1963 • Made in Germany • Ungekürzte Ausgabe Titel des amerikanischen Originals: Earthman, come home.
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1963 • Made in Germany • Ungekürzte Ausgabe Titel des amerikanischen Originals: Earthman, come home.
Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr.
Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe,
vorbehalten.
Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages.
Umschlagentwurf: Eyke Volkmer.
Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua.
Druck: Presse-Druck- und Verlags-GmbH. Augsburg.
Bindearbeit: Verlagsbuchbinderei Dagaus, Westheim bei
Augsburg. 024 • S
2 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
PROLOG Die frühesten Anfänge des Weltraumfluges gehen zurück auf Forschungen zu militärischen Zwecken. Durch die Erfindung des Muirschen Materieumwandlers gelang es dann den ersten Entdeckern, bis zum Jupiter vorzustoßen. Die Natur der Schwerkraft, über die man schon Jahrhunderte vorher Vermutungen angestellt hatte, wurde durch die Jupiterexpedition im Jahre 2018 enträtselt. Dieser Raumflug war der letzte im Auftrag des Westens vor dem endgültigen Niedergang dieser Kultur. Die ferngesteuerte Errichtung der Brücke auf dem Planeten Jupiter – sicher das überwältigendste, in gewisser Beziehung aber auch das nutzloseste technische Projekt der Menschheit überhaupt –, hatte unmittelbare, präzise Messungen des Jupitermagnetfeldes ermöglicht. Die Meßergebnisse erbrachten den Beweis für die Richtigkeit der Blackett-DiracTheorie, die schon im Jahre 1948 eine unmittelbare Beziehung zwischen Magnetismus, Schwerkraft und Spin jedes Materiepartikels festgestellt hatten. Diese Theorien waren zunächst nicht mehr als ein Gedankenspiel für die Mathematiker gewesen. Aber plötzlich war die Zeit reif: für die Gleichungen und für die Mathematiker. Aus den unzähligen, mit mathematischen Zeichen bekritzelten Seiten, aus den Diskussionen über die vermutliche Feldstärke eines rotierenden Elektrons entsprang der Dillon-Wagonnersche Schwerkraft-Polarisations-Generator, fast über Nacht Rotatron getauft, nach allem, was er für die Nutzung der Elektronenrotation, den Spin, bedeutete. Zugleich waren Überlichtgeschwindigkeitsantrieb, Meteorschutzschirm und die Anti-Schwerkraft geboren. Der Westen besiedelte mit Hilfe des Rotatrons die nahegelegenen Planeten. Welche Macht ihm aber mit dem Rotatron in die Hände gelegt worden war, erkannte der Westen nicht. Tatsächlich wurde ihm niemals klar, daß mit dem Rotatron alles, aber auch alles durch den Weltraum fliegen konnte, unverwundbar und mit Überlichtgeschwindigkeit.
3 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
In den folgenden Jahrhunderten geriet die Idee des Raumfluges fast völlig in Vergessenheit. Die geistige Richtung der neuen Kultur, dieses engstirnigen Despotismus, den die Geschichtsforscher den ›Bürokratenstaat‹ nannten, ließ solche Ideen nicht zu. Der Flug in den Weltraum war ein typisches, wenn auch spätes Produkt westlicher Gedankengänge gewesen, eines Westens, der stets nach dem Unendlichem gestrebt hatte. Das schließlich erlassene Verbot, sich mit Raumfluggedanken zu befassen, erstreckte sich sogar auf die theoretischen Überlegungen der Physiker. Die allgegenwärtige Gedankenpolizei, geschult in Ballistik und anderen wissenschaftlichen Zweigen der Astronautik, entdeckte derartige Tätigkeiten, die man als ›erdenunwürdige Umtriebe‹ bezeichnete, lange bevor sie in das Stadium der Erprobung getreten waren. Die Atomforschung konnte natürlich auch von der Gedankenpolizei nicht verboten werden, weil die Macht des neuen Staates zu sehr von ihr abhängig war. Der neue Staat unterdrückte allerdings das Prinzip des Rotatrons – dieser Fluchtweg wäre zu einfach gewesen. Die Gedankenpolizei wußte aber nicht, daß die maßgebende Gleichung zu den ›gefährlichen Gedanken‹ gehörte. Nur so war es möglich, daß die Mathematiker sich daranmachten, den neuen Staat zu zerstören, ohne es zu wissen, ja ohne überhaupt revolutionäre Motive im eigenen Denken zu vermuten. Das Rotatron wurde – fast zufällig – in den atomphysikalischen Laboratorien des Thoriumtrusts wiederentdeckt. Diese Tatsache sollte der neuen Kultur zum Verhängnis werden. Der Weltraumflug kehrte wieder. Vorsichtshalber wurde das Rotatron zunächst nur in Raumschiffe eingebaut. Es gab sogar wieder, für ganz kurze Zeit, interplanetarische Entdeckungsflüge. Man konnte aber nicht länger verbergen, daß der Einbau von Rotatronen in Raumschiffen Verschwendung war. Warum sollte ein bemanntes Raumschiff weiterhin klein, eng und mit Gewichtsbegrenzungen behaftet sein? Nachdem die Anti 4 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Schwerkraft zur technischen Realität geworden war, zeigte sich, daß eigene, besonders für die Bedingungen der Raumfahrt konstruierte Raumschiffe überflüssig waren. Weder Größe noch Stromlinienform hatten jetzt noch Bedeutung. Das riesigste und unförmigste Objekt konnte aufsteigen, sich von der Erde lösen und nahezu jede beliebige Entfernung zurücklegen. Es konnten sogar ganze Städte auf die Weise fortbewegt werden. Und die Städte stiegen auf und flogen. Zuerst die Fabriken, die den Erdball von einer Fundstelle wertvoller Mineralien zur anderen umkreisten. Dann starteten sie in den Weltraum. Nichts konnte diese Entwicklung mehr aufhalten. Die fliegenden Fabriken verwandelten den Mars in das Ruhrgebiet des Sonnensystems. Mit dem Rotatron wurden vollständige Schürf und Verarbeitungsanlagen auf diesen flechtenbewachsenen Planeten gebracht. Die Trusts, der Germanium-, der Aluminium und der Thoriumtrust, flogen ihre Betriebsanlagen zum Abbau von Mineralien auf die Planeten. Nur Werk VIII des Thoriumtrusts kehrte nie zur Erde zurück. Mit dieser schlichten Feststellung beginnt die Revolution gegen die Erde. Die erste Nomadenstadt verließ das Sonnensystem und suchte bei den von der westlichen Zivilisation zurückgelassenen Planetensiedlern Arbeit. Mit diesen Nomadenstädten nahm die neue Kultur ihren Anfang. Der Bürokratenstaat ging unter. Die Erde, die dieser Staat einst bis zum letzten Sandkorn beherrscht hatte, war fast völlig verlassen. Die Nomadenstädte – Wanderarbeiter, Landstreicher, Tramps – traten das Erbe an. In erster Linie war das sicher auf das Rotatron zurückzuführen. Ohne zwei weitere bedeutsame Faktoren wäre dieser Zustand aber nicht haltbar gewesen. Der erste war die Verlängerung des Lebens. Die Überwindung des sogenannten ›natürlichen Todes‹ war praktisch schon zu der Zeit gelungen, als die Techniker der Jupiterbrücke das Prinzip des Rotatrons fanden. Beide Begriffe waren unauflösbar miteinander verbunden. Trotz des Rotatrons benötigte man anfangs für Raumflüge zwischen Sonnensystemen noch begrenzte Zeitspannen, sogar bei Überlichtgeschwindigkeit. 5 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Die Unermeßlichkeit des Universums genügte, für lange Raumflüge die ganze Lebensdauer eines Menschen zu fordern. Als der Tod jedoch durch die neuen Medikamente, die Antimortalika, besiegt war, gab es keine ›Lebensdauer‹ im alten Sinne des Wortes mehr. Der andere Faktor war wirtschaftlicher Art: der Aufstieg des Metalls Germanium als böser Geist der Festkörperphysik. Vor dem Beginn der großen Weltraumflüge war der Wert dieses Metalls ins Phantastische gestiegen. Erst als Raumflüge über das Sonnensystem hinaus möglich wurden, fiel sein Preis auf normale Werte. Germanium wurde mit der Zeit zur stabilen Währungsbasis für den gesamten Weltraumhandel. Der Bürokratenstaat war untergegangen, aber die gesellschaftliche Schichtung brach nicht völlig zusammen. Die Gesetze der Erde galten, wenn auch in abgeänderter Form, weiter, wovon die fliegenden Städte profitierten. Die Nomaden fanden Planeten, deren Bewohner die Landeerlaubnis verweigerten. Andere Planeten erlaubten zwar die Landung, aber nur, um dann die Städte rücksichtslos auszubeuten. Die Städte wehrten sich, aber sie waren keine schlagkräftigen Kampfmaschinen. Ohne Zweifel war es Verschwendung, Rotatrone in kleine Raumschiffe einzubauen, aber es ist der Zweck eines Kriegsschiffes, Energie zu verschwenden. Je mehr, desto tödlicher die Wirkung. Die Erde mußte in ihrem eigenen Interesse Gesetze zum Schutz der Nomadenstädte erlassen. Die Städte waren unentbehrlich. Obwohl sich die Erdpolizei behaupten konnte, war der Machtbereich der Erde begrenzt. Es gab viele Planeten, für die die Erde nur eine Sage war, unauslöschlich ins Bewußtsein eingegraben, aber Tausende von Jahren zurück in der Urgeschichte. Manche Planeten konnten sich weit besser an die inzwischen abgeschüttelte Tyrannei des Planeten Vega erinnern; der Name des Planeten, der die Kette dieser Tyrannei zerbrochen hatte, war ihnen fremd. Die Erde selbst wurde zum Erholungspark, mit einer einzigen Stadt von Bedeutung, der schläfrigen Hauptstadt eines ganzen 6 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Sonnensystems. Wohlhabende junge Paare machten ihre Hochzeitsreise zur Erde; alte Bürokraten kehrten zur Erde zurück, um dort zu sterben. Sonst kehrte niemand zurück. (Aus: Acreff-Monales, Die Milchstraße. Fünf Kulturbilder)
7 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
1 Als John Amalfi auf die schmale, steinerne Plattform mit der verwitterten Brüstung hinaustrat, spürte er wieder jene Unschlüssigkeit über die Bedeutung bestimmter Worte, die ihn früher ständig gestört hatte. Obwohl dieses Gefühl nur noch selten auftrat, beunruhigte es ihn doch jedesmal von neuem. Diesmal konnte er für das Ziel seiner Schritte einfach nicht den richtigen Namen finden. War es nun ein Turm oder eine Kommandobrücke? Natürlich war alles relativ und hing, wie man sagt, vom jeweiligen ›Standpunkt‹ ab. Die Plattform führte um den Glockenturm des städtischen Rathauses herum. Die ganze Stadt aber war ein Raumschiff, das hauptsächlich von dieser Stelle aus gesteuert wurde und die Amalfi gewöhnlich als Beobachtungsstation diente. Von dort aus überblickte er das Sternenmeer, in dem seine Stadt segelte. Es war also eine Kommandobrücke. Das Raumschiff war aber auch eine ganze Stadt, eine Stadt mit Spielplätzen und Gefängnissen, mit Gassen und streunenden Katzen. Und im Turm hing sogar noch eine Glocke, wenn sie auch keinen Klöppel mehr hatte. Die Stadt trug auch immer noch den Namen New York, obwohl das ein wenig übertrieben war; die fliegende Stadt umfaßte nur Manhattan. Amalfi blickte auf. Der Himmel sah genauso aus, wie er wohl in einer ganz klaren Nacht um 1950 herum ausgesehen haben mußte. Die unsichtbare Rotatronabschirmung, von der die Stadt völlig eingekapselt war, ließ nur in bestimmter Weise polarisiertes Licht durch, so daß die Sterne im Weltraum nur undeutlich und mit stark verminderter Leuchtkraft zu erkennen waren. Wenn man von dem leisen, entfernten Summen der Rotatrone absah, das übrigens sehr viel weniger laut war als der vielstimmige Verkehrslärm der Stadt damals, als die Städte noch nicht fliegen konnten, deutete nichts darauf hin, daß die Stadt durch den leeren Raum zwischen den Sternen wirbelte, ein Nomade unter Nomaden. Amalfi konnte sich, wenn er wollte, gut an die alte Zeit erinnern. Er war damals, als die Stadtväter den Abflug der Stadt 8 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
beschlossen hatten, erst kurze Zeit Bürgermeister gewesen. Das war im Jahre 3111 – Jahrzehnte, nachdem alle anderen Großstädte die Erde bereits verlassen hatten. Amalfi war damals noch nicht ganz hundert Jahre alt gewesen. Stadtdirektor war ein Mann namens Ford gewesen, der das vergnügte Erstaunen Amalfis über die Schwierigkeit, die früher vertrauten, aber nun fremdartigen Dinge richtig zu definieren, eine Weile geteilt hatte. Ford war aber um das Jahr 3300 auf Beschluß der Stadtväter erschossen worden. Er hatte es unternommen, den Vertrag der Stadt mit einem Planeten namens Epoch in ungeheuerlicher Weise zu brechen, was der Stadt bei der Erdpolizei einen schlechten Ruf eintrug. Und die Polizei vergaß nichts. Der neue Stadtdirektor hieß Mark Hasselton und war ein junger Mann von noch nicht einmal 400 Jahren. Die Stadtväter konnten ihn genausowenig leiden wie damals Ford und aus denselben Gründen. Aber Hasselton war erst nach dem Abflug der Stadt auf die Welt gekommen und hatte daher keine Schwierigkeiten, stets die richtigen Worte zu finden. Amalfi war daher versucht zu glauben, er sei der letzte Überlebende an Bord der fliegenden Stadt, dessen Bewußtsein noch von den alten Denkgewohnheiten der irdischen Zivilisation beeinflußt wurde. Die Tatsache, daß Amalfi das Rathaus als sein Hauptquartier beibehielt, war bezeichnend dafür, wie sehr der Bürgermeister noch mit der Erde verbunden war. Das Rathaus war das älteste Gebäude der Stadt, und man konnte von dort aus nur wenige andere Bauten überblicken. Es war nicht hoch genug, und zu viele neue Gebäude waren ringsum in die Höhe geschossen. Amalfi machte das nichts aus. Er blickte vom Turm oder von der Kommandobrücke aus, wie er es jetzt wohl nennen mußte, nur in die Höhe, wobei er den Kopf weit zurücklegte. Warum sollte er sich schließlich die Häuser um den Battery-Park ansehen? Er kannte sie ja schon. Senkrecht über ihm stand eine Sonne, eingehüllt in einen sternenbesetzten Mantel. Man konnte schon ihre scheibenförmige Gestalt erkennen, die an Größe langsam zunahm.
9 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Meinem Gefühl nach ist sie in Ordnung«, sagte Amalfi in sein Mikrophon. »Stern siebter Größe, glaube ich. Jack meint, daß zwei seiner Planeten Ähnlichkeit mit der Erde haben. Außerdem sind beide unseren Aufzeichnungen nach bewohnt. Wo Menschen sind, gibt es Arbeit.« Eine verzerrte Stimme tönte aus dem Gerat. Der Sprecher schien nicht überzeugt zu sein. Amalfi hörte ungeduldig zu. Schließlich sagte er: »Mistpolitik!« Die Stimme schwieg. Amalfi hängte ein und sprang die alten Steinstufen hinunter. Hasselton, der im Bürgermeisterzimmer auf ihn wartete, trommelte mit seinen schmalen Fingern auf die Tischplatte. Der derzeitige Stadtdirektor war ein sehr großer, schlanker, schlaksig wirkender Mann. Er räkelte sich faul auf dem Stuhl Amalfis, der ohne weiteres bereit war, Hasselton den faulsten Mann der ganzen Stadt zu nennen. Es spielte keine Rolle, ob Hasselton fauler war als irgend jemand außerhalb der Stadt. Nichts, was außerhalb der Stadt war, spielte eine Rolle. Hasselton sagte: »Na?« »Gut genug für uns«, brummte Amalfi. »Ein netter gelber Zwergstern mit allem Drum und Dran.« »Eben«, sagte Hasselton mit einem kleinen Lächeln. »Ich verstehe auch nicht, warum Sie jeden Stern, an dem wir vorbeikommen, persönlich in Augenschein nehmen müssen. Hier im Büro sind Bildschirme, und die Stadtväter sind über alle Einzelheiten informiert. Wie diese Sonne aussieht, wußten wir seit langem.« »Ich überzeuge mich aber gerne selbst«, sagte Amalfi. »Schließlich bin ich nicht umsonst hier sechshundert Jahre Bürgermeister. Ich kenne eine Sonne einfach nicht richtig, solange ich sie nicht selbst gesehen habe. Erst dann weiß ich Bescheid. Bilder sagen gar nichts.« »Blödsinn«, sagte Hasselton gutmütig. 10 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Die Sonne ist in Ordnung, und sie gefällt mir. Wir landen.« »Also gut. Soll ich Ihnen sagen, was da draußen los ist?« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Amalfi. Seine dunkle Stimme bekam einen nervösen, gezierten Ton; damit karikierte er die mechanische Sprechweise der Stadtväter. »›Die politische Lage ist sehr beunruhigend.‹ – Die Ernährungsfrage macht mir persönlich mehr Sorgen.« »Was? Ist es denn so schlimm?« »Noch nicht. Aber es wird schlimm werden, wenn wir nicht landen. In den Chlorellabehältern ist wieder eine Mutation aufgetreten, wahrscheinlich wegen des Strahlungsfeldes, das wir bei dem Planeten Sigma Draconis durchqueren mußten. Wir haben jetzt einen Ertrag von etwa zweitausendzweihundert Kilogramm pro Hektar, in Nährfetten ausgedrückt.« »Das ist doch ganz gut.« »Schon, aber der Ertrag fällt, und die Ertragsverminderung wird immer größer. Wenn wir nicht in der Lage sind, das aufzuhalten, gibt es in etwa einem Jahr überhaupt keine Algenernte. Außerdem sind nicht genug Rohölreserven bis zum nächsten Stern vorhanden.« Hasselton zuckte die Schultern. »Na ja, wenn schon, Chef«, meinte er. »Wir haben noch jede Mutation unter Kontrolle gebracht. Und auf diesen beiden Planeten ist es ziemlich ungemütlich.« »Gut – ja, sie haben Krieg. In dieser Lage waren wir doch schon oft. Wir brauchen nicht Partei zu ergreifen. Wir landen auf dem Planeten, der für unsere Absichten am günstigsten – « »Sie hätten recht, wenn es sich um einen üblichen interplanetarischen Streit handeln würde. Aber leider ist eine dieser Welten – die dritte neben der Sonne – ein Abkömmling des alten Hrunta-Reichs und die andere ein überlebender Teil der Hamiltonier. Sie bekämpfen sich seit fast einem Jahrhundert, von kleineren Unterbrechungen abgesehen. Eine Verbindung zur Erde hatten sie nicht. Aber die Erde hat sie gefunden.« 11 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Und?« sagte Amalfi. »Und die Erde will beide erledigen«, meinte Hasselton grimmig. »Die Erdpolizei hat uns aufgefordert, von hier zu verschwinden.« Die gelbe Sonne über der Stadt war wieder zusammengeschrumpft. Die Trampstadt trieb mit Viertelkraft zwischen den beiden kriegerischen Welten, um sich im eisigen blaugrünen Schatten eines der zerstörten riesigen Planeten dieses Sonnensystems zu verstecken. Vier winzige Mo nde drehten sich in einem seltsamen Tanz, während im Hintergrund Ammoniakstürme um den Gasriesen tobten. Amalfi blickte gespannt auf die Bildschirme. Es war ungeheuer schwierig, die Stadt gegen eine ganze Reihe sich gegenseitig widerstrebender Schwerkraftfelder im Gleichgewicht zu halten und auch noch richtig zu steuern. Amalfi war an solche Dinge nicht gewöhnt; in der Regel ging die Stadt solchen Gasplaneten aus dem Wege. Sein fast übernatürliches Gefühl für die besonderen Eigenschaften des Weltraums mußte hier noch von allen verfügbaren elektronischen Hilfsmitteln unterstützt werden. »Zu stark, dreiundzwanzigste Straße«, sprach er ins Mikrophon. »Sie haben eine Ausbuchtung von nahezu zwei Grad auf Ihrem Sektor. Sofort regulieren.« »Regulieren, Chef.« Amalfi beobachtete den Umriß des Riesenplaneten und seiner Trabanten. Ein Zeiger schlug leicht aus. »Abschalten.« Die Stadt vibrierte einmal und glitt dann geräuschlos dahin. Die plötzliche Stille war etwas unheimlich. Das entfernte Summen der Rotatrone gehörte zum Leben der Stadt und war ein Teil ihrer natürlichen Umwelt. Sobald sie verstummten, hatte man das Gefühl, als enthielte die Luft zu wenig Sauerstoff. Unwillkürlich mußte Amalfi gähnen. Sein Zwerchfell zog sich zusammen, um den vorgetäuschten Sauerstoffmangel auszugleichen.
12 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Auch Hasselton gähnte, aber seine Augen blitzten. Amalfi wußte, daß sich der Stadtdirektor jetzt in seinem Element fühlte. Der Plan stammte von ihm. Von nun an war es ihm sichtlich gleichgültig, ob der Stadt ernstlich Gefahr drohte. Amalfi konnte nur hoffen, daß Hasselton nicht sich und die Stadt ins Unglück stürzte. Mit den Plänen Hasseltons waren sie schon mehrmals in eine Klemme geraten. Zum Beispiel auf dem Planeten Thor V. In der ganzen Milchstraße konnte eine Nomadenstadt keinen für sie ungünstigeren Planeten finden. Die erste Nomadenstadt nämlich, die je zu Thor V kam, war ein Unternehmen gewesen, das seinen richtigen Namen abgelegt und sich ›Könige des Weltraumhandels‹ genannt hatte. Als diese Stadt Thor V wieder verließ, hatte sie sich allerdings weniger schmeichelhafte Namen erworben. Auf Thor V war Haß gegen die Nomaden erblich, und das nicht ohne Grund… »So, hier werden wir uns eine Weile verbergen«, meinte Hasselton. Seine Finger schnellten den Schieber seines Rechengerätes vor und zurück. »Die Lebensmittel reichen noch. Die Umlaufbahn, die uns Jack ausgerechnet hat, sieht auch recht überzeugend aus. Die Polizei wird bestimmt glauben, daß wir uns entschlossen haben, dieses Planetensystem zu verlassen. Außerdem fehlen ihnen die Leute, um mit zwei kriegführenden Planeten fertig zu werden und zusätzlich noch im Weltraum nach uns zu suchen.« »Das glauben Sie!« »Es ist immerhin wahrscheinlich«, sagte Hasselton. Seine Augen glitzerten. »Sie werden vermutlich in ein paar Wochen feststellen, daß einer der Planeten stärker ist als der andere. Die Streitkräfte der Polizei werden sich auf diesen einen Planeten stürzen. Diese Gelegenheit benützen wir, um sofort auf dem anderen zu landen. Die Polizei wird dann zu beschäftigt sein, um unsere Landung zu verhindern.« »Soweit ganz gut. Mit dem schwächeren Planeten haben wir uns aber dann doch unmittelbar eingelassen. Einen besseren Grund, die Stadt aufzulösen, kann die Polizei gar nicht finden.«
13 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Nicht unbedingt«, beharrte Hasselton auf seinem Standpunkt. »Sie können uns nicht einfach auflösen, weil wir den Befehl zur Räumung dieses Gebietes nicht befolgt haben, und das wissen sie genausogut wie wir. Wir könnten, wenn das nötig sein sollte, auch eine Gerichtsentscheidung beantragen und den Räumbefehl für unmenschlich und ungültig erklären lassen. Solange wir uns auf einem ihnen feindlichen Planeten befinden, kann der Befehl nicht durchgeführt werden.« Das Bordverständigungsgerät an schnarrte. Amalfi drückte auf die Taste.
der
Bedienungswand
»Herr Bürgermeister?« »Ja?« »Hier spricht Sergeant Anderson, Dienststelle Parkweg. In der Nähe des Gasriesen ist eben ein großes Raumschiff in Sicht gekommen. Wir versuchen, Verbindung damit aufzunehmen. Es ist ein Kriegsschiff.« »Danke«, sagte Amalfi, während er Hasselton einen Blick zuwarf. »Verbinden Sie hierher, wenn Sie Kontakt haben.« Er drehte am Sucher, bis er den Riesenplaneten gegenüber der Stadt im Bild hatte. Genau an der bezeichneten Stelle war ein winziges Lichtpünktchen erkennbar. Das fremde Schiff befand sich zwar noch im Sonnenlicht, nachdem es aber bei dieser Entfernung überhaupt sichtbar war, mußte es ein riesiges Schiff sein. »Es versucht nicht, sich zu verstecken«, murmelte Amalfi, »aber bei dieser Größe wäre das wohl auch nicht möglich. Es muß mindestens dreihundert Meter lang sein. Es sieht so aus, als wären sie nicht auf unsere Tricks hereingefallen.« Hasselton beugte sich vor und sah sich den merkwürdig aussehenden zylinderförmigen Körper genau an. »Ich halte das nicht für ein Polizeischiff«, meinte er. »Die Polizeischlachtschiffe sehen ganz anders aus. Dieses Fahrzeug hat nur vier Panzertürme, die sich der Außenhülle anpassen, eine Form, die die Alten ›Stromlinie‹ nannten. Sehen Sie?« Amalfi nickte und schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Dann ist es also aus 14 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
dieser Gegend. Für schnellen Durchflug durch die Atmosphäre gebaut. Uralte Ausrüstung – vielleicht sogar noch Muirsche Maschinen.« Das Sprechgerät schnarrte wieder. »Die Verbindung mit dem Schiff ist hergestellt«, sagte Sergeant Anderson. Das Bild des Raumschiffes und des blaugrünen Planeten verschwand, und ein freundlich aussehender junger Mann blickte sie vom Bildschirm an. »Guten Tag«, sagte er förmlich. »Spreche ich mit dem Kommandeur dieser… dieser fliegenden Festung?« Amalfi sagte: »Ja. Ich bin Bürgermeister, und dieser Herr ist Stadtdirektor. Wir teilen uns in das Kommando. Wer sind Sie?« »Captain Savage, Bundesmarine von Utopia«, sagte der junge Mann, ohne zu lächeln. »Erlauben Sie, daß wir uns Ihrer Festung… oder Ihrer Stadt nähern? Wir möchten Vertreter entsenden.« Amalfi schaltete den Ton ab und sah Hasselton an. »Was meinen Sie?« Der Offizier aus Utopia vermied es, betont höflich, die Lippenbewegungen Amalfis zu beobachten. »Es kann eigentlich nichts passieren. Immerhin ist es ein sehr großes Schiff, wenn es auch museumsreif ist. Sie könnten ihren Vertreter genausogut in einem Raumboot schicken.« Amalfi drückte wieder auf die Taste. »Sie werden verstehen, Captain«, sagte er, »daß es uns unter den derzeitigen Umständen lieber ist, wenn Sie nicht mit dem ganzen Schiff kommen. Sie können aber ein kleines Boot schicken. Ihr Vertreter ist willkommen. Oder wir könnten Geiseln austauschen…« Savage wischte den Vorschlag mit einer Handbewegung weg. »Das ist nicht nötig. Wir haben gehört, daß Sie von dem Schiff der Polizei verwarnt wurden. Jeder Feind der Polizei ist unser Freund. Hoffentlich können Sie uns die verworrene Lage etwas erklären.« »Möglich«, sagte Amalfi. »Wenn das für jetzt alles ist…«
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»Ja, Ende.« »Ende.« Hasselton stand auf. »Ich werde den Abgesandten empfangen. Soll ich Ihr Zimmer benutzen?« »Einverstanden.« Der Stadtdirektor ging, und Amalfi folgte ihm kurze Zeit später. Den Kontrollraum schloß er ab, denn die Stadt befand sich in einer festen Umlaufbahn, und bis zum neuen Abflug konnte nichts passieren. Auf der Straße winkte Amalfi ein Flugtaxi herbei. Vom Kontrollturm an der Ecke 34. Straße und 5. Avenue zum Rathaus war es ziemlich weit. Amalfi verlängerte die Entfernung noch dadurch, daß er dem Automaten eine Flugstrecke angab, die einem lebendigen Taxifahrer ein Vermögen eingebracht hätte. Er lehnte sich zurück, biß das Ende einer Zigarre ab und versuchte sich an das zu erinnern, was er einmal über die Hamiltonier gehört hatte. Sie mußten irgendeine republikanische Sekte gewesen sein, in der ersten Zeit des Raumfluges. Es hatte öffentlichen Aufruhr gegeben – Zwangsverpflichtungen, Mißbilligung der angewandten Methoden durch die Regierung und dann Unterdrückung. Es war alles ziemlich unklar. Amalfi war auch nicht sicher, ob er die ganze Sache nicht mit irgendeinem anderen Ereignis der Erdgeschichte verwechselt hatte. Das Taxi setzte zur Landung an und glitt an der Fassade des Rathauses vorüber. Als Amalfi sein Zimmer betrat, fiel ihm als erstes auf, daß Hasselton gehemmt wirkte. Das war ja beinahe ein Wunder. Hasselton hatte bisher noch nichts aus der Ruhe gebracht. Eigentlich war er der perfekte Weltraumfahrer: schlau, kaum zu überraschen oder gar zu bluffen. Außer Hasselton war nur ein Mädchen im Zimmer, das Amalfi nicht kannte, wahrscheinlich eine Sekretärin. »Was ist los, Mark? Wo ist der Vertreter der Utopier?« 16 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Dort«, sagte Hasselton. Es gab keinen Zweifel, wen er meinte. Amalfi hob die Brauen. Er wandte sich um und sah das Mädchen an. Sie war sehr hübsch: schwarzes Haar mit bläulichen Schatten, hellgraue, etwas belustigte Augen, eine volle, wohlproportionierte Figur. Sie trug das merkwürdigste Kleidungsstück, das Amalfi je gesehen hatte. Es war ein sackähnliches Gewand mit Öffnungen für Arme und Hals. In der Taille war der Stoff stark gerafft. Um Hüften und Beine war ein schwarzer Stoff gewickelt, der bis über die Knie reichte. Die Strümpfe waren aus schlechtgewebtem, aber durchsichtigem Material. Das Sackkleid wurde durch kleine farbige Punkte aufgelockert, um den Hals trug sie einen Schal – nein, keinen Schal, ein Band – was war es denn nun eigentlich? Amalfi fragte sich, ob wohl Ford dafür einen Namen gewußt hätte. Nach einer Weile wurde das Mädchen unter seiner Prüfung unruhig. Er wandte sich ab und ging zu seinem Schreibtisch. Hinter ihm sagte sie: »Ich wollte eigentlich kein Aufsehen erregen. Offensichtlich haben Sie keine Frau erwartet…« Ihre Sprache war so altertümlich wie ihre Kleider. Amalfi setzte sich. »Nein, eigentlich nicht«, sagte er, »obwohl es auch bei uns Frauen in hohen Stellungen gibt. Nur in militärischen Dingen haben unsere Frauen nicht viel mitzureden. Aber Sie sind natürlich willkommen. Was können wir für Sie tun?« »Darf ich mich setzen? Danke. Also: Erstens konnten Sie uns verraten, woher die feindlichen Kampfschiffe kommen. Wie man sieht, ist Ihre Stadt diesen Leuten nicht unbekannt.« »Nicht nur unsere Stadt«, erklärte Amalfi. »Sie kennen die Nomadenstädte als solche, das ist alles. Es ist die Erdpolizei.« Das Mädchen wurde blaß. Man merkte ihr an, daß sie diese Antwort erwartet hatte.
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»Das haben sie uns gegenüber auch behauptet«, sagte sie. »Wir, wir konnten es einfach nicht glauben. Warum greifen sie uns dann an?« »Früher oder später mußte das einmal kommen«, sagte Hasselton ruhig. »Die Erde annektiert alle unabhängigen Planeten. Die mit Ihnen verfeindeten Hruntas bleiben auch nicht verschont. Eine plausible Erklärung ist nicht einfach. Wir genießen nämlich nicht gerade das Vertrauen der Regierung der Erde.« »Oh«, machte das Mädchen. »Dann können Sie uns vielleicht beistehen? Ihre gewaltige Festung…« »Es tut mir leid«, sagte Hasselton mit einem um Entschuld igung bittenden Lächeln. »Ich versichere Ihnen, unsere Stadt ist keine Festung. Wir sind nur leicht bewaffnet. Es ist jedoch denkbar, daß wir Ihnen auf andere Weise behilflich sein können – offen gesagt, wir hoffen sehr, mit Ihnen ins Geschäft zu kommen.« Amalfi sah ihn verwundert an. Eine solche Unvorsichtigkeit, die ungenügende Bewaffnung der Stadt mit dem Abgesandten eines fremden Kriegsschiffes zu besprechen, war eigentlich nicht Hasseltons Art. Das Mädchen fragte: »Was benötigen Sie? Wenn Sie uns Informationen darüber geben könnten, wie diese Polizeischiffe fliegen und wie Sie Ihre Stadt im Raum halten können…« »Sie haben keine Rotatrone?« fragte Amalfi erstaunt. »Aber Sie müssen sie doch einmal gehabt haben, sonst hätten Sie niemals von der Erde bis hierher fliegen können.« »Das Wissen über den interplanetarischen Raumflug ist bei uns schon seit fast hundert Jahren verloren. Das erste Schiff, mit dem unsere Vorfahren flogen, ist aber noch vorhanden, und zwar in einem Museum. Das Prinzip des Motors ist uns jedoch ein Rätsel. Der Motor scheint überhaupt keine beweglichen Teile zu haben.«
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Amalfi überlegte. Fast hundert Jahre? Das sollte eine lange Zeit sein? Vielleicht hatten die Utopier auch keine Antimortalika? Aber soviel er sich erinnern konnte, war das Ascomycin schon über 50 Jahre vor dem Auszug der Hamiltonier entdeckt worden. Merkwürdig. Hasselton lächelte das Mädchen wieder an. »Das Prinzip des Rotatrons können wir Ihnen erklären«, meinte er, »aber es ist zu einfach, um leicht verständlich zu sein. Was uns betrifft, wir brauchen Nachschub, Rohstoffe. Vor allem Öl. Haben Sie welches?« Das Mädchen nickte. »Utopia hat große Ölreserven. Wir benötigen schon seit fast zwanzig Jahren keine größeren Mengen mehr – seit wir die zwischenmolekulare Bindungsveränderung wiederentdeckt haben.« Amalfi horchte auf. Die Utopier kannten also weder das Rotatron noch die Antimortalika. Dafür hatten sie etwas anderes. Etwas, das sehr wichtig war. Die Veränderung der zwischenmolekularen Kräfte über die normalen Adhäsionseffekte hinaus würde jegliches Schmiermittel, wie Öl, völlig überflüssig machen. Wenn die Utopier daran glaubten, eine derartige Technik wiederentwickelt zu haben, um so besser. »Wir selbst können alles brauchen, was Sie uns geben wollen«, fuhr das Mädchen fort. Sie schien trotz ihrer gesunden Jugend plötzlich sehr müde zu sein. »Seit wir hier sind, kämpfen wir gegen diese Barbaren und warten auf den Tag, an dem uns die Erde zu Hilfe kommt. Jetzt, wo sie da ist, richtet sie ihre Waffen gegen beide Welten. Es muß sich viel geändert haben.« »Der Fehler liegt nicht darin, daß sich die Dinge ändern«, versuchte Hasselton zu erklären, »sondern vielmehr darin, daß Ihr Volk sich nicht rechtzeitig angepaßt hat. Auf Sternen, die so weit von der Erde entfernt sind wie Ihr Planet, steht das Rad der Geschichte still. Die Lage wird noch komplizierter, wenn verschiedene geschichtliche Epochen sich begegnen, in Ihrem Fall die der Hruntas und die der Hamiltonier. Zwei derartige Kulturen lähmen sich durch ihre Begegnung. Wenn die
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Geschichte sie wieder einholt, ist es kein Wunder, daß es dann für beide ein böses Erwachen gibt.« Amalfi unterbrach ihn. »Um bei den näherliegenden Dingen zu bleiben: Den Landeplatz möchten wir gerne selbst aussuchen. Würden Sie uns erlauben, Techniker vorauszuschicken, damit diese ein Lager für uns suchen?« »Ein Lager?« »Einen Schürfplatz. Ich nehme an, daß wir die Erlaubnis dafür bekommen können.« Das Mädchen zögerte. »Das weiß ich nicht. Wir haben selbst kaum Metalle, besonders fehlt uns Stahl. Wir müssen sogar unseren Schrott verwerten…« »Eisen oder Stahl wird von uns fast nicht verwendet«, versicherte Amalfi. »Was wir brauchen, sind Germanium und andere seltene Erdmetalle für den Bau von Präzisionsinstrumenten. Davon müßten Sie eigentlich genug haben, um etwas abgeben zu können.« Amalfi sah keinen Anlaß, darauf hinzuweisen, daß Germanium außerdem als Basis für die gegenwärtige Weltraumwährung diente. Was er erzählt hatte, war schließlich die Wahrheit, und bei Verhandlungen mit diesen etwas zurückgebliebenen Planeten hatte es sich bewährt, zunächst einige Tatsachen unerwähnt zu lassen, bis die Stadt wieder abflog. »Darf ich Ihren Sender benützen?« Amalfi rückte vom Tisch weg, mußte aber dann dem Mädchen helfen, weil es mit dem Gerät nicht umgehen konnte. Einen Augenblick später erklärte das Mädchen dem Captain in kurzen Zügen den Inhalt des Gespräches. Amalfi fragte sich, ob die Hruntas wohl Englisch verstünden. Dabei sorgte er sich nicht darum, ob das gerade geführte Gespräch abgehört werden konnte, weil das Kraftfeld des Riesenplaneten dies verhindern würde, zumal die Hruntas nur gewöhnlichen Radioverkehr und weder Ultraphone noch Dirac-Sender hatten. Hasseltons Plan hing aber davon ab, daß die Hruntas die Warnung der Erdpolizei
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an die Stadt aufgefangen und verstanden hatten. Das mußte noch überprüft werden. »Wir sind einverstanden«, sagte das Mädchen. »Captain Savage hat vorgeschlagen, daß Ihre Techniker, um Zeit zu sparen, in unserem Raumboot mitkommen. Können Sie auch einen Experten für den Rotatronantrieb schicken?« »Ich gehe mit«, sagte Hasselton. »Ich verstehe mich auf Rotatrone so gut wie irgendein anderer.« »Kommt gar nicht in Frage, Mark. Ich brauche Sie hier. Für diese Arbeit sind genug andere Leute da.« Amalfi gab Befehle durch das Mikrophon. »So. Die Leute warten bei Ihrem Boot, mein Fräulein. Wenn uns Captain Savage in einer Woche anruft, um den genauen Landeplatz auf Utopia anzugeben, kann er uns erreichen, weil wir inzwischen aus dem Schatten des Planeten ausgetreten sein werden.« Nachdem das Mädchen gegangen war, blieb es eine Weile still. Schließlich sagte Amalfi langsam: »Es gibt genügend Frauen in unserer Stadt, Mark.« Hasselton wurde rot. »Es tut mir leid, Chef. Ich weiß, daß es Unsinn war. Aber ich glaube trotzdem, daß wir etwas für sie tun können. Wenn ich mich erinnere, war das Hruntareich ein ziemlich scheußlicher Staat.« »Das geht uns nichts an«, sagte Amalfi scharf. Er warf nur ungern seine ganze Autorität gegenüber Hasselton in die Waagschale. Nachdem er aufgrund seiner Stellung keine Kinder haben durfte – die Nomadenstädte hatten sich gesetzlich gegen die mögliche Gründung von Erbfolgeherrschaften gesichert –, war Hasselton für ihn fast wie ein eigener Sohn. Nur Amalfi wußte, wie oft Hasselton durch seine schwer zu fassende, durch moralische Überlegungen nicht behinderte Intelligenz in Gefahr gewesen war, auf Beschluß der Stadtväter hin abgesetzt und erscho ssen zu werden. Dieser Zustand jedenfalls mußte erhalten bleiben, wenn die Stadt fortbestehen wollte. »Passen Sie auf, Mark. Wir können uns kein Mitgefühl leisten. Wir sind Nomaden. Was gehen uns die Hamiltonier an? Vor einer 21 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Minute erst habe ich mir überlegt, welches Unheil entstehen würde, wenn die Hruntas eine der ganz modernen Waffen in die Hand bekämen, mit der sie wieder eine Diktatur errichten könnten. Aber glauben Sie vielleicht, ein Wiedererstehen des Hamiltonismus wäre besser – jetzt, in dieser Zeit? Oberflächlich gesehen wäre es wahrscheinlich leichter zu ertragen als eine neue Tyrannei der Hruntas, aber es wäre genauso unheilvoll. Diese beiden Planeten bekämpfen sich wegen einer Idee, die schon seit tausend Jahren tot ist. Beide sind eigentlich unnütz. Sie spielen keine geschichtliche Rolle mehr, verstehen Sie?« Amalfi schöpfte Atem und betrachtete seine zerkaute Zigarre. »Daß das Mädchen Ihr Urteil getrübt hat, habe ich sofort gemerkt. Sie verstehen doch sonst genug vom Aufstieg und Verfall der Kulturen. Wenn Sie das Mädchen nicht verwirrt hätte, würden Sie ohne weiteres erkennen, daß diese Menschen Opfer einer Fehlentwicklung sind – tote Zivilisationen beide, im Kampf des Untergangs, obwohl beide glauben, vor einer Erneuerung zu stehen.« Hasselton meinte versonnen: »Die Polizei sieht es anders.« »Natürlich. Die steht auf einem anderen Standpunkt. Ich spreche hier doch nicht als Vertreter der Polizei mit Ihnen. Ich spreche als Nomade. Was nützt Ihnen Ihr Nomadentum, wenn Sie sich in jede unbedeutende Grenzstreitigkeit einmischen? Mark, wenn Sie so reagieren, wären Sie besser tot – oder wieder auf der Erde, das ist dasselbe.« Er unterbrach sich wieder. Redseligkeit lag ihm nicht; sie machte ihn verlegen. Er sah den Direktor scharf an, und was er sah, ließ ihn verstummen. Er fühlte nicht zum erstenmal die Einsamkeit, die eine unvermeidliche Begle iterscheinung tiefer Erkenntnis ist. Hasselton hörte überhaupt nicht zu. Während die Stadt nach Utopia flog, war ein imposanter Kampf im Gang. Die Hruntas hatten die Umzingelung durch die Erdpolizei nicht abgewartet. Dafür hatten sie militärisch zuviel Erfahrung. Die Schiffe der Hruntas wurden, obwohl sie beinahe 22 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
so alt wie die der Hamiltonier waren, im Kampf von Offizieren hervorragend geführt, die anscheinend keine veralteten Überlegungen über die wahren Werte menschlichen Lebens plagten. Über den Ausgang des Kampfes bestand zwar kein Zweifel, aber im Augenblick war die Polizei von einem Sieg noch weit entfernt. Von der Stadt aus konnte man den Kampf nicht direkt beobachten, weil der Hrunta-Planet gerade die Sicht verdeckte. Hasselton hatte ›Späher‹ ausgesandt, ferngelenkte Raketen, etwa fünf Meter lang, die über dem Schauplatz der Auseinandersetzung schwebten, das Geschehen mit ihren Fernsehaugen beobachteten und in die Stadt funkten. Der Kampf war sehr eindrucksvoll. Die Polizei war schon seit Jahrzehnten nicht mehr in größere Kämpfe verwickelt gewesen. Die Hruntas, die trotz ihrer weit weniger entwickelten Ausrüstung sehr erfahren waren, verfolgten eine meisterhafte Taktik. Sie hatten die Auseinandersetzung in einer stark verminten Gegend erzwungen, was gleichbedeutend mit einem Kampf in der Mitte eines Schmelzofens war, wobei die Hruntas, die die Minen gelegt hatten, genau wußten, wo das Feuer am heißesten brannte. Ihre Verluste waren natürlich riesig – etwa fünf zu eins. Anscheinend hatten sie jedoch große Reserven. Es war klar, daß Offiziere, die keine Rücksicht auf ihr eigenes Leben kannten, auch das Leben ihrer Untergebenen nicht schonen würden. Nach einiger Zeit mußte sogar Hasselton den Bildschirm abstellen und die Erkundungsraketen durch Brian zurückbeo rdern lassen. Nicht das Blutbad an sich war so fürchterlich, sondern die geistige Einstellung, die daraus zu erkennen war. Die Stadt schwebte auf Utopia nieder. Von der Polizei ausgesandte Raketen meldeten den Vorgang weiter, was in der Zentrale deutlich zu hören war. Diese Meldungen würden später Anlaß zum Eingreifen geben. Aber im Augenblick, mitten in der Schlacht, konnten sich die Polizisten nicht mit der Stadt
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befassen. Bis es soweit verschwunden zu sein.
war,
hoffte
die
Stadt
wieder
Es blieb ein Rätsel, wie Utopia den Ansturm der Hruntas hundert Jahre lang abgewehrt hatte. Das Rätsel wurde noch größer, als die Stadt auf Utopia landete. Der gesamte Planet war ein einziger Klumpen aus tödlicher Radioaktivität. Es gab keine Städte mehr, nur noch kochende, weißglühende Lavaseen. Einer der Kontinente war überhaupt nicht bewohnbar. Sogar die Luft brachte die Geigerzähler zum Ticken. Tagsüber bewegte sich die radioaktive Strahlung knapp an der Gefährdungsgrenze. Sobald die Nacht hereinbrach und durch den Temperaturabfall der Radongehalt der Luft anstieg – ein Vorgang, wie er bei allen erdähnlichen Planeten auftritt –, konnte man nicht mehr atmen. Utopia war während der letzten siebzig Jahre, sobald der Hrunta-Planet Utopia auf seiner Umlaufbahn am nächsten gekommen war, jedesmal mit Atom- und chemischen Waffen beschossen worden. Die beiden Planeten trafen nur alle zwölf Jahre zusammen, sonst wäre auf Utopia sogar das Leben unter der Oberfläche nicht mehr möglich gewesen. »Wie haben Sie den Hruntas standhalten können?« fragte Amalfi. »Diese Burschen sind gute Soldaten. Wenn sie der Polizei so erbitterten Widerstand leisten können, müßte es doch eine Kleinigkeit für sie gewesen sein, mit Ihnen fertig zu werden.« Captain Savage, der sich im Turm offensichtlich nicht wohlfühlte, brachte ein dünnes Lächeln zustande. »Wir kennen ihre Tricks. Ich gebe zu, daß sie gute Strategen sind, aber sonst haben sie keine Phantasie. Das ist schließlich kein Wunder – sie legen keinen Wert auf persönlichen Unternehmungsgeist.« Er stand auf. »Wollen Sie Ihre Stadt hier so ungeschützt liegen lassen? Auch nachts?« »Ja. Ich glaube nicht, daß uns die Hruntas angreifen werden. Sie befinden sich selbst in einer gefährlichen Lage, und außerdem wissen sie wahrscheinlich, daß die Polizei mit uns auch nicht befreundet ist. Vermutlich werden sie es sich deswegen überlegen, uns von vorneherein als Feinde zu betrachten. Im übrigen werden wir ein Rotatronfeld von 0,2% 24 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Stärke erzeugen, eindringen kann.«
damit
Ihre
Luft
nicht
in
unsere
Stadt
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Savage. »Natürlich kennen Sie Ihre eigenen Fähigkeiten besser als ich. Ich muß gestehen, Bürgermeister Amalfi, daß uns Ihre Stadt ein Rätsel ist. Was treiben Sie? Warum ist die Polizei hinter Ihnen her? Sind Sie ausgewiesen worden?« Amalfi sagte: »Nein. Die Polizei ist auch nicht direkt hinter uns her. Wir stehen nur auf einer ziemlich niedrigen Stufe der Gesellschaft. Wir sind Wanderarbeiter, interstellare Tramps, Nomaden. Die Polizei ist verpflichtet, uns zu beschützen, wie andere Bürger auch – aber unsere Beweglichkeit stempelt uns in ihren Augen zu potentiellen Verbrechern. Deswegen behält man uns unter Kontrolle.« Savages Kommentar zu dieser Erklä rung gipfelte in dem betrübten Satz, der Amalfi der Wahlspruch Utopias zu sein schien: »Es hat sich so viel geändert.« »Allerdings. Es ist mir bisher unbegreiflich, wie Sie sich so lange halten konnten. Haben die Hruntas denn nie eine Invasion versucht?« »Doch, häufig sogar«, erwiderte Savage. In seiner Stimme klangen Niedergeschlagenheit und Stolz zugleich mit. »Aber Sie haben gesehen, wie wir leben müssen. Im besten Falle gelingt es uns, sie zurückzuschlagen, im schlimmsten verstecken wir uns. Die Hruntas selbst haben diesen Planeten so zugerichtet, daß er kaum noch bewohnt werden kann. Von den Invasionstruppen sind viele an den Folgen ihrer eigenen Bombardierungen umgekommen.« »Trotzdem – « »Die Psychologie des Mobs«, fuhr Savage fort, »ist bei uns fast eine eigene Wissenschaft. Bei den Hruntas übrigens auch, aber bei uns hat sie eine andere Entwicklung erfahren. Verbinden Sie das mit der Kunst des Verbergens, und Sie haben eine machtvo lle Waffe. Durch Attrappen, künstlich geschaffene Wetterbedingungen und Gebiete, die fälschlich als stark 25 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
radioaktiv verseucht bezeichnet wurden, haben wir die Hruntas veranlaßt, ihre Invasionslager immer gerade dort zu errichten, wo wir selbst es vo rgesehen hatten. Es ist fast eine Abart des Schachspieles: Man lockt den Feind gerade in die Gegend, in der man ihn mit absoluter Sicherheit und einem Minimum an Aufwand erledigen kann.« Er blinzelte in die Sonne und nagte an seiner Unterlippe. Schließlich fügte er hinzu: »Da ist aber noch ein wichtiger Punkt. Nämlich die Freiheit. Wir haben sie. Die Hruntas haben sie nicht. Sie verteidigen ein System, das asketischer Natur ist. Das heißt, für den einzelnen gibt es keine Belohnung, selbst wenn das System siegreich ist. Wir von Utopia kämpfen für ein System, das persönliche Belohnungen für jeden bereithält – die Segnungen der Freiheit. Das ist ein Unterschied. Der Verteid igungswille ist stärker.« »Oh, Freiheit«, sagte Amalfi. »Ja, ja, das ist ein großes Wort. Trotzdem, das Problem ist dasselbe. Niemand ist wirklich jemals frei. Unsere Stadt ist ein wenig republikanisch, in irgendeiner Hinsicht vielleicht sogar hamiltonisch. Aber auch wir müssen das tun, was die jeweilige Situation erfordert. Davon kommt man nicht los. Übrigens muß ich Ihnen widersprechen, wenn Sie meinen, daß die Leistungsfähigkeit bei Kriegen durch die Freiheit gesteigert wird. Ihr Volk ist schon nicht mehr frei. Wirtschaft und Politik neigen in Kriegszeiten unweigerlich zur Diktatur. Daran starb der Westen seinerzeit auf der Erde. Ihr Volk kämpft für volle Schüsseln in der Zukunft, nicht für volle Schüsseln heute. Gut – das tun auch die Hruntas. Der Unterschied zwischen Ihnen beiden existiert nur als Möglichkeit. Ein Unterschied aber, der nichts unterscheidet, bedeutet nichts.« »Sie sind zu spitzfindig«, erwiderte Savage und stand auf. »Ich glaube, ich weiß, warum Sie diesen Teil unserer Geschichte nicht verstehen. Sie haben keine Bindungen, keinen Glauben. Sie werden uns den unsrigen sicher verzeihen. Wir können uns Haarspaltereien nicht leisten.« Er ging in steifer Haltung die Treppe hinunter. Amalfi sah ihm mit einem wehmütigen Lächeln nach. Plötzlich fiel ihm Hasselton wieder ein. Wo steckte er eigentlich? Vor ein paar Stunden war er mit dem Mädchen unter 26 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
einem Vorwand verschwunden. Wenn er sich nicht beeilte, würde er eine Nacht unter der Oberfläche des Planeten verbringen müssen. Es machte Amalfi zwar nichts aus, alleine zu arbeiten, aber manche Dinge konnten nicht ohne die Anwesenheit des Direktors erledigt werden. Außerdem war es nicht ausgeschlo ssen, daß Hasselton die Stadt wieder in Ungelegenheiten brachte. Amalfi ging in sein Büro und rief die Zentrale an. Hasselton hatte sich noch nicht gemeldet. Verdrossen machte sich Amalfi daran, den Arbeitsplan für die Stadt festzulegen. Daß kein förmlicher Arbeitsvertrag zwischen der Stadt und Utopia abgeschlossen worden war, störte ihn. Das war nicht üblich. Sollte sich herausstellen, daß Utopia, wie so viele andere weltanschaulich gebundene Planeten, durchaus bereit war, im Interesse ihrer Idee ihre Geschäftspartner übers Ohr zu hauen, so gab es dagegen nach den geltenden Erdgesetzen keine rechtliche Handhabe. Leute mit einer bestimmten Absicht sind in der Wahl der Mittel nicht kleinlich. Die Stadt durfte sich auf kein Risiko einlassen. Hasselton war, wie es schien, gerade dabei, ein Risiko einzugehen. Amalfi konnte nur hoffen, daß alle es überleben würden. Auch die Erdpolizei würde sich nicht um Hasseltons Absichten kümmern. Die Schnelligkeit, mit der ihre Streitkräfte sich neu formierten und verstärkt wurden, erfüllte Amalfi mit leichtem Schrecken. Seitdem die Stadt ihre Aktionen zum letztenmal beobachtet hatte, waren die Nachschubprobleme offensichtlich gelöst worden. Die auf den Hrunta-Planeten einstürmenden Schiffe erfüllten den ganzen Himmel. Das war alles andere als günstig. Amalfi hatte mit einer Schonfrist von mehreren Monaten gerechnet, während der die Lebensmittelvorräte auf Utopia aufgefüllt werden sollten. Erst dann war der Flug zum Hrunta-Planeten in Hasseltons Plan vorgesehen. Wahrscheinlich würde der Planet zu dieser Zeit aber schon vollkommen eingeschlossen sein.
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Amalfi ließ Alarmstufe A in Kraft treten. Der nur leichte Widerstand des Rotatronfeldes gegen die Utopia-Atmosphäre wurde zu einem undurchdringlichen Wall verstärkt. Die Rotatrone sprangen an und liefen schrillend mit der höchsten Kraft, die gerade noch die Schwerkraftbeziehung zwischen der Stadt und Utopia aufrechterhielt. Im Umkreis des bisher unsichtbaren Feldes ließ ein Polarisationsblitz alles durchsichtig erscheinen, Antriebskraftfelder entstanden aus dem Nichts, und nur einige Lichtstrahlen, deren Frequenz sie dem menschlichen Auge unsichtbar machte, konnten die Barriere der Kraftfelder durchbrechen. Vor den Augen der Utopier bekam die Stadt eine blutrote Farbe und wurde in den Umrissen erschreckend undeutlich. Sofort kamen Anrufe von allen Seiten. Amalfi kümmerte sich nicht darum. An seinem Armaturenbrett, das eine Zusammenfassung der komplizierten Steuerungsanlagen im Kontrollturm darstellte, leuchteten die Alarmknöpfe auf, und aus sämtlichen Lautsprechern tönten aufgeregte Stimmen. »Herr Bürgermeister, Riesenmengen!«
wir
sind
auf
Öl
gestoßen.
»Tanken, was ’reingeht, und aufhören.« »Amalfi! Wie soll denn das Thorium – « »Wo wir hinfliegen, gibt’s noch mehr davon. Los, Schluß machen!« »Hier Zentrale! Noch keine Nachricht von Hasselton.« »Suchen Sie weiter.« »Wir rufen die fliegende Stadt! Wir rufen die fliegende Stadt! Was ist denn los? Achtung! Wir rufen die fliegende Stadt – « Amalfi schaltete alles mit einer herrischen Geste ab. »Glaubt ihr, wir bleiben ewig hier? Fertigmachen!« Die Rotatrone heulten auf. Das Blitzen der Schiffe, die sich dem Hrunta-Planeten näherten, wurde stärker. Es würde knapp werden.
28 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Dreiundvierzigste Straße, los, los! Was glaubt ihr wohl! Ihr seid doch nicht beim Kaffeekochen! Ihr habt noch neunzig Sekunden Zeit bis zum Start.« »Start? Bürgermeister, wir brauchen mindestens vier Minuten – « »Ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen? Nein, tote Leute machen keine Witze. Schneller!« »Achtung, Achtung, fliegende Stadt – « Über der Stadt sprühten Funken auf. Das Leuchten des HruntaPlaneten trübte sich. Vom Astronomiesektor stimmte Jack in den allgemeinen Aufruhr mit ein. »Noch dreißig Sekunden«, sagte Amalfi. Aus dem Sprechgerät, aus dem die furchtsamen Anfragen der Utopier gekommen waren, sagte Hasseltons Stimme ruhig: »Amalfi, sind Sie verrückt?« »Nein«, sagte Amalfi. »Es ist Ihr Plan, Mark. Ich führe ihn nur durch. Fünfundzwanzig Sekunden.« »Ich bitte nicht für mich selbst. Ich glaube sogar, mir gefällt es hier. Ich habe hier etwas gefunden, was die Stadt nicht hat. Die Stadt braucht es – « »Wollen Sie weg?« »Nein, zum Teufel«, sagte Hasselton. »Das will ich eben nicht. Aber wenn es sein müßte, dann hier…« Amalfis Kehle schnürte sich zusammen. Das hatte nichts mit Gefühlen zu tun – nein, nein, es war sicher nicht wegen Hasselton. Vielleicht war ein Rotatron zu schnell auf Touren gekommen? Er taumelte auf die Füße und erbrach sich in das kleine Waschbecken. Hasselton redete weiter, aber Amalfi vermochte ihn kaum zu hören. Die Zeit verrann unerbittlich. »Zehn Sekunden«, stöhnte Amalfi, etwas zu spät. »Amalfi, hören Sie doch!«
29 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Mark«, sagte Amalfi mit erstickter Stimme, »Mark, ich habe keine Zeit mehr. Sie haben sich entschieden. Ich – fünf Sekunden – ich kann es nicht mehr ändern. Wenn es Ihnen gefällt, gut, dann bleiben Sie hier. Ich wünsche Ihnen… ich wünsche Ihnen alles Gute, bitte glauben Sie mir. Aber ich muß zuerst an die – « Die Zeiger der Uhr trafen sich. »- Stadt denken.« »Amalfi!« »Start!« Die Stadt stürmte in den Weltraum. Ein Funkenmeer sprühte auf.
30 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
2 Die Steuerung der Stadt während des Fluges war normalerweise Hasseltons Aufgabe. In seiner Abwesenheit vertrat ihn ein junger Mann namens Carrel. Amalfi selbst bediente die Steuerung fast nie, außer bei Gelegenheiten, bei denen man sich nicht einmal mehr ganz auf die Instrumente verlassen konnte. Obwohl der Durchbruch durch die Polizeiblockade um den Planeten der Hruntas keine Kleinigkeit und Carrel ziemlich unerfahren war, machte sich Amalfi keine großen Sorgen. Er kauerte in seinem Stuhl und sah die Bildschirme wie durch einen Nebel. Er fror. Vom Boden des Zimmers wurde zwar Wärme ausgestrahlt, aber es schien nichts zu helfen. Er fühlte sich kalt und leer. »Hallo, Trampstadt«, tönte es rauh aus dem Ultraphon. »Sie sind schon einmal verwarnt worden. Zahlen Sie Ihre Strafe, und hauen Sie ab, sonst geht es Ihnen schlecht.« Amalfi drückte zögernd auf die Taste. »Wir können nicht«, sagte er uninteressiert. »Was?« schrie der Polizist. »Was soll das heißen? Sie befinden sich in der Kampfzone, und außerdem sind Sie trotz des Befehls zur Räumung des Gebietes auf Utopia gelandet. Ich sage Ihnen nochmals, zahlen Sie und verschwinden Sie, oder Sie werden es bereuen.« »Es geht nicht«, sagte Amalfi. »Das werden wir schon sehen. Was hindert Sie denn daran?« »Wir haben einen Vertrag mit den Hruntas.« Die eintretende Stille war lang und gefährlich. Schließlich sagte der Polizist: »Sie sind ziemlich gerissen. Also gut, beweisen Sie das Vorliegen eines Vertrages, und übermitteln Sie die entsprechenden Dokumente. Ich nehme an, Sie wissen, daß wir die Hruntas in die Luft sprengen werden.« »Ja.« 31 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Gut. Wenn Sie einen Vertrag haben, können Sie landen. Um so schlimmer für Sie. Vergessen Sie aber nicht, bestimmt die ganze Vertragsdauer dort zu bleiben. Wenn Sie abfliegen, ehe wir den Planeten vernichten, möchte ich Ihnen raten: Schauen Sie zu, daß Sie die Strafe zahlen können. Wenn nicht – dann sehe ich schwarz für euch Tramps.« Amalfi gelang ein schwaches Lächeln. »Vielen Dank«, sagte er, »Sie haben uns gerade noch gefehlt.« Aus dem Ultraphon ertönte noch ein enttäuschtes Knurren, dann war es still. Offiziell mußte die Erdpolizei den Status der Nomadenstädte als Wanderarbeiter anerkennen, aber nichtamtlich und trotzdem in aller Öffentlichkeit hießen die Städte bei der Polizei nur ›Tramps‹. Die Gelegenheit, eine Nomadenstadt aufzulösen, kam nur selten vor und wurde von den Polizisten immer mit Vergnügen wahrgenommen. Für diesen Mann mußte es daher ein schwerer Schlag gewesen sein, den unverletzbaren Vertrag als Hindernis vorzufinden. Aber zunächst hieß es, mit den Hruntas fertig zu werden. Der schwierigste Teil von Hasseltons Plan stand noch bevor, und Hasselton war nicht an Bord, um ihn durchzuführen. Wenn die Utopier gehört hätten, wie Amalfi den Abschluß eines Vertrages mit den Hruntas zugab, wäre er in der größten Klemme seiner ganzen Laufbahn gewesen. Amalfi versuchte, nicht darüber nachzudenken. Ursprünglich war im Plan vorgesehen, mit keinem der beiden Planeten einen Vertrag abzuschließen. Solange die Stadt sich nicht juristisch gebunden hatte, konnte sie Aufträge ablehnen und abfliegen, wann es ihr paßte. Aber es war leider anders gekommen. Die Schnelligkeit, mit der die Polizeikräfte verstärkt worden waren, hatte es unmöglich gemacht, daß sich die Stadt ohne unanfechtbare juristische Rückendeckung dem HruntaPlaneten überhaupt nähern konnte. Immerhin waren einige der Absichten Amalfis durch den Aufenthalt auf Utopia verwirklicht worden. Die Öltanks waren mehr als halb voll, und die Finanzabteilung der Stadt hatte die Geldreserven aufgefüllt. Lediglich Metalle und Energierohstoffe 32 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
hatte man nicht in entsprechenden Mengen bekommen können. Ihre Beschaffung und Verarbeitung war sehr zeitraubend. Man würde auf dem Hrunta-Planeten dazu noch länger brauchen als auf Utopia. Hrunta, das weiter von der Sonne entfernt war als Utopia, besaß auch dementsprechend unergiebigere Minerallager. Aber es nützte alles nichts. Wenn die Stadt die Eroberung Hruntas auf Utopia abgewartet hätte, wäre sie völlig in die Gewalt der Polizei geraten. Im günstigsten Falle hätte sie das Sonnensystem ohne Zahlung der Strafe nicht verlassen können, und Amalfi gab nur sehr ungern Geld her, das sich die Stadt hart erarbeitet hatte. Außerdem hätte die Stadt trotz der gegenwärtigen Finanzlage wahrscheinlich vor dem Ruin gestanden. In letzter Zeit war kaum Arbeit zu finden gewesen. Die Zentrale versuchte schon seit einigen Minuten, durch leise Signale Amalfis Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Amalfi meldete sich. Die Stimme sagte: »Sergeant Anderson hier. Wir haben schon wieder Besuch.« »Ach ja«, sagte Amalfi. »Das muß die Abordnung der Hruntas sein. Schicken Sie sie ’rauf.« Während er wartete und mürrisch an der ausgegangenen Zigarre kaute, überlas er nochmals den Vertrag. Er war durchaus üblicher Art, mit Bezahlung in Germanium oder ›Stoffen gleichen Wertes.‹ Das war die Klausel, die den Vertrag auf Utopia unverwendbar machte. Er war mit Hilfe des Ultraphons unterzeichnet worden. Allein die Tatsache, daß die Hruntas mit diesem Mikroleitstrahlgerät ausgerüstet waren, bewies, daß sie moderne Ausrüstung besaßen. Die von der Stadt auszuführenden Arbeiten waren nicht näher bezeichnet. Es schnarrte wieder, und Amalfi drückte auf den Knopf, der den Eingang freigab. Einen Augenblick schien es, als sei das eine Torheit gewesen. Die Abordnung der Hruntas benahm sich wie bei einer Eroberung. Da waren einmal genau ein Dutzend Soldaten, die enge rote Lederstiefel, blitzende Brustharnische und Helme mit feuerroten Federbüschen trugen. Die Brustharnische zeigten als Wappen eine feuerrote Sonne. Die 33 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Männer standen in zwei Reihen zu je sechs Leuten auf jeder Seite der Türe stramm und präsentierten Waffen, die offensichtlich Nachahmungen von Kammermanns erstem Mesonengewehr waren. Durch die Reihen schritt, begleitet von zwei Höflingen, die so prächtig und farbenfroh gekleidet waren wie Papageien, ein goldener Riese. Seine Kleidung war mit Goldfäden durchwirkt, Harnisch und Helm waren vergoldet, sogar seine Gesichtsfarbe wies eine tiefgoldene Tönung auf. Außerdem trug er einen üppigen goldblonden Bart. Er knurrte zwei barsche Worte. Hacken und Waffen knallten. Amalfi zuckte zusammen und stand auf. Der goldene Riese sagte: »Wir sind Markgraf Haska, Vizeregent des Herzogtums Gort unter dem Allerhöchsten Befehl Seiner Ewigen Majestät, Arpad Hrunta, Kaiser des Weltraums.« »Oh«, sagte Amalfi blinzelnd, »mein Name ist Amalfi. Ich bin hier Bürgermeister. Wollen Sie sich setzen?« Der Markgraf wollte. Während die Soldaten steif stehen blieben, postierten sich die beiden Adjutanten hinter dem Stuhl des Markgrafen. Amalfi ließ sich mit einem unterdrückten Seufzer der Erleichterung auf seinen Stuhl fallen. »Ich darf annehmen, daß Sie den Vertrag besprechen wollen.« »Genau. Wie wir hören, haben Sie sich bei dem Pöbel auf dem zweiten Planeten herumgetrieben.« »Es handelt sich um eine Notlandung«, erklärte Amalfi. »Ohne Zweifel«, bemerkte der Markgraf trocken. »Wir beschäftigen uns nicht mit dem Treiben der Hamiltonier. Wir werden sie unterjochen, sobald wir diese dekadenten Erdleute verjagt haben. Inzwischen kommen Sie nicht ungelegen. Jeder Feind der Erde ist unser Freund.« »Das klingt logisch«, stimmte Amalfi zu. »Was können wir nun für Sie tun? Wir sind sehr gut ausgerüstet…«
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»Erst muß die Frage der Bezahlung geklärt werden«, sagte der Markgraf. Er stand auf und ging mit Riesenschritten im Raum auf und ab, während sein goldener Umhang flatterte. »Wir sind nicht in der Lage, mit Germanium zu bezahlen. Was wir haben, brauchen wir selbst für den Bau von Transistoren. Im Vertrag findet sich die Bezeichnung ›oder gleichwertig‹. Was zählt als gleichwertig?« Erstaunlich, wie schnell die markgräflichen Manieren verschwanden, sobald man zu handeln begann. Amalfi sagte vorsichtig: »Nun ja, Sie könnten uns die Schürfrechte für Germanium überlassen – « »Glauben Sie, daß unsere Rohstofflager unerschöpflich sind? Wir wünschen einen Vorschlag über die Bezahlung mit Gleichwertigem zu hören, nicht aber einen umständlichen Plan, wie Sie doch zu dem Metall kommen konnten!« »Dann Fertigprodukte«, sagte Am alfi, »oder technische Informationen, mit Wertbestimmung nach gegenseitiger Vereinbarung. Zum Beispiel: Welchen Stoff benützen Sie zur Schmierung?« Die Augen des riesigen Markgrafen glitzerten. »Ah«, sagte er leise, »Sie kennen das Geheimnis der Reibungsfelder. Danach haben wir lange gesucht, aber die Generatoren der Utopier schmolzen unter unserer Berührung. Ist dieses Verfahren auf der Erde bekannt?« »Nein.« »Dann haben Sie es also bei den Hamiltoniern bekommen. Ausgezeichnet.« Die beiden Höflinge grinsten hinterhältig. »Dann brauchen wir nicht mehr über ›gegenseitige Vereinbarungen‹ zu sprechen.« Er gab ein Zeichen. Amalfi starrte in ein Dutzend Gewehrläufe. »Was soll das bedeuten?« »Sie befinden sich in unserem Verteidigungsgebiet«, sagte Haska mit diabolischem Vergnügen. »Sollte Ihnen jedoch die Flucht gelingen, was ein Wunder wäre, könnten Sie von der 35 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Erdpolizei keine Gnade erwarten. Sie werden daher Ihre Techniker anweisen, eine Vorführung des Reibungsfeldgenerators vorzubereiten. Außerdem werden Sie jetzt zur Landung ansetzen. Graf Nandor hier wird Ihnen genaue Befehle geben.« Er marschierte zur Tür, während die Soldaten ehrerbietig zurückwichen. Als sich Amalfis Hand dem Knopf näherte, mit dem der Türmechanismus bedient wurde, drehte sich der große Mann rasch um. »Sie können davon absehen, mit versteckten Knöpfen Alarm auslösen zu wollen«, knurrte er. »Ihre Stadt ist bereits an einem Dutzend Stellen besetzt. Außerdem sind die Geschütze von vier Kreuzern auf Sie gerichtet.« »Glauben Sie, daß man technische Informationen mit Gewalt erzwingen kann?« fragte ihn Amalfi. »O ja«, sagte der Markgraf mit gefährlich leuchtenden Augen. »Darin sind wir Experten.« Carrel, Hasseltons Schützling, hielt einen sehr glaubwürdigen Vortrag und schien sich in dem hallenden, barbarischprächtigen Ratssaal des Markgrafen vollkommen zu Hause zu fühlen. Seine Diagramme hatte er in den nächsten Wandteppich gehängt, während die schwarze Tafel auf den beiden Armlehnen des großen Sessels, in dem sonst, wie Amalfi vermutete, der Markgraf saß, ruhte. Carrels Kreide malte eilig Zeichen auf die Tafel und verursachte in dem steinernen Kreuzgewölbe ein an den Nerven zerrendes Quietschen. Der Markgraf war bereits gegangen. Fünf Minuten von Carrels Vortrag hatten genügt, ihn ungeduldig zu machen. Graf Nandor war noch da, mit der leidenden Miene eines Mannes, dem alle schmutzige Arbeit zufällt. Vier oder fünf andere Höflinge trugen die gleiche Miene zur Schau. Drei von ihnen unterhielten sich kichernd im Hintergrund, und in regelmäßigen Abständen übertönte ein heiseres Gelächter den Vortrag Carrels. Die übrigen Burschen, offensichtlich niedrigeren Ranges, saßen auf
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Stühlen und hörten mit gequälter Konzentration, die Stirnen tief gefurcht, zu. »Das dürfte genügen, um die Analogie zwischen der molekularen und der atomaren Kohäsionsenergie zu beweisen«, sagte Carrel geschmeidig. »Die Hamiltonier«, – er hatte bemerkt, daß dieses Wort den Hofschranzen mißfiel und verwendete es daher, sooft er konnte –, »die Hamiltonier konnten beweisen, daß diese Bindungsenergie nicht nur für die Phänomene der Kohäsion, Adhäsion und Reibung verantwortlich ist, sondern daß sie auch in Beziehung zur molekularen Wertigkeit steht.« Der Anschein der Konzentration, den sich die Höflinge gaben, wurde beinahe grotesk. Carrel fuhr fort: »Dieses Phänomen der molekularen Wertigkeitsveränderung, wie es die Hamiltonier passend tauften, wird noch durch Reibungsfelder verstärkt, die so verändert werden, daß sich ein Zustand ergibt, der der Ionisation gleicht. Die Flächenanlagen der Moleküle zweier benachbarter Oberflächen geraten in diesem Feld in ein dynamisches Gleichgewicht; sie wechseln rasend schnell und ununterbrochen ihren Standort, ohne jedoch den allgemeinen Status quo zu verändern, so daß zwischen den rauhesten Oberflächen eine Harnischfläche entsteht. Es versteht sich von selbst, daß durch dieses Gleichgewicht die Bindungskräfte, über die wir sprechen, keineswegs beseitigt werden und daß ein gewisses Maß an Zug oder Reibung nach wie vor verbleiben wird – aber höchstens ein Zehntel des Widerstandes, der selbst bei Anwendung der besten Großschmiermittelsysteme vorhanden ist.« Die Höflinge nickten gemeinsam. Amalfi gab es auf, sie zu beobachten. Die Techniker Hruntas machten ihm mehr Sorgen. Ein rundes Dutzend war anwesend. Auf diese Zahl schien sogar der Markgraf stolz zu sein. Vier davon waren bescheidene Kreaturen, die Carrel mit großer Ehrfurcht zu folgen schienen. Sie kritzelten eifrig, um jedes Wort mitzubekommen, sogar Carrels ständige lobende Erwähnung der Hamiltonier.
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Von den übrigen waren bis auf einen alle gutgekleidete Männer mit harten Gesichtszügen, die den Höflingen nur oberflächliche Ehrerbietung zollten und sich überhaupt keine Notizen machten. Auch diese Art von Menschen ist in einer barbarischen Umgebung durchaus häufig anzutreffen: Spitzenwissenschaftler und Direktoren; treue Diener des Regimes, die genau wußten, daß sie entscheidend zu seinen Erfolgen beitrugen, und die bereits von der Sucht Hochstehender angekränkelt waren, weniger angesehenen Leuten die schmutzige Arbeit der Laboratoriumsexperimente zu überlassen. Wahrscheinlich verdankten einige von ihnen ihre hohe Stellung ebenso der rücksichtslosen Kunst der Hofintrige wie irgendeiner besonderen wissenschaftlichen Begabung. Nur der zwölfte Mann war von ganz anderer Art. Er war groß und mager, mit dünnem Haar. Sein Gesicht ließ bei Carrels Vortrag große Erregung erkennen. Ein scharfer Denker, wie man sehen konnte, und sichtlich ohne politische Ambitionen. Ein Mann, der sich nicht darum kümmern würde, wer an der Macht war, solange man ihm die entsprechenden Mittel und freie Hand gab. Der Mann würde von der herrschenden Schicht wegen seiner Produktivität geduldet, aber ständig verdächtigt werden. Nach Amalfis Meinung war er der einzige, der über das, was Carrel sagte, selbständig weiterdenken konnte. »Haben Sie noch Fragen?« erkundigte Carrel sich. Die Techniker stellten einige, meistens nicht sehr schlauer Art: Wie wird das gebaut? Wie wird dies angeschlossen? Kein Mensch mit Unternehmungsgeist würde sich auf diese Weise bloßstellen wollen. Carrel beantwortete alle Fragen ausführlich. Die Männer mit den harten Zügen verließen mit den Höflingen wortlos den Raum. Der Wissenschaftler, der einzige wirkliche Wissenschaftler unter ihnen, blieb zurück, um sich mit Carrel in eine hitzige Diskussion über mathematische Probleme einzulassen. Er schien Carrel ohne weiteres als ebenbürtig anzuerkennen. Als Amalfi Carrel nach einer Weile zu sich in den hinteren Teil der Halle rief, merkte man, daß diesem unbehaglich zumute war.
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Der Wissenschaftler verstaute seine Notizen in der Tasche und ging, versonnen an seiner Nase zupfend, hinaus. Carrel sah ihm nach. »Vor diesem Burschen kann ich das Wesentliche nicht lange verbergen«, sagte er. »Glauben Sie mir, der hat was im Hirn. Lassen Sie ihm zwei Tage Zeit, und er hat sich das ganze Ding selbst ausgeknobelt. Ich glaube nicht, daß er heute nacht zum Schlafen kommt. Diese Sorte kenne ich.« »Ich auch«, meinte Amalfi. »Ich kenne aber auch die Ratssäle von Barbaren. Hier haben sogar die Säulen Ohren. Hoffentlich hat man uns nicht belauscht. Kommen Sie.« Amalfi schwieg, bis sie sicher in der Stadt und in einem Taxi waren. Dann sagte er: »Sie müssen bei Fremden vorsichtiger sein, Carrel. Sie machen sich zwar gut, aber Ihre Unerfahrenheit wird Ihnen noch einen Streich spielen. Niemals, verstehen Sie, niemals darf außerhalb der Stadt irgend etwas gesagt werden, was nicht mit der von uns gespielten Rolle übereinstimmt. Im übrigen, was den Wissenschaftler angeht, gebe ich Ihnen recht. Ich habe ihn beobachtet. Sie sind ihm jetzt bekannt, so daß ich Sie nicht mehr gegen ihn verwenden kann. Ist in Ihrer Abteilung irgendein Mann, der für Hasselton gearbeitet und seit der Landung auf Gort die Stadt noch nicht verlassen hat? Ein erfahrener Mann?« »Natürlich mindestens vier oder fünf. Sie stehen jederzeit zur Verfügung.« »Gut. Suchen Sie einen kräftigen Mann aus, den man mit einem Minimum an Aufmachung in einen Gangster verwandeln kann. Dann bringen Sie ihn in die Schulungsabteilung zum Hypnosetraining. Inzwischen müssen Sie nochmals mit dem Wissenschaftler sprechen. Verschaffen Sie sich eine Fotografie von ihm, möglichst eine dreidimensionale, falls es hier so etwas gibt. Wenn Sie mit ihm sprechen, dann beantworten Sie alle Fragen, die er Ihnen stellt.« Carrel sah etwas verdutzt drein. »Alle Fragen?«
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»Alle Fragen technischer Art. In Kürze wird es nicht mehr darauf ankommen, was er weiß. Hier können Sie wieder einmal etwas lernen, Carrel. Wenn man sich auf einem fremden Planeten befindet, muß man das herrschende Gesellschaftssystem nach bester Möglichkeit ausnützen. Auf dieser Welt hier, die nur den brutalen Machtkampf kennt, müssen Meuchelmorde an der Tagesordnung sein. Ich wette, daß es eine Organisation gibt, bei der man derartige Morde bestellen kann. Auf alle Fälle gibt es einzelne Gangster, die man für einen solchen Mord dingen kann.« »Sie wollen also Doktor Schlosser umbringen lassen?« Der entsetzte Ausdruck auf dem Gesicht Carrels brachte Amalfi fast zur Verzweiflung. Es war entsetzlich schwierig, einen neuen Direktor bis zur Bestätigung durch die Stadtväter zu schulen, zumal die Einarbeitung auf so harte Weise erfolgen mußte. Für diese Arbeit fühlte er sich schon zu alt. Außerdem erkannte er, wie viele Fehler er früher gemacht hatte und daß er gerade deswegen jetzt wieder vor dieser Aufgabe stand. »Ja«, sagte er, »es ist traurig, aber es muß sein. Unter anderen Umständen hätte ich den Mann in die Stadt hereingenommen, denn es ist ihm gleichgültig, für wen er arbeitet. Aber die Hruntas würden ihn suchen – und finden. Wir müssen einen Toten haben, weil Tote nicht mehr reden können, und möglichst noch einen Schuldigen aus ihren eigenen Reihen. Der von Ihnen ausgesuchte Mann wird nach einer Schulung in der Landessprache aufzuspüren versuchen, wo und welche Rivalitäten zwischen den einzelnen Wissenschaftlern bestehen. Er wird dann versuchen, die Schuld an dem Mord einem dieser hakennasigen Laboratoriumschefs zuzuschieben. Aber Doktor Schlosser muß sterben, damit die Stadt leben kann.« Carrel protestierte nicht, weil die Existenz der Stadt über allem stand, aber die bedauerliche Beseitigung eines wertvollen Geistes, die der Plan vorsah, verwirrte ihn. Amalfi beschloß im stillen, Carrel für längere Zeit ganz besonders mit Arbeit zu überhäufen – zumindest bis die Anti-Reibungsanlage der Hruntas fertig war. 40 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Immerhin war es jetzt an der Zeit, die Polizei wieder zu belästigen. Das war in Hasseltons Plan vorgesehen. Obwohl Amalfi gezwungen worden war, einen großen Teil der Strategie Hasseltons aufzugeben – Hasselton hatte eigentlich eine überfallartige Landung der Utopier auf Gort vorgesehen, womit der Planet mit Hilfe der Hamiltonier der Erdpolizei übergeben werden sollte –, trotz dieser Tatsache also war es zweckmäßig, mit der Polizei um die Übergabe des Planeten zu verhandeln. Amalfi schickte Carrel fort und ging in sein Büro, wo er den Plastikschutz von einem selten benutzten Gerät abnahm, dem Dirac-Sender. Hierbei handelte es sich um die einzige Verständigungsart, die weder die Hruntas noch die Hamiltonier besaßen. Dieser Mangel hatte sie ein Imperium gekostet, denn das Gerät konnte über jede beliebige Entfernung senden, und zwar mit Sofortwirkung. Amalfi schob sich geistesabwesend eine Zigarre zwischen die Zähne und rief den Captain der Polizei. Das etwas veraltete Gerät besaß keinen Bildschirm, aber die Stimme des Captains verriet drastisch seine Gefühle. »Wenn Sie mich mit der Nase daraufstoßen wollen, daß Sie einen Anspruch auf unseren Schutz haben, weil die Hruntas den Vertrag verletzt haben«, knurrte er, »können Sie sich die Mühe sparen. Ich habe gute Lust, den ganzen Planeten in die Luft zu sprengen. In einiger Zeit werden ja wohl hoffentlich die Nomadengesetze geändert werden und dann – « »Sie hätten den Planeten auf gar keinen Fall in die Luft gesprengt«, sagte Amalfi ruhig. »Durch die Explosionswelle wäre die Sonne ebenfalls in die Luft geflogen und das ganze System vernichtet worden. Da hätten Sie sich bei Ihren Vorgesetzten etwas Schönes eingebrockt. Ich will Ihnen nur den Verdruß ersparen. Wenn Sie interessiert sind, machen Sie mir doch ein Angebot.« Der Polizist lachte. »Also gut«, sagte Amalfi, »lachen Sie, Sie Esel. In etwa zehn Monaten werden Sie degradiert sein; dann können Sie als einfacher Polizist auf der Erde Transporte überwachen und über die allgemeine Ungerechtigkeit klagen. Wenn Ihre Vorgesetzten 41 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
hören, daß Sie die Vereinigung der Hruntaund Hamiltonierstreitkräfte zugelassen haben und daß der Krieg die Erde zwei- oder dreihundert Milliarden Nomadendollar kosten und wahrscheinlich fünfundzwanzig Jahre dauern wird…« »Sie sind ein schlechter Lügner, Tramp«, sagte der Polizist mit angestrengter Forschheit. »Die bekämpfen sich jetzt schon seit einem Jahrhundert.« »Die Zeiten ändern sich«, erwiderte Amalfi. »Jedenfalls wird diese Vereinigung erzwungen werden. Wenn Sie das Herzogtum Gort nicht wollen, werde ich es eben Utopia anbieten. Die kombinierte Kampfkraft dürfte doch recht eindrucksvoll sein – jeder hat etwas, das der andere nicht hat, und wir könnten nicht verhindern, daß beide von uns auch noch ein paar Tricks lernen. Jedoch – « »Warten Sie einen Augenblick«, sagte der Polizist vorsichtig. Es war ihm bekannt, daß dieses Gespräch unweigerlich von Hunderten, ja vielleicht Tausenden von Dirac-Sendern im ganzen bewohnten Milchstraßensystem, einschließlich des Polizeihauptquartiers auf der Erde, mit angehört werden konnte. Das war besonders bezeichnend für den Dirac-Sendeverkehr. Es kam auf den jeweiligen Standpunkt an, ob man das als Nachteil oder Vorteil ansah. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie auf Gort die Oberhand gewonnen haben? Und wie weiß ich, ob Sie sich halten können?« »Sie gehen doch kein Risiko ein. Entweder kann ich Ihnen den Planeten in die Hand spielen oder nicht. Ich will nur, daß Sie die Strafe gegen die Stadt zurücknehmen, das Band mit dem ersten Räumungsbefehl löschen und uns freies Geleit zusichern. Wenn wir unser Versprechen nicht einlösen, brauchen Sie es auch nicht zu tun.« »Hm.« Im Hintergrund hörte man gedämpftes Murmeln, als spräche drüben jemand leise über die Schulter des Captains. »Und wie wollen Sie es schaffen?« »Das«, sagte Amalfi trocken, »hieße zuviel verraten. Wenn Sie mittun wollen, funken Sie das Einverständnis ’rüber.« 42 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Kommt nicht in Frage. Sie haben den Befehl nicht befolgt, also müssen Sie die Strafe bezahlen.« Das genügte Amalfi. Daß der Polizist, solange er über den Dirac-Sender sprach, nicht mehr versprechen würde, war klar. Die Tatsache, daß er nur auf der Geldstrafe bestand, ließ aber erkennen, daß er im übrigen mit den Vorschlägen Amalfis einverstanden war. »Dann schicken Sie mir nur die gesiegelte Zusicherung des freien Geleits. Die ganzen Unterlagen werde ich in den Tresor von Markgraf Haska legen. Sie bekommen sie mit dem Planeten zusammen wieder zurück.« Nach einer kurzen Pause sagte der Polizist: »Also gut.« Das Teleschreibgerät nebenan begann zu summen. Zufrieden unterbrach Amalfi die Verbindung. Wenn dieser Streich gelang, waren sie berühmt. Die Polizei hätte zwar keinen Grund, etwas laut werden zu lassen, aber die anderen Nomadenstädte würden schon dafür sorgen, daß sich die Geschichte in der ganzen Milchstraße verbreitete. Aber irgendwie machte ihm das alles keine Freude, seit Hasselton weg war. Jemand schüttelte ihn. Er versuchte mit aller Kraft, aufzuw achen, aber sein Schlaf war so tief, daß er nicht an die Oberfläche des Bewußtseins auftauchen zu können schien. Figuren und Gesichter unwirbelten ihn in der Dunkelheit des Traumes. Ein riesiges Stahlgebiß kam drohend auf ihn zu. »Amalfi! Menschenskind, wachen Sie auf! Amalfi, ich bin’s – Mark! Wachen Sie auf!« Die stählernen Kiefer schnappten mit einem schrecklichen Laut zusammen. Die kreisenden Gesichter verschwanden. Unter Amalfis Lider drang bläulicher Lichtschein. »Wer? Was ist los?«
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»Ich bin’s«, sagte Hasselton. Amalfi blinzelte ihn verständnislos an. »Schnell, schnell. Wir haben nur noch ganz wenig Zeit.« Amalfi richtete sich langsam auf und sah den Direktor an. Er war wie betäubt und zu überrascht, zu entscheiden, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Der Traum bedrückte ihn noch, obwohl er sich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern konnte. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte er. Merkwürdigerweise klang diese Begrüßung so unecht, daß er nur hoffen konnte, die Wahrheit seiner Worte würde sich später zeigen. »Wie sind Sie durch die Polizeisperren gekommen? Daß Sie das schaffen, hätte ich nicht für möglich gehalten.« »Mit Betrug und Gewalt geht alles. Ich erzähl’s Ihnen später.« »Sie wären fast zu spät gekommen«, sagte Amalfi, der plötzlich neue Energie in sich aufsteigen fühlte. »Ist es draußen noch dunkel? Ja. Der große Knall soll erst gegen Mittag kommen, sonst hätte ich mich nicht zum Schlafen hingelegt. Nach zwölf Uhr hätten Sie die Stadt nicht mehr angetroffen.« »Gegen Mittag? Das stimmt mit dem Plan nicht überein. Aber das können wir später besprechen. Stehen Sie auf, Chef, die Arbeit wartet.« Die Tür zu Amalfis Zimmer öffnete sich. Das Mädchen aus Utopia stand mit ängstlichem Gesicht auf der Schwelle. Amalfi griff eilig nach seiner Jacke. »Mark, wir müssen uns beeilen. Captain Savage will nicht länger als fünfzehn Minuten warten«, sagte das Mädchen. »Er wird auch nicht mehr zögern. Ich weiß genau, daß er euch in Wirklichkeit haßt.« »Ich komme umzudrehen.
sofort,
Dee«,
sagte
Hasselton,
ohne
sich
Das Mädchen verschwand. Amalfi starrte den Direktor an. »Einen Augenblick mal«, sagte er, »was soll denn das alles bedeuten? Mark, Sie haben sich doch nicht auf eine idiotische persönliche Rettungsaktion eingelassen?«
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»Persönlich? Nein«, grinste Hasselton. »Die Stadt startet genau nach unserem Plan. Ich wollte Sie davon verständigen, daß wir wie geplant weitermachen. Leider haben die Utopier keine DiracSender, und außerdem wollte ich die Polizei nicht aufmerksam machen. Ziehen Sie sich an, und ich erkläre Ihnen alles unterwegs. Die Hamiltonier haben wie die Wahnsinnigen gearbeitet, um jedes verfügbare Schiff mit einem Rotatron zu versehen. Eigentlich wollten sie sich schon der Polizei stellen, denn schließlich haben sie mit der Erde mehr gemeinsam als mit den Hruntas. Nachdem ich sie aber in unseren Plan eingeweiht und ihnen erklärt habe, wie die Rotatrone funktionieren, waren sie wieder ganz dabei.« »Sie haben Ihnen das alles sofort geglaubt?« Hasselton zuckte die Schultern: »Nein, natürlich nicht. Zur Sicherheit haben sie eine Fluchtflotte aus etwa fünfundzwanzig umgebauten leichten Weltraumkreuzern zusammengestellt und hierher geschickt. Sie sind oben.« »Über der Stadt?« »Ja. Ich habe die Besetzung der Stadt durch die Hruntas mitgehört. Sie haben den Sender sicherlich deswegen nicht abgestellt, damit die Polizei alles hören konnte, aber die Sendung war auch auf Utopia ziemlich klar zu empfangen. Ich habe den Utopiern daraufhin vorgeschlagen, ihr Fluchtvorhaben mit einem Angriff zu verbinden, damit die Stadt unter seinem Schutz abfliegen kann. Es war nicht einfach, ihnen die Notwendigkeit dieser Aktion klarzumachen. Schließlich gelang es mir aber, sie zu überzeugen, daß sie leichter fliehen könnten, wenn die Polizei mit mehreren Dingen zugleich beschäftigt ist. Und hier sind wir, genau auf die Sekunde.« Hasselton grinste wieder. »Die Polizei hatte keine Ahnung davon, daß Utopierschiffe überhaupt in der Nähe dieses Planeten waren, weil sie nicht genug aufpaßt. Jetzt weiß sie natürlich Bescheid, aber bis sich ihre Schiffe versammelt haben, wird noch eine Weile vergehen. Bis dahin sind wir schon verschwunden.«
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»Mark, Sie sind ein romantischer Esel«, sagte Amalfi kopfschüttelnd. »Fünfundzwanzig leichte Kreuzer – uralte Dinger, trotz der Rotatrone!« »Dafür sind die Absichten von Captain Savage gefährlicher«, sagte Hasselton. »Er haßt mich, weil ich ihm Dee vor der Nase weggeschnappt habe. Aber vom Raumkampf versteht er etwas. Diese kleine Flotte bedeutet die letzte Chance für den Hamiltonismus, nicht nur für die Menschen. Sobald wir angegriffen werden, rast jedes der fünfundzwanzig Schiffe in eine andere Richtung. Sie sollen möglichst versuchen, die ganze Angelegenheit in eine Reihe einzelner Auseinandersetzungen zu verwandeln. Damit ist das Überleben einiger Schiffe, der Idee und unserer Stadt gesichert.« »Von Ihnen habe ich eigentlich mehr erwartet als Gesten, die aus einem Kitschfilm stammen könnten«, erwiderte Amalfi. »Napoleon spielen! Ungeachtet aller Gefahr führt der junge Held die ergebene Mannschaft in die Mitte des Feindes, dem erzürnten Ungläubigen den geliebten Herrscher entreißend. Pah! Die Stadt bleibt, wo sie ist. Wenn Sie mit dieser Selbstmordabteilung gehen wollen, bitte sehr!« »Amalfi, Sie verstehen mich nicht – « »Sie unterschätzen mich«, sagte Amalfi kalt. Er ging durch das Zimmer zum Balkon. Hasselton folgte ihm. »Die Vernünftigen unter den Hamiltoniern sind zu Hause geblieben, darauf gehe ich mit Ihnen jede Wette ein. Ihnen das Rotatron zu geben, war eine gute Idee. Damit können sie sich länger wehren und die Polizei aufhalten, damit wir Zeit gewinnen. Aber diejenigen, die bis zum Ende der Milchstraße flüchten wollen – das sind die Unheilbaren, die Fanatiker. Wissen Sie, wie das ausgehen wird? Ich brauche es Ihnen gar nicht zu sagen, Sie müßten es wissen, und Sie wüßten es auch, wenn Ihnen dieses Mädchen nicht so völlig den Kopf verdreht hätte. Nach ein paar Generationen am Rande der Milchstraße wird kein Mensch mehr etwas von ›Hamiltonismus‹ wissen. Zur Bewohnbarmachung eines neuen Planeten braucht man eine erstklassig ausgebildete, große Expedition. Diese Leute sind nichts als die schäbigen Überreste einer militärischen 46 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Niederlage – von der Sie wollen, daß wir sie auch noch vorbereiten! Nein, danke.« Er riß die Balkontür so heftig auf, daß Hasselton zur Seite springen mußte, um nicht getroffen zu werden. Amalfi trat hinaus. Die Nacht auf Gort war klar und eisig. Hunderte von Sternen schimmerten durch das Licht, das die Stadt in den Himmel strahlte. Die Utopierschiffe konnte man nicht sehen. Sie waren zu hoch und wahrscheinlich so unsichtbar und unaufspürbar, wie es nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Utopier nur möglich war. »Wie ich das alles den Hruntas erklären soll, weiß ich nicht«, sagte Amalfi. Seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn. »Das einzige, was sie mir vielleicht abnehmen, ist die Behauptung, die Hamiltonier hätten uns vernichten wollen, bevor wir die gesamten Pläne für die Reibungsfeldanlage übergeben konnten. Damit das glaubhaft wirkt, muß ich die Hruntas aber sofort zu Hilfe rufen.« »Sie haben den Hruntas die Pläne…« »Sicher!« sagte Amalfi. »Es war die einzige Möglichkeit, nachdem wir mit ihnen einen Vertrag abschließen müßten. Eine Landung von Utopierstreitkräften war in dem Augenblick unmöglich, als die Polizei merkte, was los war. Und Sie versuchen immer noch, mit dieser stumpfen Waffe zu kämpfen!« »Mark!« Die angstvolle Stimme des Mädchens drang ins Zimmer. »Mark! Wo bist du?« »Gehen Sie nur«, sagte Amalfi mit abgewandtem Gesicht. »Nach einer Weile werden Sie gar keine Zeit mehr haben, Ihre Ideale zu pflegen, und können ein nettes Grenzerleben führen. Die Stadt bleibt hier. Morgen mittag werden die zu Hause gebliebenen Utopier in der Lage sein, in günstiger Position mit der Erde zu verhandeln, während die Hruntas hereingefallen sind. Wir sind dann schon unterwegs.«
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Das Mädchen kam während der letzten Sätze Amalfis auf den Balkon hinaus. »Mark!« rief sie. »Was will er damit sagen? Savage meint…« Hasselton seufzte. »Savage ist ein Idiot, und ich bin auch einer. Amalfi hat recht. Ich habe mich wie ein Kind benommen. Du gehst am besten zu deinen Leuten zurück, solange noch Zeit ist, Dee.« Sie trat an die Brüstung, schob ihren Arm unter den seinen und schaute zu ihm auf. Ihr Gesicht drückte so viel Erstaunen und Traurigkeit aus, daß Amalfi wegsehen mußte. Er hörte sie sagen: »Willst du – willst du, daß ich gehe, Mark? Bleibst du in der Stadt?« »Ja«, sagte Hasselton leise, »das heißt, nein. Es sieht so aus, als hätte ich alles verdorben. Vielleicht kann ich noch helfen – vielleicht nicht mehr. Auf jeden Fall muß ich hierbleiben. Du hast es besser bei deinen Leuten – « »Bürgermeister Amalfi«, sagte das Mädchen. Amalfi drehte sich zögernd um. »Als ich Sie zum erstenmal sah, haben Sie gesagt, daß in der Stadt Platz für Frauen ist. Erinnern Sie sich?« »Ja«, sagte Amalfi. »Aber unsere politische Einstellung würde Ihnen nicht gefallen. Wir sind keine Hamiltonier. Die Stadt ist stabil, autonom, unveränderlich – ein Strandläufer am Meer der Geschichte. Wir sind Tramps. Das ist kein schöner Name.« Das Mädchen erwiderte: »Das wird nicht immer so bleiben.« »Ich glaube, doch. Auch die Menschen verändern sich nur wenig, Dee. Ich vermute, daß Sie es bisher nicht gewußt haben, aber jeder hier ist weit über hundert Jahre alt. Ich selbst bin fast siebenhundert Jahre. Auch Sie müßten so lange am Leben bleiben, wenn Sie bei uns bleiben wollen.« In Dees Gesicht wechselten Ungläubigkeit und Überraschung. Trotzdem sagte sie hartnäckig: »Ich will hierbleiben.« Der Himmel begann etwas heller zu schimmern. Keiner sprach. Über ihnen trübten sich die Sterne, und nichts wies darauf hin,
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daß eine winzige Flotte von Raumschiffen ins endlose Universum entschwebte. Hasselton räusperte sich. »Was soll ich jetzt tun, Chef?« sagte er heiser. »Eine ganze Menge. Ich habe mich mit Carrel beholfen. Er ist zwar anstellig, aber unerfahren. Machen Sie zunächst alles zum sofortigen Abflug bereit. Dann zermartern Sie sich mal Ihr Gehirn darüber, was wir den Hruntas über die Utopierflotte erzählen wollen, Sie können meinen Vorschlag ausschmücken oder sich etwas Neues einfallen lassen, wie Sie es für gut halten. Davon verstehen Sie mehr als ich.« »Was soll eigentlich um zwölf Uhr geschehen?« Amalfi grinste. Er merkte mit Erstaunen, wohlfühlte, seitdem Hasselton wieder da war.
daß
er
sich
»Etwa folgendes: Carrel hat die Hruntas beschwatzt, einen riesigen Feldreibungsgenerator für den ganzen Planeten zu bauen. Er redete ihnen ein, daß ihre Maschinen damit weniger Energie verbrauchen würden oder irgendeinen ähnlichen Unsinn. Nach den Plänen, die er ihnen gab, wird der Generator doppelt so stark, wie die Hruntas annehmen, und außerdem kann er nicht mehr abgeschaltet werden. Er läuft nur mit voller Kraft. Für morgen mittag ist ein Probelauf vorgesehen. Leider gibt es noch einen Hrunta namens Schlosser, welcher erkannt hat, was hinter der Maschine wirklich steckt. Wir müssen ihn beseitigen. Das wird nach meinem Gefühl unter den Wissenschaftlern eine solche Aufregung geben, daß sie so lange nicht hinter den wirklichen Sachverhalt kommen, bis es zu spät ist. Nachdem die ganze Sache so aussah, als würde sie den gleichen Erfolg wie eine Landung der Utopier haben, verständigte ich die Polizei entsprechend Ihrem Plan und ließ mir freies Geleit zusichern. Einfach, nicht?« Während dieser Erklärung hatte sich Hasselton so weit beruhigt, daß er fast vergnügt dreinsah. Schließlich begann er zu lachen.
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»Das ist vielleicht ein Ding«, sagte er. »Mir ist auch klar, warum Sie mit Carrel nicht ganz zufrieden sind. Amalfi, Sie sind ein erstklassiger Bluffer! Und da wollten Sie mich auf so dramatische Weise mit Savage wegschicken? Ist Ihnen klar, daß Ihr ausgetüftelter Plan nicht funktionieren wird?« »Aber warum denn, Mark?« sagte Dee. »Ich finde, daß es gar nicht schiefgehen kann.« »Der Plan ist raffiniert, aber nicht voll durchdacht. Man muß solche Dinge als Dramatiker betrachten. Ein Höhepunkt, der nur beinahe kommt, ist kein Höhepunkt. Es ist besser, wir – « Das Privattelefon in Amalfis Schlafzimmer schrillte. Über der Tür leuchtete eine Neonlampe auf. Amalfi runzelte die Stirn und drehte einen Schalter an der Brüstung. »Herr Bürgermeister?« tönte eine nervöse Stimme aus dem Lautsprecher. »Entschuldigen Sie die Störung, aber hier ist der Teufel los. Erstens waren vor kurzem mindestens zwanzig Schiffe hier. Wir wollten Sie deswegen schon anrufen, aber sie flogen von selbst fort. Inzwischen ist ein Flüchtling angekommen, ein Hrunta, der sich Doktor Schlosser nennt. Er behauptet, daß die anderen Hruntas hinter ihm her seien und daß er für uns arbeiten wolle. Soll ich ihn in die psychiatrische Abteilung schicken oder was sonst? Es könnte fast stimmen, was er sagt.« »Natürlich stimmt es«, sagte Hasselton. »Da haben Sie den ersten Reinfall, Amalfi.« Das Problem mit Dr. Schlosser war nicht einfach zu lösen. Amalfi hatte den Mann doch nicht ganz richtig eingeschätzt. Dem von Carrel ausgesuchten Agenten war es gelungen, einen lokalen Zwist zwischen politischen Rivalen hervorragend vorzutäuschen. Wenn die Stadt gezwungen war, jemanden beseitigen zu lassen, war es immer empfehlenswert, die Tat selbst nicht von einem ihrer Leute ausführen zu lassen. Im Fall Dr. Schlosser war das sogar erstaunlich leicht gelungen. Innerhalb der wissenschaftlichen Rangordnung auf Gort gab es vier 50 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
verschiedene Cliquen, die sich gegenseitig mit allen Mitteln bekämpften. Dazu kam, daß auch der Hof Dr. Schlosser nicht völlig traute und sich einmal auf diese, einmal auf jene Seite schlug. Es war sehr einfach gewesen, die Dinge so in Fluß zu bringen, daß Dr. Schlosser davon fortgespült werden mußte, aber Dr. Schlosser wehrte sich. Sobald er die Bedrohung bemerkt hatte, war er mit entwaffnender Direktheit in die Stadt gekommen. »Das Dumme ist«, meldete Carrel, »daß er bis zuletzt gar nicht wußte, daß etwas im Gange war. Er hat einen besonders normalen Charakter und würde nicht glauben, daß ihm jemand an den Kragen wollte, bevor er nicht die Messerspitze an seiner Kehle fühlte.« Hasselton nickte. »Ich wette, das Verhalten des Hofes hat schließlich den Ausschlag gegeben.« »Das stimmt.« »Das heißt, daß der große Haska und seine Gecken ihn hier suchen werden«, knurrte Amalfi. »Er wird wohl kaum seine Spuren verwischt haben. Was wollen Sie tun, Mark? Darauf, daß sie vie lleicht ihre Reibungsfelder früh genug ausprobieren, uns aus der Patsche zu helfen, können wir uns nicht verlassen.« »Allerdings nicht«, stimmte Hasselton zu. »Carrel, ist Ihr Mann mit der Gruppe, die Doktor Schlosser umlegen wollte, noch in Verbindung?« »Gewiß.« »Dann soll er den Anführer dieser Leute erledigen. Wir haben keine Zeit mehr für Feinheiten.« »Was soll uns das einbringen?« fragte Amalfi. »Mehr Zeit. Schlosser ist verschwunden. Haska wird zwar vermuten, daß er hier ist, aber die meisten in den Cliquen werden denken, Schlosser sei umgebracht worden. Durch die Beseitigung des Anführers wird es so aussehen, als sei das ein Racheakt eines Mitgliedes von Schlossers Gruppe, der natürlich 51 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
gar keine eigene Clique hat. Es muß aber einige Männer geben, die aus seinem Weiterleben Vorteil hatten ziehen können. Wir müssen einen Rachefeldzug verursachen. In einem Kampf wie dem unseren muß man soviel Verwirrung wie möglich stiften.« »Vielleicht«, sagte Amalfi. »Deshalb werde ich Graf Nandor jetzt gleich mit Beschwerden und Anklagen überhäufen. Je mehr Verwirrung, desto mehr Verzögerung. Bis mittag sind nur noch vier Stunden. Inzwischen müssen wir Doktor Schlosser so gut wie möglich verstecken, ehe ihn eine von Haskas Wachen erkennt. Die Unsichtbarkeitsmaschine in dem alten Untergrundtunnel im Westen der Stadt wäre vielleicht am geeignetsten… Können Sie sich erinnern? Die Maschine, die uns von den Lyrern verkauft worden ist. Sie hat außer Rotieren, Leuchten und Summen nichts zustande gebracht.« »Deswegen ist mein Vorgänger erschossen worden«, sagte Hasselton. »Oder war es wegen der Sache auf Epoch? Wo sich die Maschine befindet, weiß ich. Ich werde veranlassen, daß der Apparat ein wenig blinkt und summt – die Soldaten Haskas fürchten sich vor Maschinen und werden sich hüten, in so etwas hineinzusehen, selbst wenn sie einen Flüchtling suchen. Und – alle guten Götter, was war denn das?« Ein langanhaltendes Donnergeräusch verklang am Horizont. Amalfi grinste. »Donner«, sagte er. »Auf den Planeten gibt es eine Erscheinung, die man als Wetter bezeichnet. Eine unangenehme Einrichtung. Ich glaube, ein Sturm zieht auf.« Hasselton schauderte. »Am liebsten verkriechen. Also los, an die Arbeit.«
möchte
ich
mich
Er ging hinaus, hinter ihm Dee. Amalfi, der sich die Vorzüge des Angriffs als bestes Mittel der Verteidigung überlegte, winkte ein Flugtaxi auf den Balkon und ließ sich zürn mittleren Gebäude des großen Rundfunktraktes bringen. Er wäre am liebsten auf dem Dach gelandet, wo die Wohnung des Grafen war, aber an jedem Vorsprung des Gebäudes befanden sich Maschinenflak
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und Mesotronengewehre. Graf Nandor ließ sich auf kein Risiko ein. Der Aufzugführer durfte Amalfi nicht über das siebzigste Stockwerk hinausbringen. Fluchend stapfte er die letzten fünf Treppen hinauf, während der Zorn, der eigentlich nur vorgetäuscht sein sollte, tatsächlich in ihm wuchs. An jedem Treppenabsatz beobachteten ihn einige Soldaten mit lauerndem Verdacht. In der luxuriösen Wohnung spielte man Musik. In dem Zimmer, in das Amalfi trat, vermischte sich der Geruch eines betäubenden Parfüms mit der Ausdünstung ungewaschener Körper, die das persönliche Abzeichen des hruntischen Adels zu sein schien. Nandor, in einen Stuhl geflegelt und von Frauen umringt, hörte einem Harfenisten zu, der ein unaussprechlich obszönes Lied zum besten gab. In der einen Hand hielt Nandor einen schweren Kelch mit dampfendem Rigelwein – er mußte aus den Vorräten der Stadt stammen, weil die Hruntas schon seit Jahrhunderten mit dem Stern Rigel nicht mehr in Verbindung standen –, den er schnuppernd unter seiner gewaltigen Nase hin und her führte. Er hob seine Augen über den Kelchrand, als Amalfi hereinkam, nahm aber sonst keine Notiz von ihm. Amalfi fühlte, wie der Zorn in ihm hochstieg, und er versuchte, sich zu beherrschen. Zornig zu sein war gut und schön, aber er mußte sich bei dem, was er vorhatte, in der Gewalt haben. »Nun?« sagte Nandor schließlich. »Ist Ihnen klar, daß Sie eben der Gefahr entronnen sind, in verdünntes Gas verwandelt zu werden?« fragte Amalfi drohend. »Aber mein guter Freund, Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie gerade ein Attentat auf mich vereitelt haben«, sagte Nandor. »Das ist ein bißchen stark.« »Über der Stadt waren eben noch fünfundzwanzig Hamiltonierschiffe«, sagte Amalfi grimmig. »Es ist uns gelungen, sie zu verjagen, aber um ein Haar wären wir verloren gewesen. Offensichtlich bot die ganze Sache nicht einmal Veranlassung, 53 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Sie oder Ihre Vorgesetzten aufzuwecken. Wie können wir Ihnen nützlich sein, wenn Sie uns nicht einmal beschützen können?« Nandor blickte beunruhigt um sich. Er zog ein Mikrophon unter einem Kissen hervor und sprach etwas hinein. Die Antwort konnte Amalfi nicht verstehen, aber Nandor war daraufhin weniger aufgeregt, wenn er sich auch noch nicht ganz beruhigt hatte. »Was wollen Sie mir da einreden, Mann?« sagte er verdrossen. »Es hat überhaupt keinen Kampf gegeben. Die Schiffe haben keine Bomben geworfen und nichts zerstört. Sie sind bis zur Polizeiabsperrung verfolgt worden.« »Was soll ich Ihnen eigentlich noch alles erzählen, bis Sie mir glauben?« sagte Amalfi. »Sie glauben wohl, daß alle Waffen ›peng‹ machen müssen, um tödlich zu wirken? Wenn Sie Ihre Energiekontrollstationen überprüfen, werden Sie feststellen, daß über eine Million Megawatt im Verlauf einer halben Stunde abgezapft wurde – und wir verbrauchen Energie nicht in dieser Menge!« »Das bedeutet gar nichts«, sagte der Graf leise. »Solche Abzapfungen können vorgetäuscht werden, und außerdem gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, Energie zu verbrauchen – oder zu verschwenden. Was sagen Sie dagegen zu der Annahme, daß diese Schiffe, von denen Sie angeblich angegriffen wurden, einen Spion abgesetzt haben, wie? Und daß anschließend ein hruntischer Wissenschaftler, ein Verräter, Ihre Stadt damit verließ, vielleicht um nach Utopia zu fliegen?« Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich. »Ihr Tramps seid dümmer als kleine Kinder. Offensichtlich hoffte der Pöbel aus Utopia, Ihre Stadt befreien zu können, wobei er von unseren Kriegern abgeschreckt wurde. Schlosser kann mitgeflogen sein – oder er versteckt sich noch irgendwo in der Stadt. Das werden wir gleich erfahren.« Er wies die schweigenden Frauen hinaus, die sich hastig durch die Tür drängten. »Würden Sie jetzt die Güte haben, mir zu sagen, wo er ist?« 54 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Auf Hruntas passe ich nicht auf«, sagte Amalfi gleichgültig. »Es ist nicht meine Aufgabe, im Kehricht herumzuwühlen.« Kaltblütig schüttete Graf Nandor den Rest des Weines in Amalfis Gesicht. Das dampfende Zeug brannte in den Augen wie Feuer. Aufbrüllend stürzte sich Amalfi auf ihn und suchte mit den Händen nach seiner Kehle. Das zurückweichende Gelächter des Grafen verspottete ihn, dann wurde er von kräftigen Armen zurück gerissen. »Genug«, sagte der Graf. »Haskas oberster Foltermeister wird schon aus einem von euch herauskriegen, was wir wissen wollen, und wenn wir euch alle an der Nase aufhängen müßten.« Ein Donnerschlag unterbrach ihn. Draußen prasselte Regen hernieder, der erste Regenguß, den die Stadt seit mehr als dreißig Jahren erlebte. Amalfi sah die Umrisse der Gegenstände im Zimmer wie durch einen roten Schleier. »Aber diesen Kerl hier werden wir am besten erschießen, er redet mehr, als mir gefällt. Gib mir deine Pistole, du dort, mit dem Reiterabzeichen.« Vor Amalfis sich langsam klärendem Blick bewegte sich ein langer Schatten mit einer Verdickung am vorderen Ende – ein Arm mit einer Pistole. »Irgendein letztes Wort?« sagte Nandor freundlich. »Nein? Also, dann – « Hunderttausend Hummeln schwirrten plötzlich im Zimmer. Amalfi fühlte, wie sein Körper in die Höhe gerissen wurde. Merkwürdigerweise spürte er keinen Schmerz. Er konnte auch noch sehen – die Umrisse gewannen sogar an Klarheit. Das klare Sehen der Sterbenden? »Proszacha!« brüllte Nandor. »Egz pra strasticzek Maria, do – «! Der Donner schnitt ihm das Wort ab. Irgendwo im Zimmer wimmerte einer der Soldaten. Amalfi sah, daß alle Gegenstände und jeder Mensch mitten im Raum schwebte. Nandor saß steif und halbaufgerichtet einige Zentimeter über den Kissen, während sich seine Kleidung von ihm abspreizte. Die Pistole war noch auf Amalfi gerichtet, aber Nandor hatte sie nicht mehr in der Hand. Sie hing unbeweglich über dem Teppich, etwa drei Zentimeter von seinen erstarrten Fingern entfernt. Der Teppich selbst lag nicht mehr auf dem Boden, sondern schwebte 55 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
darüber, ein Meer aus Pelz, in dem jede Faser steif in die Höhe stand. Bilder waren von den Wänden gerissen worden und hingen in der Luft. Die Kissen hatten sich über den Stuhl erhoben, waren auseinandergetrieben und dann stehengeblieben, wie bei Zeitlupenaufnahmen einer Explosion. Der Stuhl befand sich einige Zentimeter über dem Teppich. An der anderen Wand des Zimmers war ein großes Bücherregal geborsten, und die Rollen mit Mikrofilmen standen davor aufgereiht, von nichts als der leeren Luft getragen. Amalfi atmete vorsichtig ein. Seine Jacke, die sich, wie die Nandors, vor seinem Körper aufgebauscht hatte, knisterte, aber das Gewebe war elastisch genug, sich zu dehnen. Nandor sah die Bewegung und versuchte verzweifelt, die Pistole zu erhaschen. Sein linker Unterarm war in der Stellung über dem Stuhl wie festgefroren und ließ sich überhaupt nicht bewegen. Die Pistole zog sich vor seiner freien Hand zurück und bewegte sich folgsam wieder rückwärts, als Nandor seine Hand zurückzog. Der zweite Versuch endete noch kläglicher. Nandors Arm streifte eine der Armlehnen und war, zwei Zentimeter davon entfernt, ebenfalls festgenagelt. Amalfi grinste. »Darf ich Ihnen raten, sich möglichst wenig zu bewegen«, sagte er. »Wenn Sie beispielsweise Ihren Kopf zu nahe an irgendeinen Gegenstand bringen, müssen Sie den Rest Ihres Lebens an die Decke blicken.« »Was – was haben Sie gemacht?« fragte Nandor erstickt. »Wenn ich mich befreit habe…« »Das wird Ihnen nicht gelingen, solange Ihre Freunde das Reibungsfeld in Aktion haben«, sagte Amalfi. »Die Pläne, die wir Ihnen gegeben haben, waren fast zutreffend, außer in einem Punkt:. Ihr Generator kann nur mit entgegengesetzter Wirkung betrieben werden. Anstatt der zwischenmolekularen Bindungsveränderung freien Lauf zu lassen, läßt er die Molekularbeziehungen erstarren, wodurch zwischen allen Oberflächen Anziehung eintritt. Wenn es Ihnen gelungen wäre, den Generator mit voller Kraft in Betrieb zu setzen, hätten Sie jegliche Molekularbewegung zum Stillstand gebracht und uns im 56 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Bruchteil einer Sekunde erstarren lassen Energiequellen sind ziemlich bescheiden.«
–
aber
Ihre
Er spürte plötzlich, daß seine Füße sehr schmerzten. Die Plastiksohlen seiner Schuhe versuchten sich zu lösen. Seine Kiefermuskeln schmerzten ebenfalls. Nur die Tatsache, daß das Feld über Oberflächen hinwegraste, hatte verhindert, daß ihm die Zähne einzeln aus den Kiefern gerissen wurden. Selbst jetzt bedurfte es einer Anstrengung, die Lippen gegen den Druck zu öffnen. Er atmete langsam ein. Die Jacke knarrte wieder. Seine Rippen knirschten gegen das Brustbein. Plötzlich gab das Gewebe nach, und der silberne Gürtel, der eingenäht gewesen war, legte sich klatschend in einem engen Reifen um seinen Brustkorb. Seine Schuhe fielen schwer zu Boden, und aus seinem Anzug entwich die Luft. Er bewegte probeweise seine Arme, indem er seine Hände an den Oberschenkeln entlang streifte. Sie bewegten sich völlig frei. Lediglich der Silbergürtel behielt seine merkwürdige Lage. Er umschlang seinen Brustkorb und absorbierte die Wirkung des Reibungsfeldes. »Leben Sie wohl«, sagte er. »Vergessen Sie nicht, daß Sie sich nicht bewegen dürfen. Die Polizei wird Sie später befreien.« Nandor hörte nicht zu. Er starrte mit hervortretenden Augen auf seine Hände. Sechs Finger wurden durch die daran befindlichen Ringe langsam abgetrennt. Amalfi wußte, daß nicht mehr als fünfzehn Minuten vergehen würden, bis das überanstrengte Reibungsfeld gefährlichere Auswirkungen haben würde. Der normale nukleare Zusammenhalt würde zwar nicht beeinträchtigt werden; homogene Gegenstände – Steine, Träger, Planken – würden nicht verändert werden. Nur Dinge aus zusammengesetzten Teilen mußten dem Druck bald nachgeben. Gebäude, die mit Bindemitteln, deren Zusammenhalt geringer als der ihrer Teile war, erbaut waren, würden zusammenbrechen. Alte Bauten, wie das Rathaus, würden größer und ausgedehnter werden, wenn 57 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
die alten Ziegelsteine sich voneinander entfernten – und sie würden einstürzen, sobald das Reibungsfeld abgeschaltet wurde. Moderne Konstruktionen und Maschinen würden nur wenig länger halten. Bis die Polizei Gort besetzen konnte, würde der Planet ein Haufen Schutt sein. Und der menschliche Körper, zusammengesetzt aus Tausenden von Röhren, Höhlen, Trichtern und Ausbuchtungen, würde anschwellen, sich ausdehnen und platzen. Nur wenige Stadteinwohner besaßen den Silbergürtel. Dafür war nicht genug Zeit gewesen. Keuchend stürzte Amalfi die Treppe hinunter und zwängte sich zwischen den gelähmten, schwebenden Soldaten hindurch. Der laute Summton machte ihn nervös. Im siebzigsten Stockwerk stand er vor einem unvorhergesehenen Problem. Die Leuchtknöpfe an der Aufzugtüre zeigten, daß der Aufzug im Schacht eingeschlossen war. Es war unmöglich, die Treppen hinunterzugehen. Selbst unter normalen Voraussetzungen hätte er nicht siebzig Stockwerk hinunterlaufen können. Unter dem Einfluß des Feldes ging man aber wie in dickem Schlamm, weil der Gürtel Arme und Beine nicht völlig schützen konnte. Versuchsweise berührte er eine Wand. Seine Hand wurde von einem ekelhaften Sog angezogen. Er nahm sie zurück. Die Schwerkraft… der schnellste Weg nach unten! Er betrat den nächstgelegenen Raum und drängte zwischen den stöhnenden Gestalten hindurch, die schwebten. Er schlug das Fenster ein, weil es sich infolge Druckes, den das Reibungsfeld erzeugte, nicht öffnen ließ, kletterte hinaus.
sich dort des und
Bis zum nächsten Gebäudevorsprung waren es zwanzig Stockwerke. Er stemmte seine Hände und Füße gegen die metallene Außenwand. Schließlich lehnte er sich auch noch mit der Stirn dagegen. Dann begann er nach unten zu gleiten. Die Luft pfiff an seinen Ohren vorbei. Fenster leuchteten auf und verschwanden über ihm. Seine Handflächen wurden warm. 58 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Er berührte die Wand nicht, aber die riesige Anziehungsenergie genügte, um ihn nicht abstürzen zu lassen. Als ihm der Vorsprung entgegenraste, preßte er seinen ganzen Körper fest gegen die Wand des Gebäudes. Er prallte hart auf, schien sich aber nichts gebrochen zu haben. Er taumelte zur Brüstung und schwang sich darüber, ohne zu überlegen. Das lange, pfeifende Gleiten begann von neuem. Als er auf der geteerten Straße aufprallte, wäre er bereit gewesen, aufzustehen und sich auch noch über die nächste Klippe zu stürzen. – Seine Hände und sein Gesicht waren versengt, als wären sie in kochendes Öl getaucht. Seine Füße, die in Plastikschuhen staken, waren mit Blasen bedeckt. Plötzlich überkam ihn ein Schwindelanfall. Er verlor wertvolle Minuten. Das Gebäude, an dessen Außenwand er herabgeglitten war, begann zu knirschen. Die ganze Straße entlang standen Leute in allen möglichen Verrenkungen. Amalfi fühlte sich in die tiefste Hölle versetzt. Er stand auf und taumelte zum Kontrollturm. Das kreischende Stimmen schien das ganze Universum zu erfüllen. »Amalfi! Bei allen Göttern, was ist Ihnen passiert…« Jemand nahm ihn beim Arm. Aus seiner aufgedunsenen Stirn lief brennende Flüssigkeit. »Mark – « »Ja, ja. Was ist los… Wie sind Sie denn – « »Lassen Sie sofort starten. Sof – « Unerträgliche Schmerzen rissen ihn in das wohltätige Dunkel der Bewußtlosigkeit. Einige Zeit später fühlte er, daß sein Gesicht und die Hände in etwas Kühlem gebadet wurden. Die Berührung war sehr zart und vorsichtig. Er schluckte und versuchte zu atmen.
59 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Ruhig, John, ruhig.« John? Niemand nannte ihn John. Eine Frauenstimme. Die weichen Hände einer Frau. »Vorsichtig.« Er brachte einen ächzenden Laut hervor, dann gelangen ihm zwei oder drei Worte, Die Hände streichelten Kühle auf seine Stirn, sanft und einschläfernd. »Ruhig, John. Es ist alles in Ordnung.« »Fliegen wir?« »Ja.« »Wer ist… hier? Mark…« »Nein«, sagte die Stimme. Sie lachte wohltönend. »Ich bin’s, Dee, Hasseltons Mädchen.« »Das Hamiltoniermädchen.« Er schwieg eine Weile und genoß die Kühle. Aber zu vieles mußte noch getan werden. »Die Polizei! Wir müssen ihnen doch den Planeten übergeben!« »Sie haben ihn schon erobert. Uns hätten sie auch fast geschnappt. Mit Versprechungen nehmen sie es nicht genau. Sie haben uns beschuldigt, die Utopier unterstützt zu haben; das sei Verrat, behaupteten sie.« »Was ist geschehen?« »Doktor Schlosser hat es fertiggebracht, daß die Unsichtbarkeitsmaschine funktionierte. Mark meint, sie sei bei der letzten Reise beschädigt worden. Die Lyrer haben euch also nicht betrogen. Doktor Schlosser hat sich dort verborgen, wie Sie es vorgeschlagen hatten. Nachdem es ihm langweilig wurde, überlegte er, wozu die Maschine dienen könnte. Niemand hat es ihm erzählt. Er fand es heraus. Er konnte die ganze Stadt für fast eine halbe Stunde unsichtbar machen, ehe seine provisorischen Anschlüsse durchbrannten.«
60 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Unsichtbar? Nicht bloß durchsichtig?« Amalfi dachte darüber nach. Und er hatte Schlosser umbringen lassen wollen! »Wenn wir das verwenden können – « »Wir haben es verwendet. Wir sind mitten durch die Polizeiabsperrung gesegelt, und sie haben uns nicht gesehen. Wir sind auf dem Weg zum nächsten Sternensystem.« »Das ist nicht weit genug«, sagte Amalfi und bewegte sich mühsam. »Nicht, wenn wir des Verrats technischer Geheimnisse beschuldigt werden. Die Polizei wird uns verfolgen und finden. Sagen Sie Mark, wir fliegen zum ›Abgrund‹.« »Was ist der ›Abgrund‹, John?« Bei diesem Wort schien alles ins Uferlose zu versinken. Amalfi fühlte, wie er in die gleiche Schlucht fiel, in der er sich im Traum befunden hatte. Wie konnte man diesem Mädchen erklären, was der ›Abgrund‹ war? Wie sollte man mit ein paar Worten schildern, daß es im Universum eine Gegend gibt, die so leer und ohne Licht ist, daß sogar die Nomaden sich nicht dorthin wagen? Es ging einfach nicht. »Der ›Abgrund‹ ist ein Loch. Es gibt dort keine Sterne. Besser kann ich es nicht erklären. Sagen Sie Mark, daß wir dorthin müssen, Dee.« Sie schwiegen lange Zeit. Sie war erschrocken, das konnte er merken. Dann sagte sie: »Zum ›Abgrund‹! Ich werde es ihm sagen!« »Er wird widersprechen. Sagen Sie, es sei ein Befehl.« »Ja, John. Zum ›Abgrund‹. Es ist ein Befehl.« Dann schwieg sie. Irgendwie hatte sie sich damit abgefunden. Amalfi war überrascht, aber die gleichmäßige ruhige Bewegung der kühlen Hände brachte ihm Schlaf. Aber da war noch etwas… »Dee?« »Ja, John.« »Sie sagten vorhin, wir seien unterwegs.« 61 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Ja, John.«
»Auch Sie? Sogar bis zum ›Abgrund‹?«
Das Mädchen lächelte. »Ja, ich«, ›Abgrund‹. Das Mädchen aus Utopia.«
sagte
es.
»Bis
zum
»Nein«, sagte Amalfi. Er seufzte. »Nicht mehr, Dee. Jetzt sind Sie auch ein Tramp.« Sie antwortete nicht, aber die kühlen Finger streichelten weiter seine Stirn. Die Stadt schwang summend hinaus in die rauhe, eisige Nacht.
62 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
3 Sogar für die Bewohner der Nomadenstädte war der ›Abgrund‹ ein Schrecken, der jeder menschlichen Beschreibung spottete. Einsamkeit auf den langen Flügen zwischen den Sternbildern war selbstverständlich, und alle Weltraumfahrer waren daran gewöhnt, manche so sehr, daß sie in einer größeren Sternengruppe Platzangst bekamen. Aber die gewaltige Leere des ›Abgrundes‹ war einmalig. Soweit sich Amalfi erinnern konnte, hatte noch kein einziger Mensch, geschweige denn eine ganze Stadt, den ›Abgrund‹ überquert. Die Stadtväter, die alles wußten, bestätigten Amalfis Vermutung. Amalfi fragte sich, ob es wirklich klug war, in diesem besonderen Falle der erste sein zu wollen. Vor der Stadt schimmerten die Wände des ›Abgrundes‹. Sternenschleier, die so weit entfernt waren, daß man einzelne Lichtpunkte nicht mehr unterscheiden konnte. Die Wände schwangen sich in sanfter Wölbung in einen Sternengrund, so unermeßlich tief unter dem granitenen Kiel der Stadt, daß er hinter einem Schleier aus Sternenstaub versteckt schien. Oben war nichts. Das absolute Nichts. Der leere Ozean des Raumes zwischen Milchstraßensystemen. Tatsächlich war der ›Abgrund‹ ein in die Milchstraße eingeschnittenes Tal. In ihm schwebten nur einzelne Sterne – Lichtjahrtausende voneinander entfernt –, die niemals von der Flut des menschlichen Kolonisationsdranges erreicht werden konnten. Vielleicht gab es am anderen Ende des ›Abgrundes‹ bewohnte Planeten und damit Arbeit für die Stadt. Auf dieser Seite befand sich jedenfalls immer noch die Erdpolizei. Es war natürlich nicht die gleiche Truppe, die Utopia und das Herzogtum Gort besetzt hatte. Die Hartnäckigkeit einer einzigen Polizeiabteilung auf einer Spur, die sich über drei Jahrhunderte erstreckte, wäre wegen der Serie kleiner Vergehen, die sich die Stadt hatte zuschulden kommen lassen, unglaublich gewesen. Immerhin war da noch die Nichtbeachtung eines Räumungsbefehls, die Sache mit dem kleinen Trick – und
63 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
alle Polizeigruppen wußten Bescheid. Die Stadt hatte keine andere Wahl. Umkehren war ausgeschlossen. Ob die Polizei die Stadt bis zum ›Abgrund‹ verfolgen würde, wußte Amalfi nicht. Dieses Risiko war jedenfalls nicht allzu groß. Für ein kleines Polizeischiff war die Überquerung des ›Abgrundes‹ unmöglich, schon weil nicht genügend Vorräte mitgeführt werden konnten. Nur eine Stadt, die alles selbst produzierte, was sie brauchte, war in der Lage, diesen Flug zu überstehen. Mit ernster Miene blickte Amalfi auf die ungeheure Kluft, die sich auf den Bildschirmen zeigte. Die Bilder wurden von einer Anzahl Erkundungsraketen übertragen, deren vorderste sich bereits weit über dem ›Abgrund‹ befand. Und noch immer zeichneten sich am fernen Ende keine Umrisse von Sternen ab. Lediglich eine feine Rasterung war zu erkennen, die darauf schließen ließ, daß sich bei stärkster Vergrößerung Sterne unterscheiden lassen würden. »Hoffentlich reichen die Lebensmittel«, murmelte er. »Wenn wir das schaffen, gibt es die tollste Geschichte, die man sich unter den Tramps jemals erzählt hat.« Der neben ihm sitzende Hasselton trommelte leise auf die Armlehnen. »Und wenn wir es nicht schaffen, werden sie uns die größten Idioten nennen, die jemals unterwegs waren. Das wird uns dann allerdings nicht mehr berühren. Trotzdem glaube ich, daß wir gut in Form sind, Chef. Die Öltanks sind fast voll, und die Algen wachsen prächtig. Wir haben beide Brüter in Betrieb. Wahrscheinlich wird hier draußen auch kaum eine Algenmutation auftreten. Stimmt es, daß sich die Feldwirkung entsprechend der Sterndichte verändert?« »Natürlich«, erwiderte Amalfi irritiert. »Wenn alles klappt, werden wir nicht verhungern.« Er zögerte. Hinter ihm hatte sich etwas bewegt, und er wandte sich um. Dann lächelte er. Dee Hasselton hatte einen beruhigenden Einfluß auf ihn. Sie war noch nicht lange genug auf Weltraumfahrt, um die charakteristische sternenverbrannte Hautfarbe zu besitzen. 64 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Außerdem ko nnte sie es noch immer nicht fassen, daß sie, jedenfalls nach den Maßstäben Utopias, praktisch unsterblich war. Deswegen wirkte sie so wunderbar jung und zart und unverbraucht. Eines Tages würde sich auch bei ihr die Belastung des ständigen Unterwegsseins von Stern zu Stern, von Krise zu Krise, auswirken wie bei allen Nomaden. Sie würde zwar die Wanderlust nicht verlieren, ihr aber den unvermeidlichen Tribut entrichten müssen. Vielleicht würde ihre Spannkraft Hoffentlich, dachte Amalfi.
sogar
das
überwinden.
»Macht nur weiter«, sagte sie, »ich kiebitze nur.« Dieses Wort war, wie ein großer Teil ihres Wortschatzes überhaupt, für Amalfi ein Rätsel. Er grinste und wandte sich wieder Hasselton zu. »Wenn wir nicht stark genug für diese Überquerung wären«, fuhr er fort, »hätte ich die Stadt der Polizei übergeben. Wir hätten mit Mühe die Strafe für die Übertretung des Räumungsgebotes bezahlen können. Mit etwas Glück wäre gegen die Verratsanklage der Polizei eine Verfügung zu erwirken gewesen, daß für die Auflösung der Stadt ein plausibler Grund nicht vorliege. Aber sehen Sie sich diesen verfluchten ›Abgrund‹ an, Mark. Wir sind nie länger als fünfzig Jahre ohne Landung auf einem Planeten unterwegs gewesen, und für diese Überquerung brauchen wir mindestens die hundertvier Jahre, die die Stadtväter ausgerechnet haben. Wenn das kleinste Mißgeschick eintritt, sind wir verloren. Da draußen kann uns kein Schiff erreichen.« »Es wird schon zuversichtlich.
nichts
passieren«,
sagte
Hasselton
»Der Treibstoff könnte sich zersetzen. Wir hatten zwar noch keine Explosion, aber einmal könnte es doch geschehen. Und wenn das Rotatron in der dreiundzwanzigsten Straße wieder versagt, brauchen wir noch einmal so lang für die Überquerung.« Plötzlich hörte er auf zu sprechen. Aus einem Winkel seines Auges war ihm schon geraume Zeit ein winziges Lichtpünktchen 65 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
aufgefallen. Als er genau auf den Bildschirm sah, war es immer noch vorhanden, wenngleich es durch die direkte Betrachtung getrübter erschien. Er deutete darauf. »Sehen Sie mal hin, ist das eine Sternengruppe? Nein, dafür ist es zu klein und zu scharf abgegrenzt. Wenn das ein einzelner, freifliegender Stern ist, muß er ziemlich nahe sein.« Er ergriff schnell ein Mikrophon. »Verbinden Sie mich mit dem Astronomiesektor. Hallo, Jack, können Sie anhand eines Ultraphonbildes berechnen, wie weit ein Stern entfernt ist?« »Aber sicher«, sagte die Stimme aus dem Gerät. »Warten Sie einen Augenblick, ich werde das Bild von Ihrem Schirm übernehmen. Aha, ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Etwa bei zehn Grad Nordost, ja? Stimmt vielleicht etwas mit euren Erkundungsraketen nicht?« Jack kicherte. »Wenn Sie mir jetzt noch sagen, wieviel Raketen Sie ausgeschickt haben und wie weit sie…« »Fünf Stück. Volle Reichweite.« »Hm. Dann ist eine große Korrektur erforderlich.« Ein langes Schweigen folgte. Amalfi wußte, daß es keinen Zweck hatte, Jack zu drängen. Der Astronom hatte nur Interesse am Studium der entferntesten Milchstraßensysteme. Es war fast unmöglich, ihn dazu zu bewegen, daß er sich mit der jeweiligen astronomischen Ortsbestimmung der Stadt abgab. Probleme dieser Art waren ihm nicht interessant genug. »Amalfi?« »Ja.« »Etwa zehn Lichtjahre. Das ist die Entfernung von den Raketen, nicht von uns. Ich glaube, Sie haben was gefunden.« »Danke.« Amalfi legte das Mikrophon zurück und atmete tief. »Nur ein paar Jahre Flugzeit. Glück gehabt.« »Auf einem Stern, der so weit draußen ist, werden wir aber kaum Kolonisten finden«, erinnerte ihn Hasselton.
66 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Das ist mir gleich. Als Landeplatz ist er jedenfalls geeignet; vielleicht finden wir sogar Treibstoff oder Nahrungsmittel. Die meisten Sterne haben Planeten. Das komische Ding da draußen kann keinen oder auch Dutzende haben. Halten Sie die Daumen.« Er starrte die winzige Sonne an. Seine Augen schmerzten. Ein Stern inmitten des ›Abgrunds‹, wahrscheinlich ein aus der Bahn geratener Stern mit einer Geschwindigkeit von vier- bis fünfhundert Kilometern in der Sekunde, aber sicher nicht, wie die meisten dieser Sterne, ein weißer Zwergstern. Amalfi schätzte, daß er zur Klasse 7 gehörte und ungefähr die Größe des Canopus hatte. Er überlegte, ob sich vielleicht Menschen auf einem der Planeten dieses Sterns an den Augenblick erinnern konnten, an dem er durch die Wand des ›Abgrunds‹ raste und seine Reise in die große Leere antrat. »Es könnten doch Leute dort sein«, sagte er. »Durch irgendein Ereignis müssen die Sterne im ›Abgrund‹ einmal weggefegt worden sein. Jack behauptet zwar, so könne man es nicht ausdrücken; die allgemeine Sternbewegung hätte vielmehr die Schlucht aufgerissen. Aber wie man es auch nimmt, diese Sonne kann erst seit kurzem dort sein, weil sie der üblichen Bewegungsrichtung genau zuwiderläuft. Sie könnte kolonisiert worden sein, als sie durch ein bewohntes Sternensystem flog. Auf so einem Ausreißer siedeln sich meist gesuchte Verbrecher an, Mark.« »Möglich wäre es«, gab Hasselton zu. »Aber ich möchte wetten, daß es noch gar keinen Weltraumflug gab, als diese Sonne unter den anderen Sternen flog. Übrigens, das Bild wird von der Leitrakete über dem Tal übertragen. Haben wir keine Ausleger? Ich habe sie doch vor einiger Zeit angefordert.« »Doch. Aber ich benütze sie nur für Routineaufgaben. Den ›Abgrund‹ der Länge nach zu durchfliegen, wäre wirklich Selbstmord.« »Das weiß ich. Aber wo ein isolierter Stern ist, kann noch ein zweiter sein. Vielleicht noch näher.«
67 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Amalfi zuckte die Schultern. »Wir können ja mal nachsehen, wenn Sie wollen.« Er drückte auf den Knopf. Auf dem Bildschirm verschwand die ferne Wand des ›Abgrundes‹. Außer einem dünnen Nebel war nichts mehr zu sehen. In dieser Richtung verlor sich der ›Abgrund‹ im Nichts. »Auf dieser Seite ist nichts, aber schon gar nichts.« Amalfi drehte den Schalter weiter. Auf dem Bildschirm, anscheinend in nächster Nähe, brannte eine fliegende Stadt. In ein paar Minuten war alles vorüber. Die Stadt bäumte sich auf, ein einziger Feuerball. An seinem Rande sah man noch einige Blitze einer erlahmenden Verteidigung, dann war der Rand plötzlich verschwunden. Stücke brachen heraus und schmolzen. Aus dem glühenden Mittelpunkt schossen ein paar Rettungsraketen in den Raum hinaus. Sie wurden nicht behindert. Es gab keine Rakete, die lange genug hielt, um den ›Abgrund‹ durchqueren zu können. Dee schrie auf. Amalfi schaltete den Ton ein. Der Kontrollturm war mit dem Heulen der atmosphärischen Störungen erfüllt. Ganz undeutlich hörte man in diesem Lärm eine verzweifelte Stimme rufen: »Wir wiederholen, falls uns jemand hören sollte. Wir wiederholen: Wir besitzen den treibstofflosen Antrieb. Wir zerstören unser Modell und evakuieren unseren Passagier. Nehmt ihn auf, wenn ihr könnt. Wir werden von einem ›Piraten‹ vernichtet. Wir wiederholen…« Dann blieb nichts mehr als das nackte, weißglühende Skelett einer Stadt, das in der Schwärze des Weltraumes verdampfte. Der blasse, unschuldige Leitstrahl eines Bethé Druckwellenstrahlers glitt hin und her. Man konnte trotzdem nicht erkennen, wer diese Waffe handhabte. Die Fotozellen in den Erkundungsraketen glichen das blendende Licht aus, so daß auf dem Bildschirm nichts zu sehen war, das nicht selbst Licht ausstrahlte. 68 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Das riesige Flammenmeer fiel langsam in sich zusammen, und die Sterne erstrahlten heller. Als der letzte Funke aufglomm und erstarb, tauchte gegen den Hintergrund des Sternennebels ein riesengroßer Schatten auf. Hasselton machte eine heftige Bewegung. »Noch eine Stadt. Es gibt also wirklich Städte, die Piraten sind! Und wir dachten, wir seien die ersten hier!« »Mark«, sagte Dee leise. »Mark, was ist ein ›Pirat‹?« »Eine Trampstadt«, sagte Hasselton, ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden. »Das sind Städte, die allen Nomaden einen schlechten Ruf verschafft haben. Die meisten Nomadenstädte sind wirkliche Wanderarbeiter. Sie verdienen sich ihren Unterhalt durch Arbeit, wo sie sie finden. Aber die Piraten leben von Raub – und Mord.« Seine Stimme klang bitter. Selbst Amalfi war ein wenig übel. Daß eine Stadt eine andere zerstörte, war schon schlimm genug. Das Entsetzliche aber war, daß die ganze Szene praktisch der Geschichte angehörte. Ultrawellenübertragung war zwar etwas schneller als das Licht, aber nur etwa um ein Viertel. Im Gegensatz zum Dirac-Sendeverfahren bot das Ultraphon keine Verständigungsmöglichkeit mit Sofortwirkung. Die Schattenstadt hatte ihren Gegner schon vor einigen Jahren vernichtet und war jetzt längst außer Reichweite. Sie konnte nicht einmal mehr identifiziert werden, weil ein entsprechender Auftrag an die Leitrakete bis zur Ausführung wieder einige Jahre in Anspruch genommen hätte. »Einige Städte werden wirklich Piraten«, sagte er. »Und meiner Meinung nach muß ihre Zahl in letzter Zeit zugenommen haben. Warum, weiß ich auch nicht, aber es ist so. Seit einiger Zeit verschwinden immer mehr anständige, ehrliche Städte. Wir bekommen keine Antwort auf Anfragen mit dem Dirac-Sender, finden sie an vereinbarten Treffpunkten nicht vor und so weiter. Jetzt, glaube ich, wissen wir warum.« »Mir ist das auch aufgefallen«, sagte Hasselton. »Aber so viele Piraten gibt es gar nicht, daß man die großen Verluste allein auf 69 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
sie zurückführen könnte. Es wäre leicht möglich, daß die Vegafestung hier ist und alle beseitigt, die die üblichen Flugwege verlassen.« »Ich habe gar nicht gewußt, daß die Vegas auch Städte fliegen«, sagte Dee. »Das tun sie auch nicht«, sagte Amalfi geistesabwesend. Er überlegte, ob er die sagenhafte Festung beschreiben sollte, tat es aber dann doch nicht. »Sie beherrschten aber früher das ganze Milchstraßensystem, bevor die Erde ihre Weltraumflüge begann. Auf der diese Sonne ein bewohnter Planet kreist. Verstehen Sie, was ich meine?« »Ich glaube«, sagte Amalfi langsam, »daß ich Ihnen schon voraus bin.« Der Stern, der durch den ›Abgrund‹ raste und die ferne Erde nicht vor weiteren zehntausend Erdenjahren erreichen würde, führte sechs Planeten mit sich, von denen nur ein einziger entfernte Ähnlichkeit mit der Erde hatte. Er leuchtete chlorophyllgrün auf den Bildschirmen, ehe man noch seine Scheibenform erkennen konnte. Die zurückgerufenen Erkundungsraketen umschwärmten die neue Welt wie Bienen, sammelten sorgfältig alle Eindrücke und leiteten sie an die Zentrale weiter. Der Planet bot überall das gleiche Bild. Wilder, tropischer Dschungel. Die geologische Periode war etwa der Karbonzeit der Erde vergleichbar. Arbeit gegen Bezahlung war dort sicher nicht zu finden. Die Erkundungsraketen fingen plötzlich schwache Radiosignale auf. Die Sprache konnte man natürlich nicht verstehen. Die Lösung dieses Problems überließ Amalfi den Stadtvätern, die er sofort einschaltete. Trotzdem hörte er sich das wirre Kauderwelsch an, während er die Stadt in eine Umlaufbahn um den Planeten
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steuerte. Irgendwie klangen die Stimmen, als würde eine Weihehandlung vorgenommen. Die Stadtväter teilten mit: »Diese Sprache ist eine Variante der menschlichen Sprachgruppe G, aber die Situation ist sehr merkwürdig. Grundsätzlich müssen wir zu der Feststellung kommen, daß die Rasse, die diese Sprache verwendet, ein eigenes Produkt dieses Planeten ist, was zwar selten ist, aber doch manchmal vorkommt. In der Sprache sind Reste eines verkommenen Englisch zu finden. Andererseits läßt die zu beobachtende Dialektvermischung auf die gesellschaftliche Struktur einer Stammkultur schließen. Letzteres verträgt sich aber keineswegs mit der Tatsache, daß Radioverkehr verwendet wird, noch damit, daß die Sprachverschiedenheiten auf einer gemeinsamen Grundlage stehen. Unter den obwaltenden Umständen müssen wir streng verbieten, daß Herr Hasselton irgendwelche ausgefallenen Dinge unternimmt.« »Ich habe die Stadtväter nicht um Rat gebeten«, sagte Amalfi. »Und was soll diese Nachhilfestunde in Etymologie? Trotzdem, Mark, seien Sie vorsichtig!« »Ja, ich weiß. ›Denken Sie an Thor V‹!« machte Hasselton die tiefe Baßstimme des Bürgermeisters nach. »Ich werde schon daran denken. Also, landen wir?« Anstelle einer Antwort bewegte Amalfi den Steuerknüppel. Die Stadt setzte zur Landung an. Es zeigte sich, daß anscheinend kein eigener Landeplatz vorhanden war. Amalfi zweifelte daran, daß es hier überhaupt Flugplätze gab. Er ließ die Stadt langsam hinunterschweben und richtete sich nur nach den wechselnden Geräuschen in seinem Kopfhörer. In viertausend Meter Höhe sah man inmitten des Meeres aus dunkelgrünen Baumwipfeln etwas Helles aufblitzen. Die Erkundungsraketen flogen vorsichtig auf die Stelle zu und begannen sie zu umkreisen. Auf den Bildschirmen zeigte sich ein Dach mit Türmen – dann zwei, vier, ein Dutzend. Eine Stadt – keine Nomadenstadt, sondern eine richtige, langsam aus dem Boden gewachsene Stadt. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, daß die Stadt von einer großen Mauer in einer ringförmigen 71 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Lichtung umgeben war. Das Grün zwischen den Türmen diente als Tarnung. Bei zweitausend Meter Höhe stieg eine Anzahl kleiner Schiffe von der Stadt auf, wie erschreckte Vögel aus dem Nest schwirrend. »Bordschützen«, »Fertigmachen.«
sagte
Hasselton
ins
Mikrophon.
Amalfi schüttelte den Kopf und ließ die Stadt weiter nach unten schweben. Die kleinen Flugkörper schwirrten mit rauchenden Düsen an der Stadt vorbei. Amalfi erkannte, daß es sich um eine formelle Begrüßungszeremonie handelte. Mit entsprechender Gewichtigkeit brachte er die Stadt nicht weit von ihrem Gegenstück im Dschungel zum Stehen, einige hundert Meter über dem Boden. Dann polarisierte er den Rotatronschutzschirm. Man konnte nicht sehen, was mit den Riesenfarnen und gräsern geschah, die sich direkt unter der Stadt befanden – sie erstarrten im Bruchteil einer Sekunde zu Fossilien –, aber die riesigen Pflanzen am Rande der landenden Stadt wurden aus dem Boden gerissen und erstarben in einem einzigen, grellen Feuerblitz. Ausgerechnet in diesem Augenblick konnte das Rotatron in der dreiundzwanzigsten Straße der starken Belastung nicht mehr standhalten. Es versagte. Die Stadt stürzte die letzten hundertfünfzig Meter in freiem Fall zu Boden. Sie prallte mit größerer Wucht auf die Oberfläche des Planeten, als Amalfi eigentlich vorgesehen hatte. Hasselton klammerte sich an seinen Sitz, bis der schwankende Kontrollturm wieder zur Ruhe gekommen war, und wischte sich dann mit einem Taschentuch das Blut von der Nase. »Das«, sagte er, »war etwas zu dramatisch. Vorsichtshalber werde ich das Rotatron so schnell wie möglich reparieren lassen.
72 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Eines schönen Tages wird die Maschine sonst überhaupt nicht mehr funktionieren, Chef.« Amalfi schaltete die Steuerung mit zufriedenem Gesicht ab. »Wenn der Pirat jetzt ankäme«, sagte er, »hätte er es schwer, uns hier den Rang abzulaufen. Aber fangen Sie ruhig mit der Reparatur an, Mark, damit Sie etwas zu tun haben.« Der Bürgermeister zwängte seinen Körper in den Notschacht und ließ sich durch das Reibungsfeld hindurch auf die Straße gleiten. Damit kam man schneller und bequemer hinunter als mit Aufzügen – oder indem man die Außenseite von Gebäuden herunterrutschte, mit Stirn und Händen als Bremse. Draußen erstrahlte die Fassade des Kontrollturmes im warmen Licht der Sonne. Plötzlich merkte er, daß das rhythmische Summen, das er in den Kopfhörern vernommen hatte, die ganze Luft erfüllte. Hier und dort wandten sich die Alltagsgesichter der Nomadenstadtbewohner dem Ursprung dieser Töne zu. Auf den Gesichtern war Erstaunen mit leichtem Vergnügen und unerklärlicher Traurigkeit gemischt. Amalfi wandte sich um. Eine lange Reihe von Kindern kam auf ihn zu – wie Mumien bis zu den Hüften in Stoffbahnen gewickelt. Die Streifen waren abwechselnd von roter und weißer Farbe. Um ihre Beine schwangen einzelne Stoffstreifen, schwer wie Seide. Nach jedem Schritt verbeugten sich die Kinder tief mit ausgestreckten, fächelnden Händen, während die Köpfe hin und her rollten und die Füße sich im Takt schwangen. In regelmäßigen Abständen vollführten sie eine vollständige Drehung. An den Hand- und Fußgelenken klapperten Bänder aus Dingern, die wie getrocknete Schoten aussahen. Über allem tönte das rhythmische Singen. Amalfis erste Reaktion war, sich darüber zu wundern, warum die Stadtväter die Sprache merkwürdig gefunden hatten. Das waren Menschenkinder. An ihnen war nicht das geringste fremdartig. 73 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Hinter den Kindern kamen große schwarzhaarige Männer, die aber nicht tanzten, sondern im Chor ständig ein einziges Wort wiederholten, das in langen Abständen das Getrappel der Kinder übertönte. Auch die Männer hatten menschliche Gestalt. Ihre Hände, die sie mit der Innenfläche nach oben weit ausstreckten, wiesen fünf Finger mit Fingernägeln auf. Ihre Barte sahen aus wie menschliche Barte. Die Brust, die durch einen symbolischen Riß in der Bekleidung der Sonne dargeboten wurde und auf die überall die gleiche symbolische Wunde mit roter Kreide gemalt war, zeigte Rippen, wo Rippen sein mußten, und unter der Haut die Umrisse von normalen Schlüsselbeinen. Lediglich bei den Frauen konnte man Zweifel bekommen. Sie kamen am Ende der Prozession, alle in einem riesigen Käfig zusammengepfercht, der von Riesenechsen gezogen wurde. Sie waren unbekleidet und ausgemergelt, so daß sie genausogut Menschenaffen hätten sein können. Sie brachten keinen Laut hervor und starrten leer vor sich hin, ohne die Nomadenstadt und ihre Bewohner zu bemerken. Gelegentlich kratzten sie sich zögernd, wobei sie bei der Berührung ihrer eigenen Krallen zusammenzuckten. Die Kinder umringten Amalfi, den sie sofort als den Anführer ansahen, weil er am größten war. Amalfi hatte das erwartet. Es war ihm nur ein Beweis mehr dafür, daß sie menschlicher Herkunft waren. Er bewegte sich nicht, als sie einen Kreis um ihn bildeten und sich niedersetzten, immer noch singend, hin- und herschwankend und ihre Hände schüttelnd. Auch die Männer bildeten einen Kreis um Amalfi und sahen ihm, die Arme weit ausgestreckt, ins Gesicht. Schließlich wurde noch der widerlich riechende Käfig in den doppelten Kreis gezogen, fast bis vor Amalfis Beine. Zwei männliche Betreuer schirrten die folgsamen Echsen aus und führten sie beiseite. Plötzlich hörte das Singen auf. Der größte und eindrucksvollste unter den Männern trat hervor und verbeugte sich mit gestikulierenden Handbewegungen. Ehe Amalfi begriff, was vorging, hatte sich der Fremde wieder aufgerichtet, etwas Schweres in seine Hand gelegt und war in die Reihe zurückgetreten, wobei er laut das eine Wort rief, das die Männer 74 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
vorher im Chor gerufen hatten. Männer und Kinder antworteten in einem einzigen, lauten Ruf, und dann war es still. Amalfi stand allein mit dem Käfig in der Mitte des zweifachen Kreises. Er sah auf den Gegenstand in seiner Hand hinunter. Es war ein reichgeschmückter schmiedeeiserner Schlüssel.
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4 Miramon rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her. Die große schwarze Feder in seinem Haarknoten wackelte. Daß er überhaupt auf dem Stuhl Platz genommen hatte, war als Beweis seines Vertrauens Amalfi gegenüber anzusehen. Zuerst hatte er sich, wie es auf dem Planeten allgemein üblich war, nur mitten im Raum hingehockt. Ein Stuhl war für ihn das ungemütliche Attribut eines Gottes. »Ich selbst glaube natürlich nicht an die Götter«, erklärte er mit eifrig wippender Feder Amalfi. »Für einen Techniker ist es ganz klar, verstehen Sie, daß Ihre Stadt einfach das Produkt einer höher entwickelten Technik ist und daß Sie Menschen sind wie wir. Auf unserem Planeten hat die Religion jedoch eine gewaltige, sehr unmittelbare Kraft. Es ist nicht ratsam, sich in derlei Dingen gegen die öffentliche Meinung zu stellen.« Amalfi nickte. »Nach allem, was Sie erzählen, glaube ich das durchaus. Nach unserer Erfahrung ist das einmalig. Was ging genau vor sich, als Ihre Zivilisation zusammenbrach?« Miramon zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir nicht. Es ist etwas über achttausend Jahre her, so daß nichts als eine Legende geblieben ist. Danach gab es zu dieser Zeit hier eine Hochkultur. Darüber sind sich jedenfalls Priester und Wissenschaftler einig. Das Klima war völlig verschieden von dem heutigen. Ich habe erfahren, daß jedes Jahr die Kälte kam, obwohl kaum zu begreifen ist, wie die Menschen derartige Perioden überstehen konnten. Außerdem gab es viel mehr Sterne am Himmel. Auf den alten Stichen sind noch Tausende von Sternen zu sehen, obwohl sie in Gestalt und Größe voneinander abweichen.« »Natürlich. Sie haben noch nicht bemerkt, daß sich Ihre Sonne mit einer abnorm hohen Geschwindigkeit durch den Kosmos bewegt?« »Bewegt?« Miramon lachte auf. »Wir haben einige etwas mystische Wissenschaftler unter uns, die an so etwas glauben. Sie behaupten, daß die Planetenbewegung auch eine Bewegung 76 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
der Sonne voraussetzt. Meiner Meinung nach ist das ein Trugschluß. Schließlich gleichen sich doch Sonnen und Planeten in keiner Weise. Außerdem: Wenn wir uns wirklich bewegen, warum sind wir dann immer noch in diesem Tal des Nichts?« »Ja, Sie sind immer noch im Nichts und bewegen sich doch. Sie unterschätzen die Größe des ›Abgrunds‹. Von Ihrem Planeten aus können Sie noch gar keine Vorstellung davon haben, daß der ›Abgrund‹ ein Ende hat. In ein paar tausend Jahren werden Sie allerdings ein Ende vermuten. Übrigens konnten Ihre Vorfahren sehr wohl die Bewegung feststellen, nämlich durch die Ortsveränderungen der benachbarten Sonnen.« Miramon schaute ihn zweifelnd an. »Ich beuge mich selbstverständlich Ihrem überlegenen Wissen. Aber davon einmal abgesehen, nach unserer Legende stürzten die Götter wegen einer besonderen Sünde der Bewohner den ganzen Planeten in diese Wüste ohne Sterne, wobei sie unser Klima in ewige Hitze verwandelten. Darum behaupten unsere Priester, wir seien in der Hölle und müßten unsere Sünden abbüßen, bevor wir wieder zu den kühlen Sternen zurück dürfen. Einen Himmel in dem von Ihnen angeführten Sinne des Wortes kennen wir nicht. Wenn wir sterben, sterben wir verdammt. Die ›Erlösung‹ kann nur durch unsere Bemühungen hier im Leben kommen. Unter den herrschenden Umständen hat diese Theorie ihre Vorzüge.« Amalfi überlegte. Inzwischen war ihm ziemlich klargeworden, was sich hier ereignet hatte, aber es schien nahezu unmöglich, Miramon das begreiflich zu machen. Die Achse dieses Planeten wies eine besonders starke Schrägneigung und eine dementsprechende Tendenz zur starken Schwankung auf. Das hieß, daß sie, wie die Erdachse, einem sogenannten DraysonZyklus unterworfen war. Von Zeit zu Zeit fing der Pol zu schwanken an, und die Achse verschob sich, so daß der Planet in einem veränderten Winkel weiterrotierte. Das Resultat war ein katastrophaler Klimawechsel. Etwas Derartiges geschah auf der Erde ungefähr alle fünfundzwanzigtausend Jahre. Das erste Kippen der Erdachse der aufgezeichneten Geschichte hatte Anlaß zur Entstehung von Legenden und Sekten gegeben, die im 77 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
großen und ganzen idiotischer waren als hier. Trotzdem, welch unglückseliges Zusammentreffen für die Hevier, daß der Planet ausgerechnet in dem Zeitpunkt, als die Achsenverschiebung stattfand, auch seinen Flug über den ›Abgrund‹ antrat. Ohne den geringsten Übergang wurde damit eine hochstehende Zivilisation, eine Kultur, die sich auf dem Wege zur vollkommenen Reife befunden hatte, zu einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe zurückgeworfen. Der Planet war jetzt in einem merkwürdigen Zustand. Politisch gesehen hatte der Rückschritt erst knapp vor der Barbarei haltgemacht, ein Beweis für die Höhen, die diese Rasse vor der Katastrophe bereits erreicht gehabt hatte. Inzwischen hatte eine neue Entwicklung begonnen. Man befand sich im Stadium der miteinander ständig in Fehde liegenden Stadtstaaten. Aber die Grundlagen der wissenschaftlichen Techniken, die der Planet vor achttausend Jahren besessen hatte, waren nicht vergessen. Sie trugen ›neue‹ Früchte. Eigentlich sollten sich Stadtstaaten mit Schwertern bekämpfen, nicht mit Raketenwaffen, chemischen Explosivstoffen und Überschalljägern. Fliegen sollte noch ein Traum sein, nicht düsengetriebene Wirklichkeit. Astronomische und geologische Zufälle hatten die ganze Geschichte durcheinandergebracht. »Was wäre mir passiert, wenn ich den Käfig aufgesperrt hätte?« wollte Amalfi plötzlich wissen. Miramon wurde blaß. »Wahrscheinlich wären Sie umgebracht worden. Auf alle Fälle hätten sie versucht, Sie zu töten«, sagte er nach beträchtlichem Zögern. »Damit wäre wieder das ›Böse‹ über uns gekommen. Die Priester sagen, daß es die Frauen waren, die den Sündenfall des Großen Zeitalters herbeiführten. In den Räuberstädten wurde allerdings dieser primitive Glaube nicht beibehalten – übrigens einer der Gründe, warum so viele zu den Räuberstädten überlaufen. Sie können sich nicht vorstellen, was es heißt, jedes Jahr seine Pflicht zur Erhaltung der Rasse erfüllen zu müssen, wie es das Gesetz vorschreibt. Es ist Wahnsinn!«
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Seine Stimme klang sehr bitter. »Darum ist es auch so schwer, unseren Leuten verständlich zu machen, wie schädlich diese Räuberstädte sind. Auf dieser Welt ist jeder des Kampfes gegen den Dschungel überdrüssig, überdrüssig des Versuches, das Große Zeitalter mit einer Handvoll Schlamm wieder aufzubauen, überdrüssig der Erhaltung gesellschaftlicher Tabus, die das Dasein des Dschungels ignorieren – aber am meisten überdrüssig des Dienstes im ›Tempel der Zukunft‹. In den Räuberstädten sind die Frauen sauber.« »Die Räuberstädte bekämpfen den Dschungel nicht?« fragte Amalfi. »Nein. Sie stürzen sich auf diejenigen, die es versuchen. Sie haben auch die Religion völlig aufgegeben. Die erste Tat einer rebellischen Stadt ist der Mord an den Priestern. Unglücklicherweise ist das Priestertum unentbehrlich, und unsere Frauen müssen ertragen werden, weil wir nicht einen Grundsatz aufgeben können, ohne alles in Zweifel zu ziehen. So behaupten die Priester wenigstens. Es ist die Priesterschaft, die uns lehrt, daß es besser ist, Mensch zu sein als ein dumpfer Lehmkloß. Darum befolgen wir – die Techniker – die Zeremonien mit großer Genauigkeit, obwohl einige davon geradezu idiotisch sind. Wir betrachten es als unwesentlich, daß wir selbst nicht an die Götter glauben.« »Ganz vernünftig«, gab Amalfi zu. Miramon war sicherlich ein schlauer Bursche. Wenn seine Meinung für einen so großen Teil des hevischen Denkens stand, wie er selbst glaubte, konnte man mit dieser wilden Welt vielleicht doch noch etwas anfangen. »Ich bin erstaunt darüber, wie Sie wissen konnten, daß der Schlüssel als Unterpfand angenommen werden mußte«, sagte Miramon. »Sie haben sich genau richtig benommen, aber woher konnten Sie das wissen?« Amalfi lächelte. »Das war nicht schwer. Ich weiß, wie ein Mann aussieht, wenn er eine heiße Kartoffel fallen läßt. Euer Priester benahm sich wie ein Mann, der ein großes Geschenk übergibt, aber es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Übrigens, einige dieser Frauen sehen jetzt ganz anständig aus, nachdem sie von 79 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Dee gebadet wurden und die medizinische Abteilung die stärkeren Schmutzschichten abgekratzt hat. Sie brauchen keine Angst zu haben, wir erzählen es Ihren Priestern nicht. Ich nehme an, daß man uns hier überall für den Weihnachtsmann hält.« »Man hält Sie für Boten aus dem Großen Zeitalter«, stimmte Miramon ernst zu. »Wer Sie wirklich sind, haben Sie nicht gesagt.« »Das ist wahr. Kennen Sie hier Wanderarbeiter? Sie haben das Wort in Ihrem Sprachschatz, aber ich verstehe nicht ganz, wie – « »Aber gewiß. Sänger, Soldaten, Erntearbeiter, sie alle gehen von Stadt zu Stadt und bieten ihre Dienste an.« Dann, viel schneller als Amalfi erwartet hatte, begriff der Revier. »Meinen Sie… Wollen Sie damit sagen… daß Sie Ihre Fähigkeiten verkaufen? Uns verkaufen wollen?« »Genau, Miramon.« »Aber womit sollen wir Sie bezahlen?« Miramon schnappte nach Luft. »Alles, was wir Reichtum nennen, alles was wir haben, reichte nicht aus, um ein Stück Ihres Gewandes zu bezahlen!« Amalfi dachte darüber nach und überlegte, wieviel Miramon von der wirklichen Lage begreifen würde. Es fiel ihm ein, daß er bisher den Hevier ständig unterschätzt hatte. Vielleicht würde es sich lohnen, ihm reinen Wein einzuschenken, wobei man nur hoffen konnte, daß er das ertragen würde. »Es ist so«, sagte Amalfi. »In der Zivilisation, der wir angehören, gilt ein bestimmtes Metall als Zahlungsmittel. Sie besitzen riesige Mengen dieses Metalls auf Ihrem Planeten, aber es ist sehr schwierig zu verarbeiten. Ich bin sicher, daß Ihnen noch nicht mehr gelungen ist, als es zu entdecken. Wir brauchen Ihre Genehmigung, dieses Metall abzubauen.« Miramons skeptische Überraschung wirkte fast komisch. »Genehmigung?« wiederholte er. »Bitte, Bürgermeister Amalfi,
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ist Ihr Moralkodex so verrückt wie der unsrige? Warum schürfen Sie nach diesem Metall nicht ohne Genehmigung?« »Die Stellen, die die Einhaltung unserer Gesetze überwachen, würden das nicht zulassen. Der Abbau des Metalls auf Ihrem Planeten würde uns reich machen, nahezu unglaublich reich. Wie die Schürfproben zeigen, befinden sich nicht nur riesige Mengen von Germanium auf Heva, sondern es gibt auch gewisse Heilmittel in Ihrem Dschungel, Heilmittel, die als Antimortalika bekannt sind.« »Wie bitte?« »Entschuldigung. Was ich meine, ist, daß diese Medikamente, wenn sie entsprechend angewendet werden, den Tod auf unbestimmte Zeit hinausschieben.« Miramon stand würdevoll auf. »Sie machen sich über mich lustig«, sagte er. »Ich werde später wiederkommen. Vielleicht können wir uns dann wieder unterhalten.« »Setzen Sie sich bitte«, sagte Amalfi zerknirscht. »Ich hatte vergessen, daß man das Altern nicht überall als Fehlentwicklung betrachtet. Beim Altern handelt es sich um eine Verminderung der Zellbaukraft des Körpers, die man mit dem entsprechenden Wissen ohne weiteres verhindern kann. Sie wurde vor langer Zeit überwunden, schon vor dem Beginn des eigentlichen Weltraumfluges. Aber die hierzu benötigten Wirkstoffe waren immer schwer zu finden. Die Vorräte wurden geringer und geringer, je mehr sich die Menschheit im Weltraum ausbreitete. Weniger als ein Zweitausendstel eines Prozents der derzeitigen Bevölkerung können damit behandelt werden. Die meisten Medikamente im offenen Handel werden den Leuten überlassen, die eine Lebensverlängerung am nötigsten brauchen, mit anderen Worten Menschen, die riesige Strecken im Weltraum zurücklegen müssen. Der Erfolg davon ist, daß eine Ampulle dieses Mittels zu dem Preis verkauft werden kann, den der Verkäufer verlangt. Nicht eines dieser Mittel konnte bisher
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synthetisch hergestellt werden. Wenn entsprechenden Pflanzen ernten konnten – «
wir
daher
die
»Das genügt. Mehr brauche ich nicht zu wissen«, sagte Miramon. Er hockte nachdenklich am Boden, nachdem er den Stuhl wieder verlassen hatte. »Ich frage mich nach alledem, ob Sie nicht doch aus der Großen Zeit kommen. Es ist auch nicht einfach zu verstehen. Wieso könnte Ihre Zivilisation gegen Ihr Reichwerden etwas einzuwenden haben?« »Der ehrliche Erwerb von Reichtum wird von unserer Kultur nicht beanstandet. Wir müssen aber nachweisen, daß wir für die Reichtümer gearbeitet haben, weil man uns sonst verdächtigt, die begehrten Medikamente zum Nachteil der kleinen Leute in unserer eigenen Stadt auf dem schwarzen Markt verkauft zu haben. Wir müssen daher mit Ihnen einen schriftlichen Vertrag schließen, in dem Ihre Genehmigung enthalten ist.« »Das ist verständlich«, sagte Miramon. »Ich nehme sicher an, daß Sie die Genehmigung bekommen. Ich selbst kann sie leider nicht erteilen. Aber ich wage vorauszusagen, welchen Preis die Priester verlangen werden.« »So? Das will ich gerade wissen. Los, sagen Sie’s schon!« »Erstens wird man Sie um das Geheimnis dieser… Medikamente gegen den Tod bitten. Die Priester werden sie an sich selbst ausprobieren und den übrigen Bewohnern des Planeten vorenthalten wollen. Das ist vielleicht nicht unklug, weil sonst noch viel mehr Leute zu den Banditen überlaufen würden. Trotzdem glaube ich sicher, daß sie die Medikamente verlangen werden.« »Sie werden sie bekommen. Wir werden aber veranlassen, daß das Geheimnis allen bekannt wird. Die Stadtväter kennen das Verfahren, und die dazu nötigen Pflanzen sind hier so reichlich vorhanden, daß ich nicht einsehe, warum nicht alle Menschen hier die Medikamente bekommen sollten.« Amalfi hatte noch einen weiteren Grund für seine Großzügigkeit. Wenn er das andere Ende des ›Abgrunds‹ mit einer derartigen Menge der Mittel erreichte, daß die Versorgung fast der ganzen 82 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Milchstraßenbevölkerung möglich würde, wäre der Teufel los. »Was kommt als nächstes?« »Man wird Sie bitten, den Dschungel zu vernichten.« Amalfi ließ sich wie betäubt in den Stuhl fallen. Dann nahm er ein Taschentuch und wischte sich über die Glatze. Den Dschungel vernichten. Sicher, es wäre ein Leichtes, den weitaus größten Teil zu roden. Man konnte den Heviern sogar Energiewaffen zur Aufrechterhaltung der Rodungsflächen überlassen. Trotzdem würde der Dschungel früher oder später wiederkommen. Durch die allgemeine Feuchtigkeit würden die Waffen unbrauchbar werden, außerdem könnten die Hevier sie nicht richtig pflegen, geschweige denn reparieren. Der klügste Grieche im alten Athen wäre nicht imstande gewesen, eine defekte Röntgenröhre zu reparieren, selbst wenn man es ihm erklärt hätte. Nein, der Dschungel würde unweigerlich wiederkommen. Die Polizei, die schließlich auf der Verfolgung der Piratenstadt auch nach Heva kommen würde, um nachzusehen, ob die Nomaden auch den Vertrag erfüllt hätten, würde feststellen müssen, daß der Planet genauso war wie vorher. Ade Reichtum! Hier herrschte nun einmal Dschungelklima. Bis zur nächsten Achsenkippung war der Dschungel Herr auf dem Planeten, dagegen war nichts zu machen. »Entschuldigen Sie«, sagte er und griff nach dem Kontrollhelm. »Verbinden Sie mich mit den Stadtvätern«, sagte er in das Mikrophon. ›Sprechen Sie‹, tönte es aus der Anlage. »Auf welche Weise könnte man einen Dschungel vernichten?« Einen Augenblick herrschte Schweigen. ›Man konnte Bestäubung mit Sodiumfluorsilikat durchführen. In feuchtem Klima könnte man damit eine allgemeine Pflanzenzersetzung erreichen. Widerstandsfähigere Pflanzen müßten mit 2,4-D besprüht werden. Der Dschungel würde natürlich wiederkommen.‹
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»Das habe ich befürchtet. Gibt es eine Möglichkeit, das zu verhindern?« ›Nein, höchstens wenn der Planet einen Drayson-Zyklus aufweist.‹ »Was?« ›Nein, höchstens wenn der Planet einen Drayson-Zyklus aufweist. In diesem Fall kann die Planetenachse geradegerichtet werden. Niemand hat bisher einen derartigen Versuch unternommen. Dabei handelt es sich theoretisch um eine einfache Lösung. Eine Gesetzesvorlage, die Erdachsenstellung zu korrigieren, wurde mit drei Stimmen Mehrheit im Dreiundachtzigsten Weltrat verworfen, dank der Opposition konservativer Kreise.‹ »Könnte die Stadt es schaffen?« ›Nein, die Kosten würden ins Uferlose gehen. Bürgermeister Amalfi, haben Sie vor, diesen Planeten zu kippen? Wir verbieten es Ihnen. Alle Anzeichen deuten darauf hin -‹ Amalfi riß sich den Helm vom Kopf und warf ihn ins Zimmer. Miramon sprang erschrocken auf. »Hasselton!« Der Direktor kam durch die Tür geschossen. »Hier, Chef – was ist – « »Sausen Sie hinunter, und schalten Sie die Stadtväter ab – aber schnell, ehe sie darauf aufmerksam werden und etwas dagegen unternehmen! Schnell, Mann – « Hasselton war schon verschwunden. Aus den Kopfhörern des Helmes tönten technische Angaben in abgehackten, präzisen Silben. Plötzlich war es still. Die Stadtväter waren abgeschaltet. Der Weg für Amalfi war frei, eine ganze Welt in Bewegung zu setzen.
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Abgesehen von der konservativen Einstellung der Stadtväter machte die Tatsache, daß sie zum erstenmal seit der Geschichte mit dem Planeten Epoch abgeschaltet worden waren, die Aufgabe noch wesentlich schwieriger, als sie an sich schon war. Das Hauptproblem, den Neigungswinkel des Planeten selbst zu verändern, war eigentlich am einfachsten zu lösen. Das würden die Rotatrone schaffen. Aber die Nebenwirkungen der Kur würden vermutlich schlimmer sein als die zu heilende Krankheit. Das Problem lag auf seismologischem Gebiet. Planeten, die mit rasender Geschwindigkeit durch den Weltraum wirbeln, besitzen ein sehr starkes Beharrungsvermögen. Wenn es gelang, diese gewaltige Energie zu überwinden, mußte sie an einer anderen Stelle wieder auftauchen – wahrscheinlich in Form von zahlreichen Erdbeben. Auch über die Schwerkraftprobleme konnte man im vorhinein nur wenig sagen. Die Planetenumdrehung erzeugte, wie üblich, ein enormes Magnetfeld. Amalfi war sich nicht sicher, wie das Magnetfeld in seinen Raumkoordinaten auf die Kippung reagieren würde. Noch weniger wußte er, was Heva zustoßen würde, sobald die Rotatrone das gesamte Schwerefeld des Planeten polarisierten, weil der Planet während der Achsenko rrektur sein Magnetfeld verlieren würde. Nachdem sonst die Berechnung derartig komplizierter Probleme Sache der Stadtväter war, konnte man jetzt ohne sie nicht feststellen, wo, in welcher Form und welcher Stärke die Energie wieder in Erscheinung treten würde. Amalfi besprach dieses letzte Problem mit Hasselton. »Wenn wir es mit dem Normalfall zu tun hätten, würde ich annehmen, daß die Energie als Geschwindigkeitszunahme auftritt«, erklärte er. »In diesem Falle wäre eine unfreiwillige Spritztour fällig. Aber mit dem Normalfall haben wir es hier eben nicht zu tun. Die zu bewältigende Masse ist – nun, einfach planetarisch, es gibt keinen anderen Ausdruck dafür. Was meinen Sie, Mark?« »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, gab Hasselton zu. »Meine Berechnungen lassen nur ganz grobe Schlüsse zu – dabei handelt es sich um ein klassisches Feldproblem. Wenn wir nur 85 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
die Stadt bewegen, verändern wir die Magnetfeldwirkung ihrer einzelnen Elektronen. Die Stadt ist aber nur ein Körper mit geringer Masse ohne Eigenrotation, mit anderen Worten, ohne magnetisches Gesamtpotential.« »Das ist es eben. Soweit mir bekannt ist, hat noch niemand herausfinden können, welcher Unterschied zwischen der Wirkung besteht, die ein Rotatron auf die einzelnen Elektronen ausübt, und derjenigen, die auf eine Masse im klassischen Sinn durch ein großes Rotatronfeld ausgeübt wird.« »Trotzdem könnten wir die Beschleunigung unter Kontrolle bekommen oder sie einfach außer acht lassen. Aber nehmen Sie mal an, die Energie erscheint statt dessen als Wärme wieder! Von Heva bliebe nichts übrig als eine Gaswolke.« Amalfi schüttelte den Kopf. »Das ist nur ein Hirngespinst. Es ist zwar möglich, daß der Kreiselwiderstand in Wärme umgewandelt wird, aber nicht der Schwerkraft-Magnetfeldwiderstand. Ich glaube, es ist am sichersten, wenn wir annehmen, daß die Energie in Beschleunigung umgewandelt wird, wie beim normalen Flug. Legen Sie die Standardumwandlung zugrunde, und schauen Sie, was dabei herauskommt.« Hasselton beugte sich über seinen Rechenschieber. Auf Stirn und Schnurrbart standen kleine Schweißtröpfchen. Amalfi begriff, warum die Hevier den Dschungel und seine ewig feuchtheiße Ausdünstung so schnell wie möglich loswerden wollten. Seine eigene, sehr knappe Bekleidung war jedenfalls seit der Landung nie mehr trocken geworden. »Also, wenn mir kein Fehler unterlaufen ist«, sagte der Direktor schließlich, »müßte der ganze Planet mit allem Drum und Dran mit mindestens doppelter Lichtgeschwindigkeit losbrausen. Das ist nicht tragisch, jedenfalls geringer als unsere normale Fluggeschwindigkeit. Wir könnten dann immer noch versuchen, den Planeten zu umrunden und ihn auf seine Umlaufbahn zurückzudrängen.« »Ob uns das gelingt? Sobald die Rotatrone laufen, ist die Richtung der Energie nicht mehr zu beeinflussen. Der Planet 86 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
könnte genausogut innerhalb weniger Sekunden in seine Sonne stürzen. Wir können die Richtung einfach nicht vorausbestimmen!« »Doch das können wir«, behauptete Hasselton. »Genau in Richtung der Rotationsachse natürlich.« »Und was ist mit der Winkelneigung und dem Drehmoment?« »Das ist kein Problem – halt, doch! Ich vergesse immer, daß wir es mit einem Planeten zu tun haben.« Er beschäftigte sich wieder mit seinem Rechenschieber. »Es geht einfach nicht. Die Unterschiede sind zu groß. Ohne die Stadtväter können wir die Berechnungen nicht rechtzeitig durchführen. Das Drehmoment könnte die Endbeschleunigung sogar noch erheblich verstärken. Wenn wir allerdings eine Möglichkeit finden, den Flug des Planeten unter Kontrolle zu bringen, spielt das schließlich auch keine Rolle mehr. Die anderen Planeten werden natürlich stark beeinflußt werden, wenn dieser Planet auf Masse Null gebracht wird, ob er nun so stark beschleunigt wird oder nicht; aber sie sind ja nicht bewohnt.« »Also gut, Mark, dann denken Sie sich mal ein Kontrollsystem aus. Ich werde mich um die geologische Seite des Problems kümmern – « Plötzlich wurde die Türe aufgerissen. Amalfi sah sich um. Es war Sergeant Anderson. Normalerweise war Anderson sogar bei den unglaublichsten Dingen völlig ungerührt, jedenfalls solange die Stadt nicht in Gefahr war. »Was ist passiert?« fragte Amalfi erschrocken. »Herr Bürgermeister, eben kam über das Ultraphon eine Nachricht von einer Gruppe, die behauptet, aus einer Nomadenstadt geflüchtet zu sein. Die Leute wollen von einem Piraten überfallen worden sein, der die Stadt zerstört habe. Im Norden dieses Planeten hätten sie eine Bruchlandung gemacht und seien dann von den Bewohnern einer der dortigen Räuberstädte umzingelt worden. Sie hätten sie bisher abgewehrt. Kurz nach dieser Meldung verstummte plötzlich der
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Sender. Ich habe mir gedacht, Sie müßten davon unterrichtet werden.« Amalfi erhob sich sofort aus dem Stuhl. »Konnten Sie den Sender orten?« fragte er. »Jawohl.« »Geben Sie mir die Peilergebnisse. Kommen Sie, Mark. Das war die Rettungsrakete aus der Stadt mit dem treibstofflosen Antrieb. Die Leute müssen wir haben.« Amalfi und Hasselton nahmen ein Flugtaxi zum Stadtrand und gingen den Rest des Weges über die mit Ultraschallgeräten um die Stadtmauern gelegte Lichtung zu Fuß. Der Boden fühlte sich gummiartig an. Amalfi vermutete, daß eine primitive Form des Reibungsfeldes benützt wurde, um den Schlamm in seiner federnden Festigkeit zu erhalten. Er stellte sich Angreifer vor, die auf dem Wege zur Stadt plötzlich im saugenden Schlamm versinken würden, sobald das Feld abgeschaltet wurde, und beschleunigte seine Schritte. Als sie in der Hevierstadt waren, brachten die Wachtposten ein merkwürdiges, stinkendes Fahrzeug, das anscheinend mit Abgasen von Kohlenwasserstoff betrieben wurde. Die Nomaden wurden darin mit abscheulichem Lärm zu Miramon gefahren. Während der Fahrt klammerte sich Amalfi in einem Anfall plötzlicher Nervosität an einen Handgriff. Mit einigem Tempo auf einer Oberfläche dahinzufahren, war ein seltenes Erlebnis für ihn. Die Schnelligkeit, mit der Häuser und Masten draußen vorbeipfiffen, fiel ihm auf die Nerven. »Will uns dieser komische Vogel vielleicht an den nächsten Mast fahren?« sagte Hasselton verdrießlich. »Der fährt doch mindestens vierhundert Stundenkilometer!« »Ich bin froh, daß es Ihnen genauso geht wie mir«, sagte Amalfi und fühlte sich etwas erleichtert. »In Wirklichkeit, wette ich, fahrt er weniger als zweihundert. Es ist nur die Art, die – «
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Der Fahrer, der die Geschwindigkeit aus Ehrfurcht gegenüber den Fremden aus dem Großen Zeitalter auf fünfzig Stundenkilometer gehalten hatte, lenkte das Fahrzeug um eine Kurve und bremste dann genau von Miramons Türe. Amalfi stieg mit wankenden Knien aus. Hasseltons Gesicht wies eine leicht grünliche Färbung auf. »Ich muß mir mal überlegen, wie man unsere Taxis auch außerhalb der Stadt verwenden könnte«, murmelte er, »Jedesmal, wenn wir auf einem Planeten landen, müssen wir auf Ochsenkarren, auf dem Rücken von Riesenkänguruhs, in heißen Luftballonen, mit dampfgetriebenen Luftschrauben und Dingern fahren, die einen mit dem Gesicht nach unten durch einen Tunnel schle ifen, oder was die Eingeborenen sonst noch als luxuriöse Fortbewegungsart auffassen. Viel mehr verträgt mein Magen nicht.« Amalfi grinste und hob die Hand, um Miramon zu begrüßen, dessen Gesichtsausdruck verriet, daß er nur mit Mühe das Lachen verbeißen konnte. »Was führt Sie zu mir?« fragte der Hevier. »Kommen Sie herein. Ich habe zwar keine Stühle, aber – « »Dazu haben wir keine Zeit«, sagte Amalfi. »Hören Sie gut zu, Miramon, weil das wieder einmal sehr schwierig zu erklären ist und wir uns beeilen müssen. Sie wissen bereits, daß unsere Stadt nicht die einzige ihrer Art ist. Ja, es ist sogar so, daß wir nicht einmal die erste Stadt sind, die sich in den ›Abgrund‹ gewagt hat. Vor uns waren schon zwei andere Städte dort. Eine von ihnen, eine Verbrecherstadt, die wir als Piraten bezeichnen, griff die andere Stadt an und zerstörte sie. Wir waren zu weit davon entfernt, um es zu verhindern. Können Sie mir folgen?« »Ich glaube schon«, sagte der Hevier. »Dieser Pirat ist wie unsere Räuberstädte – « »Ja, genauso. Soviel uns bekannt ist, muß sie sich noch im ›Abgrund‹ befinden. Die Stadt nun, die von dem Piraten zerstört wurde, besaß etwas, das wir dringend haben wollen und das wir haben müssen, bevor es die Piraten in die Hände bekommen. 89 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Wir wissen, daß die zerstörte Stadt noch eine Rettungsrakete abschießen konnte, die jetzt einer Ihrer Räuberstädte in die Falle gegangen ist. Wir müssen sie retten. Wahrscheinlich sind es die einzigen Überlebenden der toten Stadt. Es ist von lebenswichtiger Bedeutung für uns, diese Leute zu befragen. Wir müssen herausbringen, was ihnen über den treibstofflo sen Antrieb bekannt ist und wo sich der Pirat jetzt befindet.« »Ich verstehe«, sagte Miramon. »Wird dieser – dieser Pirat versuchen, den Flüchtlingen nach Heva zu folgen?« »Sicher. Der Pirat ist sehr gefährlich, weil er alle Waffen hat, die wir selbst besitzen und noch einige dazu. Wir müssen unbedingt die Überlebenden zuerst haben und dann einen Weg finden, wie wir uns und euch gegen den Piraten verteidigen, wenn er hierher kommt. Vor allem müssen wir verhindern, daß der Pirat das Geheimnis dieses treibstofflosen Antriebs in die Hand bekommt!« »Was wollen Sie, daß ich tun soll?« fragte Miramon ernst. »Können Sie feststellen, wo sich die Hevierstadt befindet, die diese Leute gefangengenommen hat? Wir lassen zwar eine Ortung durchführen, aber sie ist nicht präzis. Wenn Sie uns sagen können, wo sich die Stadt befindet, werden wir die Leute selbst herausholen.« Miramon ging zurück in sein Haus, das in Wirklichkeit, wie alle anderen Wohngebäude in der Stadt, ein Wohnheim für fünfundzwanzig Männer des gleichen Berufs war, und kam mit einer Landkarte wieder. Die Eigenarten der hevischen Landkartenzeichnung waren alles andere als leicht verständlich, aber nach einer Weile konnte sich Hasselton einigermaßen zurechtfinden. »Hier ist Ihre Stadt und dort die unsrige«, sagte er zu Miramon und deutete auf die betreffenden Punkte der Landkarte. »Stimmt’s? Und das Ding, das wie eine kunstvoll abgelöste Orangenschale aussieht, ist die Planetenoberfläche in polykonischer Projektion. Ich war immer schon der Meinung, daß man damit kugelförmige Planeten naturgetreuer nachbilden kann als mit unserer geographischen Projektion, Chef.«
90 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Man kann topographische Einzelheiten leichter behalten«, sagte Amalfi ungeduldig. »Zeigen Sie Miramon, woher wir die Signale empfangen haben.« »Hier oben, auf dieser Seite der Planetenoberfläche.« Miramon runzelte die Stirn. »Dort gibt es nur eine einzige Stadt: Fabr-Suithe. Sie liegt sehr ungünstig, vor allem militärisch gesehen. Aber wenn Sie es trotzdem versuchen wollen, werden wir Ihnen helfen. Wollen Sie wissen, was das Endergebnis sein wird?« »Daß wir unsere Freunde retten, denke ich. Was sonst?« »Sämtliche Räuberstädte werden anmarschieren, um die Achsenkorrektur zu verhindern. Sie sind dagegen. Der Dschungel ist ihre Lebensgrundlage.« »Warum haben sie sich dann bisher nicht gerührt?« fragte Hasselton. »Haben sie Angst?« »Nein. Sie fürchten sich vor nichts. Wir glauben, daß sie Tabletten dagegen nehmen. Aber sie haben noch keinen Weg gefunden, Ihre Stadt ohne große Verluste anzugreifen. Außerdem waren ihre Gründe für einen Angriff bisher nicht so gewichtig, daß sie das Risiko einer Niederlage auf sich genommen hätten. Wenn Sie aber einen der Ihrigen angreifen, wäre das Anlaß genug, zurückzuschlagen. Haß lernt sich schnell.« »Wir werden mit ihnen schon fertig«, sagte Hasselton kalt. »Das glaube ich Ihnen«, sagte Miramon, »aber Sie sollten sich überlegen, daß Fabr-Suithe die Anführerin der Räuberstädte ist. Wenn Fabr-Suithe angreift, greifen alle an.« Amalfi zuckte mit den Schultern. »Das müssen wir riskieren. Wir brauchen diese Flüchtlinge. Vielleicht schaffen wir es so schnell, daß der Widerstand sofort erstickt werden kann. Wir könnten unsere eigene Stadt starten und nach Fabr-Suithe fliegen. Wenn sie diese Nomaden nicht freiwillig herausgeben – « »Chef…« 91 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Ja?« »Wie wollen Sie uns vom Boden hochbringen?« Amalfi stieg das Blut ins Gesicht. Er fluchte. »Die Maschine in der dreiundzwanzigsten Straße habe ich natürlich vergessen. Miramon, wir müssen aus Ihren Raketen eine Kampfgruppe bilden. Hasselton, wie machen wir das? Schwere Waffen können in die Hevierschiffe nicht eingebaut werden. Weder für einen Reibungsfelderzeuger noch für eine große Mesotronkanone ist Platz genug vorhanden. Es ist aber sinnlos, mit Spielzeugpistolen hinzufliegen. Glauben Sie, wir könnten einen Gasangriff starten?« »In einer Hevierrakete können wir auch nicht genügend Gas mitnehmen, ja nicht einmal genügend Leute für einen Überfall.« »Entschuldigen Sie«, sagte Miramon, »aber es ist noch nicht einmal sicher, daß die Priester die Verwendung unserer Flugzeuge gegen Fabr-Suithe genehmigen. Am besten fahren wir gleich zum Tempel und fragen um Erlaubnis.« »Himmeldonnerwetter!« sagte Amalfi. Es war der älteste Fluch in seinem ganzen Repertoire. In der kleinen Rakete war jede Verständigung selbst mit Hilfe der elektronischen Geräte unmöglich. Der ganze Apparat dröhnte wie eine riesige Trommel. Mürrisch sah Amalfi zu, wie Hasselton im Bug die Energieleitungen an den Kernreaktor anschloß. Dabei das Gleichgewicht zu halten, war bei den ständigen Sturzflügen, die die Rakete bei ihrem Flug durch die tückischen Böen durchführen mußte, keine Kleinigkeit. Der Kernreaktor selbst war natürlich einfach zu bedienen. Er bestand nur aus einem Behälter in der Größe eines Glasziegels, der mit feinem weißem Schaum gefüllt war: schweres Wasser mit einer Uran-235Hexafluoridlösung, von Cadmiumdampfblasen durchsetzt. Am meisten wogen die Schutzabdeckungen und das Röhrenzweigwerk des Wärmeaustauschers. Mit den Priestern hatte es keinerlei Schwierigkeiten gegeben. Sie waren von der Vorstellung erfreut gewesen, daß die Boten aus dem Großen Zeitalter einer abtrünnigen Hevierstadt zeigen 92 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
würden, auf welch falschem Wege sie sich befand. Amalfi verdächtigte den guten Miramon, daß dieser die Notwendigkeit der vorherigen priesterlichen Genehmigung nur vorgeschützt hatte, um die zwei Nomaden nochmals in sein gräßliches Fahrzeug zu bekommen und ihre Gesichter während der Fahrt beobachten zu können. Trotzdem waren die Unannehmlichkeiten dieser Fahrt unbedeutend gewesen im Vergleich zu dem jetzigen Flug. Der Pilot trat auf die Pedale. Die Rakete stürzte nach unten. Unter Amalfis Nase sauste eine Metalltür vorbei, und er fand sich plötzlich in einer Lage, aus der er durch Nebelschleier auf einen völlig verrutschten Dschungel sah. Etwas Langes, Dünnes und gefährlich Aussehendes flammte darüber hinweg und war verschwunden. Im selben Augenblick ertönte ein durchdringendes, unmenschliches Kreischen, das sogar den Lärm der Rakete übertönte. Dann kam es wieder. Die Rakete machte jedesmal einen Satz und taumelte und kurvte über dem Dschungel. Amalfi hatte sich in seinem ganzen Leben noch nicht so hilflos gefühlt. Er wußte nicht einmal, was der Krach bedeuten sollte. Das einzige Sichere war nur seine Feindseligkeit. Den dumpfen Ton der Sprengstoffexplosionen kannte er, denn die Stadt nahm oft Sprengungen vor, aber er konnte sich an nichts erinnern, das Geräusche wie ein wahnsinnig gewordenes Bohrgerät machte, und das unsichtbare Ding, das so seltsame Schreie ausstieß, das gab es bei ihnen überhaupt nicht. Er staunte über die plötzliche Entdeckung, daß der ganze Raketenrumpf mit kleinen Löchern übersät war, mit wirklichen Löchern, durch die schrillpfeifende Luft hereindrang. Es schien ihm, als brauche er drei Wochen zu der Erkenntnis, daß das Krachen und Kreischen, das er nicht verstand, das Schiff zu durchlöchern und ihn jeden Augenblick zu töten vermochte. Jemand schüttelte ihn. Er taumelte auf die Knie und versuchte sich aufzurichten. »Amalfi! Amalfi!« Die Stimme, obwohl sie ihm ins Ohr brüllte, schien Tausende von Kilometern entfernt zu sein. »Schnell an 93 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
einen Posten, schnell! Sie werden uns gleich abgeschossen haben – « Draußen explodierte etwas und warf Amalfi wieder auf den Boden. Hartnäckig kroch er zu der Tür und blickte durch das zerschossene Glasfenster. Die Hevierstadt raste auf den Kopf gestellt an ihm vorbei. Er bekam plötzlich einen Schwindelanfall. Die Stadt verlor sich hinter einem Tränenschleier. Als sie das zweite Mal auftauchte, gelang es ihm, das Gebäude mit der stärksten Verteidigung auszumachen, und er deutete hustend darauf hin. Die Rakete stellte sich auf den Kopf und stürzte mit der Nase voraus auf den Boden zu. Amalfi klammerte sich an den Rand der Türe, während aus seinen zerschundenen Fingern das Blut spritzte. »Jetzt!« Keiner konnte ihn hören, aber Hasselton sah sein Nicken. Weißglühendes Licht breitete sich aus, das trotz der Schutzabdeckung hinter dem Kernreaktor hervordrang. Bis in den hintersten Winkel seines Gehirns vermeinte Amalfi, das violettweiße Licht der geräuschlosen Explosion zu sehen, das ihn fast erblinden ließ. Die Rakete schwankte plötzlich wild. Einen Augenblick später war sie wieder unter Kontrolle gebracht. Der Geschützlärm war im gleichen Augenblick verstummt, als die Explosion erfolgte. Die hevische Räuberstadt war erblindet. Die Düsenmotoren wurden abgestellt, und Amalfi verstand zum erstenmal, was eine ›schmerzhafte Leere‹ war. Die Rakete setzte zu einem steilen Gleitflug an, und die Luft pfiff wild am Rumpf vorbei. Eine andere Rakete, unter der Führung Carrels, tauchte vor ihm hinunter und fegte mit den Mesonengewehren eine enge Landebahn in den Dschungel, weil die wuchernde Vegetation bis in die Räuberstadt vorgedrungen war. Kaum hatte die Rakete aufgesetzt, als Amalfi und eine Handvoll Nomadenleute und Hevier herauskletterten und durch den 94 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Schlamm wateten. Aus Fabr-Suithe drangen entsetzliche Schreie – menschliche Schreie jetzt –, Wut und Entsetzen von Menschen, die sich für das ganze Leben blind glaubten. Amalfi zweifelte nicht daran, daß das für viele tatsächlich zutraf. Es war sicher, daß niemand, der in dem Sekundenbruchteil zum Himmel geschaut hatte, als die gesamte Reaktorleistung in sichtbares Licht umgewandelt wurde, jemals wieder würde sehen können. Durch die Gesetze des Zufalls aber würden die meisten der Renegaten verschont geblieben sein, darum war Eile das erste Gebot. Der Schlamm wuchs an Amalfis Sohlen zu großen Klumpen, und der Dschungel lichtete sich erst, als sie die Stadtmauer erreichten. Die Tore waren schon seit Jahren verrostet, und die Hevier hackten sich mit Messern eine Bahn durch das wirre Pflanzenreich. Selbst in der Stadt ging es kaum schneller vorwärts. FabrSuithe bot ein bedrückendes Bild. Die meisten Gebäude waren von Ranken umgeben und viele schon halb verfallen. Eisenharte Lianen hatten sich zwischen Steine gebohrt, waren durch Fenster eingedrungen, unter Simse, durch Rohre und Kamine geklettert. Giftig grüne Blätter legten sich gierig auf jede Oberfläche, und an schattigen Plätzen konnte man riesige blutrote Schwämme finden, die einen entsetzlichen Geruch ausströmten. Der süßliche Gestank erfüllte die ganze Luft. Sogar zwischen den Pflastersteinen sprossen Pflanzen – unvermeidbar, da man fehlende Steine aus Unkenntnis oder aus Faulheit durch frische Holzblöcke ersetzt hatte. Das Schreien wurde leiser und erstarb zu Wimmern. Amalfi versuchte alles, um nur nicht die getroffenen Bewohner ansehen zu müssen. Ein Mensch, der glauben muß, für sein Leben mit Blindheit geschlagen zu sein, bietet keinen schönen Anblick, auch wenn er sich täuscht. Trotzdem konnte man nicht übersehen, wie sich in der Stadt schmutziger Glanz und strahlende, saubere Nacktheit mischten. Es war, als hätten sich zwei verschiedene Perioden getroffen. Die Stadtbewohner, die dem Dschungel keinen Widerstand mehr entgegensetzten, 95 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
hatten offenbar entdeckt.
andererseits
das
Vergnügen
des
Badens
»Amalfi, hier sind sie – « Die unterdrückte Sympathie des Bürgermeisters für die geblendeten Menschen verschwand völlig, als er die gefangenen Nomaden sah. Sie waren von Anfang an systematisch mißhandelt worden, und anschließend hatte man ihnen einige freundliche Aufmerksamkeiten erwiesen, die alle Auswüchse der Wildheit und Verkommenheit in sich vereinigten. Einer von ihnen war gnädigerweise zu Beginn der ›Befragung‹ von seinen Kameraden erwürgt worden. Ein anderer, der auf einer Tragbahre lag, wäre zu retten gewesen, weil er noch vernünftig sprechen konnte. Er bat jedoch so flehentlich um den Tod, daß ihn Amalfi in einer Aufwallung von Mitleid erschoß. Die anderen drei Männer konnten gehen und sprechen, aber zwei davon waren wahnsinnig geworden. Der katatonische Irre wurde auf einer Bahre hinausgetragen, und der manischdepressive Mann wurde gebunden, geknebelt und behutsam weggeführt. »Wie haben Sie es geschafft?« fragte der noch vernünftige Mann in Russisch, der toten Weltsprache der Erde. Er war nur noch ein menschliches Skelett, strahlte aber eine erstaunliche persönliche Kraft aus. Er hatte schon zu Anfang der ›Befragung‹ seine Zunge verloren und sich selbst gelehrt, auf künstlichem Wege zu sprechen. Es klang unheimlich, aber man konnte ihn verstehen. »Die Wilden kamen herunter, um uns umzubringen, sobald sie ihre Raketen hörten. Dann gab es plötzlich einen Blitz, und sie fingen alle an zu schreien – ein wohltuendes Geräusch, das können Sie mir glauben.« »Bestimmt«, sagte Amalfi. »Sprechen Sie Interlingua? Gut. Mein Russisch ist sehr mangelhaft. Dieser ›Blitz‹ war eine Photonenexplosion. Es war der einzige Weg, der uns einfiel, Sie hier noch lebendig herauszuholen. Erst wollten wir es mit Gas versuchen, aber wenn sie Gasmasken gehabt hätten, wären Sie trotzdem umgebracht worden.« »Ich habe zwar keine Masken gesehen, aber ich glaube, daß sie welche haben. In dieser Gegend gibt es wandernde 96 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Vulkangaswolken, und dagegen müssen sie irgendein Absorptionsmittel entwickelt haben – Holzkohle wird hier viel verwendet. Glücklicherweise waren wir bisher unter der Oberfläche, sonst wären wir auch blind geworden. Ihr müßt also Techniker sein.« »Mehr oder weniger«, gab Amalfi zu. »Eigentlich sind wir Bergbau- und Petroleumfachleute, aber wir haben eine ganze Reihe von Nebenfähigkeiten entwickelt, seit wir im Weltraum reisen, wie wohl jede Nomadenstadt. Auf der Erde waren wir eine Hafenstadt, und gemacht wurde nahezu alles, aber hier im Weltraum muß man sich spezialisieren. Hier ist unsere Rakete – klettern Sie ’rein. Es ist ungemütlich, aber ein Beförderungsmittel. Was sind Sie von Beruf?« »Landwirtschaftsexperten. Unser Bürgermeister dachte, daß hier am Rande der dicht besiedelten Gebiete Nachfrage bestünde. Wir wollen verlassenen Kolonien und ihren Einwohnern beibringen, wie man vergifteten Boden bearbeiten und Felder mit großem Ertrag ohne Maschinenparks abernten kann. Unser Nebengebiet sind Antibiotika aus Bodenprodukten. Das war es, was die Piraten von uns wollten – und bekamen. Diese dreckigen Kerle! Sie geben sich nicht mit Gesundheitspflege ab – nein, sie überfallen lieber eine anständige Stadt, weil sie wegen einer Epidemie Medikamente brauchen. Germanium wollten sie natürlich auch. Sie zerstörten die ganze Stadt, als sie herausfanden, daß wir keines hatten. Wir haben uns völlig auf Tauschhandel umgestellt, seit wir die letzten Handelswege verließen.« »Was ist aus Ihrem Passagier geworden?« fragte Amalfi mit gespielter Gleichgültigkeit. »Doktor Beetle? Nein, so hieß er nicht. Ich konnte seinen Namen nicht einmal aussprechen, als ich noch eine Zunge hatte. Ich glaube nicht, daß er noch lebt. Er mußte sogar in unserer Stadt in einem Tank leben, darum kann ich mir nicht vorstellen, daß er die Fahrt mit der Rettungsrakete überstanden hat. Er war ein Myrdier, übrigens ein schlauer Bursche. Sein treibstoffloser Antrieb – « 97 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Draußen krachte ein Schuß; Amalfi zuckte zusammen. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir verschwinden – die Leute bekommen ihre Sehkraft wieder. Hasselton, ist etwas Besonderes vorgefallen?« »Nein, nichts Wichtiges, Chef. Sind alle drin?« »Ja. Los.« Das Feuer wurde wieder mit einigen Salven eröffnet. Die Rakete krachte, brüllte auf und stellte sich senkrecht. Amalfi atmete bei der jähen Beschleunigung tief ein und sah sich nach dem Fremden um. Er war immer noch sicher angeschnallt und sah entspannt aus. Eine Kugel, die durch den Raketenrumpf gedrungen war, hatte ihn genau in den Kopf getroffen. Es war eine schwierige und zeitraubende Aufgabe, aus den Wahnsinnigen etwas herauszubekommen. Selbst der ManischDepressive, den man halbwegs zum Bewußtsein gebracht hatte, konnte nur wenig berichten. Das Rettungsboot war nicht durch Hasseltons Warnung über den Dirac-Sender nach Heva gekommen. Weder die zerstörte Stadt noch das Rettungsschiff waren mit einem Dirac-Sender ausgerüstet gewesen. Das Boot war, wie Amalfi vorausgesagt hatte, nach Heva gekommen, weil dort die einzige Landemöglichkeit in der Wüste des ›Abgrunds‹ war. Selbst dorthin gelangten die Flüchtlinge nur durch Tiefschlaf und strenge Hungerrationen. »Ist Ihnen der Pirat noch einmal begegnet?« »Nein. Nach Ihrer Warnung über den Dirac-Sender dachten die Piraten sicher, die Polizei hätte sie geortet. Daraufhin werden sie wohl sofort verschwunden sein. Vielleicht haben sie auch gedacht, auf diesem Planeten befände sich ein militärischer Stützpunkt oder eine hochentwickelte Kultur.«
98 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Das ist reine Vermutung«, sagte Amalfi barsch. »Was ist mit Doktor Beetle geschehen?« Der Mann sah überrascht auf. »Der Myrdier im Tank? Ich nehme an, daß er mit der Stadt in die Luft geflogen ist.« »Man hat ihn fortgeschafft?«
nicht
mit
einer
anderen
Rettungsrakete
»Das glaube ich nicht. Aber ich war nur Pilot. Es könnte sein, daß man ihn aus irgendeinem Grund im Schiff des Bürgermeisters weggebracht hat.« »Sie wissen nichts über seinen treibstofflosen Antrieb?« »Das ist das erste, was ich darüber höre.« Amalfi war nicht zufrieden. Er vermutete im Gedächtnis des Fremden immer noch eine Lücke. Mehr war aber nicht aus ihm herauszubringen, und Amalfi mußte sich damit zufriedengeben. Man konnte daher nur oberflächlich schätzen, welche und wie viele Waffen die Piraten besaßen. Der Fremde wußte nichts darüber, aber der Nervenspezialist der Stadt ließ durchblicken, daß aus dem Katatoniker in ein oder zwei Monaten etwas herauszubringen sei. Bis jetzt hatte er noch nicht einmal die Aufmerksamkeit dieses Mannes erwecken können. Amalfi mußte auch diese Tatsache hinnehmen. Nachdem der große Tag der Achsenkorrektur für Heva immer näher rückte, konnte er sich nicht über andere Probleme das Hirn zermartern. Er hatte bereits beschlossen, die Planetenrinde verstärken zu lassen, weil das die einzige Möglichkeit war, riesige Vulkanausbrüche zu verhindern, sobald das geo physikalische Gleichgewicht des Planeten verändert würde. An zweihundert verschiedenen Stellen der Oberfläche Hevas trieben Bohrgruppen lange, schmale Schächte bis zur Druckflüssigkeit des Planetenkerns vor. Die Schächte wurden auf komplizierte Weise miteinander verbunden. Durch die Bohrungen war bisher nur ein einziger Vulkan hervorgerufen worden. Im allgemeinen waren die Lavahöhlen bereits vorher entdeckt und angezapft worden, so daß der Lavastrom in zahlreiche Kanäle ablaufen konnte, ohne die Oberfläche überhaupt zu erreichen. Nachdem das 99 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
flüssige Gestein hart geworden war, bohrte man die verstopften Kanäle mit Mesonengewehren wieder auf. Bis zu der Druckflüssigkeit waren die Schächte noch nicht vorgedrungen. Man hatte vor, sie alle zur gleichen Zeit zu vollenden. Dann würden bestimmte, mit einem Kanalnetz durchzogene Vulkangebiete nachgeben und riesige Pfropfen an die Rinde emportreiben, eiserne Pfropfen, die mit gewaltigen eisernen Trägern in den einzelnen Kanälen untereinander verbunden sein würden. Heva mußte ein grausames Korsett tragen, das nur ganz geringe Bewegungen gestattete. Das Wärmeproblem erschien ungleich schwieriger, und Amalfi war sich nicht sicher, ob er die richtige Lösung gefunden hatte. Der bloße Strukturwiderstand würde hohe Temperaturen erzeugen. Die allgemeine Bildung von Harnischflächen drohte die eingelassenen Stützen sofort zu durchschneiden. Die Methoden, die man anwenden wollte, um damit fertig zu werden, waren reichlich drastischer Art und ihre Nachwirkungen noch nicht abzusehen. Im ganzen waren die Pläne jedoch verhältnismäßig einfacher Natur. Sie in die Tat umzusetzen, war zwar schwere, aber unkomplizierte Arbeit. Von den örtlichen Räuberstädten mußte man natürlich einigen Widerstand erwarten. Amalfi hatte allerdings nicht vermutet, daß er fast zwanzig Prozent seiner Mannschaften innerhalb eines einzigen Monats nach dem Angriff auf Fabr-Suithe verlieren würde. Miramon brachte die Nachricht von dem letzten Gemetzel auf einer der Arbeitsstellen. Amalfi saß unter einem Riesenfarn auf einer Anhöhe über der Stadt und dachte über die Hitzeübertragung im Gestein nach, während er eine Schar von Riesenlibellen beobachtete. »Sind Sie sicher, daß die Leute ausreichend geschützt waren?« fragte Miramon vorsichtig. »Einige unserer Insekten – « Amalfi fand die Insekten und den Dschungel fast überwältigend schön. Der Gedanke, alles das so nebenbei zu zerstören, bedrückte ihn. 100 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Doch, sie hatten genügend Schutz«, sagte er kurz. »Wir haben die Arbeitsstellen mit Dicoumarin und Fluorverbindungen besprüht. Außerdem – haben Sie Insekten, die Sprengstoffe verwenden?« »Sprengstoffe? Dynamit? Das sah aber gar nicht so aus – « »Nein, deswegen mache ich mir ja Sorgen. Mir gefallen diese abgeschnittenen Bäume nicht, von denen Sie erzählt haben. Das sieht mehr nach TDX als nach Dynamit oder anderen Explosivstoffen aus. Wir verwenden TDX selbst für Einschnittsprengungen. Es hat den Vorteil, daß es nur in einer flachen Ebene explodiert.« Miramon riß die Augen auf. »Unmöglich. Eine Explosion muß sich doch in alle Richtungen ausbreiten.« »Nicht, wenn es sich um einen Explosivstoff handelt, der aus polarisierten Kohlenstoffatomen aufgebaut ist. Diese Atome können in keine andere Richtung fliegen als im rechten Winkel zum Schwerkraftradius. Aber Sie sehen, worauf ich hinauswill. Ihre Leute kennen zwar Dynamit, aber nicht TDX.« Er schwieg und blickte finster vor sich hin. »Sicher sind einige Verluste auf Überfälle mit Raketenwaffen und Bomben zurückz uführen. Das waren Ihre Freunde aus Fabr-Suithe und ihre Verbündeten. Aber diese Lager, in denen zwar eine Explosion stattgefunden hatte, aber kein Krater zu sehen war – « Er schwieg wieder. Es war sinnlos, auch noch von den Gastoten zu sprechen. Traurig genug, über sie nachdenken zu müssen. Irgend jemand auf diesem Planeten besaß ein Gas, das Reiz -, Atem- und Ätzgas in einem war. Die Männer waren gezwungen, ihre nur gegen Vulkangas schützenden Masken abzulegen, um sich zu erbrechen; dabei hatten sie das Zeug durch Niesen in die Lunge bekommen und waren außerdem am ganzen Körper mit riesigen Blasen bedeckt gewesen. Offensichtlich hatte man das dem Benzolring entstammende Gas Haukesit verwendet, das früher bei den großen Kriegen zwischen Planetenreichen eine Rolle gespielt hatte. Aber wie kam es nach Heva? 101 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Es gab nur eine Antwort. Aus einem ihm selbst nicht verständlichen Grund fühlte sich Amalfi etwas besser. Um ihn herum schwankte und seufzte der Dschungel. Ganze Wolken von Mücken surrten regenbogenfarbig über den taubeladenen Spitzen der Farne. Der Dschungel in seiner murmelnden Schweigsamkeit war ihm nie als der eigentliche Feind erschienen, und Amalfi wußte jetzt, daß er recht gehabt hatte. Der wirkliche Feind hatte sich endlich erklärt, wenn auch heimlich. Aber seine Heimlichkeit war die Naivität selbst im Vergleich zur uralten Arglist des Dschungels. »Miramon«, sagte Amalfi ruhig, »wir sitzen in der Patsche. Die Verbrecherstadt, von der ich Ihnen erzählt habe – der Pirat – , ist bereits hier. Sie muß schon gelandet sein, bevor wir mit unserer Stadt ankamen, jedenfalls lange genug vorher, um sich so gut verstecken zu können. Wahrscheinlich landete sie nachts in einer abgelegenen Gegend. Die Piraten haben sich auf jeden Fall mit Fabr-Suithe verbündet, soviel ist klar.« Amalfi dachte darüber nach, wie sehr er den Feind bisher unterschätzt hatte. Der Pirat wußte anscheinend genau, wie man mit einer neuen Kultur umgehen mußte. Er betätigte den Schalter des Ultraphons an seinem Gürtel. »Hasselton?« »Hier, Chef.« Die Stimme des Direktors wurde von den Geräuschen der Bohrarbeiten übertönt. »Was gibt’s?« »Noch nichts. Haben Sie schon einen Angriff der Räuber gehabt?« »Nein. Wir erwarten auch keinen – Bewaffnung.«
bei unserer guten
»Berühmte letzte Worte«, sagte Amalfi. »Der Pirat ist hier, Mark – und Sie wissen, wen ich meine.« Es wurde still. Im Hintergrund konnte Amalfi die Rufe von Hasseltons Mannschaft hören. Die Stimme des Direktors kam wieder. »Das bedeutet, daß der Pirat schon auf Heva gelandet war, als unsere Warnung über den Dirac-Sender ging. Stimmt’s? 102 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Ich weiß nicht, ob unsere Verluste nicht doch einfacher zu erklären sind, Chef. Ihrer Theorie fehlt – hm – die Feinheit.« Amalfi grinste. »Sie scheint eher Ihrer Kritik zu fehlen«, sagte er. »Schlecht, Mark! Denken Sie doch mal nach: Die Kerle haben uns bisher eingewickelt. Vielle icht ist Ihr Plan mit den Frauen noch zu verwenden, aber um ihn durchführen zu können, müssen wir die Piraten aus ihrem Versteck herauslocken.« »Aber wie?« »Jedermann hier weiß, daß der Planet sich erheblich verändern wird, wenn wir unsere Arbeit beendet haben. Wir sind die einzigen, die genau wissen, was geschehen wird. Die Piraten müssen uns daran hindern, ob sie nun Doktor Beetle gefangen haben oder nicht. Dazu werde ich sie zwingen. Der große Tag wird hiermit um eintausend Stunden vorverlegt.« »Was! Es tut mir leid, Chef, aber das ist völlig unmöglich.« Amalfi bekam plötzlich einen seiner seltenen Zornausbrüche. »Da pfeif ich drauf«, knurrte er. »Machen Sie es trotzdem publik. Vor allem die Hevier sollen es hören. Und um Ihnen zu beweisen, daß ich nicht scherze, Mark: Ich schalte die Stadtväter bei M plus eintausendeinhundert Stunden wieder ein. Wenn Sie es bis dahin nicht geschafft haben, werden Sie wahrscheinlich aufgehängt.« Das Klicken des Schalters, mit dem Amalfi das Gespräch abbrach, war unbefriedigend. Amalfi hätte die Unterhaltung lieber mit etwas wirklich Abschließendem beendet – mit einem hallenden Gongschlag beispielsweise. Er drehte sich rasch zu Miramon um. »Was starren Sie mich so an?« Der Hevier machte den Mund zu und wurde rot. »Verzeihung«, sagte er. »Ich versuchte nur, Ihrem Gespräch zu folgen, um vielleicht von Nutzen sein zu können. Sie verwendeten jedoch derart unverständliche Ausdrücke, daß das Ganze wie ein theologischer Streit klang. Ich persönlich streite mich nie über
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Politik und Religion.« Er drehte sich auf dem Absatz um und stampfte durch die Bäume davon. Amalfi sah ihm nach und beruhigte sich langsam. So ging es nicht. Er schien alt zu werden. Während des Gesprächs mit Hasselton hatte er gemerkt, wie sein Temperament die Oberhand über das logische Denken gewann. Wenn das so weiterging, würden ihn die Stadtväter bald absetzen und einen beständigeren Charakter zum Bürgermeister wählen. Nicht Hasselton, sondern irgendeinen gefühllosen jungen Fant, der sich genau nach den Regeln richtete. Er hatte also kein Recht, anderen Leuten mit der Liquidierung zu drohen. Amalfi ging ganz in Gedanken versunken auf seine Stadt zu, die im grellen Sonnenlicht lag. Er war jetzt etwas über siebenhundert Jahre alt, stark wie ein Stier, geistig aktiv und unermüdlich, mit gutem Hormonhaushalt, alle achtundzwanzig Sinne in Ordnung, seine besondere Fähigkeit – der Orientierungssinn – so unfehlbar wie nur je zuvor. Alles in allem war er so vernünftig, wie ein Weltraumfahrer nur immer sein konnte. Durch die Antimortalika würde er praktisch unbegrenzt in dieser Verfassung bleiben, soweit man da Bescheid wußte – nur das Problem der Geduld war nicht zu lösen. Es war merkwürdig. Ehe der Tod endgültig besiegt war, hatte man angenommen, daß die Langlebigkeit zur Qual werden würde, weil die Fassungskraft des menschlichen Gehirns nicht unbegrenzt ist. Aber inzwischen gab es keinen Menschen mehr, der Wissen im Gehirn speicherte. Dafür waren die Stadtväter und ähnliche Maschinen da. Die Menschen selbst gaben sich nur mehr mit Denkprozessen ab. Wenn sie etwas wissen wollten, konnten sie die Maschinen fragen. In manchen Fällen überließ man sogar das einfachere Denken den unzerstörbaren Maschinen und entlastete das menschliche Gehirn. Ein Beispiel war der Rechenschieber. Amalfi fragte sich plötzlich, ob es in der ganzen Stadt einen einzigen Mann gab, der die Grundrechnungsarten beherrschte. Nein, das Gedächtnis war kein Problem. Aber nach siebenhundert Lebensjahren fiel es schwer, Geduld zu haben. 104 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Er stand vor einer Luftschleuse, die mit braunem Schmutz bedeckt war. In der gewaltigen Granitplatte, auf der sich die Stadt erhob, war das abgetrennte Ende einer uralten Untergrundbahn in Manhattan als Luftschleuse ausgebaut worden. Sie wurde nur selten benützt, weil sie sowohl vom Empire State Building als auch vom Rathaus sehr weit entfernt war. Amalfi betrat die Schleuse. Drinnen erdröhnte der Gang von haarsträubenden, endlos widerhallenden Schreien. Es klang wie das Brüllen eines verwundeten Dinosauriers, oder besser, einer ganz en Herde von Dinosauriern. Außerdem war das Zischen eines starken Wasserstrahles zu hören. Jemand lachte hysterisch. Erschrocken rannte Amalfi einige Treppen hinauf. Der Lärm wurde stärker. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und stürmte durch die Tür, hinter der das Gemetzel stattzufinden schien. In der ganzen Stadt hatte es noch keinen derartigen Raum gegeben. Es war ein großer, dampfender, ringsum gekachelter Saal. Die Fliesen waren schmierig und beschmutzt, also alt, sehr alt. Auf dem Boden formten kleinere, sechseckige weiße Kacheln ein sich endlos wiederholendes Mosaik, das Amalfi an die chemische Formel von Haukesit erinnerte. Gruppen von unbekleideten Frauen rannten ziellos hin und her und schrien, schlugen an die Wände oder wälzten sich auf dem Boden. In Abständen von wenigen Sekunden erfaßte ein dicker, dampfender Wasserstrahl eine der Frauen, die dann heulend davon rannte. An der Decke waren lange Reihen von Duschen angebracht, aus denen in feinen Strahlen Wasser herab sprühte. Amalfi war sofort patschnaß. Das Lachen wurde lauter. Der Bürgermeister beugte sich schnell hinunter, zog seine schmutzigen Schuhe aus und versuchte, dem Gelächter nachz ugehen. Der starke Wasserstrahl kam auf ihn zu und wurde sofort wieder abgelenkt. »John! Brauchen Sie so dringend ein Bad? Kommen Sie, machen Sie mit!« Es war Dee Hasselton. Sie war ebensowenig bekleidet wie ihre Opfer und handhabte mit sichtlichem Vergnügen den großen 105 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Schlauch. Sie sah sehr hübsch aus. Amalfi mußte sich zwingen, seine Gedanken einem anderen Thema zuzuwenden. »Macht das nicht Spaß? Gerade sind wieder Frauen angekommen. Ich habe Mark gebeten, mir diesen alten Feuerwehrschlauch anzuschließen, damit ich ihnen das erste Bad verabreichen kann.« Dee hatte sich sehr verändert. »Was ist das eigentlich für ein Raum? Ich kann mich an diese Folterkammer gar nicht erinnern.« »Mark behauptet, daß es früher einmal ein öffentliches Bad war, von denen noch mehrere vorhanden sein sollen. Ich habe dieses Bad benützt, um die Frauen einmal richtig abzuspritzen, bevor sie zur medizinischen Abteilung kommen.« »Mit dem Wasser der Stadt?« fragte Amalfi entsetzt. »Aber nein, John, natürlich nicht. Das Wasser wird vom Fluß im Westen herüber gepumpt.« »Wasser zum Baden!« sagte Amalfi. »Kein Wunder, daß die Alten früher oft nicht einmal genug zum Trinken hatten.« Er betrachtete die Hevierfrauen, die sich, nachdem das Wasser abgestellt worden war, in einer warmen Ecke zusammendrängten. Sie sahen gar nicht mehr so erschreckend aus. Hasselton war ein Hellseher, man mußte es ihm lassen. Daß die Hevier Menschen sein würden, war zu erwarten gewesen. Bisher hatte man erst elf nichtmenschliche Zivilisationen entdeckt, und nur die Myrdier und Lyrer besaßen erwähnenswerte Gehirne. Es sei denn, man zählte die Vegas mit. Die Erdbewohner betrachteten sie als nichtmenschlich, während die nichtmenschlichen Kulturen sie als Menschen ansahen. Jedenfalls gab es keine Vegakultur mehr. Es war ein großer Vorteil, daß die Hevier ihre Frauen den Nomaden ohne weiteres überlassen hatten. »Dee, kommen Sie mit zum Astronomiesektor«, sagte Amalfi. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Aber ziehen Sie etwas an, um 106 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Himmels willen, sonst unterstellen mir die Leute noch unlautere Absichten.« »Gut«, sagte Dee widerstrebend. Als sie Shorts anzog, stöhnten die Hevierfrauen auf und verbargen die Gesichter in ihren Händen. Viele von ihnen waren gesteinigt worden, wenn sie sich versehentlich mit einem Kleidungsstück bedeckt hatten, weil auf Heva die Frauen nicht als Menschen galten, sondern als lebende Erinnerung an die Verdammung, doppelt verdammt bei der geringsten Verschleierung. Die Geschichte, dachte Amalfi, wäre ein besserer Lehrmeister, wenn sie sich nicht so idiotisch wiederholte. Er ging den Gang hinauf voran und suchte nach einem Gleitschacht. Im Astronomiesektor starrte Jack wie gewöhnlich auf einen Sternennebel im All und versuchte, elliptische Umlaufbahnen ohne die Hilfe der Stadtväter zu errechnen. »Hallo«, grüßte er. »Amalfi, ich brauche wirklich Hilfe. Wie soll man denn ohne Maschinen arbeiten können? Wenn Sie nur die Stadtväter wieder einschalten würden – « »Bald. Wann haben Sie das letzte Mal den Weg nachgerechnet, den wir hierher zurückgelegt haben?« »Nicht, seit wir vom Rand des ›Abgrunds‹ starteten. Warum, wäre das nötig gewesen? Der ›Abgrund‹ ist nur ein kleiner Kratzer im Kosmos. Man kann nur bei großen Entfernungen den Dingen auf den Grund kommen.« »Das weiß ich. Aber lassen Sie uns einmal nachsehen. Ich habe das Gefühl, daß wir im ›Abgrund‹ nicht so allein sind, wie wir vermutet haben.« Ergeben ging Jack an sein Bedienungspult und drückte auf die Knöpfe, die sein Teleskop steuerten. »Was suchen Sie eigentlich?« wollte er wissen. »Eisenteilchen oder ein vereinzeltes Meson? Oder eine Flotte aus Polizeischiffen?« »Nun«, sagte Amalfi und deutete auf den Bildschirm, »das sind jedenfalls keine Weinflaschen.«
107 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Die Polizeischiffe auf dem Bildschirm waren so nahe, daß sie schon von der Hevasonne beschienen wurden. Sie rasten in einem blitzenden Strom vorbei, Protonenkondensstreifen hinter sich herziehend. »Ja und?« sagte Jack, nicht sehr interessiert. »Kann ich jetzt mein Teleskop zurückhaben?« Amalfi grinste über das ganze Gesicht. Polizei hin, Polizei her – er fühlte sich wieder jung. Hasselton war bis zu den Oberschenkeln mit Schlamm beschmiert. Große Dreckklumpen fielen ab, als er den Schacht zum Steuerungsraum hochglitt. Amalfi beobachtete ihn und bemerkte die Blässe im Gesicht des Direktors, als ihn dieser ansah. »Was ist mit der Polizei?« sagte Hasselton, während er noch halb im Gleitschacht steckte. »Ich konnte die Sendung nicht klar empfangen. Wir wurden überfallen, und draußen ist der Teufel los. Ich hätte es fast nicht geschafft.« Er sprang in den Raum. »Ich habe den Kampf teilweise beobachtet«, sagte Amalfi. »Es sieht so aus, als hätten die Piraten von dem ›großen Tag‹ inzwischen gehört.« »Sicher, Was ist mit der Polizei?« »Sie ist bestimmt nicht mehr hinter uns her«, sagte Amalfi. »Ich begreife aber nicht, warum sie sich wegen des Piraten solche Mühe macht. Ohne Tiefschlaf wären die Polizisten doch gar nicht so weit gekommen. Außerdem habe ich bei unserer Warnung den treibstofflosen Antrieb nicht erwähnt – « »Das war auch gar nicht nötig. Natürlich sind sie hinter dem Piraten her. Eines Tages muß ich Ihnen die Geschichte von der verseuchten Biene erzählen, aber jetzt haben wir keine Zeit. Es bricht alles zu schnell herein. Wir müssen bereit sein, sofort in jeder Richtung zu operieren, gleichgültig, wo es losgeht. Wie ging der Kampf aus?«
108 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Sehr schlecht. Mindestens fünf Räuberstädte sind beteiligt, einschließlich Fabr-Suithe natürlich. Zwei von ihnen sind schwer bewaffnet, vergleichbar etwa dem Hruntareich auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung – ah, ich sehe, daß Sie schon Bescheid wissen. Nun, man macht so eine Art Heiligen Krieg gegen uns. Wir murksen im Dschungel herum und stören ihre Chancen der Erlösung durch das Leiden, so sagen sie. Ich hielt mich aber mit einem Disput über diesen Punkt nicht auf.« »Das ist ungünstig. Damit werden auch einige der zivilisierten Städte mit hineingerissen. Ich bezweifle zwar, daß die Leute aus Fabr-Suithe an einen Heiligen Krieg glauben – sie haben ja keine Religion mehr – , aber als Propagandamasche ist das unbezahlbar.« »Das stimmt. Nur ein paar von den zivilisierten Städten wehren sich wirklich, nämlich jene, die von Anfang an zu uns gehalten haben. Fast alle anderen auf beiden Seiten warten ab, bis wir uns gegenseitig aufgerieben haben. Der größte Nachteil bei all dem ist unsere Unbeweglichkeit. Wenn alle zivilisierten Städte auf unserer Seite wären, würde es nicht so schlimm aussehen.« »Der Feind ist auch nicht beweglicher, jedenfalls so lange nicht, bis die Piratenstadt selbst eingreift«, sagte Amalfi gedankenvoll. »Haben Sie Anzeichen dafür bemerkt, daß die Piraten am Kampf teilnehmen?« »Noch nicht. Lange werden sie aber nicht mehr zusehen. Und wir wissen nicht einmal, wo sie sich verbergen!« »Heute oder spätestens morgen werden sie gezwungen sein, ihr Versteck preiszugeben, das weiß ich genau. Jetzt ist es an der Zeit, daß Sie alle Frauen, die Sie haben, nehmen und als Lockmittel postieren. Soweit man das jetzt erkennen kann, müßte Ihr Plan gelingen. Wenn ich den Piraten entdeckt habe, werde ich Ihnen die Lage der nächstgelegenen Räuberstadt angeben, und dann können Sie anfangen.« Hasseltons Augen, die bisher müde gew irkt hatten, begannen zu glitzern. »Und was machen wir mit dem Tag der Achsenko rrektur?« fragte er. »Ich nehme an, Sie wissen, daß 109 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
nicht ein einziger Ihrer Druckpropfen halten wird, wenn Sie die Arbeit in diesem Stadium abbrechen lassen.« »Ich weiß«, sagte Amalfi. »Damit rechne ich sogar. Wir werden genau auf die Sekunde starten. Es macht mir nichts aus, wenn die Pfropfen herausknallen. Ich bin mir sowieso nicht im klaren, wie wir sonst die ganze Hitze wegbringen wollen.« Die Radarkontrolle gab ihren charakteristischen Piepton von sich, und beide Männer schauten auf den Bildschirm. Eine Fontäne aus grünen Pünktchen war zu sehen. Hasselton machte drei schnelle Schritte und drehte an dem Schalter, der den Planeten in der neuen polykonischen Darstellungsart auf den Bildschirm projizierte. »Was ist, wo befinden sich die Piraten?« fragte Amalfi scharf. »Das müssen sie sein.« »Haargenau in der Mitte des südwestlichen Kontinents, in dem Lianendschungel, wo die kleinen Schlangen leben. An diesem Fleck müßte doch eigentlich ein kochender Schlammsee sein.« »Wahrscheinlich. Sie könnten drin sein und sich mit einem mittelstarken Schutzschirm abgesichert haben.« »Also, dann haben wir sie endlich gefunden. Aber warum zeigt der Radarschirm diese grüne Fontäne aus kleinen Pünktchen? Was schießen die Piraten in die Höhe?« »Minen, nehme ich an«, sagte Amalfi. »Mit Zeitzündern. Satelliten.« »Minen? Das fehlt uns noch«, erwiderte Hasselton. »Die Kerle werden sich natürlich eine Fluchtlücke offenlassen, die wir niemals finden können. Wir sind unter einem Plutoniumschirm eingekesselt, Amalfi.« »Wir kommen schon heraus. Außerdem können während der Zwischenzeit auch die Polizisten nicht landen. Stellen Sie die Falle mit den Frauen, Mark. Und – ziehen Sie sie vorher an. Das wird mehr Aufsehen erregen.«
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»Das möchte ich wetten«, sagte der Direktor mit Betonung. Er trat in den Schacht und glitt hinunter. Amalfi ging auf die Beobachtungsplattform des Kontrollturms hinaus. Von dort aus konnte er die ganze Stadt überblicken, bis zum Verteidigungsgürtel, weil der Turm, der immer noch Empire State Building hieß, das höchste Bauwerk der Stadt war. Gegen den Hintergrund eines großartigen Tropensonnenunterganges konnte man den Kampflärm hören und sogar gelegentlich eine winzig kleine Figur umfallen sehen. Die Stadt hatte die Gewohnheit der Hevier übernommen und den Schlamm am Stadtrand vom Dschungel gesäubert und zur festen Masse erstarren lassen. Bei den ersten Zeichen des Angriffs war die Masse wieder in zähen, saugenden Morast verwandelt worden. Die angreifenden Räuber besaßen jedoch breite Metallskier, mit denen sie über den Schlamm rutschten. Wie Schwingen des Todes durchführen explodierende TDX-Granaten mit roten Feuerscheiben die Luft. Bis jetzt war noch kein Gas angewendet worden, aber Amalfi wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, sobald sich die Piraten einschalteten. Vom Vergeltungsfeuer der Stadt war nichts zu sehen, weil es unterhalb des Verteidigungsgürtels abgeschossen wurde. Man hatte einen Bethéschutz angebracht, damit der Stadtrand nicht erklettert werden konnte, solange die Projektoren funktionierten. Viele schwere Mesonengewehre waren ständig in Aktion. Aber die Stadt war nicht für den Krieg gebaut, und ihre mächtigsten Waffen lagen mit der Nase voraus im Schlamm, weil sie nur dazu bestimmt waren, einen Landeplatz zu roden. Bethéstrahler konnten nicht verwendet werden, solange sich eine planetarische Masse in der Nähe befand. Glücklicherweise, mußte man sagen, weil nur der Pirat einen Strahler hatte, die Stadt aber nicht. Amalfi beobachtete gespannt den Kampf. Auf dem Bildschirm zeichnete sich noch keine klare Taktik ab. Erst langsam kristallisierte sich ein verständlicher Plan heraus. Unter Amalfis Hand an der Brüstung waren drei Knöpfe angebracht, dieselben wie auf der Rathausplattform. Sie setzten zu verschiedenen Zeiten verschiedene Prozesse in Bewegung. Jedesmal aber war Amalfi vor die Wahl gestellt, welche Aktion er veranlassen 111 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
mußte, wenn es brenzlig wurde. Eine vierte Möglichkeit war von ihm nie in Betracht gezogen worden. Über ihm heulten Raketen. Bomben wurden abgeworfen und verursachten knatternde Explosionen aus Rauch und fliegenden Metalltrümmern. Amalfi schaute nicht auf. Der leichte Rotatronschutzschirm hielt alles ab, was schnell flog. Nur Objekte mit langsamer Bewegung, Menschen zum Beispiel, konnten durch ein polarisiertes Schwerefeld dringen. Er schaute zum Horizont und bewegte die Finger spielerisch über den drei Knöpfen. Plötzlich war die Sonne verschwunden. Amalfi, der noch nie vor seiner Landung auf Heva einen tropischen Sonnenuntergang erlebt hatte, schrak zusammen, aber soviel er wußte, war das ganz natürlich, wenn auch überraschend. Nach einer Weile konnte man weit vorne einen Luftkampf beobachten. Anscheinend war Miramons Luftwaffe mit der der Fabr-Suithe aneinandergeraten. Der Dschungel ergoß heulend Zorn und Hohn über Amalfis Stadt. Amalfi stand so in den Anblick des Bildschirms versunken, daß die Welt um ihn herum aus seinem Bewußtsein fast verdrängt wurde. Es war sehr schwierig, die sich abzeichnende Entwicklung des Kampfes zu erkennen, denn von solcher Nähe aus hatte er noch nie entscheiden müssen. Die mit Feuer in den Himmel geschriebene Bahn jedes einzelnen Projektils, auf dem Bildschirm deutlich zu unterscheiden, schien seine ganze Aufmerksamkeit fesseln zu wollen. Etwa eine Stunde nach Mitternacht, während des bisher schwersten Luftangriffes, fühlte er eine Berührung an seinem Arm. »Chef…« Amalfi hörte das Wort wie aus der Tiefe des ›Abgrunds‹. Die immer noch aufsteigende Fontäne der Raumminen, die die Piraten in die Höhe schossen, war gerade am Rande des 112 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Bildschirms aufgetaucht – ein Zeichen dafür, daß Brian, der die Erkundungsrakete dirigierte, die Piratenstadt aufgespürt hatte. Amalfi versuchte, die Form der Fontäne an ihrer Spitze abzuschätzen. Irgendwo hoch oben plättete sich die Fontäne in eine Schale aus Geschossen ab, die in verschiedenen Umlaufbahnen ganz Heva umkreisten. Es war wichtig, zu wissen, in welcher Höhe diese Schale lag. Aber die völlige Erschöpfung, die aus der Stimme Hasseltons klang, berührte Amalfi tief. Er sagte: »Ja, Mark?« »Es ist geschafft. Wir haben zwar nahezu alle Leute in der Gruppe verloren, aber die Frauen sind ausgesetzt. In einer Lichtung, die man von den Piraten aus sehen kann. Sie können sich nicht vorstellen, was los war.« In seiner Stimme machte sich für einen Augenblick etwas wie Belebung bemerkbar. »Sie hätten dabeisein müssen.« »Ich bin fast schon dort. Das Bild kommt gerade von einer Erkundungsrakete herein. Gut gemacht, Mark… Legen Sie sich nieder.« »Was, jetzt? Aber, Chef…« Etwas ganz Großes beschrieb auf dem Bildschirm einen Bogen, und die Stadt wurde in magnesiumweißes Licht getaucht. Als der Widerschein der Explosion verblaßte, zeigte der Bildschirm einen umrißlosen, gelblichen Nebel, der sich langsam ausbreitete, als hätte jemand einen Topf mit gelber Farbe verschüttet. Amalfi hatte das erwartet. »Gasalarm, Mark«, hörte er sich sagen. »Das ist bestimmt Haukesit. Lassen Sie an alle Leute Bariumschutzanzüge ausgeben – das Zeug verursacht gräßliche Qualen.« »Jawohl, wird gemacht, Chef. Sind Sie die ganze Zeit hier oben gewesen? Das halten Sie nicht durch. Sie brauchen Ruhe nötiger als ich.« Amalfi hatte keine Zeit, zu antworten. Brians Rakete hatte die Stadt erreicht, bei der sich die Frauen befanden. Amalfi betätigte einen Schalter, der das Bild von einer Rakete übernahm, die sich 113 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
in eineinhalb Kilometer Höhe über dem Kampffeld befand. Man konnte deutlich schwarze Streifen erkennen – Reihen von Soldaten, die durch den Dschungel marschierten. Einige davon, die zuerst Amalfis Stadt angegriffen hatten, kehrten gerade um. Aus den umliegenden Hevierstädten, die bisher am Kampf nicht teilgenommen hatten, marschierten ebenfalls Kolonnen von Soldaten. Offensichtlich beteiligten sie sich jetzt erst am Kampf, wobei noch nicht zu erkennen war, auf welche Seite sie sich schlagen würden. Amalfi schaltete wieder um. Auf dem Schirm leuchtete ein scharfes Bild des kochenden Schlammsees, aus dem die Minen schossen. Dort spielte sich etwas ganz Neues ab. Der brodelnde Schlamm floß langsam und zäh von der Mitte des Sees zu den Rändern ab. Plötzlich zeigte sich im Mittelpunkt, wie bei einem riesigen Strudel, ein Loch, das langsam immer größer wurde. Die Piratenstadt kam an die Oberfläche. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ihr Rand an den Seeufern auftauchte. Dann ergossen sich schwarze Fäden in die Dunkelheit des Dschungels: Der ›Pirat‹ setzte endlich seine eigenen Leute ein. Wohin sie sollten, war klar genug zu sehen. Alle Kolonnen marschierten in Richtung der Stadt, in deren Nähe Hasselton die Frauen untergebracht hatte. Die Piratenstadt selbst lag wartend auf dem Schlammsee. Trotz des enormen Massedruckes des Planeten Heva spürte Amalfi mit seinem räumlichen Orientierungsgefühl die merkwürdige, Übelkeit verursachende Empfindung, die ein mit mittlerer Kraft betriebenes Rotatronfeld auslöst. Es wurde langsam hell. Der Aufruhr in der Nähe der Stadt, in der sich die Frauen befanden, legte sich etwas. Als die erste der Kampfgruppen aus der Piratenstadt die Stadt erreichte, flammte der Kampf mit voller Stärke auf. Die Piraten bekämpften ihre eigenen Verbündeten. Plötzlich war die Hevierstadt im Mittelpunkt des Kampfes verschwunden. Man sah nur noch einen riesigen Rauchpilz aus 114 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
radioaktivem Gas, das auf dem Bildschirm elektronische Störungen hervorrief. Die Piraten hatten die Stadt mit Gas bombardiert. Die übriggebliebenen Soldaten zogen sich langsam in Richtung auf den Schlammsee zurück. Die Piraten hatten die Frauen erbeutet und lieferten nur noch ein Rückzugsgefecht. Das würde sich schnell herumsprechen, dachte Amalfi. Amalfis eigene Stadt war in einen Nebel süßlichgiftigen Oranges eingehüllt, aus dem gelegentlich farblose Blitze herausbrachen. Das Blasengas konnte nicht als Ganzes durch den Rotatronschirm eindringen, aber Molekül um Molekül schlich sich ein. Der Bürgermeister bemerkte plötzlich, daß er seine eigene Gaswarnung nicht befolgt hatte und mit den Folgen rechnen mußte. Er fuhr auf und bewegte sich leicht. Er war völlig eingeschlossen. Was… Bariumpaste. Hasselton wußte, daß Amalfi die Plattform nicht verlassen konnte und hatte ihn von Kopf bis Fuß mit der Paste beschmiert. Sogar die Augen Amalfis waren mit einem durchsichtigen Schutzschirm bedeckt, und vor seiner Nase befand sich ein Bariumfilter. Um das Gas brauchte er sich also keine Sorgen zu machen. Die Spannungen im Umkreis der Piratenstadt steigerten sich immer mehr. Hoch oben, gerade außerhalb der Minenschale, schwebten die ersten Polizeischiffe mit großer Vorsicht langsam herunter. Der Kampf im Dschungel war bedeutungslos geworden. Nachdem die Piraten die Frauen geraubt hatten, waren alle Streitigkeiten zwischen den Heviern vergessen. Räuberstädte und zivilisierte Städte hatten nur mehr ein gemeinsames Ziel: die Zerstörung Fabr-Suithes und seiner Verbündeten. FabrSuithe selbst konnte lange Widerstand leisten, aber für die Piraten war es wirklich an der Zeit, zu verschwinden – Zeit, mit den erstaunten und erfreuten Hevierfrauen, mit den gestohlenen Antimortalika, dem Germanium und was sie sonst noch alles erbeutet hatten, das Weite zu suchen, um im ›Abgrund‹ unterz utauchen, bevor die Erdpolizei auf Heva gelandet war. Das Schwerefeld um die Piratenstadt ballte sich plötzlich zusammen, und sie stieg aus dem kochenden Schlammsee auf. 115 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Eine Sekunde später würde sie durch eine Lücke im Minenschirm verschwunden sein, die nur sie selbst kannte. Amalfi drückte auf den Knopf. Der ›große Tag‹ begann. Die Achsenkorrektur begann damit, daß sechs Säulen aus gleißender Weiße, jede sechzig Kilometer im Durchmesser, aus dem weichen Boden herausschossen. Fabr-Suithe war auf einem dieser Punkte gewesen. Die Räuberstadt war nur noch eine Aschenflocke, die auf einem weißglühenden Kolben in die Höhe getrieben wurde. Die Säulen stürzten sich donnernd mit unvorstellbarer Kraft in den Himmel – einhundert, zweihundert, fünfhundert Kilometer – und barsten oben auseinander. Der Hevahimmel brannte eisblau von Stahlmeteoren. Draußen rasten die Minen, die Satelliten des Planeten gewesen waren, durch das größte Rotatronfeld der Geschichte, von der Schwerkraft Hevas befreit, in den ›Abgrund‹ hinaus. Und als die Meteore verglüht waren, wuchs die Sonne. Der Planet Heva war auf Rotatronfahrt, sein Magnetpotential umgewandelt in Beschleunigung. Er war die größte Nomadenstadt, die jemals geflogen war. Die Sonne flitzte vorbei und schwand zu einem Pünktchen. Dann war sie weit hinten im All verschwunden. Die ferne Wand des ›Abgrundes‹ wuchs und verwandelte sich in einzelne Lichtpunkte. Heva überquerte den ›Abgrund‹. Erschrocken versuchte Amalfi, die Geschwindigkeit zu messen. Es gelang ihm nicht. Das einzige, was er verstehen konnte, war, daß der Planet flog. Er flog mit einer Geschwindigkeit, die seiner Größe entsprach, einer Geschwindigkeit, die Lichtjahre schluckte, als seien es Meter. Auch nur der Gedanke daran, diesen Flug unter Kontrolle zu bekommen, war Vermessenheit.
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Sterne flitzten an Heva vorbei wie Leuchtkäfer. Heva hatte die andere Seite des ›Abgrundes‹ erreicht. Der Planet machte einen Bogen um den größten Sternennebel und ließ alle Sterne hinter sich. Man ko nnte in der Ferne schon die Milchstraße erkennen. »Chef, wir fliegen aus dem ganzen Milchstraßensystem hinaus! Schauen Sie – « »Ich weiß es. Geben Sie mir eine Ortsbestimmung der alten Hevasonne, sobald wir so hoch über dem ›Abgrund‹ fliegen, daß man sie wieder sehen kann. Sie müssen sich aber beeilen, sonst ist es zu spät.« Hasselton beschäftigte sich fieberhaft mit seinem Rechenschieber. Er brauchte nur eine halbe Stunde, aber wahrend dieser Zeit waren die Sterne so weit hinter ihnen, daß man den ›Abgrund‹ nur noch als langen, schmalen Schatten auf glitzerndem Grunde erkennen konnte. Die Hevasonne war nur noch ein mikroskopisch kleines Lichtpünktchen darin. »Ich glaube, ich hab’s. Aber wir können den Planeten nicht zurückbringen. Wir brauchten Tausende von Jahren, um zur nächsten Milchstraße zu kommen. Wir müssen Heva verlassen, Chef, oder wir sind verloren.« »Gut. Starten Sie die Stadt. Mit voller Kraft.« »Und unser Vertrag – « »Ist erfüllt – mein Wort darauf. Los!« Die Stadt stürmte hinaus in den Weltraum. Heva verschwand, von einer Sekunde zur anderen, im Raum zwischen den Milchstraßen. Miramon würde der erste Pionier einer völlig neuen Rasse sein. Amalfi ging zurück zu den Bedienungspulten, während die Paste von ihm abfiel. Die Luft der Stadt stank noch immer nach Haukesit, aber die Gasmischung war nicht mehr gefährlich. Der Bürgermeister steuerte die Stadt von der Bewegungsrichtung Hevas weg auf neuen Kurs, zurück zur Milchstraße. 117 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Hasselton bewegte sich unruhig. »Rührt sich Ihr Gewissen, Mark?« »Vielleicht«, antwortete Hasselton. »Gibt es in dem Vertrag mit Miramon eine Fluchtklausel, die uns erlaubt, ihn einfach so im Stich zu lassen? Wenn es eine gibt, habe ich sie übersehen, obwohl ich den Vertrag genau studiert habe.« »Nein, es gibt keine solche Klausel«, sagte Amalfi abwesend, während er das Raumflugsteuer um einen Millimeter bewegte. »Den Heviern geschieht nichts. Der Rotatronschutzschirm wird den Verlust von Wärme und Atmosphäre verhüten. Durch die Vulkane wird es wärmer sein, als ihnen wahrscheinlich lieb ist, und ihre Technik ist entwickelt genug, das nötige Licht zu erzeugen. Sie werden aber nicht genug Licht und Wärme für den Dschungel haben. Er wird sterben. Bis Miramon und seine Freunde im Andromedanebel eine passende Sonne gefunden haben, werden sie die Rotatrone so weit verstehen, daß sie ihren Planeten in eine normale Umlaufbahn zwingen können. Oder vielleicht gefällt es ihnen bis dahin besser, ständig unterwegs zu sein, und sie beschließen, Nomaden zu bleiben. Auf alle Fälle haben wir ihren Dschungel erledigt, wie wir es versprochen hatten.« »Wir wurden nicht bezahlt«, sagte der Direktor. »Wir brauchen eine ganze Menge Treibstoff, bis wir unsere Milchstraße erreicht haben. Die Piraten sind vor uns geflüchtet und den Polizisten weit voraus – mit Germanium, Medikamenten, Frauen, treibstofflosem Antrieb, allem.« »Nein, eben nicht«, sagte Amalfi. »Die Piratenstadt explodierte in dem Augenblick, als wir Heva in Bewegung setzten.« »Also gut«, sagte Hasselton ergeben. »Sie konnten das feststellen und ich nicht. Aber es wäre gut, wenn Sie es wenigstens erklären könnten!« »Das ist leicht zu erklären. Die Piraten hatten Doktor Beetle gefangen, da gibt es für mich gar keinen Zweifel. Schließlich war das der einzige Grund, warum sie nach Heva kamen. Sie brauchten den treibstofflosen Antrieb, und nachdem sie, wie wir, 118 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
den Hilferuf der zerstörten Stadt aufgefangen hatten, wußten sie, daß sie Doktor Beetle fangen mußten. Das taten sie dann, als er auf Heva landete. Sie zwangen ihn, sein Geheimnis zu verraten.« »Und?« »Die Piraten hatten vergessen«, sagte Amalfi, »daß fast jede Nomadenstadt Passagiere wie Doktor Beetle hat – Leute mit halbausgereiften Einfällen, Ideen, die den letzten Schliff brauchen, den ihnen nur eine andere Kultur geben kann. Schließlich fährt keiner auf seine Kosten in einer Nomadenstadt mit, wenn er nicht drittklassig ist, und hofft, daß er sein Glück auf einem Planeten machen wird, dessen Einwohner noch viel weniger verstehen als er.« Hasselton kratzte sich verlegen am Kopf. »Das stimmt. Wir haben dasselbe mit dieser Unsichtbarkeitsmaschine erlebt, die uns die Lyrer gegeben haben. Sie funktionierte erst, als Doktor Schlosser zu uns kam.« »Eben. Die Piraten hatten es zu eilig. Sie hätten den treibstofflosen Antrieb erst ausprobieren dürfen, wenn sie eine andere Zivilisation gefunden hätten, die bei der Entwicklung behilflich gewesen wäre. Sie wollten ihn sofort ausprobieren. Sie waren faul. Und außerdem probierten sie ihn ausgerechnet im größten Rotatronfeld aus, das je erzeugt worden ist. Was geschah? Die ganze Piratenstadt explodierte. Ich habe es gespürt. Wenn wir nicht im Bruchteil einer Sekunde die Piraten Hunderttausende von Kilometern hinter uns gelassen hätten, wären wir und der ganze Planet durch Doktor Beetles Antrieb in die Luft gesprengt worden. Faulheit zahlt sich nicht aus, Mark.« »Wer hat das je behauptet?« sagte Hasselton. Nach einer Pause begann er mit den Berechnungen des Punktes, an dem die Stadt wieder die Milchstraße erreichen würde. Nach dem Ergebnis mußte es in einer Gegend sein, die weit vom ›Abgrund‹ entfernt und verhältnismäßig stark bewohnt war.
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»Schauen Sie her«, sagte er, »wir kommen ungefähr dort herein, wo sich die letzten Akolyten niedergelassen haben. Können Sie sich noch an die Nacht des Hadji erinnern?« Amalfi konnte sich nicht erinnern, weil er damals noch nicht gelebt hatte, aber er erinnerte sich daran als eine geschichtliche Tatsache, was der Direktor eigentlich gemeint hatte. Er sagte: »Gut. Ich möchte die Stadt in ein Dock bringen und endlich die Maschine in der Dreiundzwanzigsten Straße ein für allemal reparieren lassen. Ich habe genug davon, daß sie ausgerechnet immer dann versagt, wenn die Stadt in Gefahr ist. Übrigens wird sie gleich ganz ausfallen, hören Sie?« Hasselton horchte angestrengt. Während der Pause sah Amalfi zur Tür, in der plötzlich Dee erschien, noch im Gasanzug, aber ohne Gesichtsmaske. »Ist es vorbei?« fragte sie. »Nun, unser Aufenthalt auf Heva ist vorbei. Wir sind aber immer noch auf der Flucht, wenn Sie das meinen. Die Polizei gibt niemals auf, Dee. Das werden Sie früher oder später auch begreifen.« »Wohin fliegen wir jetzt?« Sie stellte die Frage mit dem gleichen Gesichtsausdruck, mit dem sie einmal gefragt hatte: »Was ist ein Volt, John?« Auf diese Frage gab es natürlich keine Antwort. Wo gingen Nomaden hin? Sie waren unterwegs, das war alles. Wenn es überhaupt ein Ziel gab, wußte keiner, wo es lag. Er zuckte die Achseln. »Übrigens«, sagte er, »welchen Zeitpunkt haben wir seit M erreicht?« Hasselton sah auf die Uhr. »M plus elfhundertfünfundzwanzig Stunden.« Amalfi beugte sich mit einem Seitenblick vor, setzte den Helm auf und schaltete die Stadtväter ein.
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Die Kopfhörer schrillten. »Schon gut«, brummte er. »Was ist los?« ›Bürgermeister Amalfi, haben Sie den Planeten gekippt?‹ »Nein«, sagte Amalfi. »Wir haben ihn auf den Weg geschickt, wie er war.« Es gab eine kurze Pause, in der nur das Summen der Maschine zu hören war. Es war vielleicht ganz gut, dachte Amalfi, daß er sie für eine Weile abgeschaltet hatte. Sie war schon seit vielen Jahrhunderten nicht mehr zur Ruhe gekommen. Eine kleine Erholung konnte nur gut für sie sein. ›Sehr gut. Wir müssen jetzt den Punkt bestimmen, an dem wir den ›Abgrund‹ verlassen. Bereit für Ortsbestimmung.‹ Hasselton und Amalfi grinsten sich an. Amalfi sagte: »Wir fliegen auf die letzten Akolytensterne zu und müssen die Geschwindigkeit weit unter die Sicherheitsgrenze der Rotatrone vermindern. Außerdem muß das Rotatron in der dreiundzwanzigsten Straße dringend repariert werden. Geben Sie uns bitte eine Bestimmung des gegenwärtigen Sozialstatus in den Akolyten – « ›Sie befinden sich im Irrtum. Diese Sternwolke bewegt sich nicht in der Nähe des ›Abgrunds‹. Außerdem ist die dortige Bevölkerung für ihren krankhaften Fremdenhaß bekannt, so daß ein Kontakt möglichst zu vermeiden ist. Wir geben Ihnen den Kurs bis zur fernen Wand des ›Abgrunds‹. Achtung, notieren Sie…‹ Amalfi nahm ruhig den Helm ab. »Die Wand des ›Abgrunds‹«, sagte er und schob das Mikrophon von seinem Mund weg. »Das ist lange her – und unendlich weit weg.«
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5 Das scheußlichste Geräusch der ganzen Milchstraße produziert ein Rotatron kurz vor dem endgültigen Ausfall. Die oberste Tonhöhe, noch nicht hörbar, verursacht allgemeine Zahnschmerzen. In der mittleren Tonlage vernimmt man Geräusche, als würden Metall, Glas und Gestein in einer riesigen Mühle zerrieben. Der Rest des Lärms besteht aus einem dumpfen Dinosauriergebrumm, das schließlich in Frequenzen übergeht, die starkes Bauchweh verursachen. Der Lärm kam zwar nur aus dem Rotatron in der Dreiundzwanzigsten Straße, aber die ganze Stadt schien zu dröhnen. Es war nur so lange noch zu ertragen, als der Bunker, in dem sich das defekte Rotatron befand, nicht geöffnet wurde. Amalfi hütete sich davor, dort öffnen zu lassen. Er beobachtete das Innere der Maschine mit einem Fernauge und ließ die Tontaste unberührt. Der Teil des Lärms, der durch die Mauern drang, war schlimm genug. Hasselton deutete auf den Temperaturschreiber. »Jetzt fängt sie auch noch zu rauchen an. Ich verstehe gar nicht, wie sie so lange durchgehalten hat. Das Modell war schon zweihundert Jahre alt, als wir es bekamen. Die Reparatur auf Heva war nur ein Notbehelf.« »Was sollen wir tun?« fragte Amalfi. Er drehte sich gar nicht um, weil er die Gedanken seines Direktors längst kannte. Sie waren nun schon so lange beisammen. Der Druck der Hand auf seiner Schulter sagte ihm alles, was er wissen wollte. »Wir können sie doch nicht abschalten.« »Wenn wir es nicht tun, fliegt sie in die Luft. Der Bunker ist schon ganz heiß.« »Heiß und laut… Lassen Sie mich mal nachdenken.« Hasselton wartete. Nach einer Weile sagte Amalfi: »Wir lassen sie weiterlaufen. Wenn die Stadtväter so viel Schmiere hineinpumpen, kann ein bißchen mehr auch nicht schaden, damit wir wenigstens eine halbwegs normale Fluggeschwindigkeit 122 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
bekommen. Außerdem, Flickarbeit können wir an der Maschine nicht mehr machen. Sie ist von oben bis unten radioaktiv verseucht. Die Stadtväter würden sie abschalten, wenn wir es verlangten, aber die Reparatur kann nur von Menschen ausgeführt werden, und dafür ist es schon zu spät.« »Es dauert mindestens ein Jahr, bis man an die Maschine heran kann«, sagte Hasselton bedrückt. »Wie stark beschleunigen wir jetzt?« »Geringfügig, im Verhältnis zur Milchstraße. Aber soweit die Akolytensterne in Frage kommen – wenn wir jetzt mit der Geschwindigkeitsverminderung aufhören würden, schossen wir immer noch mit der achtfachen Normalgeschwindigkeit der Stadt durch den ganzen Sternennebel. Es wird verdammt knapp, Mark.« »Verzeihung«, sagte Dee hinter ihnen. Sie zögerte an der Tür. »Ist irgend etwas schiefgegangen? Ich will nicht stören, wenn ihr beschäftigt seid – « »Nicht mehr als sonst auch«, sagte Hasselton. »Immer noch das gleiche Sorgenkind.« »Die Maschine in der Dreiundzwanzigsten Straße! Das habe sogar ich gemerkt. Warum ersetzt ihr die Maschine nicht einfach durch eine neue?« Amalfi und der Direktor grinsten sich an, aber Amalfis Lächeln war nur von kurzer Dauer. »Ja, warum eigentlich nicht?« sagte er plötzlich. »Um Himmels willen, Chef, die Kosten!« sagte Hasselton ungläubig. »Die Stadtväter würden Sie allein für Ihren Vorschlag zur Verantwortung ziehen.« Er setzte den Helm auf. »Vermögensnachweis«, sagte er ins Mikrophon. »Die Stadtväter haben die Rotatrone bisher noch nie mit voller Kraft alleine gesteuert und werden nach dieser Erfahrung selbst verlangen, daß ein neues Rotatron gekauft wird, selbst wenn wir deswegen ein Jahr hungern müßten. Außerdem würde diesmal das Geld reichen. Während unserer Arbeit an der 123 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Achsenkorrektur Hevas haben wir eine ganze Menge Germanium aus dem Boden geholt. Ich glaube, es ist wirklich so weit, daß wir uns eine neue Maschine leisten können.« »Wie ist das möglich, John?« fragte Dee erstaunt. »Und ich dachte, wir hätten auf Heva mit Verlust gearbeitet.« »Wir sind nicht gerade reich geworden. Wenn wir genug Antimortalika zusammengebracht hätten, wären wir steinreich, davon bin ich immer noch überzeugt.« »Wir haben es aber nicht geschafft«, sagte Dee. »Wir mußten davonlaufen.« »Ja. Aber wir haben jedenfalls so viel Germanium, daß man uns als wohlhabend bezeichnen kann. Wir sind wohlhabend genug, um uns ein neues Rotatron leisten zu könnten. Stimmt’s, Mark?« Hasselton hörte noch eine Weile den Stadtvätern zu und nahm dann den Helm wieder ab. »Es sieht so aus, als hatten Sie recht«, sagte er. »Auf jeden Fall können wir die Kosten einer Überholung bezahlen oder sogar ein umgebautes Rotatron alt kaufen. Das hängt davon ab, ob die Akolyten einen Planeten mit Reparaturwerkstätten haben und wie hoch die Dockkosten sein werden.« »Die Dockkosten sind sicher so hoch, daß wir deswegen bankrott machen würden«, sagte Amalfi und schob seine Unterlippe vor. »Die Akolyten sind zwar reichlich abgelegen, aber sie wurden ursprünglich von Flüchtlingen einer gegen die Erde gerichteten Verfolgung im Molarnebel besiedelt – wenn ich mich recht entsinne, war das eine der Nachwirkungen des Zusammenbruches der Vega-Herrschaft. In den Archiven der meisten Planeten kann man die Geschichte dieser Verfolgung nachlesen. Sie haben mich erst vor kurzem daran erinnert, Mark, wissen Sie noch: die Nacht des Hadji. Das alles bedeutet, daß die Akolyten nicht so weit von den üblichen Handelsgebieten entfernt sind, daß man sie als richtige Grenzsterne bezeichnen könnte.«
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Er schwieg einen Augenblick, während die Falten in seiner Stirn sich stärker ausprägten. »Bei dieser Gelegenheit fällt mir übrigens ein, daß die Akolyten früher eine nicht unbedeutende Rohstoffbasis für einen beachtlichen Teil der Milchstraße gewesen sind. Sie können sich darauf verlassen, Mark, daß es hier mindestens einen Planeten mit Dockanlage gibt. Vielleicht finden wir hier sogar Arbeit.« »Das klingt angenehm«, meinte Hasselton. »Vielleicht etwas zu angenehm. Es ist tatsächlich so, daß wir auf den Akolyten bleiben müssen, weil wir mit der Maschine in der Dreiundzwanzigsten Straße über dieses Sternbild höchstens im Schneckentempo hinauskommen. Das habe ich von den Stadtvätern erfahren, während ich mich nach dem Vermögensstand erkundigte. Bei dem Ding ist nichts mehr zu machen.« Seine Stimme klang müde. Amalfi sah ihn an. »Das ist nicht der Grund, warum Sie sich Sorgen machen, Mark«, sagte er. »Mit diesem Problem mußten wir früher oder später rechnen, und seine Lösung ist ja auch nicht so schwierig. Was bedrückt Sie also wirklich? Die Polizei vielleicht?« »Ja, die Poliz ei«, gab Hasselton etwas mürrisch zu. »Ich weiß zwar, daß wir sehr weit von allen Polizisten entfernt sind, die uns mit Namen kennen, aber haben Sie eine Ahnung, welchen Betrag die unbezahlten Strafen zusammen ausmachen, die uns noch angekreidet werden? Ich kann auch nicht einsehen, wieso eine Entfernung für die Polizei ›zu groß‹ sein soll, wenn sie uns wirklich erwischen wollen.« »Aber warum denn nur, Mark?« fragte Dee. »Wir haben doch nichts Ernstliches verbrochen!« »Es ist zu viel zusammengekommen«, erwiderte Hasselton. »Wenn man die Liste addiert, kommt eine Summe heraus, die uns ruinieren würde, wenn wir sie sofort bezahlen müßten.« »Ach was«, sagte Dee unbekümmert. »Dann suchen wir uns eben wieder Arbeit und erwerben ein neues Vermögen. Sicher 125 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
wäre das nicht einfach, aber wir würden es schaffen. Pleiten hat es immer gegeben, und die Leute sind trotzdem wieder hochgekommen.« »Leute ja, Städte nicht«, sagte Amalfi. »Mark hat in dieser Beziehung vollkommen recht, Dee. Nach den gesetzlichen Vorschriften muß eine bankrotte Stadt aufgelöst werden. Das ist sogar ein sehr vernünftiges Gesetz, weil es verhindert, daß verzweifelte Bürgermeister und Direktoren bankrotte Städte auf endlose Flüge zur Arbeitssuche schicken, bei denen die Hälfte der Stadtbewohner unterwegs sterben müßte, nur wegen der Sturheit einiger Männer an der Spitze.« »Genauso ist es«, bekräftigte Hasselton. »Trotzdem bin ich der Meinung, daß Sie unrecht haben«, sagte Amalfi sanft. »Sie haben aus richtigen Tatsachen die falschen Schlüsse gezogen, Mark. Von der alten Sonne Hevas bis hierher konnte uns die Polizei gar nicht verfolgen, weil wir vorher selbst nicht wußten, daß wir bei den Akolyten landen würden. Ich bezweifle, daß die Polizei überhaupt den Kurs Hevas berechnen konnte, von dem von uns später eingeschlagenen gar nicht zu reden. Meinen Sie nicht auch?« »Doch, natürlich. Aber – « »Und wenn die Erdpolizei sämtliche Polizeistationen der Milchstraße auf jeden unbedeutenden Sünder hetzen würde«, fuhr Amalfi mit unerschütterlicher Ruhe fort, »wäre nicht eine einzige Polizeibehörde in der Lage, ihre wirklichen Aufgaben zu erfüllen. Sie müßte nur noch Karteien anlegen und Verdächtige überprüfen, weil von Millionen von Planeten täglich neue Steckbriefe eingehen würden. Die Verbrecher auf dem Planeten selbst würden natürlich nicht gefaßt werden und dafür die Karteien und Bildarchive der anderen Planeten füllen helfen. Deswegen haben die Polizisten in dieser Gegend auch noch nie von uns gehört, glauben Sie mir, Mark. Wir kommen ganz unbelastet in ein fremdes Sternsystem. Die Akolytenpolizei hat nicht den geringsten Grund, uns für etwas anderes als eine wandernde, die Gesetze beachtende Nomadenstadt zu halten – und das sind wir ja schließlich auch.« 126 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Gut«, sagte Hasselton und seufzte erleichtert. Amalfi hörte weder das Wort noch den Seufzer. Im gleichen Augenblick blitzte es auf der ganzen Fläche des Hauptbildschirms, der bisher die zahlreichen Lichter des Akolytennebels gezeigt hatte, blutrot auf. Das schrille Pfeifen des Polizeikanals brachte die Luft zum Erzittern. Die Polizisten trampelten angeberisch an Bord der Stadt und in Amalfis Hauptbüro im Rathaus, als sei die gesamte Milchstraße ihr persönliches Eigentum. Sie trugen jedoch nicht den üblichen Dienstanzug der Erdpolizei, sondern elegante schwarze Uniformen mit silbernen Litzen, Koppelschlössern und lackierten Stiefeln. Die brutal aussehenden, glattrasierten Kerle in dieser enganliegenden Kleidung erinnerten an eine Geschichtsperiode, die weit vor dem Beginn jeder Weltraumfahrt lag. Sie trugen Meso nenpistolen. Man konnte diese schwere, unförmige Waffe zwar mit einer Hand halten, aber nur mit beiden Händen abschießen. Für einen derart abgelegenen Sternennebel waren das sehr moderne Handfeuerwaffen. Damit war die Polizei, was die Bewaffnung anbetraf, der Stadt jedenfalls ebenbürtig. Die Pistolen erlaubten Amalfi noch andere Schlüsse. Sie konnten nur eines bedeuten: Die Akolyten hatten erst vor kurzem Besuch gehabt. Eine andere Nomadenstadt mußte bei ihnen gewesen sein. Überdies sah es nicht so aus, als sei das seit langer Zeit die einzige Berührung zwischen Akolyten und Nomaden gewesen. Um das technische Können zur Massenproduktion von Mesonenpistolen zu erwerben, brauchte man viele Jahre. Eine noch längere Verbindung zu einer anderen Kultur war notwendig, um diese Pistolen als Normalausrüstungsgegenstand bei allen einfachen Polizisten einführen zu können. Das Vorhandensein der Mesonenpistolen bewies daher, daß die Akolyten ständig mit Nomadenstädten in Verbindung standen und daß andererseits ein Planet mit den erforderlichen riesigen Dockanlagen vorhanden sein mußte, worauf Amalfi ja gehofft hatte.
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Amalfi konnte aus der Verwendung von Mesonenpistolen auch noch auf etwas anderes, Unangenehmeres schließen. Die Mesonenpistole war für die Verwendung gegenüber lebenden Wesen verhältnismäßig ungeeignet. Sie diente hauptsächlich zur Zerstörung von Gebäuden und Anlagen. In Amalfis Büro konnten sich die Polizisten zwar noch aufspielen, aber das Trampeln fiel ihnen schwer. Der Boden war mit einem dicken weichen Teppich bedeckt. Amalfi benützte diesen alten, überladenen Raum mit seinem großen Mahagonischreibtisch und anderen Antiquitäten nur bei offiziellen Anlässen. Wenn er im Dienst war, lebte er im Kontrollturm, der aber von Personen, die nicht Bürger der Stadt waren, nicht betreten werden durfte. »Was habt ihr hier zu suchen?« bellte der Polizist Hasselton an. Hasselton sagte gar nichts, deutete nur mit einer Kopfbewegung auf den im Stuhl sitzenden Amalfi und beobachtete weiter den großen Bildschirm hinter dem Schreibtisch. »Bist du der Bürgermeister in diesem Kaff?« wollte der Leutnant wissen. »Das bin ich«, sagte Amalfi, nahm die Zigarre aus dem Mund und schaute dem Polizisten ruhig ins Gesicht. Er mußte feststellen, daß ihm der Leutnant nicht gefiel. Sein Unterkörper war zu dick. Wenn ein Mann schon eine faßförmige Figur hatte, dann sollte er wenigstens so aussehen wie Amalfi selbst. Amalfi konnte Männer, die von oben nach unten zu dicker wurden, nicht ausstehen. »Gut, dann beantworte du die Frage, Dicker. Was ist euer Geschäft?« »Petroleumbohrungen.« »Du lügst. Du hast hier nicht einen einsamen Zwergplaneten vor dir, mein Freundchen. Hier sind die Akolyten.« Hasselton sah mit gespieltem Erstaunen erst den Polizisten und dann den Bildschirm an, auf dem sich in ein iger Entfernung keinerlei Sterne zeigten. 128 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Der Polizist bemerkte diese Anzüglichkeit nicht. »Nomaden betreiben Petroleumschürfungen nicht als Beruf«, sagte er. »Sie müßten alle verhungern, wenn sie aus Öl nicht auch Nahrung destillieren könnten. Also laß mal eine vernünftige Antwort hören, bevor ich euch als Landstreicher festnehmen muß.« Amalfi sagte ruhig: »Unser Geschäft sind Petroleumschürfungen. Natürlich haben wir seit Beginn unseres Fluges auch einige Nebenzweige entwickelt, die aber alle aus diesem Hauptberuf entstanden sind. Wir machen Versuchs- und Entwicklungsbohrungen für Planeten, die Öl brauchen.« Er betrachtete kritisch seine Zigarre und schob sie dann wieder zwischen die Zähne. »Übrigens, Leutnant, Sie können sich diese Drohungen schenken. Sie wissen genausogut wie wir, daß Anzeige wegen Landstreicherei durch Artikel eins der Verfassung ausdrücklich verboten ist.« »Verfassung?« Der Polizist lachte. »Wenn Sie die Verfassung der Erde damit meinen – nun, mit der Erde haben wir soviel wie keine Berührung. Hier sind die Akolyten, verstehen Sie! Nächste Frage: Habt ihr Geld?« »Genug.« »Wieviel ist genug?« »Wenn Sie wissen wollen, ob wir genügend Kapital haben, werden Ihnen unsere Stadtväter die vorgeschriebene positive oder negative Antwort erteilen, vorausgesetzt, Sie machen die Angaben über Ihr System, die für eine derartige Kalkulation erforderlich sind. Sie können versichert sein, daß die Antwort positiv ausfallen wird. Zu Angaben über den von uns erzielten Gewinn sind wir natürlich nicht verpflichtet.« »Moment mal!« sagte der Polizist. »Bei mir brauchen Sie nicht den Rechtsgelehrten zu spielen. Ich bin froh, wenn ich von der Stadt wieder ’runter kann. Wenn Sie Moneten haben, ist alles in Ordnung – vorausgesetzt, Sie haben sie auf gesetzlichem Wege erworben.« »Wir bekamen das Geld auf dem Planeten Heva, der sich in einiger Entfernung von hier befindet. Wir wurden von den 129 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Heviern beauftragt, ihren Dschungel, der sie störte, beseitigen. Wir schafften es mit einer Achsenkorrektur.«
zu
»Tatsächlich?« sagte der Polizist, »Achsenkorrektur? Aha! Donnerwetter, das muß ja ein Ding gewesen sein.« »Und ob!« sagte Amalfi mit feierlichem Gesicht. »Wir mußten sogar den linken Framillus der Revier setakieren.« »Nicht möglich! Kann ich über Ihre Stadtväter den Vertrag zu sehen bekommen? In Ordnung. Wo wollen Sie eigentlich hin?« »Ins Dock. Ein Rotatron ist ausgefallen. Dann geht es gleich wieder weiter. Bei euch sieht es nicht aus, als würde noch Erdöl verwendet.« »Ja, wir sind ziemlich modernisiert hier, nicht wie so manche Grenzgebiete, von denen man hört. Hier sind die Akolyten.« Plötzlich schien ihm einzufallen, daß er schon zu nachgiebig geworden war. Seine Stimme wurde wieder schärfer. »Also, vielleicht seid ihr sogar in Ordnung, Tramps. Ihr könnt von mir einen Passierschein haben. Aber nur dorthin fliegen, wo ihr hinmüßt, und keine Zwischenlandungen, verstanden! Wenn ihr euch anständig benehmt, kann ich euch vielleicht hier und dort behilflich sein.« Amalfi sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Leutnant. Wir hoffen, daß wir Sie nicht zu bemühen brauchen. Für den Fall, daß es aber doch nötig werden sollte, an wen dürfen wir uns wenden?« »Leutnant Lerner, fünfundvierzigste Grenzschutztruppe.« »Danke. Ach, noch etwas, bevor Sie gehen. Wissen Sie, ich sammle Ordensspangen. Jedem sein Steckenpferd, Sie verstehen. Die violette Spange an Ihrer Uniform erscheint mir besonders ungewöhnlich zu sein – ich spreche als Kenner. Würden Sie einem Verkauf dieser Spange zustimmen? Das würde nicht he ißen, daß Sie den Orden aufgeben müßten. Ich nehme an, daß Ihre Vorgesetzten Ihnen eine neue Spange geben werden.«
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»Ich weiß nicht recht«, sagte Leutnant Lerner. »Es ist gegen die Vorschriften – « »Das begreife ich, und deswegen würde ich natürlich eine mögliche Geldbuße, die Sie zahlen müßten, berücksichtigen – Mark, würden Sie einen Scheck über fünfhundert Nomadendollar ausschreiben lassen? – Ich weiß, daß keine Summe den Orden tatsächlich bezahlen kann, für den Sie Ihr Leben eingesetzt haben, aber leider genehmigen mir die Stadtväter für meine Steckenpferde nicht mehr als monatlich fünfhundert Nomadendollar. Würden Sie mir die Freude machen, sie anzunehmen?« »Ja, doch. Ich glaub’ schon«, sagte der Leutnant. Er nahm die verblichene Spange mit ungeschicktem Eifer ab und legte sie auf den Schreibtisch. Einen Augenblick später gab ihm Hasselton schweigend den Scheck, den er einsteckte, als bemerke er ihn gar nicht. »Also schaut zu, daß ihr auf eurem Kurs bleibt, Tramps. Los, Leute, zurück aufs Boot.« Die drei Kerle zwängten sich vorsichtig in den Gleitschacht und rutschten mit unterdrückter Angst auf den Gesichtern durch das Reibungsfeld nach unten. Amalfi grinste. Offensichtlich waren das Prinzip der zwischenmolekularen Bindungsveränderung und das Reibungsfeld noch weitgehend unbekannt. Hasselton ging zum Schacht und blickte hinein. Dann sagte er: »Chef, das verdammte Ding da ist eine Medaille für gute Führung. Vor dreihundert Jahren hat die Erdpolizei Zehntausende davon verteilt. Jeder Polizist, der geradestehen konnte, bekam eine. Seit wann ist so etwas fünfhundert Nomadendollar wert?« »Erst seit heute«, sagte Amalfi träumerisch. »Der Leutnant wollte doch bestochen werden. Es sieht immer besser aus, wenn man etwas kauft, sobald man jemand bestechen muß. Ich bin so weit hinauf gegangen, weil er mit seinen Leuten teilen muß. Wenn ich ihm die Bestechungssumme nicht angeboten hatte, wäre er vielleicht noch darauf verfallen, Einsicht in unser Strafregister zu verlangen.«
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»Das habe ich mir gedacht, zumal unser Register nicht gerade sehr vertrauenerweckend aussieht. Trotzdem bin ich der Meinung, daß Sie das Geld unnütz vergeudet haben. Das Strafregister hätte er sofort beim Eintritt in diesen Raum verlangen müssen, als erstes, nicht als letztes. Nachdem er es am Anfang nicht zu sehen verlangte, ist ganz klar, daß er sich nicht dafür interessierte.« »Da haben Sie wahrscheinlich recht«, gab Amalfi zu. Er sog nachdenklich an seiner Zigarre. »Also los, Mark, worauf wollen Sie hinaus? Raus mit der Sprache!« »Ich bin mir noch nicht ganz klar darüber. Auf der einen Seite eine Polizeistreife, so viele Tausende von Kilometern vor den Akolyten, auf der anderen Seite die Gleichgültigkeit dieses Burschen darüber, ob wir etwas auf dem Kerbholz haben oder nicht, oder vielleicht sogar eine Piratenstadt sind – das paßt doch nicht zusammen. Er hat uns nicht einmal gefragt, wer wir sind.« »Das schließt die Möglichkeit aus, daß die Akolyten vor einer bestimmten Piratenstadt gewarnt worden sind.« »Das ist richtig«, stimmte Hasselton bei. »Übrigens hat sich dieser Lerner viel zu leicht bestechen lassen. Polizeistreifen, die wirklich nach etwas Bestimmtem suchen, lassen sich nicht bestechen, selbst in einer korrupten Zivilisation nicht. Es paßt einfach nicht zusammen.« »Irgendwie«, sagte Amalfi und stellte einen Hebel auf ›Aus‹, »irgendwie glaube ich auch nicht, daß uns die Stadtväter bei diesem Problem behilflich sein können. Ich habe sie das ganze Gespräch mithören lassen, aber alles, was sie von sich geben werden, wird eine Predigt über Geldverschwendung und eine Ausfragerei über mein angebliches Steckenpferd sein. Mit der Art, beim Sprechen etwas anzudeuten, können sie einfach nichts anfangen. Verdammt noch mal! Mark, wir sind gerade dabei, etwas Wichtiges zu übersehen, etwas so Offenkundiges, daß wir es erst bemerken werden, wenn es zu spät ist. Etwas absolut Entscheidendes. Und wir rasen auf die Akolyten zu, ohne den geringsten Schimmer, was es wohl sein könnte.« 132 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Chef«, sagte Hasselton. Die plötzliche Erregung in seiner Stimme veranlaßte Amalfi, sich auf dem Stuhl rasch umzudrehen. Der Direktor starrte gebannt auf den großen Bildschirm, auf dem die Akolytensterne inzwischen gut zu unterscheiden waren. »Was ist denn, Mark?« »Schauen Sie hin, dort auf der anderen Seite des Sternnebels. In der etwas dunkleren Gegend. Sehen Sie’s?« »Ich sehe eine ganze Menge Weltraum ohne Sterne.« Amalfi sah genauer hin. »Dort ist ein Doppelstern mit einem roten Zwergstern, der aus den anderen besonders heraussticht – « »Sie kommen schon drauf. Jetzt sehen Sie sich den roten Zwergstern an.« Amalfi konnte an der bezeichneten Stelle etwas Grünes erkennen, einen größeren Flecken von der Größe eines Bleistiftendes. Der Bildschirm war so konstruiert, daß Nomadenstädte auf ihm grün erschienen, aber eine so große Stadt gab es nicht und konnte es nicht geben. Der grüne Fleck bedeckte ein Gebiet, das die Größe des ganzen Sonnensystems der alten Erde hatte. Amalfi merkte, daß er seine Zigarre durchgebissen hatte, und nahm sie aus dem Mund. »Städte«, murmelte er. Er spuckte aus, aber der bittere Geschmack in seinem Mund blieb. »Nicht eine Stadt. Hunderte!« »Ja«, sagte Hasselton. »Da haben Sie die Antwort auf unsere Frage oder wenigstens einen Teil davon. Das ist ein Lager.« »Ein Nomadenlager.« Amalfi machte einen weiten Bogen um das Lager, ließ aber durch Brian Erkundungsraketen ausschicken, sobald die Stadt die Geschwindigkeitsverminderung sicher überstanden hatte. Hätte man die ferngelenkten Raketen früher ausgeschickt, dann wären sie zurückgeblieben und verlorengegangen, weil sie kaum schneller als die Stadt selbst flogen. Sie zeigten ein phantastisches und zugleich bedrückendes Bild. 133 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Das leere Gebiet, in dem sich die Nomadenstädte niedergelassen hatten, befand sich fast am Rande des Akolytennebels. Das nächste Sterngebilde bestand aus drei Sternen, zwei davon waren von der Große Go und einer ein roter Zwergstern. Es war fast die gleiche Kombination wie im AlphaCentauri-Nebel, allerdings mit einem Unterschied: Die beiden Go-Sterne standen so nahe beieinander, daß sie nur aus nächster Nähe als zwei einzelne Sterne zu erkennen waren. Der rote Zwergstern aber war in die Leere des Weltraums hinausgeflogen und befand sich etwa vier Lichtjahre von seinen Gefährten entfernt. Um dieses winzige und nahezu wärmelose Licht drängten sich mehr als dreihundert Nomadenstädte. Auf dem Bildschirm waren sie als eine endlose Flut grüner Pünktchen zu erkennen, die im Raume schwebten und in ihren Umlaufbahnen rund um den Zwergstern ständig aneinander vorbeiglitten. In der Nähe der Sonne konzentrierten sich die meisten Städte, aber man sah Nachzügler, die in Umlaufbahnen fünf Milliarden Kilometer entfernt kreisten, weil die Rotatronabschirmung näheren gegenseitigen Kontakt schlecht verträgt. »Es könnte einem Angst machen«, sagte Dee, die den Bildschirm gespannt beobachtete. »Ich wußte, daß es noch andere Nomadenstädte gibt, besonders nach der Begegnung mit der Piratenstadt. Aber so viele! Ich hätte nie gedacht, daß es in der ganzen Milchstraße dreihundert gibt.« »Das ist eine große Unterschätzung«, sagte Hasselton nachsichtig. »Bei der letzten Zählung stellte man etwa achtzehntausend Städte fest, stimmt’s Chef?« »Ja«, sagte Amalfi. Er konnte seinen Blick ebensowenig vom Bildschirm wenden wie Dee. »Aber ich weiß, was Dee meint. Es ist einfach erschreckend, Mark. Irgendwie muß ein völliger wirtschaftlicher Zusammenbruch in dieser Gegend der Milchstraße stattgefunden haben. Nichts anderes hätte ein solches Lager hervorrufen können. Diese verfluchten Akolyten nützen diese Notlage offensichtlich aus, indem sie Nomadenstädte hierherlo cken, um die wenigen, die sie brauchen, einfach auf dem Konkurrenzweg auszuwählen.« 134 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Mit anderen Worten, zu den niedrigsten Löhnen«, sagte Hasselton. »Aber wozu?« »Das weiß ich auch nicht. Möglicherweise versuchen sie, sämtliche Planeten zu industrialisieren, um eine gewisse Autonomie zu erringen, bevor auch sie von der Depression oder was immer es ist, erreicht werden. Das einzige, was man jetzt mit Sicherheit sagen kann, ist, daß wir so schnell wie möglich von hier verschwinden müssen, wenn das neue Rotatron eingebaut ist. Anständige Arbeit können wir hier jedenfalls nicht finden.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da recht geben kann«, sagte Hasselton. »Wenn sie hier industrialisieren, könnte das heißen, daß die Depression hier ist und nirgends anders. Vielleicht haben sie durch Überproduktion eine Geldknappheit hervorgerufen, besonders wenn ihr Verteilungssystem so altmodisch ist, wie es meistens in diesen abgelegenen Gegenden der Fall zu sein scheint. Wenn sie eine große Dollardeflation haben, wären wir gut daran.« Amalfi überlegte. Die Erklärung hatte etwas für sich. »Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als abzuwarten«, sagte er. »Sie können durchaus recht haben. Aber ein Sternensystem könnte selbst bei der größten Aufwärtsentwicklung nicht dreihundert Städte ernähren. Das wäre eine enorme Verschwendung an technischem Wissen. Außerdem zieht es Nomaden nicht zu einer Gegend mit Geldknappheit, ganz im Gegenteil.« »Nicht unbedingt. Nehmen Sie an, daß anderswo ein Überangebot herrscht. Erinnern Sie sich daran, daß während der nationalistischen Ära der Erde Künstler und andere Leute mit relativ geringem Einkommen den großen hamiltonischen Staat, dessen Namen ich vergessen habe, verließen, um in viel kleineren Staaten zu leben, in denen die Währung weicher war?« »Das war etwas anderes. Damals hatte man gemischtes Geld – «
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»Darf ich mal unterbrechen?« sagte Dee zögernd, aber mit einer Spur Spott in ihrer Stimme. »Ich komme nicht mehr ganz mit. Nehmen wir an, daß in dieser ganzen Gegend die Wirtschaft zusammengebrochen ist. Auf welche Weise, überlasse ich euch beiden. Auf Utopia war unsere Wirtschaft bei einer festgelegten Umsatzrate fixiert, und zwar schon von Anbeginn an; vielleicht könnt ihr mir daher verzeihen, wenn ich nicht verstehe, worüber ihr streitet. Aber gleichgültig, ob nun Inflation oder Deflation herrscht, wir können doch jedenfalls abfliegen, sobald wir unser neues Rotatron haben.« Amalfi schüttelte den Kopf. »Das«, sagte er, »ist es, was mir Sorgen macht, Dee. In diesem Lager befindet sich eine große Anzahl von Städten, die doch nicht alle Defekte an ihren Antriebssystemen haben können. Wenn es eine andere Gegend gibt, wo es ihnen besser ginge, warum fliegen sie dann nicht hin? Warum versammeln sie sich in einem Lager in diesem gottverlassenen Sternennebel, als wenn es im ganzen Universum keinen Platz mehr gäbe, wo sie Arbeit finden könnten? Nomaden sind weder seßhaft noch gesellig.« Hasselton trommelte mit seinen Fingern auf die Armlehnen. Er schloß kurz die Augen. »Geld ist Energie«, sagte er. »Trotzdem muß ich sagen, daß es mir auch nicht besser gefällt. Je mehr ich es mir überlege, desto eher glaube ich, daß wir diesmal in einer Klemme sind, aus der wir mit raffinierten Tricks nicht herauskommen. Vielleicht hätten wir doch auf Heva bleiben sollen.« »Vielleicht.« Amalfi wandte sich wieder der Steuerung zu. Hasselton war klug, aber eine Folge seiner Klugheit war, daß er unnötig viel Zeit damit verbrachte, über Situationen nachzudenken, die sowieso in kurzer Zeit offenkundig werden würden. Die Stadt näherte sich nun dem Planeten mit den Dockanlagen, der den unwahrscheinlichen Namen Murphy trug. Die Stadt zwischen den dichtgedrängten Sternen hindurchzusteuern war eine so schwierige Aufgabe, daß der Bürgermeister das Steuer selbst bedienen mußte. Die Stadtväter hätten natürlich die Stadt 136 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
durch die widerstrebenden Schwerefelder bis zu einer sicheren Landung nach Murphy bringen können, aber dazu etwa einen Monat gebraucht. Hasselton wäre noch schneller als Amalfi geflogen, aber die Stadtväter hätten seine Flugroute ständig beanstandet und bei der kleinsten Übertretung der von ihnen festgesetzten Fehlergrenze ihm die Steuerung aus den Händen genommen. Sie waren natürlich auch nicht dafür ausgerüstet, daß sie das Einfühlungsvermögen für räumliche Entfernungen und Schwerefeldeinflüsse, das Amalfi zu einem Meisterpiloten machte, hätten schätzen können. Aber über Amalfi besaßen sie keine Gewalt, außer der höchsten Autorität der Amtsenthebung. Während Murphy auf dem Bildschirm immer größer wurde, kamen immer mehr Techniker in den Raum und schlossen Bedienungspulte an, die für mehr als dreihundert Jahre abgeschaltet gewesen waren, eben seit dem Zeitpunkt, als das letzte neue Rotatron an Bord gekommen war. Die Vorbereitung der Antriebsmaschinen in der Stadt für die Inbetriebnahme der neuen Maschine war eine große Aufgabe. Jedes einzelne Rotatron an Bord mußte auf die neue Maschine abgestimmt werden. Im vo rliegenden Fall wurde die Arbeit noch durch den Umstand erschwert, daß die defekte Maschine stark radioaktiv verseucht war. Zwar besaßen die Docktechniker für die Lösung dieses Problems Spezialausrüstungen, jedoch kannte sich kein Mensch in den Docks mit der betreffenden Maschinerie so gut aus wie die Nomaden, die sie benützten. Jede Stadt ist eben einmalig. Murphy war, wie Amalfi auf seinem Bildschirm beobachten konnte, ein ganz normaler Planet, etwas größer als der Mars. Er besaß aber günstigere Umweltbedingungen, weil er näher bei seiner Sonne stand. Er sah trotzdem verlassen aus. Als die Stadt näher kam, konnte Amalfi die Trockendockanlagen erkennen, von denen jede einen Durchmesser von etwa fünfunddreißig Kilometern hatte. Jedes einzelne dieser kreisrunden, von Kränen und
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Maschinen umgebenen Docks auf der sichtbaren Planetenhälfte war leer. »Das ist schlecht«, hörte er Hasselton leise sagen. Es sah in der Tat wenig verlockend aus. Der Planet drehte sich langsam auf dem Bildschirm. Dann tauchte am Horizont des Planeten eine Stadt auf. Hasselton pfiff leise durch die Zähne. Die Techniker standen auf, drängten sich um Amalfi und Hasselton und starrten ebenfalls auf den Bildschirm. »Auf die Plätze!« brummte Amalfi. Die Techniker gehorchten. Die auf Grund gesetzte, jetzt deutlich zu erkennende Stadt erschien auf dem stillen Planeten riesengroß. Sie lag geschlagen und wehrlos auf dem Boden ohne Rotatronabschirmung. Es gab natürlich viele Gründe, warum der Schutzschirm abgeschaltet war, aber der Anblick einer Nomadenstadt ohne ihren Rotatronschutz war ebenso erschreckend wie ungewohnt. Am Rande der Stadt schien man zu arbeiten. »Gibt das da unten nicht Dees Anschauung recht?« sagte Hasselton. »Dort liegt eine Stadt, die Geld für Reparaturen hat. Das bedeutet, daß auch Geld aus anderen Gebieten als den Akolyten seinen Wert behalten hat. Die Lage kann also nicht so verzweifelt sein, sonst würde sich diese Stadt nicht auf eine längere Reise vorbereiten. Außerdem müssen das ganz schlaue Burschen sein, mit denen zu reden sich lohnen dürfte. Offensichtlich haben sie sich von den Akolyten nicht übers Ohr hauen lassen. Die einzige Erklärung für das Lager, das wir vorhin gesehen haben, ist, daß irgendein Schwindel der Akolyten dahintersteckt. Wir setzen uns am besten schon vor der Landung mit dieser Stadt in Verbindung, Chef, damit wir erfahren, was uns erwartet.« »Nein!« sagte Amalfi. »Sie bleiben an Ihrem Platz, Mark.« »Aber warum denn? Es kann doch nichts schaden.« Amalfi antwortete nicht. Er wußte, daß Hasseltons Vermutung falsch war. Dazu brauchte er nur auf die Instrumente zu sehen. 138 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Der Direktor hatte sich zu falschen Schlußfolgerungen verleiten lassen. Unvermittelt leuchteten die Lampen an der Bedienungswand auf. Automatische Leitstrahlen vom Kontrollturm des Planeten wiesen die Stadt in eine Dockanlage ein. Amalfi bediente den Steuerknüppel und wartete auf das gelbe Blinklicht, das anzeigen würde, ob Nomaden erwünscht waren oder nicht. Aber als die Stadt langsam auf Murphy niederschwebte, regte sich nichts. Anscheinend ging das Geschäft so schlecht, daß die Dockanlagen einen großen Teil ihres Personals an wichtigere Projekte hatten abgeben müssen. In diesem Fall würde außer den automatischen Anlagen im Kontrollturm niemand eine unerwartete Landung überwachen. Amalfi schaltete mit einem Achselzucken die Stadtväter wieder ein. Man benötigte Menschen nur dann für die Landungsmanöver, wenn dabei politische Probleme zu klären waren. Routinetätigkeiten konnte man ruhig den Stadtvätern überlassen. Dafür waren sie schließlich da. »Erste Landung seit Heva«, sagte Hasselton. Er schien sich etwas wohler zu fühlen. »Es wird uns guttun, wenn wir uns ein wenig die Beine vertreten können.« »Hier wird nicht spazierengegangen«, sagte Amalfi. »Jedenfalls so lange nicht, bis wir mehr Informationen haben. Die Kerle hier haben noch keinen Ton von sich gegeben. Es kann ebensogut sein, daß wir nach den dortigen Gebräuchen die Stadt gar nicht verlassen dürfen.« »Wären wir dann vom Kontrollturm nicht verständigt worden?« »Eine derartig allgemein gehaltene Anweisung allen Ankömmlingen gegenüber könnte niemals vom Kontrollturm ausgesprochen werden, weil sonst unter Umständen auch anständige Kunden abgeschreckt werden. Aber eine derartige Vorschrift könnte es trotzdem geben, Mark, das wissen Sie doch selbst. Wir werden uns zuerst etwas umsehen.«
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Amalfi nahm das Mikrophon zur Hand. »Verbinden Sie mich mit Sergeant Anderson. Anderson? Hier ist der Bürgermeister. Bewaffnen Sie zehn zuverlässige Leute und warten Sie auf mich und den Direktor am Cathedral Parkway. Verteilen Sie Ihre Leute an den Ausfallstationen so, daß man sie von draußen nicht sehen kann. – Ja, das wäre auch nicht schlecht. – In Ordnung.« Hasselton sagte: »Wir gehen hinaus?« »Ja. Und denken Sie daran, Mark, dieser Planet könnte unser letzter Landungsplatz gewesen sein. Vergessen Sie das nicht!« »Das wird mir nicht schwerfallen«, sagte Hasselton und sah Amalfi direkt in die Augen, »weil es genau das ist, was ich Ihnen vor vier Tagen gesagt habe. Hinsichtlich der Art, mit dieser Möglichkeit fertig zu werden, habe ich meine eigenen Gedanken, die sich wahrscheinlich nicht mit den Ihrigen decken. Vor vier Tagen haben Sie mir vorgeworfen, ich sei zu pessimistisch. Jetzt übernehmen Sie meine Schlußfolgerung, weil Sie irgend etwas Bestimmtes dazu zwingt – wobei ich Sie gut genug kenne, um zu wissen, daß Sie mir nicht verraten werden, was –, und reiben mir mal wieder die Geschichte mit Thor V unter die Nase. Entweder – oder, Amalfi.« Eine Sekunde lang starrten sich die beiden an. »Ihr beiden«, sagte Dees Stimme, »könntet fast miteinander verheiratet sein.« Vom Rand des Trockendocks aus, in dem die Stadt nun lag, zeigte sich Amalfis Augen die Welt Murphys als verlassene Wüste aus technischem Gerumpel. Es war ein Mammutfriedhof aus Kränen, Aufzügen, Montagewagen, Schienen, Hilfsmaschinen, Kabeln, Gerüsten, Raupenschleppern, Förderbändern, Rutschen, Behältern, Tanks, Fülltrichtern, Rohrleitungen, Rotatronen, Brütern, zerlegten Raketen und noch einigen fünfzig verschiedenen Geräten aus vielen Jahrhunderten, die vielleicht einmal bei einer Reparatur Verwendung finden würden. 140 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Die meisten Maschinenteile hatten Rost angesetzt oder waren ineinander verklemmt. Manches, was zwar nach außen hin in Ordnung zu sein schien, war in Wirklichkeit für immer unbrauchbar. Vieles war noch verwendbar. Aber eigentlich sah alles so aus, als hätte niemand die Absicht, davon je wieder etwas zu benützen. Am nahen Horizont lag die große Stadt, die Amalfi schon von oben gesehen hatte und an der sich kleine Maschinen zu schaffen machten. Weit unten im Trockendock, auf dem gestikulierte eine kleine menschliche Figur.
Boden
Murphys,
Amalfi ging die schmalen, eisernen Treppen hinunter, hinter ihm Hasselton und Sergeant Anderson. Ihre Schritte verklangen in der dünnen Luft. Amalfi ging sehr vorsichtig. Auf einer Welt mit geringer Anziehungskraft war es empfehlenswert, etwas weniger kraftvoll aufzutreten. Die Tatsache, daß die Fallgeschwindigkeit auf solchen Planeten geringer war, minderte die Wucht des Aufpralls nur unwesentlich, und besonders Amalfi mit seinem beträchtlichen Gewicht hatte bei solchen Gelegenheiten schon einiges erlebt. Die gestikulierende Fig ur entpuppte sich als kleiner Techniker mit gekräuselten Haaren, der in einer sauberen, aber zerknitterten Uniform steckte. Wahrscheinlich hatte er sich damit zum Schlafen hingelegt. Jedenfalls war zu sehen, daß er damit noch nicht gearbeitet hatte. Sein Gesicht war glatt und rund. Die dunkle Gesichtsfarbe konnte nicht verbergen, daß es reichlich schmutzig war. Er starrte Amalfi wild an. »Wie kommt ihr denn her, zum Teufel«, sagte er. »Wir sind geschwommen, was denn sonst? Wann wird man hier eigentlich bedient?« »Fragen stelle ich, Bürschchen. Und sag dem Sergeanten, er soll die Hand von der Pistole lassen. Das macht mich nervös, und wenn ich nervös werde, kann alles mögliche passieren. Ihr wollt Reparaturen ausführen lassen?«
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»Was denn sonst?« »Wir sind überbeschäftigt«, sagte der Docktechniker. »Hier gibt’s keine Wohltätigkeit. Haut ab in euer Lager.« »Einen Dreck seid ihr überbeschäftigt«, brüllte Amalfi und schob den Kopf vor. Der Techniker wich etwas zurück. »Wir brauchen Reparaturen, und wir werden sie bekommen. Wir haben Geld genug, um zu bezahlen. Außerdem schickt uns Leutnant Lerner von Ihrer eigenen Polizei. Wenn Ihnen das nicht paßt, werde ich meinem Sergeanten Arbeit für seine Pistole verschaffen – Sie werden sich wundern, wie schnell das geht!« »Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie hier reden, zum Teufel? Sie wissen wohl noch nicht, daß Sie in den Akolyten sind? Wir haben schon ganz andere fertiggemacht – nein, einen Augenblick, Sergeant, wir wollen doch nichts übereilen. Bisher habe ich mich im mer mit Lumpen herumstreiten müssen. Vielleicht seid ihr wirklich in Ordnung. Sie haben was von Geld gesagt – ich hab’s genau gehört.« »Stimmt«, sagte Amalfi, der sich nur mit Mühe beherrschen konnte. »Können eure Stadtväter das belegen?« »Natürlich. Hasselton – Anderson, wo in Dreiteufelsnamen ist der Direktor geblieben?« »Bei einer Abzweigung habe ich ihn nach oben gehen sehen«, sagte der Sergeant. »Er sagte nicht, wo er hinwollte.« Es ist nicht gut, wenn man zu vorsichtig sein will, dachte Amalfi. Er hätte längst bemerkt, daß nur mehr einer hinter ihm herstapfte, wenn er seine Gedanken nicht so sehr auf seine eigenen Füße konzentriert hätte. »Er wird wiederkommen – hoffe ich«, sagte Amalfi. »Passen Sie auf, Freund, wir müssen reparieren lassen. Wir haben ein defektes Rotatron in einem verseuchten Bunker, könnt ihr es
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’rausnehmen und ein neues einbauen, möglichst das neueste Modell?« Der Techniker überlegte. Die Sache schien ihm zu gefallen. Er veränderte sich so schnell, daß er fast freundlich wirkte. »Ich habe ein Sechs-R-Sechs auf Lager, mit dem könnte es gehen, wenn ihr ein gegen Rückfluß abgesichertes Fundament habt«, sagte er langsam. »Wenn nicht, dann müßten wir das umgebaute BC-Sieben-Y nehmen, das ist noch so gut wie neu. Aber ich habe noch nie ein radioaktives Rotatron ausgebaut – ich wußte gar nicht, daß die Dinger überhaupt so heiß werden. Haben Sie in Ihrer Stadt jemand, der mir helfen kann?« »Jawohl. Es ist schon alles vorbereitet. Überprüfen Sie unsere Zahlungsmittel, und fangen Sie möglichst bald an.« »Es wird ein bißchen dauern, eine Mannschaft zusammenzustellen«, sagte der Techniker. »Übrigens, lassen Sie Ihre Leute nicht in der Gegend herumlaufen. Die Polizei ist damit nicht einverstanden.« »Ich werde mein möglichstes tun.« Der Techniker lief fort. Amalfi sah ihm nach und staunte wieder einmal darüber, wie schnell Techniker vergessen können, für wen sie arbeiten oder gar, wie ihre Arbeit angewendet wird. »Chef – « Amalfi drehte sich blitzschnell um. »Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt? Haben Sie nicht zugehört, als ich darauf hingewiesen habe, daß dieser Planet wahrscheinlich für Touristen tabu ist? Wenn Sie dagewesen wären, als ich Sie brauchte, hätten Sie hören können, daß man hier tatsächlich nicht herumlaufen darf – ganz abgesehen davon, daß unsere Angelegenheit schneller erledigt worden wäre!« »Ich weiß«, sagte Hasselton ruhig. »Ich bin ein kalkuliertes Risiko eingegangen, was Sie anscheinend verlernt haben, Amalfi. Ich bin zur anderen Stadt hinübergegangen und habe etwas sehr
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Wichtiges herausgefunden. Übrigens sehen die Trockendocks in dieser Gegend furchtbar aus. Dieses hier und das drüben, in dem sich die andere Stadt befindet, scheinen die einzigen zu sein, die in Betrieb sind. Alle anderen sind voll Sand und Rost und zerbröckeltem Beto n.« »Und die andere Stadt?« sagte Amalfi leise. »Sie ist beschlagnahmt, da gibt es keinen Zweifel. Sie ist verkommen und völlig verlassen. Die eine Hälfte wird nur noch durch Stützpfeiler aufrecht gehalten, und in den Straßen sind Hütten errichtet worden. Die Stadt ist nur noch ein Wrack. Eine Dockmannschaft arbeitet daran, aber sie beeilt sich nicht, und vor allem denkt niemand daran, sie wieder bewohnbar zu machen. Alles, was sie erreichen wollen, ist, daß sie wieder fliegt. Wo die Stadtbewohner selbst sind, darüber will ich lieber nicht nachdenken.« »Sie haben über eine ganze Menge nicht nachgedacht«, sagte Amalfi. »Die eigentliche Mannschaft ist offensichtlich im Gefängnis. Die Dockmannschaften richten die Stadt nur her, um irgendeinen üblen Job damit durchführen zu können, den die Stadt nicht überstehen wird – und den eine freie Stadt um keinen Preis übernehmen würde.« »Und das wäre?« »Die Errichtung einer Station auf einem Gasriesen«, sagte Amalfi. »Sie wollen auf irgendeiner Ammoniak-Methan-Welt mit Eiskern und niedriger Dichte, also einem jupiterähnlichen Planeten, schürfen. Einen derartigen Planeten könnte man als unerschöpfliche Giftgasquelle verwenden.« »Das ist eine unbewiesene Vermutung«, sagte Hasselton mit zusammengekniffenen Lippen. »Ich erwarte eine Disziplinarstrafe für meine Abschweifung, aber ich bin erwachsen und nehme nicht hin, daß Sie mir Vernünfteleien andrehen wollen, nur um das Märchen von Ihrer Allwissenheit aufrechtzuerhalten.« »Ich bin nicht allwissend«, sagte Amalfi milde. »Ich habe mir die andere Stadt schon auf unserm Anflug angesehen. Ich habe 144 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
mir auch die Instrumente angesehen. Sie nicht. Die Instrumente allein verrieten mir, daß in der anderen Stadt kein normaler Betrieb ist, wie sonst bei Nomadenstädten. Sie verrieten mir auch, daß die Rotatrone so eingestellt wurden, daß sie innerhalb eines Jahres ausbrennen müssen, und wozu man das Rotatronfeld gebrauchen will, das heißt, welchen Bedingungen es ausgesetzt werden soll. Rotatronfelder wehren zwar jede sich schnellbewegende Zusammenballung von Molekülen ab. Gasen setzen sie aber wegen der Osmose kaum Widerstand entgegen. Wenn Sie ein Feld so hochtreiben, daß nicht einmal der kleinste Molekülaustausch stattfinden kann, auch wenn der Druck mehr als eine Million Atmosphäre beträgt, dann zerstören Sie das Rotatron. Diese Bedingungen treten auch nur in einer einzigen Situation auf, einer Situation, in die sich eine Nomadenstadt nicht für eine Sekunde freiwillig begeben würde, nämlich bei einer Landung auf einem Gasriesen. Daraus folgt, nachdem die Stadt gerade für diesen Zweck vorbereitet wurde, daß eine Beschlagnahme erfolgt war. Die Stadt ist Staatseigentum, und kein Mensch hegt gegen die Verschwendung von Staatseigentum Bedenken.« »Ich muß Ihnen nochmals den Vorwurf machen«, sagte Hasselton, »daß Sie mir das rechtzeitig hätten sagen sollen, dann wäre mein Ausflug nicht nötig gewesen. Aber dieses Mal war es ganz gut so, denn ich bin immer noch nicht zu dem Wichtigsten gekommen, das ich entdeckt habe. Wissen Sie, was das für eine Stadt ist?« »Nein.« »Gut, daß Sie das zugeben. Es ist die Stadt, von der wir vor dreihundert Jahren gehört haben, als sie gerade im Bau war, die sogenannte Allzweckstadt. Sie ist trotz der Zerstörungen zu erkennen. Die Akolyten lassen sie verfallen, wo es am stärksten spürbar ist, nur um sie für die eine Aufgabe vorzubereiten. Wenn wir wollten, könnten wir sie ihnen wegnehmen. Ich habe die Pläne studiert, als sie zum erstenmal verfügbar waren, und – «
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Er unterbrach sich. Amalfi drehte sich in die Richtung, in die Hasselton blickte. Der Docktechniker kam auf sie zugelaufen und fuchtelte mit einer Mesonenpistole herum. »Ich bin überzeugt«, sagte Amalfi schnell. »Können Sie noch einmal dort hinüber, ohne gesehen zu werden? Es sieht so aus, als wäre etwas schiefgegangen.« »Das kann ich schon. Dort ist eine – « »Das genügt für jetzt. Stellen Sie die Stadtväter dieser Stadt auf unsere Stadtväter ein, und schalten sie beide auf Situation N – nur positive oder negative Antwort.« »Situation N? Chef, das ist doch – « »Ich weiß, was es ist. Ich glaube, wir brauchen sie jetzt. Unser defektes Rotatron verhindert einen Abflug unserer Stadt ohne die Hilfe beider Stadtväter. Wir sind einfach nicht schnell genug. Marsch, bevor es zu spät ist.« Der Techniker hatte sie schon fast erreicht. Bei jedem Sprung stieß er Wutschreie aus. Hasselton zögerte noch einen Augenblick und sprang dann die Treppe hoch. Der Techniker duckte sich hinter einer Metallverstrebung und schoß. Die Mesonenpistole krachte und flog ihm aus der Hand. Anscheinend hatte er noch nie eine derartige Pistole verwendet. »Bürgermeister Amalfi, soll ich – « »Noch nicht, Sergeant. Halten Sie ihn aber in Schach. He, Sie! Kommen Sie da ’rüber. Aber schön langsam, und halten Sie die Hände über dem Kopf hoch. So, das ist schon besser. Also, warum schießen Sie auf meinen Direktor?« Das dunkle Gesicht war zorngerötet. »Wir erwischen Sie schon«, sagte er wutbebend. »Ein Dutzend Polizeistaffeln sind schon unterwegs. Sie werden euch in die Luft sprengen.« »Warum?« fragte Amalfi in vernünftigem Ton. »Sie haben doch zuerst auf uns geschossen. Wir haben nichts verbrochen.«
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»Natürlich, Sie haben nur einen ungedeckten Scheck ausgestellt! In unserer Gegend ist das ein schlimmeres Verbrechen als Mord. Ich habe bei Lernor nachgefragt, und er schäumt vor Wut. Ich rate Ihnen, beten Sie, daß er nicht als erster hier ist!« »Ein ungedeckter Scheck?« sagte Amalfi. »Sie sind wohl verrückt! Unser Geld ist besser als alles, was ihr hier dafür ausgebt. Es ist Germanium – solides Germanium.« »Germanium?« wiederholte der Docktechniker ungläubig. »Sie haben es doch gehört. Ich würde Ihnen empfehlen, sich die Ohren öfter zu reinigen.« Die Augenbrauen des Technikers stiegen immer höher, und seine Mundwinkel begannen zu zittern. Zwei dicke, ölige Tränen rannen seine Wangen hinunter. Er hatte die Hände immer noch auf dem Kopf und sah aus, als bekäme er gleich einen Schlaganfall. Plötzlich konnte er sich nicht mehr beherrschen. »Germanium!« brüllte er. »Ha, ha, ha, ha, ha! Germanium! Wo haben Sie denn die ganze Zeit gelebt, Tramp? Germanium – ha, ha, ha!« Er konnte vor Lachen nicht mehr reden. Er ächzte und wischte sich die Augen. »Habt ihr kein Gold oder Platin oder Zinn oder Eisen? Oder sonst irgend etwas, das wenigstens ein bißchen Wert hat? Haut ab, ihr Landstreicher! Ihr seid pleite. Ich meine es gut mit euch, haut ab!« Er schien sich etwas beruhigt zu haben. Amalfi sagte: »Was ist an Germanium nicht in Ordnung?« »Nichts«, sagte der Techniker und sah Amalfi mit einer Mischung aus Mitleid und Radisucht an. »Es ist ein gutes, brauchbares Metall. Aber es ist einfach kein Geld mehr, Tramp. Ich verstehe nicht, wie ihr das nicht wissen könnt. Germanium ist jetzt Plunder – nun, nicht ganz, es ist noch etwas wert, aber nur das, was es wirklich wert ist, wenn Sie mich verstehen. Man muß es kaufen. Man kann nichts mehr damit kaufen. Es wird hier nicht als Geld angenommen. Es wird auch woanders nicht als 147 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Geld angenommen. Nirgends, verstehen Sie. Die ganze Milchstraße ist pleite. Vollkommen pleite. Und ihr seid es auch.« Er wischte sich wieder die Augen. Über ihnen heulte eine Sirene auf. Hasselton war bereit und hatte die einfliegenden Polizisten gesichtet. Amalfi konnte nie begreifen, was geschah, als er die Starttaste drückte. Es hätte auch keinen Zweck, die Stadtväter danach zu fragen, weil sie die Antwort einfach verweigern würden; sie wußten es selbst nicht. Was immer sie für die Situation N bereit hatten, das Problem, vor dem jede Nomadenstadt früher oder später stand und bei dem es nur darauf ankam, zu verschwinden, um der völligen Zerstörung zu entkommen – es war drastisch und ohne Beispiel. Zumindest war es so geworden, nachdem die Stadtväter mit den anderen Stadtvätern der Allzweckstadt z usammengearbeitet hatten. Die Stadt riß sich aus dem Trockendock und fand sich im Weltraum wieder. In einem Augenblick war die Stadt noch auf Murphy – Amalfi drückte auf die Taste, und Murphy war verschwunden. Jack wollte dringend wissen, wo die Stadt sich jetzt im Weltraum befand. Man trug ihm auf, es zu berechnen. Die Polizei war zwar ziemlich schnell nach Murphy gekommen, hatte aber nicht einen einzigen Schuß abfeuern können. Als Jack den Planeten Murphy wieder ausfindig gemacht hatte, schickte Brian eine Erkundungsrakete aus, um die Polizei zu beobachten, die mit ihren Schiffen am Himmel herumkurvte. Eine Stunde später verschwand ohne jede Vorwarnung auch die Allzweckstadt aus Murphy. Bis sich die Dockmannschaft so weit gesammelt hatte, daß sie wieder Alarm schlagen konnte, waren die Polizeischiffe in alle Richtungen verstreut, immer noch auf der Jagd nach der Stadt, die eigentlich gar nicht verschwunden sein konnte: Amalfis Stadt. Bis sie sich wieder zusammengefunden hatten, um der Allzweckstadt nachzuspüren,
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hatte diese ihre Maschinen abgestellt, so daß eine Ortung unmöglich war. Sie schwebte etwa 500 000 Kilometer von Amalfis Stadt entfernt in einer Umlaufbahn. Ihr Rotatronschirm war wieder in Aktion. Wenn noch Docktechniker in der Stadt gewesen waren, als sie abflog, mußten diese jetzt tot sein. In der Allzweckstadt gab es keine Luft. Und die Stadtväter wußten wirklich nicht, wie all das zustande gebracht worden war, oder besser, sie wußten es nicht mehr. Situation N war in einem eigenen Stromkreis untergebracht, der anschließend sofort ausbrannte. Man hatte das vor langer Zeit so eingerichtet, damit nicht faule Stadtverwaltungen bei jeder kleineren Krise darauf zurückgreifen konnten. Situation N konnte einmal und dann nie mehr verwendet werden. Amalfi wußte, daß er sie nicht nur für seine eigene, sondern auch für die andere Stadt in einer Situation benützt hatte, die in Wirklichkeit gar nicht diese letzte Lösung verlangt hatte; Amalfi hatte die Situation N beider Städte nutzlos vergeudet. Er war aber sicher, daß beide Städte sie nie mehr benötigen würden. Die beiden Städte, nur mit einem unsichtbaren UltraphonLeitstrahl verbunden, schwebten in der sternenlosen Gegend, die etwa drei Lichtjahre vom Lager und achtzig Lichtminuten von Murphy entfernt war. Amalfi konnte die dunklen Türme der toten Stadt von seinem einsamen Posten auf dem Rathausturm nicht sehen, aber sie standen in Gedanken vor ihm und bedrückten sein Gewissen. Er schob den Gedanken daran beiseite und dachte darüber nach, was er über seinen ungedeckten Scheck gehört hatte. Germanium hatte in Wirklichkeit nie den enormen Wert besessen, der ihm als Währungsbasis eigen gewesen war. Es besaß Vorzüge, die es in vieler Hinsicht sehr nützlich gemacht hatten. Es wurde in unzähligen elektronischen Instrumenten verwendet – und es war selten.
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Aber nicht übermäßig selten. Sein Währungswert war wie der des Silbers, Platins und Iridiums in erster Linie künstlich erzeugt worden. Früher oder später gelang es dann einem Planeten oder einem Sternennebel mit hochentwickelter Technik, so viel davon zusammenzuraffen, daß er alle Konkurrenten und damit seine eigene Währungsreserve vom Germaniumstandard abbringen konnte, oder es gelang jemandem, das Metall auf synthetische Weise billig herzustellen. Was nun wirklich geschehen war, spielte jetzt praktisch keine Rolle mehr. Wichtiger waren die Folgen. Die Germaniummenge, die sich an Bord der Stadt befand, besaß nur mehr ein Achtel ihres früheren Wertes. Wesentlich schlimmer aber war, daß die überwiegende Kapitalanlage der Stadt nur auf dem Papier bestand. Nomadendollars, durch Metall im Regierungsbesitz der Erde gedeckt. Dieses Papiergeld war nun wertlos. Die neue Währung war eine Medikamentenwährung. Wenn die Stadt mit einer erwarteten Ausbeute an Antimortalika aus Heva gekommen wäre, besäße sie jetzt ein unschätzbares Vermögen. So war sie nahe daran, vor dem Ruin zu stehen. Amalfi hätte gern gewußt, wie sich die Medikamentenwährung ergeben hatte. Für Nomaden waren derartige Entwicklungen oft völlig unverständlich, weil sie die meiste Zeit wenig Kontakt mit der allgemeinen Entwicklung hatten. Immerhin mußte man zugeben, daß für die neue Währung einiges sprach. Medikamente können entsprechend ihrer Wirksamkeit und Greifbarkeit wertmäßig genau abgestuft werden. Medikamente, die man in großen Mengen synthetisch und ohne besondere Aufwendungen herstellen konnte, würden als Dollars und Cents der neuen Währung Verwendung finden, während die seltenen und schwer zu erlangenden Medikamente als Hundertdollareinheiten gelten würden. Außerdem konnten wertvolle Medikamente auch verdünnt werden, so daß Schuldenrückzahlungen ratenweise abgewickelt werden könnten. Es wäre möglich, Medikamente auf Fälschungen zu prüfen, wie früher Metalle. Und letztlich wurden
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Medikamente so rasch unmodern, daß ein Horten und Sammeln dadurch ausgeschlossen wurde. Es war eine gute Währung. Da es genauso unpraktisch wäre, Transaktionen mit Teilen von Kubikzentimetern eines Medikamentes durchzuführen, wie früher mit Tonnen von Germanium, würde es nach wie vor Papiergeld geben. Leider war die Stadt, vom Standpunkt der Medikamentenwährung aus gesehen, sehr arm. Von dem neuen Papiergeld besaß sie gar nichts, obwohl man dafür sofort die Germaniumreserven verkaufen würde, um wenigstens einen Grundstock zu bekommen. Die Medikamente an Bord der Stadt durften nicht als Zahlungsmittel verwendet werden, weil man sie brauchte, um das Leben der Stadt zu erhalten. Amalfi war entsetzt, wenn er daran dachte, daß die Antimortalika Ursache eines grausamen Zwiespaltes werden würden. Man stünde vor der Entscheidung, ob man seine Antimortalika zu Geld machen solle, um sich aus Geldschwierigkeiten zu helfen, oder ob man arm bleiben solle, um sein Leben zu verlängern. Amalfi scheute nicht davor zurück, alle Konsequenzen bis zum Ende durchzudenken. Die Stadt war arm. Auf den Akolyten war keine Arbeit gegen angemessene Bezahlung zu finden. Sie konnte aber auch in einer anderen Gegend nicht nach Arbeit suchen, solange sie kein neues Rotatron besaß. Es blieb keine andere Wahl als das Lager. Amalfi hatte die Stadt noch nie in einem Lager abgesetzt, und in seinen Gedanken stand bisher neben dem Wort ›Lager‹ immer gleich das ›Niemals‹. Aber jetzt galten andere Regeln. Amalfi nahm das Mikrophon. »Hasselton?« »Ja, Chef. Was wollen Sie tun?« »Ich weiß es noch nicht«, sagte Amalfi. »Es muß doch irgendeinen Sinn gehabt haben, daß wir die andere Stadt 151 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
gestohlen haben; deswegen müssen wir feststellen, ob wir unsere Stadt verlassen und mit der anderen Stadt von hier verschwinden können. Schicken Sie ein paar Leute in Schutzanzügen ’rüber, und lassen Sie nachsehen.« Hasselton schwieg einen Augenblick. Amalfi fühlte plötzlich, daß die Entscheidung bereits gefallen war. »Wird gemacht«, sagte Hasseltons Stimme. Eine halbe Stunde später sagte Hasselton: »Chef, es tut mir leid, aber die andere Stadt ist noch schlechter dran als unsere. Sie hat zwar gute Rotatrone, die aber alle falsch eingestellt sind. Außerdem sieht die ganze Stadt irgendwie morsch aus, wenn man näher hinsieht – die Docktechniker haben ganze Arbeit geleistet. Unter anderem hat das Fundament einen Riß. Wahrscheinlich haben die Akolyten die Stadt selbst gelandet.« Amalfi konnte natürlich bei der derzeitigen Stimmung Hasseltons, die schon an Auflehnung grenzte, nicht sagen, daß er das schon alles vorher gewußt hatte. Er sagte deshalb nur: »Was würden Sie zu tun empfehlen, Mark?« »Die andere Stadt ihrem Schicksal zu überlassen, Chef. Ich bedauere nur, daß ich geraten habe, sie einfach mitzunehmen. Das einzig Brauchbare, nämlich das Wissen ihrer Stadtväter, haben wir bekommen. Jetzt brauchen wir nichts als ein neues Rotatron, und das ist nur in einer Trockendockanlage möglich.« »Also gut. Stellen Sie den Schutzschirm drüben so ein, daß die Stadt eine konstante Umlaufbahn beibehält, und kommen Sie zurück.« »In Ordnung.« Jetzt war noch zu überlegen, was wegen der Polizei geschehen sollte, die der Stadt nicht nur den ungedeckten Scheck, sondern auch den Diebstahl von Staatseigentum und den Tod der Dockleute in der Allzweckstadt ankreiden würde. Sicherheit gab es nur im Lager und selbst dort nur vorübergehend. Im Lager konnte sich eine Stadt wenigstens zeitweise unter den anderen dreihundert Städten verbergen, von 152 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
denen viele wesentlich besser bewaffnet sein würden als Amalfis Stadt. Vielleicht würde Amalfi in diesem Rudel mit eigenen Augen die sagenumwobene fliegende Vegafestung sehen können, die einzige nichtmenschliche Konstruktion, die ein Nomadenleben führte und über die eine Unmenge phantastischer Erzählungen unter den Weltraumfahrern in Umlauf war. Amalfi war, wie wohl jeder Nomade, von diesen Geschichten fasziniert, obwohl er über die dürftigen Tatsachen genau Bescheid wußte. Die Festung war nach der Niederlage Vegas durch die Polizei Umzingelung ausgebrochen und mit unbekanntem Ziel verschwunden. Man hatte sie nie mehr gesehen. Trotzdem wurden die Geschichten, die man sich über sie erzählte, immer phantastischer. Die Vegas selbst waren alles andere als ein liebenswertes Volk gewesen, so daß die Vorliebe der Nomaden für das Schicksal der fliegenden Festung nicht ganz erklärlich war. Die Nomaden hatten zwar mit der Polizei ein gespanntes Verhältnis und behaupteten, keine freundlichen Gefühle gegenüber der Erde zu hegen, aber das erklärte eigentlich nicht, warum die Sage von der fliegenden Festung bei ihnen so beliebt war. Es hieß von ihr, sie sei inzwischen unzerstörbar geworden und habe in fast jedem Teil der Milchstraße wahre Wunder vollbracht. Sie war überall und nirgends. Amalfi fröstelte. Der Gedanke, der ihn plötzlich überfiel, war so phantastisch, daß er fast instinktiv versucht war, ihn nicht zu Ende zu denken. Die Festung – wahrscheinlich war sie schon vor Jahrhunderten zerstört worden. Aber wenn es sie noch gab, konnte man Schlußfolgerungen nicht entrinnen, die nach gewissen Handlungen verlangten… Jawohl, es war möglich. Es konnte sein. Und ein Versuch würde sich bestimmt lohnen. Und wenn es wirklich funktionierte… Amalfi hatte sich entschieden und schob den Gedanken nun entschlossen beiseite. In der Zwischenzeit war eines sicher: Solange die Akolyten das Lager als billige Arbeitsquelle 153 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
benötigten, konnte es sich die Polizei nicht leisten, alles in Grund und Boden zu schießen, nur um nach einer einzigen ›verbrecherischen‹ Stadt zu suchen. Für die Akolyten waren die Nomaden an sich schon verdächtige Subjekte. Was für seine Stadt zutraf, dachte Amalfi. Sie war jetzt nicht nur eine arme, sondern auch eine Piratenstadt, jedenfalls nach akolytischen Begriffen. Schlimmer konnte es kaum noch kommen. »Chef? Ich bin zurück. Was haben Sie sich inzwischen ausgedacht? Wir müssen unsere Trümpfe bald ausspielen, sonst –« Amalfi starrte unentwegt auf den roten Zwergstern, der hoch über der Plattform stand. »Wir haben keine Trümpfe mehr«, sagte er. »Wir sind am Ende, Mark. Wir fliegen zum Lager.«
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6 Die Städte trieben in ihren Umlaufbahnen um die kleine rotlodernde Sonne. Hier und dort konnte man an einigen der fliegenden Städte auf dem Bildschirm Positionslichter wahrnehmen, aber die meisten hatten nicht einmal genug Energie dafür übrig. In dieser Gegend waren Positionslichter zwar wichtig, aber die Aufrechterhaltung der Rotatronabschirmungen hatte den Vorrang. Nur eine Stadt leuchtete – nicht mit den Fluglichtern, sondern mit ihrer Straßenbeleuchtung. Diese Stadt hatte genug Energie, um sie zu verschwenden, und sie zeigte es offen. Sie wies damit auch darauf hin, daß sie die Energie lieber zwecklos und prahlerisch verschwenden wollte, als sie für die minimalsten Sicherheitseinrichtungen zu verwenden. Amalfi beobachtete das Bild der leuchtenden Stadt. Sie war auf dem Bildschirm nicht ganz scharf zu erkennen, weil das Schwerefeld der roten Sonne, in dessen Einfluß sie sich befand, eine erhebliche Veränderung der Raumstruktur zur Folge hatte. Die Sicht wurde auch noch dadurch behindert, daß der Raum von den kleineren Rotatronfeldern der Städte erfüllt war, die ein weiteres Vordringen von Amalfis Stadt verhinderten. Aber natürlich konnten sich nicht alle dreihundert und etliche Nomadenstädte nahe genug an die rote Zwergsonne drängen, um von dort Wärme zu ergattern. Es mußte auch jemand auf der äußersten Seite bleiben. Es war ebenso natürlich, daß die Stadt mit der größten verfügbaren Energie sich am nächsten an das Sternenfeuer herandrängen würde, während die Städte, die unbedingt Energie sparen mußten, weit draußen in der eisigen Dunkelheit erstarrten. Erstaunlich war nur, daß die leuchtende Stadt gle ichermaßen die geltenden Vorschriften und die Vernunft zu verspotten schien – während von Polizei begleitete Akolytenschiffe zum Mittelpunkt des Lagers flogen. Amalfi schaute auf die Reihen der Bildschirme. Zum zweiten Male innerhalb eines Jahres befand er sich in einem sonst nicht 155 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
benützten Saal des Rathauses. Dies hier war die alte Empfangshalle gewesen, in die vor etwa 1200 Jahren, als die Stadt ihren ersten Flug angetreten hatte, ein Bildschirmsystem besonders komplizierter Art eingebaut worden war. Es wurde nur benützt, wenn sich die Stadt einem hochzivilisierten Sternensystem näherte, damit gleichzeitig zahlreiche Verhandlungen mit verschiedenen diplomatischen, juristischen und wirtschaftlichen Vertretern dieses Sternensystems abgewickelt werden konnten, ohne die eine Nomadenstadt mit einer derartigen Kultur nie ins Geschäft kam. Amalfi hätte sich nie träumen lassen, daß er die Empfangshalle bei dem Einflug in ein Lager werde benützen müssen. Es war überhaupt eine ganze Menge, dachte er grimmig, was er über das Leben in einem Nomadenlager noch nicht wußte. Ein Bildschirm leuchtete auf. In voller Figur erschien eine Frau, die einfach und altmodisch gekleidet war. Ihr Blick war hart. Offensichtlich war sie eine Vertreterin der Akolytenkaufleute. »Wie bereits mitgeteilt«, sagte die Frau nüchtern, »handelt es sich bei der Aufgabe um ein kurzfristiges Entwicklungsprojekt auf Hern VI. Wir können sechs Nomadenstädte brauchen. Bezahlung nach jeweiligem Einsatz.« »Nomaden, Achtung!« Ein weiterer Bildschirm wurde hell. Amalfi war nur leicht erstaunt, auf dem Schirm Leutnant Lerner zu erkennen, der für die Polizei sprach. »Wenn irgendwelche Unruhen auftreten, wird überhaupt keiner angenommen«, sagte Lerner. »Keiner! verstanden? Ihr werdet der Dame eure Angebote in der üblichen Form unterbreiten, und sie wird sie ablehnen oder annehmen, wie sie es für richtig hält. Diejenigen, die außerhalb des Lagers von der Polizei gesucht werden, werden festgenommen, sobald sie das Lager zu verlassen versuchen – Straflosigkeit für diese Arbeit wird nicht zugesichert. Und wenn ich irgendeine verdammte Unverschämtheit feststelle – «
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Leutnant Lerners Zeigefinger beschrieb die typische Geste quer über die Kehle, die über seine Absichten kein Mißverständnis aufkommen ließ. Amalfi brummte etwas vor sich hin und schaltete den Ton ab. Lerner sprach zwar weiter, ebenso etwas später die Frau, aber ein dritter Bildschirm leuchtete auf, und Amalfi mußte wissen, was von dort kommen würde. Der Inhalt der Ansprachen des Polizisten und der Handelsbeauftragten konnte mit ziemlicher Sicherheit vorausgesagt werden – die Stadtväter hatten Amalfi übrigens die Voraussagen bereits gegeben –, und er hatte nur so lange zugehört, um eventuelle geringe Abweichungen überprüfen zu können. Aber was die leuchtende Stadt in der Nähe der roten Sonne, das heißt, was ihr Chef, der König der Tramps, zu sagen hatte, konnten weder Amalfi noch die Stadtväter vorausbestimmen. Leutnant Lerner und die Frau bewegten tonlos ihre Lippen, während sich auf dem dritten Schirm langsam ein Schattenbild abzeichnete. Eine langsam sprechende, brutal klingende Stimme erfüllte bereits den ganzen Raum. »Keiner geht unter sechzig«, sagte die Stimme. »Die Städte der Klasse A verlangen für die Arbeit auf Hern VI einhundertvierundzwanzig und die B-Städte unterbieten solange nicht, bis das verdammte Weib alle A-Städte hat, die sie nehmen will. Wenn sie alle sechs aus der Klasse A nimmt, um so bedauerlicher. Städte der Klasse C haben überhaupt bei diesem Job nicht mitzubieten. Wir nehmen uns jeden vor, der sich nicht daran hält, entweder sofort – « Das Bild wurde scharf. Amalfi starrte es an. »- oder später, wenn die Polizei abgeflogen ist. Das ist für jetzt alles.« Das Bild verschwand. Amalfi sah die riesige, haarlose Gestalt des Mannes noch lange vor sich. Der Trampkönig war ein Mann wie aus Lava. Vielleicht war er eines Tages wirklich geboren worden, aber jetzt sah er jedenfalls
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aus wie ein geologisches Phänomen, eine Säule aus schwarzem Stein, die die ungefähren Umrisse eines Mannes hatte. Sein Gesicht war erschreckend verunstaltet und gezeichnet von der einzigen Krankheit, die noch nicht bezwungen war, obwohl sie nicht mehr töten konnte – Krebs. Eine Stimme flüsterte leise in Amalfis Ohr. Sie kam aus dem winzigen Vibrationslautsprecher, der hinter dem rechten Ohr des Bürgermeisters in einen Knochen eingelassen war. »Er hat genau gesagt, was die Stadtväter vorher behauptet haben«, äußerte sich Hasselton von seinem Posten im Kontrollturm aus. »Aber er kann nicht so naiv sein, wie er tut. Er ist ein Veteran, der schon seit der Zeit im Weltraum ist, als man noch keine Rotatronabschirmung gegen die kosmische Strahlung kannte. Er ist mindestens zweitausend Jahre alt.« »In solch einem langen Zeitraum kann man eine Menge lernen«, flüsterte Amalfi. Er trug unter einem hohen militärischen Kragen Kehlkopfmikrophone. Von den Bildschirmen aus gesehen, stand er bewegungslos, schweigend und alleine im Saal. Obwohl er sehr gut sprechen konnte, ohne, die Lippen zu bewegen, bemühte er sich jetzt nicht darum, weil die unscharfe Übertragung in dieser Gegend seine Lippenbewegungen sicher nicht erkennen ließ. »Es sieht nicht so aus, als meinte er, was er sagt. Aber im Augenblick ist es besser, wenn wir uns nicht rühren.« Er blickte in den Kampfplantank. Das war eine dreidimensionale Karte, auf der sich farbige Lichtpünktchen bewegten. Das waren die Städte, die nahe Sonne und die Akolytenschiffe, nicht maßstäblich, sondern in ihrer Stellung zueinander. Der Tank war als Schreibtisch getarnt, und zwar so, daß man nur von hinten in ihn hineinsehen konnte. Außer Amalfi konnte ihn daher niemand beobachten. Durch einen Blick konnte Amalfi feststellen, daß die Akolyten ein Handelsschiff und vier Polizeischiffe mitgebracht hatten. Eines der letzteren war ein schwerer Befehlskreuzer, sehr wahrscheinlich der Lerners, die anderen leichte Kreuzer.
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Das war eine starke Streitmacht, aber man brauchte keine ganze Polizeiabteilung. Mit einem Minimum an Organisation hätten die Nomaden Lerner und seine Leute aus dem Lager vertreiben können, aber wohin konnten die Nomaden flüchten, wenn Lerner die Luftflotte um Hilfe bat? Diese Frage beantwortete sich von selbst. Eine lange Reihe von dreiundzwanzig kleineren Bildschirmen leuchtete am oberen Rand der Stirnwand des Raumes auf. Dreiundzwanzig Gesichter sahen auf Amalfi herunter – die Gesichter aller Bürgermeister der Städte in Klasse A des Lagers, mit einer Ausnahme. Amalfis eigene Stadt war die vierundzwanzigste. Amalfi schaltete die Tonübertragung wieder ein. »Können wir anfangen?« fragte die Frau. »Ich habe die Codenummern für vierundzwanzig Städte hier und sehe, daß Sie alle versammelt sind. Wenig Mut heutzutage unter den Tramps – vierundzwanzig von dreihundert für einen ganz einfachen Job. Das ist genau die Einstellung, wegen der ihr erst Nomaden geworden seid. Ihr habt Angst vor ehrlicher Arbeit.« »Wir wollen arbeiten«, sagte die Stimme des Königs. Sein Bildschirm blieb jedoch dunkel. »Prüfen Sie die Codenummern, und entscheiden Sie sich.« Die Auftraggeberin suchte vergeblich nach dem Gesicht, das zu der Stimme gehörte. »Keine Unverschämtheiten«, sagte sie scharf, »oder ich suche mir Freiwillige aus der B-Klasse. Dabei könnte ich noch Geld sparen.« Sie erhielt keine Antwort, runzelte die Stirn und blickte auf die Codeliste in ihrer Hand. Nach einer kurzen Pause rief sie drei Nummern auf und, nach längerem Zögern, eine vierte. Vier Bildschirme über Amalfis Kopf wurden dunkel, und im Tank konnte man sehen, wie sich vier grüne Punkte in entgegengesetzter Richtung des roten Zwergsterns in Bewegung setzten.
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»Das wäre alles, was wir für Hern VI brauchen, mit Ausnahme der Hochdruckarbeit«, sagte die Frau langsam. »Hier sind sieben Städte als Druckspezialisten aufgeführt. Wer sind Sie denn?« »Bradley-Vermont«, sagte eines der Gesichter über Amalfi. »Was würden Sie für diese Arbeit verlangen?« »Hundertundvierundzwanzig«, sagte der Bürgermeister von Bradley-Vermont mürrisch. »Oho! Sie schätzen sich wohl sehr hoch ein? Es ist vielleicht besser, wenn Sie hier noch eine Weile bleiben und verrotten, bis Sie etwas mehr über das Gesetz von Angebot und Nachfrage gelernt haben. Sie – Sie sind Dresden-Sachsen, heißt es hier. Was verlangen Sie? Denken Sie daran, ich brauche nur eine Stadt.« Der Bürgermeister von Dresden-Sachsen war ein schmächtiger Mann mit hohen Backenknochen und glitzernden schwarzen Augen, Er schien sich gut zu unterhaken, trotz der offenkundigen Tatsache, daß er chronisch unterernährt war; jedenfalls lächelte er ein wenig, und seine schwarzen Augen blitzten über den dunklen Schatten, die sie größer erscheinen ließen, als sie wirklich waren. »Wir verlangen hundertvierundzwanzig«, maliziöser Gleichgültigkeit.
sagte
er
mit
Die Augen der Frau verengten sich, »Das verlangen Sie, was? Das ist ein Zufall, nicht wahr? Und Sie?« »Das gleiche«, sagte der dritte Bürgermeister, aber sichtlich mit großem Widerstreben. Die Frau drehte sich herum und deutete direkt auf Amalfi. In ganz alten Städten, wie in der des Königs, würde man nicht erkennen können, auf wen sie deutete, aber die meisten der anderen Städte besaßen entsprechend moderne Bildgeräte. »Wie heißt Ihre Stadt?« »Diese Frage beantworten wir nicht«, sagte Amalfi, »und außerdem sind wir keine Druckspezialisten.« 160 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Das weiß ich, ich kann die Codenummern lesen. Aber Sie sind der größte Tramp, den ich je gesehen habe, wobei ich nicht Ihren Bauch meine. Für den zu erfüllenden Zweck sind Sie sicher modern genug ausgerüstet. Sie können den Job für hundert haben – aber nicht mehr.« »Kein Interesse.« »Sie sind ebenso dumm wie fett. Sie sind gerade erst in dieses Lager gekommen, und außerdem liegen gegen Sie Anklagen vor –« »Ah, Sie wissen also, wer wir sind. Warum haben Sie dann gefragt?« »Das spielt jetzt keine Rolle, Sie wissen nicht, was ein Lager ist, solange Sie nicht in einem gelebt haben. Wenn Sie schlau sind, nehmen Sie den Job und verschwinden, solange es noch geht. Ich könnte Ihnen hundertundzwölf geben, wenn Sie die Arbeit vor Termin beenden.« »Sie lehnen die Erteilung von Straflosigkeitszusicherungen ab«, sagte Amalfi. »Sie brauchen sich nicht zu bemühen. Wir sind für keinen Preis an Hochdruckarbeiten interessiert,« Die Frau lachte. »Sie sind auch noch ein Lügner. Sie wissen genausogut wie ich, daß niemand Nomaden festnehmen darf, solange sie bei der Arbeit sind. Außerdem würde es Ihnen nicht schwerfallen, zu verschwinden, sobald die Arbeit beendet ist. Also, passen Sie auf, ich gebe Ihnen hundertundzwanzig. Das ist mein letztes Angebot und nur um vier weniger als das, was die Druckspezialisten verlangen. Annehmbar?« »Es mag annehmbar genug sein«, sagte Amalfi, »aber wir machen keine Hochdruckarbeiten. Übrigens haben wir sofort, nachdem uns Leutnant Lerner mitteilte, um welche Arbeit es sich handeln sollte, Erkundungsraketen nach Hern VI geschickt. Es gefällt uns nicht. Wir wollen diesen Job nicht. Wir machen die Arbeit nicht für hundertundzwanzig, wir machen sie nicht für hundertundvierundzwanzig, wir machen sie überhaupt nicht, verstehen Sie?«
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»Sehr schön«, sagte die Frau bösartig. »Sie werden wieder von mir hören, Sie Tramp.« Der König sah Amalfi mit einem schwer zu entziffernden, aber sichtlich unfreundlichen Ausdruck an. Wahrscheinlich dachte er, daß Amalfi die Nomadensolidarität doch etwas übertrieb. Vielleicht kam er auch auf den Gedanken, daß der Ausdruck einer solchen Unabhängigkeit einen Machtanspruch auf die Führung des Lagers selbst in sich enthielt. Ja, Amalfi war sich im klaren, daß dem König zumindest dieser Gedanke gekommen war. Nun blieb nur noch die Verpflichtung der B-Städte, aber es dauerte eine Weile, bis es soweit war. Die Frau war offensichtlich mehr als eine Beauftragte; sie war eine Unternehmerin von bedeutendem Einfluß. Sie brauchte zwanzig Städte, alle für die gleiche schmutzige Arbeit: die Bearbeitung unergiebiger Karnotitlager auf einem kleinen Planeten in nächster Nähe eines heißen Sternes. Zwanzig Städte auf solch einem kleinen Planeten würden ihn in ein paar Monaten zu einem schmutzigen, unbrauchbaren Klumpen verwandeln. Die Absicht war klar. Man wollte diese Arbeit möglichst rasch erledigen, ohne mehr als ein Trinkgeld dafür bezahlen zu müssen. Dann kam überraschend, während die Frau noch überlegte, eine Stimme. Sie war schwach und undeutlich zu vernehmen, und kein Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Wir übernehmen den Job. Nehmen Sie uns.« Von den Bildschirmen ertönte ein Gemurmel, und über einige Gesichter schien ein Schatten zu gleiten. Amalfi blickte in den Tank, konnte aber nur wenig entdecken. Das Signal war zu schwach. Alles, was man ausmachen konnte, war, daß die Stimme zu einer der Städte am Rande des Lagers gehörte – einer Stadt, der die Energieversorgung Mühe machte. Die Akolytenfrau schien plötzlich verlegen zu sein. Sogar in einem Lager, dachte Amalfi grimmig, mußten gewisse Regeln beachtet werden. Die Frau wußte anscheinend, daß die
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Verpflichtung dieses Freiwilligen, bevor die anderen überhaupt befragt waren, übelgenommen werden würde. »Halten Sie sich heraus«, sagte die Stimme des Königs, noch langsamer und schwerer als vorhin. »Lassen Sie der Dame die Entscheidung. Sie kann einen C-Verein nicht brauchen.« »Wir nehmen den Job. Wir sind eine Bergbaustadt und können das Zeug auch gleich verarbeiten, durch Gasdiffusion, Massenspektrographie, Massenchromatographie, was verlangt wird. Wir können damit umgehen. Und wir brauchen die Arbeit.« »Die anderen auch«, sagte der König kalt und unbeeindruckt. »Warten Sie, bis Sie dran sind.« »Wir sterben hier draußen! Kälte, Hunger, Durst, Krankheiten!« »Anderen geht es genauso schlecht! Glauben Sie, daß wir gerne hier sind? Warten Sie, bis Sie drankommen!« »Schluß jetzt«, sagte die Frau plötzlich. »Ich habe genug davon, daß mir jeder sagt, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich nehme alles, wenn nur endlich Schluß ist. Übermitteln Sie Ihre Koordination, wer immer Sie sind da draußen, und – « »Übermitteln Sie sie, und wir schießen Ihnen ein Dirac-Torpedo auf den Leib, ehe Sie noch ausgeredet haben!« brüllte der König. »Akolyten, was bezahlen Sie für diese Gesteinsheberei? Niemand hier arbeitet für weniger als sechzig – daran ist nicht zu rütteln.« »Wir machen es für fünfundfünfzig«, sagte die Stimme. Die Frau lächelte unangenehm. »Es scheint so, als gäbe es in diesem Misthaufen jemand, der froh ist, zur Abwechslung ehrliche Arbeit leisten zu können. Wer kommt als nächster?« »Zum Teufel, Sie brauchen keine C-Stadt zu nehmen«, platzte einer der Zurückgewiesenen aus der A-Klasse heraus. »Wir nehmen auch fünfundfünfzig. Was haben wir zu verlieren?« »Dann nehmen wir fünfzig«, flüsterte die Stimme sofort.
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»Sie nehmen gar nichts! Und Sie – Sie sind CoquilhatvilleKongo, wie? – Ihnen wird es noch leid tun, daß Sie den Mund aufgemacht haben.« In die grünen Punkte im Tank kam bereits Bewegung. Einige der größeren Städte verließen ihre Umlaufbahnen. Die Frau sah etwas aufgeregt hin und her. »Hasselton!« murmelte Amalfi schnell. »Ich glaube, daß das noch schlimmer werden wird. Bereiten Sie alles vor, damit wir in eine der verlassenen Umlaufbahnen in der Nähe der roten Sonne einschwenken können, sobald ich Ihnen das Signal gebe.« »Wir können aber keine große Geschwindigkeit erreichen – « »Das will ich auch nicht, wenn wir es auch könnten. Es muß so langsam vor sich gehen, daß niemand bemerkt, wie wir gegen die allgemeine Bewegungsrichtung fliegen. Außerdem brauche ich eine Ortsbestimmung der Stadt am Rande des Lagers, die eben aus der Reihe tanzte, wenn es Ih nen möglich ist. Wenn es ohne Aufsehen nicht geht, dann lassen Sie es.« »In Ordnung!« »Ich werde euch helfen!« rief die Frau aus. »Die ganze Sache ist für heute erledigt. Keine Arbeit, für niemanden. Ich komme in einer Woche wieder. Vielleicht sind Sie dann wieder etwas zur Vernunft gekommen. Leutnant, wir verschwinden so schnell wie möglich.« Das war jedoch schneller gesagt als getan. Zwischen den Akolytenschiffen und dem offenen Weltraum befand sich eine Welle aus großen Städten, die sich in die Dunkelheit hinein ausbreiteten, wo die schwächeren Städte froren. In dieser zweiten kalten Front gerieten die C-Städte in Aufruhr, und noch weiter draußen rasten die grünen Punkte. Es waren die Städte, deren Arbeitsverträge eben widerrufen worden waren. In der Empfangshalle herrschte ein wildes Stimmengewirr, das hauptsächlich von den Bürgermeistern kam, die versicherten, daß sie es nicht gewesen seien, die aus der Reihe getanzt waren. Im Schutz dieses Lärms riefen irgendwo einige Städte der 164 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Akolytenfrau neue Angebote zu. Über allem konnte man das Gebrüll des Königs vernehmen. »Räumen Sie den Himmel!« rief Lerner. »Räumen Sie das Gebiet, zum – « Wie als Antwort knisterte der Tank von haarfeinen Linien. Das Geräusch vereinzelten Mesonengewehrfeuers knallte in den Lautsprechern und zog scharfe Linien über den Bildschirm. Schrecken, der Schrecken eines Mannes, der plötzlich feststellen muß, daß die Lage, in der er sich befindet, schon immer lebensgefährlich war, erfüllte Lerners Gesicht. Amalfi sah, wie er nach irgendeinem Gegenstand griff. »Los, Hasselton, Start!« Das defekte Rotatron heulte auf, und die Stadt setzte sich langsam in Bewegung. Lerners Ellbogen stemmte sich gegen seinen Körper, und aus seinem Schiff kam der Schein eines Bethéstrahlers. Wenige Sekunden später flog etwas im entsetzlichen Blitz einer Kernexplosion in die Luft – etwas, das sich so weit vom Mittelpunkt des Aufruhrs befand, daß Amalfi zunächst dachte, Lerner wollte nur zur Abschreckung Nomadenstädte zerstören. Aber ein Blick auf Lerners Gesicht zeigte ihm, daß der Schuß blindlings abgefeuert worden war. Lerner war über den Tod seines unbekannten Zuschauers genauso überrascht wie Amalfi und sichtlich aus den gleichen Gründen. Die Stärke dieses Gefühls bei Lerner überraschte Amalfi von neuem. Vielleicht war bei Lerner doch noch etwas zu hoffen. Irgendein unglaublicher Narr unter den Nomaden schoß auf das Polizeischiff, erzielte aber keinen Treffer. Mesonengewehre waren nicht in erster Linie für militärische Verwendung bestimmt, und die Akolyten hatten sich fast schon aus der Umzingelung des Lagers frei gemacht. Amalfi fürchtete einen Augenblick, Lerner würde aus Rache mit dem Bethéstrahler blindlings zurückfeuern, aber der Polizist war anscheinend vernünftig geworden. Zumindest wurde aus seinem Schiff nicht mehr geschossen. Vielleicht hatte er eingesehen, daß ein 165 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
weiterer Feuerwechsel den Vorfall aus einer kleineren Rauferei in einen gewaltigen Aufstand verwandeln und das Eingreifen der akolytischen Luftflotte erforderlich machen würde. Nicht einmal die Akolyten konnten das wollen, weil sie sich damit selbst die billigen Arbeitskräfte genommen hätten. Die Rotatrone der Stadt wurden abgeschaltet. Düsterrauchiges rotes Licht drang durch die Öffnungen des Saales. »Wir sind in der Nähe der roten Sonne in eine Umlaufbahn eingeschwenkt, Chef, und befinden uns nur etwa eine Million Kilometer von der Stadt des Königs entfernt.« »Gut gemacht, Mark. Stellen Sie ein Raumboot bereit, wir machen einen Besuch.« »In Ordnung, Chef. Soll irgend Ausrüstung mitgenommen werden?«
etwas
Besonderes
an
»Ausrüstung?« sagte Amalfi langsam. »Nein. Aber wir nehmen am besten Sergeant Anderson mit und, Mark – « »Ja?« »Nehmen Sie Dee auch mit.« Der Regierungssitz in der Stadt des Königs war besonders eindrucksvoll: ein uraltes, prächtiges Gebäude aus Marmor. Es stand erhöht über einer Reihe kleinerer Gebäude von ebenso drückender Schönheit. Eines dieser Bauwerke war eine schwere, archaische, freitragende Brücke, deren Nutzwert Amalfi nicht begriff. Sie überspannte eine ausnehmend breite Prachtstraße, von der die Stadt in zwei Teile geteilt wurde und auf der es fast keinen Verkehr gab. Auch die Brücke wurde nur von wenigen Fußgängern benützt. Amalfi entschied sich für die Meinung, daß die Brücke nur noch aus historischen Gründen existierte. Einen anderen Grund dafür schien es nicht zu geben, weil in der Stadt des Königs wie in allen Nomadenstädten der Verkehr mit Lufttaxis abgewickelt
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wurde. Die Brücke war schön, so schön wie Amalfis Rathaus. Wahrscheinlich war sie auch deswegen erhalten geblieben. Das Lufttaxi landete mit einem leichten Stoß. »Wir sind da, meine Herren«, sagte die automatische Steuerungsanlage. »Willkommen in Budapest.« Amalfi folgte Hasselton und Dee hinaus auf den Platz; am geröteten Himmel waren noch viele Lufttaxis zum Palast des Königs unterwegs. »Sieht aus wie eine Versammlung«, sagte Hasselton. »Gäste von außerhalb, nicht nur wichtige Verwaltungsleute aus dieser Stadt allein. Warum sonst die Begrüßung durch den Automaten?« »Das ist auch meine Meinung. Wir kommen gerade zurecht. Ich glaube, daß der König von seinen Schützlingen heute allerhand zu hören bekommt. Durch die Schießerei mit Lerner und den Verlust aller Arbeitsmöglichkeiten dürfte er viel an Ansehen verloren haben. Wenn das wirklich zutrifft, hätten wir schon einen Angriffspunkt.« »Wo ist denn der Eingang?« fragte Hasselton. »Ach, hier geht’s ’rein.« Sie eilten durch einen großen, schattigen Vorhof. Innen im Vorraum sahen sie zahlreiche Menschen, die entweder in kleinen Gruppen flüsternd beieinander standen oder eilig der breiten Freitreppe zustrebten. Die Eingangshalle war mit riesigen Leuchtern geschmückt, die zwar wenig Licht gaben, aber einen wundervollen Eindruck machten. Jemand zupfte Amalfi am Ärmel. Er sah hinunter. Vor ihm stand ein schmächtiger Mann mit slawischen Gesichtszügen und schwarzen Augen, in denen der Schalk blitzte. »Wenn ich hier bin, bekomme ich Heimweh«, sagte der schmächtige Mann, »obwohl wir nicht so imposant bauen wie die hier. Sie müssen der Bürgermeister der unbekannten Stadt sein, die alle Angebote abgelehnt hat, habe ich recht?«
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»Ja, Sie haben recht«, sagte Amalfi, der den Mann im Zwielicht der Empfangshalle nur undeutlich erkennen konnte. »Und Sie sind der Bürgermeister von Dresden-Sachsen, Franz Specht. Was können wir für Sie tun?« »Danke, nichts. Ich wollte mich nur bekannt machen. Es könnte sein, daß Sie drinnen jemand brauchen, den Sie kennen.« Er deutete mit dem Kopf in die Richtung der Treppe. »Ich bewundere Ihre Haltung, aber es dürfte einige geben, die sie Ihnen übelnehmen werden. Warum hat Ihre Stadt übrigens keinen Namen?« »Sie hat einen«, sagte Amalfi, »aber wir brauchen ihn manchmal als Waffe. Und als solche müssen wir ihn geheimhalten.« »Als Waffe! Das ist einige Überlegung wert. Wir werden uns hoffentlich später nochmals sehen.« Specht verschwand, ein Schatten unter vielen. Hasselton sah Amalfi mit erstauntem Gesicht an. »Wo will er hinaus, Chef? Will er sich rückversichern?« »Wahrscheinlich. Aber wir können in diesem Verein einen Freund gebrauchen, wie er selbst sagte. Gehen wir hinauf.« Im großen Saal, dem früheren Thronsaal eines Reiches, älter als alle Nomadenstädte, alter selbst als der Raumflug, war die Versammlung bereits eröffnet. Der König stand auf dem Podium, eine riesengroße, glatzköpfige, narbige und erschreckende Gestalt, schwarz und glänzend. Sein Alter war nicht das Alter der Gebrechlichkeit, sondern das des Urgesteins, verwittert und unzerstörbar. Jeden anderen hätte man als Bürgermeister Budapests erwarten können – ihn nicht. Trotzdem hatte der König die murrenden Nomaden anscheinend mühelos in der Gewalt. Seine rauhe Stimme schlug in ihrer vollen Lautstärke alle Zuhörer in Bann. Die gelegentlichen Protestrufe gingen im Gebrüll des Königs unter. »Ihr seid also wütend!« donnerte er. »Ihr habt ein bißchen was abgekriegt, und nun sucht ihr einen, auf den ihr die Schuld laden 168 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
könnt. Nun, ich werde euch sagen, wer schuld ist! Und, bei Gott, wenn ich fertig bin, werdet ihr tun, was ich euch sage, und zwar alle, wie ihr hier seid!« Amalfi schob sich mit Hilfe seiner Ellbogen durch die dichtgedrängte Menge der Bürgermeister und Stadtdirektoren. Hand in Hand folgten dicht hinter ihm Hasselton und Dee. Einige Nomaden beschwerten sich zwar über das ungestüme Vordrängen Amalfis, aber sie waren von der Rede des Königs sehr beeindruckt und entwarfen gleichzeitig Widerstandspläne gegen die despotische Führerschaft des Königs, so daß sie zu schärferen Protesten gar keine Zeit hatten. »Warum bleiben wir eigentlich hier und lassen uns diese Behandlung von den Akolyten gefallen?« brüllte der König. »Ihr habt die Nase voll! Gut, ich auch. Ich wollte von Anfang an das alles nicht hinnehmen! Bevor ich herkam, habt ihr euch gegenseitig bis auf kleinste Beträge unterboten. Wenn die Bieterei vorbei war, arbeitete die Stadt, die den Job bekommen hatte, grundsätzlich mit Verlust. Ich habe euch gezeigt, wie man sich organisiert. Ich habe euch gezeigt, wie man eine feste Lohnfront aufbaut und wie man sie aufrechterhält. Und ich werde es auch wieder sein müssen, der euch beibringt, was man gegen das Auseinanderbrechen einer solchen Front tut!« Amalfi nahm Dee bei der Hand und zog sie nach vorn, bis sie neben ihm stand. Sie waren nun in der vordersten Reihe angelangt und befanden sich unmittelbar vor dem Podium. Dem König fiel die Unruhe auf. Er machte eine Pause und sah nach unten. Amalfi fühlte, wie Dee zusammenzuckte. Er drückte ihr beruhigend die Hand. »Also schön«, sagte Amalfi. Wenn er wollte, konnte er seine Stimme beachtlich anschwellen lassen. »Dann zeigen Sie es uns, oder halten Sie den Mund.« Der König, der ihnen direkt ins Gesicht sah, machte eine plötzliche Bewegung, so, als wolle er einen Schritt zurück tun. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« schrie er.
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»Ich bin der Bürgermeister der einzigen Stadt, die heute durchgehalten hat«, erwiderte Amalfi. Er schrie nicht, aber seine Stimme klang in dem großen Saal nicht schwächer als die des Königs. Durch die Menge lief ein unterdrücktes Gemurmel, und Amalfi konnte sehen, wie sich viele Köpfe zu ihm drehten. »Wir sind als letzte und größte Stadt hier angekommen, und wir haben heute das erste Beispiel für die Art, in der Sie die Lohnverhandlungen betreiben, gesehen. Wir halten sie für Blödsinn. Lieber soll uns der Teufel holen, bevor wir von den Akolyten Arbeit zu irgendwelchen von ihnen diktierten Löhnen annehmen, geschweige denn zu den niedrigen Löhnen, die sie festsetzen.« In der Nähe wandte sich ein Nomade ihm zu und schaute Amalfi schief an. »Ihr könnt wohl von Luft leben«, sagte er trocken. »Nein, aber wir wollen uns anständig ernähren«, knurrte Amalfi. »Sie da auf dem Podium – tragen Sie Ihren großen Plan vor, mit dem wir aus dieser Klemme herauskommen sollen. Schlechter als die Lohnfrontidee kann er auch nicht mehr sein, das steht fest.« Der König begann, auf dem Podium hin und her zu gehen. Als Amalfi geendet hatte, drehte er sich um und stand mit gespreizten Beinen und ausgestreckten Armen vor ihnen. Sein kahler Schädel glänzte gegen den Hintergrund verblaßter Wandteppiche. »Ich trage ihn schon vor«, rief der König, »nur keine Angst, ich trage ihn schon vor! Wir werden sehen, was von Ihrem lauten Geschwätz noch übrigbleibt, wenn Sie gehört haben, was ich vorhabe. Sie können dann zurückbleiben, wenn Sie wollen. Aber wenn Sie Mut haben, schließen Sie sich uns an.« »Wohin?« sagte Amalfi ruhig. »Wir machen einen ›Marsch‹ zur Erde.« Für einen Augenblick war es totenstill. Dann brach ein Tumult ohnegleichen aus. 170 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Amalfi grinste. Der Aufruhr klang nicht gerade freundlich und zustimmend. »Wartet!« brüllte der König. »Wartet, zum Teufel noch mal! Ich frage euch – was hat es für einen Sinn, gegen die Akolyten zu kämpfen? Das sind nur Hinterwäldler, die genausogut wie wir wissen, daß sie mit ihrem Sklavenmarkt, ihrer privaten Streitmacht und ihren Schießereien nicht durchkommen würden, wenn die Erde darüber Bescheid wüßte.« »Warum rufen wir dann die Erdpolizei nicht?« wollte jemand wissen. »Weil sie nicht hierherkommen würde. Sie kann nicht. In der ganzen Milchstraße gibt es Nomaden, die dasselbe hinnehmen müssen wie wir, weil die Depression überall gleich stark ist. Es gibt nicht so viele Erdpolizisten, daß sie überall sein könnten. Aber wir brauchen es nicht hinzunehmen. Wir können zur Erde fliegen und unser gutes Recht verlangen. Wir sind Erdenbürger, jeder einzelne von uns – oder gibt es Vegas hier? Bist du ein Vega, Freundchen?« Das narbendurchfurchte Gesicht starrte mit grausigem Lächeln auf Amalfi hinunter. Durch den Saal tönte ein nervöses Kichern. »Wir anderen alle können zur Erde fliegen und dort verlangen, daß uns die Regierung auslöst. Wofür ist denn die Regierung eigentlich da? Wer verdient das Geld, von dem die Politiker seit ewiger Zeit leben, und gut leben? Was hätten die Regierungen zu regieren und zu besteuern und mit Strafen zu belegen, wenn es die Nomaden nicht gäbe? Geben Sie mir darauf eine vernünftige Antwort. Sie dort, mit der fliegenden Festung unter dem Gürtel!« Das Gelächter war lauter und klang sicherer als vorher. Amalfi war jedoch an Witzeleien über seinen Bauch gewohnt. Solche Witze zeigten ihm nur, daß sein Gegner keine wesentlichen Argumente mehr vorzubringen hatte. Er erwiderte kalt: »Mehr als die Hälfte von uns stand, als wir hierher kamen, unter Anklagen – nicht örtlicher Übertretungen wegen, sondern wegen Vergehen gegen zahlreiche gesetzliche Vorschriften der Erde. 171 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Einige haben es seit Jahrhunderten vermeiden können, wegen der Strafliste zur Erde zurückgebracht zu werden. Wollen Sie sich der Erdpolizei selbst auf einem Tablett servieren?« Der König schien nur mit halbem Ohr zuzuhören. Während der zweiten Lachsalve hatte sich sein Gesicht in ein breites Grinsen verzogen. Er schaute Dee an, offensichtlich Bewunderung heischend. »Wir werden einen Ruf über den Dirac-Sender funken«, sagte er. »An alle Nomaden, wo sie auch sein mögen. ›Wir kehren alle zur Erde zurück‹, werden wir sagen. ›Wir kehren zurück, um eine Rechnung zu präsentieren. Wir haben für die Erde in der gesamten Milchstraße schwere Arbeit geleistet, und die Erde hat uns damit honoriert, daß sie unser Geld in Abfall verwandelt hat. Wir kehren zurück, um zu erreichen, daß die Erde etwas für uns tut – wir setzen ein Datum fest –, und jeder Nomade mit Raumfahrermut folgt uns nach!‹ Nun, wie klingt das?« Amalfi erwiderte dem König nichts. Er sah ihn nur mit harten Augen an. Weit hinten im Thronsaal rief plötzlich eine andere, bekannte Stimme: »Der Bürgermeister der Stadt ohne Namen hat eine entscheidende Frage gestellt. Vom Standpunkt der Erde aus gesehen, sind wir im schlimmsten Falle eine gefährliche Ansammlung potentieller Verbrecher. Im besten Falle betrachtet man uns als unzufriedene Arbeitslose, die in größerer Anzahl in der Nähe des Heimatplaneten nicht erwünscht sind.« Hasselton kämpfte sich nun auch durch die Reihen und starrte den König streitlustig an, als er endlich auf der anderen Seite Dees stand. Der König sah jedoch nicht mehr hinunter, sondern über Hasseltons Kopf hinweg auf die Menge. »Hat jemand eine bessere Idee?« fragte der riesige Schwarze trocken. »Hier unten ist der gute alte Vega, voll von Ideen. Wir wollen sie uns anhören. Ich wette, sie sind großartig. Er ist bestimmt ein Genie, dieser Vega.« »Gehen Sie hinauf, Chef«, zischte Hasselton. »Sie haben sie schon in der Tasche.« 172 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Amalfi ließ Dees Hand los, stieg ungeschickt, aber ohne besondere Anstrengung auf das Podium und wandte sich mit dem Gesicht zur Menge. »He, Sie, Mister«, rief jemand. »Sie sind ja gar kein Vega.« Die Menge lachte verlegen. »Das habe ich nie behauptet«, erwiderte Amalfi. Hasselton machte sofort ein langes Gesicht. »Seid ihr alle ein Haufen kleiner Kinder? Diesmal hilft euch keine mythische Festung aus der Klemme. Auch nicht ein verrückter Massenstart zur Erde. Diesmal gibt es keinen einfachen Weg. Es gibt nur eine, allerdings sehr schwierige Lösung, wenn ihr dazu den Mut habt.« »Lassen Sie hören!« »Reden Sie!« »Los!« »Also gut«, sagte Amalfi. Er ging zu dem riesigen Thron der Habsburger und setzte sich, so daß der König das Nachsehen hatte. Amalfi war trotz seines Umfanges kleiner als der König, aber seit er auf dem Thron saß, wirkte der König nicht nur unscheinbar, sondern auch reichlich überflüssig. Vom Hintergrund des Podiums aus klang die Stimme Amalfis genauso kraftvoll wie vorher. »Meine Herren«, sagte er, »unser Germanium ist jetzt wertlos. Ebenso unser Papiergeld. Sogar unsere Arbeit scheint überhaupt keinen Wert mehr zu besitzen. Das ist unser Problem, und auch die Erde kann da nicht viel ausrichten – sie ist in der gleichen Lage wie wir.« »Ein Gelehrter«, sagte der König und verzog seinen Mund zu einer verächtlichen Grimasse. »Halten Sie den Mund. Sie haben mich heraufgebeten. Ich bleibe hier, bis ich fertig bin. Die Ware, die wir verkaufen, ist unsere Arbeitskraft. Handarbeit, schwere Arbeit, ist nichts wert, weil sie von Maschinen verrichtet werden kann. Aber 173 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Gehirnarbeit kann nur von Gehirnen geleistet werden. Kunst und reine Wissenschaft stehen außerhalb der Möglichkeiten jeder Maschine. Nun können wir keine Kunst verkaufen. Wir können sie nicht produzieren. Wir sind weder Künstler noch für die Herstellung von Kunst eingerichtet. Dafür ist ein besonderer Teil der Milchstraße zuständig. Aber Gehirnarbeit in reiner Wissenschaft ist etwas, das wir verkaufen können, genau wie wir früher Gehirnarbeit in den angewandten Wissenschaften verkauft haben. Wenn wir schlau sind, können wir sie überall verkaufen, und zwar zu den Preisen, die wir verlangen, wobei es überhaupt nicht auf die Art der Währung ankommt. Gehirnarbeit ist die wichtigste Ware und letzten Endes die einzige, die ausschließlich die Nomaden auf den Markt bringen können. Mit dem Verkauf dieser Ware können wir die ganzen Akolyten oder irgendein beliebiges Sternensystem übernehmen. Wir schaffen das während einer allgemeinen Depression sogar eher als vorher, weil wir die Preise diktieren können.« »Beweisen Sie das«, rief einer. »Das ist nicht schwierig. Wir haben hier ungefähr dreihundert Städte. Schließen wir uns zusammen und benützen wir das gesamte angesammelte Wissen. Das ist das erste Mal in der ganzen Geschichte, daß so viele Stadtväter auf einem Platz versammelt sind, ebenso ist es das erste Mal, daß sich so viele Organisationen, die in verschiedenen Wissenschaftszweigen Spezialisten sind, an einem Platz getroffen haben. Wenn wir uns gegenseitig beraten und unsere Fähigkeiten vereinigen, sind wir dem Rest der Milchstraße in technischer Hinsicht mindestens um tausend Jahre voraus. Einzelne Experten sind jetzt praktisch für einen Pappenstiel zu haben, aber weder ein einzelner Experte noch eine einzelne Stadt, noch ein einzelner Planet hatten annähernd das, was wir besitzen würden. Das ist die unvergleichbare Münze, meine Herren, die allumfassende Münze: menschliches Wissen. Denken Sie doch nach. Es gibt in dieser Milchstraße fünfundachtzig Millionen unentwickelte Planeten, die bereit sind, für das derzeitige Wissen 174 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
zu bezahlen, für das Wissen, das wir jetzt schon alle besitzen und das durchschnittlich ein ganzes Jahrhundert hinter dem der Erde zurückbleibt. Aber wenn wir unsere Fähigkeiten zusammenlegen, würden selbst die höchst entwickelten Planeten, ja sogar die Erde ihre gesamte Währung hingeben, nur um das zu kaufen, was w ir anbieten können.« »Eine Frage!« »Sie sind Dresden-Sachsen da hinten, stimmt’s?« sagte Amalfi. »Fragen Sie, Bürgermeister Specht.« »Sind Sie sicher, daß aufgehäufte und angesammelte Technik die Antwort auf unsere Probleme ist? Sie sagten eben selbst, daß die Technik als solche Sache der Maschinen ist. Die alten GödelChurch-Lehrsätze zeigen, daß keine Maschine oder Maschinengruppe in der Lage ist, wesentliche Fortschritte dem menschlichen Denken gegenüber zu erzielen. Der Konstrukteur muß vor der Maschine da sein und muß die gewünschte Funktion bereits ge- und erdacht haben, ehe die Maschine überhaupt gebaut werden kann.« »Was soll denn das sein, eine Vorlesung?« wollte der König wissen. »Laßt uns – « »Wir wollen weiterhören«, rief jemand. »Nach dem heutigen Durcheinander – « »Laßt sie reden – was sie sagen, klingt vernünftig!« Amalfi wartete einen Augenblick und Bürgermeister Specht. Fahren Sie fort.«
sagte
dann:
»Ja,
»Ich bin fast fertig. Die Maschinen können nicht die Lösung unseres Problems bringen. Das ist auch der Grund, warum Bürgermeister vor den Stadtvätern den Vorrang haben und nicht umgekehrt.« »Das ist richtig«, antwortete Amalfi. »Ich will auch gar nicht behaupten, daß eine vollständige Zusammenschaltung aller Stadtväter uns automatisch aus der Klemme ziehen würde. Grundsätzlich müßten wir, weil es sich um ein topographisches 175 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Problem handelt, mit dieser Zusammenschaltung sehr vorsichtig sein, damit wir nicht anstelle einer Wissenshäufung einen Wissensschwund erlitten. Das ist ein Beispiel für das, was Sie eben sagten: Maschinen können mit Topographie nicht fertig werden, weil sie nicht quantitativer Natur ist. Ich habe gesagt, daß dies der schwierigste Weg wäre, unser Problem zu lösen, und nichts anderes habe ich damit gemeint. Nachdem wir das durch die Maschinen aufgehäufte Wissen gesammelt hätten, müßten wir es außerdem erst auswerten, bevor wir es gebrauchen könnten. Dazu benötigen wir Zeit, sogar sehr viel Zeit. Techniker müßten die Wissensansammlung ständig überwachen. Sie müßten die Stadtväter kontrollieren, damit wir sicher sind, daß sie das noch vertragen, was sie aufnehmen. Soviel uns bekannt ist, haben sie keine Belastungsgrenze, aber in der Praxis ist das noch nie überprüft worden. Sie müssen das verwerten, was am Ende dabei herauskommt, die Schätzungen zur Überprüfung auf logische Fehler und Abweichungen nochmals durch die Stadtväter laufen lassen, die gesamten Ergebnisse auf neue Hinweise und Folgerungen durchsehen, die in die Tausende gehen dürften. Es würde mehr als zwei Jahre in Anspruch nehmen, vielleicht sogar fünf, nur einen Anfang zu machen. Die Stadtväter können ihre Aufgabe in einigen Stunden erfüllen, während die menschliche Gehirnarbeit Jahre benötigt. Während dieser Zeit wird es uns schlecht gehen. Aber es geht uns jetzt schon nicht besonders gut, und wenn alles vorbei ist, können wir der gesamten Milchstraße unsere eigenen Bedingungen stellen.« »Eine sehr gute Antwort«, sagte Specht. Er sprach ruhig, aber jedes Wort pfiff durch die stille, feuchtigkeitsgetränkte Luft wie ein dünnes Geschoß. »Meine Herren, ich bin der Meinung, daß der Bürgermeister der Stadt ohne Namen recht hat.« »Den Teufel hat er«, schrie der König und stampfte zum Rande des Podiums. »Wer will fünf Jahre hier sitzen und den Wissenschaftler markieren, während uns die Akolyten zum Grabenausheben benützen?« 176 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Wer will aufgelöst werden?« entgegnete jemand schrill. »Wer will mit der Erde Streit anfangen? Ich nicht. Ich halte mich so weit von der Erdpolizei fort, wie es nur geht. Das ist für Nomaden nicht mehr als gesunder Menschenverstand.« »Polizisten!« schrie der König. »Polizisten fahnden nur nach einzelnen Städten. Was dann, wenn tausend Städte zur Erde marschieren? Welcher Polizist kümmert sich noch darum, eine einzige Stadt wegen einer einzigen Anklage auf Aufruhr zu verfolgen! Wenn Sie ein Polizist wären und sähen, daß eine Menge Mob auf Sie zukommt, würden Sie dann versuchen, den Mob dadurch aufzulösen, daß Sie einen einzigen Mann verhaften, der eine kleine Übertretung begangen hat? Wenn das gesunder Menschenverstand für Nomaden ist, fress’ ich einen Besen! Ihr Kerle habt Angst, das ist es. Ihr seid heute ein bißchen herumgeschüttelt worden und seid jetzt beleidigt. Ihr seid zu zart. Aber ihr wißt verdammt genau, daß die Gesetze zu eurem Schutz da sind und nicht für Abschaum wie die Akolyten. Selbstverständlich können wir die Erdpolizei nicht hierherrufen, um uns zu beschützen – dafür gibt es zu wenige Polizisten. Wir sind auch zu wenige, und außerdem würden wir festgenommen, für das, was jede einzelne Stadt angestellt hat. Aber bei einem ›Marsch der tausend Tramps‹ – einem friedlichen Marsch zur Erde, um das zu erbitten, was uns zusteht – könnte der einzelne nicht belangt werden. Aber ihr habt Angst! Ihr wollt lieber in einem Lager hockenbleiben und langsam verrecken!« »Wir nicht!« »Wir auch nicht!« »Wann starten wir?« »Das klingt schon besser«, sagte der König. Spechts Stimme sagte: »Budapest, Sie wollen eine Panik hervorrufen. Die Frage ist noch nicht geklärt.« »Gut«, stimmte der König bei. »Ich lasse ohne weiteres mit mir reden. Stimmen wir ab.«
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»Dazu sind wir noch nicht genügend vorbereitet. Die Frage ist nach wie vor ungeklärt.« »Na?« sagte der König. »Sie auf Ihrem Thronsessel, haben Sie noch etwas zu sagen? Haben Sie ebenso Angst vor einer Abstimmung wie Specht?« Amalfi stand betont langsam auf. »Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, und ich werde mich der Mehrheit der Stimmen beugen«, sagte er, »wenn es uns physisch überhaupt noch möglich ist. Unsere Rotatrone lassen einen sofortigen Flug zur Erde nicht zu, wenn man sich in der Abstimmung dafür entscheiden sollte. Im übrigen habe ich meine Stimme abgegeben. Ein Massenstart zur Erde wäre Selbstmord.« »Einen Augenblick«, Spechts Stimme mischte sich wieder ein. »Ehe wir abstimmen, möchte ich erfahren, wer uns hier beraten hat. Budapest kennen wir, aber wer sind Sie?« Im Thronsaal herrschte sofort völliges Schweigen. Jedermann im Saal wußte, wie verfänglich diese Frage war. Prestige unter den Nomaden beruhte hauptsächlich auf zwei Dingen: auf dem Zeitraum, den die Stadt schon im Weltraum unterwegs war, und auf den Taten der Stadt. Amalfis Stadt war in beiden Dingen groß. Er brauchte nur den Namen seiner Stadt zu nennen und hätte zumindest eine Chance, die Abstimmung zu gewinnen. Sogar ohne Namen hatte sich die Stadt im Lager einen beachtlichen Ruf erworben. Hasselton dachte offensichtlich genauso, denn Amalfi konnte seine dringenden Signale, die er mit den Händen machte, sehen. ›Sag es ihnen, Chef. Es kann gar nicht schiefgehen. Sag es ihnen!‹ Nach einer langen Pause sagte der Bürgermeister: »Mein Name ist John Amalfi, Bürgermeister Specht.« Eine Welle der Verachtung schlug durch den Saal. »Gefragt und geantwortet«, sagte der König und zeigte seine Zähne. »Wir freuen uns, Sie hier zu haben. Wenn Sie die Güte 178 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
hätten, vom Podium zu verschwinden, könnten wir mit der Abstimmung anfangen. Aber bleiben Sie noch ein wenig hier, Herr Amalfi. Ich möchte später noch mit Ihnen sprechen, von Mann zu Mann, verstehen Sie?« »O ja«, sagte Amalfi und sprang elastisch vom Podium herunter. Er ging zu der Stelle zurück, an der Hasselton und Dee Hand in Hand auf ihn warteten. »Chef, warum haben Sie es denn nicht gesagt«, flüsterte Hasselton erregt. »Sie haben zwei Chancen verpfuscht.« »Natürlich habe ich sie verpfuscht. Ich bin ja nur deswegen hergekommen. Jetzt verschwindet beide schnell, bevor ich Dee dem König überlassen muß, damit ich überhaupt in unsere Stadt zurück kann.« »Auch das war also Absicht, John«, sagte Dee. Es war nur eine Feststellung, keine Beschuldigung. »Leider blieb mir nichts anderes übrig«, erwiderte Amalfi. »Können Sie mir verzeihen, Dee? Ich hoffte übrigens, den König auch in dieser Beziehung übertölpeln zu können, wenn Ihnen das ein Trost ist. Jetzt verschwindet aber, ehe es zu spät ist. Mark, erregen Sie möglichst viel Aufsehen bei Ihrer Flucht.« »Und was wird aus Ihnen?« fragte Dee. »Ich komme später. Los!« Hasselton starrte Amalfi noch einen Augenblick an. Dann wandte er sich um und zwängte sich mit dem Mädchen durch die Menge. Seine Methode, Aufsehen zu erregen, bestand darin, besonders leise zu sein und gerade dadurch die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf sich zu ziehen. Amalfi blieb noch lange genug an seinem Platz, um dem König zu zeigen, daß die ihm wichtigste Person noch da war und seine Befehle genau befolgt wurden. Einen Augenblick später, als die Aufmerksamkeit des Königs abgelenkt wurde, tauchte er in der Menge unter und ließ sich von der allgemeinen Bewegung nach hinten treiben.
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Inzwischen war die Abstimmung in vollem Gange. Der König mußte mindestens fünf Minuten warten, bis er die Türen schließen lassen konnte, um Amalfis Entkommen zu verhindern. Eine derartige Aktion mitten in der Abstimmung hätte die Absichten des Königs verraten. Wenn der König schlau genug gewesen wäre, sich mit einem Sprechgerät auszurüsten, bevor er das Podium betrat, wäre die Angelegenheit natürlich anders ausgegangen. Daß er diesen Fehler gemacht hatte, bestärkte Amalfi in seinem Verdacht, daß der König erst seit kurzem Bürgermeister von Budapest war und es bei seiner Ernennung nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Dee und Hasselton waren bereits entkommen. Auch Amalfi würde es schaffen. In dieser Beziehung war Amalfi dem König weit überlegen. Amalfi ließ sich an die Stelle des Saales treiben, wo er den Bürgermeister von Dresden-Sachsen vermutete. Er fand den erschöpft aussehenden Mann ohne Schwierigkeit. »Sie halten Ihre Waffen aber unter festem Verschluß«, sagte Specht leise. »Es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen mußte. Sie haben sich wunderbar benommen. Vielleicht stimmt es Sie etwas froher, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Frage trotz allem sehr nützlich war. Ich danke Ihnen. Dafür bin ich Ihnen auch die richtige Antwort schuldig. Verstehen Sie etwas von Rätseln?« »Von Rätseln?« versuchen.«
sagte
Specht.
»Nein,
aber
ich
kann’s
»Welche Stadt trägt zweimal den gleichen Namen?« Das Rätsel schien für Specht nicht zu schwer zu sein. Er sagte völlig überrascht: »Was, Sie sind N – « Amalfi machte mit den Händen das übliche Nomadensignal:
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›Die Information ist nur für Sie bestimmt.‹ Specht schluckte und nickte. Mit einem Grinsen verschwand Amalfi aus dem Palast. Der ›Marsch‹ zur Erde würde bei der Abstimmung die Mehrheit haben. Nun blieb nur noch übrig, diesen Marsch in eine Panik zu verwandeln. Als Amalfi seine Stadt wieder erreicht hatte, fühlte er sich plötzlich sehr müde. Er ließ sich sofort zu seinem Zimmer bringen, in dem er sein Abendessen einnehmen wollte. Das war, wie er gleich merkte, ein Fehler. Die Vorräte der Stadt waren sehr zusammengeschmolzen und das Mahl, das ihm, wie jedem anderen Stadtbewohner auch, von den Stadtvätern bereitet wurde, war mehr als kläglich. Zu trinken gab es dampfenden Rigelwein, den er als Getränk für Barbaren verachtete. Wenn man ihn servierte, hieß das, daß es außer Wasser in der Stadt nichts zu trinken gab. Seine Müdigkeit, die Einsamkeit, der plötzliche Übergang vom Audienzsaal der Habsburger zu seinem kahlen Zimmer im obersten Stockwerk trugen dazu bei, ihn in eine ungewohnte und tiefe Mißstimmung zu versetzen. Was die Zukunft für die Nomaden bereitzuhalten schien, war auch nicht dazu angetan, ihn aufzuheitern. Plötzlich ging die Tür auf. Hasselton trat ein. Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Amalfi deutete auf einen Stuhl. »Entschuldigen Sie«, sagte Hasselton, ohne sich zu rühren. »Ich benütze den Schlüssel sonst nur in dringenden Fällen, das wissen Sie. Aber diesmal ist es dringend. Wir sind in einer verteufelten Lage, und die Art, in der Sie unsere Probleme lösen wollen, erscheint mir, verzeihen Sie, einfach idiotisch. Ich will endlich wissen, was gespielt wird. Ich habe ein Anrecht darauf, zu erfahren, was Sie vorhaben. Das Leben der Stadt steht auf dem Spiel.« 181 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Nehmen Sie Platz«, sagte Amalfi, »und trinken Sie einen Schluck Rigelwein.« Hasselton verzog sein Gesicht und setzte sich. »Ich verberge Ihnen nichts, Mark. Sie wissen, daß ich Sie immer ins Vertrauen gezogen habe. Ich mache das nur dann nicht, wenn ich glaube, daß Sie zu stürmisch vorgehen würden, wenn Sie alles wüßten. Das ist gelegentlich vorgekommen, wie Sie wohl zugeben werden. Und werfen Sie nicht wieder die Affäre auf Thor V in die Debatte. Damals stand ich auf Ihrer Seite. Die Stadtväter waren es, die mit Ihren Tricks nicht einverstanden gewesen sind.« »Zugegeben.« »Gut«, sagte Amalfi, »dann sagen Sie, was Sie wissen wollen.« »Bis zu einem gewissen Punkt begreife ich, was Sie vorhaben«, sagte Hasselton unvermittelt. »Es war ziemlich raffiniert, wie Sie Dee als Sicherung für unsere Flucht benützt haben. In Anbetracht der politischen Gefahr, die wir für den König darstellten, blieb Ihnen wahrscheinlich gar nichts anderes übrig. Verstehen Sie, persönlich nehme ich Ihnen das übel, und vielleicht bekommen Sie noch die Quittung dafür. Aber ich muß zugeben, daß es notwendig war.« »Gut«, sagte der Bürgermeister müde. »Aber dieser Punkt ist unwesentlich, Mark.« »Für mich persönlich nicht. Das Wesentliche ist aber, daß Sie die Chance, die Sie sich mühsam erarbeitet hatten, einfach wegwarfen. Ihr Plan der Zusammenschaltung aller Stadtväter war gut, und Sie hatten zweimal Gelegenheit, Ihren Vorschlag durchzubringen. Erstens gab Ihnen der König die Möglichkeit, sich als Vega auszugeben. Niemand hat die fliegende Festung bisher wirklich gesehen, und Sie sind den anderen Menschen nicht so ähnlich, daß Sie sich nicht als Vega hätten ausgeben können. Dee und ich könnten Renegaten sein. Diese Chance haben Sie verpaßt. Dann bot Ihnen der Bürgermeister von Dresden-Sachsen die Möglichkeit, alle auf unsere Seite zu bringen. Wenn Sie nur den Namen unserer Stadt genannt 182 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
hätten, wäre Ihnen der Abstimmungssieg sicher gewesen. Wahrscheinlich wären Sie sogar noch König des Lagers geworden. Auch diese Chance nahmen Sie nicht wahr.« Hasselton nahm seinen Rechenschieber aus der Tasche und spielte nervös daran herum. »Aber ich wollte ja gar nicht Lagerkönig werden, Mark«, sagte Amalfi langsam. »Die Verantwortung überlasse ich lieber dem jetzigen König. Alle Vergehen, die im Lager bisher geschehen sind oder noch geschehen werden, kreidet die Erdpolizei ihm alleine an. Darüber hinaus werden ihn auch noch die Nomaden persönlich für alle Unglücksfälle zur Verantwortung ziehen. Ich wollte niemals den König von seinem Platz verdrängen. Nur ihm selbst gegenüber habe ich so getan. Haben Sie übrigens versucht, die Stadt am Rande des Lagers zu erreichen, die von der Massenchromatographie sprach?« »Natürlich«, sagte Hasselton. »Sie antwortete nicht.« »Gut. Also weiter. Dieser Plan mit der Wissenshäufung würde nicht funktionieren, Mark. Erstens können Sie Nomaden nicht so lange beieinander halten, daß Erfolge zu erzielen wären. Nomaden sind keine Philosophen und selbst Wissenschaftler nur in ganz begrenztem Sinne. Sie sind Techniker und Händler, in mancher Beziehung auch Abenteurer, wenn sie sich auch für etwas anderes halten. Sie nennen sich selbst Praktiker. Das haben Sie schon gehört.« »Ich habe mich auch schon so ausgedrückt«, sagte Hasselton nervös. »Ich auch. Dieses Wort enthält viele Bedeutungen. Unter anderem bedeutet es, daß Nomaden unruhig werden, wenn man sie an ein größeres analytisches Problem heranführt. Nomaden wollen die Anwendung von Theorien, nicht nackte Theorien alleine, die man doch zu nichts brauchen kann. Für längeres Stillsitzen sind sie nicht geeignet. Wenn Sie sie wirklich so weit bringen, daß sie es versuchen, gibt es früher oder später eine gewaltige Entladung.
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Aber das ist nur die eine Seite. Mark, haben Sie überhaupt eine Vorstellung vom Umfang dieses Planes? Ich will Sie nicht aufs Glatteis führen, glauben Sie mir. Im ganzen Saal war nicht einer, der das Ausmaß meines Planes erkannte. Wenn die Leute eine Ahnung gehabt hätten, wäre ich ausgelacht worden. Hier zeigte sich wieder, daß die Nomaden keine Wissenschaftler und für längere Denkprozesse zu ungeduldig sind.« »Sie sind doch auch ein Nomade«, meinte Hasselton, »und können das Problem trotzdem zu Ende denken. Sie sagten sogar voraus, wieviel Zeit man für die Ausführung des Planes benötigen würde.« »Natürlich bin ich ein Nomade. Ich habe den Leuten gesagt, daß es mindestens zwei bis fünf Jahre dauern würde, um eine halbwegs befriedigende Lösung erreichen zu können. Als Nomade bin ich aber auch Experte für Halbwahrheiten. Es würde nämlich zwei bis fünf Jahre dauern, allein die Vorarbeiten abzuschließen! Und die wirkliche Aufgabe, Mark, würde Jahrhunderte in Anspruch nehmen.« »Für eine oberflächliche Lösung?« »Es gibt keine oberflächliche Lösung«, sagte Amalfi. »Diese Städte draußen besitzen die wissenschaftlichen Erkenntnisse aller technisch hochentwickelten Kulturen, mit denen sie je zusammengetroffen sind. Selbst wenn man die üblichen Lücken in Betracht zieht, handelt es sich dabei um das Wissen von mindestens fünftausend verschiedenen Kulturen. Sicher könnten wir das gesamte Wissen zusammenfassen. Wie ich bei der Versammlung sagte, sind die Stadtväter im Verlaufe etwa einer Stunde in der Lage, alles aufzunehmen und zu klassifizieren – aber erst, wenn wir sie in zwei bis fünf Jahren entsprechend darauf vorbereitet haben. Und dann müßten wir erst mit der Auswertung beginnen. Wenn man das nicht tut, Mark, sind die Ergebnisse wertlos. Niemand würde Ihnen das abkaufen. Möchten Sie diese Aufgabe übernehmen?« »Nein«, sagte Hasselton, ohne zu zögern. »Amalfi, wie soll ich aber wissen, was Sie vorhaben, wenn Sie so weitermachen? Sie sind nicht zur Versammlung gegangen, um sich die Zeit zu 184 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
vertreiben, das weiß ich. Mir bleibt daher nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß das ganze Manöver nur ein Trick war, um den Marsch zur Erde zu erzwingen, nicht aber, um ihn zu verhindern. Sie haben den anderen Städten eine klare, oberflächlich gesehen vernünftige, aber unannehmbare Alternative gestellt. Sobald diese Alternative abgelehnt war, hatten sich die Nomaden den Taktiken des Königs ausgeliefert, ohne es zu wissen.« »Das ist richtig.« »Wenn das stimmt«, fuhr Hasselton fort und blickte plötzlich auf, »halte ich es für Blödsinn, obwohl es wunderbar eingefädelt war. Man kann sich auch selbst überlisten, wissen Sie.« Amalfi sagte: »Das kann schon sein. Auf jeden Fall ist es so: Hätten die Städte nur zwischen der Alternative einer Fahrt zur Erde oder des Verbleibens im Lager zu wählen gehabt, dann wären sie im Lager geblieben. Wäre es vernünftig gewesen, das zuzulassen?« »Wir können es uns jedenfalls nicht leisten, im Lager zu bleiben.« »Natürlich nicht. Wir können aber auch nicht alleine das Lager verlassen. Die einzige Weise, wie wir von hier fortkommen können, ist mitten in einer Massenbewegung. Wofür hätte ich mich denn sonst einsetzen sollen?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Hasselton. »Aber Sie haben doch noch Hintergedanken.« »Und Sie beschweren sich darüber, daß Sie nicht wissen, was ich noch beabsichtige. Sie müßten es aber wissen.« »Dee?« »Selbstverständlich«, sagte Amalfi. »Sie haben in der falschen Richtung gedacht. Sie waren mit Ihren Gefühlen zu sehr beschäftigt, um sich überlegen zu können, warum ich Dee mitnahm. Wenn Sie sich über die Sache hätten stellen können, wäre Ihnen auch eingefallen, warum ich den Marsch zur Erde durchsetzen wollte.« 185 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Ich werde mich weiter bemühen, die Antwort zu finden«, sagte Hasselton grimmig, »obwohl es mir lieber gewesen wäre, Sie hätten es mir gesagt. Wir leben uns immer weiter auseinander, Chef. Früher dachten wir immer dasselbe, und erst später entw ickelten Sie die Gewohnheit, mir nie die ganze Geschichte zu erzählen. Wie ich jetzt glaube, wollten Sie mich erziehen. Je mehr ich mich über den ganzen Plan sorgte, desto eher würde ich von selbst auf den springenden Punkt kommen – mit anderen Worten, Ihre Absichten erraten und damit immer mehr so denken wie Sie selbst. Um ein guter Stadtdirektor zu sein, mußte ich so denken wie Sie. Sie brauchten die Sicherheit, daß die Entscheidungen, die ich in Ihrer Abwesenheit traf, genauso ausfallen würden wie Ihre eigenen Entscheidungen. Nach der Sache mit dem Herzogtum Gort fiel mir das zum ersten Male auf. Bei diesem Zwischenfall waren wir lange genug getrennt, daß sich eine Lage entwickeln konnte, die größere Entscheidungen erforderte und über die ich erst genau unterrichtet wurde, als ich aus Utopia zurückkam. Erst zu diesem Zeitpunkt merkte ich, daß ich glücklicherweise eben nicht so wie Sie gedacht hatte. Die Tatsache, daß ich Ihren Plan nicht sofort begriff, hatte aber offensichtlich genügt, mich in Ihren Augen zu verdammen. Sie schrieben mich ab und bereiteten Carrel auf meine Nachfolge vor.« »Was Sie sagen, stimmt soweit alles«, sagte Amalfi, »wenn Sie mich beschuldigen wollen, daß ich eine strenge Lehre – « »- die bei einem Narren nötig ist?« »Nein. Ein Narr lernt niemals. Aber ich streite nicht ab, daß ich ein strenges Regiment führe. Weiter.« »Ich bin gleich fertig. Durch den Vorfall auf Gort wurde mir klar, daß es manchmal nichts Schlimmeres gibt, als genau wie Sie zu denken. Das Problem, von Utopia fortzukommen, löste ich auf meine Weise, nicht auf Ihre. Meine Vermutung bestätigte sich, als wir nach Heva kamen. Wenn ich in dieser Lage genau wie Sie gehandelt hätte, wären wir heute noch auf dem Planeten.« 186 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Mark, ich weiß wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen. Natürlich ist es richtig, daß wir uns oft auf Ihre Vorschläge gestützt haben, gerade weil Sie ganz anders denken als ich. Und?« »Sie wollen jetzt jede Originalität in mir ersticken. Wie Sie selbst zugeben, hat sie Ihnen schon genützt. Aber wir haben uns beide verändert. In letzter Zeit denke ich wie ein menschliches Wesen, ich habe menschliche Sorgen. Ich halte mich nicht mehr für Hasselton, den Meisterdenker. Bei Ihnen ist es genau umgekehrt. Sie entfernen sich mehr und mehr von allen menschlichen Sorgen. Wenn Sie Menschen vor sich haben, sehen Sie nur Maschinen. Es wird nicht mehr lange dauern, und Sie sind von den Stadtvätern nicht mehr zu unterscheiden.« Amalfi versuchte, darüber nachzudenken. Er war sehr müde und fühlte sich alt. Für die nächste Antimortalikaspritze war noch nicht Zeit, es würde noch mehr als zehn Jahre dauern, aber das Wissen, daß er die Spritze wahrscheinlich nicht bekommen würde, ließ ihn die vergangenen Jahrhunderte doppelt spüren. »Vielleicht bilde ich mir auch langsam ein, ich würde ein Gott«, sagte er. »Das warfen Sie mir schon auf Murphy vor. Haben Sie einmal versucht, sich vorzustellen, was es heißt, Hunderte von Jahren Bürgermeister einer Nomadenstadt zu sein? Ich glaube schon, denn Ihre Verantwortung ist kaum geringer, nur etwas anderer Art. Lassen Sie mich daher folgendes fragen: Ist es nicht augenscheinlich, daß diese Veränderung in Ihnen von jenem Tag datiert, als Dee zum erstenmal an Bord kam?« »Natürlich weiß ich das«, sagte Hasselton scharf. »Bei der Gort-Utopia-Affäre fing es an. Damals kam Dee an Bord. Sie war ja aus Utopia. Wollen Sie behaupten, daß sie an allem schuld ist?« »Ist es nicht ebenso klar«, fuhr Amalfi unbeirrt fort, »daß die Veränderung in mir am gleichen Tag begonnen hat? Bei allen Göttern des Weltraums, Mark, wissen Sie nicht, daß auch ich Dee liebe?«
187 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Hasselton wurde blaß. Er blickte starr auf die Reste des bescheidenen Mahles, die auf dem Tisch standen, ohne sie zu sehen. Nach einer Weile legte er seinen Rechenschieber so vorsichtig auf den Tisch, als sei er aus zerbrechlichem Porzellan. »Ich weiß es«, sagte er schließlich. »Ich wußte es. Aber ich wollte es nicht wissen.« Amalfi breitete seine Hände in einer Geste der Hilflosigkeit aus, die er schon seit fünfzig Jahren nicht mehr verwendet hatte. Der Stadtdirektor schien es nicht zu bemerken. »Da das so ist«, fuhr Hasselton mit veränderter Stimme fort, »da es also so ist, Amalfi…« Er schwieg. »Lassen Sie sich Zeit, Mark. In Wirklichkeit ändert sich nicht mehr viel. Beeilen Sie sich nicht.« »Amalfi – ich will fort.« Jedes Wort traf Amalfi wie ein Peitschenhieb. Das hatte er nicht erwartet. ›Ich will fort‹ war der traditionelle Satz, mit dem der Nomade den Sternen entsagte. Wenn er diesen Satz aussprach, schloß er sich für immer aus den fliegenden Städten aus. Er mußte auf einem Planeten seßhaft werden. Dieser Entschluß war endgültig. Er konnte weder abgelehnt noch jemals zurückgenommen werden – das war Gesetz. »Das steht Ihnen zu«, sagte Amalfi. »Natürlich. Ich will Sie auch nicht der Übereile beschuldigen, weil es jetzt zu spät ist.« »Danke.« »Also, wo wollen Sie die Stadt verlassen? Beim nächsten Planeten oder beim nächsten Hafen, den die Stadt anläuft?« Das waren die traditionellen Möglichkeiten, aber Hasselton schien von beiden nicht begeistert zu sein. Seine Lippen waren bleich, und er schien zu zittern. »Das«, sagte er, »kommt drauf an, wo Sie jetzt hinfliegen wollen. Das haben Sie mir noch nicht gesagt.« 188 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Hasseltons Unruhe machte Amalfi mehr zu schaffen, als ihm lieb war. Rein theoretisch war es dem Stadtdirektor ohne weiteres möglich, seine Entscheidung zurückzuziehen, und Amalfi hatte das auch vorschlagen können. Niemand hatte diese drei Worte gehört oder aufgenommen, vielleicht von den Stadtvätern abgesehen, die die Bedienung bei Tisch durchführten. Selbst das war nicht schlimm, weil die Stadtväter die Gedächtnisspulen nur alle vier bis fünf Jahre abtasteten. Nein, auch die Stadtväter würden nicht wissen, daß Hasselton zurückgetreten war, jedenfalls für einige Zeit nicht. Aber es fiel Amalfi nicht einmal ein, dem Stadtdirektor die Zurücknahme seiner Entscheidung zu ermöglichen. Dafür war Amalfi zu sehr Nomade. Hasselton hatte sich entschieden, und für einen Nomaden war das endgültig. »Nein«, sagte der Bürgermeister. »Sie wollen fort, und das ist das Ende. Sie haben keinen Anspruch mehr darauf, etwas über die Pläne der Stadt zu erfahren, außer in Form von Befehlen. Jetzt ist es soweit, Mark. Jetzt können Sie versuchen, wie ich zu denken, weil das Ihre einzige Informationsquelle hinsichtlich des weiteren Vorgehens der Stadt sein wird.« »Ich verstehe«, sagte Hasselton förmlich. Er stand auf und blieb einen Augenblick schweigend stehen. »Beim nächsten Anlaufen also«, sagte er schließlich. »In Ordnung. Bis dahin sind Sie ausscheidender Stadtdirektor. Nehmen Sie Carrel, und bilden Sie ihn weiter aus. Außerdem müssen Sie den Stadtvätern entsprechende Unterlagen über ihn zuleiten, damit wir bei seiner Wahl ebenso wenig Schwierigkeiten haben wie damals bei Ihnen.« »Jawohl«, sagte Hasselton steif. »Zweitens: Starten Sie die Stadt in Richtung des Lagerrandes. Ich möchte zu der Stadt, die auf unsere Anrufe nicht geantwortet hat. Inzwischen stellen Sie zwei Arbeitsgruppen zusammen. Eine für Rotatronarbeiten und die andere für 189 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Massenchromatographie. Demontagegerät vor.«
Bereiten
Sie
auch
mittelschweres
»Jawohl.« »Außerdem soll sich Andersons Abteilung fertigmachen, falls diese Stadt doch nicht so tot ist, wie es den Anschein hat.« »Jawohl«, sagte Hasselton noch einmal. »Das wäre alles«, sagte Amalfi. Hasselton nickte steif und wandte sich zum Gehen. Plötzlich brach es aus ihm heraus: »Chef, sagen Sie mir das eine, bevor ich gehe. Haben Sie das alles nur inszeniert, um mich loszuwerden? Gab es für Sie keine andere Möglichkeit, Ihre Pläne für sich behalten zu können, als mich hinauszuwerfen oder mich so weit zu bringen, daß ich mich selbst hinauswarf? Ich glaube Ihnen Ihre Liebesgeschichte nicht, und wenn mich der Teufel persönlich holt! Sie wissen, daß ich Dee mitnehme, wenn ich die Stadt verlasse. Und der ›Große Verzicht‹ ist nichts als Theater. Sie lieben Dee um keinen Deut mehr als ich Sie – « Und plötzlich wurde Hasselton so bleich, daß Amalfi einen Augenblick dachte, er würde ohnmächtig werden. »Eins zu Null für Sie«, sagte Amalfi. »Offensichtlich bin ich nicht der einzige, der einen ›Großen Verzicht‹ aufs Parkett legt.« »Alle Götter des Weltraums! Amalfi!« »Es gibt keine Götter mehr«, sagte Amalfi. »Ich kann nichts mehr tun, Mark. Ich habe Ihnen schon einmal Lebewohl sagen müssen, aber jetzt muß es das letztemal sein, nicht durch meine Wahl, sondern durch Ihre eigene. Gehen Sie und führen Sie die Befehle aus.« Hasselton sagte: »Jawohl«, drehte sich um und ging hinaus. Amalfi seufzte tief. Dann legte er den Hebel des Automaten auf ›Abräumen‹. Der Apparat sagte: ›Wünschen Sie noch etwas zu speisen, Sir?‹
190 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Ihr wollt mich wohl zweimal vergiften?« brummte Amalfi. »Geben Sie mir eine Ultraphonverbindung.« ›Sofort.‹ »Hier Zentrale.« »Hier spricht der Bürgermeister. Rufen Sie Leutnant Lerner an. Wenn Sie ihn erreicht haben, sagen Sie ihm, daß Sie in meinem Namen sprechen. Teilen Sie ihm mit, daß sich die Städte im Lager zu einer militärischen Aktion rüsten, die er unterbinden kann, wenn er schnell genug kommt und eine Polizeiflotte mitbringt. Haben Sie verstanden?« »Ja, Sir.« Der Mann in der Zentrale wiederholte den Text. »Wenn Sie es wünschen, Bürgermeister Amalfi.« »Wer soll es denn sonst wünschen? Seien Sie aber vorsichtig, daß uns Lerner nicht orten kann. Machen Sie schnell.« »Da ist noch etwas, Chef. Der große ferngesteuerte Flugkörper, den Sie letztes Jahr in Auftrag gegeben haben, ist endlich fertig. Die Werkstätte hat mitgeteilt, daß ein Dirac-Sender eingebaut und die Maschine startklar ist. Ich habe mir das Ding angesehen. Es sieht zwar gut aus, ist aber riesengroß und leicht zu orten.« »In Ordnung. Das hat Zeit. Senden Sie die Meldung an Lerner.« »Jawohl, Sir.« Die Stimme wurde abgeschaltet. Der Müllschlucker in Amalfis Zimmer öffnete die Klappe, und die Teller hoben sich vom Tisch, um in ordentlicher Reihe zur Öffnung zu schweben, am Schluß kam der Weinpokal. Im letzten Augenblick fuhr Amalfi aus seiner Versunkenheit hoch und versuchte, den Pokal noch zu erreichen, aber er kam zu spät. Der Müllschlucker nahm alles in sich auf, und die Klappe knallte zu. Auf dem Tisch lag Hasseltons Rechenschieber.
191 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Die Gruppe von Männern bewegte sich in den Raumanzügen vorsichtig durch die dunklen, toten Straßen der Stadt am Rande des Lagers. Sergeant Anderson leuchtete von Zeit zu Zeit in eine Toröffnung, schaltete die Lampe aber sofort wieder aus. Sonst war in der dunklen Stadt nicht ein einziges Licht zu sehen. Auch auf Anrufe hatte niemand geantwortet. Bis auf ein geringes Rotatronfeld war die Stadt ohne Stromversorgung, und selbst dieses Feld war zu schwach, um normalen Luftdruck zu garantieren. Deswegen wurden die Raumanzüge getragen. In seinem Helm konnte Amalfi Brians Stimme vernehmen: »Im Lager ist wieder etwas los, Herr Bürgermeister. Lerner ist mit einem großen Teil der Akolytenflotte in das Lager eingeflogen. Sie haben sogar ein Admiralsflaggschiff dabei, aber außer Lerner scheint keiner eine Ahnung zu haben, was zu tun ist.« »Nicht schlecht«, sagte Amalfi und starrte in die Dunkelheit. »Es geht. Aber die Abteilung Lerners ist viel zu groß. Das Lager hat sie schon lange vor dem Einflug bemerkt. Wir waren auf der Lauer, um den König rechtzeitig unterrichten zu können, aber es war nicht mehr nötig. Die Städte sammeln sich jetzt zum Kampf. Es sieht toll aus. Es ist das erste Mal in der Geschichte, nicht wahr?« »Soviel ich weiß, ja. Sieht es so aus, als würde es klappen?« »Nein, Sir«, sagte Brian sofort. »Die Organisation des Königs funktioniert nur teilweise und zögernd. Die Städte sind für diese Aufgabe einfach zu ungeschickt, selbst unter der besten Führung, und die Führung ist hier nicht einmal besonders gut. Aber wir werden es noch sehen.« Anderson hob die Hand, und sie blieben stehen. Vor ihnen befand sich ein riesiges schwarzes Gebäude, dessen Fenster alle dunkel waren. Nur hoch oben war ein einziges Fenster erleuchtet. Die Leute Andersons verteilten sich auf beiden Seiten der Straße, während die Techniker ihre Instrumente bereitmachten.
192 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Amalfi schlich an der Mauer entlang, bis zur Stelle, an der Anderson kauerte. »Was haben Sie für eine Meinung, Anderson?« »Mir gefällt es nicht, Herr Bürgermeister. Es sieht nach einer Falle aus. Vielleicht sind alle tot, und der Letzte hatte nicht mehr die Kraft, das Licht zu löschen. Andererseits frage ich mich, warum in der ganzen Stadt ausgerechnet ein Licht brennt.« »Ich weiß, was Sie meinen. Dulany, nehmen Sie fünf Mann, und gehen Sie zur nächsten Ecke. Dort sondieren Sie mit Ihrem Gerät. Nehmen Sie aber nicht mehr als einige Mikrovolt, sonst verbrennen Sie sich.« »Jawohl, Sir.« Dulanys Abteilung verschwand im Dunkeln. »Das ist nicht der einzige Grund, warum ich hier haltgemacht habe, Herr Bürgermeister«, sagte Anderson. »Dort an der Ecke steht ein Flugtaxi mit einem toten Passagier. Ich möchte, daß Sie sich ihn einmal ansehen.« Amalfi nahm die Lampe, bedeckte sie vorne mit der Hand, so daß nur ein schmaler Lichtstrahl herausfiel, und leuchtete kurz durch das Fenster des Hubschraubers. Er erstarrte. Wo das Licht auf die Haut der zusammengekauerten Leiche fiel funkelte es. »Zentrale!« »Ja, Sir?« »Bereiten Sie alles für die Entgiftung vor, wenn wir zurückkommen. Niemand darf in unsere Stadt zurück, bevor er nicht lebend gekocht worden ist, verstanden?« Nach einer kurzen Pause sagte die Stimme: »Herr Bürgermeister, das hat der Stadtdirektor bereits veranlaßt.« Amalfi grinste. Anderson sagte: »Entschuldigen Sie die Frage, aber wie konnte Hasselton das ahnen?« »Nun, das ist nicht so schwer zu verstehen, jedenfalls hinterher nicht. Die Stadt, in der wir uns befinden, ist arm. Und große 193 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Armut unter dem neuen Währungssystem bedeutet, daß Medikamente fehlen. Das Resultat ist, wie Hasselton voraussah – die Pest.« »Diese dreckigen Kerle«, sagte der Sergeant bitter. Die Bezeichnung schien allen Nicht-Nomaden im ganzen Weltraum zu gelten. Im gleichen Augenblick leuchtete es blutigrot auf. Der Widerschein verbreitete sich über die ganze Straße. Eine dumpfe Explosion begleitete die Erscheinung. »TDX!« rief Anderson unwillkürlich aus. »Dulany? Dulany! Zum Teufel noch mal, ich habe ihm doch gesagt, er soll aufpassen! Wer von seiner Abteilung noch lebt, soll sich sofort melden.« Aus den kleinen Lautsprechern in Amalfis Helm drang plötzlich ein schreckliches Lachen. Sonst rührte sich nichts. Die Männer Dulanys waren tot. »Los, Anderson, lassen Sie das Gebäude umstellen. Zentrale, schicken Sie sofort die anderen Leute von Andersons Abteilung und die Hälfte der Sicherheitspolizei herüber.« Das scheußliche Gelächter wurde lauter. »Wer Sie auch sind, mit Ihrem blöden Gelächter, Sie werden sich wundern, was Ihnen passiert, wenn wir Sie erwischen«, sagte Amalfi scharf. »Kein Mensch verwendet gegen meine Leute ungestraft TDX, ob er Nomade oder Polizist ist. Verstanden? Niemand!« Das Gelächter erstarb. Dann sagte eine brüchige Stimme: »Ihr verdammten Aasgeier!« »Aasgeier sind wir, was?« sagte Amalfi. »Wenn Sie uns gleich Antwort gegeben hätten, wäre das nicht nötig gewesen. Warum werden Sie nicht vernünftig? Wollen Sie auch an der Pest zugrunde gehen?«
194 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Aasgeier«, wieder die Stimme. »Aasfresser. Die Götter des Weltraums werden eure Gebeine zu Suppe verkochen.« Das Gelächter begann von neuem. Amalfi verspürte einen kalten Hauch. Er schaltete um. »Anderson, halten Sie Ihre Leute in einiger Entfernung, und warten Sie auf die Verstärkung. Hier ist wahrscheinlich alles vermint. Ich weiß nicht, ob unser verrückter Freund noch andere Überraschungen für uns bereithält.« »Ich könnte eine Gasgranate durch das Fenster – « »Glauben Sie nicht, daß die Kerle auch Raumanzüge haben? Umstellen Sie das Gebäude, und warten Sie ab.« »Jawohl.« Amalfi kauerte sich hinter das Flugtaxi. Vielleicht war genug Energie in den Akkumulatoren, daß man eine Bethéabschirmung um das Gebäude legen konnte. Aber das war ihm nicht einmal das Wichtigste. Es war ihm schwergefallen, eine andere Nomadenstadt mit Gewalt zu betreten. Das ging gegen seine Natur. Die Anklage des Wahnsinnigen hatte ihn an einem wunden Punkt getroffen. Nach einer Ewigkeit tönte es aus dem im Helm eingebauten Ultraphon: »Hier Brian. Herr Bürgermeister, das Lager hat den ersten Angriff Lerners abgeschlagen. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Die Städte erzielten gleich anfangs zwei Volltreffer, so daß die Akolyten Angst bekamen. Das Admiralsschiff hat sich überhaupt zurückgezogen und die ganze Sache Lerner überlassen.« »Verluste?« »Vier Städte völlig zerstört. Wir haben allerdings nicht genug Raketen dort, um alles genau überblicken zu können.« »Sie haben doch hoffentlich nicht den großen ferngesteuerten Flugkörper draußen?« sagte Amalfi entsetzt. »Nein, Sir. Die Zentrale hat es verboten. Ich warte nun die nächsten Angriffe der Akolyten ab. Ich rufe Sie sof – « 195 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Die Stimme Brians wurde plötzlich abgeschnitten. Über ihnen war kein Stern mehr zu sehen. Ein Techniker schrie auf. Amalfi erhob sich vorsichtig und blickte in die Höhe. Das Fenster oben war nun ebenfalls dunkel. »Was ist denn jetzt los, Herr Bürgermeister?« sagte Andersons Stimme ruhig. »Die Kerle haben um das Gebäude ein Rotatronfeld gelegt. Den Schutzschirm um die Stadt müssen sie daher abgeschaltet haben. Alle Mann in Deckung.« Das Gelächter begann wieder. »Aasgeier«, sagte die Stimme. »Kleine schäbige Aasgeier in einem großen, dichten Käfig.« Amalfi schaltete sich wieder ein. »Sie zerstören Ihre eigene Stadt«, sagte er ruhig. »Wenn Sie diesen Teil losreißen, wird die Energieversorgung abgeschnitten, und das Feld funktioniert nicht mehr. Sie haben keine Chance, und das wissen Sie ganz genau.« Die Straße unter seinen Füßen begann zu schwanken. Niemand konnte sagen, wie lange es dauerte, bis das Rotatron diesen Teil der Stadt herausreißen und in den Weltraum schleudern würde. Hasselton war natürlich schon mit den ›Nußknackern‹ unterwegs, aber ob dieser Teil der Stadt noch vorhanden sein würde, bis er kam, war sehr fraglich. Inzwischen konnte Amalfi nichts tun, gar nichts. Sogar die Verbindung zu seiner eigenen Stadt war abgeschnitten. »Das ist nicht eure Stadt«, sagte die Stimme plötzlich in vernünftigem Tonfall. »Es ist unsere Stadt, Ihr wollt uns ausrauben. Das wird euch aber nicht gelingen.« »Woher sollten wir wissen, daß hier noch jemand am Leben ist«, sagte Amalfi wütend. »Auf unsere Rufe hat niemand geantwortet. Was können wir dafür, wenn ihr uns nicht gehört habt? Wir dachten, diese Stadt sei ausgestorben und als Wrack zu betrachten – « 196 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Er wurde plötzlich von einer anderen, sehr lauten, bekannten Stimme übertönt. »An das Hauptquartier der Erdpolizei. Notruf. Akolytensternbild, Gruppe XIII. Wir werden von einer riesigen Armee von Trampstädten angegriffen. Brauchen dringend Ihre Hilfe. Lerner, fünfundvierzigste Grenzstreifenabteilung, derzeitiger Befehlshaber der Verteidigungstruppen. Bestätigen Sie den Empfang.« Amalfi pfiff durch die Zähne. Innerhalb des engen Rotatronfeldes mußte sich also im Gebäude ein Dirac-Sender in Betrieb befinden, sonst hätten seine Helmempfänger den Notruf Lerners nicht aufnehmen können. Für eine Erkundungsrakete waren die Dirac-Geräte viel zu groß, geschweige erst für einen Raumanzug. Übrigens mußte jeder, der einen Dirac-Sender besaß, diesen Ruf aufgefangen haben, überall, in der ganzen Milchstraße. Und wenn in dem Gebäude ein Dirac-Sender in Betrieb war… »Achtung. An Lerner, Akolytenstreitkräfte. Haben Ihre Meldung erhalten. Abteilung zu Ihnen unterwegs. Halten Sie aus. Hauptquartier Erde.« … dann konnte sich Amalfi seiner bedienen. Er schaltete um und rief: »Hasselton, kommen die ›Nußknacker‹?« »Sind schon unterwegs, Chef«, erwiderte Hasselton sofort. »Etwa noch neunzig Sekunden und – « »Zu spät, bis dahin hat sich dieser Teil der Stadt losgerissen. Bringen Sie unser eigenes Rotatronfeld auf vierundzwanzig Prozent, und lassen Sie es – « Er merkte plötzlich, daß er in ein abgeschaltetes Mikrophon sprach. Die Leute im Haus hatten erst jetzt bemerkt, was vor sich ging und den Dirac-Sender abgeschaltet. War der letzte, wichtigste Satz zu Hasselton durchgedrungen, wenigstens teilweise? Oder…
197 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Tief unter Amalfis Füßen begann es zu knirschen. Der Laut steigerte sich zu einem entsetzlichen Kreischen. Amalfis Zähne begannen zu schmerzen. Er grinste. Die Meldung hatte Hasselton erreicht – oder jedenfalls so viel davon, daß er wußte, was zu tun war. Er zermürbte das einzelne Rotatron, mit dem das Feld um das Gebäude aufrechterhalten wurde. Gegen die vereinte Kraft der Rotatrone aus Amalfis Stadt kam es nicht auf. »Ihr habt ausgespielt«, sagte Amalfi ruhig zu den unsichtbaren Bewohnern des Gebäudes. »Ergebt euch, und es geschieht euch nichts. Ich bin bereit, die Sache mit dem TDX zu vergessen. Dulany war zwar einer meiner besten Männer, aber Sie hatten vielleicht Ihre Gründe. Kommen Sie zu uns ’rüber, und Sie werden wieder in einer Stadt leben können. Mit dieser hier ist nichts mehr anzufangen, soviel steht fest.« Er erhielt keine Antwort. Am dunklen Himmel zeichneten sich plötzlich Leuchtspuren ab. Die ›Nußknacker‹ – tragbare Generatoren, die ein Rotatronfeld überlagern und bis zum Kurzschluß hochtreiben konnten – wurden eingesetzt. Das gequälte Rotatron unter seinen Füßen heulte entsetzlich. »Sprecht doch, ihr da oben«, sagte Amalfi. »Ich will euch helfen, aber wenn ihr mich dazu zwingt – « »Aasgeier!« schluchzte die brüchige Stimme. Das Fenster hoch oben leuchtete plötzlich blendend hell auf und barst. Eine Flammenzunge fauchte über die Straße. Das Rotatronfeld brach sofort in sich zusammen, und das scheußliche Gerauscht verstummte. Amalfis Augen brauchten einige Minuten, um die Sterne wieder erkennen zu können. Amalfi starrte auf das große, rotglühende Loch, wo einmal das Fenster gewesen war. Er fühlte sich krank. »Wieder TDX«, sagte er leise. »Stur bis zum Ende, die armen, kranken Narren.« »Herr Bürgermeister?« 198 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Ja?« »Hier ist Brian. Im Lager ist eine Panik ausgebrochen. Die Städte verlassen die rote Sonne. Alles in Unordnung. Keiner kümmert sich um die getroffenen Städte. Anscheinend überläßt man sie Lerner, der sie völlig zerstören wird, sobald er den Mut dazu aufbringt.« Amalfi nickte vor sich hin. »Gut, Brian, starten Sie den großen unbemannten Flugkörper. Er soll bei den Städten bleiben und den ganzen Weg mitfliegen. Lenken Sie ihn persönlich. Er ist leicht zu entdecken, und man wird wahrscheinlich versuchen, ihn zu zerstören. Also passen Sie auf.« »Jawohl, Sir. Hasselton hat ihn eben gestartet. Ich bringe das Ding gerade auf Geschwindigkeit.« Aus irgendeinem Grunde fühlte sich Amalfi trotzdem nicht besser. Seine Leute machten sich sofort an die Arbeit, die Rotatrone der toten Stadt zu demontieren und zu ihrer eigenen Stadt zurückzubringen. Nur das zerstörte Rotatron wurde zurückgelassen. Hasseltons Erstaunen wurde immer größer, als die riesigen Maschinen an Bord kamen, aber er schien entschlossen, keine Fragen zu stellen. Carrel konnte sich jedoch nicht länger zügeln. »Was fangen wir denn mit diesen vielen Rotatronen an?« sagte er. Die drei Männer standen jetzt am Rande ihrer Stadt und beobachteten, wie die Maschinen herübergebracht wurden. »Wir starten einen neuen Planeten zur Weltraumfahrt, eine zweite Heva«, sagte Hasselton leise. »Genau«, sagte Amalfi. »Und beten Sie Weltraumgöttern, daß es noch nicht zu spät ist.« Hasselton antwortete nicht. Carrel sagte: »Nicht zu spät wofür?«
199 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
zu
Ihren
»Das sage ich nicht, solange ich es nicht auf dem Bildschirm vor mir habe. Es ist ein Vorgefühl, und ich glaube, daß ich recht habe. Aber mein Wort darauf, daß wir es eilig haben, so eilig wie noch nie.« »Kann mir vielleicht jemand sagen, was es mit dem Massenauszug der Städte aus dem Lager auf sich hat?« sagte Carrel. »Ich war nicht dabei, als Sie die Stadt des Königs besuchten, und ich bin nach wie vor der Meinung, daß der Marsch zur Erde Unsinn ist.« Amalfi schwieg. Nach einer Weile sagte Hasselton: »Ja und nein. Das Lager traut sich nicht, mit einer Streitmacht der Erde anzubinden, und jedermann weiß, daß die Polizei hierher unterwegs ist. Die Städte wollen so schnell wie möglich verschwinden. Aber sie hoffen immer noch, daß sie die Erdpolizei gegen die Akolyten und ähnliche Leute schützen wird, wenn sie ihre Beschwerden vor einer Stelle vortragen können, die sich nicht gerade hier in der Aufruhrzone befindet.« »Das«, sagte Carrel, »ist genau das, was ich nicht begreife. Welche Chancen haben die Städte noch, gerecht behandelt zu werden? Und warum rufen sie die Erde nicht über den DiracSender, wie Lerner, anstatt diese lange Fahrt anzutreten? Von hier bis zur Erde sind doch mindestens dreiundsechzigtausend Lichtjahre zurückzulegen. So gut sind die Städte nicht organisiert, daß sie diese Reise ohne Schwierigkeiten überstehen könnten.« »Sie werden auch nach der Ankunft auf der Erde mit ihr nur über den Dirac-Sender sprechen«, sagte Amalfi. »Zum Teil ist dieser Marsch reines Theater. Der König hofft, mit einem Riesenaufgebot an Städten Eindruck machen zu können. Vergessen Sie nicht, daß die Erde heutzutage eine stille, ziemlich idyllische Welt ist. Ein ganzer Himmel voll von Nomadenstädten wird dort eine Menge Aufregung hervorrufen. Und mit der gerechten Behandlung ist es so: Der König verläßt sich auf die Tradition der Gerechtigkeit, wie sie seit vielen Jahrhunderten besteht. Man muß immer daran denken, Carrel, daß gerade die Nomadenstädte in den letzten tausend Jahren im wesentlichen 200 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
den inneren Zusammenhalt der gesamten Zivilisation der Milchstraße garantiert haben.« »Das ist mir neu«, sagte Carrel erstaunt. »Aber es stimmt. Wissen Sie, was eine Biene ist? Das ist ein kleines Insekt der Erde, das aus Blumen Nektar saugt. Dabei nimmt es Blutenstaub mit und verteilt ihn auf die anderen Blumen. Die meisten bewohnten Planeten haben ähnliche Insekten. Die Biene weiß nicht, welch wichtige Funktion sie erfüllt. Alles, was sie will, ist, viel Honig zu sammeln. Aber sie erfüllt einen vorgeschriebenen Zweck. Die Städte erfüllen seit langem die gleiche Aufgabe wie die Bienen. Die Regierungen der hochentw ickelten Planeten, im besonderen der Erde, wissen das auch ganz genau, selbst wenn es den Städten im allgemeinen nicht bekannt ist. Die Planeten mißtrauen den Städten, aber sie wissen auch, daß die Städte lebensnotwendig sind und beschützen sie daher. Aus dem gleichen Grundgehen die Planeten so scharf gegen Piratenstädte vor. Die Piraten sind mit kranken Bienen zu vergleichen. Die Seuche, die sie mit sich herumschleppen, wird auch auf gesunde Städte übertragen – Städte, die man aber braucht, damit neue technische Entwicklungen und andere lebensnotwendige Informationen von einem Planeten zum anderen gelangen. Natürlich müssen sich Planeten und Städte vor verbrecherischen Elementen schützen, aber die Gesamtheit der Zivilisation muß genauso berücksichtigt werden wie die Sicherheit eines einzelnen. Um diese Kultur zu erhalten, muß auch der ungehinderte Verkehr der anständigen Nomaden in der gesamten Milchstraße erhalten bleiben.« »Weiß das der König?« »Natürlich. Er ist zweitausend Jahre alt, es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als das zu wissen. Vielleicht würde er es anders ausdrücken, aber im wesentlichen ist es das, was er durch seine n Marsch zur Erde erreichen will.« »Es kommt mir trotzdem gefährlich vor«, sagte Carrel zögernd. »Wir sind fast von Geburt an dazu erzogen worden, der Erde zu mißtrauen und besonders der Erdpolizei.«
201 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Richtig, aber nur deshalb, weil uns auch die Polizisten nicht trauen. Sie müssen die Städte wegen der kleinsten Übertretung verfolgen. Es ist deshalb besser für eine Nomadenstadt, der Polizei nicht zu nahe zu kommen, weil kleinere Übertretungen einfach unvermeidlich sind. Aber trotz aller Feindlichkeit zwischen Polizei und Nomaden stehen wir grundsätzlich auf der gleichen Seite. Das war schon immer so.« An der Unterseite der Stadt schlossen sich die großen Tore des riesigen Lagerraumes. »Das war das letzte Rotatron«, sagte Hasselton. »Ich nehme an, daß wir jetzt zu der Allzweckstadt zurückkehren, die wir auf Murphy gestohlen haben, um auch dort die Rotatrone auszubauen.« »Das tun wir«, erwiderte Amalfi. »Und anschließend fliegen wir nach Hern VI, Mark. Carrel, machen Sie ein paar kleine Kernspaltungsbomben für die dortige Akolytengarnison bereit – sie ist zwar nicht stark genug, um uns aufzuhalten, aber wir können uns nicht mehr mit Kleinigkeiten abgeben.« »Ist Hern VI der Planet, den wir starten wollen?« fragte Carrel. »Er muß es sein«, sagte Amalfi ungeduldig, »weil kein anderer verfügbar ist. Außerdem müssen wir dieses Mal den Flug unter Kontrolle haben. Wir können nicht den Planeten irgendwohin rasen lassen, wie Heva. Mir genügt es, einmal aus der Milchstraße herausgeschossen zu werden.« »Dann muß ich erstklassige Leute heranziehen, die das Problem, wie dieser Flug zu kontrollieren ist, mit den Stadtvätern zusammen bearbeiten«, sagte Hasselton. »Nachdem wir die Stadtväter auf Heva nicht eingeschaltet hatten, müssen wir sehr vorsichtig sein, daß sie nichts merken. Ich wundere mich jetzt nicht mehr, warum Sie auf das Wissen der anderen Stadtväter so scharf waren. Wenn wir nur schon früher hätten anfangen können!« »Ich bin auf diesen Plan erst vor kurzer Zeit gekommen«, sagte Amalfi. »Aber glauben Sie mir, es tut mir nicht leid, daß alles so gekommen ist.« 202 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Carrel sagte: »Wo fliegen wir denn hin?« Amalfi wandte sich um und betrat die Luftschleuse. Er hatte diese Frage schon früher gehört, von Dee, aber jetzt war es das erste Mal, daß er sie beantworten konnte. »Heim«, sagte er.
203 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
7 Hern VI war ein einziger trostloser Klumpen aus Gestein. Diesen Planeten für einen gesteuerten Rotatronflug vorzubereiten, war eine Aufgabe unvorstellbaren Ausmaßes. An vorher genau berechneten, über den ganzen Planeten strategisch verteilten Punkten wurden die Rotatrone fest verankert und mit dem Mittelpunkt des Planetenschwerefeldes verbunden. Dann mußten alle Maschinen aufeinander abgestimmt werden. Um den Planeten völlig sicher steuern zu können, waren jedoch nicht genügend Rotatrone vorbanden. Nach Beendigung der Arbeiten würde der Flug des Planeten unregelmäßig und launenhaft vor sich gehen. Aber immerhin konnte man den Planeten mit dem Hauptsteuer dirigieren. Mehr war gar nicht nötig, dachte Amalfi – zumindest hoffte er, daß mehr nicht nötig sein würde. In regelmäßigen Abständen berichtete Brian über den Fortgang des Marsches zur Erde. Die Nomaden hatten unterwegs eine Reihe von Städten verloren, die das Rudel verließen, sobald sie an Sternsystemen vorbeikamen, bei denen Arbeitsgelegenhe it zu vermuten war, aber die meisten Städte waren unbeirrt auf dem Weg zur Erde. Obwohl der ferngelenkte Flugkörper Amalfis die Größe eines mittleren Mondes besaß, war er bisher noch nicht beschossen worden. Brian steuerte die fliegende Beobachtungsstation auch so geschickt, daß bisher noch niemand dahintergekommen war, was da nun eigentlich den Flug zur Erde begleitete. Amalfi nahm sich vor, Brian als Piloten für die Stadt einzusetzen, sobald Hasselton ausgeschieden war, und diese Tätigkeit aus dem Aufgabenbereich des künftigen Stadtdirektors herauszulösen. Carrel besaß als Pilot nicht die traumwandlerische Sicherheit Brians. Die beiden würden sich gut ergänzen. Zu Beginn der Arbeiten auf Hern VI hatten die Stadtväter berechnet, daß der Tag E – also der Tag, an dem die Nomadenstädte die Erde sichten würden – in fünfundzwanzig Jahren, vier Monaten und zwanzig Tagen erreicht sein würde. 204 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Jeder Bericht Brians verminderte diese Frist, nachdem das fliegende Lager die schwächeren Städte ausstieß und mehr und mehr zu einer geschlossenen Einheit wurde, die dementsprechend schneller fliegen konnte. Amalfi verbrauchte mehr Zigarren und trieb, sooft die neue Vorausberechnung bei ihm eintraf, seine Leute noch mehr zur Eile an. Ein ganzes Jahr war seit Beginn der Arbeit auf Hern VI vergangen, als Amalfi durch Brian die Nachricht erhielt, die er befürchtet hatte, obwohl sie früher oder später zu erwarten gewesen war. »Zwei weitere Städte sind inzwischen wieder ausgeschieden, Herr Bürgermeister«, sagte Brian. »Aber das ist nichts Besonderes. Es ist auch eine neue Stadt hinzugekommen.« »Eine neue Stadt?« sagte Amalfi gespannt. »Woher?« »Das weiß ich leider nicht. Der Kurs des ferngelenkten Flugkörpers ist so eingestellt, daß man damit jeweils nur fünfundzwanzig Sekunden in dieselbe Richtung sehen kann. Jedesmal, wenn ich ihn durch das ganze Rudel steuere, muß ich eine neue Zählung durchführen. Als ich ihn das letztemal hindurchflog, war plötzlich diese Stadt auf dem Bildschirm, als wäre sie immer dabei gewesen. Aber das ist noch nicht alles. Ich habe noch nie eine Stadt gesehen, die so aussieht, und auch in unseren Unterlagen ist nichts Ähnliches zu finden.« »Beschreiben Sie die Stadt.« »Also, erstens hat sie riesige Ausmaße. Wir brauchen uns keine Sorgen mehr zu machen, daß unser Flugkörper entdeckt werden könnte, weil alle Radargeräte nur noch auf dieses Riesending ansprechen. Außerdem ist sie zu.« »Bitte? Was meinen Sie denn damit?« »Sie ist völlig von einer glatten Hülle umgeben, Herr Bürgermeister. Nichts von der üblichen Plattform mit Gebäuden darauf und einer Rotatronabschirmung ringsherum. Wenn sie nicht so groß wäre, könnte man meinen, es sei eine richtige Raumrakete.« 205 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Hat diese Stadt mit den anderen Verbindung aufgenommen?« »Ja, das übliche. Sie teilte mit, daß sie sich dem Marsch zur Erde anschließen wolle, und der König gab seine Zustimmung. Ich glaube, er war sehr erfreut. Immerhin ist das der erste Erfolg, den sein Aufruf an alle Nomaden erzielt hat. Noch dazu handelt es sich um eine erstklassige Stadt. Sie nennt sich Lincoln-Nevada.« »Das sieht ihnen ähnlich«, erwiderte Amalfi grimmig. Er wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. »Zeigen Sie mal, Brian.« Der Bildschirm leuchtete auf. Amalfi wischte sich wieder über das Gesicht. »Danke. Nehmen Sie den Flugkörper vom Rudel zurück, und behalten Sie ab sofort nur noch dieses Ding im Auge. Setzen Sie sich zwischen Lincoln-Nevada und das Rudel. Lincoln-Nevada wird nicht auf den Flugkörper schießen, weil sie gar nicht weiß, daß er nicht zu den anderen gehört.« Ohne Brians Antwort abzuwarten, schaltete er auf die Stadtväter um. »Wie lange werden die Arbeiten hier noch dauern?« fragte er. ›Noch sechs Monate, Herr Bürgermeister.‹ »Sie dürfen höchstens noch vier Monate dauern. Geben Sie mir außerdem die Berechnung eines Kurses von hier zum Kleineren Magellannebel, der auch die Umlaufbahn der Erde schneidet.« ›Herr Bürgermeister, der Kleine Magellannebel ist zweihundertachtzigtausend Lichtjahre vom Akolytensystem entfernt!‹ »Verbindlichen Dank«, sagte Amalfi ironisch. »Ich versichere Ihnen, daß ich nicht die Absicht habe, dorthin zu fliegen. Was ich möchte, ist lediglich eine Kursberechnung mit diesen drei Punkten.« ›Also gut. Wir berechnen.‹ »Wann müssen wir starten, um die Erdumlaufbahn am Tag E zu schneiden?« 206 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
›Fünf Sekunden bis fünfzehn Tage von jetzt ab, je nachdem, ob von der Mitte oder den Rändern des Nebels aus gerechnet wird.‹ »Damit kann ich nichts anfangen. Die zeitlichen Begrenzungen für einen Start sind zu unbestimmt. Berechnen Sie mir eine direkte Flugbahn von hier nach dort.« ›Diese Bahn enthält neunhundertachtundfünfzig Zusammenstöße sowie vierhundertelftausendundzwei Streif- und Beinaheaufschläge.‹ »Verwenden Sie sie trotzdem.« Die Stadtväter schwiegen. Amalfi wußte, daß sie die direkte Linie nie verwenden würden, weil das gegen das oberste Gebot verstieß, dem sie unterworfen waren: die Stadt vor Schaden zu bewahren. Der Bürgermeister war damit zufrieden. Er hatte diese Anweisung eigentlich deswegen gegeben, weil er annahm, daß dadurch die Arbeit auf Hern VI beschleunigt werden würde. Tatsächlich war es nur vierzehn Wochen später, als Amalfis Hand das Hauptsteuer für den Planeten Hern VI ergriff und er sagte: »Start!« Der Flug des Planeten Hern VI vom Akolytennebel durch die ganze Milchstraße machte Geschichte – besonders auf dem Gebiet der Flugsteuerung. Hern VI war ein kleiner Planet, wesentlich kleiner als Merkur, aber trotzdem die gewaltigste Masse innerhalb der bewohnten Milchstraße, die je mit Überlichtgeschwindigkeit geflogen war. Außer dem Planeten Heva, der die Milchstraße schon an ihrem Rande verlassen hatte und jetzt auf dem Weg zum Andromedanebel war, hatte es noch nie einen derartig großen Körper mit Rotatron- oder irgendeinem anderen Antrieb gegeben. Dieser Flug durch den Weltraum ging für alle Zeiten in die Geschichte der Weltraumfahrt ein. Theoretisch folgte Hern VI der langen, von den Stadtvätern vorgeschriebenen Flugbahn, die vom Rande des Akolytennebels durch die gesamte Milchstraße zum Mittelpunkt des Kleineren
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Magellannebels führte. Diesen Kurs hielt der fliegende Planet genau ein. Die Geschwindigkeit jedoch, mit der Hern VI durch den Weltraum raste und die selbst als Vielfaches der alten Lichtgeschwindigkeit nur unzulänglich auszudrücken war, ließ die minimalste Abweichung von diesem Kurs zu Abschweifungen gewaltigen Ausmaßes werden, bevor selbst die in Millionstel Sekunden reagierenden Stadtväter eine Kurskorrektur vornehmen konnten. Wie andere Weltraumfahrer war auch Amalfi durchaus an Überlichtgeschwindigkeit gewöhnt, weil in der unermeßlichen Weite des Weltraumes solche Geschwindigkeiten gar nicht ins Bewußtsein drangen. Es gab nicht genug Punkte im Raum, an denen die Geschwindigkeit abzulesen gewesen wäre. Wie alle Nomaden war Amalfi auch auf Planeten mit langsamen Oberflächenfahrzeugen gefahren, die mit riesiger Geschwindigkeit zu fahren schienen, weil sie an vielen Orientierungspunkten vorbeifuhren. Jetzt spürte er zum ersten Male, was es hieß, mit einer vergleichbaren Geschwindigkeit zwischen den Sternen des Weltraumes dahinzurasen. Bei der Geschwindigkeit von Hern VI schienen die Sterne so nahe beieinander zu stehen, wie Masten neben einem Bahngele ise. Hinzu kam aber noch, daß der Kurs öfters so plötzlich abwich, daß drei oder vier Masten mitten im Gleis zu stehen schienen. Mehr als einmal stand Amalfi wie erstarrt auf dem Balkon seines Turmes und beobachtete einen Stern, der wie aus der Pistole geschossen auf die Stadt zuraste, obwohl er noch vor einer Sekunde nicht zu sehen gewesen war. Amalfi dachte jedesmal, man müßte den Wind vorbeisausen hören, wenn die Stadt so nahe an einem Stern vorbeiflog. Die Flugkorrekturen der Stadtväter waren natürlich vollkommen in Ordnung. Die Schwierigkeit lag nur darin, daß Hern VI auf die Korrekturen nicht schnell genug reagierte. Hätte Amalfi auch noch die Rotatrone seiner Stadt auf der Oberfläche des Planeten verteilt, wie er es mit denen der 208 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Allzweckstadt und der kranken Stadt gemacht hatte, dann wäre Hern VI vermutlich leichter zu steuern gewesen. Leichte Gleichgewichtsschwankungen hätten jedenfalls keine große Rolle gespielt, solange der Planet nur genau auf seinem Kurs blieb. Aber Amalfi hatte die Rotatrone der Stadt aus dem wichtigsten aller Gründe nicht verwendet: um die Stadt selbst nicht zu gefährden. Eine einzige Maschine war am Flug des Planeten beteiligt, und zwar das große Hauptrotatron in der Sechzigsten Straße. Alle anderen Stadtrotatrone einschließlich der defekten Maschine in der Dreiundzwanzigsten Straße waren außer Betrieb. »… wir rufen den fliegenden Planeten, wir rufen den fliegenden Planeten… lebt jemand auf diesem Ding?… Epsilon Crucis, haben Sie das rasende Ding gesehen?… wir rufen den fliegenden Planeten! Sie kommen genau auf uns zu, verdammt noch mal!… Hallo, Palinuri, der fliegende Planet hat uns fast gestreift und ist direkt auf dem Weg zu Ihnen. Entweder ist er tot oder außer Kontro lle… wir rufen den fliegenden Planeten, wir rufen den fliegenden Planeten…« Amalfi hatte keine Zeit, die dringenden Rufe zu beantworten, die aus allen Sternensystemen kamen, an denen Hern VI vorbeischoß. Man hatte den Empfang zwar bestätigen können, aber bis eine Erklärung möglich gewesen wäre, war der Planet längst wieder außer Reichweite der Ultraphone. Die dringendsten Rufe hätte man zwar über den Dirac-Sender beantworten können, aber das hätte zwei Nachteile mit sich gebracht: einmal, daß es zu viele Anfragen gab, und zum anderen – weit wichtiger – , daß sonst die Erde und noch jemand hätten mithören können. Über die Erde machte sich Amalfi keine besonderen Gedanken. Die Erde hörte bereits genug von dem rasenden Flug des Planeten Hern VI, weil die erschreckten Sternsystembewohner, an denen Hern VI vorbei gekommen war, die Erde mit Anrufen bestürmten. Es gab aber jemand, über den sich Amalfi sehr viele Gedanken machte.
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Diesen Jemand behielt Brian ständig auf dem Bildschirm, so daß ihn Amalfi auf seinem Balkon immer vor Augen hatte, als glänzende Kugel. Der Neuankömmling bei den Nomaden hatte seit seiner Ankunft noch nichts Besonderes unternommen. Gelegentlich plauderte er mit dem König des Lagers. Ab und zu sprach er auch mit anderen Städten. Im Lager war inzwischen Langeweile ausgebrochen, so daß gegenseitige Besuche stattfanden. Nur die neu hinzugekommene Stadt empfing weder Besucher, noch schickte sie selbst Boote aus. Das war nur natürlich, und Nomaden hatten immer Verständnis dafür, wenn jemand für sich sein wollte. Der Neuankömmling lieferte also eine gute Imitation einer normalen Nomadenstadt. Und wenn im Lager einer erkannt hatte, was sich unter ihnen befand, war davon jedenfalls nichts zu bemerken. Oben über der Stadt raste gerade wieder ein bläulichweiß blitzender Stern vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Amalfi befragte die Stadtväter. Die fliegenden Nomadenstädte würden die Erde in wenigen Tagen erreichen – was schon daraus zu ersehen war, daß sich die meisten Rufe über den Dirac-Sender mehr und mehr auf das nahende Städteheer und immer seltener auf Hern VI bezogen. Amalfi hatte zwar zu den Stadtvätern sehr viel Vertrauen, aber er sorgte sich doch, ob seine Stadt bei diesem rasenden Flug nicht zu früh oder zu spät käme. Die Stadtväter blieben dabei, daß Hern VI am bezeichneten Tag die Erde erreichen würde, und Amalfi mußte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. Bei solchen Gelegenheiten hatten die Stadtväter jedenfalls noch niemals Fehler gemacht. Er zuckte unsicher mit den Schultern und telefonierte mit dem Astronomiesektor. »Jack, hier ist der Bürgermeister. Haben Sie schon mal etwas von ›Verzögerung‹ gehört?« »Natürlich«, sagte Jack gereizt. »Schon gut. Wie könnte man eine ›Verzögerung‹ auf unserer Flugbahn bewirken?«
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Der Astronom kicherte. »Überhaupt nicht. Dazu haben Sie nicht genug Masse. Aber vielleicht erkundigen Sie sich bei den Stadtvätern über die genauen Zahlen.« »Verdammt«, sagte Amalfi. Er hängte ein und zündete sich eine Zigarre an. Dann rief er Hasselton an. »Mark, Sie versuchten einmal, mir zu erklären, daß Musiker bei einigen Stücken Anfang und Ende etwas schneller spielen, um den mittleren Teil etwas langsamer bringen zu können. War es so?« »Ja, man nennt das ›tempo rubato‹ – wörtlich: ›geraubte Zeit‹.« »So etwas Ähnliches möchte ich bei dem Flug dieses Felsenklumpens bewirken, und zwar, ohne dabei Zeit im ganzen zu verlieren. Haben Sie eine Ahnung, wie man das machen könnte?« Hasselton schwieg einen Augenblick. »Mir fällt leider nichts ein, Chef. So etwas hängt nur vom Einfühlungsvermögen ab. Wahrscheinlich würden Sie es durch persönliche Bedienung des Steuerknüppels leichter schaffen als durch komplizierte Berechnungen.« »Gut. Danke.« Wieder nichts. Bei dieser Geschwindigkeit kam die Bedienung des Steuerknüppels durch einen Menschen nicht mehr in Frage, weil niemand so schnell reagieren konnte. Er wollte die Verzögerung ja gerade deshalb, um dann den Planeten für ein paar Sekunden selbst steuern zu können. Selbst dann war nicht sicher, ob es ihm gelingen würde, die eine kritische Kursveränderung zu bewerkstelligen. »Carrel? Kommen Sie bitte mal zu mir herauf.« Der junge Mann kam sofort. Auf dem Balkon beobachtete er mit unterdrücktem Entsetzen das Vorbeirasen der Sterne.
211 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Carrel, Sie haben bei uns als Dolmetscher angefangen, nicht wahr? Dabei hatten Sie doch sicher häufig Gelegenheit, mit einem Stimmschreiber umzugehen.« »Ja, Sir, das stimmt.« »Gut. Dann werden Sie sich sicher daran erinnern können, daß der Schlitten dieser Maschine selbständig zurückfährt und auf eine neue Zeile umschaltet. Dabei bremst er in der Mitte etwas ab, um zu verhindern, daß er jedesmal mit voller Gewalt auf die Schlittensperre knallt. Das stimmt doch, oder? Was ich nun wissen will, ist folgendes: Wie wird das gemacht?« »Bei kleineren Maschinen läuft das Zugkabel nicht über eine Rolle, sondern über eine Steuernocke«, sagte Carrel stirnrunzelnd. »Aber die großen Multiplexmaschinen, die bei Konferenzen Verwendung finden, werden auf elektronische Weise durch ein Ding mit dem Namen ›Klystron‹ gebremst. Wie das funktioniert, weiß ich selbst nicht.« »Stellen Sie das fest«, sagte Amalfi. »Vielen Dank, Carrel, das ist genau das, was ich suche. Ein ähnlicher Apparat muß in unsere Steuerungsanlage eingebaut werden, damit wir den stärksten Bremseffekt erreichen, sobald wir die Umlaufbahn der Erde schneiden, wobei aber im ganzen keine Verzögerung eintreten darf. Glauben Sie, daß wir das schaffen?« »Doch, ja. Es klingt sogar ziemlich einfach.« Er ging. Eine Sekunde später raste ein fleckiger roter Riesenplanet an der Stadt vorbei. Das Telefon summte. »Herr Bürgermeister – hier Brian. Die Städte haben die Erde fast erreicht. Soll ich die Verbindung herstellen?« Amalfi fuhr in die Höhe. Schon? Die Stadt war noch sehr weit von der Erde entfernt. Man könnte sich einfach keine Geschwindigkeit vorstellen, mit der man noch rechtzeitig dort sein würde. Die vorbeirasenden Sterne gaben Amalfi plötzlich seine Sicherheit wieder.
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»Ja. Brian, schalten Sie den großen Helm sowie den DiracSender auf allen Kanälen an, und halten Sie unsere Alternativkursbestimmung bereit. Hat sich Carrel schon mit Ihnen in Verbindung gesetzt?« »Nein, Sir«, sagte der Pilot, »aber in den Steuerungsanlagen hat sich einiges gerührt. Ich glaubte, die Stadtväter hätten auf Ihre Anweisung hin diese Veränderung vorgenommen. Es läßt sich erkennen, daß zu dem Zeitpunkt, da wir die Erde erreichen, die automatische Anlage ausgeschaltet wird.« »Das ist richtig. Also, Brian, verbinden Sie mich.« Amalfi setzte den großen Helm auf… … und war wieder im Lager der Nomadenstädte. Das gesamte Rudel der Städte flog jetzt mit stark gedrosselter Geschwindigkeit in das ›Heimatgebiet‹ ein – wie man den willkürlich abgegrenzten Teil des Weltraumes von etwa fünfzig Lichtjahren Durchmesser mit der Erdensonne im Mittelpunkt nannte. Dieses Gebiet war nach wie vor das am meisten bevölkerte der Milchstraße, trotz des Dranges nach den Tiefen des Weltraumes, der seit einigen Jahrhunderten die Menschen beherrschte. Dem Lagerkönig war es inzwischen gelungen, die Nomadenstädte in eine halbwegs militärische Formation zu bringen, einen riesigen Kegel mit einer Länge von achtundzwanzig Millionen Kilometer. Die Spitze des Kegels wurde aus kleineren Städten mit minimaler Bewaffnung gebildet. Unmittelbar hinter der Spitze flogen in der Mitte die größten Städte. Darunter befand sich auch die Stadt des Königs, nicht aber die neuangekommene Stadt, die trotz ihrer Größe weit hinten am Rande des Kegels flog. Dadurch, daß Brians Flugkörper diese Stadt unentwegt beobachtete, konnte man den ganzen Kegel überblicken. Die Außenseite des Kegels wurde hauptsächlich aus mittelgroßen Städten gebildet, die zwar auch nicht schwer
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bewaffnet waren, aber durch ihre starken Rotatronfelder selbst stärkeren Angriffen durchaus standhalten konnten. Alles in allem war das eine vernünftige Verwendung der vorhandenen Mittel, dachte Amalfi Sie ließ erkennen, daß man nicht unmittelbar angreiferische Absichten hegte, aber stark in der Verteidigung war und noch einige Schlagkraft in Reserve hatte. Er setzte den schweren Helm etwas bequemer auf die Schultern und legte eine Hand auf die Brüstung seines Balkons, neben dem Steuerknüppel. Im gleichen Augenblick ertönte eine Stimme. »Sicherheitsamt der Erde. Wir rufen die Städte«, sagte die Stimme ernst. »Sie werden hiermit angewiesen, Ihren Anflug abzubrechen und zu bleiben, wo Sie zur Zeit sind, bis die amtlichen Ermittlungen über Ihre Ansprüche abgeschlossen sind.« »Einen Dreck werden wir tun«, sagte die Stimme des Königs. »Wir machen Sie ferner darauf aufmerksam, daß die augenblicklich geltenden gesetzlichen Vorschriften allen Nomaden verbieten, sich der Erde weiter als bis auf zehn Lichtjahre zu nähern. Die Vorschriften verbieten auch Ansammlungen von mehr als vier Nomadenstädten. Wir sind allerdings ermächtigt worden, Ihnen mitzuteilen, daß diese Vorschrift für die Dauer der Ermittlungen nicht angewendet werden wird, solange Sie die Näherungsgrenze nicht überschreiten.« »Wir werden sie überschreiten«, sagte der König, »damit ihr uns einmal genau ansehen könnt. Wir werden hier draußen kein neues Lager bilden – dafür sind wir nicht so weit geflogen.« »Unter diesen Umständen«, sagte der Sprecher des Sicherheitsamtes mit der unerschütterlichen Gleichgültigkeit des Bürokraten, der nach Vorschriften arbeitet, »schreibt das Gesetz vor, daß die beteiligten Städte aufgelöst werden müssen. Das Gesetz wird hier, wie in allen Fällen, unnachsichtig angewendet werden.« 214 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Es wird nicht angewendet werden. Wir sind keine Räuber und kommen auch nicht mit Drohungen zur Erde. Wir wollen uns lediglich einmal richtig beschweren. Wir sind hier, weil das die einzige Möglichkeit war, die uns noch geblieben ist. Alles, was wir wollen, ist Gerechtigkeit.« »Sie sind gewarnt.« »Sie auch. Sie können uns nicht angreifen. Das trauen Sie sich nicht. Wir sind Bürger, keine Verbrecher. Wir wollen Gerechtigkeit, und wir werden sie bekommen.« Man hörte ein plötzliches ›Klick‹, als der Dirac-Empfänger auf einen neuen Kanal umschaltete. Die neue Stimme sagte: »Achtung, Polizeikommando zweiunddreißig, hier spricht das Hauptquartier für Vizeadmiral Miller. Alarm Blau. Alarm Blau. Bestätigen Sie den Empfang der Meldung.« Ein neuerliches ›Klick‹, diesmal zum Kanal, den der König für Mitteilungen an das Lager benützte. »Alles bremsen«, sagte der König. »Die Formierung bleibt. Bereitet euch auf alle Fälle darauf vor, an der Umlaufbahn Saturns, etwa zehn Grad vor diesem Planeten, Stellung zu beziehen. Ich gebe euch die genauen Koordinaten später. Wenn sie mit uns hier nicht verhandeln wollen, fliegen wir zum Mars und erschrecken sie einmal gründlich. Aber wir wollen ihnen zuerst eine faire Chance geben.« »Woher wissen Sie, daß die uns eine faire Chance geben werden?« fragte eine Stimme ungeduldig. »Fliegen Sie doch zu den Akolyten zurück, wenn Sie Angst haben. Mir ist das völlig gleichgültig.« Klick. »Hallo Hauptquartier. Kommando zweiunddreißig bestätigt Alarm Blau für Kommandeur Eisenstein. Kommando zweiunddreißig Alarm Blau.« Klick.
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»He, ihr da am Ende des Kegels, bremst doch, verdammt noch mal! Ihr knallt uns sonst hinten drauf.« »Sie sind wohl verrückt, Budapest?« »Dann sehen Sie doch einmal nach, zum Teufel. Ich kann jedenfalls eine erhebliche Massenzunahme – « Klick. »Achtung, Polizeikommando dreiundachtzig. Hier spricht das Hauptquartier für Vizeadmiral Miller. Alarm Blau. Alarm Blau. Bestätigen Sie. Achtung, Polizeikommando zweiunddreißig. Alarm Rot. Alarm Rot. Bestätigen Sie.« »Eisenstein, Kommando zweiunddreißig. Alarm Rot bestätigt,« Klick. »Wir rufen die Erde. Hier ist Proserpina. Station Zwei auf der Erde, Sicherheitsamt. Wir können einige der Städte ausmachen. Befehle?« »Wo zum Teufel ist Proserpina?« fragte Amalfi die Stadtväter. ›Proserpina ist ein Gasriese mit achtzehntausend Kilometern Durchmesser außerhalb der Umlaufbahn Plutos in einer Entfernung von -‹ »Schön, das genügt.« »Erde, Sicherheitsamt. Lassen Sie die Finger davon, Proserpina Zwei. Das Hauptquartier hat die Sache selbst übernommen. Unternehmen Sie nichts.« Klick. »Hallo, Hauptquartier. Kommando dreiundachtzig bestätigt Alarm Blau für Kommandeur Fiorelli. Kommando dreiundachtzig. Alarm Blau.« Klick. »Budapest, sie kesseln uns ein.« »Ich weiß. Beziehen Sie die vorher angegebene Stellung. Sie werden es nicht wagen, uns anzugreifen, solange wir nichts 216 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
verbrochen haben. Laßt euch doch von dem Theater nicht bluffen.« Klick. »Station Pluto. Die Vorhut der Städte kommt.« »Nichts unternehmen, Pluto.« Amalfi konnte auf dem Bildschirm beobachten, wie die Sonne an Größe langsam zunahm. Das Bild wurde durch den Flugkörper übertragen, der das Lager begleitete. Von der Stadt Amalfis aus war die Erdsonne noch nicht sichtbar. Es war die heimatliche Sonne, ohne Zweifel. Amalfi hatte einen Kloß im Halse, als er sie beobachtete. In diesem Augenblick raste Hern VI noch mitten durch die Milchstraße, in einem Gebiet, in dem von der Erde aus keine Sternbilder zu erkennen waren, wie in anderen Teilen der Milchstraße, weil sie durch riesige Staubwolken verdeckt wurden. Amalfi konnte nicht verstehen, warum der winzige gelbe Funke, den er auf dem Bildschirm sah, seine Augen so tränen und brennen ließ. Das Lager hatte seine Geschwindigkeit inzwischen stark vermindert. In weiteren zehn Minuten schwebten die Städte, auf die Erdensonne bezogen, still. In der Ferne konnte Amalfi etwas sehen, das er erst ein einziges Mal gesehen hatte: den Planeten Saturn. Kein Amateurastronom auf der Erde hätte den beringten Riesen mit erstaunteren, kindlicheren Augen beobachten können. Amalfi war fast überwältigt. Was er sah, war nicht nur unglaublich schön, sondern auch unmöglich. Ein Gasriese mit starren Ringen! Warum hatte er das Sonnensystem verlassen, wenn solch merkwürdige Welten praktisch vor der Türe lagen. Um den Riesen kreiste noch ein anderer Planet – ein Planet mit mehr als viertausendfünfhundert Kilometern Durchmesser, abgesehen von einer ganzen Reihe kleinerer Satelliten aus der Größenordnung des Hern VI. Klick. 217 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Lassen Sie sich nieder«, hörte man den König sagen. »Wir werden eine Weile hierbleiben. Verdammt, ihr Burschen dahinten kriecht immer noch langsam auf uns zu. Wir müssen hier halten, versteht ihr denn das nicht?« »Wir vermindern die Geschwindigkeit genau nach Vorschrift, Budapest. Es ist die neue Stadt, dieses riesige Ding, die nicht stoppen kann. Wahrscheinlich hat sie irgendeinen Defekt.« Das Bild, von dem unbemannten Flugkörper übertragen, schien diese Diagnose zu bestätigen. Die riesige kugelförmige Stadt hatte sich vom Kern des Lagers beträchtlich entfernt und flog neben dem Rand des Kegels. Die Kugel zitterte und wurde in ihren Umrissen von Zeit zu Zeit undeutlich, als würde die Rotatronabschirmung unerwartet und heftig polarisiert. »Rufen Sie die Stadt, und fragen Sie, ob sie Hilfe braucht. Alle anderen fliegen in eine Umlaufbahn ein«, sagte der König. »Brian, welche Zeit?« knurrte Amalfi. »Kurszeit, Sir«, sagte Brian. »Wie erfahre ich, wann der Steuerknüppel wieder eingeschaltet ist?« »Er ist eingeschaltet, Herr Bürgermeister«, sagte der Pilot. »Die Stadtväter schalten ab, wenn Sie den Knüppel berühren. Sie hören einen Warnton fünf Sekunden vor der Geschwindigkeitsverminderung, der sich alle halbe Sekunde wiederholen wird, sobald der Kurvenpunkt erreicht ist. Beim letzten Ton können Sie etwa zweieinhalb Sekunden lang steuern, wie Sie wollen. Anschließend wird der Steuerknüppel wieder abgeschaltet, und die Stadtväter steuern weiter.« Klick. »Admiral Miller, wie wollen Sie jetzt vorgehen?« Amalfi war die Stimme, die aus dem Dirac-Empfänger ertönte, sofort unsympathisch. Die Person, der diese Stimme gehörte, war bestimmt in einem sicheren Schutzkeller versteckt.
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»Augenblicklich gar nicht, Sir«, sagte der Befehlshaber aus dem Hauptquartier. »Sie haben angehalten und benehmen sich vernünftig. Ich habe Kommandeur Eisenstein beauftragt, das Lager auf eventuelle Unruhen zu beobachten.« »Admiral, diese Städte haben gegen das Gesetz verstoßen. Sie sind unter Übertretung der Näherungsgrenze hergekommen. Allein die Größe ihrer Ansammlung ist ungesetzlich. Sehen Sie das ein?« »Ja, Herr Präsident«, sagte der Befehlshaber ehrerbietig. »Wenn Sie wollen, daß ich einzelne Verhaftungen vornehme – « »Nein, wir können nicht eine ganze Herde fliegender Nomaden einsperren lassen. Ich verlange energisches Vorgehen, Admiral. Wir können nicht zulassen, daß sich ganze Flotten der Erde nähern. Das gäbe ein schlechtes Beispiel und hätte ein Absinken der allgemeinen Moral zur Folge. Wenn wir nicht zu den Tugenden der ersten Pioniere zurückkehren, wird wieder alles ins Dunkel zurücksinken.« »Ja, Sir«, sagte der Admiral. »Sehr gut gesagt, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Ich erwarte Ihre Befehle, Herr Präsident.« »Ich befehle, daß etwas unternommen wird. Dieses Lager ist ein Schandfleck. Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich.« »Ja, Sir«, die Stimme des Admirals wurde lebhaft. »Kommandeur Eisenstein, fahren Sie mit Operation A fort. Kommando zweiundachtzig, Alarm Rot. Alarm Rot.« »Kommando zweiundachtzig bestätigt Alarm Rot.« »Eisenstein ruft Hauptquartier.« »Hier Hauptquartier.« »Miller, ich übermittle Ihnen meinen Rücktritt. Die Anweisungen des Präsidenten sehen Operation A nicht vor. Ich übernehme die Verantwortung dafür nicht.«
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»Befolgen Sie die Befehle, Eisenstein«, sagte der Admiral freundlich. »Ich nehme Ihren Rücktritt an, aber erst nach Abschluß der Operation A.« Die Städte schwebten in ihren Umlaufbahnen. Eine kurze Zeitspanne lang geschah nichts. Dann erschienen plötzlich große Polizeischiffe im Lager. Im gleichen Augenblick explodierten vier Städte und verwandelten sich in gleißende Gaswolken. Die Fotozellen im unbemannten Flugkörper Amalfis stellten sich auf die starke Helligkeit ein. Bisher hatten sich die Städte noch zu keiner Gegenwehr aufgerafft. Sie waren überrascht worden, wie Amalfi auch, der das nicht erwartet hatte. Nur eine Kombination aus Schuldgefühl und Brutalität war geeignet, eine derart mörderische Aktion hervorzurufen. Offensichtlich waren der Präsident und Admiral Miller für diese Mischung genau die richtigen Männer. Klick. »Kämpft!« brüllte die Stimme des Königs. »Kämpft doch, ihr Idioten! Sie wollen uns vernichten! Kämpft!« Eine weitere Stadt explodierte. Die Polizei verwendete Bethéstrahler. Nachdem nicht einmal die Fotozellen im Flugkörper, die sich auf die strahlende Helligkeit der Wasserstoff-Helium-Explosionen eingestellt hatten, die blassen Leitstrahlen dieser Waffen erkennen konnten, würde es den Städten schwerfallen, die Anweisungen des Königs zu befolgen. Budapest scherte bereits aus dem Kegel aus und raste in Richtung Erde davon. Es schoß aus allen Rohren auf die Polizeischiffe und erzielte einen Volltreffer. Das Polizeischiff zerplatzte n i eine Wolke aus glühenden Metallteilchen. Zuerst folgten ein paar Städte dem König, dann plötzlich alle. Klick. »Miller, halten Sie sie auf! Ich lasse Sie erschießen! Die Städte wollen eine Invasion – «
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In Sekundenschnelle trafen zahlreiche Verstärkungen der Polizei ein. Über dem Lager der Nomadenstädte breitete sich langsam ein Schleier aus: ein Nebel aus Gasmolekülen, Metallstaub und kondensiertem Wasserdampf. Darüber glitten die Leitstrahlen der Bethéstrahler wie dünne, schemenhafte Finger. Amalfi bemerkte erstaunt, daß die Polizeischiffe ebenso schnell vernichtet wurden, wie sie ankamen. Die Städte schlugen zurück. Diese gewaltige Kampfkraft konnte aber nicht von ihnen stammen. Es mußte etwas anderes sein, etwas Neues und Tödliches. »Kommando zweiundachtzig. Achtung. Operation A Strich a tritt sofort in Kraft.« Ein Polizeipanzerschiff flog geräuschlos in die Luft. Die Städte gewannen den Kampf. Obwohl jedes Polizeischlachtschiff alleine mit mindestens drei Städten fertig werden konnte und zu Beginn des Kampfes mindestens fünfmal soviel Polizeischiffe als Städte vorhanden waren und die Städte eigentlich keine Chance hatten, gewannen sie. Sie strömten zur Erde, überschäumend vor Wut, während die Polizeischiffe am Himmel explodierten. Und voraus raste die silbrig glänzende Kugel. Amalfi konnte nun den Erdball selbst sehen, als winziges blaugrünes Pünktchen. Er versuchte gar nicht, näher hinzusehen. Er wollte die Erde nicht sehen. Seine Augen wurden bereits durch die Tränen beim Anblick der Sonne verschleiert. Aber er konnte die Augen nicht abwenden. Am Pol blitzte die Eiskappe auf. … biiip… Der Ton schreckte ihn auf. Das erste Warnsignal hatte er bereits überhört. In den nächsten zweieinhalb Sekunden würde die Stadt das Sonnensystem durchqueren. Vielleicht würde sie
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nicht einmal so lange brauchen, denn er wußte nicht, wie oft das Warnsignal bereits ertönt war. Er konnte nur annehmen, daß jetzt der Augenblick gekommen war… Klick. »Menschen der Erde, wir, die Stadt aller Räume, rufen euch…« Er bewegte den Steuerknüppel in einem kleinen Bogen etwa drei Millimeter hin und her. Die Stadtväter schalteten sofort ab und übernahmen die Steuerung wieder selbst. Die Erde verschwand. Auch die Sonne. Hern VI beschleunigte stark und erreichte die rasende Geschwindigkeit, die er auf dem Wege hierher gehabt hatte. »… eure Meister zu begrüßen, die Sternenmenschen, die jetzt als neue Herrscher zu euch dekadenten Erdmenschen kommen werden. Wir weisen euch an, euch vorzubereiten – « Die Stimme war plötzlich ausgelöscht. Das grüne Lichtpünktchen, das letzte, was man von Amalfis Heimatplaneten sehen konnte, war seit Sekunden verschwunden. Der ganze Planet Hern VI erzitterte und schwankte. Amalfi wurde durch den Stoß auf den Boden des Balkons geworfen. Sein Helm verrutschte, so daß er vom Kampf im Lager nichts mehr sehen konnte. Es war ihm gleichgültig. Das plötzliche Aufbäumen des Planeten Hern VI und das Erlöschen der Stimme zeigten das wirkliche Ende des Kampfes im Lager an. Es bedeutete das Ende der tödlichen Gefahr für die Erde. Und es bedeutete das Ende der Nomadenstädte – nicht nur der im Lager, sondern aller Städte, als Gattung, eingeschlossen Amalfis Stadt. Denn dieses Aufbäumen, das durch das Gestein von Hern VI bis zu Amalfis Balkon gedrungen war, hieß, daß Amalfis Einfühlungsvermögen zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt hatte. Irgendwo auf der Oberfläche von Hern VI gab es jetzt einen riesigen, weißglühenden Krater. Dieser Krater und die Metallspuren in seinen geschmolzenen Rändern zeigten die 222 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Grabstätte der ältesten aller Nomadenlegenden an: das Grab der Vegafestung. Niemand würde jemals wissen, wie lange die geballte und kondensierte Militärmacht der Vegas durch die Milchstraße gewandert war und auf die einmalige und unwiederholbare Gelegenheit gewartet hatte. Auf diese Frage war mit Sicherheit auch auf dem Vegaplaneten keine Antwort zu finden; man hatte die Festung dort ebenso als Mythos angesehen wie überall in der Milchstraße. Aber sie war kein Mythos gewesen. Die Festung hatte auf die Gelegenheit gewartet, Vega an der Erde rächen zu können. Sicherlich nicht in der Erwartung, dadurch die alte Herrschaft der Vegas wieder aufrichten zu können, sondern nur um diesen mittelmäßigen Planeten einer mittelmäßigen Sonne zu zerstören, der auf so unerklärliche Weise über Vegas Großartigkeit gesiegt hatte. Nicht einmal die Festung selbst konnte hoffen, mit der Erde allein fertig zu werden. Nur in der Verwirrung, die durch den Nomadenmarsch zur Erde entstanden war und in der Erwartung, daß die Erde zögern würde, die Städte ihrer Bürger zu zerstören, bis es zu spät war, hatten die Vegas ihren Triumph verwirklichen zu können geglaubt. Sie waren aus ihrem langen Exil zurückgekehrt, um die letzte Chance wahrzunehmen. Der Felsboden, auf dem die Stadt lag, zitterte noch unter den Nachwirkungen des Aufpralls. Amalfi stand auf und hielt sich an der Brüstung fest. »Brian, wir starten. Der Planet fliegt weiter wie bisher. Bringen Sie die Stadt auf den vorgesehenen Kurs.« »Zum Größeren Magellannebel?« »Ja. Stellen Sie fest, ob das Beben Schäden verursacht hat und setzen Sie sich mit Hasselton und Carrel in Verbindung!« »Ja, Sir!« Dabei wäre die Vegafestung fast Sieger geblieben. Nur das Eingreifen eines verlorenen und von Ausgestoßenen gesteuerten Planeten hatte das verhindert. Die Erde würde nie mehr als 223 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
einen Bruchteil der Wahrheit erfahren – den Bruchteil, der den Flug von Hern VI durch das Sonnensystem darstellte. Der Rest des Beweismaterials glühte und zischte in einem Krater auf der Oberfläche von Hern VI, und Amalfi gedachte dafür zu sorgen, daß sie den Planeten Hern VI nie mehr sehen würde… … wie die Nomaden die Erde nie mehr sehen würden. Alle waren im alten Büro des Bürgermeisters versammelt: Dee, Hasselton, Carrel, Dr. Schlosser, Sergeant Anderson, Jack, Brian, die Techniker; über Funk war die ganze Stadtbevölkerung angeschlossen. Sogar die Stadtväter hatte man angeschaltet. Es war die erste derartige Versammlung seit der letzten Wahl, bei der Hasselton zum Stadtdirektor bestimmt worden war. Von den Anwesenden konnte sich außer den Stadtvätern und Amalfi kaum noch jemand daran erinnern. Amalfi begann zu sprechen. Seine Stimme war sanft, beruhigend, unpersönlich. Sie war an alle gerichtet, an die Stadt als Gemeinschaft. Aber er schaute Hasselton direkt ins Gesicht. »Erstens«, sagte er, »ist es erforderlich, daß jeder begreift, wo wir uns befinden. Als wir uns vor kurzem von Hern VI lösten, war dieser Planet auf dem Wege zum Kleineren Magellannebel, einem von zwei kleinen Milchstraßensystemen, die sich in südlicher Richtung von der großen Milchstraße fortbewegen. Hern VI ist immer noch auf diesem Kurs, und wenn nichts Unwahrscheinliches geschieht, wird er den Kleineren Magellannebel erreichen und weiter in den unermeßlichen Raum hinausfliegen. Wir haben auf dem Planeten fast alle Maschinen gelassen, die wir im Lager aus den beiden Städten gezwungenermaßen mitnehmen mußten. In der Stadt war nicht genügend Platz dafür, und auf Hern VI konnten wir nicht bleiben, weil die Erdpolizei Hern VI verfolgen wird, und zwar so lange, bis der Planet die Milchstraße verläßt, oder bis sie herausgefunden hat, daß wir nicht mehr auf Hern VI sind.« »Warum, Sir?« fragten mehrere Lautsprecher fast gleichzeitig.
Stimmen
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aus
dem
»Aus vielen Gründen. Der Flug von Hern VI mitten durch das Sonnensystem – wie überhaupt der ganze Flug dieses Planeten – stellte eine schwere Verletzung der Erdgesetze dar. Außerdem hat uns die Erde angekreidet, daß wir auf diesem Flug eine Stadt vernichtet haben. Was diese Stadt wirklich war, weiß die Erde nicht. Übrigens darf sie es nie herausfinden, selbst wenn wir deswegen in den Geschichtsbüchern als Mörder gebrandmarkt werden sollten.« Dee protestierte. »John, ich sehe nicht ein, warum wir das Verdienst für diese Tat nicht in Anspruch nehmen dürfen. Besonders wo wir etwas wirklich Bedeutendes für die Erde geleistet haben.« »Weil wir noch nicht damit fertig sind. Für Sie, Dee, sind die Vegas ein antikes Volk, von dem Sie zum ersten Male vor dreihundert Jahren etwas gehört haben. Vorher, auf Utopia, hatten Sie keine Verbindung zur lebendigen Geschichte der Milchstraße. Aber es ist Tatsache, daß Vega den größten Teil der Milchstraße beherrschte, ehe die Erde in der Geschichte auftrat, und daß die Vegas immer schon gefährliche Leute waren und noch sind, wie uns dieses Beispiel gezeigt hat. Die Festung hat nicht im luftleeren Raum gelebt. Auch sie mußte von Zeit zu Zeit einen Hafen aufsuchen, genau wie wir. Und als Militärmaschine brauchte sie noch mehr Wartung, als sie aus eigener Kraft leisten konnte. Irgendwo in der Milchstraße gibt es eine Vegakolonie. Diese Kolonie darf nicht erfahren, was ihrer mächtigsten Waffe zugestoßen ist. Man muß sie im Glauben lassen, daß zwar der erste Versuch der Festung, die Erde zu zerstören, gescheitert ist, daß die Festung aber wiederkommen wird, um es noch einmal zu versuchen. Die Kolonie darf nicht erfahren, daß die Festung zerstört ist, oder sie baut eine neue. Die zweite Festung wird das schaffen, was der ersten nicht geglückt ist. Die erste versagte wegen der nomadischen Kultur, auf die sich die Erde bisher gestützt hat. Die Nomaden haben die Festung besiegt. Es traf sich so, daß gerade unsere Stadt diese
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Aufgabe zu lösen hatte, aber es war kein Zufall, daß wir bei der Hand waren. Für lange Zeit jedoch werden die Nomaden kein wirksamer oder gar willkommener Faktor in der ganzen Milchstraße sein können. Die Milchstraße, und besonders die Erde, ist während dieser Zeit durch die Depression sehr geschwächt. Wenn die Vegas hören, daß ihre Festung die Erde angreifen und um ein Haar vernichten konnte, werden sie sofort eine neue Festung bauen. Und dann… Nein, Dee, ich fürchte, wir müssen das Geheimnis für uns behalten.« Dee schaute immer noch rebellisch zu Hasselton auf, aber dieser schüttelte den Kopf. »Unsere eigene Lage ist im Augenblick weder gut noch schlecht«, fuhr Amalfi fort. »Wir fliegen immer noch mit der gleichen Geschwindigkeit wie Hern VI. Sie ist nicht so hoch wie damals bei dem Planeten Heva, so daß die Stadt einfacher zu steuern ist, wenn wir auch nicht soviel Masse haben wie ein Planet. Wir können jeden Hafen erreichen, der im näheren Umkreis unserer Flugbahn liegt. Schließlich besitzt die Erde nur über die Flugbahn von Hern VI Kursangaben, nicht aber über unsere. Stellen Sie dem die Tatsache gegenüber, daß unsere Antriebsmaschinen alt und gebrechlich sind und daß wir mit eigener Kraft nirgends mehr hinfliegen können. Wenn wir auf dem nächsten Planeten landen, landen wir für immer. Wir haben kein Geld, neue Maschinen zu kaufen. Ohne neue Maschinen und neue Ausrüstung können wir kein Geld verdienen. Also müssen wir uns gut überlegen, wohin wir wollen. Aus diesem Grund habe ich auch alle gebeten, an dieser Konferenz teilzunehmen.« Einer der Techniker sagte: »Chef, sind Sie sicher, daß es wirklich so schlimm ist? Wir könnten es doch noch einmal mit Reparaturen versuchen – « ›Die Stadt übersteht keine Landung mehr‹, sagten die Stadtväter geradeheraus. Der Techniker schluckte und verstummte. 226 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Unsere gegenwärtige Umlaufbahn«, sagte Amalfi, »würde uns schließlich zum Großen Magellannebel führen. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit ist das eine Reise von etwa zwanzig Jahren Dauer. Wenn wir wirklich dorthin fliegen wollen, müssen wir außerdem weitere sechs Jahre dazurechnen, weil wir bei dieser enormen Beschleunigung viel früher mit der Geschwindigkeitsverminderung beginnen müssen, wenn wir nicht wollen, daß alle Maschinen explodieren. Ich schlage daher vor, daß wir tatsächlich zum Großen Magellannebel fliegen.« Die ganze Stadt schrie überrascht auf. Amalfi hob die Hand. Die im Raum Anwesenden beruhigten sich langsam, aber in der Stadt ging der Lärm noch eine Weile weiter. Es klang nicht nach einem allgemeinen Entrüstungssturm, sondern so, als stritten zahlreiche Gruppen der Bewohner heftig miteinander. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist«, sagte Amalfi, nachdem sich die Aufregung etwas gelegt hatte. »Der Weg ist lang, und obwohl man annimmt, daß auf der nahen Seite des Nebels einige Kolonien bestehen, kann es dort keinen wirklichen interstellaren Handel geben, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit eines Handelsverkehrs mit den Hauptgebieten der Milchstraße. Wir müßten uns niederlassen, vielleicht sogar selbst den Boden bebauen. Es hieße praktisch, das Nomadendasein aufzugeben, den Weltraumflug aufzugeben. Das ist viel verlangt, ich weiß. Aber ich möchte euch alle daran erinnern, daß es keine Arbeit oder Hoffnung auf Arbeit mehr für uns gibt, in der ganzen Milchstraße nicht, selbst wenn wir durch ein Wunder unsere ramponierte Stadt wieder erneuern könnten. Wir haben gar keine andere Wahl. Wir müssen einen Planeten für uns finden, einen Planeten als unser Eigentum.« ›Beweisen Sie diese Behauptung‹, sagten die Stadtväter. »Gerne. Sie wissen alle, was mit der Wirtschaft der Milchstraße geschehen ist. Sie ist völlig zusammengebrochen. Solange die Währung in den Haupthandelsstraßen stabil war, gab es Bezahlung für unsere Arbeit. Jetzt gibt es keine Bezahlung mehr. 227 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Die von der Erde erfundene Medikamentenwährung ist für die Städte völlig unbrauchbar, weil sie die Medikamente tatsächlich als Heilmittel verwenden müssen – nicht als Geld –, damit sie am Leben bleiben können. Ganz abgesehen von Epidemien – ich erinnere an die Stadt im Lager –, müssen wir daran denken, daß wir, im wahrsten Sinne des Wortes, von der Langlebigkeit leben. Wir können nicht auch noch damit handeln. Das ist aber nur der Anfang. Die Medikamentenwährung wird zusammenbrechen, wie die Germaniumwährung zusammenbrach. Die Milchstraße ist groß. Es wird noch Dutzende von Währungen geben, ehe die Wirtschaft zu einem stabilen System zurückkehren kann. Und es wird Tausende von örtlichen Geldsystemen geben, bevor es soweit sein wird. Das wird mindestens hundert Jahre dauern – « ›Mindestens drei Jahrhunderte‹, sagten die Stadtväter. »Also gut, drei Jahrhunderte. Ich war optimistisch. Auf jeden Fall ist klar, daß wir bei einer derartigen Wirtschaftslage kein Geld verdienen können. Die Zeit ist aber zu lang, um einfach abzuwarten, bis die Wirtschaft wieder funktioniert. Besonders, da wir nicht wissen, ob in einer neuen Wirtschaft überhaupt Platz für Nomaden ist oder nicht. Ganz offen gesprochen, ich glaube nicht, daß die Nomaden eine Überlebenschance haben. Die Erde wird nach diesem Marsch besonders hart mit ihnen umspringen. Ich habe den Marsch mit allen Mitteln unterstützt, weil ich die Vegas mit in den Strudel reißen wollte. Aber selbst wenn kein Marsch stattgefunden hätte, wären die Nomaden durch die Depression überflüssig geworden. Die Geschichte der Wirtschaftskrisen zeigt, daß eine Periode wirtschaftlichen Zusammenbruchs unvermeidlich von einer Periode besonders scharfer wirtschaftlicher Kontrollen abgelöst wird – in der alle nur teilweise kontrollierbaren Faktoren wie unbegrenzter Kredit, freie Marktwirtschaft und Konkurrenzlöhne nichts zu suchen haben. Unsere Stadt stellt aber das Höchste an freiem Wettbewerb dar. Selbst wenn man die folgende Zeit überstehen könnte, was gar nicht der Fall ist, selbst dann wäre sie in der neuen 228 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Wirtschaft ein Anachronismus. Sie würde unweigerlich gezwungen sein, sich auf einem von der Regierung angewiesenen Planeten niederzulassen. Mein Vorschlag geht nun dahin, daß wir uns den Platz selbst aussuchen, bevor uns die Regierung ihre Entscheidung aufzwingen kann. Daß wir einen Platz ausfindig machen, der genügend weit entfernt ist von der entferntesten Gegend, in der die Regierung noch Beschlagnahmen vornehmen kann, einen Platz, der sich ständig und mit ausreichender Geschwindigkeit aus dem Gebiet entfernt, in dem die Regierung noch etwas zu suchen hat, und schließlich, daß wir, wenn wir dorthin kommen, auch dort bleiben. Ein neuer Imperialismus erwacht und bedroht die Freiheit. Damit wir frei bleiben können, müssen wir über alle bisher vorstellbaren Grenzen hinausgehen und unser eigenes kleines Reich gründen. Aber machen wir uns nichts vor. Die Nomaden sind erledigt.« Keiner rührte sich. Betäubt starrten sich die Anwesenden an.
im
Raum
Dann sagten die Stadtväter: ›Die Behauptung ist bewiesen. Wir fertigen nunmehr eine Analyse des vorgeschlagenen Gebietes an und werden in etwa vier bis fünf Wochen einen Bericht vorlegen.‹ Die Stille im Raum wurde sonst von nichts unterbrochen. Die Nomaden dachten nach. Kein Umherschweifen mehr. Ein eigener Planet. Eine zur Ruhe gekommene Stadt, Sonnenaufgang und untergang in regelmäßiger Reihenfolge – Jahreszeiten – Ruhe. Keine Furcht, kein Kampf, keine Niederlagen, keine Verfolgung. Unabhängigkeit – und die Sterne für immer nur noch Lichtpünktchen. Ein seßhafter Mensch, vor die gleiche Umwälzung gestellt, wäre davor zurückgeschreckt. Die Nomaden waren an Veränderungen gewöhnt. Veränderung war der ständige Faktor ihres Lebens. Trotzdem hätte Amalfi große Befürchtungen über den ganzen Ausgang des Vorhabens gehabt, wenn die Nomaden nicht praktisch unsterblich gewesen wären. Eine kurze Lebenszeit führt zur Unruhe. Irgendwo in den nächsten paar Jahren muß auf den Sterblichen ein Eldorado warten. Aber der Sieg über das 229 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Alter hatte diesen faustischen Drang beseitigt. Nach drei oder vier Jahrhunderten wurden die Menschen des Suchens nach dem Unsagbaren müde. Sie lernten die Zukunft nicht als Hafen der Zufriedenheit und des Reichtums anzusehen, sondern einfach als die Zeit, die noch nicht gekommen war. Sie interessierten sich für die Gegenwart und akzeptierten die Zukunft gleichmütig mit allem, was sie bringen würde. Sie verzehrten sich nicht mehr auf der Suche nach der Sicherheit. Kurz, sie dachten etwas mehr realistisch und etwas weniger aufgeregt. Amalfi wartete zuversichtlich. Die wichtigsten Argumente würden zuerst vorgebracht werden, das wußte er. Er war nicht besonders begierig, sie beantworten zu müssen, und das Schweigen dauerte nun schon so lange, daß er sich fragte, ob seine Begründung am Ende nicht doch etwas zu theoretisch geworden war. Für diesen Fall war es zweckmäßig, eine praktische Note ins Spiel zu bringen… »Mit dieser Lösung müßte eigentlich jeder zufrieden sein«, sagte er lebhaft. »Hasselton hat mich gebeten, ihn von seinem Posten zu entbinden, und damit wird er ihn also wirklich für immer los. Außerdem bringt es uns aus dem Bereich der Polizei. Carrel kann als Stadtdirektor bleiben, wenn er noch will, aber er wird Stadtdirektor einer gelandeten Stadt sein, was mich wieder freut, weil ich kein Zutrauen zu seinen Fähigkeiten als Pilot habe. Es – « »Chef, lassen Sie mich mal unterbrechen.« »Gut, Mark, reden Sie.« »Was Sie sagen, klingt alles sehr schön, aber es ist doch furchtbar extrem. Ich kann nicht einsehen, warum wir so weit fortgehen müssen. Zugegeben, daß der Größere Magellannebel nicht auf dem Kurs von Hern VI liegt; zugegeben, daß er ziemlich abgelegen ist; zugegeben sogar, daß der Nebel zu groß und unbevölkert ist, als daß uns die Polizei dort finden könnte. Aber könnten wir nicht den gleichen Erfolg erzielen, ohne die Milchstraße zu verlassen? Warum müssen wir uns in einem Nebel 230 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
niederlassen, der sich von der Riesengeschwindigkeit entfernt – «
Milchstraße
mit
einer
›Fünfhundert Kilometer pro Sekunde.‹ »Ach, seien Sie doch ruhig. – Also gut, das ist nicht schnell. Aber trotz allem ist der Nebel sehr weit weg – und wenn Sie mir jetzt alle Zahlen durchgeben, hau’ ich Ihnen sämtliche Röhren kaputt. Wenn wir jemals wieder zur Milchstraße zurück wollen, müssen wir wieder einen Planeten fliegen, sonst schaffen wir es nicht.« »Also gut«, sagte Amalfi. »Was haben Sie als Alternative zu bieten?« »Warum verstecken wir uns nicht in irgendeinem Sternbild unserer eigenen Milchstraße? Nicht in einem winzigen System wie in den Akolyten, sondern in einer großen Wolke, zum Beispiel der Riesenwolke im Herkules. So etwas Ähnliches können wir ganz sicher in der Nähe unserer Flugbahn finden. Vielleicht gibt es sogar eine Cepheidwolke, in der man nicht mit Rotatronsteuerung vorwärts kommt, wenn man die örtlichen Bedingungen nicht kennt. Dann würde uns die Polizei auch da nicht finden, wir wären aber andererseits noch nahe genug, wenn sich die Wirtschaftslage in der Milchstraße bessern sollte.« Amalfi ließ sich auf eine Debatte über diesen Punkt gar nicht ein. Dieser Einwand hätte logischerweise von Carrel kommen müssen, weil diesem das Kommando über eine fliegende Stadt verlorenzugehen drohte. Die Tatsache, daß der doch angeblich zurückgetretene Hasselton diesen Einwand vorbrachte, genügte Amalfi vollauf. »Mir ist es gleich, ob sich die Lage noch einmal bessert oder nicht«, sagte unerwartet Dee. »Mir gefällt die Idee von einem eigenen Planeten, und ich mochte auch so weit von der Polizei weg sein wie nur möglich. Wenn dieser Planet wirklich uns gehört, spielt es dann noch eine Rolle, ob vielleicht in drei- oder vierhundert Jahren Nomadenstädte wieder gefragt sind? Wir brauchen einfach keine Nomaden mehr zu sein.«
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»Das sagst du«, meinte Hasselton, »weil du nicht länger als zwei- oder dreihundert Jahre auf der Welt bist und weil du noch daran gewöhnt bist, auf einem Planeten zu leben. Einige von uns hier sind älter. Einige lieben das Wanderleben. Du weißt, daß ich nicht für mich selbst spreche. Ich bin froh, wenn ich von dieser Stadt herunter kann. Aber die ganze Sache ist irgendwie faul. Amalfi, sind Sie sicher, daß Sie uns nicht nur deswegen zur Seßhaftigkeit zwingen wollen, um einen Wechsel in der Verwaltung der Stadt zu verhindern? Es würde nichts nützen, wissen Sie.« Amalfi sagte: »Natürlich weiß ich das. Ich reiche meinen Rücktritt gemeinsam mit dem Ihrigen in dem Augenblick ein, da wir Boden berühren. Aber jetzt bin ich noch Beamter der Stadt und erfülle die Pflichten, die mit meinem Amt verbunden sind.« »Nein, das habe ich nicht so gemeint. Nehmen Sie es mir nicht übel. Was ich immer noch wissen möchte, ist, warum wir bis zum Größeren Magellannebel müssen.« »Weil er uns gehören wird«, sagte Carrel plötzlich. Hasselton wandte sich überrascht um, aber Carrel beachtete ihn nicht. »Nicht nur der Planet wird uns gehören, sondern auch die Milchstraße. Denn die Magellannebel sind kleine Milchstraßen. Ich weiß es, weil ich auf einem Planeten aufgewachsen bin, über dem die Magellannebel wie Funkentornados hinzogen. Zum Teufel, Mark, es geht gar nicht um einen einzigen Planeten. Der bedeutet nichts. Wir werden die Stadt zwar nicht mehr fliegen können, aber wir können Raumschiffe bauen. Wir können kolonisieren. Wir können die Wirtschaft nach unseren Erfordernissen gestalten. Unsere eigene Milchstraße! Kann man mehr verlangen?« »Es ist zu einfach«, sagte Hasselton beharrlich. »Ich bin daran gewöhnt, daß ich um alles kämpfen muß, was ich haben will. Ich bin daran gewohnt, auch für die Stadt kämpfen zu müssen. Ich will meinen Kopf gebrauchen, nicht meinen Körper. Ihre Raumschiffe, Ihre Kolonisation, alle diese Dinge kommen erst nach einer langen Zeit des Rodens und Pflügens. Das ist der Kern meiner Einwendungen gegen Ihre Absichten, Amalfi. Sie 232 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
treiben Verschwendung. Sie stellen uns vor eine Situation, bei der wir überwiegend Dinge tun müssen, die außerhalb unserer Erfahrung liegen.« »Ich bin anderer Meinung«, sagte Amalfi ruhig. »Es gibt im Großen Magellannebel bereits Kolonien, die nicht von Raumschiffen errichtet sein können. Sie müssen von Städten stammen, weil man früher mit keinem anderen Mechanismus solche Entfernungen zurücklegen konnte.« »Und?« »Das heißt, daß wir uns keineswegs friedlich niederlassen und unsere Werkzeuge hervorholen können. Wir müssen kämpfen, um uns einen Teil des Nebels zu sichern. Es wird der größte Kampf sein, den wir jemals zu bestehen hatten, weil wir gegen Nomaden zu kämpfen haben – Nomaden, die zwar den größten Teil ihrer Geschichte und Herkunft vergessen haben, aber trotz allem doch Nomaden, die die gleiche Idee hatten wie wir, aber lange vor uns, und die ihr Patent verteidigen werden.« »Und mit Recht. Warum sollen wir bei ihnen stehlen, wenn wir in unserer Milchstraße genausogut unterkommen könnten?« »Weil sie selbst Diebe sind – und Schlimmeres. Warum flog eine Nomadenstadt früher zum Magellannebel, als die Städte noch solide Bürger der Milchstraße waren? Warum haben sie sich nicht in der Milchstraße niedergelassen? Denken Sie nach, Mark! Weil sie Piraten waren. Piraten, die zum Magellannebel flüchten mußten, weil sie Verbrechen begangen hatten, die alle Planeten in der Milchstraße zu ihren Feinden machten. Sie kennen selbst eine solche Stadt, und Sie wissen auch, daß sie dort draußen sein muß: die ›Könige des Weltraumhandels‹. Nicht nur, weil sich Thor V noch an sie erinnert, sondern weil jeder empfindende Mensch in der ganzen Milchstraße jedem einzelnen dieser ›Könige‹ an den Kragen will. Wohin sollten sie geflogen sein, wenn nicht zum Großen Magellannebel, obwohl sie wahrscheinlich fünfzig Jahre hungern mußten, um den Flug überhaupt durchstehen zu können?«
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Hasselton begann, seine Hände zu kneten, langsam, aber mit voller Kraft. Seine Knöchel wurden abwechselnd rot und weiß. »Götter des Weltraums«, sagte er. Sein Mund wurde eine scharfe Linie. »Diese Hunde. Ja, sie müssen dorthin geflogen sein. Ich wünsche mir nur, mit diesen Kerlen zusammenzutreffen.« »Denken Sie daran, Mark, daß es nicht sicher ist. Der Nebel ist sehr groß.« »Gewiß, gewiß. Es sind sicher auch noch ein paar andere Piraten dort anzutreffen. Aber wenn die ›Könige‹ dort sind, möchte ich mit ihnen zusammentreffen. Ich denke immer noch daran, daß man mich auf Thor V für einen von ihnen gehalten hat. Das habe ich ihnen niemals vergessen. Die anderen sind mir gleichgültig. Also gut. Ich stimme auch für den Größeren Magellannebel.« »Eine Milchstraße«, murmelte Dee. »Eine Milchstraße mit einem Platz, der uns gehört, einer Heimat.« »Eine Nomadenmilchstraße«, sagte Carrel. Die Stadt verfiel wieder in Schweigen. Es war diesmal kein Schweigen unterdrückter Streitsucht, sondern das Schweigen vieler Menschen, die nachdenken. ›Haben die Herren Hasselton und Carrel ihrem Wahlprogramm noch etwas hinzuzufügen?‹ fragten die Stadtväter. Wie Amalfi erwartet hatte, waren die Stadtväter durch die lange Diskussion politischer Fragen überzeugt, daß sich die Wahl auf den Bürgermeisterposten und nicht auf den des Stadtdirektors bezog. ›Wenn nicht, und falls keine weiteren Kandidaten aufgestellt werden, führen wir jetzt die Zählung durch.‹ Für einen langen Augenblick sahen sich alle bestürzt an. Dann erkannte auch Hasselton den Fehler, den die Stadtväter gemacht hatten. Er begann zu lachen.
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»Keine weiteren Ausführungen«, sagte Hasselton. Carrel sagte nichts. Er lächelte nur verzückt. Zehn Sekunden später war John Amalfi, Nomade, gewählter Bürgermeister einer jungen Milchstraße.
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8 Die Stadt schwebte vom Himmel herab und senkte sich dann leise durch die morgendliche Dunkelheit auf die weite Heidelandschaft, die von den Proktoren als Landungsplatz bezeichnet worden war. Zu dieser frühen Stunde zeigten sich die silbernen Punkte des Kleineren Magellannebels gerade am westlichen Horizont. Der Nebel bedeckte fast fünfunddreißig Grad des Himmels. Um fünf Uhr zwölf Minuten Ortszeit würde der Nebel hinter dem Horizont verschwinden, um sechs Uhr Ortszeit an der gleichen Stelle die Ausläufer der heimatlichen Milchstraße aufgehen, aber während des Sommers schienen zu dieser Zeit bereits die Sonnen. Das war Amalfi gerade recht. Die Tatsache, daß man die heimatliche Milchstraße während der nächsten Monate nicht am Nachthimmel erblicken konnte, war einer der Gründe gewesen, gerade auf diesem Planeten zu landen. Die Lage war für die Stadt und ihre Einwohner schwierig genug. Man durfte sie nicht noch durch unerfüllbare Heimwehgefühle komplizieren. Die Stadt setzte am Boden auf. Das Summen der Rotatrone verstummte. Weit unter Amalfis Balkon erhob sich dafür neuer Lärm; schwere Maschinen wurden durch die Straßen gefahren, das Geologenteam verlor, wie üblich, keine Zeit. Amalfi fühlte aber keine Neigung, sofort hinunterzugehen. Er blieb auf dem Rathausbalkon stehen und schaute in den dunklen Nachthimmel hinaus. Die Sterndichte im Großen Magellannebel war sehr groß, da zwischen den einzelnen Sternen oft nur Entfernungen von Lichtmonaten bestanden. Selbst wenn es unmöglich sein würde, die Stadt jemals wieder zu fliegen – inzwischen war auch das Rotatron in der Sechzigsten Straße ausgefallen –, konnte man mit Raumschiffen einen interplanetarischen Handelsverkehr einrichten. Die noch funktionierenden Rotatrone konnten in je ein Raumschiff eingebaut werden; so hatte man eine beachtliche kleine Flotte. Das war natürlich kein Vergleich mit dem Flug zwischen den weit auseinanderliegenden Sternen der Milchstraße, aber ein
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Anfang wäre gemacht. Handel Lebensgrundlage der Nomaden.
war
schließlich
die
Er blickte nach unten. Durch das helle Licht der Sterne wurde die Heidelandschaft erleuchtet, die sich bis zum Horizont im Westen erstreckte. Im Osten wurde die Heide durch abgeteilte Grundstücke abgelöst. Er konnte nicht sagen, ob jedes dieser winzigen Felder eine eigene Farm war, aber er hatte so seine Vermutungen. Die Sprache der Proktoren, die der Stadt Landeerlaubnis erteilt hatten, klang ziemlich stark nach Feudalherrschaft. Während er sich umsah, wurde in der Nähe der Stadt in der Heide ein hoher, schlanker Turm errichtet. Die Geologen bauten ihren ersten Ölbohrturm. Das Telefon schnarrte, und Amalfi hob den Hörer ab. »Chef, wir bohren jetzt«, sagte Hasseltons Stimme. »Kommen Sie herunter?« »Ja. Wie sieht es aus?« »Nicht besonders, aber wir werden in Kürze mehr wissen. Unter dieser Heide müßten eigentlich Ölfelder liegen.« »Wir sind schon öfter hereingefallen«, brummte Amalfi. »Fangen Sie mit den Bohrungen an. Ich komme sofort.« Er hatte kaum eingehängt, als das Kreischen des Bohrturms durch die stille Sommernacht tönte. Amalfi wurde noch durch verschiedene Anfragen aufgehalten, so daß es schon dämmerte, als er endlich am Bohrturm ankam. Die Schürfprobe war bereits eingelassen worden. Gerade wurde das Bohrgerät hochgezogen. Nebenan wuchs ein zweiter Bohrturm in die Höhe, von dem Hasselton herunterwinkte. Amalfi winkte zurück und fuhr mit dem Aufzug hinauf. Oben wehte ein starker, warmer Wind, der Hasseltons Haar völlig verwirrt hatte. Bei Amalfi war das ja nicht mehr möglich, aber nach den vielen Jahren im künstlichen Klima der Stadt war ihm doch merkwürdig zumute.
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»Haben Sie schon etwas gefunden, Mark?« »Sie sind gerade zur rechten Zeit gekommen. Hier kommt der Bohrer ’rauf.« Der Bohrturm erzitterte, als die Bohrmaschine mit gewaltigem Lärm in die Höhe schoß und oben einrastete. Nichts. Keine Ölfontäne. Amalfi lehnte sich über das Gitter und beobachtete die Mannschaft, die die Schürfproben aus der Kapsel entfernte. »Wieder nichts«, sagte Hasselton enttäuscht. »Ich habe es ja gleich gewußt, daß wir den Proktoren nicht trauen dürfen.« »Es gibt aber hier bestimmt Öl«, meinte Amalfi. »Wir finden es schon. Gehen wir hinunter.« Unten prüfte der Chefgeologe gerade die Schürfproben. Er blickte auf, als er Amalfi bemerkte. »Nichts drin«, sagte er kurz. Amalfi überlegte. Die Stadt brauchte Öl, um essen zu können. Arbeit gegen Bezahlung kam erst später. Zunächst mußte die Stadt für die Erteilung von Bohrgenehmigungen arbeiten. Bei dem ersten Zusammentreffen mit den Einheimischen hatte es noch ziemlich einfach ausgesehen. Die Einheimischen waren nie tief genug in den Boden eingedrungen, so daß genug Öl für die Stadt vorhanden sein mußte. Nebenbei würden durch die Bohrungen soviel Wolframerze und andere wichtige Metalle mit heraufgebracht werden, daß die Proktoren den Handel auch nicht zu bereuen brauchten. Aber wenn es kein Öl gab, das für die Beschaffung von Lebensmitteln verarbeitet werden konnte… »Bohren Sie zwei weitere Schächte in den Boden«, sagte Amalfi. »Der Boden muß Öl enthalten, da gibt es keinen Zweifel. Wir werden Benzingelee einspritzen und die Schächte aufsprengen. Wenn wir kein Feld finden, müssen wir das Öl eben herauskochen.« »Gestern volle Schüsseln, morgen volle Schüsseln«, murmelte Hasselton. »Aber niemals heute.« 238 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Amalfi wandte sich um, während im das Blut in den Kopf stieg. »Wie wollen Sie uns denn sonst ernähren?« knurrte er. »Dieser Planet wird jetzt unsere Heimat sein. Möchten Sie lieber die Äcker bebauen wie die Einheimischen? Ich war der Meinung, Sie hätten das seit der Landung auf Gort überwunden. Na ja, Mark, es tut mir leid«, sagte Amalfi besänftigt. »Ich sollte nicht so empfindlich sein. Wir wissen noch gar nicht, wie gut wir es getroffen haben. Die Eingeborenen hier haben noch niemals richtig tief geschürft, und ihre ganzen Verarbeitungsmethoden bestehen darin, daß sie das Zeug in einen Kessel werfen und kochen. Wenn wir das Ernährungsproblem lösen können, haben wir immer noch die Chance, hier etwas Anständiges zu leisten.« Er wandte sich von den Bohrtürmen ab und ging langsam in die der Stadt entgegengesetzte Richtung. »Ich möchte Spazierengehen«, sagte er. »Wollen Sie mitkommen, Mark?« »Spazieren?« Hasselton sah etwas überrascht aus. »Nun ja, warum nicht. Gut, Chef, ich komme mit.« Sie schritten geraume Zeit schweigend nebeneinander über die Heide. Der Boden war lehmig und von vielen Rillen durchzogen, über die sie in dem fahlen Morgen stolperten. Es wuchs wenig auf diesem Boden: gelegentlich ein paar verkümmerte Sträucher, Gras, einige Stengel, die wie Nesseln aussahen. »Sieht nicht aus wie gutes Ackerland«, bemerkte Hasselton, »obwohl ich nichts davon verstehe.« »Weiter drüben gibt es besseres Land, wie Sie von der Stadt aus gesehen haben«, sagte Amalfi. »Aber hier gebe ich Ihnen recht. Das ist verwüstetes Land. Ich glaubte zuerst schon, es sei radioaktiv verseucht, bis ich die Meßergebnisse gesehen habe.« »Meinen Sie, daß es Krieg gegeben hat?« »Vielleicht, aber schon vor langer Zeit. Den größten Schaden dürfte aber die Erosio n verursacht haben. Dieses Gebiet ist zu lange nicht bearbeitet und dadurch die oberste Bodenkrume verweht worden. Eigentlich merkwürdig, wenn man bedenkt, wie intensiv der Boden auf diesem Planeten sonst bearbeitet wird.«
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Sie rutschten einen steilen Hang hinunter und kletterten auf der anderen Seite der Bodensenke wieder hinauf. »Chef, erklären Sie mir doch einmal folgendes«, sagte Hasselton. »Warum haben wir uns diesen Planeten ausgesucht, obwohl er bereits bewohnt ist? Wir sind an verschiedenen unbewohnten Planeten vorbeigekommen, die genausogut geeignet wären. Wollen Sie die Einheimischen verdrängen? Das ist eigentlich nicht unsere Art, selbst wenn es mit dem Gesetz oder der Gerechtigkeit zu vereinbaren wäre.« »Glauben Sie, daß es im Großen Magellannebel Erdpolizei gibt, Mark?« »Nein«, sagte Hasselton. »Aber es gibt Nomaden. Und wenn ich mich über eine Ungerechtigkeit beschweren wollte, würde ich nicht zur Polizei, sondern zu den Nomaden gehen. Was ist Ihre Antwort, Amalfi?« »Vielleicht müssen wir die Einwohner hier ein bißchen verdrängen«, sagte Amalfi und blinzelte in die beiden Sonnen, deren grelles Licht ihnen jetzt genau in die Augen stach. »Es kommt immer darauf an, wie man so etwas macht. Sie haben gehört, Mark, welche Meinung einige der Planeten, mit denen wir wahrend des Fluges Verbindung aufnahmen, über diesen Planeten hatten.« »Sie können ihn nicht leiden«, sagte Hasselton und entfernte sorgfältig eine Klette von seinem Bein. »Ich persönlich bin der Meinung, daß die Proktoren einigen früheren hier gelandeten Expeditionen Ungelegenheiten bereitet haben. Immerhin – « Amalfi war auf einen kleinen Hügel gestiegen und streckte den Arm aus. Der Stadtdirektor verstummte und erkletterte gleichfalls den Hügel. Einige Meter vor ihnen begann das bebaute Land. Sie wurden von zwei Geschöpfen beobachtet. Eines davon war offensichtlich ein Mann – ein unbekleideter Mann mit schokoladenbrauner Hautfarbe und struppigem, blauschwarzem Haar. Er stand vor einem einscharigen Pflug, der aus den Knochen eines sehr großen Tieres gefertigt zu sein 240 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
schien. Die Furche, die er eben gezogen hatte, reihte sich schnurgerade neben die anderen Furchen. Weiter hinten auf dem Feld stand eine niedrige Hütte. Der Mann beschattete seine Augen mit den Händen und blickte über die dämmrige Heide zur Nomadenstadt. Er hatte sehr muskulöse und breite Schultern, aber selbst wenn er aufrecht stand, eine gebeugte Haltung. Das Geschöpf, das sich gegen die harten Lederriemen stemmte, mit denen der Pflug gezogen wurde, war ebenfalls menschlich – eine Frau. Sie stand mit gesenktem Kopf vor dem Pflug. Ihre langen Haare, die genauso schwarz wie die des Mannes waren, fielen ihr über das Gesicht und verdeckten es. Hasselton erstarrte. Der Mann senkte den Kopf, bis er die Nomaden direkt ansah. Seine Augen waren blau und erstaunlich durchdringend. »Seid ihr die Männer aus der Stadt?« fragte er. Hasseltons Lippen bewegten sich. Der Leibeigene konnte ihn nicht hören, weil Hasselton in die Kehlkopfmikrophone sprach, die nur in den Empfänger hinter Amalfis rechtem Ohr übertrugen. »Er spricht Englisch, bei allen Weltraumgöttern! Die Proktoren sprechen Interlingua. Was bedeutet das? Ist der Nebel schon vor so langer Zeit kolonisiert worden?« Amalfi schüttelte den Kopf. »Wir sind von der Stadt«, sagte der Bürgermeister laut in englischer Sprache. »Wie heißen Sie, junger Mann?« »Karst, Herr.« »Nennen Sie mich nicht Herr. Ich bin nicht einer eurer Proktoren. Gehört dieses Land Ihnen?« »Nein, Herr. Entschuldigen Sie, ich kenne keinen anderen Ausdruck – « »Ich heiße Amalf i.« »Das Land gehört den Proktoren, Amalfi. Ich bebaue es nur. Sind Sie von der Erde?«
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Amalfi schaute schnell zu Hasselton hinüber. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Ja«, sagte Amalfi. »Woher wissen Sie das?« »Durch das Wunder«, sagte Karst. »Es ist ein großes Wunder, in einer einzigen Nacht eine Stadt zu errichten. Selbst IMT brauchte viele Sonnen länger als neun Männer Finger an den Händen haben, sagen die Sänger. Eine zweite Stadt über Nacht auf der Heide zu erbauen, dafür gibt es keine Worte.« Er verließ den Pflug mit schweren Schritten. Die Frau hob den Kopf und strich sich die Haare aus der Stirn. Ihre Augen blickten stumpf, aber im Hintergrund regte sich Angst. Sie streckte die Hände aus und packte Karst am Arm. »Es – ist nichts«, sagte sie. Karst schüttelte sie ab. »Sie haben über Nacht eine Stadt gebaut«, wiederholte er. »Sie sprechen die Enghsprache, wie wir an Festtagen. Sie sprechen zu mir mit Worten, nicht mit Peitschenschlägen. Sie haben schöne Kleider, aus bunten, feingewebten Stoffen.« Das war zweifellos die längste Rede, die er in seinem ganzen Leben bisher gehalten hatte. Vor Anstrengung stand ihm der Schweiß auf der Stirn. »Sie haben recht«, sagte Amalfi. »Wir sind von der Erde, wenn wir sie auch schon vor langer Zeit verlassen haben. Ich sage Ihnen noch etwas anderes, Karst. Auch Sie sind von der Erde.« »Das ist nicht wahr«, sagte Karst und trat einen Schritt zurück. »Ich bin hier geboren, wie alle von uns. Niemand hat Erdenblut – « »Ich verstehe«, sagte Amalfi. »Sie sind von diesem Planeten. Aber Sie sind auch ein Mensch der Erde. Und noch etwas. Ich glaube nicht, daß die Proktoren Menschen der Erde sind. Ich glaube, daß sie das Recht, sich Menschen der Erde zu nennen, schon vor langer Zeit verloren haben, auf einem anderen Planeten, einem Planeten namens Thor V.«
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Karst wischte sich seine verarbeiteten Hände an den Oberschenkeln ab. »Ich möchte verstehen«, sagte er. »Lehren Sie mich.« »Karst!« sagte die Frau beschwörend. »Es ist nichts. Wunder vergehen. Wir sind spät mit dem Säen dran.« »Lehren Sie mich verstehen«, sagte Karst hartnäckig. »Unser ganzes Leben pflügen wir die Felder, und an den Feiertagen erzählen sie uns von der Erde. Und hier ist ein Wunder, eine Stadt, die von Erdenleuten gebaut wurde, hier sind Menschen der Erde, die mit uns sprechen – « Er schwieg. Mit seiner Kehle schien etwas nicht in Ordnung zu sein. »Sprechen Sie weiter«, sagte Amalfi sanft. »Ich möchte verstehen. Nun, da die Menschen der Erde auf der Heide eine Stadt errichtet haben, können die Proktoren ihr Wissen nicht länger geheimhalten. Selbst wenn Sie uns wieder verlassen, können wir aus Ihrer leeren Stadt lernen, bevor sie von Wind und Regen zerstört wird. Amalfi, wenn wir Menschen der Erde sind, lehren Sie uns das, was den Menschen der Erde gelehrt wird.« »Karst«, sagte die Frau. »Es ist nichts für uns. Es ist ein Wunder der Proktoren. Alle Wunder stammen von den Proktoren. Sie wollen uns von unseren Kindern weglocken. Sie wollen, daß wir auf der Heide sterben. Sie versuchen uns.« Der Mann wandte sich zu ihr um. In der Bewegung seines plumpen, verarbeiteten, muskulösen Köpers lag etwas undefinierbar Zartes. »Du mußt nicht gehen«, sagte er in einem Kauderwelsch, das offensichtlich seine normale Umgangssprache war. »Pflüge weiter, wenn du willst. Aber das hier hat mit den Proktoren nichts zu tun. Sie würden sich nicht herablassen, minderwertige Sklaven wie uns in Versuchung zu führen. Wir haben die Gesetze befolgt, den Zehnten abgeliefert und die Feiertage eingehalten. Dies hier kommt von der Erde.«
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Die Frau krampfte die Hände zusammen. Sie fröstelte. »Es ist verboten, außerhalb der Feiertage von der Erde zu sprechen. Aber ich werde weiterpflügen. Sonst müssen unsere Kinder sterben.« »Dann kommen Sie«, sagte Amalfi. »Es gibt viel zu lernen.« Zu seiner Bestürzung warf sich der Mann auf die Knie. Einen Augenblick später, während Amalfi noch überlegte, was er tun sollte, war Karst schon wieder auf den Beinen und kletterte den Hügel hinauf. Hasselton reichte ihm eine Hand und wäre fast durch die Luft geschleudert worden, als Karst sie ergriff. Der Mann war stark wie ein Bär. »Karst, wirst du vor der Nacht zurückkommen?« Karst gab keine Antwort. Amalfi ging auf dem Weg zur Stadt voraus. Hasselton wollte ihm folgen, aber irgend etwas zwang ihn, nochmals zurückzuschauen. Die Frau ließ den Kopf wieder hängen. Der Wind spielte in ihrem Haar. Sie stemmte sich schwer in die Riemen, und der Pflug schnitt langsam in den Boden. »Chef«, sagte Hasselton in das Kehlkopfmikrophon. »Hören Sie mir zu oder sind Sie noch damit beschäftigt, den Heiligen zu spielen?« »Ich höre.« »Ich glaube nicht, daß ich solchen Leuten einen Planeten wegnehmen will. Ja, der Teufel soll mich holen, wenn ich das jemals mache!« Amalfi antwortete nicht. Er wußte, daß es darauf nur eine Antwort gab. Die Stadt würde nie mehr fliegen. Dieser Planet war jetzt ihre Heimat. Es gab keinen anderen Platz, wo sie hingehen konnten. Die Stimme der Frau, die während des Pflügens zu singen begonnen hatte, verklang hinter ihnen. Sie sang ein Wiegenlied. Hasselton und Amalfi waren vom Himmel gekommen, um ihr alles zu nehmen, bis auf den steinigen Boden.
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Amalfi wußte ganz genau, worauf er sich einließ, als er die Stadtväter um eine Überprüfung des Strafregisters bat. Er bekam den Bericht, aber zusammen mit einer gewaltigen Strafpredigt. Die Stadtväter hielten ihm alles vor, was er falsch gemacht hatte, bis zurück zu dem Tag vor einem Dutzend hundert Jahren, als sie festgestellt hatten, daß die staubigen alten Untergrundbahntunnels der Stadt nicht gekehrt worden waren, seit die Stadt aufgestiegen war. Das war übrigens das erste Mal gew esen, daß die jüngeren Nomaden von dem Vorhandensein dieser Untergrundbahnen hörten. Aber Amalfi hielt eisern aus, obwohl sein rechtes Ohr vom Druck des Kopfhörers schmerzte. Aus der Menge kleinerer Beschwerden und Erinnerungen an verpaßte Gelegenheiten traten gewisse Dinge in erstaunlicher Klarheit hervor. Amalfi seufzte. Es lief alles darauf hinaus, daß die Erdpolizei Amalfis Stadt nur aus zwei Gründen nicht; vergessen würde. Erstens: Die Stadt hatte ein langes Sündenregister und existierte noch, so daß man sie zur Verantwortung ziehen konnte. Zweitens: Die Stadt war zum Großen Magellannebel geflogen, wie eine ältere und verderbliche Stadt vor Jahrhunderten auch – die Stadt, die das Massaker auf Thor V auf dem Gewissen hatte und die von Polizei und Nomaden gleich stark gehaßt wurde. Amalfi schaltete die Stadtväter ab und legte den Kopfhörer weg. Die Bedienungspulte der Stadt erstreckten sich in langer Reihe vor ihm, im wesentlichen noch brauchbar bis auf ein wichtiges Instrument – die Steuerungsanlage, mit der die Stadt einst von Stern zu Stern geflogen war. Die Stadt war für immer gelandet. Es blieb ihr keine andere Wahl, als diesen Planeten hinzunehmen und ihn zu gewinnen, diesen einen armen Planeten für sich zu gewinnen. Wenn die Polizei das zulassen würde! Die Magellannebel entfernten sich ständig und mit wachsender Beschleunigung von der heimatlichen Milchstraße. Die Polizei würde lange überlegen, ob sie den gewaltigen Flug wegen einer einzigen Nomadenstadt antreten sollte. Aber schließlich würde sie sich dazu entschließen. Je mehr die Nomaden aus der Milchstraße 245 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
verschwanden, desto größer würde das Bestreben sein, auch die letzten Städte noch zu erwischen. Wenn die Polizei den Großen Magellannebel erreichen wollte, würde sie es auch schaffen. Amalfi setzte den Kopfhörer wieder auf. »Frage«, sagte er. »Wird der Impuls, uns zu fangen, so stark werden, daß die für diese lange Reise erforderlichen technischen Erfindungen rechtzeitig auftauchen?« Die Stadtväter summten. Schließlich sagten sie: ›Ja, Bürgermeister Amalfi. Vergessen Sie nicht, daß wir in diesem Nebel nicht allein sind. Denken Sie an Thor V.‹ Da war er wieder, der uralte Satz, der die Nomaden sogar auf Planeten verhaßt machte, die noch nie eine Nomadenstadt gesehen hatten. Die Möglichkeit, daß die Stadt, die dieses Verbrechen auf sich geladen hatte, in den Magellannebel geflüchtet war, schien gering. Es war alles schon so lange her. Aber selbst diese winzige Möglichkeit würde genügen, die Polizei hierherzubringen, um Amalfis Stadt zu zerstören. ›Denken Sie an Thor V.‹ Keine Stadt war sicher, solange diese vergewaltigte und gemordete Welt nicht vergessen werden konnte. Nicht einmal hier, weit von der Erde. »Chef? Entschuldigen Sie, ich wußte nicht, daß Sie beschäftigt sind. Aber wir haben einen Arbeitsplan vorbereitet, den Sie jetzt einsehen können.« »Ich bin fertig, Mark«, sagte Amalfi und wandte sich von den Pulten ab. »Hallo, Dee. Wie gefällt Ihnen unser Planet?« Das Mädchen lächelte. »Er ist wunderschön«, sagte sie einfach. »Zum großen Teil jedenfalls«, schränkte Hasselton ein. »Diese Heide ist eine scheußliche Gegend, aber das andere Land scheint hervorragend zu sein – weit besser, als man der Bebauungsart nach schließen könnte. Mit diesen winzigen Feldern ist eine rationelle Bebauung einfach nicht möglich, und sogar ich verstehe mehr vom Ackerbau als diese Leibeigenen.« 246 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Ich bin nicht überrascht«, sagte Amalfi. »Meiner Meinung nach halten die Proktoren die Macht dadurch in ihren Händen, daß sie die Ausbreitung von Wissen über die elementarsten Grundlagen hinaus verhindern. Das ist die simpelste Politik, die ich mir vorstellen kann. Das brauche ich Ihnen gar nicht zu sagen.« »In politischer Hinsicht«, sagte Hasselton ruhig, »sind wir verschiedener Meinung. Bis sich das ausgleicht, muß die Stadt weiter verwaltet werden.« »Ja«, sagte Amalfi. »Was sieht Ihr Plan vor?« »Ich habe auf der Heide ein Experimentiergrundstück umgegraben und für Versuchsbepflanzungen vorbereiten lassen. Ausführliche Bodenanalysen sind bereits durchgeführt. Das ist natürlich nur für den Anfang etwas. Früher oder später müssen wir gutes Land haben. Ich habe einen Vertragsentwurf über ein Pachtverhältnis zwischen der Stadt und den Proktoren angefertigt, der vorsieht, daß wir geographisch unsere Ländereien immer wieder auf anderen Gebieten anlegen, um möglichst wenig Leibeigene zu vertreiben. Ich habe keinen Zweifel, daß die Proktoren unterzeichnen werden. Dann – « »Sie werden nicht unterzeichnen«, sagte Amalfi. »Der Vertrag darf ihnen nicht einmal gezeigt werden. Ich verlange, daß alles, was Sie in dem Grundstück hier angepflanzt haben, wieder herausgerissen wird.« Hasselton griff sich verzweifelt an den Kopf. »Ach, zum Teufel, Chef«, sagte er. »Erzählen Sie mir bloß nicht, daß wir so weitermachen wie früher – Intrigen und nochmals Intrigen. Es hängt mir zum Hals heraus! Genügen Ihnen denn tausend Jahre nicht? Ich habe geglaubt, wir sind hierhergekommen, um uns niederz ulassen!« »Das sind wir, und das werden wir auch tun. Aber, wie Sie mich gestern selbst erinnert haben, gehört dieser Planet augenblicklich anderen Leuten, die wir auf gesetzmäßigem Wege nicht verdrängen können. So wie die Sache jetzt steht, dürfen wir ihnen nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür geben, daß 247 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
wir hierbleiben wollen. Sie verdächtigen uns sowieso schon und warten nur auf das geringste Zeichen, das ihren Verdacht bestätigen könnte.« »Um Himmels willen«, sagte Dee. Sie trat zu Amalfi und legte ihre Hand auf seine Schulter. »John, Sie haben uns versprochen, daß wir nach dem Marsch hier eine Heimat finden würden. Nicht unbedingt auf diesem Planeten, aber irgendwo im Nebel. Sie haben es versprochen, John.« »Natürlich habe ich es versprochen«, sagte Amalfi. »Ich habe seit tausend Jahren alle meine Versprechen gehalten. Ich werde es auch künftig tun. Dieser Planet wird unsere Heimat werden, wenn ihr mir helfen wollt. Es ist der beste Planet, den wir finden konnten, und zwar aus verschiedenen Gründen. Aber ich kann euch eines nicht geben, die sofortige Erfüllung meines Versprechens.« »Danke«, sagte Dee. Sie lächelte. »Ich traue Ihnen, John, das wissen Sie. Aber es ist schwer, geduldig zu sein.« »Wirklich?« sagte Amalfi, nicht überrascht. »Wenn ich so nachdenke, fällt mir ein, daß ich mich mit diesem Problem auch schon herumgeschlagen habe, damals auf Heva. Aber rückblickend muß ich sagen, daß das Problem nicht so schwierig zu lösen war.« »Chef, Sie sagen uns am besten, was wir tun sollen«, unterbrach Hasselton kühl. »Jeder Mann und jede Frau dieser Stadt, ausgenommen wahrscheinlich Sie, warten darauf, sich auf diesem Planeten ausbreiten zu können, sobald der Startschuß ertönt. Sie haben uns allen Anlaß gegeben, zu glauben, daß alles so kommen würde. Bei einer Verzögerung wären eine Menge Hände unbeschäftigt.« »Verfahren Sie wie üblich. Keine Ausbeutung des Planeten. Keine Landwirtschaft. Nur Auffüllung der Öltanks, Weiterzüchtung der Chlorellaalgen aus örtlichen Arten, damit keine Wachstumsschwierigkeiten auftreten, Ergänzung unserer Wasservorräte und so weiter. Wenn ich mich recht entsinne, verwenden wir noch die Chlorella pyrenoisida. Diese Algen sind 248 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
für den Planeten, der eine winterliche Jahreszeit hat, zu hoch temperiert.« »Damit erreichen Sie nichts«, sagte Hasselton. »Sie können vielleicht die Proktoren damit täuschen, Amalfi, aber nicht Ihre eigenen Leute. Was wollen Sie zum Beispiel mit den Streitkräften anfangen? Sergeant Andersons Abteilung weiß genau, daß sie nie mehr militärische Aufgaben zu erfüllen haben wird. Neun Zehntel der Leute sind bereit, sofort Landwirtschaft zu betreiben. Was soll ich ihnen sagen?« »Schicken Sie sie auf Ihr Grundstück in der Heide«, meinte Amalfi, »und sagen Sie ihnen, daß alles herausgerissen werden muß.« Hasselton wandte sich zum Gehen, während er die Hand nach Dee ausstreckte. Dann drehte er sich nochmals um. »Aber warum, Chef?« klagte er. »Wie kommen Sie darauf, daß uns die Proktoren verdächtigen? Und was könnten sie schon machen, wenn wir wirklich hierbleiben?« »Die Proktoren haben den normalen Arbeitsvertrag verlangt«, sagte Amalfi. »Sie wußten, was das ist, sie bekamen ihn, und sie verlangten strikteste Einhaltung bis zum letzten Buchstaben – einschließlich der Bestimmung, daß die Stadt den Planeten nach Ablauf des Vertrages zu verlassen hat. Wie Sie wissen, ist das unmöglich. Wir können den Planeten überhaupt nicht verlassen. Aber wir müssen bis zum letztmöglichen Zeitpunkt so tun, als würden wir abfliegen.« Hasselton blickte ihn aufsässig an. Dee nahm seine Hand, aber er schien es nicht zu bemerken. »Und was die Proktoren selbst dagegen tun können«, sagte Amalfi und nahm die Kopfhörer zur Hand, »weiß ich nicht. Das muß ich noch herausfinden. Nur eines weiß ich: Die Proktoren haben bereits die Erdpolizei verständigt.« Aus dem grauen, verhangenen Licht des Schulungsraumes strömten Stimmen und Bilder aus den Gedächtniszellen der 249 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
Stadtväter auf den Besucher ein. Amalfi spürte den Druck in seinem Unterbewußtsein, winkte ungeduldig mit der Hand und suchte nach einer Aufsichtsperson. »Wo ist Karst?« sagte er scharf. »Der erste, den ich mitbrachte. Ich brauche ihn.« »Jawohl, Sir. Er sitzt auf einem Stuhl ganz vorne.« Der Ordner, der zugleich Aufsichtsperson und Pfleger war, führte Amalfi, nachdem er aus einem Fach einen Metallbecher genommen hatte, zwischen den im Raum verteilten Sofas nach vorne. Gewöhnlich waren die Sofas unbesetzt, weil die Kinder bis zum Tensorrechnen höchstens fünfhundert Stunden brauchten und damit die Grenze dessen, was man induktiv lehren konnte, erreicht war. Jetzt war fast jedes Sofa besetzt, und überwiegend von Erwachsenen. »Hier ist er«, flüsterte der Ordner. Amalfi blickte auf Karst hinunter, der seine Vergangenheit wie ein Hemd abgeworfen hatte und nun begierig lernte, was in ihn hineinging. Der Ordner berührte Karsts Schulter. Der Leibeigene setzte sich auf und war sofort wach. Der Ordner reichte ihm den Metallbecher, und Karst trank. »Wie geht es vorwärts, Karst?« fragte Amalfi. »Es ist sehr schwer«, erwiderte der Leibeigene. Er trank noch einmal. »Aber wenn man es einmal versteht, erkennt man plötzlich so vieles. Amalfi, die Proktoren behaupten, daß IMT auf einer Wolke vom Himmel gekommen ist. Gestern habe ich daran noch geglaubt. Jetzt aber begreife ich es.« »Ich verstehe«, sagte Amalfi. »Und Sie sind nicht allein. Wir haben viele Leibeigene in die Stadt geholt, die alle lernen. Sie brauchen sich nur umzusehen. Und sie lernen mehr als Physik und Kulturgeschichte. Sie lernen Freiheit und beginnen – mit der Freiheit – zu hassen.« »Das habe ich gelernt«, sagte Karst. »Aber Sie haben mich doch aus irgendeinem Grunde geweckt.«
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»Natürlich«, sagte der Bürgermeister grimmig. »Wir haben Besuch, von dem wir glauben, daß Sie ihn identifizieren können: einen Proktor. Er hat irgend etwas vor, das Hasselton und mir einfach nicht ganz geheuer ist, aber wir sind noch nicht daraufgekommen. Wollen Sie uns helfen?« »Sie lassen ihn besser noch etwas ruhen, Herr Bürgermeister«, sagte der Ordner mißbilligend. »Es ist ein gefährlicher Schock, aus der Hypnose gerissen zu werden. Er wird mindestens noch eine Stunde brauchen.« Amalfi sah den Ordner ungläubig an. Er wollte gerade zu einer Rede ansetzen, um diesem Kerl klarzumachen, daß weder Karst noch die Stadt eine Stunde warten konnten, als ihm einfiel, daß ein Wort genügte. »Verschwinde«, sagte er. Der Ordner tat sein möglichstes. Karst starrte scharf auf den Spionbildschirm. Der Mann auf dem Bild drehte ihm den Rücken zu. Auf seinem glattrasierten und geölten Schädel glänzte das Licht. Amalfi schaute über Karsts Schulter. »Der Mann ist so kahl wie ich«, sagte er. »Dabei kann er noch nicht alt sein, höchstens fünfundvierzig Jahre. Erkennen Sie ihn, Karst?« »Noch nicht«, erwiderte Karst. »Alle Proktoren rasieren sich die Schädel. Wenn er sich nur umdrehen würde – ah, jetzt. Ja. Das ist Heldon. Ich habe ihn selbst erst einmal gesehen, aber er s it leicht im Gedächtnis zu behalten. Für einen Proktor ist er noch sehr jung. Er gehört zu den Großen Neun – manche halten ihn für einen Freund der Leibeigenen. Zumindest ist er nicht so schnell mit der Peitsche bei der Hand wie die anderen.« »Was könnte er hier wollen?« »Vielleicht sagt er es noch.« Karsts Augen wichen nicht vom Bild des Proktors.
251 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Ihre Bitte erstaunt mich«, klang Hasseltons Stimme aus dem Lautsprecher über dem Spionbildschirm. Der Stadtdirektor war nicht im Bild zu sehen, aber aus dem Ton seiner Stimme war sein Gesichtsausdruck herauszulesen. Er machte auf betont liebenswürdig. »Wir freuen uns natürlich, wenn wir unseren Kunden neuartige Dienste leisten können. Aber wir kamen nicht einmal auf den Gedanken, auf IMT überhaupt Anti-SchwerkraftGeräte zu vermuten.« »Halten Sie mich bitte nicht für einen Dummkopf, Mr. Hasselton«, sagte Heldon. »Wir wissen beide, daß IMT ein Wanderer war, genau wie Ihre Stadt. Wir wissen aber auch, daß Ihre Stadt, wie alle Nomadenstädte, einen eignen Planeten haben möchte. Wollen Sie mir bitte soviel Verstand zubilligen?« »O doch, als Grundlage Hasseltons Stimme.
für
die
Diskussion
ja«,
sagte
»Dann darf ich Ihnen folgendes sagen: Es ist mir völlig klar, daß Sie einen Aufstand vorbereiten. Sie waren vorsichtig genug, sich an den Buchstaben des Vertrages zu halten, einfach weil Sie sich nicht trauen, ihn zu brechen. Übrigens genau wie wir. In dieser Hinsicht schützt uns die Erdpolizei voreinander. Ihrem Bürgermeister Amalfi wurde mitgeteilt, daß es den Leibeigenen verboten ist, mit Ihren Leuten zu sprechen, aber bedauerlicherweise ist es nur den Leibeigenen verboten, nicht aber den Einwohnern Ihrer Stadt. Wenn wir nicht in der Lage sind, den Eintritt der Leibeigenen in Ihre Stadt zu verhindern, sind Sie dazu natürlich erst recht nicht verpflichtet.« »Gut, daß Sie das selbst zugeben«, sagte Hasselton. »Ganz richtig. Ich gebe ferner zu, daß Sie diese Revolution, wenn sie kommt, zum Erfolg führen werden. Mir ist nicht bekannt, welche Waffen Sie den Leibeigenen in die Hand drücken werden, aber ich darf annehmen, daß sie wirkungsvoller sind als alles, was wir aufbringen können. Wir sind technisch nicht so weit fortgeschritten wie Sie. Meine Genossen sind anderer Meinung, aber ich bin Realist.«
252 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Eine interessante Theorie«, sagte Hasseltons Stimme. Eine kurze Pause trat ein. In der Stille konnte man ein leises Geräusch vernehmen. Hasselton trommelte wieder einmal mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, wie aus amüsierter Ungeduld. Heldons Gesicht blieb teilnahmslos. »Die Proktoren sind der Auffassung, daß sie sich behaupten können«, sagte Heldon schließlich. »Wenn Sie über die Vertragsdauer hinaus hierbleiben, werden sie Krieg gegen Sie beginnen. Dazu sind sie berechtigt, aber unglücklicherweise ist die Erde weit entfernt. Ihre Stadt wird siegen. Mein Interesse konzentriert sich darauf, einen Fluchtweg offenzuhalten.« »Durch Rotatrone?« »Genau.« Heldon gestattete sich ein winziges Lächeln. »Ich will offen mit Ihnen reden, Mr. Hasselton. Wenn ein Krieg kommt, werde ich genauso hart kämpfen wie jeder andere Proktor, um unseren Planeten zu halten. Ich komme nur deswegen zu Ihnen, weil Sie die Rotatrone von IMT reparieren können. Sie dürfen nicht erwarten, daß ich wegen dieser Angelegenheit zum Verräter werde.« Hasselton schien sich besonders dumm zu stellen. »Ich sehe leider nicht ein, warum ich mich für Sie bemühen sollte«, sagte er. »Passen Sie auf. Die Proktoren werden kämpfen, weil sie glauben, dazu gezwungen zu sein. Der Kampf wird aussichtslos sein, aber ohne Schäden wird Ihre Stadt trotzdem nicht davonkommen. Wahrscheinlich wird sie sogar so beschädigt werden, daß man sie nicht wiederherstellen kann, wenn Sie nicht unglaubliches Glück haben. Nun, von den Proktoren weiß außer mir und noch einem Mann keiner, daß die Rotatrone von IMT noch zu reparieren sind. Das heißt, die Proktoren werden eine Flucht gar nicht erst in Erwägung ziehen, sondern versuchen, Sie zu besiegen. Aber mit wieder arbeitenden Maschinen, einem Experten am Bedienungspult – « »Ich verstehe«, erwiderte Hasselton. »Sie schlagen also vor, IMT für den Abflug vorzubereiten, solange Sie den Planeten noch 253 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
mit einer unbeschädigten Stadt verlassen können. Dafür bieten Sie uns den Planeten an und die Chance, daß unsere eigenen Verluste nur gering sein werden. Hm. Immerhin interessant. Was sagen Sie dazu, wenn ich mir Ihre Rotatrone einmal ansehe, ob sie überhaupt noch zu gebrauchen sind? Sie sind doch sicher viele Jahre nicht mehr verwendet worden. Wenn die Maschinen noch gebrauchsfähig sind, können wir über eine Abmachung verhandeln. Einverstanden?« »Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, murrte Heldon. Amalfi bemerkte in den Augen des Proktors die kalte Befriedigung, die nur wenig verborgen war. Er schaltete den Bildschirm ab. »Nun?« sagte der Bürgermeister. »Was hat er vor?« »Unannehmlichkeiten für Sie«, sagte Karst langsam. »Es wäre sehr unklug, ihm Vorteile einzuräumen. Er hat andere Beweggründe, als er vorgibt.« »Natürlich«, sagte Amalfi. »Wer hat das nicht? Hallo, Mark. Was halten Sie von unserem Freund?« Hasselton stieg aus dem Gleitschacht. »Er ist ein dummer Hund«, sagte der Stadtdirektor, »aber gefährlich. Er weiß genau, daß es etwas gibt, wovon er nichts weiß. Er weiß auch, daß wir nicht wissen, worauf er hinauswill, und schließlich ist er hier zu Hause. Das ist eine Kombination, die mir unangenehm ist.« »Mir auch«, sagte Amalfi. »Wenn der Gegner freiwillig Informationen austeilt, heißt es aufpassen! Glauben Sie, die Mehrheit der Proktoren weiß wirklich nicht, daß IMT noch gebrauchsfähige Rotatrone besitzt?« »Ich bin sicher, daß sie es nicht wissen«, sagte Karst. Beide Männer wandten sich ihm zu. »Die Proktoren glauben nicht einmal, daß Sie hier sind, um den Planeten zu erobern. Zumindest glauben sie nicht, daß Sie das vorhaben, und im übrigen wird ihnen das gleichgültig sein.« »Wieso denn?« gleichgültig.«
sagte
Hasselton.
»Mir
254 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
wäre
es
nicht
»Sie haben auch noch nie einige Millionen Leibeigene besessen«, sagte Karst ohne Groll. »Die Proktoren lassen Leibeigene für sich arbeiten, aber Sie bezahlen ihnen Löhne. Das ist allein schon eine Katastrophe für die Proktoren. Dabei können sie nichts dagegen tun. Die Proktoren wissen, daß das Geld, das Sie bezahlen, gültig ist, und sie können uns nicht daran hindern, dieses Geld zu verdienen. Wenn sie es versuchten, wäre ein sofortiger Aufstand die Folge!« Amalfi sah Hasselton an. Das Geld, das die Stadt ausgab, waren Nomadendollars. Hier war es zwar gültig, aber daheim in der Milchstraße war es nicht mehr wert als Papier, weil es nur durch Germanium gedeckt wurde. Waren die Proktoren wirklich so naiv? Oder war IMT einfach zu rückständig, um ein DiracGerät zu besitzen, mit dem sie die Nachricht vom wirtschaftlichen Zusammenbruch hätten hören können? »Und die Rotatrone?« fragte Amalfi. »Wer könnte von den Großen Neun sonst no ch Bescheid wissen?« »Asor zum Beispiel«, sagte Karst. »Er ist der Vorsitzende und der religiöse Fanatiker der Gruppe. Der Prophet Maalvin hat das Fliegen für immer verboten, so daß Asor niemals zulassen würde, daß IMT wieder aufsteigt.« »Er wird seine Gründe haben«, sagte Hasselton nachdenklich. »Religionen existieren nicht im luftleeren Raum. Sie haben Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wahrscheinlich hat er, wenn man es genau besieht, Angst vor den Rotatronen. Mit einer derartigen Waffe braucht man nur ein paar hundert Leute für eine Revolut ion, um eine Feudalherrschaft wie die der Proktoren zu stürzen. IMT durfte es nicht wagen, die Rotatrone in Betrieb zu lassen.« »Fahren Sie fort, Karst«, sagte Amalfi und unterbrach Hasselton ungeduldig mit einer Handbewegung. »Und die anderen Proktoren?« »Da gibt es noch Bemajdi, aber er zählt nicht«, erwiderte Karst.
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»Lassen Sie mich überlegen. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich die meisten dieser Männer noch nie gesehen habe. Der einzige, auf den es ankommt, ist meiner Meinung nach Larre, ein starrer alter Mann mit einem Bauch. Er steht gewöhnlich auf Heldons Seite, wenn er ihn auch nicht in allem unterstützt. Er wird sich über das von den Leibeigenen verdiente Geld weniger Gedanken machen als die anderen Proktoren. Das wird er uns wegsteuern, wahrscheinlich indem er einen neuen Feiertag erklärt, zu Ehren des Besuches der Erdleute auf unserem Planeten. Eine seiner Aufgaben ist die Eintreibung des Zehnten.« »Würde er es zulassen, daß Heldon die IMT-Rotatrone wieder in Betrieb nimmt?« »Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Karst. »Ich glaube, daß Heldon die Wahrheit sagte, als er meinte, diese Arbeit müßte geheim durchgeführt werden.« »Ich weiß nicht«, sagte Amalfi, »mir gefällt die ganze Sache nicht. Oberflächlich gesehen, scheint es, als wollten uns die Proktoren vom Planeten verjagen, sobald der Vertrag abgelaufen ist, und anschließend das ganze Geld, das die Leibeigenen von uns bekommen haben, wieder einkassieren – mit Hilfe der Polizei. Aber wenn man es genau durchdenkt, ist das verrückt. Sobald die Polizei herausfindet, wer hinter IMT steckt, wozu sie nicht lange brauchen wird, zerstört sie doch sofort beide Städte, IMT und uns.« Karst sagte: »Weil IMT die Nomadenstadt war, die das – tat, was auf Thor V geschah?« In Amalfi krampfte sich etwas zusammen. »Lassen wir das, Karst«, knurrte er. »Wir wollen diese Geschichte nicht in den Magellannebel bringen. Sie hätten sie eigentlich bei der Schulung nicht hören sollen.« »Jetzt kenne ich sie aber«, sagte Karst ruhig. »Und ich bin nicht überrascht. Die Proktoren ändern sich niemals.« »Vergessen Sie’s. Sie sollen es vergessen, hören Sie? Vergessen Sie alles. Karst, können Sie noch einmal für eine Nacht ein stupider Leibeigener sein?« 256 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Auf mein Feld zurückkehren?« fragte Karst. »Das wäre unpraktisch. Meine Frau wird inzwischen einen neuen Mann haben – « »Nein, nicht auf Ihr Feld zurück. Ich möchte mit Heldon gehen, um die Rotatrone zu überprüfen, sobald er bereit ist. Ich muß schwere Ausrüstung mitnehmen, und dazu brauche ich Hilfe. Würden Sie mich begleiten?« Hasselton hob die Brauen. »Ich glaube nicht, daß man Heldon übertölpeln kann, Chef.« »Ich glaube doch. Er weiß natürlich, daß wir einige Leibeigene geschult haben, aber das kann er nicht an einem Gesicht ablesen, dazu ist er nicht der richtige Mensch. Für ihn sind Leibeigene einfach ohne Intelligenz. Er weiß, daß Tausende von ihnen hier sind, und hat trotzdem keine Befürchtungen. Er denkt, wir könnten einen bewaffneten Pöbel aus ihnen machen. Daß ein Leibeigener Gefährlicheres lernen kann, als eine Pistole zu bedienen, kommt ihm gar nicht in den Sinn.« »Woher wissen Sie das?« sagte Hasselton. »Durch einen Analogieschluß. Erinnern Sie sich an den Planeten in der Thetis-Alpha-Gruppe, der Fitzgerald hieß und auf dem man ein großes Tier, Pferd genannt, für alle möglichen Zwecke verwendete – vom Karrenziehen bis zum Rennen? Gut. Angenommen, Sie kommen in eine Gegend, von der man Ihnen erzählt hat, daß einige Pferde dort das Sprechen erlernt hätten. Wenn Sie nun dort arbeiten, kommt eines dieser Pferde und hilft Ihnen, Ihre Lasten zu ziehen. Sie werden dieses Pferd nicht verdächtigen, daß es der Sprache mächtig ist. Warum? Weil Sie nicht gewöhnt sind, von Pferden überhaupt als sprechenden Wesen zu denken.« »Danke für die Belehrung«, sagte Hasselton lachend. »Wie sieht unser weiteres Vorgehen aus, Chef? Ich nehme an, daß Sie sich schon etwas ausgedacht haben. Haben Sie schon einen Namen dafür?«
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»Noch nicht«, sagte der Bürgermeister. »Außer Sie mögen lange Titel. Es ist schließlich nichts als ein weiteres Problem in politischem Pseudomorphismus.« Amalfi sah Karsts betont gleichgültiges Gesicht, und sein Lächeln wurde breiter. »Oder«, sagte er, »die feine Kunst, seinen Gegner dazu zu bringen, daß er einem seinen eigenen Kopf hinhält.«
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9 IMT war eine flache, im steinigen Boden längst verwurzelte Stadt, unverändert wie ein versteinerter Wald. Die Stille war wie das Schweigen eines Friedhofs, und die Proktoren mit ihren Fächern, den Abzeichen ihres Ranges, schienen wie Mönche zwischen Grabsteinen zu wandeln. Für die Stille gab es natürlich eine einfache Erklärung. Die Leibeigenen durften innerhalb der Mauern IMTs nicht sprechen, wenn sie nicht angeredet wurden, und es gab verhältnismäßig wenige Proktoren, die mit ihnen hätten sprechen können. Für Amalfi dämpfte außerdem noch das entsetzliche Schweigen der auf Thor V hingemordeten Millionen die Geräusche der Stadt. Er fragte sich, ob die Proktoren wohl dieses Schweigen noch spürten. Er bekam die Antwort darauf fast im nächsten Augenblick. Die unbekleidete braune Gestalt eines Leibeigenen kam vorbei; der Mann blickte verstohlen auf die Gruppe und hob, als er Heldon sah, einen Finger an die Lippen, offensichtlich eine vorgeschriebene Geste der Ehrerbietung. Heldon nickte unmerklich. Amalfi, der keine offenkundige Notiz davon nehmen konnte, dachte: Also ›pst‹ heißt es, wie? Das wundert mich gar nicht. Aber es ist zu spät, Heldon. Das Geheimnis ist kein Geheimnis mehr. Karst trottete hinter ihnen her und warf Heldon ab und zu unter seinen buschigen Augenbrauen einen Blick zu. Sie gingen über einen verfallenen Platz, in dessen Mittelpunkt eine fast völlig zerstörte Gruppe von Statuen stand, die so vom Wetter zerfressen waren, daß sie jede erkennbare Kontur verloren hatten. Der Steinhaufen auf dem Piedestal schien nichts anderes zu sein als ein mittelgroßer Meteor mit kleinen Meteoritenkratern. Amalfi konnte jedoch sehen, daß die aus diesem schwarzen Steinblock geschnittenen Umrisse, in der Art eines einstigen Bildhauers auf der alten Erde namens Henry Moore, einmal Bedeutung gehabt hatten. Innerhalb des Steines hatte früher
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eine mächtige Menschengestalt gestanden, mit einem Fuß auf dem Nacken einer kleineren Gestalt. Heldon blieb ebenfalls stehen und sah auf das Monument. In ihm ging etwas vor. Amalfi wußte nicht genau, was es war, aber er konnte es sich denken. Heldon war ein junger Mann. Das hieß, daß er als Proktor erst kürzlich in den Rat der Neun gewählt worden sein konnte. Karsts Mitteilungen ließen erkennen, daß die meisten Mitglieder der Großen Neun – Asor, Bemajdi und die anderen – von Anfang an zu den Großen Neun gehört hatten. Kurz gesagt, sie waren nicht die Abkömmlinge der Männer, die einst Thor V verwüstet hatten, sondern diese Männer selbst, bis in die Gegenwart durch eine ängstlich gehütete Reserve von Antimortalika erhalten. Heldon blickte zu dem Monument auf. Die Figuren machten deutlich, daß IMT auf die Tat von Thor V tatsächlich einmal stolz gewesen war. Nur waren die Alten im Rat der Großen Neun nicht mehr stolz darauf, sondern sie hatten Schuldgefühle. Heldon, der an diesem Verbrechen nicht beteiligt war, hatte sich nun entscheiden müssen, ob er dieses Verbrechen tatsächlich bejahen wollte. Den ersten Schritt hatte er durch die Tatsache, daß er Proktor geworden war, getan. »Da vorne ist der Tempel«, sagte Heldon plötzlich und wandte sich von dem Monument ab. »Die Maschinen befinden sich unter ihm. Zu dieser Zeit kann niemand von Bedeutung im Tempel sein, aber ich möchte mich doch vorsichtshalber vergewissern. Warten Sie hier.« Niemand von Bedeutung. Damit meinte er die Leibeigenen. Heldon hatte sich entschieden. Er wollte zu den Proktoren gehören. Er hatte die Tat auf Thor V bejaht. »Was ist, wenn uns jemand bemerkt?« sagte Amalfi. »Dieser Platz wird in der Regel gemieden. Außerdem habe ich Männer um ihn postiert, um zufälligen Verkehr umzuleiten. Wenn Sie sich von hier nicht entfernen, wird Ihnen nichts geschehen.« Der Proktor raffte seine Röcke und schritt zu dem großen Kuppelbau, in dem er verschwand. Hinter Amalfi begann Karst 260 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
mit rauher, aber leiser Stimme zu singen, offensichtlich ein Volkslied. Die Melodie war so alt, daß Amalfi sie nicht erkennen konnte. Trotzdem ertappte sich Amalfi dabei, wie er Karst zuhörte. Karst sang: »Auf dem wilden Wind schwoll Maalvins gerechter Zorn
wie eine Brandfackel stürmend zur Heide.
Viele Rebellen verloren ihr Leben,
nicht Stern noch Mond schmückten die Nacht.
IMT stürzte die
Himmel.«
Als Karst bemerkte, daß ihm Amalfi zuhörte, brach er mit einer entschuldigenden Geste ab. »Singen Sie, Karst«, sagte Amalfi sofort. »Wie geht es weiter?« »So viel Zeit haben wir nicht. Es gibt Hunderte von Strophen. Jeder Sänger fügt mindestens noch eine selbst erdichtete Strophe hinzu. Aber die letzte Strophe ist immer gleich. Sie heißt: Geschwärzt von ihrem Blute waren die Mauern,
gestürzt die hohen Türme, zerstört bis zum Grund.
Keiner lebt mehr, der Maalvin verspottete,
raumwärts verstieß ihre Seelen die Erde.
IMT stürzte die
Himmel.«
»Großartig«, sagte Amalfi voll Grimm. »Jetzt sitzen wir in der Tinte, aber in der dicksten. Wenn ich nur das Lied schon eine Woche früher gehört hätte!« »Was sagt es Ihnen?« meinte Karst erstaunt. »Es ist doch nur eine alte Legende.« »Es sagt mir, warum Heldon seine Rotatrone repariert haben will. Ich wußte natürlich, daß er mir den wahren Grund verschwieg, aber daran habe ich nicht gedacht. Die neueren Städte haben keinen Kiel mehr, der dafür stark genug wäre. Aber mit der Masse von IMT können sie uns plattquetschen – und wir müssen auch noch stillsitzen!«
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»Ich verstehe nicht – « »Es ist einfach genug. Ihr Prophet Maalvin hat IMT als Hammer verwendet. Er ließ die Stadt starten, flog sie genau über den Gegner und ließ sie dann hinunterfallen. Diesen Trick gab es schon lange vor der Weltraumfahrt, wenn ich mich recht entsinne. Karst, bleiben Sie dicht hinter mir. Vielleicht muß ich Ihnen unter Heldons Augen etwas mitteilen, also passen Sie – pst, da kommt er.« Der Proktor kam schnell auf sie zu. »Ich glaube«, sagte Heldon, »daß wir jetzt für Ihre wertvolle Hilfe bereit sind, Bürgermeister Amalfi.« Heldon setzte seinen Fuß auf einen hervorstehenden Stein und drückte darauf. Amalfi schaute genau hin, aber nichts geschah. Er ließ das Licht seiner Lampe über die Mauern der Untergrundkammer gleiten. Ungeduldig stieß Heldon mit dem Fuß gegen den Stein. Dieses Mal war ein Knarren zu hören. Langsam und unter starkem Kratzen begann sich ein großer Steinblock wie auf Scharnieren zu heben. Amalfi ließ den Lichtstrahl in die Öffnung fallen. Eine schmale Steintreppe war zu sehen. »Ich bin enttäuscht«, sagte Am alfi. »Ich habe erwartet, daß mindestens Jules Verne unter dem Stein auftaucht. Also, Heldon, gehen Sie voran.« Der Proktor ging vorsichtig die Treppen hinunter, wobei er seine Röcke schürzte. Karst kam als letzter mit dem schweren Packen auf dem Rücken. Die Stufen fühlten sich kalt und schmierig an unter den dünnen Sohlen Amalfis. An den Wänden hingen Wassertropfen. Amalfi fühlte den Drang nach einer Zigarre. Aber er brauchte seine Hände. Er war fast bereit, zu hoffen, daß die Rotatrone durch die Feuchtigkeit völlig unbrauchbar geworden waren, verwarf aber diese Idee sofort wieder. Diese Lösung war zu einfach und die Katastrophe dadurch nicht zu vermeiden. Wenn die Nomaden 262 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
jemals diesen Planeten ihr eigen nennen wollten, mußte IMT wieder zum Fliegen gebracht werden. Wie er IMT allerdings davon abhalten wollte, seine eigene Stadt zu zerquetschen, sobald sie nur einmal flog, wußte Amalfi auch noch nicht. Er konnte nur hoffen, daß er einen Ausweg finden würde. Die Treppe endete plötzlich in einer schmalen Kammer, so eng, kalt und feucht, daß sie nicht mehr als eine Höhle war. Der Lichtstrahl der Lampe traf auf einen ovalen Gang, der durch eine Metalltüre verschlossen war – Blei. Also waren IMTs Rotatrone radioaktiv? Das war ungünstig. Altertümliche Leuchtröhren flammten bläulich auf, als die Türe geöffnet wurde. Auf den großen plumpen Maschinen spiegelte sich das Licht wider. Die Luft war ziemlich trocken, und Amalfi konnte einen Anflug von Enttäuschung nur schwer unterdrücken. Er überblickte die Maschinen und suchte nach Bedienungswänden. »Nun?« sagte Heldon barsch. Er schien unter einer inneren Spannung zu leiden. Amalfi fiel ein, daß das, was Heldon vorhatte, ganz gut ein privater Versuch sein konnte, der mit der offiziellen Politik der Großen Neun nichts zu tun hatte. In diesem Falle wäre es für Heldon unangenehm, gerade an diesem Platz mit einem Nomaden angetroffen zu werden. »Wollen Sie kein Überprüfung durchführen?« »Natürlich«, sagte Amalfi. »Ich war nur etwas erstaunt über die Größe, das ist alles.« »Sie sind alt, das wissen Sie«, sagte der Proktor. »Zweifellos baut man sie heutzutage weitaus größer.« Das stimmte natürlich nicht. Moderne Rotatrone hatten weniger als ein Zehntel der Größe dieser Maschinen. Die Bemerkung Heldons ließ noch mehr Zweifel über seine wirkliche Stellung aufkommen. Amalfi hatte angenommen, daß er die Maschinen nicht werde berühren dürfen, daß es genug Leute in IMT gab, die auf Anweisung präzise Reparaturen durchführen konnten und 263 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
daß Heldon oder jeder andere Proktor soviel Physik verstünden, daß sie jede Erklärung Amalfis verwerten konnten. Nun war er sich nicht mehr sicher. Von dieser Frage hing aber ab, inwieweit er an den Maschinen Veränderungen vornehmen konnte, ohne entdeckt zu werden. Der Bürgermeister stieg eine Metalleiter zu einer Brücke hoch, die um die Generatoren lief, blieb dann stehen und sah zu Karst hinunter. »Los, Trottel, steh nicht ’rum«, sagte er. »Komm ’rauf und bring das Zeug mit.« Gehorsam kletterte Karst die Treppe hinauf, hinter ihm Heldon. Amalfi beachtete sie nicht, sondern suchte nach einer Sichtklappe in der Maschinenverkleidung und öffnete sie. Drinnen befand sich ein riesiger Gleichrichterstromkreis mit Verstärker für Kontrollgeräte. Der Verstärker besaß mehr Röhren, als Amalfi bisher in einem solchen Gerät gesehen hatte. Zwei dieser Röhren waren sogar so groß wie eine Männerfaust. Karst bückte sich und legte den Packen auf den Boden. Amalfi zog ein dünnes langes Kabel heraus und steckte ein Ende in eine Steckdose. Am anderen Ende des Kabels leuchtete ein winziges Lämpchen rot auf. »Ihr Rechengehirn funktioniert noch«, teilte er Heldon mit. »Ob es noch normal arbeitet oder nicht, ist eine andere Frage. Kann ich die Hauptabteilungen einschalten?« »Das mache ich selbst«, sagte der Proktor. Er kletterte hinunter und durchquerte die Kammer. Sofort sagte Amalfi leise: »Beobachten Sie Heldon, Karst. Stellen Sie fest, welchen Schalter er betätigt, und merken Sie sich die Stelle. Haben Sie verstanden? Gut.« Die Röhren glühten auf. Karst nickte einmal, fast unmerklich. Der Proktor schaute von unten zu, während Amalfi die Leitungen prüfte. »Wird es funktionieren?« rief Heldon hinauf.
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»Ich glaube schon. Eine der Röhren ist durchgebrannt, und hier und da können kleine Defekte sein. Ich würde alles überprüfen lassen, bevor Sie es in Betrieb nehmen. Sie haben doch Röhrenprüfgeräte, oder?« Auf Heldons Gesicht war Erleichterung zu lesen, obwohl er sich bemühte, das zu verbergen. »Natürlich«, sagte der Proktor. »Ist das alles?« »Auf keinen Fall. Ich glaube, Sie müssen die Hälfte der Stromkreise herausreißen und durch Transistoren ersetzen. Wir können Ihnen das hierfür nötige Germanium zum gesetzlichen Preis verkaufen. Pro Einheit befinden sich hier etwa zwei- oder dreihundert Röhren, und wenn während des Fluges eine Röhre ausfällt, sind Sie erledigt.« »Können Sie uns zeigen, wie das gemacht wird?« »Wahrscheinlich«, sagte der Bürgermeister. »Wenn Sie mir erlauben, das ganze System zu überprüfen, kann ich Ihnen eine genauere Antwort geben.« »Gut«, sagte Heldon. »Aber keine Verzögerung. Ich habe höchstens noch einen halben Tag Zeit.« Das war viel günstiger, als Amalfi erwartet hatte. Mit soviel Zeit konnte er die Hauptsteuerungsanlage sicher finden. Er nahm Papier und Schreibstift aus der Tasche und begann, das Schaltsystem zu skizzieren. Nachdem er sich die Konstruktion des ersten Generators einigermaßen klargemacht hatte, war es schon einfacher, die wichtigsten Grundzüge des zweiten einzuzeichnen. Das nahm Zeit in Anspruch, aber Heldon schien nicht zu ermüden. Das dritte Rotatron ergab schließlich das komplette Bild, so daß Amalfi sich überlegte, wofür das vierte vorhanden war. Wie er schließlich herausfand, war es ein Zusatzgerät, das die Energieverluste der anderen ausglich. Die Rotatrone von IMT waren ziemlich primitiv.
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Aber sie würden die Stadt fliegen. Und nur das war von Bedeutung. Amalfi beendete seine Überprüfung und streckte sich. Er wußte nicht, wie viele Stunden er gebraucht hatte. Heldon beobachtete ihn immer noch, mit Schatten unter den Augen, aber hellwach. Amalfi hatte in der ganzen Kammer nicht den Punkt gefunden, von dem aus die Rotatrone bedient wurden. Das Kontrollpult befand sich nicht hier. Das Hauptkabel verschwand oben im Dach der Kammer. Amalfi gähnte und beugte sich vor, um die Klappe zu befestigen. Karst saß neben ihm und schlief ganz fest. Heldon beobachtete Amalfi. »Ich werde die Arbeit für Sie machen müssen«, sagte Amalfi. »Sie ist wirklich schwierig; es kann sein, daß sie Wochen in Anspruch nimmt.« »Ich habe mir gedacht, daß Sie das sagen werden«, erwiderte Heldon. »Ich bin froh, daß ich Ihnen Zeit gelassen habe, das herauszufinden. Aber ich glaube nicht, daß wir diese Röhren ersetzen werden.« »Sie müssen.« »Vielleicht. Aber offensichtlich ist in den Geräten ein beachtlicher Sicherheitsspielraum vorgesehen, sonst hätten wir die Stadt überhaupt nie fliegen können. Sie werden verstehen, Bürgermeister, daß wir das Risiko, Sie mit den Maschinen allein zu lassen, nicht eingehen können. Wenn die Maschinen funktionieren, wie sie jetzt sind, muß es genügen.« »Oh, funktionieren werden sie«, sagte Amalfi. Er fing an, seine Ausrüstung einzupacken. »Eine Weile. Ich möchte Ihnen aber gleich sagen, daß sie nicht sicher sind, das ist alles.« Heldon zuckte die Schultern und stieg die Metalleiter zum Boden der Kammer hinunter. Amalfi kramte noch etwas in seinem Bündel. Dann stieß er Karst in die Seite und bedeutete ihm, das Bündel aufzunehmen. Sie kletterten hinunter.
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Der Proktor lächelte. Sein Lächeln war alles andere als angenehm. »Nicht sicher?« sagte er. »Nein, das habe ich auch niemals angenommen. Aber ich bin der Meinung, daß die Gefahren jetzt in erster Linie politischer Natur sind.« »Warum?« fragte Amalfi; er versuchte wieder, zu Atem zu kommen. Er fühlte sich plötzlich erschöpft. Wie viele Stunden hatte er gebraucht? Er hatte keine Ahnung. »Wissen Sie, wie spät es ist, Bürgermeister Amalfi?« »Es müßte Morgen sein, nehme ich an«, sagte Amalfi. »Verdammt spät auf jeden Fall.« »Sehr spät«, sagte Heldon. Er versuchte sich jetzt nicht mehr zu verstellen. Er triumphierte ganz offen. »Der Vertrag zwischen Ihrer und meiner Stadt lief heute mittag ab. Es ist jetzt fast eine Stunde nach Mittag. Wir sind die ganze Nacht und den ganzen Vormittag hier gewesen. Und Ihre Stadt befindet sich immer noch auf unserem Boden. Das ist Vertragsverletzung, Herr Bürgermeister.« »Ein Versehen – « »Nein, ein Sieg.« Heldon nahm eine kleine silberne Röhre aus den Falten seines Gewandes und blies hinein. »Bürgermeister Amalfi, Sie können sich als Kriegsgefangenen betrachten.« Das kleine Silberröhrchen hatte keinen hörbaren Laut von sich gegeben, aber im Raum befanden sich schon zehn Männer. Ihre Mesonengewehre waren von altmodischer Konstruktion, wie die Rotatrone von IMT auch. Aber wie die Rotatrone sahen sie aus, als funktionierten sie. Karst erstarrte. Amalfi stieß ihn in die Seite und leerte den Inhalt seiner Bündel in Karsts größeren Packen. »Sie haben die Erdpolizei gerufen, nehme ich an?« sagte er. »Schon längst. Dieser Fluchtweg ist für Sie abgeschnitten. Lassen Sie mich erwähnen, Bürgermeister Amalfi, daß Sie mich
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für sehr dumm gehalten haben müssen, wenn Sie glaubten, ich würde Ihnen die Möglichkeit geben, hier unten die Steuerung zu beschädigen.« Amalfi erwiderte nichts. Er fuhr fort, weiter in dem Bündel zu kramen. »Sie machen mir zu viele Bewegungen, Bürgermeister Amalfi. Heben Sie die Hände, und drehen Sie sich langsam um.« Amalfi hob die Hände und drehte sich um. In jeder Hand hielt er ein kleines schwarzes Ding von der Größe und Form eines Eies. »Ich habe genauso viel Dummheit erwartet, wie mir tatsächlich geboten wurde«, sagte er umgänglich. »Sie können sehen, was ich hier in den Händen halte. Ich kann und werde eines oder beide fallen lassen, wenn Sie mich erschießen. Vielleicht lasse ich sie auf alle Fälle fallen. Ich habe Ihre billige Geisterstadt satt.« Heldon schnaubte. »Sprengstoff? Gas? Lächerlichkeit. Kein so kleines Ding kann genug Energie haben, um die ganze Stadt zu zerstören, und Sie haben keine Masken. Halten Sie mich für einen Narren?« »Die Ereignisse beweisen, daß Sie einer sind«, sagte Amalfi ruhig. »Die Möglichkeit, daß Sie versuchen würden, mich zu überfallen, war groß, sobald ich einmal in IMT war. Ich hätte das verhindern können, wenn ich mir eine Leibgarde mitgebracht hätte. Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, daß ich eine Leibwache zu Hause lassen konnte, weil ich mich selbst auf einfachere Weise schützen konnte?« »Eier«, sagte Heldon verächtlich. »Es sind tatsächlich Eier. Die schwarze Farbe dient nur zur Warnung. Die Eier enthalten Hühnerembryos, die mit einer mutierten Virusart der Pocken geimpft sind; wir haben diese Virussorte in unseren Laboratorien entwickelt. Nur zwei Eier – aber wenn ich sie fallen lasse, würden Sie mir auf dem Bauch bis zu meiner Stadt nachkriechen müssen, um die einzige Impfung 268 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
zu bekommen, die gegen diese Pockenart etwas nützt. Wir haben auch den Impfstoff selbst entwickelt.« In der eintretenden Stille atmete der Proktor heftig. Die bewaffneten Männer schauten unsicher auf die schwarzen Eier, und die Mündungen ihrer Gewehre schwankten. Amalfi hatte sich seine Waffe mit großer Überlegung ausgesucht. Feudalherrschaften fürchteten sich grundsätzlich am meisten vor Epidemien – weil sie schon so viele erlebt hatten. »Matt«, sagte Heldon schließlich. »Gut. Bürgermeister Amalfi. Sie und Ihr Sklave haben freies Geleit aus dieser Kammer – « »Aus dem Gebäude. Wenn ich das geringste Geräusch der Verfolgung auf der Treppe höre, werfe ich die Eier auf Sie herunter. Sie explodieren übrigens, weil der Virus starke Gase entwickelt.« »Also gut«, sagte Heldon mit zusammengebissenen Zähnen. »Aus dem Gebäude. Aber Sie haben nichts gewonnen, Bürgermeister Amalfi. Wenn Sie Ihre Stadt wirklich erreichen, werden Sie Augenzeuge des Sieges von IMT sein, des Sieges, den Sie selbst ermöglicht haben. Ich glaube, Sie werden erstaunt sein, wie gründlich wir sind.« »Nein, das werde ich nicht«, sagte Amalfi mit kalter, mitleid loser Stimme. »Ich weiß Bescheid über IMT, Heldon. Ihr seid am Ende. Wenn Sie sterben, Sie und Ihre ganze Besatzung der ›Könige des Weltraumhandels‹, dann denken Sie an Thor V.« Heldon wurde leichenblaß und, erstaunlicherweise, auch vier seiner Soldaten. Dann stieg dem Proktor das Blut in das fette Gesicht. »Hinaus«, krächzte er, fast unhörbar. Dann brüllte er plötzlich mit aller Lungenkraft: »Hinaus! Hinaus!« Amalfi ging, die Eier spielerisch in den Händen bewegend, zur Türe. Karst folgte ihm. Die Bleitür fiel hinter ihnen zu. Amalfi steckte eine Hand in Karsts Bündel und legte das eine Ei wieder in das Schaumgummibett zurück, aus dem er es herausgenommen
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hatte. Dann holte er eine Pistole heraus und steckte sie in den Gürtel. »Die Treppe hinauf, Karst. Schnell. Das ging knapp. Los! Ich bin direkt hinter Ihnen. Wo glauben Sie, daß die Bedienungspulte für diese Maschinen sind? Das Kabel verschwand oben in der Decke der Kammer.« »In der Kuppel des Tempels«, sagte Karst. Er stürmte die Treppen in gewaltigen Sätzen hinauf, ohne sich anstrengen zu müssen. »Dort oben ist der Saal der Sterne, in dem sich die Großen Neun treffen. Aber ich weiß nicht, wie man dort hinaufkommt.« Sie stürmten in die kalte Steinkammer. Amalfi leuchtete auf den Boden und fand den Stein. Karst stieß dagegen. Knirschend legte sich der Stein wieder an seinen Platz. Es gab sicher eine Möglichkeit, ihn auch von unten zu bedienen, aber Heldon würde zögern, diesen Weg zu benützen. Der Stein verursachte einen derartigen Lärm, daß Amalfi seine Eier werfen würde. Das wußte Heldon. »Ich möchte, daß Sie mit allen Leibeigenen, die Sie finden können, aus der Stadt verschwinden«, sagte Amalfi. »Aber es muß genau abgestimmt werden. Irgend jemand muß den Schalter betätigen, bei dem Sie vorher Heldon beobachtet haben, und ich kann es nicht tun. Ich muß in diesen Saal der Sterne gehen. Heldon wird vermuten, daß ich dort hin will, und mir folgen. Wenn er hier vorbeigekommen ist, Karst, müssen Sie hinunter und den Schalter betätigen.« Vor ihnen tauchte die niedrige Tür auf, durch die sie mit Heldon in den Tempel gekommen waren. Zu beiden Seiten führten Treppen hinauf. Durch die Türritzen brach helles Tageslicht. Amalfi öffnete die alte Tür vorsichtig und blickte hinaus. Trotz der nachmittäglichen Helligkeit tauchten die nahe beieinanderstehenden Gebäude IMTs die Gasse in ein merkwürdiges Zwielicht, Draußen ging ein halbes Dutzend Leibeigener vorbei, hinter denen ein schläfriger Proktor schritt.
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»Finden Sie in die Steinkammer zurück?« flüsterte Amalfi und ließ die Tür offen. »Es gibt nur einen Weg.« »Gut. Gehen Sie zurück. Werfen Sie den Packen hier hinter die Tür; wir brauchen ihn nicht mehr. Sobald Heldons Leute hier die Treppe hinaufgegangen sind, laufen Sie hinunter und betätigen den Schalter. Dann verschwinden Sie aus der Stadt. Sie haben etwa vier Minuten Zeit, bis die Röhrenstufen warm geworden sind. Verlieren Sie keine Sekunde. Verstanden?« »Ja, aber – « Über dem Tempel pfiff etwas vorbei. Amalfi schloß ein Auge und schaute mit dem anderen zum Himmel. »Raketen«, sagte er. »Manchmal weiß ich wirklich nicht, warum ich ausgerechnet diesen primitiven Planeten ausgesucht habe. Aber vielleicht lerne ich noch, ihn zu lieben. Viel Glück, Karst.« Er wandte sich der Treppe zu. »Sie werden ihnen oben in die Falle gehen«, sagte Karst. »Nein, Karst. Bestimmt nicht. Keine Widerrede! Marsch!« Eine zweite Rakete flog über den Tempel, und in der Ferne hörte man eine Explosion. Amalfi stürmte die Treppe zum Saal der Sterne hinauf. Die enge Treppe führte in einem weiten Bogen hinauf. Amalfi erinnerte sich, daß die Proktoren selbst niemals Treppen erkletterten. Sie wurden von den Leibeigenen hinaufgetragen. Wie Amalfi sehen konnte, stieg die Treppe in einer Spirale sanft zur Kuppel. Schnaufend rannte er die letzten Stufen hinauf. Vor ihm war eine schwere, verschlossene Tür. Er besann sich nicht lange, sondern warf sich mit aller Gewalt dagegen. Sie sprang auf. Enttäuscht blieb er stehen. Der Saal war bis auf einen großen Holztisch und neun Stühle, die an den Wänden standen, völlig
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leer. Kein Bedienungspult und kein Platz, wo es verborgen sein konnte. Der Saal besaß keine Fenster. Das Fehlen der Fenster sagte ihm, was er wissen wollte. Der einzige Grund dafür, daß sich der Saal der Sterne oben auf der Kuppel des Tempels befand, war, daß hier irgendwo auch die Steuerungskabine von IMT sein mußte. Bei dem Alter der Stadt hieß das, daß völlige Sichtmöglichkeit ungeheuer wichtig war. Die Kabine konnte nur in der Spitze des höchsten Gebäudes sein, von der aus umfassende Sicht möglich war. Offensichtlich war Amalfi noch nicht weit genug oben. Er sah auf die Decke. Einer der großen Steinblöcke besaß eine kleine Aushöhlung, nicht größer als eine Münze. Amalfi grinste und suchte unter dem großen Tisch. Er fand, was er suchte – eine lange Stange mit einer gebogenen Metallspitze. Er riß die Stange unter dem Tisch hervor und steckte die Metallspitze in die Öffnung des Steines. Der Block ließ sich leicht herunterklappen, weil er an einem Ende mit Scharnieren versehen war, wie der Block unten über dem Generatorraum. Der herunterhängende Block berührte fast die Tischplatte. Amalfi sprang auf den Tisch und kletterte an dem schrägstehenden Steinblock hoch. Als er die Mitte erreicht hatte, kippte der Stein nach oben und trug ihn hinauf. Er war in der Steuerungskabine, ohne Zweifel. Sie war klein und mit Bedienungspulten vollgestopft, auf denen eine dicke Staubschicht lag. Große Bullaugen aus dickem Glas erlaubten den Blick über die Stadt in alle vier Himmelsrichtungen. Auch in der Decke befand sich ein Bullauge. An einem der Pulte brannte ein grünes Licht. Als Amalfi näher kam, erlosch es. Das war Karst, der abgeschaltet hatte. Amalfi hoffte, daß Karst entkommen würde. Er hatte ihn liebgewonnen. Rotatrone sind im Prinzip einfach. Amalfi konnte ohne Schwierigkeiten die Bedienungsknöpfe so einstellen, wie er es vorhatte, und auch sonst verschiedene kleinere Sabotageakte ausführen. Wie er seine Manipulationen verbergen sollte, nachdem jede Berührung der Pulte im Staub große Spuren 272 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
hinterließ, war eine andere Frage. Er löste das Problem auf die einzig mögliche Weise, indem er sein Hemd auszog und damit alle Pulte abstaubte. Er mußte niesen, bis ihm die Augen tränten, aber es half. Jetzt brauchte er nur noch zu verschwinden. Unten im Saal hörte man bereits dumpfe Geräusche, aber er machte sich über einen direkten Angriff keine Sorgen. Er hatte noch ein schwarzes Ei, und die Proktoren wußten es. Außerdem hatte er auch die Stange mit der Metallspitze mitgenommen, so daß sich die Proktoren aufeinander stellen müßten, um die Steuerungskabine überhaupt zu erreichen. Sie waren für derartige Späße körperlich nicht geeignet, und außerdem würde ein Tritt von Amalfi genügen, den Angriff wenigstens vorübergehend abzuschlagen. Trotzdem spürte Amalfi kein Verlangen, den Rest seines Lebens in dieser Kabine zu verbringen. Er hatte nur noch sechs Minuten Zeit, um aus der Stadt zu verschwinden. Amalfi stellte sich auf die eine Seite des Blockes. Der Stein kippte, und Amalfi rutschte feierlich auf die Tischplatte im Saal der Sterne hinunter. Sofort ergriffen ihn viele Hände. Heldons Gesicht, verzerrt vor Wut und Angst, schob sich vor Amalfi. »Was haben Sie getan? Antworten Sie, oder ich lasse Sie in Stücke reißen!« »Seien Sie kein Idiot. Sagen Sie Ihren Männern, daß sie mich loslassen sollen. Ich habe immer noch Ihre Zusicherung des freien Geleits, und wenn Sie das widerrufen sollten – ich habe immer noch die gleiche Waffe bei mir. Lassen Sie mich los, oder –« Heldons Wachen ließen ihn los, ehe er noch zu Ende gesprochen hatte. Heldon wankte zum Tisch und kletterte verzweifelt an dem Steinblock hinauf. Einige andere kahlköpfige Männer folgten ihm – offensichtlich hatte Heldon inzwischen so
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viel Angst bekommen, daß er andere Mitglieder der Großen Neun unterrichtet hatte. Amalfi verließ den Saal und ging zwei Stufen hinunter. Dann bückte er sich, legte das schwarze Ei vorsichtig auf die Türschwelle, machte den Soldaten eine lange Nase und rannte die spiralige Treppe hinunter. Heldon würde einige Zeit brauchen, vielleicht eine Minute, nachdem er eingeschaltet hatte, um zu bemerken, daß die Generatoren abgeschaltet waren. Eine weitere Minute würde es dauern, bis einer der Leute Heldons den Keller erreicht und die Generatoren wieder eingeschaltet hatte. Dazu kam noch die Anwärmzeit von etwa vier Minuten. Und dann – würde IMT starten. Amalfi rannte auf die Straße und hätte fast einen erstaunten Proktor umgerissen, der ihm etwas nachschrie. Amalfi duckte sich und rannte weiter. Die Straße war im Zwielicht der beiden Sonnen fast dunkel. Amalfi blieb im Schatten der Häuser und erreichte die nächste Ecke. Der Sims vor ihm wurde plötzlich grellweiß, dann rotglühend. Das Krachen des Mesonengewehres hörte er gar nicht, Er konzentrierte sich auf etwas anderes. Dann sauste er um die Ecke. Der kürzeste Weg aus der Stadt war die Straße gewesen, die er eben verlassen hatte, aber er wollte sich nicht gerne niederknallen lassen. Ob er IMT auf einem anderen Weg noch rechtzeitig würde verlassen können, war fraglich. Hartnäckig rannte er weiter. Es wurde noch einmal auf ihn geschossen von einem Mann, der gar nicht wußte, auf wen er schoß. Der Schuß war nur eine Reflexbewegung angesichts einer fliehenden Gestalt und traf daher auch nicht, Der Boden zitterte. Amalfi gelang es irgendwie, noch schneller zu laufen. Die Erschütterung wiederholte sich, diesmal stärker. Ein langes Grollen folgte ihr, das sich durch die ganze Stadt fortsetzte. Leibeigene und Proktoren stürzten aus den Häusern.
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Bei der dritten Erschütterung brach in der Mitte der Stadt etwas mit riesigem Krachen zusammen. Amalfi war in die von panischer Angst erfaßte Menge eingekeilt und kämpfte sich mit allen Mitteln durch… Das Grollen wurde lauter. Plötzlich hob sich der Boden in einer schweren, aber kurzen Erschütterung. Amalfi wurde zu Boden geworfen. Mit ihm fiel wie gemähtes Gras die ganze Menschenmenge. Von überall hörte man entsetzliche Schreie, aber in den Gebäuden war es am schlimmsten. Über Amalfis Kopf zerbrach ein Fenster, und der Körper einer Frau wurde durch die Luft geschleudert. Amalfi raffte sich auf, spuckte Blut und rannte weiter. Das Pflaster wies jetzt große, gezackte Risse auf, die sich mehr und mehr erweiterten. Er kletterte über die aufgetürmten Steinhaufen, bevor ihm zum Bewußtsein kam, daß er den Stadtrand von IMT erreicht haben mußte. Auf der andern Seite des breiten tiefen Grabens standen zwar auch Gebäude, aber der Graben selbst zeigte an, daß hier die fliegende Stadt IMT zu Ende war. Amalfi warf sich, verzweifelt nach Atem ringend, von Steinblock zu Steinblock, um das andere Ende des Grabens zu erreichen. Hier war es am gefährlichsten. Wenn IMT jetzt aufstieg, würde er wie eine Fliege zerdrückt werden. Wenn er nur den Rand der Heide erreichte… Hinter ihm steigerte sich das Grollen zu einem entsetzlichen Kreischen. Vor ihm, weit vor ihm, stand auf der Heide seine eigene Stadt in den letzten Strahlen der Sonne. Am Stadtrand waren Kämpfe im Gange. Die Raketen, die Amalfi vorher gesehen hatte, rasten über den Himmel und warfen Bomben ab. Seine Stadt feuerte. Eine grelle Explosion zuckte über den Himmel. Als Amalfi wieder sehen konnte, waren nur noch drei Raketen vorhanden; in wenigen Sekunden würde keine mehr existieren. Die Stadtväter verfehlten nie ihr Ziel.
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Amalfi fühlte, wie die Luft brennend in seine Lungen drang. Unter seinen Sohlen spürte er Gras. Er stolperte über eine Stechginsterranke und fiel zu Boden. Er versuchte sich zu erheben, aber es gelang ihm nicht. Der verbrannte Boden wankte. Er rollte sich auf den Rücken. Die Türme von IMT schwankten wie Rohre im Wind, und am ganzen Stadtrand stürzten die Häuser ein. Ein dünner Lichtstrahl kam zwischen dem Felsboden und der Stadt hervor. Die Sonnen leuchteten unterhalb der Stadt! Der Lichtstrahl wurde breiter. Die Stadt erhob sich. Vom Rand stürzten sich verzweifelte Figuren herunter auf die Heide. Die meisten waren, wie Amalfi sehen konnte, Leibeigene. Die Proktoren versuchten natürlich immer noch, den Flug unter Kontrolle zu bekommen. Die Stadt stieg majestätisch auf. Sie gewann Geschwindigkeit. IMT hörte nicht auf, zu steigen. Amalfis Herz hämmerte. Wenn Heldon und seine Leute herausfanden, was Amalfi mit der Steuerung gemacht hatte, würde Karsts alte Ballade Wirklichkeit und Amalfis Stadt zerquetscht werden. Aber Amalfi hatte gute Arbeit geleistet. IMT stieg weiter. Erschrocken bemerkte Amalfi, daß sie schon fast zwei Kilometer hoch war und noch schneller wurde. Die Luft würde dünn werden, und die Proktoren hatten sicher vergessen, was man tun mußte… Drei Kilometer. Vier Kilometer. IMT wurde kleiner. Bei sieben Kilometern Höhe war sie nur noch ein schwarzer Flecken, auf einer Seite von der Sonne angestrahlt. Bei zehn Kilometern war IMT nur noch ein Punkt am Himmel. Ein mächtiger Schädel und ein Paar muskulöse Schultern richteten sich vorsichtig aus einer nahen Senke auf. Es war Karst. Er sah nach oben, aber IMT war bei fünfzehn Kilometern schon nicht mehr zu sehen. Er sah Amalfi an. 276 James Blish – Stadt zwischen den Planeten
»Kann – kann sie zurückkommen?« sagte er heiser. »Nein«, sagte Amalfi erschöpft. »Schauen Sie genau hin, Karst. Es ist noch nicht vorbei. Erinnern Sie sich, daß die Proktoren die Erdpolizei gerufen haben – « Im gleichen Augenblick erschien die Stadt IMT wieder – gewissermaßen. Eine dritte Sonne flammte am Himmel auf. Sie brannte nur drei oder vier Sekunden. Dann erlosch sie und verschwand. »Die Polizei war verständigt worden«, sagte Amalfi leise, »auf eine Nomadenstadt zu achten, die einen Fluchtversuch unternehmen würde. Sie haben sie gefunden und zerstört. Natürlich haben sie die falsche Stadt erwischt, aber die Polizei weiß es nicht. Sie wird jetzt heimfliegen – und wir sind auch zu Hause, wie Sie und Ihre Kameraden. Zu Hause auf der Erde, für ewig.« Um sie herum ertönte Stimmengemurmel, gedämpft durch die Katastrophe, aber auch noch von etwas anderem – etwas so Altem und Neuem, daß es bisher auf dem Planeten, den IMT beherrscht hatte, keinen Namen hatte. Es war die Freiheit. »Auf der Erde?« wiederholte Karst. Er und der Bürgermeister erhoben sich mühsam. »Wie meinen Sie das? Das ist nicht die Erde – « In der Heide leuchtete die Nomadenstadt, die sich niedergelassen hatte, um die Felder zu bestellen. Eine große Sternenwolke stieg hinter ihr am dunklen Himmel auf. »Sie ist es jetzt«, sagte Amalfi. »Wir sind alle Menschen der Erde, Karst. Die Erde ist mehr als ein kleiner Planet, der in einer anderen Milchstraße liegt. Die Erde ist viel mehr als das. Die Erde ist kein Platz. Sie ist eine Idee.«
Ende
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