn meines Blickes unterworfen – und obwohl ich die Hoffnung, wirklich einmal ein Verbrechen zu beobachten, schließlich fahren ließ, war die Fähigkeit der Erinnerung anhand von Standfotos mir geblieben. So hatte ich jetzt, nach einigen Augenblicken der Kon 19
zentration, ein absolut klares Bild im Kopf. Die Zahl der Fenster im gegenüberliegenden Wohnblock hätte ich an geben können, die Position jedes einzelnen Polizeiwagens, die Bekleidung der Fernsehcrew, den Standort jedes Zivi listen innerhalb des Polizeikordons, sogar das Profil des nächsten Pressefotografen, der zwei Kameras umhängen hatte, im Moment aber nichts aufnahm. Sein Kopf war ziemlich rund, mit glattem schwarzem Haar, und er trug eine braune Lederjacke mit goldenen Schnallen an den Ärmelaufschlägen. Scharf ertönte ein Summer im Innern des Transporters. Pucinelli griff nach dem Hörer, der ihn mit dem Telefon in der Wohnung verband. Der Entführer mit der Baßstimme, durch das Warten gereizt, forderte Taten; forderte im be sonderen den freien Abzug zum Flughafen und eine leichte Maschine, die ihn und seinen Kollegen mitsamt dem Lö segeld ausfliegen sollte. Pucinelli bat ihn wiederum zu warten, da dies nur seine Vorgesetzten in die Wege leiten könnten. Sie sollten sich verdammt beeilen, erwiderte der Baß. Man würde sonst am Morgen Alessia Cencis Leiche finden. Pucinelli hängte mit zusammengepreßten Lippen den Hörer ein. »Ein Flugzeug gibt es nicht«, erklärte er mir rundheraus. »Das ist unmöglich.« »Tun Sie, was sie verlangen«, drängte ich. »Einfangen können Sie sie später wieder, wenn das Mädchen frei ist.« Er schüttelte den Kopf. »Diese Entscheidung kann ich nicht treffen. Nur die höchsten Stellen …« »Dann fragen Sie sie!« Der Techniker blickte bei meinen drängenden Worten neugierig auf. Pucinelli indessen überlegte und sah ein, daß es verlockende Vorteile hatte, wenn er die Entschei dung abwälzte. Starb das Mädchen, konnte man ihm dar 20
aus keine Schlinge drehen. Die Gedanken liefen sichtbar hinter seinen Augen ab und klärten sich. Er nickte. Ich wußte nicht, ob seine Vorgesetzten die Kidnapper her auslassen würden oder nicht; ich wußte nur, daß Enrico es nicht konnte. Es war tatsächlich etwas für die hohen Tiere. »Ich fahre mal zur Villa Francese zurück«, sagte ich. »Aber wieso denn?« »Hier werde ich nicht gebraucht, aber dort … viel leicht.« Ich zögerte einen Moment. »Ich bin mit dem Transporter hierhergekommen. Woher kriege ich um diese Zeit einen Wagen, der mich unauffällig zurückbringt?« Zerstreut sah Enrico auf die Dienstwagen draußen. Ich schüttelte den Kopf. »Keinen davon.« »Noch immer die Anonymität …?« »Ja«, sagte ich. Er schrieb etwas für mich auf eine Karte und gab mir Anweisungen. »Ein Nachttaxi, hauptsächlich für späte Ze cher und untreue Ehemänner. Wenn es nicht da ist, warten Sie einfach.« Ich stieg durch die Fahrkabine auf der dem Licht und dem Trubel der Straße abgewandten Seite aus. Drückte mich um die Gaffer herum, löste mich vom Schauplatz, suchte die unbemerkten Schatten, den für meine Arbeit so normalen Bereich. Eine Ecke weiter war der ganze Alptraum verschwun den. Schnell und aus langer Gewohnheit leise schritt ich durch die schlafenden, noch sommerlich warmen Straßen, ohne die Stille zu stören. Der Taxistand befand sich jen seits des alten Marktplatzes, wo ich, beeindruckt von der eigentümlichen Atmosphäre, ein wenig langsamer ging. Irgendwo in dieser uralten Stadt oder ihrer Umgebung war eine wehrlose junge Frau höchster Gefahr ausgesetzt. Es schien mir, als verkörperten die turmhohen Mauern mit ihren glatten, undurchdringlichen Fassaden die ganze Här 21
te und Unerbittlichkeit derer, die Alessia Cenci gefangen hielten. Die beiden jetzt belagerten Kidnapper waren lediglich die Kassierer. Es gab noch andere. Zumindest waren noch Wachen bei ihr. Und dazu, ahnte ich, kam der Mann, des sen Stimme fünf lange Wochen hindurch Anweisungen er teilt hatte, der Mann, den ich mir als IHN dachte. Ich fragte mich, ob er wußte, was bei der Übergabe ge schehen war. Ob er schon von der Belagerung gehört hatte und wußte, wo sich das Lösegeld befand. Vor allem fragte ich mich, ob er in Panik geraten würde. Alessia hatte dann keine Zukunft mehr.
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aolo Cenci tat, was ich mir versagt hatte: Er lief auf den Fliesen zwischen den Säulen seiner Eingangshalle auf und ab, getrieben von unerträglicher Spannung. Als er mich von der Küche über den Flur kommen sah, unter brach er seine automatenhaften Schritte, hob den Kopf und eilte auf mich zu. »Andrew!« Sein Gesicht war grau in der elektrischen Beleuchtung. »Was in Gottes Namen ist passiert? Giorgio Traventi rief an, man habe auf seinen Sohn geschossen. Sein Anruf kam aus der Klinik. Lorenzo wird gerade ope riert.« »Haben die Carabinieri Sie nicht …?« »Kein Mensch hat mir einen Ton gesagt! Ich drehe schon durch vor Angst. Vor fünf Stunden sind Sie und Lorenzo aufgebrochen. Seit fünf Stunden warte ich.« Seine rauhe Stimme bebte bei dem anmutig ausgesprochenen Englisch, die Erregung klang roh und ohne Scham durch. Er war sechsundfünfzig, ein starker Mann auf der Höhe seiner ge schäftlichen Fähigkeiten, aber die letzten Wochen hatten entsetzliche Anforderungen an seine seelische Wider standskraft gestellt. Oft zitterten ihm jetzt sogar die Hän de. Ich sah so viel von dieser Verzweiflung in meinem Be ruf. Ganz gleich wie vermögend, ganz gleich wie mächtig, die Familie des Opfers litt einfach im direkten Verhältnis zum Ausmaß ihrer Liebe. Alessias Mutter war tot: Alessias Vater stand Ängste aus für zwei. Mitfühlend zog ich ihn hinüber in die Bibliothek, wo er meistens abends saß. Mein Zorn muß deutlich gewesen sein, als ich ihm die Einzelheiten des Fiaskos schilderte. Er saß da mit dem 23
Kopf in den Händen, als ich schloß, und nie hatte ich ihn den Tränen so nah gesehen. »Sie werden sie umbringen …« »Nein«, sagte ich. »Es sind Tiere.« An bestialischen Drohungen hatte es in den vergangenen Wochen kaum gefehlt, so daß ich nicht widersprach. Die Körperverletzungen, die die Entführer in Aussicht gestellt hatten, falls Cenci ihren Anweisungen nicht nachkam, wa ren brutal darauf berechnet gewesen, den Willen eines jeden Vaters zu brechen. Dabei hatte ihn mein Hinweis, daß Drohungen gebräuchlicher waren als ihre Ausführung, nicht nennenswert getröstet. Seine Phantasie war zu rege, seine Furcht zu unbarmherzig wach. Meine Beziehung zu den Familien der Opfer glich in et wa der eines Arztes – im Notfall gerufen, in einer er schreckenden, kritischen Situation befragt. Wunder wur den erhofft, Beistand ersehnt. Zu meiner ersten Solobera tung war ich ohne jede klare Vorstellung angetreten, wieviel Stahl in meinem Innern ich nötig haben würde, und auch nach vier Jahren noch brachten die Anforderun gen, die man an meine Kräfte stellte, mich zum Schau dern. Nie gefühlsmäßig auf etwas einlassen, hatte man mir immer wieder während meiner Ausbildung gesagt; sonst gehst du aus dem Leim. Ich war dreißig. Ich fühlte mich manchmal wie hundert. Paolo Cencis hilflose Reaktion auf die Art und die Tragweite der Katastrophe schlug vor meinen Augen in Zorn um und, nicht unerwartet, in Groll gegen mich. »Wenn Sie den Carabinieri nicht gesagt hätten, daß wir das Lösegeld übergeben wollen, wäre das nicht passiert. Es ist Ihre Schuld. Ihre! Wie erbärmlich! Ich hätte Sie niemals hinzuziehen sollen. Diese Leute haben mich ja von Anfang an gewarnt, sie würden, wenn ich die Carabi 24
nieri einschalte, Unaussprechliches anstellen mit Alessia. Aber ich habe mich von Ihnen überreden lassen, und das hätte ich nicht tun sollen. Ich hätte sofort das Lösegeld be zahlen sollen, als sie es verlangten, dann wäre Alessia seit Wochen wieder frei.« Ich widersprach ihm nicht. In seinem Kummer zog er es zwar vor, sich nicht daran zu erinnern, aber er wußte, daß es unmöglich gewesen war, die anfangs erhobene Löse geldforderung zu erfüllen. So reich er sein mochte, ein Be trag von umgerechnet sechs Millionen Pfund Sterling ent sprach dem Wert nicht nur seines gesamten Grundbesitzes, sondern außerdem eines Großteils seiner Geschäftsunter nehmen. Auch hatten die Entführer, wie ich ihm eindring lich erklärt hatte, niemals erwartet, daß er soviel bezahlte. Sie wollten ihn einfach mit einem Riesenbetrag knüppeln, damit jedes bißchen weniger wie eine Erleichterung er schien. »Alles, was Alessia zu leiden hat, ist Ihre Schuld.« Ausgenommen vermutlich die Entführung selbst. »Wenn Sie nicht wären, hätte ich sie zurückgeholt. Ich hätte bezahlt. Alles hätte ich bezahlt …« Wer zuviel und zu früh zahlt, bringt Kidnapper auf den Gedanken, sie hätten die Mittel der Angehörigen unter schätzt. Das kann zur Folge haben, daß für das gleiche Op fer noch ein zweites Lösegeld erpreßt wird. Davor hatte ich ihn gewarnt, und er hatte es verstanden. »Alessia ist mir mehr wert als alles, was ich besitze. Ich wollte bezahlen … Sie ließen es nicht zu. Ich hätte tun sol len, was ich für das beste hielt. Ich hätte alles darum gege ben …« Sein Zorn sprudelte weiter, und verdenken konnte ich es ihm nicht. Die Angehörigen hatten oft das Gefühl, für die sichere Rückkehr desjenigen, den sie liebten, wäre buch stäblich kein Preis zu hoch. Aber ich hatte in den letzten 25
vier Jahren eine ganze Menge über die unverhofften Seiten des Stresses gelernt. Ich hatte erkannt, wie wichtig es für den künftigen Bestand familiärer Beziehungen war, daß ein Mitglied die anderen nicht praktisch alles kostete. Nach der Anfangseuphorie und wenn sich der finanzielle Verlust auszuwirken begann, wurde sonst die Last der Schuldgefühle für das freigekaufte Opfer zu groß und der Groll der Befreier zu stark. Sie bekamen dann ihrerseits Schuldgefühle wegen ihres Grolls, und schließlich konn ten sie das Opfer, für das sie sich aus Liebe an den Bettel stab gebracht hatten, sogar hassen. Das zukünftige Gleichgewicht eines Opfers zu retten war mir nach und nach ebenso wichtig geworden wie seine physische Freiheit, aber ich erwartete nicht, daß Paolo Cenci dieses Ziel im Augenblick zu schätzen wußte. Das Telefon an seiner Seite klingelte. Es ließ ihn zu sammenfahren. Er streckte die Hand aus, zögerte erst, nahm dann sichtlich allen Mut zusammen und hielt den Hörer an sein Ohr. »Ricardo! … Ja … jawohl … ich verstehe. Sofort, ich bin gleich weg.« Er legte auf und erhob sich wie elektri siert. »Ricardo Traventi?« fragte ich, ebenfalls aufstehend. »Lorenzos Bruder?« »Ich muß allein hin«, sagte er, aber ohne Nachdruck. »Das kommt gar nicht in Frage. Ich werde Sie fahren.« Schon seit meiner Ankunft vertrat ich Cencis Chauffeur, zünftig in dessen Mütze und marineblauem Anzug, wäh rend dieser dankbare Mann Urlaub machte. Es verlieh mir eine Unsichtbarkeit der Art, wie die Firma sie am geeig netsten fand. Kidnapper waren über einen Haushalt, den sie heimgesucht hatten, immer genau im Bilde, und ein neuer, allzu aufdringlicher Besucher hätte sie alarmiert. Ein Entführer war nervös wie ein pirschender Fuchs. Er 26
sah schon Gefahren, wo es keine gab, geschweige denn, wo welche waren. Ich kam und ging durch den Dienstbo teneingang in die Villa. Alles andere wäre zweifellos auf gefallen. Cencis Zorn war so schnell verraucht, wie er aufgekom men war. Wir hatten noch eine Vertrauensbasis. Ich war auch um seinetwillen froh, daß er meine Anwesenheit wei ter dulden würde, fragte aber doch eher zurückhaltend: »Was hat Ricardo denn gesagt?« »Sie haben angerufen …« Unnötig zu fragen, wer »sie« waren. »Sie« hatten die ganze Zeit über bei Traventi ange rufen, um Nachrichten zu hinterlassen, denn daß die Ge spräche in der Villa Francese abgehört wurden, verstand sich für sie von selbst. Daß auch das Telefon der Traventis mit der widerstrebenden Erlaubnis dieser Familie ange zapft worden war, wußten sie offenbar nicht so genau. »Ricardo sagt, wir müßten uns am gewohnten Ort mit ihm treffen. Er hat die Nachricht entgegengenommen, weil seine Eltern noch in der Klinik sind. Er möchte sie nicht damit behelligen. Er sagt, er kommt mit dem Motorroller.« Cenci strebte bereits zur Tür hin, überzeugt, daß ich ihm folgen würde. Ricardo, der jüngere Bruder Lorenzos, war erst achtzehn, und niemand hatte ursprünglich vorgehabt, die beiden Jun gen mit hineinzuziehen. Giorgio Traventi als Rechtsanwalt hatte sich bereit erklärt, als Vermittler zwischen Paolo Cenci und den Entführern zu dienen. Er nahm Nachrichten entgegen, gab sie weiter und überbrachte zu gegebener Zeit die Antworten. Auch die Kidnapper hatten einen Unter händler … IHN … mit dem Giorgio Traventi sprach. Einige Male war Traventi aufgefordert worden, an einer bestimmten Stelle Päckchen abzuholen. Meistens, aber nicht immer, war es derselbe Ort, und dahin fuhren wir jetzt. Es war nicht nur der Briefkasten geworden für die 27
Beweise, daß Alessia noch lebte, und für ihre flehentlichen Bitten und SEINE Forderungen oder schließlich, am frühen Abend dieses Tages, für die Anweisungen, wohin das Lö segeld zu bringen sei. Es war auch der Ort, wo sich Gior gio Traventi mit Paolo Cenci traf, damit sie unter vier Au gen sprechen konnten. Sie waren beide nicht allzu glücklich darüber gewesen, daß die Carabinieri am Tele fon jedes Wort mithörten. Im nachhinein mußte ich ihrem Instinkt recht geben. Ironischerweise war Giorgio Traventi von Cenci und sei nem Hausanwalt zu Beginn einfach deshalb hinzugezogen worden, weil Traventi mit der Familie Cenci nicht gut be kannt war und daher ruhig in ihrem Namen handeln konn te. Seitdem hatte es sich die ganze Familie Traventi in den Kopf gesetzt, Alessia herauszuholen, und zuletzt hätte nichts mehr Lorenzo davon abbringen können, selbst zu fahren und das Lösegeld zu übergeben. Ich hatte ihre zu nehmende emotionelle Beteiligung – eben das, wovor man mich selbst gewarnt hatte, nicht gutgeheißen, sie aber auch nicht verhindern können. Die Traventis waren resolute Leute und starke Verbündete für Cenci, der sie so dringend brauchte. Tatsächlich waren die Verhandlungen bis zu dem Hinter halt der Carabinieri, soweit das bei einer Entführung mög lich ist, glatt verlaufen. Die Forderung von sechs Millio nen war heruntergeschraubt worden auf ein Zehntel der Summe. Und Alessia hatte – wenigstens an diesem Nach mittag – noch gelebt. Sie war unversehrt und gesund ge wesen, hatte aus der Zeitung vom Tage auf Band vorgele sen und gesagt, es gehe ihr gut. Der einzige Trost, dachte ich, als ich Cenci in seinem Mercedes zu dem Treffen mit Ricardo fuhr, war jetzt, daß die Entführer noch redeten. Jede Nachricht war besser als eine Leiche im Graben. 28
Der Treffpunkt war sorgfältig ausgewählt – von IHM. Selbst wenn die Carabinieri genügend Zivilfahnder gehabt hätten, um dort wochenlang Tag und Nacht zu observie ren, hätten sie die Übermittlung der Nachricht noch ver passen können. Und es lag auf der Hand, daß dies auch mindestens einmal geschehen war. Um in der Phase der schärfsten Überwachung Verwirrung zu stiften, waren die Nachrichten woanders übermittelt worden. Unser Ziel war ein Autobahnrestaurant einige Meilen außerhalb Bolognas, wo selbst nachts Leute kamen und gingen, anonyme Reisende, die man gleich wieder vergaß, zu jeder Stunde jedes Tages andere. Carabinieri, die zu lange bei einem Kaffee saßen, waren leicht herauszugrei fen. Nachrichten von IHM wurden in der Tasche eines billi gen grauen Plastik-Regencapes hinterlassen, das an einem Garderobenhaken der Gaststätte hing. Jeder, der das Selbstbedienungsrestaurant betrat oder hinausging, kam an der Garderobe vorbei, und wir nahmen an, daß sich das unscheinbare Kleidungsstück jeweils schon an seinem Platz befand, ehe der Anruf kam, daß eine Nachricht ab zuholen sei. Traventi hatte jedesmal das Cape mitgenommen, aber es hatte nie einen nützlichen Hinweis erbracht. Die Marke gab es überall in der Gegend zu kaufen als handlichen, im Taschenformat verpackten Schutz gegen plötzliches Un wetter. Die Carabinieri hatten bisher vier aus dem Restau rant geholte Regenmäntel bekommen, dazu den einen vom Flughafen und den von der Bushaltestelle. Alle waren neu gewesen, geknittert, frisch ausgepackt – sie hatten nach den Chemikalien gerochen, aus denen sie hergestellt wur den. Die Nachrichten waren alle auf Tonband gesprochen. Normale Kassetten, wie es sie überall zu kaufen gab. Nir 29
gendwo Fingerabdrücke. Alles überaus vorsichtig; alles eben professionell. Jedes Band hatte einen Beweis dafür enthalten, daß Alessia noch lebte. Jedes Band enthielt Drohungen. Jedes Band war eine Antwort auf Traventis jüngstes Angebot. Ich hatte ihm geraten, zuerst nur Zweihunderttausend an zubieten, eine Summe, die IHN zu echtem oder vorge täuschtem Zorn hinriß. In harten Verhandlungen war die Kluft zwischen Forderung und Glaubwürdigkeit allmäh lich geschlossen worden. Das Lösegeld mußte hoch genug sein, daß es SEINE Mühe lohnte, durfte Cenci aber nicht völlig lahmlegen. Als in dieser Hinsicht beide einigerma ßen zufrieden sein konnten, hatte man sich auf den Betrag geeinigt. Das Geld war abgehoben worden: italienische Währung in gebrauchten Scheinen, mit Gummi gebündelt und in ei nen Koffer verpackt. Wenn es sicher abgeliefert war, sollte Alessia die Freiheit erlangen. Sicher abgeliefert … Ihr Götter. Das Autobahnrestaurant lag etwa auf halber Strecke zwi schen Bologna und der Villa Francese, die mit ihren Türm chen in ländlichidyllischem Glanz an einem kleinen Süd hang stand. Tagsüber war die Straße stark befahren, aber jetzt, um vier Uhr früh, trafen nur wenige vereinzelte Licht kegel auf unseren Wagen. Cenci saß schweigend neben mir, den Blick auf der Straße und in Gedanken Gott weiß wo. Ricardo war mit seinem Motorroller vor uns auf dem Parkplatz angelangt, obwohl er einen eher weiteren Weg hatte. Wie sein Bruder war er selbstbewußt und intelligent. Die Angriffslust wegen der Schüsse, die gefallen waren, stand in seinen Augen, sprach aus seinem ganzen Körper. Mit vorspringendem Kinn und zusammengepreßten Lip pen kam er zum Mercedes herüber, als wir eintrafen, und kletterte auf den Rücksitz. 30
»Diese Schweine«, stieß er hervor. »Lorenzos Zustand ist kritisch, sagt Papa.« Er sprach italienisch, aber deutlich wie seine ganze Familie, die ich fast immer verstand. Paolo Cenci machte im Gedanken an das Kind anderer Eltern eine bekümmerte Geste mit den Händen. »Wie lau tet die Nachricht?« fragte er. »Sie sollen hier an den Telefonzellen warten. Er sagte, ich solle Sie holen, damit er Sie selbst sprechen kann. Kei nen Vermittler, sagte er. Er hörte sich böse an, sehr böse.« »War es wieder der gleiche Mann?« fragte ich. »Scheint so. Ich kenne zwar seine Stimme von den Ton bändern, aber ich habe noch nie mit ihm direkt gespro chen. Papa verhandelte ja immer mit ihm. Bis heute nacht wollte er mit niemandem sprechen außer mit Papa, ich sagte ihm aber, der sei im Krankenhaus bei Lorenzo und würde bis zum Morgen dableiben. Zu spät, meinte er. Ich müßte die Nachricht selbst weitergeben. Er sagte, daß Sie, Signor Cenci, allein sein müßten. Noch mal Carabinieri, und Sie würden Alessia nicht wiedersehen. Sie bekämen nicht einmal ihren Leichnam zurück.« Cenci zitterte neben mir. »Ich bleibe im Wagen«, sagte ich. »Mit meiner Mütze. Das wird man akzeptieren. Haben Sie keine Angst.« »Ich gehe mit Ihnen«, sagte Ricardo. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Auch Ricardo könnte man für einen Carabiniere halten. Bleib besser bei mir.« Ich wandte mich an Cenci. »Wir werden warten. Haben Sie gettoni bei sich, falls er verlangt, daß Sie ihn zurückru fen?« Er kramte geistesabwesend in seinen Taschen, und Ri cardo und ich gaben ihm einige der erforderlichen Tele fonmünzen. Dann mühte er sich mit dem Türgriff ab und trat auf den Parkplatz, wo er stehenblieb, als hätte er die Orientierung verloren. 31
»Die Zellen sind vor der Gaststube«, sagte Ricardo. »Di rekt draußen im Flur. Ich habe da schon oft telefoniert.« Cenci nickte, überwand sein Grausen und ging einiger maßen festen Schrittes auf den Eingang zu. »Glauben Sie, es sind Beobachter da?« fragte Ricardo. »Ich weiß nicht. Wir können jedenfalls kein Risiko ein gehen.« Ich benutzte das italienische Wort für Gefahr, nicht Risiko, aber er nickte verstehend. Es war das dritte Mal, daß ich in Italien arbeitete: Ich sollte die Sprache ei gentlich besser beherrschen. Wir warteten lange und redeten nicht viel. Wir warteten so lange, daß ich schon befürchtete, Cenci würde über haupt keinen Anruf bekommen. Die Nachricht sei nur ein grausames Vergeltungsspiel gewesen, oder schlimmer noch, es habe sich um eine List gehandelt, um Cenci von seinem Haus wegzulocken, während dort etwas Furchtba res stattfand. Alessias ältere Schwester Ilaria und Paolo Cencis Schwester Luisa schliefen beide in einem oberen Stockwerk der Villa. Vielleicht hätte ich dort bleiben sollen … aber Cenci war nicht in der Verfassung gewesen zu fahren. Vielleicht hätte ich seinen Gärtner im Dorf wecken sollen, der an den frei en Tagen des Chauffeurs manchmal fuhr … Vielleicht, vielleicht. Der Morgen graute bereits am Himmel, als Cenci zu rückkam. Er ging mit weichen Knien, sein Gesicht war starr, als er den Wagen erreichte. Ich öffnete ihm von in nen die Tür; er ließ sich schwer auf den Beifahrersitz fal len. »Er hat zweimal angerufen.« Unwillkürlich sprach er ita lienisch. »Beim erstenmal sagte er: warten. Ich habe ge wartet …« Er hielt inne und schluckte. Räusperte sich. Begann von neuem, diesmal schon gefaßter. »Ich habe lange gewartet. Eine Stunde. Länger. Endlich rief er wie 32
der an. Er sagte, Alessia lebe noch, aber der Preis sei ge stiegen. Er sagt, ich muß innerhalb von zwei Tagen zwei Milliarden Lire bezahlen.« Mit deutlicher Verzweiflung in der Stimme brach er ab. Zwei Milliarden Lire, das war annähernd eine Million Pfund. »Was hat er noch gesagt?« fragte ich. »Er sagte, wenn irgendwer den Carabinieri von der neuen Forderung erzählt, wird Alessia sofort sterben.« Er schien sich plötzlich zu erinnern, daß Ricardo im Wagen saß und drehte sich erschrocken zu ihm um. »Kein Wort von dieser Zusammenkunft, zu niemandem. Versprich mir das, Ricardo. Bei deiner Seele.« Ricardo versprach es mit ernstem Gesicht. Ebenso ernst sagte er, er werde nun in die Klinik fahren, um bei seinen Eltern zu sein und zu hören, wie es um Lorenzo stand, und nachdem er nochmals leidenschaftlich sein Stillschweigen zugesichert hatte, ging er zu seinem Motorroller hinüber und tuckerte davon. Ich ließ den Wagen an und fuhr vom Parkplatz herunter. Cenci sagte dumpf: »So viel kann ich nicht aufbringen. Nicht noch mal.« »Nun«, sagte ich, »das Geld in dem Koffer müßten Sie schließlich zurückbekommen. Bei einigem Glück. Das heißt, der eigentliche Mehrbetrag sind … hm … sieben hundert Millionen Lire.« Dreihunderttausend Pfund. Schnell ausgesprochen, klang es nach weniger. »Aber in zwei Tagen …« »Die Banken leihen es Ihnen. Sie haben die Vermögens werte.« Er antwortete nicht. So kurz nach der Beschaffung der anderen gebrauchten Scheine würde die Sache technisch schwieriger sein. Mehr Geld, viel schneller. Allerdings 33
würden die Banken auch die Morgenzeitungen lesen – und Lösegeldbeschaffung war für sie kaum ein unbekannter Vorgang. »Was sollen Sie tun, wenn Sie es zusammenhaben?« fragte ich. Cenci schüttelte den Kopf. »Er hat es mir gesagt … Aber diesmal kann ich Sie nicht einweihen. Diesmal bringe ich selbst das Geld … allein.« »Das ist unklug.« »Ich muß es tun.« Das klang verzweifelt und entschlossen, und ich wider sprach nicht. Ich sagte nur: »Werden wir Zeit haben, die Scheine zu fotografieren und zu kennzeichnen?« Ungeduldig schüttelte er den Kopf. »Was spielt das noch für eine Rolle? Nur Alessia zählt jetzt. Ich habe eine zwei te Chance erhalten … Dieses Mal tue ich, was er sagt. Diesmal handle ich allein.« War Alessia in Sicherheit – falls ihr das Glück so hold sein sollte –, dann würde er bereuen, daß er die beste Möglichkeit, wenigstens einen Teil des Lösegeldes wie derzuerlangen und die Kidnapper zu stellen, vergeben hat te. Die Gefühle verdrängten, wie so oft bei Entführungen, die Vernunft. Man konnte es ihm wohl nicht verdenken. Fotos von Alessia Cenci, dem Mädchen, das ich nie ge sehen hatte, schmückten die meisten Räume in der Villa Francese. Alessia Cenci auf Pferden, bei Rennveranstaltungen rings um die Welt. Alessia, das reiche Mädchen mit den Seidenhänden und einem Temperament wie die Sonne (hatte ein Zeitungsbericht geschwärmt), klar und warm, gelegentlich auch sengend. Ich wußte wenig vom Rennsport, aber von ihr, dem Gla mourgirl der europäischen Rennbahnen, die nichtsdesto weniger wirklich reiten konnte, hatte ich gehört. Man hätte 34
andernfalls auch kaum eine Zeitung anrühren dürfen. Es schien etwas an ihr zu sein, das die Berichterstatter fessel te, besonders in England, wo sie oft an Rennen teilnahm; und in Italien hörte ich echte Zuneigung in jeder Stimme, die von ihr sprach. Oder vielmehr in jeder Stimme außer der ihrer Schwester Ilaria, deren Reaktion auf die Entfüh rung widersprüchlich und aufschlußreich gewesen war. Alessia war auf Großaufnahmen nicht besonders schön – dünn, mit schmalen Zügen, dunklen Augen und kurzen, an den Kopf geschmiegten Locken. Ihre Schwester in den silbernen Rahmen neben ihr sah femininer, liebenswürdi ger und hübscher aus. Ilaria im Leben war indessen wohl nichts von alledem, jedenfalls nicht in der gegenwärtigen schrecklichen Situation der Familie. Schwer zu sagen, was Glück vermocht hätte. Sie und ihre Tante Luisa schliefen noch, als Cenci und ich zur Villa zurückkamen. Dort war alles ruhig, alles normal. Cenci ging geradenwegs in die Bibliothek, wo er sich eine große Portion Kognak in ein Wasserglas schenkte und mich einlud, seinem Beispiel zu folgen. Ich schloß mich ihm an. Sieben Uhr morgens war immerhin nicht die schlechteste Zeit, um sich zu betrinken. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß, daß es nicht Ihre Schuld war. Die Carabinieri … machen, was sie wollen.« Er bezog sich offenbar auf den Zorn, mit dem er mich zuletzt, als wir auf diesen beiden Sesseln saßen, überschüt tet hatte. Ich deutete mit einer Geste an, er solle nicht mehr daran denken, und ließ den Kognak sich einen Weg zu meinem Magen brennen. Ein Strahl lebhafter Empfin dung fuhr durch den Brustkorb hinab. Es war vielleicht nicht klug, aber das älteste Beruhigungsmittel wirkte im mer noch am besten. »Glauben Sie, wir bekommen sie zurück?« fragte Cenci. »Glauben Sie wirklich daran?« 35
»Ja.« Ich nickte. »Sie würden nicht noch mal praktisch von vorn anfangen, wenn sie vorhätten, sie umzubringen. Die wollen ihr nichts antun, ich habe es Ihnen die ganze Zeit gesagt. Man will nur, daß Sie das glauben … Und wirklich, ich halte es für ein gutes Zeichen, daß sie die Frechheit haben, auch jetzt noch zu verhandeln, wo zwei ihrer Leute von den Carabinieri belagert werden.« Cenci sah verblüfft drein. »Die hatte ich ganz verges sen.« Ich nicht; aber schließlich waren der Hinterhalt und die Belagerung meinem Gedächtnis als Erinnerungen einge prägt, nicht nur vom Hörensagen. Mich hatte den größten Teil der Nacht hindurch die Frage beschäftigt, ob die bei den Kassierer wohl Walkie-talkies bei sich hatten, so daß ER von dem Debakel fast im gleichen Moment, als es ge schah, erfahren hatte und nicht erst, als weder seine Leute noch das Geld auftauchten. Ich dachte, wenn ich ER wäre, würde ich mir große Sor gen machen wegen dieser beiden Männer. Nicht unbedingt um ihrer selbst willen, aber wegen dem, was sie wußten. Sie konnten wissen, wo Alessia war. Sie konnten wissen, wer den Coup geplant hatte. Sie mußten wissen, wohin sie das Geld bringen sollten. Sie mochten gekaufte Helfer sein … man hatte ihnen aber genug vertraut, um sie als Kassie rer einzusetzen. Sie konnten auch völlig gleichgestellte Partner sein, doch daran zweifelte ich. Entführerbanden neigten zu einem hierarchischen Aufbau wie jede andere Organisation. So oder so würden diese beiden in die Gewalt der Cara binieri fallen. Entweder sie wurden erschossen oder sie re deten. Sie selbst hatten zwar versichert, wenn man sie nicht laufenließe, würde Alessia sterben, aber offenbar hat te ER nichts dergleichen zu Cenci gesagt. Hieß das, daß für IHN das Geld den Vorrang hatte? Daß er entschlossen war, 36
nur zu erzwingen, was er fast mit Sicherheit bekommen konnte – Geld von Cenci – und nicht, was beinah ebenso sicher unerreichbar war: die Herausgabe seiner Freunde? Bedeutete es einfach, daß er keinen Funkkontakt mit sei nen Mitarbeitern hatte, die nur glaubten, er würde ihre Drohung wahrmachen …? Oder hatte er die Kollegen per Funk überredet, sie sollten sich verbarrikadieren, sollten fortwährend die wildesten Drohungen ausstoßen und sich die Carabinieri möglichst lange vom Leib halten, damit IHM Zeit blieb, Alessia in ein neues Versteck zu schaffen – wonach sie dann ruhig reden konnten, weil sie überhaupt nichts wissen würden, was sich zu erzählen lohnte? »Woran denken Sie?« fragte Cenci. »An Hoffnung«, sagte ich. Und dachte, daß die Kidnap per in der Wohnung wahrscheinlich doch nicht über Funk kontakt verfügten, denn sie hatten in der ganzen Stunde, während ich sie über das Abhörgerät belauschte, nicht dar auf angespielt. Andererseits konnte er an Wanzen gedacht haben … falls ER so schlau war … und ihnen nach den er sten raschen Instruktionen befohlen haben auszuschalten. Ich an SEINER Stelle wäre mit diesen Kassierern vom Augenblick ihres Aufbruchs an in Verbindung geblieben … doch schließlich gab es so viele Funkfrequenzen auch wieder nicht, und die Möglichkeit, daß jemand mithörte, war groß. Es gab aber auch Codes und vorher abgespro chene Wendungen … Und wie spricht man im voraus eine Nachricht ab, die besagt, die Carabinieri sind über uns hergefallen, und wir haben den Mann angeschossen, der das Lösegeld gebracht hat? Hätten sie das Lösegeld mit seinem Peilsender nicht mitgenommen, dann wären sie wahrscheinlich entkom men. Wären sie nicht fanatisch hinter dem Lösegeld her gewesen, dann hätten sie nicht auf den Überbringer ge schossen, um es zu bekommen. 37
Die Carabinieri hatten sich zwar dumm verhalten, die Kidnapper aber auch, und nur solange ER sich nicht doch entschied, die Sache aufzugeben, bestand wirklich Hoff nung. Ich hielt diese Hoffnung immer noch für schwach. Nur gibt man das gegenüber dem Vater des Opfers nicht zu. Cenci liefen jetzt ohnehin Tränen die Wangen hinunter, wahrscheinlich hatte sie der Kognak gelöst. Er weinte still, versuchte nicht, sie wegzuwischen oder zu verbergen. So mancher wäre früher bei diesem Stadium angelangt, und meiner Erfahrung nach kamen die Eltern der meisten Op fer dahin. Von Empörung, Zorn, Sorge und Schmerz bis zu Schuldgefühlen, Hoffnung und Leid, der Weg, den sie durchliefen, war der gleiche. Ich hatte so viele verzweifel te Menschen gesehen, daß mich ein lachendes Gesicht manchmal erschreckte. Der Paolo Cenci, den ich kannte, war der Mann mir ge genüber, der noch kein einziges Mal gelächelt hatte in meinem Beisein. Er hatte sich anfangs um ein kultiviertes Auftreten bemüht, aber die Maske war schnell durchlässig geworden, als er sich an meine Gegenwart gewöhnt hatte, und es war der Mann im Rohzustand, dessen Gefühle und Stärken und Blindstellen ich kannte. Der weltgewandte Er folgsmensch, der mild und weise aus dem Porträt im Wohnzimmer schaute, war ein Fremder. Er für sein Teil hatte mich nach der ersten Verwunderung darüber, daß ich nicht seiner Altersgruppe angehörte, of fenbar in allen Punkten für annehmbar gehalten. Sein Hil feruf hatte unser Büro innerhalb eines Tages nach dem Verschwinden Alessias erreicht, und am nächsten Tag hat te ich vor seiner Hintertür gestanden. Achtundvierzig Stunden konnten in einem solchen Alptraum jedoch wie ein ganzes Leben erscheinen. Mein Eintreffen hatte ihn er leichtert. Er hätte sehr wahrscheinlich sogar einen vierar 38
migen Zwerg mit blauer Haut akzeptiert, nicht nur eine dünne Gestalt von einsfünfundsiebzig mit normalen dunk len Haaren und verwaschen grauen Augen. Aber immer hin, er mußte für meine Hilfe bezahlen, und hätte er mich wirklich nicht gemocht, gab es eine gute Möglichkeit, mich wieder loszuwerden. Sein Anruf bei unserer Firma damals war kurz und di rekt: »Meine Tochter ist entführt worden. Weil ich Rat suchte, habe ich mit Tomasso Linardi von der Mailänder Feinlederfabrik telefoniert. Er nannte mir Ihren Namen … er sagt, es sei Ihre Firma gewesen, die ihn heil nach Hause brachte und der Polizei half, die Entführer aufzuspüren. Jetzt brauche ich Ihre Hilfe. Bitte kommen Sie.« Tomasso Linardi, der Mailänder Feinlederfabrikant, war selbst vor zwei Jahren bis zur Zahlung eines Lösegelds ge fangengehalten worden. Daß Paolo Cenci ihn kannte, war nicht erstaunlich, denn auch Cenci war als Leiter eines Unternehmens mit weltweitem Handel in der Lederbran che tätig. Die Hälfte aller nach England importierten Schuhe, sagte er mir, sei als Rohleder durch seine Firma gelaufen. Wie sich nebenbei zeigen sollte, hatten die beiden Män ner noch etwas anderes und Entfernteres gemeinsam, ein Interesse an Pferden. Cenci natürlich wegen Alessias Jok keyberuf und Linardi, weil ihm damals noch die Aktien mehrheit an einer Rennbahn gehörte. Dieser Anteil an ei nem erstklassigen gewinnbringenden Grundstück war eines der Dinge, die man verkauft hatte, um das Lösegeld für ihn aufzubringen – sehr zu seinem Bedauern, als er nach seiner Freilassung davon erfuhr. In Linardis Fall war, obwohl einige der Entführer einen Monat später festge nommen wurden, nur ein kleiner Teil der gezahlten Sum me von einer Million Pfund wieder aufgetaucht. Die sie ben Millionen, die zu Anfang nachdrücklich gefordert 39
wurden, hätten ihn noch außerdem um sein Geschäft ge bracht, und so war er im ganzen doch erleichtert und zu frieden gewesen. Offensichtlich zufrieden genug, um Li berty Market weiterzuempfehlen an den nächsten Herren in Not. Den Linardi-Auftrag hatte ich mit einem anderen Teilha ber zusammen durchgeführt. Wir hatten eine Frau Linardi vorgefunden, die wegen ihres Gatten nicht gerade ver zweifelt war und sich darüber erregte, wieviel es kostete, ihn freizukaufen. Seine Geliebte hatte Eimer vollgeweint, sein Sohn hatte seinen Chefstuhl an sich gerissen, seine Köchin bekam hysterische Anfälle, seine Schwestern hat ten sich gezankt, und sein Hund war fast verschmachtet. Die ganze Sache war mit der opernhaftesten Theatralik über die Bühne gegangen, so daß ich mir am Schluß vor kam, als habe mich eine Flutwelle überrollt. In der Villa Francese, einem viel ruhigeren Haus, saßen Paolo Cenci und ich noch eine halbe Stunde beisammen, ließen den Kognak wirken und dachten an dieses und je nes. Seine Tränen waren längst getrocknet. Schließlich seufzte er tief und sagte, man müsse dem Tag ins Auge se hen. Er werde sich umziehen, frühstücken und in sein Bü ro gehen. Sicher würde ich ihn fahren wie sonst. Und ich könne das neue Lösegeld fotografieren wie zuvor. Er habe nachgedacht; natürlich hätte ich recht, es sei die beste Möglichkeit, etwas davon wiederzubekommen. Das Frühstück in diesem streng geregelten Haushalt nahm man im Eßzimmer ein: Kaffee, Obst und warme Brötchen, vor Wandgemälden von Schäferinnen à la Marie Antoinette. Ilaria leistete uns dort Gesellschaft. Schweigend wie üb lich stellte sie ihre Vorlieben auf einem Teller zusammen. Ihr Schweigen war eine Form der Aggression; eine eindeu tige Weigerung etwa, ihrem Vater auch nur anstandshalber 40
guten Morgen zu sagen. Er schien es gewohnt zu sein, aber ich fand es merkwürdig, besonders unter diesen Um ständen. Und besonders, da es anscheinend weder Unei nigkeit noch Streit zwischen ihnen gab. Ilaria führte ein privilegiertes Leben, das keine Erwerbstätigkeit einschloß – hauptsächlich Reisen, Tennis, Gesangsstunden, Einkäufe und Essen, dank dem Geld ihres Vaters. Er gab, sie nahm. Ich fragte mich manchmal, ob sie sich aus Groll wegen dieser Abhängigkeit so hartnäckig weigerte, auch nur freundlich zu sein, aber sie hatte anscheinend nie eine Ar beit haben wollen oder gesucht. Ihre Tante Luisa hatte es mir stolz erzählt. Ilaria war blühende vierundzwanzig, gut gebaut, nicht dünn, mit wunderschön geschnittenem, welligem braunem Haar, das sie sehr pflegte. Sie hatte die Angewohnheit, ihre Augenbrauen zu heben und arrogant von oben herunterzu blicken, wie jetzt gerade auf ihre Kaffeetasse. Wahrschein lich spiegelte sich darin ihre ganze Lebensanschauung, und sicher würde es ihr Falten einbringen, ehe sie vierzig war. Sie fragte nicht, ob es Neuigkeiten von Alessia gab; das tat sie nie. Wenn überhaupt, dann schien sie ihrer Schwe ster böse zu sein wegen der Entführung, obwohl sie das nicht direkt aussprach. Auf meinen Vorschlag allerdings, sie solle nicht zu so voraussagbaren Zeiten zum Tennis platz gehen, ja, eigentlich ganz wegfahren und bei Freun den wohnen, da zu lange hingehaltene Entführer mitunter dem Tempo nachhalfen, indem sie sich ein zweites Mal an derselben Familie vergriffen, hatte sie nicht nur ablehnend reagiert, sondern bitter: »Bei mir gäbe es nicht so ein Wehgeschrei.« Ihr Vater hatte sich betroffen gezeigt über den Ausbruch, aber wir hatten ihm beide angesehen, daß ihr Vorwurf der Wahrheit entsprach, auch wenn er es sich nicht eingestand. 41
Es wäre tatsächlich sehr viel leichter gewesen, Ilaria zu entführen, doch selbst als Opfer war sie zugunsten ihrer berühmten kleinen Schwester, ihres Vaters Liebling, über gangen worden. Sie ging weiterhin mit dem gleichen Trotz, der sich in ihrem Schweigen äußerte, zur selben Zeit an dieselben Orte, eine offene Herausforderung. Cen ci hatte sie gebeten, es nicht zu tun, aber umsonst. Ich hätte gern gewußt, ob sie es glatt darauf anlegte, ent führt zu werden, damit ihr Vater seine Liebe zu ihr bewei sen mußte, wie bei Alessia, indem er wertvolle Dinge ver kaufte, um sie wiederzubekommen. Wir hatten ihr, weil sie nicht danach fragte, am Abend vorher nicht gesagt, daß in der Nacht das Lösegeld bezahlt werden sollte. »Lassen wir sie schlafen«, hatte Cenci ge meint. Für ihn allein war das Wachsein schon schlimm ge nug. »Vielleicht ist Alessia zum Frühstück ja wieder zu Hause.« Jetzt sah er Ilaria an und erzählte ihr mit großer Müdig keit, daß die Übergabe schiefgegangen war und daß ein neues und höheres Lösegeld für Alessia beschafft werden mußte. »Noch mal …« Sie starrte ihn fassungslos an, ihre Tasse verharrte auf halbem Weg zum Mund. »Andrew meint, wir bekommen das erste vielleicht zu rück, aber in der Zwischenzeit …« Er machte eine fast flehende Gebärde mit der Hand. »Meine Liebe, wir wer den ärmer sein. Nicht nur vorübergehend, sondern für im mer. Diese zusätzliche Forderung bedeutet einen schweren Rückschlag … Ich habe mich entschlossen, das Haus auf Mykonos zu verkaufen, aber auch das genügt noch nicht. Der Schmuck deiner Mutter muß verkauft werden, ebenso die Tabakdosensammlung. Für den Rest muß ich eine Hy pothek auf dieses Haus und das Grundstück aufnehmen, und wenn wir das erste Lösegeld nicht zurückerhalten, 42
werde ich die Zinsen für den Kredit mit den Einnahmen aus den Oliven bezahlen, wovon dann nichts übrigbleibt. Das Land in Bologna, das ich verkauft habe, um das erste Lösegeld zu beschaffen, bringt uns ja nun keine Einkünfte mehr, und wir werden von dem leben müssen, was ich im Geschäft verdiene.« Er zuckte leicht die Achseln. »Ver hungern werden wir nicht. Wir werden auch weiter hier wohnen. Aber da sind die Ruhegelder für unsere ehemali gen Diener und die Renten für die Witwen meiner Onkels, ihr Lebensunterhalt … Ein Kampf wird es schon, meine Liebe, und ich denke, du solltest es wissen und darauf vorbereitet sein.« Sie sah ihn völlig entgeistert an. Bis zu diesem Augen blick, dachte ich bei mir, hatte sie nicht begriffen, daß die Erpressung von Lösegeld eine sehr grausame Sache war.
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ch fuhr Cenci ins Büro und überließ ihn dort dem Tele fon und der Angelegenheit, die er mit den Banken ab zuwickeln hatte. Dann vertauschte ich die Chauffeursuni form mit null-acht-fünfzehn Hosen und Pullover, nahm ei nen Bus und suchte die Straße auf, in der die Belagerung womöglich noch im Gange war. Nichts schien sich dort verändert zu haben. Der Kran kenwagen mit den dunklen Fenstern stand immer noch am Straßenrand gegenüber dem Wohnblock, die Autos der Carabinieri parkten immer noch in wirrem Durchein ander, umringt von kauernden braunen Uniformen; aus dem Fernsehgefährt sprossen nach wie vor Kabel und An tennen, und ein Kommentator war immer noch auf Sen dung. Das Tageslicht hatte die Dramatik gedämpft. Der Schau platz sah jetzt nicht erschreckend, sondern friedlich aus, man bewegte sich im Schrittempo, nicht mehr in hastigen Sprints. Eine Gruppe von Zuschauern gaffte eher gelang weilt als neugierig. Die Fenster im dritten Stock waren geschlossen. Ich lungerte irgendwo am Rand des Ganzen herum, die Hände in den Taschen, die Lokalzeitung unterm Arm, und hoffte, daß ich nicht zu englisch aussah. Einige der Teilha ber von Liberty Market waren phantastische Verkleidungs künstler, aber für mich hatte ich eine etwas gekrümmte Haltung und einen leeren Gesichtsausdruck immer als das sicherste Mittel angesehen, nicht aufzufallen. Nach einer Weile, in der nichts Bedeutendes geschah, schlenderte ich auf der Suche nach einem Telefon davon 44
und wählte die Nummer der Handvermittlung in dem Kran kenwagen. »Ist Enrico Pucinelli da?« fragte ich. »Warten Sie.« Es gab ein Gemurmel im Hintergrund, dann meldete sich Pucinelli. Er klang erschöpft. »Andrew? Sind Sie es?« »Ja. Wie läuft die Sache?« »Alles ist unverändert. Um zehn habe ich eine Stunde dienstfrei.« Ich sah auf meine Armbanduhr. Neun Uhr achtunddrei ßig. »Wo gehen Sie essen?« fragte ich. »Zu Gino.« »Okay«, sagte ich und hängte ein. Ich erwartete ihn in dem hellerleuchteten, von Glas und Fliesen umrahmten Restaurant, in dem man meines Wis sens auch um drei Uhr früh noch gerne frische Pasta ser vierte. Um elf füllte es sich bereits mit frühen Gästen zum Mittagessen, daher hielt ich einen Tisch für zwei besetzt, indem ich Unmengen von Fettucine bestellte, die ich nicht mag. Pucinelli schob, als er eintraf, seinen abgekühlten Teller mit Entsetzen von sich und bestellte Rührei. Er war, wie vorauszusehen, in Zivilkleidung gekommen. Seine Müdigkeit zeigte sich in schwarzen Rändern unter den Augen und in hängenden Schultern. »Hoffentlich haben Sie gut geschlafen«, meinte er sarka stisch. Ich bewegte nur den Kopf, weder ein Ja noch ein Nein. »Ich mußte mich in dem Transporter die ganze Nacht mit zwei hohen Tieren herumschlagen«, sagte er. »Sie können sich wegen des Flugzeugs zu keinem Entschluß durchrin gen. Sie sprechen noch mit Rom. Jemand von der Regie rung müsse entscheiden, sagen sie, und niemand von der Regierung wollte deshalb im Schlaf gestört werden. Sie wären durchgedreht, mein Freund. Geschwätz, Geschwätz, 45
Geschwätz und nicht einmal einen Schiß von Aktivitäten.« Ich setzte ein mitfühlendes Gesicht auf und dachte bei mir, je länger die Belagerung jetzt dauert, um so sicherer ist Alessia. Laß sie dauern, dachte ich, bis sie frei war. Laß IHN bis zum Schluß ein Realist sein. »Was sagen die Kidnapper?« fragte ich. »Noch die gleichen Drohungen. Das Mädchen stirbt, wenn sie nicht mit dem Lösegeld abziehen können.« »Nichts Neues?« Er schüttelte den Kopf. Sein Rührei kam, mit Brötchen und Kaffee, und er aß ohne Hast. »Das Baby hat die halbe Nacht geschrien«, sagte er mit vollem Mund. »Der Kid napper mit der tiefen Stimme sagt der Mutter immerzu, er werde ihm den Hals umdrehen, wenn es nicht aufhört. Es geht ihm auf die Nerven.« Er hob die Augen zu meinem Gesicht. »Sie versichern mir ja immer, daß die mehr dro hen, als sie wahrmachen. Hoffentlich haben Sie recht.« Das hoffte ich auch. Ein schreiendes Baby konnte sogar ein beherrschtes Gemüt in Rage bringen. »Können sie es denn nicht füttern?« »Es hat eine Kolik.« Er sprach mit der Geläufigkeit der Erfahrung, und ich versuchte mir sein Privatleben vorzustellen. Unser Um gang miteinander war im wesentlichen unpersönlich. Nur in flüchtigen Momenten wie jetzt hörte ich den Menschen hinter dem Polizeibeamten. »Haben Sie Kinder?« fragte ich. Er lächelte kurz, ein Funkeln in den Augen. »Drei Söh ne, zwei Töchter, eins … unterwegs.« Er hielt inne. »Und Sie?« Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Unverheiratet.« »Ihr Pech. Ihr Glück.« Ich lachte. Er schnaubte mißbilligend durch die Nase, wie um die Herabsetzung seiner Frau zu widerrufen. »Aus 46
Mädchen werden Mamas«, sagte er. Er zuckte die Ach seln. »So ist es nun mal.« Weisheit, dachte ich, tauchte an den unverhofftesten Or ten auf. Zufrieden aß er sein Rührei und trank den Kaffee. »Zigarette?« fragte er, während er eine Packung aus der Hemdtasche zog. »Ach, ich vergaß. Sie rauchen ja nicht.« Er ließ sein Feuerzeug aufflammen und nahm den ersten Lungenzug mit dem tiefen Genuß des überzeugten Rau chers. Jeder nach seiner Fasson: Cenci und ich hatten das gleiche im Kognak gefunden. »Heute nacht«, fragte ich, »haben da die Kidnapper noch mit jemand anders gesprochen?« »Wie meinen Sie?« »Über Funk.« Er hob scharf das dünne Gesicht, der Familienvater wich zurück. »Sie haben nur miteinander gesprochen, mit den Geiseln und mit uns. Glauben Sie, die haben ein Funkge rät? Wie kommen Sie darauf?« »Ich habe mich gefragt, ob sie nicht mit ihren Kollegen, die Alessia bewachen, in Verbindung stehen.« Er dachte konzentriert darüber nach und schüttelte un entschieden den Kopf. »Die beiden Entführer haben zwar hin und wieder davon gesprochen, was vorging, aber nur so, als unterhielten sie sich. Wenn sie außerdem noch über Funk gesendet haben und nicht wollten, daß wir es mer ken, dann sind sie sehr clever. Sie konnten sich ja denken, daß wir inzwischen jedes Wort, das sie sagen, belau schen.« Er überlegte es sich noch ein wenig und schüttelte den Kopf schließlich mit größerer Gewißheit. »Die sind nicht clever. Ich habe ihnen die ganze Nacht zugehört. Die sind gewalttätig, verängstigt und …«, er suchte nach ei nem Wort, das ich verstehen würde, »… mittelmäßig.« »Durchschnittlich intelligent?« »Ja. Durchschnittlich.« 47
»Wenn Sie sie zum Schluß herausholen, schauen Sie dann trotzdem mal nach einem Funkgerät?« »Sie möchten es persönlich wissen?« »Ja.« Er sah mich abschätzend an, mit einer gehörigen Portion beruflicher Kühle. »Was verschweigen Sie mir?« Ich verschwieg ihm, was Cenci unter allen Umständen geheimhalten wollte, denn Cenci war derjenige, der mich bezahlte. Ich konnte eine Rücksprache mit der Polizei vielleicht empfehlen, aber mehr auch nicht. Dem Wunsch des Kunden entgegenzuhandeln, war zumindest schlecht für künftige Aufträge. »Ich frage mich einfach«, sagte ich leichthin, »ob die Leute, die Alessia bewachen, eigentlich wissen, was vor geht.« Er sah aus, als zweifelte sein sechster Sinn an meiner Ehrlichkeit. Um ihn abzulenken, sagte ich daher: »Haben Sie als letztes Mittel schon an den Einsatz von Blitzgrana ten gedacht?« »Blitz?« Er kannte den Begriff nicht. »Wieso Blitz?« »Granaten, mit denen man Leute für kurze Zeit mehr oder weniger betäubt. Sie erzeugen Lärm und Druckwel len, fügen aber keine bleibenden Schäden zu. Während noch alle halb betäubt sind, marschiert man in die Woh nung und legt Handschellen an, wo es nötig ist.« »Die Armee hat welche, glaube ich.« Ich nickte. »Und Sie gehören doch zur Armee.« »Spezialeinheiten haben welche. Wir nicht.« Er überleg te. »Würden sie den Kindern schaden?« Ich wußte es nicht. Ich sah ihm an, wie er die Blitzgrana ten schnell wieder verwarf. »Wir warten ab«, sagte er. »Für immer können die Kidnapper sich da ja nicht einni sten. Irgendwann müssen sie heraus.«
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Cenci starrte mürrisch auf einen großen Pappkarton, der auf dem Schreibtisch in seinem Büro stand. Der Karton war mit Etiketten beklebt, die in weißen Buchstaben auf Rot FRAGILE besagten, doch der Inhalt hätte jeden Sturz überstanden. Es sei denn, er fiel Entführern in die Hände. »Fünfzehnhundert Millionen Lire«, sagte Cenci. »Die Banken haben es aus Mailand kommen lassen. Unter Be wachung haben sie es sofort hierher ins Büro gebracht.« »In dieser Kiste?« fragte ich erstaunt. »Nein. Sie wünschten ihre Kassetten wieder zurück … und die Kiste war hier.« Seine Stimme klang todmüde. »Das übrige kommt morgen. Sie waren verständnisvoll und schnell, aber die Zinsen, die sie verlangen, legen mich lahm.« Ich deutete in einer Geste Mitgefühl an, da mir Worte unangebracht erschienen. Dann stieg ich in meine Chauf feursuniform, trug den Karton hinaus zum Wagen, verstau te ihn im Kofferraum, und gleich darauf fuhr ich Cenci nach Hause. Wir aßen ein spätes Dinner in der Villa. Unsere Mahlzei ten blieben wegen der täglichen Unruhe oft genug unbe endet; Cenci etwa schob mittendrin angewidert seinen Tel ler weg, und ich dachte manchmal, meine Magerkeit rühre daher, daß ich angesichts der Sorgen niemals herzhaft es sen konnte. Meine Anspielungen darauf, daß Cenci es viel leicht lieber sähe, ich würde nicht im Haus wohnen, hatte er entschieden zurückgewiesen. Er brauche Gesellschaft, um gesund zu bleiben. Ich solle bitte soviel wie möglich um ihn sein. An diesem Abend wußte er allerdings, daß es nicht ging. Ich trug den FRAGILE-Karton hinauf in mein Zimmer, zog die Vorhänge zu und begab mich an die langwierige Auf gabe, jeden einzelnen Schein zu fotografieren. Je vier vom gleichen Nennwert auf einmal, in einem Rahmen aus 49
entspiegltem Glas. Selbst wenn die Kamera auf einem Sta tiv stand, mit Großpatrone, Fernauslöser und Motortrans port, dauerte das immer eine Ewigkeit. Es war eine Sache, die ich wirklich lieber nicht den Banken oder der Polizei überließ, aber auch nach all der Übung, die ich hatte, mehr als fünfzehnhundert Scheine in der Stunde waren einfach nicht drin. Große Lösegelder bewirkten, daß ich in meinen Träumen Banknoten hin und her schob. Es war üblich bei Liberty Market, die unentwickelten Filme durch Eilboten an das Londoner Büro zu schicken, wo wir eine simple Ausrüstung zum Entwickeln und Ko pieren im Keller hatten. Die Nummern der Scheine wur den dann in einen Computer getippt, der sortierte sie nach Nennwerten in numerischer Reihenfolge und druckte die Listen aus. Die Listen gingen, wieder durch Kurier, an den Berater vor Ort zurück, der sie nach der Freilassung des Opfers der Polizei übergab. Die Polizei verteilte sie an alle Banken des Landes und versprach jedem Kassierer, der einen Schein aus dem Lösegeld entdeckte, eine Be lohnung. Wir hielten dieses System hauptsächlich deshalb für das beste, weil durch Abfotografieren keine Spur auf den Scheinen zurückblieb. Bei einer äußerlichen Kennzeich nung bestand das Problem, daß alles, was die Banken fest stellen konnten, auch für die Entführer feststellbar war. Banken hatten beispielsweise kein Monopol auf das Er kennen von Leuchtstoffen. Geigerzähler für radioaktive Punkte waren nicht schwer zu bekommen. Eine winzige Lochung konnte in hellem Licht noch jedes Auge sehen, und zusätzliche Linien oder Zeichen wurden sichtbar unter jedem Vergrößerungsglas. Die Banken mußten einfach aus Zeitdruck in der Lage sein, Markierungen leicht zu ent decken, deshalb kamen unsichtbare chemische Tinten nicht in Frage. Entführer, weitaus gründlicher als Banken, 50
weil ihnen ständig die Furcht im Nacken saß, konnten zwanghaft auf alles mögliche hin prüfen. Entführer, die Markierungen auf dem Lösegeld fanden, mußte man als lebensgefährlich betrachten. Bei Liberty Market war daher die Kennzeichnung, die wir auf Geld scheinen anbrachten, so schwer zu finden, daß sie uns manchmal selbst entging, und sicherlich wurde sie von keiner Bank entdeckt. Sie bestand aus transparenten Mi kropunkten (im Format der Satzzeichen, denen wir sie aufdruckten); isoliert und unter einem Mikroskop betrach tet, entpuppten sie sich als ein schattenhaftes schwarzes L und M, durch normale Vergrößerungsgläser jedoch er schienen sie einfach schwarz. Wir benutzten sie nur bei Scheinen von höherem Nennwert, und auch da nur als Un terstützung für den Fall, daß es irgendeine Diskussion hin sichtlich der fotografierten Nummern geben sollte. Bisher hatten wir ihre Existenz noch nie preisgeben müssen, ein Zustand, der uns hoffentlich erhalten blieb. Bis zum Morgen, als ich vor Erschöpfung fast umfiel, hatte ich kaum die Hälfte abgelichtet, denn die Banken hatten die Anweisung »In kleinen Scheinen« allzu wört lich genommen. Ich sperrte das ganze Geld in einen Klei derschrank, duschte mich und dachte ans Bett, fuhr nach dem Frühstück aber Cenci wie gewöhnlich ins Büro. Drei Nächte konnte ich auf Schlaf verzichten. Danach, boing. »Wenn die Kidnapper mit Ihnen in Verbindung treten«, riet ich ihm unterwegs, »sollten Sie ihnen vielleicht sagen, Sie könnten nicht Auto fahren. Sagen Sie, Sie sind auf Ih ren Chauffeur angewiesen. Sagen Sie … ähm … Sie haben ein schlechtes Herz, irgend so was. Sie hätten dann wenig stens Hilfe, wenn Sie welche brauchten.« Vom Rücksitz kam ein so nachhaltiges Schweigen, daß ich zuerst dachte, er habe mich nicht gehört, aber schließ lich sagte er: »Demnach wissen Sie es wohl nicht.« 51
»Weiß ich was nicht?« »Weshalb ich einen Chauffeur habe.« »Allgemeiner Wohlstand und so weiter«, sagte ich. »Nein. Ich besitze keinen Führerschein.« Ich hatte ihn auf den Privatwegen auf seinem Grund stück ein- oder zweimal mit einem Jeep herumfahren se hen, wenn auch, wie ich mich erinnerte, ohne großen Schwung. Nach einiger Zeit sagte er: »Ich möchte lieber keinen Führerschein, da ich Epilepsie habe. Ich habe sie schon fast mein Leben lang. Sie wird natürlich durch Ta bletten völlig unter Kontrolle gehalten, aber ich ziehe es doch vor, auf öffentlichen Straßen nicht zu fahren.« »Es tut mir leid«, sagte ich. »Vergessen Sie’s. Ich denke auch nicht daran. Es ist nichts als lästig.« Er klang, als ob das Thema ihn langweil te, und ich fand die Einstellung, fehlerhafte Hirnströme als ein bloßes Ärgernis zu betrachten, typisch für seine nor malen Geschäftsmethoden, soweit ich diese mitbekommen hatte: Routinesachen schnell und zuerst, Planung langsam und gründlich. Aus einigem, was seine Sekretärin in mei ner Hörweite sagte, hatte ich entnehmen können, daß er in letzter Zeit nur wenige Entscheidungen getroffen hatte und daß die Geschäfte anfingen, darunter zu leiden. Als wir den Stadtrand von Bologna erreichten, sagte er: »Morgen früh um acht muß ich wieder zu diesen Tele fonzellen am Autobahnrestaurant. Ich soll das Geld in meinem Wagen mitbringen. Ich soll auf ihn warten … auf seine Anweisungen. Er wird böse sein, wenn ich einen Fahrer dabeihabe.« »Erklären Sie es. Er wird wissen, daß Sie immer einen Chauffeur haben. Sagen Sie ihm, weshalb.« »Ich kann es nicht riskieren.« Seine Stimme bebte. »Signor Cenci, er möchte das Geld. Überzeugen Sie ihn davon, daß Sie nicht sicher fahren können. Das letzte, was 52
er will, ist doch, daß Sie mit dem Lösegeld in einen Later nenpfahl donnern.« »Nun … ich werde es versuchen.« »Und denken Sie daran, einen Beweis zu verlangen, daß Alessia lebt und unversehrt ist.« »Ja.« Ich setzte ihn am Büro ab und fuhr zurück in die Villa Francese; und weil der Chauffeur von Cenci es sonst auch immer machte, wenn er morgens nicht gebraucht wurde, wusch ich das Auto. Ich hatte den verdammten Karren schon so oft gewaschen, daß ich jeden Zentimeter von ihm auswendig kannte. Aber man durfte sich nicht darauf ver lassen, daß Entführer nicht aufpaßten, und die Villa am Hang, mit ihrem prächtigen Panorama, ließ sich mit dem Fernrohr von fast allen Seiten noch aus einer Meile Ent fernung genau beobachten. Veränderte Gewohnheiten nach einer Entführung waren von gewaltiger Bedeutung für Kidnapper, die oft bessere Detektive abgaben als Detekti ve und bessere Spione als Spione. Die Leute, die mich mein Metier gelehrt hatten, waren Detektive und Spione und sonst was gewesen, also wusch ich, wenn ich ein Chauffeur war, Autos. Dies getan, krauchte ich nach oben und schlief ein paar Stunden. Anschließend ging es wieder ans Fotografieren, das ich nur unterbrach, um Cenci zur gewohnten Zeit ab zuholen. Als ich mich in seinem Büro meldete, fand ich einen weiteren Karton auf dem Schreibtisch, diesmal mit der Legende, daß der Zoll in Genua ihn freigegeben habe. »Soll ich ihn rausschaffen?« fragte ich. Er nickte dumpf. »Es ist alles da. Fünfhundert Millionen Lire.« Wir fuhren mehr oder minder schweigend nach Hause, und den Abend und die Nacht verbrachte ich wie gehabt, mechanisch knipsend, bis ich mir wie ein Zombie vorkam. 53
Gegen Morgen war es geschafft, waren auch die Mikro punkte auf einigen 50000-Lire-Noten angebracht, aus Zeitmangel jedoch nicht auf vielen. Ich packte die mit Gummiringen zusammengehaltenen Bündel alle in die FRAGILE-Kiste und trug sie auf der Schulter nach unten, wo Cenci bereits im Wohnzimmer auf und ab ging, bleich vor lauter Anspannung. »Da sind Sie ja!« rief er aus. »Ich wollte Sie gerade wecken kommen. Es wird spät. Schon sieben.« »Haben Sie gefrühstückt?« fragte ich. »Ich kann nichts essen.« Er sah zwanghaft auf seine Uhr, etwas, das er vermutlich schon seit Stunden tat. »Wir soll ten los. Was ist, wenn wir unterwegs aufgehalten werden? Wenn nun durch einen Unfall die Straße versperrt ist?« Seine Atmung war flach und erregt, und ich sagte zag haft: »Signor Cenci, verzeihen Sie, wenn ich frage, aber haben Sie in der Unruhe heute morgen … an Ihre Tablet ten gedacht?« Er sah mich verständnislos an. »Ja. Ja, natürlich. Habe ich doch immer bei mir.« »Entschuldigen Sie …« Er wischte es beiseite. »Fahren wir. Wir müssen los.« Der Verkehr auf der Straße war normal: keine Unfälle. Wir erreichten den Treffpunkt eine halbe Stunde vor der Zeit, aber Cenci sprang aus dem Auto, sowie ich den Motor abstellte. Von meinem Parkplatz aus hatte ich über eine Doppelreihe von Wagen hinweg Sicht auf den Eingang, wo Leute ein und aus schwärmten wie bei einem Bienenstock. Cenci verlor sich steifbeinig unter ihnen, und ich fläzte mich nach alter Chauffeursart auf meinen Sitz und tippte die Mütze auf meine Nase vor. Wenn ich nicht achtgab, dachte ich, würde ich einschlafen. Jemand klopfte an das Seitenfenster. Ich schlug die Au gen auf, blinzelte hinüber und sah einen ziemlich jungen 54
Mann in einem weißen Hemd mit offenem Kragen und Goldkette um den Hals, der mir Zeichen gab, ich solle das Fenster öffnen. Der Wagen hatte ärgerlicherweise elektrische Fenster: Ich schaltete die Zündung ein und drückte den zuständigen Knopf, während ich mich etwas gerader hinsetzte. »Auf wen warten Sie?« sagte er. »Signor Cenci.« »Nicht Graf Rieti?« »Nein. Tut mir leid.« »Haben Sie hier noch einen anderen Chauffeur gese hen?« »Leider nicht, nein.« Er trug eine zu einem Zylinder gerollte Illustrierte mit einem Gummi drum unter dem Arm. Ich dachte flüchtig an einen der Partner bei Liberty Market, der glaubte, man sol le niemals einem Fremden mit einer Zeitungsrolle trauen, es sei so praktisch, darin ein Messer zu verstauen … und ich wunderte mich, aber nur kurz. »Sie sind kein Italiener?« sagte der Mann. »Nein. Spanier.« »Oh.« Sein Blick wanderte, als hielte er Ausschau nach Graf Rietis Chauffeur. Dann sagte er abwesend auf spa nisch: »Sie sind aber weit weg von zu Hause.« »Ja.« »Von wo kommen Sie denn?« »Andalusien.« »Sehr heiß um diese Jahreszeit.« »Ja.« Ich hatte zahllose Schulferien in Andalusien verbracht, bei meinem geschiedenen, halbspanischen Vater, der dort ein Hotel betrieb. Spanisch war meine zweite Mutterspra che, gelernt auf allen Ebenen von der Küche bis zum Penthouse. Immer wenn ich nicht als Brite erscheinen wollte, wurde ich zum Spanier. 55
»Frühstückt Ihr Arbeitgeber?« fragte er. »Weiß ich nicht.« Ich zuckte die Achseln. »Er bat mich zu warten, also warte ich.« Sein Spanisch hatte einen schwerfälligen Akzent, und seine Sätze waren grammatisch einfach, so behutsam ge faßt wie meine auf italienisch. Ich gähnte. Es konnte ein Zufall sein. Entführer waren normaler weise viel zu scheu für eine solche direkte Annäherung, sie hielten ihre Gesichter um jeden Preis verborgen. Die ser Mann konnte genau das sein, was er zu sein schien, ein harmloser Bürger mit einer Illustrierten im Arm, der Graf Rietis Chauffeur suchte und Zeit übrig hatte zum Reden. Möglich. Wenn nicht, würde ich ihm sagen, was er wis sen wollte – falls er fragte. »Fahren Sie immer für Signor … Cenci?« sagte er bei läufig. »Klar«, meinte ich. »Es ist eine gute Stellung. Gut be zahlt. Er ist sehr aufmerksam. Fährt natürlich nie selbst.« »Wieso denn nicht?« Ich zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Er hat keinen Füh rerschein. Er muß immer jemand haben, der ihn fährt.« Ich war nicht ganz sicher, ob er dem hatte folgen kön nen, obwohl ich recht langsam und mit einer Andeutung von Schläfrigkeit gesprochen hatte. Ich gähnte nochmals und fand, so oder so, er habe seinen Teil an Geplauder jetzt weg. Ich würde mir sein Gesicht einprägen, für alle Fälle, aber es war unwahrscheinlich … Er wandte sich ab, als hätte auch er die Unterhaltung als beendet betrachtet, und ich blickte von der Seite auf die runde, glatte Form seines Kopfes und merkte, wie mir ganz unwillkommene Schauer den Rücken herabliefen. Ich hatte ihn schon mal gesehen … Ich hatte ihn durch ab 56
getöntes Glas gesehen, außerhalb des Krankenwagens, mit Kameras um den Hals und goldenen Schnallen an den Aufschlägen seiner Jacke. Ich konnte mich deutlich an ihn erinnern. Er war bei der Belagerung aufgetaucht … und hier, vor der Übergabe, stellte er Fragen. Kein Zufall. Zum erstenmal war ich wissentlich mit einem aus der dunklen Bruderschaft unmittelbar in Berührung gekom men, einem jener Feinde, die ich aus der Distanz bekämpf te, an deren Prozessen ich nie teilnahm und deren Ohren nie von meiner Existenz hörten. Ich rutschte wieder tief in meinen Sitz und tippte mir die Mütze aufs Gesicht. Meine Partner in London, dachte ich, würden meine Anwesenheit an diesem Ort zu dieser Zeit ganz entschieden mißbilligen. Die Unauffälligkeit war dahin. Ich hatte zwar ihn gesehen, aber er auch mich. Es mochte keine Rolle spielen; nicht wenn er an den spanischen Chauffeur glaubte, dem das Warten lang wur de. Wenn er an den gelangweilten spanischen Chauffeur glaubte, würde er mich vergessen. Hätte er nicht an den gelangweilten spanischen Chauffeur geglaubt, würde ich jetzt wahrscheinlich mit einem Messer zwischen den Rip pen dasitzen und kalt werden. Rückschauend war mir doch sehr mulmig zumute. Ich hatte eine solche Begegnung nicht im entferntesten erwar tet, und es war zuerst nur Gewohnheit und Instinkt gewe sen, daß ich ihm so in dieser Art geantwortet hatte. Ich fand den Gedanken ausgesprochen schaurig, Alessias Le ben könnte an einem Gähnen gehangen haben. Zeit verstrich. Es wurde acht und später. Ich wartete wie im Schlaf. Niemand kam mehr an mein noch offenes Fen ster, um mich irgend etwas zu fragen. Es war neun durch, ehe Cenci halb laufend, stolpernd und schwitzend zurückkam. Ich war aus dem Wagen, so 57
bald ich ihn erblickte, öffnete höflich den hinteren Schlag und half ihm hinein, wie es sich für einen Chauffeur ge hört. »O mein Gott«, sagte er. »Ich dachte, er würde gar nicht anrufen … Es hat so lange gedauert.« »Ist Alessia wohlauf?« »Sie … Ja …« »Wohin also?« »Ach …« Er atmete einige Male tief durch, während ich mich wieder hinter das Steuer setzte und den Motor anließ. »Wir müssen nach Mazara, etwa zwanzig Kilometer süd lich. Wieder ein Restaurant … wieder ein Telefon. In zwanzig Minuten.« »Hm …«, sagte ich. »Wie kommt man dahin?« Er meinte dunkel: »Umberto weiß es«, was nicht sonder lich weiterhalf, da Umberto, sein richtiger Chauffeur, un terwegs im Urlaub war. Ich schnappte mir die Straßenkarte aus dem Handschuhfach, breitete sie auf dem Nebensitz aus und versuchte erfolglos Mazara zu finden, während ich wie ein alter Hase vom Parkplatz herunterfuhr. Die Straße, auf der wir uns befanden, verlief in westöst licher Richtung. Ich nahm die erste größere Abzweigung nach Süden, und sobald wir außer Sicht der Fernstraße wa ren, fuhr ich an die Seite und hielt an, um meine Geogra phiekenntnisse aufs laufende zu bringen. Bei der nächsten Ausfahrt, dachte ich, mußten Schilder kommen – und wir schafften es tatsächlich nach Mazara, das wenig mehr als eine Straßenkreuzung war, ohne uns abzuhetzen. Unterwegs sagte Cenci: »Alessia hat aus der Zeitung von heute gelesen … es muß auf Band gewesen sein, denn sie las einfach weiter, als ich zu ihr sprach … aber ihre Stim me zu hören …« »Sind Sie sicher, daß sie es war?« »Aber ja. Sie begann wie üblich mit einer dieser Erinne 58
rungen aus ihrer Kindheit, die Sie vorgeschlagen hatten. Es war Alessia selbst, meine liebe, geliebte Tochter.« Nun, dachte ich. So weit, so gut. »Er sagte …« Cenci schluckte hörbar. »Er sagte, wenn dieses Mal Peilsender in dem Lösegeld sind, bringt er sie um. Er sagt, wenn die Scheine markiert sind, bringt er sie um. Er sagt, wenn man uns folgt … wenn wir nicht genau tun, was er sagt … wenn irgend etwas … irgend etwas schiefgeht, bringt er sie um.« Ich nickte. Ich glaubte es. Eine zweite Chance grenzte schon an ein Wunder. Eine dritte würden wir nie bekom men. »Versprechen Sie mir«, sagte er, »daß er nichts auf den Scheinen finden wird?« »Ich verspreche es«, sagte ich. In Mazara lief Cenci zum Telefon, doch abermals ließ man ihn qualvoll warten. Ich blieb wieder mit stoischer Geduld im Wagen sitzen, als ginge mich das Treiben mei nes Arbeitgebers wenig an, und studierte verstohlen die Landkarte. Das Restaurant hier war einfach ein Café neben einer Tankstelle, ein Platz zum Auftanken und Kaffeetrinken. Leute kamen und gingen, aber nicht viele. Der Tag wurde wärmer unter der Sommersonne, und wie ein guter Chauf feur es tun sollte, ließ ich den schnurrenden Motor an und schaltete die Klimaanlage ein. Cenci trug, als er zurückkam, sein Jackett überm Arm und ließ sich dankbar in die Kühle sinken. »Casteloro«, sagte er. »Warum macht er das nur?« »Standardverfahren, um sicherzugehen, daß uns niemand folgt. Er ist wegen des letzten Mals doppelt vorsichtig. Viel leicht jagen wir den ganzen Morgen durch die Gegend.« »Ich halte es nicht aus«, sagte er; aber nach den vergan genen sechs Wochen konnte er es natürlich ertragen. 59
Ich fand den Weg nach Casteloro und fuhr hin: zweiund dreißig Kilometer, meist über schmale, gerade, überblick bare Landstraßen. Freies Feld zu beiden Seiten. Jedes Fahrzeug, das uns folgte, wäre aufgefallen wie ein Pickel auf der Haut. »Er hat keinen Aufstand gemacht Ihretwegen«, bemerkte Cenci. »Ich sagte ihm sofort, ich hätte meinen Chauffeur dabei, weil ich Epileptiker sei. Es wäre mir unmöglich, mich ans Steuer zu setzen und allein zu kommen. Er mein te nur, ich solle Ihnen Anweisungen geben, ohne irgend etwas zu erklären.« »Gut«, sagte ich. Es war gut. Wenn ER ich wäre, würde er bei Alessia wegen der Epilepsie nachhorchen und beru higt sein. In Casteloro, einer kleinen alten Stadt mit einem kopf steingepflasterten Marktplatz voller Tauben, befand sich das Telefon, das Cenci suchte, in einem Café, und diesmal gab es keine Verzögerung. »Zurück nach Mazara«, sagte Cenci erschöpft. Ich wendete und schlug die Richtung ein, aus der wir gekommen waren, und Cenci sagte: »Er wollte wissen, worin ich das Geld verpackt habe. Ich beschrieb ihm den Karton.« »Was hat er gesagt?« »Nichts. Nur, daß ich die Instruktionen befolgen soll, sonst würde Alessia umgebracht. Er sagte, es würde ein … grauenvoller Tod.« Seine Stimme erstickte, und es kam nur noch ein Schluchzen. »Hören Sie«, sagte ich, »die wollen sie nicht umbringen. Doch nicht jetzt, wo sie so nahe am Ziel sind. Aber haben sie gesagt, was ›grauenvoll‹ bedeutet? Etwas … Bestimm tes?« Unter Schluchzen sagte er: »Nein.« »Sie wollen Ihnen angst machen«, versicherte ich. 60
»Durch Drohungen erreichen, daß Sie sich den Carabinieri entziehen, falls Sie ihnen bisher gestattet hätten, Ihnen zu folgen.« »Habe ich aber doch nicht!« fuhr er auf. »Man muß sie davon überzeugen. Kidnapper sind sehr nervös.« Dennoch fand ich es beruhigend, daß sie noch immer drohten, denn es deutete darauf hin, daß sie es mit dem Tauschgeschäft ernst meinten. Dies war kein grausames An-der-Nase-Herumführen: Es war die wirkliche Überga be. An der Kreuzung von Mazara mußten wir wieder sehr lange warten. Cenci setzte sich in das Café und zitterte, durchs Fenster sichtbar, über einer Tasse Kaffee, die er nicht trank. Ich stieg aus, schlenderte ein wenig auf und ab, stieg wieder ein und gähnte. Drei Wagen, an denen nichts Besonderes war, tankten auf, und der Tankwart kratzte sich die Achselhöhlen. Die brennende Sonne stand hoch am blauen Himmel. Eine alte Frau in Schwarz kam auf dem Fahrrad an die Kreuzung, bog links ab und radelte davon. Sommerlicher Staub wirbelte auf im Kielwirbel vorbeifahrender Lastwa gen und setzte sich wieder, und ich mußte an Lorenzo Tra venti denken, der beim letzten Mal das Lösegeld gefahren hatte und jetzt an Maschinen hing und um sein Leben rang. Im Innern des Cafés sprang Cenci auf und kam nach ei niger Zeit in keiner besseren Verfassung als vorher zurück zum Wagen. Wie gewohnt hielt ich ihm die hintere Tür auf und half ihm hinein. »Er sagt …« Er holte tief Luft. »Er sagt, an der Straße zwischen hier und Casteloro steht ein Madonnenschrein. Er sagt, wir sind schon zweimal daran vorbei … aber mir ist keiner aufgefallen …« 61
Ich nickte. »Ich habe ihn gesehen.« Ich schloß seine Tür und setzte mich wieder auf meinen Platz. »Dorthin also«, sagte Cenci. »Er sagt, wir sollen den Karton hinter den Schrein stellen und wegfahren.« »Gut«, sagte ich erleichtert. »Das wär’s dann.« »Aber Alessia …«, jammerte er. »Ich habe ihn gefragt, wann Alessia frei sein wird, aber er gab keine Antwort, er hat einfach aufgelegt …« Ich ließ den Wagen an und fuhr wieder in Richtung Ca steloro. »Haben Sie Geduld«, sagte ich sanft. »Die müssen erst das Geld zählen. Es auf Markierungen untersuchen. Viel leicht wollen sie es nach dem letzten Vorfall auch erst eine Zeitlang an einem Ort lassen, den sie beobachten können, um sicherzugehen, daß niemand es per Radar aufspürt. Sie werden Alessia nicht freilassen, bis sie von ihrer eigenen Sicherheit überzeugt sind, ich fürchte also, es heißt war ten. Es heißt Geduld haben.« Er stöhnte in einem langen Atemstoß. »Aber sie werden sie doch … wenn ich bezahlt habe … werden sie ihr doch die Freiheit geben, nicht wahr?« Er bat verzweifelt um eine Bestätigung, und ich sagte beherzt: »Ja.« Sie würden sie tatsächlich freilassen, dachte ich, wenn sie zufriedengestellt wurden, wenn sie normal waren, wenn nicht etwas Unvorhergesehenes geschah, und wenn Alessia nicht ihre Gesichter gesehen hatte. Etwa zehn Meilen von der Kreuzung, bei einem Korn feld, stand ein schlichter steinerner Votivschrein am Stra ßenrand, ein Mäuerchen von etwa anderthalb Metern Höhe und einem Meter Breite, aus dessen Nische eine verwitter te kleine Madonna aus Stein ihren Segen spendete. Der Regen hatte das Blau ihres Mantels zum großen Teil fort gewaschen, und die Zeit oder die Vandalen hatten sie um ihre Nasenspitze erleichtert, aber halbwelke Blumensträu 62
ße lagen vor ihr auf dem Boden, und irgendwer hatte ihr ein paar Bonbons zu Füßen gelegt. Die Straße, auf der wir waren, verlief gerade nach beiden Richtungen und schien verlassen. Es gab keinen Wald, keine Deckung, keine Hindernisse. Man konnte uns wahr scheinlich über Meilen sehen. Cenci schaute zu, wie ich den Kofferraum aufschloß, den Karton herauszerrte und ihn hinter den Schrein trug. Der Karton war gerade noch groß genug für das ganze Lö segeld, und nun stand er da auf der staubigen Erde, vierek kig, braun und gewöhnlich, verschnürt mit dicker Kordel, damit er sich leichter tragen ließ, und beklebt mit fröhlich roten Zetteln. Nahezu eine Million Pfund. Das Haus auf Mykonos, die Tabakdosensammlung, der Schmuck seiner toten Frau, die Einkünfte aus den Oliven für alle Zeit. Cenci starrte ihn einige Sekunden blind an, dann gingen wir beide zum Wagen zurück, und ich wendete und fuhr davon.
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ür den Rest dieses Sonnabends und den ganzen Sonn tag machte Cenci Spaziergänge auf seinem Grund stück, kam gebeugt nach Hause, trank zuviel Kognak und magerte sichtlich ab. Ilaria ging wie sonst auch in stummem Trotz zum Ten nisverein. Luisa, ihre Tante, trippelte in gewohnter Weise umher und faßte Sachen an, als wollte sie sich vergewis sern, daß sie noch da waren. Ich fuhr nach Bologna, schickte die Filme ab, wusch den Wagen. Lorenzo atmete immer noch gefährdet an seinen Maschinen, und in der schäbigen Vorstadtstraße blieben die beiden Kidnapper in der Wohnung im dritten Stock verbar rikadiert. Die Verhandlungen gingen weiter von beiden Sei ten, doch abgesehen von einer Lieferung Milch für das Ba by und Brot und Wurst für die anderen bewirkten sie nichts. Am Sonntag abend kam Ilaria ins Wohnzimmer, wo ich gerade die Nachrichten im Fernsehen verfolgte. Die Szene auf der Straße schien fast unverändert, nur daß die Men schenmenge fehlte, da der Reiz längst vorbei war, und vielleicht gab es weniger braune Uniformen. Die Fernseh berichterstattung war abgeflacht: nur noch indirekte Zitate, die sich wiederholten. »Glauben Sie, daß man sie freiläßt?« sagte Ilaria, als der Bildschirm zu Politikern überwechselte. »Ja, ich denke schon.« »Wann?« »Schwer abzusehen.« »Angenommen, sie haben den Carabinieri gesagt, daß sie Alessia festhalten, bis diese Männer aus der Wohnung 64
abziehen können? Angenommen, das Lösegeld reicht ih nen nicht?« Ich warf ihr einen Blick zu. Sie hatte nicht voller Angst gesprochen, sondern so, als gehe die Frage sie über ein gewisses morbides Interesse hinaus nichts an. Ihr Gesicht war ungekünstelt ruhig. Es schien sie wirklich nicht zu kümmern. »Ich sprach heute morgen mit Enrico Pucinelli«, wandte ich ein. »Da hatten sie noch nichts dergleichen gesagt.« Sie schnaubte unverbindlich ein wenig durch die Nase und schaltete auf einen anderen Kanal, die Übertragung ei nes Tennisspiels, das sie konzentriert zu verfolgen begann. »Wissen Sie, ich bin kein Ekel«, sagte sie plötzlich. »Ich kann doch nichts dafür, wenn ich nicht wie alle anderen auf den Bauch falle und den Boden küsse, auf dem sie geht.« »Und sechs Wochen sind eine lange Zeit, um sich die Haare zu raufen?« »Gott«, meinte sie. »Sie haben’s erfaßt. Und glauben Sie nicht, ich wäre nicht froh, daß Sie hier sind. Sonst hätte er sich alles, was er von Ihnen kriegt, von mir holen wollen, und ich hätte ihn zu guter Letzt verachtet.« »Nein«, sagte ich. »Doch.« Ihre Augen waren die ganze Zeit bei dem Tennis gewe sen. »Wie würden denn Sie sich verhalten«, sagte ich, »wenn Sie einen Sohn hätten, und er würde entführt?« Die Augen hefteten sich auf mein Gesicht. »Sie sind ein alter Moralapostel«, versetzte sie. Ich lächelte dünn. Sie wandte sich resolut wieder dem Tennis zu, aber wo ihre Gedanken waren, ahnte ich nicht. Ilaria sprach völlig fließend Englisch, ebenso, wie man es mir von Alessia erzählt hatte. Sie verdankten es der bri 65
tischen Witwe, die nach dem Tod der Mutter viele Jahre lang den Haushalt der Cencis geführt hatte. Inzwischen regelten Luisa, Ilaria und Alessia ihn gemeinsam, und die Köchin hatte sich bei mir beschwert, daß nichts mehr rich tig funktioniere, seit die gute Mrs. Blackett sich zurückge zogen habe, um bei ihrem Bruder in Eastbourne zu leben. Am nächsten Morgen, auf der Fahrt zum Büro, sagte Cenci: »Kehren Sie um, Andrew. Bringen Sie mich nach Hause. Es hat keinen Zweck, ich kann nicht arbeiten. Ich starre doch nur die Wände an. Ich höre die Leute reden, aber ich achte nicht auf das, was sie sagen. Bringen Sie mich heim.« Ich sagte neutral: »Zu Hause könnte es schlimmer sein.« »Nein. Kehren Sie um. Einer neuen Woche im Büro kann ich mich nicht stellen. Heute nicht.« Ich wendete und fuhr zurück zur Villa, wo er seine Se kretärin anrief, sie solle ihn nicht erwarten. »Ich kann an nichts denken«, meinte er zu mir, »außer an Alessia. Ich denke daran, wie sie als kleines Mädchen war und in der Schule und wie sie reiten lernte. Sie war immer so süß, so klein, so voller Leben …« Er schluckte, wandte sich ab und ging in die Bibliothek; Sekunden später hörte ich das Klingen einer Flasche gegen Glas. Nach einer Weile ging ich zu ihm. »Spielen wir eine Runde Backgammon«, sagte ich. »Ich kann mich nicht konzentrieren.« »Versuchen Sie’s.« Ich holte das Brett heraus und setzte die Steine auf, aber die Züge, die er machte, waren me chanisch und ohne Herz. Er nutzte keine meiner Schwä chen aus, und nach einiger Zeit starrte er bloß noch ins Leere wie in so vielen Stunden, seit wir das Geld hinter legt hatten. Gegen elf riß ihn das Telefon neben seinem Ellbogen aus diesem Zustand, wenn auch nur schwer. 66
»Hallo? … Ja, Cenci am Apparat …« Er hörte kurz zu, dann blickte er mit einem apathischen Stirnrunzeln auf den Hörer, bevor er ihn zurück auf die Gabel legte. »Was war?« sagte ich. »Ich weiß es nicht. Nicht viel. Meine Ware liege bereit oder so was und könne abgeholt werden. Ich weiß nicht, welche Ware … er hat aufgelegt, ehe ich fragen konnte.« Ich holte tief Luft. »Ihr Telefon wird noch abgehört«, sagte ich. »Ja, aber was hat das …« Er verstummte, während seine Augen sich weiteten. »Glauben Sie …? Glauben Sie wirk lich?« »Wir könnten nachsehen«, sagte ich. »Setzen Sie noch keine Hoffnung darauf. Wie hörte er sich an?« »Eine barsche Stimme.« Er war unsicher. »Nicht die ge wohnte.« »Nun … versuchen wir’s auf alle Fälle. Besser als hier herumsitzen.« »Aber wo denn? Er hat nicht gesagt, wo.« »Vielleicht … wo wir das Lösegeld hinterlegt haben. Es wäre logisch.« Die Hoffnung stieg ihm ins Gesicht, und ich sagte ha stig: »Erwarten Sie nichts. Glauben Sie nicht daran. Sonst verkraften Sie es nie, wenn sie nicht da ist. Er könnte ei nen anderen Ort meinen … aber ich denke, wir sollten es zuerst dort versuchen.« Er bemühte sich, die Dinge in den Griff zu bekommen, war aber noch immer hektisch optimistisch. Er lief durch das Haus zur Hintertür, vor der ich den Wagen abgestellt hatte. Ich setzte meine Mütze auf und folgte ihm im Schritt, während er schon wild winkte und mir zurief, mich zu beeilen. Ich kletterte gelassen hinter das Steuer. Irgend jemand, dachte ich, hatte gewußt, daß Cenci zu Hause war zu einer Zeit, wo er normalerweise im Büro 67
saß. Vielleicht hatte sein Büro es mitgeteilt … aber viel leicht gab es immer noch einen Beobachter. Auf jeden Fall war ich der Meinung, daß ich, bis Alessia zu Hause in Si cherheit war, bei allem ein Chauffeur bleiben mußte. »So beeilen Sie sich doch«, sagte Cenci. Ich fuhr ohne Hast durch das Tor. »Um Gottes willen, Mann …« »Wir kommen schon hin. Hoffen Sie nicht …« »Ich kann nicht anders.« Ich fuhr schneller als gewöhnlich, doch ihm erschien es eine Ewigkeit; und als wir vor dem Schrein anhielten, war von seiner Tochter keine Spur zu sehen. »O nein … o nein.« Seine Stimme kippte. »Ich kann nicht … ich kann nicht …« Ich sah ihn besorgt an, aber es war normaler erdrückender Kummer, keine Herzattacke, kein Anfall. »Warten Sie«, sagte ich im Aussteigen. »Ich vergewisse re mich.« Ich ging um den Schrein herum auf die Rückseite, wo wir das Lösegeld hinterlegt hatten, und dort fand ich sie, bewußtlos, zusammengerollt wie ein Fötus, eingehüllt in ein graues Plastik-Regencape. Väter sind merkwürdig. Das vorherrschende Gefühl, das Paolo Cenci für den Rest dieses Tages erfüllte, war nicht Freude darüber, daß seine geliebte Tochter lebte, in Sicher heit war und unversehrt einen Betäubungsschlaf hinter sich brachte, sondern Angst davor, die Presse würde herausbe kommen, daß sie mehr oder minder nackt gewesen war. »Versprechen Sie, daß Sie davon nichts sagen, Andrew. Zu niemandem. Kein Wort.« »Ich verspreche es.« Er nahm mir das Versprechen noch mindestens sieben mal ab, obwohl es in jedem Fall unnötig war. Wenn irgend jemand davon erzählen würde, dann Alessia selbst. 68
Ihre mangelnde Bekleidung hatte ihn mächtig aufgeregt, besonders, da er und ich, als wir sie aufheben wollten, entdeckt hatten, daß ihre Arme nicht in den Ärmeln des Regencapes steckten und die Knöpfe nicht zugeknöpft wa ren. Die dünne graue Hülle war sofort gefallen. Sie hatte den Körper eines Kindes, dachte ich. Glatte Haut, schlanke Glieder, Brüste wie Knospen. Cenci war seltsamerweise zu verlegen gewesen, um sie anzufassen, und so hatte ich, der Berater für alles, ihre Arme durch den Kunststoff bugsiert und sie diskreter in dessen Falten ge schlungen. Sie war leicht zum Auto zu tragen gewesen, und ich hatte sie seitlich auf den Rücksitz gelegt, mit an gezogenen Knien, ihren Lockenkopf auf meiner zusam mengerollten Jacke. Cenci hatte sich zu mir nach vorn gesetzt; und an diesem Punkt fing er an, mir die Versprechen abzunötigen. Als wir die Villa erreichten, eilte er ins Haus, um gleich darauf mit einer Decke wiederzuerscheinen, und ich trug das Mäd chen in baumwollener Schicklichkeit hinauf in ihr riesen großes Zimmer. Ilaria und Luisa waren nirgendwo zu finden. Cenci ver warf die Köchin als zu geschwätzig und fragte schließlich stotternd mich, ob es mir allzuviel ausmachen würde, den Regenmantel durch andere Kleidung zu ersetzen, während er den Arzt rief. Ich hätte sie ja nun schon mal gesehen, meinte er. Ich sei ein vernünftiger Mensch. Erstaunt, aber entgegenkommend stöberte ich ein hemdähnliches Kleid auf und nahm den Austausch vor, während Alessia die ganze Zeit friedlich schlief. Sie war eher sperrig als sonst etwas. Ich streifte ihr den blauen Wollstoff über den Kopf, schob ihre Hände durch die Ärmellöcher, zog den Saum auf ihre Knie herunter und konzentrierte mich einigermaßen erfolgreich darauf, nicht in Erregung zu geraten. Dann legte ich sie auf das Bett 69
zeug und deckte sie von der Taille abwärts mit der Woll decke zu. Ihr Puls war weiterhin stark und gleichmäßig, die Haut kühl, ihr Atem leicht. Schlaftabletten wahrschein lich, dachte ich; nichts Schlimmes. Ihr dünnes Gesicht war ruhig, ohne Anspannung, lange Wimpern lagen in Halbmonden auf straffen Wangen. Star ke Augenbrauen, blasse Lippen, Höhlungen um den Mund. Die Haare zerzaust, sichtlich schmutzig. Soll sie schlafen, dachte ich: Sie würde wenig Frieden haben, wenn sie auf wachte. Ich ging nach unten und fand Cenci wieder beim Ko gnaktrinken. Er stand auf, als ich eintrat. »Geht es ihr gut?« fragte er. »Sehr gut. Bestens.« »Es ist ein Wunder.« »Mm.« Er stellte sein Glas hin und fing an zu weinen. »Ent schuldigen Sie. Ich kann nicht anders«, sagte er. »Das ist ganz natürlich.« Er nahm ein Taschentuch heraus und schneuzte sich die Nase. »Weinen alle Eltern?« »Ja.« Er widmete sich nochmals dem Taschentuch, schnüffelte ein wenig und sagte: »Sie führen ein sehr sonderbares Le ben, was?« »Eigentlich nicht.« »Erzählen Sie nicht weiter, daß sie keine Kleider anhatte. Versprechen Sie’s mir, Andrew.« »Ich verspreche es.« Ich sagte ihm, ich müsse Pucinelli mitteilen, daß sie in Sicherheit ist, und sofort bat er mich noch mal um das Versprechen. Ich gab es ihm ohne Ungeduld. Streß konnte sich in der merkwürdigsten Art und Weise äußern, und er hörte niemals mit der Rückkehr des Entführten auf. 70
Glücklicherweise hatte Pucinelli Dienst im Krankenwa gen, obwohl ich die Neuigkeit vermutlich auch direkt über den angezapften Draht hätte verbreiten können. »Sie ist daheim«, sagte ich lakonisch. »Ich bin in der Villa. Sie ist oben.« »Alessia?« Unglauben, Erleichterung, eine Spur Argwohn. »Eben sie. Betäubt, aber unversehrt. Lassen Sie sich Zeit, sie wird wahrscheinlich noch Stunden schlafen. Wie steht’s mit der Belagerung?« »Andrew!« Aufsteigender Ärger. »Was ist vorgefallen?« »Kommen Sie hier selbst vorbei?« Eine kurze Stille entstand in der Leitung. Er hatte mir mal gesagt, ich würde Vorschläge immer in Form von Fra gen kleiden, und wahrscheinlich stimmte das. Die Idee einpflanzen, die Entscheidung suchen. Er wußte ja, daß das Telefon angezapft war, er hatte es selbst angeordnet, und daß jedes Wort aufgezeichnet wurde. Er konnte sich denken, daß es Dinge gab, die ich ihm lieber unter vier Augen erzählen würde. »Ja«, sagte er. »Ich komme.« »Und jetzt haben Sie auch ein großartiges Druckmittel gegen die beiden Entführer in der Wohnung, nicht wahr? Und – ähm – würden Sie das Lösegeld direkt hierherbrin gen, wenn Sie es zu fassen kriegen? Es gehört natürlich Signor Cenci.« »Natürlich«, sagte er trocken. »Aber das ist vielleicht nicht meine Entscheidung.« »Mm. Nun … ich habe jedenfalls alle Scheine fotogra fiert.« Eine Pause. »Sie sind schlimm, wissen Sie das?« »Es sind schon öfter Dinge aus der Obhut der Polizei verschwunden.« »Sie beleidigen die Carabinieri!« Er klang ehrlich entrü stet, zornig aus Loyalität. 71
»Aber keineswegs. Polizeiwachen sind ja keine Banken. Ich bin sicher, die Carabinieri wären froh, nicht die Ver antwortung für die Bewachung von so viel Geld tragen zu müssen.« »Es ist Beweismaterial.« »Die übrigen Entführer sind noch auf freiem Fuß und zweifellos noch gierig. Das Geld könnte doch amtlich ver siegelt, in einer Bank nach Signor Cencis Wahl, vor ihnen in Sicherheit gebracht werden.« Eine Pause. »Es wäre möglich, daß ich das einrichten kann«, sagte er steif, nicht ganz verzeihend. »Wir sehen uns bestimmt in der Villa.« Ich legte mit einem kläglichen Lächeln auf. Pucinelli traute ich zwar, aber nicht automatisch allen Gesetzesver tretern. Besonders in südamerikanischen Ländern, wo ich mehrere Male gearbeitet hatte, wurden Polizisten regel mäßig von Entführern bedroht oder bestochen, damit sie in die falsche Richtung sahen, ein auch anderswo kaum un bekannter Brauch. Kidnapper kannten keine Skrupel und nur selten Gnade, und schon mancher Polizist hatte wäh len müssen zwischen seiner Pflicht und der Sicherheit von Frau und Kindern. Nach kaum zehn Minuten war Pucinelli wieder in der Leitung. »Nur zu Ihrer Information … hier tut sich was. Kommen Sie, wenn Sie wollen. Kommen Sie von Westen in die Straße, auf unserer Seite. Ich sehe zu, daß Sie durch kön nen.« »Danke.« Meine Partner hätten es nicht gebilligt, doch ich fuhr hin. Ich hatte zahlreiche Fallgeschichten von Belagerungen studiert und Vorträge von Leuten gehört, die an welchen teilgenommen hatten, aber unmittelbar dabeigewesen war ich noch nie: Eine so gute Chance ließ man sich nicht ent 72
gehen. Ich wechselte vom spanischen Chauffeur zum un scheinbaren Zuschauer, lieh mir den Stadtwagen der Fami lie aus und wanderte in Rekordzeit wieder durch die Stra ße in Bologna. Pucinelli hatte Wort gehalten – ein Posten, der mich an der ersten Schranke erwartete, führte mich ohne weiteres zu dem noch parkenden Krankenwagen. Ich betrat ihn, wie ich ihn verlassen hatte, vorn durch die Beifahrertür, und fand Pucinelli dort mit seinem Techniker und drei Män nern in Straßenanzügen. »Sie sind gekommen«, sagte er. »Danke für die Einladung.« Er warf mir ein Lächeln zu und machte mich kurz mit den Zivilisten bekannt: Vermittler, Psychiater, Psychiater. »Die zwei Herren Mediziner haben uns über den wech selnden Geisteszustand der Entführer beraten.« Pucinelli sprach sehr förmlich; sie nickten ernst dazu. »Hauptsächlich hat ihr Geisteszustand unter dem Baby gelitten«, führte Pucinelli aus. »Das Baby schreit viel. An scheinend hat die Milch, die wir hinaufschickten, seinen Magen noch mehr durcheinandergebracht.« Wie aufs Stichwort ertönte aus dem Abhörmikrophon vor der Wohnung das ansteigende Geheul des Kleinen, der aufs neue in Fahrt kam, und nach den Gesichtern der fünf Männer vor mir zu urteilen, fanden nicht nur die Kidnap per das Geräusch entnervend. »Vor vierzig Minuten«, sagte Pucinelli, während er das Baby leiser stellte, »rief der Entführer mit der tiefen Stimme hier an und sagte, sie kämen heraus, wenn be stimmte Bedingungen erfüllt würden. Kein Flugzeug – das haben sie aufgegeben. Sie möchten nur sicher sein, daß nicht auf sie geschossen wird. In etwa zwanzig Minuten … das heißt, eine Stunde nach ihrem Anruf … wollen sie die Mutter mit dem Baby gehen lassen. Dann kommt einer 73
der Entführer raus. Es dürfen nirgends im Gebäude Cara binieri sein. Die Treppen müssen frei sein, auch der Ein gang und der Bürgersteig davor. Die Mutter und das Baby werden auf die Straße kommen, gefolgt von dem ersten Entführer. Er wird unbewaffnet sein. Wenn er friedlich festgenommen wird, kann eines der Kinder gehen und et was später der Vater. Ist der zweite Kidnapper dann sicher, daß ihm nichts geschehen wird, kommt er mit dem zwei ten Kind im Arm heraus. Unbewaffnet. Wir sollen ihn ru hig festnehmen.« Ich blickte ihn an. »Haben die das alles miteinander be sprochen? Haben Sie über die Wanze gehört, wie sie das geplant haben?« Er schüttelte den Kopf. »Keinen Ton.« »Der Anruf kam sehr bald, nachdem Alessia zu Hause war.« »Verdächtig bald.« »Sie schauen mal nach dem Funkgerät?« sagte ich. »Ja.« Er seufzte. »Wir haben in den letzten Tagen Funk frequenzen überwacht. Es führte zu nichts, aber ich hatte schon ein- oder zweimal den Eindruck, daß diese Kidnap per instruiert werden.« Instruiert, dachte ich, von einer sehr kühlen und kühnen Intelligenz. Ein Jammer, daß solch ein Gehirn kriminell war. »Was haben sie mit dem Geld vor?« fragte ich. »Sie lassen es in der Wohnung.« Ich warf einen Blick auf den Schirm, der den Standort des Peilsenders in dem Lösegeldkoffer angezeigt hatte, doch der Schirm war dunkel. Ich beugte mich vor, drückte auf den Ein-Aus-Schalter, und klar und konstant erschien die Bildspur. Der Koffer war zumindest noch dort. Ich sagte: »Ich würde gerne als Signor Cencis Stellver treter da hinaufgehen, um mich davon zu überzeugen, daß es in gute Hände kommt.« 74
Mit unterdrückter Gereiztheit sagte er: »Na, schön.« »Es ist eine ganze Menge Geld«, gab ich zu bedenken. »Ja … ja, wahrscheinlich«, sagte er widerwillig, zum Teil wohl, weil er ehrlich, zum Teil, weil er Kommunist war. So viel Geld in der Hand eines einzelnen Mannes empfand er als Beleidigung, und es würde ihn nicht küm mern, wenn Cenci es verlor. Auf der anderen Straßenseite waren die Fenster der Woh nung immer noch geschlossen. Alle Fenster in allen Woh nungen waren geschlossen, obwohl es ein heißer Tag war. »Machen sie die nie auf?« fragte ich. Pucinelli blickte hinüber auf das Gebäude. »Die Entfüh rer öffnen manchmal für kurze Zeit die Fenster, wenn wir bei Tagesanbruch die Scheinwerfer ausschalten. Die Rou leaus bleiben selbst dann immer unten. In den anderen Wohnungen sind jetzt keine Leute mehr. Wir haben sie si cherheitshalber fortgebracht.« Auf der Straße gab es wenig Bewegung. Die meisten Po lizeifahrzeuge waren abgezogen worden und hatten viel freien Platz hinterlassen. Vier bewaffnete Carabinieri kau erten angespannt hinter den beiden Wagen, die noch park ten. Metallschranken am Ende der Straße hielten ein paar Zuschauer auf Abstand, und der Ü-Wagen des Fernsehens sah verlassen aus. Ein oder zwei Fotografen saßen in sei nem Schatten auf dem Boden und tranken Bier aus Dosen. In der Wanze hatte das Säuglingsgeschrei aufgehört, doch auch sonst schien niemand viel zu sagen. Es war schließ lich Mittagsruhe. Ohne jede Vorwarnung kam eine junge Frau aus dem Haus, die ein Baby trug und ihre Augen gegen die Sonne abschirmte. Sie war halb verwahrlost und außerdem hoch schwanger. Pucinelli blickte wie gestochen auf seine Armbanduhr. »Die sind zu früh dran«, sagte er und sprang aus dem 75
Transporter. Ich beobachtete durch das dunkle Glas, wie er ohne Zögern auf die Frau zuging und sie am Arm faßte. Ihr Kopf fuhr zu ihm herum, dann kam sie ins Straucheln. Pucinelli fing gerade noch das Baby auf und gab seinen Leuten in der Deckung heftige Zeichen. Einer hastete nach vorn, zerrte die in Ohnmacht fallende Frau unsanft auf die Füße und drängte sie in einen der Wagen. Pucinelli bedachte das Baby mit einem schiefen Blick, trug es auf Armeslänge hinter seiner Mutter her und wischte sich, nachdem er es abgeliefert hatte, angewidert die Hände an einem Taschentuch ab. Die Fotografen und der Sendewagen erwachten wie elektrisiert zum Leben, und ein dicker junger Mann mach te drei Schritte aus dem Haus und hob langsam die Hände. Pucinelli hatte hinter dem zweiten Wagen Deckung ge sucht. Er steckte einen Arm durch das Seitenfenster, holte einen Lautsprecher hervor und sprach hinein. »Legen Sie sich mit dem Gesicht nach unten auf die Straße. Beine breit, Arme gestreckt.« Der dicke junge Mann wankte eine Sekunde unschlüssig, sah aus, als wolle er zurückweichen, folgte aber schließ lich dem Befehl. Pucinelli sprach erneut. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Man wird nicht auf Sie schießen.« Eine lange, atemberaubende Stille trat ein. Dann kam ein Junge heraus; ungefähr sechs, in Shorts, Hemd und leuch tend blauweißen Turnschuhen. Seine Mutter winkte ihm verzweifelt durch das Wagenfenster, und er lief zu ihr hin über, wobei er noch über die Schulter auf den Mann am Boden zurückblickte. Ich drehte die Lautstärke der Wanze vor der Wohnung voll auf, aber geredet wurde immer noch nicht, man ver nahm nur einiges Gebrumme und nichtidentifizierbare Bewegungen. Nach einer Weile hörte auch das auf, und 76
wenig später kam ein anderer Mann auf die Straße, ein nicht ganz so junger diesmal, mit auf dem Rücken gefes selten Händen. Er sah mager und wacklig aus, mit stoppe ligem Kinn, und beim Anblick des langgestreckten Kid nappers blieb er schlagartig stehen. »Kommen Sie zu den Wagen«, sagte Pucinelli durch den Lautsprecher. »Sie sind in Sicherheit.« Der Mann schien unfähig, sich zu bewegen. Pucinelli ging, indem er sich wiederum der noch drohenden Gefahr durch die Schußwaffen in der Wohnung aussetzte, ruhig über die Straße, faßte ihn am Arm und führte ihn hinter den Wagen, in dem seine Frau saß. Die neben mir zuschauenden Psychiater schüttelten die Köpfe über Pucinelli. So offenen Mut billigten sie nicht. Ich ergriff ein Fernglas, das auf der Bank lag, und richte te es auf die Fenster gegenüber, doch nichts rührte sich. Dann fing ich die Zuschauer an den Schranken ausgangs der Straße ein und fixierte genau die Fotografen, aber von dem Mann vom Autobahnparkplatz war nichts zu se hen. Ich legte das Fernglas hin, und die Zeit zog sich in die Länge, bis ich mich wunderte, bis jeder sich wunderte, ob durch irgendein schreckliches Mißgeschick die Kapitula tion im letzten Moment schiefgelaufen war. Von der Wan ze kam kein Laut. Auf der Straße war es still. Sechsund vierzig Minuten waren vergangen, seit die Mutter und das Baby herausgekommen waren. Pucinelli sprach ruhig, aber bestimmt durch den Laut sprecher. »Bringen Sie das Kind heraus. Niemand wird Ihnen et was tun.« Nichts geschah. Pucinelli wiederholte seine Anweisungen. Nichts. 77
Ich dachte an Schußwaffen, an Verzweiflung, an Selbst mord, Mord und Bosheit. Pucinellis Stimme erklang: »Sie haben nur eine Hoff nung, wenn Sie je wieder aus dem Gefängnis entlassen werden wollen: Sie müssen jetzt wie vereinbart heraus kommen.« Kein Ergebnis. Pucinellis Hand steckte den Lautsprecher durch das Fen ster des Wagens und tauchte mit einer Pistole wieder auf. Er schob sich die Pistole am Kreuz unter den Gürtel und ging ohne weitere Umstände über die Straße und ver schwand hinter der Tür des Mietshauses. Die Psychiater schnappten nach Luft und fuchtelten er regt mit den Händen. Ich fragte mich, ob ich jemals in ei ner solchen Situation die Stirn hätte, das zu tun, was Puci nelli tat. Es gab keine Schüsse – keine, die wir hören konnten. Überhaupt keinen Laut, nur wieder langgedehnte Stille. Die Carabinieri hinter den Wagen wurden gefährlich un ruhig in Abwesenheit ihres Vorgesetzten und sahen sich ratsuchend an, wobei sie auffällig die Waffen schwenkten. Der Techniker in dem Transporter murmelte unheilvoll vor sich hin, und die Wanze schwieg immer noch. Wenn nicht bald etwas geschah, dachte ich, konnte es zu einem neuen destruktiven, übereilten Angriff kommen. Dann erschien plötzlich eine Gestalt im Eingang, ein schwerer, stämmiger Mann, der ein kleines Mädchen wie eine Feder auf dem Arm trug. Hinter ihm kam Pucinelli, die Waffe nirgends in Sicht. Er deutete auf den ersten Kidnapper, der immer noch aus gestreckt dalag, und der schwere Mann ging mit einer Art wütender Resignation zu ihm hinüber und setzte das Kind ab. Stumm nahm er die gleiche ausgestreckte Haltung ein, und das kleine Mädchen, ein Taps noch, betrachtete ihn 78
einen Moment, dann legte es sich hin und ahmte ihn nach, als wäre es ein Spiel. Die Carabinieri stürmten wie losgelassene Furien hinter den Wagen hervor und fielen, von Pistolen und Handschel len starrend, über die flach hingestreckten Gestalten her, oh ne dabei Anzeichen von liebender Barmherzigkeit zu zeigen. Pucinelli sah zu, wie die Kidnapper zu dem leeren Fahrzeug abgeführt wurden und die Eltern ihr Kind wiedererhielten, bevor er lässig zur offenen Tür des Krankenwagens zurück kam, als hätte er gerade einen Spaziergang hinter sich. Er dankte dem Vermittler und den Psychiatern von drau ßen und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, auszu steigen und ihm zu folgen. Ich folgte ihm: über die Straße, durch die Tür des Mietshauses und die Steintreppe hinauf. »Der schwere Junge«, sagte Pucinelli, »war da oben«, er zeigte hin, »ganz oben im sechsten Stock, wo die Treppe aufs Dach führt. Es dauerte seine Zeit, bis ich ihn entdeck te. Aber wir hatten die Tür natürlich verbarrikadiert. Her aus konnte er nicht.« »War er gewalttätig?« fragte ich. Pucinelli lachte. »Er saß auf der Treppe, mit der Kleinen auf dem Knie, und erzählte ihr eine Geschichte.« »Was?« »Als ich mit gezogener Pistole die Treppe hochkam, meinte er, ich solle sie wegstecken, er wüßte, daß die Schau vorbei wäre. Ich befahl ihm, runter auf die Straße zu gehen. Er sagte, er wolle noch ein Weilchen bleiben, wo er war. Er habe selbst ein Kind in diesem Alter, und das werde er nun nie mehr auf den Knien halten können.« Rührseliges Zeug, dachte ich. »Was haben Sie getan?« »Ihm befohlen, auf der Stelle hinunterzugehen.« Das »auf der Stelle« hatte allerdings ziemlich lange ge dauert. Pucinelli war wie alle Italiener kinderlieb, und selbst Carabinieri konnten wohl sentimental sein. 79
»Dieser arme, betrogene Vater«, sagte ich, »hat die Toch ter von jemand anderem entführt und auf den Sohn von jemand anderem geschossen.« »Ihr Kopf«, erwiderte Pucinelli, »ist wie Eis.« Er ging mir voran in die Wohnung, die viereinhalb Tage unter Belagerung gestanden hatte, und die Hitze und der Gestank darin waren unglaublich. Schmutz war gar kein Ausdruck. Abgesehen von dem Schweißgeruch und den in Verwesung befindlichen Resten von Mahlzeiten lagen un aussprechliche Haufen von Tüchern, Lappen und Zei tungspapier in zweien der drei kleinen Zimmer. Das Baby, an beiden Enden unfähig, an sich zu halten, hatte nicht nur geweint. »Wie konnten sie das aushalten?« wunderte ich mich. »Warum haben sie nichts gewaschen?« »Die Mutter wollte ja. Ich hörte sie fragen. Sie durfte nicht.« Wir bahnten uns einen Weg durch das Tohuwabohu und fanden den Lösegeldkoffer fast sofort unter einem Bett. Soweit ich feststellen konnte, war der Inhalt unangetastet; gute Nachricht für Cenci. Pucinelli schenkte den Bankno tenbündeln einen säuerlichen Blick und stöberte nach dem Funkgerät herum. Die Wohnungsinhaber besaßen zwar ein Radio, das offen auf einer Fernsehtruhe stand, aber Pucinelli schüttelte den Kopf. Es sei zu einfach, meinte er. Er machte sich an eine methodische Durchsuchung und entdeckte das Gerät schließlich in einer Schachtel Buitoni in einem Küchen schrank. »Na bitte«, er fegte die Nudeln weg. »Sogar mit einem Kopfhörer zum ungestörten Zuhören.« Ein ziemlich klei nes, aber anspruchsvolles Walkie-talkie mit eingezogener Antenne. »Stören Sie nicht die Frequenz«, sagte ich. 80
»Ich bin doch nicht von gestern. Und der Mann, der die Anweisungen gegeben hat, auch nicht, wie mir scheint.« »Vielleicht hat er nicht an alles gedacht.« »Schon möglich. Alle Kriminellen sind Narren manch mal, sonst würden wir sie nie erwischen.« Er wand die Schnur mit dem Kopfhörer sorgfältig um das Gerät und stellte es an die Tür. »Was glauben Sie, welche Reichweite es hat?« fragte ich. »Höchstens ein paar Meilen. Ich werde es feststellen. Aber wohl doch zu weit, als daß es uns helfen könnte.« Blieben noch die Pistolen, und mit ihnen war es leicht: Pucinelli fand sie auf einer Fensterbank, als er eines der Rouleaus hochließ, um mehr Licht zu bekommen. Wir sahen beide zum Fenster hinaus. Der Krankenwagen und die Schranken waren zwar noch da, aber die Dramatik war vorüber. Ich dachte bei mir, daß die anfänglichen Scharen der Polizeiwagen und der schwerbewaffneten Männer, die dahinter kauerten, ein furchterregender An blick gewesen sein mußten. Bei dieser stets gegenwärtigen Bedrohung und der Hitze, dazu dem Baby, den Scheinwer fern und dem Gestank mußten ihre Nerven die ganze Zeit bis zum Zerreißen gespannt gewesen sein. »Er hätte jederzeit auf Sie schießen können«, sagte ich, »als Sie da über die Straße gegangen sind.« »Ich war der Meinung, daß er es nicht tun würde.« Nüchtern gesprochene Worte. »Aber als ich die Treppe hinaufschlich …«, er lächelte flüchtig, »… da kamen mir doch Zweifel.« Er nickte mir ruhig und kameradschaftlich zu und sagte, schon im Hinausgehen, er werde die Überführung des Lö segelds anordnen und seine Männer vorbeischicken, damit sie die Pistolen und das Funkgerät sicherstellten. »Sie bleiben hier?« fragte er. 81
Ich hielt mir die Nase zu. »Draußen auf der Treppe.« Er grinste und ging, und zu gegebener Zeit trafen seine Leute ein. Ich begleitete das Lösegeld zu der von Pucinelli gewählten Bank bis in den Tresorraum und nahm die Quit tungen der Bank und der Carabinieri entgegen. Auf dem Rückweg zum Stadtauto der Cencis führte ich ein RGespräch mit meiner Firma in London. Berichte von Bera tern vor Ort gehörten zur Routine und wurden regelmäßig erwartet, wobei der kollektive Vorstand des Büros den Be rater oft hilfreich beriet. »Das Mädchen ist zu Hause«, sagte ich. »Die Belage rung ist vorbei, das erste Lösegeld ist in Sicherheit, aber wie steht’s mit meinen Schnappschüssen vom zweiten?« »Die Listen sind morgen bei dir.« »Gut.« Sie wollten wissen, wann ich wieder zurück sei. »In zwei oder drei Tagen«, sagte ich. »Hängt von dem Mädchen ab.«
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A
lessia erwachte am Abend mit einem flauen Gefühl im Magen. Cenci eilte hinauf, um sie in die Arme zu schließen, und kam mit feuchten Augen wieder. Sie sei noch schläfrig und könne nicht glauben, daß sie wieder zu Hause war. Ich sah sie nicht. Ilaria schlief auf Anregung ihrer Tante Luisa die ganze Nacht auf einem zweiten Bett in Alessias Zimmer und schien sich über die Rückkehr ihrer Schwe ster ehrlich zu freuen. Am Morgen kam sie ruhig herunter, um zu frühstücken, und sagte, Alessia fühle sich krank, sie wolle gar nicht mehr aus dem Bad. »Wieso denn?« fragte Cenci verblüfft. »Sie findet sich dreckig. Sie hat sich zweimal die Haare gewaschen. Sie sagt, sie stinke.« »Aber tut sie doch gar nicht«, protestierte er. »Nein. Das habe ich ihr auch schon gesagt. Es ändert nichts.« »Bringen Sie ihr einen Kognak und eine Flasche Par füm«, sagte ich. Cenci sah mich verständnislos an, aber Ilaria meinte: »Na, warum nicht?« und übernahm den Botengang. Sie hatte an diesem Morgen ungezwungener gesprochen als sonst bei irgendeinem Frühstück, fast als wäre die Befrei ung der Schwester auch ihre eigene gewesen. Pucinelli traf um die Mitte des Vormittags in Begleitung eines Stenografen ein, und Alessia kam nach unten, um seine Bekanntschaft zu machen. Neben ihm in der Halle stehend, beobachtete ich die zögernde Gestalt auf der Treppe und bemerkte deutlich ihren starken Wunsch, sich 83
zurückzuziehen. Sie hielt auf der viertletzten Stufe an und blickte sich um, aber Ilaria, die sie geholt hatte, war nir gends zu sehen. Cenci trat vor und legte ihr den Arm um die Schultern. Er erklärte kurz, wer ich war, und sagte, Pucinelli wünsche alles zu erfahren, was ihr zugestoßen sei, um vielleicht da durch Hinweise auf die Täter zu bekommen. Sie nickte leicht, mit blassem Gesicht. Ich hatte bei zurückgekehrten Opfern hektische Fröh lichkeit erlebt, Hysterie und Apathie; bei allen war es Schock. Alessias Zustand wirkte ziemlich normal unter den Umständen: eine Mischung aus Scheu, Fremdheit, Schwäche, Erleichterung und Furcht. Ihre Haare waren noch feucht. Sie trug ein T-Shirt, Jeans und hatte keinen Lippenstift benutzt. Sie sah aus wie eine wehrlose, noch vor kurzem kranke Sechzehnjährige; das Mädchen, das ich unbekleidet gesehen hatte. Nach dem strahlenden Liebling der europäischen Rennbahnen sah sie ganz und gar nicht aus. Cenci führte sie in die Bibliothek, und wir verteilten uns auf Stühle. »Erzählen Sie«, sagte Pucinelli. »Bitte erzählen Sie uns von Anfang an, was geschehen ist.« »Ich … es scheint so lange her zu sein.« Alessia sprach hauptsächlich zu ihrem Vater, sah nur selten Pucinelli an und mich überhaupt nicht. Sie benutzte zwar durchweg das Italienische, aber da sie langsam und mit vielen Pau sen sprach, konnte ich ihr mühelos folgen. Flüchtig kam mir sogar der Gedanke, daß ich seit meiner Ankunft eine ganze Menge von der Sprache dazugelernt hatte, mehr, als mir bis dahin bewußt war. »Ich hatte an einem Rennen auf der hiesigen Bahn teil genommen … aber das wissen Sie ja.« Ihr Vater nickte. »Ich gewann das 6-Uhr-Rennen, und es gab einen Pro test …« 84
Neuerliches Nicken, von Cenci wie von Pucinelli. Der Stenograf hielt den Blick gesenkt und ließ die Kurzschrift fließen. »Ich fuhr nach Hause. Ich dachte an England. Wie ich Brunelleschi im Derby reiten würde …« Sie brach ab. »Hat er gewonnen?« Ihr Vater sah verdutzt drein. Damals, kurz nach ihrem Verschwinden, hätte er wahrscheinlich nicht mal eine In vasion von Marsmenschen in seinem Garten mitbekom men. »Nein«, sagte ich. »Vierter.« Sie machte unbestimmt »Oh«, und ich nahm mir nicht die Mühe zu erklären, daß ich den Platz ihres Pferdes ein fach deshalb wußte, weil sie es hatte reiten sollen. Norma le Neugierde, sonst nichts. »Ich war hier … in Sichtweite des Hauses. Nicht weit vom Tor. Ich verlangsamte, um einzubiegen …« Der klassische Punkt bei Entführungen; unmittelbar vor dem Haus des Opfers. Sie hatte noch dazu einen roten Sportwagen und war an diesem Tag mit offenem Verdeck gefahren, wie sie es bei schönem Wetter immer tat. Man che Leute, dachte ich, als ich davon erfuhr, machten es Ent führern so bequem, daß es einem die Sprache verschlug. »Ein Auto kam mir entgegen … Ich wollte es vorbeilas sen, damit ich abbiegen konnte … aber es fuhr nicht vor bei, es hielt plötzlich zwischen mir und dem Tor … der Weg war versperrt.« Sie unterbrach sich und sah ängstlich ihren Vater an. »Ich konnte nichts dafür, Papa. Wirklich, ich konnte nicht.« »Aber Liebling, mein Liebling …« Der bloße Gedanke überraschte ihn. Er sah nicht wie ich die Spitze des Eis bergs der Schuldgefühle, aber schließlich hatte er sie auch noch nicht so oft gesehen. 85
»Ich konnte mir nicht denken, was sie vorhatten«, sagte sie. »Dann gingen alle Türen des Wagens gleichzeitig auf, und da standen vier Männer … alle trugen schreckliche Masken … wirklich grausig … Teufel und Monster. Ich dachte, sie wollten mich berauben. Ich warf ihnen meine Geldbörse zu und versuchte rückwärts wegzukommen … da sprangen sie irgendwie in mein Auto … sprangen ein fach rein …« Sie unterbrach sich mit den ersten Anzeichen von Erregung, und Pucinelli machte kleine beschwichti gende Gesten mit der Hand, um sie zu beruhigen. »Sie waren so schnell«, sagte sie in einem Ton, als müsse sie sich entschuldigen. »Ich konnte überhaupt nichts tun …« »Signorina«, sagte Pucinelli ruhig, »es besteht kein Grund, sich zu schämen. Wenn Entführer entführen wol len, dann entführen sie. Das konnten auch Aldo Moros sämtliche Leibwächter nicht verhindern. Und ein Mädchen allein, in einem offenen Auto …« Er hob ausdrucksvoll die Schultern, ohne den Satz zu beenden, und wenigstens für den Augenblick schien sie getröstet. Einen Monat früher hatte er mir unter vier Augen erklärt, daß ein reiches junges Mädchen, das in einem offenen Sportwagen durch die Gegend fuhr, jede Gefahr von Raub bis Vergewaltigung herausfordere. »Ich will damit nicht sagen, man hätte sie nicht sowieso entführt, aber blöd war sie schon. Sie hat es ihnen leichtgemacht.« »Das Leben ist nicht sehr lustig, wenn Sie dreiundzwan zig und erfolgreich sind und es nicht genießen können, in dem Sie an einem sonnigen Tag in einem offenen Sport wagen fahren. Was würden Sie ihr denn empfehlen? Daß sie in einem mittelalterlichen Salon mit verriegelten Türen herumkutschiert?« »Ja«, hatte er gesagt. »Und Sie auch, wenn man Ihre Firma fragen würde. Für Ratschläge dieser Art werden Sie doch bezahlt.« 86
»Nur zu wahr.« Alessia fuhr fort: »Sie zogen mir eine Stoffkapuze über den Kopf … und plötzlich roch es süß …« »Süß?« fragte Pucinelli. »Sie wissen schon. Äther. Chloroform. Etwas derglei chen. Ich schlief einfach ein. Ich wollte mich wehren … Sie hielten meine Arme fest … hoben mich irgendwie … weiter nichts.« »Sie haben Sie aus dem Auto gehoben?« »Ich denke. Ich nehme es an. Sie müssen es getan ha ben.« Pucinelli nickte. Ihr Wagen war eine knappe Meile ent fernt gefunden worden, abgestellt auf einem Feldweg. »Ich erwachte in einem Zelt«, sagte Alessia. »Einem Zelt?« wiederholte Cenci verblüfft. »Ja … also … es war in einem Zimmer, aber das habe ich erst nicht begriffen.« »Was für ein Zelt?« fragte Pucinelli. »Bitte beschreiben Sie es.« »Oh …«, sie bewegte schwach die Hand. »Ich kann jede Naht davon beschreiben. Grünes Segeltuch. Ungefähr zweieinhalb Meter im Quadrat … etwas weniger. Es hatte Wände … ich konnte drin stehen.« Ein Rahmenzelt. »Es hatte einen Boden. Sehr starker Stoff. Wasserdicht, nehme ich an, obwohl das natürlich keine Rolle spielte …« »Als Sie erwachten«, fragte Pucinelli, »was passierte da?« »Einer von den Männern kniete neben mir am Boden und schlug mir ins Gesicht. Ziemlich fest. Komm schon, sagte er dauernd. Komm schon. Als ich die Augen auf schlug, brummte er und meinte, ich müsse bloß ein paar Worte nachsagen, dann könne ich weiterschlafen.« »Trug er eine Maske?« 87
»Ja … eine Teufelsfratze … orange … voller Warzen.« Wir wußten alle, welches die paar Worte gewesen waren. Wir hatten sie uns wieder und wieder angehört, auf dem ersten Tonband. »Hier ist Alessia. Bitte tut, was sie sagen. Sie bringen mich um, wenn ihr es nicht tut.« Eine von Betäubungsmit teln undeutliche Stimme, aber erschreckend klar die ihre. »Ich wußte, was ich sagte«, fuhr sie fort. »Ich wußte es, als ich richtig wach wurde … aber als ich es sagte, war al les verschwommen. Die halbe Zeit konnte ich auch nicht die Maske sehen … ich kippte immer wieder weg.« »Haben Sie jemals einen von ihnen ohne Maske gese hen?« fragte Pucinelli. Ein Lächeln zuckte um den blassen Mund. »Ich habe keinen von ihnen noch mal gesehen, auch nicht maskiert. Überhaupt nicht mehr. Niemand. Die erste Person, die ich nach dem ersten Tag zu sehen bekam, war Tante Luisa … die hier an meinem Bett saß … an ihrem Wandbehang nähte, und ich dachte … ich träume.« Unverhofft traten ihr Tränen in die Augen, und sie blinzelte sie langsam fort. »Sie sagten … wenn ich ihre Gesichter sähe, würden sie mich umbringen. Ich solle nicht versuchen, eines zu sehen …« Sie schluckte. »Also … habe ich es nicht … ver sucht.« »Sie glaubten ihnen?« Ein Zögern. Dann sagte sie mit einer Überzeugung »Ja«, die für das, was sie durchgemacht hatte, ein lebhaftes Ver ständnis weckte. Cenci sah erschüttert aus. Pucinelli versi cherte ihr ernst, sie habe zweifellos recht gehabt, und auch ich war, obwohl ich es nicht aussprach, davon überzeugt. »Sie sagten … ich käme wieder gesund nach Hause … wenn ich Ruhe hielte … und wenn ihr für meine Freilas sung bezahlen würdet.« Sie war immer noch bemüht, nicht zu weinen. »Papa …« 88
»Mein Liebstes … ich hätte alles Geld gegeben.« Er war selbst den Tränen nahe. »Ja«, meinte Pucinelli nüchtern. »Ihr Vater hat bezahlt.« Ich warf ihm einen Blick zu. »Er hat bezahlt«, wieder holte er, unverwandt Cenci anschauend. »Wieviel und wo er bezahlt hat, weiß er allein. Aber Sie wären sonst jetzt niemals frei.« Cenci rief abwehrend: »Ich hatte Glück, die Chance zu bekommen, nachdem Ihre Leute …« Pucinelli räusperte sich hastig und sagte: »Fahren wir fort. Signorina, bitte schildern Sie uns, wie Sie in den ver gangenen sechs Wochen gelebt haben.« »Ich wußte nicht, wie lange es war, bis Tante Luisa es mir sagte. Ich verlor die Übersicht … es waren so viele Tage, da konnte ich nicht mitzählen … und eigentlich wo zu auch. Ich fragte zwar, warum es so lange dauerte, aber sie gaben mir keine Antwort. Sie antworteten nie auf mei ne Fragen. Es lohnte sich nicht, welche zu stellen … aber manchmal fragte ich, bloß um meine eigene Stimme zu hören.« Sie zögerte. »Es ist komisch, auf einmal soviel zu reden. Ich habe mitunter tagelang überhaupt nichts ge sagt.« »Aber gesprochen hat man doch mit Ihnen, Signorina?« »Sie gaben mir Befehle.« »Was für Befehle?« »Das Essen hereinzuholen. Den Eimer hinauszustellen …« Sie zögerte, sagte dann: »Es klingt so unmöglich, hier in diesem Zimmer.« Sie blickte um sich auf die edlen, bis zur hohen Decke reichenden Bücherregale, die brokatenen Sessel, den hel len chinesischen Teppich auf dem Marmorfußboden. Jedes Zimmer des Hauses atmete die gleiche zwanglose Atmo sphäre von Reichtum, von antiken Gegenständen, die seit Jahrzehnten den gleichen Platz einnahmen, von Kostbar 89
keiten, die hierhergehörten. In ihrer Rennsportkarriere mußte sie manche dürftige Kammer betreten haben, aber sie sah ihre Wurzeln vermutlich jetzt mit neuen Augen. »In dem Zelt«, sagte sie resigniert, »war ein Schaum gummiteil, auf das ich mich legen konnte, und noch ein kleineres Teil als Kopfkissen. Ich hatte einen Eimer … ei nen normalen Eimer, wie aus einem Stall. Sonst war nichts da.« Sie zögerte. »Auf einer Seite hatte das Zelt einen Reißverschluß. Er ging nur etwa fünfzig Zentimeter auf … darüber war er blockiert. Sie sagten mir, ich solle ihn auf machen, dann würde ich etwas zu essen finden …« »Konnten Sie irgend etwas von dem Raum außerhalb des Zeltes sehen?« fragte Pucinelli. Sie schüttelte den Kopf. »Hinter dem Reißverschluß war auch wieder Zeltplane … aber ein bißchen gefaltet, glaube ich … also nicht richtig aufgebaut wie ein Vorraum …« Sie zögerte. »Sie sagten mir, ich solle nicht versuchen, da hineinzukommen.« Wieder eine Pause. »Das Essen stand immer so, daß ich es leicht erreichen konnte, direkt vor dem Reißverschluß.« »Was gab es zu essen?« fragte Cenci besorgt. »Nudeln.« Ein Zögern. »Manchmal warm, manchmal kalt. Mit Soße vermischt. Konserven, nehme ich an. Jeden falls …«, sagte sie müde, »es kam zweimal am Tag … und in der zweiten Ration waren gewöhnlich Schlaftabletten.« Cenci empörte sich laut, doch Alessia sagte: »Es störte mich nicht … Ich aß sie einfach … es war letztlich besser, als wachzubleiben.« Ein Schweigen trat ein, dann sagte Pucinelli: »Konnten Sie irgend etwas hören, das uns helfen würde herauszufin den, wo man Sie gefangenhielt?« »Hören?« Sie warf ihm einen zerstreuten Blick zu. »Nur die Musik.« »Was für Musik?« 90
»Ach … Tonbänder. Musik auf Band. Immer und immer wieder, stets dieselbe.« »Welche Art von Musik?« »Verdi. Instrumental, kein Gesang. Drei Viertel davon, dann ein Viertel Popmusik. Auch ohne Gesang.« »Könnten Sie die Stücke der Reihe nach aufschreiben?« Sie sah leicht überrascht aus, sagte aber: »Ja, ich denke schon. Soweit ich die Titel kenne.« »Wenn Sie es heute erledigen, lasse ich die Liste abho len.« »Ist gut.« »Fällt Ihnen sonst noch irgend etwas ein?« Sie sah dumpf auf den Boden. Ihr schmales Gesicht war müde von der geistigen Anstrengung des Freiseins. »Etwa viermal«, sagte sie, »gab man mir ein paar Sätze zum Vor lesen, und jedesmal sollte ich dabei etwas erwähnen, das in meiner Kindheit passiert war und wovon nur mein Vater wußte, damit er sicher sein konnte, daß ich noch … wohl auf war.« Pucinelli nickte. »Sie haben aus Tageszeitungen vorgele sen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es waren keine Zeitungen. Nur auf normales Papier abgetippte Sätze.« »Haben Sie diese Zettel behalten?« »Nein … die mußte ich durch den Reißverschluß rausle gen.« Sie hielt inne. »Die Musik drehten sie nur jeweils ab, wenn ich auf Band sprach.« »Haben Sie ein Mikrophon gesehen?« »Nein … aber ich konnte sie deutlich durch das Zelt sprechen hören, also haben sie mich wohl von draußen aufgenommen.« »Würden Sie sich an ihre Stimmen erinnern?« Ein unfreiwilliger Schauder durchlief sie. »Ja, an zwei. Die sprachen am meisten – aber es gab noch andere. Der 91
eine, der die Aufnahmen machte … ihn würde ich erken nen. Er war einfach … kalt. Der andere war viehisch … Er schien Spaß daran zu haben … aber anfangs war es schlimmer mit ihm … oder zumindest habe ich mich viel leicht an ihn gewöhnt und mich nicht mehr drum geküm mert. Dann war da manchmal noch einer, der hat sich im mer entschuldigt … ›Verzeihung, Signorina‹ … wenn er mir sagte, das Essen sei da. Und noch einer, der hat nur gebrummt … Keiner von ihnen hat je geantwortet, wenn ich sprach.« »Signorina«, sagte Pucinelli, »wenn wir Ihnen eines der Bänder vorspielen, die Ihr Vater erhielt, würden Sie uns einmal sagen, ob Sie die Stimme des Mannes wiederer kennen?« »Oh …« Sie schluckte. »Ja, natürlich.« Er hatte einen kleinen Recorder und Kopien der Tonbän der mitgebracht, und sie sah ängstlich zu, wie er eine Kas sette einlegte und eine Taste drückte. Cenci ergriff Alessias Hand, als könnte er sie so vor dem beschützen, was sie hö ren würde. »Cenci«, sagte SEINE Stimme. »Wir haben Ihre Tochter Alessia. Bei Bezahlung von einhundertundfünfzig Milliar den Lire geben wir sie Ihnen zurück. Hören Sie die Stim me Ihrer Tochter.« Ein Klicken, dem die undeutlichen Worte Alessias folgten. Dann: »Glauben Sie ihr. Wenn Sie nicht zahlen, werden wir sie umbringen. Verzögern Sie nicht. Informieren Sie nicht die Carabinieri, sonst schlagen wir Ihre Tochter. Sie wird jeden Tag geschlagen werden, den Sie verzögern, und außerdem …« Pucinelli drückte entschieden auf die Stoptaste, womit er die schlimmeren, die bestialischen Drohungen gnädig unterband. Alessia zit terte ohnehin und konnte kaum sprechen. Ihr Nicken war knapp und bestimmt. »Mm … ja …« »Sie könnten es beschwören?« 92
»… Ja …« Pucinelli räumte methodisch den Recorder weg. »Es ist dieselbe männliche Stimme auf allen Bändern. Wir haben, um sicherzugehen, einen Stimmabdruck herstellen lassen.« Alessia sammelte Speichel in ihrem Mund. »Man hat mich nicht geschlagen. Auch nicht damit gedroht. Davon war nie die Rede.« Pucinelli nickte. »Die Drohungen waren für Ihren Vater gedacht.« Sie sagte mit größter Besorgnis: »Papa, soviel hast du doch nicht bezahlt? Das wäre ja alles … das ging doch nicht.« Er schüttelte beruhigend den Kopf. »Nein, nein, nichts dergleichen. Reg dich nicht auf … keine Sorge.« »Entschuldigen Sie«, sagte ich auf englisch. Alle Köpfe drehten sich erstaunt, als hätte die Tapete ge sprochen. »Signorina«, sagte ich, »hat man Sie zwischen durch jemals verlegt? Sind Sie insbesondere vor vier oder fünf Tagen verlegt worden?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Ihre Gewißheit kam je doch ins Wanken, und stirnrunzelnd sagte sie: »Ich war ja die ganze Zeit in dem Zelt. Aber …« »Aber was?« »In den letzten Tagen roch es manchmal wie nach ge backenem Brot, und das Licht wirkte heller … aber ich dachte, sie hätten vielleicht einen Vorhang gezogen … obwohl ich überhaupt nicht viel nachdachte … ich meine, ich schlief ja so viel … es war besser …« »Das Licht«, sagte ich, »war es Tageslicht?« Sie nickte. »In dem Zelt war’s ziemlich düster, aber mei ne Augen waren so daran gewöhnt … Elektrisches Licht haben sie nie angeschaltet. Nachts wird es dunkel gewesen sein, aber ich schlief die Nächte durch, jede Nacht.« »Glauben Sie, daß Sie einen Umzug verschlafen haben 93
könnten, falls man das Zelt von dem einen Haus in ein an deres gebracht und es dort wiederaufgebaut hat?« Das Stirnrunzeln kehrte wieder, während sie darüber nachdachte. »Es gab einen Tag, nicht lange zurück, da bin ich kaum aufgewacht. Als ich aber aufwachte, wurde es schon dunkel, und mir war schlecht … wie gestern, als ich hier aufwachte … Ach nein«, rief sie heftig aus, »ich bin ja so froh, wieder hierzusein, so schrecklich dankbar … Ich kann es keinem sagen …« Sie begrub ihr Gesicht an der Schulter ihres Vaters, und seine Augen röteten sich, als er ihr Haar streichelte. Pucinelli stand auf. Er verabschiedete sich formell von Vater und Tochter und nahm seinen Stenografen und mich mit hinaus in die Halle. »Ich muß vielleicht wiederkommen, aber fürs erste reicht das mal.« Er seufzte. »Sie weiß so wenig. Keine große Hilfe. Die Kidnapper waren zu vorsichtig. Falls Sie mehr erfahren, Andrew, höre ich davon?« Ich nickte. »Wie hoch war das Lösegeld?« sagte er. Ich lächelte. »Die Liste mit den Nummern der Bankno ten trifft heute hier ein. Ich werde sie Ihnen geben. Und haben Sie hier das Identikit-System, wie in England?« »Etwas Ähnliches, ja.« »Ich könnte, glaube ich, ein Bild von einem der anderen Kidnapper zusammensetzen. Nicht denen von der Belage rung. Wenn Sie möchten.« »Wenn ich möchte! Wo haben Sie ihn gesehen? Woher wissen Sie das?« »Ich habe ihn zweimal gesehen. Ich erzähle Ihnen da von, wenn ich die Liste vorbeibringe.« »Wann?« »Wenn der Bote kommt. Jede Minute.« Der Bote traf entgegenkommenderweise ein, als Pucinelli 94
gerade in seinen Wagen stieg, also lieh ich mir erneut den Stadt-Fiat aus und folgte ihm in sein Präsidium. Während ich Kopfpartien, Mund und Augen, Kinn und Haaransatz zusammenfügte, schilderte ich Pucinelli die beiden Begegnungen. »Sie haben ihn wahrscheinlich selbst gesehen, außerhalb des Krankenwagens, in der Nacht, als die Belagerung anfing«, sagte ich. »Da hatte ich zuviel im Kopf.« Ich nickte und fügte die Ohren hinzu. »Der Mann ist jung. Schwer zu sagen … nicht unter fünfundzwanzig al lerdings. Anfang Dreißig wahrscheinlich.« Ich baute eine Vorderansicht und ein Profil zusammen, war jedoch nicht zufrieden, und Pucinelli schlug vor, einen Zeichner für mich zu holen. »Der arbeitet am Gericht. Sehr fix.« Ein Anruf brachte den Zeichner binnen einer halben Stunde ins Haus. Er kam, dick, brummig, mit einer Knob lauchfahne, kratzte sich und meinte, es sei doch Mittags ruhe; wie könne man von einem normalen Menschen er warten, daß er um zwei Uhr nachmittags arbeite? Aber er starrte auf meine zusammengesetzten Bemühungen, kram te ernüchtert einen dünnen Kohlestift hervor und begann rasche Wunder auf einem Skizzenblock damit zu vollbrin gen. Alle paar Sekunden hob er die Augenbrauen und harr te meines Kommentars. »Mehr gerundeter Kopf«, sagte ich, mit den Händen deutend. »Ein glatter, runder Kopf.« Der runde Kopf erschien. »Was noch?« »Der Mund … eine Spur zu dünn. Eine etwas vollere Oberlippe.« Er hörte auf, als mir keine Verbesserungen mehr einfie len, und zeigte das Ergebnis Pucinelli. »Das ist der Mann, wie Ihr englischer Freund ihn in Erinnerung hat«, sagte er schniefend. 95
»Erinnerungen trügen meistens, vergessen Sie das nicht.« »Danke«, sagte Pucinelli. »Sie können wieder schlafen gehen.« Der Zeichner brummte und ging, und ich fragte: »Was gibt es Neues von Lorenzo Traventi?« »Heute heißt es, er wird überleben.« »Gut«, sagte ich erleichtert. Es war das erstemal, daß sich jemand positiv äußerte. »Wir haben die beiden Kidnapper des versuchten Mordes beschuldigt. Sie protestieren.« Er zuckte die Achseln. »Bis her verweigern sie jede Aussage über die Entführung, ob wohl wir sie natürlich darauf hinweisen, daß ihre Strafen, wenn sie uns zu weiteren Festnahmen verhelfen, kürzer ausfallen.« Er ergriff die Skizzen des Zeichners. »Die werde ich denen mal zeigen. Dürfte ein schöner Schreck sein.« Ein Ausdruck grimmigen Vergnügens huschte über sein Ge sicht: der Ausdruck eines Polizeibeamten vor dem sicheren Fang. Ich hatte ihn auf den Gesichtern anderer Uniformträ ger gesehen und es niemals verachtet. Nach den Strapazen der vergangenen Woche stand die Genugtuung ihm zu. »Das Funkgerät«, sagte Pucinelli, schon halb im Gehen. »Ja?« »Es konnte auf Luftfahrtfrequenzen senden und empfan gen.« Ich stutzte. »Das ist doch nicht üblich, oder?« »Nicht sehr. Es war eingestellt auf die internationale Flugsicherungsfrequenz … die immerzu überwacht wird und auf der mit Sicherheit keine Entführersprüche aufge fangen wurden. Wir haben heute morgen beim Flughafen nachgefragt.« Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. Pucinelli verschwand voller Ungeduld zu seiner Vernehmung, und ich fuhr wie der zur Villa zurück. 96
Alessia sagte: »Könnte ich Sie mal was fragen?« »Schießen Sie los.« »Ich habe zwar schon Papa gefragt, aber der schweigt, obwohl das wahrscheinlich auch eine Antwort ist.« Sie zögerte. »Hatte ich irgendwas an, als Sie mich gefunden haben?« »Einen Plastik-Regenmantel«, stellte ich fest. »Aha.« Ich wußte nicht, ob ihr die Antwort gefiel oder nicht. Sie war eine Zeitlang nachdenklich, dann sagte sie: »Ich wachte hier in einem Kleid auf, das ich seit Jahren nicht getragen habe. Tante Luisa und Ilaria sagen, sie wissen nicht, wie das gekommen ist. Hat Papa mich angezogen? Ist er deshalb so verlegen?« »Haben Sie nicht erwartet, etwas anzuhaben?« fragte ich neugierig. »Na ja …« Sie zögerte. Ich hob den Kopf. »Sind Sie die ganze Zeit … nackt ge wesen?« Sie bewegte unruhig den dünnen Körper im Sessel, als wollte sie darin versinken. »Ich möchte nicht …«, sagte sie und brach schluckend ab, während ich in Gedanken den Satz zu Ende führte: … möchte nicht, daß jeder davon erfährt. »Schon gut«, sagte ich. »Ich erzähle es nicht.« Wir saßen in der Bibliothek, früh abends, in der nachlas senden Hitze des Tages. Frisch geduscht, salopp gekleidet, warteten wir nach den Regeln des Hauses Cenci auf die anderen, um vor dem Abendessen ein Glas oder zwei mit ihnen zu trinken. Alessias Haar war wiederum feucht, aber ein Fortschritt für sie war der Lippenstift. Sie warf mir kurze prüfende Blicke zu. »Weshalb sind Sie hier?« sagte sie. »Papa meint, ohne Sie hätte er die letzten Wochen nicht durchgestanden, aber … ich verstehe nicht ganz.« 97
Ich erklärte meinen Job. »Ein Berater?« »So ist es.« Sie überlegte eine Weile, wobei ihr Blick über mein Ge sicht wanderte, auf meine Hände herab und wieder hoch zu meinen Augen. Ihre Meinung war nicht abzulesen, aber schließlich seufzte sie, als fasse sie einen Entschluß. »Nun … beraten Sie mich auch«, sagte sie. »Ich fühle mich ganz seltsam. Wie nach einer Flugreise, nur viel schlimmer. Auf den Kopf gestellt. Ich habe ein Gefühl, als ob ich auf Seidenpapier gehe. Als ob nichts wirklich ist. Dauernd möchte ich losheulen. Ich müßte doch wahnsin nig glücklich sein … warum bin ich es nicht?« »Die Nachwirkung«, sagte ich. »Sie wissen nicht … Sie können sich nicht vorstellen … wie es war.« »Ich habe von vielen Leuten gehört, wie es ist. Von Leu ten wie Ihnen, die gerade eine Entführung hinter sich hat ten. Sie haben es mir erzählt. Der erste brutale Schock, wo man noch gar nicht fassen kann, daß es passiert. Die Er niedrigung, der man Sie bewußt aussetzt, um Sie einzu schüchtern und hilflos zu machen. Keine Toiletten. Manchmal keine Kleidung. Sicherlich keinen Respekt. Keine Güte oder Freundlichkeit irgendeiner Art. Gefan genschaft, niemanden zum Reden, nichts, was die Gedan ken ausfüllt. Nur Ungewißheit und Angst … und Schuld bewußtsein … Schuldgefühle, weil Sie nicht gleich geflohen sind, Schuldbewußtsein wegen der Bedrängnis, in die Ihre Familie gerät, Schuldgefühle wegen der Kosten für die Auslösung … und Angst um Ihr Leben … falls das Geld nicht beschafft werden kann … falls etwas schiefgeht … falls die Kidnapper in Panik geraten.« Sie hörte aufmerksam zu, erst überrascht und dann mit Erleichterung. »Doch, Sie wissen es. Sie verstehen es. Ich 98
habe einfach nichts sagen können … ich will nicht, daß sie sich aufregen … und außerdem … außerdem …« »Außerdem schämen Sie sich«, sagte ich. »Oh.« Ihre Augen weiteten sich. »Ich … Und warum?« »Ich weiß es nicht, aber es geht beinah jedem so.« »Wirklich?« »Ja.« Sie schwieg einige Zeit, dann sagte sie: »Wie lange wird es dauern, bis ich … darüber hinwegkomme?« Darauf gab es keine Antwort. »Manche Leute schütteln es fast sofort ab«, sagte ich. »Aber es ist wie eine Krank heit, wie ein Todesfall … man muß es vernarben lassen.« Einige schafften es in Tagen, einige in Wochen, andere in Jahren; manche bluteten für immer. Einige der schein bar Starken verfielen am meisten. Vorherzusagen war es nicht, nicht einen Tag nach der Befreiung. Ilaria kam in einer phantastischen Toga, scharlachrot und golden, in das Zimmer und schaltete die Lampen an. »Es war in den Radionachrichten, daß du frei bist«, sagte sie zu Alessia. »Ich hab’s oben gehört. Nütze die Ruhe, die Paparazzi werden uns die Türen einrennen, ehe du dich’s versiehst.« Alessia wich unglücklich wieder ganz in ihren Sessel zu rück. Mir kam der wenig gnädige Gedanke, daß Ilaria sich eigens für den Fall herausgeputzt hatte; auch dies ein Aus druck ihres Wunsches, nicht in den Schatten gestellt zu werden. »Erstreckt Ihre Beratung sich auch auf Paparazzi?« frag te Alessia leise, und ich nickte: »Wenn Sie möchten.« Ilaria tätschelte mir den Kopf, als sie hinter meinem Ses sel vorbeiging. »Unser Tausendsassa. Niemals in Verle genheit.« Paolo Cenci traf zusammen mit Luisa ein, er offenbar besorgt, sie flatterhaft nervös wie üblich. 99
»Jemand von der Fernsehgesellschaft hat angerufen«, sagte Cenci. »Ein Team sei auf dem Weg hierher. Alessia, du bleibst am besten auf deinem Zimmer, bis sie wieder weg sind.« Ich schüttelte den Kopf. »Die kampieren dann bloß vor der Haustür. Es ist wirklich besser, man bringt es hinter sich.« Ich sah Alessia an. »Wenn Sie vielleicht … und ich weiß, es ist schwer … irgendeinen Witz machen könnten, dann ziehen sie schneller ab.« Sie sagte verblüfft: »Aber wieso denn?« »Weil eine gute Nachricht eine kurze Nachricht ist. Wenn die glauben, daß es Ihnen wirklich dreckig gegan gen ist, bohren sie immer weiter. Erzählen Sie ihnen, die Entführer hätten Sie gut behandelt. Sagen Sie, daß Sie froh sind, wieder daheim zu sein. Sagen Sie, man wird Sie schon bald wieder auf der Rennbahn sehen. Falls eine Fra ge kommt, deren Beantwortung Sie ernstlich quälen wür de, blenden Sie die Gedanken aus und machen Sie einen Witz.« »Ich weiß nicht … ob ich’s kann.« »Die Welt möchte hören, daß es Ihnen gutgeht«, sagte ich. »Sie will beruhigt sein, will Alessia lächeln sehen. Wenn Sie das jetzt fertigbringen, wird es Ihre Rückkehr zum normalen Leben sehr erleichtern. Die Leute, die Sie kennen, werden Sie mit Freuden begrüßen … keinem wird es peinlich sein, Ihnen zu begegnen, aber das könnte es sein, sähe man Sie in einem hysterischen Zustand.« Cenci rief verärgert: »Sie ist doch nicht hysterisch.« »Ich weiß, was er meint«, sagte Alessia. Sie warf ihrem Vater ein mattes Lächeln zu. »Wie ich höre, bezahlst du für den Rat, also sollten wir ihn auch annehmen.« Einmal mobilisiert, zog die Familie eine bemerkenswerte Schau ab, wie Akteure auf der Bühne. Ilaria und Luisa hat ten die wenigsten Schwierigkeiten damit, aber Cenci muß 100
te die Rolle des freundlichen Gastgebers grotesk vorge kommen sein, als er die Fernsehleute höflich empfing und ihnen beim Möbelrücken und Steckdosenfinden behilflich war. Ein zweites Fernsehteam traf ein, während das erste noch aufbaute, und danach mehrere Wagen mit Reportern, teils von internationalen Nachrichtenbüros, nebst einem Schwung Fotografen. Ilaria bewegte sich wie ein schar lachroter Vogel unter ihnen, fröhlich plappernd, und selbst Luisa gab sich huldvoll in ihrer konfusen Art. Ich beobachtete von der fast geschlossenen Tür der Bib liothek aus, wie der Zirkus sich versammelte, während Alessia still in ihrem Sessel saß und Schatten unter den Augen bekam. »Ich kann es nicht«, sagte sie. »Die erwarten ja keine Tanz- und Gesangsnummer. Sei en Sie einfach … normal.« »Und witzig.« »Ja.« »Mir ist übel.« »Sie sind doch Menschenmengen gewohnt«, sagte ich. »Gewohnt, daß Leute Sie anstarren. Stellen Sie sich vor, Sie wären …«, ich suchte, »… als Siegerin vor der Tribü ne. Großes Tamtam. Sie sind daran gewöhnt, das gibt Ih nen Schutz.« Sie schluckte nur, aber als ihr Vater sie holen kam, ging sie hinaus und stellte sich dem Sperrfeuer der Blitzlichter und Fragen, ohne zusammenzubrechen. Ich sah von der Bibliothekstür aus zu und lauschte ihrem langsamen, deut lichen Italienisch. »Ich bin sehr froh, wieder daheim bei meiner Familie zu sein. Ja, danke, es geht mir gut. Ja, ich hoffe, schon bald wieder an Rennen teilzunehmen.« Die helle Beleuchtung für die Fernsehkameras gab ihr ein doppelt blasses Aussehen, besonders neben der fun 101
kelnden Ilaria, aber das leise, ruhige Lächeln in ihrem Ge sicht fing nie zu weichen an. »Nein, die Gesichter der Entführer habe ich nie gesehen. Sie waren sehr … diskret.« Die Nachrichtensammler reagierten auf das Wort mit ei nem anerkennenden, sich langsam steigernden Gebrumm. »Ja, das Essen war ausgezeichnet … wenn man Nudeln aus der Dose mag.« Ihr Timing war glänzend: Diesmal erntete sie ein reines Gelächter. »Ich habe in so einem Zelt gewohnt, wie es die Leute in den Urlaub mitnehmen. Wie groß? Ein Einzelzimmer … ungefähr das Format. Ja … ganz gemütlich … Die meiste Zeit habe ich Musik gehört.« Ihre Stimme war leise, aber felsenfest. Die Sympathie der Presseleute klang in den Fragen jetzt deutlich durch, und sie erklärte ihnen, ein offener Sportwagen habe sich als Risikofaktor entpuppt. Sie bedaure, allen soviel Kum mer bereitet zu haben. »Wieviel Lösegeld? Ich weiß es nicht. Mein Vater meint, es war nicht zuviel.« »Was das Schlimmste war an der Entführung?« Sie wie derholte die Frage, als stellte sie sie sich selbst, und sagte dann nach einer Pause: »Daß ich das englische Derby ver paßt habe, wahrscheinlich. Den Ritt auf Brunelleschi.« Es war der Höhepunkt. Auf die nächste Frage lächelte sie und sagte, sie habe viel nachzuholen und sie sei ein bißchen müde; ob man sie bitte entschuldigen würde. Sie applaudierten ihr. Verwundert hörte ich mir den Tri but dieses zynischsten Vereins auf Erden an, und Alessia kam mit einem echten Lachen in den Augen zur Biblio thek. Ich erkannte mit einemmal, worauf ihr Ruhm eigent lich beruhte: nicht nur auf Talent, nicht nur auf Courage, sondern auf Stil. 102
England 6
I
ch verbrachte noch zwei Tage in der Villa Francese und flog dann zurück nach London; und Alessia kam mit mir. Cenci, ganz niedergeschlagen, wollte, daß sie blieb. Er war noch nicht wieder in sein Büro zurückgekehrt, und ih re Befreiung hatte den Mann von Welt auf dem Foto nicht wiederhergestellt. Sein Gesicht war immer noch von Angst und Sorge gezeichnet, und er sprach dem Kognak noch zu ungewohnten Stunden zu. Die Fassade, die er für die Me dien errichtet hatte, war verschwunden, bevor ihre Wagen noch zum Tor herauswaren, und am darauffolgenden Tag schien er zu lethargischer Unfähigkeit verdammt. »Ich begreife ihn nicht«, sagte Ilaria gereizt. »Er müßte doch herumstolzieren, strahlen, den Krempel in die Hand nehmen. Man sollte meinen, er wäre wieder der alte herri sche Diktator. Warum ist er es nicht?« »Er hat sechs furchtbare Wochen hinter sich.« »Na, und? Die sind vorbei. Zeit zum Tanzen, würde ich meinen.« Sie beschrieb eine graziöse Ballettgeste mit dem Arm. Ihre Goldreifen klimperten. »Ehrlich gesagt, ich war verflucht froh, daß sie wieder da ist, aber wie Papa sich anstellt, könnte sie geradesogut weggeblieben sein.« »Lassen Sie ihm Zeit«, sagte ich milde. »Er soll wieder so sein wie sonst«, beharrte sie. »Er soll wieder ein Mann sein.« 103
Als Alessia beim Abendessen sagte, daß sie in einem oder zwei Tagen nach England wolle, waren alle, auch ich, erstaunt. »Wieso denn?« fragte Ilaria direkt. »Um Popsy zu besuchen.« Alle außer mir wußten, wer Popsy war und was Alessia mit ihr zu tun hatte, und auch ich erfuhr es später. Popsy war eine verwitwete Trainerin von Rennpferden, bei der Alessia gewöhnlich wohnte, wenn sie sich in England auf hielt. »Ich bin außer Form«, sagte Alessia. »Muskeln wie Pud ding.« »Pferde gibt es doch hier auch«, wandte Cenci ein. »Ja, aber … Papa, ich möchte wegfahren. Es ist fabel haft, daheim zu sein, aber … Ich habe heute versucht, mit dem Wagen aus dem Tor zu fahren, und habe es verzittert. So was Blödes. Ich wollte zum Friseur. Die Haare müssen so dringend geschnitten werden. Aber ich konnte nicht. Ich bin wieder zurück ins Haus, und seht mich an, immer noch gelockt bis auf die Schultern.« Sie bemühte sich zu lachen, aber niemand fand es lustig. »Wenn es dein Wunsch ist«, sagte ihr Vater bekümmert. »Ja … ich fliege mit Andrew, wenn er nichts dagegen hat.« Ich hatte sehr wenig dagegen. Sie schien durch ihren Entschluß erleichtert. Am nächsten Tag fuhr Ilaria sie mit dem Fiat zum Friseur, kaufte Sachen für sie ein, weil sie sich nicht in die Geschäfte traute, und brachte sie gutge launt nach Hause. Alessia kam mit kurzen sportlichen Locken und einem gelinden Tatterich wieder, und Ilaria half ihr beim Packen. An diesem Abend versuchte ich Cenci davon zu über zeugen, daß seine Familie noch immer Vorsichtsmaßregeln treffen solle. 104
»Das erste Lösegeld liegt ja noch in einem Koffer ge bündelt, und ich glaube, bis die Carabinieri, die Gerichte oder wer auch sonst es freigeben, damit Sie einiges von dem aus Mailand geborgten Geld ersetzen können, steht es noch auf dem Spiel. Was, wenn die Kidnapper nun Sie ent führen … oder Ilaria? Es kommt zwar nicht oft vor, daß sie die gleiche Familie zweimal heimsuchen, aber in die sem Fall … vielleicht doch.« Der Schrecken war zu groß. Es hätte ihn fast überwältigt. »Sorgen Sie nur dafür, daß Ilaria aufpaßt«, sagte ich ha stig. Mir war das nicht geglückt. »Sie soll ein bißchen Ab wechslung in ihr Leben bringen. Soll bei Freunden wohnen, Freunde hierher einladen. Sie selbst sind wegen Ihres Chauf feurs viel sicherer, aber es würde auch nichts schaden, eine Zeitlang noch den Gärtner mitzunehmen. Er hat Schultern wie ein Stier und gäbe einen vorzüglichen Leibwächter ab.« Nach einem langen Schweigen sagte er leise: »Wissen Sie, ich kann den Tatsachen nicht ins Gesicht sehen.« »Ja, ich weiß es«, stimmte ich sanft zu. »Am besten fan gen Sie aber damit an, sobald Sie können.« Ein schwaches Lächeln. »Fachlicher Rat?« »Absolut.« Er seufzte. »Ich bringe es nicht über mich, das Haus auf Mykonos zu verkaufen. Meine Frau hat es geliebt.« »Sie hat auch Alessia geliebt. Sie würde es für einen fai ren Tausch halten.« Er betrachtete mich eine Weile. »Sie sind ein seltsamer junger Mann«, sagte er. »Sie beseitigen jede Unklarheit.« Er zögerte. »Werden Sie nie durch Gefühle verwirrt?« »Doch, manchmal«, sagte ich. »Aber wenn es geschieht … dann versuche ich es auf die Reihe zu kriegen. Irgendwo Logik zu erkennen.« »Und wenn Sie die Logik sehen, handeln Sie danach?« »Möglichst.« Ich zögerte. »Ja.« 105
»Das hört sich … kalt an.« Ich schüttelte den Kopf. »Logik hindert einen nicht am Fühlen. Sie können sich logisch verhalten, und es kann teuflisch weh tun. Es kann auch beruhigend sein. Oder be freiend. Oder alles auf einmal.« Nach einiger Zeit stellte er sachlich fest: »Die meisten Menschen verhalten sich nicht logisch.« »Nein«, stimmte ich zu. »Sie denken aber, jeder könnte es, wenn er wollte?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Er wartete, daher fuhr ich zaghaft fort: »Zunächst einmal steht das Erbgedächtnis dagegen. Und um logisch zu sein, muß man die eigenen verborgenen Motive und Empfindungen ausgraben und sich ihnen stellen, aber die sind ja vor allem deshalb ver borgen, weil man sich ihnen nicht stellen will. Folglich … hm … ist es leichter, quasi den Souterrain-Gefühlen die Leitung der oberen Etagen zu überlassen, und das Ergeb nis ist Zank und Streit, Liebe, Jobs und Meinungen, Appe titlosigkeit, Menschenfreundlichkeit … beinahe alles, was man sich denken kann. Ich möchte einfach gerne wissen, was sich da unten abspielt, herauskriegen, warum ich die ses oder jenes eigentlich tun will, nichts weiter. Dann kann ich’s tun oder lassen, je nachdem.« Er sah mich nachdenklich an. »Selbstanalyse … haben Sie das studiert?« »Nein. Gelebt. Wie jeder andere.« Er lächelte schwach. »In welchem Alter?« »Nun … von Anfang an. Ich meine, ich wüßte nicht, wann ich das nicht betrieben hätte. Die Erforschung mei ner wahren Motive. Sie im Innersten erkennen. Das Be schämende entdecken … die zweifelhaften Impulse … Furchtbar, wirklich.« Er hob sein Glas und trank ein wenig Kognak. »Sind Sie dadurch zum Heiligen geworden?« fragte er lächelnd. 106
»Äh … nein. Zum Sünder natürlich, der Dinge tut, von denen er weiß, daß er sie nicht tun sollte.« Das Lächeln wuchs auf seinen Lippen und blieb. Er be gann mir das Haus auf der griechischen Insel zu beschrei ben, das seine Frau so geliebt hatte, und zum erstenmal, seit ich ihn kannte, sah ich so etwas wie Frieden einkeh ren. Im Flugzeug sagte Alessia: »Wo wohnen Sie?« »In Kensington. Nicht weit vom Büro.« »Popsy trainiert in Lambourn.« Sie teilte es mit, als wäre es eine beiläufige Information. Ich wartete aber, und nach einer Weile sagte sie: »Ich möchte Sie weiterhin sehen.« Ich nickte. »Jederzeit.« Ich gab ihr eine meiner Ge schäftskarten, die neben der Telefonnummer des Büros auch meine Privatnummer enthielt, und notierte meine An schrift auf der Rückseite. »Sie haben nichts dagegen?« »Natürlich nicht. Es freut mich.« »Ich brauche … jetzt im Moment … brauche ich eine Krücke.« »Luxusmodell, zu Ihren Diensten.« Ihre Lippen kräuselten sich. Sie war hübsch, fand ich, unter all der Anspannung. Ein zartknochiges Gesicht, das zugleich kräftig war, außen glatt und darunter straff, mit feingeschnittenen Zügen. Mich hatten stets größere, wei chere, mehr kurvenbetonte Frauen angezogen, und an Alessia war nichts, was den gewohnten Reiz auslöste. Trotzdem gefiel sie mir immer besser, und ich würde sie nach ihrer Adresse gefragt haben, wenn sie mir nicht zu vorgekommen wäre. Nach und nach hatte sie mir in den letzten beiden Tagen viele weitere Einzelheiten über ihre Gefangenschaft er zählt, sich von der Seele geredet, was sie durchgemacht hatte, welche Gefühle und Befürchtungen sie gequält hat 107
ten. Ich hatte sie dazu ermutigt, nicht nur, weil man bei solchen Schilderungen mitunter einen nützlichen Hinweis bekam, der die Ergreifung der Entführer ermöglichte, son dern auch um ihrer selbst willen. Opfertherapie, Absatz eins: Alles erzählen lassen, damit sie es loswerden. In Heathrow gingen wir gemeinsam durch die Paßkon trolle, die Gepäck- und Zollabfertigung, wobei Alessia sich nervös in meiner Nähe hielt und sich Mühe gab, es natürlich erscheinen zu lassen. »Ich laufe nicht weg«, versicherte ich ihr, »bis Popsy bei Ihnen ist. Seien Sie unbesorgt.« Popsy verspätete sich. Wir standen da und warteten. Alessia entschuldigte sich zweimal alle fünf Minuten, während ich sie bat, es nicht zu tun, und schließlich, wie ein Windstoß, traf eine wuchtige Dame mit ausgestreckten Armen ein. »Mein Schatz«, sagte sie und schloß die Arme um Ales sia, »ein scheußlicher Stau auf der Fernstraße. Das ging im reinsten Schneckentempo. Ich dachte schon, ich komme nie an.« Sie hielt Alessia von sich, um sie zu betrachten. »Du siehst phantastisch aus. Daß einem so was Finsteres passieren kann! Als ich hörte, daß du in Sicherheit bist, hab’ ich geflennt, einfach geflennt.« Popsy war um die Fünfundvierzig und trug Hosen, Hemd und Daunenweste in Indigo, Weiß und Olivgrün. Sie hatte beunruhigend grüne Augen, eine Masse flaumi ger, ergrauender Haare und eine Persönlichkeit so wuchtig wie ihre Figur. »Popsy …«, setzte Alessia an. »Mein Schätzchen, was du brauchst, ist ein großes Steak. Sieh dir deine Arme an … Streichhölzer. Der Wagen ist gleich draußen, wahrscheinlich hängt irgendein Polizist schon einen Zettel dran, ich hab’ ihn auf den gelben Dop pelstreifen stehn, also komm, gehen wir.« 108
»Popsy, das ist Andrew Douglas.« »Wer?« Sie schien mich zum erstenmal zu sehen. »Guten Tag.« Sie streckte eine Hand vor, die ich schüttelte. »Popsy Teddington. Nett, Sie kennenzulernen.« »Andrew ist mit mir geflogen …« »Fein«, sagte Popsy. »Wunderbar.« Sie hatte die Augen in böser Erwartung auf dem Ausgang. »Können wir ihn für Sonntag zum Lunch einladen?« fragte Alessia. »Bitte?« Die Augen drehten sich mir zu, schätzten mich schnell ab, gaben ihr Einverständnis. »Okay, Schatz, alles, was du willst.« Zu mir sagte sie: »Fahren Sie nach Lam bourn, fragen Sie irgendwen, die sagen Ihnen, wo ich wohne.« »In Ordnung«, nickte ich. Alessia murmelte halb ein »Dankeschön«, dann ließ sie sich fortreißen, und ich sann gedankenverloren über unwi derstehliche Kräfte in weiblicher Form nach. Von Heathrow aus fuhr ich direkt ins Büro, wo der Frei tagnachmittag sich dahinschleppte wie üblich. Das Büro, eine undefinierbare Reihung von ebenerdigen Räumen zu beiden Seiten eines Mittelganges, war Jahr zehnte vor der Ära des Großraums, der Panoramafenster und der wuchernden Innengärten entworfen worden. Wir hielten an den Kaninchenställen mit ihrer Deckenbeleuch tung fest, weil sie relativ billig kamen. Da die meisten von uns keine Angestellten, sondern Teilhaber waren, hatten wir an niedrigen Pauschalkosten ein starkes Interesse. Au ßerdem arbeiteten wir ja selten im Büro. Der Krieg fand an fernen Fronten statt – im Hauptquartier wurden Strate gien erörtert und Berichte geschrieben. Ich lud meinen Koffer in dem Verschlag ab, den ich manchmal den meinen nannte, und wanderte den Flur ent 109
lang, um meine Rückkehr zu verkünden und zu sehen, wer dort war. Gerry Clayton war da, rundlich und asthmatisch, drei undfünfzig und kahl. Er bastelte gerade an einer schwieri gen Konstruktion aus gefaltetem Papier. »Ts, ts«, sagte er. »Schlimmer Junge. Guten Tag.« Gerry Clayton hatte sich zur Vaterfigur für viele unge ratene Söhne ernannt. Sein Spezialgebiet waren Versiche rungen. Von ihm war ich auch angeworben worden, als ich noch Buchhalter bei einer Firma der Lloyds-Gruppe war, trottgeplagt und auf der Suche nach mehr Sinn im Leben. »Wo ist Langbein?« fragte ich. »Kann genausogut die Strafpredigt gleich hinter mich bringen.« »Langbein, wie du ihn so respektlos nennst, ist heute morgen nach Venezuela geflogen. Sie haben den Direktor von Luca-Öl gekascht.« »Luca-Öl?« Ich hob die Augenbrauen. »Nach all der Ar beit, die wir bei ihnen in die Vorbeugung gesteckt haben?« Gerry zuckte die Achseln und zog mit dem Daumenna gel einen scharfen Falz in steifes weißes Papier. »Diese Arbeit liegt über ein Jahr zurück. Du weißt, wie die Leute sind. Erst ganz versessen auf Sicherheitsvorkehrungen, dann oberflächlich, dann absolut schlampig. Die mensch liche Natur. Ein überzeugter Entführer, der etwas auf sich hält, braucht lediglich zu warten.« Am persönlichen Schicksal des entführten Direktors war er nicht interessiert. Er meinte des öfteren, wenn alle Welt bombensichere Vorkehrungen träfe, und nie würde – in seinen Worten – jemand gekascht, dann stünden wir alle ohne Job da. Durch eine einzige gute Entführung in einem Unternehmen würden sofort zwanzig andere ermuntert, sich bei uns Rat zu holen, um eine ähnliche Schwierigkeit zu vermeiden. Wie er regelmäßig unterstrich, waren die 110
Uns-kascht-keiner-Methoden das Brot und die Butter fürs Geschäft und auch etwas von der Marmelade. Gerry stülpte sein anscheinend zerknittertes weißes Pa pierknäuel um, und es nahm wunderbarerweise die Gestalt eines Kakadus an. Wenn er nicht gerade Liberty-Klienten beriet, wie sie sich gegen Entführung versichern sollten, verkaufte er Origami-Faltmuster an Illustrierte, aber nie mand verübelte ihm seine Papierkniffelei im Büro. Sein Verstand schien dahinzutreiben, während er knickte und falzte, und präsentierte aus heiterem Himmel dann oft fruchtbare Geschäftsideen. Liberty Market als Firma bestand zu diesem Zeitpunkt aus einunddreißig Teilhabern und fünf Schreibkräften. Von den Teilhabern hatten alle außer Gerry und mir selbst frü her einmal zur S.A.S., zur Polizei oder zu irgend etwas streng Geheimem in Regierungsdepartments gehört. Es gab zwar keine besonderen Regeln, wer welchen Job übernahm, aber nach Möglichkeit überließ man jedem die Wahl. Manche verlegten sich ganz auf die Vortragsreisen, hielten Seminare ab und wiesen auf Gefahren hin; alles zum Thema »Wie bleibt man frei«. Einige nahmen sich dankbar den Bereich des Terrorismus vor, andere, wie ich, hielten sich für nützlicher im Umgang mit dem einfachen Verbrechen. Jeder faßte zwischendurch seine Berichte ab, las die aller anderen, besetzte rund ums Jahr die Telefon zentrale des Büros und polierte seine Techniken im über zeugenden Verhandeln auf. Wir hatten einen Präsidenten (den Gründer der Firma) für unsere Montagmorgensitzungen zur »Lage der Nati on«, einen Koordinator, der im Auge behielt, wo die ein zelnen steckten, und einen Entstörer – Langbein –, an den die Teilhaber sämtliche Beschwerden richteten. Wenn ihre Beschwerden das Verhalten eines anderen Kompagnons betrafen, gab Langbein die Kritik weiter. Wenn genügend 111
Teilhaber die Handlungsweise eines Kompagnons mißbil ligten, erteilte Langbein den Verweis. Ich war gar nicht so traurig, daß er nach Venezuela geflogen war. Dieses dem Anschein nach formlose Firmenprojekt funktionierte als ein durchorganisiertes Ganzes, vor allem dank der Disziplin der Exsoldaten. Sie waren hager, hart, stolz und ganz erstaunlich gerissen. Die meisten von ihnen befaßten sich am liebsten mit der Lage nach einer erfolg ten Entführung. Sie waren außerdem fast paranoid in Sa chen Geheimhaltung, genau wie auch die Exspione, die ich in der ersten Zeit niederdrückend fand, aber schon bald achten lernte. Die ehemaligen Polizisten hielten zum überwiegenden Teil die Vorträge. Sie erörterten nicht nur Schutzmaßnah men, sondern klärten potentielle Entführungsopfer darüber auf, was sie im Falle eines Falles tun und wonach sie schauen sollten, damit, wer sie gefangennahm, seinerseits gefangengenommen werden konnte. Viele von uns hatten besondere Kenntnisse auf einem Gebiet, wie Fotografie, Sprachen, Waffenkunde oder Elek tronik, und alle konnten mit einem Schreibautomaten um gehen, da keiner gern den ganzen Tag das Geklapper alt modischer Schreibmaschinen hörte. Niemand trieb sich lange genug im Büro herum, als daß ernste Fehden entste hen konnten, und der Koordinator wußte, wie man nicht zusammenpassende Gemüter voneinander fernhielt. Alles in allem war es ein zufriedenes Schiff, auf dem ein jeder aus persönlicher Überzeugung arbeitete, und dank den Entführern war das Geschäft gesund. Ich schaute noch in einige der anderen Kaninchenställe, sah, daß ich mit einem Fragezeichen für Sonntag nacht auf dem Telefondienstplan vorgemerkt war, und kam schließlich zu dem großen Raum am anderen Ende, dem einzigen Raum mit Fenstern zur Straße. Er bot knapp der 112
ganzen Gruppe Platz, wenn wir jemals vollzählig dort waren, aber an diesem Nachmittag war als einziger Tony Vine drin. »Hallo«, sagte er. »Ich höre, du hast ungeheuer Mist ge baut in Bologna.« »Jaja.« »Die Scheißcarabinieri das R. V. vermasseln lassen.« »Hast du schon mal versucht, der italienischen Armee Befehle zu erteilen?« Als Antwort schniefte er. Tony selbst war ein ehemaliger S.A.S.-Sergeant und hätte während seiner Dienstzeit nicht im Traum daran gedacht, einem Zivilisten zu gehorchen. Er konnte sich über jedes Terrain auf eine Art bewegen, gegen die ein Chamäleon sich wie ein bunter Hund aus nahm. In drei Fällen hatte er es geschafft, ein Opfer noch vor der Zahlung des Lösegeldes aufzuspüren und zu be freien, obwohl niemand, auch nicht das Opfer, genau wuß te, wie. Tony Vine war der verschwiegenste von der gan zen verschlossenen Bande. Was er nicht erzählen wollte, wurde nicht erzählt. Er war derjenige, der mich vor Messern in zusammenge rollten Illustrierten gewarnt hatte. Die Vermutung lag na he, daß er den Trick kannte, weil er ihn selbst schon be nutzt hatte. Sein Humor bestand hauptsächlich aus Sarkasmen, und er brachte kaum einen Satz heraus, ohne ihn mit zwei, drei Kraftausdrücken zu garnieren. Er bearbeitete fast nur poli tische Entführungen, weil er, wie Pucinelli, den Wohlstand von Personen und Unternehmen eher verachtete. »Wenn du zum Kotzen arm bist«, hatte er mal zu mir ge sagt, »und du siehst irgendeinen Kapitalisten im Rolls rumdüsen, dann ist es ja nicht so furchtbar erstaunlich, daß du dir was überlegst, um einen Ausgleich zu schaffen. Wenn du auf Sardinien gerade dein letztes Stück Ziegen 113
käse kaust oder dir in Mexiko die Bohnen ausgehen, wird eine kleine Entführung verflucht plausibel.« »Du bist ein Romantiker«, hatte ich geantwortet. »Wie steht’s denn mit armen Sarden, die ein Kind aus einem armen sardischen Dorf rauben und die ganzen armen Leu te dort noch tiefer in den Staub zwingen, indem sie ihnen ihre armseligen Ersparnisse als Lösegeld abfordern?« »Niemand ist hundert Prozent vollkommen.« Sosehr er anfangs gegen meinen Eintritt in die Firma gewesen war, und obwohl er sich in jeder Hinsicht überle gen fühlte, wann immer wir zusammenarbeiteten, klappte es reibungslos. Er konnte sich durch Entführerseelen hin durchtasten wie durch ein Minenfeld, überließ mir jedoch lieber den Verkehr mit den Familien der Opfer. »Wenn du bei ihnen bist, bleiben sie immer schön heil. Sage ich ihnen, was sie tun sollen, klinken sie total aus.« Ihm lag am meisten die Zusammenarbeit mit Männern in Uniform, bei denen er mühelos Achtung und Anerkennung fand. Gute Sergeants führen die Armee, heißt es, und wenn er wollte, hatte er dieses Flair noch. Niemand darf über einen längeren Zeitraum in der S.A.S. dienen, und nachdem er aus Altersgründen rausge flogen war, überfiel ihn bald die Langeweile. Dann flüster te irgendwer ihm von der Möglichkeit, Terroristen auf an dere Weise zu bekämpfen, und Liberty Market hatte seine Teilhaberschaft noch nie bedauert. »Ich hab’ dich für Sonntag nacht statt meiner an den Draht gesetzt. Hast du gesehen?« fragte er. Ich nickte. »Meine Frau hat diese Scheißjubiläumsparty organisiert, da kann es gut sein, daß ich bis Mitternacht voll bin.« »In Ordnung«, sagte ich. Er war klein für einen Soldaten – nützlich, um als Frau durchzugehen, hatte er mir mal gesagt. Außerdem war er 114
strohblond, blauäugig und leicht auf den Füßen, ein Fit neß-Fanatiker, der uns alle überredet hatte, den Kraftraum im Kellergeschoß einzurichten (und auch zu benutzen). Er sagte nie viel über seine Herkunft – die übleren Gegenden von London, seinem Akzent nach. »Wann bist du wiedergekommen?« fragte ich. »Zuletzt hörte ich, du seist in Kolumbien.« »Ende der Woche.« »Wie war’s?« Er blickte finster. »Wir haben die lieben Geiseln sicher rausgelotst, da wird die Soldateska nervös und knallt sämt liche Terroristen über den Haufen, obwohl die ihre dum men Pfoten oben hatten und friedlich rausgekommen sind.« Er schüttelte den Kopf. »Behalten niemals ihre Ku geln bei sich, diese Wilden. Hirnrissig, der ganze Scheiß verein.« Terroristen zu erschießen, die sich ergeben wollen, war, wie er gesagt hatte, hirnrissig. Die Nachricht sprach sich herum, und wenn die nächste Terrorgruppe wußte, daß man sie so oder so erschießen würde, war es wahrscheinli cher, daß sie ihre Opfer umbrachte. Ich hatte die Montagssitzung, in der dieses Debakel wohl erörtert worden war, verpaßt, aber inzwischen war mein eigener Bericht von der Übergabe in Bologna zu schrei ben. Ich verwandte den ganzen Samstag und einen Teil des Sonntagmorgens darauf. Anschließend fuhr ich fünfund siebzig Meilen westwärts nach Lambourn. Popsy Teddington wohnte in einem hohen weißen Haus nicht weit vom Dorfzentrum, einem Haus, das beinah vor städtisch wirkte, überraschenderweise aber als Front für eine große Anzahl von Stallungen diente. Mir war bis zu diesem Tag nicht klar, daß sich Rennställe auch innerhalb eines Dorfes befinden konnten, doch als ich das Popsy ge genüber bemerkte, meinte sie lächelnd, ich müßte erst mal 115
Newmarket sehen. Da gebe es Pferde, wo die Bewohner anderer Städte Garagen, Gewächshäuser und Schuppen hätten. Sie stand draußen, als ich ankam, aufgetürmt vor einem Mann von einsfünfzig, der ganz froh über die Unterbre chung zu sein schien. »Sorg dafür, Sammy«, rief sie gerade mit Nachdruck. »Sag ihnen, ich laß’ es mir nicht bieten.« Ich öffnete die Wagentür. Ihr Kopf ging in meine Richtung, und die Frage »Wer ist das?« furchte flüchtig ihre Stirn. »Ach ja, Alessi as Bekannter. Sie ist hinten irgendwo. Kommen Sie mit.« Sie führte mich am Haus vorbei und hinter einen Stall komplex, und unvermittelt kam eine kleine eingezäunte Koppel in Sicht, auf der ein Mädchen zu Pferd langsam kanterte, während ein Mädchen zu Fuß ihr dabei zusah. Die kleine Koppel war umgeben von den Rückfronten anderer Ställe und anderer Häuser, und das Gras auf ihr hatte bessere Tage gesehen. »Ich hoffe, Sie können ihr helfen«, sagte Popsy rundher aus, als wir näher kamen. »So habe ich sie noch nie erlebt. Sehr beunruhigend.« »Wie meinen Sie das?« fragte ich. »So unsicher. Sie wollte gestern nicht mit dem Lot raus gehen, was sie sonst immer macht, wenn sie hier ist, und jetzt schauen Sie sich das an. Sie soll auf dem Pferd drauf sitzen, nicht zusehen, wie mein Stallmädchen reitet.« »Hat sie viel davon erzählt, was ihr passiert ist?« fragte ich. »Gar nichts. Sie lächelt einfach fröhlich und sagt, es sei alles vorbei.« Alessia drehte sich halb um, als wir herankamen, und schien sehr erleichtert, mich zu sehen. »Ich hatte Angst, Sie würden nicht kommen«, sagte sie. »Ganz unnötig.« 116
Sie trug Jeans und ein kariertes Hemd und hatte die Lip pen geschminkt, und sie war noch immer unnatürlich blaß von den sechs Wochen Dämmerlicht. Popsy rief dem rei tenden Mädchen zu, das Pferd wieder in den Stall zu brin gen. »Es sei denn, Schatz, du möchtest …«, wandte sie sich an Alessia. »Wie sieht’s aus?« Alessia schüttelte den Kopf. »Lieber morgen.« Es klang ernstgemeint, aber ich konnte sehen, daß Popsy zweifelte. Sie legte mütterlich den Arm um Alessias Schultern und drückte sie kurz. »Tu einfach, was du willst, Schatz. Wie wäre es mit was Trinkbarem für deinen durstigen Reisen den?« Zu mir sagte sie: »Kaffee? Whisky? Vergällter Spi ritus?« »Wein«, sagte Alessia. »Den mag er, das weiß ich.« Wir gingen ins Haus: dunkle antike Möbel, ausgetretene indische Teppiche, verblaßter Chintz, ein Blick auf Pferde aus jedem Fenster. Popsy goß mit leichter Hand italienischen Wein in Kri stallgläser und meinte, sie werde Steaks braten, wenn wir uns ein wenig gedulden könnten. Alessia beobachtete, wie sie in Richtung Küche verschwand, und sagte besorgt: »Ich falle ihr zur Last. Ich hätte nicht kommen sollen.« »Sie liegen in beiden Punkten verkehrt«, antwortete ich. »Offensichtlich ist sie froh, daß sie Sie hat.« »Ich dachte, hier würde es mir gutgehen … Ich würde mich anders fühlen. Mich wieder wohl fühlen, meine ich.« »Das werden Sie auch nach einiger Zeit.« Sie warf mir einen Blick zu. »Mich ärgert, daß ich es einfach nicht … abschütteln kann.« »So wie Sie eine doppelseitige Lungenentzündung ab schütteln könnten?« »Das ist etwas anderes«, protestierte sie. »Sechs Wochen ohne Sonnenlicht, ohne Bewegung, oh ne vernünftiges Essen, aber mit einer regelmäßigen star 117
ken Schlaftablettendiät sind kaum ein Rezept für körperli che Gesundheit.« »Aber … es ist nicht nur … körperlich.« »Noch weniger läßt sich das Nichtkörperliche einfach so abschütteln.« Ich trank einen Schluck Wein. »Wie sind Ih re Träume?« Sie schauderte. »Die halbe Zeit kann ich nicht schlafen. Ilaria meinte, ich solle noch eine Weile Schlaftabletten einnehmen, aber ich will nicht, der Gedanke ekelt mich … Aber wenn ich schlafe … habe ich Alpträume … und wa che schwitzend auf.« »Möchten Sie«, sagte ich zurückhaltend, »daß ich Sie mit einem Psychiater bekanntmache? Ich kenne einen wirklich guten.« »Nein.« Die Antwort war instinktiv. »Ich bin nicht ver rückt, mir geht es nur … nicht gut.« »Man muß nicht sterbenskrank sein, um einen Arzt auf zusuchen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht.« Sie saß auf einem großen Sofa, die Füße auf einem Couchtisch, und sah bekümmert aus. »Mit Ihnen möchte ich reden, nicht mit irgendeinem Seelenklempner. Sie verstehen doch, was passiert ist. Für einen fremden Arzt würde es sich übertrieben anhören. Sie wissen, daß ich die Wahrheit sage, aber er würde sich die halbe Zeit Gedanken machen, ob ich nicht phantasiere, dramatisiere oder sonst was, und versuchen, mich ins Un recht zu setzen. Eine Freundin von mir ging mal zu einem … sie fand es ulkig. Während sie sagte, sie wolle das Rau chen aufgeben, behauptete er steif und fest, sie sei un glücklich, weil sie unterdrückte Inzestwünsche in bezug auf ihren Vater habe.« Sie lachte gezwungen, aber was sie sagen wollte, leuchtete mir ein. Psychiater waren an Ver zerrungen und Ausflüchte gewöhnt und suchten danach noch in der simpelsten Bemerkung. 118
»Ich glaube trotzdem, daß Sie mit fachkundiger Hilfe besser dran wären.« »Sie sind doch Fachmann.« »Nein.« »Aber mit Ihnen würde ich … Ach herrje«, sie unter brach sich plötzlich völlig verwirrt. »Entschuldigung … Sie möchten nicht … Wie dumm von mir.« »Das habe ich nicht gesagt. Ich meinte …« Auch ich un terbrach mich. Ich stand auf, ging zu ihr und setzte mich neben sie auf das Sofa, ohne sie jedoch zu berühren. »Ich werde alle Knoten für Sie lösen, die ich lösen kann, und zwar solange Sie es wollen. Das ist ein Versprechen. Es ist außerdem ein Vergnügen, keine Last. Aber Sie müssen mir auch etwas versprechen.« Sie sagte: »Was denn?« und sah nach einem Blick zu mir rasch wieder weg. »Daß Sie, wenn ich Ihnen nichts nütze, es mit jemand anderem versuchen.« »Einem Seelendoktor?« »Ja.« Sie sah auf ihre Schuhe. »Einverstanden«, sagte sie; und wie ein Psychiater fragte ich mich, ob sie log. Popsys Steaks kamen, zart und saftig, und Alessia aß ih res zur Hälfte. »Du mußt deine Kräfte aufbauen, mein Schatz«, sagte Popsy ohne Kritik. »Du hast so hart gearbeitet, um dahin zu kommen, wo du bist. Wirst doch nicht wollen, daß all die ehrgeizigen kleinen Jockey-Jungs dich rausdrängen. Das tun die aber, wenn sie die Chance wittern.« »Ich habe Mike angerufen«, antwortete sie. »Ich sagte ihm … ich brauchte Zeit.« »Aber Schatz«, protestierte Popsy. »Dann geh gleich noch mal an den Apparat und sag ihm, du bist heut in einer Woche fit. Sag, du kannst morgen in einer Woche starten, unbedingt.« 119
Alessia schaute sie entsetzt an. »Ich bin zu schwach, um mich im Sattel zu halten … geschweige denn ein Rennen zu bestreiten.« »Mein Schatz, du hast jede Menge Schneid. Wenn du es willst, schaffst du’s auch.« Alessias Gesicht verriet deutlich, daß sie nicht wußte, ob sie es wollte. »Wer ist Mike?« fragte ich. »Mike Noland«, erwiderte Popsy. »Der Trainer, für den sie oft in England reitet. Er wohnt hier in Lambourn, die Straße hinauf.« »Er meinte, er habe Verständnis«, sagte Alessia leise. »Ja, natürlich hat er das. Wer hätte auch keins? Aber trotzdem, mein Schatz, wenn du diese Pferde wiederhaben willst, dann mußt du sie dir holen.« Sie sprach mit der energischen Vernunft der gütigen, ge sunden Menschen, die nie am Zerreißpunkt gewesen sind. Eine Art Zittern kam von dort, wo Alessia saß. Ich stand ohne Eile auf und fragte, ob ich helfen könne, die leeren Teller in die Küche zu bringen. »Sie können«, nickte Popsy, ebenfalls aufstehend, »und es ist Käse da, falls ihr welchen mögt.« Alessia behauptete zwar, Pferde würden Sonntag nach mittags genauso schlafen wie jeder andere, aber nach dem Käse und Kaffee gingen wir dennoch auf dem Stallhof spazieren und tätschelten den einen oder anderen Pferde kopf. »Ich kann unmöglich in einer Woche in Form kommen«, sagte Alessia. »Finden Sie, ich sollte?« »Ich finde, Sie sollten versuchen, sich auf ein Pferd zu setzen.« »Wenn ich nun den Mut verloren habe?« »Sie würden es merken.« »Das ist kein großer Trost.« Sie rieb abwesend die Nase 120
eines der Pferde, wobei sie immerhin keine Furcht vor sei nen Zähnen zeigte. »Reiten Sie?« fragte sie. »Nein«, sagte ich. »Und … äh … ich habe noch nie ein Rennen besucht.« Sie war erstaunt. »Noch nie?« »Ich sehe öfters eins im Fernsehen.« »Gar kein Vergleich.« Sie legte ihre Wange kurz an die des Pferdes. »Möchten Sie mal hin?« »Mit Ihnen, ja, sehr gerne.« Ihre Augen füllten sich mit plötzlichen Tränen, die sie ungeduldig wegzwinkerte. »Da haben Sie’s«, sagte sie. »Das passiert immer. Ein freundliches Wort … und ir gendwas schmilzt in mir. Ich versuche … bemühe mich wirklich, mich anständig zu benehmen, aber ich weiß, daß ich Theater spiele … und darunter ist ein Abgrund … aus dem kommen Sachen hoch, wie dieses Heulen wegen nichts, völlig grundlos, wie jetzt.« »Das Theaterspiel«, sagte ich, »ist oscarreif.« Sie schluckte und schnüffelte, wischte die unvergosse nen Tränen mit den Fingern fort. »Popsy ist so großzü gig«, sagte sie. »Ich war schon so oft bei ihr.« Eine Pause. »Sie sagt nicht direkt ›Komm zur Besinnung‹ oder ›Reiß dich zusammen‹, aber ich merke, daß sie es denkt. Und ich nehme an, wenn ich aus mir heraustreten könnte, würde ich es auch so sehen. Ich meine, sie wird sich denken, da bin ich nun, frei und unversehrt, und ich müßte doch dankbar sein und wieder zu leben anfangen. Anstatt Trüb sal zu blasen, müßte ich springen vor Freude.« Wir wanderten langsam weiter und spähten in das dunkle Innere einer Box, deren Bewohner döste. Sein Gewicht war auf eine Hüfte verlagert. Die Ohren zuckten hin und wieder. »Nach Vietnam«, sagte ich, »als die Gefangenen nach Hause kamen, gab es viele Scheidungen. Es war nicht die 121
gleiche Geschichte wie nach dem Krieg in Europa, wo die Frauen sich ihren Männern einfach dadurch entfremdet hatten, daß ihr Leben weiterging, während für die Männer die Zeit stillstand. Nach Vietnam war es anders. Diese Ge fangenen hatten furchtbar gelitten, und sie kamen heim zu Familien, die von ihnen erwarteten, daß sie sich über ihre Freilassung freuten.« Alessia stützte ihre Arme auf die Halbtür und betrachtete das reglose Pferd. »Die Ehefrauen versuchten nachsichtig zu sein, aber oft waren die Männer impotent oder brachen in der Öffentlich keit in Tränen aus, und viele von ihnen waren schnell ge kränkt … und zeigten bleibende Symptome seelischen Zu sammenbruchs. Hamburger und Coca-Cola trugen nichts zu ihrer Heilung bei, der Gang ins Büro von 9 bis 5 ebenfalls nicht.« Ich spielte mit dem Riegel an der Tür. »Die meisten von ihnen haben sich mit der Zeit erholt und führen ein normales Leben, aber auch sie würden zugeben, daß sie jah relang schlechte Träume hatten, und Einzelheiten aus ihrer Gefangenschaft werden sie nie mehr vergessen.« Nach einiger Zeit sagte sie: »Ich war keine Kriegsgefan gene.« »O doch, nichts anderes. Gefangengenommen von einem Feind ohne eigenes Verschulden. Ohne zu wissen, wann – oder ob – Sie freigelassen würden. Gedemütigt … Ihres freien Willens beraubt … um zu essen, von Ihrem Feind abhängig. Genau dasselbe, aber verschlimmert noch durch Isolation … dadurch, daß Sie die einzige waren.« Sie legte den Lockenkopf für einen Augenblick auf die verschränkten Arme. »Alles, was sie mir überhaupt gaben, wenn ich fragte, waren ein paar Papiertücher, und darum … darum … mußte ich betteln.« Sie schluckte. »Der Kör per hört nicht auf, die Tage zu zählen, bloß weil man in ei nem Zelt ist.« 122
Ich legte schweigend den Arm um ihre Schultern. Es gab Dinge, mit denen kein männlicher Gefangener sich je kon frontiert sah. Sie weinte leise, wobei sie schluckte und krampfhaft schnüffelte. Nach einer Weile sagte sie ein fach: »Ich danke dir.« Wir gingen weiter die Reihe der Boxen hinunter und wußten beide, der Weg war noch lang.
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D
ie Telefonzentrale im Büro Tag und Nacht besetzt zu halten war unbedingt nötig, da Kidnapper keine ge regelten Zeiten einhalten. Aus Gründen der Verläßlichkeit wie der Geheimhaltung versah immer ein Kompagnon, nie ein Angestellter den Dienst. Die ehemaligen Spione arg wöhnten »Maulwürfe« unter jedem Schreibtisch und prüf ten selbst die Putzfrau auf Herz und Nieren. Diese spezielle Sonntagnacht war ruhig, mit nur zwei Anrufen: einer von einem Kompagnon in Ecuador, der entdeckt hatte, daß die Lokalpolizei an dem von ihm ver mittelten Lösegeld beteiligt werden sollte, und der um die Stellungnahme der Firma bat; der andere von Langbein. Er wollte ein Duplikat der Sicherheitsvorkehrungen, die wir für Luca-Öl entworfen hatten. Ich notierte mir das und sagte: »Luca-Öl besitzt doch si cher eins?« »Die Kidnapper haben es gestohlen«, erwiderte Lang bein knapp. »Oder eine Sekretärin bestochen, damit sie es stiehlt. Jedenfalls ist es weg, und der Direktor wurde am schwächsten Punkt seines täglichen Zeitplans entführt, was meiner Meinung nach kein Zufall ist.« »Ich schicke dir sofort eins durch Kurier.« »Und sieh mal, wer Zeit hat, mir hier Gesellschaft zu lei sten. Die Sache wird dauern. Es war sehr sorgfältig ge plant. Schick mir Derek, wenn du kannst. Ach … und schätz dich glücklich, daß ich nicht drüben bin und dir das Fell gerbe wegen Bologna.« »Tu’ ich«, sagte ich lächelnd. »Ich komme wieder«, meinte er düster. »Gute Nacht.« 124
Um neun Uhr früh nahm ich noch einen Anruf entgegen, diesmal von dem Leiter eines Konsortiums bei Lloyds, das Unternehmen und Personen gegen Entführung versicherte. Viele unserer Aufträge kamen direkt von ihm, denn er machte es seinen Kunden zur Bedingung, daß sie unsere Hilfe anforderten, ehe sie der Zahlung eines Lösegeldes zustimmten. Dabei rechnete er sich aus, daß wir den Preis drücken könnten, was zugleich seine Haftpflicht herab setzte; und wir empfahlen ihn dafür an Firmen, die uns um vorbeugenden Rat angingen. »Zwei junge Engländerinnen wurden auf Sardinien ge kidnappt«, sagte er. »Der Ehemann der einen hatte sie für den zweiwöchigen Urlaub gegen Entführung versichert, da er nicht mitfuhr, und er hat uns benachrichtigt. Es scheint eine ziemlich ungeplante Sache gewesen zu sein – die Mädchen waren bloß zufällig an der falschen Stelle und wurden aus dem Hinterhalt überfallen. Jedenfalls, der Ehemann ist außer sich und möchte sofort bezahlen, was verlangt wird. Können Sie also bitte umgehend jemand hinschicken?« »Ja«, sagte ich. »Äh … wie hoch war die Versicherung?« »Ich nahm tausend Pfund gegen Zweihunderttausend. Für zwei Wochen.« Er seufzte. »Mal gewinnt man, mal verliert man.« Ich schrieb Namen und Einzelheiten auf und suchte Flü ge nach Sardinien heraus. In vielen Gegenden der Insel nahmen Banditen mehr oder weniger nach Belieben Per sonen gefangen, erpreßten Lösegelder und ließen sie wie der frei. »Größtes Stillschweigen«, hatte der Mann von Lloyds gesagt. »Daß es nicht in die Zeitungen kommt. Der Ehe mann hat triftige Gründe. Wenn alles gutgeht, kann sie in einer Woche wieder daheim sein, ohne daß jemand was gemerkt hätte, nicht wahr?« 125
»Mit ein bißchen Glück«, stimmte ich zu. Banditen hatten nirgends Gelegenheit, Gefangene über längere Zeit festzuhalten, und es waren Fälle bekannt, wo sie mit ihren Opfern tagelang durchs Gebirge marschierten, um sie einfach stehenzulassen, sobald man sie bezahlt hat te. Alessia, dachte ich, wäre das lieber gewesen als ihr Zelt. Die ersten Teilhaber trafen ein wegen der Montagskonfe renz. Es war leicht, für die Reise nach Sardinien einen zu finden, dem die Füße juckten, und ebenso leicht, Derek für die Zusammenarbeit mit Langbein bei Luca-Öl zu gewin nen. Der Koordinator trug beide auf dem neuen Wochen plan ein, und ich gab die Anfrage des Kompagnons in Ecuador an den Präsidenten weiter. Nach etwa einer Stunde, die mit Kaffeetrinken, schwat zen und Berichtelesen verbracht wurde, begann die Sit zung. Zum großen Teil war es, wie üblich, eine Erörterung der laufenden Tätigkeit. »Diese Geschichte in Ecuador«, sagte der Präsident. »Das Opfer ist amerikanischer Staatsbürger, nicht?« Einige Köpfe nickten. Der Präsident schürzte die Lippen. »Ich denke, wir wer den dieser Gesellschaft empfehlen müssen, daß sie mit Einheimischen arbeitet und niemand mehr aus den Staaten kommen läßt. In den letzten zehn Jahren sind ihnen drei Leute weggeschnappt worden, alles Amerikaner … man sollte meinen, sie würden klüger.« »Die Gesellschaft ist in amerikanischem Besitz«, mur melte jemand. »Sie hat auch schon versucht, die Polizei selbst zu be zahlen«, sagte ein anderer. »Ich war letztes Mal da unten. Die Polizei nahm das Geld und sagte, wir schützen alle eu re Manager mit unserem Leben, aber ich schätze, von dem Lösegeld hat sie damals dann auch einen Anteil kassiert. Man darf nicht vergessen, die Gesellschaft legte einen Be 126
trag von so etwa zehn Millionen Dollar hin … das läßt sich gut verteilen.« »In Ordnung«, sagte der Präsident. »Künftiger Rat, keine Amerikaner. Aktueller Rat?« Er blickte sich um. »Mei nungen dazu?« »Die Entführer wissen, daß die Gesellschaft am Ende zahlt. Sie kann es sich nicht leisten, es nicht zu tun.« Alle Gesellschaften mußten ihre gefangenen Angestell ten freikaufen, wenn sie wollten, daß künftig noch irgend jemand in Übersee für sie arbeitete. Alle Gesellschaften hatten außerdem zornige Aktionäre, deren Dividenden in dem Maße abnahmen, wie die Lösegelder stiegen. Denn Gesellschaften hielten Entführungen gern aus den Nach richten heraus und schrieben die Lösegelder im Jahresbe richt als »Geschäftsverlust« ab. »Wir haben die Forderung wieder auf zehn Millionen gedrückt«, sagte Tony Vine. »Weniger werden die Kid napper nicht annehmen, das wäre ein Prestigeverlust ge genüber dem letzten Mal, auch wenn es – besonders wenn es – eine andere Bande ist.« Der Präsident nickte. »Wir raten der Gesellschaft zu zah len?« Alle stimmten zu, und die Sitzung ging weiter. Der Präsident war früher Soldat gewesen, und wie Tony kam er gut mit anderen Männern aus, die ein disziplinier tes und strukturiertes Leben führten. Er hatte die Firma gegründet, weil er den Bedarf danach erkannte; in seinem Fall die Tat eines praktischen Mannes, keines Visionärs. Ein mittlerweile verstorbener Freund hatte ihm statt einer Hierarchie das Teilhabersystem empfohlen, wodurch alle früheren Ränge zugunsten eines einzigen neuen, nämlich Gleicher, hinweggefegt wurden. Der Präsident war ungemein gutaussehend, ein entschie den marktfähiger Vorzug, und hatte ein dazu passendes 127
Flair von ruhigem Selbstvertrauen. Er konnte diese Ruhe auch angesichts der völligen Katastrophe wahren, so daß man immer den Eindruck hatte, er würde jeden Moment durch eine brillante Lösung doch noch den Sieg ergattern, auch wenn er es nicht tat. Als ich dort neu war, hatte ich einige Zeit gebraucht, um zu erkennen, daß vielmehr Ger ry Clayton diese Art von Verstand besaß. Der Präsident kam schließlich zu meinem Bericht, von dem die meisten bereits Fotokopien gelesen hatten, und erkundigte sich, ob jemand unter den Kompagnons dazu Fragen stellen wolle. Wir zogen immer Nutzen aus dem, was andere bei einem Fall gelernt hatten, und ich fand die Fragestunde normalerweise sehr ergiebig – allerdings bes ser, wenn ich nicht selbst Rede und Antwort stehen mußte. »Dieser Carabinieri-Offizier … äh … Pucinelli, welche persönliche Beziehung konnten Sie zu ihm herstellen? Welche Einschätzung haben Sie von seinen Fähigkeiten?« Es war ein notorisch wichtigtuerischer Kompagnon, der mich das fragte; Tony hätte gesagt: »Wie bist du klarge kommen mit dem Kerl? Wie ist er?« »Pucinelli ist ein guter Polizist«, sagte ich. »Intelligent, jede Menge Courage. Er war hilfsbereit. Hilfsbereiter als die meisten, fand ich, aber immer im Rahmen der Dienst vorschriften. Er hat noch kein …« Ich unterbrach mich. »Er hat nicht den Drive, höher hinaufzukommen, glaube ich. Er ist der zweite Mann in seinem Bezirk, und ich den ke, daß er es nicht weiterbringt. Aber was die Ergreifung der Kidnapper angeht, wird er seine Chancen kompetent und gründlich nutzen.« »Wie war der Stand bei Ihrer Abreise?« fragte jemand. »Ich kam nicht dazu, Ihre letzten zwei Seiten zu lesen.« »Pucinelli zeigte den beiden Kidnappern von der Belage rung die Bilder des Mannes, den ich gesehen hatte. Sie waren wie vor den Kopf geschlagen, sagte er mir. Er zeig 128
te sie ihnen natürlich getrennt, aber der Schock, meinte er, war beiden deutlich anzumerken. Sie sagten keinen Ton und schienen beide Angst zu haben. Pucinelli wollte Kopi en von den Zeichnungen in Umlauf bringen, um so viel leicht den Mann zu identifizieren. Er war sehr zuversicht lich, als ich abreiste.« »Je eher, desto besser«, sagte Tony. »Diese Million Pfund wird innerhalb einer Woche gewaschen sein.« »Das war ein ziemlich cooler Verein«, sagte ich, ohne zu widersprechen. »Sie könnten es eine Zeitlang noch festhal ten.« »Sie könnten es auch schon über eine Grenze geschleust und in Franken oder Schillinge umgetauscht haben, bevor sie das Mädchen freiließen.« Ich nickte. »Vielleicht, wenn sie so etwas für das erste Lösegeld vorgesehen hatten und vorbereitet waren.« Gerry Claytons Finger waren wie üblich mit irgendei nem gerade greifbaren Blatt Papier beschäftigt, diesmal mit der letzten Seite meines Berichts. »Du sagst, Alessia ist mit dir nach England gekommen. Besteht Aussicht, daß sie sich noch an mehr erinnert?« fragte er. »Ausschließen kann man es nicht, aber Pucinelli wie auch ich sind alles in Italien ziemlich gründlich mit ihr durchgegangen. Sie weiß sehr wenig. Es gab keine Kir chenglocken, keine Züge, keine nahen Flugzeuge, keine Hunde … sie wußte nicht, ob sie in der Stadt oder auf dem Land war. Sie meint, ein schwacher Geruch, der ihr wäh rend der letzten Tage auffiel, sei vielleicht von gebacke nem Brot gekommen. Davon abgesehen … nichts.« Stille. »Haben Sie die Zeichnungen dem Mädchen gezeigt?« fragte jemand. »Hat sie den Mann schon mal gesehen? Vor der Entführung?« Ich wandte mich zu ihm. »Ich nahm eine Fotokopie mit 129
zur Villa, aber soweit sie sich erinnerte, hatte sie ihn nie ge sehen. Keine Reaktion. Ich fragte sie, ob er einer von den vieren gewesen sein könnte, die sie überfallen hatten, aber dazu konnte sie nichts sagen. Keiner aus ihrer Familie oder aus dem Haushalt kannte ihn. Ich habe sie alle gefragt.« »Seine Stimme … als er Sie vor dem Autobahnrestaurant ansprach … war es die auf den Bändern?« »Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Dafür kann ich zu we nig Italienisch. Sie war nicht völlig verschieden, das ist al les, was ich sagen kann.« »Haben Sie Kopien von den Zeichnungen und Tonbän dern mitgebracht?« fragte der Präsident. »Ja. Wenn jemand möchte …?« Einige Köpfe nickten. »Gibt es etwas, das Sie nicht in den Bericht geschrieben haben?« fragte der Präsident. »Unwesentliche Details?« »Nun … ich habe die Listen der Musikstücke weggelas sen. Alessia schrieb auf, was sie wußte, und Pucinelli sag te, er werde herauszufinden suchen, ob es fertig bespielte Bänder waren, die man im Handel bekommt. Selbst dann nur eine sehr dünne Chance.« »Haben Sie die Listen?« »Nein, leider nicht. Ich könnte Alessia bitten, sie noch mal aufzuschreiben, wenn Sie möchten.« Einer der Expolizisten meinte, man könne nie wissen. Die anderen Expolizisten nickten. »Okay«, sagte ich. »Ich bitte sie drum.« »Wie geht es ihr?« fragte Gerry. »Sie wird so gerade damit fertig.« Es gab viel verständnisvolles Nicken. Wir kannten alle die Zerstörungsspur, die der Orkan in der Seele zurückließ. Jeder von uns, mancher öfter als andere, hatte den Erfah rungen der Heimkehrer zugehört – die Einsätze bespro chen, wie die Firma in ihrer militärischen Art es nannte. 130
Der Präsident sah sich nach weiteren Fragen um, aber es lagen keine vor. »War es das? Nun, Andrew, wir können Sie nicht gerade an die Luft setzen, wenn Sie uns das Bild eines aktiven Entführers präsentieren, aber ein Auto zum Übergabeort zu fahren, ist nicht drin. Ob’s diesmal gut ausgeht oder nicht, tun Sie es nicht wieder. In Ordnung?« »In Ordnung«, sagte ich unbeteiligt; und damit war zu meiner Überraschung die ganze Standpauke auch schon vorbei. Zwei Tage später rief der Kompagnon in der Vermittlung mich den Flur hinunter, als ich gerade mit einer Tasse Kaf fee auf der Suche nach etwas Neuem umherstreifte. »Andrew? Gespräch für dich aus Bologna. Ich leg’s auf dein Zimmer.« Ich stellte den Kaffee ab, ergriff den Hörer, und eine Stimme sagte: »Andrew? Hier ist Enrico Pucinelli.« Wir begrüßten uns, aber dann redete er so aufgeregt los, daß die Worte alle in meinem Ohr zusammenliefen. »Enrico«, rief ich. »Stop! Sprechen Sie langsam. Ich kann Sie nicht verstehn.« Er seufzte hörbar und begann klar und deutlich zu spre chen, wie mit einem Kind. »Der jüngere von den Kidnap pern hat geredet. Er befürchtet, daß er lebenslänglich ins Gefängnis muß, darum versucht er jetzt zu feilschen. Er hat uns gesagt, wohin Signorina Cenci nach der Entfüh rung gebracht wurde.« »Großartig«, sagte ich erfreut. »Gut gemacht.« Pucinelli hüstelte bescheiden, aber ich nahm an, es war ein Erfolg der Vernehmung gewesen. »Wir waren in dem Haus. Es liegt in einem Vorort von Bologna, Mittelschicht, sehr ruhig. Wir haben festgestellt, daß es von einem Vater mit drei erwachsenen Söhnen an gemietet wurde.« Er schnalzte empört mit der Zunge. »Al 131
le Nachbarn haben Männer ein und aus gehen sehen, aber bis jetzt will keiner sie wiedererkennen.« Ich lächelte bei mir. Einen Tip hinsichtlich Kidnappern zu geben war vermutlich überall ungesund. »Das Haus ist vom Besitzer möbliert, aber wir haben sorgfältig nachgesehen, und in einem Zimmer des oberen Stocks sind alle Druckspuren der Möbel auf dem Teppich an etwas anderen Stellen.« Er hielt inne und fragte ängst lich: »Verstehen Sie, Andrew?« »Ja«, sagte ich. »Die Möbel wurden verschoben.« »Richtig.« Er war erleichtert. »Das Bett, eine schwere Truhe, ein Kleiderschrank, ein Bücherschrank. Alles weg gerückt. Der Raum ist groß, mehr als groß genug für das Zelt, und vom Fenster aus sieht man nichts außer einem Garten und Bäumen. Von draußen könnte niemand in das Zimmer sehen.« »Und haben Sie sonst etwas Brauchbares gefunden … irgendwelche Hinweise im übrigen Haus?« »Wir suchen noch. Wir waren gestern zum erstenmal dort. Ich dachte, Sie würden gerne davon erfahren.« »Sie hatten recht. Eine glänzende Neuigkeit.« »Signorina Cenci«, sagte er, »ist ihr noch etwas eingefal len?« »Bisher nicht.« »Grüßen Sie sie von mir.« »Ja«, sagte ich. »Das tue ich auf alle Fälle.« »Ich werde Sie wieder anrufen«, versprach er. »Wieder auf Empfängerkosten, wie Sie gesagt haben, ja? Da es pri vat ist, zwischen Ihnen und mir, und ich von zu Hause an rufe?« »Jederzeit«, sagte ich. Er verabschiedete sich mit gebührender Befriedigung, und ich fügte eine Notiz über das, was er gesagt hatte, zu meinem Bericht. 132
Am Donnerstag morgen war ich wieder in Lambourn, hauptsächlich wegen der Musiklisten, und gerade, als ich ankam, brach ein Lot von Popsys Pferden zum Training auf. Über Jeans und Hemd trug Popsy ungeachtet dessen, daß es ein warmer Tag im Juli war, wieder eine gefütterte, diesmal leuchtendrosa Weste. Das flaumige grauweiße Haar umgab ihren großen Kopf wie eine private Kumu luswolke. Sie stand auf dem Stallhof, umringt von ungebärdig trampelnden Vierbeinern, und winkte mich mit einer schwungvollen Armbewegung herbei. Ich bemühte mich offenbar erfolglos, nicht nervös zu erscheinen, während ich ein paar allzu beweglichen Halbtonnern auswich, und gelangte heil an ihre Seite. Die grünen Augen blickten mich schräg und lächelnd an. »Nicht daran gewöhnt, was?« »Äh …«, sagte ich. »Nein.« »Möchten Sie sie auf dem Trainingsgelände sehen?« »Ja, gern.« Ich schaute ringsum auf die Reiter, hoffte Alessia unter ihnen zu finden, aber vergebens. Der scheinbar unordentliche Haufen bewegte sich plötz lich in geschlossener Reihe zur Straße hin, und Popsy be deutete mir mit dem Kopf, ihr in die Küche zu folgen; und dort am Tisch, eine Tasse Kaffee in der Hand, saß Alessia. Sie wirkte noch immer blaß, aber jetzt vielleicht nur im Kontrast zu der Gesundheit Popsys, die ständig im Freien war, und sie wirkte immer noch kraftlos dünn. Ihr Lächeln, als sie mich sah, begann in den Augen und dehnte sich bis zu den rosa bemalten Lippen; die unkomplizierte Begrü ßung eines Freundes. »Andrew kommt mit auf die Downs, um sich das Trai ning anzuschauen«, sagte Popsy. »Großartig.« »Du reitest nicht?« fragte ich Alessia. 133
»Nein … ich … Popsy hat sowieso nur Hindernispferde.« Popsy zog ein Gesicht, als wollte sie sagen, das sei noch lange kein Grund, sie nicht zu reiten, gab sonst aber kei nen Kommentar ab. Sie und ich sprachen noch eine Weile über Allgemeines, und Alessia steuerte nicht viel bei. Alle drei verteilten wir uns dann auf den Vordersitz eines staubigen Landrovers, den Popsy mit mehr Elan als Vor sicht aus Lambourn heraus, eine Nebenstraße entlang und schließlich über einen holprigen Feldweg auf weites offe nes Grasland lenkte. Am Horizont verschwamm das ausgedehnte Terrain zu blauem Nebel, und als wir aus dem Rover stiegen, hatten wir dichtes, auf drei Fingerbreit abgemähtes Gras unter den Füßen. Bis auf ein, zwei Vogelrufe in der Ferne hüllte uns eine sanfte Stille ein, die schon an sich außergewöhn lich war. Kein Dröhnen von Flugzeugen, kein Stimmen lärm, kein Brummen entfernten Verkehrs. Nur freier Himmel und warmer Sonnenschein und das leise Rascheln der eigenen Kleidung. »Es gefällt Ihnen, ja?« bemerkte Popsy, mein Gesicht beobachtend. Ich nickte. »Sie sollten mal im Januar hier sein, wenn der Wind drüberheult. Aber wohlgemerkt, es ist sogar noch schön, wenn man friert.« Sie schirmte ihre Augen ab und spähte über ein nahes Tal hin. »Die Pferde werden in einem freien, ruhigen Galopp von da heraufkommen«, sagte sie. »Sie kommen hier an uns vorbei. Wir folgen ihnen dann im Landrover zu den Trai ningssprüngen.« Ich nickte wieder, wenn auch mit dem Gefühl, daß ich einen freien Galopp wahrscheinlich nicht von einem lang samen Walzer unterscheiden konnte, aber als der Strang 134
der Pferde aus dem Tal auftauchte wie schwarze Pünktchen, sah ich doch bald, welche Geschwindigkeit sie meinte. Sie blickte konzentriert durch ein großes Fernglas, während die Pünktchen zu Schemen wurden, die Schemen zu dahinflie genden Pferden, und senkte das Glas erst, als die Zehner gruppe vorbeizog, immer noch ein Tier hinter dem anderen, so daß sie jedes klar erkennen konnte. Sie spitzte die Lip pen, schien sonst aber nicht allzu unzufrieden, und schon jagten wir hinterdrein, bremsten scharf auf einer Hügelkup pe und sahen, als wir ausstiegen, die Pferde mit schlenkernden Köpfen und schnaufendem Atem im Kreis gehen. »Sehen Sie die Sprünge da drüben?« fragte Popsy. Sie wies auf einige vereinzelte Hindernisse aus Balken und Reisig, die wie Flüchtlinge von einer Rennbahn wirkten. »Das sind die Trainingssprünge. Damit die Pferde sprin gen lernen.« Sie schaute mir ins Gesicht, und ich nickte. »Die Serie auf dieser Seite, das sind Hürden. Die auf der anderen sind … äh … Hindernisse. Für Hindernispferde.« Ich nickte wieder. »Vom Start der Trainingsbahn bis hier stehen sechs Hürden – und sechs Hindernisse – man kann also, wenn man will, ein Pferd gut rannehmen, aber heute schicke ich mein Lot nur über die vorderen vier, da sie nicht voll in Form sind.« Sie ließ uns unvermittelt stehen und ging zu ihrer aufge regten vierbeinigen Familie hinüber. Alessia sagte voller Zuneigung: »Sie ist ein guter Trainer. Sie sieht einem Pferd an, ob es sich unwohl fühlt, auch wenn ihm nicht of fensichtlich etwas fehlt. Wenn sie den Hof betritt, wissen alle Pferde sofort, daß sie da ist. Du siehst sämtliche Köp fe herauskommen, wie ein Chor.« Popsy schickte drei Pferde nach dem unteren Ende des Trainingsgeländes. »Diese drei gehen jetzt über die Hür den«, sagte Alessia. »Dann steigen die Reiter auf drei an dere Pferde um und starten noch einmal.« 135
Ich war überrascht. »Springen denn nicht alle Reiter?« fragte ich. »Die meisten reiten nicht gut genug, um auszubilden. Von den dreien, die das Training durchführen, sind zwei Berufsreiter, und der dritte ist Popsys bester Pfleger.« Popsy stand neben uns, das Fernglas in der Hand, als die drei Pferde über die Hürden kamen. Bis auf ein Rattattat an den Hürden selbst verlief alles sehr still, hauptsächlich, wie mir klar wurde, weil es keinen Kommentar gab wie beim Fernsehen, zum Teil aber auch wegen des Doppleref fekts. Die Pferde schienen mehr Lärm zu machen, wenn sie erst vorbei waren und sich entfernten. Popsy murmelte unverständlich vor sich hin, und Alessia meinte: »Borodino ist gut gesprungen«, ein Lob, das der Betonung nach nicht für die anderen galt. Wir warteten alle, während die Ausbilder die Pferde wechselten und wieder durch die Senke zum Anfangs punkt aufbrachen – und ich merkte, wie Alessia sich plötz lich neben mir regte. Sie holte Luft, als gebe es nicht Luft genug, dann begann sie unruhig und ziellos in einem klei nen Kreis zu gehen. Popsy warf ihr einen Blick zu, äußerte sich aber nicht, und nach einer Weile ließ Alessia das Kreisen sein und sagte: »Morgen …« »Heute, hier und jetzt«, unterbrach Popsy entschieden und rief einem gewissen Bob, er möchte sofort zu ihr kommen. Bob erwies sich als ein Pfleger in mittleren Jahren auf einem braunen Tier, das sich aus der Gruppe schälte und in einem Paßgang herüberkam, der mir wie ein lässiges Schlendern aussah. »Hüpf runter, ja?« sagte Popsy, und als Bob gehorchte, wandte sie sich an Alessia: »Okay, geh mal bloß ein biß chen herum. Du hast keine Sturzkappe, also will ich nicht, daß du die Schallmauer durchbrichst, und außerdem ist 136
unser alter Paperbag hier auch nicht so fit wie die ande ren.« Sie verschränkte die Hände unter Alessias Knie und warf sie lässig auf den Sattel, wo die Rennreiterin mit dem Plumps einer Feder landete. Ihre Füße glitten in die Steig bügel, ihre Hände nahmen die Zügel auf, und einen Au genblick sah sie auf mich herunter wie betäubt von der schnellen Entwicklung des Geschehens. Dann schwenkte sie, als könnte sie nicht anders, ihr Reittier herum und trot tete den drei anderen Pferden hinterher zum Trainingsge lände. »Endlich«, sagte Popsy. »Ich dachte schon allmählich, sie würde es nie bringen.« »Sie ist ein tapferes Mädchen.« »O ja.« Sie nickte. »Ein Prachtkerl.« »Sie hat eine furchtbare Zeit gehabt.« Popsy richtete fünf Sekunden die grünen Augen auf mich. »Das kann ich mir zusammenreimen«, sagte sie, »da sie sich weigert, darüber zu reden. Nur immer raus damit, hab’ ich ihr gesagt, aber sie hat bloß den Kopf geschüttelt und ein paar Tränen unterdrückt, also bedränge ich sie nicht mehr, es wäre offensichtlich falsch.« Sie hob das Fernglas, um zu beobachten, wie ihre drei Pferde über die Hürden kamen, und schwenkte es dann hügelab, auf Alessia. »Hände wie Seide«, sagte Popsy. »Gott weiß, wo sie die herhat, sonst kann keiner in der Familie einen Spat von ei nem Überbein unterscheiden.« »Es wird ihr jetzt besser gehn«, sagte ich lächelnd. »Aber erwarten Sie nicht …« »Die spontane völlige Wiederherstellung?« fragte sie, als ich zögerte. Ich nickte. »Es ist wie eine Genesung. Schrittweise.« Popsy ließ das Fernglas sinken und warf mir einen kur zen Blick zu. »Sie hat mir von Ihrem Beruf erzählt. Was 137
Sie für ihren Vater getan haben. Sie sagt, sie fühlt sich si cher bei Ihnen.« Sie machte eine Pause. »Von einem Beruf wie Ihrem habe ich noch nie gehört. Ich wußte nicht, daß Leute wie Sie existieren.« »Doch, es gibt einige von uns … überall auf der Welt.« »Als was bezeichnen Sie sich, wenn die Leute fragen?« »Normal als Sicherheitsberater. Oder Versicherungsbera ter. Kommt drauf an, wie ich mich fühle.« Sie lächelte. »Klingt beides lahm und ehrenwert.« »Ja … hm … das soll es auch.« Wir beobachteten, wie Alessia über den Hügel kam, im Kanter jetzt, aber langsam und in den Steigbügeln stehend. Ich hatte noch nie bewußt wahrgenommen, daß Jockeys so reiten, daß sie nicht im Sattel sitzen, sondern ganz nach vorn geneigt sind, damit ihr Gewicht auf der Schulter des Pferdes ruht, nicht auf der unteren Wirbelsäule. Alessia hielt neben Bob an, der die Zügel ergriff, und sie saß ab, indem sie das rechte Bein nach vorn über den Hals des Pferdes hob und leicht mit geschlossenen Füßen auf den Boden sprang – eine Bewegung, so anmutig und schwungvoll wie getanzt. Eine andere Dimension, dachte ich. Das Können eines Profis. Dem Nichtkönner ein Wunder, wie wenn man ei nen Künstler zeichnen sieht. Sie tätschelte den Hals des Pferdes, dankte Bob und kam zu uns herüber, schmächtig in Hemd und Jeans, lächelnd. »Danke«, sagte sie zu Popsy. »Morgen?« fragte Popsy. »Mit dem Lot?« Alessia nickte und rieb sich die Rückseiten ihrer Ober schenkel. »Ich bin so schlaff wie Zuckerwatte.« Mit ruhiger Gelassenheit sah sie dem letzten Trio der Pferde beim Üben zu, und danach fuhr Popsy uns holter dipolter wieder zum Haus zurück, während die Pferde im Schritt gingen, um sich abzukühlen. 138
Beim Kaffee in der Küche schrieb Alessia noch einmal die Titel der Musik auf, die sie so oft gehört hatte, eine Aufgabe, der sie nur aus Gefälligkeit nachkam und die ihr mißfiel. »Die Melodien, von denen ich nicht die Titel weiß, könnte ich alle vorsummen«, sagte sie. »Aber ehrlich ge sagt, ich will sie nie wieder hören.« Sie schob die Liste herüber: Verdi, wie gehabt, und sanfte moderne Songs wie »Yesterday« und »Bring in the Clowns«, mehr britischer und amerikanischer Herkunft als italienischer. »Mir ist auch noch etwas eingefallen«, sagte sie zögernd. »Ich habe es geträumt, vorgestern nacht. Du weißt ja, wie verworren alles in Träumen ist … Ich träumte, ich wäre zu einem Rennen angetreten. Ich hatte einen Dreß mit rosa und grünen Karos an, und ich wußte, daß ich starten sollte, aber ich fand den Führring nicht. Ich fragte Leute, aber die wußten nichts, sie rannten alle ihren Zügen nach oder so was. Auf einmal sagte jemand: ›Mindestens eine Stunde bis Viralto‹, und ich wachte auf. Ich schwitzte und hatte Herzklopfen, aber es war kein Alptraum gewesen, jeden falls kein schlimmer. Da dachte ich, ich hätte tatsächlich jemand sagen hören: ›Mindestens eine Stunde bis Viralto‹, und ich bekam Angst, es sei jemand im Zimmer … Es war furchtbar, wirklich.« Sie legte sich die Hand auf die Stirn, als stünde die Feuchtigkeit noch da. »Aber als ich richtig wach wurde, war ich natürlich in Popsys Gästezimmer in bester Sicherheit. Das Herz klopfte mir trotzdem.« Sie hielt inne, dann sagte sie: »Ich muß wohl gehört haben, wie einer von denen das gesagt hat, als ich beinahe schlief.« »Dieser Traum«, fragte ich langsam, nachdenkend, »war er auf englisch … oder italienisch?« »Oh.« Ihre Augen weiteten sich. »Ich ritt in England. Rosa und grüne Karos … eines von Mike Nolands Pfer 139
den. Ich fragte auf englisch nach dem Weg zum Führring … es waren lauter Engländer, aber die Stimme, die sagte ›Mindestens eine Stunde bis Viralto‹, die sagte es auf ita lienisch.« Sie zog die Stirn in Falten. »Das ist ja merkwür dig. Ich habe es in Gedanken ins Englische übersetzt, als ich wach wurde.« »Fährst du oft nach Viralto?« fragte ich. »Ach was. Ich weiß nicht mal, wo das liegt.« »Ich werde es Pucinelli mitteilen«, sagte ich, und sie nickte zustimmend. »Er hat das Haus gefunden, in dem du die meiste Zeit festgehalten wurdest«, sagte ich wie beiläufig. »Tatsächlich?« Es beunruhigte sie. »Ich … ich will nicht …« »Du willst nichts davon hören?« »Nein.« »In Ordnung.« Sie seufzte erleichtert. »Du konfrontierst mich nie mit etwas. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe … ich habe immer noch das Gefühl, ich könnte von einem Abhang stürzen … vielleicht zusammenbrechen … wenn mir zu viel zugemutet wird. Und das lächerliche dabei ist – ich hab’ überhaupt nicht geweint, kein einziges Mal, als ich da … in dem Zelt war.« »Das ist vollkommen normal, und du machst gute Fort schritte«, sagte ich. »Und auf einem Pferd siehst du fabel haft aus.« Sie lachte. »Gott weiß, warum ich so lange dafür ge braucht hab’. Aber oben auf den Hügeln … an so einem herrlichen Morgen … da fand ich einfach …« Sie zögerte. »Ich liebe Pferde, weißt du. Die meisten jedenfalls. Sie sind wie Freunde … aber sie leben in sich gekehrt, ge heimnisvoll, mit bemerkenswerten Instinkten. Sie sind te lepathisch … sicher langweile ich dich.« 140
»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß und dachte im stillen, daß nicht ich, sondern Pferde sie schließlich wieder auf fe sten Boden führen würden. Sie kam mit mir hinaus zum Wagen, als ich fuhr, und küßte mich zum Abschied, Wange an Wange, als würden wir uns seit Jahren kennen.
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iralto?« sagte Pucinelli zweifelnd. »Das ist ein abge legenes Dorf an einer der Straßen ins Gebirge. Sehr klein. Keine Fahrstraßen im Dorf, nur Gassen zwischen den Häusern. Hat sie bestimmt Viralto gesagt?« »Ja«, sagte ich. »Ist es eins von diesen Bergdörfern mit lauter aneinandergeklebten Häusern, mit roten Ziegeldä chern und blendendweißen Wänden ohne Fenster? Ganz am Hang, abgekapselt und verschwiegen?« »Ungefähr so, ja.« »Wäre es eine Stunde Autofahrt von Bologna? Von dem Haus, in dem Alessia festgehalten wurde?« »Wahrscheinlich … Wenn man den Weg kennt. Es liegt nicht an einer Hauptverkehrsstraße.« »Und … äh … ob es wohl eine Bäckerei hat?« Nach einer ganz kurzen Pause sagte er glatt: »Meine Leute werden sofort da oben sein und gründlich nachfor schen. Aber Andrew, normal wäre es nicht, daß man dort hin einen Entführten bringt. In diesen Dörfern kennt jeder jeden. Da ist kein Platz, um einen Fremden zu verstek ken.« »Versuchen Sie’s mal mit Viralto bei dem Kidnapper, der Ihnen von dem ersten Haus erzählt hat«, sagte ich. »Darauf können Sie sich verlassen«, meinte er vergnügt. »Er hat jetzt gestanden, daß er einer von den vier Maskier ten war, die Alessia überfallen haben. Er hielt auch manch mal nachts in dem Haus bei ihr Wache, aber er sagt, ge sprochen habe er nie mit ihr, sie habe immer geschlafen.« Er machte eine Pause. »Ich frage ihn jeden Tag mehrmals nach dem Namen des Mannes auf den Zeichnungen. Er 142
sagt, der Name des Mannes sei Giuseppe. Er sagt, so habe er ihn genannt und einen anderen Namen kenne er nicht. Das mag wahr sein. Oder auch nicht. Ich frage weiter. Vielleicht sagt er mir eines Tages etwas anderes.« »Enrico«, sagte ich zaghaft. »Sie sind ein erfahrener Un tersuchungsbeamter. Ich zögere, einen Vorschlag zu ma chen …« Ein leises Lachen reiste über Draht von Bologna. »Sie zögern nicht sehr oft.« »Also … vielleicht sollten wir, bevor Sie nach Viralto fahren, Paolo Cenci dazu bewegen, daß er eine Belohnung für die Wiederbeschaffung von Teilen des Lösegeldes aus setzt? Sie könnten dann neben den Zeichnungen von ›Giu seppe‹ noch diese Zusage mitnehmen … ja?« »Ich nehme auch Fotos von unseren Kidnappern und von Alessia mit«, sagte er. »Signor Cenci wird mit der Beloh nung sicher einverstanden sein. Aber …«, er hielt inne, »Viralto … war nur ein Wort in einem Traum.« »Ein Wort, das Schweiß und beschleunigten Herzschlag hervorrief«, sagte ich. »Es jagte ihr Angst ein.« »Tatsächlich? Hmm. Dann seien Sie unbesorgt, wir wer den durch dieses Dorf fegen wie der Schirokko.« »Fragen Sie die Kinder«, sagte ich. Er lachte. »Andrew Machiavelli Douglas … alle Mütter dieser Kinder würden uns daran hindern.« »Wie schade.« Als wir das Gespräch beendet hatten, rief ich Paolo Cen ci an, der in die Belohnung »selbstverständlich« einwillig te, und danach nochmals Pucinelli, um es zu bestätigen. »Ich werde ein Flugblatt aufsetzen«, sagte er. »Mit dem Belohnungsangebot und sämtlichen Bildern. Ich rufe Sie an, wenn etwas dabei herauskommt.« »Rufen Sie auf jeden Fall an.« »Ja, in Ordnung.« 143
Er rief mich am nächsten Tag, Freitag, gegen Abend an, als ich zufällig selbst in der Vermittlung Dienst hatte. »Ich bin den ganzen Tag in dem verdammten Dorf ge wesen«, sagte er erschöpft. »Diese Leute … sie verschlie ßen ihre Türen, ihre Gesichter und ihren Geist.« »Nichts?« fragte ich enttäuscht. »Irgendwas ist da«, sagte er, »nur weiß ich nicht, was. Der Name Viralto hat den Kidnapper, der redet, er schrocken, aber er schwört, daß er ihm nichts sagt. Er schwört es bei der Seele seiner toten Mutter, aber er schwitzt, während er schwört. Er lügt.« Eine Pause. »Doch in Viralto … haben wir nichts gefunden. Wir waren in der Bäckerei. Wir knöpften uns den Bäcker vor, der auch das winzige Lebensmittelgeschäft betreibt. Nirgends in der Nähe seines Backhauses hätte Alessia versteckt werden können, und wir haben alles abgesucht. Er gab uns die Er laubnis. Er sagte, er habe nichts zu verbergen. Er meinte, er wüßte es, wenn Alessia in das Dorf gebracht worden wäre; er sagt, er weiß alles. Er sagt, sie war nie dort.« »Haben Sie ihm geglaubt?« fragte ich. »Mußte ich wohl. Wir fragten in jedem einzelnen Haus. Wir haben auch sogar ein, zwei Kinder gefragt. Wir fan den nichts; wir hörten nichts. Aber …« »Aber …?« half ich nach. »Ich habe mir eine Karte angeschaut«, sagte er gähnend. »Viralto liegt an einer Nebenstraße, die sonst nirgends hin führt. Fährt man jedoch an der Abzweigung nach Viralto weiter geradeaus, dann geht die Straße in die Berge hinauf, und wenn sie auch nicht gut zu fahren ist, sie überquert die ganzen Apenninen und geht dann runter nach Florenz. Oberhalb Viralto liegt ein Ort, der früher ein Schloß war, aber jetzt ein Hotel ist. Dorthin fährt man, um zu wandern und die Berge zu genießen. Vielleicht hat die Signorina nicht genug gehört … vielleicht war es mindestens eine 144
Stunde bis Viralto und noch weiter bis dort, wohin sie wollten? Morgen«, er unterbrach sich seufzend, »morgen habe ich dienstfrei. Morgen werde ich wohl dennoch Dienst tun. Ich fahre hinauf in das Hotel und lasse da mal den Schirokko hindurchfegen.« »Schicken Sie doch ein paar Ihrer Leute«, schlug ich vor. Nach einer deutlichen Pause sagte er nüchtern: »Ich habe Anweisung gegeben, daß in diesem Fall kein Schritt mehr unternommen wird, ohne daß ich persönlich dabei bin.« »Aha.« »Ich rufe Sie also morgen an, wenn Sie wollen.« »Morgen bin ich hier von vier bis Mitternacht«, sagte ich dankbar. »Anschließend zu Hause.« Am Morgen dieses Samstags rief Popsy an, während ich in meiner Wohnung herumtrödelte und versuchte, meine Au gen vor unerledigter Hausarbeit zu verschließen. »Ist was los?« fragte ich, den Ton ihrer Begrüßung inter pretierend. »So ungefähr. Ich möchte, daß Sie mir helfen. Können Sie kommen?« »Auf der Stelle, oder ist es morgen früh genug? Ich muß um vier im Büro sein.« »Am Samstag nachmittag?« staunte sie. »Leider.« Sie zögerte. »Alessia ist gestern wegen Kopfschmerzen nicht mit dem Lot rausgegangen.« »Ach … und heute?« »Heute war ihr nicht danach. Wissen Sie«, sagte sie abrupt, »ich würde ja meinen, sie hat Angst davor, aber wie kann das sein? Sie haben doch gesehen, wie sie rei tet.« Der leise Unmut in ihrer Stimme kam neben der ech ten Anteilnahme deutlich herüber. Als ich nicht gleich antwortete, fragte sie laut: »Sind Sie noch da?« 145
»Ja. Ich habe nur nachgedacht.« Ich zögerte. »Vor den Pferden oder vorm Reiten hatte sie keine Angst, das ist si cher. Also hat sie vielleicht Angst – es wird nicht das tref fende Wort sein, aber für den Augenblick genügt es – Angst davor, eingeschlossen zu sein, nicht entkommen zu können … im Pulk zu reiten. Eine Art Platzangst, auch wenn es draußen im Freien ist. Vielleicht war es das, wes halb sie schon vorher nicht mit dem Lot reiten wollte, aber für sich allein auf den Downs gut zurechtkam.« Sie dachte darüber nach. »Vielleicht haben Sie recht. Gestern war sie jedenfalls nicht glücklich. Sie blieb die meiste Zeit auf ihrem Zimmer und ging mir aus dem Weg.« »Popsy … drängen Sie sie nicht. Sie braucht Sie sehr, aber einfach als jemand, der da ist … und keine Anforde rungen stellt. Sagen Sie ihr, sie braucht erst mit dem Lot rauszugehen, wenn sie von sich aus gar nicht mehr anders kann. Sagen Sie, Sie finden es gut so, Sie freuen sich, daß sie da ist, sie kann tun und lassen, was sie will. Ginge das? Könnten Sie das sagen? Und morgen früh komme ich run ter.« »Ja, ja und ja«, antwortete sie seufzend. »Ich hänge sehr an ihr. Kommen Sie zum Lunch und schwenken Sie den Zauberstab.« Pucinelli rief spät am Abend mit den Neuigkeiten an: gute, schlechte und nicht schlüssige. »Die Signorina hatte recht«, sagte er als erstes zufrieden. »Sie wurde an Viralto vorbei zu dem Hotel gebracht. Wir wandten uns an den Direktor. Er sagte, er wisse von nichts, aber wir konnten sämtliche Nebengebäude durch suchen. Davon gibt es sehr viele. Die meisten werden als Lagerräume genutzt, waren früher aber Unterkünfte für Diener, für Kutschpferde und Vieh. In einem der alten 146
Viehfutterspeicher fanden wir ein Zelt!« Er unterbrach sich der Wirkung halber, und ich gratulierte ihm. »Es war zusammengelegt«, sagte er. »Aber als wir es aufschlugen, hatte es die richtige Größe. Grüne Segel tuchwände, grauer Bodenbelag, genau, wie sie es be schrieb. Der Boden des Speichers besteht aus Holz, es wa ren Haken für die Zeltleinen hineingeschraubt.« Er unterbrach sich. »In dem Vorstadthaus haben sie die Zelt leinen vermutlich an den Möbeln befestigt.« »Mm«, sagte ich ermunternd. »Der Speicher befindet sich in einem nicht mehr benutz ten Stallgebäude, das ein Stück hinter der Hotelküche liegt. Es wäre schon möglich, daß sie Bäckereigeruch wahrnehmen konnte … das Hotel bäckt sein Brot selbst.« »Phantastisch«, sagte ich. »Nein, nicht phantastisch. Niemand hat sie gesehen. Nie mand sagt was. Die Vorräte des Hotels werden in den Ne bengebäuden gelagert, und sie haben dort große Reserven an Haushaltswaren sowie Kühllager für Fleisch und Ge müse und einen riesigen Tiefkühlraum … Diese Lager werden täglich beliefert. Ich glaube, die Signorina könnte in einem Lieferwagen zu dem Hotel gebracht worden sein, und niemand hätte groß darauf geachtet. Es gibt so viele Nebengebäude und Höfe auf der Rückseite … Garagen, Geräteschuppen, Möbellager für Sachen, die nicht in Ge brauch sind, Ställe voll unnützem Zeug, das früher in dem alten Schloß stand, uralte Küchenherde, alte Badezuber, genug Krempel für eine Kleinstadtmüllhalde. Sie könnten sich da einen Monat lang versteckt halten. Niemand würde Sie finden.« »Also kein Glück mit den Porträts des Kidnappers?« sagte ich. »Nein. Niemand kannte ihn. Niemand kannte die beiden, die wir hinter Gittern haben. Niemand wußte irgendwas.« Er klang müde und entmutigt. 147
»Trotz alledem«, sagte ich. »Sie haben das Zelt. Und es ist ziemlich sicher, daß einer der Entführer das Hotel recht gut kannte, denn dieser Speicher klingt nicht nach einem Ort, den man zufällig entdeckt.« »Nein.« Er zögerte. »Leider wohnen und arbeiten sehr viele Leute im Vistaclara. Einer der Entführer könnte in der Vergangenheit dort gewohnt oder gearbeitet haben.« »Vistaclara … heißt so das Hotel?« fragte ich. »Ja. Früher gab es da Pferde auf dem Stallhof, aber der Direktor sagt, die haben sie nicht mehr, weil zuwenig Leu te in den Bergen reiten wollen, sie spielen jetzt lieber Ten nis.« Pferde, dachte ich vage. »Wie lange ist es her, daß sie Pferde hatten?« fragte ich. »Bevor der Direktor kam. Ich könnte ihn fragen, wenn Sie wollen. Er sagt, der Stallhof stand leer, als er vor etwa fünf Jahren anfing. Er ist auch leer geblieben. Man hat dort nichts gelagert für den Fall, daß es sich eines Tages wieder rentieren sollte, Reiterferien anzubieten.« »Ponywandern«, sagte ich. »Bitte?« »Auf Ponys durch die Berge reiten. Sehr beliebt in man chen Teilen Englands.« »So«, sagte er ohne Begeisterung. »Jedenfalls, früher gab es Pfleger da und einen Reitlehrer, aber jetzt haben sie statt dessen einen Tennisprofi … und der kannte keinen von den Entführern auf unseren Bildern.« »Es ist also ein großes Hotel?« »Ja, ziemlich. Man fährt im Sommer dahin, es ist kühler als in den Ebenen oder an der Küste. Im Moment zählen achtunddreißig Leute zum Personal, neben dem Direktor, und es hat Zimmer für hundert Gäste. Außerdem ein Re staurant mit Blick auf die Berge.« »Teuer?« tippte ich an. 148
»Nichts für Arme«, sagte er. »Aber auch nichts für Für sten. Für Leute, die Geld haben, aber nicht für den Jetset. Einige der Gäste wohnen ständig dort … meistens alte Menschen.« Er seufzte. »Ich habe eine ganze Menge Fra gen gestellt, wie Sie sehen. Kein Mensch, egal wie lange er schon da wohnt oder angestellt ist, fand Interesse an un seren Bildern.« Wir sprachen noch einige Zeit darüber. Die einzige Ent scheidung, zu der wir kamen, war die, daß er das »Vista clara« am nächsten Tag dem gesprächigen Kidnapper zu schmecken geben würde; und an diesem nächsten Tag, Sonntag, fuhr ich wieder nach Lambourn. Alessia war mittlerweile seit fast zwei Wochen frei und zeigte sich mit rosa Nagellack auf den Fingernägeln. Ein innerer Auftrieb, dachte ich. »Hast du den Lack gekauft?« fragte ich. »Nein … Popsy.« »Warst du schon allein in Geschäften?« Sie schüttelte den Kopf. Ich äußerte mich nicht weiter, aber sie sagte: »Du meinst wahrscheinlich, ich hätte es nö tig.« »Nein. Bloß eine Frage.« »Dräng mich nicht.« »Nein.« »Du bist genauso schlimm wie Popsy.« Sie sah mich fast feindselig an, etwas ganz Neues. »Ich fand den Nagellack hübsch«, sagte ich ruhig. Sie drehte stirnrunzelnd den Kopf weg, und ich trank den Kaffee, den Popsy eingeschenkt hatte, bevor sie hin aus auf ihren Hof gegangen war. »Hat Popsy dich gebeten zu kommen?« sagte Alessia scharf. »Sie lud mich zum Essen ein, ja.« »Hat sie sich beschwert, daß ich mich aufführe wie eine Kuh?« 149
»Nein«, sagte ich. »Tust du das?« »Weiß ich nicht. Ich nehme es an. Was ich weiß, ist nur, daß ich schreien möchte. Sachen zerhauen. Jemand prü geln.« Sie sprach tatsächlich, als würde ein starker Druck nur durch eine etwas unsichere Willenskraft zurückgehal ten. »Ich fahre dich in die Downs.« »Wieso?« »Damit du schreien kannst. Gegen die Reifen treten. Das alles.« Sie stand nervös auf, wanderte ziellos in der Küche um her und ging dann zur Tür hinaus. Ich folgte ihr einen Au genblick später und sah sie unentschlossen auf halbem Weg zu dem Landrover stehen. »Na, geh weiter«, sagte ich. »Steig ein.« Ich machte eine fragende Geste zu Popsy hin, wobei ich auf den Landrover wies, und empfing aus der Ferne ein Nicken. Die Schlüssel steckten. Ich setzte mich auf den Fahrer sitz und wartete, und schließlich stieg Alessia neben mir ein. »Das ist doch albern«, sagte sie. Ich schüttelte den Kopf, ließ den Motor an und fuhr den selben Weg, den wir drei Tage vorher gefahren waren, hin auf zu der Stille und dem weiten Himmel und den Vogel rufen. Als ich anhielt und den Motor abstellte, sagte Alessia abwehrend: »Und jetzt? Ich kann doch nicht einfach … schreien.« »Wenn du ein Stück weggehen willst, um herauszufin den, ob dir danach ist, warte ich hier.« Ohne mich direkt anzusehen, tat sie genau, was ich ge sagt hatte. Sie stieg aus dem Landrover und ging davon. Ihre schmale Gestalt wurde in der Ferne kleiner, blieb aber in Sicht, und nach einer ziemlich langen Zeit kam sie 150
langsam zurück. Sie hielt mit trockenen Augen vor mei nem geöffneten Fenster an und sagte ruhig: »Ich kann nicht schreien. Es hat keinen Zweck.« Ich stieg aus und trat zu ihr auf das Gras. »Was gibt dir das Gefühl, gefangen zu sein, wenn du mit dem Lot rei test?« »Hat Popsy das gesagt?« »Nein. Sie sagte nur, du wolltest nicht mitreiten.« Sie lehnte sich gegen den Kotflügel des Landrovers, oh ne mich anzusehen. »Es ist Unsinn«, sagte sie. »Ich weiß nicht, warum. Am Freitag zog ich mich für das Training an. Ich wollte mit … aber ich war ganz aufgewühlt. Mir blieb die Luft weg. Schlimmer als vor meinem ersten großen Rennen … aber ein ähnliches Gefühl. Ich ging nach unten, und es wurde noch viel ärger. Zum Ersticken. Ich sagte Popsy, ich hätte Kopfschmerzen … was ja auch beinah stimmte … und ge stern war es genau dasselbe. Ich ging gar nicht erst runter … Es kam mir so erbärmlich vor, aber ich konnte einfach nicht …« Ich überlegte und sagte: »Fang beim Aufstehen an. Denk an Reitkleidung. Denk an die Pferde. Stell dir vor, du rei test durch die Straßen. Denk an alles getrennt, eines nach dem anderen, und dann sag mir, bei welchem Gedanken du anfängst, dich … aufgewühlt zu fühlen.« Sie sah mich zweifelnd an, blinzelte aber ein paarmal, während sie den Prozeß durchging, und schüttelte danach den Kopf. »Jetzt wühlt mich nichts auf. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ich habe an alles gedacht. Es sind die Jungs.« Die letzten vier Worte kamen wie unter einem Zwang heraus; wie unbeabsichtigt aus der Tiefe. »Die Jungs?« »Die Stallburschen.« »Was ist mit ihnen?« 151
»Ihre Augen.« Der gleiche explosive Druck. »Wenn du hinten reiten würdest, würden sie dich nicht sehen«, sagte ich. »Dann würde ich an ihre Augen denken.« Ich blickte in ihr sehr beunruhigtes Gesicht. Sie bringt dich ins Schwimmen, dachte ich. Sie brauchte professio nelle Hilfe, nicht meinen gesunden Laienverstand. »Wieso ihre Augen?« sagte ich. »Augen …« Sie sprach laut, als ob das Wort allein schon Heftigkeit verlangte. »Sie haben mich beobachtet. Ich wußte es. Während ich schlief. Die kamen herein und beo bachteten mich.« Sie drehte sich plötzlich zum Landrover um und trat tat sächlich gegen den Reifen. »Die sind hereingekommen. Ich weiß es. Ich hasse … ich hasse … ich ertrag’ nicht … ihre Augen.« Ich legte die Arme um sie und zog sie an meine Brust. »Alessia … Alessia … Es spielt doch keine Rolle. Was wäre schon dabei, wenn sie tatsächlich hereingekommen sind?« »Ich fühle mich … dreckig … schmutzig.« »Eine Art Vergewaltigung?« sagte ich. »Ja.« »Aber nicht …« Sie schüttelte stumm und entschieden den Kopf. »Woher weißt du, daß sie hereingekommen sind?« fragte ich. »Der Reißverschluß«, sagte sie. »Ich habe dir ja erzählt, ich kannte jede Naht an dem Zelt … ich wußte, wie viele Zähne der Reißverschluß hatte. Und an manchen Tagen ging er weiter auf als an anderen. Sie öffneten den Reiß verschluß … und kamen rein … und steckten ihn auf einer anderen Höhe fest … sechs oder sieben Zähne höher, zehn tiefer … mir graute davor.« 152
Ich hielt sie in den Armen, wußte nichts zu sagen. »Ich versuche mir nichts daraus zu machen«, sagte sie. »Aber ich träume …« Sie hielt im Satz inne. »Ich träume von Augen.« Ich streichelte ihr mit der Hand über den Rücken, um sie zu trösten. »Erzähl mir, was noch«, sagte ich. »Was ist sonst noch unerträglich?« Sie stand so lange still da, ihre Nase an meine Brust ge drückt, daß ich dachte, es gebe vielleicht nichts weiter, aber schließlich sagte sie in einem kalten, harten Ton: »Ich wollte, daß er mich mag. Ich wollte ihm gefallen. Papa und Pucinelli sagte ich, seine Stimme sei kalt gewesen … aber das war … am Anfang. Immer wenn er mit dem Mi krophon kam, um die Bänder aufzunehmen, habe ich ihm … schöngetan.« Sie zögerte. »Mich … ekelt … vor mir. Ich bin … widerwärtig … und ich könnte vergehen … versinken … vor Scham.« Sie hörte auf zu reden und stand einfach da, und nach ei niger Zeit sagte ich: »Leute, die entführt werden, gelangen sehr oft dahin, ihre Entführer zu mögen. Es ist nicht mal ungewöhnlich. Es ist, als ob ein normales menschliches Wesen nicht ohne irgendeine Art von freundlichem Kon takt leben kann. In den gewöhnlichen Strafanstalten ent wickeln sich geradezu freundschaftliche Beziehungen zwischen Häftlingen und Wärtern. Wenn eine Gruppe von Geiseln genommen wird, freunden immer ein paar davon sich mit einem oder mehreren der Terroristen, die sie ge fangenhalten, an. Manchmal beschwören Geiseln die Poli zei, die sie befreit, den Entführern nichts anzutun. Du darfst und du solltest dir keine Vorwürfe deswegen ma chen, daß du versucht hast, den Mann mit dem Mikrophon für dich einzunehmen. Es ist normal. Es ist meistens so. Und … wie nahm er es auf?« Sie schluckte. »Er nannte mich … liebes Mädchen.« 153
»Liebes Mädchen«, sagte ich mit vollem Ernst. »Hab keine Schuldgefühle. Du bist normal. Jeder versucht, sich seinen Entführern in einem gewissen Grad freundlich zu erweisen, und es ist auch besser so.« »Warum?« Ihre Stimme war gedämpft, aber leiden schaftlich. »Weil Feindschaft wieder Feindschaft zeugt. Ein Ent führter, der die Entführer für sich einnehmen kann, ist viel sicherer. Sie werden weniger geneigt sein, ihm etwas an zutun … und ihm zuliebe besser achtgeben, daß er nicht ihre Gesichter sieht. Man möchte nicht jemand umbringen, für den man Sympathie entwickelt hat.« Sie erschauerte. »Und was das Hereinkommen betrifft, um dich im Schlaf zu sehen … vielleicht haben sie dich freundschaft lich betrachtet … Vielleicht wollten sie sich vergewissern, daß du okay bist; sie konnten dich ja nicht sehen, wenn du wach warst.« Ich war mir nicht sicher, ob ich das letzte selber glaubte, aber es war immerhin möglich; und das übrige stimmte durchaus. »Die Stallburschen sind nicht die Kidnapper«, sagte ich. »Nein, natürlich nicht.« »Bloß andere Männer.« Sie nickte niedergeschlagen mit dem Kopf. »Du träumst nicht von den Augen der Stallburschen.« »Nein.« Sie seufzte tief. »Geh erst wieder mit dem Lot raus, wenn du ein gutes Gefühl dabei hast. Popsy wird auf den Downs ein Pferd für dich bereithalten.« Ich zögerte. »Nimm es nicht schwer, wenn du auch morgen noch aufgewühlt bist. Ein sicht in die Gründe von Gefühlen hindert sie nicht unbe dingt daran, wiederzukehren.« Sie stand eine Zeitlang still da, löste sich dann langsam 154
aus meiner Umarmung, und ohne mir ins Gesicht zu se hen, sagte sie: »Ich weiß nicht, wo ich ohne dich wäre. Im Irrenhaus bestimmt.« »Eines Tages«, sagte ich leise, »werde ich das Derby be suchen und dich ins Ziel jubeln.« Sie lächelte und stieg in den Landrover, doch anstatt des sen Nase heimwärts zu richten, fuhr ich weiter über den Hügel zum Trainingsgelände. »Wo willst du hin?« sagte sie. »Nirgends. Wir sind schon da.« Ich stellte den Motor ab und zog die Handbremse. Die Reihen der Hürden und Hindernisse lagen übersichtlich und verlassen an dem gra sigen Hang, und ich machte keine Anstalten, auszusteigen. »Ich habe mit Pucinelli gesprochen«, sagte ich. »Ach.« »Er hat den zweiten Ort gefunden, den, wo du in den letzten Tagen festgehalten wurdest.« »Oh.« Ein leiser Laut, aber nicht erschrocken. »Sagt das Hotel Vistaclara dir was?« Sie krauste die Stirn, überlegte und schüttelte den Kopf. »Es liegt in den Bergen«, sagte ich, »oberhalb des Ortes namens Viralto, von dem du erzählt hast. Pucinelli fand das grüne Zelt dort, zusammengerollt, nicht aufgeschla gen, in einem Speicher über einem unbenutzten Stallhof.« »Ställe?« Sie war überrascht. »Mm.« Sie rümpfte die Nase. »Es roch da nicht nach Pferden.« »Die sind seit fünf Jahren weg«, erwiderte ich. »Aber du sagtest, du konntest Brot riechen. Das Hotel bäckt selber welches, in der Küche. Die einzige Frage ist …«, ich zö gerte, »… wieso nur Brot? Wieso nicht alle Küchengerü che?« Sie sah nach vorn durch die Windschutzscheibe auf das friedliche weite Terrain, atmete tief die reine frische Luft 155
ein, und ruhig, ohne Anspannung oder Tränen, erklärte sie es. »Abends, wenn ich gegessen hatte, kam immer einer von ihnen und befahl mir, das Geschirr und den Eimer durch den Schlitz rauszustellen. Kommen hören konnte ich sie wegen der Musik nicht. Ich wußte erst, daß sie da waren, wenn sie redeten.« Sie hielt inne. »Jedenfalls, morgens, wenn ich aufwachte, kamen sie und befahlen mir, den Ei mer wieder hereinzuholen … und zu dem Zeitpunkt war er sauber und leer.« Sie unterbrach sich wieder. »Da konnte ich an diesen letzten Tagen auch das Brot riechen. Früh morgens … wenn der Eimer leer war.« Sie verstummte und wandte den Kopf, um mich anzusehen, meine Reakti on zu sehen. »Ziemlich scheußlich für dich«, sagte ich. »Mm.« Sie lächelte halb. »Es ist unglaublich … aber ich gewöhnte mich dran. Man meint fast, es geht nicht. Aber schließlich ist es der eigene Geruch … und nach einigen Tagen nahm ich ihn kaum mehr wahr.« Sie hielt wieder in ne. »In den ersten Tagen dachte ich, ich würde verrückt. Nicht bloß vor Angst und Zorn und Schuldbewußtsein … sondern vor Langeweile. Stunde für Stunde nichts als diese verdammte Musik … keinen zum Reden, nichts zum An sehen … Ich versuchte es mit Gymnastik, aber Tag für Tag wurde ich schlapper und von Drogen beduselter, und nach zwei oder drei Wochen vielleicht hörte ich einfach auf. Da nach schienen die Tage ineinanderzulaufen. Ich lag bloß noch auf der Schaumgummimatratze und ließ die Musik über mich ergehen. Ich dachte auch über Dinge nach, die in meinem Leben geschehen waren, aber die schienen weit weg und kaum noch wirklich. Die Realität war der Eimer und Nudeln und eine Plastiktasse Wasser zweimal täglich … und die Hoffnung, daß der Mann mit dem Mikrophon mein Verhalten gut finden … und mich mögen würde.« 156
»Mm«, sagte ich. »Er mochte dich.« »Wieso glaubst du das?« fragte sie, und ich sah, daß sie merkwürdigerweise froh war bei dem Gedanken; daß sie immer noch von ihrem Entführer anerkannt sein wollte, obgleich sie frei war. »Ich denke«, sagte ich, »wenn ihr euch gehaßt hättet, dann würde er nicht die zweite Auslösung riskiert haben. Er wäre vielmehr geneigt gewesen, die Sache aufzustek ken. Ich vermute, er konnte sich mit dem Gedanken, dich zu töten, nicht abfinden … weil er dich mochte.« Ich sah das tiefe Lächeln in ihren Augen und beschloß, ihre An sicht der Dinge zurechtzurücken. Es würde nichts Gutes dabei herauskommen, wenn sie sich in der Phantasie oder der Rückschau in den verliebte, der sie gefangengehalten hatte. »Wohlgemerkt«, sagte ich, »er hat deinem Vater ent setzlichen Kummer bereitet und deine Familie um fast ei ne Million beraubt. Wir können zwar Gott danken, daß er dich mochte, aber ein Engel ist er deshalb noch nicht.« »Ah …« Sie machte eine frustrierte, sehr italienische Geste mit den Händen. »Warum bist du immer so … so vernünftig?« »Schottische Vorfahren«, sagte ich. »Der sture Schlag, nicht die Feuerköpfe. Anscheinend dringen sie immer durch und verderben den Spaß, wenn das Viertel von mir, das spanisch ist, sich nach Flamenco sehnt.« Sie neigte halb lachend den Kopf zur Seite. »Soviel auf einmal hast du noch nie von dir erzählt.« »Bleib in der Nähe«, meinte ich. »Du wirst es mir wohl nicht glauben«, sagte sie, tief seufzend und sich rekelnd, um ihre Glieder zu entspannen, »aber allmählich fange ich doch an, mich einigermaßen gesund zu fühlen.«
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D
er Juli verzog sich mit Sprühregen, und der August kam angewittert, während sich in dem Büro in Lon don wenig tat, aber dafür um so mehr in Italien. Pucinelli rief zweimal an, um keinerlei Fortschritte zu melden, und ein drittes Mal ekstatisch, um mitzuteilen, daß die von Cenci ausgesetzte Belohnung Früchte getragen ha be. Die Belohnung war zusammen mit den Konterfeis der Entführer an allen denkbaren öffentlichen Plätzen in Bolo gna und der umliegenden Provinz angeschlagen worden; und eine Frau hatte Paolo Cenci in einem anonymen Anruf mitgeteilt, sie wisse, wo sich das Lösegeld befinde. »Signor Cenci meinte, sie habe sich boshaft angehört. Eine verschmähte Frau. Sie sagte ihm, es geschehe ›ihm‹ recht, wenn er sein Geld verliere. Sie wollte nicht verra ten, wer ›er‹ ist. Auf jeden Fall fahren Signor Cenci und ich morgen dorthin, wo sich nach ihren Angaben das Geld befindet, und wenn sie recht hat, wird Signor Cenci ihr eine Belohnung zusenden. Die Adresse, wo die Be lohnung hin soll, ist ein kleines Hotel, kein erstklassiges. Vielleicht gelingt es uns, die Frau zu finden und sie zu befragen.« Am darauffolgenden Abend schien er nicht ganz so ge hobener Stimmung. »Wir haben wirklich einiges von dem Geld gefunden«, sagte er. »Aber doch leider nicht sehr viel, wenn man den Gesamtbetrag bedenkt.« »Wieviel denn?« fragte ich. »Fünfzig Millionen Lire.« »Das sind … äh …«, ich rechnete schnell, »knapp fünf 158
undzwanzigtausend Pfund. Hm … Der Anteil eines Ban denmitglieds, nicht eines Anführers, was meinen Sie?« »Ganz Ihrer Ansicht.« »Wo haben Sie es gefunden?« fragte ich. »In einem Gepäckschließfach auf dem Bahnhof. Die Frau nannte Signor Cenci die Nummer des Schließfaches, aber wir hatten keinen Schlüssel. Wir ließen das Schloß von einem Spezialisten öffnen.« »Wer immer das Geld deponiert hat, glaubt also, es sei noch dort?« »Ja. Es ist auch wirklich noch drin, aber wir haben das Schloß ändern lassen. Wenn jemand es öffnen will, wird er nach einem anderen Schlüssel fragen müssen. Dann schnappen wir ihn uns. Wir haben eine gute Falle aufge baut. Das Geld befindet sich in einer leichten Reisetasche mit Reißverschluß. Die Nummern auf den Scheinen stim men mit den Fotos überein. Sie stammen ohne Zweifel aus dem Lösegeld. Signor Cenci hat eine Belohnung von fünf Millionen Lire geschickt, und wir werden versuchen, die Frau zu stellen, wenn sie die abholt. Er ist allerdings genau wie ich enttäuscht, daß wir nicht mehr gefunden haben.« »Besser als nichts«, sagte ich. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Es gibt zwei gängige Methoden, mit »heißem« Geld zu verfahren. Die einfachste besteht darin, die Beute irgendwo sicher abzuladen, bis die schärfste Phase der Ermitt lungen vorüber ist. Ganoven setzen den Sicherheitsfaktor unterschiedlich bei einem Monat oder bei mehreren Jahren an und sind danach redlich bemüht, das Geld weit weg von zu Hause auszugeben; normalerweise für etwas, das sich sofort wieder verkaufen läßt. Die andere, raffiniertere Methode, die meist bei größeren Summen Anwendung findet, besteht darin, das heiße Geld an einen berufsmäßigen Hehler zu verkaufen. Dieser er 159
wirbt es für etwa zwei Drittel des Nennwertes und macht seinen Profit, indem er es schubweise über Kasinobesitzer, Supermärkte, Jahrmärkte, Rennbahnen oder andere Stel len, wo große Barbeträge rasch von Hand zu Hand gehen, unter die arglose Öffentlichkeit bringt. Zu dem Zeitpunkt, da das Geld wieder in weit verstreute Banken zurückgefil tert wird, läßt seine Herkunft sich nicht mehr feststellen. Einiges von Paolo Cencis Million Pfund konnte durch eine solche Wäsche um ein Drittel gestutzt, einiges unter eine unbekannte Zahl von Bandenmitgliedern aufgeteilt und einiges im voraus für Unkosten wie etwa die Miete eines Vorstadthauses aufgewandt worden sein. Die Kosten einer erfolgreichen Entführung sind hoch, das Lösegeld niemals reiner Gewinn. Dennoch ist es, ungeachtet der Ri siken, der schnellste bisher erfundene Weg zum Reichtum, und speziell in Italien liegen die Chancen, daß die Täter ermittelt und gefaßt werden, bei ungefähr fünf Prozent. In einem Land, in dem keine Frau mit einer Handtasche überm Arm durch die Straßen der Hauptstadt gehen kann, weil sie befürchten muß, daß motorradfahrende Diebe sie ihr mit einem Rasiermesser abschneiden, wird Entführung als etwas betrachtet, das zum Leben gehört wie Magenge schwüre. Pucinelli rief zwei Tage später in guter Laune an, um zu berichten, daß die Frau, die die Belohnung abholte, ohne Schwierigkeiten bis zu ihrer Wohnung verfolgt worden war, und daß es sich um die Ehefrau eines Mannes han delt, der zweimal wegen Überfällen auf Spirituosenläden eingesessen hat. Nachbarn sagten aus, der Mann sei ein bekannter Schürzenjäger und die Frau rasend eifersüchtig. Pucinelli meinte, eine Festnahme und Durchsuchung des Verdächtigen werde kein Problem darstellen, und berichte te am nächsten Abend, daß sie bei der Aktion den Schließ fachschein in der Brieftasche des Mannes gefunden hatten. 160
Der als Giovanni Santo Identifizierte saß jetzt in einer Zel le und spuckte Informationen aus wie ein Vulkan die Lava. »Er ist dumm«, meinte Pucinelli verächtlich. »Wir haben ihm gesagt, daß er sein ganzes Leben im Kittchen verbrin gen wird, wenn er uns nicht behilflich ist, und er hat die Hosen voll. Er hat uns die Namen aller Entführer genannt. Es waren sieben insgesamt. Zwei haben wir natürlich schon, und jetzt noch Santo. Drei weitere werden gerade verhaftet.« »Und Giuseppe?« fragte ich, da er abbrach. »Giuseppe«, sagte er widerstrebend, »ist nicht darunter. Giuseppe ist der siebte. Er war der Anführer. Er hat die anderen, die alle schon vorher straffällig waren, rekrutiert. Santo weiß weder Giuseppes richtigen Namen, noch wo her er kam, noch wohin er verschwunden ist. Ich fürchte, in diesem Punkt spricht Santo die Wahrheit.« »Sie haben Wunder vollbracht«, sagte ich. Er hüstelte bescheiden. »Ich hatte Glück. Und Andrew … unter uns gebe ich’s zu … es ist mir äußerst nützlich, mit Ihnen zu sprechen. Es klärt meine Gedanken, wenn ich sie Ihnen mitteile. Sehr merkwürdig.« »Halten Sie’s weiter so«, sagte ich. »Ja. Mit Vergnügen«, meinte er; und drei Tage später teilte er mir telefonisch mit, daß sie nun alle sechs Mit glieder der Bande in Gewahrsam und weitere hundert Mil lionen Lire von Cencis Geld sichergestellt hatten. »Wir haben außerdem die Stimmen aller sechs Männer aufgezeichnet und sie analysieren lassen, aber keine davon ist die Stimme des Mannes auf den Bändern. Und keiner von ihnen ist der Mann, den Sie gesehen haben, von dem wir das Porträt besitzen.« »Giuseppe«, sagte ich. »Giuseppe auf den Bändern.« »Ja«, bestätigte er düster. »Keiner von ihnen kannte ihn vorher. Er hat einen als Fremden in einer Bar rekrutiert, 161
und der rekrutierte die fünf anderen. Die sechs werden wir zweifellos überführen und verurteilen, aber ohne Giuseppe ist das Ganze hohl.« »Mm.« Ich zögerte. »Enrico, stimmt es nicht, daß einige Studenten, die in ihrer hitzköpfigen Jugend zu den Roten Brigaden stießen, da herausgewachsen und normale unbe scholtene Bürger geworden sind?« »Ich habe davon gehört, aber natürlich halten sie die Vergangenheit geheim.« »Nun … mir kam vor ein, zwei Tagen mal der Gedanke, daß Giuseppe die Techniken der Entführung von den Ro ten Brigaden gelernt haben könnte, vielleicht als er Stu dent war, oder sogar als Mitglied.« Pucinelli sagte zweifelnd: »Ihre Identikit-Bilder passen zu niemand, der vorbestraft ist.« »Könnte es sich nicht lohnen, diese Bilder einmal ehe maligen Studenten aus etwa der gleichen Altersgruppe – sagen wir, fünfundzwanzig bis vierzig – zu zeigen? Viel leicht bei einer Art Jubiläumstreffen. Eine schwache Chance bestünde immerhin.« »Ich werde es versuchen«, sagte er. »Aber die Roten Bri gaden sind, wie Sie sicher wissen, in kleinen Zellen organi siert. Die Leute der einen Zelle können Leute aus einer an deren nicht identifizieren, weil sie ihnen nie begegnet sind.« »Ich weiß, daß es eine entfernte Möglichkeit ist, die eine Menge wahrscheinlich fruchtloser Arbeit mit sich bringt«, gab ich zu. »Ich werde darüber nachdenken.« »Okay.« »Alle Universitäten sind wegen der Sommerferien ge schlossen.« »Das stimmt«, meinte ich. »Aber im Herbst …« »Ich denke darüber nach«, sagte er nochmals. »Gute Nacht, Freund. Schlafen Sie gut.« 162
Alessia erfuhr durch ihren Vater von der Sicherstellung ei nes Teils der Lösegeldsumme und durch mich von der Festnahme der sechs Entführer. »Oh«, sagte sie ausdruckslos. »Dein Mann mit dem Mikrophon ist nicht dabei.« »Oh.« Sie sah mich schuldbewußt an, als sie wie ich die leise Erleichterung in ihrer Stimme hörte. Wir saßen gera de in Popsys winzigem, von Bäumen beschattetem Garten, dessen Rasenviereck von vier Liegestühlen fast gänzlich eingenommen wurde. Die niedrige Mauer verdeckte kaum die Sicht auf die Stallungen, die ihn nach drei Seiten um gaben. Wir tranken Eiskaffee in der Hitzewelle, die auf das Unwetter gefolgt war, ließen die Würfel klingen und uns von ganzen Reihen aus Stalltüren spähender Pferdehäupter höflich bestaunen. Ich hatte mich an meinem freien Tag selbst nach hier eingeladen, ein Schritt, gegen den weder Alessia noch Popsy Einwände erhoben, und hatte bei meiner Ankunft Popsy wie gewohnt allein auf ihrem Hof vorgefunden. »Hallo«, sagte sie, als ich anhielt. »Entschuldigen Sie die Wasserflut.« Sie stand da in grünen Gummistiefeln, einen Schlauch in der Hand, und spritzte die hintere Fessel eines großen Braunen ab. Bob hielt den Kopf des Tieres. Es blinzelte mich wie gelangweilt an. Das Wasser strömte über den Hof in eine Rinne. »Es hat ’n Bein«, sagte Popsy, als ob das irgendwas er klärte. Ich widerstand dem Wunsch, ihr zu sagen, daß es, soweit ich sehen konnte, vier hatte. »Alessia ist einkaufen gegangen«, sagte sie. »Sie wird nicht lange bleiben.« Sie platschte zum Wasserhahn hin über, stellte ihn ab und warf den Schlauch in lockeren Schlingen daneben. »Das reicht erst mal, Bob«, rief sie. »Jamie soll den 163
Schlauch aufrollen.« Sie trocknete ihre Hände am Hosen boden ab und funkelte mich hell aus den grünen Augen an. »Nun, sie reitet wieder«, sagte sie, als Bob das abge spritzte Pferd zu einer leeren Box führte, »aber nur auf den Downs. Sie fährt mit mir im Landrover hin und zurück. Es ist Routine. Wir reden nicht drüber.« »Wie geht es ihr sonst?« »Erheblich besser, würde ich meinen.« Sie grinste breit und klopfte mir leicht auf die Schulter. »Mir schleierhaft, wie jemand, der so kalt ist, einen anderen zum Leben bringen kann.« »Ich bin nicht kalt«, protestierte ich. »Nein?« Sie betrachtete mich spöttisch. »Sie haben was von Eisen an sich. Wie ein Prügel. Sie lächeln wenig. Sie schüchtern niemand ein … aber ich bin sicher, Sie könnten es, wenn Sie wollten.« Ich schüttelte den Kopf. »Betrinken Sie sich jemals?« sagte sie. »Nicht oft.« »Oder auch nie.« Sie winkte mit der Hand zur Küche. »Möchten Sie jetzt was trinken? Ist so verdammt heiß.« Wir gingen in das kühle Innere, wobei sie an der Tür ihre Gummistiefel abstreifte, und in braunen Socken holte sie Weißwein aus dem Kühlschrank in der Küche. »Ich wette zum Beispiel«, sagte sie beim Einschenken, »daß Sie niemals einen Kicheranfall kriegen oder vulgäre Lieder grölen oder sich allgemein lächerlich machen.« »Oft.« Sie warf mir einen »Jaja«-Blick zu, verteilte ihre schwe re Gestalt bequem auf einem Küchenstuhl und legte die Füße auf den Tisch. »Na ja, manchmal«, korrigierte ich. Sie trank gutgelaunt einen Schluck Wein. »Was bringt Sie denn zum Kichern?« fragte sie. 164
»Ach … einmal während einer Entführung war ich bei einer italienischen Familie, da führten sich alle auf wie Komiker in einem Melodram, nur lauter, und es war pein lich. Ich mußte manchmal nach oben gehen, um mein La chen abzustellen … ein furchtbares Gekicher, obwohl es eigentlich eine Geschichte auf Leben und Tod war. Ich hatte es entsetzlich schwer. Das ganze Gesicht tat mir weh von der Anstrengung, ernst zu bleiben.« »Wie wenn man in der Kirche laut herausplatzen möch te«, sagte Popsy nickend. »Genau so.« Wir schlürften den kühlen Wein und betrachteten einan der in Freundschaft, und wenig später erschien Alessia mit einer Tüte Lebensmittel und einem Willkommenslächeln. Die Wangen hatten endlich Farbe, und eine Art Wiederge burt des Mädchens, das sie gewesen sein mußte, war im Gange. Sogar in der Haltung ihres Kopfes erkannte ich ei nen großen Unterschied; wiederkehrende Selbstachtung straffte das Rückgrat. Ich stand auf, als ich sie erblickte, küßte sie zur Begrü ßung auf die Wange, und sie stellte die Lebensmittel auf den Tisch und umarmte mich fest. »Hallo«, sagte sie. »Nimm bitte zur Kenntnis, daß ich einkaufen war. Schon zum dritten Mal. Wir sind jetzt wie der im Geschäft … kein Bammel, nichts, was der Rede wert wäre.« »Großartig.« Sie goß sich Wein ein, und alle drei aßen wir friedlich zu Mittag; und danach, als Popsy in ihr Büro gegangen war, um Schreibarbeiten zu erledigen, erzählte ich Alessia im Garten von den neuen Festnahmen. »Glaubst du, sie erwischen ihn … den Mann mit dem Mikrophon?« fragte sie. »Er nannte sich Giuseppe«, sagte ich, »aber höchstwahr 165
scheinlich ist das nicht sein Name. Die sechs Kidnapper kannten ihn nur als Giuseppe, und sonst weiß keiner von ihnen was. Ich glaube, er ist kühl und intelligent, und ich fürchte, Pucinelli wird weder ihn finden noch den Haupt teil des Lösegeldes.« Sie schwieg eine Zeitlang und sagte dann: »Armer Papa. Wir Armen alle. Ich liebe das Haus auf Mykonos … so voller strahlendem Licht, direkt am saphirblauen Meer … Papa meint, das bisher wiederbeschaffte Geld reicht nicht aus, um es zu retten. Er sagt, er schiebt den Verkauf immer wieder hinaus und hofft … aber es ist ja nicht sein Wert allein, dazu kommen die Unterhaltung und die Fahrtkosten dahin, zwei oder drei Mal im Jahr. Es war immer ein Lu xus, auch früher schon.« Sie hielt inne. »Ein Teil meiner Kindheit. Teil meines Lebens.« »Giuseppe hat es gestohlen«, sagte ich. Sie bewegte sich unruhig und nickte schließlich. »Ja, du hast recht.« Wir tranken den Eiskaffee. Ruhig verging die Zeit. »Ich dachte daran, nächste Woche die Rennen zu besu chen«, sagte sie. »In Brighton. Mike Noland läßt da eine Menge Pferde starten, weil er früher in Sussex trainiert hat, und viele seiner Besitzer wohnen noch dort. Ich könn te ruhig mal mit denen reden … ihnen zeigen, daß ich noch am Leben bin.« »Wenn ich mitkäme«, sagte ich, »wäre ich dir da im Weg?« Sie lächelte die immer noch zuschauenden Pferde an. »Nein, wärst du nicht.« »An welchem Tag?« »Mittwoch.« Ich dachte an Telefondienstpläne. »Ich werde es regeln«, sagte ich.
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Nachdem Gerry Clayton sich mit einer durch und durch falschen Märtyrermiene bereit erklärt hatte, von vier bis Mitternacht für mich einzuspringen, fuhr ich am Mittwoch dann zeitig nach Lambourn, um Alessia abzuholen. Sie wurde nur schnell noch von Popsy ermutigt, die mir als Erfrischung eine Tasse Kaffee reichte, ehe wir zu der Drei stundenreise nach Brighton aufbrachen. »Ich hätte mich von jemand mitnehmen lassen können«, meinte Alessia. »Du brauchtest doch nicht diesen Riesen umweg zu machen.« »Klar«, sagte ich. Sie seufzte, aber offenbar nicht bedauernd. »Ein halbes Dutzend Trainer und Jockeys werden von hier nach Brigh ton fahren.« »Schön für sie.« »Zurück könnte ich mich also jederzeit mitnehmen las sen.« Ich sah sie von der Seite an. »Ich fahre dich schon, falls du es nicht ausdrücklich anders willst.« Statt zu antworten, lächelte sie nur. Wir fuhren nach Brighton und sprachen über vieles, wofür uns bisher die Ruhe gefehlt hatte; über Neigungen und Abneigungen, Or te, Bücher, Menschen, über Gott und die Welt. Es war das erstemal, sinnierte ich, daß ich sie in einem Rock sah – ausgenommen natürlich das Kleid, das ich über ihren bewußtlosen Kopf gestreift hatte. Ein Bild ihres schlanken nackten Körpers stieg ungebeten auf; eine an genehme Erinnerung, um ehrlich zu sein. Für Brighton hatte sie die Grundlagen in ein hübsches milchkaffeefar benes Kleid gehüllt und trug große goldene Ohrringe unter den kurzen Locken. Ihr Wiedererscheinen auf der Rennbahn wurde mit einer Herzlichkeit begrüßt, die sie nahezu überwältigte. Ein je der, der sie sah, schien darauf erpicht, sie an sich zu drük 167
ken, bis ihre Knochen ächzten. Sie stellte mich oft genug irgendwie vor, aber niemand achtete drauf. Die Blicke gal ten ihr allein, verschlangen sie vor Neugier, aber auch vor Zuneigung. »Alessia! Na, super!« »Alessia! Phantastisch!« »Alessia! Fabelhaft … wunderbar … hinreißend … toll …« Sie hätte nicht daran zu zweifeln brauchen, daß Mike Nolands Besitzer ihr Wiederauftauchen bemerken würden. Mindestens vier breit grinsende Ehepaare versicherten ihr, daß sie entzückt wären, sie, sobald sie fit sei, wieder in ih ren Sätteln zu haben. Mike Noland selbst, fünfzig und stämmig, sagte ihr, es sei an der Zeit, sich von Popsys Hindernispferden zu trennen, um wieder mit seinen Zwei jährigen zu arbeiten; und vorbeikommende Jockeys in buntem Dreß begrüßten sie, wie ich interessiert beobachte te, mit aufrichtiger Freude hinter eher beiläufigen For meln. »Tag, Alessia, wie geht’s?« »Wie läuft der Laden?« »Bravo; schön, daß du wieder da bist.« »Zieh dir die Stiefel an, Cenci.« Ihre offene Kameraderie bedeutete ihr sehr viel. Ich sah, wie die leise Angst vor der Reise in die Außenwelt von Minute zu Minute schwand und ersetzt wurde durch das zuversichtliche Gefühl, daheim zu sein. Sie hielt mich trotzdem an ihrer Seite, blickte sich häufig nach mir um und ging keinen Schritt, ohne sich zu vergewissern, daß ich mitkam. Man hätte es für Höflichkeit halten können, wäre nicht all das andere vorausgegangen. Von den Rennen selbst sah ich ebenso wie Alessia unter dem Druck der Leute, die mit ihr reden wollten, nur we nig; und was mich betraf, wurde der Nachmittag vorzeitig 168
beendet durch eine Lautsprecheransage nach dem vierten Lauf. »Würde Mr. Andrew Douglas bitte zum Büro des Ver einssekretärs kommen? Mr. Andrew Douglas, bitte kom men Sie zum Büro des Vereinssekretärs.« Alessia meinte besorgt, sie werde mir zeigen, wo das Büro sei, und erklärte mir, daß Durchsagen dieser Art fast immer schlechte Nachrichten bedeuteten. »Ich hoffe, es ist nicht Papa«, setzte sie hinzu. »Da würde Popsy dich ver langen … um mir keinen Schreck einzujagen.« Wir gingen rasch zum Sekretariat, wobei wir die unent wegten Begrüßungsversuche mit kurzem Lächeln abtaten. Alessias Besorgnis wuchs mit jedem Schritt, doch als wir in dem Büro anlangten, setzte der Rennvereinssekretär selbst ihren Befürchtungen ein Ende. »Es tut mir sehr leid, Mr. Douglas«, sagte er zu mir, »aber wir haben eine betrübliche Nachricht für Sie. Wür den Sie bitte diese Nummer anrufen …?« Er reichte mir einen Zettel. »Ihre Schwester hatte einen schweren Unfall. Ich bedaure es sehr.« Alessia sagte schwach »Oh!«, als wüßte sie nicht genau, ob sie froh oder entsetzt sein sollte, und ich legte beruhi gend die Hand auf ihren Arm. »Da drüben können Sie ungestörter telefonieren«, sagte der Vereinssekretär und wies auf eine kleine Nische im Hintergrund. »Bitte sehr. Wie wundervoll, daß man Sie wieder sieht, Miss Cenci.« Sie nickte zerstreut und folgte mir durch das Zimmer. »Tut mir so leid …«, sagte sie. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Schwester. Die Nummer auf dem Zettel war die des Büros. Ich wählte die Nummer, und Gerry Clayton meldete sich. »Hier ist Andrew«, sagte ich. »Gott sei Dank. Ich mußte alle möglichen Lügen erzäh len, ehe sie dich ausrufen lassen wollten.« 169
»Was ist passiert?« fragte ich mit einem Grad von Erre gung, der den Umständen entsprach. Er stockte, sagte dann: »Kann man dich hören?« »Ja.« Der Sekretär selbst hörte mit halbem Ohr zu und Alessia mit beiden. Zwei oder drei andere Leute blickten in meine Richtung. »Gut. Ich erwarte keinen Kommentar. Man hat einen Jungen am Strand von West Wittering entführt. Das ist un gefähr eine Fahrtstunde längs der Küste von Brighton aus, denke ich. Sieh zu, daß du schleunigst dahin kommst und mit der Mutter redest, ja?« »Wo ist sie?« fragte ich. »Im Breakwater Hotel, Beach Road, und geht die Wände hoch. Ich versprach ihr, in zwei Stunden sei jemand bei ihr; sie solle ausharren. Sie ist völlig durcheinander, was wenig hilft. Wir kriegten einen Anruf von Hoppy bei Lloyds, der Vater nahm Verbindung mit seinen Versiche rern auf und wurde über mehrere Stationen an uns verwie sen. Der Vater hat Anweisung bekommen, zu Hause bei seinem Telefon zu warten. Tony Vine ist gerade auf dem Weg zu ihm. Kannst du die Nummer aufschreiben?« »Ja, Moment.« Ich kramte nach Stift und Papier. »Schieß los.« Er gab die Nummer des Vaters durch. »Sein Name ist John Nerrity.« Er buchstabierte es. »Das Kind heißt Do minic. Die Mutter Miranda. Mutter und Sohn waren allem in dem Hotel in Ferien, der Vater zu Hause beschäftigt. Hast du das alles?« »Ja.« »Sorg dafür, daß sie mit der Polizei einverstanden ist.« »Ja.« »Wir hören von dir? Tut mir leid um deinen Renntag.« »Ich fahre sofort.« 170
»Hals- und Beinbruch.« Ich dankte dem Sekretär und verließ sein Büro mit Ales sia, die noch immer meinetwegen betroffen aussah. »Ich muß weg«, sagte ich entschuldigend. »Kannst du dich möglicherweise doch nach Lambourn mitnehmen las sen? Vielleicht von Mike Noland?« Obwohl sie es anfangs selbst vorgeschlagen hatte, schien sie entsetzt über den Gedanken und schüttelte heftig den Kopf. Deutliche Panik stand in ihren Augen. »Nein«, sagte sie. »Kann ich nicht mit dir mitkommen? Bitte … ich werde nicht lästig sein. Ich verspreche es. Ich könnte doch … bei deiner Schwester helfen.« »Du bist niemals lästig, aber mitnehmen kann ich dich nicht.« Ich sah in ihr flehendes Gesicht, sah die Unsicher heit noch so nah an der Oberfläche. »Komm mit raus zum Wagen, weg von dem Getümmel, dann erkläre ich es dir.« Wir gingen durch das Tor zu den Parkplätzen, und ich sagte: »Ich habe keine Schwester. Es gab keinen Unfall. Ich muß einen Auftrag übernehmen … ein Kind wurde entführt, und ich muß zu seiner Mutter. Also, liebste Ales sia, sollten wir Mike Noland suchen. Bei ihm bist du in Sicherheit. Ihn kennst du gut.« Sie war eingeschüchtert, erschrocken, und sie zitterte. »Könnte ich denn nicht die Mutter trösten?« sagte sie. »Ich könnte ihr doch sagen … daß ihr Kind zurückkom men wird … wie ich auch?« Ich zögerte, da der Vorschlag ihrem Wunsch entsprang, nicht mit Mike Noland nach Hause zu fahren, aber auch, weil ich dachte, daß er vielleicht sinnvoll war. Vielleicht wäre Alessia wirklich gut für Miranda Nerrity. Ich sah auf meine Uhr. »Mrs. Nerrity erwartet mich«, sagte ich unentschlossen, und sie unterbrach mich jäh: »Wer? Was hast du gesagt?« »Nerrity. Miranda Nerrity. Aber …« 171
Ihr Mund war buchstäblich aufgeklappt. »Aber die ken ne ich«, sagte sie. »Oder wenigstens bin ich ihr schon be gegnet … Ihr Mann ist doch John Nerrity, nicht?« Ich nickte verblüfft. »Ihr Pferd hat das Derby gewonnen«, sagte Alessia. Ich hob den Kopf. Pferde. So viele Pferde. »Was ist denn?« fragte Alessia. »Was schaust du so … düster?« »Schön«, sagte ich, ohne direkt zu antworten. »Steig ein. Du kannst gerne mitkommen, wenn es dir wirklich ernst da mit ist. Es kann aber gut sein, daß wir heute nicht mehr nach Lambourn zurückfahren. Würde dir das etwas ausmachen?« Als Antwort rutschte sie auf den Beifahrersitz und schloß die Tür, und ich ging um den Wagen herum und stieg neben ihr ein. Als ich den Motor anließ und aus dem Tor fuhr, sagte sie: »Das Pferd der Nerritys hat voriges Jahr im Derby ge siegt. Ordinand. Erinnerst du dich nicht?« »Ähm …« Nein, ich erinnerte mich wirklich nicht. »Es war keins von den ganz großen«, sagte sie abschät zend, »oder wenigstens hielt keiner es dafür. Er war ein Außenseiter. Dreiunddreißig zu eins. Aber er hat sich die ses Jahr gut geschlagen.« Sie hielt inne. »Ich darf gar nicht an dieses Kind denken.« »Es heißt Dominic«, sagte ich. »Hol mal die Karte aus dem Handschuhfach und such den schnellsten Weg nach Chichester.« Sie griff nach der Karte. »Wie alt ist er?« »Weiß ich nicht.« Wir eilten in dem goldenen Nachmittag westwärts durch Sussex und kamen schließlich zum Breakwater Hotel, un mittelbar am steinigen Strand von West Wittering. 172
»Hör zu«, ich zog die Bremse und streifte meinen Schlips ab. »Benimm dich wie eine Urlauberin. Geh lang sam in das Hotel. Lächle. Unterhalte dich mit mir. Mach keinen besorgten Eindruck. Okay?« Sie sah mich erst verwundert, dann begreifend an. »Glaubst du … es gibt einen Posten hier?« »Gibt es normalerweise«, sagte ich knapp. »Davon geht man immer aus. Entführer postieren Beobachter, um si cherzugehen, daß nicht scharenweise Polizei anrückt.« »Aha.« »Also sind wir im Urlaub.« »Ja«, sagte sie. »Gehen wir rein.« Wir stiegen aus dem Auto, streckten uns, und Alessia wanderte einige Schritte vom Hotel weg, um auf den Är melkanal hinauszuschauen. Sie schirmte ihre Augen ab und sagte über die Schulter zu mir: »Da gehe ich schwimmen.« Ich legte den Arm um ihre Schultern und blieb ein paar Sekunden neben ihr stehen, bevor ich neckend erwiderte: »Aber gib auf die Quallen acht.« Dann traten wir durch die gläserne Eingangstür des Hotels in eine geräumige, mit Armsesseln ausgestattete Halle. Einige Leute saßen herum und tranken Tee, und ein Mädchen im schwarzen Kleid wanderte hinter einer blanken braunen Theke mit dem Schild »Rezeption« auf und ab. »Tag«, sagte ich lächelnd. »Wir glauben, daß hier eine Bekannte von uns wohnt. Eine Mrs. Nerrity?« »Und Dominic«, sagte Alessia. »Stimmt«, sagte das Mädchen ruhig. Sie blickte auf ein Gästeverzeichnis. »Zimmer 63 … aber wahrscheinlich sind die noch am Strand. Wunderschöner Tag, nicht?« »Herrlich«, stimmte Alessia zu. »Könnten Sie mal oben anrufen?« fragte ich. »Für alle Fälle?« 173
Das Mädchen stöpselte entgegenkommend am Schalt brett und war überrascht, eine Antwort zu erhalten. »Neh men Sie ab«, sagte sie, auf ein Telefon auf der Theke deu tend, und ich ergriff mit einem angemessenen Lächeln den Hörer. »Miranda?« sagte ich. »Hier ist Andrew Douglas.« »Wo sind Sie?« fragte eine leise Stimme weinerlich. »Unten, hier im Hotel.« »Ach … kommen Sie rauf … Ich kann so nicht …« »Schon unterwegs«, sagte ich. Wir folgten den Anweisungen des Mädchens zu einem Zimmer mit zwei Einzelbetten, eigenem Bad und Blick aufs Meer. Miranda Nerrity öffnete uns ihre Tür mit ver quollenen Augen, ein durchnäßtes, zerknülltes Taschen tuch in der Hand, und begann schluckend: »Man sagte mir … der Mann in London sagte … Sie würden Dominic zu rückholen … er versprach es mir … Andrew Douglas holt ihn zurück … er schafft es immer … seien Sie unbesorgt … aber wie kann ich unbesorgt sein? O mein Gott … mein Baby … Holen Sie ihn mir zurück. Holen Sie ihn wieder.« »Ja«, sagte ich sanft. »Kommen Sie, setzen Sie sich.« Ich legte den Arm diesmal um ihre nicht um Alessias Schultern, und geleitete sie zu einem Sessel hinüber. »Er zählen Sie uns, was passiert ist. Dann entwerfen wir einen Plan, um ihn zurückzuholen.« Miranda bekam sich ein klein wenig in den Griff, er kannte überrascht Alessia und wies auf ein Stück Papier, das auf einem der Betten lag. »Ein kleines Mädchen gab es mir«, sagte sie, und die Tränen flossen. »Sie sagte, ein Mann habe sie drum gebe ten. O Gott … o Gott …« »Wie alt war das kleine Mädchen?« fragte ich. »Bitte? Oh … acht … so ungefähr … ich weiß nicht.« 174
Alessia kniete sich neben Miranda hin, um sie zu trösten, während ihr eigenes Gesicht wieder blaß und straff war vor Anspannung, und ich ergriff das Blatt Papier, faltete es auseinander und las seine brutale, in Blockbuchstaben ge schriebene Botschaft. WIR HABEN IHREN KLEINEN KASSIERT. KLINGELN SIE IHREN ALTEN AN. ER SOLL NACH HAUSE FAHREN. WIR WERDEN IHREM MANNE SAGEN, WAS WIR WOLLEN. QUÄKEN SIE NICHT IN DER GEGEND RUM. ERZÄHLEN SIE’S KEINEM, JA? WENN SIE IHR KIND WIDERSEHEN WOLLEN, GEHEN SIE NICHT ZUR POLIZEI. WIR BINDEN IHM EINEN PLASTIKSACK ÜBER DEN KOPF, WENN SIE DIE POLIZEI HOLEN, KAPIERT?
Ich ließ das Blatt sinken. »Wie alt ist Dominic?« fragte ich. »Dreieinhalb«, sagte Miranda.
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iranda, sechsundzwanzig, hatte langes blondes Haar, das von einem Mittelscheitel herabfiel, und mochte bei anderen Gelegenheiten hübsch gewesen sein. Sie trug noch immer einen Badeanzug mit einem Frotteemantel darüber, und an ihren Beinen war noch Sand vom Strand. Ihre Augen waren glasig hinter den verquollenen Lidern, als hätte zuviel vernichtender Gefühlsdruck sie mit einem Film überzogen, der die Realität abwies, und sie machte vage, sinnlose Bewegungen mit ihren Händen, als ob völ lige Untätigkeit unmöglich wäre. Aus Gewohnheit hatte ich einen flachen Behälter ähnlich einer Zigarettendose bei mir, der neben anderem einen kleinen Vorrat an Medikamenten enthielt. Ich zog die Dose hervor und suchte einen Streifen weißer Tabletten heraus. »Nehmen Sie eine davon.« Ich holte Wasser in einem Zahnputzbecher und drückte die Tablette aus ihrer Hülse. Miranda schluckte einfach wie befohlen. Es war Alessia, die fragte: »Was gibst du ihr denn?« »Beruhigungsmittel.« »Trägst du die immer mit dir herum?« fragte sie ungläu big. »Meistens«, nickte ich. »Tranquilizer, Schlaftabletten, Aspirin, Mittel für Herzanfälle. Erste Hilfe, weiter nichts.« Miranda trank das ganze Wasser. »Gibt es Zimmerservice hier im Hotel?« fragte ich. »Bitte?« sagte sie zerstreut. »Ja, doch … Sie werden bald Dominics Abendbrot bringen …« Der Gedanke daran rührte sie zu neuen tiefen Schluchzern, und Alessia legte den Arm um sie und sah niedergeschmettert aus. 176
Ich bestellte beim Zimmerservice starken Tee für drei, so bald wie möglich. Kekse? Ja, Kekse bitte auch. Kommt sofort, sagten sie. Nach sehr kurzer Wartezeit schon nahm ich das Tablett an der Tür in Empfang und dankte dem Zimmermädchen für ihre Mühe. »Trinken Sie das, Mrs. Nerrity«, sagte ich, während ich das Tablett abstellte und ihr Tee einschenkte. »Essen Sie Kekse dazu.« Ich setzte eine Tasse vor Alessia hin. »Du auch«, sagte ich. Die Frauen tranken und aßen beide wie Automaten, und langsam nahm bei Miranda die kombinierte Wirkung von Beruhigungsmittel, Koffein und Kohlehydraten dem Kummer die schlimmste Schärfe, so daß sie es ertragen konnte, zu schildern, was geschehen war. »Wir waren am Strand … mit seinem Spaten und Eimer chen … bauten eine Sandburg. Er baut liebend gern Sand burgen …« Sie unterbrach sich und schluckte, Tränen rie selten an ihren Wangen herab. »Der Sand war fast überall naß, und ich hatte unsere Sachen oben auf dem Kies gelas sen … Handtücher, einen Strandstuhl, unseren Imbißkorb, den das Hotel gepackt hatte, Dominics Spielzeug … Es war ein herrlich heißer Tag, nicht windig wie sonst … ich ging rauf, um mich auf den Stuhl zu legen … Ich hatte Dominic die ganze Zeit im Auge, er war nur dreißig Meter weg … noch nicht mal … er hockte da, spielte mit Eimer chen und Schaufel und patschte an der Sandburg rum … Ich habe ihm die ganze Zeit zugeschaut, wirklich.« Ihre Stimme kippte in ein Heulen ab, aus dem das furchtbare Schuldbewußtsein nackt und roh herausklang. »Waren viele Leute am Strand?« fragte ich. »Ja, ja, sehr viele … es war so warm … Aber ich habe ihm zugeschaut, ich konnte ihn immerzu sehen …« »Und was passierte?« sagte ich. »Es war das Boot …« 177
»Was für ein Boot?« »Das brennende Boot. Ich habe es beobachtet. Alle ha ben es beobachtet. Und dann … als ich zurückschaute … war Dominic nicht mehr da. Ich kriegte keinen Schreck. Es war ja noch keine Minute … Ich dachte, er sei rüberge gangen, um sich das Boot anzusehen … Ich hielt nach ihm Ausschau … und da gab das kleine Mädchen mir den Zet tel … und ich las ihn …« Die Entsetzlichkeit dieses Augenblicks überkam sie er neut wie eine Flutwelle. Die Tasse klapperte gegen die Untertasse, und Alessia nahm ihr beides ab. »Ich rief ihn überall … ich lief hin und her … ich konnte es nicht glauben … unmöglich … Ich hatte ihn doch vor so kurzem noch gesehen, grad vor einer Minute … und dann kam ich hier herauf … ich weiß nicht, wie ich hier raufgekommen bin … Ich rief John an … und unsere Sa chen habe ich alle … am Strand gelassen.« »Wann ist Flut?« sagte ich. Sie blickte mich zerstreut an. »Heute morgen … Die Flut war gerade zurückgegangen … der Sand war ganz naß …« »Und das Boot? Wo war das Boot?« »Auf dem Sand.« »Welche Art von Boot?« fragte ich. Sie sah verwirrt drein. »Ein Dingi. Was spielt das für ei ne Rolle? Hier segeln Millionen von Dingis herum.« Aber Millionen von Dingis gingen nicht genau in dem Moment in Flammen auf, wo ein kleines Kind entführt wurde. Ein absolut nicht vertrauenswürdiges zeitliches Zusammentreffen. »Trinkt ihr beiden noch Tee«, sagte ich. »Ich gehe runter und hole die Sachen vom Strand. Dann rufe ich Mr. Nerrity an …« »Nein«, unterbrach Miranda heftig. »Bloß nicht. Bloß das nicht.« 178
»Aber wir müssen doch.« »Er ist so aufgebracht«, jammerte sie. »Er ist … fuchs teufelswild. Er sagt, es sei meine Schuld … Er ist so wü tend … Sie wissen ja nicht, wie er ist … Ich möchte nicht mit ihm reden … ich kann nicht.« »Gut«, sagte ich. »Ich rufe von woanders an. Nicht hier vom Zimmer. Ich mache so schnell es geht. Kann ich euch allein lassen?« Alessia nickte, obwohl auch sie zitterte, und ich ging nach unten und fand eine Telefonzelle in einem abgelege nen Winkel der Eingangshalle. Tony Vine meldete sich bei John Nerrity. »Bist du allein?« fragte ich. »Nein. Und du?« »Ja. Wie steht’s?« »Die Schnäpper haben ihm gesagt, er kriegt den Jungen heil zurück … unter gewissen Bedingungen.« »Nämlich?« »Fünf Millionen.« »Um Gottes willen«, sagte ich. »Hat er fünf Millionen?« Das Breakwater Hotel, wenn auch hübsch, war kein Spiel platz für Millionäre. »Er hat ein Pferd«, sagte Tony unverblümt. Ein Pferd. Ordinand, den Derbysieger. »Ordinand?« sagte ich. »Voll am Ball, was? Ja, Ordinand. Die Schnäpper wol len, daß er ihn sofort verkauft.« »Wie haben sie’s ihm mitgeteilt?« fragte ich. »Über Telefon. Zu dem Zeitpunkt natürlich nicht ange zapft. Er sagt, es war eine rauhe Stimme voller Slang. Ag gressiv. Eine Menge Drohungen.« Ich berichtete Tony von dem in Blockbuchstaben ge schriebenen Brief. »Dieselbe Sprachebene?« 179
»Ja.« Tonys gelegentliche Zurückhaltung in bezug auf Scheiß-dies und Scheiß-das war stets eine Quelle der Ver wunderung, aber tatsächlich ließ er sich vor Klienten sel ten gehen. »Mr. Nerritys wichtigster, um nicht zu sagen einziger Vermögenswert ist das Pferd, wenn ich es recht verstehe. Er ist …« »Stinksauer?« tippte ich an. »Ja.« Ich lächelte halb. »Mrs. Nerrity hat ein bißchen Angst vor ihm.« »Ganz und gar kein Wunder.« Ich berichtete Tony, wie die Entführung abgelaufen war, und sagte ihm, daß ich fand, die Polizei solle schleunigst das Dingi untersuchen. »Hast du die Bullen da schon informiert?« »Nein. Miranda muß erst ein wenig überredet werden. Das tu’ ich als nächstes. Was hast du ihnen von eurer Seite erzählt?« »Nichts bisher. Ich sagte Mr. Nerrity zwar, daß wir ihm ohne die Polizei nicht helfen können, aber du weißt, wie es ist.« »Mm. Ich ruf dich bald wieder an.« »Ja.« Er legte seinen Hörer auf, und ich schlenderte aus dem Hotel und krempelte am Rand des Kiesstrandes mei ne Hosenbeine zu den Knien hoch, um mit großen Schrit ten das Ufer hinunter zum Sand zu laufen. Dort ange kommen, zog ich Schuhe und Socken aus, nahm sie in die Hand und bummelte genießerisch in der Abendsonne wei ter. Entlang des Strandes gab es in Abständen einige Wellen brecher, schwarze Stummelfinger, die sich seewärts streck ten, morsch stellenweise und überwuchert von Mollusken und Seetang. Mirandas Stuhl, Handtücher und Siebensa 180
chen waren das einzige auf dem Kies – die meisten Leute hatten für heute zusammengepackt –, und nicht weit ent fernt lagen immer noch ein roter Plastikeimer und eine blaue Plastikschaufel neben einer halbzertrampelten Sand burg auf dem Boden. Das britische Badepublikum, dachte ich, war noch immer bemerkenswert ehrlich. Die verbrannten Überreste des Dingis waren der Anzie hungspunkt für die wenigen noch auf dem Sand verbliebe nen Leute; die wiederkehrende Flut gluckerte bereits zen timeterhoch um seinen Rumpf. Ich ging hinüber, als lockte es mich an wie jeden sonst, und watete, um es möglichst genau zu betrachten und auch hineinsehen zu können, wie einige andere durchs Wasser. Das Boot bestand aus Glasfiber und war beim Verbren nen geschmolzen. Eine Zulassungsnummer war von außen nicht mehr zu erkennen. Der Mast aus Aluminium hatte zwar die Flammen überstanden und ragte noch himmel wärts wie ein Ausrufungszeichen, doch das Segel, das zur Identifizierung hätte dienen können, lag als Asche um sei nen Fuß herum. Irgend etwas in der verkohlten Masse mochte eine Geschichte zu erzählen wissen – aber die Flut war unerbittlich. »Sollten wir nicht versuchen, es auf den Kies zu zie hen?« schlug ich einem Mann vor, der gleich mir im Was ser herumpatschte. Er zuckte die Achseln. »Geht uns doch nichts an.« »Hat jemand die Polizei verständigt?« sagte ich. Noch ein Achselzucken. »Keine Ahnung.« Ich watete zur anderen Seite des Wracks hinüber und versuchte es bei jemand, der mehr nach einem verantwor tungsbewußten Bürger aussah, aber auch er schüttelte den Kopf, er sei ohnehin spät dran, und es waren zwei zufällig mithörende Jungens um die Vierzehn, die mir daraufhin ihre Hilfe anboten. 181
Sie waren stark und guter Dinge. Sie hievten, wuchteten und stolperten bereitwillig. Der Kiel zog eine tiefe einzelne Spur durch den Sand, und zu dritt beförderten wir es noch über den Kies, bis die Jungen meinten, die Flut kön ne es nicht mehr erwischen. »Danke«, sagte ich. Sie strahlten. Wir standen alle mit den Händen in den Hüften da und bewunderten das Ergebnis unserer Anstren gung. Dann sagten auch sie, daß sie heim zum Abendessen müßten. Sie sprangen davon, setzten über eine Mole, und ich las den Eimer, die Schaufel und Mirandas Habseligkei ten zusammen und brachte sie hinauf in ihr Zimmer. Weder sie noch Alessia waren in guter Verfassung, und eher schien noch Alessia über meine Rückkehr erleichtert. Ich nahm sie beruhigend in den Arm, und zu Miranda sag te ich: »Wir werden die Polizei holen müssen.« »Nein.« Sie war entsetzt. »Nein … nicht …« »Mm.« Ich nickte. »Glauben Sie mir, es ist das beste. Die Leute, die Dominic geraubt haben, wollen ihn nicht töten, sie wollen ihn heil und gesund an Sie zurückverkau fen. Halten Sie sich daran fest. Die Polizei wird uns sehr behilflich sein, und wir können es so einrichten, daß die Entführer nicht merken, daß wir sie verständigt haben. Ich übernehme das. Die Polizei wird wissen wollen, was Do minic am Strand anhatte, und wenn Sie ein Foto hätten, wäre das großartig.« Sie zauderte hilflos. »John sagte … halt den Mund; ich hätte schon genug Schaden angerichtet.« Ich griff ruhig zum Telefon und ließ mich erneut mit der Nummer ihres Mannes verbinden. Wieder meldete sich Tony. »Andrew«, sagte ich. »Oh.« Die Anspannung wich aus seiner Stimme; er hatte die Kidnapper erwartet. 182
»Mrs. Nerrity ist einverstanden, daß die Polizei unter richtet wird, wenn ihr Mann es erlaubt.« »Dann nur zu. Er begreift, daß wir sonst für ihn nichts tun können. Er … äh … möchte nicht auf uns verzichten. Er hat sich gerade im Moment entschieden, als er das Tele fon klingeln hörte.« »Gut. Bleib mal dran …«, ich wandte mich an Miranda. »Ihr Mann sagt, wir können die Polizei verständigen. Möchten Sie mit ihm reden?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Okay«, sagte ich zu To ny. »Legen wir los, und ich ruf dich später zurück.« »Was hat das Kind angehabt?« fragte er. Ich richtete die Frage an Miranda, und unter erneutem Schluchzen sagte sie, eine rote Badehose. Winzige rote Badehose. Keine Schuhe, kein Hemd … es sei heiß gewe sen. Tony brummte und hängte ein, und so gelassen ich konn te, bat ich Miranda, sich für eine Fahrt in meinem Wagen etwas überzuziehen. Unschlüssig, zögernd und ängstlich, tat sie dennoch, was erforderlich war, so daß Alessia und ich sie in Schal und Sonnenbrille aus dem Hotel geleiten konnten, und als sie mit Alessia im Fond saß, fuhr ich los in Richtung Chichester. Blicke in den Rückspiegel und ein unnötiger Umweg zeigten, daß uns niemand folgte, und nach nur einem Zwi schenaufenthalt, um nach dem Weg zu fragen, hielt ich den Wagen eine Ecke vor der Polizeihauptwache an. In der Wache fragte ich nach den diensttuenden Vorgesetzten und erklärte bald darauf einem Polizeioberinspektor und einem Kriminalbeamten, wie die Sache stand. Ich zeigte ihnen meine Papiere und Referenzen, und ei ner der beiden wußte zum Glück etwas von der Arbeit von Liberty Market. Sie betrachteten den Drohbrief der Ent führer schockiert mit ausdruckslosen Mienen und schenk 183
ten dem Bericht von der Zerstörung des Dingis rasche Aufmerksamkeit. »Das nehmen wir uns sofort vor«, sagte der Oberinspek tor und streckte die Hand nach dem Telefon. »Soweit ich weiß, hat es bisher niemand gemeldet.« »Äh …«, sagte ich. »Schicken Sie jemand als Seemann verkleidet hin. Gummistiefel. Seemannspullover. Die sol len sich nicht wie Polizisten benehmen, es wäre sehr ge fährlich für das Kind.« Der Oberinspektor nahm stirnrunzelnd die Finger wieder vom Telefon. Entführungen waren in England vergleichs weise so selten, daß nur sehr wenige örtliche Dienststellen damit Erfahrung hatten. Ich wies darauf hin, daß die To desdrohung für Dominic real sei und bei allen Maßnahmen zuerst bedacht werden müsse. »Entführer sind voll von Adrenalin und leicht zu er schrecken«, sagte ich. »Wenn sie die Gefahr sehen, gefaßt zu werden, dann töten … und vergraben sie … das Opfer. Dominic befindet sich wirklich in Lebensgefahr, aber wir bekommen ihn heil zurück, wenn wir vorsichtig sind.« Nach einigem Schweigen sagte der Kriminalbeamte, der ungefähr in meinem Alter war, sie würden seinen Vorge setzten rufen müssen. »Wie lange dauert das?« fragte ich. »Mrs. Nerrity ist mit einer Freundin draußen in meinem Wagen, und ich glaube nicht, daß sie es erträgt, lange zu warten. Sie ist sehr ver zweifelt.« Sie nickten. Telefonierten. Erklärten vorsichtig. Der Vor gesetzte, hörten sie zu ihrer Erleichterung, werde inner halb von zehn Minuten zurück in sein Büro eilen. Kriminalkommissar Eagler hätte der geborene Zivil fahnder sein können. Obwohl ich ihn erwartete, schenkte ich dem dünnen, harmlosen Geschöpf, das da ins Zimmer trat, nicht mehr als einen ersten flüchtigen Blick. Er hatte 184
schütteres Haar auf einer angehenden Glatze und einen dürren Hals, der aus einem schlecht sitzenden Hemd ragte. Sein Anzug sah alt und ausgeleiert aus, und sein Auftreten wirkte fast schüchtern. Erst als die beiden anderen Männer sich bei seiner Ankunft strafften, erkannte ich überrascht, wer er war. Er schüttelte mir nicht sehr fest die Hand, hockte sich auf eine Ecke des breiten Büroschreibtisches und bat mich, mich auszuweisen. Ich gab ihm eine Geschäftskarte der Firma, auf der mein Name stand. Ohne Eile und ohne Kommentar wählte er die Nummer des Büros und sprach, wie ich annahm, mit Gerry Clayton. Er äußerte sich nicht zu den Antworten, die er von Gerry erhielt, sondern sagte lediglich »Danke« und legte den Hörer auf. »Ich habe andere Fälle studiert«, wandte er sich direkt und ohne weitere Einleitung an mich. »Leslie Whittle … und sonstige, die schiefgelaufen sind. Solche Desaster will ich nicht in meinem Revier. Ich werde mir Ihren Rat anhö ren, und wenn er mir gut erscheint, handle ich danach. Mehr kann ich nicht sagen.« Ich nickte und wiederholte den Vorschlag, daß See mannsgestalten das Dingi abholen sollten, womit er sofort einverstanden war: Er befahl seinem Untergebenen, sich unverzüglich auszustaffieren und einen Partner mitzuneh men. »Weiter?« fragte er. Ich sagte: »Würden Sie in meinem Wagen mit Mrs. Nerrity sprechen – nicht hier? Ich glaube nicht, daß sie in einer Polizeistation gesehen werden sollte. Ich glau be nicht mal, daß ich direkt mit Ihnen zu ihr gehen sollte. Wir könnten uns irgendwo treffen. Die Vorkehrungen mö gen zwar ganz unnötig sein, aber manche Entführer sind sehr gründlich und mißtrauisch, genau weiß man es nie.« Er war einverstanden und verließ das Büro vor mir, wo 185
bei er seine Kollegen ermahnte, noch zu niemandem etwas zu sagen. »Besonders nicht, ehe die Nachrichtensperre vereinbart ist«, setzte ich hinzu. »Wirklich, Sie könnten den Tod des Kindes verschulden; ich meine es ernst.« Sie gaben mir ebenso ernst ihre Zusicherung, und ich ging zurück zum Wagen, wo ich beide Frauen nahe dem Zu sammenbruch fand. »Wir holen jemand ab«, sagte ich. »Es ist ein Polizeibeamter, aber er sieht nicht danach aus. Er wird uns helfen, Dominic heil wiederzubekommen und die Entführer zu stellen.« Ich seufzte innerlich über meinen op timistischen Ton, aber wenn ich Miranda nicht einen Fun ken von Zuversicht geben konnte, dann konnte ich ihr gar nichts geben. Wir lasen Eagler an einer Kreuzung nahe der Kathedrale auf, und er glitt wortlos auf den Beifahrersitz. Wieder hielt ich im Fahren eine Zeitlang nach Begleitern Ausschau, doch soweit ich sah, hatte kein Entführer es ris kiert. Nach einigen Meilen hielt ich auf einem Parkplatz an einer Landstraße, und Eagler ließ Miranda noch einmal ihren furchtbaren Tag schildern. »Wie spät war es?« sagte er. »Ich weiß nicht genau … Bald nach Mittag. Wir hatten draußen zu Mittag gegessen.« »Wo war Ihr Gatte, als Sie ihn anriefen?« »In seinem Büro. Er ist immer gegen zwei dort.« Miranda war erschöpft und weinte. Eagler, der seine Fragen über die hinderliche Schranke der Rückenlehne hinweg stellen mußte, tätschelte ihr versuchsweise väter lich die Hand. Sie erfaßte die Absicht hinter der Geste und weinte um so stärker. Schluchzend nannte sie die Einzel heiten wie rote Badehose, keine Schuhe, blaue Augen, blondes Haar, keine Narben, sonnenbraune Haut … seit fast zwei Wochen seien sie an der Küste gewesen … Samstag hätten sie nach Hause fahren wollen. 186
»Sie sollte noch heute abend heim zu ihrem Mann«, sag te ich zu Eagler, und während er nickte, erhob Miranda heftig Einspruch. »Er ist so böse auf mich …«, jammerte sie. »Sie können nichts dafür«, sagte ich. »Die Kidnapper haben wahrscheinlich eine Woche oder länger schon auf ihre Chance gewartet. Wenn das Ihr Mann erst einsieht …« Doch Miranda schüttelte den Kopf und meinte, ich ver stünde es nicht. »Dieses Dingi«, sagte Eagler nachdenklich, »das Boot, das abgebrannt ist … hatten Sie das schon mal am Strand gesehen?« Miranda sah ihn zerstreut an, als sei die Frage unwichtig. »In den letzten Tagen war es so windig … da saßen wir nicht oft am Strand. Seit dem Wochenende nicht, bis heu te. Wir sind meistens am Schwimmbecken gewesen, aber das mag Dominic nicht so, weil es da keinen Sand gibt.« »Das Hotel hat ein Schwimmbad?« fragte Eagler. »Ja, aber vorige Woche waren wir immer am Strand … Es war alles so einfach, bloß Dominic und ich.« Sie schluchzte zwischendurch und bebte am ganzen Körper. Eagler warf mir einen kurzen Blick zu. »Mr. Douglas hier«, sagte er zu Miranda, »hat versichert, daß Sie ihn heil wiederbekommen werden. Wir müssen alle die Ruhe bewahren, Mrs. Nerrity. Ruhe und Geduld, darauf kommt es an. Sie haben einen furchtbaren Schock erlitten, ich will das nicht herunterspielen, aber wir müssen jetzt vor allem an den Jungen denken. Seinetwegen ruhig nachdenken.« Alessia schaute von Eagler zu mir und wieder zurück. »Ihr seid einer wie der andere«, sagte sie ausdruckslos. »Ihr habt beide so viel Leid gesehen … so viel Verzweif lung. Ihr wißt beide, wie man es hinkriegt, daß die Leute durchhalten … Es macht das Unerträgliche … möglich.« 187
Eagler warf ihr einen etwas erstaunten Blick zu, und mir kam völlig zusammenhanglos der Gedanke, daß seine Kleidung so an ihm schlotterte, weil er in letzter Zeit ab genommen hatte. »Alessia ist selbst entführt worden«, erklärte ich ihm. »Sie weiß nur allzuviel darüber.« Ich umriß kurz, was in Italien geschehen war, und wies auf die Pferde als gemein samen Faktor hin. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich nach bester Detektivmanier. »Wollen Sie damit sagen, das hat eine konkrete Bedeu tung?« Ich sagte: »Vor Alessia arbeitete ich an einem anderen Fall in Italien, bei dem die Familie ihre Anteile an einer Rennbahn verkaufte, um das Lösegeld aufzubringen.« Er machte große Augen. »Dann sehen Sie also einen … einen Zusammenhang?« »Ich fürchte, es gibt einen, ja.« »Was heißt fürchten?« fragte Alessia. »Er meint«, sagte Eagler, »daß die drei Entführungen von demselben Täter organisiert worden sind. Einem, des sen normaler Wirkungskreis die Rennwelt ist und der demzufolge weiß, welche Ziele er sich aussucht. Hab’ ich recht?« »Haargenau«, stimmte ich zu. Ich sprach in erster Linie zu Alessia. »Die Wahl des Zieles ist oft ein wesentlicher Hinweis auf die Identität der Entführer. Ich meine … damit sich das Risiko lohnt, vergewissern die meisten Entführer sich im voraus, daß die Familie oder die Firma tatsächlich ein saf tiges Lösegeld bezahlen kann. Natürlich wird jede Familie bezahlen, was sie kann, aber die Risiken sind gerade so hoch bei einem kleinen Lösegeld wie bei einem großen, darum ist es sinnvoller, auf das große abzuzielen. Bei 188
spielsweise zu wissen, daß dein Vater viel reicher ist als die Väter der meisten Jockeys, ob Mädchen oder nicht.« Alessias Blick war fest auf mein Gesicht geheftet. »Zu wissen … daß der Mann, dem Ordinand gehört, einen Sohn hat …?« Sie spann den Gedanken weiter, ohne den Satz zu been den. »Ja«, sagte ich. Sie schluckte. »Das Training für ein schlechtes Pferd ko stet genausoviel wie für ein gutes. Ich meine, mir ist völlig klar, was du sagen willst.« Miranda hatte anscheinend nicht zugehört, doch ihre Trä nen begannen zu trocknen, wie ein abklingendes Gewitter. »Ich möchte heute abend nicht nach Hause«, sagte sie leise. »Aber wenn ich fahre … Alessia, würden Sie mitkom men?« Alessia sah aus, als wäre es das letzte, was sie auf sich nehmen könnte, und ich antwortete an ihrer Stelle: »Nein, Mrs. Nerrity, das wäre keine gute Idee. Haben Sie eine Mutter oder eine Schwester … jemand, den Sie mögen? Jemand, den Ihr Mann mag?« Ihre sarkastische Miene verriet soviel wie Worte über den derzeitigen Stand ihrer Ehe, doch nach einigen Au genblicken sagte sie: »Vielleicht … meine Mutter.« »In Ordnung«, meinte Eagler väterlich. »Würden die Damen nun ein paar Minuten warten, während ich mit Mr. Douglas ein wenig rausgehe?« »Wir gehen nicht außer Sicht«, sagte ich. Trotzdem wirkten sie beide denkbar unsicher, als wir die Vordertüren öffneten und ausstiegen. Ich sah noch einmal zurück und winkte ihren ängstlichen Gesichtern auf dem Rücksitz beruhigend mit der Hand zu. 189
»Schlimme Sache«, bemerkte Eagler, als wir davon schlenderten, »aber mit etwas Glück wird sie ihr Kind zu rückbekommen, nicht wie andere, mit denen ich zu tun hat te. Kleine Kinder, aufs Geratewohl von Psychos geraubt und ermordet … sexuelle Motive oft. Diese Mütter … Herzzerreißend. Scheußlich. Und ziemlich oft kennen wir die Psychos. Wissen wir, daß sie eines Tages wahrschein lich gewalttätig werden. Jemand umbringen. Wir können sie oft innerhalb eines Tages nach der Entdeckung der Leiche festnehmen. Aber hindern können wir sie nicht. Man kann sie ja nicht für alle Fälle ewig unter Verschluß halten. Ein Alptraum, diese Leute. Einen haben wir jetzt hier in der Gegend. Eine Zeitbombe, die darauf wartet, hochzugehen. Und irgendein armes Kind wird irgendwo mit dem Rad oder zu Fuß daherkommen, gerade zur falschen Zeit, gerade am falschen Ort. Das Kind irgendeiner Frau. Es gibt etwas, das den Psycho hochkitzelt. Man weiß nie, was es ist. Ir gendwas Kleines. Sie schnappen über. Hinterher wissen sie vielleicht, warum sie es getan haben, vielleicht auch nicht.« »Mm«, sagte ich. »Schlimmer als Entführer. Bei ihnen besteht immer Hoffnung.« Während seines Vortrags hatte er mir mehrmals Seiten blicke zugeworfen; seine Eindrücke gefestigt, nahm ich an. Und ich hatte dasselbe getan, zu erfahren versucht, was an Gutem oder Schlechtem von ihm zu erwarten war. Mit unter stieß jemand von Liberty Market auf einen Polizei beamten, der uns für unnötige Plagegeister hielt, die in sein eifersüchtig behütetes Reich eindrangen, aber im gro ßen ganzen akzeptierten sie uns nach dem Grundsatz, willst du wissen, was ein Wrack ist, hol dir einen Taucher. »Was können Sie mir erzählen, was Sie den Ohren der beiden Frauen lieber nicht zumuten?« fragte er. Ich lächelte ihn kurz an, empfing dafür abwartende Zu rückhaltung. 190
»Der Mann, der Alessia entführte«, sagte ich, »hat ein heimische Helfer herangezogen – einen angeworben, und der hat noch fünf andere gekeilt. Die Carabinieri haben diese sechs gefaßt, aber der Anführer ist verschwunden. Er nannte sich Giuseppe, was für den Augenblick genügen soll. Wir haben eine Zeichnung von ihm erstellt und die Provinz damit überschwemmt, aber ohne Erfolg. Ich be sorge Ihnen eine Kopie davon, wenn Sie wollen.« Ich hielt inne. »Mir ist klar, daß es eine entfernte Möglichkeit ist. Die Sache mit den Pferden kann schlicht und einfach Zu fall sein.« Eagler legte den Kopf schräg. »Ordnen wir’s mal unter fifty-fifty ein.« »Gut. Und dann ist da der Brief von heute …« »Nichts Italienisches dran, wie?« Eagler sah jovial drein. »Aber einheimische Könner? Genau der richtige Stil für hiesige Talente, finden Sie nicht?« »Doch, das finde ich.« »Genau richtig für einen Italiener, der sich einem hiesi gen Talent über die Schulter hängt und in gebrochenem Englisch sagt: ›Schreib ihr, sie soll ihren Mann anrufen, schreib ihr, sie soll nicht die Polizei verständigen.‹« Er lä chelte flüchtig. »Aber das sind alles Mutmaßungen, wie man sagt.« Wir machten wie in stummem Einklang kehrt und schlenderten zum Wagen zurück. »Die Reiterin ist immer noch ein bißchen nervös«, mein te er. »So wirkt es sich aus. Manche bleiben gegenüber Frem den für alle Zeiten nervös.« »Armes Mädchen«, sagte er, als wäre er nicht darauf ge kommen, daß Freiheit problematisch sein konnte; von Na tur aus waren Opfer für den starken Arm des Gesetzes ja weit weniger interessant als Schurken. 191
Ich erklärte ihm, daß Tony Vine in diesem Moment bei John Nerrity war, und sagte ihm, daß Nerritys Ortspolizei inzwischen wohl auch über Dominic Bescheid wisse. Eag ler notierte sich die Adresse und sagte, er werde »Verbin dung aufnehmen«. »Ich denke, daß von unserer Seite Tony Vine die Leitung übernimmt«, sagte ich. »Er ist sehr fähig, falls Sie mit ihm zu tun bekommen.« »In Ordnung.« Wir vereinbarten, daß ich ihm am Morgen mit der ersten Bahn die Lichtpausen von Giuseppe und einen Bericht über Alessias Entführung schicken würde; und an diesem Punkt erreichten wir wieder den Wagen. »Nun gut, Mr. Douglas.« Er gab mir schlaff die Hand wie zum Besiegeln eines Vertrags, so verschieden von Pu cinelli wie eine Schildkröte von einem Hasen. Der eine li stig, der andere schnell. Einer verknittert in seiner Schale, einer straff und schlank in seiner Uniform. Einer mit im mer angespannten Nerven, der andere onkelhaft gemüt lich. Ich dachte im stillen, daß ich mich alle Tage lieber von Pucinelli jagen ließe.
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ohn Nerrity war ein breit gebauter Mann von mittlerer Größe mit ergrauendem, gut und kurz geschnittenem Haar und entsprechend gestutztem Schnurrbart. Zwar konnte ich mir vorstellen, daß er an guten Tagen einigen Charme verströmte, an diesem Abend aber sah ich nur ei nen machtgewohnten Mann, der ein Mädchen, das nicht halb so alt wie er war, geheiratet hatte und es zu bereuen schien. Sie lebten in einem großen, allein stehenden Haus am Rand eines Golfplatzes bei Sutton, südlich von London, nur etwa drei Meilen von da entfernt, wo ihr vierbeiniges Wunder auf den Epsom Downs ein Vermögen verdient hatte. Das Äußere des Hauses hatte sich im Halbdunkel unse rer Ankunft als in den Dreißigerjahren ausgebauter Tudor stil entpuppt, jedoch dezent und gelungen. Im Innern sa hen die Teppichböden unbetreten aus, die Brokatsessel unbesessen, die Seidenkissen unverknittert, die Farben und Tapeten unabgenutzt. Unverblaßte Samtgardinen hingen in steifen, regelmäßigen Falten von aufwendigen Blendlei sten herab, und auf mehreren Couchtischen aus Chrom und Glas lagen hochglänzende, dicke, unabgegriffene Bü cher. Es gab keine Fotos und keine Blumen, und die Ge mälde waren ausgewählt, um Wände, nicht Gedanken ein zunehmen; das Ganze ähnelte mehr einem Schaufenster als dem Zuhause eines kleinen Jungen. John Nerrity hielt einen Gin Tonic mit klirrendem Eis und schwimmender Zitronenschale in der Hand, an sich schon eine Aussage über seine Streßtoleranz. Ich konnte 193
mir nicht vorstellen, wie Paolo Cenci sechs Stunden nach der ersten Lösegeldforderung Eis und Zitrone aufgetrieben hätte – er konnte kaum einschenken, ohne etwas zu ver schütten. Bei Nerrity waren Tony Vine mit seiner allerverschlos sensten Miene und ein anderer Mann, mürrisch um den Mund, bitter um die Augen, der mit Tonys Akzent sprach und in der Flanellhose und dem saloppen Pullover irgendwie aussah, als komme er gerade von einem Spaziergang mit seinem Hund. »Kriminalkommissar Rightsworth«, stellte ihn Tony ausdruckslos vor. »Er wartet darauf, mit Mrs. Nerrity zu sprechen.« Rightsworth nickte mir kaum zu, und auch das eher re pressiv als grüßend. Einer von denen, dachte ich. Ein Zivi listenhasser. Einer, der von der Polizei als »wir« dachte und von der Öffentlichkeit als »die«, wobei »die« von Na tur aus minderwertig waren. Mich erstaunte es immer, daß Polizeibeamte dieser Sorte befördert wurden, doch Rightsworth war Beweis genug dafür, daß sie es schafften. Der alte lächerliche Spruch »Wo wohnt die Polente? Am dicken Ende« kam mir in den Sinn; und Popsy hätte für mein Bemühen, ein ernstes Gesicht zu wahren, Verständ nis gehabt. Alessia und Miranda waren dicht beieinander und einen Schritt hinter mir ins Wohnzimmer gekommen, als ob sie mich als Kampfschild benutzten, und dem Gesicht John Nerritys war deutlich anzumerken, daß der Anblick seiner Frau wenig liebende, tröstende oder fürsorgliche Gefühle auslöste. Er gab ihr keinen Kuß. Grüßte sie nicht. Er sagte ledig lich, wie in einem laufenden Gespräch: »Ist dir klar, daß ich Ordinand nicht verkaufen kann? Ist dir klar, daß wir bis sonstwohin verschuldet sind? Nein, keineswegs. Du 194
bist doch zu nichts zu gebrauchen. Nicht mal auf ein Kind kannst du aufpassen.« Miranda klappte hinter mir zusammen und sank zu Bo den. Alessia und ich bückten uns, um ihr aufzuhelfen, und ich sagte in Mirandas Ohr: »Menschen, die Angst haben, sind oft zornig und sagen verletzende Dinge. Er hat genau solche Angst wie Sie. Halten Sie sich daran fest.« »Was flüstern Sie da?« wollte Nerrity wissen. »Miranda, steh um Himmels willen auf, du siehst wie ein Wrack aus.« Er starrte mit Mißfallen auf das vergrämte Gesicht und das unordentliche Haar der Mutter seines Sohnes und sagte mit einer winzigen Spur längst fälligen Mitgefühls ungeduldig: »Na komm, steh auf, sie sagen ja, es war nicht deine Schuld.« Sie würde trotzdem immer denken, es sei ihre Schuld gewesen, und er ebenso. Nur wenige begreifen, wie hart näckig, geduldig, erfindungsreich und schnell entschlosse ne Kidnapper sein können. Wen immer sie zu entführen planen, entführen sie. Rightsworth sagte, er wolle Mrs. Nerrity einige Fragen stellen, und geleitete sie zu einem entfernten Sofa, wohin ihr bulliger Mann mit seinem klingenden Glas folgte. Alessia setzte sich in einen Sessel, als trügen ihre Beine sie nicht mehr, und Tony und ich zogen uns an einen Fen sterplatz zurück, um uns leise zu besprechen. »Er …«, Tony zeigte mit dem Kopf in Nerritys Rich tung, »ist hier auf und ab spaziert, hat Löcher in den Scheißteppich gestampft und seine Frau eine dämliche Kuh genannt. Alle möglichen Schimpfwörter. Einige kann te ich nicht mal.« Er grinste wölfisch. »Klar, manchmal bringt’s einen soweit.« »Daß man den Zorn an jemand ausläßt, der nicht zurück schlägt?« »Armes kleines Luder.« 195
»Irgendwelche neuen Forderungen?« fragte ich. »Nichts. Schweigen im Walde. Dieser Sonnyboy Rights worth hat einen Koffer voll Lauschgeräte von den Fern meldetypen mitgebracht, aber mit der Hälfte kam er nicht zurecht, ich bitte dich. Ich hab’ das Telefon selbst ange zapft. Kann nicht mit ansehen, wie Scheißamateure sich einen abbrechen.« »Mir scheint, er mag uns nicht«, sagte ich. »Rightsworth? Verachtet den Boden, auf dem wir ste hen.« »Stimmt es, daß Nerrity das Pferd nicht zu Geld machen kann?« Ich hatte sehr leise gefragt, aber Tony vergewisserte sich erst mit einem Blick, daß weder Nerrity noch Rightsworth die Antwort hören konnten. »Er warf mir das alles an den Kopf, als ich herkam. Scheint, daß sein Scheißgeschäft mies läuft und er, um sich zu retten, den Gaul teilweise verpfändet hat. Kredit darauf aufgenommen, könnte man sagen. Das ganze Donnerwetter rührt vermutlich daher, daß er keine Hoffnung sieht, die nötigen Mittel für sein Bübchen aufzubringen, er hat Mordsschiß und weiß nicht, wie er da raus soll.« »Was hat er über unser Honorar gesagt?« »Bah.« Tony sah mich von der Seite an. »Hat ihn ins Mark getroffen. Er sagt, er kann sich uns nicht leisten. Dann bettelt er, ich solle nicht gehn. Er kommt mit Rightsworth nicht allzugut klar, wen wundert’s? Also steht er da, von allen Seiten bedrängt, und läßt es an seiner bes seren Hälfte aus.« Er blickte zu Miranda hinüber, die wie der weinte. »Anscheinend war sie seine Sekretärin. Das ist ihr Foto hier auf dem Tisch. Sie war toll, da gibt’s nichts.« Ich sah mir das bezaubernde Studioporträt an; ein wun derbar hübsches, zartknochiges Gesicht mit großen Augen und dem Anflug eines Lächelns. Aufgenommen vermut 196
lich kurz vor der Heirat, zum Zeitpunkt ihrer größten An ziehung: bevor das Leben seinen Lauf nahm und die be rauschenden Träume zertrat. »Hast du ihm gesagt, wir würden ihm umsonst helfen?« fragte ich. »Einen Dreck hab’ ich. Ich mag ihn nicht, um ehrlich zu sein.« Wir arbeiteten als Firma manchmal ohne Bezahlung – es kam auf die Umstände an. Alle Teilhaber waren der Mei nung, daß einer in Not geratenen Familie ohne Rücksicht auf Verluste geholfen werden sollte, und keiner von uns tat es ungern. Wir nahmen ohnehin nie genug, um uns zu be reichern, da wir im großen ganzen existierten, um Ausbeu tung zu bekämpfen, nicht, sie zu betreiben. Ein Pauschal honorar plus Spesen, keine Prozente. Unsere Klienten wußten genau, daß der Umfang des Lösegeldes sich in keiner Weise auf unseren Lohn auswirkte. Das Telefon klingelte plötzlich, so daß jeder im Zimmer zusammenfuhr. Sowohl Tony wie Rightsworth bedeuteten Nerrity, ranzugehen, und er ging darauf zu, als wäre es heiß. Ich bemerkte, wie er den Bauch einzog, als seine Muskeln sich strafften, und sah, wie sein Atem flach wur de. Wäre es still im Raum gewesen, hätten wir wohl sogar sein Herz schlagen hören. Bis er endlich die Hand unsi cher nach dem Hörer ausstreckte, hatte Tony das Aufnah megerät laufen und den Verstärker so eingestellt, daß jeder im Zimmer die Worte des Anrufers hören konnte. »Hallo«, sagte Nerrity belegt. »Bist du’s, John?« Es war eine Frauenstimme, hell und unruhig. »Rechnet ihr mit mir?« »Oh.« Miranda sprang verwirrt auf die Füße. »Es ist Mutter. Ich bat sie …« Ihre Stimme verlor sich, als ihr Mann ihr mit dem mörderischen Funkeln zu plötzlich ge löster Spannung den Hörer hinhielt, und es gelang ihr, 197
ihn ihm abzunehmen, ohne daß sie dabei seine Haut be rührte. »Mutter?« sagte sie bebend. »Ja, bitte komm doch. Ich dachte, du wolltest herkommen …« »Mein liebes Kind, du klangst so aufgeregt bei deinem Anruf heute nachmittag. Dann wolltest du mir noch nicht einmal sagen, was los ist! Ich war besorgt. Ich möchte mich bei dir und John nicht einmischen, das weißt du ja.« »Mutter, bitte komm.« »Nein, ich …« John Nerrity riß seiner Frau den Hörer aus der Hand und brüllte praktisch: »Rosemary, komm! Miranda braucht dich. Keine Widerrede. Komm hierher, so schnell du kannst. In Ordnung?« Er knallte verärgert den Hörer auf, und ich fragte mich, ob der meisterhaft herrische Ton nun tatsächlich die Mutter herbeibringen würde oder nicht. Das Telefon klingelte fast sofort noch einmal, und Nerrity, der es sich wütend schnappte, begann: »Rosemary, ich hab’ dir doch gesagt …« »John Nerrity, ja?« sagte eine Stimme. Männlich, laut, aggressiv, drohend. Nicht Rosemary. Mir wurde mulmig. Tony stand vor den Aufzeichnungsgeräten und prüfte die zitternden Nadeln. »Ja«, sagte Nerrity atemlos, aus leeren Lungen. »Hören Sie zu. Gut zu. Sie finden eine Schachtel mit ei nem Tonband vor Ihrem Gartentor. Tun Sie, was es sagt.« Ein scharfes Klicken ertönte, gefolgt vom Wählton, und schon sprach Tony knöpfedrückend mit Leuten, die offen bar Fernmeldetechniker waren. »Haben Sie, wo der zweite Anruf herkam?« Die Antwort lasen wir von seinem Gesicht ab. »Okay«, sagte er resi gniert. »Danke.« Er wandte sich an Nerrity: »Die brauchen 15 Sekunden. Besser als früher. Nur leider wissen das die Ganoven auch.« 198
Nerrity war unterwegs zur Haustür, und gleich darauf hörte man ihn knirschend über den Kies gehen. Alessia sah wirklich sehr zerbrechlich aus. Ich kniete an ihrem Sessel nieder und legte schützend die Arme um sie. »Du könntest in einem anderen Zimmer warten«, sagte ich. »Fernsehen. Ein Buch lesen.« »Du weißt, daß ich das nicht kann.« »Mir tut das alles sehr leid.« Sie warf mir einen raschen Blick zu. »Du wolltest doch, daß ich heim zu Popsy fahre. Es ist meine Schuld, daß ich hier bin. Mir geht’s gut. Ich werde nicht lästig fallen, das verspreche ich.« Sie schluckte. »Es ist so komisch … es von der anderen Seite zu erleben.« »Du bist ein großartiges Mädchen«, sagte ich. »Popsy meinte das zu mir, und sie hat recht.« Sie sah eine Spur weniger verstört aus und legte kurz ih ren Kopf an meine Schulter. »Weißt du, du bist meine Stütze«, sagte sie. »Ohne dich würde alles in sich zusam menfallen.« »Ich bin ja hier«, sagte ich. »Aber es wäre ernstlich am besten, wenn du und Miranda in die Küche gehen und euch etwas Eßbares suchen würdet. Sie soll essen. Iß du auch was. Kohlenhydrate. Kekse, Kuchen – etwas in der Art.« »Macht fett«, sagte sie unwillkürlich; der Jockey in ihr. »Aber im Augenblick für euren Körper am besten. Koh lenhydrate sind ein natürliches Beruhigungsmittel. Daher kommt es, daß unglückliche Leute essen und essen.« »Du weißt wirklich die merkwürdigsten Sachen.« »Und außerdem«, sagte ich, »möchte ich nicht, daß Mi randa hört, was auf dem Tonband ist.« »Oh.« Ihre Augen weiteten sich in der Erinnerung. »Pu cinelli stellte damals das Band ab … damit ich’s nicht hö ren konnte.« 199
»Ja. Es war abscheulich. So wird auch dieses sein. Die ersten Forderungen sind immer die, die am meisten Angst einflößen. Die Drohungen werden auf eine vernichtende Wirkung abzielen. Damit Nerrity jeden, aber auch jeden Betrag schnellstens zahlt, um seinen kleinen Sohn zu ret ten. Also, liebste Alessia, nimm Miranda mit in die Küche und eßt Kuchen.« Sie lächelte ein wenig ängstlich und ging hinüber zu Mi randa, die in Abständen schluchzte und nach Atem rang, sich aber matt bereit erklärte, eine Tasse Tee zu kochen. Die beiden Frauen gingen fort zu ihrem Hafen, und Nerri ty kam knirschenden Schrittes mit einer braunen Papp schachtel zurück. Rightsworth übernahm wichtigtuerisch das Öffnen, in dem er alle anderen bat, beiseite zu treten. Tonys Augen brauen signalisierten Ironie. Rightsworth zog ein Paar durchsichtige Plastikhandschuhe hervor und streifte sie methodisch über, ehe er mit einem Taschenmesser vorsich tig das dicke Klebeband um den Deckel aufschlitzte. Als die Schachtel offen war, lugte Rightsworth erst ins Innere, steckte dann eine Hand hinein und holte den Inhalt heraus: eine Tonbandkassette mit Plastikhülle, wie erwar tet. Nerrity sah sie an, als ob sie beißen würde, und winkte unbestimmt nach einer reich vergoldeten und gepolsterten Wandverkleidung hin, in der ein paar Türen, wie sich zeig te, eine kostspielige Stereoanlage verbargen. Rightsworth fand einen Schlitz für die Kassette, und Nerrity drückte auf die Knöpfe. Die Stimme erfüllte das Zimmer, rauh, gewaltig, kom promißlos. »Jetzt, Nerrity, hör mal gut zu.« Ich machte drei rasche Schritte und stellte den Ton leiser, aus dem einfachen Grund, daß sehr laute Drohungen sich 200
noch schlimmer anhören, als es Drohungen ohnehin sol len. Tony nickte anerkennend, doch Rightsworth war irri tiert. Die Stimme redete weiter, gemäßigter im Volumen, maßlos im Inhalt. »Wir haben Ihren Kleinen gemopst, Nerrity, und wenn Sie Ihren Erben in einem Stück wiederhaben wollen, tun Sie wie ein braver Junge, was Ihnen gesagt wird. Andern falls holen wir unser Messer raus, Nerrity, und schnippeln was ab, um Sie zu überzeugen. Nicht seine Haare, Nerrity. Einen Finger vielleicht. Oder seinen kleinen Hängemann. Den bestimmt. Verstanden, Nerrity? Kein Herumgepfu sche. Wir meinen’s ernst. Sie haben also ein Pferd, Nerrity. Ziemlich was wert, denken wir. Sechs Millionen. Sieben. Verkaufen Sie es, Nerrity. Wie gesagt, wir wollen fünf Mio. Sonst leidet Ihr Kind. Netter Kleiner irgendwie. Sie wollen doch nicht, daß er schreit, oder? Der schreit, wenn wir mit ihm anfangen. Holen Sie sich einen Vollblutagenten. Wir warten eine Woche. Eine Woche, gleich sieben Tage. Heute in sieben Tagen haben Sie das Geld bereit, gebrauchte Scheine, nichts Größeres als Zwanziger. Wir werden Ihnen sagen, wohin damit. Sie tun, was wir Ihnen sagen, sonst ist die Kastration fällig. Wir schicken Ihnen dann ein Band, wie sich das anhört. Ritsch. Ratsch. Zeter. Und bleiben Sie von der Polizei weg. Wenn wir meinen, Sie haben die Schmiere eingeschaltet, wandert Ihr Kind in die Plastiktüte. Endgültig. Sie kriegen keine Leiche zu rück. Nichts. Denken Sie darüber nach. Schön, Nerrity. Das war der Spruch.« Die Stimme brach jäh ab, und eine Minute herrschte be täubtes Schweigen, ehe sich jemand regte. Ich hatte so um die zwanzig Lösegeldforderungen gehört, aber sie immer wieder schockierend gefunden. Nerrity war, wie viele El tern vor ihm, erschüttert. 201
»Die können doch nicht …« Sein Mund war trocken, die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. »Die können«, sagte Tony Vine schlicht. »Aber nicht, wenn wir es richtig anfassen.« »Was haben sie heute nachmittag zu Ihnen gesagt?« fragte ich. »Was ist anders?« Nerrity schluckte. »Das … das Messer. Dieser Teil. Da vor sagte er einfach ›fünf Millionen für Ihren Kleinen‹. Und ich sagte ihm, ich hätte keine fünf Millionen … Er meinte: ›Sie haben ein Pferd, also verkaufen Sie’s.‹ Das war alles. Und keine Polizei, das sagte er auch. Fünf Mil lionen, keine Polizei, sonst würde der Junge sterben. Er sagte, er würde sich wieder melden. Ich schrie ihn an … er legte einfach auf.« Rightsworth nahm die Kassette aus dem Recorder und steckte sie in die Hülle, die er wiederum in die Papp schachtel legte, alles übertrieben sorgfältig mit den Pla stikhandschuhen. Er werde das Band mitnehmen, meinte er. Sie würden Mr. Nerritys Telefon weiter abhören. Sie würden den Fall bearbeiten. Nerrity bat ihn höchst beunruhigt, vorsichtig zu sein; und Bitten fiel einem, der zu tyrannisieren gewohnt war, bestimmt nicht leicht. Rightsworth antwortete überheblich, man werde alle Vorsicht walten lassen, und Tony, sah ich, dachte genau wie ich auch, daß Rightsworth um die Dro hungen etwas zuviel Aufhebens machte und folglich kein eben brillanter Kriminalbeamter war. Als er gegangen war, schenkte sich Nerrity, dessen erste Ängste nachließen, einen weiteren großen Gin Tonic ein, wieder mit Eis und Zitrone. Er pickte das Eis mit einer Zange aus einem Kübel. Tony sah ungläubig zu. »Einen Drink?« fragte er uns nachträglich. Wir schüttelten die Köpfe. »Ich bezahle dieses Lösegeld nicht«, sagte er abwehrend. 202
»Zunächst mal, ich kann’s gar nicht. Das Pferd ist ohnehin zum Verkauf vorgesehen. Es ist vier Jahre alt und soll in die Zucht. Ich brauche mir keinen Agenten zu holen, das läuft alles schon. Einige der Anteile sind bereits verkauft, aber ich werde kaum einen Penny davon sehen. Wie ge sagt, ich habe Geschäftsschulden.« Er nahm einen tiefen Schluck. »Sie können es genausogut wissen, das Pferd be deutet für mich den Unterschied zwischen Zahlungsfähig keit und Bankrott. Ein unerhörtes Glück, der Tag, an dem ich ihn als Jährling kaufte.« Er warf sich selbstgefällig ein wenig in die Brust, und wir konnten beide ahnen, mit wel chem Genuß er so manchen Gin Tonic geschwenkt haben mußte, während er von seinem Glückstreffer erzählte. »Ist denn Ihr Geschäft keine GmbH?« sagte ich. »Wenn Sie die Frage verzeihen.« »Nein, ist es nicht.« »Was haben Sie für ein Geschäft?« fragte Tony beiläufig. »Importe. Großhandel. Eine oder zwei falsche Entschei dungen …« Er zuckte die Achseln. »Zweifelhafte Außen stände. Firmen, die bankrott gehen und mir Geld schulden. Bei dem Umfang meiner Unternehmungen bedarf es keines großen Rückgangs, schon ist der Schaden riesig. Ordinand wird das bereinigen. Für mich in Ordnung bringen. Mir Deckung geben für künftige Geschäfte. Ordinand ist ein echtes Wunder.« Er ließ in einer zornigen Geste die freie Hand niederfahren. »Ich will verflucht sein, wenn ich für diese dreckigen Kidnapper mein ganzes Leben fortwerfe.« Es war heraus, dachte ich. Er hatte ausgesprochen, was seit Mirandas Anruf an ihm genagt hatte. Er liebte seinen Sohn nicht genug, um das Opfer zu bringen. »Wieviel ist Ordinand wert?« fragte Tony nüchtern. »Die liegen richtig. Sechs Millionen, mit etwas Glück. Vierzig Anteile zu je hundertfünfzigtausend Pfund.« Er trank, das Eis klirrte. 203
»Und wieviel brauchen Sie, um Ihre Geschäfte in Ord nung zu bringen?« »Das ist eine verdammt persönliche Frage!« Tony sagte geduldig: »Wenn wir für Sie vermitteln sol len, müssen wir wissen, was überhaupt möglich ist und was nicht.« Nerrity schaute finster auf seine Zitronenschale, sagte dann aber: »Mit viereinhalb etwa bleibe ich solvent. Bei fünf wäre ich schuldenfrei. Sechs gäben eine gesunde Grundlage für die Zukunft.« Tony blickte sich in dem überfeudalen Zimmer um. »Was ist mit dem Haus?« Nerrity sah ihn an, als wäre er in Finanzdingen ein Baby. »Jeder Stein belastet«, sagte er kurz. »Sonstige Vermögenswerte?« »Hätte ich irgendwelche anderen Vermögenswerte, die hätte ich inzwischen zu Geld gemacht.« Tony und ich tauschten Blicke aus, dann sagte Tony: »Ich denke, wir könnten Ihr Kind für unter eine halbe Mil lion zurückbekommen. Wir werden natürlich auf weniger hinzielen. Erstes Angebot hunderttausend. Von da aus se hen wir dann weiter.« »Aber die wollen doch … das lassen die …« Nerrity verhaspelte sich. »Am besten wäre es«, sagte ich, »Sie würden sich auf die Wirtschaftsseiten der Zeitungen bringen. Posaunen Sie in die Welt hinaus, daß nichts über einen Derbysieger geht, wenn man die Gerichtsvollzieher fernhalten will.« »Aber …« »Ja«, unterbrach ich ihn. »Es ist normalerweise vielleicht nicht gut fürs Geschäft. Aber Ihre Gläubiger werden sicher sein, daß sie ihr Geld bekommen, und die Kidnapper, daß sie es nicht bekommen. Bei der nächsten Kontaktaufnah me werden sie weniger fordern. Wenn sie erst mal ge 204
schluckt haben, daß ihr Ertrag gegenüber der ersten Forde rung relativ klein ausfallen wird, dann geben sie sich da mit zufrieden. Besser als nichts, so ungefähr.« »Aber sie werden Dominic etwas antun …« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist ziemlich unwahr scheinlich; nicht, wenn sie sicher sind, daß sie am Schluß einen Gewinn herausschlagen. Dominic ist ihre einzige Garantie für diesen Gewinn. Dominic, lebendig und ge sund. Die werden ihren Aktivposten weder vernichten noch in irgendeiner Weise beschädigen, wenn sie davon überzeugt sind, daß Sie bezahlen, was Sie können. Sorgen Sie also, wenn Sie mit der Presse reden, dafür, daß man begreift – und druckt –, daß ein Überschuß bleibt, nach dem Ordinand verkauft ist. Sagen Sie, das Pferd werde al le Ihre Schulden tilgen und noch so einiges.« »Aber …«, sagte er wieder. »Falls Sie Schwierigkeiten haben sollten, an die Wirt schaftsredakteure heranzukommen, können wir das für Sie übernehmen«, sagte ich. Er blickte von Tony zu mir, unsicher wie ein Komman deur, der nicht mehr den Befehl führt. »Würden Sie das tun?« fragte er. Wir nickten. »Ohne weiteres.« »Andrew erledigt das«, sagte Tony. »Er kennt die Londo ner Geschäftswelt. Hat seine Krallen bei Lloyds geschärft, unser Guter hier.« Weder er noch ich erklärten, wie niedrig meine Stellung dort gewesen war. »Sehr elegant, unser An drew, in seinem Geschäftsanzug«, führte Tony aus. Nerrity musterte mich von oben bis unten. Ich hatte mei nen Schlips nicht wieder umgebunden, wenn auch längst meine Hosenbeine heruntergekrempelt. »Er ist jung«, meinte er geringschätzig. Tony lachte leise. »So alt wie die Pyramiden«, sagte er. »Wir holen Ihr Kerlchen wieder, haben Sie keine Bange.« 205
Nerrity sagte unbehaglich: »Es ist nicht so, daß ich den Jungen nicht mag. Natürlich mag ich ihn.« Er zögerte. »Ich sehe ihn nicht viel. Morgens fünf Minuten. Er liegt im Bett, wenn ich nach Hause komme. An Wochenenden … arbeite ich, besuche Rennen, gehe aus mit Geschäfts freunden. Hab’ nicht viel Zeit herumzufaulenzen.« Auch nicht viel Neigung, diagnostizierte ich. »Miranda ist in ihn vernarrt«, sagte er, als ob das keine Tugend wäre. »Da sollte man doch meinen, sie könnte ihn fünf Minuten im Auge behalten, was? Ich verstehe nicht, wie sie derart dumm sein konnte.« Ich versuchte ihm das Zielbewußtsein, die absolute Ent schlossenheit von Entführern auseinanderzusetzen, aber scheinbar ohne Wirkung. »Es war in erster Linie ihre Idee, das Kind zu bekom men«, murrte Nerrity weiter. »Ich sagte ihr, sie würde sich die Figur verderben. Nein, sie blieb dabei, sie sei einsam. Sie wußte doch, wie mein Leben ist. Sie kannte es doch, bevor sie mich geheiratet hat, oder nicht?« Von der anderen Seite, dachte ich. Vom Büro her, wo sein Leben äußerst intensiv und ihres tätig und erfüllt war. »Jedenfalls, wir schafften uns das Kind an.« Er machte wieder eine deutlich frustrierte Gebärde. »Und jetzt … das.« Mirandas Mutter traf in diesem Moment ein, was uns sehr gelegen kam, und kurz darauf setzte ich Alessia in meinen Wagen und sprach leise mit Tony im Garten. »Morgen«, sagte ich, »Donnerstag. Wittering ist ein Seebad. Gut möglich, daß da morgen dieselben Leute am Strand sind wie heute, meinst du nicht?« »Wird der Kommissar in Chichester da mitmachen?« »Ja, bestimmt.« »Ich hätte nichts dagegen, auch mal einen Tag auf den Scheißkieseln zu sitzen.« 206
»Morgens ist Ebbe«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn du Eagler das Zeug mit der Bahn bringst und wir zusammen eine Runde rudern, sobald ich die City-Presse eingespannt habe?« Er nickte. »Dann sehen wir uns im Breakwater Hotel?« »Ja. Sag am Empfang, wir übernehmen Mirandas Zim mer. Sie hat bis Samstag gebucht. Sag ihnen, der Junge sei krank, sie habe ihn nach Hause bringen müssen. Wir seien ihre Brüder, wir wollten ihre Kleider und ihren Wagen ab holen … und ihre Rechnung bezahlen.« »Ich weiß nicht, wenn wir zu lange im Breakwater her umhängen, ob das viel nützt.« Ich grinste in der Dunkelheit. »Jedenfalls befreit’s vom Telefondienst.« »Du bist ein Scheißschlitzohr, ich hab’s immer gewußt.« Er verschwand geräuschlos in den Schatten, um zu sei nem entfernt geparkten Wagen zu gehen, und ich stieg ne ben Alessia ein und startete in Richtung Lambourn. Ich fragte Alessia, ob sie Hunger habe und irgendwo zu Abend essen wolle, aber sie schüttelte den Kopf: »Miranda und ich haben Cornflakes und Toast gefuttert, bis uns das Zeug zu den Ohren rauskam. Und du hattest recht, sie wirkte ein bißchen ruhiger, als wir gingen … Aber wenn ich an den Jungen denke … so allein, ohne seine Mutter … das halte ich nicht aus.« Ich verwandte den nächsten Morgen darauf, in der Fleet Street diverse Wirtschaftsredakteure zur Verschwiegenheit zu verpflichten und ihre Mithilfe zu gewinnen, und fuhr dann hinunter nach West Wittering. Von den letzten drei ßig Stunden, überlegte ich dabei, hatte ich mindestens zwölf hinterm Lenkrad zugebracht. Als ich in Jeans und Polohemd im Breakwater eintraf, sah ich, daß Tony sich bereits angemeldet und mir die 207
Nachricht hinterlassen hatte, er sei draußen am Strand. Dort fand ich ihn, da er in der Badehose auf einem knall bunten Handtuch hockte und eine Menge eindrucksvoller Muskeln zur Schau stellte, sehr schnell. Ich breitete mein Handtuch neben ihm aus und beobachtete eine Weile das Kommen und Gehen am Strand. »Dein Eagler hatte schon dieselbe Idee«, sagte Tony. »Die Hälfte von den Urlaubern auf diesem Streifen Sand sind Scheißzivile, die die andere Hälfte ausfragen. Sie sind seit dem Frühstück hier unten.« Es stellte sich heraus, daß Tony mit Eagler sehr gut klar gekommen war. Tony fand, er habe »scheißkonstruktive Ide en«, was höchste Anerkennung aus seinem Mund bedeutete. »Eagler hat auch schon spitz, wie das Dingi in Brand gesetzt wurde. Und höre und staune, das Dingi war gestohlen.« Ein paar Kinder buddelten eine neue Sandburg, wo die von Dominic durch die Flut ausgelöscht worden war. »Ein kleines Mädchen so um die acht gab Miranda den Entführerbrief«, sagte ich. »Wetten, daß sie noch hier ist?« Ohne direkt zu antworten, stand Tony auf und sprang hinunter zum Sandstrand, wo er bald zwei flinken Leuten, die einen Fußball kickten, guten Tag sagte. »Sie werden sie suchen«, sagte er, als er wiederkam. »Sie haben schon viele gefunden, die das Boot gesehen haben. Auch einige, die sahen, wer es dagelassen hat. Der mit den grünen Shorts hat eine Kopie von Giuseppe in der Tasche, hatte damit bisher aber kein Glück.« Die beiden Jungen, die mir geholfen hatten, das Boot der Flut zu entreißen, kamen vorbei, erkannten mich und grüß ten. »Na, ihr«, sagte ich. »Das Boot, oder was davon übrig war, ist weg, wie ich sehe.« Einer von ihnen nickte. »Wir sind hier nach dem Abend brot noch mal langgezischt, und da haben zwei Fischer 208
typen es auf einen Lieferwagen raufgekurbelt. Sie wußten nicht, wem es gehört. Sie sagten, sie müßten es für die Kü stenwache auf einen Schrottplatz in Itchenor bringen.« »Wohnt ihr hier?« fragte ich. Sie schüttelten die Köpfe. »Wir haben da drüben für den August ein Haus gemietet.« Einer von ihnen wies nach Osten, den Strand entlang. »Wir kommen jedes Jahr. Es gefällt Ma und Papa.« »Ihr seid Brüder?« fragte ich. »Zwillinge sogar. Aber zweieiige, wie man sieht.« Sie hoben ein paar Steine auf, mit denen sie sich an einer leeren Coladose im Zielwerfen übten, und zogen bald wieder ab. »Bringt dich auf neue Gedanken, was?« bemerkte Tony. »Ja.« »Eagler wollte uns gegen fünf sowieso sprechen«, sagte er. »Im Café zum Silbernen Segel, in dem Nest, das der Junge erwähnt hat. Itchenor. Klingt wie eine dreckige schleichende Krankheit.« Der Fußballspieler in den grünen Shorts sprach bald dar auf ein kleines Mädchen an, dessen Mutter besorgt herbei geeilt kam und das Nesthäkchen schützend von dannen führte. »Macht auch nichts«, meinte Tony. »Die umwerfende Person da drüben in dem rosa Bikini ist eine Polizistin. Was wetten wir, daß Grünshorts mit ihr redet, ehe du bis zwei gezählt hast?« »Nicht einen Kiesel«, sagte ich. Wir sahen zu, wie Grünshorts mit rosa Bikini ins Ge spräch kam. »Hübsch gemacht«, sagte Tony anerkennend. »Sehr natürlich.« Das Mädchen im rosa Bikini hörte auf, ausschließlich nach Muscheln zu suchen, sondern sah sich außerdem noch 209
nach kleinen Mädchen um, und ich zog mein Hemd aus und begann einen zart krebsroten Farbton anzunehmen. Nichts Dramatisches geschah am Strand. Der Nachmit tag blieb heiß bis zur Teezeit. Die Fußballspieler gingen über die Wellenbrecher davon, und der rosa Bikini ging schwimmen. Tony und ich standen auf, reckten uns, schüt telten und falteten unsere Handtücher zusammen, und in guter Urlaubermanier stieg ich in meinen Wagen und fuhr uns westwärts nach Itchenor. Eagler, unauffällig in einem Hemd mit offenem Kragen, ausgebeulter, grauer Flanellhose und schmuddeligen Ten nisschuhen, trank Tee im Silbernen Segel und schrieb eine Ansichtskarte. »Dürfen wir uns dazugesellen?« fragte ich höflich. »Nur zu, Jungs, setzt euch.« Es war ein gewöhnliches Café: Saucenflaschen auf den Tischen, gemalte Segelboote rings an den Wänden, brau ner Fliesenfußboden, Plastikklappstühle in Blau. Ein Schild an der Kasse verhieß »Die besten Kartoffelchips an der Küste«, und eine gewisse warme Öligkeit in der Luft zeugte wohl von deren Beliebtheit. »Meine Beamtin hat Ihr kleines Mädchen gefunden«, sagte Eagler und klebte eine Marke auf die Postkarte. »Sie heißt Sharon Weller, ist sieben, wohnt noch bis Samstag in einer Pension. Sie konnte den Mann nicht beschreiben, der sie gebeten hatte, den Brief zu übergeben. Sie sagt, er hat ihr ein paar Fruchtbonbons geschenkt, und jetzt hat sie Angst, weil ihre Mutter sie immer ermahnt, sie solle von Fremden keine Süßigkeiten annehmen.« »Konnte sie sagen, ob er alt oder jung war?« fragte ich. »Jeder über zwanzig ist alt für eine Siebenjährige«, ant wortete Eagler. »Sie sagte meiner Beamtin aber, wo sie wohnt, also fragen wir vielleicht noch mal.« Er warf uns einen Blick zu. »Ist Ihnen noch was eingefallen?« 210
»Ja«, sagte Tony. »Entführer bringen ihre Opfer oft nicht sehr weit weg vom Ort des Überfalls. Vermindert das Ri siko.« »In Ferienorten«, tippte ich an, »ist oft die Hälfte der Häuser zu vermieten.« Eagler spielte ziellos mit seinem Teelöffel. »Tausende«, meinte er trocken. »Aber eins davon könnte irgendwann letzte Woche ge mietet worden sein.« Wir warteten, und nach einiger Zeit nickte er. »Wir übernehmen die Beinarbeit. Fragen Reisebüros, Grund stücksmakler, Lokalzeitungen.« Er hielt inne und setzte ohne Nachdruck hinzu: »Der Junge ist vielleicht in einem Boot weggebracht worden.« Tony und ich spitzten die Ohren. »Es war ein Motorboot dort«, sagte Eagler. »So ein Schepperkahn, den man stundenweise mieten kann. Meine Beamten haben erfahren, daß, als das Dingi Feuer fing, dieses andere Boot da im Seichten herumgeschaukelt ist und keiner drinsaß, aber ein Mann, der knietief im Wasser stand, hielt sich an seinem Bug fest. Dann, sagten unsere Informanten, ging plötzlich mit einem Zischen das Dingi in Flammen auf, und alle sind natürlich zu ihm hingerannt. Unsere Informanten sagten, danach sei das Motorboot ver schwunden gewesen, was sie für ganz normal hielten, da wahrscheinlich seine Zeit um war.« Er sah uns gleichgül tig an, doch ein befriedigtes Lächeln lag erkennbar dahin ter. »Wer waren Ihre Informanten?« fragte ich. Das Lächeln kam fast an die Oberfläche. »Ein zehnjähri ger Kanalgräber und seine Großmutter.« »Sehr zuverlässig«, sagte ich. »Das Boot war blau, in Klinkerbauart, mit einer weißen Siebzehn an Bug und Heck.« 211
»Und der Mann?« »Der Mann war ein Mann. Sie fanden das Boot interes santer.« Er machte wieder eine Pause. »Es gibt einen Liegeplatz hier in Itchenor, wo man solche Boote mieten kann. Be dauerlicherweise haben sie nur zehn. Sie haben noch nie eins mit einer Siebzehn gehabt.« »Aber wer kennt es?« warf Tony ein. »Suchen wir ein Haus mit einem Bootsschuppen«, mur melte ich. Eagler meinte gutmütig: »Es würde auch nichts schaden, den Kleinen zu finden, oder?« »Wenn die merken, daß jemand spioniert, sind sie im Nu weg«, sagte ich, »und es wäre gefährlich für den Jungen.« Eagler kniff leicht die Augen zusammen, als er unsere Besorgnis sah. »Wir gehen die Agenturen durch«, sagte er. »Wenn wir auf dem Papier etwas Entsprechendes aufstö bern, werden wir es nicht umstellen, ohne Ihnen vorher Bescheid zu geben. Was halten Sie davon?« Wir schüttelten die Köpfe. »Es ist besser, Razzien und Belagerungen nach Mög lichkeit zu vermeiden«, sagte ich. Tony sagte zu Eagler: »Wenn Sie ein Haus, das in Frage kommt, auf dem Papier finden, lassen Sie es mich aus kundschaften. Ich habe alle möglichen Erfahrungen auf dem Gebiet. Ich werde Ihnen sagen, ob das Kind dort ist. Und wenn es da ist, hole ich es raus.«
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m Breakwater Hotel gab man mir eine Nachricht vom Büro, ich möchte dringend Alessia anrufen, was ich auch tat. »Miranda ist außer sich … völlig fertig«, sagte sie und klang selbst dabei nicht nur mitfühlend, sondern fast bis zum Zerreißen gespannt. »Es ist schrecklich … Sie hat mich dreimal angerufen, fürchterlich geheult und gebettelt, ich soll sehen, daß du etwas unternimmst …« »Liebe Alessia«, sagte ich. »Hol dreimal tief Luft und setz dich hin, falls du stehst.« »Oh …« Ihrem erstaunten Räuspern fehlte es nicht an Humor, und nach einer Pause meinte sie: »Na gut. Ich sit ze. Miranda hat furchtbare Angst. Ist es so besser?« »Ja«, sagte ich, halb lächelnd. »Was ist passiert?« »Kommissar Rightsworth und John Nerrity hecken einen Plan aus und wollen auf Miranda nicht hören, aber sie will sie unbedingt zurückhalten. Sie möchte, daß du ihnen klarmachst, daß es nicht geht.« Ihre Stimme war immer noch schrill und besorgt, sie stieß die Sätze rasch hervor. »Worin besteht der Plan?« fragte ich. »John soll so tun, als ob er den Entführern gehorcht. So tun, als ob er das Geld beschafft. Wenn das vermeintliche Lösegeld dann überbracht wird, will Kommissar Rights worth sich auf die Entführer stürzen und aus ihnen heraus pressen, wo Dominic ist.« Sie schluckte vernehmlich. »Das ging doch bei mir in Bologna … damals schief … nicht wahr?« »Ja«, sagte ich. »Ein Hinterhalt beim R.V. ist für meine Begriffe ein zu hohes Risiko.« 213
»Was heißt denn R.V?« »Entschuldige. Rendezvous. Der Ort der Übergabe.« »Miranda sagt, John will das Lösegeld nicht zahlen, und Kommissar Rightsworth redet ihm ein, er könne unbesorgt sein, er brauche es auch nicht.« »Mm«, sagte ich. »Nun, ich verstehe, weshalb Miranda sich aufregt. Hat sie von ihrem Apparat zu Hause angeru fen?« »Bitte? Ach Gott, der ist ja angezapft, was? Die Polizei hört jedes Wort mit?« »Allerdings«, sagte ich trocken. »Sie war oben in ihrem Zimmer. Da hat sie wohl nicht dran gedacht. Und, Himmel … sie sagte, John tue es leid, daß er Liberty Market eingeschaltet hat, weil ihr ihm gera ten habt zu bezahlen. Kommissar Rightsworth hat ihm versichert, die Polizei könne sich um alles kümmern; es sei nicht nötig, daß andere ihren Senf dazugeben.« Die Wendung klang original nach Rightsworth. »Miranda glaubt, daß John die Hilfe von Liberty Market nicht weiter in Anspruch nehmen will. Er hält es für raus geworfenes Geld … und Miranda dreht fast durch.« »Mm«, sagte ich. »Wenn sie dich wieder anruft, erinnere sie möglichst daran, daß das Telefon abgehört wird. Wenn sie vernünftig ist, spricht sie dann von woanders, und du kannst ihr zusichern, daß wir unser Bestes tun werden, um ihren Mann umzustimmen.« »Aber wie denn?« fragte Alessia verzweifelt. »Vermutlich, indem wir ihm von unserem Präsidenten eine Heidenangst einjagen lassen«, erwiderte ich. »Und das habe ich nie gesagt. Es bleibt unter uns.« »Ob es aber nützt?« meinte Alessia zweifelnd. »Außerdem gibt es auch Leute, die Rightsworth zurück pfeifen können.« »Ja, wahrscheinlich.« Das gefiel ihr offenbar schon besser. 214
»Soll ich Miranda bitten, dich direkt in eurem Büro an zurufen?« »Nein«, sagte ich. »Ich bin noch unterwegs. Wenn du von ihr hörst, hinterlaß wieder eine Nachricht, daß ich dich anrufen soll, und ich melde mich.« »In Ordnung.« Sie klang müde. »Ich konnte den ganzen Tag an nichts anderes denken. Arme Miranda. Armer, ar mer kleiner Kerl. Ich habe bis jetzt nie richtig begriffen, was Papa meinetwegen durchgemacht hat.« »Wegen deiner Entführer«, verbesserte ich, »und aus Liebe zu dir, ja.« Nach einer Pause antwortete sie: »Du sagst es mir immer wieder – ich soll mich nicht schuldig fühlen.« »Ganz recht. Nicht schuldiger als Dominic.« »Es ist nicht leicht …« »Nein«, stimmte ich zu. »Aber wichtig.« Sie fragte, ob ich am Sonntag zum Lunch kommen wür de, und ich sagte, ja, wenn möglich, aber zählen solle sie nicht darauf. »Ihr holt ihn doch lebend zurück, nicht wahr?« fragte sie abschließend, noch immer voller Unruhe; und ich sagte »Ja« und meinte es ernst. »Also, Wiedersehn …« »Wiedersehn. Und grüß mir Popsy.« Liberty Market, sinnierte ich, als ich den Hörer auflegte, hatte vielleicht eine Erfolgsrate von glatten fünfundneun zig Prozent, doch John Nerrity schien gefährlich auf die anderen tragischen fünf hinzusteuern. Vielleicht glaubte er wirklich, vielleicht glaubte sogar Rightsworth, daß ein Hinterhalt bei der Übergabe die besten Ergebnisse bringt. Und das stimmte auch, wenn die Festnahme eines Teils der Entführer das vorrangige Ziel war. Es hatte allerdings einen Fall in Florida gegeben, bei dem die Polizei dem Mann, der das Lösegeld abholte, auf 215
lauerte und ihn niederschoß, als er die Flucht ergriff; und nur, weil der Verwundete sich wenige Sekunden, bevor er in ein endgültiges Koma fiel, erweichen ließ, den Aufent halt des Opfers zu verraten, wurde der Junge noch lebend gefunden. Er lag im Kofferraum eines abgestellten Wagens und wäre langsam erstickt, wenn die Polizei noch etwas besser geschossen hätte. Ich erzählte Tony von Nerritys Plänen, und er meinte an gewidert: »Was ist das, ein Scheißoptimist?« Er biß sich auf den Daumennagel. »Wir müssen den Kleinen finden, stimmt’s?« »Bei Gott.« »Immerhin sind in diesem Land die Chancen dafür bes ser als sonstwo.« Ich nickte. Unter Völkern mit einem ausgeprägten Sinn für Fair play wie dem britischen sind Kidnapper im Nach teil. Ihr Verbrechen wird verabscheut, nicht toleriert, und die Bevölkerung hat keine Angst, sie anzuzeigen. Wenn das Opfer erst sicher zu Hause ist, bewährt die Verfol gungs- und Fangmaschinerie sich oft ausgezeichnet. Das Versteck vor der Auszahlung zu finden ist in Eng land leichter als in Italien, allerdings immer noch entmuti gend schwer, und die meisten Erfolge auf diesem Gebiet ergeben sich eher zufällig, dank neugieriger Nachbarn oder weil sich erraten läßt, wer die Entführung begangen hat, da sie unweigerlich eine genaue Kenntnis vom Privat leben des Opfers voraussetzt. »Niemand wußte, daß meine Tochter dort tanzen gehen würde, außer ihrem Freund«, sagte ein kummervoller Vater einmal zu uns; und tatsächlich hatte ihr scheinbar untröstli cher Freund die Lösegelderpressung geplant – ohne das Wissen des Mädchens, was nicht immer der Fall war. Ab sprache mit dem Opfer mußte man jedes Mal wieder in Be tracht ziehen, sonst verkannte man die menschliche Hab 216
gier. In diesem Fall war das Mädchen gefunden und befreit worden, ohne daß ein Lösegeld bezahlt werden mußte, doch sie hatte eine schlimmere Gefangenschaft erlebt als Alessia, und nach dem, was ich zuletzt gehört hatte, war sie wegen anhaltender schwerer Depression in Behandlung. »Ich werde noch ein bißchen bei den Booten herumlat schen«, sagte Tony. »Leih mir deinen Wagen. Du kannst Mirandas nehmen, wenn es sein muß. Hast du was dage gen, wenn ich nachher heimfahre, um einige Klamotten zu holen? Wir sehen uns beim Scheißfrühstück.« »Fahr ihn nicht zu Bruch«, sagte ich und gab ihm die Schlüssel. »Na, hör mal.« Ich verbrachte den Abend damit, das sehr annehmbare Dinner im Hotel zu essen und Mirandas Habseligkeiten zu packen. Dominics Kleider füllten stumm und zusammen gefaltet einen hübschen kleinen Koffer. Ich legte seine Ku scheltiere, einen Teddy und einen Snoopy, mit hinein und schloß den Deckel. Ich dachte an ihn, so wehrlos, so ver schreckt, und wußte, daß wegen Menschen wie ihm und Alessia der Beruf, den ich ausübte, ein Beruf fürs Leben war. Im Hinblick auf John Nerritys Sinneswandel konnte ich mir denken, daß er nicht allzu erfreut sein würde über die Finanzseiten der Morgenzeitungen, da ihm die Wirt schaftsredakteure große Ehre erwiesen. Das Wort »Nerri ty« prangte in dicken schwarzen Lettern auf jeder Zeitung, der ich einen Besuch abgestattet hatte, größtenteils solche, von denen ich annahm, daß der Schreiber des Entführer briefes sie lesen würde. »Nerrity gerade noch aus dem Schneider«, »Nerritys Gaul springt bei«, »Nerrity durch Hengst wieder flott«, schrieben sie, und »Nerrity mit knapper Kopflänge sol 217
vent«. Für Kidnapper, die nervös die Presse nach Anzei chen von Polizeiaktivitäten durchforsteten, war die schlech te Nachricht nicht zu verfehlen. Gläubiger hatten die Ordi nand-Erträge im Visier, und für andere Haie würde herzlich wenig übrigbleiben. Eagler rief mich in Mirandas Zimmer an, während ich noch las. »Diese Zeitungen … ist das Ihr Werk?« fragte er. »Äh, ja.« Er lachte leise. »Dachte ich mir doch, daß ich die feine Handschrift kenne. Also, alter Junge, wir sind dabei, die Anzeigen in den Lokalblättern von vor ein bis zwei Wo chen abzugrasen, und wir checken sämtliche zu vermie tenden Grundstücke durch. Eine Teilliste können wir Ih nen heute schon geben.« Er zögerte. »Nun setze ich eine Menge Vertrauen in Ihren Freund Tony Vine, da möchte ich sicher sein, daß es nicht unangebracht ist.« »Er war bei der S.A.S.«, sagte ich. »Sergeant.« »Aha.« Er klang erleichtert. »Er arbeitet vorzugsweise nachts.« »Wirklich?« Eagler schnurrte fast. »Bis zum Spätnach mittag müßte ich ein einigermaßen vollständiges Ver zeichnis für Sie haben. Holen Sie es ab?« Wir vereinbarten Zeit und Ort und legten auf; als ich dann zum Frühstück nach unten ging, kam Tony gähnend durch die Eingangstür. Bei Speck, Eiern und Kippers berichtete er, was er her ausgefunden hatte. »Wußtest du, daß es hier ein ganzes Binnenwassersystem hinter der Küste gibt? Die ItchenorBucht geht bis nach Chichester. Aber ein Stück weiter oben ist eine Schleuse, und da sind unsere Brüder nicht durch.« Er kaute. »Ich habe ein Ruderboot gemietet. Ein bißchen herumgeschnüffelt. Scheint, das ist eine Scheiß nadel im Heuhaufen, die wir da suchen. Es gibt Dutzende, Hunderte von in Frage kommenden Häusern. Ferienwoh 218
nungen, Chalets. Was du nur willst. Und obendrein liegt vor der Küste eine Insel namens Hayling, wo noch Tau sende kleiner Bungalows stehen, und es gibt unzählige Stellen, wo ein Wagen das Boot abpassen und den Kleinen hätte überallhin bringen können.« Ich aß trübselig Toast und erzählte ihm von Eaglers zu erwartender Liste. »Geht in Ordnung«, sagte Tony. »Ich schwimme heute morgen, schlafe heute nachmittag, arbeite heute nacht, okay?« Ich nickte und gab ihm eine der Zeitungen. Tony las den Finanzteil über den Rand seiner Teetasse hinweg. »Du hast ins Schwarze getroffen. Das entgeht ja wohl niemand.« Nerrity selbst war es sicher nicht entgangen. Gerry Clay ton rief an, um uns auszurichten, er sei wütend und beste he darauf, daß wir den Auftrag fallen ließen. Er wolle nichts mehr mit Liberty Market zu tun haben. »Er gab zu, daß er zugestimmt hatte, die Story in die Zeitungen zu bringen«, sagte Gerry. »Aber er dachte nicht, daß es so schnell gehen würde, und er hatte vor, es rück gängig zu machen.« »So ein Pech.« »Ja. Offiziell könnt ihr also Schluß machen und nach Hause kommen.« »Nein«, sagte ich. »Wir arbeiten jetzt für Mrs. Nerrity. Sie bat uns ausdrücklich, am Ball zu bleiben.« In Gerrys Stimme klang ein Lächeln. »Ich dachte mir schon, daß ihr darauf verfallen würdet, aber es kompliziert die ganze Angelegenheit. Paßt auf, ihr beiden.« »Jaja«, sagte ich. »Fältel du dein Papier. Versuch mal ein Boot.« »Boot?« »Ein Boot, in das man einen kleinen Jungen stößt, damit man eine Persenning oder ähnliches über ihn werfen kann, 219
ein Boot, mit dem man lärmend durch die Wellen davon tuckern kann, ohne daß jemand ihn schreien hört.« »Ist das so abgelaufen?« fragte Gerry nüchtern. »Nehmen wir an.« »Armer kleiner Kerl«, sagte Gerry. Tony und ich verbrachten in echter Urlaubermanier den Morgen im, oder am Wasser, obwohl der Tag nicht so warm und der Strand nicht so ergiebig bevölkert war. Die Polizistin, jetzt in einem weißen Bikini, kam und planschte mit uns im seichten Wasser herum, berichtete aber, sie ha be niemand finden können, der gesehen habe, wie Domi nic verschleppt wurde. »Jeder einzelne scheint auf das Dingi geschaut zu haben«, meinte sie empört. »Und dar über wissen wir nichts weiter, als daß es auf dem Sand festlag, als die Flut auslief, und ein großer Zettel drankleb te, auf dem stand: ›Bitte das Boot nicht anrühren, wir sind bald zurück.‹« »Hat nicht jemand gesehen, wer es dagelassen hat?« fragte ich. »Doch, aber das war ein kleiner Junge, der auf dem Kiesstrand spielte, und er konnte nur sagen, daß zwei Männer in Shorts und leuchtend orangen wasserdichten Segeljacken das Dingi ein Stück auf den Sand heraufgezo gen haben, eine Weile drumherum beschäftigt waren und dann am Strand lang in nordöstlicher Richtung abgezogen sind. Der Junge ging kurz darauf runter zu dem Dingi und las den Zettel, und anschließend ging er sich ein Eis holen. Am Nachmittag, als es in Flammen aufging, war er zu sei ner großen Empörung nicht hier. Es war schwarz und ver kohlt, als er wiederkam.« Die Polizistin bibberte in der aufkommenden Brise und lief eine Spur blau an. »Zeit für’n Pullover und dicke Sok ken«, meinte sie vergnügt. »Und ich könnte auch gleich noch mit den alten Damen plaudern, die da drüben im Ha 220
fenruh-Altenheim wohnen.« Sie deutete. »Die haben nichts zu tun, als aus dem Fenster zu schauen.« Tony und ich nahmen unsere Siebensachen und begaben uns in den Schutz des Hotels, und am Nachmittag, wäh rend die Wolkendecke sich verdichtete, schlief er ungestört in Mirandas Bett. Um fünf fuhr ich nach Chichester, um mir die Häuser liste von Eagler zu holen. Unscheinbar und lässig kam er selbst zu mir heraus und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Die oberen elf sind die vielversprechendsten«, sagte er und wies darauf. »Wir haben sie von allen Agenturen ge holt, die uns einfielen. Es sind lauter Ferienhäuser am oder nicht weit vom Wasser, und alle wurden erst in letzter Mi nute gemietet. Im Juli und Anfang August war das Wetter so schlecht, daß mehr Grundstücke als üblich frei blieben, und als es dann wärmer wurde, stieg die Nachfrage stür misch.« Ich nickte. »Auch Miranda hat sich nur wenige Tage vorher entschieden, hierher zu fahren. Das Hotel hatte Ab bestellungen wegen des Wetters und konnte sie aufneh men.« »Was wäre wohl geschehen, wenn sie nicht gefahren wä re?« sagte Eagler nachdenklich. »Sie hätten ihn zu Hause kassiert.« »Eigentlich müßten sie’s doch für einfacher gehalten ha ben, zu warten, bis er wieder dort war.« »Entführer machen es sich niemals leicht«, wandte ich ein. »Sie planen bis ins letzte Detail. Sie geben Geld aus. Sie sind besessen. Bei einer Entführung bleibt nichts dem Zu fall überlassen. Die Entführer mußten eine gute Erfolgs chance sehen, solange das Kind hier allein unter der Auf sicht seiner Mutter war, und ich wette, nachdem sie es durchgeplant hatten, haben sie Tag für Tag auf den richti 221
gen Moment gewartet. Hätte er sich nicht ergeben, wären sie Miranda nach Hause gefolgt und hätten einen neuen Plan gefaßt. Oder wären vielleicht auf einen früheren zu rückgekommen, der bis dahin keine Früchte getragen hat te. Man weiß es nie. Aber wenn sie ihn haben wollten, hät ten sie ihn irgendwann gekriegt.« »Woher wußten sie, daß sie hierher wollte?« fragte Eag ler. »Kidnapper beobachten«, sagte ich. »Auch davon sind sie besessen. Zu welchem Schluß würden Sie denn kom men, wenn Sie sähen, daß Miranda Koffer und einen Strandstuhl in ihren Wagen lädt, Dominic auf seinen Sitz schnallt und winkend losfährt?« »Hm.« »Sie würden hinterherfahren«, sagte ich. »Wahrscheinlich.« »Hinter Miranda in ihrem hübschen roten Wagen, die ein mäßiges Tempo vorlegt, wie es Mütter eben tun, wenn sie ihre Kinder auf dem Rücksitz haben.« »Stimmt schon«, sagte er. Er setzte sich um. »Jedenfalls, die nächste Serie von Häusern auf der Liste sind alle min destens eine Straße vom Wasser entfernt, und der letzte Schwung ist weiter im Inland, aber immer noch in den Küstendörfern. Darüber hinaus …«, er hielt zweifelnd in ne. »Dieser ganze Teil von Sussex ist ein einziges großes Feriengebiet.« »Wir versuchen es hiermit«, sagte ich. »Ich habe einige gute Leute«, tippte Eagler an. »Die könnten Ihnen helfen.« Ich schüttelte den Kopf. »Es wäre immerhin möglich, daß sie sich ausgerechnet bei einem der Entführer erkun digen würden, ob er ein Kind schreien gehört hat. Das ist schon vorgekommen. Die Entführer sagten nein, und das Kind fand man eine Woche später tot auf einer Müllhalde. 222
Es war in Italien. Die Polizei faßte schließlich die Entfüh rer, und die sagten, sie hätten sich zu einer Kurzschluß handlung hinreißen lassen, als sie merkten, daß die Polizei so nah an ihrem Versteck war.« Eagler fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Nase. »In Ordnung«, sagte er. »Wir machen es auf Ihre Weise.« Er warf mir einen Seitenblick zu. »Aber um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, daß Sie Erfolg haben werden.« Tony im Hotel war auch nicht besonders hoffnungsvoll. Er schaute sich die ersten elf Adressen genau an und sagte, er werde sie zuerst vom Land her ausfindig machen und sie dann mit dem Ruderboot angehen, und allein für diese elf werde er die ganze Nacht brauchen. Er werde meinen Wagen nehmen, in dem noch seine Klamottenkiste ver staut sei, und am Morgen zurücksein. »Dann schlafe ich, und morgen nacht versuche ich es noch mal«, sagte er. »Das bringt uns zum Sonntag. Hof fentlich lassen’s diese Scheißentführer bei der Woche, die sie Nerrity geben wollten, um die Kohle zu beschaffen. Nach den Zeitungen könnten sie zapplig geworden sein. Den Zeitpunkt der Übergabe vorverlegen. Hoffentlich nicht.« Er aß wenig zu Abend und fuhr los, als es dunkel wurde. Ich rief Alessia an wegen Neuigkeiten von Miranda, doch abgesehen davon, daß sie aus dem Haus gegangen war, um mit Alessia zu telefonieren, hatte sich nichts Besonderes getan. Miranda war weiterhin verzweifelt. Die Entführer hatten sich nicht wieder gemeldet. John Nerrity schien immer noch auf den geplanten Hinterhalt zu vertrauen und hatte geäußert, er finde Mirandas Nervenkoller übertrie ben. »Wie er wohl reagieren würde, wenn man ihm Ordinand entführt hätte?« sagte ich. 223
Alessia lachte fast. »Red nicht so. Und passiert ist das auch schon.« »Ohne Erfolg«, stimmte ich zu. »So schnell probieren die Pferderäuber das nicht wieder.« »Würde deine Firma auch ein Pferd befreien?« fragte sie neugierig. »Klar. Entführung ist Entführung, gleichgültig, wie viele Beine das Opfer hat. Lösegeld läßt sich für alles aushan deln.« »Gemälde?« »Alles, was einem lieb und teuer ist.« »A la ›Du kriegst deinen Ball wieder, wenn du mir einen Penny gibst‹?« »Genau so.« »Wo steckst du?« fragte sie. »Nicht zu Hause? Da hab’ ich’s versucht.« »Ein freier Abend«, sagte ich. »Ich erzähle es dir, wenn wir uns sehen.« »Komm bitte am Sonntag.« »Ja, ich versuche es.« Wir sagten uns länger als notwendig auf Wiedersehen. Ich dachte, daß ich leicht den ganzen Abend mit ihr hätte reden können, und wünschte mir gedankenverloren, sie würde sich sicher genug fühlen, um allein zu reisen und Auto zu fahren. Tony kam kurz nach Tagesanbruch zurück und weckte mich aus einem leichten Schlaf. »Von den elf Häusern kommen zwei in Frage«, sagte er, während er sich auszog, um zu duschen. »Neun sind von richtigen ehrlichen Urlaubern bewohnt. In vier bin ich rein, um völlig sicherzugehen, aber alles lag arglos und gemütlich in der Heia, Papis, Mamis, Großmütter und Kinder; ganz normale gesetzestreue Bürger.« 224
Tonys Geschick hätte, wie er sich brüstete, jeden Be rufseinbrecher nach einer Herde Elefanten aussehen las sen. »Ein Fassadenkletterer von meiner Güte«, hatte ich ihn sagen hören, »kann jemand im Bett berühren und ihn dazu bringen, daß er sich umdreht, damit er nicht mehr schnarcht. Ich könnte ihnen den Lack von den Nägeln ho len, ganz zu schweigen von den Brieftaschen unter den Kissen. Gut, daß ich so scheißehrlich bin.« Ich wartete, während er unter die Dusche stieg und aus giebig herumspritzte. »Bei zwei von den Häusern«, sagte er, als er schließlich wieder erschien und seine strohblon den Haare trocknete, »spürte ich schlechte Schwingungen. Das eine hat irgendeinen elektronischen Schutz an der Tür, der mein Suchgerät in Aufruhr versetzt hat. Ich nehme an, es ist so eine Hilf-dir-selbst-Alarmanlage, die du überall kaufen kannst, um zu verhindern, daß die Hoteldiebe dich filzen, während du den Betäubungstrunk verdaust, den dir der Barmann verpaßt hat.« Er rubbelte sein Gesicht ab. »Also hab’ ich zwei Wanzen dagelassen, und wir horchen demnächst mal rein.« Er schlang sich das Handtuch um den Körper wie einen Sarong und setzte sich auf Mirandas Bett. »Bei dem ande ren konnte ich keinen elektronischen Schutz entdecken, aber es ist zweistöckig. Bootsschuppen im Erdgeschoß. Leer. Bloß Wasser und Fischgedöns. Darüber Zimmer mit Blick auf die Bucht. Weiter oben noch mehr Zimmer. Ein schäbiger, mit Platten belegter Garten verläuft auf zwei Seiten. Nicht viel Deckung. Ich hatte keine Lust reinzuge hen. Trotzdem hab’ ich zwei Wanzen drangehängt, an jeden oberen Stock eine. Also hören wir uns auch die mal an.« »Autos?« »Weiß ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Beide Häuser sind ohne Garage. Es parkten Autos an den Straßen.« Er 225
stand auf und zog sich an. »Also komm«, sagte er. »Raus aus der Scheißkoje, und laß uns angeln gehen.« Er meinte es anscheinend wörtlich. Um halb neun waren wir in der Morgenkühle draußen auf der Itchenor-Bucht, in seinem gemieteten Ruderboot, und warfen Leinen mit auf gespießten Maden aus. »Bist du sicher, daß das der richtige Köder ist?« sagte ich. »Wen kümmert’s? Barsche schlucken manchmal leere Haken runter.« Er pullte das Boot wie ein geborener Ruderer mit nur ei nem Riemen, der in einer Seilschlinge über dem Heck lag. Keine knarrenden Ruderpinnen, erklärte er. Lautlose Fort bewegung: vorrangig auf dem S.A.S.-Lehrplan. »Um fünf heute morgen war Ebbe«, sagte er. »Bei Ebbe kriegst du längst nicht überall ein Boot ans Ufer; wenn sie den Kleinen also mit dem Motorboot an Land gebracht haben, war es wahrscheinlich irgendwo, wo bei Gezeiten mitte das Wasser steht. Das trifft auf unsere beiden Kandi daten noch so gerade zu.« Unser Ruderboot trieb auf dem langsam auslaufenden Wasser dahin. Die Fische verschmähten die Maden, und es roch salzig und nach Tang. »Wir kommen gleich zu dem Haus mit dem elektroni schen Wachhund«, sagte Tony. »Halte die Antenne hier so, daß sie aussieht wie eine Angelrute.« Er zog einen dünnen silbrigen Stab auf etwa einen Meter achtzig auseinander und reichte ihn mir, und ich sah, daß an seiner Spitze eine Schnur mit einem kleinen Gewicht befestigt war. »Hau das Gewicht ins Wasser«, sagte er und beugte sich nieder, um in einer Art Kasten für Angelzubehör an dem Funkgerät herumzufingern. »Halt die Augen auf dem Meer und leg die Ohren an.« Ich tat das alles, aber es geschah nicht viel. Tony grunzte und versuchte es mit Feineinstellung, aber schließlich sag 226
te er: »Die faulen Hunde sind noch nicht wach. Die Wan zen funktionieren. Wir kommen wieder her, wenn wir das andere Haus überprüft haben.« Ich nickte, und er pullte ein gutes Stück nach Norden, bevor wir erneut anhielten, um die Leinen auszuwerfen. Wieder trieben wir auf der Flut, scheinbar damit befaßt, unser Frühstück einzufangen, und Tony beugte sich über seine Schalter. Die Stimme, als sie kam, warf mich fast aus dem Boot. »Gib dem kleinen Bankert sein Frühstück und kleb ihm das Maul zu, wenn er anfängt zu flennen.« Die Stimme – unverkennbar die Stimme –, die wir auf dem Tonband bei John Nerrity gehört hatten. Nicht über mäßig laut, aber kristallklar. »Mein Gott«, sagte ich fassungslos, wie betäubt. »Getroffen«, staunte Tony ehrfürchtig. »Verdammt und zugenäht.« Eine andere Stimme auf dem Band sagte: »Er ißt’s ja doch nicht. Wozu es raufbringen?« »Mein Sohn«, sagte die erste Stimme mit übertriebener Geduld. »Wollen wir denn, daß unsere kleine Goldmine verhungert? Das wollen wir nicht. Bring ihm sein Marme ladenbrot und halt den Rand.« »Mir paßt der Job nicht«, meckerte die zweite Stimme. »Rundheraus, er paßt mir nicht.« »Du warst scharf genug drauf, als ich dich für ihn aufge stellt hab’. Gute Arbeit, nimm mich rein, hast du gesagt.« »Wo dachte ich denn, der Kleine wär’ so …« »So was denn?« »So dickköpfig.« »Er ist gar nicht so schlimm. Heimweh höchstwahr scheinlich. Konzentrier du dich auf die Beute und schau, daß du die Treppe hochkommst.« Tony drückte ein paar Knöpfe, und eine Weile lauschten 227
wir schweigend dem leisen Schlag des Wassers gegen un ser treibendes Boot; dann sagte die zweite Stimme, viel weiter entfernt klingend: »Hier, Kleiner, iß das.« Eine Antwort war nicht zu hören. »Iß schon«, sagte die zweite Stimme gereizt, und nach einer Pause dann: »Ich würd’s dir in den Hals stopfen, wenn du meiner wärst, du hochnäsiger kleiner Saukerl.« Tony murmelte »Charmant« in seinen Bart und begann die Leinen einzuholen. »Wir haben genug gehört, oder? Die zweite Wanze steckt am Obergeschoß, zur Straße hin.« Ich nickte. Tony schaltete um, und die zweite Stimme, wieder unten, sagte: »Er liegt bloß da und glotzt, wie üb lich. Geht mir auf die Nerven. Je früher wir ihn los sind, desto besser.« »Geduld«, meinte die erste Stimme, als besänftige sie einen Idioten. »Du mußt den Mann sein Pferd verkaufen lassen. Ist doch wohl klar. Eine Woche haben wir ihm ge geben. Eine Woche kriegt er.« »Aber die fünf Millionen kassieren wir doch nie, oder?« Er klang betrübt. »Keine Chance.« »Fünf Millionen wollten wir nie haben, Blödmann. Wie Peter sagte, man verlangt fünf, um die Daddies einzu schüchtern, und sahnt kurz und schmerzlos eine halbe Mil lion ab.« »Was ist, wenn Nerrity die Schmiere einschaltet, und die rücken uns auf die Bude?« »Rührt sich doch nichts, oder? Nun sei mal erwachsen. Terry und Kevin, die würden die Bullen entdecken, sobald die ihre Quadratlatschen vor die Tür setzen. Die zwei ha ben Antennen, wo du bloß Augen hast. Keiner im Hotel. Keiner in dem Haus in Sutton. Stimmt’s?« Die zweite Stimme gab ein unverständliches Brummen von sich, und die erste erwiderte: »Peter weiß, was er tut. 228
Er hat’s schon mal gemacht. Ist ein Fachmann. Du, ver dammt noch mal, tu, was dir gesagt wird, und wir werden alle reich, damit basta, von deiner Moserei hab’ ich all mählich die Nase voll.« Tony schob den einzelnen Riemen über das Heck des Bootes und pullte uns ohne Aufregung oder Hast wieder in die Richtung, aus der wir gekommen waren, gegen die auflaufende Flut. Ich rollte die Angelschnüre auf und entköderte mit fahri gen Fingern die Haken, während meine Gedanken sich re gelrecht jagten. »Eagler erst mal nichts erzählen …«, sagte ich. »Klar«, antwortete Tony. Er sah halb lächelnd zu mir herüber. »Auch nicht dem Präsidenten«, sagte ich, »oder Gerry Clayton.« Tonys Lächeln erstrahlte wie die Sonne. »Ich hatte be fürchtet, du würdest darauf bestehen.« »Nein.« Ich zögerte. »Du beobachtest vom Wasser aus und ich vom Land, okay? Heute abend informieren wir dann Eagler. Zu unseren Bedingungen.« »Und die ewige Zurückhaltung kann in Scheißfrieden ruhen.« »Laß du nur deine Vakuumpumpe schnurren wie eine Katze und paß auf, daß du nicht von den Wänden ab stürzt.« »In unserem Bericht«, sagte Tony, »werden wir schrei ben, daß die Polizei das Versteck gefunden hat.« »Was ja auch stimmt«, stellte ich fest. »Was ja auch stimmt«, wiederholte er befriedigt. Weder Tony noch ich fühlten uns restlos der ausschließ lichen Beratungspolitik der Firma verpflichtet, obwohl wir uns mehr oder minder daran hielten und auch fanden, daß sie unter den meisten Umständen klug war. Tony mit sei nem ungewöhnlichen Können neigte immer zu mehr akti 229
ver Beteiligung als ich, und seine Berichte waren gespickt mit Phrasen wie »es wurde entdeckt« und »es ergab sich«, aber nie mit genaueren Angaben wie »ich deponierte ein Dutzend illegale Wanzen und hörte« oder »ich ließ eine Rauchbombe los, und unter ihrer Deckung …« Tony lenkte das Boot an die Stelle zurück, wo unser Wa gen stand, und montierte schnell einen Zweitempfänger, der über die Antenne des Autos lief. »Hier bitte«, er deutete hin. »Der linke Schalter ist für die Wanze am ersten Stock, der mittlere für die am zwei ten. Rühr die Skalen nicht an. Rechter Schalter hoch, wenn ich mich melden soll, runter, wenn du mit mir reden willst. Okay?« Er wühlte in dem erstaunlichen Materiallager, das er sei ne Klamottenkiste nannte, und holte ein Eßgeschirr aus Plastik hervor. »Langzeit-Notvorrat«, sagte er, mir den In halt vorführend. »Nußriegel, Trockenfleisch, Vitaminpillen – hält dich wochenlang in Kampfform.« »Wir sind hier nicht im südamerikanischen Busch«, be merkte ich sanft. »Erspart aber viel Einkauferei.« Er grinste und verstaute das Eßgeschirr zusammen mit einer Plastikflasche Wasser in dem Ruderboot. »Wenn es dick kommt und sie be schließen, das Kind woandershin zu schaffen, kriegen wir Mordsärger.« Ich nickte. Ärger mit der Polizei, mit Liberty Market und mit unserem unentrinnbaren schlechten Gewissen. »Und nicht zu vergessen«, setzte er langsam hinzu, »daß da irgendwo Terry und Kevin und Peter stecken, mit ihren scheißrotierenden Antennen, und daß man nie weiß, ob dieser Vollidiot Rightsworth nicht mit Blaulicht bei Nerri ty vorfährt.« »So verrückt ist er nicht.«
»Er ist arrogant. Selbstzufrieden. Genauso gefährlich.«
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Er legte nachdenklich den Kopf schräg. »Sonst noch was?« »Ich fahre zurück ins Hotel, zahle die Rechnung, hole die Koffer ab.« »Gut. Melde dich, wenn du auf Station bist.« Er stieg ins Boot und löste die Vorleine. »Ach, übrigens, hast du einen dunklen Pullover? Schwarz, mit Rollkragen?« »Ja, ich habe einen dabei.« »Gut. Bis heute abend.« Ich sah zu, wie er losruderte, eine gedrungene Gestalt von großer Körperbeherrschung, jede Bewegung war kraftvoll und sicher. Er winkte mir kurz zum Abschied, und ich wendete den Wagen und machte weiter im Text des Tages.
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D
ie Stunden verrannen zäh mit jener Mischung aus Anspannung und Langeweile, die vermutlich Solda ten vor einer Schlacht empfanden. Die Hälfte der Zeit be wegte sich mein Puls in astronomischen Höhen, die andere Hälfte hätte ich schlafen können. Nur an einem Punkt wurde aus der Alarmbereitschaft plötzlich Alarm, und das war gegen Mittag. Den größten Teil des Morgens hatte ich der Wanze an dem unteren Stockwerk gelauscht, wobei ich nicht die ganze Zeit an einer Stelle parkte, sondern umherfuhr und vorübergehend in irgendeiner Straße im Hörbereich an hielt. Die beiden Kidnapper hatten ein gut Teil dessen wiedergekäut, was wir schon kannten; mecker, mecker, halt den Rand. Irgendwann hatte Dominic geweint. »Der Kleine flennt«, sagte die erste Stimme. Ich schaltete auf die Wanze im Obergeschoß um und hörte das herzzerreißende Wimmern, die Klage eines Kin des, das die Hoffnung verloren hatte, zu bekommen, was es wollte. Niemand kam und redete mit ihm. Er wurde kurzerhand übertönt durch laut gespielte Popmusik. Ich schaltete wieder auf die untere Wanze und spürte, wie meine Muskeln sich verkrampften. Eine neue Stimme sprach: »… Typ sitzt in einem Wagen, ein paar Straßen weiter, sitzt bloß so da. Mir gefällt das nicht. Und er ähnelt einem der Leute, die im Hotel woh nen.« Die erste Kidnapperstimme sagte entschieden: »Geh und überprüf ihn, Kev. Wenn er noch da ist, komm sofort zu 232
rück. Wir gehen verdammt kein Risiko ein. Der Kleine saust die Rutsche runter.« Die zweite Kidnapperstimme sagte: »Ich hab’ den gan zen Morgen an seinem blöden Fenster gehockt. Da war niemand in Sicht, der geschnüffelt hat. Gingen zwar Leute vorbei, aber keiner sah her.« »Wo habt ihr den Wagen gelassen?« wollte Kevin wis sen. »Ihr habt ihn weggeholt.« »In der Turtle Street.« »Da sitzt auch dieser Typ.« Unter den Kidnappern trat Schweigen ein. Der Typ, der in dem Wagen in der Turtle Street saß, startete mit flat terndem Herzen den Motor und verzog sich schleunigst. Ein Rotlicht blinkte an Tonys Funkausrüstung auf, und ich drückte die Taste, um mit ihm zu reden. »Ich hab’s ge hört«, sagte ich. »Keine Sorge, ich bin unterwegs. Spreche mit dir, wenn ich kann.« Ich fuhr eine Meile, hielt auf dem Parkplatz einer gutbe suchten Kneipe und spitzte die Ohren, um die viel schwä cheren Übertragungen mitzubekommen. »Der Typ ist weg«, sagte schließlich eine Stimme. »Was hältst du davon, Kev?« Die Antwort war unverständlich. »Man riecht aber doch nichts von den Bullen. Nicht das mindeste.« Die erste Kidnapperstimme klang, als wolle er ebensosehr sich selbst wie alle anderen beruhigen. »Wie Pe ter sagte, die können den Laden hier nicht umzingeln, ohne daß wir’s sehen, und es dauert acht Sekunden, ganze acht, den Kleinen über die Rutsche verschwinden zu lassen. Ihr wißt es, ich weiß es, wir haben geübt. Die Polizei kann hier nichts anderes finden als drei Kerle, die sich einen armseli gen Urlaub gönnen und ein bißchen Karten spielen.« Wieder folgten unentzifferbare Worte, dann dieselbe Stimme: »Wir passen eben beide auf. Ich halte mich oben 233
bereit. Du, Kev, trappelst durch den verdammten Ort und schaust, ob dieser Typ wo herumhängt. Entdeckst du ihn, ruf uns an; dann entscheiden wir. Peter wird uns nicht dankbar sein, wenn wir in Panik geraten. Wir müssen die Ware lebend zurückgeben, hat er gesagt. Sonst kriegen wir nichts, kapiert, und ich lad’ mir doch nicht den ganzen Kram auf, um am Schluß mit leeren Taschen dazustehen.« Die Antworten konnte ich nicht hören, doch die erste Stimme schien sich durchgesetzt zu haben: »Alles klar dann. Schieb ab, Kev. Wir sehen uns später.« Ich ging in die Kneipe, vor der ich parkte, und aß ein Sandwich mit nahezu zitternden Fingern. Die Unauffällig keit, schätzte ich, war noch nie gerechtfertigter oder wich tiger gewesen, und ich hatte Dominics Leben aufs Spiel gesetzt, indem ich mich nicht an die Regeln hielt. Kevin auszuweichen war insofern ein Problem, als ich nicht wußte, wie er aussah, wogegen er mich ohne weite res ausmachen konnte, und wahrscheinlich kannte er die Farbe, Marke und die Nummer meines Wagens. Itchenor war zu klein für so günstige Verstecke wie ein mehrstöcki ges Parkhaus. Da ich es nicht riskieren konnte, gesehen zu werden, beschloß ich, dem Ort ganz den Rücken zu keh ren, und fuhr um ihn herum auf einer Strecke, die mich zu einem viel höher gelegenen Punkt der Itchenor-Bucht brachte, näher an Chichester. Ich konnte zwar die Wanzen nicht mehr hören, hoffte aber, Tony auf dem Wasser zu er reichen; und er antwortete auf meinen ersten Versuch, mit einer fernen Stimme voller Erleichterung. »Wo bist du?« fragte er. »Weiter oben an der Bucht.« »Das wollte ich hören.« »Was ist in dem Haus passiert?« »Nichts. Was immer diese Rutsche ist, die Ware ist noch 234
nicht runtergesaust. Aber die bibbern immer noch wie die letzten Heuler.« Er zögerte. »Scheißpech, daß sie ihre Kar re in der Straße hatten.« Er wollte mich rechtfertigen. Ich war ihm dankbar. Ich sagte: »Ich war nur zehn Minuten dort.« »So geht’s eben. Kevin ist übrigens wieder bei ihnen.« »Ich bin hier, wenn du mich brauchst.« »Okay«, sagte er. »Und nebenbei bemerkt, es war derje nige namens Peter, der die Ware abgeholt hat. Ein Pracht kerl, meinen sie. Peter ruft sie jeden Tag an, und anschei nend will er morgen oder übermorgen selbst vorbeikom men. Schade, daß wir nicht warten können.« »Zu riskant.« »Allerdings.« Wir legten eine Zeit und einen Ort fest, wo ich mich mit ihm treffen sollte, und schalteten ab, um den Strom zu spa ren, den er im Boot hatte. Den Wanzen zu lauschen war weit wichtiger und beanspruchte überdies die Batterien weniger. Bei Funk bestand immer die leise Möglichkeit, daß ir gendwo jemand zufällig auf dem gleichen Kanal lauschte, doch ich ging noch einmal durch, was wir gesagt hatten, und fand, daß es abgesehen von den Entführern selbst kei ne Menschenseele aufgeklärt oder aufgerüttelt haben wür de, auch wenn wir uns im großen ganzen angehört hatten wie ein Diebesgespann. Ich blieb den ganzen Nachmittag am Wasser, im Wagen oder in seiner Nähe, hörte aber nichts mehr von Tony, was an sich darauf hindeutete, daß der Zustand unverändert war. Wenige Minuten vor fünf fuhr ich landeinwärts zur nächsten Telefonzelle, um mit Eagler zu sprechen. Er sei nicht im Dienst, hieß es auf der Station. Wie sei mein Name? Andrew Douglas. 235
Ob ich in diesem Fall die folgende Nummer anrufen würde? Ich würde, ich tat es, und er meldete sich sofort. Welch ein phantastischer Umschwung, dachte ich flüchtig, nach meinem Fiasko mit dem Stellvertreter Pucinellis. »Können Ihre Leute nachts arbeiten?« sagte ich. »Selbstverständlich.« »Tony hat die Kidnapper gefunden.« »Glaub’ ich nicht!« »Es besteht die Möglichkeit, sie festzunehmen.« »Wo stecken sie?« »Äh«, sagte ich. »Sie sind ungemein auf der Hut und warten nur auf ein Zeichen von polizeilicher Aktivität. Wenn Sie dort zu früh auftauchen, fällt für den Kleinen der Vorhang. Würden Sie also – hm – nach unseren Vorschlä gen handeln, ohne sie in Frage zu stellen und vor allem, ohne den Plan in irgendeiner Weise zu ändern?« Eine ziemliche Pause entstand, dann sagte er: »Darf ich den Plan prüfen oder nicht?« »Äh … nein.« Wieder eine Pause. »Wer nicht will, der hat schon?« »Ich fürchte ja.« »Hm.« Er überlegte. »Die Kidnapper zu Ihren Bedin gungen oder gar nicht?« »Ja«, sagte ich. »Sie wissen hoffentlich, was Sie tun, alter Junge.« »Mm«, sagte ich. Eine letzte Pause, dann sagte er: »Einverstanden. Gut. Wie ist der Plan?« »Sie brauchen genügend Männer, um mindestens drei Personen festzunehmen«, sagte ich. »Kriegen Sie die bis ein Uhr früh auf Ihre Hauptwache in Chichester?« »Selbstverständlich.« Er klang fast beleidigt. »Zivil oder in Uniform?« 236
»Ich glaube, das spielt keine Rolle.« »Bewaffnet oder nicht?« »Das liegt bei Ihnen. Wir wissen nicht, ob die Entführer Waffen haben.« »Gut. Und wo sollen meine Männer hin?« »Ich rufe Sie nach eins an, Sie erfahren dann den Weg.« Er schnaubte. »Nicht sehr vertrauensvoll, wie?« »Ich vertraue Ihnen«, sagte ich. »Sonst hätte ich Sie gar nicht eingeweiht.« »So, so«, sagte er. »Der Harte mit den Samthandschu hen, ganz wie ich schon vermutet habe. In Ordnung, alter Junge, Ihr Vertrauen wird nicht enttäuscht, ich halte mich an die Spielregeln. Und ich zerreiße euch beide in der Luft, wenn ihr’s verpfuscht.« »Abgemacht«, sagte ich dankbar. »Ich rufe Sie auf der Wache an.« Ich fuhr zurück ans Wasser, um zu warten, hörte aber keinen Piep von Tony; und lange nach Einbruch der Dun kelheit fuhr ich zu unserem vereinbarten Treffpunkt und lud ihn und seine Gerätschaften vom Boot auf den Wagen um. »Die haben sich im Haus ein bißchen abgeregt«, sagte er. »Sie kriegten einen Anruf von Peter, wer immer das ist, und das schien sie etwas zu festigen. Schade, daß ich das Telefon nicht anzapfen konnte. Jedenfalls, Peter hat ihnen offenbar geraten, weiter Wache zu halten und den Jungen erst sausen zu lassen, wenn sie die Polizei vor der Tür se hen.« Er grinste. »Wozu es hoffentlich nicht kommt.« »Nein.« Ich verstaute die Batterien aus dem Boot neben einer großen unförmigen Segeltuchtasche. »Unser Freund Eagler hat es versprochen. Außerdem …«, ich zögerte, »habe ich mir noch eine Vorsichtsmaßnahme ausgedacht.« »Raffiniert sind wir schon, was?« meinte Tony, als ich es ihm erzählte. »Aber klar, wir können uns keinen Reinfall 237
erlauben. Möchtest du einen Nußriegel? Gutes Abend brot.« Ich aß einen Nußriegel, wir warteten ruhig, und erst eine ganze Weile nach ein Uhr rief ich Eagler an und teilte ihm mit, wo er seine Männer hinbringen und verstecken sollte. »Sie müssen lautlos sein«, sagte ich. »Nicht nur leise. Lautlos. Keine Unterhaltung. Keine schweren Schritte. Absolut still.« »In Ordnung.« »Warten Sie auf uns, auf Tony und mich. Wir treffen uns mit Ihnen. Vielleicht erst lange nach Ihrer Ankunft, wir sind uns nicht sicher. Aber bitte warten Sie. Warten Sie still.« »Mehr wollen Sie mir nicht sagen?« fragte er zweifelnd. »Sie hören den Rest, wenn wir uns treffen. Aber es ist unumgänglich, daß das Timing stimmt. Also, werden Sie warten?« »Ja«, entschloß er sich. »Gut. Wir sehen uns dann.« Ich legte den Hörer auf, und Tony nickte befriedigt. »Na schön«, sagte er. »Wie steht’s mit deinen Nerven?« »Mies. Und deine?« »Um ehrlich zu sein«, sagte er, »wenn ich so etwas un ternehme, fühle ich mich doppelt so lebendig wie sonst.« Ich fuhr uns behutsam zurück nach Itchenor und parkte in einer Wagenreihe, eine Ecke entfernt vom Haus der Kidnapper. Die Straße war von einer weiter weg stehenden Lampe nur spärlich beleuchtet, was Tony besonders gefiel, da er wollte, daß sich unsere Augen an die Dunkelheit ge wöhnten. Er holte eine Tube Schminke hervor und schwärzte sich Gesicht und Hände, und ich stellte zu einer letzten Überprüfung nochmals die Abhörwanzen ein. Aus keiner von beiden kam ein Laut. Ich sah auf meine Uhr. Viertel nach zwei. Eaglers Män 238
ner würden gegen halb drei in Stellung sein. Wenn wir Glück hatten, schliefen die Kidnapper. »Schwärz dein Gesicht«, sagte Tony und gab mir die Tu be. »Vergiß die Augenlider nicht. Wenn du jemand die Straße entlangkommen hörst, hock dich in eine Ecke und schließ die Augen. Es ist fast unmöglich, im Dunkeln jemand zu sehen, der das tut. Wenn du mit offenen, schimmernden Augen dastehst oder dich bewegst, bist du der Dumme.« »In Ordnung.« »Und hab Geduld. Stillsein dehnt die Zeit.« »Ja.« Er grinste plötzlich, so daß die weißen Zähne in dem dunkel gefärbten Gesicht zu teuflischen Fängen wurden. »Was nutzt ein jahrelanges Training, wenn du es ums Ver recken nicht anwendest?« Wir stiegen aus, traten auf die ruhige, verlassene Straße, und aus der unförmigen großen Segeltuchtasche holte To ny seine komplizierte und liebevoll gehütete Montur. Ich hielt ihm den schwarzen Elastikstoff auseinander, als er die Arme in die Ärmellöcher schob und vorn den Reißver schluß von der Taille bis zum Hals zuzog. Es verwandelte seine sonst so geschmeidige Gestalt in das trügerische Ebenbild eines Buckligen; die schweren Batterien auf sei nen Schultern wirkten grotesk. Die Montur selbst bestand aus einer Fülle von Taschen, aufgenähten oder herabhängenden, die alle etwas für To nys Zwecke Notwendiges enthielten. Alles steckte in Ta schen, weil Utensilien, die wie bei einer Bergsteigermon tur lediglich angehängt waren, klirrten und klimperten und außerdem Licht reflektierten. Alles, was Tony benutzte, war mattschwarz und wenn möglich mit einem leicht kleb rigen Band umwickelt, so daß es nicht aus der Hand rutschte. Als er mir die Ausrüstung zum erstenmal gezeigt 239
hatte, war ich völlig fasziniert gewesen und hatte mich obendrein geehrt gefühlt, da er ihre Existenz vor den mei sten Partnern geheimhielt, aus Angst, man würde ihm ih ren Gebrauch verbieten. »Okay?« sagte er. Ich nickte. Ihm schien das Atmen keine Mühe zu berei ten, aber meine Lunge hatte offenbar ausgesetzt. Er war allerdings mit bloßen Händen schon in manches Land ein gedrungen, wo entdeckt zu werden den Tod bedeutete, und daneben erschien ein Handstreich in einem englischen Kü stenort vermutlich wie ein Picknick. Er drückte einen unsichtbaren Schaltknopf irgendwo an seinem Nacken, und als der Strom kam, gab es kurz einen gedämpften Pfeifton, der sich zu einem leisen, auf zwei Schritt nicht mehr hörbaren Zischen beruhigte. »Na fein«, sagte er. »Hol die Tasche.« Ich nahm die Segeltuchtasche aus dem Kofferraum und verschloß leise die Haube. Ohne weitere Umstände gingen wir in unserer schwarzen Kleidung bis zur Ecke, wo Tony sich plötzlich im Schatten aufzulösen schien und ver schwand. Ich zählte wie vereinbart bis zehn, glitt auf die Knie nieder und faßte vorsichtig, mit klopfendem Herzen, zum erstenmal das Ziel ins Auge. »Immer hinknien«, hatte Tony gesagt. »Wachposten su chen in Kopfhöhe, nicht in Bodennähe.« Der gepflasterte, unkrautbewachsene Garten des Hauses lag vor mir, war jedoch selbst mit ans Dunkel gewöhnten Augen nur schwach wahrzunehmen. »Halte rechts auf die Hauswand zu«, hatte Tony gesagt. »Geduckt und mit ge senktem Kopf. Wenn du da bist, stell dich mit dem Gesicht zur Wand auf und halte dich im tiefsten Schatten, den du findest.« Ich befolgte seine Anweisungen, und niemand rief, nie mand schlug Lärm im Haus. 240
Über mir an der Mauer konnte ich im Hinaufblicken ei nen dunklen, unregelmäßigen Schatten sehen, wo niemand einen Menschen erwartet hätte. Niemand außer Leuten wie Tony, der die nackten Wände mit Haftgriffen, befestigt mit Hilfe einer batteriegespeisten Vakuumpumpe, erstieg. Für Tony, der einen Wohnturm erklettern konnte, waren zwei Stockwerke ein Kinderspiel. Ich schien trotz allem etliche Jahrhunderte zu warten, und das Herz klopfte mir bis zum Hals. Niemand kam die Straße entlang; keine von Schlaflosigkeit geplagten See len, kein Mensch im Schlepptau eines launischen Hundes. Sussex-by-the-sea schlief fest und träumte; nur Polizeibe amte, Liberty Market und vielleicht Entführer waren hell wach. Irgend etwas schlug mir sanft ins Gesicht. Ich hob die Hand, um es zu greifen, und schloß die Finger um das baumelnde schwarze Nylonseil. »Bind die Tasche dran, ruck zweimal am Seil, ich zieh’ sie hoch«, hatte Tony gesagt. Ich befolgte seine Instruktionen, und die Leinentasche verschwand oben in der Dunkelheit. Ich wartete mit schlimmerem Herzsausen denn je. Plötz lich war dann die Tasche wieder unten bei mir, aber schwer, nicht mehr leer. Ich nahm sie in die Arme und ruckte erneut zweimal am Seil. Das Seil fiel herab in die Dunkelheit zu meinen Füßen, und unbeholfen, weil bela den mit der Tasche, fing ich an, es aufzurollen. Ich hörte nicht, wie Tony herunterkam. Sein Können war wirklich verblüffend. Einen Augenblick war er fort, im nächsten war er da und verstaute die letzten wieder gelö sten Haftgriffe in geräumigen Taschen. Er tastete nach dem Seil, das ich aufzurollen versuchte, und hatte es im Nu in die Leinentasche gestopft. Dann berührte er mich am Arm, und wir verließen beide den verwilderten Garten, 241
ich tief über meine Last gebeugt und Tony schon halb aus seiner Montur heraus. Sobald wir auf der Straße und außer Sicht des Hauses waren, richtete ich mich auf, packte die Tasche bei den Griffen und trug sie normal in einer Hand. »Hier«, sagte Tony ruhig. »Reib dir damit übers Ge sicht.« Er gab mir etwas Feuchtkaltes, eine Art Schwamm, mit dem ich ein Großteil der schwarzen Schminke ab wischte, und ich konnte sehen, daß er das gleiche tat. Wir erreichten den Wagen auf leisen Sohlen. »Knall die Türen nicht«, sagte Tony; er lud seine Montur auf dem Beifahrersitz ab. »Wir schließen sie später rich tig.« »Okay.« Ich nahm die Tasche mit nach hinten und holte ihren kostbaren Inhalt heraus: einen ganz kleinen Jungen, der mit an die Brust gezogenen Knien auf dem Rücken lag und über dessen Beinen sich schwarze Nylonschnur schlängelte. Er war weder normal am Schlafen noch völlig bewußtlos – unaufweckbar dahindämmernd. Wirre dun kelblonde Locken lagen um seinen Kopf, und seinen Mund verschloß ein breites, mit Arzneistoffen getränktes Klebeband. Ich wickelte ihn in die Decke, die ich immer im Wagen hatte, und legte ihn auf dem Rücksitz lang. »Hier«, sagte Tony, er reichte mir eine Flasche und ein winziges Tuch nach hinten. »Damit geht das Klebzeug ab.« »Haben die das getan?« fragte ich. »Nein, ich war das. Konnte nicht riskieren, daß der Klei ne aufwachte und zu brüllen anfing.« Er startete den Wa gen und fuhr in einer gleitenden Bewegung los, und ich zog sanft das Pflaster ab und wischte die klebrigen Rück stände fort. »Er schlief«, sagte Tony. »Aber ich gab ihm einen Schuß Äther. Nicht so viel, daß es ihn völlig umwirft. Wie sieht er aus?« 242
»Bedröhnt.« »Verständlich.« Er fuhr schweigend zu dem Ort, wo ich Eagler mit seinen Leuten hinbestellt hatte, nämlich zu einem anderen der elf Häuser auf der Liste – demjenigen mit dem elektronischen Einbrecherschutz, eine gute halbe Meile entfernt. Tony hielt kurz vor dem Haus an, stieg aus, ging davon und kam wenig später mit Eagler allein zurück. Als ich sie erblickte, stieg ich selbst aus dem Wagen, und einen Mo ment lang sah Eagler in dem schwachen Licht bitter ent täuscht aus. »Keine Sorge«, sagte ich. »Er ist hier, im Auto.« Eagler bückte sich, um hineinzusehen, als ich sanft die hintere Tür öffnete, und richtete sich dann erleichtert auf. »Wir bringen ihn direkt zu seiner Mutter«, sagte ich. »Sie kann ihren Hausarzt rufen. Einen, den der Junge kennt.« »Aber …« »Kein Aber«, sagte ich. »Was er auf keinen Fall brau chen kann, ist eine Polizeistation mit grellem Licht, lauten Stimmen und diversen Beamten. Gerechtigkeit muß sein; wir haben den Jungen, Sie bekommen die Entführer. Sie bekommen auch die Berichterstattung in den Medien, wenn Sie nichts dagegen haben. Uns beide und Liberty Market möchten wir da vollständig herausgehalten wissen. Wir erfüllen unseren Zweck nur, solange wir der Allge meinheit und besonders allen potentiellen Kidnappern un bekannt sind.« »In Ordnung, alter Junge«, sagte er, väterlich kapitulie rend. »Ich halte mich an die Vereinbarung. Wohin müssen wir?« Tony beschrieb ihm den Weg. »Ich habe eine Tränengasbombe dagelassen«, meinte er gutgelaunt. »Hab’ sie vorsichtshalber mitgenommen, aber 243
nicht gebraucht. Sie hat einen Zeitzünder.« Er sah auf sei ne Uhr. »Ich habe ihn so eingestellt, daß sie jetzt in sieben Minuten hochgeht. Sie reicht mehr oder weniger für das ganze Haus, wenn Sie also noch fünf bis zehn Minuten länger warten, dürften Sie es ziemlich einfach haben. Bis dahin können Sie die Luft schon wieder atmen, aber denen werden die Augen triefen …, das heißt, wenn sie nicht schon herausgekommen sind.« Eagler hörte zu wie eine Sphinx, weder protestierend noch lobend. »Der Kleine war im Obergeschoß«, sagte Tony. »Er hatte ein Paar von diesen Gurten um, die man in Kinderwagen verwendet. Damit war er ans Bett gefesselt. Ich hab’ sie ihm abgeschnitten, sie sind noch da. Außerdem sind ein paar Fußbodenbretter lose. Vorsicht, daß Ihre Konstabler nicht in das Loch fallen. Weiß Gott, wohin sie geraten würden.« Er langte in den Wagen und holte fünf Tonband kassetten aus dem Handschuhfach. »Die hören sich alle sehr gut an. Spielen Sie die mal Ihren Freunden vor, wenn Sie sie im Kittchen haben. Niemand wird darüber Rechen schaft abgeben, wo sie herstammen. Anderer Leute Unter haltung abzuhören, schickt sich nicht. Andrew und ich ha ben diese Aufnahmen nie gesehen.« Eagler nahm die Tonbänder mit leicht verwirrter Miene an. »Das wär’s in etwa«, sagte Tony. »Weidmannsheil.« Er ließ sich hinter das Lenkrad des Wagens gleiten, und bevor ich ihm folgte, sagte ich zu Eagler: »Der Anführer der Kidnapper sollte morgen oder übermorgen zu ihnen stoßen. Ich nehme nicht an, daß er jetzt noch kommt, aber er könnte telefonieren … wenn die Nachricht nicht zu schnell bekannt wird.« Eagler beugte sich herab, als ich mich auf den Rücksitz manövrierte. »Danke, alter Junge«, sagte er. »Danke Ihnen«, erwiderte ich. »Sie sind großartig.« 244
Tony startete den Wagen, winkte Eagler zu, als der die hintere Tür schloß, und ohne weiteres Trara waren wir un terwegs in einer dem Haus der Kidnapper entgegengesetz ten Richtung, sicheren Ufern entgegen. »Mensch«, meinte Tony fünf Meilen später aufatmend. »Kein übler Befreiungsschlag, auch wenn ich es selber sa ge.« »Phantastisch«, pflichtete ich bei, »und wenn du noch mehr Kurven in diesem Tempo nimmst, fällt Dominic vom Sitz.« Tony warf einen Blick nach hinten, wo ich unbequem auf die Seite gequetscht war, damit Dominic langliegen konnte, und beschloß, zwecks einer besseren Regelung erst einmal anzuhalten. Dabei entfernten wir gleich noch gründlich das Schwarz aus unseren Gesichtern und ver stauten Tonys Ausrüstung ordentlich im Kofferraum. Als wir wieder losfuhren, hatte ich Dominic auf dem Schoß, sein Kopf lehnte an meiner Schulter, und er hielt halb den kuscheligen Teddy umfaßt, den ich aus seinem Koffer ge holt hatte. Seine Augen gingen gelegentlich auf und wieder zu, doch selbst als feststand, daß die Wirkung des Äthers ver flogen war, wachte er nicht auf. Eine Zeitlang fragte ich mich, ob man ihm wie Alessia Schlaftabletten gegeben hatte, kam später aber zu dem Schluß, daß es nur die Wir kung tiefer Nacht auf kleine Kinder war, denn gegen Ende der Fahrt standen seine Augen plötzlich weit offen und starrten hoch in mein Gesicht. »Tag, Dominic«, sagte ich. Tony sah kurz herüber. »Ist er wach?« »Ja.« »Gut.« Ich deutete das »gut« als Zufriedenheit darüber, daß der Patient die Narkose überlebt hatte. Dominics Augen glitten 245
langsam in Tonys Richtung und wanderten wieder zurück, um meine zu betrachten. »Wir bringen dich zu deiner Mutter«, sagte ich. »Versuch es mal mit Mami«, meinte Tony trocken. Dominics Augen beobachteten unverwandt mein Gesicht. »Wir bringen dich nach Hause«, sagte ich. »Hier ist dein Teddy. Du bist bald wieder bei deiner Mami.« Dominic zeigte keine Reaktion. Die großen Augen beob achteten weiter. »Du bist in Sicherheit«, sagte ich. »Keiner tut dir was. Wir bringen dich heim zu deiner Mami.« Dominic beobachtete. »Gesprächiges Kind«, meinte Tony. »Von Sinnen vor Angst.« »Ja. Armer kleiner Kerl.« Dominic trug immer noch die rote Badehose, in der man ihn geraubt hatte. Die Entführer hatten eine blaue Strick jacke hinzugefügt, die erheblich zu groß war, aber weder Socken noch Schuhe. Er hatte sich kalt angefühlt, als ich ihn aus der Tasche herausnahm, doch sein kleiner Körper hatte sich in der Decke soweit erwärmt, daß ich es durch sie hindurch spüren konnte. »Wir bringen dich heim«, sagte ich wieder. Er gab keine Antwort, aber nach etwa fünf Minuten setz te er sich auf meinem Schoß aufrecht und sah aus dem Wagenfenster. Dann wandte er mir wieder sein Gesicht zu, um mir in die Augen zu blicken, und langsam ließ er sich in die alte Lage zwischen meinen Armen zurücksinken. »Fast schon da«, sagte Tony. »Was sollen wir machen? Es ist erst vier. Sie fällt glatt in Ohnmacht, wenn wir ihr nachts um diese Zeit einen Schock versetzen.« »Sie könnte wach sein«, sagte ich. »Ja«, nickte er. »Sich um das Kind grämen. Schon mög lich. Hier ist es, am Ende der Straße.« 246
Er bog durch Nerritys Tor, mit knirschenden Rädern über den Kies; hielt direkt vor der Haustür, stieg aus und klin gelte. Oben ging Licht an. Nach beträchtlicher Wartezeit öffne te sich die Haustür zehn Zentimeter an einer Kette. »Wer ist da?« sagte die Stimme John Nerritys. »Was in Herrgotts Namen wollen Sie um die Zeit?« Tony trat näher an das Licht, das durch den Spalt drang. »Tony Vine.« »Gehen Sie.« Nerrity war zornig. »Ich sagte Ihnen doch …« »Wir bringen Ihr Kind zurück«, sagte Tony ausdrucks los. »Wollen Sie es haben?« »Bitte?« »Dominic«, sagte Tony mit gespielter Geduld. »Ihren Sohn.« »Ich …«, er blieb stecken. »Sagen Sie es Ihrer Frau«, bat Tony. Er mußte sie wohl hinter ihrem Mann gesehen haben, denn nur kurz danach ging die Haustür weit auf, und Mi randa stand mager in einem Nachthemd da. Einen Augen blick zögerte sie wie vor Entsetzen, als wage sie nicht, es zu glauben, und ich stieg mit Dominic, der sich fest an mich hängte, aus. »Hier ist er«, sagte ich. »Heil und gesund.« Sie streckte die Hände aus, und Dominic ließ sich aus meiner Umarmung in ihre gleiten, wobei die Decke herab fiel. Er schlang die kleinen Arme um ihren Hals, klammer te sich mit den Beinen an wie eine Klette, und es war, als hätten zwei unvollständige Körper sich zu einem Ganzen gefügt. Keiner von beiden sprach ein Wort. Nerrity übernahm das Reden allein. 247
»Dann kommen Sie mal besser rein«, sagte er. Tony warf mir einen zynischen Blick zu, und wir traten in die Halle. »Wo haben Sie ihn gefunden?« wollte Nerrity wissen. »Ich habe noch kein Lösegeld bezahlt …« »Die Polizei fand ihn«, sagte Tony. »In Sussex.« »Oh.« »In Verbindung mit Liberty Market«, setzte ich elegant hinzu. »Oh.« Er war ratlos; wußte nicht, ob er sich bedanken oder sich entschuldigen oder wie er sagen sollte, es sei vielleicht falsch von ihm gewesen, uns an die Luft zu set zen. Keiner von uns half ihm. Tony sagte zu Miranda: »Ihr Wagen steht noch am Hotel, aber Ihre Sachen – Kleider, Stuhl und so weiter – haben wir mitgebracht.« Sie sah ihn gedankenverloren an, ihr ganzes Bewußtsein war auf die Klette eingestellt. »Teilen Sie Kommissar Rightsworth mit, daß der Junge wieder da ist«, sagte ich zu Nerrity. »Ah … ja.« Dominic war, bei elektrischem Licht besehen, ein hüb sches Kind mit einem wohlgeformten Kopf auf einem lan gen schlanken Hals. In meinen Armen war er leicht er schienen, doch Miranda lehnte sich unter dem Gewicht, das sie auf ihrer Hüfte trug, zurück. Sie waren immer noch ineinander verschlungen, als klebten sie zusammen. »Alles Gute«, sagte ich zu ihr. »Er ist ein toller Junge.« Sie sah mich sprachlos an, wie ihr Sohn. Tony und ich luden ihr Urlaubsgepäck im Flur ab und sagten, wir würden am Morgen anrufen, um uns zu verge wissern, ob alles in Ordnung sei; aber als Nerrity sich schließlich zu einem leisen Danke durchgerungen und hin ter uns die Tür geschlossen hatte, fragte Tony mich: »Was meinst du? Was sollten wir jetzt tun?« 248
»Hierbleiben«, sagte ich entschieden. »Ziemlich auf der Hut sein. Terry und Peter sind bisher ungeklärt, und viel leicht gibt es noch andere. Wir stünden wie die Vollidioten da, wenn sie geradewegs hereinmarschierten und die gan ze Familie als Geiseln nähmen.« Tony nickte. »Glaub niemals, daß der Gegner die Feind seligkeiten einstellt, selbst wenn er scheißkapituliert hat. Wachsamkeit ist die beste Verteidigung.« Er grinste. »Ich mache doch noch einen Soldaten aus dir.«
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E
inen Tag lang war es ruhig und friedlich. Tony und ich fuhren für einige Stunden ins Büro und faßten einen gemeinsamen Bericht ab, den die versammelten Teilhaber am nächsten Tag hoffentlich akzeptieren würden. Abgese hen davon, daß wir die Reihenfolge vertauschten, in der Dominics Rettung und der Einzug der Gladiatoren erfolgt waren, hielten wir uns ziemlich eng an die Wahrheit. Wie immer wurden die weniger koscheren Aktivitäten vor al lem durch die Wortwahl beschönigt. »Wir kamen zu dem Schluß, daß man das Kind im obe ren Stockwerk gefangenhielt«, schrieb Tony, ohne zu er wähnen, wie wir zu dem Schluß gelangt waren. »Nachdem das Kind befreit war, hielt Kommissar Eagler dafür, daß es sobald wie möglich wieder mit seinen Eltern vereinigt werden sollte, und daher brachten wir es nach Hause.« Am Telefon hatte Eagler auf unsere etwas ängstlichen Fragen beruhigend geantwortet. »Seien Sie unbesorgt. Wir haben sie kampflos gestellt. Sie husteten und heulten im ganzen Haus herum. Sie wa ren zu dritt. Zwei liefen völlig durchgedreht im oberen Stock herum, suchten das Kind und konnten nichts sehen vor lauter Tränen. Sie sagten immer wieder, es sei die Rut sche heruntergefallen.« »Haben Sie die Rutsche gefunden?« fragte ich neugierig. »Ja. Es war so ein rundes Segeltuchding, wie man es zur Rettung aus Flugzeugen benutzt. Sie führte von dem Loch im Fußboden in einen schmalen Wandschrank im Stock werk darunter. Die Schranktür war zugemauert und über tapeziert worden, und ein Kleiderschrank stand davor. Al 250
les frisch gemacht, der Mörtel war noch nicht völlig trok ken. Wie auch immer, sie hätten den Jungen die Rutsche heruntergestoßen, das lose Fußbodenteil wieder einsetzen und einen Teppich über die Luke legen können, und bei keiner normalen Durchsuchung wäre er gefunden worden.« »Hätte er es überlebt?« fragte ich. »Ich denke ja, sofern sie ihn wieder herausgeholt hätten, aber dazu hätten sie die Mauer vor der Tür einreißen müs sen.« »Alles ganz schön scheußlich«, meinte ich nüchtern. »Ja, sehr.« Tony und ich nahmen Eaglers Beschreibung der Rutsche in unseren Bericht auf und beschlossen, Miranda nichts davon zu erzählen. Eagler sagte außerdem, daß keiner der Entführer redete; sie seien zäh, verschlossen und mörderisch aufgebracht. Keiner von ihnen wolle mit seinem Namen, seiner An schrift oder sonst einer Information herausrücken. Keiner habe auch nur ein einziges Wort gesagt, das man festhalten und als Beweis verwenden könne. Sie hätten sich aus schließlich in Kraftausdrücken geäußert, und selbst damit seien sie noch sparsam umgegangen. »Wir haben natürlich ihre Fingerabdrücke an die Zen tralkartei geschickt, aber bisher ohne Ergebnis.« Er hielt inne. »Ich habe mir Ihre Bänder angehört. Heiß. Mit dem, was da drauf ist, knacke ich diese feinen Austern, keine Bange.« »Hoffentlich spucken sie Perlen.« »Das werden sie, alter Junge.« Gegen Mittag telefonierte ich mit Alessia, um die Einla dung zum Essen zu verschieben, und sie verzieh mir so fort. »Miranda hat angerufen«, sagte sie. »Sie erzählte mir, daß ihr Dominic nach Hause gebracht habt. Sie kann vor 251
lauter Weinen nicht reden, aber diesmal sind es größten teils Freudentränen.« »Größtenteils?« sagte ich. »John und dieser Kriminalbeamte, Kommissar Rights worth, bestanden darauf, daß Dominic von einem Arzt un tersucht wird, und natürlich war Miranda nicht dagegen, aber sie sagt, jetzt sprechen sie von einer Behandlung für ihn. Nicht seiner körperlichen Verfassung wegen, die ist ja nicht schlecht, sondern einfach, weil er nichts sagen will.« »Was für eine Behandlung?« »In der Klinik.« »Das kann nicht ihr Ernst sein!« sagte ich bestürzt. »Sie meinen, Miranda könne ja mitgehen, aber es gefällt ihr nicht. Sie versucht, die beiden umzustimmen. Sie sol len Dominic ein paar Tage bei ihr zu Hause in Frieden las sen. Sie sagt, er wird bestimmt mit ihr reden, wenn sie al lein sind.« Ich überlegte, daß es um den Frieden vorläufig gesche hen wäre, wenn die Nachricht von der Entführung erst ins Bewußtsein der Öffentlichkeit drang, doch im übrigen hat ten ihre Instinkte völlig recht. Ich sagte: »Glaubst du, du könntest John Nerrity anhand dessen, was du selbst erlebt hast, davon überzeugen, daß es sehr schädlich für Dominic wäre, ihn jetzt in eine Kli nik mitten unter Fremde zu schaffen, selbst wenn Miranda mit ihm geht?« Eine Pause folgte. Dann sagte sie langsam: »Wenn Papa mich in eine Klinik gesteckt hätte, wäre ich wirklich ver rückt geworden.« »Menschen tun mitunter schreckliche Dinge in der be sten Absicht.« »Ja«, sagte sie schwach. »Bist du zu Hause?« »Nein. Im Büro. Und – wegen des Essens, das tut mir sehr leid …« 252
»Es geht auch an einem anderen Tag«, sagte sie abwe send. »Ich rede mit John Nerrity, und wir telefonieren noch mal.« Sie rief wieder an, als Tony und ich den Bericht abge schlossen hatten und er zu einem verdienten Schlaf nach Hause gefahren war. »John war sehr zurückhaltend, du hättest gestaunt«, sag te sie. »Nichts von dieser Aufgeblasenheit. Jedenfalls ist er bereit, Dominic mehr Zeit zu lassen, und ich habe Miranda mit Dominic für morgen nach Lambourn eingeladen. Popsy ist so ein Schatz. Sie sagt, sie habe ein offenes Haus für Entführungsopfer. Außerdem schlug sie vor, du solltest doch auch kommen, wenn du könntest, und ich finde … ich fände es wunderbar … wenn du könntest.« »Ja, ich kann«, sagte ich. »Ich komme sehr gern.« »Prima«, sagte sie; dann nachdenklich: »Weißt du, es hörte sich an, als ob John sich freut, Miranda und Dominic loszuwerden. Er ist so seltsam. Man sollte meinen, er sei wahnsinnig froh, daß er seinen Sohn wiederhat, aber es schien ihm fast … unangenehm.« »Denk mal an den Zustand deines Vaters, als du nach Hause kamst.« »Ja, aber …«, sie brach ab. »Schon sehr komisch.« »John Nerrity«, sagte ich neutral, »ist wie so ein Schnee flocken-Briefbeschwerer, den es durchgerüttelt hat, da treibt von schlechtem Gewissen und Gemeinheit bis zu Angst und Erleichterung alles durcheinander. Nach etwas so Traumatischem wie den letzten Tagen braucht es seine Zeit, bis sich in einem Menschen alles gesetzt hat, wie das Schneegestöber quasi, und die alte Charakterstruktur sich wieder behauptet.« »So habe ich das noch nie gesehen.« »Ist er sich darüber klar«, fragte ich, »daß die Presse über ihn herfallen wird, wie damals bei dir?« 253
»Nein, ich glaube nicht. Wird sie denn?« »Leider. Bestimmt. Irgendwer in Sussex hat ihnen sicher einen Tip gegeben.« »Arme Miranda.« »Sie schaffte es schon. Wenn du sie noch mal anrufst, sag ihr, sie soll Dominic während der Interviews ganz festhalten und ihm immer wieder zureden, daß ihm nichts passiert und daß die Leute bald weggehen.« »Ja.« »Bis morgen«, sagte ich. Dominic kam groß in den Vormittagsnachrichten im Fern sehen und fast als Schlagzeile in den Zeitungen. Miranda, sah ich zu meiner Freude, war den Kameras beherrscht und glücklich gegenübergetreten, das sprachlose Kind wirkte lediglich scheu. John Nerrity hatte mit zurückge worfenem Kopf und sich sträubendem Schnurrbart bestä tigt, daß der Verkauf seines Derbysiegers steigen werde wie geplant. Von einer Pleite könne allerdings bei ihm keine Rede sein. Die Story sei bloß zur Verwirrung der Kidnapper erfunden worden. Alle fragten, wer seinen Sohn befreit habe. Die Polizei, sagte John Nerrity. Kein Lob war zu hoch. Die meisten Leute im Büro lasen, angeregt durch die Medien, Tonys und meinen Bericht mit Interesse, und in der Montagssitzung beantworteten wir Fragen. Gerry Clayton hob zwar ein paarmal die Augenbrauen, aber im großen ganzen wollte niemand allzu genau wissen, was wir außer zu beraten noch getan hatten. Der Präsident sag te abschließend, es sollte uns nicht kümmern, falls Nerrity fest blieb und die Zahlung eines Honorars verweigerte. Die Befreiung Dominics, meinte er zufrieden, sei ohne große Kosten für die Firma rasch und sauber durchgeführt worden. Die Zusammenarbeit mit der Polizei habe hervor 254
ragend geklappt. Bravo, ihr beiden. Sonst noch Geschäftli ches? Wenn nicht, vertagen wir. Tony vertagte in die nächste Kneipe und ich nach Lam bourn, wo ich später eintraf, als ich mir wünschte. »Gott sei Dank«, sagte Alessia, die mir aus dem Haus entgegenkam. »Wir dachten, du wärst verschüttgegangen.« »Wurde im Büro aufgehalten.« Ich drückte sie liebevoll. »Keine Entschuldigung.« Eine neue Heiterkeit ging von ihr aus; erfreulich und er mutigend. Sie führte mich durch die Küche in das feierli che Wohnzimmer, wo Dominic aufmerksam auf Mirandas Schoß saß und Popsy Wein einschenkte. »Tag«, sagte Popsy und gab mir zur Begrüßung einen Kuß, die Flasche in der einen Hand, ein Glas in der anderen. »Heraus mit dem Zauberstab, er wird dringend gebraucht.« Ich lächelte in ihre grünen Augen und nahm das Glas. »Ein Jammer, daß ich nicht zwanzig Jahre jünger bin«, sagte sie. Ich bedachte sie mit einem Jaja-Blick und wand te mich Miranda zu. »Hallo«, sagte ich. »Hallo.« Sie war still und zittrig, als wäre sie krank. »Hallo, Dominic.« Das Kind starrte mich ernst aus großen, weit offenen Augen an. Blaue Augen, sah ich bei Tageslicht. Tiefblaue Augen. »Sie waren toll auf dem Bildschirm«, sagte ich zu Mi randa. »Genau richtig.« »Alessia hat mich … beraten.« »Alessia riet ihr, sich gut anzuziehen, ruhig zu wirken und so zu tun, als sei alles normal«, sagte Popsy. »Ich habe es gehört. Sie meinte, es sei eine gute Lektion, die sie von Ihnen gelernt habe, und Miranda könne daraus auch Nut zen ziehen.« 255
Popsy hatte in der Küche ein kleines Mittagessen vorbe reitet, von dem Miranda wenig aß und Dominic nichts, und anschließend fuhr sie uns alle mit dem Landrover hin auf in die Downs. Vermutlich dachte sie instinktiv, da Alessia sich dort am freiesten gefühlt hatte, würde es auch Dominic so gehen. »Hat Dominic überhaupt schon etwas zu sich genom men, seit wir ihn wiedergebracht haben?« fragte ich un terwegs. »Nur Milch«, sagte Miranda. »Und nicht mal die wollte er anrühren, bis ich es mit einer seiner alten Flaschen pro bierte.« Sie küßte ihn sanft. »Er bekam als Baby seine Gute nachtmilch immer in der Flasche, nicht wahr, Puppi? Erst vor sechs Monaten hat er sich’s abgewöhnt.« Wir sannen alle schweigend über Dominics Rückfall ins Säuglingsalter nach, und Popsy bremste bei den Trai ningshürden. »Ich habe eine Decke mit«, sagte sie. »Setzen wir uns ins Gras.« Sie und die beiden Mädchen setzten sich, wobei Dominic sich noch immer an seine Mutter klammerte, und ich lehnte mich gegen den Landrover und dachte bei mir, daß Popsy wahrscheinlich recht hatte. Der Friede der weiten Berge war so mächtig, daß er einen fast körperlich berührte. Miranda hatte ein Spielzeugauto mitgenommen, und Alessia spielte damit, indem sie es über die Decke rollte, über Mirandas Bein und auf das von Dominic. Er beo bachtete sie eine Zeitlang ernst, dann verbarg er das Ge sicht am Hals seiner Mutter. Miranda sagte mit bebenden Lippen: »Haben sie … ha ben sie ihm etwas angetan? Er hatte keine schlimmen blauen Flecke, nur so kleine … aber was haben sie ange stellt, was haben sie bloß getan, daß er so ist?« 256
Ich kauerte mich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern, so daß ich auch Dominic umfing. Er blickte mit einem Auge unter dem Ohr seiner Mutter hervor, versuch te aber nicht, sich loszuwinden. »Sie haben ihn offenbar mit einer Art Kinderwagengurt an ein Bett geschnallt. Ich habe es nicht gesehen, aber man erzählte es mir. Ich denke nicht, daß ihm der Gurt weh ge tan hat. Er konnte sich wohl etwas bewegen – sitzen, knien, liegen. Er hat jede Nahrung verweigert und manchmal geweint, weil er einsam war.« Ich hielt inne. »Es kann sein, daß sie ihn absichtlich mehr als nötig ver ängstigt haben, damit er Ruhe gab.« Wieder zögerte ich. »Im Fußboden war ein Loch. Ein großes Loch, groß ge nug, daß ein Kind durchfallen konnte.« Ich zögerte erneut. »Sie könnten Dominic gesagt haben, wenn er zuviel Krach machte, würden sie ihn in das Loch tun.« Miranda erzitterte am ganzen Körper, und Dominic heul te auf und klammerte sich wild an seine Mutter. Es war der erste Laut, den er von sich gegeben hatte, und das mochte ich nicht ungenutzt lassen. »Dominic«, sagte ich ruhig. »Ein paar nette Polizeibe amte haben das Loch zugestopft, damit keine kleinen Jun gens hineinfallen können. Die drei Männer, die dich mit einem Boot weggebracht haben, kommen nicht mehr wie der. Die Polizei hat sie im Gefängnis eingesperrt. Keiner bringt dich an die Küste.« Ich zögerte. »Keiner klebt dir noch mal Pflaster auf den Mund. Keiner wird böse zu dir sein und dich schrecklich beschimpfen.« »Ach, Schätzchen«, sagte Miranda gequält und drückte ihn an sich. »Das Loch ist zugestopft«, wiederholte ich. »Es gibt kein Loch mehr im Boden. Niemand kann hineinfallen.« Der arme kleine Kerl würde vielleicht sein Leben lang Alpträume davon haben. Ein Mensch, der etwas zur Ver 257
hütung von Alpträumen erfände, dachte ich oft, verdiente den Nobelpreis. Ich stand auf und sagte zu Alessia und Popsy: »Machen wir einen Bummel«, und als sie aufstanden, sagte ich zu Dominic: »Gib deiner Mami viele, viele Küsse. Sie hat die ganze Zeit geweint, als diese schrecklichen Männer dich mitnahmen. Da braucht sie viele Küsse.« Sie brauchte die Küsse, die ihr Mann ihr nicht gegeben hatte. Sie brauchte den Trost starker erwachsener Arme. Sie würde genügend Kraft entwickeln müssen, um Domi nic und sich allein durchzubringen, und es erschien mir noch völlig offen, ob sie erfolgreich den Kampf bestand oder einen Zusammenbruch erlitt. Popsy, Alessia und ich gingen langsam zu einer der Trai ningshürden und unterhielten uns dort. »Glauben Sie, daß es richtig war, ihn an das Loch im Boden zu erinnern?« fragte Popsy. »Splitter müssen heraus«, sagte ich. »Oder der Eiter?« »Ja.« »Woher wußten Sie, was die ihm angedroht haben?« »Ich wußte es nicht. Ich habe es vermutet. Es lag doch nahe, oder? Das Loch war da. Er heulte. Sei still, du klei nes Aas, sonst werfen wir dich rein.« Popsy kniff die Augen zusammen. Alessia schluckte. »Sag Miranda«, wandte ich mich an sie, »daß es lange dauert, über etwas so Furchtbares wie eine Entführung hinwegzukommen. Sie soll sich nicht sorgen, wenn Domi nic das Bett näßt oder sich an sie klammert. Sag ihr, wie es bei dir war. Wie es dich verunsichert hat. Dann wird sie geduldig sein mit Dominic, wenn die erste Freude darüber, daß sie ihn wiederhat, einmal abgekühlt ist.« »Ja, ich werde es ihr sagen.« Popsy sah von Alessia zu mir und wieder zurück, aber 258
schwieg, und es war Alessia selbst, die fast mit einem Lä cheln Popsys Gedanken aussprach. »Ich klammere mich ganz schön an dich«, sagte sie zu mir, während ihr Blick kurz hinüber zu Miranda schweifte. »Wenn du nicht da bist und ich Angst bekomme, denke ich an dich, und es hält mich aufrecht. Das werde ich Miranda auch sagen. Sie braucht selbst jemand zum Anklammern, die arme Frau.« »Du stellst Andrew hin wie eine Art Spalier für Kletter pflanzen«, meinte Popsy. Wir gingen ein Stück weiter bis zur nächsten Trainingshürde, blieben stehen und blickten über die Berge hin. Hohe Zirruswolken kringelten sich fe dernartig unter der Sonne, ein Omen für kommendes schlechtes Wetter. Wir hätten Dominic nie gefunden, dach te ich, wenn es an dem Tag nach seiner Entführung gereg net hätte und kein Kanalgräber mit seiner Oma am Strand gewesen wäre. »Wißt ihr«, sagte Alessia plötzlich unruhig, »es wird Zeit, daß ich wieder mal Rennen reite.« Die Worte kamen wie unbeabsichtigt heraus und schienen sie zu überraschen. »Mein Schatz!« rief Popsy aus. »Ist das dein Ernst?« »Ich glaube, im Moment will ich es«, sagte Alessia zö gernd. Sie lächelte nervös. »Ob ich es morgen noch will, sei dahingestellt.« Wir merkten jedoch alle, daß es der erste dünne Riß im Damm war. Ich legte die Arme um Alessia und küßte sie; und im selben Augenblick war es keine Glückwunschgeste mehr, sondern viel heftiger, etwas ganz anderes. Ich spür te, wie das Feuer auch sie durchlief und dann abklang, und ich ließ sie los mit dem Gedanken, daß das Souterrain da aber voll und ganz die Leitung übernommen hatte. Ich lächelte, zuckte die Achseln. Äußerte mich nicht. »Hast du das gewollt?« fragte Alessia. »Nicht direkt«, sagte ich. »Es war eine Überraschung.« 259
»Das war es allerdings.« Sie sah mich abschätzend an und ging allein davon, ohne zurückzuschauen. »Sie haben sie von dem Spalier abgehauen«, meinte Popsy belustigt. »Der Arzt küßt die Patientin; höchst un professionell.« »Ich küsse auch Dominic, wenn Sie sich dann besser fühlen.« Sie nahm meinen Arm, und wir schlenderten kamerad schaftlich zurück zu dem Landrover und der Decke. Mi randa lag schlummernd auf dem Rücken und Dominic breit ausgestreckt über ihrem Bauch. Auch seine Augen waren geschlossen, das kleine Gesicht entspannt, die Kon turen rund und anziehend. »Armer kleiner Spatz«, murmelte Popsy. »Wäre schade, sie aufzuwecken.« Miranda wachte von selbst auf, als Alessia wiederkam, und mit dem noch schlafenden Dominic traten wir die kurze Heimfahrt an. Eine der Unebenheiten auf dem aus gefahrenen Feldweg mußte ihn jedoch wach gerüttelt ha ben, denn ich sah, wie er sich in Mirandas Armen halb aufsetzte und dann zurücklehnte, während der Kopf seiner Mutter über ihn gebeugt war, als ob sie lauschte. Alessia warf mir einen verstörten Blick zu und neigte ebenfalls den Kopf, um hinzuhören, doch ich nahm außer dem Motorenlärm nichts wahr, und mir schien nicht ein mal, daß sich Dominics Lippen bewegten. »Halt mal an«, sagte Alessia zu Popsy, und Popsy ge horchte, weil es dringend klang. Dominic summte etwas. Einige Sekunden ging das leise Geräusch weiter; wahl los, dachte ich zunächst, wenn auch gewiß nicht in ein und demselben Ton. »Wißt ihr, was das ist?« sagte Alessia ungläubig, als das Kind aufhörte. »Ich kann es einfach nicht fassen.« 260
»Was denn?« sagte ich. Als Antwort summte sie die Takte erneut, genau wie es Dominic getan hatte. Er setzte sich in Mirandas Armen auf und blickte sie deutlich reagierend an. »Er kennt es!« rief Alessia aus. »Dominic kennt es.« »Ja, Schatz«, sagte Popsy geduldig. »Das sehen wir wohl. Können wir jetzt weiterfahren?« »Du verstehst nicht«, sagte Alessia atemlos. »Das ist aus Il Trovatore. Der Soldatenchor.« Sie faßte sie scharf ins Auge. »Soll das heißen …«, be gann ich. Sie nickte. »Ich habe es sechs Wochen lang fünfmal am Tag gehört.« »Wovon reden Sie?« fragte Miranda. »Dominic kennt keine Oper. Weder John noch ich mögen welche. Dominic kennt nur Kinderlieder. Die schnappt er im Nu auf. Ich spiele sie ihm auf Kassetten vor.« »Herr im Himmel«, sagte ich ehrfürchtig. »Popsy, fahr nach Hause, es ist alles wunderbar.« Gutgelaunt ließ Popsy den Rover wieder an und fuhr uns zurück zum Haus, und sobald wir dort waren, holte ich meine Aktenmappe aus meinem Wagen und brachte sie in die Küche. »Miranda«, sagte ich, »ich hätte gern, daß Dominic sich mal ein Bild ansieht.« Sie war zwar besorgt, erhob aber keine Einwände. Sie setzte sich an den Küchentisch, Dominic auf ihrem Schoß, und ich nahm eine der Lichtpausen von Giuseppe heraus und legte sie mit dem Gesicht nach oben vor ihn. Miranda lauerte ängstlich auf eine erschreckte Reaktion Dominics, doch sie blieb aus. Dominic betrachtete eine Weile ruhig das Gesicht, dann wandte er sich ab und lehnte sich gegen Miranda, sein Gesicht an ihrem Hals. Mit einem leisen Seufzer steckte ich das Bild wieder in 261
die Mappe und nahm Popsys Angebot einer Tasse Tee für alle dankbar an. »Ciao, bambino«, sagte Dominic. Alessias Kopf und meiner fuhren herum wie von Dräh ten gezogen. »Was hast du gesagt?« fragte ihn Alessia, und Dominic schmiegte sein Gesicht enger an Mirandas Hals. »Er hat Ciao, bambino gesagt«, stellte ich fest. »Ja … das meine ich auch.« »Kann er irgendwoher Italienisch?« fragte ich Miranda. »Natürlich nicht.« »Auf Wiedersehen, Baby«, sagte Popsy. »Heißt das nicht so?« Ich holte das Bild von Giuseppe noch einmal aus der Mappe und legte es auf den Tisch. »Dominic, mein lieber Kleiner«, sagte ich. »Wie hieß der Mann?« Die großen Augen drehten sich in meine Richtung, aber er schwieg. »Hieß er vielleicht … Micha el?« fragte ich. Dominic schüttelte den Kopf: ein wenig nur, aber ein deutig verneinend. »Hieß er David?« Dominic schüttelte den Kopf. »Hieß er Giuseppe?« Dominics Blick wankte nicht. Er schüttelte den Kopf. Ich überlegte ein wenig. »Hieß er Peter?« Dominic tat nichts, außer mich anzusehen. »Hieß er Dominic?« sagte ich. Dominic lächelte fast. Er schüttelte den Kopf. »Hieß er Peter?« Dominic hielt lange Zeit still, dann – langsam und kaum merklich – nickte er. »Wer ist denn Peter?« fragte Alessia. »Der Mann, der ihn auf eine Bootsfahrt mitnahm.« Dominic streckte eine Hand aus und berührte das abge 262
bildete Gesicht kurz mit einem Finger, bevor er sie zu rückzog. »Ciao, bambino«, sagte er noch einmal und drückte den Kopf an seine Mutter. Eines war sonnenklar, dachte ich. Es war nicht Giusep pe-Peter, der Dominic am meisten geängstigt hatte. Das kleine Kind hatte ihn genau wie Alessia gemocht. Eagler sagte: »Ich dachte, der Junge wollte nicht reden. Kommissar Rightsworth teilte mir mit, er habe es ver sucht, aber das Kind habe einen Schock erlitten, und die Mutter stelle sich gegen eine Behandlung.« »Mm«, sagte ich. »Trotzdem, das war gestern. Heute hat Dominic zweifelsfrei den Mann auf der Kopie als einen der Entführer identifiziert, den er als Peter kennt.« »Was glauben Sie, wie zuverlässig das Kind ist?« »Sehr. Es hat ihn sicherlich gekannt.« »Na schön. Und dieser Peter – es dürfte wohl der sein, von dem die Entführer auf den Bändern reden –, der ist Italiener?« »Ja. Dominic hat zwei Worte von ihm gelernt, Ciao, bambino.« »Gott, nein«, spöttelte Eagler. »Es scheint außerdem«, sagte ich, »als ob GiuseppePeter eine Vorliebe für Verdi hat. Alessia Cenci sagte, ihre Entführer hätten ihr immer und immer wieder drei VerdiOpern vorgespielt. Dominic summte den Soldatenchor aus Il Trovatore, das war eine davon. Haben Sie vielleicht zu fällig einen Kassettenrekorder in dem Haus gefunden?« »Ja, haben wir.« Es klang, als würde ihn nie mehr etwas überraschen. »Der stand in dem Zimmer, wo das Kind festgehalten wurde. Nur zwei Bänder waren dabei. Eines mit Popmusik, und, jawohl, alter Junge, das andere mit Verdi. Il Trovatore.« 263
»Dann steht es doch fest, oder?« sagte ich. »Wir haben einen Fachmann vor uns.« »Einen was?« »Fachmann. Verzeihen Sie; so nennen wir bei Liberty Market jemand, der Entführungen berufsmäßig über nimmt. Entsprechend einem Safeknacker oder Betrüger. Es ist seine Arbeit.« »Ja«, stimmte Eagler bei. »Wir haben einen Fachmann, und wir haben Sie. Mich wundert, ob Giuseppe-Peter von der Existenz von Liberty Market weiß.« »Seinem ständigen Widersacher«, bemerkte ich. Eagler lachte halb. »Seine Region in Italien wird ihm wohl zu heiß geworden sein, nachdem Sie da alles mit of fensichtlich stimmenden Konterfeis überschwemmt haben. Es wäre doch zu schön, wenn er beschlossen hätte, nach England zu gehen, und es prompt wieder mit Ihnen zu tun bekam. Er wäre sprachlos, wenn er’s wüßte.« »Er wird wohl noch dahinterkommen«, sagte ich. »Die Existenz von Liberty Market ist nicht völlig geheim, auch wenn wir keine Werbung betreiben. Ein erfahrener Kid napper hört irgendwann von uns. Vielleicht kommt eines schönen Tages mal eine Lösegeldforderung, die besagt, keine Polizei und kein Liberty Market.« »Ich meinte Sie persönlich, alter Junge.« »Oh.« Ich machte eine Pause. »Nein, davon weiß er nichts. Er hat mich mal in Italien gesehen, aber nicht hier. Damals ahnte er nicht, für wen ich arbeite. Er wußte nicht mal, daß ich Brite bin.« »Er wird einen Anfall kriegen, wenn er sein Bild jetzt auch noch in ganz England findet.« Eagler hatte Spaß an dem Gedanken. »Auch wenn wir ihn nicht fassen, den jagen wir im Nu wieder dahin zurück, wo er hergekommen ist.« »Wissen Sie«, sagte ich zögernd, »Sie und auch Pucinelli könnten dieses Bild vielleicht mal unter Pferdenarren her 264
umzeigen, anstatt es bloß in Polizeistationen aufzuhängen. Viele Ganoven sind nach außen hin doch solide Bürger, nicht? Die Entführungen, bei denen wir sicher wissen, daß sie sein Werk sind, haben beide mit dem Rennsport zu tun. Das sind die Kreise, in denen er bekannt sein müßte. Ir gendwer, irgendwo, müßte ihn kennen. Vielleicht würden die Rennzeitungen das Bild abdrucken?« »Es ist schade, daß ich mit Ihrem Freund Pucinelli keine Unterlagen vergleichen kann. Manchmal denke ich, die polizeilichen Verfahrensvorschriften verhindern eher den Informationsaustausch, als ihn zu fördern. Selbst innerhalb Englands hat eine Grafschaft ihre liebe Mühe, wenn sie Auskünfte von einer anderen will, ganz zu schweigen von Gesprächen mit der Regionalpolizei auf dem Festland.« »Ich wüßte nicht, warum es nicht gehen soll. Ich kann Ihnen seine Telefonnummer geben. Sie könnten einen Dolmetscher hinzuziehen.« »Anruf nach Italien? Das ist teuer, alter Junge.« »Ach so.« Ich entdeckte außerdem in seinem Tonfall das Widerstreben vieler Briten, Überseegespräche zu führen – fast als ob der Vorgang an sich ein gefährliches und heik les Abenteuer wäre, nicht nur eine Frage des Knöpfedrük kens. »Falls ich etwas Spezielles wissen möchte«, sagte Eag ler, »werde ich Sie bitten, ihn danach zu fragen. Alles, was ich von Ihnen erfahre, fällt unter die Rubrik ›Information erhalten, Herkunft ungewiß‹.« »Zu gütig.« Er lachte leise. »Wir hatten unsere drei Kidnapper heute morgen vor dem Untersuchungsrichter. Eine Woche Un tersuchungshaft. Sie sagen immer noch nichts. Ich habe sie schmoren lassen, während ich mir diese Bänder anhörte, aber heute abend, und zusammen mit dem, was sie mir ge rade erzählt haben, haue ich sie aus den Strümpfen.« 265
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agler knackte seine Austern, aber Perlen gaben sie nicht her. Wie Pucinelli auch kam er zu dem Schluß, daß keiner von ihnen Giuseppe-Peter vor dem Tag gekannt hatte, an dem er einen von ihnen in einer Kneipe anwarb. »Spricht Giuseppe-Peter Englisch?« fragte ich. »Ja, anscheinend gut genug, um damit zurechtzukom men. Hewlitt hat ihn jedenfalls verstanden.« »Wer ist Hewlitt?« »Ein Entführer. Die Stimme auf dem Band mit der Löse geldforderung. Stimmabdrücke positiv. Hewlitt hat ein Strafregister so lang wie Ihr Arm, allerdings für Einbrü che, nicht für solche Sachen. Die anderen beiden sind aus derselben Branche; Einbruch, Silber- und Antiquitäten diebstahl. Sie gaben ihre Namen an, als sie merkten, daß wir sie am Kragen hatten. Jetzt sind sie damit beschäftigt, die ganze Schuld auf Peter abzuschieben, aber sie wissen nicht viel über ihn.« »Haben sie überhaupt schon Geld gesehen?« fragte ich. »Sie sagen nein, aber sie lügen. Einen Vorschuß gab’s bestimmt. Das ist doch klar.« »Giuseppe-Peter hat wohl nicht mal in dem Haus in It chenor angerufen?« Eaglers Antwort war völlige Stille. Verlegenheit, diagno stizierte ich. »Er hat«, tippte ich an, »und kriegte einen Polizisten?« »Tja … es kam ein Anruf von einem Unbekannten.« »Aber Sie haben eine Bandaufnahme davon?« »Alles, was er sagte«, meinte Eagler resigniert, »war ›hallo‹. Mein junger Konstabler dachte, es sei jemand von 266
der Station, und meldete sich entsprechend, und der Anru fer hängte ein.« »Nicht zu ändern.« »Nein.« »Hat Hewlitt gesagt, woher Giuseppe-Peter von ihm wußte? Ich meine, man kann ja nicht in einer britischen Kneipe zu einem völlig Unbekannten gehen und ihm eine Entführung vorschlagen.« »Zu diesem Thema schweigt Hewlitt wie das berühmte Grab. Er rückt auf keinen Fall damit heraus, wer ihn emp fohlen hat. Es gibt Dinge, alter Junge, hinter die kommt man eben nicht. Sagen wir einfach, daß es in London, wo Hewlitt wohnt, eine Menge Italiener gibt, und er verpfeift keinen davon.« »Mm«, sagte ich. »Das sehe ich ein.« Ich rief Alessia an, um mich zu erkundigen, wie es ihr ginge, und sie hatte zwei große Sorgen: einmal ihre eige nen Pläne für ein Comeback-Rennen und zum anderen die Misere von Miranda und Dominic. »Miranda ist so unglücklich, aber ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll«, sagte sie. »John Nerrity verhält sich in je der Hinsicht unvernünftig, und er und Miranda schlafen jetzt getrennt, da er nicht möchte, daß Dominic bei ihnen im Zimmer schläft, und Dominic nicht allein schlafen kann.« »Ein ziemliches Problem«, gab ich zu. »Wohlgemerkt, es dürfte für sie beide schwierig sein. Dominic wacht jede Nacht ungefähr fünfmal weinend auf und schläft erst wieder ein, wenn Miranda ihn streichelt und mit ihm spricht. Sie ist davon schon wie gerädert, sagt sie, und John meint in einem fort, Dominic müsse in die Klinik.« Sie hielt inne. »Ich kann doch nicht Popsy bitten, daß sie sie hier aufnimmt. Ich weiß einfach nicht weiter.« »Hm … Wie gern hast du Miranda?« 267
»Ziemlich. Mehr, als ich dachte, um ehrlich zu sein.« »Und Dominic?« »Der ist ein Schatz. Diese tollen Augen. Ich mag ihn sehr.« Ich zögerte nachdenklich, und sie sagte: »Was meinst du? Was sollte Miranda tun?« »Ist ihre Mutter noch bei ihr?« »Nein. Sie hat einen Job, und eine große Hilfe scheint sie nicht zu sein.« »Hat Miranda irgendwelches Geld außer dem, das John ihr gibt?« »Ich weiß nicht. Aber sie war doch seine Sekretärin.« »Ja. Nun … Miranda sollte mit Dominic zu einem Arzt gehen, den ich kenne, und sie sollte mal eine Woche in der Nähe von jemand wohnen, der ihr Halt gibt wie du und mit dem sie täglich längere Zeit zusammensein kann. Aber ich weiß nicht, inwieweit das möglich ist.« »Ich werde es möglich machen«, sagte Alessia schlicht. Ich lächelte den Hörer an. Sie klang so gefestigt. Die Flut der Probleme Dominics hatte sie ihre eigenen verges sen lassen. »Sieh zu, daß Miranda in Verbindung mit den Plänen, die sie faßt, ihrem Mann gegenüber bloß nicht meinen Namen erwähnt«, sagte ich. »Ich bin nicht gut bei ihm an geschrieben. Wenn er wüßte, daß ein Vorschlag von mir stammt, würde er ihn glatt ablehnen.« »Aber du hast doch Dominic zurückgebracht!« »Was ihm sehr peinlich war. Er hatte uns zwei Tage vor her gefeuert.« Sie lachte. »Na schön. Wie heißt denn der Arzt?« Ich sagte es ihr und versprach ihr außerdem, ich würde den Arzt selbst anrufen, um anhand der Vorgeschichte zu erklären, wie nötig Dominic Hilfe brauchte. »Du bist ein Goldstück«, sagte Alessia. 268
»Ja, sicher. Was meintest du noch von wegen Rennen reiten?« »Ich bin heute und gestern mit dem Lot rausgeritten, und ich verstehe nicht, wieso ich das nicht eher getan habe. Morgen trainiere ich bei Mike Noland. Er sagt, wenn ich fit und gut dabei bin, läßt er mich nächste Woche in Salis bury an den Start.« »Salisbury … bei den Rennen?« »Ja, natürlich.« »Und, ähm, möchtest du Publikum?« »Ja, klar.« »Du hast es.« Sie sagte vergnügt Wiedersehn und rief mich am Abend zu Hause in meiner Wohnung an. »Es ist alles geritzt«, sagte sie. »Miranda meinte, dein Arzt habe sich sehr nett angehört, und als erstes fährt sie morgen mit Dominic zu ihm. Dann kommt sie geradewegs runter nach Lambourn. Ich konnte ihr ein Zimmer in der Kate eines ehemaligen Kindermädchens besorgen, die ich besucht hab’ und der die ganze Idee gefällt, und John hat keine Einwände erhoben, ganz im Gegenteil, er kommt für alles auf.« »Großartig«, sagte ich bewundernd. »Und Popsy möchte dich hier noch mal sehen. Und Mi randa auch. Und ich auch.« »Dann gebe ich nach. Wann?« »Sobald du kannst.« Ich fuhr am nächsten Tag und auch noch zweimal in der darauffolgenden Woche. Dominic schlief besser, da er leichte Schlaftropfen in seine abendliche Flasche Milch bekam, und sein Appetit steigerte sich von Schokoladen drops zu kleingedrückten Bananen. Das alte Kindermäd chen bekümmerte sich um Miranda in einer Weise, die meine Nerven aufgerieben hätte, doch bei dieser um die 269
Liebe betrogenen Frau eine dankbare Abhängigkeit er zeugte. Alessia verbrachte täglich viel Zeit mit ihnen, ob sie nun spazierengingen, im Dorf einkauften oder, wie meistens, bei Popsy zu Mittag aßen und sich im Garten der Kate sonnten. »Sie sind ein ganz Gewiefter, nicht?« sagte Popsy bei meinem dritten Besuch zu mir. »Was meinen Sie damit?« »Daß Sie Alessia so etwas Lohnendes zu tun geben.« »Es kam wirklich zufällig.« »Aber auch mit gutem Zuspruch.« Ich grinste sie an. »Sie sieht doch toll aus, oder?« »Fabelhaft. Ich muß ständig an die ersten Tage denken, wo sie so totenbleich und zittrig war. Jetzt ist sie fast schon wieder die alte.« »Ist sie auch schon allein irgendwohin gefahren?« Popsy warf mir einen Blick zu. »Nein. Noch nicht.« »Wird sie eines Tages.« »Und dann?« »Dann fliegt sie … fort.« Ich hörte etwas in meiner Stimme, das ich weder beab sichtigt noch erwartet hatte: ein ungeschminktes Verlust empfinden. Es ist gut und schön, den Vögeln die gebro chenen Flügel zu heilen. Sie können dein Herz mitneh men, wenn du sie freiläßt. Sie würde mich nicht brauchen – es war mir immer be wußt –, wenn erst der Schneesturm in ihr sich gelegt hatte. Ich hätte wohl versuchen können, ihre Abhängigkeit von mir in ein Liebesabenteuer zu verwandeln, doch das wäre dumm gewesen; grausam für sie, unbefriedigend für mich. Sie mußte langsam wieder in die Unabhängigkeit hinein wachsen und ich mir eine starke und ebenbürtige Partnerin suchen. Klammern und klammern lassen war keine gute Grundlage für langfristigen Erfolg. 270
Wir waren gerade alle auf Popsys Stallhof, wo Alessia Miranda herumführte und ihr über jedes Pferd, zu dem sie kamen, etwas erzählte. Dominic hatte jetzt so viel Selbst vertrauen entwickelt, daß er auf dem Boden stand, wenn er auch mit einer Hand immerzu an Mirandas Kleidern hing und sie ihn auf die Hüfte nehmen mußte, sobald ein Frem der nahte. Er hatte noch nicht wieder etwas gesagt, aber mit jedem Tag, an dem die Angstschwelle sank, wurde es wahrscheinlicher, daß er es bald tun würde. Popsy und ich schlenderten hinter den beiden Mädchen her, und spontan kauerte ich mich vor Dominic hin und sagte: »Möchtest du mal huckepack reiten?« Miranda schwang Dominic ermutigend hoch und setzte ihn auf mich, ein Bein an jedem Ohr vorbei. »Halt dich an Andrews Haaren fest«, sagte Alessia, und ich spürte die kleinen Finger zupacken, als ich mich auf richtete. Dominics Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, aber alle anderen lächelten, also zog ich einfach los, ganz langsam an den Stallboxen vorbei, damit er die Insassen durch die Halbtüren sehen konnte. »Wunderschöne Pferde«, sagte Miranda halb besorgt. »Große Pferde, Schätzchen, schau.« Wir besichtigten den Hof auf diese Weise fertig, und als ich Dominic absetzte, streckte er die Arme hoch und woll te noch einmal rauf. Ich holte ihn auf den linken Arm, mein Gesicht auf einer Höhe mit dem seinen. »Du bist ein guter kleiner Junge«, sagte ich. Er drückte mir seinen Kopf an den Hals, wie er es so oft bei Miranda getan hatte, und hauchte in mein aufmerksa mes Ohr ein einziges leises Wort: »Andrew.« »Genau«, sagte ich, ebenso leise, »und wer ist das?« Ich deutete auf Miranda. »Mami.« Die Silben waren nicht mehr als ein Flüstern, aber ganz deutlich. 271
»Und das?« sagte ich. »Lessia.« »Und das?« »Popsy.« »Sehr gut.« Ich ging mit ihm ein paar Schritte weg von den anderen. Er schien nicht beunruhigt, dann sagte ich mit normaler Stimme: »Was möchtest du zum Tee ha ben?« Eine ziemlich lange Pause entstand, und dann sagte er, immer noch leise: »Schokolade.« »Gut. Du sollst welche bekommen. Du bist ein sehr bra ver Junge.« Ich trug ihn noch weiter weg. Er schaute nur ein- oder zweimal zurück, um sich zu vergewissern, daß Miranda noch in Sicht war, und ich schätzte, daß die schlimmsten seiner Schwierigkeiten überstanden waren. Alpträume würde er zwar haben, auch Anfälle verzweifelter Unsi cherheit, aber die ersten großen Schritte waren getan und meine Aufgabe auch hier nahezu erfüllt. »Wie alt bist du, Dominic?« fragte ich. Er überlegte ein bißchen. »Drei«, sagte er, schon ver nehmlicher. »Womit spielst du gerne?« Ein Zögern. »Auto.« »Was für ein Auto?« Er sang mir deutlich auf zwei Noten »Ta-tü-ta-tü-ta-tü« ins Ohr, in treffender Nachahmung einer Funkstreifensire ne. Ich lachte und drückte ihn. »Du bist in Ordnung«, sagte ich. Alessias Rückkehr zum Rennreiten war in mancher Hin sicht wenig verheißungsvoll, da sie Letzte wurde und mit bleichem Gesicht wiederkam. 272
Das Rennen selbst, ein Sprint über fünf Achtelmeilen für Zweijährige, schien mir im Nu vorbeigewesen zu sein. Kaum war sie zum Start gekantert, eine geduckte Gestalt in leuchtend roten Farben, da wurde das Achtzehnerfeld in die Boxen verfrachtet und losgeschickt. Die roten Farben waren kurz aufgetaucht und dann untergegangen, erdrückt von einer Regenbogenwelle, deren Sog sie nicht mehr mit riß. Die Reiterin setzte sich auf ihren Sattel zurück, sowie sie das Ziel passiert hatte, und stoppte ihr Pferd, so daß es nach wenigen Tritten im Schritt ging. Ich ging dahin, wo alle außer den vier Erstplacierten ab saßen, wo mürrisch blickende Grüppchen von Trainern und Besitzern sich betrübliche Geschichten von teilnahms losen Jockeys erzählen ließen, die in Gedanken schon bei der Zukunft waren. Ich hörte Bruchstücke dessen, was sie sagten, während ich unauffällig auf Alessia wartete. »Wollte nicht zulegen, als ich ihn gefordert hab’ …« »Kriegte die Kurve nicht …« »Wurde gerempelt … eingeschlossen … abgedrängt.« »Noch ein Baby …« »Hing zu weit links …« Mike Noland, der nicht von Besitzern umgeben war, beobachtete neutral, wie Alessia herankam, tätschelte erst einmal den Hals seines Pferdes und untersuchte kritisch seine Beine. Alessia mühte sich, die Schnallen an den Sat telgurten zu lösen, ein Dienst, den ihr Noland schließlich abnahm, und alles, was ich sie zu ihm sagen hörte, war: »Danke … tut mir leid«, worauf er nickte und ihr einen Klaps auf die Schulter gab. Damit schien der Fall erledigt. Alessia bemerkte mich nicht. Sie lief eilig zum Waage raum, und es dauerte gute zwanzig Minuten, bis sie wieder herauskam. Sie wirkte immer noch blaß. Außerdem mitgenommen, dünn, zittrig und unglücklich. 273
»Hallo«, sagte ich. Sie drehte den Kopf und blieb stehen. Brachte ein Lä cheln zustande. »Hallo.« »Was ist los?« sagte ich. »Du hast es doch gesehen.« »Ich sah, daß das Pferd nicht schnell genug war.« »Du hast gesehen, daß nichts von dem Talent, das ich mal hatte, geblieben ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Du würdest nicht erwarten, daß eine Primaballerina die Vorstellung ihres Lebens gibt, wenn sie drei Monate von der Bühne war.« »Das hier ist was anderes.« »Nein. Du hast zuviel erwartet. Sei nicht so … so grau sam zu dir.« Sie blickte mich eine Zeitlang an und schaute sich dann suchend nach einem anderen Gesicht um. »Hast du Mike Noland irgendwo gesehen?« fragte sie. »Nur kurz nach dem Rennen mal.« »Er wird wütend sein.« Sie klang verzweifelt. »Eine zweite Chance gibt er mir nie.« »Hat er denn gehofft, das Pferd würde gewinnen?« frag te ich. »Es trat mit zwölf zu eins an. Längst kein Favorit.« Ihre Aufmerksamkeit war wieder bei mir. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich wußte gar nicht, daß du wettest.« »Ich wette nicht. Noch nie. Ich habe mir nur interesse halber die Buchmachertafeln angesehen.« Sie war mit Mike Noland von Lambourn gekommen und ich mit dem Wagen aus London. Als ich vor dem Umklei den zum Start mit ihr gesprochen hatte, war sie voll nervö ser Erwartung gewesen: große Augen, rote Wangen, zer streutes Lächeln und fahrige Bewegungen. Sie hatte ein Wunder gewollt. »Mir war übel im Führring«, sagte sie. »So was habe ich noch nie erlebt.« 274
»Aber du mußtest dich nicht übergeben …« »Hm, nein.« »Wie wär’s mit einem Drink?« schlug ich vor. »Oder mit einem großen Sandwich?« »Macht dick«, sagte sie automatisch, und ich nickte und nahm sie beim Arm. »Jockeys, deren Talent sich in Luft aufgelöst hat, können soviel Sandwiches essen, wie sie wollen«, sagte ich. Sie zog ihren Arm weg und sagte gereizt: »Du … immer rückst du einem den Kopf zurecht. Na schön. Ich geb’s zu. Nicht jede Spur von Talent ist hin, aber ich habe eine mi serable Leistung geboten. Gehen wir also einen … einen kleinen Sandwich essen, wenn du willst.« Ein Teil des Trübsinns verflog beim Essen, aber nicht al les, und ich verstand zu wenig vom Rennsport, um zu be urteilen, ob die Meinung, die sie von sich hatte, gerecht war. Für mich hatte sie gut ausgesehen, aber andererseits hätte das beinah jeder, der in den Steigbügeln stehen konn te, während eine halbe Tonne Vollblut mit über dreißig Meilen in der Stunde vorwärtsstürmte. »Mike sprach auf dem Hinweg davon, mich nächste Wo che in Sandown aufzustellen, wenn heute alles lief, und ich glaube nicht, daß er es jetzt noch tut.« »Würde es dir sehr viel ausmachen?« »Ja, natürlich«, fuhr sie auf. »Natürlich würde es mir was ausmachen.« Sie hörte selbst das Engagement und die Entschiedenheit in ihrem Tonfall. Ihr Kopf wurde ruhig, ihre Augen friedlicher, und als sie wieder sprach, war ihre Stimme leiser. »Ja, es würde mir was ausmachen. Und das bedeutet, daß ich noch immer Rennreiterin sein möchte, mehr als alles auf der Welt. Es bedeutet, daß ich härter ar beiten muß, um es zu schaffen. Es bedeutet, daß ich die letzten drei Monate hinter mir lassen und weiterleben muß.« Sie aß den Rest eines nicht sehr guten Hähnchen 275
sandwiches auf, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und lä chelte mich an. »Wenn du nach Sandown kommst, schnei de ich besser ab.« Wir gingen schließlich auf die Suche nach Mike Noland, um, wie Alessia sagte, eine ehrliche Meinung von ihm zu bekommen, und mit der Offenheit, die ich bei Rennprofis allmählich als normal betrachten lernte, sagte er: »Nein, du warst nicht gut. Du warst sauschlecht. Wie ein nasser Sack hingst du da drauf. Aber was hast du denn erwartet beim ersten Mal, nach allem, was du durchgestanden hast? Ich wußte, daß du nicht gewinnst. Ich bezweifle, ob das Pferd heute überhaupt hätte gewinnen können, selbst mit dem leibhaftigen Fred Archer im Sattel. Es wäre vielleicht Dritter … Vierter geworden.« Er zuckte die Achseln. »An den Sieger konnte es laut Rennkalender nicht heran. Näch stesmal wirst du besser sein. Bestimmt. Sandown, in Ord nung?« »In Ordnung«, sagte Alessia leise. Der große Mann lächelte freundlich von der Höhe seiner fünfzig Jahre herab und klopfte ihr nochmals auf die Schulter. »Eine der besten Rennreiterinnen Europas«, sag te er zu mir. »Unter den ersten zwanzig.« »Meinen herzlichen Dank«, sagte Alessia. Ich fuhr in der folgenden Woche nach Sandown und zu zwei weiteren Rennmeetings in der Woche danach, und am dritten dieser Tage gewann Alessia zwei Rennen. Ich beobachtete den Applaus und den Jubel und sah ihr lebhaftes, strahlendes Lächeln, als sie ihre Sieger absattel te; sah das Licht in ihren Augen, die Sicherheit und Schnelligkeit ihrer Bewegungen; erlebte die Wiedergeburt des Könnens und der inneren Haltung, die sie schon ein mal an die Spitze gebracht hatten. Das Goldmädchen ge wann sichtlich von Tag zu Tag neu an Format, und an dem 276
Morgen nach ihren Siegen druckten die Zeitungen ihr Foto mit begeisterten Untertiteln. Sie wollte mich offenbar noch immer dabeihaben, mich speziell warten sehen. Sie suchte die umstehenden Scharen mit den Augen ab und hielt lächelnd ein, wenn sie mich erblickte. Sie fuhr jeweils mit Mike Noland von und nach Lambourn und verbrachte ihre freien Minuten auf der Rennbahn mit mir, aber sie hielt sich nicht mehr buchstäb lich an mir fest, um sich vor dem Ertrinken zu bewahren. Sie glitt frei über die Wellen hin und war innerlich bei fer nen Ufern. Sie hatte angefangen, in der Art, die sie am meisten brauchte, glücklich zu sein. »Ich fahre nach Hause«, sagte sie eines Tages. »Nach Hause?« »Nach Italien. Um Papa zu sehen. Ich war so lange weg.« Ich sah in das feinknochige, jetzt so blühende Gesicht, so braun, so voller Gelassenheit, so vertraut. »Du wirst mir fehlen«, sagte ich. »Meinst du?« Sie lächelte mir in die Augen. »Ich schulde dir mehr, als ich bezahlen kann.« »Bitte nicht schulden.« »O doch.« Ihrem Ton nach war es unbestreitbar. »Jeden falls, es ist ja kein Abschied für immer oder so was Dra matisches. Ich komme wieder. Die Flachsaison geht hier in ein paar Wochen zu Ende, aber ich reite ganz bestimmt im nächsten Sommer eine Zeitlang hier.« Der nächste Sommer schien weit weg. »Alessia«, sagte ich. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Sag nicht, was du auf dem Herzen hast. Du mußt weiter den wunderbaren festen Felsen verkörpern, denn ich stehe immer noch auf unsi cheren Füßen. Ich fahre heim zu Papa … aber ich möchte wissen, daß du nur einen Telefonanruf entfernt bist … an 277
manchen Tagen wache ich schwitzend auf …« Sie unter brach sich. »Ich rede nicht vernünftig.« »Tust du doch«, versicherte ich ihr. Sie musterte mich kurz, aber prüfend. »Du brauchst nie etwas zweimal zu sagen, oder? Manchmal brauchst du et was überhaupt nicht zu sagen. Vergiß mich nicht, ja?« »Nein«, sagte ich. Sie fuhr nach Italien, und meine Tage kamen mir bemer kenswert leer vor, auch wenn meine Zeit voll ausgefüllt war. Nerritys Beinah-Verlust von Ordinand hatte den Besit zern anderer hochkarätiger Pferde einen ordentlichen Schrecken eingejagt, und ich war in Verbindung mit unse ren Freunden von dem Versicherungskonsortium bei Lloyds damit beschäftigt, Abwehrmaßnahmen gegen et waige Nachäffer dieses Coups zu treffen. Einige Besitzer versicherten lieber die Tiere selbst gegen Entführung, doch viele erkannten, daß es seine Vorzüge hatte, Frau und Kinder zu versichern. Ich sah mich an der Tür so mancher imposanten Villa klingeln, um die wohl durchdachten Ansichten unseres Präsidenten weiter zugeben, da letzterer mich durch irgendeinen Trugschluß inzwischen für einen Fachmann in Sachen Rennsport hielt. Das Lloyds-Konsortium erhielt gewaltige neue Aufträge, und in jeden Vertrag schrieben sie wie üblich die Klausel, daß im Falle eines Falles sofort Rat bei Liberty Market zu suchen sei. Eine Hand wäscht die andere: Das Konsortium und Liberty Market schnurrten beide vor Behagen. Der Jockey-Klub zeigte einiges Interesse. Ich wurde in seine Büros am Portman Square entsandt, um die Proble me der Lösegelderpressung mit dem Vorstandsvorsitzen den zu erörtern, der mir fest die Hand schüttelte und frag te, ob Liberty Market die Gefahr als real betrachte. 278
»Ja«, sagte ich mild. »In der letzten Zeit gab es drei Ent führungen in der Rennwelt: ein Mann in Italien, dem eine Rennbahn gehörte, Alessia Cenci, die Berufsreiterin, von der Sie sicher wissen, und John Nerritys Sohn.« Er zog die Stirn in Falten. »Sie glauben an einen Zu sammenhang?« Ich erklärte ihm, inwiefern zweifellos die beiden letzte ren zusammenhingen, und seine Stirn bekam tiefere Fal ten. »Niemand kann vorhersagen, ob gerade dieser Mann es noch mal versucht, nachdem die Nerrity-Sache fehlge schlagen ist«, sagte ich, »aber die Idee, jemand zum Ver kauf eines wertvollen Pferdes zu zwingen, könnte so ver lockend sein, daß sie Nachahmer auf den Plan ruft. Daher glauben wir schon, daß Besitzer gut beraten wären, sich gegen jede Art von Lösegelderpressung zu versichern, die ihre Pferde betrifft.« Der Vorsitzende beobachtete ernst mein Gesicht. Er war ein untersetzter Mann von etwa sechzig, mit derselben na türlichen Autorität wie unser Präsident, wenn auch nicht mit demselben überwältigenden Aussehen. Vorstandsvor sitzender Morgan Freemantle, die höchste Instanz des rie sigen Rennsportbetriebes, strahlte mehr Macht als Charme aus, mehr Intelligenz als Güte, mehr Entschlußkraft als Geduld. Ich nahm an, daß ihn im allgemeinen die Men schen eher achteten als liebten, und auch, daß er für die Gesundheit der Rennwelt etwas Gutes war. Von unserer Existenz habe er durch einen Bekannten er fahren, der Versicherer bei Lloyds sei, hatte er gesagt, und seitdem habe er sich verschiedentlich erkundigt. »Es scheint, daß Ihre Firma sehr geschätzt wird«, erklär te er mir streng. »Ich muß sagen, ich hätte die Notwendig keit solch einer Organisation nicht eingesehen, aber jetzt höre ich, daß es pro Jahr annähernd zweihundert erpresse 279
rische Entführungen auf der Welt gibt, nicht gerechnet Stammesunruhen in Afrika oder politische Umwälzungen in Zentral- und Südamerika.« »Äh …«, sagte ich. Er rauschte weiter. »Man sagt mir, daß es vielleicht so gar viel mehr Fälle gibt als die tatsächlich angezeigten. Fälle, in denen Familien oder Firmen eine private Über einkunft treffen und nicht die Polizei verständigen.« »Wahrscheinlich«, stimmte ich zu. »Töricht«, meinte er knapp. »Meistens, ja.« »Ich höre von den Polizeichefs, daß sie zur Zusammen arbeit mit Ihrer Firma bereit sind, wann immer es ange zeigt ist.« Er hielt inne und setzte fast widerstrebend hin zu: »Sie haben keine negative Kritik.« Prima von ihnen, dachte ich. »Ich glaube, wir können deshalb sagen«, fuhr Morgan Freemantle bedachtsam fort, »wenn noch anderen Leuten etwas geschehen sollte, die mit dem Rennsport zu tun ha ben, so können Sie darauf rechnen, daß der Jockey-Klub Ihnen jede in seiner Macht stehende Hilfe gewähren wird.« »Recht herzlichen Dank«, sagte ich überrascht. Er nickte. »Wir haben einen ausgezeichneten Sicherheits dienst. Auch er wird gerne mit Ihnen zusammenarbeiten. Wir vom Jockey-Klub«, erklärte er mir bedauernd, »ver wenden sehr viel Zeit darauf, unlautere Machenschaften zu vereiteln, denn leider verführt der Rennsport zum Betrug.« Darauf schien es keine Antwort zu geben, deshalb gab ich keine. »Lassen Sie’s mich also wissen, Mr. – äh – Douglas«, sagte er im Aufstehen, »falls künftig Ihre Firma von ir gendwem im Rennsport für eine Sache engagiert wird, die in unser Fach schlägt. Die sich, um genau zu sein, auf das Gleichgewicht des Rennsports als ganzes auswirken könn 280
te. Was für Lösegelderpressung mittels Pferden unbedingt gilt.« Ich erhob mich ebenfalls. »Meine Firma kann einem Klienten nur empfehlen, den Jockey-Klub zu benachrich tigen«, sagte ich neutral. »Darauf bestehen können wir nicht.« Er starrte mich abschätzend an. »Wir wissen gerne, was hinter unserem Rücken vorgeht«, sagte er. »Wir wissen gerne, wogegen wir uns schützen müssen.« »Liberty Market wird immer so weit kooperieren wie möglich«, versicherte ich ihm. Er lächelte kurz, beinahe zynisch. »Aber Sie wissen so wenig wie wir, wo ein Gegner vielleicht zuschlägt oder in welcher Weise, und hinterher wünscht man sich Schutz maßnahmen, die man nie ins Auge gefaßt hat.« »Mm«, sagte ich. »So ist das Leben.« Er schüttelte mir wiederum fest die Hand und begleitete mich vom Schreibtisch zur Tür seines Büros. »Hoffen wir, daß sich die ganze Angelegenheit erledigt hat. Wenn nicht, kommen Sie zu mir.« »Ja«, sagte ich. Ich rief eines Abends in der Villa Francese an, und Ilaria nahm das Gespräch entgegen. »Hallo, Tausendsassa«, sagte sie amüsiert. »Wie geht’s denn?« »Mal so, mal so«, sagte ich. »Und Ihnen?« »Langweilig. Können Sie sich das nicht denken?« »Ist Alessia da?« fragte ich. »Die Teuerste besucht mit Papa Leute.« »Ach so …« »Allerdings«, sagte Ilaria bedächtig, »müßte sie um zehn wieder zurücksein. Versuchen Sie es später noch mal.« »Ja. Vielen Dank.« 281
»Bedanken Sie sich nicht. Sie besucht Lorenzo Traventi, der sich von seinen Schußwunden großartig erholt hat und jetzt noch hinreißender und romantischer aussieht und ihr bei jeder Gelegenheit die Hand küßt.« »Die liebe Ilaria«, sagte ich. »Immer so freundlich.« »Scheiß«, meinte sie vergnügt. »Vielleicht sage ich ihr, daß Sie angerufen haben.« Sie sagte es ihr. Als ich wieder anrief, meldete Alessia sich fast sofort. »Tut mir leid, daß ich nicht da war«, sagte sie. »Wie geht’s?« »Wie geht’s dir denn?« fragte ich. »Ach … gut. Wirklich gut. Im Ernst. Ich bin seit meiner Rückkehr in mehreren Rennen gestartet. Zwei Siege. Nicht übel. Erinnerst du dich an Brunelleschi?« Ich dachte zurück. »Das Pferd, das du im Derby nicht geritten hast?« »So ist es. Also, das war einer meiner Sieger in der vori gen Woche, und sie schicken ihn nach Washington zur Teilnahme am International, und ob du es glaubst oder nicht, mich haben sie auch eingeladen, damit ich ihn rei te.« Ihre Stimme enthielt Triumph und Besorgnis zu unge fähr gleichen Teilen. »Fährst du hin?« fragte ich. »Ich … weiß es nicht.« »Washington D. C.?« fragte ich. »In den Staaten?« »Ja. Da findet jedes Jahr auf der Laurel-Bahn ein inter nationales Rennen statt. Aus Europa werden einige echte Elitepferde eingeladen – alle Unkosten, auch für die Trai ner und Jockeys, trägt die Bahn. Ich war noch nie dabei, aber es soll großartig sein. Also, was meinst du?« »Fahr, wenn du kannst.« Ein kurzes Schweigen folgte. »Das ist der springende Punkt, nicht? Wenn ich kann. Ich kann beinahe. Aber ich 282
muß mich spätestens bis morgen entscheiden. Damit ihnen noch Zeit bleibt, sich jemand anders zu suchen.« »Nimm doch Ilaria mit«, schlug ich vor. »Sie würde nicht wollen«, sagte sie entschieden, dann unschlüssiger: »Oder meinst du?« »Fragen kannst du mal.« »Ja. Vielleicht tu’ ich’s. Ich wünschte aber, du selbst könntest mitkommen. Ich würde es spielend schaffen, wenn ich wüßte, daß du da bist.« »Unmöglich«, sagte ich bedauernd. »Aber du kommst schon klar.« Wir unterhielten uns noch länger, und die Folge war, daß ich danach einige Zeit überlegte, ob ich nicht doch eine Woche Urlaub ergaunern und mir den Flugpreis genehmi gen könnte, doch wir waren im Büro gerade knapp besetzt. Tony Vine hatte einen dringenden Ruf nach Brasilien er halten, und vier oder fünf Partner saßen wegen mehrerer böser Geschichten auf Sardinien fest. Ständig nahm ich zwischen den Beratungstouren zu Rennpferdbesitzern am Telefon ihre Nachrichten entgegen, und selbst Gerry Clay tons Paradiesvögel hatten konventionellerem Papierkram Platz gemacht. Nichts kommt, wie man es erwartet. Morgan Freemantle, der Vorstandsvorsitzende des Jok key-Klubs, flog für eine Woche nach Laurel, um Ehrengast des dortigen Rennvereins zu sein; ein Höflichkeitsbeweis zwischen Rennsportverbänden. Am zweiten Tag seines Aufenthaltes wurde er gekidnappt.
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Washington D. C. 16
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nser Präsident schickte mich zum Jockey-Klub hin über, wo der Schock eine Erstarrung wie unter Wachspuppen bewirkt hatte. Zunächst einmal waren nur wenige Leute im Haus, und niemand wußte genau, wer der Verantwortliche war; eine Herde ohne ihr Leittier. Als ich fragte, welche Person die erste Forderung von seiten der Kidnapper erhalten habe, lotste man mich in das Büro einer steifrückigen Frau von mittleren Jahren in Seidenhemd und Tweedrock, die mich stumpf ansah und mir sagte, ich sei zu einer ungünstigen Zeit gekommen. »Mrs. Berkeley?« erkundigte ich mich. Sie nickte mit ausdruckslosen Augen und abwesendem Geist, aber gestrecktem Rückgrat. »Ich komme wegen Mr. Freemantle«, sagte ich. Es klang fast, als hätte ich gesagt: »Ich komme wegen der Wasser leitung«, und ich hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Mrs. Berkeley erhöhte ihre Aufmerksamkeit und sagte: »Sie sind doch nicht der Mann von Liberty Market?« »Doch, ganz recht.« »Oh.« Sie musterte mich. »Sind Sie derjenige, mit dem Mr. Freemantle letzte Woche gesprochen hat?« »Ja.« »Was werden Sie unternehmen?« »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?« fragte 284
ich und deutete auf den nächsten erreichbaren Stuhl neben ihrem großen blanken Schreibtisch. »Aber bitte sehr«, sagte sie schwach. Sie hatte den Ton der gebildeten Oberschicht, in ihrem Gebaren etwas von der Gastgeberin eines Landsitzes. »Ich fürchte, wir sind hier ein wenig … aus dem Konzept gebracht.« »Könnten Sie mir sagen, welche Mitteilungen Sie ei gentlich erhalten haben?« bat ich. Sie schaute brütend auf ihr Telefon, als habe es das Verbrechen selbst begangen. »Ich empfange hier während der Abwesenheit des Vorstandsvorsitzenden alle an seine Privatnummer gerichteten Anrufe. Ich meldete mich … Es war eine amerikanische Stimme, sehr laut, sie forderte mich auf, sorgfältig zuzuhören … Ich kam mir körperlos vor, verstehen Sie? Es war ziemlich unwirklich.« »Die Worte«, sagte ich ohne Ungeduld. »Haben Sie den Wortlaut behalten?« »Natürlich habe ich das. Er sagte, der Vorstandsvorsit zende sei entführt worden. Er sagte, man würde ihn bei Bezahlung von zehn Millionen englischen Pfund freilas sen. Er sagte, der Jockey-Klub müsse das Lösegeld bezah len.« Sie starrte mich aus noch immer vor Schreck ver schleierten Augen an. »Es ist unmöglich, wissen Sie. Der Jockey-Klub hat soviel Geld nicht. Der Jockey-Klub ist ein Verwaltungsorgan. Er hat keine … Vermögenswerte …« Ich sah sie schweigend an. »Verstehen Sie?« sagte sie. »Der Jockey-Klub, das sind eben Leute. Mitglieder. Eines Vereins.« »Reiche Mitglieder?« fragte ich. Ihr Mund blieb halb offenstehen. »Leider«, sagte ich neutral, »ist es Kidnappern norma lerweise völlig gleichgültig, woher das Geld kommt oder wem es weh tut. Wir werden die Forderung auf weit unter zehn Millionen Pfund drücken, aber es kann trotzdem be 285
deuten, daß man Leute aus der Rennwelt um Beiträge er suchen muß.« Ich hielt inne. »Sie haben keine Drohungen erwähnt. Gab es Drohungen?« Sie nickte langsam. »Wenn das Lösegeld nicht bezahlt werde, werde Mr. Freemantle umgebracht.« »Schlicht und einfach?« »Er sagte … es komme später noch eine Mitteilung.« »Die Sie noch nicht erhalten haben?« Sie blickte auf eine runde Wanduhr, deren Zeiger auf zehn vor fünf standen. »Der Anruf kam kurz nach zwei«, sagte sie. »Ich ging zu Oberst Tansing. Er dachte, es sei vielleicht ein Scherz ge wesen, deshalb riefen wir nach Washington an. Mr. Free mantle war nicht in seinem Hotel. Wir ließen uns mit den Public-Relations-Leuten verbinden, die seine Reise betreu en, und sie sagten, er sei gestern abend bei einem Empfang nicht erschienen. Sie wüßten nicht, wo er geblieben sei. Oberst Tansing erklärte die Sache mit der Lösegeldforde rung, da sagten sie, sie würden Eric Rickenbacker benach richtigen – das ist der Präsident des Rennvereins in Laurel – und Mr. Rickenbacker werde sofort die Polizei einschal ten.« »War in dem Entführeranruf davon die Rede, daß Sie nicht zur Polizei gehen sollten?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein.« Sie hatte ein kräftiges, gepflegtes Gesicht mit welligem, an den Schläfen ergrauendem braunem Haar; die Sorte Gesicht, die tausend Ponyklubs und Kirchenbasare ins Le ben rief, würdig, wohlmeinend, sozial gesichert. Nur et was Ungeheuerliches, wie es jetzt geschehen war, konnte ihre momentane Verwirrung hervorgerufen haben, und auch diese würde sich wahrscheinlich bald schon in ener gische Kompetenz verwandeln. »Hat jemand die britische Polizei verständigt?« fragte ich. 286
»Oberst Tansing hielt es für das beste, sich erst an Ihren Präsidenten zu wenden«, sagte sie. »Oberst Tansing, ver stehen Sie, ist …« Sie unterbrach sich, als suche sie nach annehmbaren Worten. »Oberst Tansing ist der stellvertre tende Beauftragte für Lizenzerteilung, dessen Aufgabe hauptsächlich in der Erfassung von Rennpferdebesitzern besteht. Niemand Ranghöherer ist heute nachmittag hier, im Gegensatz zu heute früh. Keiner der jetzt Anwesenden hat eigentlich die Befugnis, Entscheidungen auf höchster Ebene zu treffen. Wir bemühen uns, die Vorstandsmitglie der zu finden … sie sind alle unterwegs.« Sie unterbrach sich ratlos. »Wissen Sie, mit so etwas rechnet doch nie mand.« »Nein«, stimmte ich zu. »Nun, als erstes wäre die hiesi ge Polizei zu verständigen und dafür zu sorgen, daß sie al le Telefone des Jockey-Klubs anzapft, und danach heißt es weiterleben und warten.« »Warten?« Ich nickte. »Solange die Lösegeldverhandlungen laufen. Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber es könnte einige Zeit dauern, bis Mr. Freemantle nach Hause kommt. Und was ist mit seiner Familie? Seiner Frau? Hat man sie un terrichtet?« Sie sagte mürrisch: »Er ist Witwer.« »Kinder?« »Eine Tochter hat er«, meinte sie zweifelnd, »aber ich glaube, sie verstehen sich nicht gut. Sie lebt, glaube ich, im Ausland … Mr. Freemantle spricht nie von ihr.« »Und verzeihen Sie«, sagte ich, »ist Mr. Freemantle selbst … äh … vermögend?« Sie blickte drein, als wäre es eine äußerst geschmacklose Frage, antwortete jedoch schließlich: »Ich habe keine Ah nung. Aber ein jeder, der Vorstandsvorsitzender wird, muß wohl über ein gewisses persönliches Kapital verfügen.« 287
»Zehn Millionen?« fragte ich. »Sicher nicht«, sagte sie entschieden. »Er lebt in jeder Hinsicht sparsam.« Ihre Stimme hieß das gut. »Er mag keine Verschwendung.« Sparsamkeit und ein Widerwille gegen Verschwendung traten zwar oft genug bei den vielfachsten Millionären auf, doch ich ließ es hingehen. Statt dessen dankte ich ihr und begab mich auf die Suche nach Oberst Tansing, der sich als eine männliche Version von Mrs. Berkeley erwies; höf lich, charmant und schockiert bis fast zur Unbeweglich keit. Von seinem Büro aus rief ich die Polizei an und brachte dort alles in Gang, und anschließend fragte ich ihn, wer in Abwesenheit Mr. Freemantles die leitende Instanz im Jok key-Klub sei. »Sir Owen Higgs«, sagte er. »Heute morgen war er hier. Wir haben versucht, ihn zu erreichen.« Er sah mich etwas besorgt an. »Sicher wird er auch der Meinung sein, daß wir Sie hin zuziehen mußten.« »Ja«, sagte ich beruhigend. »Können Sie dafür sorgen, daß alle Gespräche über alle Ihre Telefone aufgezeichnet werden? Getrennt von und zusätzlich zur Polizei?« »Soll geschehen«, sagte er. »Wir haben einen 24-Stunden-Dienst bei Liberty Market, falls Sie uns erreichen wollen.« Er ergriff meine Hand. »Der Jockey-Klub ist eine der leistungsfähigsten Organisationen Englands«, sagte er ent schuldigend. »Diese Geschichte hat uns einfach überrum pelt. Morgen werden alle Hebel in Bewegung gesetzt.« Ich nickte und ging, und auf der Rückfahrt zum Büro von Liberty Market sinnierte ich, daß weder der Oberst noch Mrs. Berkeley Vermutungen über die gegenwärtigen persönlichen Leiden des Opfers angestellt hatten. 288
Ungläubige Verblüffung, ja. Kummer und mitfühlende Zuneigung, nein. Nachdem Sir Owen Higgs Liberty Market formell enga giert hatte, brach ich am nächsten Morgen auf nach Wa shington und war am frühen Nachmittag, Ortszeit, bereits mit einem Mietwagen zur Rennbahn in Laurel unterwegs, um mit Eric Rickenbacker, dem Vereinspräsidenten, zu sprechen. Die Rennbahn lag eine Autostunde von der Hauptstadt entfernt, eine Stunde Fahrt zwischen leuchtenden Bäumen in Gold, Rot, Orange und Braun – ein letzter großer Trom petentusch der Natur vor dem Winter. Die ersten Novem bertage: warm, sonnig und windstill unter hohem blauem Himmel. Tage, die die Stimmung heben und die man be singen möchte. Ich fühlte mich befreit, wie immer in Ame rika, ein Gefühl, das wohl etwas mit der Weite des Landes selbst zu tun hatte, als ob die Auseinandergezogenheit von allem in das Gemüt strömte und Platz schuf zwischen den Alltagsproblemen. Mr. Rickenbacker hatte für mich betreffende Anweisun gen am Eingang zum Rennverein gegeben: Ich sei unver züglich zu ihm vorzulassen. Nicht so unverzüglich aller dings, daß mir ein ultravioletter Stempel auf den Hand rücken erspart geblieben wäre, der sich, dem normalen Auge unsichtbar, unter Speziallampen in ein purpurn leuch tendes Kreismuster verwandelte. Mein Passierschein für den Klub, erklärte man mir; ohne ihn würde ich an be stimmten Türen zurückgehalten. Eine Eintrittskarte, die man nicht verlieren oder heimlich an einen Freund weiter geben konnte. Er sei abwaschbar, hieß es. Mr. Rickenbacker befand sich in seiner Festung, einem Refugium im obersten Teil der Tribüne, zu erreichen über einen Aufzug, Handkontrollen, einen langen Marsch durch 289
Aufenthaltsräume, weitere Kontrollen, eine unauffällige Tür und eine schmale Treppe. Am Ende der Treppe saß ein Wachmann an einem Tisch. Ich nannte meinen Namen. Der Wachmann sah auf einer Liste nach, fand ihn, hakte ihn ab und ließ mich durch. Ich bog um eine letzte Ecke und beendete meine Reise. Der private Speiseraum des Präsidenten, auf drei Ebenen angelegt, bot durch gläserne Wände Ausblick auf die Bahn und an den Tischen Platz für etwa hundert Gäste; doch er war fast leer. Die einzigen Leute im Saal saßen an einem der entfern testen Tische auf der niedrigsten Ebene. Ich ging hinüber und hinunter, und sie blickten bei meinem Näherkommen fragend auf. Sechs Männer, vier Frauen, für den Rennbe such gekleidet. »Mr. Rickenbacker?« fragte ich allgemein. »Ja?« Er war ein großer Mann mit dichtem weißem Haar, sichtlich hochgewachsen, auch wenn er saß. Seine Augen hatten den spiegelnden Glanz von Kontaktlinsen, und sei ne Haut war hell und glatt, unerhört gut rasiert. »Ich bin Andrew Douglas«, sagte ich knapp. »Ah.« Er stand auf und ergriff meine Hand, wobei er mich um gute fünfzehn Zentimeter überragte. »Dies sind Freunde von mir.« Er wies mit einer kurzen Geste zu ihnen hin, verzichtete aber auf das übliche Bekanntmachen im einzelnen, und sagte zu ihnen: »Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe mit Mr. Douglas geschäftlich zu tun.« Er winkte mir, ihm zu folgen, und führte mich über teppichbe legte Stufen zu einem noch abgeschiedeneren Horst, einem kleinen Raum oberhalb und hinter seinem Speiseraum. »Das ist eine verdammt böse Geschichte«, sagte er ener gisch, indem er mir einen Sessel zuwies. »Gerade hat mir Morgan noch von John Nerritys Problemen erzählt, und im nächsten Moment …« Er bewegte frustriert die Arme. 290
»Wir selbst haben nichts von irgendwelchen Kidnappern gehört. Wir haben der Polizei hier und in Washington von der in London eingegangenen Lösegeldforderung berich tet, und sie untersuchen noch Morgans Verschwinden. Wieviel wissen Sie darüber?« »Nichts«, sagte ich. »Bitte erzählen Sie.« »Was zu trinken?« sagte er. »Scotch? Champagner?« »Nein, danke.« »Wir haben eine Public-Relations-Firma, die hier sehr viel für uns erledigt. Es ist eine Festwoche, Sie verstehen? Wir haben eine Menge Besucher aus Übersee. Es finden Empfänge statt, Pressekonferenzen, Sponsorenparties. Wir haben Ehrengäste – Morgan gehört dazu –, für die wir den Transport vom Hotel zur Rennbahn und zu den einzelnen Empfängen regeln, Sie verstehen?« Ich nickte. »Die Public-Relations-Firma mietet die Wagen bei ei nem Limousinendienst. Die Fahrer sind natürlich in den Wagen inbegriffen. Die Public-Relations-Firma sagt dem Limousinendienst, wer wo abzuholen ist, und der Limou sinendienst beauftragt seine Fahrer, Sie verstehen mich?« »Ja«, sagte ich. »Morgan wohnte im Ritz Carlton, Sie verstehen? Wir haben ihn da untergebracht, es ist ganz nett. Die Rennbahn übernimmt die Kosten. Morgan sollte vorgestern abend an einem Empfang in Baltimore teilnehmen. Es war ein Pres seempfang … viele Sportjournalisten aus Übersee kom men wegen unseres großen Rennens her, und ich denke, wir tun, was wir nur können, damit sie sich wohl fühlen.« »Ja, klar«, sagte ich. »Weltweite Berichterstattung über ein Sportereignis ist gut für die Einnahmen.« Er zögerte ein wenig, bevor er nickte. Vielleicht hätte ich es nicht so unverblümt ausdrücken sollen, doch der Pub lic-Relations- und Reklameapparat sorgte fürs Geschäft, 291
und das Geschäft sorgte für Arbeitsplätze, und in all die sem künstlichen Kunterbunt wurden wirkliche Brötchen gebacken. »Morgan kam nicht zu dem Empfang«, sagte Ricken backer. »Er wurde erwartet … er hatte mir zugesichert, er werde dort sein. Ich weiß, daß er sagen wollte, er sei froh, den britischen Rennsport zu repräsentieren, und daß er der Presse von einigen Plänen berichten wollte, die der Jok key-Klub für das kommende Jahr hat.« »Er sollte sprechen?« sagte ich. »Ich meine, eine Rede halten?« »Ja, habe ich mich denn nicht klar ausgedrückt? Wir ha ben immer drei oder vier Redner bei einer Pressegesell schaft, aber kurz und zwanglos, Sie verstehen, nur ein paar Worte der Dankbarkeit, so in dieser Richtung. Wir waren überrascht, als Morgan nicht erschien, aber nicht beunru higt. Ich wunderte mich zwar, daß er nicht Bescheid gege ben hatte, aber ich kenne ihn nicht gut. Wir lernten uns erst vor drei Tagen kennen. Da wußte ich nicht, ob er auf Höflichkeiten Wert legt, Sie verstehen?« »Ja«, sagte ich. »Ich verstehe.« Er strich mit einer kräftigen Hand über sein weißes Haar. »Unsere Public-Relations-Firma bat den Limousinen dienst, Morgan vom Ritz Carlton abzuholen und ihn zu der Unterkunft in Baltimore zu bringen.« Er hielt inne. »Bal timore liegt näher an dieser Rennbahn als Washington, Sie verstehen, deshalb wohnt ein Großteil der Presse in Balti more.« Er machte wieder eine Pause, damit ich nachkam. »Das Ritz Carlton berichtet, ein Chauffeur habe sich bei ihnen eingefunden und gesagt, er habe den Auftrag, Mor gan abzuholen. Die Rezeption rief Morgan, der herunter kam, seinen Schlüssel abgab und mit dem Chauffeur hin ausging. Und das ist alles. Das ist alles, was irgendein Mensch weiß.« 292
»Konnte die Rezeption den Chauffeur beschreiben?« fragte ich. »Das einzige, woran sie sich genau erinnern konnten, war, daß er eine Chauffeursuniform mit Mütze trug. Er hat nicht viel gesagt. Sie meinen, er könnte vielleicht mit einem au ßeramerikanischen Akzent gesprochen haben, aber es ist ei ne vielsprachige Stadt, und niemand achtet groß darauf.« »Mm«, sagte ich. »Was ist mit dem richtigen Chauffeur passiert?« »Dem richtigen …? Ach nein, nichts. Das Ritz Carlton erklärt, daß dann noch ein Chauffeur erschien. Sie sagten ihm, Morgan sei bereits abgeholt worden. Der Chauffeur war zwar überrascht, aber nicht allzusehr. Bei so einer großen Sache gibt es immer Durcheinander. Er meldete sich wieder bei seinem Service, der ihm einen neuen Auf trag zuwies. Der Limousinendienst dachte, Morgan sei bei einem Bekannten mitgefahren, ohne ihnen Bescheid zu sagen. Sie nahmen es gelassen hin. Ihre Mühe ging zu La sten der Rennbahn. Sie verloren ja nichts dabei.« »Es war also niemand beunruhigt?« sagte ich. »Natürlich nicht. Die Public-Relations-Firma rief am Morgen – gestern morgen – im Ritz Carlton an, und die Rezeption sagte, Morgans Schlüssel sei da, er müsse schon aus dem Haus gegangen sein. Niemand war beunruhigt, bis wir den Anruf Ihres Oberst Tansing von wegen eines Scherzes bekamen.« Er hielt inne. »Ich war zu Hause beim Frühstück.« »Ein ziemlicher Schock«, sagte ich. »Wittern diese Pres seleute schon die Story, die da vor ihrer Nase liegt?« Mit einem ersten leisen Anflug von Humor erwiderte er, daß alles noch im Stadium unbestätigter Gerüchte sei, der ganze Schwarm aber in wilder Aufregung. »Das verschafft Ihrem Rennen mehr Internationalität als irgendwas sonst«, meinte ich. 293
»Ich fürchte ja.« Ihm war nicht anzusehen, ob er am Wert dieser Art von Publicity zweifelte oder eher an der Angemessenheit eines Freudentanzes. »Sie haben die Polizei verständigt«, sagte ich. »Klar. Hier in Laurel und in Washington. Die Leute in Washington sind damit befaßt.« Ich nickte und fragte ihn, welche Polizei genau; es gab rund fünf gesonderte Einheiten in der Hauptstadt. »Die Stadtpolizei«, sagte er. »Natürlich haben auch das FBI und das Vermißtenbüro sich dafür interessiert, aber sie haben ausklamüsert, daß es Sache der Stadtpolizei ist. Der verantwortliche Mann ist Captain Kent Wagner. Ich sagte ihm, daß Sie kommen würden. Er meinte, ich könne Sie vorbeischicken, wenn Sie wollten.« »Ja, bitte.« Er zog eine Brieftasche aus seinem Jackett und holte ei ne kleine weiße Karte hervor, die er mir gab. »Das wäre das. Und außerdem …«, er suchte noch eine Karte hervor, »hier ist meine Telefonnummer. Wenn ich nicht mehr auf der Rennbahn bin, können Sie mich dort erreichen.« »Gut.« »Morgen früh haben wir das Pressefrühstück«, sagte er. »Da treffen sich alle Besitzer, Trainer und Jockeys aus Übersee hier unten im Klub.« Er hielt inne. »In Amerika geben wir vor den meisten großen Rennen ein Pressefrüh stück … Kennen Sie das?« »Nein«, sagte ich. »Kommen Sie morgen. Es wird Sie interessieren. Ich sorge dafür, daß man Sie einläßt.« Ich dankte ihm, wenn ich auch nicht wußte, ob ich es schaffen würde. Er nickte freundlich. Eine Kleinigkeit wie die Entführung des höchsten britischen Rennsportfunktio närs, so schien es, konnte die ernsthaften Vergnügungen der Woche nicht an ihrem Fortgang hindern. 294
Ich fragte ihn, ob ich ein Gespräch mit Liberty Market führen könne, ehe ich nach Washington fuhr, und er deute te großzügig auf das Telefon. »Sicher. Nur zu. Es ist ein Privatanschluß. Ich werde hel fen, wo ich kann, das wissen Sie. Ich kannte Morgan ei gentlich nicht gut, und man kann es wohl unserer Renn bahn nicht anlasten, daß er entführt wurde, aber was immer wir tun können … wir werden unser Bestes versu chen.« Ich dankte ihm und rief London an, und Gerry Clayton meldete sich. »Gehst du niemals nach Hause?« sagte ich. »Irgendwer muß doch den Laden hüten«, meinte er weh leidig; aber wir wußten alle, daß er allein lebte und außer halb des Büros einsam war. »Etwas Neues vom Jockey-Klub?« fragte ich. »Ja, und ob. Soll ich dir das Band vorspielen, das sie per Expreß bekommen haben?« »Schieß los.« »Bleib am Apparat.« Eine Pause und einiges Klicken folgte, dann eine amerikanische Stimme, wuchtig und hart. »Wenn ihr Briten vom Jockey-Klub Freemantle wieder haben wollt, hört gut zu. Es kostet euch zehn Millionen englische Pfund. Besorgt das Geld nicht in Scheinen. Ihr zahlt mit als gedeckt bestätigten Bankschecks. Ihr be kommt Freemantle erst zurück, wenn die Schecks ver rechnet sind. Ihr habt eine Woche, um die Kohle zu be schaffen. In einer Woche kriegt ihr weitere Anweisungen. Wenn ihr rumspielt, verliert Freemantle seine Finger. Ihr bekommt jede Woche einen, per Expreß, angefangen heute in vierzehn Tagen. Keine Tricks. Ihr vom Jockey-Klub, ihr habt Geld. Ent weder ihr kauft Freemantle zurück, oder wir bringen ihn um. Das ist ein Versprechen. Wir machen ihn kalt. Und 295
wenn ihr nicht mit der Kohle rüberkommt, kriegt ihr nichts, nicht einmal seine Leiche. Wenn wir ihn umbrin gen, dann bringen wir ihn schön langsam um. Er wird euch verfluchen. Schreien wird der. Habt ihr verstanden? Er kriegt keinen einfachen sauberen Schuß. Er wird lang sam sterben. Wenn wir ihn umbringen, bekommt ihr seine Schreie auf Band. Wenn ihr das nicht wollt, müßt ihr be zahlen. Freemantle, er will mit euch reden. Hört zu.« Es wurde still in der Leitung, dann erklang die Stimme Freemantles, kräftig und fest und unglaublich kultiviert – nach der anderen. »Sollten sie das Lösegeld nicht bezahlen, werde ich um gebracht. Das hat man mir gesagt, und ich glaube es.« Klick. »Hast du alles verstanden?« sagte Gerry Claytons Stimme sofort. »Ja.« »Was denkst du?« »Ich denke, daß es wieder unser Mann ist«, sagte ich. »Bestimmt.« »Gut. Auch mein Gefühl.« »Wie lange bleibst du in der Zentrale?« fragte ich. »Bis Mitternacht. Sieben Uhr abends eurer Zeit.« »Ich rufe wahrscheinlich noch mal an.« »Okay. Weidmannsheil.« Ich dankte Rickenbacker und fuhr los nach Washington, und nach einigen falschen Fährten fand ich Detective Cap tain Kent Wagner in seinem Bezirk. Der Captain war ein wandelnder Verbrecherschreck, körperlich groß, mit hartem Blick, ein Mann, der leise sprach und einen an Kobras gemahnte. Er war vielleicht fünfzig, mit flachgebürstetem dunklem Haar, das Kinn eingezogen wie ein Boxer im Ring; und ich hatte stark den Eindruck, einer wachsamen, entschlossenen Intelligenz 296
gegenüberzustehen. Er gab mir flüchtig die Hand, betrach tete mich von Kopf bis Fuß und zog die Summe. »Entführer kommen in den Vereinigten Staaten nicht durch«, sagte er. »Und dieser Fall wird da keine Ausnah me sein.« Im Prinzip stimmte ich ihm zu. Die Amerikaner waren im Erfolg gegen Kidnapper unübertroffen. »Was können Sie mir erzählen?« fragte er rundheraus, seinem Gesichtsausdruck nach, ohne viel zu erhoffen. »Ich glaube, eine ganze Menge«, sagte ich milde. Er musterte mich einen Moment, öffnete dann die Tür seines verglasten Büros und rief über ein Areal von Schreibtischen hinweg: »Leutnant Stavoski soll bitte mal herkommen.« Einer der Männer in blauer Uniform stand auf, um den Botengang zu erledigen, und durch die Fenster beobachte te ich die geschäftige, geordnete Szene – überall Men schen in Bewegung, klingelnde Telefone, sprechende Münder, ratternde Schreibmaschinen, flackernde Compu terschirme, Kaffeetassen auf dem Marsch. Leutnant Sta voski erwies sich als ein untersetzter Mann Ende der Drei ßig mit einem breiten, hängenden Schnurrbart und keinerlei erkennbaren Selbstzweifeln. Er bedachte mich mit einem enttäuschten Blick; wahrscheinlich aus Ge wohnheit. Der Captain erklärte, wer ich war. Stavoski wirkte unbe eindruckt. Der Captain bat mich loszulegen. Ich öffnete entgegenkommend meine Aktenmappe und holte ver schiedene Sachen hervor, die ich auf seinen Schreibtisch legte. »Wir glauben, es handelt sich mit Sicherheit um die drit te, wahrscheinlich sogar um die vierte einer Serie von Ent führungen, die auf denselben Initiator zurückgeht«, sagte ich. »Der Jockey-Klub in England erhielt heute ein Ton 297
band von den Entführern Morgan Freemantles, das ich Ih nen, wenn Sie möchten, gleich übers Telefon vorspielen lassen kann. Ich habe außerdem die auf Band gesproche nen Lösegeldforderungen aus zwei der anderen Entfüh rungen mitgebracht.« Ich zeigte sie ihnen auf dem Schreibtisch. »Es dürfte Sie interessieren, die Ähnlichkeit zu hören.« Ich zögerte kurz. »Eines der Bänder ist auf ita lienisch.« »Italienisch?« »Der Entführer selbst ist Italiener.« Das gefiel beiden nicht besonders. »Er kann Englisch«, sagte ich, »aber in England hat er einen Engländer angeworben, um seine Drohungen vorzu bringen, und auf dem Band von heute gehört die Stimme einem Amerikaner.« Wagner schürzte die Lippen. »Hören wir also mal das heutige Band.« Er reichte mir den Hörer seines Telefons und drückte zunächst ein paar Tasten. »Der Anruf wird aufgezeichnet«, sagte er. »Ebenso unsere Unterhaltung von jetzt an.« Ich nickte und ließ mich mit Gerry Clayton verbinden, der den Kidnappern einen Wiederholungsauftritt ver schaffte. Die aggressive Stimme schnarrte laut aus dem Verstärker in Captain Wagners Büro, während die beiden Polizisten mit konzentriertem Abscheu zuhörten. Ich dankte Gerry und hängte ein, und wortlos hielt Wag ner seine Hand auf, die Augen auf den Bändern, die ich mitgebracht hatte. Ich gab ihm die Nerrity-Kassette; er steckte sie in einen Recorder und spielte sie ab. Die harten Drohungen für Dominic, das Abschneiden der Finger, die Schreie, das Nichtwiedersehen der Leiche, alles dröhnte in das Büro hinein wie ein Echo. Die Gesichter Wagners und Stavoskis wurden reglos, dann nachdenklich und waren schließlich überzeugt. 298
»Derselbe Bursche«, sagte Wagner beim Ausschalten. »Eine andere Stimme, dasselbe Gehirn.« »Ja«, sagte ich. »Lassen Sie Wachtmeister Rossellini kommen«, befahl er dem Leutnant, und diesmal war es Stavoski, der den Kopf durch die Tür steckte und nach dem Helfer rief. Poli zist Rossellini, großnasig, jung, schwarzhaarig und sehr amerikanisch, brachte bei dem dritten Tonband seine ita lienische Abstammung zum Tragen und übersetzte flie ßend, während es lief. Bei der zuletzt ausgesprochenen Drohung hinsichtlich Alessias Körper versagte ihm die Stimme, und er blickte sich nervös um, wie nach einem Ausgang. »Was ist?« wollte Wagner wissen. »Der Kerl sagt«, antwortete Rossellini und straffte die Schultern, um sich zu wappnen, »also offengestanden, Captain, ich möchte es lieber nicht wiederholen.« »Der Kerl sagt sinngemäß«, murmelte ich, für ihn ein springend, »daß Hündinnen ja Rüden gewohnt wären und daß alle Frauen Hündinnen seien.« Wagner starrte mich an. »Sie meinen –?« »Ich meine«, sagte ich, »daß die Drohung ausgesprochen wurde, um ihren Vater restlos kleinzukriegen. Offenbar bestand keinerlei Absicht, sie auszuführen. Dem Mädchen selbst haben die Entführer nie etwas Derartiges angedroht, übrigens auch keine täglichen Prügel. Sie ließen sie völlig in Ruhe.« Wachtmeister Rossellini ging mit dankbarer Miene, und ich erklärte Wagner und Stavoski eingehend, was in Italien und England passiert war und inwiefern die Ähnlichkeit der beiden Entführungen ihnen jetzt von Nutzen sein konnte. Sie hörten schweigend mit unbewegten Gesichtern zu, hielten sich mit Kommentaren und Meinungen bis zum Ende zurück. 299
»Damit wir das richtig verstehen«, sagte Wagner schließ lich, indem er aufblickte: »Erstens, dieser Giuseppe-Peter hat wahrscheinlich innerhalb der letzten acht Wochen im Raum Washington, nicht allzuweit vom Ritz Carlton, ein Haus gemietet. Vor acht Wochen nämlich nahm Morgan Freemantle die Einladung Eric Rickenbackers an.« Ich nickte. »Der Jockey-Klub nannte uns dieses Datum.« »Zweitens: Es sind wahrscheinlich fünf oder sechs Kid napper beteiligt, alles Amerikaner, außer Giuseppe-Peter. Drittens: Giuseppe-Peter hat Zugang zu vertraulichen Rennbahninformationen und muß daher Leuten aus diesen Kreisen bekannt sein. Und viertens«, mit einem Hauch bit teren Humors, »in diesem Augenblick bekommt Morgan Freemantle vielleicht die Ohren mit Verdi durchgepustet.« Er griff nach dem fotokopierten Bild von GiuseppePeter. »Damit tapezieren wir die Stadt«, sagte er. »Wenn ihn der kleine Nerrity erkannt hat, kann es jeder.« Er warf mir einen Blick zu, aus dem man, wenn nicht unbedingt Freundschaft, so doch wenigstens ein Einziehen der Gift zähne lesen konnte. »Nur eine Frage der Zeit«, sagte er. »Aber … äh …«, meinte ich zaghaft, »Sie vergessen na türlich auch nicht, daß er Morgan Freemantle umbringen wird, wenn er Sie herankommen sieht. Umbringen und ihn verschwinden lassen. Ich würde nie bezweifeln, daß es ihm damit ernst ist. Für den kleinen Dominic hatte er ein Grab parat, das man vielleicht auf Jahre nicht gefunden hätte.« Wagner sah mich abwägend an. »Macht dieser Giusep pe-Peter Ihnen angst?« »Als Profi-Gegner, ja.« Beide Männer schwiegen. »Er bewahrt die Ruhe«, sagte ich. »Er denkt. Er plant. Er ist kühn. Ich glaube nicht, daß so ein Mann sich speziell 300
auf dieses Verbrechen verlegen würde, wenn er nicht be reit wäre zu töten. Die meisten Entführer sind dazu bereit. Ich denke, daß Giuseppe-Peter sich ausrechnet, durch ei nen Mord davonzukommen, wenn es nötig sein sollte. Ich glaube nicht, daß er nach und nach töten würde, wie es das Tonband androht. Aber ein schneller Mord, um sicherzu gehen und zu entkommen, das ja, darauf würde ich wet ten.« Kent Wagner blickte auf seine Hände. »Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, Andrew, daß dieser GiuseppePeter Sie persönlich vielleicht kein bißchen mag?« Ich war erstaunt, daß er meinen Vornamen benutzte, aber nahm es dankbar als Zeichen einer beginnenden Arbeits beziehung; und ich antwortete entsprechend: »Kent, ich glaube nicht, daß er von meiner Existenz weiß.« Er nickte mit einem hauchdünnen Lächeln; die Verbin dung war hergestellt, die gemeinsame Grundlage bestätigt.
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S
chweigen seitens der Kidnapper, Zerknirschung seitens der zur Kasse gebetenen Mitglieder des Jockey-Klubs und Furore bei der internationalen Sportpresse. Stunden lang erfüllten ihre Schreckensmeldungen den Äther, aber an Ort und Stelle geschah über Nacht einfach gar nichts. Folglich ging ich ruhigen Gewissens und leichten Herzens zu dem Pressefrühstück, wo ich hoffte, Alessia zu sehen. Die Hallen des Rennvereins waren brechend voll, als ich eintraf, der Geräuschpegel hoch. Gläser mit Orangensaft ragten aus mancher Hand, Kameras mit Teleobjektiven baumelten von mancher Schulter. Die Sportreporter waren auf den Beinen, hierhin, dorthin, jagten im Gewühl nach Exklusivem und spitzten die Ohren nach allen Seiten. Viele klopften sich als alte Bekannte im Vorübergehen auf die Schulter. Trainer hielten kleine Konferenzen ab, umringt von ständig wechselnden geneigten Zuhörern. Besitzer standen entweder selbstgefällig oder verwirrt herum, je nachdem, wie oft sie diese Art von Rummel schon miter lebt hatten; und hier und dort, wie Gazellen unter der Her de, eine seltene Abart der Spezies, nahmen kleine leicht gewichtige Geschöpfe mit zurückgeworfenen Köpfen Verbeugungen entgegen wie Stars. »Orangensaft?« Irgend jemand hielt mir ein Glas hin. »Danke.« Ich erblickte weder Rickenbacker noch sonst ein bekann tes Gesicht. Keine Alessia. Die Gazellen, die ich sah, waren alle männlich. Ich wanderte umher, betrachtete ohne sie meine Anwe 302
senheit als überflüssig; aber ich hatte es für unwahrschein lich gehalten, daß sie nicht ihren Platz unter ihresgleichen einnehmen würde. Daß sie der Einladung nach Laurel gefolgt war, wußte ich, und ihr Name war auch auf einer Starterliste, die an einer Tafel auf einer Staffelei hing, als Reiterin von Bru nelleschi aufgeführt. Ich las die Liste durch, während ich Orangensaft schlürfte. Vierzehn Teilnehmer; drei aus Großbritannien, einer aus Frankreich, einer aus Italien, zwei aus Kanada, zwei aus Argentinien, alle übrigen ein heimisch. Alessia schien die einzige Frau unter den Jok keys zu sein. Vermutlich auf irgendein Signal hin begann die ganze Schar in einen großen Nebenraum abzuwandern, in dem zahllose rechteckige Tafeln feierlich mit Blumen, Tischtü chern, Tellern und Besteck garniert waren. Ich hatte ir gendwie angenommen, der Raum sei zum Lunch vorberei tet worden, doch ich hatte mich geirrt. Frühstück hieß offenbar nicht Orangensaft im Stehen, sondern Eier und Speck, Serviererinnen und Toast. Ich zögerte, gedachte nicht zu bleiben und hörte eine atemlose Stimme an meinem linken Ohr ungläubig sagen: »Andrew?« Ich drehte mich um. Sie war eben doch da, sie stand vor mir, ihr dünnes Gesicht kräftig und lebhaft, die Haltung des Kopfes selbstbewußt. Die dunklen Ringellok ken glänzten vor Gesundheit, die Augen darunter funkel ten. Ich war mir nicht sicher gewesen, was ich für sie fühlte, nicht bis zu diesem Moment. Ich hatte sie sechs Wochen nicht gesehen, und davor war ich gewohnt gewesen, sie als Teil meines Jobs zu betrachten; ein lohnendes Vergnügen, ein Entführungsopfer, das ich sehr mochte, aber vorüber gehend wie alle anderen. Ihr Anblick an diesem Morgen war fast ein körperlicher Schock, ein berauschendes Prik 303
keln in den Adern. Ich streckte die Arme aus, umfing sie und spürte, wie sie sich für einen Augenblick wild an mich klammerte. »Hm …« Ich sah in ihre braunen Augen. »Möchtest du einen Liebhaber?« Sie schnappte ein wenig nach Luft und lachte, aber gab keine Antwort. »Wir sind da drüben an einem Tisch«, sag te sie und wies weit in den Saal. »Wir haben da gesessen und gewartet. Ich konnte es kaum glauben, als ich dich reinkommen sah. Wir haben noch einen Platz frei. Setz dich zu uns.« Ich nickte, und sie ging voran; und nicht Ilaria war mit ihr aus Italien gekommen, sondern Paolo Cenci selbst. Er stand auf, als ich näher trat, und statt mir die Hand zu schütteln, bedachte er mich mit einer großzügigen italieni schen Umarmung, Wange an Wange, sein Gesicht voller Herzlichkeit. Vielleicht hätte ich ihn nicht wiedererkannt, diesen stol zen, soliden Geschäftsmann im perlgrauen Anzug, wenn er mir unverhofft auf einer amerikanischen Straße begegnet wäre. Er war wieder der Mann, den ich nicht erlebt hatte, der kompetente Manager auf dem Porträt. Das zittrige Wrack von vor fünf Monaten war fort, zur Erinnerung ge worden, eine Krankheit, ausgelöscht durch die Genesung. Ich freute mich für ihn und fühlte mich ihm fremd und würde keinesfalls auf die Ängste Bezug genommen haben, die wir geteilt hatten. Er selbst hatte solche Vorbehalte nicht. »Das ist der Mann, der Alessia heil zurückgebracht hat«, wandte er sich vergnügt auf italienisch zu den drei anderen Leuten am Tisch, und Alessia, die mir kurz ins Gesicht sah, sagte: »Papa, er mag nicht, daß wir darüber reden.« »Mein liebes Kind, tun wir das so oft?« Er lächelte mich voller Freundschaft an. »Darf ich Ihnen Bruno und Bea 304
trice Goldoni vorstellen?« sagte er auf englisch. »Sie sind die Besitzer von Brunelleschi.« Ich schüttelte die Hand eines in sich gekehrten Mannes um die Sechzig und einer etwas jüngeren, unnatürlich wir kenden Frau, die beide recht freundlich nickten, aber nichts sagten. »Und Silvio Lucchese, Brunelleschis Trainer«, stellte Paolo Cenci den letzten der drei vor. Wir gaben uns die Hand kurz und höflich. Er war dun kelhaarig, dünn und erinnerte mich an Pucinelli; ein machtgewohnter Mann, der sich im Nachteil sah, da er sein weniges Englisch sehr unbeholfen sprach, mit einem fast unverständlichen Akzent. Paolo Cenci wies mir den freien Stuhl zu – zwischen Alessia und Beatrice Goldoni –, und als alle im Raum sa ßen, verstummte der Lärm des allgemeinen Geplauders, und Eric Rickenbacker wurde angekündigt. An der Spitze einer bescheidenen Prozession von Freunden schritt er durch den ganzen Saal zum Ehrentisch, von dem aus er al les überschauen konnte. »Willkommen auf der Rennbahn von Laurel«, sagte er herzlich, als er an seinem Platz in der Mitte angelangt war. Das weiße Haar umgab sein Haupt wie eine Wolke. »Es ist schön, so viele Freunde aus Übersee heute morgen hier zu sehen. Wie die meisten von Ihnen inzwischen wissen wer den, ist einer unserer guten Freunde nicht anwesend. Ich spreche natürlich von Morgan Freemantle, dem Vorsitzen den des britischen Jockey-Klubs, der betrüblicherweise hier vor zwei Tagen entführt wurde. Es wird alles Erdenk liche getan, um seine baldige Freilassung zu erreichen, und natürlich werden wir Sie über die Sache auf dem lau fenden halten. Jetzt aber wünsche ich Ihnen ein angeneh mes Frühstück, und anschließend können wir reden.« Ein Schwarm von Serviererinnen brach über den Saal 305
herein, und vermutlich aß ich etwas, bewußt war ich mir aber nur der erwachten Gefühle für Alessia, ihrer Nähe und der Frage, die sie nicht beantwortet hatte. Sie übte mir und wohl auch sich selbst gegenüber höfliche Gelassen heit. Meine Teilnahme an der Unterhaltung, die auf italie nisch geführt wurde, war jedenfalls spärlich, vorsichtig und inhaltlich begrenzt. Es schien, daß die Goldonis ihre Reise genossen, wenn man es ihren Gesichtern auch nicht ansah. »Wir sind besorgt wegen des Rennens morgen«, sagte Beatrice. »Wir machen uns immer Sorgen, wir können nicht anders.« Sie unterbrach sich. »Verstehen Sie, was ich sage?« »Ich verstehe viel mehr, als ich spreche.« Sie schien erleichtert und fing sofort wortreich zu reden an, ohne die einschüchternden Blicke ihres verdrießliche ren Mannes zu beachten. »Wir waren noch nie in Washing ton. So eine große, schöne Stadt. Wir sind seit zwei Tagen hier … am Sonntag fahren wir nach New York. Kennen Sie New York? Was muß man sich in New York ansehen?« Ich antwortete ihr, so gut ich konnte, schenkte ihr aber nur geringe Aufmerksamkeit. Ihr Mann erörterte zwi schendurch mit Lucchese die Aussichten Brunelleschis, als wiederholte er sich zum fünfzigsten Mal, fast wie der Chor eines griechischen Dramas nach sechs Wochen Spielzeit. Paolo Cenci erklärte mir fünf Mal, er sei hocherfreut, mich zu sehen, und Alessia aß ein Ei, aber sonst nichts. Nach einem Meer von Kaffee kam man zur eigentlichen Hauptsache des Tages, nämlich kurzen Interviews mit al len Trainern und Jockeys wie auch vielen Besitzern der für morgen eingeteilten Renner. Sportreporter stellten Fragen, Rickenbacker stellte überschwenglich die Kandidaten vor, und jeder erfuhr mehr über die ausländischen Pferde, als er vorher gewußt hatte oder nachher wahrscheinlich behielt. 306
Alessia dolmetschte für Lucchese, übersetzte die Fragen und kürzte leicht die Antworten. In einer Replik erklärte sie, daß Brunelleschi eigentlich nichts bedeute, es sei der Name des Baumeisters, der einen großen Teil der Stadt Florenz entworfen habe: ähnlich wie Wren in London, sagte sie. Die Sportreporter notierten es. Sie notierten je des Wort, das sie äußerte, als könnten sie nicht genug be kommen. Von sich aus fügte sie hinzu, daß das Pferd bei einem Rennen sehen müsse, wo es langging, und ungern einge schlossen werde. »Wie ist es, wenn man entführt wird?« fragte jemand, den Gedanken übertragend. »Grauenvoll.« Sie lächelte, zögerte, sagte schließlich, daß sie großes Mitgefühl für Morgan Freemantle empfinde und aufrichtig hoffe, er werde bald wieder frei sein. Dann setzte sie sich und sagte abrupt zu mir: »Als ich das von Morgan Freemantle hörte, dachte ich natürlich an dich … ob deine Firma eingeschaltet würde. Deshalb bist du hier, ja? Nicht um mein Rennen zu sehen.« »Wegen beidem«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Des einen Pech, des andern Glück«, stellte sie fest. »Wirst du ihn finden, wie Domi nic?« »Etwas unwahrscheinlich«, meinte ich. »Es bringt alles wieder hoch«, sagte sie finster. »Nicht doch …« »Ich kann nichts dafür. Seit ich es erfahren habe … heute früh, als wir auf die Rennbahn kamen … muß ich an ihn denken.« Beatrice Goldoni redete aufs neue wie ein Wasserfall. Sie erzählte mir und auch Alessia, die es bestimmt schon oft gehört hatte, was für ein furchtbarer Schock es gewe sen sei, als man die liebe Alessia entführt habe, und nun 307
auch noch diesen armen Mann, aber welch ein Segen, daß ich hätte helfen können, die liebe Alessia zurückzuholen … und ich hielt es für ein unerhörtes Glück, daß sie sich ihrer Muttersprache bediente, die hoffentlich den Journali stenohren um uns herum fremd war. Ich bremste sie, indem ich ihr nachdrücklich alles Gute für das große Rennen wünschte und mich von der ganzen Gesellschaft verabschiedete. Alessia verließ den Speise saal mit mir zusammen, und wir gingen langsam durch den hellen Aufenthaltsraum, um hinaus auf die Rennbahn zu schauen. »Morgen«, sagte ich, »wird man dir zujubeln.« Sie sah eher besorgt als erfreut aus. »Es kommt darauf an, wie Brunelleschi gereist ist.« »Ist er noch nicht hier?« fragte ich überrascht. »Doch, doch, aber wie er sich fühlt, weiß niemand. Er könnte Heimweh haben … und, lach nicht, das Leitungs wasser hier schmeckt mir scheußlich. Gott weiß, was das Pferd davon hält. Pferde haben auch ihre Neigungen und Abneigungen, vergiß das nicht, und die ungeahntesten Sa chen können sie aus dem Gleichgewicht bringen.« Ich legte zögernd den Arm um sie. »Nicht hier«, sagte sie. Ich ließ den Arm sinken. »Woanders?« fragte ich. »Bist du sicher …« »Sei nicht albern. Weshalb würde ich sonst fragen?« Das Lächeln ihrer Lippen lag wie ein Echo auf ihren Wangen und in ihren Augen, aber sie blickte auf die Bahn, nicht auf mich. »Ich wohne im Sherryatt«, sagte ich. »Und du?« »Im Regency. Wir sind alle dort: die Goldonis, Silvio Lucchese, Papa und ich. Gäste der Rennbahn. Sie sind so großzügig, es ist toll.« »Gehen wir heute abend essen?« sagte ich. 308
»Ich kann nicht. Wir sind beim italienischen Botschafter eingeladen … Papa kennt ihn … ich muß dahin.« Ich nickte. »Trotzdem«, sagte sie. »Wir könnten heute nachmittag spazierenfahren oder so. Ich möchte wahrhaftig nicht den ganzen Tag hier auf der Bahn verbringen. Wir waren ge stern hier … den ausländischen Reitern wurde gezeigt, wie es abläuft. Heute ist frei.« »Gut, ich warte auf dich. An dieser Stelle.« Sie ging, um ihrem Vater Bescheid zu geben, kam aber sofort wieder zurück und sagte, die Schuppen würden be sichtigt, und auch daran komme sie nicht vorbei, aber alle hätten gesagt, ich könne sehr gern mitgehen, wenn ich wolle. »Schuppen?« sagte ich. Sie sah mich belustigt an. »Die Unterkünfte der Pferde auf amerikanischen Rennbahnen.« So kam es, daß ich kurz darauf zusammen mit der Hälfte der Frühstücksteilnehmer die Morgenarbeit auf der nicht öffentlichen Seite der Bahn verfolgte; die Fütterung, das Ausmisten, das Striegeln, das Satteln und Aufsitzen, das Abreiten (kurze, scharfe Kanter), das Trockenreiten (zum Abkühlen nach der Bewegung), das Wälzen in der Sand grube – und immer dabei, aber ständig wechselnd, die kleinen individuellen Pressekonferenzen, bei denen Trai ner Prophezeiungen verkündeten wie Moses. Den Trainer des einheimischen, als Favorit geltenden Pferdes hörte ich zuversichtlich sagen: »Wir machen nicht nur das Tempo, wir halten es auch.« »Was ist mit den ausländischen Pferden?« fragte ein Re porter. »Kann Sie davon einer schlagen?« Der Blick des Trainers schweifte umher und fiel auf Alessia an meiner Seite. Er kannte sie. Er lächelte. Galant sagte er: »Brunelleschi ist die Gefahr.« 309
Brunelleschi selbst, in seiner Box, schien unbeeindruckt. Wie sich herausstellte, hatte Silvio Lucchese eigens das Futter des Champions aus Italien kommen lassen, damit dessen wählerischer Appetit nicht beeinträchtigt wurde. Und Brunelleschi hatte offenbar am Abend vorher »aufge gessen« (ein gutes Zeichen) und auch nicht seinen Pfleger getreten, wie er es gelegentlich aus Mißvergnügen tat. Je der tätschelte ihm vorsichtig den Kopf und hielt die Finger weg von seinen starken weißen Zähnen. Er wirkte herrisch auf mich, wie ein übellauniger Despot. Niemand fragte, was er vom Trinkwasser hielt. »Sehr beliebt ist er nicht«, sagte Alessia außer Hörweite der Besitzer. »Die Goldonis haben Angst vor ihm, denke ich oft.« »Habe ich auch«, sagte ich. »Er steckt seine ganze Niedertracht ins Siegen.« Sie blickte mit nachsichtiger Zuneigung zu dem dunklen, schlagenden Kopf hinüber. »Ich sage ihm, daß er ein Mist stück ist, und wir verstehen uns prima.« Paolo Cenci schien erfreut darüber, daß Alessia den größten Teil des Tages mit mir verbringen würde. Er, Luc chese und Bruno Goldoni beabsichtigten, zu den Rennen zu bleiben. Beatrice sagte mit einem verstohlenen, sünd haften Lächeln, sie wolle sich im Hotel frisieren lassen und danach einkaufen gehen. Zu meiner gelinden Bestür zung schlug Paolo Cenci vor, Alessia und ich sollten sie nach Washington mitnehmen, um dem Limousinendienst die doppelte Fahrt zu ersparen, und so verbrachten wir die erste Stunde unseres Tages zusammen mit der redseligen Dame, die in aller Ausführlichkeit nichts Besonderes sag te. Ich hatte insgesamt den Eindruck, daß die wenn auch zeitweilige Trennung vom Ehemann ihre Stimmung ganz beträchtlich hob, und als wir sie am Regency absetzten, glühten ihre sonst so blassen Wangen, und Schuldbewußt sein stand ihr ins Gesicht geschrieben. 310
»Arme Beatrice, man könnte fast meinen, sie wollte sich mit einem Liebhaber treffen«, lächelte Alessia, als wir weiterfuhren. »Nicht bloß einkaufen gehen.« »Du dagegen«, bemerkte ich, »bist kein bißchen rot.« »Ah«, sagte sie. »Ich habe nichts versprochen.« »Stimmt.« Ich hielt kurz darauf den Wagen in einer Sei tenstraße an und breitete einen genauen Stadtplan aus. »Möchtest du gerne was sehen?« fragte ich. »Das LincolnDenkmal, das Weiße Haus oder so?« »Ich war vor drei Jahren schon mal hier. Da habe ich al les besichtigt.« »Gut … Hast du was dagegen, wenn wir dann einfach mal herumfahren? Ich möchte einigen dieser Straßenna men … Gesichter geben.« Sie war einverstanden, aber etwas verwundert, und nach einiger Zeit sagte sie: »Du suchst nach Morgan Freemantle.« »Nach möglichen Bezirken, ja.« »Was wären mögliche?« »Nun … keine Industriegebiete. Keine verfallenen Häu ser. Keine reinen Farbigenviertel. Keine Parks, Museen oder Regierungsstellen. Keine Diplomatenwohnviertel … auch nicht Botschaften und ihre Büros. Keine Wohnblocks mit Hausmeistern. Keine Einkaufszentren, keine Banken viertel, weder Schulen noch Colleges, nichts, wo es Stu denten gibt.« »Was bleibt dann?« »Privathäuser. Vorstädte. Es muß eine Gegend ohne neu gierige Nachbarn sein. Und vermutlich irgendwo nördlich oder westlich vom Zentrum, weil dort das Ritz Carlton liegt.« Wir fuhren recht lange, teilten die sich wirr ausdehnende Stadt systematisch nach der Karte auf, konzentrierten uns jedoch zuletzt hauptsächlich auf den Norden und Westen. Überall gab es Schönheiten, die keine Sightseeing-Tour 311
erahnen ließ, und meilenweit, massenhaft Straßen, wo Morgan Freemantle spurlos verschwunden sein konnte. »Ich überlege, ob wir schon an ihm vorbeigefahren sind«, sagte Alessia an einem Punkt. »Es ist wie ein Fie ber, wenn man das nicht weiß. Ich darf gar nicht an ihn denken. Wie allein er jetzt ist … furchtbar allein … ir gendwo in unserer Nähe.« »Er könnte zwar weiter außerhalb sein«, sagte ich. »Aber Kidnapper suchen sich normalerweise keine verlas senen Farmhäuser oder derartige Stellen. Sie ziehen beleb te Orte vor, wo ihr Kommen und Gehen nicht auffällt.« Die Größenordnung des Ganzen war allerdings entmuti gend, selbst innerhalb des Bereiches, den ich für am wahr scheinlichsten hielt. Die Auswertung neuerer Vermietun gen würde diesmal nicht bloß elf wahrscheinliche Kandidaten ergeben; es würden Hunderte sein, vielleicht ein- oder zweitausend. Kent Wagners Aufgabe war un möglich, und wir würden auf Verhandlungen setzen müs sen, nicht auf ein zweites Wunder, um Morgan Freemantle heil nach Hause zu bringen. Wir fuhren durch einige Straßen in der Nähe der Wa shingtoner Kathedrale, wobei wir einfach die Architektur der Häuser bewunderten: große verschachtelte Bauten mit weißen Geländern wie Zuckerguß, alte Häuser, in denen offenbar junge Familien lebten. Auf jeder Veranda Bündel von Kürbisköpfen. »Was ist das denn?« sagte Alessia, auf die grinsenden Gesichter der großen orangefarbenen Früchte deutend, die auf den Stufen vor jeder Haustür standen. »Vor vier Tagen war Halloween«, sagte ich. »Ach ja, stimmt. Bei uns kennt man den Brauch nicht.« Wir kamen auf der Massachusetts Avenue am Ritz Carl ton vorbei und hielten an, um das friedliche, für Menschen gebaute Hotel mit seinen blauen Markisen zu betrachten, 312
aus dem Morgan Freemantle so unsanft entfernt worden war. Über den Dupont Circle kehrten wir dann wieder in den zentralen Teil zurück. Die Stadt ist weitgehend strah lenförmig angelegt wie Paris, was vielleicht zur Eleganz beiträgt, aber auch ein glänzendes Rezept ist, um sich zu verfahren – wir hatten uns im Laufe des Tages mehrfach im Kreis gedreht. »Es ist so riesig«, seufzte Alessia. »So verwirrend. Ich hatte keine Ahnung.« »Wir haben genug geschafft«, stimmte ich zu. »Hun ger?« Es war halb vier inzwischen, doch für das Sherryatt Ho tel spielte die Uhrzeit keine Rolle. Wir fuhren auf mein Zimmer im zwölften Stock des unpersönlichen, enorm großen und geschäftigen Gebäudes und bestellten beim Zimmerservice Wein und Avocado mit Garnelensalat. Alessia streckte sich träge auf einem Sessel aus und hörte zu, während ich Kent Wagner anrief. Ob mir eigentlich klar sei, fragte er scharf, daß die ganze gottverdammte Bevölkerung Nordamerikas ständig in Wa shington ein- und auszog und daß eine Mieterliste lang genug sein würde, um damit den Potomac zu überbrük ken? »Suchen Sie nach einem Haus ohne Kürbisse«, sagte ich. »Bitte?« »Nun, wenn Sie ein Kidnapper wären, würden Sie dann feierlich Halloweengesichter in Kürbisse schnitzen und sie auf die Veranda stellen?« »Nein, wahrscheinlich nicht.« Er atmete halb lachend aus. »Nur ein Tommy kann mit einem derart blöden Tip daherkommen.« »Jaja«, sagte ich. »Ich bin heute abend im Sherryatt und morgen bei den Rennen, falls Sie mich brauchen sollten.« »In Ordnung.« 313
Als nächstes rief ich Liberty Market an, doch in London hatte sich nichts Besonderes ergeben. Der vereinte Zorn der Mitglieder des Jockey-Klubs hing über Portman Square wie giftiger Nebel, und Sir Owen Higgs hatte sich für das Wochenende nach Gloucestershire zurückgezogen. Hoppy bei Lloyds lachte sich angeblich ins Fäustchen, weil der Jockey-Klub, obwohl er jedem sonst empfohlen hatte, sich gegen Lösegelderpressung zu versichern, selbst nicht versichert war. Davon abgesehen, nichts. Das Essen kam, und wir verzehrten etwa jockeygerechte Portionen. Dann schob Alessia ihren Teller weg, blickte auf ihr Weinglas und sagte: »Zeit zu entscheiden, nehme ich an.« »Nur für dich«, sagte ich sanft. »Ja oder nein?« Immer noch niederblickend, sagte sie: »Wäre nein … akzeptabel?« »Ja, wäre es«, sagte ich ernst. »Ich …« Sie holte tief Luft. »Ich möchte ja sagen, aber ich fühle …« Sie unterbrach sich und setzte neu an. »Es scheint, daß ich nicht will … seit der Entführung … Ich habe an Küssen, an Liebe gedacht, aber ich bin tot … Einoder zweimal ging ich mit Lorenzo aus, und er wollte mich küssen … sein Mund fühlte sich wie Gummi an.« Sie warf mir einen ängstlichen Blick zu, wollte, daß ich verstand. »Ich habe einmal leidenschaftlich jemand ge liebt, vor Jahren, als ich achtzehn war. Es dauerte nur den Sommer lang … Wir wurden einfach erwachsen … aber ich weiß, wie es ist, was ich empfinden sollte, was ich mir wünschen sollte … und ich tu’ es nicht.« »Alessia, Liebling.« Ich stand auf und ging ans Fenster, dachte, daß ich für diesen Kampf nicht stark genug war, daß Selbstbeherrschung ihre Grenzen hatte, daß ich mich jetzt nach Wärme sehnte. »Ich liebe dich wirklich in vieler Hinsicht«, sagte ich und merkte, daß die Worte um eine Oktave tiefer herauskamen als meine normale Stimme. 314
»Andrew!« Sie erhob sich und kam auf mich zu, suchte in meinem Gesicht und sah dort zweifellos die Verwund barkeit, die sie nicht gewohnt war. »Tja …«, sagte ich, um Leichtigkeit bemüht; um ein Lä cheln; um Andrew, die unfehlbare Stütze. »Es ist immer noch Zeit. Du reitest jetzt Rennen. Gehst einkaufen. Fährst du deinen Wagen?« Sie nickte. »All das hat Zeit gebraucht«, sagte ich. Ich schlang leicht die Arme um sie und küßte sie auf die Stirn. »Wenn Gummi sich wieder wie Lippen anfühlt, laß es mich wis sen.« Sie legte den Kopf an meine Schulter und klammerte sich hilfesuchend an mich, wie schon so oft; und eigent lich war ich es, der umfangen und behütet und geliebt sein wollte. Sie startete in dem Rennen am nächsten Tag, ein Stern an ihrem Firmament. Die Rennbahn war zum Leben erwacht, Menschen massen drängten sich, brüllten, wetteten, feuerten an. Die Tribüne war berstend voll. Wohin man gelangen wollte, man mußte Leuten ausweichen. Ich bekam die Hand ge stempelt und geprüft und meinen Namen abverlangt und abgehakt, und Eric Rickenbacker hieß mich emsig will kommen zum größten Tag dieses Jahres. Der Speiseraum des Präsidenten, so widerhallend leer beim letztenmal, quoll jetzt über von Gästen, die sich blendend amüsierten. Eis klimperte, Kellnerinnen gingen mit kleinen silbernen Tabletts umher, und an einem großen Büffet gab es Krabbengebäck für Kenner. Paolo Cenci war mit den Goldonis und Lucchese dort; sichtlich nervös saßen sie an einem der Tische beieinander. Ich nahm mir ein Glas Wein von einem dargebotenen Ta blett und ging hinüber, um ihnen Glück zu wünschen. 315
»Brunelleschi hat seinen Pfleger getreten«, sagte Paolo Cenci. »Ist das gut oder schlecht?« »Das weiß niemand«, sagte er. Ich behielt das Kichern im Bauch. »Wie geht’s Alessia?« fragte ich. »Weniger besorgt als irgendwer sonst.« Ich warf einen Blick auf die anderen Gesichter; auf Luc chese, grimmig konzentriert, auf Bruno Goldoni, finster, und auf Beatrice, deren gestrige Röte erloschen war. »Es ist ihr Beruf«, sagte ich. Sie boten mir einen Platz an ihrem Tisch an, doch ich bedankte mich und wanderte davon. Ich war zu rastlos, um bei ihnen bleiben zu wollen. »Neues aus London?« sagte Eric Rickenbacker, den ich streifte, mir ins Ohr. »Heute morgen nicht.« Er schnalzte mit der Zunge, Mitgefühl andeutend. »Ar mer Morgan. Er hätte hiersein sollen. Statt dessen …«, er zuckte resigniert die Achseln, begrüßte neue Gäste, küßte Wangen, klopfte auf Schultern, hieß hundert Bekannte willkommen. Das Washington International machte weltweit Schlag zeilen. Der arme Morgan, wäre er hiergewesen, hätte nicht das leiseste Aufsehen erregt. Sie hatten das große Rennen als neuntes von zehn aufs Programm gesetzt, so daß der ganze Nachmittag ein Kit zel, eine Vorbereitung war, wenn auch die Dollars unent wegt in den Totalisator flossen und immer mehr Wettzettel in die Papierkörbe wanderten. Die ganze Vorderseite der Haupttribüne war verglast und sperrte das Wetter aus, ob Regen oder Sonnenschein. Für jemand, der sich langsam an die Härten englischer Bahnen gewöhnte, war der Luxus einzigartig, aber als ich einen 316
von Rickenbackers Gästen darauf ansprach, meinte er tref fend, daß Wärme die Wettlustigen anziehe, während Kälte sie fernhalte. Ein Teil der Tageseinnahmen des Totalisators ging an die Rennbahn: Das Behagen der Rennbesucher war unbedingt erforderlich. Für mich zog der Nachmittag sich endlos hin, doch zu gegebener Zeit verließen die einzelnen ausländischen Trainer und Besitzer den Speiseraum des Präsidenten, um sich näher an das Geschehen zu begeben und ihre Pferde anzuspornen. Ich blieb in dem Adlerhorst, da ich nirgends dazugehörte, und beobachtete, wie das Mädchen, das ich so gut kannte, hinaus auf die Bahn kam; eine winzige Gestalt in Gold und Weiß tief unter mir, eine in einer Prozession von Teilneh mern, die jeweils von einem berittenen, livrierten Begleiter geführt wurden. Keine losen Pferde auf dem Weg zum Start, dachte ich. Kein Ausreißen, kein Durchgehen. Eine Fanfare kündete das Rennen an. Aufgeregte Wetter fuchtelten mit Fäusten voller Scheine. Die Pferde zogen vor der Tribüne auf und kanterten danach zum Start, noch immer mit Eskorte. Alessia sah aus dieser Entfernung wie alle anderen Jockeys aus – ohne ihre Farben hätte ich sie nicht erkannt. Ich hatte sehr viel störender als auf den englischen Bah nen das Gefühl, kein Teil ihres wirklichen Lebens zu sein. Sie lebte am intensivsten dort, auf einem Pferd, wo ihr Können sie ausfüllte. Alles, was ich ihr als Geliebter je sein konnte, war eine Stütze; und ich würde mich damit zufriedengeben, wenn sie es wollte. Die Pferde bewegten sich auf dem Rasen im Kreis, denn das anderthalb Meilen lange International wurde auf le bendem grünem Turf, nicht auf Erde ausgetragen. Sie gin gen in die Startboxen auf der gegenüberliegenden Seite der Bahn. Am Totalisator blinkten noch die Lampen auf, 317
änderten sich die Quoten; amerikanische Rennen fingen meistens dann an, wenn die Wetter fertig gesetzt hatten, nicht nach einer festen Uhrzeit. Das Rennen lief, sie waren auf und davon, die Gestalt in Gold und Weiß mittendrin, schneller als der Wind und doch für meinen Geschmack schleichend wie in Zeitlupe. Brunelleschi, das tretende Untier, setzte seine Übellau nigkeit gut um, bahnte sich grob einen Weg in der dicht gedrängten ersten Kurve, arbeitete sich durch, bis er freie Sicht nach vorn hatte. Mag nicht eingeschlossen sein, hatte Alessia gesagt. Sie gab ihm Raum und behielt ihn im Griff – nach der ersten Runde passierte sie als vierte die Tribü ne, das ganze Feld noch dicht beisammen. Um den oberen Bogen nach links, die Gegengerade entlang, dann um den Schlußbogen auf die Einlaufgerade. Zwei der Führenden fielen zurück: Brunelleschi hielt das Tempo. Alessia schwang zweimal ihren Stock, richtete das schwarze Biest direkt aufs Ziel und flog wie ein weißgol dener Pfeil dem Sieg entgegen. Sie gewann das Rennen, dieses Mädchen, und wurde be jubelt, als sie vor die Tribüne ritt. Man fotografierte und filmte sie mit zurückgelegtem Kopf, mit lachendem Mund. Während Brunelleschi im Lorbeerkranz (was sonst?) des Siegers herumstampfte, streckte sie die Arme aus, um ihm einen überschwenglichen Klaps auf den schwitzenden Rücken zu geben, und die Menge jubelte noch einmal. Ich teilte ihre Freude von ganzem Herzen und fühlte mich einsam. Zum Champagnertrinken kamen sie alle hinauf in den Speiseraum – Gewinner, Verlierer und ein begeisterter Eric Rickenbacker. »Gut gemacht«, sagte ich zu ihr. »Hast du’s gesehen?« Sie war berauscht, berauscht vom Erfolg. 318
»Ja, klar.« »Ist es nicht phantastisch?« »Ein ganz großer Tag.« »Und ich liebe dich doch!« sagte sie lachend und wandte sich auch schon ab, um sich lebhaft mit einer Schar von Bewunderern zu unterhalten. Na, Andrew, dachte ich sar kastisch, wie gefällt dir das? Und ich gab mir selbst die Antwort: besser als nichts. Als ich schließlich zurück ins Hotel kam, wartete eine te lefonische Nachricht auf mich. Mein Büro in England ha be angerufen, als ich aus dem Haus gewesen sei. Ich möchte mich bitte sofort mit ihm in Verbindung setzen. Gerry Clayton war in der Telefonzentrale. »Dein italienischer Freund rief aus Bologna an«, sagte er. »Pucinelli, der Polizist.« »Ja?« »Du sollst dich bei ihm melden. Ich konnte ihn nicht sehr gut verstehen, aber er sagte, glaube ich, er habe Giu seppe-Peter gefunden.«
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ls die Nachricht mich erreichte, war es drei Uhr mor gens italienischer Ortszeit. In der Annahme aber, daß das Gesetz weder schlummerte noch schlief, ließ ich mich auf der Stelle mit den Carabinieri verbinden, und ein gäh nender Italiener, der kein Englisch konnte, antwortete. Pucinelli sei nicht da. Es sei nicht bekannt, wann Pucinelli wieder dort sein würde. Es sei nicht bekannt, ob Pucinelli bei sich zu Hause sei. Ich buchstabierte sorgfältig meinen Namen, wußte aber, daß er den meisten Italienern unaussprechlich erscheinen mußte. Ich würde nochmals anrufen, sagte ich; und er sagte: »Gut.« Um ein Uhr früh, Washingtoner Zeit, rief ich bei Puci nelli zu Hause an, wo wahrscheinlich gerade das Früh stück vorbereitet wurde. Seine Frau meldete sich, Kinder stimmen im Hintergrund, und ich fragte auf italienisch nach ihrem Mann. »Enrico ist in Mailand«, sagte sie langsam, damit ich sie verstand. »Er bat mich, Ihnen etwas auszurichten.« Kurz ein Knistern von Papier, dann: »Rufen Sie bitte heute um vier zehn Uhr hier im Haus an. Bis dahin wird er zurück sein. Er sagt, es sei sehr wichtig, er habe Ihren Freund gefunden.« »In Mailand?« fragte ich. »Ich weiß es nicht. Enrico sagte nur, daß Sie anrufen sollten.« Ich dankte ihr und legte auf; und schlief unruhig, wäh rend viertausend Meilen entfernt Pucinelli auf dem Heim 320
weg war. Um vierzehn Uhr seiner Zeit, acht Uhr früh in Washington, rief ich wieder bei ihm zu Hause an und er fuhr, daß man ihn sofort nach seiner Rückkehr dienstlich wegbeordert hatte. »Es tut ihm leid. Rufen Sie um siebzehn Uhr in seinem Büro an.« Bis dahin, dachte ich, würden meine Fingernägel abge nagt sein bis zum Handgelenk. Mir tat schon der Magen weh vor Ungeduld. Ich bestellte Frühstück beim Zimmer service, um das zu beheben, las zappelnd die Washingto ner Sonntagszeitungen, und schließlich, um elf, erwischte ich ihn. »Andrew, wie geht’s?« sagte er. »Ich sterbe vor Spannung.« »Bitte?« »Schon gut.« »Wo sind Sie denn?« sagte er. »Ihr Büro sprach von Amerika.« »Ja. Washington. Haben Sie wirklich Giuseppe-Peter ge funden?« »Ja und nein.« »Was meinen Sie damit?« »Sie werden sich erinnern«, sagte er, »daß wir die ganze Zeit im Rennsportmilieu ermittelt haben und auch daß wir versuchen wollten, ob ihn bei Studententreffen jemand nach der Zeichnung wiedererkennt.« »Ja, natürlich«, sagte ich. Wir waren unwillkürlich auf unsere alte Gewohnheit verfallen, uns zweisprachig zu unterhalten, und es klappte immer noch genausogut. »Wir hatten mit beidem Erfolg. In beiden Welten.« Er machte eine Kunstpause und klang unleugbar selbstzufrie den. »Er lebt in der Nähe von Mailand. Er ist jetzt vier unddreißig. Als Student war er an der Mailänder Universi 321
tät und schloß sich radikalen politischen Gruppen an. Er soll ein Aktivist gewesen sein, ein Mitglied der Roten Bri gaden, aber genau weiß das niemand. Mir wurde gesagt, es sei eine Tatsache, nur gebe es keine klaren Beweise dafür. Jedenfalls hat er seine politische Laufbahn nach Verlassen der Universität nicht fortgesetzt. Er ging, ohne die Schluß examen abzulegen. Die Universität hat ihn relegiert, aber nicht seiner radikalen Ansichten wegen. Er mußte gehen, weil er Schecks gefälscht hatte. Es wurde nicht strafrecht lich verfolgt, was ich für einen Fehler halte.« »Mm«, sagte ich gefesselt. »Also hatte ich seinen Namen. Und fast gleichzeitig, noch am Tag, als ich den erfuhr, bekamen wir die Informa tionen von den Pferdefreunden. Sie sagen, er sei nicht gut bekannt in der Rennwelt, er besuche niemals Rennen, er sei das schwarze Schaf einer angesehenen Familie und von ihr verstoßen worden. Niemand scheint völlig sicher zu sein, woran das im einzelnen liegt, aber auch hier wird viel gemunkelt, daß es mit Betrug und Scheckfälschung zu sammenhängt. Jedermann glaubt, daß der Vater jede ein zelne Lira zurückgezahlt hat, um den Familiennamen vor Schande zu bewahren.« »Aber Sie hörten das in der Rennwelt?« »Ja. Zu guter Letzt hat ihn jemand wiedererkannt. Unse re Leute waren sehr gewissenhaft, sehr beharrlich.« »Man darf ihnen gratulieren«, sagte ich aufrichtig. »Ja, das finde ich auch.« »Wie heißt er?« fragte ich. Es schien kaum eine Rolle zu spielen, aber es wäre doch ordentlicher, ihn mit dem pas senden Etikett zu versehen. »Sein Vater besitzt Rennpferde«, sagte Pucinelli. »Sein Vater besitzt das große Pferd Brunelleschi. GiuseppePeters richtiger Name ist Pietro Goldoni.« Washington schien stillzustehen. Unterbrochenes Leben. 322
Ich hörte tatsächlich eine Weile auf zu atmen. Ich fühlte mich erstickt. »Sind Sie noch da, Andrew?« sagte Pucinelli. Ich stieß einen langen Atemzug aus. »Ja …« »Seit dem Sommer hat niemand Pietro Goldoni gesehen. Man nimmt an, daß er ins Ausland gefahren und nicht wiedergekommen ist.« Er klang erfreut. »Es paßt in den Stundenplan, nicht wahr? Wir verjagten ihn aus Italien, und er ging nach England.« »Äh …«, sagte ich schwach. »Haben Sie von Morgan Freemantle gehört? Haben Sie gestern oder heute irgend et was in den Zeitungen gelesen, was im Fernsehen gesehen?« »Von wem? Ich hatte soviel zu tun in Mailand. Wer ist Morgan Freemantle?« Ich erzählte es ihm. Ich sagte außerdem: »Bruno und Beatrice Goldoni waren die ganze Woche hier in Washing ton. Ich habe mit ihnen gesprochen. Brunelleschi gewann gestern nachmittag das große Internationale Rennen hier. Alessia Cenci hat ihn geritten.« An seinem Ende trat die gleiche überwältigte, atemlose Stille ein wie zuvor an meinem. »Er ist dort«, sagte er schließlich. »Pietro Goldoni ist in Washington.« »Ja.« »Sie haben das natürlich gewußt.« »Ich nahm an, daß Giuseppe-Peter hier sei, ja.« Er überlegte. »Wie setze ich am besten die amerikani sche Polizei von seiner Identität in Kenntnis? Meinen Vor gesetzten könnte daran gelegen sein …« »Wenn Sie möchten«, sagte ich höflich, »rede ich selbst erst einmal mit dem Polizeihauptmann, der die Sache hier leitet. Der Captain spricht vielleicht dann gerne direkt mit Ihnen. Er hat jemand in seiner Abteilung, der Italienisch spricht und für Sie beide dolmetschen könnte.« 323
Pucinelli war dankbar und darauf bedacht, es nicht zu zeigen. »Das wäre ausgezeichnet. Sicher eine Hilfe, wenn Sie das arrangieren würden.« »Ich erledige es sofort«, sagte ich. »Wir haben Sonntag«, meinte er fast zweifelnd. »Sie arbeiten doch auch«, betonte ich. »Und irgendwie erreiche ich ihn schon.« Er gab mir durch, zu welchen Zeiten er im Dienst war und wann nicht, und ich notierte es. »Sie haben Wunder vollbracht, Enrico«, sagte ich herz lich gegen Ende. »Ich beglückwünsche Sie. Das muß doch eine Beförderung wert sein.« Er lachte kurz, erfreut und zugleich ohne Hoffnung. »Noch ist dieser Goldoni auf freiem Fuß.« Ein Gedanke kam ihm. »Was meinen Sie, in welchem Land er vor Ge richt gestellt wird?« »Nach seiner bisherigen Laufbahn«, sagte ich trocken, »in keinem. Er wird sich nach Südamerika absetzen, so bald ihm die Polizei hier zu nahe kommt, und im nächsten Jahr wird dann vielleicht ein Polospieler aus einer Chukka entführt.« »Bitte?« »Unübersetzbar«, sagte ich. »Für jetzt, auf Wiederse hen.« Ich rief umgehend in Kent Wagners Zentrale an und ver folgte mittels Drohungen und Überredung seine Spur bis zum Haus seiner Nichte, die mit einem kombinierten Frühstück und Mittagessen ihren Geburtstag feierte. »Entschuldigen Sie«, sagte ich und erklärte ziemlich ausführlich. »Jesus Maria«, sagte er. »Wer ist denn dieser Pucinelli?« »Ein guter Polyp. Sehr mutig. Sprechen Sie mit ihm.« »Ja.« Ich gab ihm die Telefonnummern und Enricos Zeitplan 324
durch. »Und die Goldonis wollen nach New York«, sagte ich. »Mrs. Goldoni hat es mir erzählt. Ich glaube, sie fahren heute. Sie haben hier im Regency gewohnt.« »Ich klemme mich sofort dahinter. Sind Sie noch im Sherryatt?« »Ja. Da bin ich auch jetzt.« »Bleiben Sie am Telefon.« »Okay.« Er grunzte. »Danke, Andrew.« »War mir ein Vergnügen, Kent«, sagte ich und meinte es auch. »Schnappen Sie ihn bloß. Er gehört ganz Ihnen.« Sowie ich den Hörer auflegte, klopfte es, und ich öffnete die Tür, noch ehe mir in den Sinn kam, daß ich langsam vielleicht vorsichtig sein sollte. Aber nur das Zimmermäd chen stand draußen, klein, untersetzt, in mittleren Jahren und harmlos; sie wollte saubermachen. »Wie lange brauchen Sie?« Ich blickte auf den Wagen mit frischer Bettwäsche und auf den großen Staubsauger. Sie sagte in mittelamerikanischem Spanisch, sie verstehe nicht. Ich stellte ihr dieselbe Frage auf spanisch noch mal. Zwanzig Minuten, sagte sie gleichmütig. Also griff ich zum Telefon, bat die Vermittlung, alle Gespräche für mich vorübergehend in die Halle durchzustellen, und ging nach unten, um zu warten. Zu warten … und nachzudenken. Ich dachte vor allem an Beatrice Goldoni und ihre schuldbewußte Aufregung. Ich dachte an ihren vom Vater verstoßenen Sohn. Ich hielt es für äußerst wahrscheinlich, daß sich Beatrice an diesem Freitag in Washington nicht heimlich mit einem Liebhaber getroffen hatte, sondern mit einem noch geliebten schwarzen Schaf. Er würde es selbst arrangiert haben, weil er wußte, daß sie wegen des Ren 325
nens dort war, weil er selbst noch Zuneigung für sie emp fand. Mit Sicherheit ahnte sie nicht, daß er der Entführer von Alessia und Freemantle war. Solche List ging ihr ab. Sie wußte indessen, daß ich Vermittler bei der Auslösung Alessias gewesen war, denn das hatte Paolo Cenci ihr beim Frühstück am Freitag erzählt. Was er ihr sonst noch erzählt hatte, wußte der Himmel. Vielleicht hatte er ihr auch von Dominic erzählt; abwegig war es nicht. Viele Leute begriffen nicht, weshalb Liberty Market gern über seine Arbeit Stillschweigen bewahrte, und sahen im Wei tersagen nichts so Schlimmes. Ich hatte Beatrice ja selbst nach Washington gefahren; und sie redete immer sehr viel. Schnatter, schnatter … wir sind mit den Cencis hier, entsinnst du dich an Alessia, die gekidnappt wurde? Und bei ihr ist ein junger Mann, der damals nach Italien kam, um sie heil herauszuholen … er ist wegen dieser anderen Entführung hier … und Paolo Cenci erzählte uns, daß er in England einen kleinen Jun gen, Dominic, gerettet hat … Alessia war auch dabei … schnatter, schnatter, schnatter. Ich stand vom Sofa in der Eingangshalle auf, ging zum Empfangsschalter und sagte, ich wolle mich abmelden, sie sollten bitte meine Rechnung fertigmachen. Dann rief ich erneut Kent Wagner an, der sagte, ich hätte ihn gerade noch erwischt, er sei im Aufbruch von der Geburtstags feier. »Sie haben mir wahrhaftig den Tag vermasselt«, meinte er, wenn es auch philosophisch klang. »Ist Ihnen noch was eingefallen?« Ich sagte ihm, daß ich das Sherryatt verlassen würde und weshalb. »Herr… gott«, sagte er. »Kommen Sie in die Zentrale; ich bringe Sie wohin, wo Goldoni Sie niemals findet. Es 326
ist nur vernünftig, davon auszugehen, daß er jetzt von Ih rer Existenz weiß.« »Vielleicht sicherer«, stimmte ich zu. »Bin schon unter wegs.« Am Empfang hieß es, meine Rechnung liege bereit, wenn ich mit dem Gepäck herunterkäme. Die zwanzig Minuten waren noch kaum um, aber als ich aus dem Lift stieg, sah ich das Zimmermädchen ihren Wagen den Gang entlang schieben. Ich schloß meine Tür auf und ging hinein. Drei Männer waren drinnen, alle in gewölbten Schirm mützen und weißen Overalls mit der Aufschrift Teppich International Cie. auf Brust und Rücken. Sie hatten einen Teil der Möbel an die Wände gerückt und entrollten gera de einen großen Inderteppich in der freigeräumten Mitte. »Was …«, setzte ich an. Und ich dachte: Es ist Sonntag. Ich machte auf dem Absatz kehrt, doch es war schon zu spät. Ein vierter Mann, Teppich International Cie. auf der Brust, blockierte den Eingang; trat vor, streckte die Arme aus, stieß mich energisch zurück in das Zimmer. Ich sah ihm in die Augen … und kannte ihn. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich dachte: Ich habe verloren. Ich dachte: Ich bin tot. Ich dachte: Ich wollte gewinnen. Ich hatte gedacht, ich würde gewinnen. Ich würde ihn finden und ihn festnehmen lassen und ihm Einhalt gebieten, und nie war mir ernsthaft in den Sinn gekommen, daß es andersherum laufen könnte. Ich dachte: Ich bin ein Narr, und ich habe verloren. Ich habe gedacht, ich würde gewinnen … und Brunelleschi … die Gefahr … hat mich besiegt. Alles passierte sehr schnell, sehr schemenhaft. Eine Art Segeltuchtasche stülpte sich über meinen Kopf und ver deckte mir die Sicht. Ich stolperte, und viele Hände warfen 327
mich zu Boden. Ein stechender Schmerz fuhr mir in den Oberschenkel, wie von einer Wespe. Ich merkte, wie ich immer wieder gedreht wurde, erkannte schwach, daß man mich wie eine Wurst in den indischen Teppich wickelte. Es war für ziemlich lange Zeit das letzte, was ich dachte. Ich erwachte im Freien. Ich war erleichtert, überhaupt aufzuwachen, aber sonst fand ich wenig Trost. Zunächst einmal hatte ich nichts an. Verflucht, dachte ich wütend. Die bewährte Methode. Genau wie Alessia. Morgan Freemantle – auch er war jetzt wahrscheinlich nackt. Das inoffizielle Handbuch von Liberty Market, das jeder Teilhaber bei seinem Eintritt erhielt, brachte es auf den Punkt: »Sofortige und wirksame Unterwerfung und Demo ralisierung des Entführten wird erreicht, indem man ihn/sie der Kleidung beraubt.« Dominic hatte Kleider gehabt; sie hatten seiner Badeho se sogar noch eine Strickjacke hinzugefügt. Dominic frei lich war auch zu klein, um Nacktheit als etwas Demüti gendes zu empfinden. Es hätte keinen Zweck gehabt. Mir blieb nur übrig, mich als angezogen zu betrachten. Ich saß auf dem Boden; um genau zu sein, auf lehmi gem, von welken Blättern bedecktem Erdreich. Ich lehnte gegen den Baum, von dem die meisten der besagten Blät ter offenbar herabgefallen waren – ein kleiner Baum mit glattem hartem Stamm von nicht mehr als zehn Zentime tern Durchmesser. Die Sicht war nach allen Seiten durch immergrünen Wildwuchs begrenzt, vor allem, so schien mir ironischer weise, durch Lorbeer. Ich befand mich auf einer kleinen Lichtung, mit nur noch einem anderen jungen Baum als Gesellschaft. Buchen vielleicht, dachte ich. 328
Das größte und deprimierendste Problem war, daß ich nicht weggehen konnte. Etwas, das sich anfühlte wie Handschellen, umspannte meine Handgelenke hinter mei nem Rücken, auf der falschen Seite des Baumes. Es war still auf der Lichtung, aber darüber hinaus konnte ich den fortwährenden gedämpften Lärm hören, der die Großstadt verriet. Wo immer ich sein mochte, ich war nicht weit außerhalb. Nicht annähernd so weit wie bei spielsweise Laurel. Eher ein oder zwei Meilen … in einem Vorort. Ich öffnete den Mund und schrie aus vollem Hals das abgedroschene alte Wort »Hilfe«. Ich schrie es viele Male. Durchweg negatives Ergebnis. Der Himmel, so blau während der Rennwoche, bewölkte sich: grau wie meine Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Meine tastenden Finger entdeckten, daß ich keine Uhr trug. Ich konnte aufstehen. Ich stellte mich hin. Ich konnte knien – gab mich nicht damit ab. Ich konnte mich im Kreis um den Baum bewegen. Das tat ich. Das Grün rings umher sah aus allen Winkeln gleich aus. Die Äste des Baumes breiteten sich unmittelbar über meinem Kopf aus, schmale harte Arme, die in kleineren Zweigen und Trieben ausliefen. Es hingen noch ziemlich viele goldbraune Blätter daran. Ich versuchte sie herabzu schütteln, doch meine Bemühungen brachten sie kaum zum Wackeln, und sie blieben stur oben. Ich setzte mich wieder hin und hegte allerhand weitere unwillkommene Gedanken, hauptsächlich den, daß sie mich im Liberty-Market-Büro wohl immer an diesen Tag erinnern würden … falls ich je davon erzählen konnte. Mich selbst entführen lassen … verdammt blöd. 329
Einigermaßen peinlich. Ich dachte zurück. Wenn Pucinelli leichter zu erreichen gewesen wäre, hätte ich früher über die Familie Goldoni Bescheid gewußt und wäre längst verschwunden gewesen, als die Teppich International Cie. im Sherryatt mit ihrem Teppich eintraf. Wenn ich nicht noch mal raufgefahren wäre, um meine Sachen zu holen … Wenn, wenn, wenn. Ich dachte an das Gesicht von Giuseppe-Peter-Pietro Goldoni, wie er durch meine Zimmertür kam: konzen triert, entschlossen, ein Soldat im Einsatz, von einer Schnelligkeit und Gewandtheit, die an Tony Vine gemahn te. Er selbst hatte Dominic vom Strand entführt und war einer der Maskierten gewesen, die Alessia gefangennah men. Es war durchaus denkbar, daß er sich auch selbst als der Chauffeur ausgegeben hatte, der Morgan Freemantle abholen sollte, und wenn das zutraf, dann konnte die er folgreiche Entführung an sich eine fast so starke Befriedi gung für ihn sein wie das Geld, das sie ihm einbrachte. War ich besser gewappnet, wenn ich ihn verstand? fragte ich mich. Ich hatte noch nie von Angesicht zu Angesicht mit einem Kidnapper verhandelt, immer nur indirekt. Die Kunst der überzeugenden Verhandlung, Liberty-MarketHandbuch, Kapitel sechs. Schwierig, in der gegebenen un günstigen Lage überzeugend zu sein. Zeit verstrich. Flugzeuge flogen in Abständen über mir hin, und ein Vogelpärchen kam verärgert, um den Fremden in seinem Territorium zu inspizieren. Ich saß nicht unbe quem und versuchte, mich geistig auf die Möglichkeit ein zustellen, daß ich einige Zeit bleiben würde, wo ich war. Es fing an zu regnen. Der Baum bot wenig Schutz, aber es störte mich nicht sonderlich. Die Tropfen prasselten in sanften Schauern 330
durch das welkende Laub, neu und interessant auf meiner Haut. Soweit ich mich erinnerte, war ich noch nie unbe kleidet draußen im Regen gewesen. Ich hob das Gesicht, öffnete den Mund und trank, was kam. Nach einer Weile hörte der Regen auf, und es wurde dunkel. Die ganze Nacht, dachte ich kalt. Tja. Die ganze Nacht also. Finde dich damit ab. Akzep tiere es. Es ist nicht so schwer. Ich war stark und gesund und im Besitz einer natürli chen, angeborenen Widerstandskraft, die selten auch nur annähernd bis an ihre Grenzen geprüft worden war. Die Fessel an meinen Armen war locker und nicht unerträg lich. Ich konnte lange dort sitzen, ohne zu leiden. Ich nahm sogar an, daß ich’s mußte. Der größte Verdruß war die Kälte, gegen die ich mich zu verschließen suchte, und später am Abend der Wunsch nach einem schönen warmen Essen. Ab und an scheuerte ich heftig die Handschellen am Baumstamm, um zu sehen, ob die Reibung etwas unerhört Nützliches vollbringen würde, wie beispielsweise, daß sie glatt das Holz durchsägte. Das Ergebnis solcher Mühen war ein leichtes Aufrauhen der Oberfläche des Baums und eine schon beträchtlichere Aufrauhung der Haut an den Innenseiten meiner Arme. Klein mochte der Baumstamm zwar sein, aber stabil und unausstehlich fest. Ich schlief mit Unterbrechungen, schlief ziemlich tief und kippte einmal dabei um, so daß ich mit der Nase im welken Laub und mit schmerzhaft verzogenen Schultern aufwachte. Ich versuchte eine bequemere Liegestellung zu finden, aber alles war ein Kompromiß: Sitzen war noch am besten. Wartend, dem Tag entgegenfröstelnd, fragte ich mich zum erstenmal ernsthaft, ob er vorhatte, mich einfach den Elementen zu überlassen, bis ich starb. 331
Er hatte mich im Hotel nicht getötet. Die Spritze in mei nen Oberschenkel, die mich bewußtlos machte, hätte eben so leicht tödlich sein können, wenn es ihm um den Tod gegangen wäre. Eine Leiche in einem Teppich aus einem Hotel zu schaffen war nicht gewagter als einen Bewußtlo sen. Wenn er mich einfach aus seinem Leben herausbeför dern wollte, warum hatte ich dann noch teil daran? Wenn er Rache wollte … das war etwas anderes. Ich hatte Kent Wagner zuversichtlich erklärt, daß Giu seppe-Peter nicht nach und nach töten würde … und viel leicht hatte ich mich geirrt. Tja, sagte ich mir streng, du mußt wohl abwarten. Der Tag brach an. Ein grauer Tag, die Wolken tiefer, ha stend, voller unguter Verheißung. Wo bleibt der Verdi? dachte ich. Gegen ein wenig Or chestermusik hätte ich nichts einzuwenden. Verdi … Giu seppe Verdi. Nun ja. Giuseppe … Es klang plausibel. Peter war sein eigener Name – Pietro – auf englisch. Kaffee wäre nicht schlecht, dachte ich. Laß ihn dir doch vom Zimmerservice bringen. Die ersten vierundzwanzig Stunden waren die schlimm sten für ein Entführungsopfer: Kapitel eins, LibertyMarket-Handbuch. Von meinem persönlichen Standpunkt aus bezweifelte ich es jetzt. Als es ohne die Wolkendecke taghell gewesen wäre, kam er zu mir. Ich hörte ihn nicht herankommen, aber plötzlich war er da und trat hinter mir um einen der Lorbeerbüsche hervor; Giuseppe-Peter-Pietro Goldoni, gekleidet in seine braune Lederjacke mit den goldenen Schnallen an den Ärmelauf schlägen. Mir war, als hätte ich ihn schon immer gekannt, und doch war er vollkommen fremd. Etwas Unversöhnliches 332
lag in seinem Näherkommen, eine Art stummer Gewalt in den Schritten, eine subtile Arroganz in der Haltung. Seine Befriedigung darüber, mich in diese kritische Lage ge bracht zu haben, war deutlich zu sehen, und unwillkürlich sträubten sich mir die Haare auf dem Rücken. Er blieb vor mir stehen und schaute auf mich herunter. »Sie heißen Andrew Douglas«, sagte er auf englisch. Sein Akzent war ausgeprägt, und wie alle Italiener tat er sich schwer mit den ungewohnten schottischen Silben, doch was er meinte, war klar. Ich sah ausdruckslos zu ihm hoch und antwortete nicht. Konzentriert, ohne Aufregung, erwiderte er jeden meiner Blicke, und langsam spürte ich bei ihm das gleiche Gefühl mir gegenüber, wie ich es ihm gegenüber hatte. Professio nelle Neugier auf beiden Seiten. »Sie werden für mich etwas auf Band sprechen«, sagte er schließlich. »In Ordnung.« Die prompte Zustimmung hatte er nicht erwartet; er hob die Augenbrauen. »Sie fragen nicht … wer ich bin?« Ich sagte: »Sie sind der Mann, der mich aus dem Hotel entführt hat.« »Wie heiße ich?« fragte er. »Weiß ich nicht«, sagte ich. »Ich heiße Peter.« Eine unumstößliche Behauptung. »Peter.« Ich neigte bestätigend den Kopf. »Weshalb bin ich hier?« »Um etwas auf Band zu sprechen.« Er schaute mich düster an und ging, sein Kopf rund und dunkel gegen den Himmel, alle seine Züge von der Zeich nung her schon lange vertraut. Ich hatte ihn fast richtig ge troffen, dachte ich. Vielleicht im Schwung der Augenbrau en hatte ich mich geirrt; sie liefen gerader aus. 333
Er blieb schätzungsweise eine Stunde weg und kam mit einer braunen Reisetasche über der Schulter zurück. Die Tasche sah aus wie aus feinem Leder, mit goldenen Schnallen wie an der Jacke. Aus der Jacke zog er ein großes Blatt Papier hervor, fal tete es auseinander und hielt es mir zum Lesen hin. »Das werden Sie sagen«, sagte er. Ich las den Text, der in schwerfälligen Blockbuchstaben von einem Amerikaner geschrieben war, nicht von Giu seppe-Peter selbst. Er lautete: ICH BIN ANDREW DOUGLAS, ZIVILFAHNDER. HÖRT GUT ZU, IHR ARMLEUCHTER VOM JOCKEY-KLUB. IHR HABT WIE GESAGT DIE ZEHN MILLIONEN ENGLISCHEN PFUND BEIZUBRINGEN. DER ALS GEDECKT BESTÄTIGTE SCHECK MUSS BIS DIENSTAG FERTIG SEIN. SCHICKT IHN AN KONTO NR. ZL 327/42806, KREDIT HELVETIA, ZÜRICH IN DER SCHWEIZ. WENN DER SCHECK VERRECHNET IST, KRIEGT IHR FREEMANTLE OHNE FEHLENDE FINGER ZURÜCK. ABER RÜHRT EUCH DANN NICHT. SOLLTEN IRGEND WELCHE BULLEN EINGREIFEN, BIN ICH GELIEFERT. WENN ALLES IN BUTTER IST UND DIE KOHLE STIMMT, WIRD EUCH GESAGT, WO IHR MICH FINDET. WENN IRGENDWER VERSUCHT, DEN DEAL ZU BLOCKIEREN, NACHDEM FREE MANTLE AUF FREIEM FUSS IST, WERDE ICH UMGEBRACHT.
Er steckte den Zettel vorn in seine Jacke und wollte einen Kassettenrecorder aus der Ledertasche ziehen. »Das lese ich nicht«, sagte ich neutral. Er hielt in seiner Bewegung inne. »Sie haben keine Wahl. Wenn Sie es nicht lesen, bringe ich Sie um.« Ich schwieg und sah ihn einfach ohne Herausforderung an, aber auch, ohne Besorgnis zu zeigen. »Ich bringe Sie um«, sagte er wieder; und ich dachte, ja, vielleicht, aber nicht dafür. »Es ist schlechtes Englisch«, sagte ich. »Das hätten Sie selbst besser schreiben können.« 334
Er ließ das Tonbandgerät zurück in die Tasche gleiten. »Wollen Sie damit sagen«, fragte er ungläubig, »daß Sie das wegen des Literaturstils nicht vorlesen?« »Des Sprachstils«, sagte ich. »Ja.« Er kehrte mir den Rücken zu, während er überlegte, und drehte sich nach einiger Zeit wieder um. »Ich werde den Text ändern«, sagte er. »Aber Sie lesen nur das, was ich schreibe. Verstanden? Keine …«, er such te nach den Worten, sagte jedoch schließlich auf italie nisch, »keine Kodewörter, keine versteckten Zeichen.« Ich dachte, wenn ich ihn dazu anhielt, englisch zu spre chen, könnte das meinen Nachteil ein wenig ausgleichen, deshalb sagte ich: »Was meinen Sie? Ich verstehe nicht.« Er kniff leicht die Augen zusammen. »Sie können Spa nisch. Das Zimmermädchen im Hotel meinte, Sie seien Spanier. Ich denke, daß Sie auch Italienisch können.« »Nur wenig.« Er zog das Blatt Papier aus seiner Jacke, suchte einen Stift und begann auf der Rückseite, indem er die Tasche als Unterlage benutzte, eine neue Version für mich zu schreiben. Als er damit fertig war, hielt er sie mir hin. In eleganter Handschrift lautete die Mitteilung jetzt: ICH BIN ANDREW DOUGLAS. JOCKEY-KLUB, BESORGEN SIE ZEHN MILLIONEN ENGLISCHE PFUND. SENDEN SIE DIENS TAG ALS GEDECKT BESTÄTIGTEN BANKSCHECK AN KONTO NUMMER ZL 327/42806, KREDIT HELVETIA, ZÜRICH, SCHWEIZ. WENN DIE BANK DEN SCHECK VERRECHNET, KOMMT MORGAN FREEMANTLE ZURÜCK. WARTEN SIE DANACH. DIE POLIZEI DARF NICHT ERMITTELN. WENN FRIEDEN HERRSCHT, WERDE ICH FREI SEIN. WENN DAS GELD NICHT VON DER SCHWEIZER BANK ABGENOMMEN WERDEN KANN, WERDE ICH UMGEBRACHT.
»Ja«, sagte ich. »So ist es viel besser.« Er griff erneut nach dem Tonbandgerät. »Zehn Millionen werden sie nicht zahlen«, sagte ich. 335
Wieder hielt seine Hand inne. »Das weiß ich.« »Ja, davon bin ich überzeugt.« Ich wünschte, ich hätte mir die juckende Nase kratzen können. »Eigentlich erwar ten Sie, daß der Jockey-Klub an Ihre Schweizer Konto nummer einen Brief sendet, in dem er einen realistischeren Vorschlag unterbreitet.« Er hörte mit ausdrucksloser Miene zu, setzte die Worte ins Italienische um und verstand. »Ja«, sagte er. »Man wird vielleicht ein Lösegeld von hunderttausend Pfund vorschlagen«, sagte ich. »Das ist lächerlich.« »Vielleicht fünfzigtausend mehr, um Ihre Unkosten zu decken.« »Genauso lächerlich.« Wir schauten uns abschätzend an. Im Normalfall wurde ein Lösegeld nicht in dieser Weise ausgehandelt. Anderer seits, was hinderte uns? »Fünf Millionen«, sagte er. Ich schwieg. »Fünf müssen es sein«, sagte er. »Der Jockey-Klub hat kein Geld. Der Jockey-Klub ist nur ein Verein von interessierten Leuten. Es sind nicht al les reiche Leute. Fünf Millionen können die nicht zahlen. Sie haben keine fünf Millionen.« Er schüttelte ohne Ärger den Kopf. »Die sind reich. Fünf Millionen haben sie garantiert. Ich weiß es.« »Woher wissen Sie’s?« fragte ich. Seine Augenlider zuckten leicht, aber er sagte nur wie der: »Fünf Millionen.« »Zweihunderttausend. Mehr bestimmt nicht.« »Lächerlich.« Er stelzte davon und verschwand zwischen den Lorbeer büschen, und ich nahm an, daß er nachdenken und mich nicht dabei zusehen lassen wollte. 336
Das Schweizer Bankkonto war faszinierend, dachte ich. Und offensichtlich plante er, das Geld mehr oder minder sofort von ZL 327/42806 auf eine andere Kontonummer, wenn nicht auf eine andere Bank zu überweisen, und woll te sicher sein, daß der Jockey-Klub sich keine Möglichkeit ausgedacht hatte, ihn zu stoppen, aufzuspüren oder in eine Falle zu locken. Da einige der besten Bankiersköpfe Eng lands dem Jockey-Klub angehörten oder ihn berieten, wa ren seine Vorsichtsmaßnahmen überaus sinnvoll. Ein Opfer zurück für das Lösegeld. Ein Opfer zurück, wenn das Lösegeld noch tiefer in der Anonymität verschwunden war. Morgan Freemantle für Geld, Andrew Douglas für Zeit. Keine Übergabe, bei der erregbare Carabinieri im Hin terhalt lagen, keine Stapel gezinkter – und fotografierter – Banknoten. Nichts als Zahlen, elektronisch gespeichert, modern und sicher. Man ziehe den Herren vom JockeyKlub die Zahlen ab, errechne den Gesamtbetrag, telegra fiere ihn in die Schweiz. War sein Geld in Zürich, konnte Giuseppe-Peter sich nach Südamerika absetzen, ohne von der ständigen Inflati on dort berührt zu werden. Schweizer Franken widerstan den jedem Sturm. Alessias Lösegeld war vermutlich noch am Tag, als es bezahlt wurde, in die Schweiz gelangt, vielleicht von ei nem Hehler in Franken umgetauscht. Bei dem Rennplatz besitzer vorher dasselbe. Auch wenn das Unternehmen Dominic sich als schwerer Verlust erwiesen hatte, mußte Giuseppe-Peter eine gute englische Million zusammenge bracht haben. Ich fragte mich, ob er sich ein Ziel gesetzt hatte, bei dem er aufhören würde, und ich fragte mich au ßerdem, ob es eine Sucht sein konnte – einmal Entführer, immer Entführer –, in seinem Fall für immer und ewig. Er kam schließlich zurück, stellte sich vor mich und schaute herunter. 337
»Ich bin Geschäftsmann«, sagte er. »Ja.« »Stehen Sie auf, wenn Sie mit mir reden.« Ich verwarf den ersten starken Impuls, mich zu weigern. Seinem Entführer widersetzt man sich nicht: Opferlektion Nummer 2. Man soll ihm gefallen, er soll einen mögen, dann ist er weniger bereit zu töten. Pfeif auf das Handbuch, dachte ich sarkastisch – und stand auf. »So ist es besser«, sagte er. »Stehen Sie jedesmal auf, wenn ich hier bin.« »In Ordnung.« »Sie sprechen jetzt auf Band, Sie wissen, was ich sagen will. Sie werden es sagen.« Er zögerte kurz. »Wenn mir nicht paßt, was Sie sagen, fangen wir neu an.« Ich nickte. Er holte den schwarzen Kassettenrecorder aus der Leder tasche und schaltete ihn ein. Dann zog er das Blatt mit den Anweisungen aus seiner Jackentasche, schüttelte es ausein ander und hielt mir die von ihm geschriebene Version zum Lesen hin. Er bedeutete mir anzufangen, und ich räusperte mich und sagte so nüchtern, wie ich es fertigbrachte: »Hier ist Andrew Douglas. Die Lösegeldforderung für Morgan Freemantle ist jetzt von zehn auf fünf Millionen Pfund herabgesetzt –« Giuseppe-Peter schaltete das Gerät aus. »Ich habe nicht gesagt, daß Sie das sagen sollen«, warnte er mich. »Nein«, stimmte ich leise zu. »Aber es könnte Zeit spa ren.« Er schürzte die Lippen, überlegte, hieß mich von vorn anfangen und drückte die Aufnahmetaste. Ich sagte: »Hier ist Andrew Douglas. Die Lösegeldforderung für 338
Morgan Freemantle ist jetzt auf fünf Millionen Pfund her abgesetzt. Dieses Geld soll durch bestätigten Bankscheck an die Kredit Helvetia in Zürich in der Schweiz auf Konto Nummer ZL 327/42806 überwiesen werden. Wenn der Be trag diesem Konto gutgeschrieben ist, wird Morgan Free mantle herausgegeben. Danach dürfen keine polizeilichen Ermittlungen stattfinden. Wenn es keine Ermittlungen gibt und wenn das Geld ohne jede Einschränkung bei der Schweizer Bank eingezahlt worden ist, so daß es ungehin dert auf andere Konten transferiert werden kann, werde ich freigelassen.« Ich hielt ein. Er drückte auf die Stopptaste und sagte: »Sie sind noch nicht fertig.« Ich sah ihn an. »Sie werden sagen, daß man Sie, wenn diese Dinge nicht geschehen, umbringt.« Seine dunklen Augen blickten direkt in meine, auf glei cher Höhe mit meinen. Ich sah nur Gewißheit. Er drückte erneut auf die Starttaste und wartete. »Mir wurde gesagt«, sagte ich mit trockener Stimme, »daß man mich umbringt, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden.« Er nickte scharf und schaltete aus. Ich dachte: Er wird mich sowieso umbringen. Er steckte den Kassettenrecorder in ein Fach seiner Tasche und suchte in einem zweiten Fach nach etwas anderem. Ich hatte plötzlich die fürchterlichste Angst im Leib und versuchte mit aller Willenskraft, sie unter Kontrolle zu bringen. Aber es war keine Schußwaffe, kein Messer, was er aus der Ta sche holte, es war eine Colaflasche mit einer milchigen Flüssigkeit. Die Erleichterung war fast ebenso schlimm. Trotz der kühlen Luft schwitzte ich. Er hatte offenbar nichts bemerkt. Er war gerade dabei, 339
die Kappe abzuschrauben und aus der Tasche einen dik ken, buntgestreiften Plastiktrinkhalm zutage zu fördern. »Suppe«, sagte er. Er steckte den Trinkhalm in die Fla sche und bot ihn meinem Mund dar. Ich saugte. Es war Hühnersuppe, kalt, ziemlich dick. Ich trank sie recht schnell aus, vor Angst, er würde sie mir ent reißen. Er sah kommentarlos zu. Als ich fertig war, warf er den Strohhalm auf den Boden, verschraubte die Flasche und legte sie wieder in die Tasche. Dann warf er mir noch ei nen langen, konzentrierten, abschätzenden Blick zu und ging abrupt davon. Ich setzte mich bedauerlich schwach auf den lehmigen Boden. Gottverdammt, dachte ich. Gottverdammt noch mal. Es steckt in mir, dachte ich, wie in jedem Opfer; das hoffnungslose Gefühl der Schmach, das widerwärtige Schuldbewußtsein, weil man sich hatte entführen lassen. Ein Gefangener, nackt, allein, ängstlich, die Nahrung vom Gegner abhängig … alle klassischen Bestandteile, die zusammen den Zusammenbruch des Opfers ergaben. Das zum Leben erwachte Handbuch. So gut man auch aus den Berichten anderer wußte, wie es war, es schützte einen nicht genügend vor dem Schock der Wirklichkeit. In Zukunft würde ich das, was man mir erzählte, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit jedem erinnerten Puls schlag verstehen. Falls es eine Zukunft gab.
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ieder fiel Regen, zuerst in dicken, schweren, einzel nen Tropfen, die laut auf das welke Laub klatsch ten, und recht bald in Strömen. Ich stand auf und ließ den Regen als Dusche fungieren, mein Haar von ihm durch tränken, ihn an meinem Körper niederrinnen, kalt und selt sam angenehm. Trinken konnte ich ihn auch schon ganz gut, ohne mich zu verschlucken. Wie merkwürdig mußte ich aussehen, dachte ich, während ich auf der Lichtung stand und immer nasser wurde. Meine schottischen Altvordern waren nackt in die Schlacht gezogen, heulend die Hügel hinabgestürmt, mit nichts als Schwert und Schild, und hatten ihre Feinde in heillosen Schrecken versetzt. Wenn diese fernen Clanmit glieder aus dem Hochland in längst vergangenen Jahrhun derten kämpfen konnten, wie die Natur sie schuf, dann konnte ich mir heute an ihrem unbeugsamen Geist ein Bei spiel nehmen. Ich fragte mich, ob die Hochländer sich vor dem Auf bruch mit destilliertem Hafer gestärkt hatten. Der machte einem sicher mehr Mut als Hühnersuppe. Es regnete stundenlang heftig weiter. Erst als die Dun kelheit hereinbrach, ließ der Regen nach, und da war das Erdreich um den Baum herum so naß, daß es schon fast auf ein Schlammbad hinauslief, sich hinzusetzen. Da ich den ganzen Tag gestanden hatte, setzte ich mich trotzdem. Wenn es auch den nächsten Tag regnete, dachte ich sarka stisch, würde der Schlamm abgespült. Die Nacht war wiederum lang und kalt, aber nicht bis 341
zur Unterkühlung. Meine Haut trocknete, als der Regen aufhörte. Schließlich schlief ich sogar wieder ein. Ich verbrachte die feuchte Morgendämmerung und ein oder zwei Stunden danach mit grimmigen Hungergefühlen und fragte mich düster, ob Giuseppe-Peter jemals wieder kommen würde, doch er kam. In der gleichen Jacke, mit der gleichen Tasche trat er ruhig und selbstbewußt durch den Lorbeervorhang. Ich stand auf, als er herankam. Er nahm es schweigend zur Kenntnis. Sein glattes Haar war leicht gekräuselt, we niger von Regen als von starker Luftfeuchtigkeit, und be hutsam suchte er sich einen Weg zwischen den Pfützen. Es war Dienstag, dachte ich. Er hatte wieder eine Flasche Suppe mitgebracht, warm und rotbraun diesmal. Sie schmeckte entfernt nach Rind fleisch. Ich trank langsamer als am Tag vorher, da ich jetzt einigermaßen darauf vertraute, daß er sie mir nicht entrei ßen würde. Er wartete, bis ich fertig war, warf den Stroh halm weg und schraubte wie zuvor die Kappe auf die Fla sche. »Sie bleiben draußen«, sagte er unerwartet, »bis ich drinnen für Sie Platz gemacht habe. Einen Tag noch. Oder zwei.« Nach einem wie betäubten Moment sagte ich: »Kleider …« Er schüttelte den Kopf. Dann blickte er auf die Wolken. »Regen ist sauber.« Ich nickte halb, eine winzige Bewegung, die er sah. »In England«, sagte er, »haben Sie mich besiegt. Hier besiege ich Sie.« Ich schwieg. »Man hat mir erzählt, daß Sie das in England waren. Sie, der den Jungen gefunden hat.« Er zuckte plötzlich fru striert die Achseln, und ich erriet, daß er immer noch nicht 342
wußte, wie wir es geschafft hatten. »Entführte Personen zurückzuholen ist Ihr Beruf. Ich wußte nicht, daß es ein Beruf ist, außer für die Polizei.« »Ja«, sagte ich neutral. »Sie werden mich nie wieder besiegen«, sagte er ernst. Er steckte die Hand in die Tasche und holte eine reich lich zerknitterte, weitgereiste Kopie seines Konterfeis her vor, in der ich, als er sie entfaltete, einen der Erstdrucke aus Bologna erkannte. »Sie waren es, der das gezeichnet hat«, sagte er. »Des wegen mußte ich Italien verlassen. Ich ging nach England. In England wieder dieses Bild. Überall. Deswegen bin ich nach Amerika gekommen. Jetzt ist das Bild hier, nicht wahr?« Ich antwortete nicht. »Sie haben mich gejagt. Ich habe Sie gefangen. Das ist der Unterschied.« Er gefiel sich enorm in dem, was er sagte. »Bald werde ich anders aussehen. Ich werde mich ver ändern. Wenn ich das Lösegeld habe, verschwinde ich. Und diesmal lassen Sie meine Leute nicht von der Polizei verhaften. Diesmal stoppe ich Sie.« Ich fragte nicht wie. Es war sinnlos. »Sie sind wie ich«, sagte er. »Nein.« »Doch … aber ich werde gegen Sie gewinnen.« Es konnte vermutlich immer dazu kommen, daß Feinde, ob sie wollten oder nicht, Achtung füreinander empfanden, auch wenn die Feindschaft zwischen ihnen tief und unver ändert blieb. Dies also war so ein Moment – wenigstens auf seiner Seite. »Sie sind stark«, sagte er, »wie ich.« Eine Antwort schien nicht möglich. »Es ist gut, einen starken Menschen zu besiegen.« 343
Zu gern hätte ich ihm diesen Triumph vorenthalten. Ich sagte: »Werden Sie auch für mich ein Lösegeld ver langen?« Er sah mich kalt an. »Nein.« »Warum nicht?« fragte ich; und ich dachte, wozu die Frage, du willst doch die Antwort nicht kennen. »Für Freemantle«, sagte er lediglich, »bekomme ich fünf Millionen Pfund.« »Der Jockey-Klub wird keine fünf Millionen Pfund be zahlen«, sagte ich. »Er wird.« »Morgan Freemantle ist nicht sehr beliebt«, sagte ich. »Die Mitglieder des Jockey-Klubs werden sich über jeden Penny ärgern, der aus ihnen herausgepreßt wird. Sie wer den zögern, debattieren, sie werden wochenlang beraten, ob jedes Mitglied einen gleich hohen Beitrag leisten oder ob die Reichen mehr geben sollten. Sie werden Sie warten lassen … und mit jedem Tag, den Sie warten, riskieren Sie, daß die amerikanische Polizei Sie findet. Die Ameri kaner sind groß im Auffinden von Kidnappern … Ich nehme an, das wissen Sie.« »Wenn Sie zu essen haben möchten, reden Sie nicht so.« Ich verstummte. Nach einer Pause sagte er: »Ich nehme an, sie werden nicht gerade fünf Millionen Pfund bezahlen. Aber es sind viele Mitglieder. Ungefähr einhundert. Davon kann jeder dreißigtausend Pfund zahlen, dessen bin ich sicher. Das gibt drei Millionen Pfund. Morgen besprechen Sie noch ein Band. Darauf sagen Sie ihnen, daß dies der letzte Preisnachlaß ist. Dafür lasse ich Freemantle frei. Wenn sie nicht zahlen, werde ich ihn umbringen und Sie auch und Sie hier in diesem Boden begraben.« Er wies kurz auf das Erdreich zu unseren Füßen. »Morgen sprechen Sie das auf Tonband.« 344
»Ja«, sagte ich. »Und glauben Sie mir«, stellte er nüchtern fest, »ich ha be nicht die Absicht, mein ganzes Leben im Gefängnis zu verbringen. Wenn diese Gefahr droht, töte ich, um es zu verhindern.« Ich glaubte ihm. Ich sah ihm an, daß es stimmte. Nach einem Moment sagte ich: »Sie haben Mut. Sie wer den warten. Der Jockey-Klub wird zahlen, wenn die Sum me nicht zu hoch ist. Es muß ein Betrag sein, den zu ver weigern ihr Gewissen … ihr Schuldbewußtsein … ihnen verbietet. Den sie … wenn nicht achselzuckend, dann zäh neknirschend … wirklich opfern können. Ein Gesamtbetrag von etwa einer Viertelmillion Pfund, würde ich annehmen.« »Mehr«, sagte er entschieden und schüttelte den Kopf. »Falls Sie Freemantle umbringen, würde der JockeyKlub es zwar bedauern, aber bekümmert wären viele Mit glieder im Innersten nicht. Wenn Sie zuviel fordern, wird man sich weigern, und Sie gehen vielleicht leer aus … bis auf das Risiko einer Freiheitsstrafe … wegen Mordes.« Ich sprach ohne Nachdruck, ohne Überredung; einfach als führte ich wenig aufregende Tatsachen an. »Sie waren es«, sagte er bitter. »Sie haben mich ge zwungen, sechs Wochen auf das Lösegeld für Alessia Cenci zu warten. Hätte ich nicht gewartet, das Lösegeld nicht heruntergesetzt … hätte ich nichts bekommen. Ein totes Mädchen nützt ja nichts … Ich verstehe jetzt, was Sie tun.« Er hielt inne. »Diesmal besiege ich Sie.« Ich antwortete nicht. Ich wußte, daß ich ihn wieder voll in die grundlegende Zwickmühle des Entführers gebracht hatte: Sollte er sich mit dem zufriedengeben, was er be kommen konnte, oder es riskieren, auf dem zu bestehen, was er haben wollte. Ich konnte mir denken, daß der Jok key-Klub zwar murren, aber schließlich doch eine halbe Million Pfund bezahlen würde, also fünftausend Pfund pro 345
Kopf, wenn die Mitgliederzahl stimmte. Bei Liberty Mar ket hätten wir wohl zur Einigung auf eine Summe dieser Art geraten. Fünf Prozent der ursprünglichen Forderung. Die Unkosten dieser Entführung mußten hoch sein. Zu hartnäckige Versuche, den Gewinn auf Null zu drücken, wären gefährlich für das Opfer. Mit etwas Glück, dachte ich, würden Giuseppe-Peter und ich noch einen annehmbaren Preis für Morgan Freemantle aushandeln, und der Vorstandsvorsitzende würde heil nach Hause zurückkehren. Und um das zu erreichen, war ich im Grunde ja nach Amerika gekommen. Danach … für meine Person … kam es ganz darauf an, wie überzeugt Giusep pe-Peter davon war, daß er verschwinden konnte … und wie er zu mir stand … und ob er mich als eine lebenslange Gefahr für sich betrachtete. Die ich sein würde. Die ich war. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er mich freilassen würde. Ich an seiner Stelle würde es nicht tun. Ich verdrängte den völlig unerträglichen Gedanken. So lange Morgan Freemantle in der Gefangenschaft lebte, würde auch ich es … wahrscheinlich. »Morgen«, sagte Giuseppe-Peter, »wenn ich herkomme, werden Sie auf Band sagen, daß Freemantle am Mittwoch nächster Woche ein Finger abgeschnitten wird, falls bis dahin keine drei Millionen Pfund bezahlt sind.« Er warf mir wieder einen langen, abwägenden Blick zu, als wollte er meine Überzeugung lesen, meine Schwächen, meine Ängste, meine Erkenntnisse; und ich erwiderte voll seinen Blick und sah mein anderes Selbst, den Dämon, den jeder Mensch in sich trägt. Es stimmte wohl in vieler Hinsicht, daß wir uns ähnlich waren, nicht nur im Alter, in der Statur, an körperlicher Kraft. Wir organisierten, wir planten und suchten beide auf unsere Weise den Kampf. Den gleichen Kampf … ver 346
schiedene Seiten. Die gleichen Grundwaffen … Lügen, Drohungen und Angst. Doch was er raubte, suchte ich zurückzuholen. Wo er mutwillig zerstörte, war ich bestrebt, wiederaufzubauen. Er zerbrach seine Opfer, ich arbeitete daran, sie aufzurich ten. Seine Befriedigung lag darin, sie gefangenzunehmen, meine darin, ihre Freiheit zu erwirken. Das genaue Gegen teil von mir … Wie vorher wandte er sich plötzlich ab und ging, und ich verspürte den Wunsch, hinter ihm her zu rufen, ihn zum Bleiben zu bewegen, nur damit wir reden konnten. Ich wollte nicht, daß er wegging. Ich wollte seine Gesell schaft, ob er mein Gegner war oder nicht. Ich war sie unendlich leid, diese Lichtung, diesen Baum, den Schlamm, die Kälte, diese Handschellen. Vierundzwan zig leere Stunden erstreckten sich vor mir, eine kahle Land schaft der Einsamkeit, des Unbehagens und des unvermeid lichen Hungers. Wieder fing es an zu regnen, aber schräg und schneidend jetzt, getrieben von einem aufkommenden Wind, und ich drehte die Hände, um den verhaßten Baum zu packen; wollte ihn schütteln, ihm weh tun, wütend einen Anfall unbezähmbarer Verzweiflung an ihm auslassen. So nicht, dachte ich kalt und hörte fast sofort wieder auf. Wählte ich diesen Weg, würde ich zusammenbrechen. Ich ließ die Hände herabfallen. Ich hob mein Gesicht blind ge gen den Himmel und konzentrierte mich ganz aufs Trinken. Ein Blatt fiel mir in den Mund. Ich spuckte es aus. Ein anderes fiel mir auf die Stirn. Ich schlug die Augen auf und sah, daß die meisten restlichen welken Blätter herun tergekommen waren. Der Wind, dachte ich. Aber ich ergriff den Baum sanfter noch einmal und schüttelte ihn und sah, wie ihn bis zu den Zweigen ein Zittern durchlief. Noch drei Blätter fielen ab, flatterten naß herunter. 347
Vor zwei Tagen hatte der Baum derselben Behandlung unbeweglich widerstanden. Anstatt ihn erneut zu schütteln, rannte ich mit dem Rücken gegen ihn und versetzte ihm Stöße. Ich spürte eine Bewegung im Stamm, die vorher eindeutig nicht dagewesen war, und unter meinen Füßen, unter der Erde, regte sich etwas. Ich scharrte wild mit den Zehen an der Stelle, umkreiste dann halb den Baum, setzte mich hastig und schabte mit den Fingern, bis ich eine harte Oberfläche freiwerden fühl te. Ich trat wieder dahin, wo ich erst gewesen war, rannte hart gegen den Stamm, blickte herab und sah, was ich freigelegt hatte. Eine Wurzel. Man muß schon ziemlich verzweifelt sein, wenn man ver sucht, einen Baum mit den Fingernägeln auszugraben, und verzweifelt wäre eine treffende Beschreibung von Andrew Douglas an diesem regnerischen Novembermorgen. Laß es gießen, dachte ich. Laß diesen prasselnden, klat schenden, wunderbaren Regen immer weitergehen und mein Gefängnis in Sumpf verwandeln. Laß diesen schö nen, wunderbaren, phantastischen Lehmboden flüssig werden … Laß diesen zähen kleinen Baum keine Pfahl wurzel haben, die so lang ist wie er selbst. Es regnete. Ich spürte es kaum. Ich befreite die Wurzel vom Schlamm, bis ich die Finger ganz herumlegen und zupacken konnte. Als ich an ihr ruckte, merkte ich, daß sie seitlich verlief. Ich stand auf und brachte den Fuß unter sie; eine knorri ge dunkle Sehne, so dick wie mein Daumen, die sich spannte und wieder nachgab, wenn ich mein Gewicht ge gen den Baumstamm lehnte. Ich habe den ganzen Tag, dachte ich, und die ganze Nacht. Ich habe keine andere Chance. 348
Es dauerte den ganzen Tag, aber nicht die ganze Nacht. Stunde um Stunde hielt der Regen an, und Stunde um Stunde kratzte ich mit Fingern und Zehen an den Wurzeln, legte mehr von ihnen frei und grub mich tiefer. Die Bewe gung, in die ich den Stamm versetzen konnte, gedieh lang sam von einem Zittern zu einem Beben, und von einem Beben zu einem Schwanken. Ich erprobte meine Kraft an der des Baumes jedesmal in einer Art von Agonie, aus Angst, Giuseppe-Peter würde irgendwie sehen, wie sich die Zweige über den Lorbeeren bewegten, und etwas Fürchterliches unternehmen, damit ich es bleiben ließ. Ich scharrte, grub und stemmte fast bis zur Raserei, und je länger ich weitermachte, desto quälender wurde meine Angst. Hatte ich Zeit, würde ich es schaf fen. Hatte ich Zeit … O Gott, gib mir Zeit. Einige der Wurzeln rissen mit Leichtigkeit los, andere waren herzzerreißend zäh. Wasser füllte das Loch aus, während ich grub, versperrte mir die Sicht, hinderte und half zugleich. Als ich spürte, wie eine besonders dicke und knorrige Wurzel den Kampf aufgab, wankte der Baum über mir wie in erbittertem Protest, und ich stand auf und zerrte mit aller verfügbaren Kraft an ihm. Ich zog und stieß, rüttelte, ruckte, grub die Fersen ein und lehnte mich schwer gegen den Stamm, bis ich den Druck in Waden und Oberschenkeln spürte, dann riß ich den Baum seitlich hin und her wie ein Pendel. Ein Strang bedrängter Wurzeln gab gleichzeitig nach, und plötzlich kippte der ganze Baum. In einer rauhen Um armung riß er mich mit sich, als seine Äste im Regen auf ein Bett aus den eigenen braunen Blättern krachten. Ich war atemlos, war überglücklich … und trotzdem … immer noch … gefesselt. Jede einzelne Wurzel mußte durchtrennt werden, ehe ich die Arme unter ihnen hervorziehen konnte, doch ich be 349
zweifle, ob selbst Stacheldraht mich an diesem Punkt noch aufgehalten hätte. Scharrend und rupfend, die Hände im Wasser, kniend und bis zum äußersten angestrengt, kämpf te ich um diese Flucht, wie ich mir im Leben nicht vorge stellt hatte zu kämpfen; und schließlich merkte ich, wie die ganze Wurzelmasse sich frei bewegte, ein wirrer Klumpen aus schwarz sprießenden, holzigen Tentakeln, die keinen Halt mehr in der Erde hatten. Auf Knien brachte ich sie ruckweise zwischen meinen Armen herauf, hoch zu den Schultern … und wälzte mich frei, ekstatisch befreit, in eine Pfütze. Es dauerte nicht mehr so lange, mich sozusagen auch noch durch die eigenen Arme hindurchzufädeln, zuerst das Hinterteil, dann ein Bein nach dem anderen, bis ich end lich die Hände vor mir hatte, nicht hinter dem Rücken; ei ne unglaubliche Verbesserung. Es regnete noch immer, und außerdem, merkte ich, wur de es dunkel. Ich ging zittrig zu den Lorbeeren auf der an deren Seite der Lichtung hinüber, von der Giuseppe-Peter erschienen war, und schob mich langsam, behutsam zwi schen zweien der glänzend grünen Büsche hindurch. Keine Leute. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, um Kraft in meine Knie zu pumpen, damit sie ihren Dienst versahen. Ich fühlte mich schwach und überanstrengt und gar nicht aufgelegt zu barfüßigen Landspaziergängen, doch das spielte alles keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle, außer daß ich frei war. Ich hörte nur Wind und Regen. Ich ging weiter und stieß bald auf einen Zaun aus wenigen, zwischen Pfosten ge spannten Drähten. Ich kletterte hindurch, ging weiter und erreichte plötzlich den Rand eines Hanges, von dem der Wald schräg abfiel; und unten, durch die Bäume, schim merten Lichter. 350
Ich hielt darauf zu. Ich war schon so lange nackt, daß ich aufgehört hatte, daran zu denken, was irgendwie ein Feh ler war. Mir ging es nur darum, von Giuseppe-Peter weg zukommen, der ja immer noch mein Verschwinden ent decken und die Verfolgung aufnehmen konnte. Das einzige, woran ich dachte, während ich mich einem sehr stattlichen Haus näherte, war, daß ich mich vergewissern sollte, daß nicht Giuseppe-Peter sich dort aufhielt, bevor ich klingelte. Ich kam gar nicht zum Klingeln. Ein Hoflicht wurde plötzlich eingeschaltet, und die Tür öffnete sich an einer Kette. Ein blasses, undeutliches Gesicht musterte mich, und eine spitze, erschreckte Frauenstimme sagte: »Gehen Sie weg. Verschwinden Sie hier.« Ich wollte sagen: »Warten Sie«, aber die Tür schlug kra chend zu, und während ich noch unentschlossen herum lungerte, ging sie erneut auf, und der Lauf einer Pistole ragte heraus. »Weg hier«, sagte sie. »Verschwinden Sie, oder ich schieße.« Ich traute es ihr zu. Ich schaute an mir selbst herunter und konnte es ihr nicht direkt krummnehmen. Ich war schlammbespritzt, in Handschellen und nackt: wohl kaum ein Wunschgast an einem dämmrigen Novemberabend. So friedlich, wie ich nur konnte, wich ich zurück, und als ich es für sicher hielt, entschlüpfte ich wieder in die Bäu me, um meine ganze langweilige Misere nochmals zu überdenken. Offensichtlich brauchte ich irgendeine Bedeckung, aber es war nichts zur Hand als immergrüne Lorbeerzweige. Zurück zu Adam und Eva also. Dann mußte ich einen Hausbesitzer – einen anderen – dazu bringen, daß er mit mir redete, ohne erst auf mich zu schießen. Im Garten Eden wäre es vielleicht nicht allzu schwer gewesen, doch 351
in einem Washingtoner Vorort des zwanzigsten Jahrhun derts ein echtes Problem. Weiter unten am Hang brannten mehr Lichter. Mit einem etwas törichten Gefühl pflückte ich einen Lorbeerzweig, nahm ihn in die Hand und tastete mich, über unsichtbare Steine stolpernd, im zunehmenden Dunkel zu den Lichtern vor. Diesmal, dachte ich, würde ich besser aufpassen und mir etwas suchen, womit ich mich verhüllen konnte, bevor ich an die Tür ging: einen Sack, eine Mülltüte … was im mer. Wieder überrumpelten mich die Ereignisse. Ich glitt ge rade in der Dunkelheit am Flügeltor einer Garage vorbei unter ein überhängendes Schutzdach, als unverhofft ein Wagen auf eine versteckte Einfahrt bog und mich mit sei nen Scheinwerfern erfaßte. Der Wagen hielt jäh an, und ich machte in ängstlicher Fluchtbereitschaft einen Schritt zurück. »Stehngeblieben«, sagte eine Stimme, und der Mann, der aus dem Wagen stieg, entstieg ihm mit einer Pistole. Schossen sie alle auf Fremde? dachte ich verzweifelt. Auf verschmutzte, nackte, unrasierte Fremde in Handschellen – wahrscheinlich ja. Dieser Einheimische war nicht erschrocken, sondern ge bieterisch. Bevor er noch irgend etwas sagen konnte, tat ich den Mund auf und rief: »Bitte holen Sie die Polizei.« »Was?« Er kam drei Schritte näher, besah mich von oben bis unten. »Was haben Sie gesagt?« »Bitte holen Sie die Polizei. Ich bin entflohen. Ich möch te … äh … mich stellen.« »Wer sind Sie?« wollte er wissen. »Hören Sie«, sagte ich. »Ich friere vor Kälte und bin sehr müde, und wenn Sie einen Captain Wagner anrufen, wird er mich abholen.« »Sie sind kein Amerikaner«, sagte er vorwurfsvoll. 352
»Nein. Engländer.« Er kam näher zu mir, die Pistole noch immer argwöh nisch erhoben. Ich sah, daß er in mittleren Jahren war und angegrautes Haar hatte, ein ehrbarer, entscheidungsge wohnter Bürger mit Geld. Ein nach Haus gekommener Geschäftsmann. Ich nannte ihm Wagners Telefonnummer. »Bitte«, sagte ich. »Bitte … rufen Sie ihn an.« Er überlegte, dann sagte er: »Gehen Sie da zu der Tür rüber. Keine Tricks.« Ich ging vor ihm her über den kurzen Fußweg zu der im posanten Haustür. Die Luft war feucht, aber es regnete kaum noch. »Bleiben Sie stehen«, sagte er. Nicht im Traum wäre es mir eingefallen, etwas anderes zu tun. Drei orange Kürbisgesichter standen auf den Stufen und grinsten böse zu mir herauf. Ich hörte Schlüssel klirren und das Schloß aufschnappen. Die Tür schwang nach in nen, nach draußen ergoß sich Licht. »Umdrehen. Kommen Sie hier herein.« Ich drehte mich um. Er erwartete mich mit der Pistole im Anschlag. »Kommen Sie rein, und schließen Sie die Tür.« Ich gehorchte. »Stellen Sie sich da hin«, er wies auf einen Punkt vor ei ner Wand in der mit Marmorfliesen ausgelegten Diele. »Bleiben Sie stehen … warten Sie.« Für Sekunden ließ er mich aus den Augen, als er die Hand durch eine Tür steckte; und mit einem Handtuch tauchte sie wieder auf. »Hier.« Er warf es mir zu, ein trockenes, flauschiges Tuch, hellgrün mit rosa Initialen. Ich fing es auf, aber viel anfangen konnte ich nicht damit, wenn ich es nicht auf den Boden legen und mich darauf herumwälzen wollte. 353
Er machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Kopf. »Ich kann nicht …«, sagte ich und brach ab. Es war alles einfach wirklich zuviel. Er steckte die Pistole weg, kam zu mir, schlang das Handtuch wie einen Sarong um meine Hüfte und schlug die Enden ein. »Danke«, sagte ich. Er legte die Pistole neben einen Telefonapparat und hieß mich die Nummer der Polizei wiederholen. Kent Wagner war zu meiner immerwährenden Dankbar keit eine halbe Stunde nach Dienstschluß noch in seinem Büro. Mein unwilliger Gastgeber sagte zu ihm: »Hier ist ein Mann, der behauptet, entflohen zu sein …« »Andrew Douglas«, unterbrach ich. »Sagt, er heißt Andrew Douglas.« Er hielt sich plötzlich den Hörer vom Ohr, als hätte ein Geräusch sein Trommel fell verletzt. »Wie? Er sagt, er will sich stellen. Er hat Handschellen um.« Er hörte einige Sekunden zu und kam dann stirnrunzelnd herüber, um mir den Hörer in die Hän de zu legen. »Er möchte mit Ihnen sprechen«, sagte er. Kents Stimme sagte mir ins Ohr: »Wer ist da?« »Andrew.« »Herr-gott.« Sein Atem kam pfeifend. »Wo sind Sie?« »Ich weiß es nicht. Einen Moment.« Ich fragte meinen Gastgeber, wo ich sei. Er nahm den Hörer vorübergehend wieder an sich und nannte seine Adresse, zusammen mit einer Wegbeschreibung. »Vom Dupont Circle aus drei Meilen die Massachusetts Avenue hinauf, Sie biegen rechts in die 46. Straße, noch mal rechts auf die Davenport Street, dann eine Viertelmeile geradeaus, im Wald.« Er hörte zu und gab den Hörer wieder mir. »Kent«, sagte ich, »bringen Sie einige Männer mit und kommen Sie ganz leise. Unser Freund ist hier in der Nähe.« 354
»Verstanden«, sagte er. »Und, Kent … bringen Sie auch eine Hose mit.« »Bitte?« »Hosen«, sagte ich knapp. »Und ein Hemd. Und ein Paar Schuhe, englische Größe zehn.« Er sagte ungläubig: »Sie sind doch nicht …« »Doch. Furchtbar komisch. Und einen Schlüssel für Handschellen.« Mein Gastgeber, der zunehmend verwirrt aussah, ergriff wieder den Hörer und fragte Kent Wagner: »Ist dieser Mann gefährlich?« Hinterher schwor mir Kent, er habe darauf geantwortet: »Hüten Sie ihn gut« und genau das gemeint, doch mein Gastgeber verstand den Satz als »Seien Sie auf der Hut« und hielt mich trotz meiner Beteuerungen, daß ich nicht nur harmlos, sondern regelrecht gutmütig sei, weiter mit der Pistole in Schach. »Lehnen Sie sich nicht gegen die Wand«, sagte er. »Meine Frau wäre wütend, wenn sie Blut daran entdecken würde.« »Blut?« »Sie sind voller Schrammen.« Er staunte. »Haben Sie das nicht gewußt?« »Nein.« »Von wo sind Sie entflohen?« Ich schüttelte müde den Kopf und erklärte es nicht – und wartete, wie mir schien, eine Ewigkeit, bis Kent Wagner an der Tür klingelte. Er kam halb grinsend vor Erwartung in die Diele, und sein Grinsen wurde breiter, als er das hübsche Handtuch sah, schlug dann aber plötzlich in Grimmigkeit um. »Wie geht’s Ihnen?« sagte er tonlos. »Gut.« Er nickte, ging nach draußen und kehrte gleich darauf mit Kleidern, Schuhen und einer imposanten Metallschere 355
zurück, die mit ein paar Schnitten die Handschellen durch trennte. »Das sind keine Polizeihandschellen«, erklärte er. »Wir haben keine Schlüssel dafür.« Mein Gastgeber erlaubte mir, mich in seiner Garderobe anzuziehen, und als ich herauskam, dankte ich ihm und übergab ihm das Handtuch. »Ich hätte Ihnen wohl etwas zu trinken anbieten sollen«, meinte er gedankenverloren; aber ich hatte mich gerade im Spiegel gesehen und fand, er hatte mich freundlich behan delt.
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as werden Sie nicht tun«, sagte Kent. »Doch.« Er warf mir einen Seitenblick zu. »Sie sind nicht in der Verfassung …« »Ich bin okay.« Ein bißchen mitgenommen an Fingern und Zehen, aber wenn schon. Er zuckte nachgebend die Achseln. Wir standen auf frei er Strecke bei den Polizeiwagen, die stumm waren, was Sirenen anbelangte, und nur von Standlichtern erhellt. Ich hatte ihm gerade kurz berichtet, was geschehen war. »Wir gehen den Weg zurück, den ich gekommen bin«, sagte ich. »Was sonst?« Er forderte seine schemenhaft in den Wagen erkennbaren Leute auf, zu bleiben, wo sie waren, und Befehle abzuwar ten. Er und ich gingen in den Wald hinauf, vorbei an dem Haus, in dem ich gewartet hatte, vorbei an dem mit der er schreckten Dame, über die ganze Höhe des Hanges, weiter über ebenen Boden und durch den Drahtzaun. Wir waren beide still, nur unsere Füße schurrten leise auf dem durchnäßten Laub. Der Regen hatte aufgehört. Hinter trüben Wolken schwebte heiter der Mond. Das Licht reich te zum Sehen, nachdem wir uns daran gewöhnt hatten. »Irgendwo hier«, flüsterte ich halb. »Kann nicht mehr weit sein.« Wir gingen von Lorbeersträuchern zu Lorbeersträuchern und fanden die vertraute Lichtung. »Er kam von da drü ben«, sagte ich hindeutend. Kent Wagner starrte einen Moment lang auf den entwur zelten Baum, jedoch ohne erkennbaren Ausdruck, dann 357
traten wir vorsichtig, behutsam aus dem Lorbeerkreis und verschmolzen mit der Dunkelheit, ein Paar schleichender Katzen. Er war nicht so gut wie Tony Vine, doch das waren die wenigsten. Ich wußte nur, daß er ein guter Begleiter in ei ner dunklen Gasse wäre und daß ich ohne ihn nicht mehr dort hinaufgegangen wäre. Er für sein Teil hatte erklärt, sein Job bestehe jetzt hauptsächlich in Büroarbeit und er sei froh, wieder einmal draußen zum Einsatz zu kommen. Er hielt seine Waffe wie eine natürliche Verlängerung der rechten Hand. Wir gingen langsam vorwärts, jeden Schritt ertastend, da wir mit Alarmauslösern rechnen mußten. Die Lorbeerbüsche standen hier ziemlich dicht zwischen einer ganzen Gruppe jüngerer Bäume, so daß wir nicht weit se hen konnten, doch annähernd fünfzig Schritte von der Lichtung entfernt erblickten wir ein Licht. Kent wies mit seiner Waffe darauf. Ich nickte. Wir scho ben uns in diese Richtung vor, sehr sachte jetzt wegen des Risikos. Wir sahen keine Wachtposten, was nicht bedeutete, daß es keine gab. Wir sahen die Fassade eines modernen Hau ses mit Zwischenstockwerken, das vollkommen harmlos und normal wirkte. Unten brannte Licht, und die Vorhänge waren halb zugezogen. Wir gingen nicht näher heran. Wir zogen uns in die vor derste Baumreihe zurück und folgten dem Verlauf der Auf fahrt bis zur Straße. Am Straßenrand hing ein Briefkasten an einem Pfosten. Der Briefkasten trug die Nummer 5270. Kent wies darauf, und ich nickte, dann gingen wir die Straße entlang in der Richtung, in der, wie er mir versi cherte, die Stadt lag. Im Gehen sagte er: »Ich habe das Band gehört, das Sie besprochen haben. Ihre Firma hat es uns heute morgen aus London übermittelt. Anscheinend hatte es der Jockey-Klub per Eilboten erhalten.« 358
»Meine Firma«, sagte ich sarkastisch, »war zweifellos unzufrieden mit mir.« »Ich sprach mit einem Gerry Clayton. Er meinte nur, so lange Sie am Leben seien und verhandelten, wäre es in Ordnung.« »Reizend.« »Wiederhaben wollten die Sie offenbar schon; keine Ah nung, warum.« Wir gingen ohne Hast weiter. »Ich habe mit den Eltern Goldonis gesprochen«, sagte er. »Arme Leute.« Darüber zuckte er die Achseln. »Der Mann war wütend. Sie war ganz aufgelöst. Scheint zwar, sie hat wirklich ih ren Sohn getroffen, hat ihm von Ihnen erzählt. Brachte uns aber nicht voran. Sie trafen sich am Potomac, liefen eine Weile herum, gingen dann in ein ruhiges Restaurant essen. Er hatte sie in ihrem Hotel angerufen, um es zu verabreden … kein Wort davon gesagt, wo er selber wohnt.« »Paßt zusammen.« »Ja.« Ein oder zwei Schritte weiter steckte er die Waffe in sei nen Gürtel und schnallte ein Sprechfunkgerät los. »Wendet«, befahl er seinen Leuten in den Streifenwagen. »Fahrt zurück in die 45. Straße, biegt links ab, noch mal links in die Cherrytree und schleicht da lang, bis ihr bei mir seid. Keine Sirenen. Kein, ich wiederhole, kein Lärm. Verstanden?« Die Beamten antworteten im Dienstjargon, und Kent schob die Antenne seines Funkgeräts zusammen und hakte den schwarzen Kasten an seinen Gürtel. Wir blieben wartend stehen. Er beobachtete mich ruhig im Mondlicht, ein harter Mann, der Gleichheit offerierte. Ich verstand mich mit ihm und war ihm dankbar. »Ihre Freundin«, meinte er beiläufig, »wird ganz schön glücklich sein, wenn sie Sie wiederhat.« 359
»Alessia?« »Die Reiterin«, sagte er. »Bleiches Gesicht, große Au gen. Konnte kaum reden, so hat sie geweint.« »Hm«, sagte ich. »Sie weiß, wie es ist, wenn man ent führt wird.« »Ja, ich glaube auch. Ich sprach heute nachmittag mit ihr. Außerdem sagte sie, sie habe nicht gewußt, daß sie Sie so liebt. Gibt das einen Sinn? Sie meinte irgendwie, sie würde es bedauern, daß sie nein gesagt hat.« »Tatsächlich?« Er blickte mir interessiert ins Gesicht. »Gute Neuigkeit, ja?« »Könnte man sagen.« »Irgendwas von Gefangenen, die impotent aus Vietnam zurückgekommen sind.« »Mm«, sagte ich lächelnd, »das habe ich ihr erzählt.« »Fein, daß Sie sich einen Reim darauf machen können.« »Danke«, sagte ich. »Sie ist noch im Regency Hotel«, sagte Kent. »Sie woll te nicht weg, ehe Sie frei wären.« Ich gab nicht gleich eine Antwort, und nach einer Pause fuhr er fort: »Ich sagte ihr nicht, daß Sie nicht durchkom men würden, oder falls doch, daß es ein Wunder wäre.« »Wunder geschehen«, sagte ich; und er nickte. »Hin und wieder einmal.« Wir schauten über die Straße zurück dorthin, von wo ich entkommen war. »Das Haus da liegt dreieinhalb Meilen in ziemlich direk ter Route vom Ritz Carlton«, sagte er. »Und … haben Sie’s bemerkt? Keine Kürbisse.« Er lächelte im Halbdun kel, mit glitzernden Zähnen wie ein Halloweengesicht. Als seine Wagen kamen, überprüfte er die Lage aller dings recht gründlich. Wir stiegen hinten in eines der Fahrzeuge, und er blätterte seitenweise Computerausdruk 360
ke durch. Die Ausdrucke, stellte ich fest, betrafen Grundstücke, die in den letzten acht Wochen nicht nur im Columbia-Distrikt, sondern auch im angrenzenden Arling ton und in Teilen Marylands und Virginias zur Miete an geboten oder vermietet worden waren. Das Ganze mußte eine ungeheure Arbeit erfordert haben, und wieder, wie die Bemühungen Eaglers, war sie fruchtbar. Kent stieß ein tiefes Brummen der Befriedigung aus und wies mir auf einem bestimmten Blatt die Zeilen: Nr. 5270 Cherrytree Street, 20016, gemietet den 16. Ok tober, Frist 26 Wochen, volle Miete vorausbezahlt. Er ergriff eine Karte, die schon auf der richtigen Seite aufgeschlagen war, und zeigte mir, wo wir uns befanden. »Da ist das Haus, von dem Sie anriefen, in der Daven port Street. Wir sind einen Block weiter hoch gegangen, diagonal durch die Wälder zur Cherrytree, die parallel zur Davenport verläuft. Die Wälder gehören zum American University Park.« Ich nickte. Er hievte sich aus dem Wagen, um mit seinen Männern zu sprechen, und bald darauf fuhren wir los in Richtung 5270, langsam und nur mit Standlicht. Kent und Leutnant Stavoski, der im zweiten Wagen ge kommen war, waren sich vollkommen einig, daß eine kompromißlose Razzia das beste sei, jedoch eine Razzia mit der nötigen Vorbereitung. Sie schickten zwei Beamte durch den Wald, die von hinten herankommen, aber außer Sicht bleiben sollten, und postierten auch die Wagen außer Sicht des Hauses, aber in Bereitschaft. »Sie bleiben hier draußen«, sagte Kent zu mir. »Sie hal ten sich raus, verstanden?« »Nein«, sagte ich. »Ich suche Freemantle.« Er klappte den Mund auf und wieder zu, und ich wußte, daß er sich wie alle Polizisten fast ausschließlich auf die 361
Gefangennahme der Schurken konzentriert hatte. Er sah mich einen Augenblick abwägend an, und ich sagte: »Ich gehe hinein, keine Widerrede.« Er schüttelte resigniert den Kopf, versuchte nicht mehr, mich zurückzuhalten, und wieder übernahmen er und ich, lautlos wie auf Spinnweben, den ersten Vorstoß zu dem Haus ohne Kürbisse. Im Schatten eines Lorbeerstrauches berührte ich ihn am Arm und deutete mit dem Finger nach vorn. Er straffte sich, als er sah, was ich ihm zeigte – einen Mann, der oben in einem unbeleuchteten Fenster stand und eine Zigarette rauchte. Wir beobachteten ihn reglos. Auch der Mann rührte sich nicht. »Mist«, sagte Kent. »Es gibt immer noch die Rückseite.« Hinter Sträuchern bahnten wir uns den Weg. Die rück wärtigen, auf den Wald hinausgehenden Fenster sahen ein fach leer, aus. »Was meinen Sie?« fragte ich. »Es muß passieren.« Die Waffe lag wieder in seiner Hand, und in seiner Stimme schwang Besorgnis ebenso wie Entschlossenheit. »Fertig?« »Ja.« Fertig, wenn dazu ein lautes Herz und Atemnot gehörten. Wir verließen den Schutz des Gesträuchs an der dem Haus zunächst gelegenen Stelle und schlichen von Schat ten zu Schatten zu einer Tür, die offenbar in die Küche führte. Es war eine Doppeltür; eine äußere gegen Insekten, eine Innentür halb aus Glas. Kent legte die Hand auf die Klinke der äußeren und zog sie auf, dann probierte er den Griff der Haupttür dahinter. Nicht überraschend, verschlossen. Kent nahm das Funkgerät von seinem Gürtel, zog die Antenne aus und sagte ein einziges Wort: »Los.« 362
Noch ehe er das Funkgerät wieder am Gürtel befestigt hatte, kam von der Hausvorderseite ein unter die Haut ge hendes Crescendo von Sirenen, und selbst hinten konnte man den Widerschein der vorpreschenden rotierenden Lichter sehen. Dann flammten Scheinwerfer auf, und Stimmen brüllten Unverständliches durch Megaphone, und bis dahin hatte Kent die Glasfüllung der Tür zer schmettert und seine Hand hineingesteckt, um das Schloß zu öffnen. Im Haus herrschte derselbe Tumult wie draußen. Kent und ich stürmten mit den beiden Männern als Rückendek kung auf unseren Fersen durch die Küche und hielten di rekt auf die Treppe zu, wobei wir ebensosehr spürten wie sahen, daß zwei Männer zur Pistole griffen, um sich der Invasion entgegenzustellen. Stavoskis Leute hatten offen bar das Schloß der Vordertür zerschossen. Nach dem Stak kato der Schüsse sah ich mit halbem Auge die blauen Uni formen auf den Flur kommen, aber schon war ich um die Treppenbiegung herum, unterwegs zum oberen Stock. Vergleichsweise ruhig noch, dort oben. Alle Türen außer einer standen offen. Ich rannte darauf zu, und Kent schrie gequält hinter mir: »Andrew, tun Sie’s nicht.« Ich blickte mich nach ihm um. Er kam, blieb eine Se kunde außer Schußlinie der Tür stehen, dann stürzte er sich auf sie, versetzte ihr einen wuchtigen Tritt. Die Tür flog krachend auf, und Kent sprang mit schußbereiter Pi stole hindurch und zur Seite, ich hinter ihm her. Das Licht drinnen war schwach, wie die Nachtlampe ei nes Kindes, düster nach dem hellen Flur draußen. Ein Zelt stand im Zimmer, grauweiß, mit an Möbelstücken befe stigten Spannschnüren; und neben dem Zelteingang, den er hastig zu öffnen versuchte, um seine Geisel zu greifen, stand Giuseppe-Peter. Er wirbelte herum, als wir reinkamen. 363
Auch er hielt eine Pistole. Er zielte direkt in unsere Richtung und feuerte zweimal. Ich spürte einen heftigen Stich, als eine Kugel die Haut meines linken Oberarms verbrannte. Die zweite zischte an meinem Ohr vorbei … und Kent schoß ohne Zögern auf ihn. Er fiel von der Wucht des Schusses flach auf den Rük ken, und ich ging zu ihm hin und kniete nieder. Kent war es, der das Zelt öffnete und zu Morgan Free mantle hineinging. Ich hörte die langsame, schläfrige Stimme des Vorstandsvorsitzenden und die von Kent, der wiederkam und sagte, das Opfer sei betäubt bis zu den Oh renspitzen und völlig unbekleidet, sonst aber unversehrt. Ich bemühte mich ohne jeden Erfolg, eine Handvoll zu sammengefalteter Zeitungen gegen den Hals meines Fein des zu pressen, um den scharlachroten Strahl, der dort her ausspritzte, zu hemmen. Die Kugel hatte zuviel weggeris sen; es blieb nichts mehr zu tun. Seine Augen waren offen, aber ohne Halt. Er sagte auf italienisch: »Sind Sie es?« »Ja«, sagte ich in seiner Sprache. Die Pupillen verengten sich langsam, der Blick ruhte auf meinem Gesicht. »Ich konnte es nicht wissen«, sagte er. »Wie hätte ich ahnen können … was Sie waren …« Ich kniete dort und versuchte, sein Leben zu retten. Er sagte: »Ich hätte Sie umbringen sollen damals … in Bologna … als Sie mich sahen … Ich hätte mein Messer … in diesen … spanischen … Chauffeur rennen sollen.« »Ja«, sagte ich nochmals. »Das hätten Sie.« Er warf mir einen letzten dunklen Blick zu, keine Nie derlage eingestehend, nicht einen Zoll nachgebend. Ich be trachtete ihn mit unerwartetem Bedauern. Betrachtete ihn, bis das Bewußtsein aus seinen Augen schwand und sie einfach offen waren, aber nichts sahen. 364