GORDON R. DICKSON
GEWALT ZWISCHEN DEN STERNEN Science Fiction – Utopischer Roman Deutsche Erstveröffentlichung
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GORDON R. DICKSON
GEWALT ZWISCHEN DEN STERNEN Science Fiction – Utopischer Roman Deutsche Erstveröffentlichung
WINTHER VERLAG KG. HAMBURG – ZÜRICH – WIEN
WINTHER-BUCH Nr. 2002 im Winther Verlag KG. Hamburg Titel der amerikanischen Originalausgabe: NAKED TO THE STARS Ins Deutsche übertragen von: KARL OTTO PAKLEPPA
Genehmigte Taschenbuchausgabe © Copyright 1966 by Pyramid Publications, Inc. Scan by Brrazo 04/2006 Umschlaggestaltung: Atelier Biehler, Hamburg Satz: Karl Heinz Löding KG, Hamburg Gesamtherstellung: UNIPRINT, Kopenhagen Published in Germany
ERSTES KAPITEL Die Stimme in der tiefschwarzen Nacht des dritten Planeten der Sonne Arcturus erklang unter einem fremdartigen Baum, der sich im ruhelosen Wehen des Windes beugte. »Also, Gentleman«, sprach sie und schien dann den Faden zu verlieren. Sie verstummte, fand dann aber doch zu ihrer alten Kraft zurück. »… so verhält sich das mit dem Militär. Ein Soldat unterscheidet sich von einem gewöhnlichen Mörder nur durch den Grund, aus dem er tötet …« Die Stimme brach abermals ab und schien an irgendetwas Warmem und Flüssigem beinahe zu ersticken. »Blödsinn!« sagte eine andere Stimme aus der vom unablässigen Wehen des Windes erfüllten Dunkelheit. »In einem Krieg«, fuhr die erste Stimme fort, »in dem man Heim und Familie verteidigt, in einem Kreuzzug also, der eine bestimmte Zeit dauert, handelt der Soldat nach klaren Richtlinien und hat das Gefühl, rein und sauber zu bleiben. Aber Soldaten auf Zeit werden entlassen …« »Ja, manche schaffen’s«, antwortete die zweite Stimme. »… werden entlassen. Dann versuchen sie, Berufssoldaten zu werden. Während vorher der Feind zuerst angriff, zieht der Soldat nun als erster in den Krieg. Der Schild der Ehrenhaftigkeit wird befleckt, und …« Die Stimme zögerte, und der unpersönliche Ton des Vortrags verlor sich in einem zusammenhanglosen Stammeln. »Gib ihm noch einen Psychoblock, Joby«, befahl Kor5
poral Calvin Truant vom Vierten Angriffsflügel des 91. Pionier-Bataillons. Er nahm an der terranischen Strafexpedition gegen die Lehaunan teil. »Wenn ich das tue«, antwortete die Stimme, die schon ein paarmal Zwischenbemerkungen gemacht hatte, »werde ich ihm die Wirbelsäule brechen. Es ist gefährlich, Cal.« »Mach es trotzdem«, befahl Cal. Man hörte ein Rascheln, und das Murmeln wurde von einem lauten Keuchen abgelöst. Es folgte ein Augenblick unnatürlicher Ruhe, dann fuhr die Stimme mit neugewonnener Kraft in ihrem Vortrag fort. »… im Hinblick auf die gegenwärtige Lage der Expedition kann ich nur meine Ansicht als Kontaktoffizier wiedergeben. Normalerweise würde man bei einem Waffenstillstand erwarten, daß wir friedliche Kulturkontakte aufzunehmen versuchten. Nun, es ist jedenfalls unklar, ob die Lehaunan unser Wort ›Waffenstillstand‹ begreifen …« »Erklär’s ihnen mal«, unterbrach eine andere, jüngere Stimme. »Sie haben dir ja gezeigt, was sie unter Waffenstillstand verstehen, nicht wahr, Runyon?« »Genug davon, Tack«, sagte Cal scharf. »Geh ans Feldtelefon zurück und höre, ob die Division neue Befehle für uns hat.« »In Ordnung«, gab die jüngere Stimme zurück. Cal hörte, wie sich Füße über Sand und Kies längs der Vertiefung am Rand des Hügels zu der Stelle bewegten, wo die restlichen dreiundachtzig Mann lagen, die mit ihnen zusammen 6
das bildeten, was sich so hochtrabend Vierter Angriffsflügel nannte. In der anderen Richtung, oberhalb der Flanke des Hügels, lag ein schwacher Lichtschimmer. Es war der Widerschein der Lichter vom nächsten Tal, wo die Lehaunanstadt mit der Kraftstation lag. Der Schimmer konnte nur von jemand wahrgenommen werden, der keinerlei andere Beleuchtung in all den Stunden gesehen hatte, seit der große gelbrote Ball des Arcturus am Horizont versunken war. »… und sie verbinden auch nicht mit dem Wort ›Krieg‹ den gleichen Sinn wie wir. Obwohl sie sich sehr wirkungsvoll gegen einen bewaffneten Angriff verteidigen können, scheinen die Lehaunan keinen persönlichen Groll oder gar Haß zu kennen. Sie sehen die Waffe, die sie tötet, so als hätte sie gar nichts mit dem Soldaten am Drücker zu tun. Unter anderen Bedingungen und zu anderen Zeiten wären sie sicher ein freundliches und naives Volk …« »Prima, schreib’s am besten auf, du halbtoter …« Die heisere, erschöpfte Stimme von Joby brach verwirrt ab, wie jemand, der sich plötzlich dabei ertappt, daß er bei einer Beerdigung viel zu laut spricht. Am Abhang rollten Steine hinab. »Korporal?« fragte die junge Stimme des Soldaten, den Cal vorhin Tack genannt hatte. »Ja?« antwortete Cal. »Kein Befehl.« Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sogar Kontaktoffizier Leutnant Harry Runyon hielt in seinem von 7
Fieberschauern unterbrochenen Bericht inne. »Und was ist mit der anderen Geschichte?« fragte Cal. »Haben Sie den Medizinmännern gesagt, daß wir hier einen Fall für ihre Messer haben?« »Sicher, Sir. Aber sie sagen, sie könnten niemand schicken, auch keinen Krankenwagen. Sie haben Angst vor Feindbeschuß.« Joby spuckte verächtlich aus. »Ich dachte, du könntest Kontaktoffiziere nicht leiden, Joby?« höhnte Tack. »Genau so wenig, wie deine Schwester«, gab Joby bissig zurück. »Aber er gehört zu unseren Leuten!« »Schluck’s runter«, empfahl Cal. Seine Worte klangen in seinen eigenen Ohren fremd und unwirklich. Er war überrascht, sie zu hören. Es war, als ob jemand anders spräche. Er fühlte sich von seinem Körper losgelöst – der fehlende Schlaf war daran schuld. Das ging schon zwei Tage so, seit Leutnant James, der letzte Offizier mit einem wirklichen Leutnantspatent, von der Ambulanz geholt worden war und ihm, Cal, dem einfachen Unteroffizier, den Befehl über den Vierten Angriffsflügel übertragen hatte. Runyon zählte natürlich nicht, weil er als Kontaktoffizier nicht am Kampf teilnehmen durfte. »Tack«, befahl Cal, »klettere hoch und halte mal Umschau.« Die Geräusche von leise gleitenden Schritten verloren sich in der Richtung auf die Hügelkuppe. 8
»Der Waffenstillstand war bei Sonnenuntergang abgelaufen«, sagte Joby. »Hol’ Walker her!« ordnete Cal an. Joby verschwand in Richtung auf das Feldtelefon, wo die restlichen dreiundachtzig Mann lagerten. Für einen Moment wäre Cal am liebsten liegen geblieben und eingeschlafen. Er kämpfte dieses Verlangen mühsam nieder. Dann hörte er, wie Joby zurückkam. »Hier sind wir.« »Was ist los Cal?« Die zweite Stimme gehörte Korporal Walker Lee Blye und klang genauso erschöpft wie Cals Stimme. Sie war zwar tiefer und klang härter, aber Cal schien es so, als spräche seine eigene Stimme durch die Dunkelheit zu ihm. Er riß sich zusammen und verscheuchte die verworrenen Gedanken. »Ich sag’s euch, sobald Tack zurück ist«, antwortete er dem Korporal. Sie lagen in der Dunkelheit, drei kampferprobte Soldaten, und versuchten, ihre Erschöpfung niederzukämpfen. Harry Runyon murmelte vor sich hin, aber niemand konnte ihn verstehen. Joby fragte: »Habt ihr niemals Sehnsucht verspürt?« »Du meinst, nach der Erde?« überlegte Walk. »Wieder Zivilist zu werden?« »So ungefähr«, erwiderte Joby. »Ich hab daran gedacht«, gab Walk zu. »Jedesmal, wenn eine Expedition zu Ende war. Aber das ist vorbei. Wenn sie mich begraben, werden Trommeln und Trompeten dabei sein und keine einzige verdammte Zivilistenstimme.« 9
Cal hörte zu und schwieg. »Lanson ist heimgekehrt«, sagte Joby. »Ihm hat es gereicht.« »Ich weiß.« »Er sitzt jetzt im Kongreß und vertritt South McMurdo.« »Kerr ist auch zurückgekehrt und macht fette Geschäfte. Tiefseefarmen in der Nähe von Brasilien. Der liegt bestimmt richtig.« »Stimmt nicht!« verbesserte Joby. »Er trägt eine andere Uniform, 127. Panzersturm-Gruppe. Ich weiß es von der Ballistik-Abteilung. « »Well, und es gefällt ihm. Ich habe einen Brief bekommen …« »Ich nehme an, nach einiger Zeit …« »… wir müssen unterscheiden!« sprach Runyon plötzlich wieder laut und fest. »Den einen vom anderen. Den Unschuldigen vom Schuldigen. Den Verteidiger von den Angreifern. Das …« Seine Stimme wurde wieder zu unverständlichem Gemurmel. »Viele kehrten in die Heimat zurück«, nahm Walk das unterbrochene Gespräch wieder auf. Cal schreckte aus seinem Dämmerzustand empor und sah in Walks Richtung. Er konnte den anderen nicht sehen, aber er konnte sich das plötzliche Aufblitzen der weißen Zähne in Walks ledernem Gesicht vorstellen und den fragenden Blick, der auf ihn gerichtet war. »Du meinst Runyon?«, fragte Joby. 10
»Genau.« »Ich weiß nicht, warum die altgedienten Militärs in der Regierung der Entwicklung nicht Einhalt gebieten. All die guten Männer und Frauen, die wir gegen die Griella verloren haben! Und jetzt gegen die Lehaunan! Und jetzt stekken sie die Soziologen, diese Weichlinge, in Uniformen und werten uns damit ab. Sie sollen den Frieden wieder herstellen und möchten am liebsten alles, was wir mühsam erobert haben, zurückgeben. Wer, zur Hölle, hat es denn nötig, intergalaktische Rassen zu Freunden zu machen? Wir können doch gut auf sie verzichten. Mehr noch, wir können sie schlagen, oder etwa nicht?« »Zivilisten!« schnaubte Walk verächtlich. »Wir haben doch keine Hohlköpfe in der Regierung. Was ist bloß los mit denen?!« »Das kann ich dir sagen«, antwortete Walk, und wieder meinte Cal das Aufblitzen seiner weißen Zähne in der Dunkelheit zu sehen. »Sie heiraten Zivilistenmädchen, sie haben normale Bürger als Verwandte. Das beeinflußt ihr Urteil.« »Eines Tages wird irgendeine Gruppe von uns zurückkehren, aber mit einem bewaffneten Raumer.« »Und – gegen das Hauptquartier kämpfen?« fragte Joby. »Das Hauptquartier ist auf unserer Seite.« »Warum schicken sie uns dann nicht zurück?« wollte Joby wissen. »Was würde denn geschehen, wenn du, ich und wir alle einfach zurückgehen?« 11
»… nur junge Männer sollten in den Krieg ziehen«, ließ sich plötzlich die Stimme von Runyon wieder laut und deutlich vernehmen, »damit die Staatskasse nicht allzu sehr belastet wird und …« »Ich denke, ich kehre zurück«, fuhr Joby fort und erhob dabei seine Stimme, um das Gerede von Runyon zu übertönen. »Na schön, ich habe einen guten Ruf als alter Kämpfer. Ich bekomme meine Pension und dazu ein Stück Land. Warum sollte ich noch kämpfen? Ich sollte wirklich hier Schluß machen.« Es entstand eine kleine Pause, während der nur Runyon etwas von der Ehre murmelte, als Soldat zu sterben. »Nein«, setzte Joby wieder ein, und seine Stimme klang fest. »Nein, ich glaube nicht, daß ich’s tue. Wir können den Gedanken an einen geruhsamen Lebensabend getrost fallen lassen.« »Richtig. Denk nicht mehr daran«, stimmte Walk zu. Das Geräusch von Schritten kam den Abhang herunter. »Korp?« »Hier«, antwortete Cal. »Well, es geht weiter«, hörte man Tack sagen, der wieder in ihrer Mitte angelangt war. »Ich habe da oben bei Djarali gesessen und selbst so einen Wagen beobachtet. Es ist ein Lastwagen. Er kommt aus einem Stollen im Hügel, fährt dann in die befestigte Stadt, und zwar bis ans andere Ende. Alle zwölf Minuten kommt ein Wagen. Djar sagt, er hätte weitere neun gezählt, seit er da oben ist. Und er hat keinen gesehen, der zurückkommt.« 12
»Und der Waffenstillstand endete bei Sonnenuntergang«, warf Joby ein. Cal stand auf. Er blickte durch die Finsternis zurück, dahin, wo die anderen dreiundachtzig Männer warteten. Er sah vor seinem geistigen Auge die schweren Waffen und das Material da unten im Schutz einer kleinen Bodensenke. »Walk«, sagte er dann, »geh zurück an den Fernsprecher und sage ihnen, daß ich Instruktionen verlange, und wenn sie vom General persönlich kommen. Und sage ihnen, wenn sie schon keinen Krankenwagen schicken wollen, dann sollen sie wenigstens einen Boten mit Verbandsmaterial schicken. Joby kann ihm nicht immer die Nervenleitung blockieren. Tack!« »Hier, Cal!« »Hast du deine Zeichenmappe und den übrigen Kram bei dir?« »Ich habe eine Taschenausrüstung.« »All right, nimm sie mit.« Cal begann, seine Uniform aufzuknöpfen und die Waffen abzulegen. »Wir beide machen jetzt einen Spaziergang in die Stadt.« »Mitten zwischen den Lehaunan?« fragte Walk. »Ganz recht. Du übernimmst hier den Befehl, bis wir zurück sind. Ich will versuchen, herauszufinden, was diese Lastwagen in die Stadt bringen. Fertig, Tack?« Man hörte aus Tacks Richtung etwas klirren, und dann fiel dessen Schutzanzug auf den Boden. »Fertig. Aber Korporal, Sir …« Tacks Stimme kletterte 13
nach oben, als wolle sie den hohen Tonfall eines Rekruten nachahmen, »ich meine … ist das nicht ein freiwilliger Auftrag?« »Halt den Mund«, befahl Cal, »du hast zu gehorchen. Hier werden keine Spielchen gemacht. Walk, gib uns drei Stunden. Danach kannst du machen, was du willst.« »In Ordnung. Viel Vergnügen.« »Wir werden schon auf unsere Kosten kommen.« Cal ging am Fuß des Hügels entlang und hörte hinter sich die Schritte von Tack.
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ZWEITES KAPITEL In der Stadt der Lehaunan gab es eine Fülle von Licht. Das Licht kam von großen, glühenden Säulen, die die Straßenbeleuchtung bildeten. Es sollte eine milde Beleuchtung sein, aber für menschliche Augen war das Licht grell und blendend. Es strahlte die kugelförmigen Häuser und die eigenartigen Auswüchse an, die wie Halbzylinder aussahen und zwischen den Gebäuden aus dem Boden ragten. Es gab keine richtigen Straßen, sondern einfach nur freie Plätze zwischen den Häusern. Cal mußte seinen Weg auf gut Glück suchen, denn er hatte nicht gewagt, auch nur so ein einfaches mechanisches Instrument wie einen Kompaß mitzunehmen, nachdem die Lehaunan kurz zuvor so heftig auf Runyons Tonbandgerät reagiert hatten. Cal kannte aber die Richtung, und so ging er so gerade wie möglich auf den befestigten Teil der Stadt zu, wo die Lastwagen verschwunden waren. Nachdem er sich eine Viertelstunde lang an den Häusern vorbeigewunden hatte, setzte er sich auf einen der Halbzylinder und wartete darauf, daß Tack wieder zu ihm aufschließen würde. Es gab hier auf dem freien Platz vor ihm zwei von den Leuchtsäulen. Eine war fünf Meter hoch und maß einen Meter im Durchmesser, die andere war vielleicht zwei Meter fünfzig hoch, hatte aber nur einen Durchmesser von einem halben Meter. Beide glühten in einem intensiv hellgelben Licht. Das Licht tat den Augen weh, aber die run15
den Mauern in zwanzig Meter Entfernung waren nur undeutlich zu erkennen. Während Cal dasaß, kamen einige erwachsene Lehaunan in ihrem schwarzen Pelz vorüber, aber alle warfen ihm nur einen gelegentlichen Blick zu. Trotzdem schienen sie sofort das Fehlen seiner Waffen zu bemerken. Was Tack zurückgehalten hatte, war ein junger Lehaunan, der wie ein metergroßer Waschbär mit schwarzem Fell aussah. Tacks Zeichenblock und Stifte hatten ihn anscheinend fasziniert, und nun folgte er dem Soldaten neugierig. In dem unwirklichen Licht der Leuchtsäulen gaben sie ein merkwürdiges, zum Lachen reizendes Paar ab. Tack schien sogar Bilder für seinen kleinen Verfolger zu zeichnen. »Beeil dich«, sagte Cal – ein klein wenig verwundert. »Bin schon da, Korp«, antwortete Tack. Er machte einige Schritte auf Cal zu, dann blieb er wieder stehen, um ein paar weitere Striche der Zeichnung zuzufügen, die keine zehn Zentimeter von der neugierigen gelben Nase seines Begleiters entfernt war. »Er ist ein nettes Kerlchen, weißt du?« »Das seh ich«, antwortete Cal, und dabei schweiften seine Gedanken zu Walk Blye ab. Der Mann begann eine Gefahr zu werden. Walk hatte etwas gegen ihn. Er war wie der Wolf, den die Gruppe einmal als verlassenes Jungtier gefunden und als Maskottchen mitgenommen hatte, bis er tollwütig wurde und erschossen werden mußte. Er preßte sich an 16
die Knie und schob seinen Kopf nach vorne, wenn man ihn streichelte. Und dann plötzlich spürte man einen leichten Schlag gegen die Hand, und das Blut quoll aus einem dünnen Riß in der Haut, wo das Tier einen verletzt hatte. Was Walk betraf, so verletzte er nur durch Worte. »In Ordnung«, hatte er gesagt, als Cal und Tack aufbrachen, »viel Vergnügen«. Cal war schon einige Meter den Abhang hinaufgestiegen, als ihm bewußt wurde, daß diese Worte nicht in dem üblichen Tonfall freundlicher Ironie gesprochen worden waren, sondern voll höhnischer Verachtung. Als ob Cal nicht zu einem riskanten Unternehmen aufbrechen würde, sondern sich nur vor einer unangenehmen Aufgabe drükken wollte, die nun für Walk zurückblieb. Genau wie der Wolf hatte Walk ohne eine Warnung zugeschlagen. Und Cal wurde klar, daß mit dem Mann etwas nicht stimmte. Das Bittere daran war nur, daß Walk gleichzeitig Cals ältester Freund war. Sie waren zusammen zum Militär gekommen und hatten sich schon oftmals gegenseitig das Leben gerettet … Cal sah ungeduldig hoch. Tack und der junge Lehaunan waren gute sechs Meter von ihm entfernt und immer noch in ihre Zeichnung verrieft. Cal stand schwerfällig auf und stakte zu ihnen hinüber. »… Kaninchen, siehst du?« Tack deutete auf eine Zeichnung, die er gemacht und dem jungen Lehaunan in die Hand gedrückt hatte. »Siehst du die Ohren, die Löffel? Ein Kaninchen. Sag mal Kaninchen.« 17
»Kan …« versuchte der Lehaunan, »Kanch … Kachch …« »All right«, sagte Cal. »Das reicht.« Er warf schnell einen Blick in die Runde, ob kein erwachsener Lehaunan zu sehen war, aber die Luft war rein. »Weg!« Er machte noch zwei Schritte vorwärts und schubste den Kleinen weg. »Scher dich weg!« Der Lehaunan schrie auf und wich ein paar Schritte zurück, hielt aber immer noch die Zeichnung Tacks fest gepackt. Er wimmerte leise und sah Tack an. »Korp!« sagte Tack. »Sei still!« forderte Cal abrupt. Er machte noch einen Schritt auf den Jungen zu. Der zögerte, dann hielt er Cal scheu das Papier mit der Zeichnung entgegen. »Kanchch …«, sagte der junge Lehaunan unsicher. »Los!« fauchte Cal und schob sich weiter vorwärts. Der Lehaunan schrie auf und flüchtete in die Dämmerung zwischen zwei entfernteren Gebäuden. Cal sah sich schwitzend um. Aber es waren noch immer keine Erwachsenen zu sehen. Er seufzte erleichtert. Gerade war er noch vor Erschöpfung wie ausgelaugt gewesen, und jetzt, von einem Augenblick zum anderen, fühlte er sich wieder so stark, als könne er Bäume ausreißen. Es wurde ihm wieder einmal klar, daß er ein Soldat mit Autorität und Verantwortung war. Er war jetzt hellwach. Cal wandte sich um und übernahm die Führung. Tack folgte ihm. Cal konnte den Ärger des jüngeren Soldaten im Nacken spüren. 18
»Hör zu!« sagte Cal, ohne seine Schritte zu verlangsamen oder sich umzudrehen. »Du hast den Zeichenblock, um militärische Informationen über diese Stadt festzuhalten. Und nicht zum Privatvergnügen. Gerade weil die Lehaunan uns hier herumlaufen lassen, wenn wir keine Waffen tragen, bedeutet das noch lange nicht, daß sie harmlos sind. Du hast ja gesehen, was mit Runyon passierte, als er einen der Erwachsenen mit einem Tonbandgerät aufsuchen wollte – und zu der Zeit war sogar noch Waffenstillstand.« Cal machte eine Pause. »Hörst du zu?« »Ich höre«, erwiderte Tack hinter ihm. »Na schön.« Sie gingen weiter. »Und wenn es dich stört, daß ich den Kleinen so hart angepackt habe, dann denk dran, daß die richtige militärische Praxis noch was ganz anderes verlangt hätte. Wir hätten ihm den Kopf abschneiden und den Leichnam irgendwo verstecken müssen, damit er nicht verraten kann, was wir hier tun.« Tack sagte irgendetwas, das Cal nicht verstand. »Was ist?« »Ich sagte«, murmelte Tack, »daß ich ihn hätte wegschicken können, ohne ihn so hart anzupacken. Du hättest nur etwas zu sagen brauchen.« »Ich habe keinen Grund, dir vorher was zu sagen.« Sie gingen weiter. Nach fünf Minuten kamen sie an die Mauer, hinter der die Wagen verschwunden waren. Sie gingen außen ganz herum, sahen aber keine Möglichkeit, über die Mauer zu klettern oder wenigstens einen Blick hinüberzuwerfen. Es gab keine Möglichkeit, auf die ande19
re Seite zu kommen – mit Ausnahme eines hohen schwarzen Tores. Tack machte eine Reihe von Skizzen, aber schließlich mußten sie doch unverrichteter Sache wieder abziehen. »Wir können es von hinten herum versuchen, von dem Hügel aus«, meinte Tack. »Keine Zeit«, gab Cal zurück. Er sah auf das Zifferblatt seines Chronometers. »Noch fünf Stunden bis zur Dämmerung. Machen wir uns auf den Rückweg.« Auf ihrem zweiten Gang durch die nächtliche Stadt der Lehaunan sahen sie den jungen Fremdling nicht wieder. »Korporal?« fragte Jobys Stimme, als Cal und Tack den Abhang des Hügels wieder herunterkamen und den Platz erreichten, wo der Feldfernsprecher installiert war und die restlichen Männer warteten. »Joby?« fragte Cal zurück. »Wie kommst du hierher? Hat Runyon es nicht mehr durchgehalten?« »Doch, er lebt noch. Eine Sanitätshelferin hat den Weg bis hierhin zu Fuß gemacht. Sie erinnern sich sicher an Leutnant Anita Warroad; sie kam letzten Monat mit der Ablösung. Die kleine Brünette.« »Nein«, erwiderte Cal kurz. »Hat sie Medikamente mitgebracht?« »Ja. Sie hat ihm fürs erste geholfen.« »Neuigkeiten vom Hauptquartier?« »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, berichtete Joby weiter. »Es wurde ein Befehl von General Harmon an alle Einheiten ausgegeben: Bis auf weiteres 20
soll jeder Gruppenführer nach eigenem Ermessen handeln, aber die Stellungen müssen gehalten werden.« »So«, machte Cal gedehnt. Er überlegte einen Augenblick. »All right«, entschied er dann. »Ruf die Leute zusammen, damit ich zu ihnen sprechen- kann, Joby. Wo ist Walk?« »Hier«, antwortete dessen Stimme aus solcher Nähe, daß Cal zusammenfuhr. »Möchte mit dir reden.« Cal ging ein paar Schritte abseits in die Dunkelheit hinein und hörte, wie Walk ihm folgte. Als er stoppte, blieb Walk auch stehen. »Dieser Befehl«, sagte Cal, »überläßt alles mir.« »Stimmt«, antwortete Walk mit ausdrucksloser Stimme. Cal wartete einen Moment, aber Walk sprach nicht weiter. »Hast du eine Idee?« »Es ist deine Sache.« »Ja – ich glaube, du hast recht. Es ist meine Angelegenheit. Na schön!« Er drehte sich um und ging wieder zurück. Er hörte die Schritte Walks hinter sich, die ihn zu verhöhnen schienen, Cal zählte ein Dutzend Schritte, dann blieb er stehen. »Joby?« fragte er in die Dunkelheit. »Alle angetreten«, antwortete Joby. »In Ordnung, Leute. Zählen wir ab. Eins?« »Hier«, antwortete eine Stimme aus der Nacht. 21
»Zwei?« »Hier.« »Drei?« »Ja.« Er ging die ganze Liste seiner Abteilung durch – alle waren da; dreiundachtzig harte Kämpfer, dazu noch Tack, Joby und Walk, die auf seine Befehle warteten. »Morituri te salutant!« hörte er plötzlich laut und deutlich die Stimme seines Vaters durch die Nacht schallen. »Ave, Caesar!« Von abergläubischem Schrecken gepackt, klappte er hart seinen Mund zu und merkte dabei, daß er selbst gesprochen hatte – haargenau mit dem Akzent seines Vaters. Er stand einen Moment wie erstarrt da und wartete auf Fragen; aber keiner sagte etwas, keine Stimme stellte Fragen. Er atmete auf. »Wahrscheinlich«, dachte er bei sich, »ist keiner unter ihnen, der den uralten Gruß der römischen Gladiatoren kennt, zumal auf lateinisch. ›Jene, die dem Tode geweiht sind …‹« Er scheuchte die Gedanken mit einer heftigen Kopfbewegung von sich und räusperte sich. »Also dann«, begann er und räusperte sich erneut. Er sprach jetzt lauter. »Ihr alle kennt unsere Lage. Der Waffenstillstand war bei Sonnenuntergang zu Ende. Wenn es erst zu dämmern beginnt, werden die Lehaunan da unten in der Stadt versuchen, uns zu schlagen, zumal sie anscheinend Nachschub aus den Bergen erhalten. Ihr wißt ja von den Lastwagen, die in das befestigte Gelände der 22
Kraftstation seit gestern abend einfahren. Wenn wir also bis zur Morgendämmerung warten, schnappen sie uns. Wenn wir aber jetzt schon losschlagen, haben wir eine wirkliche Chance, da sie nachts nicht kämpfen.« Er hielt inne. Keiner sagte etwas. »Und deshalb werden wir so handeln«, fuhr Cal fort. »Wir schlagen gleich los. Nehmt eure Waffen, am besten nur Gewehre. In fünf Minuten ziehen wir in einer langen Schützenkette los. Wenn wir die Stadt erreicht haben und ich das Signal gebe, dann schlagen wir uns schießend und kämpfend einen Weg durch die Stadt bis zum Kraftwerk. Das ist alles! Unterführer zu mir!« Die restlichen Unterführer – die Gruppe war schon sehr zusammengeschmolzen, versammelten sich um ihn. Sie bekamen ihre speziellen Befehle. Sobald Cal die Befehle ausgegeben hatte, suchte er die Sanitäterin auf, die Runyon betreute. Er fand sie in derselben undurchdringlichen Finsternis, in der er den Kontaktoffizier zurückgelassen hatte. »Schwester?« fragte er und starrte in die Dunkelheit. »Wir sind hier drüben, Korporal«, antwortete ihm die Stimme einer jungen Frau. Sie klang in Cals Ohren heimatlich und vertraut. »Sie kennen mich? Habe ich Sie schon mal getroffen, Leutnant?« fragte Cal. »Sie kamen letzte Woche in die Krankenstation wegen der Verwundeten«, antwortete sie. Cal nickte. Er erinnerte sich jetzt an sie, ein zierliches Mädchen mit unergründli23
chen dunklen Augen. Man hatte die Einteilung der Krankenwagen neu organisiert, und sie hatte Cal geholfen, den neuen Mann zu finden. »Ah, ich erinnere mich«, sagte Cal. »Leutnant, wir brechen jetzt alle auf«, fuhr er dann fort. »Wir müssen Sie mit dem Kontaktoffizier allein lassen. Ich kann Ihnen nicht mal einen Mann zur Bedienung des Feldtelefons zurücklassen. Aber wenn Sie sich hier ruhig verhalten, passiert Ihnen nichts. Beim Morgengrauen wird bestimmt ein Wagen geschickt.« »Cal …« Es war Runyons Stimme, schwach, aber nicht länger vom Fieber verwirrt. »Du darfst die Stadt nicht angreifen.« »Wenn Sie möchten, Schwester, können wir Sie und Leutnant Runyon zu unserem Lagerplatz bringen.« »Cal«, versuchte es Runyon noch einmal, »Cal, hörst du? Sie denken anders als wir, diese Lehaunan. Ich bin sicher, daß sie glauben, der Waffenstillstand gelte noch bis zur Dämmerung. Verstehst du nicht, was es dann bedeutet, wenn du jetzt angreifst? Sie würden es als Beweis dafür nehmen, daß wir den Waffenstillstand brechen …« »Tut mir leid«, unterbrach ihn Cal, »wir wollen nur einem Angriff von ihrer Seite vorbeugen, Leutnant. Und jetzt, Schwester …« »Du kannst das nicht tun«, protestierte Runyon, »es ist Mord.« »Was verstehst du denn davon, Feigling?« explodierte 24
Cal plötzlich. »Du hattest eine Theorie über unsere Lage. Na wenn schon, werde selig damit. Zum Teufel mit deiner Ethik. Kannst ja sehen, ob sie dir dein Rückgrat ersetzt …« »Korporal!« Cal wurde von der kleinen, in der Dunkelheit unsichtbaren Hand der Schwester heftig beiseite gezogen. »Dieser Mann ist schwer verwundet. Und er steht im Offiziersrang. Sie können doch nicht …« »Ich befehle hier!« Cal befreite sich mit einem heftigen Ruck. »Denkt daran, beide! Wir sind im Krieg, und ich habe die Verantwortung. Tun Sie also, was ich sage!« Er drehte sich brüsk um und ging. »Cal!« Es war Runyons Stimme, die hinter ihm herrief. »Cal …« »Walk?« fragte Cal, als er die Truppe wieder erreicht hatte. »Unterführer?« »Hier!« antwortete Walk, und auch die Unterführer meldeten sich. Zwischen den Geräuschen konnte er noch immer die Stimme von Runyon rufen hören, der sich gegen die Versuche von Schwester Anita, ihn zu beruhigen, wehrte. »Vorwärts, los, Leute!« Cal schritt voran und führte seine Leute am Fuß des Hügels der fernen Stadt zu, deren Lichter sich am Himmel widerspiegelten. Hier setzte sein Erinnerungsvermögen aus. Später konnte er sich nur an unzusammenhängende Bruchstücke, wie in einem schlecht gedrehten Film, erinnern: Sie hatten sich aufgefächert und gingen in einer langen 25
Schützenkette die andere Seite des Hügels hinab. Die Stadt lag vor ihnen, aber sie war noch weit weg und klein, von bernsteinfarbenem Licht überstrahlt. Der Abhang war steil, und Cal hörte, wie einige der Männer strauchelten, weil ihre Ausrüstung zu schwer war, wie sie durch Kies und Steine ein Stück weit hinunterrutschten, bis sie in der Finsternis wieder richtig Fuß gefaßt hatten. »Anschluß halten! Aufrücken, Leute!« mußte Cal immer wieder rufen. Schließlich antwortete ihm eine keuchende Stimme: »Verflucht noch mal, wie können wir denn zusammenbleiben, wenn ich mich selbst kaum auf den Beinen halten kann?« Ein hysterisches Lachen ertönte neben Cal – und brach ebenso schnell wieder ab, als hätte der Mann gemerkt, daß der Tod ihr Begleiter war. Sie waren zu einer weiten Schützenkette ausgeschwärmt und bewegten sich nun über den flachen Boden der bebauten Felder in Richtung auf den beleuchteten Rand der Stadt zu. Dort warteten sie darauf, daß Cal das Signal zum Angriff gab. »Cal?« Es war Walks Stimme, die urplötzlich und unheimlich nahe neben ihm ertönte. »Was tust du hier? Du sollst uns doch den Rücken dekken!« zischte Cal. »Jawohl. Und ich gehe sofort wieder zurück«, erwiderte Walk. »Wollte nur sehen, ob wir dich immer noch an der Spitze haben – das ist alles.« 26
Cal fühlte, wie ihn die Wut packte. Er atmete erst einmal tief ein, ehe er beherrscht sagte: »Mach, daß du auf deinen Platz kommst!« Walk lachte spöttisch, und das Lachen verlor sich langsam hinter Cal in der Nacht. Cal ging in gleicher Gangart weiter. Als er nur noch ein paar Meter von dem äußeren Ring der Lichter entfernt war, nahm er seine Signalpfeife in den Mund und gab das vereinbarte Signal. Mit gellendem Geschrei stürmten die terranischen Soldaten vorwärts. Das grelle Licht machte sie zu schwarzen Schatten. Ihre Kampfanzüge wirkten plump und unbeweglich, aber sie wichen geschickt den kuppelförmigen Gebäuden und den anderen Auswüchsen auf den freien Plätzen aus. Ihre Waffen spieen kleine, blasse Flämmchen, und bei jedem Schuß hörte man einen trockenen Knall – wie das Brechen dürren Holzes. Cal brüllte auf und rannte vorwärts. Die Waffe in seiner Hand feuerte unaufhörlich. Es war eigentlich nur ein Tontaubenschießen, wie beim Schützenfest. Gegenwehr gab es kaum. Die Terraner rannten zwischen den Gebäuden weiter und ermunterten sich dabei gegenseitig durch Zurufe. Schwarzbepelzte tote Körper lagen zwischen den Gebäuden umher, manchmal halb zwischen die dreieckigen Eingangstüren geklemmt. Die Leuchtsäulen schienen gnadenlos auf sie herab und beleuchteten die ganze Szene mit ihrem grellen Licht. Auch die Häuser waren beschädigt worden. 27
Schließlich kamen sie zu den hohen schwarzen Toren, hinter denen Cal das große Geheimnis vermutete. Sie hatten die Schlösser zerschossen, aber die Tore selbst ließen sich immer noch nicht öffnen. Einer der Männer faßte sich ein Herz und begann an einer der schmaleren Leuchtsäulen zu wippen. Sie neigte sich nach vorn und fiel schließlich. Als sie den Boden berührte, prallte sie wieder zurück wie eine Feder. Als sie dann endgültig fiel, erwischte sie einen Soldaten, der nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen war, am Bein. Der Soldat stürzte und blieb liegen. Sein Bein sah unterhalb des Knies seltsam verrenkt aus. Der Mann brach in schrille Schreie aus. Joby, der neben ihm stand, packte die Wut. »Warum paßt du nicht auf, wo du stehst?« brüllte er den Mann mit dem gebrochenen Bein an. Der Verwundete verstummte urplötzlich. Walk feuerte die anderen an, die Säule hochzunehmen. Zwanzig von ihnen packten zu. Cal fand sich an der Spitze der Männer wieder. Sie hielten die Säule wie einen Rammblock vor sich und rannten auf das Tor zu. Es dröhnte und bebte in seinen Fugen, und die Leuchtsäule prallte so heftig zurück, daß die Soldaten sie beinahe fallen gelassen hätten. »Noch mal!« brüllte Cal. Sie rannten wieder auf das Tor zu, und diesmal brach es auf und flog nach innen. Dort hatten sich einige Lehaunan mit Handwaffen versammelt und begannen sofort zu feuern. Sie hatten die Lehaunan überrannt. Es war nur eine 28
Handvoll gewesen. Die Terraner schwärmten aus und liefen auf eins der lastwagenähnlichen Fahrzeuge zu. Unter Einsatz aller Kräfte wurde eine Plane von dem Wagen gezogen. Darunter zeigte sich eine Ladung Gesteinsbrocken. »Erz!« rief irgendjemand. »Erzwagen!« Die Männer schrien vor Enttäuschung. Cal erstarrte. Es war ihm, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen, als bräche das ganze Universum über ihm zusammen … Er saß auf einem der halbzylinderförmigen Auswüchse, mitten auf einem freien Platz zwischen den kugeligen Häusern. Es dämmerte, und ein schwaches, rosagelbliches Licht überzog die Häuser. Ein kalter Wind war aufgekommen und spielte in dem Fell eines toten Lehaunan, der in unmittelbarer Nähe lag. Er wehte weiter und strich über die schwarzen Haare einer Lehaunanfrau, die in einen der dreieckigen Eingänge gefallen und dort liegen geblieben war. Ein junger Lehaunan – ähnlich dem, den Cal bei seinem ersten Besuch in der Stadt vertrieben hatte – versuchte die Tote in das Haus zu ziehen und murmelte dabei vor sich hin. Er entdeckte Cal, und für einen kurzen Augenblick steckte er seine gelbe Nase forschend in Cals Richtung. Dann verschwand er. Cal saß da und sah zu, wie der Wind in dem Fell des Toten spielte, der in seiner Nähe lag. Er dachte an den Kleinen, den er gerade gesehen hatte, und seine Finger 29
umkrampften die Waffe, die auf seinen Knien lag. Das war alles. Er hatte das vage Gefühl, daß er vor einer bedeutenden Entscheidung stand, aber es hatte keine Eile damit. Er sah wieder auf die Figuren, die der Wind in den schwarzen Lehaunanpelz zeichnete. Da war ein Geräusch direkt neben ihm, eine Stimme. Er sah sich langsam um. Es war der junge Lehaunan von eben. So aus der Nähe sah er noch vertrauter aus. Er hielt Cal ein schmutziges Stück Papier entgegen. »Kanchch …« sagte der Junge schüchtern. Cal starrte auf die kaum wiedererkennbare Zeichnung eines langohrigen Kaninchens. »Kanchch … chen?« fragte der Kleine. In dem wehenden Wind spürte Cal etwas Kaltes in seinem Gesicht. Er fuhr mit seiner Hand über das Kinn und die Backen, und sie kam naß zurück. Er weinte. »Kannechch… chen?« fragte der junge Lehaunan hoffnungsvoll.
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DRITTES KAPITEL Das nächste, woran Cal sich erinnerte, war, daß er sich in einem weißen Bett wiederfand, festverschnallt, damit er während des schwerelosen Flugs nicht wegschweben konnte. Über sich sah er den Rahmen und die Federn eines anderen Bettes. Durch eine Menge solcher Betten hindurch konnte er ein Stückchen der Decke sehen, eine weiß lackierte Metallfläche. Er hatte einen dicken Verband um sein linkes Bein, und auch unterhalb des Brustkorbs waren weiße Bandagen. Er hörte das Stöhnen von Männern, deren Schmerzen nur unvollkommen von Betäubungsmitteln unterdrückt wurden. Schließlich kam ein junger Mann mit einer Hochdruckspritze zu ihm. »Wohin werde ich gebracht?« fragte Cal mühsam. »Zum HQ-Hospital, zurück zur Erde«, antwortete ihm der Bursche. Er war sauber rasiert und hatte ein unbewegtes Gesicht. Er fand Cals Arm unter den Befestigungsriemen und zog ihn heraus. »Was ist mit mir los?« »Nichts Schlimmes. Bein verbrannt«, antwortete der Bursche kurz und drückte dabei die Spritze gegen Cals Arm. »Und ’nen kleinen Kratzer an der Seite.« Sein ausdrucksloser Blick traf Cals Augen. »Von einem Strahler, sagt der Bericht.« Er drückte auf den Knopf an der Spritze, und Cal versank wieder in Bewußtlosigkeit. Danach begann ein Zeitraum, an den er sich nur verschwommen erinnern konnte. Das Bein begann zu 31
schmerzen. Zwischen den Beruhigungsspritzen, nach denen er immer sofort in tiefe Bewußtlosigkeit versank, merkte er nur dunkel, daß sie das Hospital des Hauptquartiers erreichten – es lag bei Denver, auf Terra – und daß man sein Bein operierte. Dann gab es eine kurze Zeitspanne, in der es ihm schien, als sei sein Geist vom Körper getrennt. Plötzlich, ohne irgendeinen Übergang, fand er sich in dem Buchladen seines Vaters wieder. Sie waren in dem abgegrenzten Privatraum, in dem seines Vaters Sammlungen untergebracht waren, keine Mikrofilme, sondern richtige, gebundene Bücher, die viele Regale füllten. Cal stand vor seinem Vater, der hinter dem Schreibtisch saß, und sah ihn an. Ober dem Kopf seines Vaters sah er in einem vergoldeten Spiegel sein eigenes Gesicht – als Siebzehnjähriger. Und auf einem kleinen Bücherbord darunter stand eine Schnitzerei, die Bellerophon zeigte, wie er das geflügelte Roß Pegasus raubte. Flankiert war sie zu beiden Seiten von weiteren Büchern, links die Werke von Spengler, rechts die von Churchill. Der starke Arm des griechischen Sagenhelden umschlang den Nacken eines geflügelten Wesens und zwang es zu Boden. Die Flügel waren ausgebreitet, wie um den Widerstand zu verstärken, und der edelgezeichnete Pferdekopf war dem Gegner zugewandt. Die mächtigen Schultern des Tieres krümmten sich vor Anstrengung, und nur ein Vorderbein war unter dem Druck des Mannes eingeknickt. »Natürlich kannst du mich daran hindern«, hörte sich 32
Cal sagen, so wie er vor acht Jahren wirklich gesprochen hatte. »Ich bin noch keine achtzehn. Du kannst anrufen und sagen, ich hätte nicht deine Erlaubnis, mich freiwillig zu melden.« Er sah auf seinen Vater herunter, der in seinem alten Arbeitsstuhl mit den geschnitzten Armlehnen saß und seine sehnigen Arme auf den Schreibtisch gestützt hatte. Sein ruhiges, grobknochiges Gesicht blickte zu seinem Sohn empor. »Möchtest du, daß ich anrufe?« fragte er. »Du weißt, was ich möchte«, war Cals Antwort. »Ja«, gab Leland Truant zu, »du möchtest zusammen mit anderen zu fremden Sternen aufbrechen, neue Welten unterwerfen …« Er unterbrach sich. »Nein, das ist unfair von mir. Du willst, wie einst Siegfried, den Drachen erschlagen, das ist alles. Es wundert mich nicht sehr.« »Und du …« Cal sah wieder im Spiegel sein weißes Gesicht, »möchtest, daß ich hier bleibe und zu den Partys deiner verweichlichten Freunde gehe.« »Jetzt bist du unfair«, erwiderte sein Vater. »Ich habe nie versucht, dich von meiner Lebensauffassung zu überzeugen.« »Nein! Das wäre nicht richtig, nicht wahr? Das wäre nicht der sanfte Weg, das wäre Vergewaltigung eines freien Geistes.« »Nicht ganz«, verbesserte der alte Truant. »Was heißt das: nicht ganz?« Cals Stimme überschlug sich. 33
»Es wäre einfach nicht anständig – deshalb habe ich immer versucht, es zu vermeiden, dich von meinen Anschauungen zu überzeugen. Ein Mann hat viel zu viel Gelegenheiten, seinen Sohn zu beeinflussen, auch unbewußt, ohne daß er es will.« Leland sah einen Augenblick seinen Sohn an. »Wenn du aufhörst, dir etwas vorzumachen, wirst du einsehen, daß ich recht habe. Das einzige, was ich immer getan habe, war, dir ein Beispiel zu geben. Bei deiner toten Mutter – ich glaube nicht, daß ich jemals etwas anderes getan habe.« »Aber du wolltest, daß ich so werde wie du, nicht wahr? Wolltest du das nicht?« »Natürlich«, erwiderte Cals Vater, »jeder, der einen Sohn hat …« »Du gibst es zu, siehst du? Du hattest vor …« »Nein! Ich habe nur gehofft. Und ich hoffe immer noch. Wenn du einmal älter bist, wirst du sicher auch zu einer anderen Lebensauffassung kommen, die nicht das Kämpfen und Töten als alleinseligmachend preist, egal wie man es rechtfertigt.« Er seufzte und rieb sich über die Augen mit einer Geste, die nur ein alter Mensch fertigbringt. »Ich gebe zu, daß ich gehofft hatte, du würdest nicht zur Wehrmacht gehen, bis du reifer geworden bist. Aber ich habe vergebens gehofft. Wenn du also so fest überzeugt bist, dann solltest du deiner Überzeugung folgen.« »Du redest, als wäre es Mord«, gab Cal wütend zur Antwort. »Es ist nicht Mord, wenn ein Soldat tötet!« 34
»Nein?« fragte sein Vater. »Nie? Wenn ein Soldat tötet, ist das immer richtig?« »Ja.« »Wie kannst du nur so sicher sein?« Cal reckte sein Kinn herausfordernd: »Weil das Soldatentum etwas lehrt, nämlich Verantwortung. Jemand, der Verantwortung trägt, läßt sich nicht zu einem ungerechten Töten hinreißen, wie zu einem Mord.« Leland Truant schüttelte langsam seinen Kopf. »Ja, ich begreife, wie kristallklar und richtig das alles für dich klingt.« Er rieb sich wieder über die Augen. »Aber du wirst bald lernen, daß das Leben verwickelter ist, als du jetzt meinst. Wir alle sind potentielle Mörder, Cal. Man braucht nur unsere Gefühle anzustacheln, und wir alle können dazu gebracht werden, zu morden. Und das nicht nur aus einer momentanen Aufwallung heraus, sondern bewußt, grausam, ja sogar grundlos.« »Worte!« rief Cal. »Worte, Worte, Worte! Das ist alles, was du mir immer mitgegeben hast. Was hättest du getan, wenn Mutter noch lebte und irgendein Fremdling, vielleicht eine schuppige Echse, hier eingebrochen wäre, um sie zu töten?« »Ich hätte natürlich gekämpft«, antwortete sein Vater. »Ich hätte die nächstbeste Waffe ergriffen und versucht, ihn aufzuhalten, ihm den Garaus zu machen. Und wenn es mir gelungen wäre«, seine Stimme bekam einen ironischen Klang, »dann hätte ich zunächst mal wilden Triumph empfunden – ich war schließlich damals, als deine 35
Mutter noch lebte, ein gut Teil jünger –; und dann hätte ich mich vielleicht ein wenig vor mir selbst und meiner Fähigkeit gefürchtet, einen bewaffneten Eindringling zu erschießen. Später hätte sich daraus langsam ein Gefühl der Überlegenheit entwickelt und der Wunsch, damit zu prahlen.« »Dann hättest du dich also genauso verhalten wie ich! Was ist dann so falsch an meinem Entschluß? Was?« »Nichts«, erwiderte ein Vater. »Du bist eben noch zu jung.« Er seufzte. »Außerdem ist es vor allem mein Fehler.« Cal starrte den alten Herrn an. »Deiner?« »Ja.« Leland nickte zu den Büchern, die ihn umgaben. »Ich habe geglaubt, die beste Art, einen jungen Mann auf den rechten Weg zu bringen, wäre, ihm so viel Wissen wie nur eben möglich zugänglich zu machen. Ich habe dich mit Bücherwissen vollgestopft, das mir Verständnis und Toleranz nahegebracht hat. Aber ich hatte vergessen, daß es ganz natürlich ist, wenn sich ein Sohn gegen den Standpunkt seines Vaters wehrt. Wo ich Tragödien sah, hast du nur Waffenklirren und Peitschenknallen gehört. Doch du hast die wesentlichen Probleme des Lebens gar nicht begriffen. Und anderes ging einfach zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus.« Sein Vater beugte sich vor und spreizte beide Hände auf die Tischplatte. Cal sah, wie die Adern auf den Handrücken dick hervortraten. »Ich weiß es«, fuhr sein Vater fort. »Ich weiß es, denn 36
mit mir war dasselbe los, als ich jung war. Ich suchte auch nach dem rechten Glauben, schaute aus nach einem Banner, unter dessen Schutz ich mich stellen konnte. Und das war gut so. So sollte man es machen. Aber dann, als ich das Symbol gefunden hatte, machte ich den Fehler, meinen Verstand nicht mehr zu benutzen. Ich dachte, wenn ich mich erst einmal einer guten Sache verschrieben hätte, daß dann alles, was ich täte, automatisch gut wäre.« Er sah seinen Sohn lange und nachdenklich an. »Es ist nichts Unrechtes am Soldatentum, Cal, solange du dir deine eigenen Ideale bewahren kannst. Aber Gott helfe dir, mein Sohn, wenn du sie aufgibst.« Cal öffnete den Mund, um zu sprechen, aber seine Kehle war ausgetrocknet. »Ich tadle dich nicht, weil du dich meiner schämst«, sprach Cals Vater weiter. »Bei deinem Alter muß es für dich doppelt hart sein, einen Vater zu haben, der nicht nur in seiner Jugend gegen die jetzige Regierung opponierte, sondern der auch reuelos genug ist, immer noch an die Gleichberechtigung der Rassen zu glauben und an das friedliche Nebeneinanderleben mit anderen Wesen oder Rassen.« Die Hände seines Vaters kamen plötzlich zur Ruhe, nun waren es die Hände eines alten und müden Mannes. »Nein, ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Und ich täte es nicht, selbst wenn ich es könnte. Wir müssen jeder unseren eigenen Weg gehen – auch wenn es verschiedene Wege sind.« Der Raum schien über Cal zusammenzubrechen. Er 37
glaubte innerlich zu explodieren. Der ganze angestaute Druck der letzten Jahre schwoll an, und Cal platzte mit den grausamsten Worten heraus, die er finden konnte. »Du hast sie immer gehaßt, weil sie dich nicht haben wollten! Deshalb ist sie umgebracht worden! Deinetwegen!« Vor Wut bebend sah er auf den Klumpfuß seines Vaters herab, der unter dem Schreibtisch hervorsah. Dann sah er wieder auf das Gesicht des alten Mannes und stellte fest, daß sich dessen Ausdruck nicht geändert hatte. Er sah ihn traurig an. Cal fühlte, wie seine Wut dahinschmolz. Er verzweifelte. Er hatte das Schlimmste getan, er hatte in den tiefsten Wunden gebohrt. Aber sein Vater saß nur da und weigerte sich, einzusehen, daß er falsch gehandelt hatte. »Alexander der Große und Jesus von Nazareth haben beide große Reiche gegründet«, gab ihm sein Vater zur Antwort. »Wo sind die Anhänger Alexanders heute, Cal?« Cal wandte sich um und stürzte aus dem Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Nebel lichteten sich. Er lag wieder in dem Krankenbett; diesmal in einem langen Raum mit einer ganzen Reihe von Betten an beiden Seiten. Drähte reichten von der Robotschwester, die neben seinem Bett stand, bis zu ihm hin und hielten ihn mit metallischer Unnachgiebigkeit fest. »Wie fühlen Sie sich, Korporal?« fragte die unartikulierte Stimme des Roboters vertraulich. 38
»Ganz gut«, murmelte Cal. Ein weißer, durchscheinender Plastikschlauch tauchte aus dem Körper des Roboters auf und berührte sachte Cals Lippen. »Bleiben Sie schön ruhig, Korporal«, ertönte die Stimme wieder. »Schön ruhig bleiben. Trinken Sie das jetzt!« Es bereitete ihm Mühe, die Lippen zu öffnen und den Schlauch in den Mund zu nehmen. Dann aber floß eine kühle, nach Pfefferminz schmeckende Flüssigkeit über seine Lippen und erlöste seine trockene Kehle. Er schloß die Augen, erschöpft von der kleinen Anstrengung. Das Bewußtsein, in einem Krankenhaus zu liegen, verließ ihn erneut. Walk hatte damals draußen vor dem Rekrutierungsgebäude auf ihn gewartet. Cal sah, wie Walk unruhig auf und ab ging, während er langsam näher kam. Mit siebzehn war Walk dünn wie eine Bohnenstange gewesen. Und unter seinem glatten schwarzen Haar und den dunklen Brauen glühten zwei Augen in einem Feuer, das Fanatismus verriet. »Hast du mit ihm gesprochen?« überfiel er Cal. »Was sagt er?« »Es ist alles in Ordnung«, erwiderte Cal tonlos. »Du bist also frei?« Cal nickte. Er gab sich einen Ruck. »Und du?« Walk lachte. »Ich bin jetzt schon seit Monaten frei. Mein Alter ist froh, daß er mich los ist. Beinahe so froh, wie sie es ist.« 39
Damit erinnerte er an seine Stiefmutter, die zehn Jahre älter als sein Vater war und diesen völlig unterdrückte. Bei Walk hatte sie es immer vergeblich versucht. »Ich werde überhaupt nicht mehr zurückgehen. Und du?« Cal schüttelte den Kopf. »Dann komm!« sagte Walk. »Willst du ewig leben?« Und er wandte sich um und steuerte auf den Eingang des Rekrutierungsbüros zu …
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VIERTES KAPITEL Cal erholte sich langsam und wurde in eine Abteilung für Genesende verlegt. Diese Abteilung stand unter der Leitung von Anita Warroad, der zierlichen Schwester, die die Medikamente für Runyon, den Kontaktoffizier, gebracht hatte. Cal fragte sie nach Runyon, und sie sagte ihm, daß er gestorben sei. Es überraschte ihn, daß sie sich deswegen Vorwürfe machte. Sie dachte, man hätte Runyon vielleicht retten können, wenn sie nur schneller gekommen wäre. Als die Tage vergingen und Cal wieder zu Kräften kam, merkte er, daß sie ihn auch als Frau anzog. Aber er durfte mit ihr keine Freundschaft schließen, denn sie stand ja im Offiziersrang. Aber dann, kurz bevor er entlassen wurde, kam eine Kommission durch und beförderte ihn zum Leutnant. Walk – inzwischen auch Leutnant – und Joby. besuchten ihm am nächsten Tag. Um die beiden Beförderungen zu begießen, hatten sie eine Flasche hereingeschmuggelt. Sie nahmen ein paar unerlaubte Drinks und ließen Cal dann die noch dreiviertel volle Flasche zurück. In jener Nacht, nachdem das Licht aus war, begann er, selbst daraus zu trinken. Ehe er überhaupt etwas merkte, war die Flasche leer. Es war eine Ein-Liter-Flasche hochprozentigen, echten Whiskys gewesen, und er war ziemlich betrunken. Er legte sich flach auf den Rücken und hielt sich fest, damit der Raum aufhören sollte, sich wie ein Kreisel 41
zu drehen. Nach einiger Zeit ließ es auch wirklich nach, und er schlief ein. In der letzten Dunkelheit, so gegen vier Uhr morgens, wachte er wieder auf, schwitzend und mit völlig ausgetrocknetem Mund. Er trank Wasser aus dem Getränkeautomat auf seinem Nachttisch und legte sich wieder zurück. Er fühlte sich hundeelend, er fürchtete sich und empfand seine eigene Nutzlosigkeit. Cal hoffte auf neuen Schlaf, aber alles, was er tun konnte, war, dazuliegen und die Vergangenheit an sich vorüberziehen zu lassen. Szene auf Szene trat in unnatürlicher Schärfe vor seine Augen. Er erinnerte sich an den letzten Streit mit seinem Vater, er machte nochmal die harte Grundausbildung als Rekrut mit, er dachte an die erste Prügelstrafe, die er miterlebt hatte … Der Soldat, den es erwischt hatte, war ein Anwärter aus seiner eigenen Kompanie. Er war siebzehn, genau wie Cal. Der Junge war betrunken gewesen, zum erstenmal in seinem Leben und auf seinem ersten freien Wochenende. Er hatte einen Copter gestohlen und einen Unfall damit gebaut. Die Militärpolizei war als erste am Unfallort erschienen und hatte ihn ins Militärgefängnis gebracht. Dann hatte sich das Oberkommando geweigert, ihn den zivilen Behörden zu übergeben. Den übrigen Anwärtern wurde gesagt, daß das Militär seine Angelegenheiten selbst regeln würde. Man hatte allen angerichteten Schaden wieder gutgemacht, dann mußte die Kompanie antreten, dem Sünder wurden zwanzig Stockschläge verab42
reicht, und schließlich wurde er mit Schimpf und Schande entlassen. Der arme Bursche war in seine Heimatstadt zurückgekehrt, fand dort aber die Tür seiner Eltern für ihn verschlossen – die Zeitungen hatten alles gehörig ausgeschlachtet. Ein anderer Soldat aus derselben Stadt erzählte ihnen später, wie die Geschichte ausgegangen war. Eine Tante und ein Onkel hatten den armen Burschen endlich aufgenommen. Er bekam einen anständigen Job in der Reparaturwerkstatt seines Onkels. Die anderen Angestellten wagten nicht, ihn allzu sehr wegen der Geschehnisse mit dem Copter zu hänseln, weil ja sein Onkel der Chef war. Trotzdem aber – gute drei Monate später – hatte er sich auf dem Dachboden seines Onkels aufgehängt. Genau eine Woche später wäre er achtzehn geworden. Cal selbst wurde es bei der Prügelstrafe keineswegs schlecht, wie einigen anderen der Anwärter. Aber immerhin lag er später doch auf seiner Koje und starrte leer vor sich hin. Jetzt, wo es vorüber war, begannen einige der weniger empfindlichen Soldaten schon laut über die ganze Szene herzuziehen. Cal hörte sie schwatzen, und nach einiger Zeit erklang eine Stimme neben seinem Ohr. »He, Truant! Willst du den ganzen Tag da liegen?« »Und?« antwortete die Stimme Walks von der anderen Seite. »Was dagegen, Sturm?« »Nun«, antwortete Sturm unsicher. Nach sieben Wochen kannten inzwischen alle Anwärter Walk, und niemand wollte Streit mit ihm. Er war bekannt als wilder Raufbold. »Es ist doch nicht sein Bruder gewesen, der die 43
zwanzig Hiebe erhalten hat.« »Nein«, antwortete Walk, »aber er hat als Sechsjähriger gesehen, wie sein Vater sie bekommen hat.« »Sein Vater?« fragte Sturm. »Er hat’s gesehen? Seit wann läßt man denn Kinder …« »Es war nicht beim Militär«, erklärte ihm Walk. In seinem Bett preßte Cal verzweifelt seine Augen zu. »Erzähl es nicht!« versuchte er leidenschaftlich Walk zu beeinflussen, »Sei still!« Aber Sturm fragte schon weiter. »Nein! Wie kam es denn dazu?« »Es war damals während der Unruhen für die Freien Wahlen. Man sandte eine bewaffnete Abordnung in unsere Stadt, um den Aufruhr niederzuwerfen. Der Reserveoffizier dieser Gruppe träumte anscheinend von Ruhm und ähnlichen Dingen. Er ließ eine Reihe der Aufrührer festnehmen und bearbeitete sie, um ihren Anführer in der Stadt zu finden. Es gab gar keinen Anführer, aber schließlich erfuhr er den Namen des bedeutendsten Vertreters für die Freien Wahlen. Es war Cals Vater.« »Well, zur Hölle, wenn er einer von jenen …« »Einer von jenen!« spottete Walk. »Der alte Truant hatte seine Nase nie vor die Tür gesteckt. Seine Frau war in anderen Umstanden, und er wartete bei ihr, um sie jeden Augenblick ins Krankenhaus bringen zu können. Der Captain sandte einen Trupp, um Cals Vater zu verhaften. Der sagte seiner Frau, es wäre nichts, und er wäre bald zurück. Aber von ihrem Fenster auf der ersten Etage 44
konnte sie den Platz vor ihrem Haus beobachten. Fünfzehn Minuten später konnte sie sehen, wie eine Menschenmenge zusammen mit den Soldaten Cals Vater zu einem Pfahl schleppte. Sie sandte Cal voraus, um ihnen zu sagen, sie möchten warten, sie würde versuchen zu kommen. Aber sie fiel die Treppe hinunter, hatte eine Fehlgeburt und verblutete. Nun, hast du immer noch schlaue Fragen an Cal?« Ein drückendes Schweigen folgte. »Well«, sprach schließlich die Stimme von Sturm wieder, »wie kam es, daß der Captain das Recht hatte, so mit einem Zivilisten zu verfahren?« »Er hatte es gar nicht«, antwortete Walk. »Es scheint, als hätte man ihn danach ausgebootet. Der alte Truant hat später ein Entschuldigungsschreiben von der Regierung erhalten, mit dem Angebot, alles wieder gutzumachen. Aber bis dahin war seine Frau bereits unter der Erde und die fünfzig Hiebe waren verschmerzt. Außerdem – er ist ein sehr demütiger Mensch, er will allen Menschen ein gutes Beispiel und Vorbild sein.« Es trat eine Gesprächspause ein, die sich länger und länger ausdehnte; dann hörte man Sturms Schritte, die sich entfernten. Das Gespräch wurde in einem entfernteren Teil des Raumes leise wieder aufgenommen. Nach einer Weile ertönte der Gong zum Essen, und die Stimmen verloren sich nach draußen und ließen eine wohltuende Stille hinter sich zurück. In diese Stille sprach plötzlich Walks Stimme, ganz nah an Cals Ohr. 45
»Du bist nicht der einzige, der es nicht so gut hat. Denk mal dran.« Dann verließ auch Walk den Raum. Sechs Wochen später – sie waren inzwischen befördert worden und hatten ihren ersten zehntägigen Urlaub – fuhren Cal und Walk nach New Orleans und verbrachten dort ihre freie Zeit. Cal ging nicht mehr nach Hause zurück, auch später nicht. Anderthalb Jahre danach – er war gerade für den Feldzug gegen die Griella eingeschifft worden – erhielt er von einer Kusine die Nachricht, daß sein Vater gestorben war… Endlich dämmerte es. Nach dem Frühstück teilte man Cal mit, daß er sich in der Untersuchungs-Abteilung zu einer letzten Untersuchung zu melden hätte. Er hatte das frühestens in der nächsten Woche erwartet und befürchtete jetzt, daß man seinen Kater merken und Fragen stellen würde. Aber er passierte alle Abteilungen, ohne daß die untersuchenden Ärzte irgendwelche Fragen stellten. Schließlich fand er sich in der Psychiatrischen Abteilung wieder. »Nehmen Sie Platz, Leutnant«, sagte der PsychoOffizier, ein kleiner Mann im Rang eines Majors, mit einem freundlichen Gesicht und einem großen, dunklen Schnurrbart. Er war kaum älter als Cal. »Wollen mal sehen …« Der Offizier durchblätterte etliche Akten und Diagramme von den verschiedensten Untersuchungsmaschinen. »Wie fühlen Sie sich, Leutnant?« »Gut«, antwortete Cal. »Mein Bein ist nicht steif, und 46
man kann kaum die Narbe sehen.« »Sie hatten auch eine Strahlenverbrennung an der Seite?« Sein Gegenüber studierte die Papiere. »Ein kleiner Kratzer. Ist schon vor langer Zeit verheilt.« »Ja. Ziemlich eigenartig, daß es eine Strahlverletzung war. Sie haben nicht eine Idee, wie das passieren konnte?« »Nein, Sir«, antwortete Cal. »Ich war damals ziemlich am Ende meiner Kräfte, weil mir der Schlaf einer ganzen Woche fehlte. Ich kann mich an die Geschehnisse nur verschwommen erinnern.« »Ja, ich verstehe«, antwortete der Major und prüfte dabei eines der Diagramme. »Es fehlen gut sechzehn Stunden in Ihrem Gedächtnis bis zu dem Zeitpunkt, als Sie auf das Lazarettschiff kamen. Und offenbar hat man Sie in der Zeit irgendwo mit einem Strahler erwischt. Hmm. « Er runzelte die Stirn. »Es wäre keine schlechte Idee, Leutnant, wenn wir eine volle Psycho-Untersuchung machten und uns die Tatsachen aus Ihrem Unterbewußtsein herausholten. Tatsächlich würde ich das begrüßen.« Cal fühlte die Kälte des Raumes in sich eindringen. Langsam krampfte sich sein Magen zusammen, und er spürte eine bange Furcht. »Sir«, begann er langsam, »muß ich dem zustimmen?« »Nein«, antwortete der Psycho-Offizier und sah ihn dabei an, »natürlich nicht. Es ist Ihnen vollkommen freigestellt, ob Sie zustimmen wollen oder nicht. Ganz wie Sie wünschen. Aber ich könnte mir vorstellen, daß Sie sicher 47
selbst gern wüßten, ob in der aus Ihrem Gedächtnis entschwundenen Zeitspanne nicht irgendetwas geschehen ist, das Ihnen später Ärger bereiten könnte.« Er machte eine Pause. »Wir brauchen Ihre Entlassung deswegen nicht aufzuschieben. Sie können gehen und dann für einen DreiTage-Test wiederkommen, wann es Ihnen am besten paßt.« »Ich glaube nicht, daß es den Aufwand lohnt, Major.« »Wie Sie meinen, Leutnant.« Der Major machte einige Notizen auf seinen Papieren, schrieb ein, zwei Zeilen und unterzeichnete dann. »Das ist alles.« Cal stand auf. »Danke, Sir.« »Keine Ursache, das ist ja mein Beruf. Viel Glück, und amüsieren Sie sich gut.« »Das werde ich, Sir.« Cal verließ den Raum. Er kam in die Genesungs-Abteilung zurück und fand dort Anni Warroad als diensthabende Schwester. Sie sah ihn seltsam an und ging in ihr Büro. Er folgte ihr. »Was ist los?« fragte er. Sie stand hinter ihrem Schreibtisch. Als Antwort zog sie ein Schubfach auf und zeigte ihm die leere Whiskyflasche. »Well, du kennst die Vorschriften«, sagte er. »Frag mich aus.« »Du weißt, daß ich das nicht tue«, erwiderte sie und schloß das Fach wieder. »Ich werde sie hinausschaffen. Es ist nur …« Sie brach plötzlich ab und biß sich ärgerlich 48
auf die Unterlippe. Er war überrascht, als er merkte, wie nahe sie den Tränen war. »Es ist dieser Walk«, platzte sie dann heraus. »Er ist ein Schwächling. Aber wenn du mit ihm zusammen bist …« Sie biß sich wieder auf die Lippen, wandte sich um und verließ schnell das Büro. »Schwach!« wiederholte er ihre Worte. »Walk schwach?« Er öffnete seinen Mund, um über diese lächerliche Vorstellung zu lachen, aber er fand, daß er nicht lachen konnte. Das Gefühl der Wertlosigkeit, das ihn diese Nacht gepackt hatte, kam wieder auf. Er ging aus dem Raum, um Annie zu suchen. Sie war dabei, energisch die Bestände des Labors aufzufüllen. Sie wandte sich ab, als sie sah, daß er hereinschaute. Cal ging zurück zu seinem Bett. Dann legte er sich hin und starrte die weiße Decke an.
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FÜNFTES KAPITEL Nach drei Tagen wurde er entlassen. Annie fand schnell wieder zu ihrer alten Freundlichkeit zurück. An dem folgenden Wochenende nahm Annie drei Tage Urlaub, und sie fuhren zusammen nach Mexico City. Sie hatten sich vorgenommen, die Stadt auf den Kopf zu stellen. Aber sie landeten schließlich in den Bergen, in dem kleinen Ort Texco, wo man Silber und Obsidian schürfte. Dort saßen sie auf einer offenen Terrasse im Sonnenschein, eine Flasche Wein vor sich auf dem Tisch, glücklich und ohne das Bedürfnis, viel zu sprechen. Zum erstenmal, solange Cal zurückdenken konnte, spürte er Frieden in seiner Seele, und er merkte, daß er zu Annie offener sprechen konnte, als zu irgendjemand anderem zuvor. Manchmal kamen ihm Dinge über die Lippen, über die er selbst am meisten überrascht war. Am nächsten Morgen, als Annie von demselben Frieden in ihrer Seele gesprochen hatte, der auch ihn erfüllte, brachte er es über seine Lippen. »›So kam der Frieden‹«, er brach schnell ab. »Nichts«, antwortete er auf Annies fragenden Blick. »Nur ein Gedicht, an das ich gerade denken mußte.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, warum. Es paßt nicht mal.« Aber sie wollte es hören, und so zitierte er zwei Zeilen aus ›Das letzte Turnier‹ von Tennyson: »›So kam der Frieden ins Land herein, aber im Herzen Arthurs herrschte die Pein.‹« Während er die Verse sprach, runzelte er die Stirn und 50
versuchte zu begreifen, warum von allen Gedichten ausgerechnet dieses ihm hier, in der Morgensonne von Texco, in den Sinn kam. Als er aufblickte, sah er, daß Annie ihn mit einem seltsamen Blick betrachtete. »Ist was?« fragte er. »Ich wundere mich nur, weil ich dich eigentlich nie viel lesen sah«, antwortete sie. »Besonders keine Gedichte.« Er lachte. »Das ist auch nur etwas für Leute, die nichts besseres zu tun haben. Wie wär’s, wenn wir heute nachmittag nach Acapulco hinunterführen, um zu schwimmen?« Und so vergingen die drei Tage. Annie mußte zum HQHospital nach Denver zurück, und für Cal begann eine Zeit, in der er nichts anderes tat, als die Stunden totzuschlagen und seine angehäuften Ersparnisse auf den Kopf zu hauen. Das dauerte vier Monate; in der Zeit erhielt er auch noch den Sternen-Orden, den er der Liste seiner Auszeichnungen hinzufügte. Dann drangen die Gerüchte über eine neue Expedition zu ihm und brachten ihn zum Rekrutierungsbüro nach Denver zurück. Es war inzwischen März geworden. Cal ging geradeswegs in das für ihn zuständige Büro. Der Chinook, ein warmer, trockener Wind von den umliegenden Bergen, strich über die Straße und schmolz den letzten Rest eines verspäteten Schneefalls weg. Der Wind wehte kühl über Hände und Gesicht, aber der plötzliche Temperaturumschwung ließ ihn in der Uniformjacke schwitzen. Das Kleidungsstück fühlte sich für ihn nach all 51
den Monaten in ziviler Kleidung ungewohnt an. Sein Kopf war noch benebelt von den Nachwirkungen eines Katers. Er betastete mit den Fingerspitzen die Medaillenspangen an seiner Brust, dann ging er hinein. Der Abteilungsleiter, der sein Gesuch entgegennahm, verlangte von der Zentrale Cals Papiere. Als sie auf dem Videoschirm vor ihm erschienen, sah er sie sorgfältig durch. »Es tut mir leid, Leutnant«, sagte er schließlich, »ich kann Sie noch nicht einteilen.« »Noch nicht?« fragte Cal. Während er den Abteilungsleiter ansah, entdeckte er plötzlich in dessen Augen den gleichen seltsamen Blick, den er schon bei dem Psycho-Offizier bemerkt hatte, und davor schon im Gesicht des jungen Burschen auf dem Hospitalschiff. Er hatte ihn auch bei Annie gesehen – er erinnerte sich jetzt – , als er die beiden Zeilen aus dem Gedicht von Tennyson zitiert hatte. Und nun entdeckte er ihn wieder, in dem höflichen aber verschlossenen Gesicht dieses Unteroffiziers. »Sie können mich noch nicht einteilen?« fragte Cal noch einmal. »Es tut mir leid, Sir, Sie haben Ihre Psycho-Untersuchung noch nicht machen lassen.« »Das wurde auch nicht verlangt.« »Ja, ich weiß, Sir. Aber in Ihrem Fall hier scheint es so, als hätte der Psycho-Offizier es als Bedingung für eine Wiederverwendung verlangt.« 52
»Hören Sie«, erwidert Cal, »da muß auf meinen Originalpapieren ein Fehler sein, vielleicht ist es im Hospital passiert. Glauben Sie, daß ich für einen Moment mit Ihrem kommandierenden Offizier sprechen könnte?« »Ich werde sehen, ob es sich machen läßt, Leutnant.« Der Abteilungsleiter verschwand. Ein paar Minuten später kam er zurück und führte Cal in das Büro Oberst Haga Alts, von dem Cal wußte, daß er General Harmons rechte Hand in dem Feldzug gegen die Lehaunan gewesen war. »Es tut mir leid, Sie zu stören, Sir«, sagte Cal. »Ich warte gerade auf General Harmon – wir wollen die Ausrüstung auf den neuesten Stand bringen. Ich habe ein paar Minuten Zeit für Sie, Leutnant.« Alt war ein dunkelhaariger, drahtiger Mann Anfang der Vierzig, ein wenig kleiner als Cal. »Sie waren Pionier im LehaunanFeldzug?« »Jawohl, Sir.« Cal merkte, daß er sehr nervös war. Er riß sich zusammen. »Vierter Angriffsflügel.« »Ich erinnere mich. Sie bekamen den Sternen-Orden für die Eroberung jener Stadt mit der Kraftstation. Das war eine gute Leistung.« »Vielen Dank, Oberst. Es war ja eigentlich nicht nötig …« »Dinge, die ›nicht nötig‹ sind, betrachten wir gewöhnlich als unsere Hauptaufgabe, Leutnant. Ein altgedienter Soldat wie Sie sollte das wissen. Zigarette?« »Nein, danke, Sir.« Cal beobachtete, wie der Oberst sich eine ansteckte. »Der Abteilungsleiter draußen …« 53
»Ja?« Alt nahm die Zigarette aus dem Mund, stäubte die Asche ab und beugte sich in seinem Stuhl vorwärts, um auf seinen Videoschirm zu sehen. Er beobachtete den Schirm eine Sekunde lang. »Ja.« Er lehnte sich wieder zurück, der Stuhl sprang sofort in eine bequemere Stellung. »Es gibt keinen Grund, wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen, Leutnant. Der Psycho-Offizier des Entlassungs-Komitees vermutete offenbar, daß Sie irgendeinen psychologischen Defekt davongetragen haben, der Sie für Ihre Weiterverwendung untauglich macht. Es ist selbstverständlich nur eine Vermutung. Warum gehen Sie nicht zu den Seelendoktoren ’rüber und lassen sich untersuchen? Dann gelten Sie als geheilt.« Alt lehnte bequem in seinem Stuhl. Seine Augen waren weder kalt noch warm. Cal wurde plötzlich bewußt, daß eins seiner Beine so weit ausgestreckt war, daß der schwere Stiefel auf der anderen Seite unter dem Schreibtisch hervorschauen mußte, wo Alt ihn sehen konnte, wenn er herunterblickte. Das mußte ungehörig aussehen. Schnell zog Cal das Bein zu sich heran. Sein Herz begann zu klopfen. Alt wartete immer noch auf seine Antwort. Der Raum schien vor seinen Augen zu verschwimmen. »Alexander der Große …« begann Cal. »Bitte?« Der Oberst runzelte die Stirn. »Entschuldigung, Sir.« Cal packte mit festem Griff die Armlehnen seines Stuhls. Der Raum nahm vor seinen Augen wieder Gestalt an. »Ich glaube, ich kann die Sache 54
nicht gut erklären. Was ich meine, ist … Ich fürchte, daß eine Psycho-Untersuchung irgendetwas ans Tageslicht bringt, das vielleicht besser nie …« »Die Chancen dafür stehen eins zu ein paar hundert«, gab Alt trocken zurück. »Aber wenn es passiert, wäre meine Karriere zu Ende.« »Richtig«, gab Alt zu. »Die Untersuchung wird entweder zeigen, daß in Ihrem Gedächtnis auf der LehaunanWelt nicht Schlimmes geschehen ist, oder aber die Ärzte werden etwas Wichtiges ausgraben, und das können sie am besten, solange es noch frisch im Unterbewußtsein ist. Und das kann dann bereinigt werden. In jedem Fall werden Sie zum Schluß wieder für den Dienst fit sein.« »Jawohl, Sir.« Cal atmete tief ein. »Aber würden Sie, Oberst, nur auf diese Wahrscheinlichkeit hin Ihre Karriere aufs Spiel setzen, wenn Sie selbst wüßten, daß das überhaupt nicht notwendig ist?« »Ich würde es nicht tun, Leutnant«, erwiderte Alt. »Aber was hat das mit dieser Situation zu tun?« »Nichts, glaube ich«, sagte Cal niedergeschlagen. Er wartete darauf, daß der Oberst ihn entlassen würde, aber der saß nur da und blickte ihn forschend an. »Zur Hölle!« sagte Alt schließlich und schob seine halb gerauchte Zigarette in den Ascher. »Wollen Sie mir Ihre Version erzählen, warum diese Psycho-Untersuchung in Ihren Papieren angeordnet wurde?« »Jawohl, Sir.« Cal sah einen Moment lang aus dem Fenster auf die majestätischen Berge. Die Worte kamen 55
ihm leicht von den Lippen, als hätte er sie vorher geprobt. »Ich habe eine Amnesie, die die Zeit während und kurz nach dem Angriff auf die Lehaunan-Stadt betrifft, vor allem aber die Zeit nach meiner Verwundung. Aber zu der Zeit war ich ununterbrochen seit ungefähr sechzig Stunden allein verantwortlich für den Vierten Angriffsflügel, und ich habe während der Zeit kein einziges Mal ein Auge zutun können. Wir waren in einer schwierigen Lage und standen unter dem Druck des Gegners. Die Wahrheit ist, daß ich während der ganzen Zeit völlig übermüdet war. Deshalb kann ich mich nicht mehr erinnern.« »Verstehe.« Alt sah ihn einen Moment lang aufmerksam an, dann stand er auf. »Warten Sie hier einen Moment, Leutnant!« Er verließ den Raum. Cal blieb ungefähr zehn Minuten lang allein in dem sauberen, hellen Büro des Oberst. Dann kam Alt zurück, gefolgt von einem großen, mageren Mann, der mit ihm Schritt hielt, als müßten sie zu Trommelklängen exerzieren. Drei goldene Sterne prangten an seinem Rockaufschlag. Cal sprang auf und nahm Haltung an. »Hier ist er«, sagte Alt zu dem großen Mann. »Leutnant!« wandte er sich an Cal. »General Harmon möchte mit Ihnen sprechen.« »Vielen Dank, Sir.« Eisgraue Augen schauten Cal forschend an, als sie einander die Hände schüttelten. »Sie haben diesen Sternen-Orden verdient, Leutnant … Truant, nicht wahr? Der Oberst hier hat mir berichtet, daß Sie wieder mit Ihrer alten Truppe fliegen möchten.« 56
»Jawohl, General.« Harmon wandte sich um und ging auf die Wand links von ihm zu. Er drückte auf einen Knopf, und die Oberfläche wurde transparent und zeigte einen schwarzen Hintergrund, auf dem eine weiße Zeichnung erschien. »Erkennen Sie das, Leutnant?« »Jawohl, Sir. Ein Raum-Plan. Unser Territorium im Orion-Gebiet.« »Richtig. Sie haben eine gute Offiziers-Schule besucht.« »Keine Offiziers-Schule, Sir. Nur N.C.O. für die niederen Dienstgrade.« Harmon hob seine Augenbrauen. »Wir unterrichten Raumtaktik jetzt auch schon in der N.C.O.?« »Nein, Sir. Ich … habe es mir selbst beigebracht.« »Sehr tüchtig. Nun, schauen Sie her.« Harmon drückte einen anderen Knopf, und eine rote Linie entsprang von einem Zentralpunkt und bewegte sich durch das Diagramm. »Wofür halten Sie das?« Cal überlegte einen Moment. »Ein Plan unseres Vormarsches in jenes Gebiet, Sir. Seit dem allerersten Anfang; seit der Einigung der Völker – Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Bis zu der Linie, die wir im Kampf mit den Lehaunan erreicht haben.« »Und bis auf vierzig Lichtjahre an das nächste Sternsystem der Oriongruppe.« Harmon sah zur Seite und auf Cal herab. 57
»Leutnant, warum sind wir interessiert an – sagen wir mal«, er deutete mit dem Zeigefinger auf einen der OrionSterne, »an Bellatrix?« »Nun«, antwortete Cal, »er ist eben der nächste auf der Liste.« »Liste?« »Sir?« »Ich fragte, welche Liste?« wiederholte Harmon gelassen. »Welche Liste meinen Sie?« Cal straffte sich in seiner Uniform. Der Raum schien auf einmal wie mit Elektrizität geladen zu sein. »Keine Liste, Sir«, antwortete er dem General. »Ich meinte, Bellatrix ist das nächste System, auf das wir im Verlauf unserer normalen Expansion in den Raum stoßen werden.« »Und wenn wir unsere normale Expansion abstoppen würden?« Cal sah überrascht auf. Aber Harmon stand bloß da und wartete auf Antwort. »Das können wir uns gar nicht leisten, Sir«, sagte Cal langsam. »Die Bevölkerung wächst immer weiter – dazu kommt das natürliche Verlangen nach Eroberung; wir würden rassischen Selbstmord begehen, wenn wir die Expansion in den Weltraum nicht fortsetzen.« »Wirklich, Leutnant? Warum?« »Warum …« Cal suchte nach Worten und Redewendungen, die er schon lange nicht mehr benutzt hatte. »Das Anhalten unseres natürlichen Expansionsdranges würde 58
einer Selbstverstümmelung gleichkommen, es würde das Ende unserer Rasse bedeuten. Wir würden unsere Rohstoffquellen aussaugen, und wir würden der ersten Fremdrasse, die sich in unsere Richtung ausbreitet und sich einen praktischeren Sinn bewahrt hat, zum Opfer fallen.« »Sehr richtig«, gab Harmon zur Antwort. »Aber ich habe Sie nicht nach dem gefragt, was jeder schon in der Schule lernt.« Er wandte sich jetzt Cal voll zu. »Ihre eigenen Gefühle interessieren mich. Sie sind ein altgedienter Soldat. Sie haben den Waffen der Griella und Lehaunan gegenübergestanden. Was denken Sie?« »Wir müssen weitermachen«, antwortete Cal, »wir müssen.« Er sah Harmon gerade in die Augen. »Wir müssen gewinnen und die Stärkeren bleiben. Jedesmal, wenn irgendjemand an das bessere Ich eines anderen appelliert, trägt jemand den Schaden davon. Wir hatten einen Kontaktoffizier bei unserer Truppe, als es gegen die Lehaunan ging. Es war noch Waffenstillstand, und er ging über ihre Linien, um mit ihnen zu sprechen – nur um mit ihnen zu sprechen. Er trug ein Tonbandgerät bei sich … und sie schossen auf ihn … sie schossen auf ihn …« Cal versagte die Stimme. Er brach ab. »Der einzig sichere Weg ist, immer an der Spitze zu sein. Immer an der Spitze. Dann kann man sicher sein, daß niemand auf einen schießt. Man muß immer der Gewinner sein!« Er hielt inne. Für einen Moment stand eine seltsame Stille im Raum, und dann pfiff Alt zweimal leise durch die Zähne, während er auf den Raum-Plan sah. Er hob 59
seine Brauen. Harmon legte seine Hand auf Cals Arm. »Sie sind ein guter Mann, Leutnant«, sagte er. »Ich wünschte, nur die Hälfte der Männer in der Regierung dächten so wie Sie.« Er ließ Cals Arm wieder los. »Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen«, fuhr er fort und wandte sich dem Plan auf der Bildscheibe wieder zu. Sein Finger deutete auf einen hellen, weißen Punkt, jenseits der entferntesten Stelle, die die rote Linie erreicht hatte. »Bellatrix«, sagte er. Er sah wieder auf Cal. »Das System ist unser nächstes Ziel, Leutnant. Es gibt dort zwei Planeten, die wir benötigen. Einer von ihnen stünde uns sofort zur Verfügung, aber auf dem anderen lebt eine Rasse, die sich Paumons nennt. Ein rothäutiges, haarloses Volk von Humanoiden, die uns ähnlicher sind als jede andere Rasse, der wir bisher begegneten. Sie werden uns einen Empfang bereiten, daß wir denken werden, die Griellas und Lehaunan und all die anderen wären nette alte Damen, die zum Kaffeeklatsch zusammenkommen. Wir bereiten gerade den Feldzug gegen diese Paumons vor, und Ihre alte Truppe wird auch dabei sein, wenn wir losziehen.« Harmon machte eine Pause und sah Cal direkt in die Augen. »Aber ich fürchte, Leutnant, Sie werden nicht auf der Liste stehen.« Er machte wieder eine Pause. »Es tut mir leid«, fügte er dann hinzu. »Jawohl, Sir«, antwortete Cal automatisch. 60
»Sehen Sie«, sprach der General langsam weiter. »Ich habe nicht das Recht, das Leben der Männer, die unter Ihnen dienen würden, zu riskieren, indem ich jetzt die Ärzte auffordere, bei Ihnen eine Ausnahme zu machen.« »Ja, ich verstehe, Sir.« »Andererseits …« Harmon drückte den Knopf unter dem Bildschirm mit der Faust ein, und das Bild verblaßte. An seine Stelle trat die blanke Wand. Harmon wandte sich wieder an Cal. »Da ist der Vorschlag, den der Oberst mir gegenüber soeben erwähnte.« »Sir?« Cal hörte kaum mehr zu. »General Walt Scoby, der Führer der KontaktAbteilung – sicher kennen Sie ihn – , wird persönlich an dem Feldzug gegen die Paumons teilnehmen. Er fragte mich gestern noch, ob ich nicht irgendeinen guten Mann wüßte, der als Kontakt-Offizier in Frage käme.« Harmon lächelte ein wenig. »Er hat schon seine Mühe, erfahrene Soldaten für seine Ableitung zu bekommen. Natürlich betrifft der Einwand der Psycho-Abteilung gegen Sie nur Ihre Teilnahme am Kampf. Wenn Sie unter General Scoby dienen wollen, werden Sie mit uns anderen kommen können, wenn auch unbewaffnet.« »Kontakt-Dienst?« Cal hob seinen Kopf. »Ich weiß, was Sie denken, Leutnant. Auf der anderen Seite aber brauchen wir Leute wie Sie dringend.« Harmon lächelte. »Ich kann Ihnen ruhig sagen, daß ich gar nichts dagegen hätte, wenn ich einen Mann wie Sie in General Scobys Mannschaft: wüßte. Sie müssen das so sehen: Sie 61
würden gewissermaßen immer noch für die kämpfende Truppe arbeiten, indem Sie eine Brücke zwischen uns und dem Kontakt-Dienst schlagen könnten.« Er machte eine Pause. »Well, es liegt allein bei Ihnen, Leutnant. Ich möchte Sie nicht zu etwas überreden, das Sie später bedauern würden.« Er streckte seine Hand aus, und Cal schüttelte sie, ehe er sich versah. »Und viel Glück, Leutnant Truant. Calvin Truant, nicht wahr?« »Jawohl, Sir.« »Viel Glück, Cal.« Dann wandte er sich von Cal ab und war verschwunden. Einige Zeit später fand sich Cal auf dem Gelände der Terranischen Militär-Organisation wieder. Er stand auf dem schmalen Weg, der das Gebäude für die Einstellung von dem alten Gemäuer trennte, in dem die erst zehn Jahre alte Kontakt-Organisation untergebracht war. Er hatte zwei Wochen gebraucht, um festzustellen, daß irgendein Dienst für ihn immer noch besser wäre als gar keiner. Er stieg die Steintreppe hinauf und trat ein. Die Büros sahen überfüllt aus, und eine Menge Zivilisten arbeitete zwischen den Soldaten. Cal fand die Anmeldung und nannte der Frau im Büro seinen Namen. Er hatte am Tag vorher sein Stellungsgesuch auf normalem Weg einge62
reicht, und überraschenderweise war noch am selben Abend die Antwort gekommen, daß General Scoby ihn gerne persönlich gesprochen hätte; am besten, gleich am folgenden Tag gegen vierzehn Uhr. Cal war das recht, er hatte keinerlei andere Verpflichtungen. Eigentlich war es ihm egal. Und nun war er hier, und es kam ihm wie ein Gang zum Friseur vor. Die Empfangsdame – eine Zivilistin – ließ ihn nicht lange warten. Dann rief sie ihn und brachte ihn persönlich zu General Scoby. Als er durch die Tür trat, bemerkte er im hellen Sonnenlicht, das durch zwei hohe Fenster hereinfiel, zwei Wesen. Einen älteren Mann, der hinter seinem Schreibtisch saß, und dann ein hochbeiniges, katzenartiges Tier von der Größe eines Leoparden und mit einem blassen, glänzenden Fell, das von schwarzen Flecken durchsetzt war. Das Tier trug einen ledernen Maulkorb, von dem ein Handgriff steif nach oben führte. Die große Katze lag in einer Ecke des Raums und ruhte sich aus. Sie hob ihren Kopf, als Cal eintrat, und die gelben, prüfenden Augen trafen für einen Moment Cals Blick. In diesem Sekundenbruchteil spannte sich Cal, dann aber ging er weiter, als wäre nichts geschehen. »Gute Reaktionen«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch und hob dabei seinen Kopf, den eine wirre Mähne grauen Haares bedeckte. »Setzen Sie sich, Leutnant.« Cal setzte sich vor den Schreibtisch, während das Tier 63
sich geschmeidig wieder zurücksinken ließ. Dann blickte er General Scoby erwartungsvoll an. Er sah einen schon älteren Drei-Sterne-General mit buschigen Brauen und Haaren, etwas zur Fülle neigend, eine Pfeife im Mund und die Uniformjacke am Hals aufgeknöpft. Eine Krawatte trug der General nicht. Völlig unpassend zu dieser lässigen Bekleidung wirkte die schwarz-weiße Borte des Stoßtruppkommandos, die an seinem Hemdkragen prangte. Seine Stimme klang rauh und heiser, mit einem Unterton chronischer Verbitterung. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund und deutete mit ihr auf die Katze in der Ecke. »Eine Cheetah«, sagte er, »heißt Limpari. Mein wachsames Auge.« Cal versuchte, an nichts zu denken, während er den General ansah. »Meine Augen sind nämlich nicht mehr viel wert. Ich leide unter periodischen Sehstörungen.« Scoby klopfte mit dem Pfeifenstil gegen seinen Kopf. »Ich habe einen Schädel aus Silber, der größte Teil auf dieser Seite ist aus Metall. Welche besondere Verwundung haben Sie davongetragen, Leutnant.« Er runzelte die Stirn und blickte auf den Videoschirm vor sich. »… Truant, Cal. Warum sind Sie untauglich?« »Sir«, erwiderte Cal und hielt inne. Er holte tief Atem. »Einspruch der Psycho-Abteilung«, sagte er dann kurz. »Ha, das stimmt«, murmelte Scoby und blickte auf das Schirmbild. »Erinnere mich – so viele Dinge platzen hier 64
immer herein.« Er sah Cal an. »Tatsächlich habe ich mir Ihre Akten schon kommen lassen. Wieso haben Sie so lange auf eine Beförderung gewartet?« »Sir?« fragte Cal steif. »Sie brauchen mir nichts vorzumachen. Ich bin auch herumgekommen. Sie wissen, was ich hören möchte.« Er wies mit seiner Pfeife auf den Videoschirm. »Sie haben sieben Jahre Zeit gehabt. Sie hatten die Befähigung, weiterzukommen. Sie hatten einen guten Ruf, und ein oder zwei Ihrer Auszeichnungen bedeuten wirklich etwas. Wieso haben Sie sich niemals vor der LehaunanExpedition um Beförderung bemüht?« Cal sah den anderen voll an. »Ich glaube, die Verantwortung war zu schwer, General.« »Ein Soldat braucht nicht zu denken. Alles, was er tun muß, ist gehorchen. Ist es das?« »Genau, General.« »Ein Unteroffizier muß früher oder später Befehle geben, die ihm mißfallen. Unter Umständen fordert man von ihm Dinge, mit denen er nicht übereinstimmt?« »So ungefähr, Sir«, antwortete Cal. »Vielleicht.« »Aber ein Soldat hat keine andere Wahl, so daß ihn sein Gewissen nicht stören darf, nicht wahr? Wie kommt es dann«, fragte Scoby, lehnte sich zurück und steckte die Pfeife wieder zwischen die Zähne, »wie kommt es, daß Sie in der Schlacht die Befehlsgewalt angenommen haben, als sie Ihnen übertragen wurde? Was hat Sie nach all 65
den Jahren umgestimmt?« Cal zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, Sir.« »Nein«, erwiderte Scoby nachdenklich und biß auf seiner Pfeife herum, »nein, ich glaube, Sie wissen es nicht. Well, ich habe mich auch um Ihre zivile Vergangenheit gekümmert.« Er stöberte zwischen den Papieren auf seinem Tisch. »Ich hatte schon von Ihrem Vater gehört. Tatsächlich war ich damals bei der Kommission, die die Vorgänge in Ihrer Heimatstadt während der Unruhen überprüfte. Ich habe später auch einige der Aufsätze Ihres Vaters über die Gleichberechtigung der Rassen gelesen. Sehr interessant.« »Wir hatten nicht dieselbe Meinung«, sagte Cal tonlos. »Das habe ich mir gedacht. Well…« Der General lehnte sich wieder einmal in seinen Sessel zurück. »Wir kommen wohl besser zur Sache. Ich kann Sie brauchen. Mir fehlt ein Mann mit Kampferfahrung. Mehr noch, ich brauche jemand, der mit den Mannschaften genau so gut auskommt, wie mit den Offizieren, und der die Aufträge, die man ihm übergibt, ebenso gut bearbeitet wie ich selbst.« Er machte eine Pause und lehnte sich vorwärts, um Cal genauer anzusehen. »Er muß Vertrauen zu sich haben, außer Verstand und Mut. Sie haben zumindest zwei von diesen Eigenschaften. Wollen Sie den Job?« »Sir«, erwiderte Cal, ohne eine Miene zu verziehen, und sein Blick starrte auf einen imaginären Punkt hinter des Generals Rücken, »würden Sie mir raten, den Job anzunehmen?« 66
»Zur Hölle, natürlich!« explodierte Scoby. »Ich habe ihn eingerichtet und bin stolz darauf – und Sie werden es auch sein. Das ist eine verdammt große Gunst, die Ihnen gewährt wird.« »Jawohl, Sir«, antwortete Cal. Er zögerte einen Moment. »Es ist mir eine Ehre, den Posten annehmen zu dürfen, General.« »Fein«, erwiderte Scoby. »Fein. Sie können beginnen, indem Sie das da abmachen.« Cals Hände machten eine instinktive Bewegung zu seinen Leutnantsabzeichen. »Meine Rangabzeichen, Sir?« »Ganz recht.« Die Stimme des Generals klang sardonisch. »Das ist einer der Knüppel, die man mir dauernd zwischen die Beine wirft. Alle Kontaktoffiziere, ungeachtet ihrer Qualifikationen, müssen den regulären Ausbildungsweg durchmachen. Wissen Sie, was das bedeutet? Sie klettern wieder in Ihr altes Arbeitszeug und beginnen ganz unten.« Cal starrte den alten Mann an. »Ganz unten?« »Eine Art Fußtritt, nicht wahr, Leutnant?« erwiderte Scoby. »Zusammen mit den Rekruten, die noch naß hinter den Ohren sind, müssen Sie noch mal durch die alte Schule, die aus Ihnen einen ganzen Mann und Soldaten machen will. Sehen Sie mich nicht so an. Ich weiß, daß kein Sinn darin steckt. Die Generalität weiß auch, daß es bei einem 67
Mann wie Ihnen unsinnig ist. Es ist nicht Vorschrift, weil es einen Sinn hat, sondern um mich zu ärgern. Well, wie ist es, Cal? Meinen Sie, Sie könnten noch Betten nach Vorschrift bauen? Oder möchten Sie doch noch zurücktreten?« Ein scharfes, wachsames Glitzern war in Scobys Augen. »Nein, Sir«, antwortete Cal. »Kam etwas langsam, die Antwort, nicht?« »Nein, Sir«, wiederholte Cal. »Ich versuchte nur, diese Vorschriften damit in Einklang zu bringen, was General Harmon mir gesagt hatte.« »General Harmon! Sie sind ein etwas vorwitziger Leutnant, Cal. Sie sollen sich keine Gedanken über Dinge machen, für die Generale da sind. Wenn Sie das nächste Mal in eine Bücherei kommen, lesen Sie mal was über die Belagerung von Troja.« Er wandte sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu. »Das ist alles. Sie können gehen, Leutnant. Wenn Sie die Kontakt-Schulung hinter sich haben, melden Sie sich wieder bei mir.« Cal stand auf. Scoby war dabei, einige der Papiere zusammenzuraffen. »Troja, General?« fragte er. Der General grunzte etwas vor sich hin, ohne aufzusehen. »Guten Tag, Leutnant.« Cal wartet noch einen Moment, aber General Scoby schien vergessen zu haben, daß er einen Besucher im Raum hatte. Er war in seine Arbeit vertieft und glich ei68
nem Buchhändler, der in seinen Schätzen wühlt. Die große Katze in der Ecke hatte sich auf die Seite gelegt und die Beine steif von sich gestreckt. Sie schien ihren Mittagsschlaf zu halten. Cal drehte sich um und ging in das vordere Büro. Die Empfangsdame, die ihn zu Scoby geführt hatte, war mit seinen Papieren fertig. Er unterzeichnete, und dann wurde ihm mitgeteilt, daß er sich in fünf Tagen bereitzuhalten habe, um seine Grundausbildung anzutreten. Er verließ das Gebäude des Kontaktdienstes und schritt über die Treppenstufen hinab. Die Sonne schien immer noch. Auch der warme Wind blies kräftig. Ein Oberst mit einem wohlgerundeten Bauch streute Brotkrumen an eine Horde lärmender Spatzen, die sich zankend und tschilpend um ihre Beute stritten.
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SECHSTES KAPITEL Vier Tage später lag Cal an dem hellen Sandstrand von Hornos Beach bei Acapulco und beobachtete Annie, die in Höhe der ersten Brandungswellen schwamm. Es war früh am Morgen, und sie hatten den Strand beinahe allein für sich. Um diese Zeit kamen zwar auch die Haie dicht an den Strand, aber die Delphine patrouillierten längs der Küste, und außerdem hatte sie eine Harpune bei sich. Trotzdem hielt Cal ein wachsames Auge auf Annie, und die Delphin-Pfeife hatte er griffbereit neben sich. Annie schwamm mit kräftigen Zügen und schnurgerade längs der Küste. Ihre hellen Arme blitzten ab und zu in dem sonnenüberstrahlten blauen Wasser auf. »Sie hat Mut«, kam es ihm plötzlich in den Sinn, »mehr als für sie gut ist, wenn sie mal in Schwierigkeiten gerät«. Und dann empfand er wieder die eigenartige Beklemmung, als er an sie dachte; irgendwie kam er sich hilflos und verloren vor. Er langte nach der Delphin-Pfeife, hielt sie an die Lippen und blies einmal lang und zweimal kurz. Einer der patrouillierenden Delphine schwenkte zur Seite, glitt unter die Wasseroberfläche, tauchte gleich darauf neben Annie wieder auf und schubste sie in Richtung Strand. Ihre Arme kamen aus dem Rhythmus, sie stoppte und blickte in Cals Richtung. Er stand auf, signalisierte ihr »keine Haie« und winkte sie dann heran. Sie wandte sich in seine Richtung, und ihre schlanken Arme begannen wieder das Wasser zu teilen. 70
Cal legte sich nieder; die plötzliche Gefühlsaufwallung in ihm erstarb langsam. Nach ein paar Minuten hatte sie den Strand erreicht und kam gischtübersprüht auf ihre Füße. Sie wusch sich den Sand von den Beinen, nahm ihre Badekappe ab und schüttelte die kurzen Locken. Dann trat sie lächelnd auf ihn zu. Ein eigenartiges Gefühl durchflutete ihn und ließ ihn zittern. »Zur Hölle damit«, dachte er, »ich liebe dich«. Er öffnete seinen Mund, um es auszusprechen. Aber als sie ihn erreicht hatte, schwieg er. Er erhob sich. Als er stand, konnte er sehen, wie klein und zierlich sie war. »Was gibt’s?« fragte sie, wobei sie immer noch ihre Locken schüttelte. Sie sah ihn fragend an. »Wir wollen was trinken.« Zwei Tage später fand er sich frühmorgens – nach etlichen Tests und dem Empfang der Ausrüstung – zusammen mit vierhundertachtundsechzig Rekruten auf einem Militärtransporter. Der Transporter war eine Kontinentalrakete von einer Größe, die bei normalen Passagierflügen höchstens hundertfünfzig Personen aufnahm. Sie hatte einen zusätzlichen Antriebsmotor und auf jeder Seite des Ganges eine Doppelreihe von schwenkbar aufgehängten Sitzen. Cal hatte es geschafft, einen der Sitze am Fenster zu erwischen, und starrte auf Stapledon Field hinab. Er versuchte an Annie zu denken und seine Umgebung zu vergessen. Es würde nicht besonders schlimm sein, noch mal die Grundausbildung mitzumachen, hatte er sich gesagt. Er durfte nur die Nase nicht zu hoch tragen und 71
mußte seine Gefühle unterdrücken. Es war ihm im Grunde genommen alles ziemlich egal. Er war ja neutral zwischen den Kontakt-Leuten und der kämpfenden Truppe. Wenn man ihn in Ruhe ließ, würde auch er alle in Ruhe lassen. Wenn ihm allerdings jemand auf die Zehen treten wollte, würde er schon wissen, wie er sich dagegen zu wehren hatte. Er hatte Annie in der Nacht zuvor ganz offen gesagt, was er von der Kontakt-Abteilung und ihren Leuten hielt. Er verachtete diese Soldaten. »Vielleicht änderst du deine Meinung«, hatte sie gesagt. »Es wird nicht leicht sein, mit Leuten zusammenzuarbeiten, von denen man so denkt.« »Du kennst den Militärdienst nicht. Es ist eine Arbeit wie jede andere. Es ist unwichtig, was man von den einzelnen Leuten hält.« Einen Moment hatte sie ausgesehen, als wolle sie etwas antworten, aber sie tat es nicht. Und nun saß Cal hier in dem engen Sitz, starrte nach draußen und wartete darauf, daß die Rakete abheben würde. Um ihn herum saßen Männer in neuen, tannengrünen Uniformen. Das Geräusch ihrer Unterhaltung, die Wärme ihrer Körper versetzten ihn in eine ungewohnte Stimmung; er fühlte sich fast zufrieden. Was ging ihn das alles im Grunde schon an? »He, Dad! Dad!« Zuerst verband Cal den Ruf gar nicht mit seiner Person. »Dad«, so hatten sie damals bei ihrer ersten Ausbildung 72
die älteren Männer genannt. Er sah auf. Das grinsende Gesicht eines jungen Burschen blickte ihn von einem Platz zwei Reihen weiter an. »Was?« »Hast du Feuer?« Der Transporter war noch am Boden. Das Schild »Rauchen verboten!« leuchtete über ihren Köpfen. Aber Cal sah keinen Grund, seinen Atem deswegen zu verschwenden, nachdem er sich gerade entschlossen hatte, ganz neutral zu bleiben. Sein Feuerzeug war in der Tasche, die zwischen die Sitze geklemmt war. So griff er in die Brusttasche, nahm eine der selbstzündenden Zigaretten heraus und gab sie dem Burschen. »He, eine Feldzigarette«, sagte der Bursche. »Vielen Dank, Dad.« Das Gesicht und die Zigarette verschwanden wieder. Ein paar Sekunden später zog Rauch über die Sitzreihen hinweg. Eine Minute danach näherten sich Schritte über den Zwischengang. Sie stoppten neben dem Raucher. »Hast du eine Zigarette, Soldat?« fragte eine ältere Stimme. »Sicher, Chef«, antwortete die Stimme, die Cal um Feuer gebeten hatte. »Keine Feldzigaretten. Aber hier, nehmen Sie sich eine.« »Mach’ ich. Sind das alle, die du hast?« »Nanu – he! Was machen Sie? Das ist mein ganzer Vorrat, bis wir das Fort erreicht haben. Ich dachte, Sie wollten eine?« 73
»Mach dir nichts draus, Soldat. So lange du in der Kaserne bist, ist nichts mehr mit Rauchen. Und das sind mindestens drei Monate. Ich werde es deinem Ausbilder melden, wenn wir da sind. Vielleicht hat er noch eine kleine Extra-Aufgabe für dich, die dich daran erinnert, daß man Schilder beachtet.« Die Schritte entfernten sich wieder. Cal versuchte, wieder an Annie zu denken. »Das ist etwas übertrieben, nicht wahr?« erklang eine Stimme an Cals rechtem Ohr. Cal wandte sich zu dem Rekruten neben ihm um, einem bleichen jungen Mann, der trotz seiner Jugend ziemlich ernst dreinsah. »Auf den meisten Zivilschiffen sind die ›Rauchen-VerbotenSchilder‹ schon lange abgeschafft worden.« »Es ist Vorschrift«, antwortete Cal kurz angebunden. Aber der andere sprach weiter. »Sie gehören zum Kontakt-Dienst – wie ich, nicht wahr?« fragte er. »Ich habe den Farbcode auf dem A3Formular bemerkt, das Sie bei sich haben. Ich bin Harvey Washun.« »Cal Truant«, grunzte Cal. »Das ist eine der Sachen, auf die wir achten müssen, wenn wir erst mal das Offizierspatent haben. Unsinniger Zwang durch Vorschriften wie diese, nicht wahr? Man hat doch eine Verantwortung gegenüber dem Landsmann, aber auch gegenüber dem Fremden, gegenüber jedem Lebewesen, glaube ich.« »Das hab’ ich schon mal gehört«, murmelte Cal. Dann 74
zog er seine Kappe über die Augen, rekelte sich in dem Sitz zurecht und tat so, als wolle er schlafen. Er hörte das Quietschen der Sicherheitsgurte, als sich sein Nachbar verärgert zurechtsetzte. Achtundvierzig Minuten später starteten sie, und nach weiteren dreiundachtzig Minuten landeten sie auf dem Flughafen von Fort Norman, Cota in Missouri. Die Feldwebel und Unteroffiziere erwarteten sie schon und jagten die ganze Mannschaft im Eiltempo über die volle Distanz zum Trainingslager für Pioniere. Es lag an der Westseite des Forts, gute sechs Kilometer entfernt. Der Tag war herrlich. Hier und da sah man ein Wölkchen durch das Geäst der Pappeln und Fichten, manchmal spiegelte es sich auch in den Pfützen, durch die man die Soldaten jagte. Die Luft war warm und von süßem Duft erfüllt. Um sich herum konnte Cal das Ächzen und Stöhnen seiner Leidensgenossen hören, die vor Anstrengung keuchten. Cal selbst atmete tief und gleichmäßig, und es fiel ihm plötzlich ein, daß er nach dem monatelangen Aufenthalt im Krankenhaus kaum in einer besseren Verfassung war als die meisten anderen. Was den Lauf für ihn erträglicher machte, war seine Haltung. Er teilte sich seinen Atem ein, er war Herr über seine Gefühle, und der Gedanke daran befriedigte ihn sehr. Er wollte auch weiterhin für sich bleiben, neutral und frei von Verpflichtungen. »Aufschließen! Zusammenbleiben!« brüllten die Führer. Dabei rannten sie an der langen Reihe von Männern 75
entlang, die unter der Last ihrer Ausrüstung stöhnten. »In Marschordnung bleiben, ihr Butterbäuche! Haltet euch ’ran!« Das Gebrüll erinnerte Cal an die Tage seiner eigenen Ausbildung. Es war die Hölle gewesen, aber er hatte sie unverändert überstanden. Oder wenigstens hatte er sich das in all den Jahren gesagt. Er wischte die Gedanken daran weg und dachte bei sich, daß es jetzt wieder einmal hieß, eine Weile zu überleben. Für einen Augenblick übermannte ihn das Gefühl des Heimwehs, dann war es wieder vorüber. Sie kamen an einigen Kasernen vorbei, wo sich die Anwärter aufhielten, die schon die Hälfte ihrer Ausbildung hinter sich hatten. Sie waren gerade dabei, »Klar Schiff« zu machen, und man konnte ihnen ansehen, daß sie schon einige Zeit hier waren. Sie hatten eine gesündere und dunklere Gesichtsfarbe als die Neuankömmlinge. Rufe wie »Es wird euch noch leid tun!« oder »Wohin sollen wir eure Leichen schicken?« erklangen. Aus irgendeinem Grund fegte das die leichte Unbehaglichkeit in Cal weg, diesen Anflug von Heimweh. Er konzentrierte sich wieder auf den Lauf und bemühte sich, an nichts zu denken. Ungefähr ein Drittel der Neuankömmlinge hatte den ganzen Weg geschafft, ohne zurückzufallen. Sie langten keuchend und nach Atem schnappend vor dem zweistökkigen Gebäude des Ausbildungslagers an. Ein Mann in Cals Alter, mit scharfen Gesichtszügen und dem Diamantzeichen des Pionierkorps auf den Rock76
aufschlägen, trat aus einem kleinen, abseits gelegenen Bürogebäude und blieb oben auf der Treppe stehen. Dabei sah er mißbilligend auf die jämmerlichen Gestalten vor ihm. »Sie sollten sie eigentlich nicht vor dem Lunch herbringen«, erteilte er dem Begleit-Unteroffizier eine Rüge. »Der Anblick dieser dreckigen Gesichter schlägt mir immer auf den Magen.« Plötzlich brüllte er: »Aachtungggk! Was ist los mit euch? Könnt ihr nicht stillstehen?« »Natürlich nicht«, antwortete der Unteroffizier. »Die Gruppe kommt vom Rekrutierungsbüro in Denver.« »Well, bring die Grünschnäbel aus meinen Augen, oder ich schicke sie alle auf einen Marsch rund um die Berge. Zeig ihnen ihre Quartiere. Und paß auf, daß sie die Räume nicht dreckig machen.« Es wurde still, und Cal sah, wie die Männer um ihn herum in das weiß gestrichene Kasernengebäude geführt wurden. Er spürte ihre Niedergeschlagenheit, als sie die langen Reihen von Betten sahen, die mit mathematischer Präzision gemacht waren. Er merkte ihre Verzweiflung, als man ihnen befahl, ihre Sachen zu verstauen und ihre eigenen Betten zu machen. Und dann wandelte sich die Verzweiflung in stille Wut, als man befahl, alle Sachen wieder herauszuholen und jede Spur von Schmutz oder Staub, die sie hereingebracht hatten, aufs Sorgfältigste zu entfernen. Dann wurden sie nach draußen beordert, wo ihnen 77
Feldwebel Ortmann eröffnete: »Diese Kasernen sind für Soldaten gebaut, nicht für Schweine. Wir lassen euch da ’rein, aber ihr werdet jeden Sonntagmorgen das Vergnügen einer Inspektion haben.« Dann zog er mit seinem Angeberstock, den er sonst unter dem Arm geklemmt hielt, eine imaginäre Linie in die Luft und informierte sie, daß das die magische Grenze sei, drei Meter von der Kaserne. Er wolle niemand diese Linie überschreiten sehen, es sei denn, man hätte es ihm befohlen. Ortmann war klein, breit gebaut und dunkelhaarig. Er trug die Bänder des Lehaunan-Feldzuges an seiner Paradejacke und verzog nie die Miene zu einem Lächeln, wenn er sprach. Cal dachte zuerst oft an Annie. Aber sechs Wochen später – zu der Zeit war man soweit für den zweiten Teil der Ausbildung – dachte er nur noch selten an sie. Genau wie damals vor sieben Jahren, als er das erste Mal durch die Grundausbildung gegangen war. Wieder war sein ganzes Denken von Verbitterung erfüllt. Zum erstenmal in all den Jahren beim Militär hatte er nicht das eigenartige Gefühl empfunden, das einen Soldaten zu den anderen Männern seiner Abteilung hinzieht. Er war ein Einzelgänger. Für die anderen war er ein alter Hase – die Tatsache stand in seinen Papieren und war nicht lange verborgen geblieben. Für die Ausbilder war er ein Unikum, weder ein richtiger Rekrut noch ein richtiger Soldat. Für die anderen Kadetten des Kontakt-Dienstes 78
war er ein Rätsel, das nicht in ihre Vorstellungen und Theorien paßte. Washun, sein Platznachbar auf dem Flug von Denver zum Fort, hatte versucht, eine Brücke zu schlagen. »Ich habe mit einigen der anderen Kadetten gesprochen«, sagte er eines Tages nach dem Essen zu Cal. »Wir würden uns freuen, wenn Sie uns etwas von Ihren Erfahrungen erzählten; vielleicht könnten Sie uns ein wenig helfen.« »Erzählen? Worüber?« Cal war gerade dabei, seine Stiefel auf Hochglanz zu bringen. Er sah hoch. »Über das Soldat-Sein«, sagte Washun. Cal sah ihn lange an, aber der Bursche sprach ganz im Ernst. »Geh an die Front und laß dir ein paar Ladungen draufknallen – dann weißt du’s.« Cal wandte sich wieder dem Stiefelputzen zu. Er hörte, wie Washun sich entfernte. Washun war einer von denen, die zum Soldaten nicht taugten. Ganz anders als Tommy Malewski, der neunzehnjährige Bursche, der ihn damals auf dem Herflug um Feuer gebeten hatte. Ihn hatte man jetzt, nach sechs Wochen, völlig von seinen Extratouren geheilt. Er hatte ursprünglich gedroht, er würde abhauen, wenn er das erste Mal zu früh geweckt würde. Aber er hatte nichts dergleichen getan, und jetzt war er schon zum Gefreiten befördert worden. Washun hatte hart an sich gearbeitet, aber es war klar, daß er das alles haßte. Dazu sprach er auch viel zu viel von Ethik und Verantwortlichkeit und ähnlichen nebelhaften Dingen. Die Zurufe wie »Feige Memmen«, 79
die er und die anderen – ausgenommen Cal – dauernd zu hören bekamen, verletzten ihn tief. Im Gegensatz zu den anderen hatte er auch schon mal einen harten Kampf mit Lie, einem anderen Kadetten aus der Sektion A, wegen dieses Ausdrucks ausgefochten. Er hatte verbissen gekämpft und war zum Schluß ein knapper Sieger gewesen. Und dies auch nur, weil Ortmann und ein anderer Ausbilder die beiden Kämpfenden entdeckt hatten und befahlen, daß sie weitermachten, bis schließlich der andere zusammenbrach, hauptsächlich wohl vor Erschöpfung. Als Ergebnis dieses Kampfes war Washun zu einem kleinen Helden gestempelt worden und galt als Anführer der Gruppe. Obwohl er alle Verantwortlichkeit von sich wies, kamen sie doch alle mit ihren kleinen und großen Sorgen zu ihm. Und das wieder gefiel Ortmann keineswegs, der das für eine gefährliche Situation hielt. »Wieder mal Gericht gehalten?« pflegte er einmal zu fragen, als sie angetreten waren, und Cal, der neben Washun stand, sah aus den Augenwinkeln, wie dieser blaß wurde – genau wie damals, als er mit Lie gekämpft hatte. »Jawohl, Feldwebel«, antwortete er automatisch, sah dabei starr vor sich hin und versuchte, Ausflüchte zu ersinnen. »Washun«, sagte Ortmann eines Tages müde zu ihm, »glaubst du, daß du diesen Männern einen Gefallen tust? Glaubst du, daß du ihnen hilfst, wenn du sie in dem Glauben läßt, daß sie jemand haben, der alle ihre Dummheiten wieder ausbügelt? Antworte – nein, laß es!« Ortmann 80
seufzte müde. »Ich will mir heute morgen keine Philosophien anhören – Leute!« brüllte er dann. »Wenn ich irgendwann noch mal jemand erwische, der bei einem anderen sein Herz ausschüttet, der bekommt beim nächsten Nachtmarsch das doppelte Gepäck zu schleppen. Und wenn ich ihn noch mal erwische, das dreifache. Steckt euch das hinter die Ohren, ihr Milchbabys!« Er wandte sich wieder an Washun. »Putz deine Stiefel!« schnappte er. »Kannst du hier zum Dienst nicht in sauberen Sachen erscheinen? Wenn du zuviel Zeit für die Bauchschmerzen dieser Würstchen verschwendest, verlange ich Meldung. Du brauchst noch eine ganze Menge, um ein ordentlicher Soldat zu werden, Washun. Das gilt übrigens für euch alle!« Er schritt die Front entlang und blieb vor Cal stehen. Für einen Augenblick trafen sich ihre Augen. Cal blickte ihn an, als hätte er eine Steinmauer vor sich. Sein Gesicht blieb unbewegt. Ortmann ging weiter. »Sterr, zieh die Decke glatt; das ist eine Schlamperei! Jacks, wasch dein Arbeitszeug und bügle es anständig, Drecksack! Malewski…« An jenem Abend nach dem Essen kam eine Abordnung der Kadetten, die zum Kontakt-Dienst sollten, zu Cal, der gerade den Eßraum verlassen wollte. Washun war nicht dabei. Sie zogen Cal beiseite. »Sie sollten etwas dagegen tun«, sagten sie ihm. »Ich?« Cal starrte sie an. »Was sollte ich tun?« 81
»Mit Ortmann sprechen«, sagte ein hochgewachsener Bursche mit dem Akzent eines Mannes aus den Südstaaten. »Er hackt auf Washun herum, obwohl dieser alles genau so gut macht wie die anderen. Das ist ungerecht.« »So?« machte Cal. »Sag’s doch Ortmann selbst.« »Er wird uns gar nicht zuhören. Aber Sie mag er.« »Mich mag er?« »Er beschimpft Sie nie wie uns andere. Sie müssen nie Sonderdienst machen. Er ist mit Ihnen immer einverstanden, weil er weiß, daß Sie das Ganze schon mal geschafft haben.« »Nein«, antwortete Cal. »Die Tatsache, daß ich alles richtig mache, ist der Grund dafür. Nach meiner Meinung verfährt Ortmann mit Washun und euch allen ganz ordentlich.« »Sicher«, sagte ein kleiner schwarzhaariger Bursche voll Bitterkeit. »Sie wollen für uns nichts tun. Sie denken wohl, Sie wären einer von ihnen, ein Kumpel von Ortmann und den anderen.« Cal sah sie alle der Reihe nach an. Sie bewegten sich unruhig. »Legen Sie uns keine Steine in den Weg, Truant«, sprach der Große wieder. »Wir fürchten Sie nicht.« Cal schnaubte verächtlich und ging weiter. Die erste Hälfte der Grundausbildung hatte aus Lehrfilmen, Lektüre, theoretischem Unterricht, Drill und Ausbildung an leichten Waffen bestanden. Mit Beginn der zweiten Hälfte zogen sie ins Feld hinaus; das Training 82
zum Überleben begann: Gewaltmärsche, Nachtübungen, taktische Probleme, die in Fluchtübungen gipfelten, und ähnliches mehr. Die Gruppe war von ursprünglich dreihundert Mann auf nahezu die Hälfte zusammengeschmolzen. Die durchgefallenen Kadetten waren natürlich nicht ins Zivilleben zurückgekehrt. Sie wurden zum Stubendienst abkommandiert, hatten für die Verpflegung zu sorgen und waren für die Beschaffung von Ersatzteilen verantwortlich. Unter ihnen waren alle, die zum KontaktDienst kommen sollten, abgesehen von Cal, dem großen Burschen mit dem südländischen Akzent und Washun. Und damit ergab sich für Cal ein neues Problem. Jetzt, da alle Schwächlinge gegangen waren, mußte Cal feststellen, daß Ortmann Washun tatsächlich unfair behandelte. Sie hätten natürlich beide nachgeben können, aber auch Ortmann war nur ein Mensch. Und wo Ortmann legale Autorität auf seiner Seite hatte, hatte Washun die Waffe der Überlegenheit des Gemarterten für sich. Es war ein Kampf des Geistes, wobei jeder versuchte, den anderen ins Unrecht zu setzen. Und Washun schien zu gewinnen, das dämmerte Cal jetzt langsam mit erschrekkender Deutlichkeit. Schon hatte Washun die Kadetten auf seiner Seite. Jetzt war er dabei, Cal umzustimmen. Und eines Tages würde er auch Ortmann brechen, wenn dieser nicht vorher seine Niederlage zugeben würde. Das war alles falsch, sagte sich Cal. Das Recht lag auf der Seite von Ortmann, es mußte auf seiner Seite liegen. Ortmann tat jeden Tag sein bestes, um allen beizubringen, 83
wie man einen Kampf gewinnen und wie man überleben konnte. Und Washun, der sich nur auf eine Handvoll halbgarer Theorien stützte, nahm sich das Recht, dieses von Ortmann vermittelte Können als etwas Unsauberes, sogar Schlechtes hinzustellen. Cal merkte, daß er Washun zu hassen begann. Washun hatte Cal aus seiner Isolierung gerissen. Washun war, genau wie Cals Vater, einer von denen, die mit Beharrlichkeit darauf bestanden, nur Gutes zu tun, und dabei doch nur Tragödien und Leid hervorriefen. Cal konnte ihn geradezu deklamieren hören, wie einst seinen Vater: »Sozialethik: eine Philosophie, die besagt, daß die Menschheit nur weiter existieren kann, wenn sie sich dazu bekennt, daß die erste Pflicht jedes Individuums die Fürsorge für die anderen ist und man erst an zweiter Stelle für sich selbst sorgen darf.« Cal wartete ungeduldig auf den Tag, an dem Ortmann die Geduld verlieren und Washun endlich den Kopf gerade setzen würde. Es dauerte nicht lange, bis das geschah. Sie hatten schon ein paarmal das Anschleichen an den Feind geübt. Dabei mußten sie mit voller Ausrüstung auf dem Bauch über den felsigen Boden rutschen, während ein paar Meter über ihnen Granaten und Strahlschüsse hinweggingen. Eines Tages wurden sie während eines nachmittäglichen Unwetters wieder einmal über den Exerzierplatz gejagt. Die Kadetten, die sich wegen des Wetters schon beschweren wollten, fanden schnell heraus, daß sie in dem plötz84
lich entstandenen Matsch so leicht wie auf einer Schlittschuhbahn vorankamen. Sie begannen schon, darüber Witze zu machen, und einer – er hieß Wackell – hatte entweder dabei seinen Kopf zu hoch gehoben oder ein Geschoß war einfach zu tief gehalten worden. Jedenfalls passierte es. Ein Stahlsplitter von einem Explosivgeschoß traf ihn an der Schulter und am Oberschenkel. Er begann zu brüllen, und Washun, der in seiner Nähe war, lief zu ihm. »Nur Ruhe«, sagte Ortmann grimmig, als sie wieder vor ihrem Quartier angetreten waren, noch tropfend vom Wasser und von dem Schlamm, durch den sie gekrochen waren. »Ihr habt es alle gehört; ihr habt es fünfzigmal gehört. Im Kampf darf ein Soldat nicht anhalten und einem anderen helfen. Er hat weiter zu kämpfen. Hast du irgendetwas dazu zu sagen, Washun?« »Nein, Feldwebel«, antwortete Washun, starr geradeausblickend. Ortmann hatte ihn schließlich doch so weit gebracht, daß er nicht mehr argumentierte, wenn sie angetreten waren. »Nun komm!« gab Ortmann zurück. »Ich bin sicher, daß du etwas zu sagen hast. Laß hören!« »Ganz einfach«, sagte Washun und starrte mit weißem Gesicht auf die Wand gegenüber. »Das wird mal meine Aufgabe sein: Flügel-Helfer bei einem Angriff im Feld. Jeder weiß das. Ich werde keine Waffen tragen, ich werde Leuten wie Wackell helfen.« »Fein«, gab Ortmann sarkastisch zurück. »Du wirst ih85
nen helfen. Du wirst ihnen helfen, wenn die Zeit dazu gekommen ist! Aber jetzt wirst du hier zu einem Soldaten ausgebildet, nicht zu einem oberschlauen Kontakt-Mann. Und du hast zu lernen, daß ein Soldat nicht aufhört zu kämpfen, um irgendjemand zu helfen! Malewski! Jones! An die Nord- und Südecke der Kaserne! Paßt auf den Mann auf! Volle Ausrüstung, Washun! Los! Um die Kaserne herum!« Washun trat einen Schritt aus der Reihe vor und begann, im Dauerlauf um die Gebäude herum zu laufen. Malewski versetzte ihm einen Hieb mit seinem Stab, als er an ihm vorbeitrottete. »Abtreten! Duschen, Essen – und saubere Kleider!« bellte Ortmann den Rest der Gruppe an. »Und macht die Räume nicht dreckig!« Zwanzig Minuten später trat Cal aus dem Eßsaal heraus. Er war gewaschen, frisch rasiert, hatte eine reine Uniform an und rauchte jetzt in der kühlen Abendluft. In einiger Entfernung sah er Washun um die Kaserne herumtraben. Zwei andere Kadetten paßten jetzt auf ihn auf, damit Malewski und Jones sich auch waschen und essen konnten. Washun lief nicht schnell und atmete nur etwas heftiger als vorhin. Aber seine Augen zeigten schon einen glasigen Blick. Es war nichts Ungewöhnliches für einen Mann in guter Verfassung, eine Stunde und länger um die Gebäude herumzulaufen, bevor er aufgab. Er wurde nicht gezwungen, schnell zu rennen, er mußte bloß immer weiter laufen. Die 86
Gebäude standen weit genug auseinander, so daß ihm nicht schwindlig werden konnte. Die Strafe war überhaupt keine körperliche, sondern eine geistige. Nach einem Dutzend Umrundungen begann man langsam, das Zählen zu vergessen; die Bauten um einen herum nahmen eine unwirkliche Gestalt an, und man fühlte sich wie in einer Tretmühle. Es schien, als sei man schon immer so gelaufen und als würde niemals ein Ende kommen. Es war wie eine Vorhölle, während der Geist darauf wartete, daß der vorzüglich trainierte Körper aufgeben würde. Die Beine aber bewegten sich automatisch. Schwitzend unter der schweren Ausrüstung und nach Atem schnappend, rannte der Mann weiter und kämpfte mit sich, um seine eigenen Leiden zu verlängern. Ortmann hätte das natürlich stoppen können. Aber er würde es nicht tun. Cal beobachtete den laufenden Mann. Er fand immer noch kein Mitgefühl für ihn, und von seinem Standpunkt aus war nichts Unrechtes dabei, einen Mann um die Kaserne zu jagen. Was ihn störte – wie ihm jetzt langsam aufging – wurzelte in der Frage nach Recht und Unrecht im Leben eines normalen Soldaten. Was ihn ferner störte, war die Tatsache, daß die Bestrafung ein Fehlgriff war. Einen Mann um die Kaserne zu jagen, war die letzte Möglichkeit; es war zum Beispiel das beste Mittel für einen Kadetten, der sich weigerte, sich zu waschen. Es war für jemand gedacht, der ein ewiger Quertreiber war und den man anders nicht heilen konnte. 87
Aber das war Washun nicht. Innerhalb gewisser Grenzen war er so gut wie jeder andere Kadett. Und er war auch nicht mehr zu retten, weil er schon für den KontaktDienst verloren war. Schließlich konnte die Strafe auch nicht ein Exempel für die anderen sein, die gar nicht in Washuns Fußstapfen traten. In Cals Augen hatte Ortmann die Befähigung zur Ausbildung von Kadetten verloren, da er sich dazu hinreißen ließ, ohne Grund über Washun so eine Strafe zu verhängen. Ortmann hatte verloren. Und Washun, der schon ganz außer Atem war und mit leerem Blick vor sich hinstarrte, während er die nicht endenwollenden weißen Wände der Kasernengebäude umrundete, hatte gewonnen. »Truant!« Cal wandte sich scharf um. Es war Ortmann, der aus der Richtung seines Dienstzimmers kam. »Geh in den Raum des Wachhabenden«, sagte Ortmann. »Es ist nicht ganz nach den Vorschriften – aber du hast Besuch.«
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SIEBTES KAPITEL Die Besucher waren der junge Tack, Joby Loyt und Walk Blye von seiner alten Mannschaft. Joby und Tack trugen Korporalspangen und Walk steckte in der grauen Uniform der Offiziere. Sie hatten alle schon getrunken, und Walk war drauf und dran, umzukippen, obwohl das nur jemand sehen konnte, der ihn gut kannte. Der Alkohol in ihm zeigte sich bis jetzt nur dadurch, daß er sich ein wenig schneller bewegte und seine Augen etwas mehr als sonst glitzerten. Ein Fremder hätte sich gesagt, daß Walk eben ein sehr lebhafter Mensch sei, aber für die, die ihn kannten, war es ein Zeichen der Gefahr. »Wie ist es, Korporal?« fragte Walk den diensthabenden Offizier. Es war derselbe, der damals Cal und seine Gruppe abgeholt hatte. »Können wir ihn ein wenig mitnehmen?« Walk – als Leutnant – stand zwar nur eineinhalb Stufen im Rang über dem Korporal, aber das erlaubte ihm, etwas vertraulicher mit ihm zu sprechen, als sei er ein hoher Offizier. Der Korporal überlegte eine Sekunde, dann sagte er: »Er darf das Gelände nicht verlassen. Aber in dem Wald da drüben, jenseits der Straße, ist ein Schützengraben, mit einem Unterstand. Nehmen Sie ihn mit, aber bringen Sie ihn vor dem Zapfenstreich und in gutem Zustand zurück.« »Mein Wort darauf«, erwiderte Walk. Dann verließen die vier den Raum und trollten sich in Richtung Wald. 89
Etwa fünfzig Meter weiter fanden sie den Unterstand, im Schatten einer Gruppe gelber Pappeln. Sie machten es sich bequem. Flache Flaschen mit echtem Bourbon erschienen, und Cal erfuhr, daß sein alter Angriffsflügel – der Vierte – ganz in der Nähe ein Lager aufgeschlagen hatte, um sich auf den nächsten Feldzug gegen die Paumons vorzubereiten. »Trink«, ermunterte ihn Walk. Und Cal trank durstig, beinahe gierig. Aber es lag etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, das auch der Alkohol nicht aus dem Weg räumen konnte. Und Cal bemerkte, daß Tack und Joby genau so merkwürdig davon berührt waren wie er. Walk selbst war ein Rätsel. Man konnte beim besten Willen nicht sagen, was er fühlte. Er saß im Dämmerlicht zwischen ihnen und trank nur halb soviel wie die anderen. Er schien gelangweilt. Als Walk keinen Whisky mehr hatte und er eine neue Flasche holen ging – er hatte sie in der Nähe versteckt; das war ihm sicherer gewesen, als sie mit in das Trainingslager zu bringen – fragte Cal die anderen: »War es sehr schwer, ihn zum Mitkommen zu überreden?« »Aber nein!« erwiderte Tack. »Es war Walks Idee. Wir hätten auch nicht geglaubt, daß man dich gehen lassen würde. Walk hat das alles arrangiert.« Cal schüttelte verwundert den Kopf. Walk kam mit der neuen Flasche zurück, während langsam die Dämmerung hereinbrach. Das ungewohnte Trinken aus der Flasche 90
zeigte bei allen erste Wirkungen. Für einen Moment stand die Zeit still und alte Erinnerungen kamen zurück. Walk saß zwischen den Mauern des Unterstandes und leerte seine Flasche, dabei summte er vor sich hin: » – Ich – hab – keine – Ma-ma …« Sein rauher Tenor ging ihnen zu Herzen. »Keine Frau – kein Baby – und keine …« »… Liebste«, fielen sie alle automatisch ein. Es war der »Trauergesang der Pioniere«, und sie hatten ihn schon bei hundert anderen Trinkgelagen gesungen. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne waren schon verschwunden, als sie ihren Gesang beendeten. Cal merkte, wie sich die Nebel des Alkohols in seinem Gehirn verdichteten. Und er erinnerte sich an seine schmutzigen Sachen im Lager. Er kam mühsam und etwas schwankend auf die Beine. »Muß gehen«, sagte er mit schwerer Zunge. »Danke für alles. Bis später einmal.« »So long, Leutnant«, antwortete Jobys Stimme. »Sicher!« Das war Walks Stimme, die hart und klar aus der Finsternis kam. »Bis später einmal, feige Memme.« Ein eiskalter Schock durchfuhr Cal. Er fror. Über ihnen erschien der erste blasse Schimmer des Nachthimmels zwischen den schwarzen Ästen der Bäume. Aber hier unten in dem Graben war alles in Finsternis getaucht. In der Ferne zwitscherte noch ein Vogel. Für einen Moment hing eine schwere Stille zwischen ihnen, und dann begann Tack unsicher zu lachen. Eine 91
Sekunde später fiel auch Joby ein. Dann lachte auch Walk und schließlich sogar Cal. Aber das Lachen klang nicht echt. Cal merkte, wie seine Finger zitterten, als er sich eine Zigarette herausnahm. Obwohl es eine der selbstzündenden war, holte er auch noch sein Gasfeuerzeug aus der Tasche. Mit der Zigarette und dem Feuerzeug in der Hand tat er einen Schritt vorwärts zu Walk hin. Er steckte die Zigarette in den Mund und ließ das Feuerzeug schnappen. Die Flamme, die so urplötzlich in die Dunkelheit einbrach, zeigte Walks Gesicht – anscheinend allein in der Finsternis schwebend – , der Mund stand weit offen, und seine Gesichtszüge waren vom Lachen verzogen. Dann verlöschte die Flamme. »Muß gehen«, sagte Cal noch einmal. Er wandte sich um, kletterte den Graben hoch und schritt in Richtung auf die Kaserne davon. Das Lachen verstummte hinter ihm im Dunkeln. In der Kaserne waren bereits alle Lichter aus, nur in dem Raum, wo Ortmann schlief, brannte noch eine Lampe. Die Tür stand offen, und als er vorbeiging, konnte er sehen, daß der Feldwebel noch an seinem Schreibtisch saß und an seinen Berichten arbeitete. Ortmann hob den Kopf, als er Cal hörte, und für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Dann ging Cal in den dunklen Raum, an dessen Wänden sich die doppelstöckigen Schlafkojen reihten. Washuns Koje war leer. In dem unteren Bett daneben lag der große Bursche, der auch in den Kontakt-Dienst 92
wollte; er las in dem Dämmerlicht, das von Ortmanns Raum hereindrang. Er sah auf, als Cal vorbei kam, und sein Blick heftete sich böse an dessen Fersen, während Cal zu seiner Koje weiterging, die sich am Ende des Raumes befand. Seine Sachen hingen noch immer schmutzig am Fußende des Bettes, aber Cal beachtete sie nicht. Er schlüpfte aus seiner Kleidung und kroch unter die Decke. Vor seinen geschlossenen Augen tauchte Walks Gesicht auf, so wie er es in dem Licht des Feuerzeugs gesehen hatte. Sie hatten sich so nahe gestanden, wie sich nur Soldaten im Kampf nahe stehen können. Sie waren jetzt keine Freunde mehr. Sie mußten einander so weit wie möglich aus dem Wege gehen, oder sie würden einander eines Tages umbringen. Walk hatte das Wort nicht gesagt, weil er betrunken gewesen war, nein, es war jener Teufel in ihm gewesen, der ihn immer in solche Situationen trieb. Und er hatte es mit vollem Bewußtsein getan. Aber in dem kurzen Lichtblitz hatte Cal auch gesehen, daß hinter den glitzernden Augen Walks Einsamkeit und Kummer standen.
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ACHTES KAPITEL Drei Wochen später hatte Cal seine Ausbildung bestanden. Mit Washun, dem anderen Kontakt-Mann, und etwa vierzig weiteren Männern von anderen Gruppen wurden sie zur Schule des Kontakt-Dienstes zurück nach Denver geflogen. Dort bekamen sie die graue Offiziersuniform, wie Walk eine getragen hatte, und wurden nun wieder von den einfachen Soldaten und den Offizieren im gleichen Rang mit »Mister« angesprochen. Schon am ersten Tag fanden sie sich in einem Klassenraum sitzend, der nach Art eines Amphitheaters halbrund mit ansteigenden Sitzreihen angelegt war. Vorne war eine erhöhte Plattform, auf der das Pult des Vortragenden stand. »Aach-tungggü« brüllte jemand. Die Klasse erhob sich. Eine Tür hinter der Plattform öffnete sich, und ein kleiner Mann in Offiziersuniform – mit den Insignien eines Obersten – trat ein. Die Papiere, die er in der Hand hielt, legte er vor sich auf das Rednerpult. Der Oberst sah sich um, nickte und wandte sich seinen Papieren zu. Die Männer standen immer noch. Offenbar hatte der Oberst vergessen, sie zum Sitzen aufzufordern. Nachdem er seine Papiere geordnet hatte, beugte er sich vorwärts, stützte die Ellenbogen auf und sah sie an. Jetzt erst bemerkten sie, daß das nicht die Augen eines kleinen, schwachen Mannes waren, für den sie den Oberst beim ersten Anblick gehalten hatten. »Ich hoffe«, begann er in ruhigem Ton, »daß niemand 94
von Ihnen glaubt, die Grundausbildung wäre hart gewesen. Denn Sie werden sehen, daß wir jetzt erst richtig anfangen.« Er ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. »Einige von Ihnen haben sicher gemerkt, daß der Körper sich dem Training, wie Sie es in Fort Norman Cota kennengelernt haben, anpaßt. Hier besteht unsere Aufgabe darin, einen anderen Teil von Ihnen abzuhärten. Während der nächsten zehn Wochen werden wir versuchen, Ihren Geist zu brechen – ohne natürlich die Vorschriften zu vergessen, nach denen man mit Offizieren umgehen muß.« Er machte eine Pause, öffnete ein Fach in seinem Pult, holte ein Glas Wasser hervor und trank einen Schluck. Dann stellte er das Glas wieder weg. »Nach unserer bisherigen Erfahrung kann ich Ihnen sagen, daß uns das bei neun von zehn Männern gelingt. Und die meisten von diesen neun stammen aus jener Gruppe, die einen grundlegenden Fehler machen, indem sie glauben, wir meinten es nicht ernst.« Er machte wieder eine Pause und ließ seine Blicke in der Runde schweifen. »Und gleichzeitig«, fuhr er dann fort, »werden Sie die drei Übungskurse absolvieren müssen, die notwendig sind, damit ein Kontaktoffizier vollwertig wird. Diese drei Pflichten sind …« – er hielt drei Finger in die Luft, während er aufzählte – »… Adjutant für jeden Angriffsflügel beim ersten Angriff beziehungsweise bei jeder Landung, 95
dann Übersetzer und Verwaltungsbeamter für Kriegsgefangene während des Kampfes, und danach drittens schließlich Kontakt-Mann mit der Aufgabe, Freundschaft mit den Wesen zu schließen, deren Verwandte wir gerade getötet, deren Heime wir vernichtet und deren Stolz wir zutiefst getroffen haben.« Er unterbrach sich. Auf eine verteufelt freundliche Art ließ er seine Blicke über die Klasse schweifen. »Wenn Sie das alles gelernt und verstanden haben – und vor allem, wenn Sie durch das Training gekommen sind – , dann wird man Sie zur Bewährung in den Fronteinsatz schicken. Und dann werden Sie merken, daß alle gegen Sie sind. Die Besiegten werden Ihnen mißtrauen, selbst wenn sie nicht direkt mit Haß erfüllt sind. Die einfachen Soldaten halten Sie für Leute, die sich bei den Fremden einschmeicheln wollen, indem Sie ihnen das zurückgeben, was die Soldaten gerade für den Preis ihres eigenen Blutes erworben haben. Und die Offiziere schließlich sehen in Ihnen lästige Spione, die ihnen Hindernisse in den Weg legen.« Er straffte sich. »Unter diesen Umständen erwartet man von Ihnen, daß Sie Ihren Pflichten nachkommen, daß Sie alle Widrigkeiten und Intrigen unbeachtet lassen und dabei ruhig, beherrscht und freundlich bleiben, ferner, daß Sie niemals um eine Antwort, ein Argument verlegen sind und daß Sie niemals Ihre Augen vor einer Situation verschließen, die Ihr Eingreifen erfordert. Wenn Sie das alles schaffen … 96
ich sage, wenn«, der Oberst hielt inne und sah freundlich in die Runde, »nun, wenn Sie das schaffen, dann zweifle ich nicht daran, daß es immer neue Aufgaben für Sie geben wird.« Er schob seine Papiere zusammen und nahm sie auf. Er hatte kein einziges Mal darauf geblickt. »Das wäre dann alles«, sagte er freundlich. »Das war der Stoff der heutigen Stunde. Sie können alle für den Rest der Stunde hierbleiben und darüber nachdenken, diejenigen, die lieber vorher aufgeben möchten, finden das Verwaltungsbüro den ganzen Tag geöffnet. Für die restlichen zehn Prozent jedoch, die es bis zum Ende schaffen«, er trat von dem Rednerpult zurück, so daß seine kleine Figur mit dem steifen Bein wieder sichtbar wurde, »gilt der Ruf: Willkommen, feige Memmen!« Er wandte sich um und verließ den Raum, während die Klasse stehen bleiben mußte. So etwas nannte man »jemanden schlauchen«, erinnerte sich Cal. Die Methode war schon seit undenklichen Zeiten von vielen Organisationen und Kulturen praktiziert worden, und immer mit der gleichen Absicht: festzustellen, ob jemand die benötigte Spannkraft hatte, die Fähigkeit, durchzuhalten, eine Fähigkeit, die vielleicht später einmal von ihm gefordert wurde. Es war ausschließlich eine seelische Tortur. Und Cal glaubte jetzt zu verstehen, daß es die Fortsetzung dessen war, womit man in Fort Norman Cota aufgehört hatte. Es war genau so, wie der kleine Oberst mit dem steifen Bein gesagt hatte. Hier war man 97
wirklich hart. Man war hart, und zwar auf übelste Weise. Am zweiten Unterrichtstag – diesmal durften sie sitzen – informierte sie der Oberst mit sichtlicher Befriedigung, daß es unter ihnen eine bestimmte Anzahl falscher Kadetten gäbe; die Aufgabe dieser Männer wäre es, auf jede nur denkbare Art provozierend zu wirken. »Sie sollen Sie aufstacheln«, sagte der Oberst, »Sie aufhetzen …« Er brach plötzlich ab und ließ seine Augen wie ein beutegieriger Vogel auf einem Kadetten in der ersten Reihe ruhen. »Paßt Ihnen mein Vortrag nicht?« wollte er wissen und begann sofort intensiv und ausdauernd zu fluchen. Die anderen reckten sich, um den Ärmsten sehen zu können und merkten, wie dieser sich verkrampfte, erst blaß und dann rot wurde. Nach einer Minute wandte sich der Oberst wieder der Klasse zu. »Es lohnt die Worte gar nicht mehr. Ich habe einen Blick in seine Personalakte geworfen. Seine Familie, als er so etwa sieben Jahre alt war …« Er fuhr in freundlich plauderndem Ton fort, einen Katalog von Perversionen, Grausamkeiten und anderen Schimpflichkeiten aufzuzählen, die in Zusammenhang mit der Familie des Kadetten standen, deren einzelne Mitglieder der Oberst alle beim Vornamen nannte. »… Jetzt zu seiner älteren Schwester Myra …« Plötzlich sprang der Junge hoch und brüllte zurück. Der Oberst brach ab, stützte seine Ellbogen auf und lauschte interessiert, bis der Kadett schließlich abbrach, sich umdrehte und aus dem Raum stürzte. 98
»Sehen Sie«, sagte der Oberst erfreut, »dann sind wir für heute schon einen losgeworden.« Er machte eine Notiz in seinen Papieren. Während er das tat, fing sein Blick den von Cal auf, der ebenfalls in der vordersten Reihe saß. »War sehr empfindlich, nicht wahr?« fragte er Cal vertraulich. »Sir?« antwortete Cal mit unbewegter Miene. »Ah«, rief der Oberst und winkte der Klasse. »Hier ist einer von den Charakteren, die sich mit einer Betonmauer umgeben. Paßt überhaupt nicht auf. Ein ElfenbeinturmTyp.« Er lächelte. »Natürlich hat er es raus, wie man Meinungen übergeht. Ich habe auch seine Personalpapiere studiert, genau wie die von Ihnen allen. Dem Vater dieses Mannes wurden einmal im Stadtpark fünfzig Hiebe verpaßt, weil er ein paar junge Männer in Schwierigkeiten gebracht hat. Nicht wahr?« wandte er sich an Cal. Und dann wurde seine Stimme messerscharf. »Antworten Sie mit Ja oder Nein.« »Sir …« versuchte es Cal. »Ja oder Nein?« Für einen Moment war Cal blind vor Wut. Dann aber gab er sich einen Ruck. »Jawohl, Sir«, sagte er, ohne seinen Tonfall zu verändern. »Sehen Sie?« sagte der Oberst, zur Klasse gewandt. »Er gibt es zu. Und Sie können sehen, daß es ihm gar nichts ausmacht. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich in respek99
tabler Entfernung von ihm halten. Er macht auf mich den Eindruck, als hätte er die Ansichten seines Vaters übernommen.« Ein anderer schien die Aufmerksamkeit des Oberst erregt zu haben. »Sie billigen meine Methoden nicht?« fragte er jemand hinter Cal. Cal wandte sich um, als eine Stimme »Nein, Sir« antwortete. Es war Washun, wie Cal sah. Washun war genau so blaß wie immer, wenn er vor Ortmann gestanden hatte. Aber seine Stimme klang fest und bestimmt. »Bitte machen Sie einen anderen Vorschlag«, forderte ihn der Oberst auf. »Ich habe jetzt keinen anderen Vorschlag zur Hand, Sir.« Washun wurde noch blasser. »Aber eines Tages wird man eine bessere Methode ausarbeiten.« »Genug!« unterbrach der Oberst. »Ihr Einwand ist ein leerer Protest und hat keinen praktischen Wert.« Er nahm einen Bleistift auf und fuhr damit über ein Schriftstück vor sich. »Ich gebe Ihnen eine Chance, und nur eine, Ihre Bemerkung zurückzuziehen. Nehmen Sie sie zurück?« Washun zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. »Nein, Sir«, sagte er dann mit Bestimmtheit. »Sie haben mich gefragt und …« »Das genügt. Stehen Sie auf!« unterbrach der Oberst. Er machte sich eine Notiz. »Sie haben die Ehre, den ersten Pluspunkt zu erhalten, den ich in dieser Klasse ausgebe. Sie alle werden sich das hinter die Ohren schreiben. Sie sollen immer sagen, was Sie denken, ob das nun für Sie gut ist oder nicht. Im übrigen aber, Mr. Washun, wollen 100
wir uns hier nicht gegenseitig beweihräuchern. Ein Tadel ist häufiger. Und deshalb werden Sie für den Rest der Stunde stehen bleiben. Als Mahnung für sich selbst und für die anderen.« Damit wandte er seine Aufmerksamkeit von Washun weg und begann einen anderen Schüler in der zweiten Reihe zu quälen. Bis zum Ende der Stunde hatte er es geschafft, die Klasse um zwei weitere Mitglieder zu verkleinern. Als Cal zum nächsten Unterricht erschien, merkte er, daß jemand seine Notizen von der vorigen Stunde gestohlen hatte. So waren die Lebensbedingungen für die Kontaktdienst-Anwärter. Die Kandidaten wurden zu viert in einem Raum untergebracht, in dem sie ihre Aufgaben machen konnten. Essen gab es in einer Mensa. Die Mahlzeiten und die Betten waren gut. Aber es ging vieles schief, erst das eine, dann das andere. Das Bettzeug, das sie bekamen, erwies sich als zu kurz für die Betten. Der für die Ausrüstung verantwortliche Offizier gab an, daß er ohne besondere Genehmigung die Sachen nicht umtauschen dürfe. Manchmal wurde das Essen ohne Grund verzögert, oder es wurde schlecht serviert. Feste Speisen waren zu Brei gekocht; Suppen, die heiß sein sollten, waren eiskalt. Die einfachen Rekruten, die nicht zu ihnen gehörten, beschimpften die Kandidaten. Wenn sie jemand in schlechten Ruf bringen konnten, taten sie es. Langsam merkten Cal und die anderen, daß es keinen einfachen, 101
bequemen Weg gab, durch die Kontaktschule zu kommen. Es gab nur einen beschwerlichen Weg. Dann kam die Feindschaft hinzu, die ihnen die übrigen Referenten entgegenbrachten. Es schien beinahe so, als ob in dem Moment, in dem ein Kandidat einen Pluspunkt erworben hatte – wie Washun zu Anfang –, alle anderen Lehrer wetteiferten, ihm das zu versauern. Beschimpfungen und falsch zensierte Arbeiten gehörten noch zu den mildesten Waffen der Referenten. Cal war zusammen mit Washun und einem halben Dutzend anderer schon frühzeitig ausgesondert worden, um mit diesen Schikanen gepiesackt zu werden. Aber Cal, der nicht die philosophische Kühle wie Washun besaß, hatte doch eine tiefe angeborene Sturheit in sich entdeckt, die ihn nicht nachgeben ließ. Genau wie damals, als er in der Rakete saß, um zu der zweiten Grundausbildung gebracht zu werden, so sagte er sich auch jetzt, daß man einfach nur den Kopf gebeugt halten, dabei aber doch vorwärtsgehen mußte, und im übrigen den Instruktoren ihre Freude an dem häßlichen Spiel lassen sollte. Und das tat er. Aber als die Zeit voranschritt und der seelische Druck immer schlimmer wurde, merkte er, daß er bald explodieren würde. Daß der Moment kommen würde, wo der empfindsamere Teil seines Verstandes und seiner Seele revoltieren mußte. Dann bestand Gefahr, daß sein Temperament durchging. Und so kam die Nacht, in der er wußte, daß der nächste Tag sein letzter in der Klasse sein würde. 102
Während er so in der Dunkelheit lag und auf die Matratze über sich starrte, kam ihm eine überraschende Lösung in den Sinn. Leise stand er auf, schlüpfte auf nackten Füßen und in Shorts und Unterhemd aus dem Raum und schlich zu der kleinen Plattform nach draußen, wo die Feuerleiter begann. Sechs Etagen unter ihm, in der Nacht nicht sichtbar, war der Betonboden des Exerzierplatzes. Wenn es zum Schlimmsten kam, dachte er, würde ein Sturz hier über das Geländer bei Nacht, während er gerade eine Zigarette rauchte, die Tatsache vertuschen, daß sie ihn gebrochen hatten. Eine wilde, wütende Freude überkam ihn bei dem Gedanken. Er würde sich nicht ergeben. Was auch immer passierte, er würde immer bis zum Abend warten können. Und in der Nacht, in der er den nächsten Tag nicht mehr erleben wollte, in der Nacht würde er das tun, was ihm als einzige Lösung erschien. Und plötzlich kam sein gesunder Menschenverstand wieder durch. Er erwachte aus seinen quälenden Träumen. Es war, als hätte jemand ein schmutziges Fenster reingewaschen, so daß er auf einmal deutlich hindurchsehen konnte. Der wilde Gedanke an Selbstmord verschwand wie der Schmutz, der das Fenster vorher undurchsichtig gemacht hatte. Der Druck, den die Schulung auf ihn ausübte, schrumpfte zu den üblichen Sorgen zusammen, denen man immer und überall ausgesetzt war. Plötzlich sah er, wie hilflos eigentlich solche Methoden wie die hier ausgeübten, waren. Es gibt doch nichts, dachte er verwundert, das sie mir 103
antun können. Mir kann niemand etwas anhaben. Der Tod war die einzige und ultimate Waffe, mit der man jemand bedrohen konnte. Und wer sich sein Leben lang nichts zuschulden kommen ließ, dem konnte man auch damit nicht imponieren. Zum ersten Mal spürte Cal ein wenig von der großen Kraft, die einen gläubigen Menschen bewegt, gleich welchen Glaubens er auch sein mochte. Und zum ersten Mal dachte er auch an die acht Prozent der Menschheit, die an dasselbe glaubten, an das sein Vater geglaubt hatte. Ein Hauch von Ehrfurcht bewegte ihn, als er an die Macht dachte, die diese Menschen verkörpern könnten. Nachdenklich ging er zu seinem Bett zurück. Am nächsten Tag wachte er mit klarem Kopf auf. Als er zum Unterricht ging, merkte er, daß ein kleines Wunder geschehen sein mußte. Bis jetzt hatte er immer so getan, als ob ihn die Worte und Handlungen, die ihn zum Aufgeben anstacheln sollten, nicht berührten. Jetzt auf einmal merkte er, daß es ihm wirklich nichts mehr ausmachte. Die Angriffe auf ihn waren zu Schattenwaffen geworden, die von Schatten geführt wurden. Sein Blick sah hinter ihnen wichtigere Dinge. Einmal, als sie an der Glastür zum Eßsaal vorbeimarschierten, sah er sein Spiegelbild. Er lächelte.
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NEUNTES KAPITEL Am Ende der zehn Wochen hatten Cal, Washun und die restlichen zehn Prozent es geschafft – ganz wie es der Oberst am Anfang vorhergesagt hatte. Während die anderen ihre neuen Leutnantsabzeichen mit auf einen achttägigen Urlaub nahmen, ersuchte Cal am nächsten Tag um eine Unterredung mit General Scoby. Die blasse, aber klare Septembersonne schien auf die Papiere auf General Scobys Schreibtisch, als Cal zum zweiten Mal dessen Dienstraum betrat. Seit sie sich damals getroffen hatten, war die Zeit nicht stehen geblieben; die Bergwelt um Denver herum war in herbstliche Farben getaucht. Und der Ort jener ersten Begegnung lag viele Millionen Kilometer hinter ihnen auf dem Weg, den die Erde durch Raum und Zeit zurückgelegt hatte. Scoby saß genau so da wie damals, aber die Cheetah mit Namen Limpari lag diesmal quer über dem Schreibtisch mit ausgestreckten Pfoten, so daß sie die Ärmel von Scobys Hemd berührten, und hatte den Katzenkopf darauf gelegt. Die Augen des Tieres wandten sich Cal zu, als er eintrat, sonst machte Limpari keine Bewegung. Scoby sah auf. »Nun, Leutnant«, sagte er, »nehmen Sie Platz.« Cal setzte sich. »Sie sagten, ich sollte wiederkommen, wenn ich durch die Kontaktschulung durch wäre, General.« »Richtig.« Scoby langte nach seiner Pfeife und begann sie zu stopfen, während er Cal kühl betrachtete. 105
»Sie haben es also geschafft.« Irgendetwas an dieser Frage schreckte Cal aus dem Frieden auf, den er in den letzten Tagen in der KontaktSchule gefunden hatte. Seine alte Wachsamkeit und Verteidigungsbereitschaft kam wieder, gleichsam wie ein scharfes Schwert, das aus der Scheide gezogen wurde. »Sie haben das nicht erwartet?« »Naja«, sagte Scoby, hielt dabei sein Feuerzeug an seine Pfeife und stieß dicke Qualm wölken aus, »ich möchte Sie für den Dienst einsetzen, den ich im Auge habe, aber zur gleichen Zeit fürchte ich mich auch davor.« »Sir?« »Sie sind aus gutem Holz geschnitzt«, sagte Scoby. »Ich möchte Sie so hoch wie möglich in meine Organisation einreihen. Aber ich möchte nicht, daß Sie schneller dort hinkommen, als für Sie gut ist. Sie müssen erst seelisch aufgeschlossen sein. Erzählen Sie mir etwas über die Paumons. Was haben Sie über sie in der Kontakt-Schule gelernt?« Cal runzelte die Stirn. »Sehr menschenähnlich«, antwortete er. »Beinahe menschlich genug, um in einer großen Menge untertauchen zu können. In nacktem Zustand würde man natürlich den Unterschied merken. Aber in Kleidern sehen sie aus wie ein Eskimo mit Sonnenbrand.« »Ah …« Scoby schloß seine Augen. »Wie nennt man sie?« »Sir?« 106
»Die Soldaten und alle anderen, die von ihnen wissen. Welchen Namen haben sie für die Paumons?« »Oh«, erwiderte Cal, »Progs.« »Und was bedeutet das? Wie nennen Sie sie?« »Was das bedeutet?« echote Cal. »Ich weiß nicht, Sir. Ich selbst nenne sie manchmal Paumons und manchmal Progs, je nach dem, mit wem ich spreche.« »Hm«, brummte Scoby. »Sie werden’s noch ’rausfinden. Wie steht es mit ihrer Kultur?« »Industrie. Sie gewinnen Energie aus Vulkanen.« »Kunst? Philosophie?« Cal sah den älteren Mann an. »Kunst?« fragte er gedehnt. »Philosophie? Darüber wurde in der Schule nichts gesagt.« »Und Sie haben sich natürlich auch nicht selbst darum gekümmert. Was ist die Aufgabe des Kontakt-Dienstes? Können Sie mir das sagen?« »Jawohl, Sir«, antwortete Cal. »So wie die Aufgabe der bewaffneten Truppe das Fernhalten des Feindes von der menschlichen Rasse ist, so ist es Aufgabe des KontaktDienstes, die Grundlage für eine friedliche zukünftige Zusammenarbeit mit den früheren Feinden zu legen!« »Sie sind wirklich groß im Hersagen von erlernten Sprüchen, Leutnant. Nun sagen Sie mir auch, wie Sie das anpacken wollen!« »Indem ich brauchbare Beziehungen mit den Führern der Paumons anknüpfe und indem ich mit ihnen die Bedingungen für eine zukünftige Zusammenarbeit ausarbeite.« 107
»Verdammt noch mal«, brüllte Scoby plötzlich und hieb mit der Faust auf den Tisch. Limparis Kopf kam hoch wie der einer Kobra. »Ich habe nicht nach Kapiteln und Versen gefragt. Ich habe gefragt, was Sie tun würden?« »Meinen Dienst«, erwiderte Cal und blickte in die Augen seines Gegenübers. »Das, was man mir aufträgt.« »Und ich sage Ihnen«, schnarrte der General und lehnte sich nach vorne, »daß niemand Ihnen etwas aufträgt. Sie werden so handeln müssen, wie Sie es für richtig halten!« Er studierte Cal. »Wissen Sie, warum nichts über die Kunst und Philosophie der Paumons im Kursus gesagt wurde? Weil ich gesagt habe, sie sollten es nicht. Wenn Sie etwas darüber wissen wollen, dann finden Sie es selbst heraus. So weit es die Kampftruppe angeht, sind Sie ein verdammter Adjutant und ein verdammter Dolmetscher, der denen Kopfschmerzen macht. So weit es mich betrifft, sind Sie ein verdammter Stellvertreter, der nach christlichen Grundsätzen handelt, und ich erwarte, daß Sie etwas Vernünftiges zustande bringen.« Er sah lange auf Cal. Der erwiderte den Blick, ohne eine Miene zu verziehen. »Na schön«, sagte Scoby dann ruhiger, während Limpari ihren Kopf wieder sinken ließ, »wie ich schon sagte, erwarte ich von Ihnen mehr, als ich für gewöhnlich von meinen Untergebenen verlange. Ich habe eine besondere Aufgabe für Sie: Kontaktoffizier – bei Ihrer alten Truppe.« 108
Cal versetzte es einen Schock. Er war ähnlich wie vor drei Monaten nach den bösen letzten Worten von Walk. »Wollen Sie noch abspringen?« wollte Scoby wissen und fixierte ihn dabei aus allernächster Nähe. »Nein, Sir«, erwiderte Cal. »Dann brechen Sie auf.« Scoby wandte sich wieder seinen Papieren zu. Cal erhob sich und verließ den General. Er wollte einen mehrwöchigen Kurs bei den Sanitätsabteilungen absolvieren, um fit für seine Pflichten als Sanitätsoffizier zu sein. Er hatte geplant, Annie am gleichen Abend noch vom Hospital abzuholen. Und er hatte auch in die Bibliothek gehen wollen, um sich noch ausführlicher mit den Paumons zu beschäftigen, nachdem Scoby ihm das nahegelegt hatte. Alles das blieb liegen. Noch an jenem Nachmittag gaben die Nachrichten durch, daß der Streit mit den Paumons seinen Höhepunkt erreicht hatte. Das Weltkabinett war außerplanmäßig zusammengerufen worden. Sechs Stunden später wurde Cal von einer Militär-Patrouille aufgegriffen und auf Grund eines allgemeinen Erlasses gemeinsam mit allen anderen Uniformierten einkaserniert. Achtundsiebzig Stunden danach war er mit dem ganzen Geschwader bereits im Raum auf dem Flug zu den Paumons im System Bellatrix. Die Einquartierung auf ihrem Schiff war wie bei allen Schiffen der Angriffsflotte denkbar eng. Die erfahrenen Soldaten taten daher ihr Bestes, zu allen anderen äußerst freundlich zu sein. Cal traf die anderen Offiziere seines Flügels. Walk, der einzige, der schon früher dazu gehört 109
hatte, war Führer der Sektion A des Vierten Angriffsflügels und außerdem Adjutant beim Oberbefehlshaber des Flügels, Captain Anders Kaluba, der diesen Posten jetzt bekleidete. Kaluba war ein freundlicher, braungebrannter Mann, der bei den Zweiundsiebzigsten Kampfpionieren gegen die Lehaunan Leutnant gewesen war. Er schien nicht ausgesprochen voreingenommen gegen Kontaktoffiziere zu sein. Und Walk benahm sich beinahe unterwürfig, als er Cal sah. Er sagte kaum etwas. Joby Loyt war Korporal unter Walk. Tack war zum Unterführer aufgestiegen und redete und handelte etwas gereifter als früher. Die Kampfflotte war jetzt seit neun Tagen unterwegs und nur noch vierzehn Stunden von ihrem Ziel entfernt. Ein Befehl war ausgegeben worden, daß General Harmon, der Geschwaderkommandeur, eine kurze Botschaft an alle Offiziere und Mannschaften richten wolle, und zwar zur Zeit X minus 12 Stunden. Auf Cals Schiff hatte man die Hängematten aus dem Hauptraum entfernt, und alle waren hereingekommen und saßen jetzt mit übereinandergeschlagenen Beinen zusammengepfercht auf dem kalten Metallboden. Am anderen Ende des Raumes war ein kleiner Podest errichtet worden. Punkt zwölf Uhr erschien über dem Podest das dreidimensionale Abbild der Zentrale des Flaggschiffs. Man sah ein Pult, eine Wandkarte von der Paumonwelt und eine Tür. Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür, und das Abbild von General Harmon erschien vor den versammelten Leuten. Er trug eine leichte Kampfkombination und 110
darüber einen Strahlenschutzanzug, aber keine Waffen. Er nickte in die Kamera hinein; ein Raunen lief durch die Menge. Harmon sah leicht ermüdet aus, aber zuversichtlich. »Ich will Sie nicht aufhalten«, begann er. »Ich möchte, daß Sie alle, sobald ich fertig bin, sich hinlegen und so viel wie möglich Schlaf noch mitnehmen.« Er nahm einen Zeigestock auf und ging zu der Wandkarte. »Hier«, sagte er und zeigte auf einen quadratischen Kontinent, der sich vom Äquator aus nach Süden und Westen erstreckte, »ist das zentrale Hochplateau, das unser Geheimdienst für den vielversprechendsten Landeplatz hält. Das Wetter dort ist zu dieser Jahreszeit gleichmäßig gut. Das Gelände ist sowohl leicht wegen seiner Rauhheit zu verteidigen als auch ausgezeichnet geeignet für unsere Überlandtransporte. Außerdem ragt es über die Industriezentren dieses Schlüsselkontinents hinweg. Sie werden alle noch die nötigen Einzelheiten von Ihren Kommandanten erhalten.« Er legte den Zeigestock beiseite und ging wieder an das Pult, von wo er seine Blicke über alle schweifen zu lassen schien. Einen Moment war es in dem großen Raum mit den Soldaten vollkommen ruhig. Dann hustete irgendjemand, und einige andere husteten mit. Um Cal herum war die Luft schwer und erfüllt von dem Geruch vieler Menschen, die zusammengepfercht waren. Stiefel scharrten über den Boden, wenn sich jemand bequemer zu setzen versuchte. Harmon räusperte sich. 111
»Die Rasse, der wir in wenigen Stunden gegenüberstehen werden, ist ein zähes Volk. Wir brauchen das nicht zu beschönigen. Aber, da es Fremde sind, sind sie natürlich nicht so zäh wie wir. Die Progs werden feststellen, daß sie in etwas gebissen haben, das sie nicht schlucken können.« Harmon verschränkte die Hände hinter dem Rücken und trat etwas zurück. »Wenn ein Mensch kämpft, weiß er wofür. Das ist ein Grund, weshalb wir den Fremden immer überlegen waren. Alles, was die wissen, ist nur, daß irgendein Fremder ihnen an den Kragen will, oder vielleicht meinen sie auch, es wäre eine gute Möglichkeit, an einige Dinge heranzukommen. Aber des Menschen Pflicht ist es, zu wissen, warum er kämpft. Und deshalb bin ich hier, um Ihnen zu sagen, was in der letzten Zeit passiert ist und warum dieser Feldzug nötig ist.« Cals linker Fuß begann einzuschlafen. Er streckte leise seine Beine. »Wie Sie alle wissen«, fuhr Harmon fort, »breitet sich unsere Rasse und Kultur aus und verlangt, daß wir ständig nach neuem Lebensraum Ausschau halten. Vor drei Jahren kamen wir zum ersten Mal mit dem System Bellatrix in Berührung und legten auf zwei der unbewohnten, weniger brauchbaren Planeten Abschnittsbasen an. Zur gleichen Zeit nahmen wir mit den Progs Kontakt auf und erklärten ihnen, daß wir nur an etwas interessiert wären, das ihnen doch nicht gehörte, und daß wir nicht beabsichtigten, sie in irgendeiner Weise zu belästigen.« 112
»Rück mal etwas zur Seite!« verlangte ein Mann schräg hinter Cal. »Du sitzt ja bald auf meinem Knie.« »Dann nimm dein Knie weg!« wisperte eine andere Stimme. »Ich hab nicht mehr Platz als du.« »Nun«, fuhr der General fort, »sie zögerten ihr offizielles Einverständnis hinaus. Und kurze Zeit später, vor weniger als sechs Monaten, erhoben sie offizielle Anklage wegen – wie sie es nannten – militärischer Einrichtungen in ihrem Hoheitsgebiet. Wir versuchten zu verhandeln, aber vor einem Monat übergab man uns ein Ultimatum, ihr System zu verlassen. Vor zehn Tagen griffen die Paumons ohne Warnung an und übernahmen unsere Leute und unser Eigentum. In zwölf Stunden werden Sie unsere Antwort darauf erhalten.« Harmons Blick ging von rechts nach links. »Das war es, Soldaten. Legt euch jetzt hin und versucht noch eine Mütze voll Schlaf zu nehmen. Und morgen werden wir ihnen die Hölle heiß machen!« Er gab einen leichten Wink mit der Hand, drehte sich um und verschwand durch die imaginäre Tür aus dem Bild. Die Bühne wirkte leer und blank. Die sitzenden Männer erhoben und streckten sich, und der Raum war plötzlich überfüllt. In geordneten Massen verließen sie ihn und fluteten durch die Korridore des Raumschiffes zu ihren Quartieren. Eingezwängt in die Massen, hörte Cal auf einmal seinen Namen. Es war Captain Kaluba. Cal ging auf die Ecke der Kabine zu, wo Kaluba auf ihn wartete. 113
Dieser hatte auf Grund seines Ranges und wegen seiner Pflichten keine Hängematte, sondern eine Koje und ein zusammenklappbares Tischchen. Kaluba saß auf seiner Koje vor dem Tischchen, als Cal zwei volle Hängematten beiseite schob, um zu ihm zu gelangen. »Sir?« fragte er. Kaluba ordnete gerade seine Berichte zu einem sauberen Stoß. Er sah auf, als er Cals Stimme hörte. »Ach, Sie sind es, Leutnant. Sie brauchen nicht mit dem ersten Stoßtrupp an Land zu gehen. Sie können später mit den Sanitätern nachkommen.« Cal runzelte die Stirn. »Sir«, sagte er, »ich bin Adjutant und Sanitätshelfer dieses Angriffsflügels.« »Ich weiß«, erwiderte Kaluba. »Ich habe ein paar von den älteren Männern für diesen Posten ausgewählt.« Es entstand eine verlegene Pause. »Darf ich fragen, warum?« sagte schließlich Cal. »Ich denke schon«, erwiderte der Captain. Sein dunkles Gesicht sah müde aus. »Sie waren früher Soldat. Und es geht auf meine Kappe, wenn Sie aktiv in den Kampf eingreifen sollten – Sie kennen die Vorschriften. Ich denke, es wäre besser, wenn Sie nicht direkt von Anfang an dabei sind.« »Sie vertrauen mir also nicht?« wollte Cal wissen. »Ich vertraue Ihren Reflexen nicht.« Kaluba senkte seine Stimme. »In fünfzehn Stunden oder weniger werden einige dieser Männer schwer verletzt sein, andere werden 114
sterben. Sind Sie vollkommen sicher, daß Sie dabei stehen und bloß zusehen können?« »Jawohl, Sir.« »Well, ich bin es nicht.« »Captain«, sprach Cal weiter, »ich glaube, Sie haben sich da in etwas verrannt. Ich bin Adjutant und Helfer, und Sie werden mich bei dem Angriff brauchen.« Er sah Kaluba scharf an. »Sie werden jeden Mann brauchen.« Kaluba kaute ärgerlich auf seiner Unterlippe. »Ich bin trainiert und habe Erfahrungen«, sagte Cal. »Wenn Sie mich hier zurücklassen, werde ich einen Bericht machen und Sie anklagen, persönliche Vorurteile gegen mich zu haben. Ich glaube nicht, daß das Bordgericht Ihre Gründe für berechtigt halten wird.« Kalubas Augen flackerten, als sie Cal ansahen. Dann blickte der Captain auf seine Papiere und fluchte. »All right«, sagte er schließlich. »Schlafen Sie noch etwas.« Cal ging zurück zu seiner Hängematte und kletterte hinein. Neben ihm lag Leutnant Wajeck, der Sektion B führte, in seiner Matte und hielt mit seinen behaarten Händen die Seilenden gepackt. »Denk an ein hübsches Mädchen«, riet ihm Cal. »Ich bin schon in Ordnung«, erwiderte Wajeck, ohne seine Augen von der Decke über sich zu nehmen, »ich kann nur nicht schlafen.« Die erste Landungswelle ging dreizehn Stunden später nieder. Der Kampfgleiter, der Cal zusammen mit Sektion 115
A und B trug, schwebte in zweihundert Meter Höhe und setzte nach rechts und links die Soldaten ab. Es sah aus, als ob jemand Popcorn ausgestreut hätte. Cal bediente kurz die Raketen auf seinem Rücken und landete in einem weiten Bogen unter einem Baum, der ihn so sehr an einen Baumwollbaum erinnerte, daß er nur schwer einen Unterschied entdecken konnte. Die Bäume in der stürmischen Hügellandschaft auf Lehaunan waren zerzaust gewesen und hatten nur entfernt an terranische Nadelbäume erinnert. Auf der Welt der Griella hatte es überhaupt keine richtigen Bäume gegeben, sondern nur Büsche. Aber hier waren die Bäume wie richtige Bäume, das Felsenland ringsum war grün von echtem Gras. Cal warf seine Raketen ab und überprüfte das Armbandradio. Alle Männer der beiden Sektionen waren heil heruntergekommen und bewegten sich schon in Richtung des roten Fleckens, der den Standplatz des Sektionsführers anzeigte. Das würde Walk sein. Cal orientierte sich kurz und machte sich dann auch auf den Weg. Er hatte drei Viertel seines Weges zu dem zehn Meter hohen Felsbrocken mit dem roten Markierungspunkt zurückgelegt, als der erste Suchtorpedo der Paumons über den niedrigen Hügel zu seiner Linken kam. Er blinkte schwarz in seinem Gesichtsfeld auf, wie eine Mücke, die einem ins Auge fliegt. Dann flog der Felsen, auf den er zugehalten hatte, in einem Inferno von brauner Erde und Felstrümmern in die Luft. »Ausschwärmen! Ausschwärmen!« gellte Cals Stimme 116
automatisch los. »Torpedos!« Er hatte sich bei dem Aufblinken ohne zu überlegen hingeworfen. Jetzt erhob er sich wieder und rannte in die Richtung auf die Felsen zu. Als er dort ankam, fand er einen Krater, fünf tote Männer, einen Jungen mit einem abgerissenen Bein und Leutnant Wajeck. Wajeck saß gegen einen Felsen gelehnt und schien unverletzt. Allerdings saß er zusammengekauert da, als fröre er. »Bist du in Ordnung?« fragte ihn Cal. Er bekam keine Antwort. Darauf ging Cal zu dem jungen Burschen, dessen Bein abgeschossen war, und gab ihm eine Spritze. Danach machte er ihm einen Druckverband am Oberschenkel und band eine Kompresse auf den Beinstumpf, die er so anlegte, daß sie alle fünfzehn Minuten gewechselt werden konnte. Cal wandte sich wieder an Wajeck. »Was fehlt dir denn?« fragte er und zog an dessen Armen. »Oh, Gott«, sagte Wajeck, »ich habe es gewußt. Mitten in den Leib. Ich habe es gewußt, ich habe es gewußt.« Cal zog die Arme zur Seite und sah, daß die Uniformjacke des Leutnants in der Magengegend über und über mit Blut verschmiert war. In der Jacke war ein Riß, durch den man auf die Verletzung sehen konnte. Es war ein häßliches Loch. Er legte auch hier einen Verband an und gab Wajeck ebenfalls eine Spritze, aber dessen Miene sah schon verfallen und fremd aus. Ein weiterer Suchtorpedo kam plötzlich über die Hügel, und Cal zog Wajeck mit sich in Deckung. Die Explosion war keine fünfzig Meter 117
von ihnen entfernt. »Oh, Gott«, sagte Wajeck mit tonloser aber klarer Stimme neben Cals Ohr, als sie in Deckung lagen. »Ich habe es gewußt. Ich war ganz sicher. Ich habe es gewußt.« »Wo ist Walk?« fragte Cal. Wieder ging rechts von ihnen ein Torpedo nieder. »Er ist im letzten Moment in Kalubas Gleiter befohlen worden. Er ist nicht mit uns gelandet. Oh, Gott …« »Wo sind deine Korporale?« »Da. Da, und die Unterführer auch …« Wajeck hob schwerfällig eine Hand und zeigte auf die Toten, die der erste Torpedo zurückgelassen hatte. »Ich hatte ihnen befohlen zusammenzubleiben, als wir abgesetzt wurden, damit wir alles besser organisieren könnten.« Cal starrte auf das nur wenige Zentimeter neben ihm liegende Profil Wajecks, der mit leeren Augen in den wolkenlosen Himmel blickte. »Hast du nicht gelernt …« Cal brach ab. »Irgendjemand muß die Männer von hier wegbringen. Du mußt doch noch irgendeinen Offizier hier haben.« »Nein, keinen. Keinen einzigen«, murmelten Wajecks Lippen in den Himmel über ihm. Plötzlich verstummte er. Mühsam wandte er seinen Kopf zur Seite. Wie aus weiter Ferne blickte er Cal direkt in die Augen. »Du!« sagte er. »Du weißt, was zu tun ist. Übernimm das Kommando, um Gottes willen. Übernimm es Cal, jetzt sofort!« Es gab ein lautes Krachen und Dröhnen. Ein Torpedo 118
detonierte so nahe bei ihnen, daß Erde und Steine auf sie herabregneten. Der Bursche mit dem abgerissenen Bein war gerade zu sich gekommen und schon wieder getroffen worden. Er begann zu schreien.
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ZEHNTES KAPITEL Die Männer lagen im Sterben, und einer weinte. Cal sah sich unter dem Donner und Beben der in der Nähe niedergehenden Torpedos um und sah, daß es der junge Mann mit dem abgerissenen Bein war. Er lag auf seinem Rükken, und große Tränen rannen aus seinen Augen und liefen ihm über das Gesicht. Cal sah wieder auf Wajeck, der versuchte, sein Kommandoradio vom Handgelenk zu kriegen. Aber seine Finger waren schon zu schwach, um das federnde Stahlband abzubekommen; es rutschte wieder zurück. »Nimm es.« »Ich kann nicht«, antwortete Cal. »Kaluba wollte mich gar nicht mitgehen lassen, weil er fürchtete, daß ich so etwas Ähnliches tun würde. Ich habe meine Vorschriften.« »Du Feigling«, sagte Wajeck und arbeitete immer noch wie ein eigensinniges Kind an seinem Armbandfunkgerät. »Du kümmerst dich nicht um diese Männer, dein einziger Gedanke ist deine Uniform. Niemand lebt immer nur nach Vorschriften, das weißt du auch. Aber ich werde dich doch dazu bringen, du lausiger Feigling.« »Bemüh dich nicht«, erwiderte Cal. Er zog den Arm mit dem Funkgerät aus dem schwachen Griff von Wajecks anderer Hand und hielt es an seine Lippen. Dann drückte er den Sprechknopf. »Herhören, Leute«, sprach er hinein. »Hier spricht Leutnant Truant. Leutnant Wajeck 120
ist handlungsunfähig und ebenso alle anderen Führer. Ich bin Kontaktoffizier, und ihr wißt, daß ich den Befehl nicht übernehmen darf. Wir brauchen jemand hier, der das Kommandogerät nimmt. Aber es eilt. In weiteren zehn Minuten haben uns die Torpedos alle erwischt, wenn jetzt nicht jemand seine Bedenken über Bord wirft und sich freiwillig meldet. Es muß sich jemand ganz schnell entschließen und sofort herkommen.« Einen Moment lang hatten die Explosionen aufgehört. In der unwirklichen Stille, die folgte, sah sich Cal hastig um. Es waren zwei oder drei größere Trichter in der Nähe zu sehen, aber die Granaten schienen weiter keinen großen Schaden angerichtet zu haben. Cal mußte sich erst wieder in Erinnerung rufen, daß der Suchmechanismus der Torpedos mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überall dort wenigstens einen Mann gefunden hatte, wo ein Loch im Boden gähnte. Ein Soldat erschien hinter einem Baum in einer Entfernung von etwa achtzig Metern und begann auf die Felsen zuzurennen, hinter denen Cal lag. Zur gleichen Zeit tauchte links von Cal ein anderer Mann auf, der aber sogleich wieder in Deckung ging, als er den ersten rennen sah. Cal zählte die Sekunden, während er den heranrasenden Mann beobachtete. Aber nichts geschah. Erst zwei Sekunden, nachdem er neben Cal und Wajeck in Deckung gegangen war, erschien wieder ein Suchtorpedo und explodierte links von ihnen. 121
Der Mann war in den Dreißigern, klein und mit einem haselnußbraunem Gesicht. Cal suchte in seiner Erinnerung. »Mahauni?« fragte er. »Jawohl, Sir«, antwortete Mahauni. »Was muß ich tun?« »Was du meinst, das getan werden muß«, erwiderte Cal. »Es ist deine Sache.« »Jawohl, Sir. Was würden Sie tun?« »Die Männer auf Trab bringen. Jeden mindestens fünfzig Meter vom nächsten entfernt halten.« Cal deutete auf das Funkgerät an Wajecks Handgelenk. Die beiden Sektionen unter Wajeck waren in einem Gebiet mit einem flachen Hügel im Westen und dichten Wald im Osten heruntergekommen. Jenseits des Waldes, etwa fünf Kilometer entfernt, war das Bataillonskommando. »Die Grenzlinie unserer Stellungen ist drei Kilometer entfernt«, sagte Cal. »Als ich Soldat war, hatte man Torpedo-Abwehrstrahlen um das Hauptquartier. Also machen wir uns dahin auf. Ich nehme den Leutnant. Du nimmst den Jungen da.« »Okay«, sagte Mahauni. Er bewegte sich wie ein alter Hase, streifte Wajeck das Funkgerät vom Arm und begann hineinzusprechen. Er gab Kommandos, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. »Fertig; es kann losgehen«, sagte er schließlich zu Cal. Das Funksprechgerät war jetzt an seinem eigenen brauen Handgelenk. 122
Sie rannten los. Der Rest war einfach nichts als eine schreckliche, harte Schinderei; vorwärtsstürmen mit einem verwundeten Mann auf dem Rücken, dazwischen Kommandos an die restlichen Männer der beiden Sektionen geben und immer wieder aufatmen, wenn die Torpedos sie verfehlt hatten. Aber sie schafften es schließlich und kamen über die Verteidigungslinien der Kommandobasis, zusammen mit noch dreiundfünfzig Männern, die von hunderteinundachtzig übrig geblieben waren. Bis zum Abend des ersten Tages hatten die erste, zweite und dritte Landungswelle auf der Welt der Paumons Fuß gefaßt und sich neu gruppiert. Sie formierten sich zu einer halbrunden Angriffsfront, die drei Paumon-Städte und mehrere hundert kleinere Ansiedlungen einschloß. Die Ansiedlungen waren zur Hauptsache Wohnplätze, während die Städte nur Industriegebiete waren, die hier ihre Energie aus Vulkanschloten gewannen. Cal, der sich bei Kaluba zurückgemeldet hatte, bekam die Erlaubnis, für einige Stunden seinen Angriffsflügel zu verlassen, um den Kontakt mit seiner eigenen Abteilung aufzunehmen und sich Instruktionen zu holen. Sein eigentlicher Grund war aber, daß er seine Geschichte von der Landung gern jemand wie Scoby (der auch mitgekommen war und zu den Führern des Kontakt-Dienstes gehörte) erzählen wollte, ehe ihm irgendeine andere Version zu Ohren käme. Er hatte keine Ahnung, wo das KDHauptquartier sein könnte, und so machte er sich auf den Weg zur Expeditions-Leitung, wo man ihm sicher Be123
scheid geben konnte. Er fand sie kurz vor Sonnenuntergang – eine getarnte Ansammlung von Kuppeln in einer kleinen Lichtung, umgeben von den baumwollähnlichen Bäumen. »Kontakt-Dienst-Hauptquartier?« fragte er einen Korporal, der zwischen den Kuppeln auf und ab ging. »Fragen Sie bei dem Verbindungsoffizier, Kuppel acht«, bekam Cal eine kurz angebundene Antwort. Der Korporal sah nur auf die Abzeichen an Cals Rockaufschlag, sah ihm aber nicht ins Gesicht. Cal fand die Kuppel acht schnell. Er schritt vor dem Eingang durch den Schutzschirm und fand sich in einem leeren Büro, in dem einige Tische und Stühle standen. Eine Tür an der Hinterwand führte zu einem weiteren Raum, aus dem Wortfetzen eines Gespräches drangen. Jetzt fiel Cal ein, daß eigentlich Zeit zum Abendessen war. Die Leute aus dem äußeren Büro saßen vermutlich jetzt da drinnen zusammen mit dem Verbindungsoffizier und ließen es sich schmecken. Er ging auf die Tür zu, hielt dann aber inne, als er General Harmons Stimme erkannte; eine andere gehörte Oberst Alt. Es würde wohl kaum das richtige sein, den Kommandierenden General des Feldzuges um eine Auskunft zu bitten. Cal zog sich einen Stuhl an die Wand heran, um auf die Rückkehr des Verbindungsoffiziers zu warten. »… Wismut.« Die Stimme des Generals klang dünn durch die Trennwand. »Ihr Nachrichtensystem beruht auf diesen Thermosäulen. Wir riegeln einfach das Industriege124
biet ab, dann müssen sie zu uns kommen. Darauf setzen wir weitere Truppen ab. Hier schlagen wir zu, in Zone fünf. Und Zone drei. Und auf der anderen Seite des Planeten, in Zone elf, dem Bergland. Nebenbei, wir müssen das Gebiet noch vor Ende des Feldzuges säubern, Hag. Es ist für eine Partisanentätigkeit wie geschaffen. Setze vor den Bergen eine starke Abteilung ab, die von einem Mann mit Erfahrung geleitet wird. Aber gib ihm nicht zu viele Leute …« Cal verbannte die Stimmen aus seinem Gehör und ließ seine Gedanken zu Annie schweifen. Sie mußte bei der Sanitätseinheit sein, und deren Quartier würde der Verbindungsoffizier auch kennen. Aber wahrscheinlich würde er, Cal, keine Zeit mehr haben, wenn er erst das KDQuartier gefunden hatte und seine Geschichte losgeworden war. »… Vierter Angriffsflügel, Einundneunzigste Pionierabteilung«, sagte Alt gerade. Cal kam aus seinen Gedanken wieder zu sich, als er die Bezeichnung seiner eigenen Abteilung hörte. »Ein paar Sektionen, ich verstehe.« »Ja«, hörte Cal jetzt Harmons Stimme antworten. »Aber von einigen Verlusten abgesehen war es eine nahezu perfekte Landung. Beinahe zu perfekt. Wir haben einen Vorsprung in der Entwicklung von Waffen von gut fünfzig Jahren vor den Paumons, und das bedeutet leicht zuviel Selbstgefälligkeit auf unserer Seite.« »Die Männer werden sich schon zusammenreißen, wenn sie mehr zu tun bekommen«, erwiderte Alt. »Zweifelsohne. Aber wird das reichen? Soldaten sollen 125
den Feind nicht mit wohlwollender Verachtung betrachten. Sie sollen ihn hassen, sie sollen ihn fürchten. Alles andere hat schon in der ersten Nacht eine Reihe von durchschnittenen Kehlen zur Folge.« »Ich werde einen entsprechenden Tagesbefehl ausgeben.« »Hat keinen Zweck, Hag. Die Progs sind teilweise schuld daran. Sie behandeln uns, als waren wir Halbwilde, und tun so, als würden wir dasselbe von ihnen denken. Jeder vergißt, daß ihre Streitmacht die unsere im Verhältnis sechshundert zu eins übertrifft, wenn man es einmal mathematisch ausdrücken will. Eines Tages wachen wir auf und sind umzingelt und besiegt.« Harmon brach plötzlich ab. »Ich hab’s!« »Ja?« »Wir haben doch hier so ungefähr fünfhundert Gefangene, nicht wahr?« »Stimmt, General.« »Wir suchen uns eine Stadt hinter unserer Front, sagen wir, diese hier. Wie nennen die Progs sie? Manaha? Dann nimm dir einen brauchbaren Mann und schicke ihn mit den Gefangenen dahin. Du verstehst, Hag?« Es entstand eine kurze Pause. Cal hatte sich plötzlich aufgesetzt und lauschte gespannt. »Ich glaube ja, Sir«, kam Alts Antwort. »Ich werden keine ins einzelne gehenden Befehle geben. Tu du das auch nicht. Nimm nur den richtigen Mann.« 126
»Gut. Ich denke, ich weiß schon, wen ich nehme.« »Mach’ die Sache richtig, und es wird sich schnell herumsprechen. Die Paumons werden sich …« Schnell und leise stand Cal auf und verließ den Raum. Er war schon in der Dunkelheit der Bäume in der Umgebung des Hauptquartiers untergetaucht, ehe er seine Schritte verlangsamte. Eine kleine Brise war aufgekommen und strich ihm kühl über die Stirn. Er ging weiter. Sein Bericht von der Landung mußte warten. Abrupt blieb er stehen. Er war weggelaufen, ohne auf die Richtung zu achten. Er mußte wenigstens bis an den Rand des Hauptquartiers zurück, um sich orientieren zu können. Aber er hatte nicht die Absicht, noch mal in die Nähe von Kuppel acht zu kommen. Er wandte sich nach links und begann das Gelände mit den Kuppeln zu umrunden. Einige Augenblicke später kam er an einen hohen Stahlzaun. Er bog ab und ging daran entlang. Bald kam er aus dem Wald heraus und sah Paumons hinter den Drahtmaschen des Zaunes stehen. Das mußten die Gefangenen sein, von denen Harmon gesprochen hatte. Sie standen schweigend in kleinen Gruppen zusammen. Die Sonne Bellatrix war inzwischen untergegangen, aber der Westhimmel war noch ziemlich hell. In der Dämmerung sah man hier und da hellere Flecken bei den Gefangenen aufleuchten. Es waren Verbände, die den Verwundeten angelegt worden waren und für die man die Uniformen der Gefangenen verwendet hatte. Die Uniformen waren außen 127
dunkel- und innen hellgrün. Für die Notverbände hatte man die Innenseiten nach außen verwandt, und das war Cal aufgefallen. Sie standen schweigend da, aber Cal sah, daß sie ihn beobachteten, als er vorbeiging. In dem Zwielicht sah er nur noch Umrisse; es konnten genauso gut Lehaunan sein wie Menschen. Cal ging weiter. »Kannechch … chen« sagte eine bekannte Stimme in seinem Innern. Die Welt schwankte plötzlich um Cal. Für einen kurzen Augenblick. Dann stand sie wieder still, und alles war so, wie zuvor. Cal merkte, daß er stehen geblieben war und nach seinem Strahlenanzug faßte. Den er nicht trug! Es lief ihm kalt über den Rücken. Cal wandte sich scharf um. Die dunklen Gestalten waren immer noch da. Sie schienen sich nicht bewegt zu haben. Ein einzelner stand besonders nahe, keine fünf Meter entfernt, aber natürlich hinter dem Zaun. Cal ging zurück und trat an den Zaun, um das Wesen aus größerer Nähe zu sehen. Es war ein Paumon mit einem großen Verband, der sein halbes Gesicht bedeckte. Es sah so aus, als wäre er ziemlich böse an der Kinnpartie verwundet. Cal sah, wie die hellen Partien in den Augen des Paumon ihm entgegenleuchteten. Der Paumon sagte etwas. Cal hatte die Sprache gelernt. Wenn das, was der Mann gesagt hatte, zu verstehen gewesen wäre, hätte Cal es verstanden. Aber es war nicht zu verstehen gewesen. Der Kiefer oder die Zunge des anderen mußte verletzt sein, so daß man ihn nicht verstehen konnte. Es war ein harter, rollender Laut gewesen, der 128
keinen Sinn ergab. Aber er war an Cal gerichtet gewesen, und er hatte ein Gefühl ausgedrückt, das sich in dem Glitzern der Augen widerspiegelte. Cals Ohren und sein Unterbewußtsein hatten daraus ein verständliches Wort gemacht. Cal wandte sich ab und ging weiter. Nach einem Moment stoppte er und kehrte wieder zurück, aber der Gefangene, der ihn angesprochen hatte, war nicht mehr in der Nähe des Zaunes. Cal sah einen Augenblick auf die anderen bewegungslosen Gestalten, dann wandte er sich endgültig ab und stieg den Hügel hinauf. Der äußere Raum in Kuppel acht war leer, wofür Cal dankbar war. Harmon und Alt unterhielten sich immer noch hinter der Trennwand. Cal ging zu der Tür und klopfte. Innen gab es eine Pause. »Wer ist da? Kommen Sie ’rein!« sagte Alt. Cal öffnete die Tür und machte einen halben Schritt in den Raum hinein. Es gab einen Schreibtisch, an dem Harmon saß, und Alt stand, halb zur Tür gewandt, davor. Auf der anderen Seite des Raumes war noch eine Tür, und an den Wänden hingen zahlreiche Landkarten. »Leutnant Truant, Sir«, meldete Cal sich. »KontaktDienst. Ich dachte, es wäre besser, mit dem Oberst zu sprechen. Es handelt sich um die Paumon-Gefangenen.« Alt drehte seinen Kopf noch ein wenig mehr herum und sah Cal direkt an. »Gefangene?« 129
»Jawohl, Sir.« »Was ist mit den Gefangenen?« »Ich kam zufällig an dem Gelände vorbei, wo man sie eingesperrt hat, Sir«, erwiderte Cal. »Und einer sprach mich an. Sie wissen ja, man hat uns auf der Kontaktschule ihre Sprache beigebracht.« »Ich weiß«, nickte Alt. »Was ist nun mit den Gefangenen?« »Ich dachte, ich sollte es Ihnen sagen, Colonel.« Cal sah den Colonel offen an. »Die Gefangenen scheinen zu glauben, daß irgendetwas mit ihnen geschehen wird. Daß sie beseitigt würden oder so etwas. Ich dachte, daß ich mir als Kontaktoffizier die Erlaubnis holen sollte, um den Gefangenen in Ihrem Namen zu sagen, daß ihnen nichts Schlimmes passieren wird, daß wir sie gut behandeln werden.« Alt starrte ihn einen Moment lang an. »Das dachten Sie?« »Jawohl, Sir.« Cal konnte sehen, wie auch General Harmon ihn anblickte. Der General saß zurückgelehnt in seinem Stuhl und hatte ihn die ganze Zeit ohne eine Miene zu verziehen angesehen. »Sagen Sie mir, Leutnant«, fragte Alt, »sind Sie gerade in den Vorderraum gekommen?« »Jawohl, Sir«, antwortete Cal. »Es war niemand da, und so klopfte ich. Ich hatte nicht gedacht, daß Sie eine Besprechung hatten.« 130
»Geht schon in Ordnung«, sagte Harmon. Cal wandte sich ihm zu. Harmon fragte weiter: »Sagen Sie, sind Sie nicht der Offizier, den ich damals in Denver zu General Scoby geschickt habe?« »Ganz recht, General.« »Dachte ich mir das doch. Ich habe ein ganz gutes Gedächtnis für solche Dinge. Well, Oberst«, wandte er sich dann an Alt, »ich denke, der Leutnant sollte seine Absicht ausführen, nicht wahr? Wir wollen so früh wie möglich mit den Paumons in guten Kontakt kommen. Warten Sie draußen, Leutnant, ja? Der Oberst wird Ihnen ein paar spezielle Befehle geben, wenn wir fertig sind.« Cal ging zurück und nahm sich einen Stuhl, der weit weg von der Trennwand war. Er hörte, wie die Unterhaltung zwischen Alt und Harmon wieder begann. Jetzt aber waren die Stimmen so gedämpft, daß man die einzelnen Worte nicht unterscheiden konnte. Nach ein paar Minuten kamen die Leute, die den Raum vorher verlassen hatten, zurück. »Wollten Sie mich sprechen, Leutnant?« fragte der Verbindungsoffizier – ein hochgewachsener junger Mann mit blonden Haaren, die am Stirnansatz schon dünn wurden – , als er sich setzte. »Ich war auf der Suche nach dem KD-Hauptquartier«, erwiderte Cal. »Aber Oberst Alt ließ mich noch wegen einer anderen Sache warten.« »Ah, so«, gab der Captain zurück. »Well, KD ist bei 131
den Ärzten, zwei Kilometer westlich, in Schutzzone vierfünf-sieben-null. Ich nehme an, der Oberst wird Sie bald rufen.« Die Lichter wurden jetzt alle wieder angemacht, und die vier Soldaten und drei Offiziere machten sich emsig an ihre Arbeit. Über diese Geräusche hinweg hörte Cal, wie nebenan eine Tür ging. Ein, zwei Minuten später steckte Alt seinen Kopf in den Raum. »Truant!« rief er. Cal stand auf und ging in den Nebenraum. Alt studierte ihn eine Weile. »Leutnant«, sagte er dann. »Wir haben einige Befehle für Sie. Sie brauchen nicht zurück zu Ihrer eigenen Abteilung. Diese Gefangenen, die Sie gesehen haben, sollen in ein Kriegsgefangenen-Lager gebracht werden, das wir dreißig Kilometer von hier in einer Stadt namens Manaha errichten wollen. General Harmon meinte – und ich stimme mit ihm überein – , daß Sie der richtige Mann dafür wären, den Gefangenentransport zu übernehmen, da das ja eine Angelegenheit des Kontaktdienstes ist. Der General möchte, daß sie bis morgen abend dort sind. Wir geben Ihnen vier bewaffnete Soldaten mit. Sie können bei Dämmerungsbeginn aufbrechen.«
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ELFTES KAPITEL Es wurde nichts übereilt. Cals Abteilung mußte benachrichtig werden, außerdem auch das Kontakt-DienstHauptquartier, dann mußten die Befehle schriftlich festgehalten werden. Darüber vergingen einige Stunden. Schließlich sorgte der Verbindungs-Offizier, der nicht die allgemeine Voreingenommenheit gegen Kontakt-DienstLeute zu teilen schien, dafür, daß Cal etwas zu essen bekam und dann im Offiziersheim ein Nachtquartier erhielt. Cal wurde eine Schlafkoje zugewiesen und bekam eine Ration des Abendessens zusammen mit einem Kännchen Kaffee. Der Versorgungschef, ein junger Leutnant, kam in den Eßraum und trank mit Cal eine Tasse Kaffee. »Wir werden diese Progs in drei Monaten besiegt haben«, sagte er zu Cal. »Sie sind bisher noch nie so geschlagen worden; es betäubt sie regelrecht. Ich habe gesehen, wie immer neue Gefangene den ganzen Tag in das Lager gebracht wurden.« Der Leutnant trug die Streifen des Verwaltungsdienstes. »Stimmt«, sagte Cal. »Kann ich noch etwas Kaffee bekommen?« Sobald Cal seinen schriftlichen Befehl hatte, ging er zu dem Gelände zurück, wo die Gefangenen waren. Er zeigte seine Papiere dem wachhabenden Offizier. »Ich möchte mit dem Führer der Gefangenen sprechen«, sagte Cal. Der Offizier schloß das Tor auf und ließ ihn ein. Es gab im Innern des umzäunten Gebietes keiner133
lei Beleuchtung, aber man hatte außen längs des Zauns Lampen aufgestellt, und diese warfen ein schwaches Licht auf die Paumons, die in Gruppen herumstanden. In dem Lampenlicht konnte Cal jetzt auch die Ausmaße des Lagers abschätzen; es maß an jeder Seite gute dreihundert Meter. Man hatte nur zwei kleine Zelte errichtet, eins für die Kranken und eins für die Verwaltung. »Ich möchte mit eurem ranghöchsten Offizier sprechen«, sagte Cal zu den ihm am nächsten stehenden Paumons in deren eigener Sprache. Ohne zu warten ging er dann in das eine Zelt, in dem ein Tisch und ein paar Stühle standen. Cal setzte sich hinter den Tisch. Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür. Zwei unverletzte Paumons kamen herein und stellten sich vor den Tisch. Auf den ersten Blick sahen sie genauso aus wie alle anderen. Aber Cal, der angestrengt nach Unterscheidungsmerkmalen suchte, bemerkte, daß der rechte größer war und strammer stand. Der linke, der keine besonderen äußeren Merkmale aufwies, schien älter zu sein. Beide trugen die Borte an ihren Hosen und Dienstjacken, die sie als Offiziere auswiesen. »Setzen Sie sich«, sagte Cal und wies dabei auf zwei Stühle, die er vor den Tisch gestellt hatte. »Nein«, antwortete der rechte Offizier. »Ich bin Kommandierender General Wantaki, das ist mein Adjutant, Hauptmann Ola Tain.« »Na schön«, sagte Cal, »ich bin der Offizier, der für Ihren morgigen Marsch in feste Quartiere verantwortlich ist. 134
Bei Morgengrauen werden wir alle aufbrechen.« »Alle?« fragte Wantaki. »Ein Viertel der Männer hier ist an den Beinen verwundet, und mindestens vierzig können überhaupt nicht laufen.« »Deshalb bin ich heute abend noch zu Ihnen gekommen. Es ist ein langer Tagesmarsch bis zu unserem Ziel, sogar für die Gesunden. Aber ich habe meine Befehle und muß sie ausführen. Ich werde mein möglichstes tun, aber alle müssen mit.« »Wofür soll das gut sein?« fragte Wantaki heiser. »Ich schlage vor, daß Sie sich vorbereiten«, sagte Cal. »Machen Sie Bahren und wählen Sie die aus, die fähig sind, den Verwundeten zu helfen. Ich habe bereits befohlen, daß Stangen und Stoff für die Bahren bereitgestellt werden. Man wird es Ihnen bald bringen.« »Sie zeigen außergewöhnlichen Mut, daß Sie sich hier hereinwagen, ohne wenigstens eine Handwaffe mitzubringen«, sagte Wantaki. »Einige meiner Leute – und ich schließe mich selbst da gar nicht aus – könnten vielleicht der Versuchung nicht widerstehen.« »Ich gehöre einer Abteilung der Terranischen Streitkräfte an, die als Kontakt-Dienst bekannt ist«, klärte ihn Cal auf. »Kontakt-Dienstler tragen niemals Waffen und beteiligen sich nicht an Kämpfen.« »Sie würden gut beraten sein, in Kürze ihre Ansichten zu ändern«, sagte Wantaki höhnisch. »Wenn Sie uns Stangen und Tücher geben, werden wir sie benutzen. Ist das alles?« 135
»Das ist alles.« Sie gingen wieder. Auch Cal erhob sich und ging zu dem Tor zurück. Der Wachoffizier ließ ihn hinaus. »Ich habe einige Anordnungen mit dem Quartiermeister getroffen«, informierte ihn Cal. »Es wird Material für Bahren gebracht. Wenn die Lieferung kommt, lassen Sie sie bitte durch.« Dann ging Cal zu seiner Schlafkoje zurück und war schnell eingeschlafen. Schon nach ein paar Stunden wurde er aber von dem Versorgungsoffizier wieder geweckt. »Was ist los?« fragte Cal verschlafen. Die Reste eines häßlichen Traumes spukten noch in seinem Gehirn herum. »Sie riefen im Schlaf«, bekam er zur Antwort. »Irgendwas von Kaninchen oder so; sicher ein Albtraum.« Im fahlen Licht der Morgendämmerung konnte Cal in der Nähe des Zauns die vier bewaffneten Soldaten sehen, die man ihm mitgeben wollte, um die fünfhundert Gefangenen zu bewachen. Er nahm an, daß Alt sie extra für ihn ausgewählt hatte. Zwei waren noch ganz junge Burschen. Einer hatte einen millimeterkurzen Bürstenhaarschnitt und einen großen, aber zusammengekniffenen Mund in einem hageren Gesicht. Der andere war klein und blickte mit großen Kinderaugen in die Welt. Ein dritter Mann war vom selben Schlag wie Ma-hauni, der den Befehl über Sektion A übernommen hatte, als die Torpedos ihnen die Hölle heiß machten. Diese drei waren einfache Infanteristen. Dann war noch ein Unteroffizier dabei, ein Zugführer. Er war hochgewachsen und hatte schütteres, schwar136
zes Haar. Er sagte nichts, als Cal herankam, sondern stand nur da und beobachtete interessiert die Gefangenen hinter dem Gitter, während die anderen im Gras saßen. Sie trugen alle Strahlenschutzanzüge und waren voll bewaffnet. »Seid Ihr die Gefangenen-Wache?« fragte Cal, als er heran gekommen war. »Das sind wir«, brummte der Unteroffizier, ohne seine bequeme Stellung zu verändern, und starrte dabei auf Cals Kontakt-Dienst-Streifen. »Wie ist Ihr Name?« fragte Cal ihn. »Meine Freunde nennen mich Buck«, erwiderte der Zug-Führer. Cal wartete. »Allen«, fügte er dann hinzu. »In Ordnung, Allen«, sagte Cal im selben Tonfall. »Du kannst zu deiner Truppe zurückgehen und ihnen sagen, sie sollten einen anderen schicken. Sag ihnen, daß ich den Eindruck hätte, daß du schlampig, unzuverlässig und widersetzlich bist, und daß ich gesagt hätte, daß ich dich nicht brauchen kann.« Allen straffte sich mit einem Ruck. »He, warten Sie einen Moment …« begann er. Aber Cal wandte sich an die anderen drei. »Aufstehen!« Sie sprangen auf. Hinter sich hörte Cal den Unteroffizier weitersprechen. »… Offizier des Kontakt-Dienstes Anweisungen im Feld gibt. Sie haben mir nichts …« Cal sah sich um. »Ich dachte, ich hätte dir einen Befehl gegeben«, sagte er. »Hören Sie zu, Leutnant, ich …« 137
»Hör auf.« Cal wandte sich wieder an die drei. »Fangt damit an, die Gefangenen zu zählen und seht zu, daß die Verwundeten, die nicht selbst laufen können, Bahren bekommen.« Die drei Soldaten zogen ab. Cal beobachtete, wie sie auf das vergitterte Gelände zugingen, durch das Tor schritten und außer Hörweite kamen. »Hör zu!« sagte Cal und hielt seine Stimme gedämpft. Er merkte, wie seine Arme zu zittern begannen und er sich zusammenreißen mußte. »Hör zu, Soldat! Du bist hier, um zu tun, was ich sage. Um genau das zu tun, was ich dir sage; um diese Gefangenen nach Manaha zu schaffen. Alles andere kannst du vergessen. Du brauchst gar nicht an die Kontaktoffiziere zu denken, mit denen du bisher in Berührung gekommen bist. Denk nur an den schriftlichen Befehl, nämlich daß du es jetzt mit mir zu tun hast, bis wir in Manaha sind. Und wenn du meinst, deine beiden Winkel könnten es mit meinen Streifen aufnehmen …«, Cal tippte mit seinen Fingern an seine Leutnantsabzeichen auf dem Rockaufschlag, »dann versuch es nur. Dann werde ich dir den Hintern vollhauen, Boy. Mir passiert nichts dabei, aber wenn sich der Staub lichtet, wirst du dich vor einem langen Tisch finden, hinter dem fünf Offiziere im Rang eines Majors oder noch höher sitzen und Gericht halten.« Cal beendete seine Rede. Er zitterte vor Erregung. Allen konnte es sehen, aber er wagte nicht mehr zu fluchen. »Nun?« fragte Cal. Allen machte keine Bewegung. Er 138
stand stramm und blickte gerade vor sich. »Gut, gut«, beendete Cal das Geplänkel, beinahe flüsternd. »Ich werde dich mitnehmen, und du siehst zu, daß alle vier den Job bestens verrichten. Und nun mach dich fort und organisiere alles.« Allen machte eine Kehrtwendung und ging. Cal sah hinter ihm drein. Langsam begann er sich wieder zu beruhigen. Sie schafften es tatsächlich, die Gefangenen schon eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang in Marsch zu setzen. Das war mehr, als Cal erhofft hatte. Er hatte sich ausgerechnet, daß es mindestens eine Stunde dauern würde, ehe sie aufbrechen könnten. Was ihm geholfen hatte, war die Autorität von Wantaki und Ola Tain. Sie hatten das interne Kommando für den Marsch übernommen. Und Cal ließ sie klugerweise gewähren. Cal und seine vier Soldaten trugen Sprunggürtel. Er hatte seine Männer verteilt, an jeder Seite der langen Reihe einen und einen hinten. Vorne war Allen postiert. Cal selbst sprang mal nach hinten, mal nach vorne. Sie hatten einen Tag mit herrlichem Wetter erwischt. Sie waren in den südlichen Breiten der Nordhalbkugel des Planeten, und das Plateau lag ziemlich hoch. Die Luft war trocken. Jetzt zu Beginn schaffte die Marschkolonne etwa vier Kilometer in der Stunde. Aber das würde sicher nicht so bleiben, dachte Cal. Er inspizierte die marschierenden Gefangenen immer wieder von allen Seiten. Die Paumons 139
liefen gleichmäßig; sie hatten sich zu Vierergruppen zusammengeschlossen. Je zwei trugen einen Verwundeten, zwei andere gingen als Ablösung nebenher. Ihre brauenlosen, platten Gesichter schienen keines Ausdrucks fähig. Sie sprachen nur wenig miteinander. Cal begann sich über sie zu wundern. Die Paumon-Gefangenen verbreiteten eine Atmosphäre von Niedergeschlagenheit und bleierner Müdigkeit um sich. Sie marschierten, als wären sie Schlafwandler oder als verrichteten sie eine stumpfsinnige Fließbandarbeit. Nur vorne an der Spitze der Gruppe konnte man ein paar Ausnahmen finden. Dort ging Wantaki mit schweren Schritten, nach vorne gebeugt wie ein Ringkämpfer. Neben ihm ging Ola Tain, gleichmäßig und ruhig. Jetzt, als Cal Muße hatte, die beiden Paumon-Führer zu studieren, kam ihm Ola Tain rätselhaft vor. Wantaki konnte er bis zu einem gewissen Grad verstehen, der General strahlte reines Soldatentum aus. Aber Ola Tain schien gar nicht zum Militär zu passen. Er hätte viel eher ein Priester sein können. Sie machten auf Cals Befehl hin jede Stunde zehn Minuten Pause. Auch zur Mittagszeit hielten sie an. Niemand hatte etwas über die Verpflegung der Paumons gewußt, als Cal gefragt hatte. Man hatte überhaupt nicht gewußt, was die Bewohner dieses Planeten aßen. So hatte Cal auch keine Rationen mitnehmen können. Die Gefangenen beklagten sich nicht, sie setzten sich nur ruhig in das gleißende Licht der hellen Sonne Bellatrix. Schon ein kurzer 140
Blick in dieses Licht tat den Augen weh, und man sah bei geschlossenen Lidern noch lange ein dunkles Nachbild. Als der Befehl zum Weitermarsch kam, setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung, jetzt aber merklich langsamer. Es waren die Verwundeten, die die anderen aufhielten. Sie kamen durch einige kleine Ortschaften, aber die weißen, kleinen Gebäude auf beiden Seiten der schmalen, sich windenden Straßen waren fest verriegelt. Kein Paumon ließ sich sehen. Am Nachmittag sah sich Cal gezwungen, wieder eine Pause einzulegen. Die Gefangenen, besonders die mit den Bahren, sanken dort, wo sie standen, zu Boden, als wären sie mit einer Sense umgemäht worden. Cal saß auf einer kleinen Erhöhung am Rande der Straße und ließ sie liegen. Nach zwanzig Minuten kam Allen zu ihm. »Wie lange wollen wir die hier noch liegen lassen, Leutnant?« wollte er wissen. Cal sah ihn an, ohne zu antworten. Allen kniff den Mund zusammen und ging wieder an seinen Platz. Es ging Cal durch den Sinn, daß er gar keine Ahnung hatte, wie ausdauernd diese Paumons waren. Er erhob sich und ging an die Spitze der Kolonne. Wantaki saß am Straßenrand und sah über seine Leute hinweg. Seine schmutzige, rostfarbene Hand lag auf seinem Knie, zur Faust zusammengeballt. Sein Gesicht war so hart und glatt wie ein Kieselstein im dahinfließenden Wasser eines Gebirgsbaches. Er saß allein. Ola Tain saß etwas abseits auf einem 141
Stein; auch er war allein. Cal ging auf ihn zu. Sie waren zu einer großen Lichtung auf dem Plateau gekommen, wo nur noch vereinzelt Bäume standen. Zwischen den Bäumen und Felsen wuchs überall grünes Moos. Es lag ein leichter, süßer Duft wie von Lavendel in der Luft. Das Moos erstickte die Geräusche von Cals Schritten, und Ola Tain hörte ihn deshalb nicht herankommen. Der Paumon lag auf einem Ellbogen aufgestützt, und mit dem Zeigefinger deutete er auf den federartigen Stengel einer der Moospflanzen. Er schien geistesabwesend. Cals Schritte verlangsamten sich, während er den anderen beobachtete. Jetzt zum ersten Male sah er, daß an jedem der kelchförmigen Blätter der Pflanzen kleine gelbe Blüten versteckt waren. Ola Tain schien sie zu zählen. Cal fühlte sich ungemütlich in seiner Haut. Es kam ihm plötzlich die Frage in den Sinn, was für Gefühle wohl das Lebewesen vor ihm jetzt bewegen mochte. Er wollte etwas sagen, aber es kam nur ein heiserer Ton heraus. Ola Tain sah auf. »Ich brauche eine Information«, sagte Cal in der Paumonsprache. »Ich nehme an, daß jetzt keine geeignete Zeit ist, um den General zu fragen?« Ola Tains Blick wanderte von Cal zu Wantaki und wieder zu Cal zurück. »Nein«, gab er zur Antwort. »Ich möchte wissen«, fragte Cal weiter, »wie Ihre Leute den Marsch überstehen. Wir haben noch über die Hälfte 142
des Weges vor uns.« »Sie sehen es ja«, erwiderte Ola Tain und nickte zu den zusammengesunkenen Männern hin. »Können Sie uns sagen, wohin wir gehen?« »Nach Manaha. Ich kann mich nicht um Nachzügler kümmern.« »Ich habe es gemerkt.« Ola Tain sah ihn einen Moment an. »Sie tun das Beste für uns, was sich noch mit Ihren Befehlen vereinbaren läßt?« »Jawohl.« »Ich habe es mir schon gedacht. Soweit ich kann, will ich Ihnen helfen.« »Wenn ich anordne: bis morgen in der Dämmerung, werden das alle schaffen?« »Wir wollen darum beten.« Cal zögerte und sah auf den Paumon hinab. »Sie beten?« fragte er dann. »Manchmal«, bekam er zur Antwort. »Und heute bete ich.« »Weswegen?« »Ist das nicht gleich?« erwiderte Ola Tain. »Vielleicht.« Cal blickte über die Leute hinweg. Darm sah er wieder auf Ola Tain. »Sie sind ein seltsamer Soldat.« »Ich bin kein richtiger Soldat. Ich lehre …« Das Wort, das er gebrauchte, ließ sich schlecht übersetzen; es war irgendetwas zwischen Philosophie und Anthropologie im Sinne der Paumons. 143
»Er ist ein Soldat«, nickte Cal in Richtung zu Wantaki. »Er haßt uns, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Ola Tain. »Hassen Sie uns auch?« »Ich versuche, es nicht zu tun. Haß stört das klare Denken. Aber …« Ola Tain zögerte, »ja, ich hasse euch auch.« Er blickte wieder zurück auf den Boden und die Blüten an dem Moos. »Gut«, sagte Cal nach ein paar Sekunden. »Sie wissen, daß wir nur hier sind, um unsere Stützpunkte und unsere Leute zu sichern.« »Bitte!« Ola Tain sah nicht auf. »Machen Sie es mir nicht noch schwerer, Sie nicht zu hassen.« Cal ging zurück zu Allen. »Es geht weiter«, sagte er. Mit der sinkenden Sonne begann sich die Luft abzukühlen. Zuerst schien es gut für die Gefangenen zu sein, und es kam wieder Leben in die Kolonne. Aber als Bellatrix sich dem Horizont näherte und dann langsam untertauchte, wurde aus der angenehmen Kühle schnell eine fühlbare Kälte. Mit der langen Nacht vor Augen war sich Cal im klaren darüber, daß er die Paumons nur dann in Bewegung halten konnte, wenn er für sie etwas zum Essen und Trinken besorgte. Er nahm Ola Tain und ging zum nächsten Dorf voraus. Als die beiden dort ankamen, erregten sie ziemliches Aufsehen. Licht flammte in den Fenstern auf, und Frauen und 144
Kinder der Paumons liefen auf die Straße. Sie starrten für einen Augenblick auf Cals fremde Erscheinung, dann verschwanden sie in den Häusern. Ola Tain verließ Cal und ging allein weiter. Nach kurzer Zeit kam er schon wieder zurück, begleitet von einer Frau, die einen Transportkarren mit riesigen Ballonreifen lenkte. Der Karren war beladen mit Nahrungsmitteln und Getränken der Paumons. »Schön, Sie haben es also bekommen«, sagte Cal zu Ola Tain, als sie wieder auf dem Weg zur Kolonne zurück waren. Der Wagen fuhr voraus. »Sie wollten eigentlich nichts herausgeben«, erwiderte der Paumon, und nach einem kurzen Zögern setzte er hinzu: »Es war nicht leicht. Ich mußte mit euch Terranern drohen.« Sie kamen zu den Gefangenen zurück, die inzwischen Feuer gemacht hatten. Nach dem Essen sahen die Paumons wieder kräftiger aus. Aber beim nächsten Halt kam Allen zu Cal. »Fünf von ihnen sind tot«, meldete er. »Sie haben sie die ganze Zeit auf den Bahren getragen, damit wir denken sollten, sie wären nur verwundet.« »Wenn sie sie tragen können, dann ist es in Ordnung.« Aber während der langen Nacht begann die Kolonne langsamer zu werden. Cal befahl, daß die Toten zurückgelassen würden, und es stellte sich heraus, daß die Paumons jetzt schon zwölf Leichen mit sich schleppten. Sie ließen sie zurück und marschierten weiter; die leichter Verwun145
deten halfen sich selbst, und die Bahren wurden jetzt von vier Mann getragen. Cal legte jede halbe Stunde eine Haltepause ein. Beim ersten Morgengrauen befanden sie sich auf dem Durchmarsch durch eine weitere der PaumonAnsiedlungen. Die Kunde von der Verlegung der Gefangenen war ihnen über das zivile Nachrichtennetz der Paumons, das noch arbeitete, vorausgeeilt. Sie waren jetzt nur noch wenig mehr als drei Kilometer von ihrem Ziel Manaha entfernt, und die Paumons waren hier schon mutiger geworden und zeigten mehr Sympathie mit den Gefangenen. Sie sagten nichts, aber sie schauten neugierig aus den Fenstern und von den Dächern und hatten sich in den Seitenstraßen zusammengefunden. Als sie aus dem letzten Ort vor Manaha herauskamen, fanden sie die Straße rechts und links von Frauen, Alten und Kindern gesäumt. Sie wichen zurück, als Allen, der vorausging, näher kam, aber sie schoben sich wieder nach vorn, als er vorbei war und die sich mühsam bewegenden Gefangenen an ihnen vorbeistolperten. Weit voraus konnte Cal das Glitzern von Fensterscheiben sehen, die schon zu Manaha gehörten. Dann sah er wieder auf die unbewegliche Menge, die sich nach vorne lehnte, als würde sie von einem unsichtbaren Seil gehalten. Wantaki und Ola Tain gingen immer noch an der Spitze. Die Straße machte jetzt einen leichten Bogen, und als Allen herankam, wichen die Paumonkinder, die sich versammelt hatten, zurück. Aber als er vorbei war, traten sie 146
wieder vor. Plötzlich gab es eine Verwirrung in ihren Reihen, und ein kleiner Junge lief zu Ola Tain, der ihm am nächsten war. Der junge Soldat mit dem verkniffenen Mund hob seine Maschinenpistole. »Laß sie!« rief Cal, während der Junge in die Sicherheit der Menge zurückeilte und Ola Tain mit einem grünen Zweig von einem der baumwollähnlichen Bäume zurückließ. Einen Moment lang sah Ola Tain darauf, dann marschierte er weiter, wobei er den Zweig aufrecht trug. Einen Augenblick später sprang ein anderes Kind, diesmal ein etwas älterer Junge, vor und gab Wantaki einen Zweig. Und alsbald wurden überall den Gefangenen solche Zweige gereicht. Allen kam zu Cal. »Sir?« sagte er mit fragendem Blick. »Laß sie in Ruhe«, gab ihm Cal in rauhem Ton zur Antwort. Allen ging wieder an die Spitze der Kolonne. Bald hatten alle Gefangenen ihren Zweig. Jeder trug den seinen aufrecht vor sich hin, ihre Schultern hatten sich gestrafft, und sie schritten wieder fester aus. Als sie schließlich in Manaha einrückten, sahen sie aus wie ein in Bewegung geratener Wald. Und sie marschierten wie Soldaten.
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ZWÖLFTES KAPITEL Cal kam nach dieser Aufgabe wieder zu seiner alten Truppe zurück. In den nächsten sechs Monaten arbeitete er als Dolmetscher für das Bataillon und fragte Gefangene aus. Der Feldzug machte große Fortschritte, man hatte den größten Teil des Planeten erobert. Es war genau so, wie General Harmon es vorhergesagt hatte. Die Paumons mußten zu dem Plateau kommen, wenn sie kämpfen wollten. Und die Terraner setzten überall auf der Paumonwelt Kampftruppen ab. Aber es war keine gewaltlose Eroberung. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Paumons gelernt hatten, daß sie gegen die weit stärker bewaffneten Terraner nicht mit dem Kopf voran kämpfen konnten, weil sie dann jedesmal entsetzliche Verluste einstecken mußten. Am Ende der sechs Monate waren dreimal Ersatztruppen gekommen; die Kampftruppen hatten fünfundsiebzigtausend Mann verloren. Aber die Verluste der Paumons wurden auf über zwei Millionen Tote und Verwundete geschätzt. Cal war zweimal befördert worden, jetzt war er Captain. Er sollte wieder die Leitung über das Gefangenen-Lager übernehmen, das in der Nähe des Hauptquartiers bei Manaha lag. Auch das Hospital der Erdtruppen war dort eingerichtet worden. Das gab Cal Gelegenheit, bei Annie zu sein, die dort stationiert war. Gelegentlich hörte er auch von Walk, der sich einen Namen als Kommandant einer neu geschaffenen Partisanentruppe gemacht hatte. Bei den Kampf148
truppen gab es schnellere Beförderungen, und Walk war inzwischen Major. Eines Tages rief Annie Cal an, um ihm zu sagen, daß man Walk gerade mit schrecklichen Wunden an Armen und Beinen eingeliefert hätte, vermutlich von einem Paumon-Mörser. Cal änderte seine Pläne für den Tag und ging hinüber ins Hospital. Man hatte Walk schon in ein Einzelzimmer gebracht. In dem Vorraum fand er Annie, die gerade die Aufzeichnungen über die erste vorläufige Untersuchung Walks in ein Diagramm übertrug. Außerdem war noch ein Nachrichtenoffizier da, der die Nachricht von Walks Verwundung für die Erdzeitung freigeben wollte. »Kann ich hinein und ihn sehen?« fragte Cal Annie. »Gleich«, sagte sie, während ihre Finger über die Tasten der Codiermaschine eilten. »Ich bring’ dich hinein. Ich habe mich als Pflegeschwester für ihn einteilen lassen.« »Sind Sie ein Kamerad von ihm?« fragte der Nachrichtenmann, ein strammer Leutnant mit einem großen Schnurrbart. »Die Offiziere und Männer seiner Truppe gehen für ihn durchs Feuer, habe ich mir sagen lassen. Und für die Paumons ist er beinahe eine Sagengestalt, mit der sie ihre Kinder erschrecken, wenn die nicht gehorchen. Vielleicht können wir ein paar Aufnahmen von Ihnen beiden machen. Seine Geschichte ist eine einzige Liste von Heldentaten. Man sagt, selbst die Außerirdischen respektieren ihn.« 149
»Du kannst jetzt mit reinkommen«, sagte Annie zu Cal. Sie gingen zusammen hinein. Walk lag auf einem der Feldbetten und war mit einem dünnen Laken zugedeckt. Er war von der Sonne dunkelbraun gebrannt, und sein braunes Gesicht hob sich scharf gegen die weißen Bettücher ab. »Cal …« murmelte er. »Was machst du hier? Geh … geh zum Stützpunkt zurück!« »Er phantasiert«, sagte Annie. Sie winkelte Walks Arm an und drückte eine Hochdruckspritze dagegen. Nach einem kurzen Augenblick klärte sich Walks Blick. Er erkannte Cal, und seine Lippen öffneten sich zu einem schmalen Spalt. »Captain Truant«, sagte er. »Wie fühlst du dich?« fragte Cal. »Prächtig«, sagte Walk, »ganz prächtig.« Er wollte sich auf sein Kissen hochziehen. »Schwester …« Dann erkannte er Annie. »Annie, gibt es hier irgendwo einen Schnaps für die Sterbenden?« »Tut mir leid«, erwiderte Annie, »man will dich gleich operieren.« »… Sie«, sagte Walk. Seine Zunge begann zu erlahmen. Annie hatte ihm anscheinend ein schnell wirkendes Beruhigungsmittel gegeben. »… du auch. Ihr alle … das ganze Universum. Alles ist nur gut für …« Seine Augen fielen zu; er war bewußtlos geworden. Annie legte sacht ihre Hand auf Cals Arm. »Das ist schon in Ordnung«, sagte Cal. »Es macht 150
nichts. Ich hatte ja so etwas Ähnliches erwartet.« Er ging in sein Büro zurück. Dort fand er eine Nachricht von General Scoby vor, der ihn sehen wollte. Außerdem wartete Ola Tain schon seit einer halben Stunde auf ihn. In dem weiten Lager, das nun ungefähr achtzigtausend gefangene Paumons aufgenommen hatte, war Ola Tain Cals wertvollste Stütze. Es war so, wie es Scoby damals in dem Gespräch in Denver vorausgesagt hatte. Es gab keine Regeln, nach denen man eine Basis für die Koexistenz mit denen, die man besiegt hatte, festlegen konnte. Man konnte den Weg nur ahnen. Cal erahnte ihn hauptsächlich durch Ola Tain. Wantaki war schon früh geflohen. Er und fünf seiner Offiziere waren schon in der zweiten Woche nach ihrer Internierung in Manaha ausgebrochen und heil davongekommen. Cal war davon überzeugt, daß Ola Tain damals hätte mitgehen können, wenn er gewollt hätte. Aber er hatte sich zum Bleiben entschieden, um für die anderen Gefangenen zu sprechen. Diese schienen ihn alle zu respektieren, nahmen ihn aber nicht in ihre Gemeinschaft auf. Es war, als ob auch er für sie ein Fremdwesen wäre. Cal hatte ihn mal gefragt, ob er nie einsam sei. »Nein«, hatte Ola Tain geantwortet. »Man kann nur innerhalb von Mauern einsam sein. Und ich habe nie eine Mauer errichtet.« Jetzt hielt Cal in dem äußeren Büro an, um zu sagen, daß er auf dem Weg zu General Scoby wäre. »Meine Angelegenheit eilt nicht«, sagte Ola Tain. »Ich 151
habe nur fragen wollen, ob das Lager nicht vergrößert werden könnte.« »Ich werde General Scoby fragen«, antwortete ihm Cal. Er ging zu dessen Büro. Scoby war wieder an seinem Schreibtisch beschäftigt, als Cal hereinkam. Es sah aus, als hätte man sein Büro und Limpari, die Cheetah-Katze, alles zusammen verpackt und von Denver nach hier geschafft, ohne daß auch nur die Papiere auf dem Tisch durcheinander gekommen wären. Cal wiederholte Ola Tains Bitte. »Nein«, sagte Scoby. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte auf Cal, der ihm gegenüber saß. »Sie wollen in Wirklichkeit gar nicht mehr Platz. Sie wollen nur herausfinden, ob an dem Gerücht etwas Wahres ist.« »Welches Gerücht?« »Daß sie alle entlassen werden, wenn nächsten Monat der Friedensvertrag unterzeichnet würde.« »Davon habe ich noch nichts gehört.« »Ein Gerücht«, sagte Scoby. »Was, meinen Sie, sollten wir dagegen übernehmen?« »Unternehmen? « »Ja. Das habe ich gefragt.« »Nichts. Das ganze ist ja Blödsinn. Zunächst einmal sind wir noch eine ganze Menge Monate von der Unterzeichnung entfernt. Wantaki ist noch in jenem Bergland, mit mehr als dreißigtausend Mann.« »Dreißigtausend ist nicht viel«, sagte Scoby in einem seiner plötzlichen Anfälle von Milde, »sie können igno152
riert werden. Die höchsten zivilen Vertreter der Paumons sind bereit, sie zu ignorieren und zu unterzeichnen.« »Sie meinen, daß man ihn als Gesetzlosen brandmarken will, ihn, den Befehlshaber, der härter für sie gekämpft hat als irgendein anderer? Ihn und dreißigtausend Mann, ohne die zahllosen anderen Guerillatruppen zu nennen?« »Sie haben viel Gemeinsames mit uns«, antwortete Scoby. »Oder haben Sie das noch nicht bemerkt?« »Doch«, antwortete Cal bitter. Scoby sah ihn einen Moment nachdenklich an. »Das Ärgerliche mit Ihnen, Cal, ist, daß Sie von allen Leuten Wunder erwarten«, sagte er dann, »und ich meine Leute aller Rassen, Lehaunan, Griella, Paumons und ebensogut Menschen. Das ist das Dumme mit den meisten von uns. Wenn wir nicht mehr das Schlimmste von jemand erwarten müssen, dann kehren wir unsere Meinung gleich ganz um und erwarten nur noch Gutes von ihm.« »Wenn Sie erlauben, versuche ich das nächste Mal, es besser zu machen.« »Werden Sie nicht sarkastisch. Sie haben in diesem letzten Jahr eine Menge gelernt, aber noch weiß ich ein bißchen mehr. Eins davon ist, wie ganz besonders wichtig ausgerechnet diese Rasse für uns ist. Oder können Sie mir das auch sagen?« Cal überlegte einen Moment. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, ich glaube, nicht.« »Sie sind wichtig, weil sie uns so verdammt ähnlich sind. So lange die Rassen, die wir bekämpften, ein Fell 153
tragen oder Greifnasen hatten, konnten wir sie immer Pelzmäuse oder Rüsselträger nennen. Wir konnten unsere Augen vor der Tatsache verschließen, daß sie den gleichen oder wenigstens ungefähr gleichen Verstand hatten wie wir, daß sie vielleicht auch eine ebenso fühlende Seele hatten. Aber einen Fremden, den wir Prog nennen, das ist ein bißchen so, als wenn wir bloß ›Nigger‹ sagen. Man muß sich anstrengen, den Unterschied herauszufinden. Und doch versteht es sich von selbst. So lange wir auf immer neue Rassen zwischen den Sternen stoßen, so lange mußten wir damit rechnen, früher oder später auf eine zu stoßen, die ganz menschenähnlich ist.« Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion von Cal. »Ich glaube, Sie haben recht.« »Natürlich«, sagte Scoby. »Ich habe das Wort ›menschenähnlich‹ im umfassendsten Sinn gebraucht.« »Ich habe Sie auch so verstanden«, erwiderte Cal. »Diese Menschenähnlichkeit ist es also, die die Paumons so wichtig macht?« »Ganz recht«, antwortete Scoby. »Was würden Sie machen, wenn Sie ein Paumon wären und das hier wäre die Erde und Sie hätten achtzigtausend Gefangene hinter jenen Gittern, wenn man einen Friedensvertrag unterzeichnen will? Würden Sie sie gern loslassen?« Cal straffte sich in seinem Stuhl. »Zur Hölle, nein!« sagte er. »Ich beginne, Sie zu verstehen.« »Nicht, wenn Sie nicht wollen, daß die ganze Eroberung von neuem beginnen soll, ist das richtig?« fragte 154
Scoby. »Wie weit, glauben Sie, sind diese Leute davon entfernt, umerzogen zu werden, um mit uns friedlich zusammen zu leben?« »Zwanzig Jahre«, meinte Cal. »Vielleicht die nächste Generation.« »Machen Sie sich doch nichts vor. Fünf Generationen lang wird hart darum gekämpft werden müssen, um die Tatsache, daß wir angefangen haben, aus ihrem Gedächtnis zu bannen.« »Können Sie es General Harmon ausreden, die Gefangenen freizulassen?« »Nein.« »Dann können wir nichts machen«, sagte Cal. »Wir geben ihnen ja eine Armee zurück. Das Lager hier und die anderen drei – und sie haben in einem halben Jahr wieder eine Million Mann unter Waffen. Und wir können nichts dagegen machen.« »Nicht ganz«, erwiderte Scoby. »Wenn der Friedensvertrag erst einmal unterzeichnet ist, Dann kann der Kontakt-Dienst jeden Schritt untersagen, der zu einem erneuten Bruch führen könnte.« »Autsch«, machte Cal. »Aber Sie würden das sicher General Harmon nicht antun wollen.« »Nein. Aber wenn es soweit ist, brauche ich es auch nicht«, sagte Scoby. »Sie, Cal, werden es tun.« »Ich?« fragte Cal. Er war mehr als überrascht. »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Besonderes mit Ihnen vorhabe«, erklärte ihm Scoby. »Ich habe hier Leute, die 155
schon sechzehn Jahre bei mir sind. Aber Sie, Cal, haben die Kampferfahrung und Sie haben den nötigen Schneid. Sie haben auch sonst noch einiges aufzuweisen.« »Aber ich …« Cal brach ab. »Bei jedem Feldzug sprechen die Soldaten davon, wie sie zusammenhalten wollen und wie sie die ehemaligen Krieger, die jetzt in der Regierung sind, unterstützen wollen, wenn sie zurückkehren. Der einfache Mann denkt immer, er wüßte den richtigen Weg für alles, und die Regierung mache alles falsch. Das ist zwar nur zum Teil richtig, aber jetzt soll etwas geschehen, Boy. Jetzt ist die Zeit gekommen, daß ich mich einschalte. Ich werde zur Erde zurückkehren und für unsere Sache kämpfen.« »Ich bin nicht sicher, daß ich Sie vertreten kann«, sagte Cal langsam. »Aber ich bin dessen sicher, Junge«, antwortete ihm Scoby. »Ich habe bereits alles veranlaßt. Sie werden zwei Rangstufen weiter zum Oberstleutnant befördert. Sie werden die gleiche Autorität hier haben, wie ich sie hätte, es wird höchstens noch an Ansehen fehlen. Dafür müssen Sie selbst sorgen.« Scoby grinste. »Mach’s gut, Junge. Du wirst deinen Weg machen.«
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DREIZEHNTES KAPITEL Cal verabschiedete Scoby auf dem Landefeld bei Manaha. Der Platz war erst vor sechs Monaten planiert und betoniert worden. Aber das grüne Moos konnte anscheinend überall wachsen, und wo es nicht täglich aufs Neue von den startenden Raumschiffen verbrannt wurde, hatte es lange Arme durch die Betondecke gestreckt und sich ausgebreitet. Es konnte durch einen Flammenstoß aus den Düsen oder den Fuß einen Menschen zerstört werden, aber es grünte über Nacht erneut. Cal stand neben Scoby. Sie warteten darauf, daß der Ältere an Bord der schlanken Kurierrakete gerufen würde, die ihn zurück zur Erde bringen sollte. Keine fünfzig Meter entfernt konnte Cal den mächtigen Leib des Flaggschiffs der Expedition sehen, der den Morgenhimmel verdunkelte. Es hatte sich nicht wieder bewegt, seit es elf Tage nach der ersten Landung – bei der Cal mit Wajeck und den anderen seinen Einsatz hatte – hier niedergegangen war. Es trug in sich das mächtige und alles vernichtende Schwert nuklearer Bomben, mit denen es von dem Platz aus, wo es stand, das Land im Umkreis von tausend Kilometern verwüsten konnte. Es konnte einem Planeten schwere Wunden schlagen, und der einzelne Wachsoldat in dem Beobachtungsraum, einhundertdreißig Meter über Cal und Scoby, konnte alles überblicken. Auf dem Hauptbildschirm konnte er all die kleineren Raumschiffe unter sich, das Landefeld und auch Manaha mit der ganzen aus157
gebreiteten Macht der Terraner überblicken, als hätte er eine Spielzeugstadt vor sich. Und auch an diesem mächtigen Herrn über Raum und Krieg begann das Moos schon mit schlanken, grünen Fingern emporzukriechen. Der Lautsprecher ertönte und forderte die Passagiere auf, an Bord zu gehen. »Halt den Nacken steif, Cal«, sagte Scoby, während er mit einer Hand die Leine von Limpari hielt. Er streckte seine Hand aus, und Cal nahm sie. In letzter Minute hatte Scoby einen seiner Anfälle bekommen, und er konnte nicht sehen. Sie schüttelten sich die Hände. »Los, Mädchen«, sagte Scoby dann zu der großen Katze. Und geschmeidig und kraftvoll führte diese ihn von Cal fort und auf das Raumschiff zu. Cal ging zum Kontakt-Hauptquartier zurück. Ein arbeitsreicher Tag lag vor ihm, der sich in den nächsten Wochen zu täglich mehr als elf Stunden Routinearbeit ausweitete. Er hatte sogar wenig Zeit, Annie zu sehen. Er sehnte sich sehr nach ihr, aber als sie eine Andeutung über eine Heirat machte – er hatte nie von so etwas gesprochen – hatte er so heftig abgewehrt, daß er hinterher darüber selbst erschrocken war. »Nein!« hatte er gerufen. »Nicht jetzt! Kannst du das nicht verstehen? Nicht jetzt!« Er hatte sich umgedreht und drei lange Schritte von ihr weg gemacht, von ihrem Schreibtisch weg, hinter dem sie Wache hielt, als sie das Wort »heiraten« erwähnt hatte. Unten in der Halle hatte sich ein wartender Patient er158
staunt umgedreht und nach oben geblickt. Plötzlich ging Cal beschämt zu ihr zurück. Immer noch erregt sagte er: »Jetzt nicht. Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür, Annie. Kannst du das nicht verstehen?« Sie schwieg. Der Friedensvertrag wurde unterzeichnet. Wantaki war jetzt ein Gesetzloser, draußen in Zone elf, und mit ihm waren es ungefähr zwanzigtausend Paumons. Auch Walk war wieder genesen und beunruhigte den Führer der Partisanen von einer Reihe von starken Posten aus, die das Bergland umzingelt hielten. Harmon unterzeichnete den Befehl für die Freilassung der Gefangenen, und Cal sah, wie diese in Wellen aus dem großen Tor strömten, wobei sie Tor und Umzäunungen niederrissen und als Andenken mitnahmen. Für einen Tag und eine Nacht gab es ziemlichen Aufruhr in Manaha und Umgebung. Drei Bataillone wurden herbeibeordert, um das Gebiet zu sichern. Daraufhin machten sich die ehemaligen Kriegsgefangenen auf, um in ihre Heimatorte zurückzukehren. Drei Tage später – Cal sah gerade aus dem Fenster auf die jetzt leer stehenden Gebäude in dem Lager – begann der Regen. Die Terraner hatten den Feldzug zum frühestmöglichen Termin nach der Winterzeit auf dem Hochplateau geplant. Jetzt war es wieder Winter, genauer gesagt, es war Regenzeit auf dem sonst so trockenen Hochland. Tagein und tagaus hüllten dicke Regenwolken die Landschaft in düsteres Grau, während Cal zwischen Kontakt-Dienst-Hauptquartier, Heeresleitung und Hospital hin und hereilte. 159
Zwei Monate lang dauerte die Regenzeit. Mittlerweile war überall die Saat aufgegangen, die die zurückgekehrten Paumons, die gegen die Menschen gekämpft hatten, legten. Die zivilen Behörden machten offensichtlich ehrliche Anstrengungen, um den Plan für den Wiederaufbau und die Umerziehung ihres Volkes zu erfüllen. Aber der ganze Planet begann unter unerwarteten Ausbrüchen und Erhebungen zu beben. Das Volk der Paumons hatte sich gespalten und war erregt. Auf der einen Seite gab es in jedem Ort Gruppen von Rebellen, die von terranischen Soldaten und ihrer eigenen Polizei gleichzeitig gejagt wurden. Auf der anderen Seite kommandierte Walk in Zone elf eine ganze Einheit von ehemaligen Paumon-Soldaten. Häßliche Geschichten begannen von dort an jedermanns Ohren zu dringen, Geschichten von den Widerstandsgruppen, die sich dort eingenistet hatten. Gefangene wurden nicht oft gemacht; und die das Pech hatten, mußten damit rechnen, daß sie später als Leichen wieder auftauchten. Beide Seiten machten das so. Cal, der in einem Wust von Papierkrieg zu ersticken drohte, sah eine Krise kommen. Obendrein mußte er gegen den Widerstand jener Kontaktoffiziere kämpfen, die sich übergangen fühlten, da Scoby ihn über ihre Köpfe hinweg befördert hatte. Er benachrichtigte Scoby auf Terra, daß dessen Autorität hier gebraucht würde. Scoby antwortete, daß er wahrscheinlich nicht vor Ablauf von sechs Wochen kommen könnte. Er riet, mit Harmon zu sprechen. Cal machte einen Versuch, das zu tun, aber seine 160
Verabredungen mit dem Kommandanten der Expedition waren in letzter Zeit immer kurz vor dem Termin abgesagt worden. Harmon ließ mitteilen, daß er seinem Büro Anweisung gegeben habe, bei erster Gelegenheit einen Termin für ihn freizuhalten. Die Zeit verging. Die sechs Wochen gingen vorüber, aber es geschah nichts. Harmon war weiterhin nicht zu sprechen. Scoby war nicht gekommen und hatte auch keine Nachricht gesandt. Eines Abends saß Cal in seinem Büro bei der täglichen Arbeit – er verstand jetzt besser, warum Scobys Schreibtisch immer mit Papieren beladen gewesen war – , als er unter seinem Fenster das scharfe Schnappen eines Strahlgewehrs hörte. Dann wurde zweimal geschossen. In seinem Vorraum gab es Bewegung. Seine Tür sprang auf, und ein Paumon, den er sofort als Ola Tain erkannte, fiel halb in den Raum hinein. In dem Vorzimmer ertönten sich streitende Stimmen, als Cal aufsprang und dem anderen in den Stuhl half. Ola Tain hatte zwei Durchschüsse durch seinen Körper. Er starb. Die Bürotür schwang wieder auf, und Cal sah einen Mann mit harten Zügen und einer Verletzung an der Schulter im Eingang stehen. Zuerst erkannte er ihn nicht, dann aber kam ihm die Erinnerung. Der Mann sah wie Walk aus, aber es war Washun, der Kadett, der bei Cals zweitem Weg durch die Grundausbildung dabei gewesen war, damals in Fort Cota. Die Schulterklappen auf seiner Jacke waren jetzt befleckt und 161
zerrissen. »Es geht um Walk Blye, in Zone elf«, sagte Washun. »Er plant ein Massaker!«
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VIERZEHNTES KAPITEL Der Zwei-Mann-Atmosphärengleiter flog in einer Höhe von zwölftausend Meter westwärts. Er holte die untergehende Sonne ein, überholte sie und landete nach einem Flug um den halben Planeten am Nachmittag in Garnison Nummer drei von Zone elf, dem Hauptquartier von Walk. In der Garnison gab es nur wenige Soldaten. Ihr Sprecher war ein Korporal; es war Tack. Er und Cal sahen sich an wie Verwandte, die weit voneinander entfernt und unter anderen Sitten und Gebräuchen groß geworden sind. Cal fragte ihn nach Walk. »Er ist vor sechs Stunden abgezogen«, berichtete Tack. »Er hat dreitausend Mann und eine umfassende Ausrüstung mit in die Berge genommen. Zu einem Ort, den man hier ›Tal der drei Städte‹ nennt … Woher wußtest du das?« »Von einem Paumon namens Ola Tain«, erwiderte Cal. »Wantaki weiß von Walks Plan. Ist Walk wahnsinnig geworden? Er könnte dafür zum Tode verurteilt werden.« »Er ist wahnsinnig«, bekam Cal zur Antwort, wobei Tack seine Stimme senkte und auf Washun sah, der mit Cal gekommen war und jetzt am anderen Ende des Büros außer Hörweite stand. »Er kümmert sich um nichts. Und er ist jetzt immer betrunken. Aber du sagst, daß Wantaki ihm eine Falle stellen will?« »Genau das«, erwiderte Cal. Er fühlte sich müde und alt. »Tain kam zu eurem Kontaktoffizier hier«, Cal deute163
te auf Washun, »um zu versuchen, die ganze, Sache aufzuhalten. Aber eure zahmen Paumons fingen ihn ab und schossen auf ihn. Washun rettete ihn und brachte ihn zu mir. Aber er konnte mir nichts mehr sagen.« Cal fühlte eine bittere Leere in sich. »Er wurde vor meinem Büro von irgendeinem Narren nochmal niedergeschossen.« »Kannst du noch rechtzeitig zu Walk kommen?« »Gib mir einen Geländewagen. Ich versuche es.« Nochmal erlebte Cal einen Sonnenuntergang an diesem Tag, als er allein in dem Geländewagen über den buckligen Weg fuhr, der ihn in das rauhe und wilde Bergland von Zone elf führte. In der Dunkelheit sahen die Bäume noch irdischer aus, der Weg konnte eine Straße in irgendeinem Hinterland zu Hause auf der Erde sein. Der Wagen, der ein paar Zentimeter über dem unebenen Boden des Weges flog, schien sich von selbst in die Dunkelheit der Nacht hineinzubohren. Er gab ständig ein rauschendes Geräusch von sich, das von den zahllosen Raketenstößen aus seinen Düsen stammte. Und dann überkam Cal plötzlich eine jener seltsamen Gefühlsanwandlungen, die er als kleiner Junge ab und zu gehabt hatte, als seine Mutter noch lebte. Zum ersten Mal merkte er, daß er das nie mehr gefühlt hatte, seit seine Mutter tot war. Aber jetzt war es wieder da, und er sah sich selbst klar in einer gewissen Entfernung, von außerhalb seines Körpers. Und was er sah, schien ihm sinnlos. Was tat er hier in diesem schweren, erwachsenen Körper? In einem komplizierten Wagen, in dieser fremden 164
Welt, auf diesem Boden, der nicht zur Erde gehörte? Zu welch gefährlicher Tat trieb ihn das Schicksal? Er war verpflichtet, Leben zu retten, ein Unglück abzuwenden. Aber war das wirklich der Grund, weshalb er jetzt hier war? Einen Augenblick lang kam er sich vor, wie vom Sturm geschüttelt, mitten in einem Ozean von Geheimnissen. Und dann machte die Straße plötzlich einen Bogen, und während seine Hände den Wagen automatisch herumzwangen, sah er auf einmal alles in kristallklarer Schärfe. Es war nicht eine schattenhafte Pflicht, die ihn hierher gebracht hatte, sondern das Gefühl seiner eigenen Schuld. Es waren nicht die Paumon-Städte, sondern Walk, den er retten wollte. Denn es war Walk, sein unwissender Bruder, sein zweites Ich, für den er verantwortlich war, für den er immer verantwortlich gewesen war. Annie hatte es verstanden, als sie damals auf der Erde nach dem Lehaunan-Feldzug im Hospital gesagt hatte, daß Walk der schwächere war. Nicht im gewöhnlichen Sinn war er schwach. Als sie beide – zwei mutterlose Jungen – sich instinktiv zusammengefunden hatten, war Walk es gewesen, dem es an Phantasie gefehlt und der sie nötig gebraucht hatte. Cal hatte das Soldatentum als Rache gegenüber seinem Vater gewählt, dem er die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Walk, der Cals Phantasievorstellungen vom geliebten Soldatentum folgte und nichts davon wußte, daß das für Cal nun ein Schlag gegen seinen Vater war, war ihm willig gefolgt. Er hatte es geglaubt. Er war dem Ruf der Trompeten gefolgt 165
und hatte dahinter das Heim und die Familie gesucht, die ihm fehlten. Und Cal, der von Anfang an zuinnerst gewußt hatte, daß er Walk über das Soldatentum belogen hatte, war vor seiner eigenen Täuschung geflohen, hatte aber Walk einsam in einer grauenhaft leeren Wüste zurückgelassen. Walk hatte weiter nach dem vorgegaukelten Heim gesucht, und da er es nicht finden konnte, war er immer wilder und mörderischer geworden. Er wollte seine Wünsche zwingen, wahr zu werden. Er wollte es erzwingen, daß seine Gründe gerecht, sein Kämpfen edel, sein Leben, wenn es einmal zu Ende sein würde, wertvoll gewesen war. Und in all der Zeit, in der er das versuchte, wuchs in ihm die unleugbare Gewißheit, daß sein Gott nur eine leere Schale war, daß seine Gründe falsch waren, und er fand keinen anderen Ausweg, als zu einem tollwütigen, reißenden Wolf zu werden. Und die Schuld für all das lag bei ihm, kam es Cal jetzt zu Bewußtsein. Wenn er sich auf das berufen wollte, was er für die Paumons getan hatte, auf die Gefangenen, die er auf dem langen Marsch nach Manaha gerettet hatte, auf die, die er bei den Verhören geschützt hatte, auf die kleinen Erleichterungen, die er ihnen gewährt hatte, wenn er sich auf das alles berufen wollte, um sich damit zu rechtfertigen, dann mußte er auch seinen Anteil an dem aufzählen, was Walk den Paumons antat, an den Grausamkeiten und dem unbegründeten Töten der Gefangenen, die in Walks Hand fielen. Wenn Walk heute nacht ein Blutbad 166
anrichtete, dann tat es auch Cal. Cals Hände, die auf dem Lenkrad ruhten, waren schweißnaß. Die Nacht war jetzt endgültig hereingebrochen. So rücksichtslos gegen sich selbst wie Walk zwang Cal den Wagen um die Kurven einer unbekannten Straße, deren schmaler Pfad ihn zu seinem Ziel führte. Er flog durch die Dunkelheit, nur der schmale Kegel seiner Scheinwerfer erhellte den Weg. Schließlich kam er über eine kleine Anhöhe herab und sah plötzlich in ein Tal, wo Brände durch die Nacht lohten. Sie ballten sich an drei Stellen besonders zusammen. Er fuhr auf sie zu. Als er die erste erreichte, stellte er fest, daß die Flammen durch die zerbrochenen Fenster eines zerstörten Gebäudes schlugen. Schutt und Trümmer lagen auf der Straße, aber kein Lebenszeichen war zu entdecken. Als er endlich auf dem Platz in der Mitte des Ortes anhielt, tauchten von allen Seiten dunkle Gestalten auf. Er stieg aus. Es waren Paumons, die schwer bewaffnet waren. »Kommen Sie«, sagte einer von ihnen. Cal folgte ihm. Sie gingen quer über den Platz, und Cals Führer trat beiseite, als sie an der Tür eines kleinen Gebäudes ankamen. Cal stieß die Tür auf und trat ein. Er befand sich in einem niedrigen Raum, dessen Boden arg verschmutzt war. Innen gab es einen hölzernen Tisch, zwei schmale Betten, ein paar einfache Stühle und mehrere schwere Balken, die das Dach stützten. Wantaki stand neben dem Tisch, und zwischen zwei Pfeilern hing Walk. Seine Hände waren 167
mit einem Seil zusammengebunden, das man an den Balken festgemacht hatte, und das allein hielt Walk noch aufrecht. Sein Hemd war heruntergerissen. »Ola Tain?« fragte Wantaki. Cal, der schon auf Walk zugehen wollte, stoppte seine Schritte. Er hatte geglaubt, Walk sei bewußtlos, als er die Hütte betreten hatte, aber jetzt sah er, daß seine Augen offen waren und ihn beobachteten, obwohl sein Kopf hilflos hin und her baumelte. Sein Körper zeigte eine häßliche Wunde am Unterleib. »Tot«, antwortete Cal. »Er starb, als er mich erreichte.« »Ja«, sagte Wantaki, mehr nicht. Dann: »Ich hätte ihn gern gerettet, aber … So geht es nun mal Leuten wie ihm.« Cal kam zu dem Tisch. Wantaki sah ihn ernst an. »Ich kann Ihnen nichts Gutes sagen«, begann Wantaki wieder. »Menschen wie Sie sind …« Den PaumonAusdruck, den er gebrauchte, konnte man nicht übersetzen. »Mit ihm«, er benutzte eine Wortform, die es klar machte, daß er Walk meinte, »ist es etwas anderes. Er ist ein Mann wie er sein sollte. Wenn ihr alle so wie er gewesen wäret, hättet ihr uns vernichtet, so wie ihr es vorgehabt hattet. Ich würde ihn auch nicht so gebunden haben, aber einige meiner Soldaten hassen ihn so, daß etwas geschehen mußte.« Er wartete. Cal wartete auch, sagte aber nichts. »Ich bin ein Soldat«, fuhr Wantaki fort. »Das ist nur der Anfang. Eine Zeitlang gaben eure Waffen euch einen Vorteil. Aber wir haben einige gestohlen und nachgebaut. 168
Heute war der Anfang. Wir werden uns überall auf unserer Welt erheben. Wir werden euch alle fortjagen. Und dann werden wir euch auf eurem eigenen Planeten jagen.« »Nein«, antwortete ihm Cal. »Jeder Aufstand wird jämmerlich enden. Wir besitzen Waffen, die wir noch gar nicht benutzt haben.« »Ich glaube Ihnen nicht«, erwiderte Wantaki. Er starrte Cal einen langen Moment an. »Außerdem macht es nichts. Waffen können nachgebaut werden. Wenn es uns diesmal nicht gelingt, dann bestimmt beim nächsten Mal. Wir Paumons werden uns niemals damit abfinden, nur gezähmte Haustiere zu sein. Und das Recht ist auf unserer Seite.« »Das kann nur in einem Patt enden«, meinte Cal. »Wie kann es in einem Unentschieden enden, wenn wir der Stärkere sind?« fragte Wantaki. »Wenn wir gleiche Waffen haben, dann werden wir siegen – ich weiß gar nicht, warum ich mit Ihnen darüber spreche.« »Ich weiß es«, erwiderte Cal. »Sie denken an all die Paumons, die sterben müssen, ehe Sie Ihren Krieg gewonnen haben.« Er trat bis an die Kante des Tisches vor. »Wenn die Menschen mit Ihnen von Mann zu Mann verhandeln würden, als Gleichgestellte, nicht als Sieger zu dem Besiegten, würden Sie den Aufstand aufhalten?« Wantaki sagte nichts. »Wenn Sie in unser Hauptquartier ziehen könnten, mit genügend Leuten, um sich sicher zu fühlen, und dort verhandeln könnten, täten Sie es?« 169
»Sie können das nicht zuwegebringen.« »Ich kann. Geben Sie mir drei Tage Zeit.« Cal sah zu Walk hinüber. »Und ihn.« »Er liegt im Sterben.« »Trotzdem.« Wantaki trat von dem Tisch zurück. »Ich trage eine Verantwortung für das Leben anderer, wie Sie sagten«, meinte er dann. »Ich glaube Ihnen nicht, aber ich will es trotzdem versuchen.« Er ging zur Tür. »Wenn Sie fertig sind, können Sie gehen.« Er verließ den Raum. Cal wandte sich schnell zu Walk um und band ihn los. Walk sank ihm schwer in die Arme. Cal legte ihn auf eins der Betten. Walks Lider flatterten, und er sah Cal ins Gesicht. Seine Lippen bewegten sich, aber er schien nichts zu sagen. Dann merkte Cal, daß Walk flüsterte. Cal beugte sein Ohr zu Walks Mund herab. »Cal«, flüsterte Walk, » … glück … glücklich, rechtzeitig … her-aus … gekom-men …« »Du wirst schon wieder in Ordnung kommen«, sagte Cal. Dann merkte er an dem Schatten in Walks Augen, daß er ihn falsch verstanden hatte. Walk sprach gar nicht von jetzt. »Lügen …«, erklang das Flüstern wieder. »… Trompeten … Trommeln … alles Lügen …« »Bleib ruhig liegen«, sagte Cal. »Ruhe dich etwas aus. Dann bring ich dich nach Osten ins Hospital.« Walk seufzte und schloß die Augen. Cal setzte sich still 170
neben ihn. Eine halbe Stunde war vergangen, als er merkte, daß Walk die Augen wieder geöffnet hatte und ihn ansah. »Was ist?« fragte Cal. Er beugte sich hinab, um zu hören. Walks schwaches Atmen streifte sein Ohr. »Annie«, wisperte der Verletzte, »… haßt mich?« »Nein«, antwortete Cal, »zur Hölle, nein! Annie mag dich. Wir beide mögen dich sehr. Und auch Tack. Und alle anderen.« »Gut«, flüsterte Walk, »… weiß … jemanden. Du … niemals …?« »Zur Hölle, nein!« »Versprachen … mir … edles … Gefühl. Feine Lügner. Fühle … mich lausig … so … zu … sterben. Nichts … als … verdammte … Kommiß …« »He, Boy«, sagte Cal, aber seine Kehle war dabei wie zugeschnürt. Er nahm eine Hand Walks und hielt sie. »Du hast doch deine Familie. Annie und mich und die anderen. Wovon sprichst du denn?« »Lausig … wußte … Lügner, schon … lange. Nicht … recht-zeitig … heraus … gekom-men.« Er schloß seine Augen und lag still da. Cal wachte weiter bei ihm. Etwa eine Stunde später sprach Walk noch einmal. »War … ihr Recht, … mich … töten.« Cal hatte sein Ohr ganz nah an den blassen Lippen und konnte trotzdem das Wispern kaum noch verstehen. »Nur … möchte nicht … sterben.« 171
Ein wenig später, als Cal ein Augenlid anhob, blickte ihn darunter ein gebrochenes Auge starr an.
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FÜNFZEHNTES KAPITEL Cal brachte den toten Walk zur Aufnahmestation des HQHospitals. »Aber der Mann ist doch tot, Oberst«, meinte der zuständige Leutnant überrascht. »Was sollen wir denn mit ihm machen?« »Geben Sie ihm ein Ehren-Begräbnis«, sagte Cal. Dann machte er sich auf die Suche nach Annie. »Ich bin auf dem Weg zu Harmon«, sagte er zu ihr, als er sie gefunden hatte. »Ich möchte, daß du deinen Posten hier jetzt verläßt und für mich etwas tust. Kannst du das?« »Ja«, sagte sie. »Was soll ich tun, Cal?« »Nimm einen Geländewagen und folge mir zum HQ. Warte bis ich hineingehe, dann parke den Wagen um die Ecke an dem Seiteneingang, in der Nähe der Mannschaftsbüros. Laß den Motor laufen und gehe schnell weg. Kannst du das machen?« »Ja, Cal, aber …« »Mehr werde ich dir nicht sagen«, unterbrach Cal sie. »Wenn du Fragen hast, stelle sie bitte nicht.« »In Ordnung«, erwiderte sie. »Gib mir eine Minute, damit ich jemand finden kann, der mich hier vertritt.« Cal fuhr in seinem eigenen Wagen zur Heeresleitung. Im Rückspiegel konnte er sehen, wie ihm Annie folgte. Er fuhr auf den offiziellen Parkplatz und ging hinein. »Oberst?« fragte der Sektionsführer hinter der Absperrung, die die dort Beschäftigten von den Besuchern trennte. 173
»Kontakt-Dienst«, sagte Cal, »Oberst Truant. Ich muß mit General Harmon sprechen.« Und ohne zu warten stieß er die kleine Tür in der Absperrung auf und schritt hindurch. »Aber Oberst, eine Minute. Oberst!« Er hörte Schritte hinter sich, ging aber weiter. Er kam durch eine Tür in einen weiteren Raum, wo ein Captain hinter einem Schreibtisch aufsah. »Oberst Truant!« sagte Cal und ging schnell weiter. Die gegenüberliegende Tür in diesem Raum war geschlossen. Cal öffnete sie und trat ein. Harmon und Alt standen zusammen an einem Schreibtisch und waren in ein Gespräch vertieft. Sie wandten sich beide um, während der Captain und weitere Untergebene hinter Cal die Tür erreichten. »General«, sagte Cal, »ich denke, es ist Zeit für Ihr Gespräch mit dem Kontakt-Dienst.« »Es tut mir leid, Sir«, sagte der Captain hinter Cals Rücken, »er ist einfach durchgegangen …« »Schon gut«, beruhigte ihn Harmon. »Schließen Sie die Tür.« »Allein«, verdeutlichte Cal sein Begehren. Oberst Haga Alt kam um den Tisch herum. Er schritt auf Zehenspitzen wie ein Boxer. »Truant«, zischte er, »ich habe verdammt lange gewartet, bis …« »Hag«, unterbrach ihn der General. Alt stoppte. Er sah Harmon fragend an. »Es ist schon gut, Hag«, sagte Har174
mon beruhigend. »Du kannst uns allein lassen.« Alts Nasenflügel weiteten sich. »Zu Befehl, Sir«, sagte er dann. Er ging weiter, sah Cal fest ins Gesicht, ging an ihm vorbei, und Cal hörte zum zweiten Mal, wie die Tür hinter ihm zuschlug. »Nun, Truant«, fuhr Harmon im gleichen freundlichen Ton fort. »Was gibt’s?« »Die Paumons planen einen Aufstand.« »Ich weiß.« »Ich weiß, daß Sie’s wissen«, erwiderte Cal. »Ich weiß, daß Sie es so geplant haben. Es gab einmal eine Zeit, da habe ich geglaubt, daß Sie es gar nicht wüßten. Aber ich habe das Gegenteil herausgefunden.« Harmon kam hinter dem Schreibtisch hervor und stellte sich vor Cal hin. Sie waren nur ein paar Schritte voneinander entfernt. Harmon verschränkte die Hände hinter seinem Rücken wie ein Lehrer. »Damals in Denver«, begann er, »habe ich Sie zu General Scoby gesandt, weil ich gedacht hatte, daß Sie ein echter Soldat wären, was immer auch mit Ihnen bei den Lehaunan passiert war.« »Das war ich auch. Sogar einer der besten.« »Aber Sie sind es nicht mehr?« »Doch«, erwiderte Cal. »Ich bin ein Soldat. Ich bin mit Leib und Seele Soldat. Aber vielleicht verstehen Sie die Sorte von Soldatentum nicht, die ich repräsentiere.« »Doch, Sie irren sich. Tatsächlich verstehe ich Sie sogar gut. Deshalb spreche ich jetzt auch mit Ihnen, statt Sie 175
hinauswerfen zu lassen.« Er setzte sich auf eine Ecke des Schreibtisches. »Sie gehören zur besten Art, Cal. Deshalb sandte ich Sie damals zu Scoby. Weil Sie zu denen gehören, die aus Überzeugung kämpfen. Männer wie Sie sind zu schade, um für uns verloren zu gehen.« »Nur, ich habe unrecht?« »Stimmt«, gab ihm Harmon zur Antwort. »Sie sind unter Leute wie General Scoby geraten, die von Frieden und Verständnis und ähnlichen Dingen faseln. Es hat Sie beeindruckt. Sie haben wahrscheinlich vergessen, daß solche Dinge nicht normal sind. Sie müssen von einer starken Hand geführt werden.« Er sah auf Cal, und seine Stimme klang entschuldigend. »Ich möchte, daß Sie mich verstehen. Verdammt noch mal, Sie gehören zu Männern, die das verstehen sollten.« »Sollte ich wirklich?« »Allerdings. Weil Sie beide Seiten gesehen haben. Sie gehören nicht zu jenen Schönsprechern, die glauben, daß wir ab nächsten Dienstag Frieden haben. Ich sage Ihnen, Cal, Ich kann mit einem Wesen wie Wantaki mehr anfangen, als mit jenen Friedenspredigern.« »Das beruht wohl zweifelsohne auf Gegenseitigkeit«, meinte Cal. »Sie beide sind Generäle.« Harmon runzelte die Stirn. »Irgendetwas scheint Sie besonders aufgebracht zu haben«, sagte er. »Major Blye ist tot – Sie wissen, Zone elf. Ich habe den Toten mitgebracht.« 176
»Das wußte Ich nicht. Das ist schlimm«, erwiderte Harmon. »Er war ein Soldat durch und durch. Ich wette, daß er auch wie ein Soldat starb.« »Sicher.« »Ich möchte hören, wie es geschah. Aber im Moment geht es um etwas anderes: um Sie und nicht um Major Blye, wenn es auch ein guter Mann war. Ich kämpfe um Ihre Seele, Cal. Glauben Sie, daß ich ein anständiger Mensch bin? Sagen Sie es mir ruhig.« »Ja«, antwortete ihm Cal. »Ich glaube, daß Sie ehrenwert sind. Daß Sie es ehrlich meinen. Ich glaube, daß Sie jedes Wort, das Sie sagen, selbst glauben.« »Dann glauben Sie mir auch, wenn ich Ihnen sage, daß niemand den Frieden so sehr wünscht wie Ich. Daß ich mit Scoby hundertprozentig darin übereinstimme, daß diese Paumons uns von allen Rassen, die wir bisher kennenlernten, am nächsten stehen, körperlich, geistig und seelisch. Er hat Ihnen das gesagt? Ich sehe, er hat. Aber von dem Punkt an sieht er alles vom idealistischen Standpunkt und Ich vom praktischen. Er glaubt, das stemple sie zu großen Freunden. Ich weiß, daß es sie zu gefährlichen Feinden stempelt. Es ist eine leichte Sache, aus einem Hund einen Hausfreund zu machen; aber versuchen Sie es nie mit einem Wolf.« »Oder mit einer Cheetah?« Harmon hielt inne, seine Augen blitzten ärgerlich auf. »Ich spreche im Ernst«, sagte er. »Ich auch«, erwiderte Cal ihm. »Wissen Sie nicht, war177
um diese Cheetah bei Scoby ist?« »Ich weiß es nicht, und ich will es auch gar nicht wissen«, sagte Harmon verärgert. »Mich beschäftigt die Zukunft von zwei Rassen, nicht ein hirnloses Tier. Ich versuche, Ihnen begreiflich zu machen, daß wir diesen Paumons, gerade weil sie uns so ähnlich sind, niemals vertrauen können. Wir haben etwas angefangen und wir können nicht mehr zurück. Jetzt müssen wir sie in die Knie zwingen. Wir müssen ihnen mit einem Blutbad, an das sie sich noch nach Generationen erinnern, zeigen, daß die Menschen die Herren sind. Wir können nicht mehr zurück.« »Warum haben wir angefangen?« »Die Geschichte hat uns gezwungen«, erklärte der General weiter. »Unsere Rasse breitet sich aus.« Harmon stand auf. »Cal«, sagte ei, »können Sie nicht sehen, daß das, was ich in die Wege geleitet habe, nicht nur richtig, sondern auch menschlich ist? Wir haben die Paumons beim ersten Mal menschlich behandelt. Das hat sie zu falschen Schlüssen verleitet. Sie bestehen darauf, daß wir ihnen eine richtige Lektion erteilen. Und wie ein guter Chirurg rette ich Leben, indem ich sofort schneide, statt zu warten bis später, wenn eine tiefere Operation nötig wäre. Sie können sogar sagen, daß ich die Paumons rette. Denn wenn sie zu einer wirklichen Bedrohung für uns heranwachsen würden, dann wären wir gezwungen, sie auszurotten.« »Stimmt«, sagte Cal. 178
»Ich hoffe, Sie verstehen jetzt«, fuhr der General fort. »Glauben Sie mir, Cal. Sie sind einer von denen, von denen ich gehofft habe, daß sie mich verstehen.« »Nein«, antwortete Cal fest. »Setzen Sie mich auf eine Stufe mit General Scoby. Nein, setzten Sie mich noch tiefer. Denn ich bin immer noch bereit, zu kämpfen und zu töten, wenn es sein muß, trotz dieser Schulterstreifen. Aber ich kann nicht zugeben, daß irgendeine Notwendigkeit dafür besteht. Daß es richtig und großartig ist.« Harmon seufzte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Cal«, sagte er. »Mir auch«, erwiderte Cal. »Ich habe gerade mit Wantaki gesprochen. Ich habe ihm gesagt, er könne hierher mit einer ausreichenden Rückendeckung kommen, um sich sicher zu fühlen. Dann könnte er über die Situation bei den Paumons sprechen, nicht als Besiegter zum Sieger, sondern von Mensch zu Mensch, besser von Paumon zu Mensch, wobei beide den Willen haben, weiteres Blutvergießen zu vermeiden.« »Das war närrisch«, erwiderte Harmon. »Es war sogar lächerlich.« »Nein«, parierte Cal. »Denn als Leiter des KontaktDienstes auf diesem Planeten untersage ich jede militärische Aktion während dieser Unterredung.« »Ich verstehe«, sagte Harmon. Er stand einen Moment da, dann wandte er sich um und drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch. Er sprach in ein Mikrophon: »Würden Sie zwei Militärpolizisten hereinschicken?« Er 179
ließ den Knopf los und wandte sich an Cal. »Wie ich schon sagte, es tut mir leid. Ich hätte Sie lieber als Verbündeten gesehen, als Sie jetzt festnehmen zu lassen.« »Jawohl«, sagte Cal. Er versetzte dem General urplötzlich einen Haken in den Magen und, als der andere auf ihn fiel, schlug er ihm noch die Handkante hinter das Ohr. Harmon fiel zu Boden und blieb liegen. Cal ging durch die Hintertür hinaus, stieg ein paar Stufen hinab und kam durch einen Raum, der mit Kassetten für Mikrofilme angefüllt war. »Bleibt sitzen! Bleibt sitzen!« sagte er zu den Soldaten, die erstaunt aufsahen. »Ich nehme nur den kürzesten Weg zu meinem Wagen.« Durch eine weitere Tür gelangte er schließlich nach draußen. Der Wagen, den Annie für ihn gelenkt hatte, stand genau vor dem Ausgang. Er lief darauf zu. Als er hineinsprang und sich hinter die Lenksäule zwängte, hörte er, wie hinter ihm eine Stimme etwas rief. Er trat aufs Gas, und der Wagen schoß davon. Cal raste durch die Straßen, bog auf den Weg zum Raumhafen ein und bremste vor den Stützbeinen des Flaggschiffs. Zehn Meter über der Rampe war die rückwärtige Schleuse offen, um die Belüftung des Schiffes an diesem warmen Tag zu unterstützen. Er war schon durch die Luke und an den Handkontrollen für den Schließmechanismus, als er hinter sich jemand heftig atmen hörte. Er wirbelte herum. Es war Annie. »Du Närrin«, schimpfte er. 180
Die Luke schwang zu. Einen Moment später schloß sich auch die innere Schleusentür mit einem dumpfen Plop.
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SECHZEHNTES KAPITEL »Du mußt hier raus«, sagte Cal. »Du weißt nicht, in was du dich da eingelassen hast.« »Ich gehe nicht«, antwortete Annie. »Ich verstehe sehr gut. Du kannst mich auch nicht herauslassen, ohne die Kontrollen hier außer acht zu lassen. Und das kannst du nicht riskieren.« »Ich werde es schon schaffen!« »Nein«, sagte Annie. Sie war sehr blaß. »Ich lasse dich nicht. Ich werde mich wehren.« Sie waren oben im Beobachtungsraum, wo die Hilfskontrollen waren. Der Wachoffizier war im Kartenzimmer nebenan eingesperrt worden. Cal hatte die Hilfsgeneratoren angelassen. Dazu brauchte man keinen Ingenieur; und der Stromfluß, den Cal dadurch bekam, genügte für seine Zwecke vollauf. Draußen am Schiff leuchteten über allen drei Eingängen die roten Warnlampen, die jeden warnten, näher als hundert Meter heranzukommen. Auf dem Außenbildschirm konnte Cal die anderen Raumer wie Spielzeuge sehen, er sah die kleinen Gebäude am Rand des Feldes, das Hauptquartier, das Hospital und weiter hinten die Grenzen von Manaha. Noch weiter in der Ferne sah er die offenen grünen Hügel und dazwischen die dunkelgrünen Flecken der Baumgruppe. Der Bildfernsprecher ertönte. Cal antwortete, und der Schirm erhellte sich. Das Gesicht von Oberst Alt erschien. »Truant«, sagte er, »kommen Sie aus dem Schiff her182
aus, ehe ich die Militärpolizei hineinschicken muß, um Sie zu holen.« »Wenn ich Sie wäre, würde ich das nicht versuchen«, antwortete Cal. »Ich bin darauf vorbereitet, dieses Schiff und mit ihm alles im Umkreis in die Luft zu jagen.« Alt zögerte. Er sah für einen Moment zur Seite, dann schaute er wieder auf den Bildschirm. »Nehmen Sie Vernunft an«, sagte er dann. »Ich wäre im Recht gewesen, wenn ich Sie erschossen hätte, als Sie Harmon zusammenschlugen und ihn damit töteten.« »Lügen Sie mich doch nicht an, Oberst. Ich weiß, wann ich einen Mann töte. Sagen Sie dem General, daß ich mit ihm sprechen will, sobald er wieder fit ist.« Cal unterbrach die Verbindung. Er setzte sich in den Sessel des Funkers, der an einem kleinen Pult vor den Bildschirmen stand. Sein Kopf summte, und sein Körper schien ihm bleischwer zu sein. Er legte seinen Kopf für einen Moment auf die Arme und fühlte sofort, daß er Fieber haben mußte. »Leg dich hin«, sagte Annie. »In der Zentrale steht eine Liege. Komm!« Sie zog ihn hoch. »Du brauchst Ruhe. Wann hast du zum letzten Mal geschlafen?« »Nein …«, sagte er protestierend und spürte dabei, wie sein willenloser Körper von Annie auf die Liege geschoben wurde. »Harmon wird zurückrufen …« »Laß ihn rufen. Ich werde ihm antworten.« »Nein. Du bleibst da raus …« Die Worte kamen nur noch mühsam über seine Lippen. Eine Ecke der Liege 183
stieß gegen seine Knie, und er fiel darauf. Die Welt drehte sich um ihn, als wäre er betrunken. Dann war plötzlich alles um ihn in Dunkelheit. Sein Kopf schmerzte. Es war das blendende, gleißende Licht der Leuchtsäulen, der Straßenbeleuchtung in der Lehaunan-Stadt, das ihm Kopfschmerzen verursachte. Und er war noch nie so müde gewesen. Er wanderte durch die Stadt, das Strahlengewehr in seiner Hand, und ließ seine Füße sich selbst einen Weg zwischen den kuppelartigen Häusern suchen. Hier und da schoß er nachlässig auf etwas, das ein Lehaunan sein konnte. Er war so müde, daß er gar nicht genau merkte, was er da tat. Irgendetwas hatte nicht richtig geklappt, und er hatte entschieden, daß etwas anderes geschehen müsse. Aber im Moment konnte er sich nicht richtig erinnern, was das gewesen war. Er war müde und sah sich nach etwas um, worauf er sich setzen konnte. Schließlich kam er auf einen kleinen freien Platz zwischen den Gebäuden, und dort ragte einer der halbzylindrischen Auswüchse aus dem Boden auf. Er setzte sich darauf und legte seinen Strahler über die Knie. Etwas links von ihm stand ein Gebäude und weiter zur Rechten erhob sich ein weiteres. Unmittelbar vor ihm, keine zehn Meter entfernt, stand ein drittes. Eine Leuchtsäule neben dem Gebäude links von ihm beleuchtete unbeteiligt die ganze Szene. Er saß da, ohne an etwas zu denken, und nach einer kleinen Weile rannte ein Lehaunan über den offenen 184
Platz, sah ihn, zögerte und rannte weiter. Etwas später sah er noch einen, der zwischen zwei weiter entfernten Gebäuden hindurchrannte, die Cal nur undeutlich sehen konnte. Er machte keine Bewegung. Er fühlte eine merkwürdige dumpfe Verbundenheit mit seiner Umgebung, gerade, als ob er mit dem Auswuchs, auf dem er saß, fest verwachsen sei. Der Gedanke, der unablässig in seinem Gehirn herumspukte wie der Vorspann für einen Film, war, daß er sich entschließen könne, wenn er nur lange genug sitzenblieb. Er saß ruhig und unbeweglich. Einige Zeit später kam eine dreiköpfige Familie der Lehaunan aus dem dreieckigen Eingang des Hauses direkt vor ihm. Es waren ein Mann, eine etwas kleinere Frau und ein kleiner Junge. Er saß so still, daß sie bis auf wenige Schritte an ihn herankamen, ehe sie ihn bemerkten. Sie blieben stehen. Sie trugen einige kleine Pakete. Cal und die Lehaunan machten keine Bewegung und starrten einander an. »Es ist schon gut«, dachte Cal in seiner Sprache, »geht weiter! Ich tue euch nichts.« Es war ihm viel zu mühsam, die Worte laut auszusprechen. So hatte er sie eben nur gedacht und blieb einfach da sitzen. Die weibliche Lehaunan stieß einen kurzen Ton aus und gab dem Kleinen einen sanften Stupser. Der zögerte; sie schubste ihn nochmal. Widerstrebend rannte der Junge nun los, an Cal vorbei, und verschwand hinter dem nächsten Gebäude. Die beiden Erwachsenen blieben stehen 185
und sahen Cal unverwandt an. »Es ist gut«, sagte er in Gedanken, »Ihr könnt auch gehen. Ihr seid offensichtlich Zivilisten. Außerdem, ich habe eure Stadt erobert. Ich brauche nicht mehr auf euch zu schießen.« Einen Moment lang blieben sie noch stehen. Dann, als hätten sie seine Gedanken verstanden, begannen sie vorsichtig, sich zurückzuziehen. »Seht ihr?« dachte Cal, »Ihr seid vollkommen sicher. Ich werde euch nichts tun.« – Sie waren wie Ameisen, dachte er; sie hatten Angst, daß man sie zertreten könnte. Er beobachtete sie, wie sie langsam zurückwichen. Sie sahen mit ihrem schönen schwarzen Fell sehr possierlich aus. Er mußte für sie wie ein Monster ausschauen. Ein Monster, das man nicht verstehen konnte. Das tötete oder auch nicht, je nach Laune, ohne ersichtlichen Grund. Sie hielten noch immer ihre Pakete, während sie sich zu dem Gebäude zurückzogen, aus dem sie gekommen waren. Mitleid überkam Cal. »Geht unbesorgt«, dachte er. »Geht in Frieden!« Sie hatten jetzt die Hälfte des Weges über den freien Platz bis zu ihrem Haus hinter sich gebracht. Der Mann drehte sich um und zog die Frau mit sich, dabei versuchte er aber, sie vor sich herzuschieben. Dann begannen sie, auf das Haus zuzurennen. Sie fliehen, dachte Cal plötzlich. Er hob eine Waffe und schoß den Mann nieder, der sofort hinfiel. Die Frau ließ ihre Pakete fallen und vergrö186
ßerte ihre Geschwindigkeit. Cals zweiter Schuß warf sie innerhalb des Eingangs zu Boden. Er konnte sie da liegen sehen. Die Pakete lagen verstreut auf dem Platz herum. Cal überlegte, was wohl Wertvolles darin sein mochte. Sie sollten sichergestellt werden, so daß der Junge sie eines Tages wiederbekommen könnte … Annie schüttelte ihn. Es war ziemlich schwer, richtig wach zu werden. Er mühte sich, hochzukommen, aber er war nur halb bei sich. Die andere Hälfte seines Geistes war noch mit seinem Traum beschäftigt. »… General Harmon«, sagte Annie. »Er will mit dir sprechen. Ich wollte dich nicht wecken, aber du hast beinahe neun Stunden geschlafen.« »Neun Stunden!« Er taumelte auf seine Füße und schwankte in den Beobachtungsraum hinüber. Annie wollte ihn zum Bildsprecher fuhren, aber er schüttelte den Kopf. »Er kann warten!« Er legte seine noch steifen Hände auf die Kontrollen des Außenbildschirms. Es war später Nachmittag, und das Licht der untergehenden Sonne Bellatrix hatte das Moos auf den fernen Bergen in ein dunkles Grün verwandelt, und die Wälder sahen beinahe schwarz aus. Er schraubte die Vergrößerung auf maximale Stärke und sah, wie aus einer Entfernung von scheinbar nur wenigen Schritten in der Ferne unter den Bäumen Paumon-Soldaten standen. »Wantaki«, sagte er. »Er hat’s geschafft.« »Was?« fragte Annie. 187
Er antwortete nicht, sondern ging zu dem Bildsprechgerät zurück. Er drückte auf den Empfangsknopf, und sofort erschien das Bild von General Harmon auf dem Schirm. Er stand mit halb abgewandtem Gesicht, aber der Summer am anderen Ende hatte wohl angeschlagen, denn Harmon wandte sich sofort um und kam auf das Gerät zu. Er sah ruhig und sorglos wie immer aus. »Oberst Truant«, sagte er in ruhigem Ton, »ich befehle Ihnen, aus dem Schiff herauszukommen.« »Nein!« antwortete Cal. Seine Beine waren noch schwach vom Schlaf. Er setzte sich vor dem Bildschirm hin. »Ich bleibe hier, bis Sie sich zu einem Gespräch mit Wantaki bereit finden, bis Sie ihn in das Hauptquartier mit genügend Männern hereinlassen, um sich eventuell verteidigen zu können.« »Ich gehöre nicht zu den Männern, die man erpressen kann«, erwiderte der General. »Ich erpresse Sie nicht. Ich halte Ihnen eine geladene Pistole ins Genick. Wenn ich dieses Raumschiff in die Luft jage, dann müssen Sie, Wantaki und alle anderen dran glauben. Es wird nichts von unseren Streitkräften auf diesem Planeten zurückbleiben als ein paar zerstörte Garnisonen. Man wird keine vierundzwanzig Stunden brauchen, um die letzten Reste von unseren Truppen zu vernichten.« »Eine ziemlich seltsame Art, um Leben zu retten, nicht wahr?« fragte Harmon mit beißendem Spott. »Haben Sie sich überlegt, wieviele Leute – und auch wieviele Pau188
mons – sterben müssen, wenn Sie das Schiff mit all seinen Waffen in die Luft jagen?« »Sie verstehen mich nicht«, antwortete Cal. »Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie mich nicht mit General Scoby verwechseln sollten. Ich weiß, was ich tue, wenn ich den Raumer in die Luft jage. Aber wenn ich es tun muß, dann werden die Paumons besser wegkommen, als wenn ich es nicht muß. Der einzige Weg, um Sie dazu zu bringen, mit ihnen richtig zu verhandeln, ist meine Drohung, Ihr Flaggschiff zu sprengen. Und ich kann nicht damit drohen, wenn ich es in Wirklichkeit gar nicht vorhabe. Aber ich werde es tun, General!« Cal sah in die Augen des Generals, aber was er sah, war ein kleines schwarzbepelztes Wesen, das ein gefallenes größeres Wesen seiner Art in den dreieckigen Eingang eines Gebäudes hineinzuziehen versuchte. »Es ist besser für Sie, wenn Sie glauben, daß ich es ernst meine.« »Ich gebe Ihnen dreißig Minuten«, erwiderte Harmon darauf. »Wenn Sie bis dahin keine Anstalten gemacht haben, herauszukommen, werde ich den anderen Schiffen befehlen, das Feuer auf Sie zu eröffnen.« »Sie wissen genau, daß Sie dieses Raumschiff hier nicht zerstören können, ohne daß ich es vorher in die Luft gejagt habe. Und Sie sind in jedem Fall für die Vernichtung verantwortlich. Ich gebe Ihnen noch bis zum Sonnenuntergang Zeit, ungefähr zwei Stunden. Wenn Wantaki und seine Leute nicht bis dahin hereingelassen worden sind, sprenge ich das Raumschiff.« 189
»Dreißig Minuten«, sagte Harmon noch einmal. »Leben Sie wohl«, antwortete Cal, dann unterbrach er die Verbindung. Er stand auf, drehte sich um und sah Annie ruhig an. »Annie«, sagte er, »es gibt einen Ein-MannSchleudersitz in der Spitze des Schiffes, der dich fünfzig Kilometer hoch und sechshundert Kilometer weit weg katapultiert. Geh da hinein und fliehe.« »Nein«, erwiderte Annie. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich nicht gehe.« »Ich bin zu müde, um mit dir zu streiten. Begreifst du denn nicht? In zwei Stunden werde ich auf diesen Auslöseknopf drücken und alles Leben im Umkreis von fünfhundert Kilometern vernichten. Kannst du das nicht in deinen Schädel hineinbekommen? Ich werde es tun müssen.« »Der General wird nachgeben.« »Nein, das wird er nicht«, widersprach ihr Cal. Er blickte grimmig auf den leeren Bildschirm des Sprechgeräts. »Er kann nicht. Nicht, weil es doch eine Chance geben könnte, daß ich nicht auf den Knopf drücke. Und wenn er Gewißheit hat, daß es eine solche Chance nicht gibt, ist es bereits zu spät.« »Ich werde bis zur letzten Minute warten«, sagte Annie darauf. »Ich werde nicht eine Sekunde früher gehen.« Cal fühlte sich auf einmal ganz elend und schwach. Er merkte, daß er alle Fasern seiner Muskeln angespannt hatte, so als hätte er sich mit aller Kraft gegen die Möglich190
keit wehren müssen, daß sie nicht gehen wollte, daß er sie nicht früh genug herausbekommen würde. Er atmete erleichtert aus und ließ sich in einen Stuhl sinken. »Gut«, sagte er. »Gut.« Sie kam schnell zu ihm herüber. »Cal?« fragte sie. »Bist du in Ordnung?« »Ja«, gab er zur Antwort. Sie hatte ihre Arme um seinen Nacken geschlungen. Er lächelte ein wenig unsicher, dann tätschelte er unbeholfen einen ihrer Arme. »Es ist nur, weil ich dich liebe.« Die Worte kamen ihm ganz leicht über die Lippen. Er war früher nie fähig gewesen, ihr das zu sagen. Er sagte es noch einmal. »Ich liebe dich.« Sie umarmte ihn noch fester. Es gab nicht viel zu sagen. Nach einer Weile entschuldigte sie sich und ging für ein paar Sekunden aus dem Raum. Und dann kam sie zurück, und sie saßen beisammen und beobachteten, wie die Sonne den Horizont berührte. »Es ist Zeit«, sagte er. Sie bewegte sich nicht. »Du mußt jetzt gehen.« »Ich habe dich angelogen«, antwortete sie. »Ich habe nie gehen wollen. Als ich eben weg war, bin ich zu dem Schleudersitz gegangen und habe die Kontrollen zerstört. Ich könnte nicht mal mehr weg, selbst wenn ich wollte.« Er konnte sie nur anschauen. »Verstehst du denn nicht?« fragte sie ganz gefaßt. »Ich 191
will bei dir bleiben.« Er sagte mit zusammengepreßten Lippen: »Ich kann das Schiff nicht sprengen, wenn du an Bord bist.« »Doch, du kannst«, war ihre Antwort. Ihre Stimme war sehr ruhig und fest. Es war, als wenn sie von einem tiefen Frieden erfüllt war, aus dem sie weder Tod noch Not aufschrecken konnte. »Ich weiß, daß du es kannst.« Er stand schwerfällig auf und warf noch einen Blick auf die fernen Hügel. Das Licht der untergehenden Sonne ruhte jetzt auf ihnen und hüllte sie in einen herrlichen Strahlenkranz. Er ging langsam hinüber zu dem Waffenknopf. Er warf ihr noch einen letzten Blick zu, dann legte er seine Hand auf den Knopf. »Einen Moment, Cal«, ertönte eine Stimme von irgendwoher über ihm. »Du hast gewonnen.« Es war Harmons Stimme. Cal sah sich verwundert um. Einen Moment lang erwartete er sogar, daß der General jetzt persönlich hereinkäme. »Wir haben euch belauscht«, sagte Harmons Stimme. »Wir haben vor acht Stunden ein Lauschmikrophon in die Außenwand des Schiffes geschossen. Wenn Sie den Raum nur für fünf Minuten verlassen haben würden, hätten wir Sie gehabt. Sehen Sie nach draußen zu den Hügeln. Ich habe Alt dorthin geschickt, um Wantaki Bescheid zu geben. Sie können sehen, daß die Progs schon kommen.« Cal sah nach draußen. Gegen die Strahlen der untergehenden Sonne mußte er seine Augen beschatten. Aber als er das tat, sah er dunkle Massen in Bewegung auf Mana192
ha. Sie waren schon hinter der Linie der schweren Waffen, die das Hauptquartier umgaben. »Schön«, sagte Cal. »Ich komme heraus.« Er wartete, bis die näherkommenden Paumons wirklich in der Stadt waren, dann ging er zum Ausgang hinunter, Annie an seiner Seite. Als sie durch die Schleuse traten, sah er, daß schon eine kleine Versammlung auf sie wartete. Es waren Militärpolizisten da, männliche und weibliche, Oberst Harry Adom von der Militärpolizei und Cals eigener Stellvertreter beim Kontakt-Dienst, Major Kaj. Major Kaj war fünfzehn Jahre älter als Cal und sah aus wie ein Bankbeamter. Er repräsentierte die alte Garde, über deren Köpfe hinweg Cal von Scoby befördert worden war. Kaj sah verlegen und unglücklich drein, aber Cal war froh, ihn hier zu sehen. »Major«, sagte er, »sie vertreten mich, bis General Scoby neue Befehle erlassen hat. Er wird …« »Er ist selbst hier«, unterbrach ihn Kaj. »Oder besser, er kommt gerade an.« Er deutete nach oben, wo Cal plötzlich den Widerschein von einem Körper aufblitzen sah, der noch hoch genug war, um die Sonnenstrahlen aufzufangen. »Wann hat er denn gefunkt, daß er käme?« fragte Cal. »Gestern«, antwortete Kaj unglücklich. »Als die Nachricht kam, konnten wir Sie nicht mehr aufhalten.« Cal hatte inzwischen den Rand der Rampe erreicht. Die Polizisten, die ihn dort erwarteten, umringten ihn, und er sah, daß die weiblichen MPs Annie in ihre Mitte nahmen. 193
»Einen Augenblick!« rief er. »Sie hat überhaupt nichts damit zu tun. Ich …« Man schenkte ihm keinerlei Beachtung. Er wurde nach Waffen durchsucht. »Alles in Ordnung«, sagte einer. Am anderen Ende des Landefeldes war jetzt die Kurierrakete niedergegangen, die Scoby brachte. Ein Empfangskomitee hatte sich eingefunden, und als die Schleuse sich öffnete und eine Gestalt, geführt von einer Cheetah-Katze heraustrat, sah Cal eine andere kleine Gestalt, die Harmon ähnlich sah, vortreten und dem Ankömmling die Hand schütteln. »Cal«, rief Annies Stimme. Er sah zu ihr hinüber, als das kalte Metall der Handschellen seine Gelenke umschloß. Man tat mit ihr das gleiche. Für einen Augenblick konnten sie sich noch einmal ansehen. Dann schlossen sich die MPs um sie zusammen, und Cal und Annie wurden in verschiedene Richtungen abgeführt.
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SIEBZEHNTES KAPITEL Die Militärpolizei brachte Cal in das Soldaten-Gefängnis und schloß ihn in eine Einzelzelle in einem leerstehenden Teil des Gebäudes ein. Es war so ruhig und abgelegen dort, daß man eher glauben konnte, in einem Hospital zu sein statt in einem Gefängnis. Nach Ablauf von vier Tagen wurde er in einem geschlossenen Wagen abgeholt und zum Raumhafen gebracht. Dort kam er auf ein Schiff, dessen Ziel die Erde war. Es war unmöglich zu erfahren, was seit seiner Verhaftung geschehen war. Es konnte sein, daß der Kampf wieder aufgeflammt war, ohne daß er etwas davon erfahren hatte. Und man schien es auch darauf abgesehen zu haben, ihm nichts mitzuteilen. Scoby war auch nicht gekommen, um nach ihm zu sehen. Wieder auf der Erde, brachte man ihn im Militärgefängnis von Fort Shuttleworth in der Nähe von Denver unter. Er bekam ein separates Quartier, das etwas besser als seine Zelle war; es bestand aus eineinhalb Räumen und war ein kleines Appartement. Durch die vergitterten Fenster konnte er auf einen sorgfältig gepflegten Rasen, ein paar hohe Fichten und dahinter auf den schneebedeckten Gipfel eines Berges sehen. Er nahm an, daß es der Longs Peak war, aber er war nicht ganz sicher, und ein gewisser Eigensinn erlaubte ihm auch nicht zu fragen. So blieb er im ungewissen. Kurz nachdem er hier eingeliefert worden war, kam ein Captain vom Generalstab mit einem Berg von Papieren. 195
Er wies sich als Cals gesetzlicher Vertreter aus. Er erklärte irgendetwas, das darauf hinauslief, daß man Cal anklagen wolle. Wahrscheinlich würde es eher als Verrat denn als Verbrechen angesehen, aber bis jetzt wäre noch nichts entschieden. Aus irgendeinem Grund wäre die Rechtsprechung ein Problem. Der Captain nahm sich und seine Arbeit sehr wichtig, und das meiste, was er sagte, fand Cal ziemlich nichtssagend. Er wollte einen Bericht in Cals eigenen Worten über das, was zu seiner Verhaftung geführt hatte, und nahm das nicht nur auf Tonband auf, sondern brachte es auch gleich zu Papier. Es würde schwer sein, die Anklagepunkte zu leugnen, befand er schließlich. Das Beste wäre wohl, auf einen vorübergehenden Zustand der Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren. Darüber ließ Cal natürlich nicht mit sich reden. Er würde nie eine zeitweise geistige Verwirrung zugeben. Andererseits aber schenkte er dem Redeschwall des Captains nur wenig Beachtung. Er war mehr daran interessiert, aus dem anderen Neuigkeiten herauszuholen. Annie wäre irgendwo unter Arrest, sagte der Captain. Er wußte nicht genau, wo. Er selbst war nicht zu ihrer Verteidigung bestellt. Über die Paumons hatte er nur sehr wenig Information zu bieten. Die Streitkräfte der Terraner und der Paumons hielten momentan Frieden, aber die Situation war gespannt wie immer. Ja, so viel er wüßte, hätten die Befehlshaber der Paumorts mit der Generalität ein Gespräch geführt, aber das wäre in den Nachrichten nur ganz kurz erwähnt worden; offizielle Berichte darüber hätte es nicht gegeben. 196
»Es ist ein weiter Weg von da, wissen Sie«, meinte er zu Cal. Nach dem Besuch des Captains erlaubte man Cal, Zeitungen zu lesen, und er bekam plötzlich eine Menge Post, die sich angesammelt hatte. Es war aber nichts von Scoby dabei, nur eine Handvoll Briefe von Annie – und die waren bis zur Unkenntlichkeit von der Zensur zusammengestrichen worden. Cal schrieb ihr eine Antwort, hatte aber keine große Hoffnung, daß diese besser behandelt würde. Es war Juli. Nur selten gab es Wolken um den Gipfel des Berges, den Cal von seinem Fenster aus sehen konnte. Er las viel, grübelte und schritt in seinen verschlossenen Räumen auf und ab. Der Captain kam gelegentlich zu ihm und brachte Formulare, die ausgefüllt oder unterschrieben werden mußten. Aus dem Juli wurde August, und der August wurde vom September abgelöst. Er empfand schmerzlich, wie die wertvollsten Tage seines Lebens dahinschwanden. Er hatte wieder den Ernst und Frieden in sich gefunden, der ihn in den letzten Tagen auf der Kontakt-Schule erfüllt hatte. Er sorgte sich nicht ernstlich um das, was eventuell mit ihm geschehen könnte. Es war eine merkwürdige Sache, daß die Militärbehörden für gewisse Verbrechen die Todesstrafe wieder eingeführt hatten, während die zivilen Gerichte sie schon lange abgeschafft hatten. Was aber ihn selbst betraf, so war sein Bewußtsein klar, und sein Ende konnte bestimmt nicht schlimmer sein als das von Walk. Aber er sorgte sich um das, was wohl mit Annie geschehen sein konnte. 197
Dann – es war in der dritten Septemberwoche – teilte ihm der Captain mit, daß man Annie, ohne Anklage zu erheben, freigelassen hatte. Er empfand große Erleichterung und hoffte, daß sie ihn besuchen könnte. Aber sie kam nicht, und sie schrieb auch keine Briefe mehr. Er versuchte, sich einzureden, daß das gut sei, und daß sie aus allem heraus sei. Er konnte jetzt auch der Tatsache ins Auge sehen, daß er sie liebte, und er verstand, warum er früher unfähig gewesen war, ihr das zu sagen. Er war in Gedanken davor zurückgeschreckt, noch einmal den schrecklichen Tod seiner Mutter miterleben zu müssen, diesmal mit Annie in der Rolle seiner Mutter. Und er wußte jetzt auch, daß er immer so wie sein Vater hätte werden wollen, daß er sich nur aus Trotz dagegen gewehrt hatte, weil er seinem Vater die Schuld am Tod der Mutter zugeschoben hatte. Damals – mit den Augen eines Kindes – hatte er nicht verstanden, daß eigentlich andere die Schuld traf. Er hatte geglaubt, sein Vater hätte sich um seine Frau nicht gekümmert. Heute, wo sein Vater tot war, wußte er, daß sein Vater in Wirklichkeit sehr um seine Frau besorgt gewesen war. Nicht nur besorgt, er hatte sie geliebt. Und er hatte in so vielen Dingen recht gehabt. Er hatte recht gehabt, als er von dem schmalen Pfad gesprochen hatte, der einen Soldaten vom Mörder trennt. Cal verstand das jetzt alles, und er wußte, daß er bei den Lehaunan in jener Stadt den Pfad überschritten hatte und auf die falsche Seite geraten war. Ein Mann, sagte er sich, kann töten und trotzdem weiter198
leben. Aber wenn er mordet, errichtet er eine Barriere zwischen sich und dem Leben ringsum; eine Barriere, hinter der er ganz allein sterben muß. Und ein Mann beginnt zu morden, überlegte Cal weiter, wenn er anfängt, sich selbst zu überreden, daß es richtig ist, zu töten; daß es praktische oder moralische Rechtfertigungen dafür gibt. Denn es gibt in Wirklichkeit keine. Manchmal glückt es vielleicht, und danach wird etwas besser als zuvor. Aber es ist niemals gut, es ist immer schlecht. Es würde immer einen besseren Weg geben, wenn man nur klug genug war, ihn zu finden. Cal lehnte sich gegen seine Fensterbank und sah hinaus auf den Rasen, sah durch das Gitter auf die Fichten, die in dem Wind schwankten, der unablässig wehte, und er sah auf den fernen Berggipfel, neben dem eine weiße Wolke schwebte. Vermutlich, dachte er, muß man das soweit treiben, daß man selbst Insekten und Mikroben schonen muß, daß man das Wasser nicht mehr trinken darf. Nein, überlegte Cal weiter, das ist falsch. Und es ist auch nicht richtig zu sagen, man wäre besser tot. Es gibt immer Wunder, und es gibt immer Hoffnung. Wenn man die Wunder und die Hoffnung leugnet, heißt das, Gott versuchen. Wenn ich nicht hundertprozentig spielen kann, gehe ich gar nicht erst in einen Golf-Club? Falsch! Man muß sich an das halten, was man glaubt und man muß weiter auf seine eigene, unvollkommene Art versuchen, dem Himmel näher zu kommen, auch wenn praktisch veranlagte Menschen wie Harmon sicher sind, daß man es 199
nicht kann. Und verdammt noch mal, man mußte dann einfach ab und zu einen Fortschritt machen. Bei Gott, ja, dachte Cal. Wenn das nicht so wäre, dann hätten wir auch weiterhin in Affenherden leben können, umherstreifend und jedem Lebewesen, das einem unter die Hände kam, die Kehle durchbeißend. Man durfte sich eben nur nicht selbst täuschen. Es bedeutet nicht eine gute Sache, einen Menschen aufzuschneiden, nur weil es auch gut ist, ihn aufzuschneiden, wenn sein Blinddarm entzündet ist. Man mußte immer wieder versuchen, sich selbst zu erziehen. Und eines Tages würde man dann sicher auch einen Weg finden, das Leben anderer Wesen zu retten, ohne dafür ein Messer zu benützen. Und das ist unser Fehler, überlegte Cal weiter. Wir dürfen nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, daß es falsch ist, gegen jede neu entdeckte Rasse aus allen Waffen feuernd anzugehen. Der einzig richtige Weg wird schließlich sein, nackt und unbewaffnet zu den Sternen zu gehen. Es durfte keine Gewalt zwischen den Sternen mehr geben. Ohne Waffen müßte der Mensch gehen, weil er sie nicht brauchte – aber wenn man es nicht versuchte, konnte man nie einen Weg finden. Und man versuchte es so lange nicht, wie man sich der Täuschung hingab, daß es in Ordnung war, zu … Das Geräusch einer sich öffnenden Tür unterbrach Cals Gedankenflug. Es war einer seiner Wächter mit dem Mittagessen auf einem Servierbrett. »Keine Post heute«, sagte der Mann und setzte das Ta200
blett ab. »Man scheint deine Adresse in den letzten Wochen verloren zu haben.« Zwei Wochen später brachte man Cal aus seiner Zelle zum Büro des Direktors, wo ein Verwaltungsoffizier ihm mitteilte, daß er entlassen sei. Man gab ihm keine weitere Erklärung. Er erhielt eine kleine Plastiktasche mit seinen Habseligkeiten zurück, dazu bekam er noch einen versiegelten Umschlag und wurde dann zu dem Gefängnistor eskortiert. Auf dem Weg dahin öffnete er den Umschlag und zog ein Blatt Papier hervor. Er wurde ehrlos aus dem Dienst ausgestoßen, las er, und eine Wiedereinstellung würde es nicht mehr geben. Das Tor öffnete sich vor ihm, und er trat auf den weiten Platz hinaus. Er mußte zweimal hinsehen, um zu glauben, was er sah. Dort standen Annie und Scoby mit seiner Limpari und hinter ihnen ein Mietgleiter. Annie rannte los und schlang ihre Arme um seinen Nacken, Scoby rührte sich nicht und stand da, mit einem Fuß auf dem Trittbrett zur offenen Tür des Gleiters. »Oh, Cal!« rief Annie und hielt ihn ganz fest. »Cal, wirst du uns jemals vergeben? Wir konnten nicht anders! Wir konnten einfach nicht!« »Kommt, kommt«, sagte Scoby ruhig. Sie stiegen ein, und Scoby setzte sich hinter die Kontrollen, während Annie und Cal hinter ihm in den bequemen Sesseln Platz nahmen. Annie wollte Cal gar nicht mehr loslassen; sie schmiegte sich ganz eng an ihn. 201
»Oh, Cal«, sagte sie und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Scoby betätigte die Kontrollen, und der Gleiter stieg steil bis in dreitausend Meter Höhe und schlug die Richtung nach Osten ein. Cal erhaschte einen letzten Blick auf den Berggipfel, den er so lange aus dem Fenster seines Gefängniszimmers hatte sehen können. Ihm zu Ehren schienen heute alle Wolken verschwunden zu sein. Der Gipfel stach klar und weiß gegen den azurblauen Himmel ab. »Wohin fliegen wir?« fragte Cal. »Washington«, brummte Scoby. »Darling«, sagte Annie, »wir konnten dir nicht mal mehr schreiben. Wir mußten alle im Glauben lassen, daß du überhaupt nicht mehr wichtig wärst; daß wir dich ganz vergessen hätten.« Cal schüttelte den Kopf. Das war jetzt alles so schnell gekommen, daß es ihm noch immer schien, als wäre es nur ein ganz großer Trick. »Aber was ist denn überhaupt geschehen?« wollte er endlich wissen. »Politik«, antwortete Scoby, ohne den Kopf zu wenden. Limpari drehte ihre Katzenaugen zum Fenster, um hinauszusehen, dann gähnte sie Scoby an. »Er mußte warten. Ich mußte auch warten. Bis es aussah, als ob sich niemand mehr dafür interessiere, was mit dir weiter geschah. Deshalb hörte ich auf, dir zu schreiben. Aber ich habe gar nicht aufgehört zu schreiben, Cal. 202
Ich habe jeden Tag geschrieben. Ich habe die Briefe nur nicht an dich abgeschickt. Ich habe sie alle für dich verwahrt.« Der Gleiter stieg weiter hoch und flog nach Westen. Sie waren jetzt schon dreißigtausend Meter hoch, und über ihnen wölbte sich der schwarze Himmel. Ihre Geschwindigkeit betrug jetzt ungefähr dreitausend Kilometer in der Stunde. Cal las das automatisch von den Instrumenten ab. Nachdem er so viele Monate still gesessen hatte, war es ein seltsames Gefühl für ihn, Flügel unter sich ausgebreitet zu sehen und einem fernen Ziel entgegenzuschweben. Unter sich konnte er die Grenze des Tageslichtes ausmachen, die auf der Erde entlangkroch. Er fühlte, wie er langsam wieder zu sich kam und Mensch wurde, gleichsam wie ein Bein, das eingeschlafen ist, und nun beginnt, wieder lebendig zu werden. »Ich dachte, du wärst es leid gewesen«, sagte Cal. »Oh, nein«, widersprach sie. »Du solltest doch wissen, daß ich dich niemals verlassen hätte. Und du solltest auch wissen, daß Walt dich nicht aufgeben würde.« »Walt?« fragte er verständnislos. Und dann erinnerte er sich, daß das Scobys Vorname war. Es war ein kleiner Schock nach allem, sich zu vergegenwärtigen, daß Scoby einen Vornamen hatte. »Ich begreife es nicht. Ich begreife nichts«, sagte Cal. »Dieser Captain, der mich verteidigen sollte, sagte mir, daß die Anklage auf Verrat lauten würde.« Er blickte auf Scoby. »Und jetzt bin ich hier.« »Es war eine Frage der Gerichtsbarkeit«, antwortete 203
Scoby. Der Gleiter hatte jetzt seine höchste Höhe erreicht, und Scoby konnte den Autopiloten einschalten. Dann drehte der alte General seinen Sitz zu Cal herum und zog seine Pfeife heraus. »Deshalb kam ich damals auch zurück. Es war gerade die richtige Zeit gewesen, um unsere Regierung ein wenig unter Druck zu setzen, und das habe ich getan.« Er steckte seine Pfeife an. »Ich habe den Kontakt-Dienst zu einem zivilen Verwaltungssektor gemacht, der nicht mehr unter dem Befehl der Militärs steht.« »So hast du in Wirklichkeit mit ziviler Autorität gehandelt, als du Harmon jede militärische Handlung untersagtest und ihn zwangst, mit Wantaki zu verhandeln«, erklärte Annie. »Auch wenn du es nicht gewußt hast und Harmon auch nicht.« Cal sah von einem zum anderen. »Was für einen Unterschied macht das denn?« »Nur einen«, erwiderte Scoby, während er dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife ausstieß, »Harmon hatte nicht das Recht, dich zu verhaften. Seit der Friede mit den Paumons unterzeichnet war, warst du als Leiter des Kontakt-Ministeriums sein Vorgesetzter und nicht er der deine.« Scoby lehnte sich zu dem Autopiloten zurück und stellte die Uhr ein. »Natürlich«, fuhr Scoby fort und schwang seinen Sitz wieder zu den beiden herum, »konnte er einwenden, daß er von nichts wußte; die Anweisungen waren ja noch nicht eingetroffen. Und du bedrohtest die Leben von Menschen 204
und Paumons und so weiter. So ließ ich die Dinge einfach laufen und wartete, bis sich die Gemüter abgekühlt hatten. Anfang dieser Woche habe ich deine Entlassungspapiere einfach zwischen eine Reihe anderer, weniger wichtiger Papiere gelegt, die ich an die Heeresleitung zu schicken hatte. Und so bist du jetzt hier.« Cal seufzte. Er fühlte sich klein und unbedeutend. »Keine Bedeutung«, sagte Scoby, »oder war es das nicht, woran du gerade gedacht hast?« »Nicht ganz«, antwortete Cal. Er blickte aus dem Bugfenster des Gleiters. Sie hatten beinahe die Schattengrenze erreicht, die über das unter ihnen ausgebreitete Land lief. Dahinter sah er nur noch Dunkelheit. »Ich habe gerade über alles noch einmal nachgedacht.« »Nachgedacht?« fragte Scoby. »Es ist aus. Alles vorbei.« »Aus? Was ist aus? Der Krieg? Du meinst, du hättest den Paumons ewigen Frieden gebracht, weil Wantaki und Harmon beide den Schneid des anderen hassen?« »Nein«, erwiderte Cal. »Sie bewundern einander.« »Einander hassen und bewundern, wo ist da ein Unterschied?« meinte Scoby. »Glaubst du, wenn sie sich an einem Tisch gegenüber sitzen, dann ist alles gut? Meinst du, die Lehaunan wären alle zum Frieden bekehrt? Oder daß mit den Griella jetzt alles in Ordnung ist? War es das, woran du dachtest?« »Nein«, erwiderte Cal. Eine große Müdigkeit überkam ihn. Er sah nach draußen auf die rasch näher kommende 205
Dunkelheit – und er überlegte. Es schien, als wäre für ihn immer nur die Finsternis da. Es war Nacht gewesen, als er in den Hügeln der Lehaunan-Welt gelegen hatte und aufgebrochen war, die Stadt zu erobern. Es war finster gewesen, als Walk ihn eine feige Memme genannt hatte. Und in der Dunkelheit der Paumon-Welt war Walk gestorben. Nacht war es gewesen, als er bereit war, auf den Waffenauslöseknopf des irdischen Flaggschiffs zu drücken, und Nacht wurde es auch jetzt wieder. »Glaubst du nicht, daß es noch weiterhin viel zu tun gibt?« fragte Scoby. »Warum, glaubst du, habe ich mich so sehr bemüht, dich frei zu bekommen? Dafür habe ich doch von Anfang an gekämpft: für mein eigenes Ministerium, das unabhängig ist, und wohin ich mir die Leute holen kann, die ich haben will und die ich mir so ziehen kann, wie ich mir das vorstelle. Meinst du, ich wollte immer weiter gute Leute verlieren, bloß weil sie das körperliche Training nicht durchstehen, oder mit jenem obskuren Marterkurs auf der Kontakt-Schule nicht fertigwerden?« Er starrte Cal fragend an. »Was glaubst du, woran ich schon so lange arbeite? An nichts anderem als meiner eigenen kleinen Armee, einer Armee von Kontakt-Leuten, die immer besser und stärker wird, bis die Militärverwaltung gar nicht mehr ohne uns auskommt. Bis wir schließlich so gut sind, daß man uns zuerst gehen läßt, um zu erforschen, ob man nicht ohne Kampf auskommen kann. Dafür plage ich mich seit all den Jahren ab, in denen ich den Kontakt-Dienst leite. Des206
halb brauche ich tüchtige Männer. Deshalb brauche ich dich als meine rechte Hand, damit du mein Werk eines Tages fortführst. So habe ich es geplant, vom ersten Augenblick an, wo ich dich sah.« Sie hatten die Dunkelgrenze inzwischen überflogen, und es war jetzt überall finster um sie herum. »Es hat keinen Zweck«, antwortete Cal. Er beugte sich vor und reichte Scoby den Umschlag mit seinem Entlassungsschreiben. »Ich bin unehrenhaft entlassen. Für Wiederverwendung nicht geeignet.« Scoby warf den Umschlag auf den Boden. »Dummkopf!« platzte er heraus. »Ministerium sagte ich. Bist du so dumm zu glauben, wenn du aus dem Militärdienst entlassen bist, daß dich dann ein ziviles Ministerium nicht einstellen kann?« Cal hob seinen Kopf und schaute Scoby verständnislos an. »Aber ich dachte – die Regierung – « begann Cal, dann brach er verwirrt ab. »Oh, man liebt diese entlassenen Militärs nicht? Man mag auch keine entwöhnten Alkoholiker und keine umgeschulten Soldaten. Aber ich kann in meinem Ministerium anstellen, was ich will. Und ich sage, du bist eingestellt. Du bist eingestellt!« Cal saß da und versuchte, die Neuigkeit zu verdauen. »Ich brauche Männer«, fuhr Scoby erregt fort. »Männer und keine Empfehlungen auf dem Papier.« Er redete sich jetzt seinen ganzen in langen Jahren aufgestauten Ärger 207
von der Seele. »Gott noch mal, es ist wirklich hart, die Dinge richtig anzufassen. Und es ist hart, eine solche Aufgabe zu erfüllen, wie ich es tun muß. Und es ist doppelt so viel, wie ich in meinem Alter tun sollte. Abgesehen von …« Cal sah aus dem Bugfenster in die Dunkelheit. Annie saß eng an ihn geschmiegt und hatte sich bei ihm eingehakt. Er spürte ihre lebendige Wärme ganz nah. Eine Hoffnung begann in ihm aufzusteigen. Das unablässige summende Vibrieren des Fluggleiters durchdrang ihn bis zu den Fingerspitzen. Er glaubte zu spüren, wie die Maschine ihre Flügel weit ausgespannt hatte und adlergleich durch die Lüfte schoß. Auf diesen Schwingen flogen sie jetzt hier durch die Nacht, mit einer Geschwindigkeit, von der die Höhlenmenschen mit ihren Steinäxten nicht einmal geträumt hätten. Weit voraus, am dunklen Horizont, tauchten funkelnde Lichter über dem Rand des Erdballs auf. Sie wuchsen und breiteten sich aus, als der Gleiter auf sie zufiel, bis sie schließlich wie bunte Edelsteine vor dem schwarzen Samttuch der Nacht aussahen. Es waren die Lichter jener Stadt, die auf sie und ihre neue Aufgabe wartete. Die Lichter wurden größer. Sie stießen auf Washington herab. ENDE
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POUL ANDERSON & MICHAEL KURLAND
DIE DROHUNG AUS DEM ALL Jenseits des Kraters, immer wieder von Dampf und Rauch verdeckt, stand ein langes, schlankes Raumschiff. „Wenn auf Terra seit unserer Abreise nicht ganz neue Typen entwickelt wurden, haben wir es hier mit einer vollkommen fremden Bauart zu tun“, bemerkte Ansgar. Plötzlich gab es ein scharfes, knirschendes Geräusch. Im nächsten Augenblick waren die vorderen Reihen der anmarschierenden Truppen verschwunden. Die übrigen Einheiten schwärmten sofort aus und suchten Deckung im Gehölz. Strahltechniker bemühten sich, ihr schweres Geschütz so rasch wie möglich in Stellung zu bringen. Abermals zischte es hart und knirschend. Ein Dutzend Lastwagen verschwand. Endlich war eines der Strahlengeschütze montiert. Die Techniker stellten die Waffe auf das ferne Raumschiff ein und begannen zu feuern. Die Spitze des fremden Raumers wurde kirschrot, dann weiß und löste sich schließlich in Dampf auf… So beginnt ein atemberaubender Abschnitt in unserem Science Fiction Roman Nr. 2001, der an Ihrem Kiosk oder In Ihrer Buchhandlung erhältlich ist. Sollte er jedoch dort bereits vergriffen sein, wenden Sie sich direkt an uns oder bestellen Sie ihn durch Ihren Buch- oder Zeitschriftenhändler.
H. BEAM PIPER
DER MANN, DER DIE ZEIT BETROG Das Raum-Zeit-Gefüge ist ein kompliziertes Gebilde. Die Parazeit-Patrouille kontrolliert scharf, daß es keine Überschneidungen der verschiedenen Zeitebenen gibt. Zu oft ist es vorgekommen, daß sich Verbrecher in den verschiedenen Ebenen bewegten, um dem Gesetz zu entgehen. Auch dafür ist die Parazeit-Patrouille da. Dann gerät Cal Morris in den Zeitstrudel. Morris ist ein Mann der Patrouille, er weiß von den erstaunlichen Zusammenhängen, und doch verblüfft auch ihn das phantastische Geschehen, in das er hineingerät. Die unwiderlegliche Logik der Zeitebenen verwandelt seine Persönlichkeit, und Cal Morris wird zu Lord Calvan, zum Herrscher über eine Welt. Das ist die erregende Thematik unseres nächsten Science Fiction Romans Nr. 2003. Demnächst überall im Buchhandel, Zeltschriften- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.