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Tom DeMarco Spielra ume
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Tom DeMarco
Spielra ume Projektmanagement jenseits von Burn-out, Stress und Effizienzwahn
Aus dem Amerikanischen von Doris Martin
HANSER 5
U bersetzung: Dr. phil. Doris Martin, contec d. & c. martin, Diedorf-Anhausen Titel der Originalausgabe: –Slack “ Getting Past Burnout, Busywork, and the Myth of Total Efficiency© ü 2001 by Tom DeMarco. Published by arrangement with Broadway, a division of the Doubleday Broadway Publishing Group, a division of Random House, Inc. All rights reserved. www.hanser.de Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden du rften. Die Deutsche Bibliothek “CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fu r diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhaltlich. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschu tzt. Alle Rechte, auch die der U bersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfaltigung des Buches, oder Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht fu r Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfaltigt oder verbreitet werden. Fu r die deutsche Ausgabe: ü 2001 Carl Hanser Verlag Mu nchen Wien Lektorat: Margarete Metzger Herstellung: Irene Weilhart Umschlaggestaltung: Zentralbu ro fu r Gestaltung, Augsburg Gesamtherstellung: Kosel, Kempten Printed in Germany Elektronisch erfasst von ReinerZufall ISBN 3-446-21665-0 6
Inhalt Vorwort............................................................................................. 10 Teil I: Spielra ume ........................................................................... 13 1 Verru ckte in den Korridoren................................................................................16 2 Hektische Betriebsamkeit.................................................................................... 19 3 Der Mythos von der fungiblen Ressource ........................................................... 23 4 Eile mit Weile......................................................................................................31 5 Wie Sie Eva managen.......................................................................................... 34 6 Geschaft statt Geschaftigkeit ...............................................................................39
Teil II: Haben uns verirrt, kommen aber gut voran ..................... 47 7 Die Kosten von Druck......................................................................................... 50 8 Aggressive Terminplane...................................................................................... 57 9 U berstunden.........................................................................................................61 10 Ein kleiner buchhalterischer Kunstgriff............................................................. 71 11 Der Laubsauger .................................................................................................74 12 Das zweite Gesetz des schlechten Managements ...............................................79 13 Die Kultur der Angst ......................................................................................... 84 14 Die Lust am Rechtsstreit ................................................................................... 90 15 Prozess-Versessenheit ....................................................................................... 97 16 Qualitat ............................................................................................................104 17 Effizient und/oder effektiv ..............................................................................112 18 Management by Objectives .............................................................................115
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Teil III: Vera nderungen und Wachstum ..................................... 119 19 Visionen ..........................................................................................................121 20 Fu hrung und –Fu hrung© ..................................................................................124 21 Dilbert neu betrachtet ...................................................................................... 128 22 Sicherheit.........................................................................................................131 23 Vertrauen und Vertrauenswu rdigkeit ............................................................. 135 24 Die zeitliche Gestaltung des Wandels ............................................................. 139 25 Die Rolle des mittleren Managements............................................................. 143 26 Die lernende Organisation...............................................................................147 27 Gefahr im weiÄ en Raum..................................................................................155 28 Management des Wandels...............................................................................161
Teil IV: Risiko und Risikomanagement ....................................... 164 29 Ungesunder Menschenverstand.......................................................................166 30 Risikomanagement: Die minimale Dosis ........................................................ 173 31 Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit arbeiten.............................................178 32 Lernen, mit dem Risiko zu leben.....................................................................182 33 Die Nadel im Heuhaufen .................................................................................187
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Vorwort Spielra ume ß Projektmanagement jenseits von Burn-out, Stress und Effizienzwahn ist eine Anleitung, das moderne Unternehmen mit der Fahigkeit auszustatten, sich zu wandeln. Ausgangspunkt dafu r ist der Kern des Spannungsfelds zwischen Effizienz und Flexibilitat: Je effizienter eine Organisation ist, desto schwieriger wird es, Veranderungen einzufu hren. Dieses Buch zeigt Managern, wie sie ihre Organisationen mit etwas weniger Effizienz weitaus effektiver fu hren konnen. Es begleitet die Einfu hrung von Spielraum, dem fehlenden Element, ohne das Veranderungen nicht moglich sind. Es rat dazu, Spielraume bewusst zuzulassen und von der unu berlegten Besessenheit wegzukommen, auch noch das letzte Quantchen Spielraum auf dem Altar der Effizienz zu opfern.
Warum gerade jetzt? Wir leben in einem Zeitalter der Beschleunigung. Wie auch immer die Zauberformel fu r unternehmerischen Erfolg vor einigen Jahren gelautet haben mag “ sie funktioniert nicht mehr. Heute muss immer mehr Arbeit in immer weniger Zeit bewaltigt werden. Weniger Menschen arbeiten mehr, sie arbeiten schneller und sie arbeiten auf engerem Raum, mit weniger Unterstu tzung, kleineren Spielraumen und hoheren Qualitatsanforderungen als je zuvor. Der durchschnittliche Manager oder Wissensarbeiter steht heute so unter Druck, dass er einfach keinen freien Moment mehr kennt. Er hat keine Zeit zu planen, er hat pausenlos zu tun. Er hat keine Zeit, zu analysieren, kreativ zu sein, zu lernen, nachzudenken, zu meditieren oder schlicht zu Mittag zu essen. Vor kaum einem Jahrzehnt war der Arbeitsplatz durch –Bu rostunden© gekennzeichnet, den Plausch am Kaffeeautomaten, ausgedehnte Geschaftsessen, fru he SchlieÄ zeiten im Sommer und die Firmen-Volleyballmannschaft. Heute sind solche Freiheiten so undenkbar geworden wie der Milchmann und die Tankstelle mit vollem Service. Das allgegenwartige Gib-Gas-Mantra hat Unternehmen geholfen, in Fahrt zu kommen. Ohne jeden Zweifel erbringen sie ihre Leistungen heute schneller und billiger als fru her. Doch es gibt da noch eine andere Seite ...
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Wenn Vera nderungen notwendig werden Angenommen, einem Unternehmen stehen grundlegende Veranderungen bevor. Die notwendigen Veranderungen erschopfen sich nicht darin, das Gleiche wie bisher noch schneller zu erledigen, sondern zielen darauf ab, einen Richtungswechsel vorzunehmen und vollig neue Wege einzuschlagen. Nun sind Veranderungen immer herausfordernd und schwierig, in hochbeschleunigten Unternehmen aber ist ein Richtungswechsel praktisch ein Ding der Unmoglichkeit. Genau die Verbesserungen, die dazu gefu hrt haben, dass das Gib-Gas-Unternehmen schneller und billiger als fru her arbeitet, unterminieren seine Fahigkeit, andere Veranderungen vorzunehmen. Ein Unternehmen, das die Geschwindigkeit erhohen, aber die Richtung nicht andern kann, ist wie ein Auto, das sich beschleunigen, aber nicht lenken lasst. Auf kurze Sicht kommt es in der Richtung, in die es zufallig fahrt, gut voran. Auf lange Sicht betrachtet endet es wie viele andere als Schrotthaufen im StraÄ engraben.
Aufbau dieses Buches Dieses Buch ist in vier Teile mit jeweils einem eigenen Thema gegliedert: § Teil I: Spielra ume. Der unglu ckselige Kompromiss zwischen Effizienz und Flexibilitat. Wie die meisten Organisationen nur effizienter werden, indem sie ihre Wandlungsfahigkeit opfern. Wie Spielraume zur Rettung werden konnen. § Teil II: Wie sich Stress auf Organisationen auswirkt. Stress weist Organisationen den falschen Kurs. Gleichzeitig lasst er sie ihre Geschwindigkeit verdoppeln. Gru nde fu r und Rezepte gegen unternehmerischen Stress. § Teil III: Wandel, Wachstum und betriebliches Lernen. Der Unterschied zwischen Firmen, die lernen (und davon profitieren) konnen und denen, die dazu nicht in der Lage sind. § Teil IV: Risiken eingehen und managen. Warum es nichts bringt, vor Risiken wegzulaufen, und warum es bei einem vernu nftigen Risikomanagement sinnvoll ist, auf Risiken zuzugehen (und was das bedeutet). Spielra ume wendet sich an Manager aller Ebenen in Wissensorganisationen und anderen modernen Unternehmen, in denen vor allem Wissensarbeiter beschaftigt sind. Das Buch wendet sich daru ber hinaus auch an die Wissensarbeiter selbst. Es richtet sich an Sie: wenn Sie spu ren, dass etwas an unserer hollischen Hektik im Job grundfalsch ist; wenn Sie im Innersten wissen, dass die Spielraume, die den 11
Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren genommen wurden, erneut eingefu hrt werden mu ssen, wenn jemals wieder ein sinnvoller Fortschritt moglich sein soll. Allein die Tatsache, dass Sie sich entschlossen haben, dieses Buch zu lesen, zeigt, dass Sie wissen, was hektische Betriebsamkeit bedeutet. Sie haben keine Zeit fu r eine ausfu hrliche Abhandlung u ber Organisationsformen oder eine Managementtheorie. Sie haben allenfalls Zeit fu r ein flott und pointiert geschriebenes Buch, das Sie im Flugzeug lesen konnen. Ich habe dieses Buch so angelegt, dass Sie es auf einem Flug von New York nach Chicago oder von Amsterdam nach Rom leicht auslesen konnen. Ich hoffe und erwarte, dass Sie nach der Lektu re mit einem einfachen Konzept aus dem Flugzeug steigen, wie Sie Ihr Unternehmen dabei unterstu tzen konnen, die Veranderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um zu u berleben.
Was Spielra ume bringen Stressabbau und die Wiedereinfu hrung des unverzichtbaren Quantchens Spielraum sind in meinen Augen das beste Rezept, um in Ihrer Organisation die folgenden Veranderungen zu bewirken: § mehr unternehmerische Wendigkeit, § eine bessere Chance, wichtige Mitarbeiter, Ihr –Humankapital© , zu halten, § eine bessere Fahigkeit, in die Zukunft zu investieren, § die Fahigkeit, vernu nftige Risiken einzugehen, statt Risiken um jeden Preis zu vermeiden.
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Teil I: Spielra ume
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Vielleicht haben Sie sich in einem fru heren Leben, als das Wort Freizeit noch eine Bedeutung fu r Sie hatte, gelegentlich mit dem im Folgenden abgebildeten Spiel beschaftigt. Bei diesem Spiel geht es darum, die mit Zahlen beschrifteten Quadrate nacheinander so in das leere Feld zu schieben, dass am Schluss eine perfekte Ordnung entsteht.
Die Aufgabe, die Quadrate in die richtige Reihenfolge zu bringen, ist “ wie Sie sich vermutlich erinnern “ alles andere als einfach. Schon in der traditionellen Form des Spiels bereitet sie Kopfzerbrechen. Aber nun stellen Sie sich erst einmal die folgende veranderte “soll ich dreist behaupten, verbesserte? “Form des Spiels vor:
Statt acht Quadraten und einem leeren Feld haben wir jetzt ein Spiel mit neun Quadraten und keinem leeren Feld. Dieses Anordnung weist eine um 11,1 Prozent hohere Effizienz auf, weil das u berflu ssige leere Feld eliminiert wurde, und die Spielflache eine Auslastung von 100 Prozent aufweist. (Wahrend Sie diese Zeilen 14
lesen, ist man in Ihrer Firma womoglich gerade dabei, die gleiche Logik auf die Verteilung der Bu ros und Schreibtische anzuwenden.) Die Effizienz wurde verbessert, aber um einen hohen Preis: Ohne das leere Feld gibt es keine Moglichkeit mehr, die Quadrate zu bewegen. Die Anordnung der Quadrate mag in ihrer neuen Form optimal sein. Sollte die Zeit jedoch etwas anderes erweisen, gibt es keine Moglichkeit mehr, eine Veranderung vorzunehmen. Das leere Feld reprasentiert das, was ich als Spielraum bezeichne: den Freiheitsgrad, der notwendig ist, um Veranderungen bewirken zu konnen. Spielraume sind die natu rlichen Feinde von Effizienz, und Effizienz ist der natu rliche Feind von Spielraumen. Und genau da liegt das Problem: Manche Entscheidungen, die die Effizienz eines Unternehmens steigern, beeintrachtigen seine Fahigkeit, sich zu einem spateren Zeitpunkt zu verandern und neu zu erfinden. Fu r den Augenblick schlage ich vor, dass Sie das Neun-Quadrate-Spiel (ohne leeres Feld) als Symbol Ihrer Organisation betrachten: verbessert, umstrukturiert, effizient bis zum Geht-nicht-mehr ... aber unfahig, sich zu verandern.
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1 Verruckte in den Korridoren Zu den Hinterlassenschaften der neunziger Jahre gehort ein gefahrlicher Wahn, dem viele Unternehmen bis heute verfallen sind: die Vorstellung, eine Organisation sei nur in dem MaÄ e effektiv, wie alle ihre Mitarbeiter fortwahrend vollstandig ausgelastet sind. Jeder, der nicht u berarbeitet ist (schwitzt, abends langer bleibt, von einer Aufgabe zur nachsten hetzt, samstags arbeitet, fru hestens in drei Wochen Zeit fu r eine kurze Besprechung findet), wird misstrauisch beaugt. Womoglich sind Menschen, denen ein MindestmaÄ an MuÄ e vergonnt ist, nicht einmal ihres U berlebens sicher. So war es in den dunkelsten Tagen bei DEC, was einen Freund von mir, der damals dort arbeitete, zu der A uÄ erung veranlasste: –In den Korridoren laufen Verru ckte rum, die nur darauf warten, jemanden abschieÄ en zu konnen.© Natu rlich hatten sie insbesondere die Leute auf der Abschussliste, die nicht ganz so beschaftigt wirkten.
Vertrauenskrise Auch wenn in Ihrer Firma zurzeit keine mit A xten herumfuchtelnden Verru ckten durch die Gange streichen, steckt Ihnen die Erinnerung daran bestimmt noch in den Knochen. Dieses Hirngespinst ist das U berbleibsel der gerade u berstandenen Vertrauenskrise. Bedenken Sie: Wahrend ich dieses Buch schreibe, durchlebt die amerikanische und westeuropaische Wirtschaft eine Phase auÄ ergewohnlichen Wohlstands. Wahrend der Rest der Welt arm- und beinamputiert zugleich ist, stehen wir gesu nder da denn je. Dabei ist es erst wenige Jahre her, dass uns die Selbstzweifel qualten. Wie sollen wir, fragten wir uns damals, im Wettbewerb mit der ausgehungerten Dritten Welt u berleben konnen, wo die Leute bereit sind, fu r Peanuts zu arbeiten, und uns vermutlich auf jedem Markt weltweit unterbieten werden? Wie konnen wir mit den phantastisch ausgebildeten Japanern Schritt halten, den ausgefuchsten und heiÄ hungrigen Arbeitskraften, die hinter dem Eisernen Vorhang hervorkommen, oder den Taiwanern oder Koreanern mit ihrer u bermenschlichen Arbeitsethik und ihrem beeindruckenden Konnen? Von 16
unseren Zweifeln angestachelt schritten wir zur Tat und unterzogen uns einer Entschlackungskur, in deren Verlauf wir u berflu ssige Kapazitaten (z. B. Menschen mit einem Zuhause und Familien) restlos ausmerzten. Wir trimmten uns schlank, als hinge unser U berleben davon ab. War es nicht vernu nftig, unser Haus auf diese Weise zu bestellen? Kurzfristig betrachtet vielleicht. Wahrscheinlich trug die Entschlackung sogar ein Stu ck weit zu unserer gegenwartigen Starke bei. Langfristig jedoch kann die Nebenwirkung der Entschlackung “ der Gedanke, Geschaftigkeit sei die Voraussetzung jeder Geschaftstatigkeit “bleibende Schaden hinterlassen.
Der Preis fur die “Bestellung unseres Hausesö In den letzten zehn Jahren haben wir gesundgeschrumpft, –rightgesized© , freigesetzt und den Leuten den Stuhl vor die Tu r gestellt. Wir haben Lohne und Gehalter geku rzt, Betriebe geschlossen, Unternehmensbereiche verkauft und ganz allgemein samtliche noch verbleibende Mitarbeiter das Fu rchten gelehrt. Wir haben Figuren wie Kettensagen-Al (dem zeitweilig schlimmsten CEO in den USA) beifallig zugenickt, als sie ihr schmutziges Handwerk trieben. Und wir haben den Aktienkurs von Unternehmen wie AT&T, die den Entschlackungstrend anfu hrten, in die Hohe getrieben. Hauptzielscheibe der Ku rzungen war der Popanz der organisatorischen Effizienz: das mittlere Management. Wir fragten uns: –Was sind diese Mittelmanager denn schon? Fett, reines Fett. Zu nichts nu tze. Schneiden wir sie doch einfach aus Effizienzgru nden weg.© Also setzten wir das Messer an. In prazisen chirurgischen Eingriffen entfernten wir die mittleren Schichten unserer Organisationen, flachten die Organisationsstruktur ab und verbreiterten die Managementverantwortung auf allen Ebenen. Wir gingen
War das klug gedacht? Ich bezweifle es. 17
Vielleicht ist das mittlere Management doch noch zu etwas anderem gut, als den Platz zwischen denen ganz oben und denen ganz unten in der Hierarchie zu fu llen. Es gehort zu meinen Zielen in diesem Buch, die Rolle des mittleren Managements und seine Bedeutung fu r die Ablaufe in der Mitte einer gesunden Organisation zu analysieren. Um Sie nicht zu sehr auf die Folter zu spannen, will ich Ihnen die Hauptaktivitat dieser Manager schon jetzt verraten: Neuerfindung. Neuerfindung findet in der Mitte der Organisation statt. Dort werden die aktuellen unternehmerischen Funktionsablaufe und -dynamiken bewertet, in Einzelteile zerlegt, analysiert, zu anderen Verbindungen verschmolzen und zu den neuen Organisationsmodellen zusammengefu gt, die ein Vorwartskommen ermoglichen. Den Organisationen, die am gnadenlosesten entschlackt wurden, wurde die Fahigkeit der Selbsterneuerung genommen. Die so genannten –Umstrukturierungen© haben in den meisten Fallen den aktuellen Status quo optimiert “auf Kosten der Zukunft.
Spielt es eine Rolle? Na und? Firmen, die die Zukunft verspielten, um die Gegenwart etwas rosiger erscheinen zu lassen, gab es zu allen Zeiten. Sie haben kurzfristig Erfolg und langfristig eben nicht. Was soll dieses Mal so anders daran sein? Der Unterschied liegt darin, dass heute sogar die Unternehmen, die ihren leistungsstarken Zentren des Wandels nicht gleich das Herz aus dem Leib geschnitten haben, ihnen zumindest die Arbeit gegenu ber fru her erschweren. Wandel und Neuerfindung benotigen einen Rohstoff, der in unserer Zeit rarer ist als je zuvor. Dieser Rohstoff “ die katalytische Zutat jeder Veranderung “ heiÄ t Spielraum. Spielraume sind die Zeiten, in denen wir uns neu erfinden. Sie sind die Zeiten, in denen Sie nicht hundertprozentig damit beschaftigt sind, das operative Geschaft Ihrer Firma zu fu hren. Spielraume sind Zeiten ohne hektische Betriebsamkeit. Spielraume sind auf allen Ebenen notwendig, damit die Organisation effektiv arbeiten und wachsen kann. Sie sind das Schmierol des Wandels. Gute Firmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Spielraume kreativ zu nutzen wissen. Schlechte sind davon besessen, sie mit Stumpf und Stiel auszurotten.
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2 Hektische Betriebsamkeit Stellen Sie sich vor, Sie haben den Auftrag u bernommen, einen Film u ber den Alltag eines auÄ erordentlich erfolgreichen Unternehmens zu drehen. Wie wu rden Sie die Firma portratieren? Und vor allem: Wie wu rden Sie es anstellen, sie erfolgreich wirken zu lassen? Vielleicht kommt Ihnen ja als Erstes der Gedanke, den grandiosen Erfolg des Unternehmens durch die unerhort hektische Betriebsamkeit seiner Mitarbeiter zu vermitteln. Wie hatte das Unternehmen, so konnten Sie argumentieren, ohne erhebliche Extra-Anstrengungen der Mitarbeiter so erfolgreich werden konnen? Meine Erfahrungen als Berater verschiedener extrem erfolgreicher Unternehmen “ Microsoft, Apple, Hewlett-Packard, IBM, Dupont, um nur einige zu nennen “ haben mich bisher jedoch keinen Zusammenhang zwischen Betriebsamkeit und Erfolg erkennen lassen. Wirklich erfolgreiche Unternehmen sind mir nie als besonders betriebsam aufgefallen, sondern wirken insgesamt eher gelassen. Sie sind zwar von einer spu rbaren Energie erfu llt, aber es ist nicht die angstbehaftete Energie, die wir mit Ru ckstand und Verzug assoziieren. Die Unternehmen, die ich am meisten bewundere, zeigen“ jedenfalls nach auÄ en hin “ kaum ein Gefu hl von Eile. Sie wirken eher wie eine groÄ e Familie, die gemeinsam ein Projekt begonnen hat, dessen Ziel sich nur teilweise darin ausdru ckt, etwas zuwege zu bringen; mindestens genauso wichtig ist es, dass alle Beteiligten lernen, wachsen und SpaÄ an der Arbeit haben. Arbeit, vor allem Wissensarbeit, kann extrem viel Freude bereiten. Deshalb werden so viele von uns su chtig danach. Wenn Sie eine spu rbares Vergnu gen an Ihrer Arbeit empfinden und es Ihren Kollegen genauso geht, wenn in Ihrer Firmenkultur SpaÄ an der Arbeit gern gesehen wird, stehen die Chancen gut, dass Ihr Unternehmen auf dem Weg zum Erfolg ist. Zeichnen Sie Belegschaftsaktien.
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Betriebsame Mitarbeiter Ich vertrete in diesem Buch unter anderem die These, dass die eigentliche Arbeit der Organisation durch extreme Betriebsamkeit Schaden nimmt. In den folgenden Kapiteln werde ich diesen Punkt so detailliert wie moglich belegen und insbesondere die Wirkung eines allzu ru hrigen Managements erortern. Zuerst aber mochte ich Ihnen darlegen, wie hektische Betriebsamkeit selbst die Effektivitat niedrigrangiger Mitarbeiter beeintrachtigen kann. Denken Sie zum Beispiel an die Sekretarin. (Sie wissen doch noch, was Sekretarinnen sind? Sie war fru her einmal fester Bestandteil des Firmenalltags.) Zu den Aufgaben einer Sekretarin mag es gehoren, Unterlagen vorzubereiten, Termine zu vereinbaren, Ablaufe zu koordinieren und ganz allgemein dafu r zu sorgen, dass der Arbeitstag eines Managers glatt verlauft. Sagen wir, der Manager sind Sie, und die Sekretarin heiÄ t Sylvia. Eine gute Sekretarin ist ein Schatz, wie jeder, der einmal eine gehabt hat, weiÄ , und Sylvia ist definitiv ein Schatz. Mit Sylvia lauft alles glatter. Wenn Sie auÄ er Haus sind, halt Sylvia das Zepter in der Hand. (Es sieht zwar offiziell nie danach aus, aber wir wollen uns doch nichts vormachen.) Sie koordiniert und verteilt anfallende Arbeit. Wenn sie ku ndigen wu rde, wu rde das Sie und Ihre Organisation um ein paar Monate zuru ckwerfen. Mindestens. Plotzlich platzt in dieses friedvolle Szenario ein Berater mit dem Auftrag, Kosten zu senken, der –Umstrukturierungsagent© der Firma. Wow, sagt er, was ist das? Eine Sekretarin? Und was tut sie gerade? Sagt's und stellt sich mit seiner zuverlassigen Stoppuhr in der Hand neben Sylvias Schreibtisch auf. Er stellt fest, was niemanden u berrascht: dass Sylvia namlich nur 43 Prozent der Zeit beschaftigt ist. Die restliche Zeit u ber ist sie ... einfach da. Sie ist da, um die Dinge zu erledigen, deren Erledigung fu r Sie und Ihre Mitarbeiter wichtig ist. Das (unter anderem) ist ja das Tolle an Sylvia: Wenn jemand ihre Hilfe braucht, ist sie fast immer prompt zur Stelle. Das Gesicht des Beraters verklart sich zu einem triumphierenden Blick. Wenn Sylvia nur 43 Prozent der Zeit beschaftigt ist, lassen sich 57 Prozent der Kosten einsparen, die sie verursacht. Man braucht Sylvia lediglich in einen –Pool© zu stecken, wo sie 43 Prozent ihrer Zeit Ihnen widmet und den Rest anderen Leuten. Alternativ dazu konnten Sie sich Sylvia mit einem anderen Manager teilen, der eine Sekretarin nur zu 57 Prozent auslastet. Oder es wird beschlossen, Sylvia gleich ganz abzuschaffen und fu r die 43 Prozent, fu r die Sie wirklich jemanden brauchen, eine Aushilfe einzustellen. (Sie du rfen sicher sein, dass der Berater hinterher u berpru fen wird, ob Sie wirklich so viel Unterstu tzung benotigen.) Was fu r eine Verbesserung! Sylvia ist weg beziehungsweise 57 Prozent ihrer Zeit sind weg, und 57 Prozent der Kosten, die sie dem Unternehmen verursacht, flieÄ en direkt in den Nettogewinn ein. Wahnsinn. Statt einer Mitarbeiterin, die 20
57 Prozent der Zeit einfach so herumsaÄ , haben wir jetzt jemanden, der 100 Prozent der Zeit u ber ausgelastet ist. Das ist echte Effizienz! Es gibt dabei nur ein Problem: Natu rlich geht die Sekretarin, der ihr Spielraum genommen wurde, bzw. der Anteil an ihr, der Ihnen noch zusteht, nicht so umgehend auf Ihre Bedu rfnisse ein, wie Sylvia es fru her tat. Diese hocheffiziente Person ist nicht prompt zur Stelle, wenn Sie Ihre Hilfe brauchen; dafu r hat sie einfach zu viel Hektik.
Wie wir zusammenarbeiten Moderne Organisationen sind riesige Netze miteinander verbundener Aufgaben. Die Knoten dieses Netzes sind Sie und Ihre Mitarbeiter. Die Verbindungen dazwischen sind Arbeitsvorgange, die gerade erledigt und von einer Person zur nachsten weitergereicht werden.
Aus praktischen Gru nden ist es unmoglich, jeden in der Organisation zu einhundert Prozent auszulasten, ohne jedem Mitarbeiter einen gewissen Puffer einzuraumen. Das bedeutet, es gibt auf jedem Schreibtisch einen Eingangskorb, in dem sich die Arbeit stapelt.
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Mit genu gend Puffer an jedem Schreibtisch lasst sich nun der Arbeitsfluss so organisieren, dass jeder jederzeit beschaftigt ist. Dieses optimal effiziente System hat eine Nebenwirkung: Die Zeit, die ein Arbeitsvorgang benotigt, um die Organisation zu durchlaufen, muss notwendigerweise steigen. Betrachten Sie es doch einmal aus der Perspektive der zu erledigenden Arbeit: Die Zeit, die sie braucht, um das gesamte Netz zu passieren, erhoht sich mit jeder Zwangspause in einem der Eingangskorbe. Waren die Bearbeiter dagegen verfu gbar, sobald die Arbeit ihren Schreibtisch erreicht, gabe es keine Wartezeit, und die Gesamtdurchlaufzeit wu rde sich verku rzen. Aber Verfu gbarkeit impliziert zumindest eine gewisse Ineffizienz und damit genau das, was unser Effizienzprogramm der Organisation ausgetrieben hat. Wer also seine Mitarbeiter in dem Sinn effektiv einsetzt, dass er ihrem Arbeitstag jeglichen Spielraum nimmt, muss als Nebenkosten langere Antwortzeiten und damit eine Entschleunigung der Organisation in Kauf nehmen. Das ist kein besonders glu cklicher Tausch. Bill Gates brachte es als Zeuge in einer der ersten Anhorungen des Microsoft-Prozesses auf den Punkt: –In der Vergangenheit konnten nur die Fittesten u berleben. Heute werden nur die Schnellstenu berleben.© Es ist moglich, eine Organisation effizienter zu machen, ohne sie besser zu machen: Das geschieht, wenn Sie Spielraume verbannen. Es ist aber auch moglich, die Effizienz einer Organisation etwas zuru ckzufahren und dabei enorme Verbesserungen zu erzielen: Sie mu ssen ihr dafu r nur wieder die Spielraume zugestehen, die sie braucht, um durchzuatmen, sich neu zu erfinden und notwendige Veranderungen durchzufu hren.
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3 Der Mythos von der fungiblen Ressource Typische UmstrukturierungsmaÄ nahmen konzentrieren sich darauf, die Effizienz eines Unternehmens zu steigern. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass diesem Vorhaben ein erhebliches Schadenspotenzial innewohnt. In anderen Worten: Effizienzverbesserungen erweisen sich haufig als kontraproduktiv. Das heiÄ t jedoch nicht, dass sie einfach zu erreichen sind. Im Gegenteil, Effizienzverbesserungen erfordern Findigkeit und groÄ es Engagement. Es ist u beraus schwierig, die Effizienz eines Unternehmens zu steigern, weil seine Mitarbeiter ohnehin standig an der Erhohung ihrer personlichen Effizienz arbeiten. Sie tun das, weil Verschwendung sie frustriert und Untatigkeit sie langweilt. Der Effizienzexperte, der neu ins Unternehmen kommt, ist daher gezwungen, einen Boden zu beackern, der bereits viele Male von findigen Menschen beackert wurde. Wer wu rde es ihm angesichts dieser undankbaren Herausforderung veru beln, wenn er ab und zu eine abwegige Abku rzung nehmen wu rde, um zumindest einen kleinen scheinbaren Fortschritt vorweisen zu konnen?
Die abwegigste aller Abkurzungen Die Tendenz, Abku rzungen zu nehmen, wird daru ber hinaus durch das bei Umstrukturierungen fast immer vorhandene Gefu hl begu nstigt, ein scheinbarer Fortschritt stehe einem tatsa chlichen Fortschritt in nichts nach. Sylvia zwischen zwei Chefs aufzuteilen ist zum Beispiel nur ein scheinbarer Fortschritt: Die gewonnene Effizienz wird dadurch zunichte gemacht, dass Sylvia nicht mehr so prompt zur Verfu gung steht wie fru her. Aber wenn der Effizienzexperte nur eine Woche Zeit hat, das Fett wegzuschneiden ... Die Versuchung ist einfach zu groÄ . Was also ist eine lohnende Abku rzung in den Augen eines Effizienzexperten, der eine schnelle organisatorische –Verbesserung© vorweisen muss? Die Abku rzung, die am haufigsten gewahlt wird, ist die Annahme, einzelne Mitarbeiter seien vollkommen fungibel. 23
fungibel [lat.-nlat.]: 1. austauschbar, ersetzbar (Rechtsw.); f u n g i b l e Sache: vertretbare Sache, s. h. eine bewegliche Sache, die im Verkehrnach MaÄ , Zahl u. Gewicht bestimmt zu werden pflegt (Rechtsw.). 2. in beliebiger Funktion einsetzbar; ohne festgelegten Inhalt u. daher auf verschiedene Weise verwendbar. Geld ist zum Beispiel fungibel. Sie konnen es aus einem Topf “ sagen wir, –Instandhaltung© “ herausnehmen und in einen anderen Topf “ sagen wir, –Lebensmittel© “ hineinstecken, ohne einen Transferverlust befu rchten zu mu ssen. Der Dollarbetrag aus dem Instandhaltungs-Topf entspricht dem Dollarbetrag, der dem Lebensmittel-Topf zuflieÄ t. Die Instandhaltungs-Dollars, die neu dazukommen, unterscheiden sich in nichts von den Lebensmittel-Dollars, die bereits vorher darin enthalten waren. Sie lassen sich alle auf die gleiche Weise ausgeben. Geld ist fungibel ... Menschen sind es nicht. Wenn Sie als Effizienzexperte rasche Erfolge vorweisen sollen, ist die Annahme, Menschen seien fungibel, von verfu hrerischem Reiz. Sie gibt Ihnen die Moglichkeit, Menschen nach Belieben so herumzuschieben, dass Sie im Null-KommaNichts einen scheinbaren Produktivitatsgewinn vorweisen konnen. (SchlieÄ lich mu ssen Sie als Effizienzexperte effizient sein.) Wenn Sylvia wie eine Sache behandelt werden kann, die teilbar, –in beliebiger Funktion einsetzbar© und mit anderen Sylvia-ahnlichen Mitarbeiterinnen –austauschbar© ist, ist es absolut sinnvoll, sie zu 43 Prozent einer Abteilung und zu 57 Prozent einer anderen zuzuweisen. Ist sie dagegen keine fungible Ressource, ist die Veranderung kompletter Unsinn. Aber daru ber braucht sich ein Effizienzexperte (schauderhaft!) seinen kleinen Kopf nicht zu zerbrechen.
Matrixmanagement Die Annahme, Menschen seien fungibel, hat in der organisationstheoretischen GroÄ tat des Matrixmanagements ihren vorlaufigen Hohepunkt erreicht. In einer Matrixorganisation berichtet jeder Mitarbeiter an zwei Chefs. Der Chef, der im Organigramm direkt u ber dem Mitarbeiter steht, ist der funktional verantwortliche Manager, die Person, die dem Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin die Marschbefehle erteilt. Der Chef an der Seite daneben ist der disziplinarische Vorgesetzte, derjenige, in dessen Zustandigkeitsbereich alle Mitarbeiter mit gleichen oder ahnlichen Fahigkeiten fallen. In der Abbildung berichtet Lamar, ein Grafiker, an seine Projektmanagerin Vivian, aber auch an Arnold, der alle Designer und Grafiker managt. Fu r projektbezogene Angelegenheiten ist Vivian zustandig. Sie entscheidet, welche Aufgaben Lamar heute und morgen erledigen wird. Bei der 24
jahrlichen Gehaltsrunde dagegen obliegt es Arnold, die U berpru fung durchzufu hren, genau so wie er auch fu r Lamars Weiterbildung und potenzielle Karriereentwicklung verantwortlich ist.
Die halbe Welt hat sich so sehr an Matrixmanagement gewohnt, dass sie es als selbstverstandlich betrachtet. Die andere Halfte der Welt halt es fu r absurd. Wie um alles in der Welt, fragt sich diese zweite Gruppe, soll Arnold wissen, wie gut die Leistungen von Lamar waren, wenn er nicht mit Vivian, Lamars eigentlicher Chefin, daru ber spricht? Vivian weiÄ , was Arnold nicht weiÄ . Warum fu hrt dann nicht auch sie die Gehaltsu berpru fung durch? Und nach der gleichen Logik mu sste auch sie daru ber entscheiden, ob Lamar reif fu r mehr Verantwortung ist. Matrixmanagement ist nicht allzu sinnvoll ... es sei denn, Sie kommen auf den neckischen Einfall, Lamar als vollkommen fungible Ressource zu betrachten. Dann kann er nicht nur nach Belieben herumgeschoben, er kann auch zerstu ckelt werden. In der nachsten Zeichnung sehen wir, wie Lamar an drei verschiedenen Projekten mitarbeitet. Es liegt auf der Hand, dass sich keiner seiner vertikalen Vorgesetzten ein vollstandiges Bild von seinen Leistungen machen kann. Dafu r hat jetzt immerhin Arnold eine echte Aufgabe.
Diese Art von Matrixmanagement ist besonders reizvoll, wenn keiner der vertikalen Vorgesetzten einen Vollzeitmitarbeiter benotigt. Sie erweist sich auch als nu tzlich, wenn von auÄ en unterschiedlich viele Anspru che an die Zeit des 25
Mitarbeiters herangetragen werden; auf diese Weise kann der arme Kerl in der Hauptsache an seinem Hauptjob arbeiten und je nach Bedarf –ausgematrixt© werden. Unternehmen, die nach dieser Methode arbeiten, halten sich fu r dynamisch und u beraus flexibel.
Zeitausfall beim Taskwechsel Das Problem besteht darin, dass menschliche Arbeitskrafte nicht voll und ganz fungibel sind. Selbst die entschiedensten Verfechter des Matrixmanagements werden verstehen, dass der Aufteilbarkeit eines Menschen Grenzen gesetzt sind. Sie finden nichts dabei, dass Lamar an zwei Projekten gleichzeitig arbeitet, hatten aber bei fu nf ein ungutes Gefu hl. Und zehn oder mehr waren sogar ihnen des Guten zuviel. Dass Lamar sich nicht durch zehn teilen lasst, liegt an den Kosten, die beim Taskwechsel entstehen. Wenn Lamar jeden Tag an allen Aufgaben arbeitet, muss er taglich mindestens neun Taskwechsel vornehmen. Wenn jeder Taskwechsel zehn Minuten in Anspruch nimmt (um die Zeichnungen fu r ein Projekt wegzulegen und die anderen hervorzuholen, nach den richtigen Hilfsmitteln und Medien zu suchen, die Aufgabenbeschreibung und die Notizen der letzten Besprechung hervorzukramen), gehen 90 Minuten von Lamars Arbeitstag fu r den Aufgabenwechsel verloren. Auf einen Acht-Stunden-Tag umgelegt bedeutet das einen Zeitausfall von fast 20 Prozent. Diese Zeit kommt nicht produktiv einer seiner Aufgaben zugute, sie ist einfach verschwendet. Der zehnminu tige Zeitausfall, den jeder Taskwechsel mit sich bringt, wird allein fu r Routinearbeiten wie das Weglegen und Auspacken von Unterlagen benotigt. Aber je nach Art der Aufgabe kann der mit dem Aufgabenwechsel verbundene Zeitausfall sehr viel empfindlicher ausfallen. Angenommen, Lamar befindet sich bei einem Projekt nicht in der Phase des Zeichnens und Layoutens, sondern in der Konzeptionsphase. Er denkt sich eine Werbekampagne aus oder entwirft eine interessante Bildcollage, um einen Aspekt zu verdeutlichen. Diese ziemlich undurchschaubare Aktivitat ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit, aber nicht sehr gut strukturiert; wahrscheinlich wu rde nicht einmal Lamar selbst es schaffen, die Einzelelemente der Konzeptionsphase zu beschreiben und die damit verbundenen Teilaufgaben in die richtige Reihenfolge zu bringen. Das bedeutet: Wenn er seine Arbeit mittendrin unterbrechen muss, gibt es zwischen der heute abgebrochenen und morgen wieder aufgenommenen Arbeit keine klare Trennung. Um am nachsten Tag wieder Tritt zu fassen, muss er deshalb sehr wahrscheinlich einige der Gedankenschritte vom Vortag an seinem inneren Auge vorbeiziehen lassen. Diese Doppelarbeit kommt zu den Routinearbeiten des Taskwechsels hinzu. 26
Aber selbst dieses Modell der Taskwechsel-Kosten ist moglicherweise noch zu optimistisch. Bestimmte Tatigkeiten erfordern zunachst ein Eintauchen in die Aufgabe, bevor an ein Vorwartskommen zu denken ist. Zu dieser Kategorie zahlen Tatigkeiten wie schreiben, forschen, analysieren, erfinden und programmieren. Diese Zeit des sich Vertiefens ist notwendig, um eine Art geistige Tragheit zu u berwinden. Die meisten Menschen wenden sich solchen Tatigkeiten nur zu, wenn sie einen ausreichend groÄ en Zeitabschnitt vor sich haben und zumindest auf einen gewissen Fortschritt vor der nachsten Unterbrechung hoffen konnen. Bei manchen Aufgaben ist es sogar notwendig, einen emotionalen Widerwillen zu u berwinden. Denken Sie zum Beispiel daran, wie eine Krankenschwester vor einer schwierigen Prozedur kurz innehalt und ihre Krafte sammelt, ehe sie den Tu rgriff zum Zimmer eines Patienten niederdru ckt, oder wie ein Verkaufer vor einem Anruf erst sein Selbstvertrauen aufbauen muss. Wenn Aufgaben, die ein Abtauchen erfordern, unterbrochen werden, ist eine zweite Phase des Eintauchens notwendig, um wieder Tritt zu fassen. Treten die Unterbrechungen haufiger auf, sind Frustrationen unvermeidlich. Frustrierte Mitarbeiter aber mu ssen vor der Wiederaufnahme einer Aufgabe einen Teil ihrer Energie und Zeit dafu r aufwenden. Ruhe zu finden und sich fu r mogliche weitere Frustrationen zu wappnen. Wenn sich also ein Mitarbeiter zwischen zwei Projekten zerteilen muss, errechnet sich die damit verbundene Verschwendung aus der Summe der Zeit, die fu r Routinearbeiten beim Taskwechsel plus gedankliche Doppelarbeit bei Wiederaufnahme der unterbrochenen Arbeit plus Eintauchzeit plus U berwindung von Frustrationen benotigt wird. Dieser Zeitausfall wird bei jedem Taskwechsel in Kauf genommen.
Wirkung auf Teams Das ist aber noch nicht alles: Neben einem berechenbaren festen Zeitausfall kann das Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Aufgaben auch einen anhaltenden Produktivitatsverlust bedeuten. Dieser Produktivitatsverlust tritt vor allem auf, wenn eine Aufgabe von einem Mitarbeiter erledigt wird, der in einem verschworenen Team arbeitet. Wer selbst je in einem derartigen Team mitgearbeitet hat, weiÄ , dass der Zusammenhalt in einem Team, die Verbundenheit durch gemeinsame Ziele, die Produktivitat enorm ankurbeln kann. Teams konnen die Energie und Konzentration ihrer Mitglieder so stark bu ndeln, dass die Fahigkeit des Teams als Ganzes groÄ er ist als die der Summe seiner Teile. Allerdings neigen Teams von Natur aus zu Besessenheit. Ein stark partitionierter Mitarbeiter aber kann sich unmoglich jedem seiner Aufgabenfragmente hingebungsvoll widmen und wird sich deshalb auch nicht von seinem Team mitreiÄ en 27
lassen. Ganz gleich, wie groÄ der Produktivitatsauftrieb durch die Teamwirkung sein mag, der partitionierte Mitarbeiter wird nicht daran teilhaben. Der durch einen Taskwechsel verursachte Zeitausfall setzt sich daher aus den folgenden Komponenten zusammen: Zeitausfall durch Taskwechsel
= Routinearbeiten, um auf die neue Aufgabe umzuschalten + Doppelarbeit, weil eine Aufgabe in einem ungu nstigen Moment abgebrochen werden musste + Eintauchzeit bei denkintensiven Aufgaben + Frustration (emotionale Eintauchzeit) + Verlust des Teambildungseffekts
Quantifizierung des Zeitausfalls beim Taskwechsel Bisher haben wir die Komponenten des Zeitausfalls beim Taskwechsel einfach nur aufgelistet. Als Nachstes mochte ich nun versuchen, ihre Gesamtwirkung quantitativ zu bestimmen: Wenn ein Wissensarbeiter seine Zeit auf zwei oder mehr Aufgaben aufteilen muss, so ist dies nach meiner Erfahrung mit einem Zeitausfall von nicht unter 15 Prozent verbunden. Wenn Sie einen Mitarbeiter, der bisher nur einem Projekt zugewiesen war, fu r einen Teil seiner Arbeitszeit mit einem zweiten Projekt beauftragen, mu ssen Sie damit rechnen, dass mindestens sechs Wochenstunden seiner Zeit verloren gehen. Mit zunehmender Partitionierung wird der Zeitausfall noch groÄ er. Ich mochte diese Aussage ausdru cklich auf Wissensarbeiter beschranken, weil Industriearbeiter und Handwerker von einigen Komponenten des Zeitausfalls durch Aufgabenwechsel moglicherweise nicht oder nur weniger betroffen sind. Bei Wissensarbeitern liegt die Mindestausfallzeit jedoch bei 15 Prozent. Die einzige Methode, die ich bisher eingesetzt habe, um meine These der 15prozentigen Mindestausfallzeit zu erharten, ist ein ehrwu rdiger Ansatz namens –Beweis durch wiederholte Behauptung© . Er bezieht seine Beweiskraft einzig und allein aus der Tatsache, dass ich meine Aussage, es gabe eine 15-prozentige Mindestausfallzeit nochmals (und nochmals und nochmals und nochmals) wiederholt habe. Nun konnen Sie natu rlich einwenden, der Beweis durch wiederholte Behauptung sei Ihnen trotz seiner Beliebtheit zu wenig exakt, als dass er Sieu berzeugen wu rde. Ich sage dazu nur: –Verglichen womit?© Bevor ich auf den Plan trat, gab man sich offensichtlich der Illusion hin, das Hin- und Herwechseln zwischen Aufgaben bliebe so gut wie ungestraft. Wir konnen das der Tatsache entnehmen, dass Firmen auf der ganzen Welt Wissensarbeiter in Fragmenten auf Projekte 28
verteilen, so dass ein einziger Mensch manchmal acht oder gar zehn verschiedene Aufgaben zugewiesen bekommt. Die Gangigkeit dieser Praxis kommt der haufig wiederholten Behauptung gleich, beim Taskwechsel entstu nde kein oder allenfalls ein vernachlassigbar geringer Zeitausfall. Selbst wenn ich Ihnen keinen weiteren Beweis zur Korrektheit der beiden Behauptungen “0 oder 15 Prozent “liefern wu rde, hoffe ich, dass die 0-Prozent-Pramisse zumindest ein leises Unbehagen in Ihnen auslost. Zufalligerweise verfu ge ich aber doch u ber einen Beweis, der starker als jede noch so oft wiederholte Behauptung ist: 1984 nahmen meine Kollegen bei der Atlantic Systems Guild und ich die Arbeit an einer dreijahrigen empirischen Studie u ber Softwareentwickler auf1. Wir konnten 600 Programmierer aus u ber hundert verschiedenen Organisationen dafu r gewinnen, ihre Fahigkeiten anhand eines Benchmarks von Softwareentwicklungsaufgaben testen zu lassen. Die Teilnehmer arbeiteten in ihren eigenen Raumen mit ihren eigenen Geraten und Tools. Sie waren auch den ganz normalen Unterbrechungen, Taskwechseln und Raumgerauschen ausgesetzt. Wir sammelten Informationen u ber die Umgebung und erfassten jeden einzelnen Taskwechsel. Zu niemandes U berraschung erbrachten Teilnehmer, die weniger oft unterbrochen wurden, haufig bessere Leistungen. Ein Vergleich zwischen erbrachter Leistung und Haufigkeit der Taskwechsel ergab, dass jeder Taskwechsel mit einem durchschnittlichen Konzentrationsverlust von etwas u ber zwanzig Minuten erkauft wurde. Daru ber hinaus stellten wir im Durchschnitt fast 0,4 Wechsel pro Stunde fest. Daraus resultiert ein direkter taglicher Produktivitatsverlust von u ber einer Stunde.
Die Folgen des Zeitausfalls Bei den Unternehmensumstrukturierungen in den neunziger Jahren war es allgemein u blich, Personal abzubauen und die Arbeit auf die verbleibenden Mitarbeiter aufzuteilen. Seither rotieren die Mitarbeiter erheblich mehr als fru her zwischen verschiedenen Aufgaben. Eine derartige Restrukturierungstaktik ist nur sinnvoll, wenn der Zeitausfall beim Taskwechsel kleiner ist als die potenzielle Personaleinsparung und im Prinzip gleich null ist. Aber das ist praktisch nie der Fall. Je mehr Ressourcen der Zeitausfall beim Wechsel von einer Aufgabe zur nachsten in einem Unternehmen beansprucht, desto mehr erweisen sich die Einsparungserwartungen als Illusion. Fragmentierte Wissensarbeiter mogen noch so beschaftigt 1
Einer der im Zusammenhang mit dieser Studie veroffentlichten Berichte war –Programmer Performance and the Effects of the Workplace", Proceedings of the 8th International Converence on Software Engineering, London: IEEE Computer Society Press, 1985. 29
wirken, ein GroÄ teil ihrer Hektik ist nur ein Kampf gegen Windmu hlen, wahrend sie zwischen den verschiedenen Aufgaben rotieren. Die Sache hat aber noch einen weiteren Haken: Die Entscheidung, wer abgebaut wird und wer bleiben darf, wird normalerweise aufgrund nachweislich erbrachter Leistungen getroffen. Nun sind Arbeitsleistungen aber nicht abstrakt: Man kann nicht sagen, Ted sei in allen Bereichen leistungsstark. Fest steht nur, dass er sich bei der Losung einer ganz bestimmten Aufgabe bewahrt hat. Die geplante Fragmentierung wird dazu fu hren, dass er sich ku nftig weniger dieser und mehr einer anderen Aufgabe widmen wird, die er wahrscheinlich weniger gut beherrscht. Allein deswegen wird sich seine Leistung verschlechtern. Der Zeitausfall durch Taskwechsel ist darin noch gar nicht einkalkuliert. Wissensarbeiter sind nicht fungibel. Sie zu behandeln, als waren sie es, lasst sie beschaftigter aussehen. Aber es erschwert es ihnen, etwas Nu tzliches zu leisten.
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4 Eile mit Weile Was bisher geschah: Organisationen erliegen manchmal dem Effizienzwahn und sorgen fu r so viel hektische Betriebsamkeit, dass die Antwortzeiten und die Nutzleistung darunter leiden. Der Grund dafu r sind fast immer fehlgeleitete Restrukturierungs- oder VerbesserungsmaÄ nahmen. Ich bezeichne solche Organisationen deshalb als –u berverbessert© .
Das Gib-Gas-Mantra So oft wie heute von Hektik und Zeitmangel die Rede ist, muss es jedeMenge u berverbesserter Organisationen geben. Im Lauf eines normalen Jahres berate ich ein Dutzend oder mehr Firmen, Agenturen und gemeinnu tzige Organisationen. Daru ber hinaus schule ich Mitarbeiter aus einigen hundert weiteren Organisationen bei Seminaren und Konferenzen. Aus meinen Firmenbesuchen, aus Gesprachsbeitragen von Seminarteilnehmern und aus Erzahlungen von Kollegen schlieÄ e ich, dass ein Drittel bis die Halfte der Organisationen, mit denen ich zu tun habe, mehr oder weniger u berverbessert sind. Das heiÄ t, die dort beschaftigten Mitarbeiter sind krankhaft u beraktiv, gehetzt und teilweise ziemlich verangstigt. In Organisationen dieser Art gibt es ein charakteristisches Mantra, das sich so anhort: –Gib Gas, gib Gas, gib Gas, gib Gas, gib Gas, ...© Ich muss zugeben, als junger unerfahrener Manager vernahm ich dieses Mantra mit Genugtuung. Es gab mir das Gefu hl, Einfluss zu haben. Heute ist dieses Mantra fu r mich das Begleitgerausch einer Organisation, in der etwas schief lauft.
Wie wir zusammenarbeiten Meine besondere Sorge gilt den Fallen, in denen –Gib Gas© eigentlich –Tritt auf die Bremse© bedeutet. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, sehen wir uns noch 31
einmal das Modell der Organisation als verknu pfte Menge von Aufgaben an, in dem die Knoten die Menschen und die Verknu pfungen durchlaufende Informationen, Arbeitsprodukte und Nebenprodukte sind.
In diesem System wird jede normale Ungleichverteilung der Aufgabenein gewisses MaÄ an Ineffizienz verursachen. Das heiÄ t: Wahrend Elaine auf Input von Harry wartet, hat sie nichts zu tun. In der u berverbesserten Variante des gleichen Ablaufs wird nun die Effizienz (oder zumindest die Betriebsamkeit) erhoht, indem die Personalstarke an jedem Knoten so verringert wird, dass das System mit Puffern arbeitet, die nie zu voll und nie ganz leer werden. (Zu diesem Zweck werden einige Mitarbeiter teilweise anderen Projekten zugewiesen.) Jetzt ist jeder 100 Prozent der Zeit u ber beschaftigt.
In einem statischen Bild mag das recht effizient aussehen. Allerdings ist moderne Wissensarbeit niemals statisch. Die Dinge andern sich taglich. So schwankt denn auch die Verteilung der Aufgaben: Bei manchen Mitarbeitern hauft sich Zusatz32
arbeit an (ihre Puffer werden immer voller), wahrend bei anderen der Eingangskorb immer leerer wird, weil jemand vor ihnen in der Arbeitskette nicht schnell genug nachkommt, sie mit Arbeit zu versorgen.
Versetzen Sie sich jetzt in die Lage von Harry. Er stellt fest, dass sein Puffer immer leerer wird. Gleichzeitig klingt ihm das allgegenwartige Mantra Gib Gas, gib Gas im Ohr, in das er die Bedeutung Bleib bescha ftigt hineininterpretiert. Wo jeder um ihn herum wie wahnsinnig arbeitet, wird er sich hu ten, den letzten Vorgang in seinem Eingangskorb zu erledigen, um dann mit gefalteten Handen ergeben auf neuen Nachschub zu waren. Es ist leicht nachzuvollziehen, was ihn auf den Gedanken bringt, es konne die Sicherheit seines Arbeitsplatzes gefahrden, so auszusehen, als saÄ e er untatig herum. Im Kampf ums U berleben bremst Harry deshalb ab, sobald sein Puffer sich zu leeren beginnt “ vorsichtig, gerade nur so viel, dass der Vorrat an wartender Arbeit gleich bleibt. Bei einem starkeren Abbremsen wu rde er als Flaschenhals erscheinen, und das Management sahe sich veranlasst, seine Arbeitsgeschwindigkeit ins Visier zu nehmen. Um das zu vermeiden, bremst er wohldosiert. Harry ist nun 100 Prozent der Zeit u ber beschaftigt; er hat einen zutraglichen Puffer mit Arbeit, die auf ihn wartet, und er erscheint nicht als Flaschenhals. Das ist ein Rezept fu r Arbeitsplatzsicherheit; Harry tragt seinen Teil dazu bei, dass die Gib-Gas-Organisation wie geschmiert lauft, und ist so gesehen der ideale Mitarbeiter. So kommt es, dass das Gib-Gas-Mantra und der Betriebsamkeitswahn die Leute dazu bringen, langsamer statt schneller zu arbeiten. Wenn es das ist, was Sie wollen, dann nur zu!
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5 Wie Sie Eva managen Obwohl ich jahrelang eine kirchliche Privatschule besuchte, entspricht meine personliche Interpretation der Schopfungsgeschichte wohl kaum den Absichten der Nonnen. In meinen Augen ist namlich Eva die groÄ e Heldin der Geschichte. Sie ist alles, was ich an einem Menschen schatze: unersattlich neugierig, furchtlos und unerschrocken im Umgang mit Autoritaten. Vor allem aber strebt sie nach personlichem Wachstum und ist fest entschlossen, ihr Potenzial nicht nur teilweise, sondern ganz auszuschopfen. Erinnern Sie sich an die Geschichte ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Ihr wurde gesagt, sie du rfe alles im Garten Eden essen “ mit einer einzigen Ausnahme: Sie du rfe nicht vom Baum der Erkenntnis essen. Die Frucht dieses Baumes aber war kein Nahrungsmittel, sondern Einsicht. Wenn sie davon essen wu rde, wu rde sie etwas erfahren, was sie nicht wissen sollte, und das war der eigentliche Grund fu r das Verbot. Evas Reaktion auf diese Regel lieÄ an Deutlichkeit nichts zu wu nschen u brig: –Ich denk nicht dran, Juan.© Keinesfalls wu rde sie sich auf diese Weise in ihrem personlichen Wachstum beschranken lassen. Sie aÄ die Frucht und trug die Konsequenzen. Ich hoffe, ich an ihrer Stellehatte ebenso couragiert gehandelt.
Wenn Eva fur Sie arbeitet Wenn Sie ein wirklich guter Manager sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich unter Ihren Mitarbeitern auch eine oder mehrere Evas befinden. Sie und ihre Wesensverwandten sind zumindest mit ein Grund fu r Ihren Erfolg. Sie sind die Leute, die das Herz und die Seele jeder effektiven Organisation ausmachen. Nur wie in aller Welt sollen Sie sie managen? Jedenfalls nicht, indem Sie auf Ihren Status pochen. Sie konnen Eva nicht dazu bewegen, etwas zu erledigen, weil Sie als Chef der Meinung sind, dass es erledigt 34
werden muss. Sie konnen sie nicht dazu bewegen, weil Ihr Status sie nicht beeindruckt. Sie konnen ihr keine Ziele vorgeben, die sie nicht als sinnvoll empfindet. Wenn Sie ihr sagen, mach dieses Projekt bis heute Abend fertig und fu ll deinen Personalbogen aus, wird sie Sie ansehen, als waren Sie u bergeschnappt. Sie wird das Projekt durchziehen, weil es ihr wichtig erscheint, und den Personalbogen in den Papierkorb entsorgen. Wenn Sie ihr genu gend Aufgaben aufhalsen, die ihr nutzlos erscheinen, wird sie in Ku rze anderswo arbeiten. Auf gar keinen Fall konnen Sie Evas Arbeit auf eine Art und Weise organisieren, die ihre Wachstumschancen ernsthaft beschneidet. Ihr personliches Wachstum ist Eva so wichtig wie ihr Gehaltsscheck. Von ihr zu erwarten, ohne eine echte Herausforderung zu arbeiten, ware genauso absurd, wie von ihr zu verlangen, ohne Gehalt zu arbeiten. Wissensarbeiter, das ist das Besondere an ihnen, messen Herausforderungen eine ahnlich groÄ e Bedeutung bei wie dem Jahresgehalt. In diesem Punkt unterscheiden sie sich grundlegend von den Industriearbeitern, die unsere Vater vor einer Generation gemanagt haben. Wer Wissensarbeiter managt, muss deshalb den nahe liegenden, aber torichten Fehler vermeiden, ihre Andersartigkeit zu vergessen und sie nach einem Regelwerk zu behandeln, das in den Fabrikhallen des vorigen Jahrhunderts entstand.
Das Modell der gemeinnutzigen Organisation Ich hatte vor einiger Zeit die Gelegenheit, eine kleine gemeinnu tzige Organisation zu managen, in der ein GroÄ teil der Arbeit von ehrenamtlichen Mitarbeitern erledigt wurde. Von Anfang an fiel mir auf, dass es fast keine Moglichkeit gab, die Arbeit dieser Leute zu kontrollieren. Wenn man ihnen allzu lang u ber die Schulter sah oder ihnen Standards auferlegte, die von ihren Vorstellungen abwichen, lieÄ en sie die Arbeit achselzuckend liegen, so dass man sie selbst machen musste. Selbst die Kontrolle zu haben, war in ihren Augen die Belohnung fu r ihr Engagement. Wenn man Freiwilligen die Eigenverantwortung verwehrt oder die Kontrolle an sich reiÄ t, sind sie weg. Das heiÄ t nicht, dass man auf eine Qualitatskontrolle ihrer Leistungen verzichten muss. Es darf nur nicht so aussehen, als wu rde man Kontrolle ausu ben. Stattdessen gilt es, die eigenen Standards unterschwellig zu vermitteln, so dass sie sie irgendwie als ihre Standards u bernehmen. Diese Aufgabe ist vielen Managern so unheimlich, dass sie aus der Welt der gemeinnu tzigen Organisationen flu chten und in das vertraute Umfeld einer gewinnorientierten Organisation zuru ckkehren, wo die Leute das tun, was man ihnen sagt. Allerdings tun Menschen nie wirklich das, was man ihnen sagt. Der Unterschied zwischen gewinnorientierten und gemeinnu tzigen Organisationen liegt darin, dass die Mitarbeiter in der Welt der Gewinnorientierung bezahlt werden und deshalb 35
bereit sind, einen Teil der Kontrolle an ihren Chef abzugeben und zumindest ein gewisses MaÄ an Vorgaben zu akzeptieren. Aber sie geben nicht die gesamte Kontrolle ab. So viel Geld konnten Sie ihnen gar nicht zahlen. Fu r mich als Manager war das eine echte Offenbarung. Statt daru ber nachzudenken, wie viel Kontrolle Mitarbeiter an ihren Manager abzutreten bereit sind, war ich einfach davon ausgegangen, alles unter Kontrolle zu haben. In meinen Augen war es mein Job, alles zu kontrollieren, so wie es ihr Job war, meine Anweisungen auszufu hren. Es dauerte lange, bis ich erkannte, dass es anders war.
Informationskontrolle Ku rzlich traf ich bei einem Beratungsauftrag auf eine Gruppe von Prozessverbesserungsexperten, die Studien u ber das Verhalten von Fu hrungskraften durchfu hrten. Die Gruppe hatte herausgefunden, dass die untersuchten Manager bis zu 80 Prozent ihrer Zeit in Besprechungen verbrachten, und wollte nun von mir wissen, ob ich das nicht u bertrieben fand. Ich antwortete, dass ich es fu r durchaus sinnvoll halte, wenn Manager 80 Prozent ihrer Zeit mit ihren Mitarbeitern verbringen. Allerdings fande ich es schade, dass die befragten Manager diese Zeit als Besprechungen verbuchten; mir ware wohler, wenn sie Einzelgesprache mit ihren Mitarbeitern fu hren oder spontane Begegnungen mit ihnen suchen wu rden, die nicht unter den Begriff –Besprechung© fallen. Etwas verwirrt korrigierten mich die Wissenschaftler: Offenbar verbrachten die Manager 80 Prozent ihrer Zeit in Besprechungen mit anderen Leuten als ihren eigenen Mitarbeitern. Fu r ihre eigenen Leute blieben damit bestenfalls 20 Prozent der Zeitu brig. Das lieÄ die Sache natu rlich vollig anders (und keineswegs gut) aussehen. Was um alles in der Welt trieben diese Manager 80 Prozent des Tages lang? Ich fu rchte, ich weiÄ es. Die Manager verbringen ihre Zeit in Besprechungen mit Kunden, Investoren und anderen externen GroÄ en, all den verschiedenen Projektbeteiligten, die nicht direkt an sie berichten. AnschlieÄ end geben sie die gewonnenen Informationen an die Leute weiter, die im Organigramm unter ihnen angesiedelt sind. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Hierarchielinien auf dem Organigramm auch die einzigen Kommunikationskanale sind. Diese Sichtweise ist jedoch fatal. Die Hierarchielinien sind Autoritatspfade. Sie sind viel zu schmalbandig, um alle Informationen weiterleiten zu konnen, die kommuniziert werden mu ssen. In gesunden Unternehmen findet Kommunikation im weiÄ en Raum statt.
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Wenn Informationen nur und ausschlieÄ lich u ber die Hierarchielinien flieÄ en, ist das ein A-priori-Beweis dafu r, dass die Manager versuchen, alle Kontrolle fu r sich zu behalten. Das ist nicht nur ineffizient, sondern eine Beleidigung der Leute unter ihnen. Eine Eva wu rde fu r diesen Manager-Typus niemals arbeiten.
Kontrolle und perso nliches Wachstum Wenn Sie mir die Behauptung abnehmen, dass Eva primar von ihrem Wunsch nach personlichem Wachstum motiviert ist, werden Sie verstehen, warum sie allzu viel Fremdkontrolle ablehnen muss: Selbstkontrolle ist in ihren Augen die wichtigste Voraussetzung fu r ihre personliche Weiterentwicklung. Eva ist nicht unkontrollierbar, sie ist lediglich nicht vollstandig kontrollierbar. Sie mu ssen ihr einen gewissen Spielraum zugestehen, eine Gelegenheit, eigene Wege zu gehen und eigene Fehler zu machen. Die Moglichkeit, Fehler zu machen, ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Wenn sich Evas Selbstkontrolle darauf beschrankt, nur die Wahl treffen zu konnen, die auch Sie fu r sie getroffen hatten, besitzt sie keine Kontrolle. Und das weiÄ sie natu rlich. Eva lasst sich nicht fu r dumm verkaufen. Kontrolle spielt vor allem eine Rolle, wenn es um die Wahl der Arbeitsmethoden geht. Vielleicht sehen Sie sich als gestaltende Kraft der Organisation unter Ihnen und halten es fu r Ihre Aufgabe, den Losungsweg fu r jede Aufgabe vorzuzeichnen. Sollen die Finanzzahlen einfach als Spreadsheet oder als Simulationsmodell prasentiert werden? Sie befinden: als Spreadsheet. Sollen Arbeitsentwu rfe und Testplane im Intranet veroffentlicht oder in Papierform verteilt werden? Sie befinden: im Intranet. Soll jedes einzelne Arbeitsprodukt durch die Kollegen gereviewt werden? Sie befinden: ja. Aber nun nehmen wir einmal an, dass Eva und ihre Teamkollegen etwas anderes befinden. Dann ware es naiv, auch nur einen Moment lang zu glauben, die Autoritat, die Ihnen von –ganz oben© u bertragen wurde, konnte ausreichen, Ihren 37
Leuten Ihre Sichtweise aufzuzwingen. Ihre Leute gieren nach personlichem Wachstum, und die Entscheidungen, die Sie treffen, verhindern dieses Wachstum. Deshalb suchen sie nach anderen Wegen, an die Aufgabe heranzugehen. Wenn Sie einen Vertrauensvorschuss aufgebaut haben, konnen Sie vielleicht daraus Kapital schlagen, um einige Angelegenheiten, die Ihnen besonders am Herzen liegen, in Ihrem Sinne zu entscheiden. Aber nicht alle. Und der Vertrauensvorschuss ist schnell aufgezehrt, wenn Sie zu oft davon Gebrauch machen. Ich schlage deshalb das folgende Modell der Kontrollaufteilung vor: Wenn wir Kontrolle ahnlich wie das Gehalt als eine Art Wahrung betrachten, dann sollte sich die gewahrte Kontrolle proportional zum gewahrten Gehalt verhalten (jedenfalls nach auÄ en hin). Wenn zehn Leute fu r Sie arbeiten, und Sie 25 Prozent mehr verdienen als jeder von ihnen, dann bekommen Sie 125 –Kontrollpunkte© und Ihre Mitarbeiter jeweils 100. Wenn Sie Kontrolle auf diese Weise anteilig ausu ben oder auszuu ben scheinen, werden Eva und ihre Kollegen den Eindruck gewinnen, sich personlich optimal entwickeln zu konnen. Bleibt nur noch die Frage, wie Sie mit gerade mal 125 Kontrollpunkten Ihre eigenen Zielvorgaben verwirklichen konnen. Diese Aufgabe ist nicht trivial. (Aber wer hatte je behauptet, Management sei einfach?)
Eine andere Art von Spielraum Leute wie Eva zu fu hren, ist paradox: Um Kontrolle zu bewahren, mu ssen Sie Kontrolle abgeben. Sie mu ssen Ihre Autoritat so sparsam ausu ben, dass niemand merkt, dass Sie sie u berhaupt ausu ben. Sie mu ssen Ihren Mitarbeitern das sichere Gefu hl vermitteln, dass Kontrolle nicht vollstandig in Ihren Handen zentralisiert, sondern groÄ zu gig u ber Ihre ganze Organisationseinheit hinweg verteilt ist. Wie ein kluger Steuermann, der weiÄ , dass jeder Einsatz des Steuerruders einen Stromungswiderstand verursacht und das Boot verlangsamt, mu ssen Sie den Kurs so behutsam wie irgend moglich steuern. Die Spielraume, die Sie auf diese Weise fu r Eva und ihre Kollegen schaffen, sind keine zeitlichen Spielraume. Sie sind Kontrollspielraume. Fu r eine gesunde Organisation ist das eine so wichtig wie das andere.
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6 Gescha ft statt Gescha ftigkeit Wo der Autor zur Tat schreitet und die Vorteile ma»voll eingebauter Spielra ume beschreibt.
Dieses Buch enthalt etwa je zur Halfte Gebote und Verbote, Do's und Don'ts. Nach alter Vater Sitte geht es am Anfang vor allem um die Verbote. Um diese Verbotslastigkeit der ersten Kapitel etwas aufzubrechen, weiche ich in diesem Kapitel von der Gliederung ab und gebe Ihnen einen Vorgeschmack auf die Ergebnisse, die Sie erzielen konnen, wenn Sie alle oder die meisten Do's beachten und viele der Don'ts unterlassen.
Scho ne neue Welt Angenommen, Sie haben alle der bisher diskutierten Fallen ebenso vermieden wie die noch zu beschreibenden. Sie haben eine Organisation aufgebaut, die zeitliche und Kontrollspielraume explizit zulasst. Sie messen schnellen Antwortzeiten eine hohere Bedeutung bei als hektischer Betriebsamkeit. Ihre Mitarbeiter haben manchmal etwas Zeit u brig, Zeit, in der sie nicht in Arbeit ersticken. Und Sie sind kein Kontrollfreak, so dass die Evas in Ihrer Organisation die Chance haben, ein paar eigene Entscheidungen zu treffen (und vielleicht sogar ein paar eigene Fehler zu machen). All das hat Sie einiges gekostet. Sie werden deshalb wissen wollen, was Sie im Gegenzug bekommen. Die Liste der Vorzu ge, die maÄ voll eingebaute Spielraume mit sich bringen, ist kurz, aber attraktiv: ’ Flexibilitat, die Fahigkeit zur standigen Selbsterneuerung der Organisation ’ mehr Mitarbeitertreue ’ Investitionsmoglichkeiten 39
Kurzfristig betrachtet nehmen diese Vorteile nur den zweiten Rang hinter ku rzeren Antwortzeiten ein. Fu r ein Unternehmen aber, das in schnelllebigen Zeiten wendig agieren mochte, sind auf lange Sicht die drei genannten Punkte die entscheidenden. In den folgenden Abschnitten werde ich alle drei naher ausfu hren, beginnend mit Flexibilitat.
Eine Organisation im Fluss Wahrend Sie diese Worte lesen, gibt es in den oberen Etagen Ihrer Organisation vermutlich mindestens einen Manager, der eloquent die Wichtigkeit beschwort, sich verandern zu konnen. Er stellt Veranderungen als Herausforderungen dar, als den MaÄ stab fu r wirklich echte Players. Er redet u ber Flexibilitat, als ware sie der Heilige Gral. Er beschwort seine Kulis, sich jederzeit bereitwillig auf veranderte Umstande einzustellen. HeiÄ t Veranderungen willkommen, predigt er, passt euch daran an, stellt euch darauf ein, kommt damit zurecht. Und wenn er dann endlich mit seinem Peptalk fertig ist, gehen die Leute zuru ck an die Arbeit. Keine Frage, Wandlungsfahigkeit ist ein unverzichtbarer Faktor. Wie viele gute Dinge kostet sie Geld. Aber wie viel Geld? Nur so viel, wie es kostet, den Leuten, die sich jetzt von morgens bis abends in hektischer Betriebsamkeit verzetteln, einen Teil ihrer Zeit und Energie zuru ckzugeben. Wandel bedeutet Investition. Sie investieren in den Wandel,indem Sie fu r seine beiden Grundbausteine zahlen: die Konzeptionierung (oder den Entwurf) und die Umsetzung. Diese Arbeit kann normalerweise nicht von einem Elitekorps aus Veranderungsspezialisten erledigt werden, sondern muss genau von den Menschen erbracht werden, die von der Veranderung betroffen sind. Der Grund dafu r liegt auf der Hand: Wandel ist keine Hau-Ruck-Aktion “ wo Veranderungen nur passieren, wenn die Veranderungsspezialisten die Zeit dafu r finden, ist der unternehmerische Tod nicht weit. Die Fahigkeit, sich verandern zu konnen, muss ein organischer Bestandteil der Organisation sein. Veranderungen mu ssen standig und u berall passieren. Jeder muss sich dafu r zustandig fu hlen. Das heiÄ t, jeder Mitarbeiter muss Gelegenheit haben, sich mit dem Thema Veranderung zu befassen: Zeit, in der er daru ber nachdenkt, was seine Arbeit zum groÄ en Ganzen beitragt und was sie beitragen sollte. Ist die Veranderung auf den Weg gebracht, wird erneut Zeit benotigt, um neue Moglichkeiten zu erproben und neue Fertigkeiten zu perfektionieren. Das ist die Kostenseite. Auf der Ertragsseite stehen Vitalitat und Zukunftsfahigkeit. Spielraume sind Investitionen in den Wandel. Sie sind operative Ressourcen, die im Interesse der langfristigen Gesunderhaltung geopfert werden.
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Humankapital Gesunde Wissens-Unternehmen halten ihre Mitarbeiter. Natu rlich ist Ihnen klar, wie wichtig es ist, Ihre besten Leute zu halten. SchlieÄ lich kann der Verlust eines oder mehrerer dieser Schlu sselspieler ein gesamtes Projekt oder die Ergebnisse eines ganzen Berichtszeitraums gefahrden. Wenn ich Manager u ber Mitarbeiterbindung diskutieren hore, beschleicht mich immer das ungute Gefu hl, dass viele von ihnen ihre Anstrengungen allein darauf ausrichten, ihre Spitzenleute bei Laune zu halten. Aber es kommt nicht nur auf die Spitzenleute an. Es kommt auf jeden an. Das heiÄ t nicht, dass jeder kompetent ist oder dass niemand je versetzt, entlassen oder ermutigt werden sollte, sich anderswo umzusehen. Grundsatzlich jedoch bedeutet jede Ku ndigung aus eigenem Wunsch einen Verlust fu r die Organisation. In Kapitel 4 habe ich erlautert, warum Mitarbeiter nicht fungibel sind: Sie lassen sich nicht gut aufteilen, und es ist nicht einfach fu r sie, unterschiedliche Arten von Aufgaben zu bewaltigen und tage- oder gar stundenweise zwischen Projekten hin- und herzuwechseln. Das liegt unter anderem daran, dass zu den Kernfahigkeiten eines Wissensarbeiters auch Domanenwissen gehort. Ganz gleich, ob ein Mitarbeiter Designer, Produktmanager, Programmierer, Autor, Berater oder was auch immer ist: Er verfu gt erstens u ber eine Menge von Fachkenntnissen und zweitens u ber explizites Wissen u ber das Gebiet, auf das er seine Fachkenntnisse anwendet. Fachkenntnisse allein reichen nicht aus. Wissensarbeiter brauchen auch Domanenwissen. Je wichtiger das Domanenwissen ist, desto weniger fungibel sind die Mitarbeiter. Das heiÄ t: Sie konnen sie nicht in Stu cke zerteilen. Und das heiÄ t auch, Sie konnen sie nicht leicht durch andere Leute ersetzen, wenn sie das Unternehmen verlassen. Am besten betrachten Sie Domanenwissen als unternehmerischen Vermogenswert. Es stellt eine finanzielle Investition dar, die sich im Kopf jedes Wissensarbeiters befindet und durch Investitionen der Firma in diesen Mitarbeiter dorthin gelangt ist. Verlasst der Mitarbeiter das Unternehmen, nimmt er den Vermogenswert mit. Wenn Sie Ihr Humankapital buchhalterisch verwalten wu rden, mu ssten Sie bei jeder Ku ndigung eines Ihrer Mitarbeiter einen hohen Verlust ausweisen, um den Wert des entsprechenden Aktivpostens abzuschreiben.
Welchen Wert besitzt das Humankapital? Es lohnt sich, das Humankapital, das Ihre Mitarbeiter darstellen, minutios genau zu berechnen. Gehen Sie von einem durchschnittlichen Mitarbeiter in Ihrer Gruppe aus. Ich werde ihn Orin nennen. Natu rlich konnten wir den Wert von Orins Domanenwissen abschatzen, indem wir seinen Wissenserwerb im Lauf der Jahre 41
verfolgen und den Teil seines Gehalts und seiner Gehaltsnebenkosten, der fu r seine Wissenserweiterung auf gewendet wurde, als Kapital veranschlagen (den Rest wu rden wir als Kosten behandeln). Statt uns dieser mu hsamen U bung zu unterziehen, greifen wir zu einem Trick und stellen eine Naherungsrechnung an: Angenommen, Orin entschlieÄ t sich zu ku ndigen. Er tanzt eines Tages bei Ihnen an und informiert Sie, dass er zum Monatsende gehen wird. Da sein Job sich auch ku nftig nicht von selbst erledigen wird, setzen Sie alles daran, einen Ersatz fu r ihn zu finden. Sagen wir, der Ersatzmitarbeiter heiÄ t Oliver. Oliver fangt am Tag, nachdem Orin das Unternehmen verlassen hat, neu bei Ihnen an. Ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass Oliver an seinem ersten Tag im Prinzip unproduktiv ist. Er ist zunachst ausschlieÄ lich damit beschaftigt, sich zu orientieren (auch das gehort zum Erwerb von Domanenwissen). Eigentlich ist er mehr als unproduktiv, denn um sich einzuarbeiten, nimmt er die Zeit anderer Leute in Anspruch. Irgendwann in der Zukunft werden Sie zu dem Schluss kommen, dass Oliver genug gelernt hat, um genauso produktiv zu sein, wie Orin es war. Wann dieser Zeitpunkt kommt, hangt davon ab, wie einzigartig Ihre Domane ist und wie stark sie sich von Olivers fru herer beruflicher Aufgabe unterscheidet. Wenn Ihre Gruppe in einem 08/15-Versicherungsunternehmen die Pensionsanspru che berechnet, und Ihr Oliver schon vorher fast die gleiche Arbeit in einem ganz ahnlichen Umfeld bei einem Ihrer Mitbewerber erledigt hat, wird er vermutlich innerhalb eines Monats voll eingearbeitet sein. Wenn Sie dagegen ein Telekommunikationsunternehmen sind, das wie einer meiner Kunden spezielle Pocket-Sniffer-Programme entwickelt, und Oliver nur einen allgemeinen Hintergrund in Kommunikationsprotokollen besitzt, kann es gut und gern zwei Jahre dauern, bis Oliver die gleiche Leistung erbringt wie Orin vor seinem Weggang. Schatzen Sie so genau wie moglich ab, wie lange Oliver brauchen wird, um mit Orin voll und ganz gleichzuziehen. Dru cken Sie das Ergebnis in Monaten aus. Jetzt konnen Sie meine Naherungsrechnung anstellen: Humankapital = (Zeit bis zum Erreichen der vollen Produktivitat) X (Gehalt + Gehaltsnebenkosten) X 50%
Oliver bringt am ersten Tag dieses Zeitraums 0 Prozent produktive Leistung und am letzten Tag 100 Prozent produktive Leistung. Deshalb habe ich eine einfache lineare Annahme u ber seine stetig wachsende Produktivitat innerhalb des Zeitraums zugrunde gelegt. Wenn Oliver also sechs Monate braucht, um seine volle Produktivitat zu erreichen, dann betragt Ihre Investition in sein Domanenwissen 50 Prozent davon oder drei Personenmonate. Andersherum betrachtet: Als Orin das Unternehmen verlieÄ , belief sich Ihr Kapitalverlust nach dieser Rechnung auf drei Personenmonate. 42
Gesamthumankapital und Kapitalabfluss Nehmen Sie einen Moment lang an, Sie hatten in alle Ihre Mitarbeiter ein ahnlich hohes Humankapital investiert wie in Orin. Multiplizieren Sie den Abschreibungsverlust eines Orin mit der Zahl der Orins in Ihrem Unternehmen. Das Ergebnis ist Ihr Gesamthumankapital. Ein Beispiel: Zahl der Wissensarbeiter Durchschnittliche Einarbeitungszeit Durchschnittliche Kosten je Personenmonat (plus Nebenkosten) Gesamthumankapital
30 Mitarbeiter 6 Monate $ 7.500 30 X 6 X $ 7.500 X 50% = $ 675.000,00
A hnlich konnen Sie auch die Rate berechnen, mit der wegen des Personalverlusts Kapitalvermogen aus Ihrer Organisation abflieÄ t. Multiplizieren Sie die Personalfluktuation in den letzten Monaten mit dem Humankapital einer Person: Kapitalabfluss = AusscheidenOrin X (% Personalfluktuation je Monat)
Bei einer Personalfluktuation von jahrlich 24 Prozent (monatlich 2 Prozent) betragt der Kapitalabfluss $ 13.500 im Monat. Wenn es einganzes und nicht nur ein halbes Jahr dauert, bis Orin seine volle produktive Leistung erreicht, verdoppelt sich der Kapitalabfluss durch Personalfluktuation auf $ 27.000 im Monat. Das sind 12 Prozent Ihres gesamten Personalbudgets (30 X $ 7.500). Um Ersatz fu r verloren gegangenes Humankapital zu beschaffen, mu ssen Sie also zwolf Prozent Ihrer gesamten Produktivitatskapazitat aufwenden. Nichts davon kommt der produktiven Arbeit zugute. Sie sehen, ein anhaltender Abfluss von Humankapital kann eine erhebliche Belastung Ihrer Leistungsfahigkeit bedeuten. Bisher bezieht sich die Analyse auf eine Organisation, die in einem relativ ruhigen Fahrwasser steuert. In Zeiten des Wandels ist der Verlust an Humankapital noch hoher. Wann immer Sie in einer Organisation Veranderungen durchfu hren, schlagen sich die Kosten fu r den Wandel als erhohtes Humankapital in den Kopfen der Leute nieder, die den Wandel implementieren. Deshalb kostet das Ausscheiden eines Mitarbeiters in einer Phase des Wandels bis zu doppelt so viel wie in einer ruhigen Phase. Bevor wir uns der Beziehung zwischen Spielraumen und Personalfluktuation zuwenden, mochte ich noch auf den Spezialfall von Organisationen eingehen, 43
die Projektarbeit leisten. Bei Projekten funktioniert die Berechnung der Fluktuationskosten etwas anders. Erstens ist der Umfang des erforderlichen Domanenwissens groÄ er, weil es gleich zwei wichtige Domanen zu beherrschen gilt: das Geschaftsfeld, das im Zentrum des Projekts steht, und das Projekt selbst (zum Beispiel seine Technologie). Da Projekte in nicht allzu ferner Zukunft ihr absehbares Ende finden werden, kann ein zeitlich ungu nstiger Verlust von Projektmitarbeitern sich noch ungu nstiger auswirken: Das Projekt muss die Gesamtkosten fu r den Humankapitalersatz tragen, die aufgrund der Ku ndigung eines Projektmitarbeiters anfallen “ obwohl die Einarbeitungszeit womoglich langer dauert als das Projekt selbst. Aus der Sicht der Organisation als Ganzes mag es u beraus sinnvoll sein, einen Orin zu ersetzen, der Sie gegen Ende Ihres Projekts verlasst, wahrend es aus der Sicht des Projekts alles andere als sinnvoll ist. Sie als Projektmanager erkennen vielleicht, dass Sie das Projekt fru her abschlieÄ en konnen, wenn Sie sich ohne einen Orin-Ersatz bis zum Ende schleppen. Die Last, einen Oliver einzuarbeiten, zahlt sich moglicherweise in der kurzen Phase zwischen seinem Eintritt und dem Projektende nicht aus. All das erklart, warum selbst der Verlust eines Mitarbeiters, der nicht zu den Spitzenleuten zahlt, die Effektivitat des Projekts schwer belasten kann. Bei manchen Unternehmen innerhalb einer Branche ist die Personalfluktuation oft drei- bis viermal so hoch wie bei anderen. Denjenigen mit haufig wechselndem Personal macht ein riesiges Handicap zu schaffen. Aber was konnen sie dagegen tun?
Dem Abfluss Einhalt gebieten Die Gru nde, warum Menschen ku ndigen oder nicht ku ndigen, sind so vielfaltig wie die Menschen selbst. Ein Merkmal ist jedoch vielen Ku ndigungsgesprachen gemeinsam: der unausgesprochene Vorwurf, die ausscheidende Person habe sich benutzt gefu hlt. Damit stehen wir vor einem gefahrlichen Paradoxon: Je erfolgreicher ein Unternehmen aus seinen Mitarbeitern auch noch das letzte Quantchen Leistungskraft herausholt, desto anfalliger wird es fu r Personalfluktuation und den damit verbundenen Verlust an Humankapital. Bleiben die Mitarbeiter dagegen dem Unternehmen treu, ist personliches Wachstum oft der Koder, der sie lockt. Die Wendigkeit der Organisation, ihre gesunde Fahigkeit, Veranderungen offen zu begegnen, ist ein wichtiger Faktor, solche Wachstumschancen fu r den Einzelnen zu schaffen. Natu rlich spielen daneben auch andere Dinge eine Rolle. Manager, die ihre Mitarbeiter zu auÄ ergewohnlicher Loyalitat inspirieren, sind haufig auffallend charismatisch, humorvoll, gut aussehend und groÄ gewachsen. Kultivieren Sie diese Eigenschaften. Wenn Sie meinen, keinen dieser Faktoren nennenswert verbessern zu 44
konnen, u berlegen Sie, ob Sie Ihre Leute zum Bleiben motivieren konnen, indem Sie wieder mehr Spielraum in ihr Leben bringen.
Die Fa higkeit der Organisation, in sich zu investieren Bisher habe ich zwei Investitionsarten angesprochen: die Kosten des Wandels und das Humankapital in Form von Domanenwissen. Beides wird bei herkommlicher Bilanzierung normalerweise nicht als Investition betrachtet. So zutreffend also meine Verwendung des I-Worts auch sein mag, sie entspricht keinem einzigen gangigen Standard. Die meisten Menschen verstehen unter Investition einen Transfer von Cash oder flu ssigen Mitteln in eine weniger liquide Kapitalanlage, die Buchhalter guten Gewissens als Investition verbuchen konnen. So tatigt Ihr Unternehmen zum Beispiel Investitionen, wenn es verfu gbares Bargeld einsetzt oder Schulden macht, um eine neues Bu rohochhaus fu r die Zentrale zu bauen. Es investiert, wenn es eine andere Firma kauft, in einen bisher unerforschten Marktbereich vorstoÄ t oder eine neue Produktlinie ins Leben ruft. Um diese konventionellere Form des Investierens geht es in diesem Abschnitt. Sie dient mir als Ausgangspunkt, u ber die Fahigkeit der Organisation zu sprechen, in sich selbst statt in andere zu investieren. So wie ich es definiere, investieren Sie in sich, wenn Sie Ihre Prasenz in einem Markt erweitern oder vergroÄ ern, der Ihnen zum Teil schon gehort. Dagegen investieren Sie in andere, wenn Sie sich in einen Markt einkaufen, in dem Sie bisher weder vertreten waren noch die internen Kapazitaten fu r einen entsprechenden VorstoÄ besaÄ en. Ein paar Beispiele: Microsoft investierte in sich, als es Windows-NT entwickelte; der Autohersteller Ford investierte in sich, als er Volvo aufkaufte; das Unternehmen Beatrice Foods investierte in andere, als es Morgan Yachts kaufte; IBM investierte in andere, als es Lotus kaufte. Es ist u beraus sinnvoll, in andere zu investieren, wenn Sie Ihren Markt bereits gesattigt oder nahezu gesattigt haben. General Electric und Disney, um zwei sehr erfolgreiche Beispiele zu nennen, tun das standig. In vielen GroÄ konzernen sind solche Fremdinvestitionen die spezielle Aufgabe des Vorstandsvorsitzenden. Dagegen ist nichts zu sagen. Etwas anders sieht die Sache jedoch aus, wenn kleinere Unternehmen auÄ erhalb ihres eigenen Produktbereichs investieren. Fu r mich ist das eine schopferische Bankrotterklarung. Solche Investitionen kommen vor allem vor, wenn Unternehmen wegen ihres gestiegenen Aktienkurses plotzlich zusatzliche Mittel zur Verfu gung haben. Die Bereitwilligkeit eines Unternehmens, diesen unerwarteten Kapitalzufluss auÄ erhalb des eigenen Hauses auszugeben, ist ein Signal dafu r, dass es keine echte Vision hat, keine Idee, wie es in dem Bereich wachsen konnte, den es am besten kennt. –Schopferische Bankrotterklarungen© sind oft eine Folge des Versaumnisses, die Ressourcen aufzubieten, die der Kreativitat den Boden bereiten. Die wichtigste 45
Ressource fu r Kreativitat sind Spielraume. Wenn Unternehmen nicht mehr schopferisch sind, liegt das haufig daran, dass ihre Leute sich in hektischer Betriebsamkeit verzetteln.
Ein gesparter Penny... Menschen, deren Aufgabe es ist, die Effizienz eines Unternehmens zu steigern, indem sie Spielraume abschaffen, rechtfertigen ihr Tun oft mit dem Verweis auf das Nettoergebnis. Ein gesparter Penny, argumentieren sie, ist ein verdienter Penny. Sie glauben dem Sprichwort, weil sie es wieder und immer wieder gehort haben. Mit einem flauen Gefu hl im Magen will ich nun diese jahrhundertealte Weisheit in Frage stellen und das pure Gegenteil behaupten: «Ein gesparter Penny ist kein verdienter Penny.Ü Jedenfalls nicht jeder gesparte Penny. Eine Beschneidung der diesjahrigen Aufwendungen fu r die Firmenyacht mag sich zugegebenermaÄ en direkt auf das Nettoergebnis auswirken. Eine Beschneidung der Ausgaben fu r Forschung und Entwicklung lasst sich damit jedoch nicht vergleichen. Weil die Ausgaben fu r F&E eine Investition darstellen, fu hren Ku rzungen in diesem Bereich lediglich dazu, den Gewinn des nachsten Jahres auf dieses Jahr zu transferieren. Sie erhohen moglicherweise das diesjahrige Nettoergebnis, verringern aber die Gewinne des nachsten Jahres und vieler Jahre danach. Der aktuelle Wert des ku nftigen Ertragsflusses ist fast immer erheblich hoher als die diesjahrigen Kosten “deshalb investieren Sie ja in F&E. Ein Penny, der auf Kosten irgendeiner Investition eingespart wird, ist niemals ein verdienter Penny. Spielraume sind eine Art Investition. Organisationen, die gut im Geschaft sind, haben gelernt, sie als solche (und nicht als Verschwendung) zu betrachten. Alle anderen verzetteln sich in hektischer Geschaftigkeit. Das ist der entscheidende Unterschied.
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Teil II: Haben uns verirrt, kommen aber gut voran
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Vor ein paar Jahren lief mir bei einer Computerkonferenz in Austin, Texas, mein Freund und Kollege Capers Jones in der Hotellobbyu ber den Weg. Wir suchten uns zwei tiefe Sessel und gonnten uns fu r eine Stunde den Luxus, einander u ber unsere ju ngsten GroÄ taten zu informieren und den neuesten Klatsch auszutauschen. Capers ist der Gru nder einer inzwischen renommierten Firma, die auf die Zeit- und Kostenplanung komplexer Entwicklungsprojekte spezialisiert ist. DasUnternehmen stellt eine progressive Linie parameterbasierter Analysewerkzeuge her. Capers zog einen Laptop aus der Tasche und fu hrte mir mitten in der Hotelhalle eine beeindruckende Demo seiner ju ngsten Programmversion vor. Das Werkzeug stellt dem Benutzer eine Reihe von Fragen u ber sein Projekt und schlagt dann mogliche Zeitplane, Personalauslastungsdiagramme, Projektmeilensteine und ahnliches vor. In der Interview-Phase holt die Software Informationen daru ber ein, was optimiert werden soll. Dafu r gibt es zwei Schaltknopfe: 1. Zeit minimieren oder 2. Kosten minimieren Sie konnen entweder das eine oder das andere wahlen. –Meine Klienten kommen mit dieser Alternative einfach nicht klar,© erzahlte mir Capers. –Sie beharren darauf, beides minimieren zu wollen, sowohl die Zeit als auch die Kosten.© Capers pflegt in solchen Fallen geduldig zu erklaren, dass es unmoglich ist, zwei voneinander abhangige Variablen gleichzeitig zu minimieren. Man konne eine gewichtete Kombination der beiden minimieren, erlautert er seinen Kunden, es mache jedoch keinen Sinn ... aber noch ehe er so weit kommt, beginnen ihre Augen, glasig zu werden. –Ich hatte gute Lust© , sagte er mir, –einen dritten Schaltknopf einzubauen mit der Bezeichnung, Zeit UND Kosten minimierenÖ. Das ist natu rlich “logisch betrachtet “ absurd, aber anscheinend brauchen die Kunden diese Wahlmoglichkeit. Das Werkzeug mu sste dann eben eine sinnvolle Annahme u ber die relative Gewichtung beider treffen.© Das Bedu rfnis nach diesem dritten Schaltknopf verrat uns eine mehr als traurige Wahrheit u ber das Management unserer Tage: Manager aller Wirtschaftszweige sind einem enormen Druck ausgesetzt, alles immer noch schneller und billiger zu erledigen “also sowohl Zeit als auch Kosten zu minimieren. Logisch absurd oder nicht, das ist die Losung, die an sie ausgegeben wurde und mit der sie zurechtkommen mu ssen. Wenn Sie zwischen zwei sich gegenseitig ausschlieÄ enden Zielen hin- und hergerissen sind, die beide gnadenlos durchgezogen werden mu ssen, ist Stress das unvermeidliche Ergebnis. Manager stehen allenthalben unter Stress, und Stress ist, wie wir alle wissen, eine Belastung fu r unsere Gesundheit, unsere menschlichen Beziehungen und unser Urteilsvermogen. Das ist die Wirkung von Stress auf den Einzelnen. Weniger gut bekannt ist die Wirkung von Stress auf Organisationen. In den folgenden Kapiteln befassen wir uns deshalb mit gestressten Organisationen und den Symptomen und Verhaltensweisen, die fu r 48
sie typisch sind. Zu diesen Symptomen und Verhaltensformen gehoren: nachlassende Gesundheit, scheiternde Beziehungen (zu Kunden und Mitarbeitern) und jede Menge lausiger Entscheidungen. Wenn Stress das Problem ist, sind Spielraume die Losung. So gesehen ist organisatorischer Stress nichts anderes als ein Zeichen fu r fehlende Spielraume. Weil es ihnen an den dringend benotigten Spielraumen mangelt, werden Organisationen kopflos, nervos und risikofeindlich, und ihre wichtigsten Mitarbeiter wandern ab und suchen sich einen vernu nftigeren Arbeitsplatz.
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7 Die Kosten von Druck Die Gib-Gas-Organisation steht unter Dauerdruck. Und Sie als Manager tragen “ bewusst oder unbewusst “ zu diesem Druck bei. SchlieÄ lich sind Sie selbst einem enormen Druck ausgesetzt, warum sollten Sie ihn also nicht an die Leute weitergeben, die in der Hierarchie unter Ihnen stehen? U brigens erhohen Sie in dem MaÄ e, in dem Sie selbst Druck zu akzeptieren und sogar zu genieÄ en scheinen, auch den Druck, der auf Ihren Managerkollegen lastet: Ihre Peers konnen nicht zulassen, als weniger belastbar zu gelten als Sie. Sie u ben auf Ihre Mitarbeiter auf unterschiedliche und unterschiedlich offensichtliche Weise Druck aus, zum Beispiel indem Sie: § die Daumenschrauben bezu glich der Liefertermine anziehen (aggressive Terminplanung), § Mitarbeiter mit Extraarbeiten belasten, § gerne U berstunden sehen, § verargert reagieren, wenn Ihre Erwartungen enttauscht werden, § das auÄ ergewohnliche Engagement eines Mitarbeiters bemerken und in Gegenwart anderer herausheben, § nur erstklassige Leistungen gelten lassen, § GroÄ es von all Ihren Mitarbeitern erwarten, § sich u ber jede scheinbare Zeitvergeudung ereifern, § selbst mit gutem Beispiel vorangehen (wenn sich schon der Chef so reinhangt, ist fu r Schlendrian unter den Mitarbeitern erst recht keine Zeit), § gewu nschte Verhaltensweisen oder Ergebnisse durch Motivationsanreize fordern. Motivationsanreize fu r Wissensarbeiter sind in meinen Augen ein trauriger Hinweis darauf, dass das Management keine Ahnung von Management hat. Erstens sind die Anreize fu r gewohnlich ziemlich mickrig: Haltet den Termin und jeder im Team bekommt 5000 Bonusmeilen gutgeschrieben, fu r die er Reisen oder andere Annehmlichkeiten eintauschen kann. Gahn. Die Sache sahe anders aus, wenn ein paar Millionen Dollar als Preis ausgesetzt waren, die unter den sechs Leuten aufgeteilt werden, die das Projekt noch vor Abgabetermin unter Dach und Fach 50
gebracht haben. Wobei sich allerdings die interessante Frage stellt, auf welch unorthodoxe Ideen ein solcher Preis die Mitarbeiter bringen mag, um als Erste ins Ziel zu kommen. Aber Bonusmeilen? Eine Plakette? Eine Dankesurkunde? Leere Ehrungen wie –Mitarbeiter des Monats© oder –Team des Monats© ? Ich bitte Sie. Anreize dieser Art ermutigen keine Verhaltensanderungen bei den Menschen, fu r die sie ersonnen wurden. Stattdessen erhohen sie den Druck, weil sie die laute und klare Botschaft senden, dass das Management Mitarbeiter sehen will, die sich ins Zeug legen. Aber Moment mal, nicht so schnell. Bewirkt erhohter Druck nicht automatisch eine Verhaltensanderung? Druck rauf und Verhalten unverandert? Ist das u berhaupt moglich? Aber sicher. Darauf will ich ja gerade hinaus. Die meisten MaÄ nahmen zur Erhohung von Druck bewirken nicht die geringste sinnvolle Verhaltensanderung. Mehr als mein halbes Managerleben lang hatte ich mich heftig gegen diese Behauptung gewehrt. Ich erwarte deshalb nicht, dass Sie sie bereitwillig schlucken werden. Aber lesen Sie weiter ...
Druck und seine Folgen: Ein Modell Stellen Sie sich vor, Sie hatten anstelle der indirekten und raffinierten Moglichkeiten, mit denen Sie Druck ausu ben, eine sehr direkte und unraffinierte: einen riesigen Hebel neben Ihrem Schreibtisch. Wenn Sie den Hebel nach unten dru cken, nimmt der Druck auf alle Ihre Mitarbeiter zu. Wenn Sie ihn losen, wird der Druck gesenkt. Wenn Sie den Hebel ganz durchdru cken, u ben Sie den maximal moglichen Druck aus. Mit welcher Taktik wu rden Sie den Hebel bedienen? Wahrend Sie sich u berlegen, ob Sie den Hebel eher in die eine oder die andere Richtung dru cken, beschleicht mich der Verdacht, dass Ihnen irgendwo in Ihrem Kopf eine leise Stimme rat, das verdammte Ding bis zum Anschlag durchzudru cken und ein fu r alle Mal in dieser Position einzurasten. Genau genommen ist das nicht Ihre Stimme, die da spricht, sondern die Ihrer Firma. Immer mehr Unternehmen glauben namlich an das Ammenmarchen, dass Druck Leistungsverbesserungen bewirkt und dass maximale Leistungen nur mit maximalem Druck erzielbar sind. Dieser Gedanke ist zwar ein Teil unserer Leitkultur, halt aber einer naheren Betrachtung nicht stand. Um Licht in die Sache zu bringen, biete ich Ihnen das folgende Gedankenexperiment an: Angenommen, Sie wissen, dass Ihr Team aus drei Leuten fu r die Fertigstellung eines gegebenen Projekts ohne jeden Druck exakt 12 Monate brauchen wu rde. AuÄ er der Anweisung –Sagt mir Bescheid, wenn ihr fertig seid© geben Sie Ihren Mitarbeitern in diesem Szenario keine weiteren Motivationsanreize. Und tatsachlich: Sie sind in 12 Monaten fertig. Nehmen wir weiter an, dass Sie auf eine Zahl absolut identisch befahigter Teams zuru ckgreifen konnen, die nichts von der Existenz der anderen Teams wissen. Sie 51
betrauen nun einen Teil dieser Teams mit der jeweils gleichen Aufgabe, wobei Sie, das ist das Experiment, den Druck von Experiment zu Experiment variieren. Sie notieren die Position des Druckhebels und setzen diese GroÄ e in Beziehung zur erbrachten Leistung (Monate bis zum Projektabschluss). Wenn Sie ein paar hundert Versuche durchgefu hrt haben, zeichnen Sie die Ergebnisse wie unten dargestellt in einem Koordinatensystem mit den Achsen Druck und Zeit bis zur Fertigstellung ein. Jeder Punkt des Graphen reprasentiert eine Arbeitsleistung. Anfangs haben Sie nur einen Datenpunkt:
Die Wirkung von Druck auf die Fertigstellungszeit
Bevor Sie weiterlesen, mochte ich Sie einladen, sich vorzustellen, wie der Graph aussehen wird, nachdem Sie die anderen 99 Punkte hinzugefu gt haben. Welche Form wird er haben? Wird die Fertigstellungszeit mit zunehmendem Druck sinken? Wenn ja, um wie viel? Sind die potenziellen Zeiteinsparungen begrenzt? (Ich habe Ihnen kaum etwas u ber die Projektinhalte gesagt, aber denken Sie daran, es handelt sich um Wissensarbeit.) Wird es moglich sein, durch den Einsatz von Druck die Fertigstellungszeit um 25 Prozent oder mehr zu senken? Was passiert, wenn Sie den Hebel immer weiter durchdru cken, auch wenn Sie langst die Hebeleinstellung gefunden haben, die die Fertigstellungszeit auf ein Minimum sinken lasst? Ist es moglich, zu viel Druck auszuu ben? Ist es moglich, so viel Druck auszuu ben, dass die Arbeit mehr als 12 Monate in Anspruch nehmen kann? Bevor ich Ihnen meine Antwort darauf zeige, wollen wir kurz u berlegen, wie der Graph nach der gangigen Meinung aussehen mu sste. Ich zeige Ihnen diesen Graphen ohne innere U berzeugung; genauer gesagt, ich halte ihn fu r falsch, falsch, grundfalsch. Aber egal, so sieht er aus:
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Falsch, falsch, grundfalsch
In dieser Ansicht scheint Druck eine enorme Wirkung zu haben: Er kann die Fertigstellungszeit um 50 Prozent oder mehr senken. Wenn Menschen eine Aufgabe ohne Druck in zwolf Monaten erledigen konnen, konnen sie nach diesem Modell das gleiche Pensum bei entsprechend hohem Druck womoglich in fu nf Monaten bewaltigen. Eine Erhohung des Drucks u ber diesen Punkt hinaus bewirkt keine zusatzliche Leistungssteigerung, weil die Leute bereits mit Hochstgeschwindigkeit arbeiten. Aber noch mehr Druck schadet auch nicht. Ist der Punkt u berschritten, an dem die verstrichene Zeit ihr Minimum erreicht, verlauft die Kurve im Wesentlichen glatt. Das ist praktisch, denn die optimale Druckstarke lasst sich nur schwer exakt bestimmen; dem Modell zufolge ist zu viel Druck jedenfalls besser als zu wenig. Als Konzession an emsige Erbsenzahler gibt das Modell widerwillig zu, dass ein wirklich exzessives MaÄ an Druck (das rechte, auÄ ere Ende des Graphen) tatsachlich einen Leistungsabfall verursachen kann. Wenn Sie vollig ohne Sinn und Verstand handeln, ist es moglich, dass Ihre Mitarbeiter rebellieren und ihre Arbeitsgeschwindigkeit zu drosseln beginnen.
Eine verbluffende Einsicht Waren Ihre Mitarbeiter Galeerensklaven und Ihr Hebel eine Peitsche, so wu rden Sie vielleicht erwarten, dass das Schwingen der Peitsche sie dazu bringen wu rde, schneller zu arbeiten. Je mehr sie gepru gelt werden, desto schneller rudern sie, bis sie einfach nicht mehr schneller rudern konnen, weil sie die Grenzen ihrer Leistungskraft erreicht haben. Das bestatigt mehr oder weniger das soeben
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diskutierte Verhaltnis zwischen Druck und Arbeitsgeschwindigkeit, jedenfalls soweit es Galeerenstraflinge anbetrifft. Aber die Leute, die fu r Sie arbeiten, sind keine Galeerenstraflinge, sondern Wissensarbeiter. Ich werde Ihnen gleich eine verblu ffende Erkenntnis u ber Wissensarbeiter und ihren Unterschied zu Galeerenstraflingen enthu llen. Von diesem Moment an wird es Ihnen schwer fallen, sich vorzustellen, dass Ihnen diese Erkenntnis nicht schon Ihr ganzes Leben lang bekannt war. Sie werden sich einreden, sie ware Ihnen schon immer bekannt gewesen. (Allerdings stellt sich dann die Frage, warum Sie so schnell bei der Hand waren, Druck auszuu ben.) Die verblu ffende Einsicht verdanke ich meinem Freund und Kollegen Tim Lister: «Menschen unter Zeitdruck denken nicht schneller.Ü Die Denkgeschwindigkeit ist unveranderlich. Ganz gleich, was Sie tun, ganz gleich, wie sehr Sie sich anstrengen, Sie konnen die Denkgeschwindigkeit nicht beschleunigen. Listers verblu ffende Einsicht besagt, dass das Galeerenstraflingsmodell fu r Wissensarbeiter vollkommen falsch ist. Weil Wissensarbeiter die Rate der elementaren mentalen Entscheidungen (Grundeinheiten der Wissensarbeit) pro Sekunde nicht verandern konnen, konnen sie auf Druck nur sehr begrenzt reagieren. Sie konnen allenfalls § Zeitverschwendung vermeiden, § Aufgaben verschieben, die nicht auf dem kritischen Pfad liegen, § abends langer bleiben. Na gut, denken Sie vielleicht, es ist zwar zu dumm, dass Wissensarbeiter die Arbeitsgeschwindigkeit nicht steigern konnen. Abgesehen davon aber klingen die drei Verhaltensanderungen, mit denen sie auf Druck reagieren, doch sehr konstruktiv. Gegen die Vermeidung von Zeitverschwendung zum Beispiel gibt es ja nun wahrlich nichts einzuwenden. Dem stimme ich zu. Aber wahrend die Verhaltensanderungen in die richtige Richtung weisen, ist die GroÄ enordnung ihrer Wirkung beschrankt. Der Grund dafu r: In einer gesunden Wissensorganisation verschwenden die Leute ohnehin kaum Zeit, denn Zeitverschwendung ist ihnen ebenso verhasst wie ihrem Management. Zeitverschwendung bedeutet ihnen mehr Frust als Freude. Aber wenn sie schon ohne Druck kaum Zeit vergeuden, konnen sie an diesem Punkt trotz des zunehmenden Drucks nicht viel verbessern. Genauso wenig neigen Wissensarbeiter dazu, Aufgaben in der falschen Reihenfolge zu bearbeiten; dafu r ziehen sie aus der souveranen Erledigung einer Aufgabe viel zu viel Befriedigung. Diese Motivation reicht, sie auf dem kritischen Pfad zu halten. Etwas Druck kann deshalb allenfalls das Zeitmanagement und die Konzentration auf den kritischen Pfad geringfu gig verbessern. Ganz anders sieht die Sache bei U berstunden bis in den spaten Abend hinein aus. Kurzfristig konnen sie eine geradezu beeindruckende Wirkung zeigen: Wenn ein 54
Mitarbeiter an einem Tag zum Beispiel bis Mitternacht bleibt, schafft er an diesem speziellen Tag vielleicht wirklich zweimal so viel wie an einem normalen Tag. Aber die Wahrscheinlichkeit, durch weitere U berstunden am nachsten und u bernachsten Tag genauso viel Boden zu gewinnen, ist ziemlich gering. Auf jeden Fall kann selbst der engagierteste Mitarbeiter im Lauf der Monate nicht annahernd genug Zusatzarbeit leisten, um die Art von Leistung zu erbringen, die das Galeerenstraflingsmodell nahe legt. Dafu r ist der Tag einfach zu kurz. Daru ber hinaus wird der zunehmende Druck durch Familie und Privatleben sehr schnell wieder fu r das rechte Gleichgewicht sorgen.
Ein besseres Modell Der folgende Graph zeigt meiner Meinung nach das Zusammenspiel von Druck und Leistung realistischer:
Hier sehen wir, dass Druck die Zeit bis zum Projektabschluss allenfalls um 10 bis 15 Prozent verku rzt. Und allzu viel Druck kann schnell zu einem Leistungsabfall fu hren. Das Modell unterteilt sich in drei Bereiche: § In Bereich I reagieren die Mitarbeiter auf vermehrten Druck, indem sie auch noch das letzte Quantchen Zeitverschwendung ausmerzen, sich auf den kritischen Pfad konzentrieren und abends langer bleiben. § In Bereich II stellt sich U berdruss bei den Mitarbeitern ein: Sie spu ren den Druck von zu Hause und genehmigen sich eigenmachtig einen gewissen Ausgleich, zum Beispiel, indem sie wahrend der Arbeitszeit mit den Kindern zum Zahnarzt gehen, weil die Firma ihnen ohnehin so viel Zeit schuldet. 55
§
In Bereich III bringen die Mitarbeiter ihre Bewerbungsunterlagen auf den neuesten Stand und schauen sich nach einem besseren Job um.
Was lernen wir daraus? Druck ist fu r die Leistung nicht vollig irrelevant, hat aber bei weitem nicht die Bedeutung, die wir ihm als Manager zumindest phasenweisegerne zuschreiben. Manager, die glauben, Management bedeute vor allem, den Hebel zu dru cken, haben wenig Ahnung, was Management eigentlich bedeutet. Die Schuld dafu r liegt jedoch nicht allein bei ihnen. Urspru nglich haben namlich die meisten Manager eine Aufgabe im Management angestrebt, um etwas Befriedigenderes zu tun, als standigen Druck auf die armen Seelen weiter unten in der Hierarchie auszuu ben. Es ist die vom Stress geschwachte Organisation, die die Anwendung von Druck begu nstigt. Sie zwingt ihre Manager, viel zu oft Druck auszuu ben, obwohl diese Strategie langfristig zu Demotivierung, Burn-out und zum Verlust wichtiger Mitarbeiter fu hrt. Die besten Manager u ben Druck nur sparsam und nie u ber langere Zeit hinweg aus.
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8 Aggressive Terminpla ne Im Lauf eines Jahres werde ich zu einem halben Dutzend oder mehr Entwicklungsprojekten hinzugezogen. Alle diese Unternehmungen stehen unter Druck, ihre Produkte so bald wie moglich fertig zu stellen; einige davon stehen jedoch mehr unter Stress als andere. Dort, wo am meisten Stress herrscht, sprechen Leute auf allen Ebenen von –aggressiven© oder sogar –sehr aggressiven© Terminvorgaben. Meiner Erfahrung nach enden Projekte, bei denen der Terminplan durchwegs als aggressiv oder sehr aggressiv bezeichnet wird, unweigerlich im Fiasko. Allmahlich habe ich den Verdacht, es konnte sich dabei um eine Art Codewort “das alle Beteiligten implizit verstehen “fu r einen absurden Terminplan handeln, der nicht die geringste Chance hat, eingehalten zu werden. Das besondere Problem dabei ist, dass die Terminvorgaben zwaroffensichtlich, aber nicht nachweislich absurd sind. Und so kommt es, wie es kommen muss: Das Projekt wird mit ein- oder zweijahriger Verzogerung beendet oder, schlimmer noch, ein oder zwei Jahre nach dem urspru nglichen Fertigstellungstermin abgebrochen. Wann immer ich heute die Worte –aggressiver Terminplan© hore, bin ich versucht, schleunigst das Weite zu suchen.
Die Ethik des U bereifers Wie geraten wir Manager eigentlich in die Position, uns auf –aggressive© Termine einzulassen? U berkommt uns womoglich in dem Stadium, in dem wir uns fu r ein Projekt verpflichten, etwas, das von uns Macht ergreift “ wie der bose Mr. Hyde u ber den guten Dr. Jekyll? Wir lassen uns auf ein ohnehin schon riskantes Projekt ein und erschweren es uns zusatzlich, indem wir Verpflichtungen eingehen oder unterzeichnen, die, wenn u berhaupt, gerade noch auf dem schmalen Grat des Moglichen liegen. Manager verhalten sich in der U bernahmephase eines Projekts oft wie kleine Jungen, die sich vor einer Rauferei auf dem Schulhof in Pose werfen: –Ich hau dir die Birne ein.© –Ich mach Hackfleisch aus dir.© –Ich verdreschÖ dich, bis du mit 57
den Zahnen klapperst.© Diese Kraftmeierei weist wenig U bereinstimmung mit der anschlieÄ enden harmlosen Rauferei auf (wenn es u berhaupt so weit kommt), und noch weniger mit den in fru heren Kampfen gezeigten Leistungen. Fu r den u bereifrigen Manager gilt das Gleiche. Er oder sie verspricht ein Leistungsniveau, das in der Vergangenheit nicht erreicht wurde und in der Zukunft auch kaum erreicht werden wird. U bereifer ist kein reiner Zufall. Manche Unternehmen legen es bewusst darauf an, ihren Managern und ihrer Unternehmenskultur eine Ethik des U bereifers einzuimpfen. Ich wurde ku rzlich Zeuge eines Seminars, bei dem ungefahr einhundert professionelle Projektmanager einen ganzen Abend lang Videos von Formel-1-Rennen zu sehen bekamen “ einschlieÄ lich der dazugehorigen Anzahl von Ausschnitten, die schreckliche ZusammenstoÄ e und Unfalle mit beinahe todlichem Ausgang zeigten. Die Formel 1 ist ein Sport, bei dem die Teilnehmer ihr Leben riskieren, nur um die Leistungsgrenzen um eine Winzigkeit zu erhohen. Wer als Zweiter ins Ziel kommt, erhalt keinen Preis. Was vermittelte das Unternehmen seinen Managern mit dieser Videovorfu hrung? Die Botschaft war ganz eindeutig: Sie sollten volles Risiko fahren. Da ist es kein Wunder, wenn so viele Projekte dieser Manager im Desaster enden.
Eine Glaubenslehre U bereifer zu fordern, mag einem AuÄ enstehenden bizarr vorkommen. Das liegt daran, dass ein AuÄ enseiter nicht mit der Glaubenslehre vertraut ist, die sich viele Manager und Projektmitarbeiter zu Eigen gemacht haben: dem Gedanken, dass hochaggressive (d.h. unmogliche) Zeitvorgaben am Anfang zwar keineswegs die termingerechte Fertigstellung eines Projekts garantieren, aber dem Projekt jedenfalls nicht schaden konnen. Wenn Sie ein Projekt urspru nglich in zwolf Monaten zu Ende bringen wollten, dann aber achtzehn dafu r brauchen, konnen Sie sich so immerhin mit dem Argument trosten: –Gott sei Dank haben wir am Anfang aufs Tempo gedru ckt, sonst wu rden wir womoglich immer noch an diesem schwachsinnigen Projekt arbeiten.© Ich habe diese Einstellung als –Glaubenslehre© bezeichnet, weil der Glaubige wie bei jeder religiosen Glaubenslehre gehalten ist, sie kritiklos zu akzeptieren. Wer sie anzweifelt, begeht eine schlimme Su nde. Einem Nicht-Glaubigen erscheint die Lehre bestenfalls dubios, der Glaubige dagegen muss daran glauben. Projektmanager lernen in den ersten Jahren ihrer Karriere, dass es nicht schaden kann, die Einhaltung auch unmoglichster Terminvorgaben anzustreben. Ich selbst kann diesem Glauben nichts abgewinnen. Der Gedanke, dass unmogliche Termin vorgaben einem Projekt keinen Schaden zufu gen, erscheint mir grotesk. Stellen Sie sich vor, Sie kamen auf die Idee, sich in nur einer Woche 58
ein 600-qm-Haus bauen zu wollen. Und wenn Ihre Kollegen Sie warnen wu rden, dass ein Projekt dieser Art in der Realitat nicht machbar ist, wu rden Sie wie einer meiner Kundenmanager antworten: –Wer redet denn hier von Realitat? Wir reden u ber den Projektplan.© Eine schnelle Rechnung zeigt, dass Sie, um freitags fertig zu sein, spatestens dienstags mindestens 50 erfahrene Zimmerleute auf der Baustelle brauchen, die den Hammer schwingen. Das heiÄ t, dass am Montag das Fundament gegossen und (irgendwie) trocken werden muss. Wenn das nicht klappt, starren fu nfzig Zimmerleute Sie den lieben langen Dienstag an und fragen sich, wofu r sie eigentlich da sind. Material wird geliefert, lange bevor es gebraucht wird, und Sie weisen die Zimmerleute an, es abzuladen und zu stapeln und vielleicht sogar eine Hu tte zu bauen, wo es wettergeschu tzt gelagert werden kann. Installateure kommen, bevor es etwas zu installieren gibt, Elektriker tauchen auf, aber es ist zu fru h, um Leitungen zu verlegen, und so weisen Sie sie denn alle an, den fu nfzig Zimmerleuten beim Bau der Hu tte zu helfen. Wenn Sie den Hausbau denn endlich abschlieÄ en, hat er mehr gekostet und langer gedauert, als wenn Sie von vornherein einen vernu nftigen Terminplan aufgestellt hatten. Hoffentlich reden Sie sich, wenn alles vorbei ist, wenigstens nicht ein, der Schnellstart sei eine Gewinnstrategie gewesen.
Verantwortlichkeit Wenn ein Termin nicht eingehalten wird, zeigen Leute, die schnell mitSchuldzuweisungen bei der Hand sind, gern auf die Mitarbeiter am untersten Ende der Hierarchie; denn ihrer Meinung nach ist Leistung ausschlieÄ lich die Domane derer, die die Arbeit leisten. Anklagend fragen sie, warum konnen diese Typen einfach nie ihre Termine einhalten? Und reagieren fassungslos auf die Antwort, dass die Terminvorgaben von Anfang an falsch waren. Es ist, als wu rden sie glauben, schlechte Terminplane gabe es nicht, nur schlechte Leistungen, die den geplanten Termin hintertreiben. Schlechte Terminplane gibt es sehr wohl. Ein schlechter Terminplan ist dadurch gekennzeichnet, dass er einen Termin vorgibt, der nachher nicht eingehalten wird. So einfach ist das. Nach nichts anderem sollte ein Terminplan beurteilt werden. Platzt der Termin, war der Terminplan falsch. Es spielt keine Rolle, warum der Termin geplatzt ist. Ein Terminplan dient der Planung, nicht der Zielsetzung. Arbeit, die nicht nach Plan geleistet wird, macht den Plan hinfallig. Nicht eingehaltene Termine klagen die Planer an, nicht die Mitarbeiter. Selbst wenn die Mitarbeiter vollig unfahig sein sollten, kann ein Plan, der ihre Unzulanglichkeiten sorgfaltig beru cksichtigt, zu einer Minimierung des Schadens beitragen. Ein Plan, der Realitaten auÄ er Acht lasst, ist nicht nur nutzlos, sondern gefahrlich. 59
Wenn der Terminplan falsch ist, lauft die Arbeit trotzdem weiter “ aber anders als geplant. Darunter mu ssen die Anstrengungen unweigerlich leiden. Um die Fiktion des Zeitplans so lange wie moglich aufrechtzuerhalten, werden Teilaufgaben in der falschen Reihenfolge ausgefu hrt oder als erledigt erklart, wenn sie eigentlich erst halb ausgefu hrt sind. Ein geringfu giger Unterschied zwischen Plan und Ist macht vermutlich nicht viel aus. Bei einem erheblichen Unterschied (ein Projekt, das nach Plan in einem Jahr abgeschlossen sein soll, wirdtatsachlich erst nach 18 oder 24 Monaten beendet) kann ein schlechter Zeitplan jedoch enormen Schaden anrichten. Deshalb sollten nicht nur die Leute, die es versaumt haben, die Terminvorgaben einzuhalten, zur Verantwortung gezogen werden, sondern auch die Leute, die die Terminvorgaben aufgestellt haben. Der Marketing-Manager zum Beispiel, der einen Wutanfall inszeniert, um einem neuen Projekt einen Ein-Jahres-Zeitplan aufzuzwingen, muss Verantwortung tragen, wenn das Projekt tatsachlich zwei Jahre in Anspruch nimmt. Einem Projekt einen unrealistischen Zeitplan aufzuzwingen, bedeutet eine Gefahr fu r das Unternehmen und muss deshalb auch eine Gefahr fu r diejenigen bedeuten, die solche Terminvorgabendiktieren.
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9 U berstunden Mein offizielles Arbeitsleben in einem ordentlichen Angestelltenverhaltnis begann am 3. September 1963. Ich tauchte sehr fru h an diesem Morgen in der Niederlassung der Bell Telephone Laboratories in Holmdel auf. Mein Chef, Lee Toumenoksa, empfing mich in seinem Bu ro und hielt die kleine Willkommen-inder-Arbeitswelt-Rede, die er vermutlich schon Dutzenden von College-Absolventen vor mir gehalten hatte. Als Erstes ging er auf die offiziellen Arbeitszeiten ein: Der Arbeitstag, informierte er mich, begann um 8.15 und endete um 4.45. Als Mittagspause war eine Stunde vorgesehen, so dass ich auf siebeneinhalb Stunden taglich und 37,5 Stunden in der Woche kam. Lee lieÄ mich wissen, dass er auf der Einhaltung des Arbeitsbeginns um 8.15 gnadenlos bestehen wu rde. –Tun Sie mir einen Gefallen© , sagte er, –und kommen Sie nie auch nur eine Minute zu spat. Wenn Sie einmal aus irgendeinem Grund spater kommen mu ssen, dann kommen Sie zwei oder drei Stunden spater, aber nicht zwei oder drei Minuten. Wenn Sie pu nktlich kommen, erwarte ich, dass Sie um 8.15 an Ihrem Schreibtisch sitzen.© Bevor ich Lees Bu ro an diesem Morgen verlieÄ , hatte sich meinem aufkeimendem Arbeitsethos ein Punkt bereits recht nachdru cklich eingepragt: Ich schuldete den Labs an jedem Werktag der Woche siebeneinhalb Stunden Arbeit. Nicht mehr und nicht weniger. Das war mein –Deal© mit meinem Arbeitgeber. Wenn ich zu wenig Stunden fu r die Labs arbeiten wu rde, ware das genauso unfair, wie wenn die Labs mir ein zu niedriges Gehalt u berweisen wu rden. Warum gerade siebeneinhalb Stunden? Diese Zahl war ein ebenso unverru ckbarer Bestandteil der Strukturen bei den Bell Telephone Laboratories wie die Managementhierarchie und die betrieblichen Sozialleistungen es waren. Lee und seine Kollegen im gehobenen Management waren zu der wohl u berlegten Meinung gekommen, dass siebeneinhalb Stunden exakt das zeitliche Engagement darstellten, das man einem Mitarbeiter abverlangen konnte. Weniger, so u berlegten sie, wu rde eine Verschwendung einer verfu gbaren Ressource bedeuten. Mehr wu rde zu einer Verschlechterung der Arbeitsqualitat fu hren oder den –Deal© des Arbeitsvertrags weniger attraktiv erscheinen lassen, so dass weniger neue Mitarbeiter an einer Zusammenarbeit interessiert sein und mehr alte Hasen zur Konkurrenz abwandern wu rden. 61
Die Entscheidung, U berstunden zu machen oder andere dazu anzuhalten, hebt somit eine fundamentale Entwurfsentscheidung auf, die zu den festen Konstanten eines Unternehmens gehort. Sie impliziert, dass die Arbeitszeitenregelung von Anfang an falsch war und 7,5 Stunden, um bei diesem Beispiel zu bleiben, einfach zu wenig sind. Sie maÄ t sich an zu behaupten, es gereiche der Organisation zum Vorteil, den Deal zu verandern und aus den Mitarbeitern taglich zehn, elf oder zwolf Stunden fu r das gleiche Gehalt herauszuholen. Diese Auffassung ist extrem dubios. Unternehmen auf der ganzen Welt sehen fu r Wissensarbeiter eine Standardarbeitszeit von etwa sieben bis acht Stunden an fu nf Tagen in der Woche vor. Wenn Sie davon um ein paar Minuten in die eine oder andere Richtung abweichen “vor allem, wenn es dafu r einen guten Grund gibt und ein paar empirische Beweise, die Sie unterstu tzen “kann ich daran kaum herumkritteln. Aber Unternehmen, in denen U berstunden an der Tagesordnung sind, geben sich nicht mit ein paar Minuten taglich zufrieden. Sie verlangern den Arbeitstag um riesige Zeitzuwachse, typischerweise um 40 bis 50 Prozent. Und sie haben fast nie den Mut, diese Entscheidung durch eine Neudefinition des offiziellen Arbeitstags zu institutionalisieren. Ich denke, sie machen sich etwas vor.
Einen Spurt hinlegen Zwischen kurzen, heiÄ en Arbeitsphasen “ Spurts “ und regelmaÄ ig geleisteten U berstunden gibt es einen entscheidenden Unterschied. Spurts konnen richtig genutzt sehr sinnvoll sein. Stellen Sie sich vor, Sie bringen alle im Team dazu, sich auf ein Marathon-Arbeitswochenende einzulassen, um ein Projekt pu nktlich zum Liefertermin am Montagmorgen abzuschlieÄ en. Gemeinsam bleiben Sie die ganze Nacht auf, und zwischendurch legt sich einer auf dem Teppich oder auf dem Sofa im Bu ro des Oberhauptlings aufs Ohr. Sie spornen sich zu neuen Hochstleistungen an, kontrollieren gegenseitig Ihre Arbeit (schlieÄ lich werden Leute auch mal mu de) und muntern einander auf. Sie trinken literweise Kaffee. Sie lassen sich Pizzen vom Pizza-Service oder Sandwiches vom 24-Stunden-Deli liefern oder stehlen sich kurz fort, um Nudeln beim Chinesen zu essen, der bis in die fru hen Morgenstunden geoffnet hat. Und das Wichtigste: Am Montagmorgen haben Sie es geschafft, und wenn der Spuk vorbei ist, gilt wieder die normale Arbeitszeit. Das ist der Stoff, aus dem Firmenlegenden entstehen. Wenn alle gemeinsam die A rmel hochkrempeln und einen wichtigen Erfolg teilen, wird sich die Kultur der Organisation tiefgreifend verandern. Das Gefu hl der Energie wirkt nach, auch wenn das Marathon-Arbeitswochenende langst vorbei ist. Manager, die gelegentliche Spurts effektiv zu nutzen wissen, sind echte Helden. Sie brauchen ein tadelloses Timing, ein untru gliches Gespu r dafu r, was in kurzer Zeit erreicht werden kann und was nicht (es bringt nichts, wenn das Projekt nicht 62
am Montag fertig ist oder abgelehnt wird), und genu gend natu rliches Fu hrungstalent, um die Sache durchzuziehen. Und sie brauchen einen enormen Vertrauensvorschuss, von dem sie zehren konnen: Alle Mitarbeiter mu ssen die Gewissheit haben, dass die Aufforderung, eine auÄ ergewohnliche Anstrengung hinzulegen, wirklich auÄ ergewohnlich und keine sinnlos vertane Zeit ist und auch nicht zur regelmaÄ igen Einrichtung werden wird.
U berstunden auf Dauer Am Ende eines Marathons einen Spurt hinzulegen, ist sinnvoll; 42 Kilometer lang zu spurten, ist verru ckt. Wenn Sie ein paar hundert Meter gespurtet sind, rollen Sie danach am Boden, halten sich den Bauch und ringen ein paar Minuten lang nach Luft, bevor Sie an einen weiteren Sprint auch nur denken konnen. Einen Spurt-Keuch-Spurt-Keuch-Marathon zu laufen, wu rde vermutlich zweimal so lang dauern, wie 42 Kilometer normal zu laufen. Dieser Sachverhalt ist beim Laufen ziemlich offenkundig; er ist jedoch weniger offenkundig, wenn Spurten ein Synonym fu r U berstunden ist. Das liegt daran, dass Wissensarbeiter, die gerade einen kurzen intensiven Sprint hinter sich haben (weil sie zum Beispiel bis spat in die Nacht hinein gearbeitet haben), gezwungen sind, die Keuchphase zu verbergen. Sie bleiben im Bu ro, sehen vollig erschopft aus und reden unzusammenhangendes Zeug, aber sie bleiben. Oder sie verschwinden unbemerkt und gonnen sich ein Nickerchen auf dem Ru cksitz ihres Wagens. Das Beispiel –bis spat in die Nacht hinein© ist vielleicht zu extrem. Typischerweise gestalten sich U berstundenperioden etwa so: Zehn- oder Elf-StundenTage von Montag bis Freitag plus ein geru tteltes MaÄ an Wochenendarbeit, so dass insgesamt sechzig und mehr Wochenstunden zusammenkommen. Bei dieser Zeiteinteilung bekommen Sie zwar moglicherweise jede Nacht genug Schlaf. Aber dafu r zahlt Ihr Privatleben den Preis fu r die Extrazeit, die Sie der Firma widmen. Das Ringen nach Luft, um im Bild zu bleiben, ist der zunehmende Druck, dem Sie im Privatleben ausgesetzt sind: Spannungen in der Partnerschaft, Kinder, die verru ckt spielen, und irgendwann das Gefu hl, benutzt zu werden. Wieder zwingt Sie die Firmenkultur dazu, dass man Ihnen Ihr Keuchen nicht ansieht; aber trotzdem ist es da. Es fordert seinen Zoll in Form versaumter Arbeitsstunden, ineffektiv verbrachterZeit und verminderter Qualitat und bringt die Mitarbeiter dazu, das Handtuch zu werfen und sich nach einem vernu nftigeren Job umzusehen. Ja, aber dieser Zoll ist doch unter dem Strich niedriger als der positive Nettoeffekt der zusatzlichen Stunden, die der Mitarbeiter beitragt? Wenn dem so ware, wu rden dauerhafte U berstunden unabhangig von den Kosten, die sie verursachen, einen Nettogewinn fu r die Organisation bedeuten, und Manager, 63
die sie ihren Leuten abverlangen, verdienten unseren Respekt. Wenn Management nur so einfach ware! Ist es aber nicht.
Eine wirksame Methode zur Produktivita tssenkung Dauerhafte U berstunden sind eine Methode zur Produktivitatssenkung. Sie senken die Wirkung jeder geleisteten Arbeitsstunde. Wir konnen die Produktivitatssenkung quantifizieren, jedenfalls grob, indem wir bestimmte Arten von Wissensarbeit betrachten, fu r die es allgemein verbreitete Metriken zur Messung der Arbeitsleistung gibt. In Wissensbereichen wie Architektur, Schaltkreisentwurf und Softwareentwicklung werden sehr haufig Vorhersagemetriken eingesetzt. Projektplaner konnen dort den Arbeitsaufwand fu r eine neue Aufgabe mithilfe der folgenden Art von Relationen abschatzen:
So kann zum Beispiel die Zeit, die fu r das Anfertigen von Blaupausen und Verdrahtungsdiagrammen fu r ein geplantes Gebaude benotigt wird, mit der Quadratmeterzahl des Gebaudes korreliert werden, um die erforderliche Wissensarbeit im Vorfeld vernu nftig zu approximieren. Die Leute, die solche Messbeziehungen entwerfen, achten besonders darauf, ihre Formeln und Verfahren so anzulegen, dass die Datenpunkte moglichst nah um die Vorhersagelinie herum verteilt sind. (Der gezeigte Graph ware weniger nu tzlich, wenn die Punkte weiter von der Linie abweichen wu rden.) Jede Verfeinerung des Ansatzes, die AusreiÄ er minimiert, bedeutet eine Verbesserung. Eine –Verbesserung© , an die Sie vielleicht denken, ist die Korrelation der Werte jederMetrik mit Arbeitsstunden statt Arbeitstagen, weil die Arbeitstage bei manchen Projekten wegen der geleisteten U berstunden viel langer sind als bei anderen. Wenn die 64
Wissenschaftler diese –Verbesserung© ausprobieren, gibt es u berraschenderweise jedoch nicht weniger AusreiÄ er, sondern mehr. Aus diesem Grund werden in allen drei genannten Wissensbereichen bei der Abschatzung des Arbeitsaufwands fu r ein neues Projekt U berstunden explizit auÄ er Acht gelassen. Halten Sie einen Moment inne und denken Sie daru ber nach, was das heiÄ t. Wie ist es moglich, dass bei manchen Projekten die Arbeitstage um 50 Prozent langer sind als bei anderen, ohne dass die Beru cksichtigung der unterschiedlichen Arbeitstage AusreiÄ er spu rbar reduziert? Dafu r gibt es nur eine einzige Erklarung: Langere Arbeitstage bringen nicht mehr als ku rzere. Der beste Vorhersageindikator dafu r, wie viel Arbeit ein Wissensarbeiter schafft, sind nicht die Stunden, die er oder sie arbeitet, sondern die Tage. Zwolf-Stunden-Tage bringen nicht mehr als Acht-Stunden-Tage. U berstunden sind eine Farce. Wissensarbeiter erhalten fu r U berstunden normalerweise keine Vergu tung. Somit kame jeder Nettogewinn, der durch die Anordnung von U berstunden erzielt wird, dem Unternehmen zugute, ohne dass es eine Gegenleistung dafu r erbringen mu sste. Das widerspricht der alten Erkenntnis: –Umsonst ist nur der Tod.© Stimmt. Alles andere hat seinen Preis. Tatsachlich richten U berstunden einen so groÄ en Schaden an, dass er die Wirkung der zusatzlichen Stunden zunichte macht. Dauerhafte U berstunden sind unweigerlich mit den folgenden vier Nebenwirkungen verbunden: § Qualitatsminderung § Burn-out bei den Mitarbeitern § Erhohte Personalfluktuation § Ineffiziente Nutzung der normalen Arbeitszeit
Qualita tsminderung Wissensarbeit ist nach Definition denkintensiv. In jeder Diskussion u ber die Einstellung neuer Wissensarbeiter gestehen wir uns implizit ein, dass das Denkvermogen des Bewerbers von hochster Bedeutung ist; das und nichts anderes macht den entscheidenden Unterschied zwischen einem Spitzen- und einem Durchschnittsbewerber aus. Sehr viel weniger bereitwillig gestehen wir uns dagegen ein, welche Faktoren die Denkqualitat im Lauf eines Tages erhohen oder senken. An aller erster Stelle steht Mu digkeit. Die meisten Wissensarbeiter werden Ihnen bestatigen, dass sie kurz vor Ende des Arbeitstages eigentlich keine fehleranfalligen Arbeiten mehr erledigen sollten, weil sie dafu r einfach nicht mehr klar genug denken konnen. Sie kennen und benennen das Problem, um dann die fehleranfallige Aufgabe trotzdem zu erledigen (was nur beweist, nehme ich an, dass Mu digkeit das strategische Urteilsvermogen ebenso sehr beeintrachtigt wie das taktische). 65
Erst die kumulative Wirkung, die sich daraus ergibt, dass sie den gleichen Fehler immer wieder begehen, u berzeugt sie davon, dass der Fehler wirklich ein Fehler ist. Aber nicht nur die Unternehmen belasten ihre Mitarbeiter mit dauerhaften U berstunden; die Mitarbeiter belasten sich auch selbst damit. Man kann das Thema nicht intelligent diskutieren, ohne die su chtig machende, fast erotische Anziehungskraft ins Kalku l zu ziehen, die die intensive, obsessive Beschaftigung mit einer Aufgabe besitzt. Sie lost eine Euphorie aus, die sich, selbst wenn sie die Urteilskraft vernebelt, unglaublich gut anfu hlt. In diesem Rausch fu hlen Sie sich wie einer der Helden in The Right Stuff, Tom Wolfes phantastischer Nacherzahlung des NASA-Raumfahrtprogramms: Jeder junge Kampfflieger kannte das Gefu hl, nach zwei oder drei Stunden Schlaf morgens um 5.30 aufzuwachen, ein paar Tassen Kaffee in sich reinzuschu tten, ein paar Zigaretten zu rauchen und sich dann schlotternd vor Kalte raus aufs Rollfeld bringen zu lassen, wo ihn ein weiterer Flugtag erwartete. Manche kamen nicht nur verkatert, sondern immer noch betrunken dort an und knallten sich Sauerstoffmasken vors Gesicht, um einen klaren Kopf zu bekommen, und so stiegen sie auf, um hinterher beilaufig zu sagen: –Klar, empfehlen wu rde ich es nicht, aber machbar ist es.© (Vorausgesetzt, du hast das Zeug dazu, du erbarmlicher Schlappschwanz.)
Klar ist hier vor allem, dass die Euphorie, das Narkotikum des Lebens am Rande des Abgrunds und die damit verbundene Erschopfung das menschliche Denkvermogen beeintrachtigen. Wo es auf die Qualitat der Gedanken ankommt, sind U berstunden nicht das richtige Rezept.
Zombies Wer sich allzu sehr in die Arbeit (oder irgendetwas anderes) hineinsteigert, wird irgendwann ausbrennen. Ausgebrannte Mitarbeiter entwickeln keine Leidenschaft mehr, nicht fu r mehr U berstunden, ja noch nicht einmal dafu r, vernu nftige acht Stunden am Tag zu arbeiten. Sie stehen dem Projekt nicht mehr zur Verfu gung. Das bisschen Kraft, das ihnen moglicherweise geblieben ist, wenden sie dafu r auf, ihre Ausgebranntheit zu u berspielen oder es zumindest zu versuchen. Zu einer inhaltlichen Projektarbeit sind sie nicht mehr in der Lage. Wenn ich als Berater zu stressgeschadigten Projekten hinzugezogen werde, bin ich immer wieder verblu fft, wie viele der Mitarbeiter zu Zombies geworden sind, die mitlaufen, aber keinen nennenswerten Beitrag mehr leisten konnen. Oft sind es die einstigen Spitzenleute des Unternehmens. Ausgebrannte Mitarbeiter entschlieÄ en sich fu r gewohnlich zur Ku ndigung und gehoren somit der im Folgenden diskutierten Kategorie –Fluktuation© an. Das ist 66
jedoch nicht immer der Fall. Manchmal bleiben sie dem Unternehmen als Zombies erhalten. In Organisationen mit vielen ausgebrannten Mitarbeitern macht sich eine dru ckende, lethargische Atmosphare breit “kein Wunder, wenn die Belegschaft sich vornehmlich aus lebenden Toten zusammensetzt.
Fluktuation Weil die meisten Unternehmen ihre Investitionen in Menschen nicht kapitalisieren, fallen ihnen die finanziellen Kosten ihres aus Fluktuationsgru nden verlorenen Humankapitals nicht weiter auf. Sie charakterisieren ihre Arbeitskosten in den Begriffen der wichtigsten Aufgaben, also in etwa so:
Wenn ich Vortragende frage: –Und wo im Diagramm ist die Personalfluktuation ausgewiesen?© , ernte ich verstandnislose Blicke. Sie ist nicht ausgewiesen. Oder genauer gesagt, sie ist so auf all die anderen Diagrammsegmente verteilt, dass sie unsichtbar bleibt. In Ihrem Unternehmen verwendet man in den Tortendiagrammen zur Darstellung der Kostenaufteilung vielleicht andere Kategorien. Aber ganz gleich wie sie lauten, ich wette, –Fluktuation© ist nicht darunter. Das ist jammerschade. Wenn die Fluktuationskosten namlich explizit ausgewiesen wu rden, waren sie meiner Meinung nach so groÄ , dass sie die Alarmglocken schrillen lieÄ en:
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Wenn wir Humankapital sorgfaltig messen und anhand der ermittelten MaÄ e die finanziellen Kosten der Personalfluktuation ermitteln, erweist Fluktuation sich oft als der zweit- oder drittgroÄ te Kostenfaktor. Die Personalfluktuationsrate variiert von Unternehmen zu Unternehmen erheblich. In vergleichenden Beschaftigungsstudien wie denen der IEEE erleiden Unternehmen, deren Personalfluktuation im besten Drittel der Stichprobe liegt, einen nicht einmal halb so hohen Fluktuationsverlust wie Unternehmen im schlechtesten Drittel. Nur wenn Sie all das auÄ er Acht lassen, konnen Sie sich weiter der angenehmen Illusion hingeben, die Anordnung von U berstunden habe keinen Einfluss auf die Personalfluktuation. Wenn Firmen Abschlussgesprache mit Mitarbeitern fu hren, die das Unternehmen verlassen, sind U berstunden ein haufig genannter Ku ndigungsgrund. Wenn sich Mitarbeiter benutzt fu hlen, wenn die fragile Balance ihres Lebens durch wachsenden Druck auf ihre Familien gefahrdet ist, ware es widersinnig, wenn sie nicht an einen Jobwechsel denken wu rden. Bei vielen von ihnen bleibt es nicht allein bei dem Gedanken. So berichtet der Autor Tracy Kidder in seiner Retrospektive des u berstundenintensiven Eagle-Projekts bei Data General, Die Seele einer neuen Maschine, dass jedes einzelne Mitglied des Eagle-Teams einen Monat nach Ende des Projekts das Unternehmen verlassen hatte. Sogar diejenigen, die im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen bis zum Ende ausgeharrt hatten, waren nicht bereit, weiterhin fu r eine Firma zu arbeiten, die sie so ausgenutzt hatte.
Zeitverschwendung Die ersten drei verborgenen Kosten dauerhafter U berstunden verblassen neben dem vierten Kostenfaktor: der Tendenz, die normalen Arbeitsstunden zu vergeuden, die typisch ist in Firmen, in denen viele U berstunden anfallen. Wenn die Mitarbeiter zusatzlich zu ihrer Vierzig-Stunden-Woche dreiÄ ig U berstunden machen, treten die elementaren Vorkehrungen des Unternehmens, Zeitvergeudung wahrend des Tages zu vermeiden, aus irgend einem Grund auÄ er Kraft.
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Einmal bemangelte ich bei einem meiner Kunden, einem Fortune-500-Technologieunternehmen, die vielen U berstunden, die den Mitarbeitern abverlangt wurden. –Was wu rden Sie tun© , fragte ich den Manager, –wenn U berstunden verboten waren und Sie den Termin trotzdem schaffen mu ssten?© “ –Also, eines kann ich Ihnen sagen© , antwortete er prompt, –wir mu ssten auf jeden Fall diese dauernden Besprechungen unterbinden.© Ich wartete einen Moment und hoffte, dass ihm die Worte, die so spontan aus seinem Mund gekommen waren, die Augen offnen wu rden. Aber nein. Ihm war nicht bewusst, was er gerade gesagt hatte. Der Sinn seiner Worte entging ihm vollig. Besprechungen waren in seiner Organisation nicht nur zum Problem, sondern zur Obsession geworden. Besprechungen nahmen nahezu ein Drittel der Zeit der Mitarbeiter in Anspruch. Es gab nicht nur viel zu viele Besprechungen, die Besprechungen waren daru ber hinaus auch riesig: Typischerweise wohnten den Besprechungen, die ich miterlebte, dreiÄ ig bis vierzig Leute bei. Bei meiner ersten Einweisung, an meinem ersten Tag als Berater der Firma, ertrug ich eine neunstu ndige Prasentation, an der auÄ er einem halben Dutzend Vortragender ein Arsenal von Projektoren und Bildschirmen, Powerpoint-Folien ohne Ende, Videos und Produktdemonstrationen beteiligt waren. Fu r mich waren all die Informationen vollig neu, und so zog ich aus den neun Stunden durchaus Gewinn. Aber warum in aller Welt nahmen fu nfundzwanzig andere Leute an meinem Briefing teil, von denen u ber ein Dutzend kein einziges Wort sagte? Ich kann Ihnen sagen, warum: Es war die Art von Organisation, in der es undenkbar war, eine Besprechung mit weniger als zwei Dutzend Leuten im Raum abzuhalten. Das verlangte die Firmenkultur. Diese XXL-Besprechungskultur war nur moglich, weil die Leute so viele Extrastunden erbrachten, um die Projektarbeit zu erledigen. Durch die Reduzierung der U berstundenzahl sorgten wir fu r den ersten Schritt in Richtung Normalitat. Sie mussten die Zahl der Besprechungen stark herunterfahren und bei wirklich wichtigen Besprechung den Teilnehmerkreis auf die Mitarbeiter beschranken, die notwendig waren, um die Entscheidung zu treffen, die die Besprechung u berhaupt erst rechtfertigte. Besprechungen sind jedoch nur eine von mehreren Moglichkeiten, wie u berstundenintensive Organisationen die Zeit ihrer menschlichen Ressourcen verschwenden. Unter anderem neigen die Mitarbeiter in Organisationen dieser Art auch dazu, tagsu ber keine Unterbrechungsdisziplin mehr zu wahren: Weil sie wissen, dass ihre Kollegen ohnehin bis spat in den Abend hinein arbeiten werden, denken sie sich nichts dabei, sie mir-nichts-dir-nichts wahrend der –regularen© Arbeitsstunden zu unterbrechen. Weil auf diese Weise kein Mensch zwischen neun und fu nf etwas zuwege bringen kann, steigt die Tendenz, U berstunden zu machen. Der arme Mitarbeiter, der um Mitternacht immer noch an seinem Schreibtisch sitzt, ist vermutlich nur in der Hoffnung geblieben, nach Bu roschluss endlich Ruhe und Frieden fu r die eigentliche Projektarbeit zu 69
finden. Es ist eine Schande, dass die Organisation es anscheinend nicht schafft, ihren Mitarbeitern wahrend der normalen Arbeitszeit eine ruhige, ungestorte Umgebung zu bieten.
U berstunden bei Managern Bisher war von den U berstunden die Rede, die Wissensarbeiter leisten,nicht ihre Manager. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass auch Manager U berstunden machen. Wenn Sie Ihren Leuten U berstunden abverlangen, sind Sie wahrscheinlich gezwungen, genauso lang oder fast genauso lang wie sie bis spat abends in der Firma auszuharren. Sie konnen in den zusatzlichen Stunden auch nicht einfach untatig herumhangen, wenn Ihre Leute sich fu r Sie abrackern. Wenn Sie keine Hektik haben, mu ssen Sie wenigstens so wirken. Wo Mitarbeiter standardmaÄ ig U berstunden machen, neigen Manager dazu, zu Workaholics zu mutieren. Sie hasten durch ihren Tag, verzichten aufs Mittagessen und arbeiten viel zu viele Stunden. Ich vermute mal, sie wollen damit Eindruck schinden. Aber nicht bei mir. Eindruck macht auf mich ein Manager, der nie ins Schwitzen gerat und nie auch nur im Geringsten hektisch wirkt. Ich lasse mich dabei von einer Grundregel leiten, die sich in praktisch jeder der Firmen, die ich besuche, als richtig erwiesen hat: «U berarbeitete Manager bescha ftigen sich mit Dingen, mit denen sie sich nicht bescha ftigen sollten.Ü Womit sie sich in der Hauptsache beschaftigen, ist das Thema von Kapitel 12, das die spezielle Pathologie u berarbeiteter Manager diskutiert. Ich will dem nicht vorgreifen, aber einen Hinweis gebe ich Ihnen doch: Wenn Manager u berarbeitet sind, beschaftigen sie sich mit anderen Dingen als dem Management; je u berarbeiteter sie sind, desto weniger Zeit bleibt ihnen fu r ihre eigentliche Managementaufgabe.
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10 Ein kleiner buchhalterischer Kunstgriff Das Thema U berstunden ware nicht vollstandig behandelt, wenn ich die kleine Mogelei unerwahnt lieÄ e, die in den meisten Organisationen beim Verbuchen dieser Extrastunden u blich ist. Wissensarbeiter erhalten in der Regel keine U berstundenvergu tung, sondern werden typischerweise fu r vierzig Wochenstunden bezahlt. Aber jetzt kommt es: Ein Mitarbeiter, der in einer gegebenen Woche sechzig Stunden gearbeitet hat, fu llt am Ende dieser Woche rituell eine Art Zeiterfassungsbogen aus, in dem unter –Erbrachte Gesamtstunden© vierzig steht. Er tut das in dem Glauben, dass das Management u ber die Extrastunden informiert ist, die er heroisch, um der gemeinsamen Sache willen, abgeleistet hat. Auf dem Zeiterfassungsbogen mu sse allerdings, so wurde ihm versichert, pro forma eine Vierzig-StundenWoche ausgewiesen sein. (–Nur um uns die Personalabteilung vom Hals zu halten.© )
Produktivita t und scheinbare Produktivita t Diese Mogelei ist eine Art unternehmerische Selbsttauschung, die mit der Definition von Produktivitat zu tun hat. Die wahrend der Woche geleistete Arbeit wird traditionell durch die Zahl der gemeldeten, nicht der tatsachlich erbrachten Arbeitsstunden geteilt. Viele Mitarbeiter leben in dem Glauben, ihre Manager wu ssten u ber ihre U berstunden genauestens Bescheid. Ihnen ist nicht bewusst, dass die Produktivitatszahlen, an denen die Manager gemessen werden, diese U berstunden vollig ignorieren. Bei vielen Managern setzt diese Definition von Produktivitat eine unglu ckselige Dynamik in Gang. Sie glauben, sie konnten die angegebene Produktivitat in die Hohe treiben, wenn sie ihren Mitarbeitern U berstunden abverlangen: Die Manager, die ihren Mitarbeitern mehr U berstunden zu entlocken vermogen, stehen als die leistungsstarkeren Manager da. Ich halte dagegen, dass sich auf diese Weise nur eine scheinbare Produktivitatssteigerung erreichen lasst, da die Mitarbeiter wahrend der vielen Zusatzstunden deutlich weniger produktiv sind. Letztendlich fu hrt die vermeintliche Methode zur 71
Produktivitatssteigerung direkt zu einer Produktivitatsverringerung. Das ist vielleicht nicht unmittelbar einleuchtend, weil sich die Arbeit von Wissensarbeitern nicht leicht messen lasst. Aber nehmen wir an, es bestu nde eine Moglichkeit dafu r ... Gedankenexperiment zum Thema Produktivita tsmessung Stellen Sie sich vor, Sie besa »en ein magisches Messgera t, das die Arbeit, die Ihre Wissensarbeiter tatsa chlich erbringen, als Gesamtzahl der Nu tzlichen Elementaren Mentalen Entscheidungen (GNEME) misst. Nehmen Sie an, das Gera t zeigt an, dass ein gegebener Mitarbeiter im Laufe eines Acht-Stunden-Tags 800 GNEME produziert. Die Produktivita t des Mitarbeiters bela uft sich somit auf 100 GNEME pro Stunde. Jetzt u berreden Sie den Mitarbeiter zwei Stunden zusa tzlich zu bleiben. Ihr Messgera t zeigt einen Ru ckgang der GNEME wa hrend der Zusatzstunden an. (Der Mitarbeiter ist inzwischen mu de geworden und ein bisschen zerstreut.) In der neunten Stunde schafft er nur noch 70 GNEME und in der zehnten 30 GNEME. Im Lauf seines Zehn-Stunden-Tages hat er somit 900 GNEME Arbeit erbracht. Die tatsa chliche Tagesproduktivita t sinkt auf 90 GNEME pro Stunde (900 GNEME/10 h). Die gemeldete Produktivita t dagegen steigt: Gemeldete Produktivita t = 900 GNEME/8 h = 112,5 GNEME/h Die Fiktion, Produktivitat auf der Basis der bezahlten statt der geleisteten Stunden zu berechnen, provoziert Ideen zur –Produktivitatsverbesserung© , die die tatsachliche Produktivitat der Mitarbeiter sinken lasst.
Eine besonders krankhafte Variante Aber es kommt noch schlimmer. Die echte Welt kennt keinen GNEME-Meter. In den meisten Wissensbereichen haben wir keine objektive Moglichkeit, die produktive tagliche Arbeitsleistung eines Mitarbeiters zu messen. Gute Manager mogen ein untru gliches Gespu r fu r den Arbeitsbeitrag ihrer Leute besitzen, aber wenige konnen behaupten, ihn wirklich gemessen zu haben. Wo Arbeitsmessungen fehlen, geht man u blicherweise davon aus, dass die tatsachlich erbrachte Arbeit direkt eine lineare Funktion der Anwesenheitszeit ist. Die Folge ist eine durch und durch krankhafte Definition von Produktivitat: Gearbeitete Stunden “Produktivita tö = Gezahlte Stunden 72
Viele Organisationen finden nichts dabei, diese –Produktivitat© explizit zu berechnen und ihren Managern als Leistungsindikator vor Augen zu halten.
Ja, aber in der realen Welt... Da das Unternehmen U berstunden nicht vergu tet, liegt der Einwand nahe, dass die Unternehmensproduktivitat (Arbeitsleistung pro bezahltem Dollar) tatsachlich steigt, wenn die Leute abends a l nger bleiben, selbst wenn die Produktivitat der Mitarbeiter wahrend dieser Zeit kontinuierlich sinkt. Als wir in unserem Gedankenexperiment einen Mitarbeiter dazu bewegten, zwei Stunden langer zu bleiben, brachte er dem Unternehmen trotz nachlassender Produktivitat zusatzliche 100 GNEME ein. Die beiden U berstunden erhohten somit die der Firma zugute kommende Gesamtarbeitsleistung um 12,5 Prozent, ohne zusatzliche Kosten zu verursachen. Was sollte dagegen einzuwenden sein? Stimmt, dagegen ist nichts einzuwenden “ vorausgesetzt, Sie verfu gen tatsachlich u ber einen GNEME-Meter, der bestatigt, dass sich die Gesamtarbeitsleistung pro bezahltem Dollar kurzfristig erhoht und auch langfristig auf diesem Niveau bleibt. Die negativen Wirkungen von U berstunden treten namlich erst mittel- bis langfristig zutage. Wenn Leute u ber langere Zeit hinweg viele U berstunden machen, sinkt ihre Nettoeffektivitat ja nicht nur wahrend der Zusatzstunden; wegen zunehmender Erschopftheit und sinkender Motivation lasst ihre Leistungskraft auch wahrend der normalen Arbeitszeit nach. Das kann dazu fu hren, dass an einem ZwolfStunden-Tag insgesamt weniger sinnvolle Arbeit geleistet wird als anderenfalls an einem Acht-Stunden-Tag. Ich habe auf diesen Punkt bereits in Kapitel 9 hingewiesen. In diesem Kapitel wollte ich Ihnen zusatzlich vor Augen fu hren, dass die perverse Definition von Produktivitat, die durch das Ignorieren von U berstunden zustande kommt, die Wahrscheinlichkeit eines Produktivitatsabfalls erhoht.
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11 Der Laubsauger Meine Frau Sally und ich saÄ en in Hilton Head, South Carolina, in einem netten kleinen Terrassen-Cafe direkt am Wasser. Plotzlich, wahrend wir noch zu Mittag aÄ en, wurden die Gesprache an allen Tischen jah unterbrochen: Ein Mitarbeiter vom Reinigungsdienst war aufgetaucht, bewaffnet mit einem drohnenden Laubsauger. Sally, die mir gegenu bersaÄ , sah alles andere als begeistert aus. Mit einem typisch mannlichen Allzweck-Achselzucken versuchte ich, ihr zu bedeuten, dass der Typ sicher bald verschwinden wu rde. Fu nf Minuten spater schaltete er den Sauger aus und ging. –Diese bloden Laubsauger© , emporte sich Sally in die entstandene Stille hinein. –Da kann man nichts machen,© sagte ich, –es ist eben eines dieser Gerate, die Arbeit sparen.© Sie warf mir einen dieser Konnt-Ihr-Manner-denn-nie-u ber-euren-Tellerrandhinaussehen?-Blicke zu. –Das ist kein Gerat, das ihm hilft, Arbeit zu sparen,© sagte sie, –das ist ein Gerat, das ihm hilft, sein Gesicht zu wahren.© Da ist was dran. Laubkehren gehort zu den undankbarsten Jobs auf dem Planeten. Wu rde der Arbeiter mit einem Besen oder Rechen in der Hand still vor sich hinarbeiten, konnte ihn jeder ignorieren. Fu r die Umsitzenden ware das wunderbar, fu r ihn selbst vermutlich weniger. Er ware vernachlassigbar, unsichtbar und hatte null Status. Mit dem Sauger in der Hand steht er dagegen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Niemand kann seine Gegenwart ignorieren. Vermutlich ist es die geringste Sorge des Arbeiters, damit seinen Job schneller erledigen zu konnen. Sein Chef denkt ahnlich: Es ist nahezu unmoglich, Leute mit Jobs ohne Status bei der Stange zu halten; deshalb dru ckt er dem armen Kerl eine schone laute Maschine in die Hand, die sein Ego aufbaut, und hofft, dass er ihm so wenigstens eine Weile lang erhalten bleibt.
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Arbeit sparend oder Gesicht wahrend? Als wir von der Insel zuru ckkehrten, fing ich an, u ber so genannte Arbeit sparende Gerate nachzudenken, die eigentlich Gerate zur Gesichtswahrung sind. Denken Sie nur an die allgegenwartigen Textverarbeitungsprogramme wie Microsoft Word oder was auch immer Sie einsetzen. Ehe es Textprogramme gab, musste man Managern Sekretarinnen zur Seite stellen, die Briefe, Berichte und Memos fu r sie tippten. Heute tippen die Manager selbst: Jenes Arbeit sparende Hilfsmittel, das Textprogramm, hat es moglich gemacht. Die Nettoeinsparung fu r das Unternehmen: was immer es kosten mochte, eine Sekretarin zu beschaftigen. Nun, nicht ganz. Wenn eine Sekretarin ohne Hilfe eines Textverarbeitungsprogramms eine Stunde brauchte, um einen bestimmten Bericht zu tippen, kann der Manager mit Hilfe von Textverarbeitung das Gleiche vermutlich ebenfalls in einer Stunde schaffen. Mehr als die Halfte dieser Zeit verwendet er auf die Formulierung, die ohnehin in seinen Aufgabenbereich fallt. Aber was ist mit der restlichen Zeit “ mit der Zeit, in der der Manager an der Randeinstellung herumbastelt, Tippfehler korrigiert, mit viel Mu he eine Tabelle so in den Text einbaut, dass kein unerwu nschter Seitenumbruch entsteht? All diese klassischen Sekretariatsarbeiten erledigt jetzt eine Fu hrungskraft anstelle einer Person weiter unten in der Firmenhierarchie. Und wenn wir schon dabei sind: Was ist mit der Zeit, die der Manager braucht, um das Programm zu installieren, seine seltsame Inkompatibilitat mit der Tabellenkalkulation zu losen, die Regeln fu r die Gestaltung von FuÄ noten und anderen selten genutzten Funktionen nachzuschlagen und herauszufinden, wie man den Text um eine Grafik herumflieÄ en lasst? Textverarbeitungsprogramme sind Arbeit sparende Hilfsmittel, und ich mochte meines keinesfalls missen. Gleichzeitig aber erfu llen sie auch eine gesichtswahrende Aufgabe und bieten so die Moglichkeit, Arbeiten, die fru her als Bu roarbeit galten, auf besser bezahlte Mitarbeiter zu verlagern. Es ist fraglich, ob die Unternehmen sich mit dieser Umstellung wirklich einen Gefallen getan haben. Textverarbeitung ist nur ein Beispiel. Fu r viele der netten Dinge, die Ihr PC heute fu r sie erledigt, gab es in der Zeit vor dem Computer Sachbearbeiter, Schreibkrafte, die Leute von der Poststelle, Bibliothekarinnen, Hilfskrafte fu r die Recherche und Praktikanten “Leute, die typischerweise sehr viel weniger verdienten als Sie. Heute erledigt der PC einen Teil ihrer Arbeit, aber Sie mu ssen ihn bedienen und seine Anforderungen erfu llen. Der Einsatz gesichtswahrender Hilfsmittel als Moglichkeit, Bu roarbeiten nach oben (fu r Gewohnlich auf Manager oder Wissensarbeiter) zu verlagern, hat uns Organisationen eingebracht, in denen es an allen Ecken und Enden an Unterstu tzung durch Hilfskrafte mangelt. Mitarbeiter mit sechsstelligem Einkommen stehen vor dem Kopierer Schlange, sortieren die Post, machen die Ablage und erledigen u berhaupt eine Menge Arbeit, die genauso gut eine 75
Bu rokraft erledigen konnte. Ich besuche nur noch selten eine Firma, die ihre Effizienz nicht durch Einstellung von ein paar Hilfskraften erhohen konnte. Wenn ein niedrigrangiger Mitarbeiter eine Managerin entlastet, die sechs oder sieben Mal so viel verdient wie er, ist die Organisation die groÄ e Gewinnerin.
Das Problem mit Hilfskra ften Aber ru cken wir dem Problem ernsthaft zu Leibe: Eine Hilfskraft ist Overhead. Selbst wenn Sie heute eine Hilfskraft einstellen, konnen Sie sicher sein, dass sie spatestens bei der nachsten Kostensenkungsrunde wieder abgeschafft wird. Unsere Besessenheit, Leute loszuwerden, die als Overhead gebrandmarkt sind, hat uns Organisationen eingebracht, in denen weitaus kostspieligere Wissensarbeiter und Manager bis zu einem Viertel ihrer Zeit damit verbringen, als ihr eigener Overhead zu fungieren. Und das soll wirtschaftlich sein? Noch negativer schlagt die fehlende Unterstu tzung durch Hilfskrafte zu Buche, wenn Wissensarbeiter in Teams zusammenarbeiten. Stellen Sie sich ein Projekt aus fu nf Entwicklern vor:
Die fu nf haben die Arbeit unter sich aufgeteilt. In einer so kleinen Gruppe gibt es vermutlich keine Moglichkeit, die Arbeit aufzuteilen, ohne dass alle Teammitglieder zumindest ein Minimum an Interaktion miteinander pflegen mu ssen. Jedes Teammitglied muss also mit vier anderen interagieren, und es gibt insgesamt 10 Interaktionspfade. Angesichts der Tatsache, dass jeder der fu nf Entwickler 20 Prozent seiner Zeit mit der Erledigung von Hilfsarbeiten verbringt, wu rde die Einstellung einer Bu rokraft eine etwas schlankere Variante des Projekts ermoglichen:
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Jetzt haben wir vier Entwickler, zwischen denen es nur sechs mogliche Interaktionspfade gibt. Daru ber hinaus interagiert jeder der Entwickler mit der Bu rokraft. Diese Interaktion erfordert jedoch wesentlich weniger Aufwand und geistige Anstrengung. Durch die Aufteilung der Arbeit in vier statt in fu nf Module wird die mit Interaktionen verbrachte Gesamtzeit reduziert. Die Kapazitat des Vier-PersonenTeams plus Bu rokraft ist somit groÄ er als die Kapazitat des Fu nf-Personen-Teams. Vier Entwickler plus eine Bu rokraft verursachen daru ber hinaus weniger Kosten als ein Team aus fu nf Entwicklern.
Das Leben an der Spitze Im Fru hjahr 1998 erhielt ich einen Anruf der neuen Dekanin fu r Ku nste und Wissenschaften der Universitat Maine. Sie schlug vor, eine Ad-hoc-Gruppe lokaler –Digiteraten© einzusetzen, die sie bei der Erarbeitung des Lehrplans fu r einen neuen Informatikstudiengang der Universitat beraten wu rden. Ich sagte zu, ohne zu zogern. Wahrend unseres ersten Treffens, beim Mittagessen, stellte ich ihr eine meiner typischen Berater-Fragen: –Deborah, wenn ich Sie an einem u blichen Arbeitstag beobachten wu rde, was bekame ich zu sehen?© Sie hielt nur einen Moment inne, bevor sie antwortete: –Sie bekamen eine Frau zu sehen, die mindestens ein Drittel ihres Tages damit zubringt, ihre eigene Sekretarin zu sein, vor dem Kopierer zu stehen, Akten abzulegen, Besorgungen zu machen ...© Dann erklarte sie mir, dass Dekane wegen des knappen Budgets der Universitat auf Hilfskrafte verzichten mussten. Sie hatte keine andere Wahl, als anfallende Bu roarbeiten selbst zu erledigen. Ich finde die Vorstellung einer kopierenden Dekanin ziemlich beunruhigend. Aber solche Szenen sind an der Tagesordnung, in der Wirtschaft genauso wie in der Wissenschaft. Vielleicht erleben Sie sie auch an Ihrem Arbeitsplatz. Wie viele Ihrer 77
hoch bezahlten Manager, Ingenieure, Entwickler und Designer haben alle Hande voll zu tun, ihre eigenen Bu rokrafte zu spielen, wahrend Sie diese Worte lesen? Wie viel Zeit verbringen Sie selbst auf diese Weise? Ich hoffe, Sie fragen sich: –Wie konnten wir es bloÄ so weit kommen lassen?©
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12 Das zweite Gesetz des schlechten Managements Weil niemand ein Kapitel u ber das Zweite Gesetz von irgendetwas lesen wird, ohne das Erste Gesetz zu kennen, will ich Sie nicht unnotig auf die Folter spannen: «Das Erste Gesetz des schlechten Managements: Wenn etwas nicht funktioniert, tun Sie das Gleiche immer wieder.Ü Das Erste Gesetz des schlechten Managements entstand in den neunziger Jahren und geht auf den Berater und Autor Jerry Weinberg zuru ck. Auf politischer Ebene erklart das Erste Gesetz unter anderem die Art und Weise, wie Amerika seinen Krieg gegen Drogen fu hrte. (Vielleicht erklart es u berhaupt alle politischen Entscheidungen.) In der Wirtschaft zeigt sich Handeln im Sinne des Ersten Gesetzes vor allem dort, wo Management ohne die Hilfe von Talent auskommen muss. Begabte Manager sind gegen diesen Unfug weitgehend gefeit; sie nehmen ihre Umgebung mit allen Sinnen war, stimmen ihr Fu hrungsverhalten auf die Reaktionen ihrer Mitarbeiter ab und justieren und verfeinern unermu dlich ihre Managementpraktiken, um die maximale Wirkung zu erzielen. Wenn etwas nicht funktioniert, lassen sie es bleiben und versuchen etwas anderes. Manager ohne dieses Talent verlassen sich dagegen auf vorgefertigte Rezepte und Management-–Grundsatze© . Sie reden sich ein: –Laut Regelbuch mu sste es eigentlich so gehen; wenn nicht, habe ich mich vermutlich nicht genug angestrengt.© Und sie tun das, was bisher schon nicht klappte, immer wieder. Das Erste Gesetz ist amu sant und erklart sicher einige der schlimmsten organisatorischen Fiaskos, aber es ist seinem Wesen nach krank. Deshalb hilft es fahigen Managern, die besser werden mochten, nicht weiter. Meine Beratungstatigkeit bringt mich standig in Kontakt mit guten Leuten. Ich sehe, wie sie ihre Erfolge erzielen, und manchmal sehe ich, wie sie scheitern. Ich versuche, ihnen zu helfen, das Beste aus ihren Starken zu machen und ihre Schwachen zu bekampfen. In diesem Kapitel mochte ich gute Manager wie sie an einer Erkenntnis
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teilhaben lassen, die ihnen helfen wird, einen der du mmsten und doch u blichsten und schadlichsten Managementfehler zu vermeiden.
Eine Dummheit, die wir alle begehen Wenn ich mich an die schlimmsten Fehlleistungen meiner Managementkarriere und der meiner Kollegen zuru ckerinnere, wird mir klar, dass sie alle auf das gleiche scheinbar unschuldige Laster zuru ckzufu hren sind “ ein Laster, dem wir alle das eine oder andere Mal verfallen sind. Auch Sie. «Das Zweite Gesetz des schlechten Managements: Stellen Sie sich als Ihren eigenen Allroundersatzspieler auf.Ü Die Neigung dazu ist in den u berstraffen Organisationen von heute besonders ausgepragt. Ihr Unternehmen wurde beschnitten und zurechtgestutzt, Personal wurde abgebaut, Overhead auf ein Minimum reduziert und jeder Firmenbereich auf hochste Effizienz getrimmt. Mit dem Ergebnis, dass es die Person, die unter Ihnen fu r Was-auch-immer zustandig war, jetzt nicht mehr gibt. Der Rest Ihrer Mitarbeiter hat hollisch viel zu tun, und Sie wollen ihnen keine weiteren Aufgaben mehr aufbu rden, schon gar nicht solche, die das obere Management fu r so unwichtig erachtete, dass es den dafu r zustandigen Mitarbeiter freisetzte. Trotzdem muss Was-auch-immer erledigt werden. Was sollÖs, Sie packen es sich zusatzlich zu Ihrer sonstigen Arbeitslast auf und erledigen es mit. Das Organigramm sieht nun so aus:
Zwei Dinge an dieser Gepflogenheit bedu rfen der Klarung: 1) Warum sie ein solches Desaster ist und 2) warum wir trotzdem an ihr festhalten. 80
Managerwitze Wenn Sie eine unbesetzte Position innerhalb Ihres Verantwortungsbereichs mit sich selbst besetzen, so heiÄ t das, dass Sie sich (zumindest teilweise) von der Aufgabe entbinden, Ihren Verantwortungsbereich zu managen. Eigentlich sollte es nicht notwendig sein, einen Manager darauf hinzuweisen, aber es muss leider sein: Management ist wichtig. Ja, die unerledigte Aufgabe ist auch wichtig, aber nicht so sehr. Ich bin Managern begegnet, die sich bis zu drei Vollzeitstellen u bertrugen, die an ihre eigene Managementposition berichteten. Selbstredend wurden die drei weiter unten in der Hierarchie angesiedelten Jobs mehr schlecht als recht erledigt, und ein Management fand nicht mehr statt. Warum muss man Managern sagen, dass Management wichtig ist? Zumindest in den USA und Europa geht eine seltsame Sage u ber Management um: Trotz der hohen Gehalter, die dafu r gezahlt werden, ist es fu r die richtige Fu hrung der Organisation nicht wirklich wichtig. Tatsachlich, so die Sage, steht das Management oft nur im Weg. Ich kenne kaum eine Organisation, in der nicht daru ber gelastert wird: –Wenn die Chefin auÄ er Haus ist, kommt man hier endlich mal richtig zum Arbeiten.© Oder: –Vielleicht kann ja irgendjemand Lawrence dazu bringen, nachste Woche Urlaub zu nehmen. Dann konnten wir den Termin vielleicht sogar schaffen.© Diese Witze erzahlen nicht nur unsere Mitarbeiter u ber uns, diese Witze erzahlen auch wir selbst. Unsere Witzchen waren nicht so lustig, wenn sie nicht zumindest ein Kornchen Wahrheit enthielten. Das Kornchen Wahrheit ist: Manager erbringen keine der Dienstleistungen und produzieren keine der Produkte, fu r die unsere Kunden zahlen. Diese Arbeit leisten die Leute, die an sie berichten. Jedes Mal also, wenn sich ein Manager in den Arbeitstag eines Mitarbeiters einmischt, halt das den Mitarbeiter voru bergehend von Ertrag bringenden Aktivitaten ab. Langfristig betrachtet ist die Storung vermutlich nu tzlich (weil sie zum Beispiel zu einer Arbeitsvereinfachung fu hrt), aber kurzfristig wirkt sie storend. Zunachst einmal wird sie einfach als Plage empfunden. Die Sage mag verbreitet sein, Sie mu ssen jedoch nicht daran glauben. Im Gegenteil: Um Ihren Job korrekt und gut zu erledigen, mu ssen Sie eine vollkommen gegensatzliche Haltung entwickeln. Sie mu ssen verstehen, dass Management (das Management, das Sie bereitstellen) unverzichtbar ist. Glauben Sie mir. Gutes Management ist der Lebensnerv jedes gesunden Unternehmens. Es zu opfern, um Kosten zu sparen, ist wie Blut zu spenden, um abzunehmen.
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Flucht vor der Herausforderung Wir fallen auf das Zweite Gesetz des schlechten Managements nicht nur herein, weil wir vergessen, wie wichtig Management eigentlich ist. Nein, andere, weitaus gewichtigere Gru nde treiben uns dazu, allen voran unser Sicherheitsdenken. In einer Organisation, in der die Nerven blank liegen, leben Manager ausgesprochen unsicher. Sicherheit liegt nur in der Arbeit selbst “ der Herstellung des Produkts zum Beispiel, einer Tatigkeit, die eigentlich nachrangigen Mitarbeitern obliegt. Deshalb widmen Sie sich der Managementaufgabe allenfalls einen Teil des Tages. Die restliche Zeit arbeiten Sie an der Produktherstellung und damit an der Umsatzerhohung mit. An der Erhohung des Umsatzes mitzuwirken, verschafft Ihnen Sicherheit: Sicherheit, dass man Ihnen die Zeit, die Sie auf Ihre Managementaufgaben verwenden, nicht allzu sehr anlastet ... vorausgesetzt natu rlich, Sie beschranken sich dabei auf ein Minimum. Der Konigsweg zu klugen Managemententscheidungen ist diese Haltung sicher nicht. Daru ber hinaus halsen wir uns weniger hochwertige Tatigkeiten auch auf, weil wir die Herausforderung scheuen. Ja, ich weiÄ , wir alle lieben echte Herausforderungen, das heiÄ t jedoch nicht, dass wir nicht ab und zu kalte Fu Ä e bekommen und nach einem Fluchtweg suchen. Managementherausforderungen sind beangstigend: Sie fu hren uns in die erschreckend wenig greifbare Welt menschlicher Beziehungen, in der es um Motivation, soziales Miteinander, Konflikte und Konfliktmanagement geht. Ich selbst u bernahm meine erste Managementaufgabe direkt aus einem technischen Job heraus, in dem nichts ungreifbar war. Unmittelbar vor diesem Karrieresprung arbeitete ich als Entwickler fu r Echtzeit-Systeme. Systementwurf ist herrlich schwarz-weiÄ : Ein Entwurf funktioniert oder er funktioniert nicht. Er ist ausreichend flexibel und erweiterbar oder nicht. Und selbst wenn die Qualitat eines Entwurfs zum Entwurfszeitpunkt noch nicht hundertprozentig klar zutage tritt, zeigt sich spatestens in der anschlieÄ enden Implementierungsphase, ob der Entwurf akzeptabel (ja sogar elegant) ist oder nicht. Dazwischen gibt es wenig Nuancen. Im Management sind Nuancen dagegen das A und O. Warum um alles in der Welt ist Maria so gereizt? Was ist der Grund fu r die Spannungen zwischen Armand und Elwood? Sieht sich Danny nach einem neuen Job um, und was tun wir, wenn er tatsachlich ku ndigt? Habe ich den Abgabetermin als Schwierig, aber machbar verkauft, oder macht man sich hinter meinem Ru cken u ber meine Naivitat lustig? Habe ich in meinem Briefing den richtigen Ton getroffen? Ist mein Chef plotzlich in Ungnade gefallen, und was heiÄ t das fu r mich? Noch wahrend ich mich mit all diesen Fragen auseinander setzte, legte mir einer meiner Systemdesigner die Ku ndigung auf den Tisch und ging. Ohne zu zogern, sprang ich fu r ihn ein. Wow, war das eine Erleichterung. Ich war Manager und konnte mich obendrein wieder der Schwarz-WeiÄ -Arbeit widmen, die fu r mich das Hochste war. Ich glaubte, die beste aller Welten erobert zu haben. Aber das hatte ich 82
nicht. Ich war dabei, vor der Managementherausforderung zu fliehen, um zu der Arbeit zuru ckzukehren, die ich in- und auswendig kannte. Die Erleichterung, die ich empfand, war die Erleichterung eines Fahnenfl u chtigen.
Warum Management schwierig ist Wir alle mu ssen irgendwann in unserer Managementkarriere den Versuchungen des Zweiten Gesetzes widerstehen. Um ihnen standzuhalten, mu ssen wir einer harten Wahrheit ins Auge sehen: Management ist schwierig. Das liegt nicht daran, dass es so viel Arbeit verursacht. (Ein u berarbeiteter Manager erledigt sehr wahrscheinlich Arbeiten, die er oder sie nicht erledigen sollte.) Management ist schwierig, weil die dafu r erforderlichen Fahigkeiten ihrem Wesen nach schwer zu erwerben sind. Die mehr oder weniger meisterhafte Beherrschung dieser Fahigkeiten beeinflusst Ihre Organisation weitaus mehr, als alles, was sich unter Ihnen abspielt. Es bringt nichts, vor dieser Herausforderung wegzulaufen.
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13 Die Kultur der Angst In Der Name der Rose, Umberto Ecos packender, im 14. Jahrhundert spielender Kriminalgeschichte, werden in einer italienischen Abtei, die fu r ihre riesige Archivbibliothek bekannt ist, mehrere Monche ermordet aufgefunden. Ein gelehrter Franziskanermonch, der die Abtei besucht, William von Baskerville, hat ein Geru cht gehort, in der Bibliothek befande sich die letzte auf der ganzen Welt erhaltene Abschrift einer Abhandlung des Aristoteles u ber die Komodie. Es gibt gute Gru nde zu glauben, dass alle getoteten Monche mit dem Manuskript in Beru hrung gekommen sind. Das fu hrt ihn dazu, den Bibliothekar Jorge als Morder zu verdachtigen. Williams Verdacht erhartet sich, und er stellt Jorge zur Rede, der ihm erklart, das Manuskript sei einfach zu gefahrlich; kame sein erschreckender Inhalt jemals der Allgemeinheit zu Ohren, sei alles verloren. –Wu rde jedoch ... ware jedoch dieses Buch zum Gegenstand offener Ausdeutung und Debatte geworden, so hatten wir auch diese letzte Grenze noch u berschritten© , sagt Jorge. Denn Aristoteles stelle die ketzerische These auf, das Lachen sei etwas Bewunderns- und Wu nschenswertes. –Aber was schreckt dich so sehr an dieser Abhandlung u ber das Lachen?© , fragt ihn William. –Das Lachen vertreibt dem Bauern fu r ein paar Momente die Angst. Doch das Gesetz verschafft sich Geltung mit Hilfe der Angst, deren wahrer Name Gottesfurcht ist. Und aus diesem Buch konnte leicht der luziferische Funke aufspringen, der die ganze Welt in einen neuen Brand stecken wu rde.© Lachen vernichte die Angst, fahrt Jorge fort, und Angst sei unsere einzige echte Hoffnung auf Erlosung. –Was waren wir su ndigen Kreaturen dann ohne die Angst, diese vielleicht wohltatigste und gnadigste aller Gaben Gottes?© Am Ende geht die Abhandlung in einem Brand verloren, den Jorge legt, um die Bibliothek fu r immer in einem Flammenmeer zu vernichten (damit wir alle in Sicherheit sind, vermute ich).
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Die go ttliche Gabe Die Abhandlung ist verloren, aber etwas anderes u berlebte das Feuer: Jorges widersinnige Ansicht, Angst sei eine Gottesgabe. Wie sonst konnen wir uns die Achtung und Vormachtstellung erklaren, die Angst in so vielen Organisationen genieÄ t? Wie sonst konnen wir die –Kultur der Angst© begreifen, die den Arbeitsalltag so vieler Menschen bestimmt? Organisationen, in denen eine Kultur der Angst herrscht, sind unter anderem durch die folgenden Charakteristika gekennzeichnet:
1. Es ist gefahrlich, bestimmte Dinge auszusprechen (z.B. –Ich bezweifle ernst2. 3. 4. 5. 6. 7.
haft, dass wir diese Vorgabe wirklich erfu llen konnen.© ). Ihr Wahrheitsgehalt spielt dabei keine Rolle. Stellen sich Ihre Zweifel als berechtigt heraus, so gilt das als Beweis dafu r, dass Sie der Grund dafu r sein mu ssen, warum sich die schonsten Hoffnungen Ihrer Vorgesetzten nicht erfu llen konnten. Die Zielvorgaben sind so aggressiv, dass die Chance, sie einzuhalten, praktisch gleich null ist. Macht darf u ber den gesunden Menschenverstand triumphieren. Wer sich nicht unterordnet, darf ungestraft beschimpft und herabgesetzt werden. Die Leute, die gehen mu ssen, sind im Durchschnitt kompetenter als die, die bleiben du rfen. Die Manager, die das Massaker u berleben, sind ein auÄ erst reizbarer Haufen. Niemand will sich mit ihnen anlegen.
Hoffentlich haben Sie beim Lesen dieser Aufzahlung gedacht, ich zeichne ein reichlich extremes Bild. Hoffentlich “ denn das wu rde darauf hindeuten, dass in Ihrer Organisation keine Kultur der Angst herrscht. (Erscheint Ihnen das gezeichnete Bild nicht als extrem, du rfen Sie sich meines Mitleids sicher sein.)
Der zornige Manager Wenn Sie in einem einigermaÄ en gesunden Unternehmen arbeiten, konnen Sie sich vielleicht nicht vorstellen, dass die Kultur der Angst u berhaupt so weit verbreitet ist, dass es sich lohnt, daru ber zu schreiben. Ich habe keine Daten zur Hand, aus denen eindeutig hervorgeht, dass 14,3 Prozent oder 8,8 Prozent oder 26,923 Prozent der Firmenkulturen pervers sind. Aber ich offeriere Ihnen ein inoffizielles Indiz, das dafu r spricht, dass zornige Manager “ um nur auf den letzten Aufzahlungspunkt einzugehen “tatsachlich ein ziemlich haufiges Phanomen sind. Mein 85
Indiz entstammt jenem unbestechlichen Seismographen aller bedeutsamen amerikanischen Trends, namlich dem auf Hochglanzpapier gedruckten Anzeigenteil eines Magazins einer Fluggesellschaft.
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Diese Anzeige will die folgende Botschaft vermitteln: Wenn Sie einen Termin versaumt haben und Ihr Boss deswegen sauer reagiert, sind nicht Sie daran schuld, sondern Ihr unzulanglicher Terminplaner. Das blode Ding hat vermutlich zu wenig Unterteilungen, Karteireiter und Klarsichttaschen oder vielleicht einfach nicht genug Ringe. Wenn Sie sich endlich einen wirklich modernen Terminplaner wie den in der Anzeige beworbenen zulegen wu rden, blieben Ihnen solche Szenen ku nftig erspart. Das ist die Botschaft, die die Anzeige gern vermitteln wu rde. Mir hat sie freilich etwas anderes vermittelt. Ist Ihnen auch aufgefallen, dass der Anzeigentext nicht den kleinsten Hinweis auf die Brutalitat der dargestellten Situation enthalt? Dabei ist die Szene doch wirklich hasslich: Der Chef macht einen Mitarbeiter vor seinen Kollegen nieder. Irgendein armes Schwein windet sich unter dem Angriff eines wild gewordenen Managers, der seine Wut in aller O ffentlichkeit abreagiert. Und trotzdem schien es den Werbetextern nicht geboten, sich von dem Geschehen zu distanzieren und anzudeuten: –Wir finden diese Art von extremem Machtmissbrauch durch einen Manager wirklich nicht gut, aber ...© Stellen Sie sich vor, das Bild hatte statt dessen einen wu tenden Vater gezeigt, der mit der Gu rtelschnalle auf sein Kind eindrischt. Auch wenn es sich dabei nur um die Werbung eines Gu rtelherstellers gehandelt hatte, konnen Sie darauf wetten, dass die Werbetexter des Gu rtelherstellers gezwungen gewesen waren, Ihnen zu versichern, dass sie Kindesmisshandlung nicht gut heiÄ en. Hier dagegen wird die Szene einfach als ganz normaler Vorfall aus dem beruflichen Alltag dargestellt. Der sie ja auch ist. Die Tatsache, dass wir fu r den Wutanfall eines Managers keine Erklarung brauchen, zeigt, wie selbstverstandlich er uns erscheint. Es stimmt schon, Vorfalle dieser Art sind nicht wu nschenswert, seufzen wir, aber sie kommen eben vor. Und ob sie das tun; sie sind Teil einer Kultur der Angst. Zornige Manager sind Loser, unselige Nichtskonner, die bis zum Hals im Schlamassel stecken und nicht die geringste Ahnung von Fu hrung haben. Langfristig wird ihre eigene Raserei sie zu Fall bringen. Kurzfristig allerdings neigen sie zu Clusterbildung. Das heiÄ t, einige wenige Organisationen bekommen einen u bergroÄ en Anteil von ihnen ab. Ich erwahne das, weil Menschen, die in einer Kultur der Angst leben, moglicherweise nicht einmal wissen, dass der Missbrauch, dem sie ausgesetzt sind, keineswegs u berall u blich ist. Wirklich nicht. Wenn Sie in eine solche Kultur geraten sind, sollten Sie sich schleunigst aus dem Staub machen. Das Leben ist einfach zu kurz dafu r. Eine etablierte Kultur der Angst stellt sich allen gesunden, lohnenden Entwicklungen in den Weg. An Wachstum ist nicht zu denken, Veranderungen (Verbesserungen) sind praktisch unmoglich, die allgemeine Stimmung ist im Keller. Sinnvolle Ziele lassen sich einfach nicht erreichen. Gute Leute ku ndigen, und gute neue Leute bleiben in Scharen weg.
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Von all den vielen Nebenwirkungen, die die Kultur der Angst hervorruft, will ich hier nur eine detailliert erlautern. Ich mochte mich auf dieses eine Problem konzentrieren, weil es so schadlich ist und gleichzeitig so wenig verstanden wird. Ich nenne es ...
Das Paradoxon der personellen U berbesetzung Sie erinnern sich: Unser u bergreifendes Thema in diesem zweiten Teil ist die Wirkung von Stress auf Organisationen. Stress wird besonders spu rbar, wenn zu wenig Personal vorhanden ist. Das Gehaltsbudget wird geku rzt, vermeintlich u berflu ssige Positionen werden zusammengelegt, und als Ergebnis verzehren Sie sich in dem Versuch, mit neun Leuten das Gleiche zu leisten wie fru her mit elf. Keine Frage: Wir alle kennen diese Art von Stress. Die Versuchung liegt nahe zu sagen, stressgeplagte Organisationen seien immer personell unterbesetzt; das sei ja gerade der Grund fu r all den Stress. Wie gesagt, die Versuchung liegt nahe, aber ganz so einfach ist es nicht. Es gibt auch Situationen, in denen personelle U berbesetzung das Problem ist, in denen U berbesetzung sowohl die Stressursache als auch Teil unserer Stressreaktion ist. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, stellen Sie sich vor, vor kurzem das Management eines ganz neuen Projekts u bernommen zu haben. Bei dem Projekt geht es darum, eine vollig neue und drastisch andere Version des Produkts zu entwickeln, das die Hauptstu tze des Unternehmens darstellt. Natu rlich gibt es keine Moglichkeit, ein solches Projekt anders als im Schweinsgalopp durchzufu hren. Nein, Sir. Es steht eine Menge auf dem Spiel und das Projekt muss bis gestern erledigt sein. Okay, gut, bis gestern kann es nicht abgeschlossen werden, aber nachsten Jahr zum Ende des dritten Quartals muss es definitiv unter Dach und Fach sein. Das ist der Termin, auf den sich das Topmanagement festgelegt hat. Tatsachlich hat sich der Vorstandsvorsitzende selbst dafu r verbu rgt, dass das Produkt ab 30. September nachsten Jahres lieferbar sein wird. Dieser Termin wurde bei einer Pressekonferenz genannt, und diesen Termin hat die Wirtschaftspresse veroffentlicht. Ihren erfahrenen Augen scheint der 30. September ein absolut utopischer Termin zu sein. Er wu rde einen unrealistischen Zeitplan implizieren und ist nicht einmal als Ziel glaubwu rdig. Weder Sie noch irgendjemand sonst halt diese Vorgabe fu r machbar. Also reden Sie, optimistisch wie Sie sind, mit Ihrer Chefin, ob Sie etwas mehr Spielraum bekommen konnen. Sie erklaren ihr, dass der 30. September einfach nicht drin ist. –Er muss drin sein© , informiert sie Sie mit fester Stimme. –Wir werden Ihnen einfach die Leute geben, die Sie brauchen, um den Termin zu schaffen. Wie viele wollen Sie?© –Tja© , sagen Sie. –Ich dachte an drei Entwurfsspezialisten, von denen mindestens einer Erfahrung im Schnittstellenbereich haben sollte, dazu einen systemnahen Typen (einen Architekturspezialisten), einen fu r die Tests, einen fu r die Qualitats88
kontrolle und mich. Das waren sechs fu r den Anfang. Zwischen Mai und Juni sollten wir dann den Personalstand auf ungefahr zwanzig hochfahren. Aber selbst mit dieser Idealbesetzung ...© –Nehmen Sie sechzig© , sagt Ihre Chefin. –Sechzig heute und bis Jahresende 150. Damit sollte es zu schaffen sein.© Und genau da liegt das Dilemma. Die Frage bleibt unausgesprochen, aber sie steht im Raum: Sind Sie ein Manager der Meisterklasse, der 60 bis 150 Leute fu hren kann, oder gehoren Sie zu diesen Kreisliga-Spielern, die nur Kleinstgruppen leiten konnen? Eine Sache ist sicher: Wenn Sie sich nicht beirren lassen und das Projekt wie urspru nglich geplant nur mit einer Hand voll Mitarbeitern beginnen, dann wird man den versaumten Termin einzig und allein Ihrer Unwilligkeit zuschreiben, die Herausforderung anzunehmen. Bei jeder Art von Projektarbeit, ganz gleich, worum es sich handelt, sind die fru hen Konzeptionsphasen entscheidend. Diese Konzeptionsarbeit kann jedoch nicht mit Unmengen von Leuten erledigt werden. In der Phase, in der die ersten Entwurfsentscheidungen getroffen werden, ist ein Team aus hochstens sechs Mitarbeitern oft die sinnvollste Besetzung. Wu rde man das Projekt in diesem Stadium mit fu nfzig zusatzlichen Leuten befrachten, so wu rde dies den Arbeitsfortschritt nur verlangsamen. Oder noch schlimmer: Wenn so viele Leute auf Ihrer Gehaltsliste stehen, fu hlen Sie sich als Manager verpflichtet, eine (irgendeine!) Aufgabe fu r sie zu finden. Wobei von den Moglichkeiten, die Ihnen offen stehen, eine so schlecht ist wie die andere. Mit allen Aufgaben, mit denen Sie Ihre Leute fu rs Erste beschaftigen, nehmen Sie konzeptuelle Entscheidungen vorweg, die noch nicht richtig ausgegoren sind. Sie sind gezwungen, das Ganze in Teile aufzubrechen. Damit aber treffen Sie eine grundlegende Entwurfsentscheidung. Statt Entwurfserwagungen bestimmen Fragen der Personalauslastung die Unterteilung des Projekts. Das Ergebnis wird unweigerlich ein mittelmaÄ iger oder schlechter Entwurf sein, der das Projekt fortan belasten wird. Was ist hier passiert? Sie haben sich breitschlagen lassen, das Projekt mit so vielen Leuten zu besetzen, dass seine Fertigstellung zwangslaufig mehr Zeit in Anspruch nehmen wird als mit einem kleineren Team. Das alles hat u berhaupt nichts mehr mit der Einhaltung des Termins zu tun. Es hat damit zu tun, dass Sie so aussehen, als wu rden Sie sich alle Mu he geben, den Termin einzuhalten. In unserem straffen und taffen Zeitalter ist es ausgesprochen gefahrlich fu r Sie, das Projekt in straffer (optimaler) Besetzung zu leiten. Fu r Verru cktheiten dieser Art zeichnen der Stress, dem Unternehmen ausgeliefert sind, und die Kultur der Angst verantwortlich. Aber es kommt noch schlimmer. Lesen Sie weiter ...
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14 Die Lust am Rechtsstreit Es ist kein Geheimnis, dass Unternehmen “ vor allem amerikanische “ heute prozessfreudiger sind denn je. Weniger deutlich tritt zutage, dass bei vielen Rechtsstreitigkeiten die Kultur der Angst eine wichtige Rolle spielt. Wenn ich als Sachverstandiger und Prozessberater tatig bin, sehe ich nur noch selten einen Fall, an dem nicht zumindest eine Kultur-der-Angst-Organisation beteiligt ist, Und da wir Gutachter eine eng verschworene Gemeinschaft bilden, bekomme ich pikante Einzelheiten u ber mehr Falle zu horen, als ich selbst je bearbeiten konnte. Mein Eindruck ist, dass in etwa zehn Prozent aller amerikanischen Unternehmen die Angst umgeht. Aber von den Firmen, die in einen Rechtsstreit verwickelt sind, sind mehr als die Halfte echte Kultur-der-AngstOrganisationen.
Keiner wird gewinnen Falls Sie das Glu ck hatten, in Ihrer bisherigen Karriere Rechtsstreitigkeiten vermieden zu haben, mochte ich Ihnen ein paar Details darlegen, die allen Prozessen gemeinsam sind: Rechtsstreite zwischen Unternehmen sind enorm teuer; beide Parteien mu ssen Prozess- und Anwaltskosten in einer Hohe aufbringen, die die letztlich festgelegte Ausgleichszahlung als geradezu lacherlich gering erscheinen lassen. Keine Seite gewinnt, alle verlieren. Das ist ein fast schon charakteristisches Kennzeichen heutiger Prozesse: Es verlieren immer alle. Niemand geht aus einem Rechtsstreit je als Gewinner hervor. Prozess- und Anwaltskosten machen ja nur einen Teil der Kosten aus; die streitenden Parteien mu ssen fu r den Prozess womoglich ebenso viel Personal einsetzen wie fu r den ganzen strittigen Vertrag. Prozesse ziehen sich ewig hin und u berschreiten haufig bei weitem die Laufzeit des urspru nglichen Vertrags. Ist die traurige Farce dann endlich vorbei, ist die Stimmung in beiden Organisationen auf den Nullpunkt gesunken. Allen Beteiligten ist klar, dass sie Jahre ihres Lebens fu r ein sinnloses und zerstorerisches Unterfangen verschwendet haben. 90
Warum tun sie es dann trotzdem? Warum kommt es u berhaupt zu einem Prozess? Warum suchen wir nicht einfach unsere Sachen zusammen, wenn die Dinge schief laufen, und wenden uns wieder dem Geschaft zu, Geschafte zu machen? Meiner Erfahrung nach gibt es zwei wichtige Motive, Unstimmigkeiten vor Gericht auszutragen “ trotz der tru ben Aussichten, dass jemals etwas Lohnendes dabei herauskommt: 1. Ein Prozess kann eine wirksame Moglichkeit darstellen, Verantwortung abzuschieben. Gelingt es nicht, ein Versagen jemandem auÄ erhalb der Organisation in die Schuhe zu schieben, muss es innerhalb der Organisation aufgearbeitet werden. In hochpolitischen Organisationen kann das die Betroffenen teuer zu stehen kommen. 2. Ein Prozess kann die Folge eines von vornherein unzulanglichen Vertrages sein. Die dem Streit zugrunde liegende Vereinbarung wird von einer der Parteien nachtraglich als ungeheuerliche Bevorteilung der anderen empfunden. Bei der Suche nach Wiedergutmachung geht es der geschadigten Partei mehr um das Prinzip als um finanziellen Ausgleich. Wie Sie sehen, scheinen die beiden Ursachen nicht viel gemeinsam zu haben. Und um die Verwirrung zusatzlich zu erhohen, werden Typ-1-Prozesse haufig unter dem Deckmantelchen eines Typ-2-Prozesses gefu hrt. So oder so: Unabhangig von der wahren Ursache spielt die Kultur der Angst eine Rolle.
Prozessieren als Mittel, Verantwortung abzuschieben Nehmen wir an, die Kaufer AG schlieÄ t mit der Verkaufer AG einen Vertrag u ber die Fertigung von Was-auch-immer ab. Was-auch-immers herzustellen ist die besondere Starke der Verkaufer AG, nicht der Kaufer AG. Deshalb kam der Vertrag zustande. Trotzdem ist auch die Kaufer AG an der erfolgreichen Vertragserfu llung beteiligt: Die Kaufer AG stellt sehr wahrscheinlich ganz bestimmte Anforderungen an die Herstellung der Was-auch-immers, um zu gewahrleisten, dass sie exakt das Gewu nschte bekommt, und fu hrt moglicherweise Akzeptanztests durch. Die Kaufer AG ist daru ber hinaus fu r die Auftragserteilung an die Verkaufer AG verantwortlich. Und schlieÄ lich kann niemand der Kaufer AG ihre Verantwortung dafu r abnehmen, dass sie die Was-auchimmers auch wirklich braucht und die Bestellung sich nicht als teures Fiasko erweisen wird. Angenommen, die Kaufer AG kommt einer ihrer Pflichten nicht nach. Ein derartiges Versagen kommt nicht aus heiterem Himmel, dafu r tragt jemand die Schuld. Fu r die korrekte Spezifikation der Anforderungen zum Beispiel gab es Verantwortliche. Wenn die Anforderungen unprazise formuliert wurden, wesentliche Details offen lieÄ en oder einfach falsch waren, dann mu ssen die verantwortlichen Leute bei der Kaufer AG die Sache ausbaden. 91
In einer gesunden Organisation ist ein bestimmtes MaÄ an Versagen in Ordnung. Bei Microsoft zum Beispiel gilt seit langem das halboffizielle Prinzip: –Erst auflaufen, dann durchstarten.© Den Mitarbeitern wird zunachst so viel Verantwortung aufgehalst, dass sie auflaufen (scheitern) mu ssen. Danach haben sie Gelegenheit, sich zu erholen und ihre Leistung zu analysieren und zu verbessern. SchlieÄ lich u bertragt man ihnen erneut eine vergleichbare Menge Verantwortung, aber dieses Mal kommen sie gut damit zurecht. Lauft jemand beim ersten Mal nicht auf, so heiÄ t das nur, dass die Herausforderung nicht groÄ genug war. Eines ist gewiss: Beim nachsten Mal wird er oder sie mehr gefordert werden. Diese Politik erfreut sich firmenweiter Beliebtheit, und manchmal hat es den Anschein, dass Microsoft als groÄ angelegtes Abenteuer-Camp gefu hrt wird. Dass Mitarbeiter ihre Schwachen durch Scheitern herausfinden, ist kein Zufall; es ist ein bewusst geplanter Teil der Firmenphilosophie. Gesunde Firmen wissen, dass sie ihren Leuten Fehler zugestehen mu ssen, ohne sie dafu r zur Verantwortung zu ziehen. Anderenfalls wu rde es niemand mehr wagen, neue Wege zu gehen und sich auf Wagnisse einzulassen. Gesunde Firmen wissen das, Kultur-der-Angst-Firmen nicht. In einer Kultur-der-Angst-Firma muss jedes Scheitern bestraft werden. (–Was waren wir su ndigen Kreaturen dann ohne die Angst?© ) Eine typische Strafe besteht darin, dass man Sie entlasst. Und wenn die Leute u ber Ihnen nicht machtig genug sind, werden moglicherweise ein paar von ihnen gleich mitgefeuert. Angesichts dieser Bedrohung ist die Versuchung groÄ , die Verantwortung fu r einen Fehlschlag abzuschieben und jemandem auÄ erhalb der Organisation die Schuld dafu r zu geben. Wenn die Verkaufer AG, um auf unser Beispiel zuru ckzukommen, genau das liefert, was die Kaufer AG in ihrer fehlerhaften Spezifikation gefordert hat, gerat diese leicht in Versuchung, die Verkaufer AG wegen der Lieferung eines so nutzlosen Was-auch-immers zu verklagen. Vielleicht denken Sie, dass ein Prozess dieser Art zum Scheitern verurteilt ist, dass die Verkaufer AG mit der fehlerhaften Spezifikation aufwarten, die Schuld der Kaufer AG an der ganzen traurigen Angelegenheit beweisen und den Prozess gewinnen wird. Wenn Sie das glauben, haben Sie nicht richtig aufgepasst. Aus einem Rechtsstreit geht niemand als Sieger hervor. Es verlieren immer alle Seiten. Noch schlimmer: Ein Prozess ist ein solches Glu cksspiel, dass die relativ unschuldige Partei am Schluss womoglich mehr verliert als die relativ schuldige. Der Grund dafu r: Heutige Vertrage sind so technisch und komplex, dass die Gerichte von der Faktenlage schier erdru ckt werden. Mehr als der Tatbestand bestimmen deshalb die Fahigkeiten der Anwalte oder die relative Verstandlichkeit der von einer Seite vorgetragenen Argumente den Prozessausgang. Wenn alles voru ber ist, hat die Kaufer AG nicht nur unter dem gescheiterten Projekt zu leiden, sondern auch die zusatzlichen Verluste durch den Prozess zu verkraften. Aber moglicherweise haben einige Leute der Kaufer AG erfolgreich die Schuld von sich auf die Verkaufer AG umgelenkt. Selbst wenn das Gericht der Klage nicht stattgibt, haben die schuldigen Parteien bei der Kaufer AG am Ende 92
eines zahen Rechtsstreits sehr wahrscheinlich langst eine ganz andere Aufgabe u bernommen oder das Unternehmen von sich aus und nach ihren Spielregeln verlassen.
Ein Umfeld fur Schuldzuweisungen Die Chemie in Kultur-der-Angst-Organisationen scheint nach einem festen MindestmaÄ an Schuld zu verlangen. In einigen Unternehmen ist dieses MindestmaÄ sogar in der Firmenpolitik festgeschrieben. General Electric zum Beispiel sieht vor, alle Manager einmal jahrlich zu beurteilen und die schlechtesten 10 Prozent zu entlassen. Es gibt nur zwei Moglichkeiten, sich in einem solchen Umfeld zu behaupten: Entweder Sie schneiden relativ gut ab, oder einige Ihrer Peers schneiden relativ schlecht ab. Jedes Scheitern eines Managers auf der gleichen Hierarchieebene wie Sie selbst senkt somit den Druck, der auf Ihnen lastet. In einer solchen Umgebung ist es ganz natu rlich, wenn Manager dazu neigen, alles misstrauisch zu beaugen, was einen groÄ en Gewinn fu r einen gleichrangigen Kollegen bedeuten konnte. Bei den meisten Rechtsstreitigkeiten, mit denen ich befasst bin, gibt es einen ernsthaften Konflikt zwischen rivalisierenden Kampfhahnen in einer (manchmal in beiden) der prozessierenden Organisationen. Vielleicht gibt es in der Kaufer AG eine Vertriebsabteilung, der die Markteinfu hrung eines erfolgreichen Wasauch-immers sehr zustatten kame. Und vielleicht gibt es daneben eine Marketingabteilung, die die gleiche Markteinfu hrung als Bedrohung fu r sich empfindet. So kommt es, wie es kommen muss: Die Marketingabteilung (besonders wenn die Kaufer AG eine Kultur-der-Angst-Firma ist) setzt ein paar Einschrankungen in der Spezifikation durch oder stellt ein paar Eigenschaften in Frage, die der Vertriebsabteilung besonders am Herzen liegen. Die Spezifikation wird aufgeblaht, verwassert oder bewusst vage gehalten, um beide Konfliktparteien zufrieden zu stellen, und das Ergebnis sind Verzogerungen, Budgetu berschreitungen oder die Lieferung eines Produkts, das fu r alle nutzlos ist. O weh! Hochste Zeit, die Aufmerksamkeit des oberen Managements durch eine Klage gegen die Kaufer AG von dem Desaster abzulenken. Bisher hat mein Beispiel die Kaufer AG und nicht die Verkaufer AG als die Hauptu beltaterin dargestellt. Aber natu rlich ist der umgekehrte Fall genauso denkbar. Vielleicht hat es die Verkaufer AG wegen ihrer eigenen Inkompetenz versaumt, ein relativ wohlspezifiziertes Was-auch-immer fertig zu stellen, und versucht nun, die Verantwortung von sich abzuschieben, indem sie die Kaufer AG wegen einer Hand voll nachtraglicher A nderungen verklagt. Die Kaufer AG wird dann vor Gericht tapfer vortragen, dass der Umfang der A nderungsanforderungen normal war und zu erwarten stand. Sie mag damit Recht haben, aber 93
darauf kommt es gar nicht an. Alle verlieren, ausgenommen die Leute, denen es hauptsachlich darum ging, die Schuld von sich abzuwalzen.
Unzula ngliche Vertra ge Viele Vertrage, die in einem Rechtsstreit enden, sind so mangelhaft formuliert, dass keine der Parteien sie je hatte unterzeichnen sollen. Typischerweise leiden die meisten dieser Vertrage unter unrealistischen Preis- und/oder Terminangaben. Die Kaufer AG und die Verkaufer AG binden sich zum Beispiel durch einen Vertrag, der die Lieferung eines Spezial-Was-auch-immers in ku rzerer Zeit einfordert als jemals fu r die Fertigstellung eines vergleichbaren Was-auch-immers benotigt wurde. Sie verstehen vielleicht, warum die Kaufer AG sich auf einen solchen Vertrag einlasst. Aber welche Interessen verfolgt die Verkaufer AG? Um die Motive der Verkaufer AG zu verstehen, mu ssen wir die Ebene des Topmanagements verlassen und uns mit den nachgeordneten Organisationsebenen befassen, wo die Arbeit gemacht wird. Diese Organisationsebenen fu hlen sich unter dem Druck, Gewinn und Wachstum vorzuweisen (vielleicht in einem schwachelnden Markt), genotigt, die Konkurrenz durch ein niedrigeres Preisangebot oder einen fru heren Liefertermin auszustechen. Jemand in der Organisation ist dafu r verantwortlich, dass die Arbeit erledigt und das Was-auchimmer tatsachlich termin- und budgetgerecht gebaut wird. Er/sie versucht zwar, die unangenehme Wahrheit zu sagen, dass zu wenig Geld und Zeit uf r das Projekt veranschlagt wurden. Aber in einer Kultur-der-Angst-Organisation werden solche Zweifel erstickt oder niedergeschrieen. –Kommen Sie mir nicht damit, dass das nicht geht, verdammt noch mal. Es wird gehen. Und wenn Sie es nicht konnen, hole ich mir eben jemanden, der die Kompetenz dafu r besitzt.© Die Person, die hier schreit, ist jemand mit Autoritat, jemand weiter oben im Organigramm. Autoritat hat dort mehr mit Machtausu bung als mit Realismus zu tun ... jedenfalls eine Zeit lang. Irgendwann holt die Realitat auch das obere Management ein, und das Ergebnis ist ein komplettes Chaos, wie so oft. Zeit, vor Gericht zu gehen. In diesem Fall ist es wahrscheinlich die Kaufer AG, die den Prozess anstrengt, weil ihr bitter unrecht getan wurde. Ihr wurde die Fertigstellung des Produkts innerhalb von elf Monaten zugesichert und jetzt, fu nfunddreiÄ ig Monate und eine Menge zusatzlicher Dollars spater, ist noch immer nichts geschehen. Obwohl die Verkaufer AG keinerlei Beweise hat, wird sie wahrscheinlich Gegenklage erheben. In einigen Fallen werden auch Dritte verklagt, besonders wenn eine der Parteien die Beweise auf ihrer Seite hat und einer der externen Lieferanten gut bei Kasse ist. Der Tatbestand wird untergehen in der technischen Komplexitat des Falls, ein paar ungeschickt formulierten E-Mails und den taktischen Finessen der beteiligten Anwalte. Reicht auch das nicht aus, den Richter 94
gehorig zu verwirren, wird sicherlich eine der Parteien darauf bestehen, dass der Fall vor eine Jury gebracht wird.
Beide Seiten (verdienen zu) verlieren In diesem Beispiel war die Verkaufer AG die Gaunerin. Ihre Leute schrieen die Stimme der Vernunft nieder und lieÄ en sich auf ein Unterfangen ein, das von Anfang an nicht machbar war. Sie taten das aus denkbar eigensu chtigen Motiven heraus: um die Kaufer AG davon abzuhalten, einen Vertrag mit einem Mitbewerber auf der Grundlage eines “ im Nachhinein betrachtet “ fairen Preises und realistischen Terminplans abzuschlieÄ en. Um des kurzfristigen Vorteils willen, den Vertrag zu bekommen, lieÄ en sie sich auf einen unguten Handel ein. Dann versuchten sie, mehr Zeit herauszuschinden, mehr Geld aus der Kaufer AG herauszupressen und die Schuld, so gut sie nur konnten, auf andere abzuwalzen. Die Hauptschuld liegt hier bei der Verkaufer AG, doch die andere Vertragspartei ist von einer Mitverantwortung nicht ganz freizusprechen. Ich will dem Gericht nicht vorgreifen, doch eines ist sicher: Die Kaufer AG hat einen Teil der Katastrophe durch zu hartes Verhandeln selbst u ber sich gebracht. Aber Moment mal, wenden Sie vielleicht ein, ist das nicht der Sinn des Verhandelns? Die allgegenwartigen Seminare zur Verhandlungsfu hrung wu rden Sie in dieser Ansicht sicher unterstu tzen; dort lernen Sie, dass eine Verhandlung erst wirklich erfolgreich ist, wenn Sie die andere Seite u ber den Tisch gezogen haben. Die andere Seite u ber den Tisch zu ziehen, ist in einer Kultur-der-Angst-Organisation ein absolut sinnvolles Ziel. Das ist genau der Grund, warum so viele von ihnen in Rechtsstreitigkeiten verwickelt sind. In der Welt drauÄ en ist diese Einstellung jedoch alles andere als sinnvoll. Wenn Sie Rechtsstreitigkeiten vermeiden wollen, mu ssen Sie mit einer vollig anderen Strategie in Verhandlungen gehen. Die Strategie, zu derich Ihnen rate, stammt von der Autorin Verna Allee und heiÄ t –Das Prinzip des fairen Austauschs© . Einfach ausgedru ckt verlangt dieses Prinzip Ihnen ab, eine Vereinbarung anzustreben, die fu r beide Seiten gleichermaÄ en akzeptabel ist. In anderen Worten, Sie waren bereit, als jede der beiden Parteien zu unterzeichnen. In unserem Beispiel liegt es in der Verantwortung der Kaufer AG zu wissen, ob der von der Verkaufer AG vorgeschlagene Preis und Terminplan machbar ist. Wenn das nicht der Fall ist, wenn die Bedingungen zu schon sind, um wahr zu sein, sollte sie sich nicht auf die Vereinbarung einlassen. Wenn die Kaufer AG die Sachlage nicht gut genug u berblicken kann, um unrealistische Zusagen zu erkennen, sollte sie den Vertrag besser gar nicht erst eingehen.
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Rechtsstreitigkeiten und Spielra ume Zu den beunruhigenden Aspekten vieler Rechtsstreitigkeiten gehort es, dass Mitarbeiter der schuldigen Partei (oder Parteien) fast immer wussten, dass etwas im Argen lag. Sie kannten zum Beispiel von Anfang an die Unzulanglichkeit des Vertrags: Ihnen war klar, dass sich die darin spezifizierten Termine oder Leistungsziele als unrealistisch erweisen wu rden, oder dass sie nicht umhin konnen wu rden, spater den Preis ku nstlich in die Hohe zu treiben. So werden sie zu verheerenden Zeugen gegen ihre eigene Sache, weil sie bei einer Aussage unter Eid ihr fru hes Wissen nicht verbergen konnen. Viele von ihnen haben unvorsichtige (d.h. ehrliche) Memos oder E-Mails an das Management geschrieben und damit das Beweismaterial fu r den Rechtsgegner geliefert. Warum brocken sich Menschen eine so ungenieÄ bare Suppe ein? Der Hauptgrund fu r schlechte Vertrage (Vertrage, in denen das Prinzip des fairen Austauschs nicht respektiert wird) heiÄ t Stress. Jemand mit Autoritat hat herumposaunt: –Was soll das heiÄ en, es ist nicht bis April zu schaffen? Ich leite hier den Geschaftsbereich!© Autoritat sticht Realitat ... wenn auch nicht fu r lange. Bis dahin behalten diejenigen in den unteren Rangen ihre Bedenken fu r sich und versuchen, gute Miene zum bosen Spiel zu machen. Ein guter Vertrag sieht Spielraume vor. Wenn ein Lieferant sich bis zu einem bestimmten Termin zu einer Sache X verpflichtet, ohne ausreichende Spielraume fu r sich einkalkuliert zu haben, handeln Sie zu Ihrem eigenen Schaden, wenn Sie diese Verpflichtung akzeptieren. Wenn zwei konkurrierende Lieferanten Ihnen unterschiedliche Preisangebote vorlegen und der Unterschied sich daraus erklart, dass der gu nstigere Anbieter keinerlei Spielraume vorsieht, dann fordern Sie mit der Wahl des billigeren Anbieters einen Prozess geradezu heraus. Umgekehrt mu ssen Sie als Anbieter wissen, dass die Vertragsbedingungen genu gend Spielraum bieten, um Risiken, mit denen realistischerweise zu rechnen ist, begegnen zu konnen.
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15 Prozess-Versessenheit Standards sind eine sehr gute Sache. Stellen Sie sich doch einmal Folgendes vor: Ihr neues Lucent-Telefon verwendet exakt den gleichen Modulstecker fu r die Telefonbuchse wie Ihr altes Panasonic-Telefon. Es weist die gleichen zehn Zahlentasten und zwei Tasten mit Sonderzeichen auf wie Ihr altes Gerat, und der Ziffernblock hat die vertraute 3x4-Anordnung. Es sendet die gleichen Mehrfrequenztone, arbeitet mit der gleichen Betriebsspannung fu r Signalu bertragung und Rufton und zeigt das gleiche Wahlverhalten. Wenn es Haushaltsstrom verwendet, bezieht es ihn u ber einen Standardstecker, der in eine Standardwandsteckdose passt. Wu rde das neue Telefon nicht all diese Standardvorgaben einhalten, ware es nutzlos; Sie konnten es nur installieren, wenn Sie Ihre gesamte Telefoninfrastruktur beim gleichen Hersteller beziehen wu rden. Um etwas zu andern, mu ssten Sie alles andern. Verbreitete und allgemein anerkannte Standards stellen sicher, dass Sie einen Fuji-Film in eine Kodak-Kamera einlegen konnen, und dass beide so gut zusammenarbeiten, als hatten Sie einen Kodak-Film verwendet. Sie konnen Disketten, Kassetten, Bleistiftminen, Batterien, Heftklammern und Kopierpapier der verschiedensten Anbieter kaufen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob sie auch passen werden. Standards sind nicht nur gut, sie sind unverzichtbar fu r unseren modernen Lebensstil. Damit kommen wir zum Thema Standards fu r Geschaftsprozesse. Wenn Standards u berall sonst eine feine Sache sind, liegt der Gedanke nahe, auch einen Standardweg zur Konzeption einer Werbekampagne einzufu hren, einen Standardweg zur U berpru fung von Mitarbeiterleistungen, einen Standardweg zur Entwicklung von Computerprogrammen oder einen Standardweg zur Durchfu hrung der unzahligen Aufgaben, die die moderne Welt der Wissensarbeit ausmachen. Was konnte vernu nftiger sein, als einen Weg zur Durchfu hrung einer bestimmten Aufgabe zu wahlen und allen Mitarbeitern vorzuschreiben? Der Vorteil liegt auf der Hand: Sie konnen Mitarbeiter aus einem Teil der Organisation in einen anderen verpflanzen, und die Arbeitsvorgange dort werden ihnen so vertraut sein, dass sie loslegen konnen, ohne groÄ umdenken zu mu ssen. (Wir konnten sie sogar mehrmals taglich verpflanzen!) 97
Dieser Vorschlag klingt so bestrickend, und es gibt um uns herum so viele Vorbilder dafu r, dass wir uns gerne vom Sinn von Standardprozessen u berzeugen lassen und fu r jede denkbare Tatigkeit Standards aufstellen. Das kann zu einer echten Prozess-Versessenheit fu hren. Und genau da liegt das Problem. ProzessVersessenheit ist nicht nur eine Anomalie, die dann und wann auftritt. Sie ist eine Epidemie. Prozess-Versessenheit ist in Organisationen, in denen Wissensarbeiter beschaftigt sind, heute so unvermeidlich wie die alljahrliche Wintergrippe ... und meiner Meinung nach ungefahr genauso angenehm.
Standards zur Vorgehensweise Ich raume gerne ein, dass die Metapher, die ich als Einleitung fu r dieses Kapitel verwendet habe und die allgemein als Rechtfertigung fu r Prozess-Standardisierung herhalten muss, etwas weit hergeholt ist, wenn man sie auf Wissensarbeit anwendet. Die Standards, von denen wir abhangen, um uns die Wahlmoglichkeiten in unserem Leben zu erhalten, sind allesamt Produktstandards. Sie dienen fast ausnahmslos dazu, die Schnittstelleneigenschaften eines Produkts einzuschranken, nicht die Art und Weise, wie das Produkt gebaut ist. So ist Fuji gezwungen, den ISO-Standard fu r GroÄ e und Form seiner Filmbehalter einzuhalten, fu r die Filmbreite und Lichtempfindlichkeit, fu r die Position der Transportstanzungen, fu r die Kantenglatte und fu r tausend andere Produkteigenschaften. Anderenfalls kann das Unternehmen den Film nicht als 35mm, ASA400 oder was auch immer verkaufen. Dabei schreiben die Standards Fuji nicht die Art und Weise der Filmherstellung vor, sondern lediglich die auÄ ere Beschaffenheit des fertigen Produkts. Die besondere Zusammensetzung des Films, die Arbeitsschritte, die er auf dem FlieÄ band durchlauft, bleiben voll und ganz dem Hersteller u berlassen. Wenn Fuji sich entschlieÄ t, die Beschriftung auf den Filmbehalter aufzuspru hen, bevor der Film eingelegt wird, wahrend Kodak seine Beschriftung auf die Rolle aufdruckt, nachdem der Film bereits an Ort und Stelle ist, so ist das ganz allein Sache des jeweiligen Unternehmens. Der Standard geht nicht auf das Wie der Filmherstellung ein, er beschreibt lediglich die Eigenschaften des Endprodukts. Der Produktionsprozess beim Hersteller sieht natu rlich Standards zur Vorgehensweise vor. Eine Firma, die zum Beispiel Aluminiumformen presst, legt selbstverstandlich Wert darauf, dass alle Pressstationen nach einer einheitlichen Standardmethode arbeiten, ganz gleich, welche der verschiedenen Formen dort jeweils gepresst wird. Dieser Standardisierung des Produktionsprozesses galt das besondere Interesse des Maschinenbauingenieurs Frederick Winslow Taylor. In seinem 1911 erschienenen Buch Die Grundsa tze wissenschaftlicher Betriebsfu hrung wollte Taylor das ein halbes Jahrhundert fru her fu r Gewehre erfundene Prinzip der austauschbaren Teile auf die Fabrikarbeit u bertragen. Der Taylorismus verlangte eine 98
rigorose Standardisierung der manuellen Fabrikarbeit, um die am Produktionsprozess beteiligten Menschen genauso austauschbar zu machen wie die Teile des Produkts.
Jenseits des Taylorismus Obwohl er mittlerweile fast ein Jahrhundert alt ist, lebt der Taylorismus im Produktionsbereich munter weiter. Auch wenn ich im Folgenden geltend mache, dass er fu r die Wissensarbeit extrem ungeeignet ist, steht auÄ er Frage, dass er in den Fabriken nach wie vor allgemein u blich ist. Bevor ich mich dem Wissenssektor zuwende, mochte ich deshalb mit Ihrem Einverstandnis kurz auf zwei Unternehmen eingehen, die auch in der Produktion den Taylorismus u berwunden haben. Mein erstes Beispiel ist der Autohersteller Volvo, der in den 1980er-Jahren ein teambasiertes Fahrzeugfertigungssystem einfu hrte, bei dem Taylor Zusta nde bekommen wu rde. Jedem Fahrzeug wird von Anfang an ein Team von Arbeitern zugewiesen (wobei es am “Anfangö eigentlich noch gar kein Fahrzeug gibt, nur eine leere Stelle auf dem Flie»band, wo das Fahrzeug Gestalt annehmen wird). Das Team begleitet den Wagen auf seinem Weg durch die Montagestra»e. Wa hrend das Fahrzeug das Flie»band entlang gleitet, erfu llen die Teammitglieder ganz unterschiedliche Arbeitsaufgaben. Sie schwei»en, wenn Schwei»en angesagt ist, schrauben Teile an, verdrahten elektronische Bauteile, tauchen, lackieren und reinigen Karosserieteile, bauen Federung, Polster und Sitzbezu ge ein, setzen die Windschutzscheibe ein, montieren Reifen und Felgen, wuchten die Ra der aus, testen, wachsen und polieren. Am Ende kratzen die Teammitglieder mit einem Stift mit Diamantspitze unter einem der Kotflu gel ihre Unterschriften ein. Dieses Modell unterscheidet sich in praktisch jeder Hinsicht vom Taylorismus. Das fu r einen Wagen zusta ndige Team besteht aus Generalisten, nicht Spezialisten. Jedes Teammitglied muss eine breite Palette von Fa higkeiten entwickeln. Ihre Tage und Stunden verlaufen erstaunlich abwechslungsreich. Die Mitarbeiter identifizieren sich mit einem ganzen Fahrzeug, nicht mit einem winzigen Aspekt aller Fahrzeuge. Ì
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Mein zweites Beispiel betrifft Post Cereal, einen Hersteller von Fru hstu cksmu slis in Jonesboro, Arkansas. Auch hier wird eine Fabrik, die strikt nach der Taylorschen Methode gefu hrt werden ko nnte, nach einem vo llig anderen Modell betrieben. Die drei Schichten sind dort als drei Teams organisiert, von denen jedes dafu r verantwortlich ist, die Firma wa hrend der achtstu ndigen Arbeitszeit auf seine Weise zu leiten. Obwohl alle Teams die gleichen Produkte herstellen und die gleichen Zielvorgaben zu erfu llen haben, bleibt die Entscheidung, wie und wann die verschiedenen Teilaktivita ten auszufu hren sind, den jeweiligen Teams u berlassen. Die Teams sind sogar befugt, ihre Montageba nder voru bergehend stillzulegen, sich zu einem Brainstorming zusammenzusetzen und u ber neue Mo glichkeiten nachzudenken, wie sie ihre Aufgaben erledigen ko nnen. In beiden Beispielen werden die Eigentumsrechte am Prozess nach unten verlagert. Der Prozess wird nicht als Vermogenswert des Unternehmens angesehen, sondern als Vermogenswert des Teams. Dabei geht etwas von der Flexibilitat verloren, Mitarbeiter je nach Bedarf in unterschiedlichen Teams einzusetzen, weil die Teams im Lauf der Zeit einen sehr unterschiedlichen Kurs steuern. Diesem Nachteil steht der Vorteil eines sehr viel interessanteren Arbeitsalltags fu r die Mitarbeiter gegenu ber, die hohere Identifikation mit dem Produkt (und seinen Kunden), eine niedrigere Fluktuation und eine tief empfundene Loyalitat gegenu ber dem eigenen Team und dem Unternehmen. Das heiÄ t nicht, dass der Taylorismus fu r die Fabrikarbeit ungeeignet ware. Aber er ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Auch Fabrikarbeiter stellen ein immer wichtigeres Humankapital dar. Um dieses Humankapital im Produktionsbereich zu erhalten, mu ssen wir moglicherweise den Nutzen des Taylorismus selbst in dem Bereich u berdenken, fu r den er urspru nglich gedacht war.
Spitzenleute Wissensarbeit ist ein Bereich, fu r den der Taylorismus nie bestimmt war. Dafu r ist Wissensarbeit der Fabrikarbeit einfach zu unahnlich. Es gibt keine FlieÄ bander und wird sie niemals geben, es gibt nur wenige feste Regeln, Werte sind subjektiver, Messungen dubioser, Urteilsvermogen unverzichtbar. Wissensarbeit ist ein Kartenspiel, in dem alle Karten Joker sind. Wissensarbeit ahnelt weniger den Jobs, u ber die Taylor Untersuchungen anstellte, als vielmehr dem Job, den er selbst ausu bte, als er seine Untersuchungen durchfu hrte. Zur Wissensarbeit gehoren Erfindungsgabe, Abstraktionsvermogen, Artikulationsfahigkeit und das geschickte Management vieler menschlicher Beziehungen.
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In einer Studie an Mitarbeitern der Bell Telephone Laboratories forderten Interviewer die Ingenieure in einem Unternehmensbereich auf, die Spitzenleute unter ihren gleichrangigen Kollegen zu benennen. Das Team, das die Studie durchfu hrte, erhielt eine kurze Liste mit Spitzenleuten und machte sich daran, festzustellen, wie sich die Arbeitsverfahren dieser Stars von denen ihrer unauffalligeren Kollegen unterschieden. U berraschenderweise gingen die Spitzenleute kaum anders an ihre Aufgaben heran als ihre Kollegen. Rein mechanisch betrachtet erledigten sie die gleiche Arbeit im Prinzip auf die gleiche Weise wie alle anderen auch. Deutliche Unterschiede gab es dagegen in der Art und Weise, wie sie ihre Netzwerke managten, ihre Verbindungen zu Kollegen, deren Kooperation notwendig war, um in der Sache voranzukommen. Beispielsweise griffen die Leute viel schneller zum Telefon, wenn einer der Spitzenleute um einen Ru ckruf gebeten hatte. So erhielt ein Spitzenmitarbeiter gewu nschte Antworten in 20 Minuten, wahrend im Unternehmen sonst eher vier Stunden die Norm waren. Woran lag es, dass die Spitzenleute bei ihren Mitarbeitern und Kollegen so viel mehr Resonanz fanden? Denn das taten sie, wenn auch ohne erkennbaren Grund. Offenbar hatten die Spitzenleute lange im Voraus Schritte zum Aufbau guter Verbindungen unternommen. Sie hatten Wohltaten verteilt, selbst rasch auf Bitten reagiert, Beziehungen gepflegt, Grundbedu rfnisse anderer Menschen erfu llt.
Die Spitzenleute hatten vielfa ltigere Beziehungen als ihre Kollegen
Wer nach Standards zur Erledigung einer Wissensaufgabe sucht, konzentriert sich unweigerlich auf die mechanische Seite der Aufgabe. Aber die Arbeitsmethoden sind nur ein kleiner und typischerweise nicht sehr wichtiger Teil des Ganzen. Die Art und Weise, wie die Arbeit innerhalb der Knoten des MitarbeiterDiagramms durchgefu hrt wird, ist nicht annahernd so wichtig wie die Breite und Vielfalt der Verbindungen.
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Automatisierung als zusa tzlicher Faktor All das wird zusatzlich durch die standig wachsende Automatisierung im Umfeld von Wissensarbeit verkompliziert. Mit jeder Leistung, die neu automatisiert wird, bekommen Sie eine besonders mechanische Komponente der Arbeit zu fassen (fu r die sich eine Automatisierung anbietet). Ist der neue Automatismus installiert, bedeutet das eine quantitative Entlastung fu r den Mitarbeiter; die noch verbleibende Arbeit aber ist entsprechend schwieriger geworden. Das ist das Paradoxon der Automatisierung: Sie macht die Arbeit schwieriger, nicht einfacher. SchlieÄ lich war es der einfache Teil, der von der Maschine u bernommen wurde; was u brig bleibt, ist somit per Definition unscharfer, weniger mechanisch und komplexer. Neu eingefu hrte Standards konnen so nur noch (oft im ermu denden Detail) diktieren, wie die wenigen verbleibenden mechanischen Aspekte zu erledigen sind. Prozess-Standards konnen eine u beraus emotionale Angelegenheit sein. Regelrechte –Prozess-Kriege© werden gefu hrt, wenn Leute anfangen, Gebietsanspru che auf ihre dahinschwindenden Vorrechte zu erheben. Nach der Implementierung eines neuen Standardprozesses sind Blutspritzer in den Fluren keine Seltenheit; allenthalben bleiben ungute Gefu hle zuru ck. Nach all dem Getose erscheint mir der Prozess selbst dann oft als Non-Event. Meiner Erfahrung nach sind Standardprozesse fu r Wissensarbeit fast immer Hu lsen ohne Inhalt. So schreibt Ihnen ein neuer Prozess zum Beispiel die neunundzwanzig Schritte vor, die Sie bei der Bewerbung und Einstellung eines neuen Ingenieursdurchlaufen mu ssen, ohne Ihnen auch nur den leisesten Anhaltspunkt zu der einzigen Frage zu geben, die wirklich zahlt: Wird der Typ es packen? Ich kenne Entwurfsstandards, die Ihnen nicht sagen, wie Sie zu einem guten Entwurf gelangen, sondern nur wie Sie ihn aufschreiben; Mitarbeiter-Evaluationsstandards, die Ihnen nicht helfen, eine fruchtbare langfristige Beziehung zu Ihren Mitarbeitern aufzubauen; Teststandards, die Ihnen nicht zeigen, wie Sie einen Test entwickeln, dessen Durchfu hrung sich lohnt. Jeder dieser Standards besagt im Prinzip: –Ich werde Ihnen genau diktieren, wie jeder Aspekt der Arbeit zu erledigen ist ... nur nicht den wirklich schwierigen Teil.©
Eigentumsrechte und Eigenverantwortung Warum belasten sich Unternehmen mit etwas, das so ungeeignet ist, dass es zum Scheitern verurteilt oder, noch schlimmer, irrelevant ist? Der Grund dafu r hat eher mit unseren Frustrationen und A ngsten als Manager zu tun als mit Effizienz und umsichtigem Management. Wer einen Standard fu r Prozesse vorgibt, erwirbt Eigentumsrechte. Wenn ich Ihr Chef bin und Ihnen keinen Standard vorschreibe, 102
u berlasse ich Ihnen effektiv den Prozess als Ihr Eigentum. Aber Moment mal, wer ist hier der Boss? Ich. Muss ich dann nicht auch Eigentu mer des Prozesses sein? Auf jeden Fall muss ich alles unter Kontrolle haben, da sind wir uns doch einig. Wenn der Begriff Empowerment ß Eigenverantwortung “ Bedeutung haben soll, so bedeutet er, die Eigentumsrechte fu r den Arbeitsprozess weitgehend in die Hande der Leute zu legen, die die Arbeit erledigen. Das heiÄ t nicht, dass es keine Standards geben sollte, sondern dass Standards sich auf der Ebene herauskristallisieren sollten, wo die Arbeit erledigt wird. Die Eigentumsrechte fu r den Standard sollten in den Handen derjenigen liegen, die die Arbeit tun. Das ist ein Ideal, das Sie wahrscheinlich nie hundertprozentig erreichen werden, vor allem in groÄ en Unternehmen. Aber es lohnt sich immer, es anzustreben. Und es ist ein Ideal, das Ihnen einigermaÄ en unheimlich erscheinen du rfte. In meinen Managementseminaren spreche ich mit den Teilnehmern oft u ber Empowerment. (Sie sind alle dafu r.) Dann frage ich die jungen Manager, ob sie ein Stu ck Kontrolle verlieren, wenn sie einem Mitarbeiter Verantwortung u bertragen? Sie antworten wu rdevoll, nein, keineswegs. Aber diese Antwort ergibt keinen Sinn. Empowerment impliziert immer, dass der Manager Kontrolle abgibt und auf die Person verlagert, der er Eigenverantwortung zutraut “ nicht komplett, aber doch teilweise. Sie konnen niemandem Verantwortung u bertragen, ohne selbst ein Risiko einzugehen. Immerhin gewahren Sie damit die Macht, Fehler zu machen. Versagt der andere, tragen Sie die Konsequenzen. Umgekehrt, aus der Sicht des Mitarbeiters betrachtet, aber ist es gerade die Moglichkeit, der Person u ber sich zu schaden, die Empowerment so wirkungsvoll macht. Die Person, die Verantwortung erhielt, kann nicht umhin zu denken: –Meine Gu te, wenn ich das verpfusche, sieht mein Chef wie ein Idiot aus, weil er mir vertraut hat.© Dieser Gedanke wirkt motivierend wie wenig sonst am Arbeitsplatz. Prozess-Standardisierung von ganz oben ist das Gegenteil von Empowerment und Eigenverantwortung. Sie ist das direkte Ergebnis eines angstlichen Managements, das gegen Fehler allergisch ist. Deshalb versucht es, jedem Risiko eines Scheiterns vorzubeugen, indem es eine Gruppe von Gurus beauftragt, wichtige Entscheidungen zu treffen und Standards aufzustellen, die vom gemeinen Volk mechanisch umzusetzen sind. Der Standardprozess ist somit eine Art Ru stung zur Abwehr von Fehlern. Je mehr Sie fu rchten zu versagen, desto schwerer ist die Ru stung, die Sie anlegen mu ssen. Allerdings schrankt jede Ru stung, das ist unausweichlich, die Beweglichkeit ein. Die allzu hoch geru stete Organisation verliert die Fahigkeit, sich zu bewegen und schnell zu reagieren. Schuld an der verlorenen Beweglichkeit ist der Standardprozess. Er ist jedoch nicht die Wurzel des U bels. Die Wurzel des U bels ist die Angst.
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16 Qualita t Okay, okay: Der Standardprozess, die Kultur der Angst, U ber- und Unterbesetzung, Druck und U berstunden gehoren dem Reich der Finsternis an. Aber Qualitat? Das Qualitatsprogramm des Unternehmens? Die Qualitat-ist-unserewichtigste-Aufgabe-Mentalitat? Wer sollte daran etwas auszusetzen haben?
“Im Rennen um Qualita t gibt es keine Ziellinie.ö (Ach was!)
Qualitat war nicht nur das gedankliche Ideal der neunziger Jahre; sie wurde daru ber hinaus in den Status einer Bewegung erhoben. Die Qualitatsbewegung sorgt heute dafu r, dass Jahr fu r Jahr Milliarden von Dollar in Tagungen, Bu cher, Programme, Seminare, eindringliche Ermahnungen und widerliche Poster flieÄ en: Das meiste davon ist kaum mehr als ein Lippenbekenntnis und muss nicht unbedingt zu Qualitatsverbesserungen fu hren. In gewisser Weise hat Qualitat 104
unter dem gleichen Schicksal zu leiden wie Apfelkuchen und Mutterschaft: In den USA und anderen westlichen Landern wurde in den letzten fu nfzig Jahren die Bedeutung von Apfelkuchen und Mutterschaft hochgepriesen und schongeredet, wahrend gleichzeitig die Fortune beider einen jahen Absturz erfuhr. Unsere GroÄ mu tter wu rden sich mit Grausen von dem industriell gefertigten, in Plastik verpackten Apfelkuchen aus dem Supermarkt abwenden, den wir heute essen. Und Mutter zu sein erscheint vielen “ vor allem in den sozialschwachen Vierteln und verarmten Vorstadten “ mehr ein Fluch denn ein Segen. Trotz unserer standigen Beteuerungen. Wir hatten uns die Sonntagsreden sparen konnen. Ich kritisiere die Qualitatsbewegung nicht, weil sie zu teuer ware oder unseren Organisationen zu viel Energie abverlangen wu rde. Mir macht vielmehr zu schaffen, dass hinter der Qualitatsbewegung mehr Lippenbekenntnis als ernst zu nehmende Hilfe steckt. Daru ber hinaus werden echte Qualitatsverbesserungen durch die allgegenwartigen Qualitatsverbesserungsprogramme unnotig erschwert. Fehlende Spielraume lassen Qualitatsprogramme als grausamen Witz erscheinen. Wenn weder die Zeit noch das Personal vorhanden sind, Aufgaben zu erledigen, die langer dauern als erwartet, wird der zeitliche Verzug auf Kosten der Qualitat aufgefangen. Das ist die einzige noch verbleibende Freiheit. Zeitverzug in den fru hen oder mittleren Phasen wird durch Einsparungen bei den Endarbeiten ausgeglichen, und darunter leidet die Qualitat. An Organisationen, die diesen Kompromiss eingehen, stort mich nicht nur, dass sie minderwertige Produkte liefern; mein Haupteinwand ist vielmehr, dass sie unablassig ihren Qualitatsanspruch verku nden, gleichzeitig aber genau die Kompromisse eingehen, die Qualitat unmoglich machen.
Das beste Produkt, das je hergestellt wurde, ist... Keine Frage: Qualitat ist eine feine Sache. Sie wissen das, wenn Ihr Toyota 300000 Kilometer ohne nennenswerte Reparaturen gefahren ist, oder wenn Sie drei Generationen von Macs im Schrank stehen haben, die Sie nicht einfach wegwerfen wollen, weil die erstaunlichen Kisten immer noch phantastisch laufen. Sie wissen das, wenn Sie je ein Produkt verwendet haben, das so wunderbar gearbeitet ist, dass Sie jedes Mal ein Freudenschauer durchfahrt, wenn Sie es zur Hand nehmen. An dieser Stelle ware vielleicht eine gute Definition fu r Qualitat angebracht, da aber Definitionen (per definitionem) ziemlich abstrakt sind,mochte ich Ihnen lieber ein Beispiel fu r echte Qualitatsarbeit geben. Das Beispiel, das ich gewahlt habe, entspringt meiner Erfahrung als Anwender von Softwareprodukten. Wir alle wissen, dass die Softwarebranche neben ein paar wirklich guten Produkten auch 105
die eine oder andere Niete hervorgebracht hat. Es ist auch anzunehmen, dass unter all den guten Softwareprodukten eines das beste ist. Aber welches mag das sein? Meines Wissens hat bisher niemand einen Nominierungsvorschlag unterbreitet. Das ist ein Jammer, denn die beste je geschriebene Software konnte jedem, der vorhat, etwas noch Besseres zu entwickeln, als Modell und Vorbild dienen. Bevor ich meine personliche Nominierung fu r die beste Software bekannt gebe, mochte ich klarstellen, dass ich (1) weder Aktien des Unternehmens besitze, das das Produkt herstellt, noch eines Unternehmens, das vom Verkauf des Produkts profitiert, und dass ich (2) nie als Berater des Herstellers oder eines seiner Partnerunternehmen tatig war. Auch wenn Sie also meine Wahl anzweifeln, hoffe ich, dass Sie den moralischen Wert meiner Argumentation anerkennen. Das beste Softwareprodukt, das je hergestellt wurde, ist ... Adobe Photoshop.
Falls Sie es nicht kennen, Photoshop ist ein Programm zur Bearbeitung digitaler Bilder. Es erlaubt Ihnen, Belichtung, Helligkeit, Kontrast, Farbabstimmung und “ Sattigung zu andern. Sie konnen fu r jedes digitale Bild bzw. fu r jeden Bildausschnitt Farbtone, Brennweite und Scharfe verandern, Bildbereiche aufhellen, schneiden, rote Augen korrigieren, Grauwerte anpassen, Farben separieren und das fertige Produkt ausdrucken und ablegen. Sie konnen Bilder verschmelzen, u bereinander legen, 106
Schatten hinzufu gen, U berdrucken, kleben, solarisieren, in Negative umwandeln, filtern und ganz allgemein Bilder mit einer solchen Prazision und Exaktheit verandern, dass das Konzept, Photos als rechtliches Beweismittel zuzulassen, ein fu r alle Mal in Frage gestellt wird. Ich hange mich so weit aus dem Fenster (meine Kunden, von denen viele mit Adobe im Wettbewerb stehen, werden nicht erfreut sein), um an einem konkreten Beispiel demonstrieren zu konnen, nach welchen Kriterien wir ein hochwertiges Produkt beurteilen. Ich habe Photoshop aus den folgenden Gru nden zum besten Softwareprodukt geku rt: 1. Es ist einzigartig; als es erstmals auf den Markt kam, war es vollig einzigartig. 2. Es definiert das Konzept der Bearbeitung von Photos neu. 3. Es definiert unser Denken u ber Photos neu. (Werfen Sie den Schnappschuss, auf dem Helen toll getroffen ist, aber Murray zum Fu rchten aussieht, nicht weg “verschmelzen sie ihn einfach mit einem anderen Foto, auf dem Murray groÄ rauskommt.) 4. Es erlaubt Ihnen, Dinge zu tun, die vorher kaum vorstellbar waren. 5. Es ist bis ins letzte Detail durchdacht; insbesondere ist das Kanalkonzept fast unendlich erweiterbar und auf immer vielfaltigere Weise einsetzbar. 6. Es ist vollstandig implementiert; so kann zum Beispiel selbst die komplexeste Aktion ru ckgangig gemacht werden. 7. Seine Benutzeroberflache bleibt im Gedachtnis haften “ man braucht fast nie im Handbuch nachzuschlagen. 8. Es ist revolutionar, weil es eine Schnittstelle fu r Drittanbieter von Zusatzmodulen bietet. 9. Es ist solide wie ein Fels. Ich habe Ihnen die ersten neun Gru nde fu r meine Wahl mehr oder weniger in der Wichtigkeit ihrer Reihenfolge genannt. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass nur der allerletzte Grund etwas mit Fehlerfreiheit zu tun hat. Darauf will ich hinaus. Produktqualitat hat fast nichts damit zu tun, ob Fehler auftreten oder nicht. Ja, sicher, Fehler bei einem an und fu r sich guten Produkt sind argerlich. (Denken Sie nur an Ihren Internet-Browser, ganz gleich, welchen Sie verwenden.) Aber echte Qualitat bemisst sich viel mehr danach, was ein Produkt fu r Sie leistet und wie es Ihr Leben verandert, als danach, ob es vollig fehlerfrei arbeitet. Deshalb sollten Sie Ihren Browser, so oft er argerlicherweise auch abstu rzen mag, als Qualitatsprodukt betrachten. Deshalb nutzen Sie ihn so oft. Seine Qualitat ist in erster Linie eine Funktion seiner Nu tzlichkeit.
Das unternehmensinterne Qualita tsprogramm Wahrend echte Qualitat wenig mit Fehlern zu tun hat, geht es bei so genannten Qualitatsprogrammen nur und ausschlieÄ lich um Fehler. Das unternehmens107
interne Qualitatsprogramm ist im Kern ein Mechanismus, Fehler zu beseitigen. Wenn es Erfolg hat, hilft es Ihnen, Produkte herzustellen, die ganz oder nahezu fehlerfrei sind. Aber sind diese Produkte auch sinnvoll? Vielleicht ja, vielleicht nein “aber weder fu r das eine noch das andere zeichnet das Qualitatsprogramm verantwortlich. Deshalb verursachen mir Qualitatsprogramme Bauchschmerzen. Sie stu rzen sich auf einen einfachen und leicht realisierbaren Qualitatsaspekt und lassen alles andere auÄ er Acht. Sie konzentrieren sich auf einen Aspekt, der fu r echte Qualitat beinahe nebensachlich ist, und ignorieren dabei die wirklich wichtigen Punkte. Wenn es moglich ware, meine Neun-Punkte-Liste zur Qualitat von Photoshop auf eine allgemeine Formel zu bringen, so wu rde daraus hervorgehen, dass ein echtes Qualitatsprogramm allenfalls ein Neuntel oder weniger seiner Ressourcen auf Fehlerpravention- und -beseitigung verwenden sollte. Alle u brigen Ressourcen sollten darauf abzielen, die Einzigartigkeit, Nu tzlichkeit und Marktwirkung des Produkts sicherzustellen und die Arbeitsmethoden der Kunden zu verbessern. Was soll's, denken Sie vielleicht. Etwas ist besser als nichts, und ein Qualitatsprogramm, das nur ein Neuntel dessen anspricht, was Qualitat wirklich bedeutet, ist immer noch besser als gar kein Programm. Nun gut. Das gilt dann aber nur, wenn ein solches Programm die anderen Qualitatsfaktoren nicht beeintrachtigt. Konnen Sie das von Ihrem Qualitatsprogramm wirklich behaupten? Bedenken Sie die folgenden abtraglichen Auswirkungen: § Fehlerpravention und Fehlerbeseitigung konnen den Gesamtprozess so sehr belasten, dass er zu langsam wird und auf Marktanforderungen nicht mehr rechtzeitig reagieren kann. § Weil eine vorgeschlagene neue Technologie anfangs fehleranfalliger sein konnte als der bisherige Ansatz, sprechen die Qualitatsziele gegen ihre Einfu hrung, obwohl die neue Technologie der Anfang einer vollig neuen, u beraus nu tzlichen Produktfamilie sein konnte. § Jede risikoreiche neue Unternehmung wird wahrscheinlich die Fehlervielfalt erhohen; unter Umstanden werden sich risikoreiche Anstrengungen wegen des Qualitatsprogramms glatt verbieten. § Das Qualitatsprogramm kann zur Einrichtung einer Organisationseinheit zur Qualitatssicherung fu hren, deren Existenz im Nebeneffekt die MaÄ nahmen anderer Organisationseinheiten zur Qualitatssteuerung reduziert. Alle diese Bedenken sind jedoch kleinlich angesichts der Tatsache, dass Qualitatsprogramme haufig die Gefahr der –Kooption© in sich bergen, des Verrates der eigenen Ziele: Da sie jeden Zauber, der dem Wort Qualita t moglicherweise innewohnt, fu r sich in Anspruch nehmen, machen sie es unmoglich, ein Qualitatsargument fu r etwas anderes als Fehlerfreiheit vorzubringen. Verlierer dabei ist die Organisation als Ganzes. Das starkste Argument fu r eine neue Produktintegritat und -nu tzlichkeit verhallt effektiv ungehort. 108
Qualita t und Kalenderzeit Angenommen, Sie lesen in der Zeitung, bei der Entwicklung des nagelneuen Flugsicherungssystems Ihres Landes herrsche ein –hochaggressiver© Terminplan. Wie wu rden Sie darauf reagieren? Flu stert Ihnen eine schu chterne Stimme zu: –Moment mal, nicht so schnell; setzt die Leute nicht zu sehr unter Zeitdruck?© (Wenn Sie keine solche Stimme horen, fliegen Sie vermutlich nicht sehr viel.) Qualitat braucht Zeit. Selbst Qualitat, bei der es nur um Fehlerfreiheit geht, braucht Zeit. Deshalb denken Sie vielleicht, erste Aufgabe eines Qualitatsprogramms sei es, die Qualitat der aufgestellten Terminplane sicherzustellen. Ich dachte das auch. Bisher bin ich aber noch nie auf unternehmensinterne Qualitatsprogramme oder Qualitatssicherungsorganisationen gestoÄ en, die auch nur zu pru fen vorgaben, ob die fu r die Arbeit vorgesehene Zeit vernu nftig bemessen war. Typischerweise wird der Terminplan aufgestellt, bevor die Qualitatsleute an Bord kommen. All ihre qualitatsverbessernden MaÄ nahmen setzen erst ein, nachdem der Liefertermin feststeht (der daru ber entscheidet, ob Qualitat moglich ist oder nicht). Fu r mich sieht das so aus, als wu rden sie das Pferd von hinten aufzaumen. Ich wu rde das genaue Gegenteil bevorzugen: Die Qualitatsorganisation beschrankt ihre Arbeit ausschlieÄ lich auf den Projektanfang, wo sie die Angemessenheit des Terminplans und der Arbeitsmethoden sicherstellt, und verschwindet dann in der Versenkung.
Qualita t und Quantita t Wenn Sie mit mir u bereinstimmen, dass Qualitat Zeit braucht, wird es Sie nicht u berraschen, dass Qualitat und Quantitat sich umgekehrt proportional zueinander verhalten: Je hoher die Qualitat, desto niedriger die Quantitat (wenn der Geld- und Zeitaufwand gleich bleiben). Es gibt gelegentlich wunderbare Situationen, in denen diese Relation nicht gilt, aber sie sind nicht der Normalfall. Diese Relation zwischen Quantitat und Qualitat legt eine gewagte Strategie der Qualitatsverbesserung nahe: Reduzieren Sie die Quantitat. Unabhangig davon, was Ihre Organisation produziert, produzieren Sie weniger davon. Produzieren Sie weniger und wahlen Sie das, was Sie produzieren, sorgfaltiger aus. Sie konnen die Qualitat von Adobe Photoshop einzig und allein erreichen, wenn Sie die Gesamtmenge neuer Produkte strikt begrenzen und auf alle Produkte verzichten, die nicht die geringste Chance haben, eine groÄ ere Wirkung am Markt zu erzielen. Produzieren Sie die Produkte, auf die es ankommt, und statten Sie sie mit samtlichen verfu gbaren Ressourcen aus. Nehmen Sie sich so viel Zeit und investieren Sie so viel Geld, wie Sie brauchen, um das Beste daraus zu machen.
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Die Quantitat reduzieren? Schluck. Ich kann schon horen, wie Sie protestieren: –Hey, ich bin fu r Qualitat, keine Frage, aber ohne eine gewisse Quantitat (die natu rlich durchweg eine erstklassige Qualitat aufweist) geht es einfach nicht.© Das ist eine Philosophie, die erstmals von einem weltberu hmten Effizienzexperten aufgestellt wurde: «Quantita t besitzt eine eigene Art von Qualita t.Ü Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin
In unsere moderne Geschaftssprache u bersetzt, hort sich das leninistische Diktum so an: –Wir gehen natu rlich davon aus, dass alle Produkte, die wir herstellen, die Herstellung lohnen; das einzige Problem besteht darin, sie so herzustellen, dass sie alle dem hochsten Qualitatsstandard entsprechen.© Das klingt in der abstrakten Formulierung nicht schlecht, halt aber im Einzelfall einer naheren Betrachtung nicht stand. Fast alle Organisationen, die ich besuche (diejenigen, die ausschlieÄ lich Produkte fu r den internen Gebrauch liefern, ebenso wie diejenigen, die direkt fu r den Markt entwickeln), fu hren mir eine Produktpalette vor, in der das Unverzichtbare ebenso vertreten ist wie das Belanglose. Belangloses zu streichen ware fu r die meisten von ihnen der wichtigste Schritt zur Qualitatsverbesserung. Das Rezept –Produzieren Sie weniger und wahlen Sie sorgfaltiger aus, was Sie produzieren© ist eine bittere Medizin. Das Problem liegt darin, dass in der Quantitat die –Qualitat© der Macht liegt. Wenn Sie Ihr operatives Geschaft zuru ckfahren und sich nur auf ein oder einige wenige phantastische Projekte konzentrieren, stehen Sie vor dem Problem, ein zuru ckgefahrenes operatives Geschaft zu leiten. Sie sind weniger stark. Sie haben womoglich weniger Leute, weniger Raum, weniger Sichtbarkeit. Wenn sich das Produkt, fu r das Sie sich entschieden haben, als Gewinner erweist, kehrt die Macht zuru ck. Zunachst einmal aber stehen Sie schlechter da. Diese unglu ckselige Qualitat/Quantitat-Dynamik beherrschte die Apple Corporation unter Michael Spindler. Das Unternehmen erweiterte seine Produktpalette so schnell es nur konnte. Der Verbraucher war mit einem verunsichernden Sortiment von Modellbezeichnungen und -Varianten konfrontiert, von denen jede ein erfolgreiches kleines Machtzentrum innerhalb des Unternehmens reprasentierte. Mittlerweile ging das Unternehmen als Ganzes immer mehr den Bach hinunter. Als Steve Jobs wieder auf der Bildflache erschien, warf er das Ruder herum und konzentrierte alle verfu gbaren Ressourcen auf die stark reduzierte iMac-Produktpalette.
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Programme zur Qualita tsminderung Qualitat braucht Zeit und vermindert die Quantitat. Beides macht Sie gewissermaÄ en weniger effizient. Die auf Effizienz ausgerichtete Organisation erkennt Qualitat als ihren Feind. Deshalb sind viele unternehmensinterne Qualitatsprogramme eigentlich verkappte Qualitatsminderungsprogramme. Eine u bliche Methode, die eigene Effizienz auf Kosten der Qualitat zu erhohen, besteht darin, einen Teil der Kosten auf den Kunden abzuwalzen “den Kunden bluten zu lassen, wie ich es sehe. Sie konnen dieses Geschaftsgebaren bei Fluggesellschaften beobachten, die die Verpflegungskosten gegen null fahren (so dass Sie auf eigene Kosten fu r Ihr Abendessen Sorge tragen mu ssen), oder in Hotels, wo Kostensenkung zu noch kleineren Raumen bei gleichbleibenden Preisen fu hrt. Weil heute ein groÄ er Teil der Ausgaben auf Personalkosten entfallt, besteht die ultimative Effizienzverbesserung darin, Arbeiten, die fru her Ihre Mitarbeiter erledigten, auf den Kunden abzuwalzen. Ich bin auf diese Praxis im Umgang mit NYLCare, dem damaligen Krankenversicherer meines Unternehmens, gestoÄ en. Die Monatsabrechnung wies einen zusatzlichen Mitarbeiter aus, von dem wir nie zuvor gehort hatten. Wir schickten einen gepfefferten Beschwerdebrief und erhielten daraufhin von NYLCare ein Schreiben, in dem sich der folgende erstaunliche Absatz fand: Wir entschuldigen uns fu r den Fehler auf der Rechnung. Der Antrag des Kunden wurde unter Ihrer Gruppennummer bei uns eingereicht. Offensichtlich schrieb der Mitarbeiter die falsche Nummer auf den Antrag. Bei Antragseingang ist nicht erkennbar, ob ein Antrag der angegebenen Gruppe angehort oder nicht. Unser Bu ro mu sste dafu r jeden erhaltenen Antrag pru fen, und da wir taglich Tausende von Antragen erhalten, ware das unmoglich. Wir werden den Fehler korrigieren und bitten Sie, $ 203.70 von Ihrer Rechnung abzuziehen. Die Gutschrift wird auf der nachsten Rechnung ausgewiesen. Mir gefallt vor allem die Wendung: –... ist nicht erkennbar, ob der Antrag der angegebenen Gruppe angehort oder nicht.© Das ist ohne eine U berpru fung in der Tat nicht erkennbar. Und U berpru fungen konnen, wie aus dem Schreiben hervorgeht, verdammt teuer sein. Deshalb wurde der Pru faufwand geschickt auf den Kunden verlagert. (Dafu r hatten wir ihnen eine Rechnung schicken sollen.)
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17 Effizient und/oder effektiv Die durch Stress geschwachte Organisation ist so eifrig damit beschaftigt, ihre Effizienz zu steigern, dass sie glatt vergessen hat, wie man effektiv ist. Effizient und effektiv bedeuten nicht das Gleiche. Sie sind effizient, wenn Sie eine Sache mit minimalem Aufwand erledigen; Sie sind effektiv, wenn Sie die richtige Sache erledigen. Es ist moglich, das eine ohne das andere zu sein: effizient, aber nicht effektiv, oder effektiv, aber nicht effizient. Natu rlich ist es auch moglich, beides zugleich zu sein. Moglich, aber nicht einfach. Niemand sollte gezwungen sein, sich ausschlieÄ lich fu r das eine oder das andere zu entscheiden “ aber nehmen wir einmal an, Sie stu nden vor dieser Alternative. Was wu rden Sie wahlen? Effizienz oder Effektivitat? Die Antwort liegt auf der Hand. Eine effektive-aber-nicht-effiziente Organisation bewegt sich langsam, aber sicher auf ihre wahren Ziele zu. Mit welcher Geschwindigkeit sie dabei vorankommt,hangt davon ab, in welchem MaÄ e sie ineffizient arbeitet. Eine effiziente-aber-nichteffektive Organisation dagegen bewegt sich in die falsche Richtung. Je mehr sie optimiert, desto starker entfernt sie sich von ihren eigentlichen Zielen. Eine Organisation dieser Art konnte sich treffend mit den Worten von Yogi Berra beschreiben: –Wir haben uns verirrt, kommen aber gut voran.©
Warum es nicht einfach ist, beides zu erreichen Seien wir ehrlich, implizit streben alle Organisationen beides an: Sie wollen effektive Entscheidungen u ber das ku nftige Vorgehen treffen und diese Entscheidungen dann effizient realisieren. Dieses Wunschdenken ist so stark in allen Unternehmenskulturen verankert, dass manche Fu hrungskrafte die Augen vor einer andersartigen Realitat verschlieÄ en. Die Erfu llung des Anspruchs gilt als so selbstverstandlich, dass er einfach erfu llt sein muss. Die Tatsache, dass die Organisation sich in eine gegebene Richtung bewegt, wird so zum u berzeugenden A-prioriBeweis, dass sie sich in die richtige Richtung bewegt. Stellt ein Mitarbeiter die Richtung in Frage, reagiert die Fu hrung verargert: –Wir hatten all das nicht 112
begonnen, wenn es nicht richtig ware; jetzt kommt es darauf an, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um die Sache so effizient wie moglich umzusetzen.© Leider zeugt Bewegung in die eine oder andere Richtung nicht unbedingt von einer sorgfaltig u berlegten Strategie. Ein Unternehmen schwimmt manchmal einfach mit einer Stro mung mit (oder wird von ihr mitgerissen). Die Brownsche Molekularbewegung im Unternehmen setzt eine Kraft in irgendeine Richtung in Gang, und plotzlich begeistern sich alle: –Mein Gott, wir bewegen uns.© Ob ein Unternehmen strategisch denkt oder nur in der Stromung mitschwimmt, hangt davon ab, wie achtsam oder achtlos Grundsatzentscheidungen getroffen werden. So hart der Vorwurf klingen mag, Organisationen wu rden Richtungen achtlos vorgeben “ Tatsache ist, dass sie dazu neigen, taktisch richtige, aber strategisch falsche Entscheidungen zu treffen. Aber Taktik ist nun einmal einfacher als Strategie. Taktische Entscheidungen konnen im Alleingang getroffen werden. Sie als Leiter einer einzelnen Abteilung in Ihrem Unternehmen konnen die Abteilung so optimieren, dass sie ihre Leistungen effizienter erbringt. Sie konnen jedoch nicht einseitig entscheiden, dass sie andere Leistungen als bisher erbringt. U ber Veranderungen dieser Art entscheiden die Ebenen u ber Ihnen, wo man Fragen behandelt, die um eine GroÄ enordnung komplexer sind. Um groÄ angelegte Veranderungen umzusetzen, mu sste daru ber hinaus ein breiter Konsens zwischen unterschiedlichen Interessengruppen gefunden werden. Dafu r sind sowohl starke Visionen als auch eine charismatische Fu hrung erforderlich. Der Gedanke, dass oft Stromungen an die Stelle strategischer Richtungsvorgaben treten, ist nicht u berraschender als die Beobachtung, dass visionare charismatische Fu hrungspersonlichkeiten du nn gesat sind. All das lasst den Schluss zu, dass viele Unternehmen im Grunde gar nicht gefu hrt werden. Warum wirken sie dann nicht fu hrungslos? Das liegt an einer Handlungsoption, die ich als den –Billigen Ausweg fu r Fu hrungskrafte© bezeichne: «Eine ganze Organisation zu fu hren ist schwierig. Sie scheinbar zu fu hren, ist dagegen sehr einfach. Sie brauchen lediglich ein Gespu r fu r die Stro mungsrichtung zu entwickeln und die Organisation anzuweisen, diesen Weg einzuschlagen.à Der Billige Ausweg fu r Fu hrungskrafte war zum Beispiel am Werk, als General Motors sich entschloss, den Sektor Kleinfahrzeuge der auslandischen Konkurrenz zu u berlassen oder in den achtziger und neunziger Jahren bei der Entwicklung energiesparender Motoren und Treibstoffalternativen hinterherzuhinken. Ein Unternehmen effektiv zu fu hren ist nicht nur unglaublich schwer; Effektivitat steht haufig auch im direkten Gegensatz zu Effizienzverbesserungen. Dieser unglu ckliche Nebeneffekt der Optimierung wurde als Erstes von dem Genetiker R. A. Fisher erkannt: –Je besser ein Organismus an seine Umgebung 113
angepasst ist, desto weniger kann er sich an neue Veranderungen anpassen.© Als Beispiel dafu r fu hrte Fisher die Giraffe an. Sie ist in hohem MaÄ e daran angepasst, Futter in den Baumkronen zu finden. Dafu r kann sie sich so schlecht an neue Situationen anpassen, dass sie im Zoo nicht einmal eine Erdnuss vom Boden aufheben kann. Je optimierter Organismen (Organisationen) sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass ihnen die Spielraume genommen wurden, die sie brauchen, um effektiver zu werden.
Warum Risiken die Sache zusa tzlich verkomplizieren Der inharente Konflikt zwischen Effektivitat und Effizienz tritt am offensichtlichsten zutage, wenn eine riskante neue Unternehmung vorgeschlagen wird. Es liegt in der Natur jedes Risikos, dass es Sie von Ihrer Kompetenzbasis weg in eine neue Domane einfu hrt, in der Sie effektiv noch Amateur sind. Aus diesem Grund sind Risiken riskant. Weil moderne Marktwirtschaften einem steten Wandel unterworfen sind, mu ssen Unternehmen Risiken aggressiv annehmen, um erfolgreich zu sein. Der Imperativ der Effizienz fu hrt sie jedoch direkt in die Risikofeindlichkeit. Ja, sagen sie sich, wir konnten in diesen neuen (und wahrscheinlich viel versprechenden) Bereich einsteigen, aber nur, wenn wir die wichtigen Verbesserungen aufs Spiel setzen, die wir in den letzten Jahren durch geduldige und u berlegte Optimierung erreicht haben. Dieser Einwand ist so stark, dass er vorgeschlagene Veranderungen oft schon im Keim erstickt. Effizienz 1, Effektivitat 0. Aber Moment mal, haben wir uns am Anfang dieses Kapitels nicht darauf geeinigt, dass wir uns bei einer Wahl zwischen Effektivitat und Effizienz immer und jederzeit fu r Effektivitat entscheiden wu rden? Dass die Alternative keinen Sinn macht? Wie ist es dann moglich, dass Unternehmen routinemaÄ ig die unsinnige Alternative wahlen? Was um alles in der Welt kann sie dazu veranlassen, Effizienz den Vorzug vor Effektivitat zu geben. Ich werde es Ihnen sagen. Der Grund ist eine Managementphilosophie namens ...
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18 Management by Objectives Management by Objectives (MBO) ist eine Modeerscheinung der 1950er-Jahre, die heute weitgehend in Verruf geraten ist. Trotzdem ist sie nicht von der Bildflache verschwunden. Schlecht gefu hrte Unternehmen auf der ganzen Welt haben noch immer unter diesem vereinfachenden, beschrankten Managementrezept zu leiden, das in der Regel das Gegenteil dessen bewirkt, was eigentlich beabsichtigt und gewu nscht war. Wie viele schwer abzuschu ttelnde Schadlinge scheint auch Management by Objectives genau in der Mischung von Faktoren zu gedeihen, die die Wirtspflanze schadigen. Daru ber hinaus ist es selbsterneuernd: MBO-Unternehmen reagieren auf jedes schlecht gelaufene Quartal mit noch mehr MBO. Schlechte Unternehmensergebnisse werden unkontrollierbaren Markteinflu ssen zugeschrieben, wahrend die stufenweise Annaherung an ausgewahlte quantitative Zielvorgaben frech als Beweis angefu hrt wird, trotz der katastrophalen Zahlen sei das Management eigentlich doch sehr erfolgreich.
Das kleine MBO-Einmaleins Management by Objectives funktioniert so: Die Leistung jeder Abteilung oder jedes Unternehmensbereichs wird durch ein oder mehrere quantitative MaÄ e ausgedru ckt, so genannte Objectives oder Zielvorgaben. Dann werden die Manager angehalten, entsprechend dieser Zielvorgaben zu managen und den vorgegebenen Zielrichtungen moglichst nahe zu kommen. Verandert sich das MaÄ in die richtige Richtung, gilt der Manager als erfolgreich; erfu llt oder u bertrifft das erreichte MaÄ die Zielvorgabe, gilt er als Erfolg auf der ganzen Linie. In einem Unternehmen, in dem MBO konsequent durchgezogen wird, arbeitet die Produktionsabteilung moglicherweise nach der Zielvorgabe –Maximierung der produzierten Einheiten© , die Vertriebsabteilung nach der Zielvorgabe –Erhohung der Zahl der verkauften Gerate© , die Marketingabteilung nach der Zielvorgabe –Werbewirkung pro Dollar© , die Personalabteilung nach der Zielvorgabe –Minimierung der Personalnebenkosten je Mitarbeiter© usw. 115
Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Organisation durch die Erfu llung der verschiedenen Teilziele ihren Gesamtzielen wie Gewinn, Wachstum und Starke des Unternehmens naher kommt.
Festgefahren im Status quo Management by Objectives basiert auf Bestandigkeit, dem Verweilen in einem gleich bleibenden Zustand. Die MBO-Botschaft lautet: Machen Sie in diesem Jahr alles genau so wie im letzten, aber erhohen Sie die Zahl X. Die Vorgabe einer erhohten Zahl X als Ziel ist ein Indiz fu r die U berzeugtheit des Managements, Zuwachse von X wu rden sich (vorausgesetzt, es gibt keine anderen Veranderungen) gu nstig auf das Unternehmensergebnis auswirken. Das Verweilen im Bestehenden ist eine Folge der ersten fehlerhaften Annahme, die dem Management by Objectives zu Grunde liegt: dem naiven Glauben, der Erfolg der Gesamtorganisation konne als einfache arithmetische Verknu pfung der Zielvorgaben auf den unteren Ebenen betrachtet werden. Diese Annahme ist praktisch nicht umsetzbar, es sei denn, alles verweile in einem gleich bleibenden Zustand. Ohne ein- oder zweijahrige Erfahrung mit aktuellen Ansatzen hat das Management keine Moglichkeit, die Zielvorgaben richtig zu justieren. Es gibt keine Basis, auf der ein Ziel errichtet werden kann. Ohne ein stabiles Orientierungsmodell aber ist es ganz einfach zu schwierig, die –simple arithmetische Verknu pfung der Zielvorgaben auf den unteren Ebenen© zu formulieren. Nun ist Bestandigkeit plus ein paar Detailveranderungen in einem modernen wirtschaftlichen Umfeld kaum ein Erfolgsrezept. Unternehmen, die heute erfolgreich sind, weisen sehr wenig Bestandigkeit auf. Beispielsweise ist das ganze Konzept der –Produktion© im Verschwinden begriffen. Produktion impliziert einen gleich bleibenden Zustand, an dessen Stelle ein Zustand eines fast immer wahrenden Wandels getreten ist. Das neue zentrale Organisationsprinzip ist das Projekt. Ein Unternehmen im Wandel kann als Portfolio von Projekten betrachtet werden. Jedes Projekt ist damit befasst, eine Veranderung zu bewirken. In fru heren, weniger komplexen Zeiten waren Projekte eine Moglichkeit, von einem Status quo zu einem anderen zu gelangen. Das Projekt bedeutete eine Unterbrechung; es war jedoch damit zu rechnen, dass der neue Status quo, wenn er erst einmal etabliert war, fu r langere Zeit festgeschrieben sein wu rde. Heute gibt es keinen neuen Status quo mehr. MBO aber hangt vom Status quo ab. Es kann nur inkrementelle Veranderungen bewirken, denn es beschrankt Sie auf taktische Anpassungen, die die aktuelle Strategie, wie immer sie auch aussehen mag, nicht gefahrden du rfen. Das ist ein sicherer Weg zur Selbstausloschung.
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Dysfunktion Die zweite fehlerhafte Annahme des Management by Objectives ist der Glaube, der Nettobeitrag einer so groÄ en und komplexen Organisationseinheit wie einem Unternehmensbereich lieÄ e sich sinnvoll anhand eines einzigen Indikators messen (oder in fortschrittlicheren MBO-Unternehmen anhand von zwei oder drei solchen Indikatoren). MBO-Zielvorgaben sind immer vereinfachte Naherungswerte. Der gesamte nutzbringende Beitrag von ein paar hundert (oder ein paar tausend) Mitarbeitern, die typischerweise einen Unternehmensbereich ausmachen, ist jedoch viel zu komplex, als dass er sich quantifizieren lieÄ e. Er kann einfach nicht durch eine einzige Zahl ausgedru ckt werden. Aber das soll nicht Ihre Sorge sein, sagt uns MBO, stellen Sie die Zielvorgaben trotzdem auf. Nehmen Sie das einfachste quantitative MaÄ fu r Leistung, das Sie finden konnen, und verwenden Sie es als Platzhalter fu r die komplexere Realitat. Auf diese Weise steht dann X, die gewahlte Zielvorgabe, fu r B, den gesamten tatsachlichen Beitrag der Organisationseinheit zur Starke des Unternehmens. Wir brauchen einfach nur anzunehmen, dass sich mit der Verbesserung von X auch B verbessern wird. Diese Annahme ist das A quivalent dessen, was ich oben als die Pramisse bezeichnet habe, –Zuwachse von X wu rden sich (vorausgesetzt, es gibt keine anderen Veranderungen) auf das Unternehmensergebnis auswirken© . Der Haken dabei ist, dass sich mit der Erfu llung der Zielvorgabe immer auch andere GroÄ en verandern. Beispielsweise kann in einem Unternehmensbereich, der nach der Zielvorgabe –Durchsatzerhohung© gemanagt wird, die Personalfluktuation hochschnellen. Die Nettowirkung einer schlechteren Personalbindung kann die Wirkung der Durchsatzerhohung mehr als aufheben. Wenn das geschieht, ist X gestiegen, aber B gefallen. Der Harvard-Professor Rob Austin bezeichnet diese Wirkung als –Dysfunktion© 2. Austin fu hrt das folgende klassische (vielleicht apokryphe) Beispiel fu r Dysfunktion an: Die Politkommissare, die eine sowjetische Nagelfabrik leiten, legen fest, dass die Fabrik ku nftig die Zahl der produzierten Nagel optimieren soll. Die Fabrik produziert daraufhin eine Rekordzahl von Nageln “ namlich winzigkleine Drahtstifte. Ein dysfunktionaler Volltreffer: Die Zielvorgabe ist erfu llt, der Gesamtzustand schlechter als vorher. Da kein Mensch so viele Drahtstifte braucht, revidieren die Politkommissare die MBO-Vorgabe. Von jetzt an, legen sie fest, wird die Firma die Gesamtproduktion der produzierten Nagel nach Tonnen maximieren. Wieder wird die Zielvorgabe erfu llt, dieses Mal, 2
Die ultimative Behandlung von Dysfunktion finden Sie in Robert D. Austins Grundlagenwerk Measuring and Managing Performance in Organizations, DorsetHouse, 1996. 117
indem nichts als riesige Gleisbolzen produziert werden. Wieder ist Dysfunktion die Folge. Der arme russische Zimmermann, der auf ein paar l0er-Nagel hoffte, wartet immer noch vergeblich. MBO-Anhanger beharren darauf, Dysfunktion sei kein inharenter Mangel des Management by Objectives, sondern lediglich ein Resultatseiner unzulanglichen Umsetzung. Tritt Dysfunktion auf, definieren sie (die Politkommissare unseres Zeitalters) die Zielvorgaben neu und versuchen es noch einmal. Nach fu nf Jahrzehnten Erfahrung mit Management by Objectives definieren seine Anhanger noch immer die Zielvorgaben neu und wieder neu und warten vergeblich auf Ergebnisse. Ich denke, angesichts der Haufigkeit MBO-bedingter Fehlschlage ist es an der Zeit, uns seinen inharenten Mangel einzugestehen. MBO ist fu r eine Organisation, was zentrale Planung im sowjetischen Stil fu r ein Wirtschaftssystem ist: eine Idee, die sich u berlebt hat.
Nachtrag Ich bin nicht der Erste, der MBO in Frage stellt. Der Erste war, soweit ich weiÄ , W. Edwards Deming, Verfasser der –Vierzehn Punkte© zur organisatorischen Umwandlung"3. In Punkt 12 seiner Vierzehn Punkte nimmt Deming MBO in all seinen Formen ins Visier. MBO, so Deming, u berlagere die intrinsische Motivation der Mitarbeiter durch ku nstliche, extrinsische Motivationsanreize. Ein Verkaufer zum Beispiel, der von dem extrinsischen Motivationsanreiz angespornt ist, eine Verkaufsquote zu erfu llen, wird daru ber den intrinsischen Motivationsanreiz vergessen, fu r zufriedene Kunden zu sorgen. Das Ergebnis ist wahrscheinlich ein erhohter Verkauf kaum benotigter Gu ter an eine immer kleiner werdende Basis zunehmend desillusionierter Kunden. Demings Rat zum Thema MBO: Weg damit.
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W.Edwards Deming, Out of the Cnsis. Cambridge: MIT Press, 1982 und 1986. 118
Teil III: Vera nderung und Wachstum
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Sie konnen nicht wachsen, wenn Sie sich nicht andern konnen. Vielleicht ist Ihnen diese Einsicht nicht neu. Ich allerdings habe haufig mit Organisationen zu tun, die offen zugeben, dass sie sich nicht verandern konnen und im Status quo festgefahren sind “ aber dennoch ganz selbstverstandlich mit einem Wachstum rechnen. Stellt das Wachstum sich nicht ein, ist die U berraschung groÄ . Ich habe den Verdacht, sie behandeln diesen Mangel neben der Unfahigkeit, sich zu verandern, als ihr zweites groÄ es Problem. In der Regel fehlt ihnen die Erkenntnis, dass das zweite Problem eine direkte Folge des ersten ist. Selbst Unternehmen, die ihre Veranderungsunfahigkeit erkannt haben, reden oft schneidig von Flexibilitat. Auch wenn sie noch so tief im Graben liegen und keine Ahnung haben, wie sie sich daraus befreien konnen, gehort es fu r sie zum guten Ton, Flexibilitat als Aktivposten des Unternehmens zu diskutieren. Flexibilitat scheint fu r sie wie Geld auf der Bank zu sein, und sie lassen unerwahnt, dass ihr aktueller Stand auf diesem Konto gleich null ist. Sie auÄ ern sich forsch u ber die Schritte, die sie in Gang gesetzt haben, um dem F-Ziel naher zu kommen. Dabei glauben sie ihr Heil oft ausgerechnet in den Punkten zu finden, die ich als Veranderungshindernisse identifiziert habe, zum Beispiel in der Verengung von Spielraumen, in Standardprozessen, festzementierten Geschaftsvorgangen und einer voluminosen Dokumentation von allem, was sich dafu r hergibt. Teil III befasst sich mit dem Thema, den Weg fu r organisatorische Veranderungen “und damit fu r Wachstum “zu bereiten. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, genu gt es nicht, Veranderungsbarrieren zu entfernen. Dazu braucht es Vision, Fu hrungskraft, geschicktes Timing und vieles mehr. Spielraume sind das Gleitmittel, das alle diese Dinge moglich macht. Insbesondere Vision und Fu hrung hangen davon ab, wie viel Freiraum ein Unternehmen seinen potenziellen Visionaren oder Fu hrungspersonlichkeiten zugesteht. Halt man solche Talente an der kurzen Leine, werden sie ihre Magie nicht entfalten konnen.
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19 Visionen Ich erinnere mich an einen Abend, an dem meine Freundin Sheila Brady uns zum Dinner in ihr Haus in Woodside, Kalifornien, eingeladen hatte und Geschichten aus ihren Leben zum Besten gab. DrauÄ en regnete es in Stromen, der Wind peitschte durch die Eukalyptusbaume, und drinnen floss der Wem: die ideale Stimmung, haarstraubende Lebensgeschichten auszutauschen. Viele von Sheilas Stories handelten von ihren Tagen bei Apple, wo sie eine gefeierte Projektmanagerin war. Nach einer Weile wandte sich das Gesprach den neuen Startups im Silicon Valley und damit der Jetzt-Zeit zu, und Sheila brachte das Thema Visionen aufs Tapet. Andere am Tisch (Mitarbeiter aus einem halben Dutzend Startups im Valley) stimmten ein, und wir begannen u ber Visionen zu sprechen, an denen es, so der allgemeine Tenor, allerorts zu mangeln schien. Als typisches Zeichen fu r fehlende Visionen wurde das Gefu hl genannt, nicht zu wissen, –wer wir sind© . In einem besonders deprimierenden Beispiel, das an diesem Abend zur Sprache kam, ging es um ein Meeting der Top-Leute einer neuen dot.comFirma im Valley. Offenbar bestand der einzige erkennbare Daseinsgrund dieses Unternehmens darin, so schnell wie moglich alle im Raum zu Millionaren zu machen, so dass sie sich zur Ruhe setzen konnten. Keiner der Anwesenden hatte vor, auch zwei Jahre spater noch dort zu arbeiten. Wahrend des Meetings kam das Gesprach auch auf den Erfolg von eBay, damals der erstaunlichste Borsenu berflieger des Monats. –Hey, warum legen wir uns eigentlich keine Auktionskomponente zu?© , wollte einer der Systemspezialistenwissen. Woraufhin sie stundenlang daru ber diskutierten, wie sie eine Online-Auktionskomponente in eine Firma einbringen konnten, die nichts zu versteigern hatte und keinerlei Fahigkeiten und Fertigkeiten dafu r besaÄ . –Was diesem Meeting fehlte© , warf Sheila ein, –war jemand, der bereit gewesen ware zu sagen, ,Auktionen sind gut und schon, aber das sind einfach nicht wir.Ö© Es ist fu r ein Unternehmen und seine Mitarbeiter nicht trivial zu erkennen, –wer wir sind© . Etwas einfacher ist es hingegen zu wissen, –wer wir nicht sind© . Wenn nicht einmal das klar ist “wenn es in einem Unternehmen also keine Basis dafu r gibt, zu einem absurden Plan zu sagen, –das sind einfach nicht wir© “ fehlt es dem Unternehmen eindeutig an Visionen. 121
Visionen setzen einen Visionar voraus. Es muss eine Person geben, die in den Knochen spu rt, was –wir© sind und was nicht. Diese Fahigkeit lasst sich nicht vortauschen. Mitarbeiter konnen fehlende Visionen riechen wie ein Hund die Angst.
Visionen und Vera nderung Visionen sind die unerlassliche Bedingung jeder konstruktiven Veranderung. Ohne Visionen kann ein Unternehmen reagieren, aber nicht pro-agieren. Es kann Mitarbeiter entlassen, Werke schlieÄ en oder Ausgaben ku rzen. Das sind zwar Veranderungen, aber sie bedeuten keinen Wandel, sie bringen nicht den vielgeru hmten Nutzen ein, den wir angeblich durch die Flexibilitat gewinnen, mit der wir unsere Organisation endlich ausgestattet haben. Ohne Visionen ist Flexibilitat nichts als ein Wort. Sie ist ein MaÄ dessen, was wir bewirken konnten, wenn wir nur den Mut hatten, es zu versuchen. (Aber den haben wir nicht und deshalb werden wir auch nichts bewirken.) Ein erfolgreicher Wandel lasst sich nur bewaltigen, wenn wir genau wissen, wofu r unsere Organisation steht und was sich daher niemals andern darf. Das ist es, was Peter Drucker als Unternehmenskultur bezeichnet. In seiner Verwendung des Begriffs bedeutet Kultur das, was sich nicht andern kann, wird und darf. Wir reden viel u ber Veranderungen der Unternehmenskultur, so als ware sie einer von vielen beliebigen Parametern wie die Adresse oder die SIC-Code-Nummer. Im Gegensatz dazu will Drucker Kultur als etwas ganz anderes verstanden wissen: als Grundlage, auf der jede konstruktive Veranderung fuÄ en muss. Wenn nichts als unveranderbar erklart wird, wird die Organisation sich jeder Veranderung widersetzen. Wo es keine definierende Vision gibt, kann sich die Organisation nur u ber ihre Bestandigkeit definieren. So, wie die menschliche Kreatur sich einer Veranderung dessen, was sie als ihre Identitat wahrnimmt, entschlossen widersetzt, klammert sich der visionslose betriebliche Organismus an das Bestehende, weil er darin die einzige sinnvolle Definition seiner selbst sieht.
Die visiona re Botschaft Eine visionare Botschaft ist eine starke Selbstaussage, eine Erklarung dessen, –wer wir sind© . Ein Beispiel: Ein amerikanischer Prasident nahm seine Landsleute mit der Aussage fu r sich und seine Ziele ein: –Fragen Sie nicht, was Ihr Land fu r Sie tun kann; fragen Sie, was Sie fu r Ihr Land tun konnen.©
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Diese Botschaft klingt wie eine Herausforderung, sie ist aber weitaus mehr. Die Teilaussage –Fragen Sie nicht" ist eine Handlungsaufforderung, die ihre Kraft aus dem unausgesprochenen Schluss bezieht: –...; fragen Sie, was Sie fu r Ihr Land tun konnen, denn darum geht es uns allen gemeinsam.© Ohne diesen unausgesprochenen Schluss wu rde die Herausforderung ins Leere zielen. Die zitierte visionare Botschaft lebt von der Gewissheit, die Ethik des Engagements fu r die Gemeinschaft sei in der amerikanischen Kultur so tief verankert, dass jeder sich davon angesprochen fu hlt. Eine erfolgreiche visionare Botschaft zeichnet sich typischerweise durch die folgenden Eigenschaften aus: 1. Die Botschaft enthalt ein Element einer bereits heute gu ltigen Wahrheit. Die Herausforderung: –Laufen wir eine Meile in vier Minuten, denn darum geht es uns allen gemeinsam© wu rde wohl die wenigsten von uns inspirieren, weil wir hier und jetzt nicht sehen konnen, inwiefern es uns allen darum gehen soll. 2. Die Botschaft enthalt daru ber hinaus immer ein Element einer vorgeschlagenen ku nftigen Wahrheit. Auch wenn sie uns scheinbar vermittelt: –Darum geht es uns allen© , will sie uns vor allem anspornen: –Darum ko nnte es uns allen gehen.© 3. Die Botschaft wird von den Zuhorern am ehesten akzeptiert, wenn sie eine perfekte Balance zwischen dem aktuell Bestehenden und dem potenziell Moglichen halt und wenn das potenziell Mogliche faszinierend, aber nicht utopisch ist. Menschen wollen dabei sein. Sie wollen involviert werden. Niemand, der dem Prasidenten damals zuhorte, dachte: –O verdammt, jetzt muss ich mich fu r mein Land ins Zeug legen.© Im Gegenteil, die Leute reagierten begeistert. Das Auftauchen einer Fu hrungspersonlichkeit ist fu r alle erfu llend und beglu ckend. Menschen lassen sich gerne von Visionen mitreiÄ en, die sich im Einklang mit der Realitat und ihrem gegenwartigen Kulturverstandnis befinden. Wenn in einer Organisation, die bisher ziellos in der Stromung trieb, plotzlich alle merken, dass jemand das Ruder u bernommen hat, macht sich ein spu rbares Gefu hl der Erleichterung breit. Die Tatsache, dass Menschen gefu hrt werden wollen, macht Fu hrung u berhaupt erst moglich.
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20 Fuhrung und “Fuhrungö Es gibt Fu hrung, und es gibt –Fu hrung© . Fu hrung vermittelt Visionen, baut Selbstvertrauen auf und fordert das Streben nach gemeinsamen Zielen. –Fu hrung© leistet all das nicht. Die Chance ist groÄ , dass Sie in Ihrer eigenen Karriere erlebt haben, was –Fu hrung© in Anfu hrungszeichen bedeutet. Sollte das jedoch nicht der Fall gewesen sein, will ich Ihnen gerne ein Beispiel dafu r geben: Im September 1989 kamen Prasident George Bush und die Gouverneure der fu nfzig amerikanischen Bundesstaaten zu einem nationalen Bildungsgipfel in der University of Virginia in Charlottesville zusammen. In seiner Begru Ä ungsrede donnerte der Prasident, die amerikanische Jugend wu rde –bis zum Jahr 2000 zur Nummer eins in Mathematik und den Naturwissenschaften© werden. Er wiederholte diese Erklarung in seiner Rede zur Lage der Nation am 31. Januar 1990. Und dann tat sich ... nichts. Das war's dann. Es blieb bei dieser vehementen Botschaft und ihrer ebenso vehementen Wiederholung, amerikanische Schu ler wu rden ku nftig in Mathematik und den Naturwissenschaften die Nummer eins sein. (Ich nehme an, fu r alles Weitere sollten dann andere sorgen.) Hintergrund fu r Mr. Bushs Botschaft waren die katastrophalen Leistungen amerikanischer Schu ler, die bei mathematischen und naturwissenschaftlichen Vergleichstests der westlichen Lander nur einen Platz im unteren Drittel belegt hatten. Deshalb musste der Prasident die Sache in die Hand nehmen und uns zeigen, wo es lang ging. Jetzt haben wir das Jahr 2000 hinter uns, und raten Sie mal? Amerikanische Schu ler sind nicht zur Nummer Eins in Mathematik und den Natur wissenschaften geworden. Nicht einmal zur Nummer zwei oder drei. Tatsachlich schneiden sie immer noch katastrophal schlecht ab, etwa auf dem gleichen Niveau wie 1989. Das ist ein Schulbeispiel dafu r, wohin –Fu hrung© Sie bringen kann. Als traurige FuÄ note zu den oben beschriebenen Ereignissen merkte Prasident Bush spater an, die Vereinigten Staaten –besaÄ en den Willen, aber nicht die Mittel© fu r eine Bildungsreform. Genau das Gegenteil ist wahr: Das Land hat die Mittel (und zwar reichlich), aber nicht den Willen. Den Willen zu wecken, ware seine Aufgabe gewesen. 124
Was ist Fuhrung uberhaupt? Fu hrung ist die Fahigkeit, andere Menschen fu r die eigenen Zielsetzungen zu gewinnen. Ein sinnvolles Fu hrungsverhalten veranlasst Menschen in der Regel, eine wie auch immer geartete kurzfristige Belastung (zusatzliche Kosten oder Anstrengungen, verzogerte Bedu rfnisbefriedigung) auf sich zu nehmen, um den langfristigen Nutzen zu mehren. Dafu r brauchen wir Fu hrung, denn wir alle neigen dazu, kurzfristig zu denken. Es gibt fu r echte Fu hrung kein einfaches Rezept (anderenfalls wu rden wir mehr davon sehen), aber es scheint klar zu sein, dass die folgenden Elemente immer gegeben sein mu ssen: 1. Eine klare Richtungsvorgabe, 2. ein offenes Eingestehen der kurzfristigen Belastung, 3. Beharrlichkeit, 4. Beharrlichkeit, 5. Beharrlichkeit ... Ist das erste Element vorhanden, alle anderen aber nicht, ist keine Fu hrung gegeben. Sondern lediglich –Fu hrung© , eine leere Pose. Ich mochte der eingangs gezeigten hohlen Fu hrungspose einen echten Akt der Fu hrung gegenu berstellen: Das finnische Unternehmen Nokia war bis Ende der fu nfziger Jahre ein erfolgreiches Zellstoff und Papier verarbeitendes Unternehmen, das ein paar Unternehmen aus dem Lowtech-Bereich (z.B. U bertragungskabel) akquiriert hatte. 1960 ersannen zwei Ingenieure von Nokia Cable Works eine ehrgeizige Vision eines neuen Nokia, das mit beiden Beinen im Hightech-Sektor stehen und sich ganzlich aus dem Papier- und Zellstoffgeschaft zuru ckziehen sollte. Heute ist Nokia ziemlich genau das, was Bjorn Westerlund und Kurt Wikstedt 1960 ins Auge gefasst hatten. Wie war das moglich? Wenn Sie damals dabei gewesen waren, wu ssten Sie u ber die entscheidenden fru hen Weichenstellungen Bescheid: Zu ihnen gehorten ein Plan, den Westerlund mit Hilfe von ein paar Hochschulabsolventen und AuÄ enseitern entwickelt hatte; der Aufbau eines Elektronikbereichs unter Wikstedt, in dem erste Elemente des Plans umgesetzt wurden; eine zogernde, aber immerhin tolerierende Haltung von oben. Von da an allerdings verschwimmt das Bild. Wie gelang es, alle zur Mitarbeit zu gewinnen, besonders die Fu hrungskrafte aus dem Papierbereich? Wie wurde die Bru cke geschlagen von der damaligen identitatsstiftenden Wahrheit des Unternehmens hin zu der Vision dessen, –worum es uns allen gehen ko nnte?© Wie wurden die notwendigen Fertigkeiten entwickelt? Wie wurden die Investoren dazu gebracht, den Richtungswechsel mitzutragen? Es lasst sich nicht ohne weiteres sagen, wie diese Probleme gelost wurden, denn all das geschah nicht in einem groÄ en Handstreich. Vielmehr war eine breite Palette von MaÄ nahmen auf allen Ebenen notwendig, um sicherzustellen, dass alle Beteiligten involviert wurden und involviert blieben. Diese Art von Fu hrung ist 125
eine ehrgeizige Orchestrierung von Richtungsvorgaben und Ermutigung. Sie war und ist die vornehmste Aufgabe jedes Managers bei Nokia seit den sechziger Jahren. In einem solchen Umfeld muss ein Manager, der 40 Prozent seiner Zeit fu r die Fu hrung des operativen Geschafts aufwendet, nicht damit rechnen, 60 Prozent seines Gehalts zuru ckzahlen zu mu ssen. Statt dessen wird man erfreut zur Kenntnis nehmen, dass er 60 Prozent seiner Zeit der Fu hrungsaufgabe widmet. Wenn es u berhaupt einen Anreiz gibt, diese Verteilung zu andern, dann den, nach Moglichkeit die fu r das operative Geschaft benotigte Zeit noch weiter zu reduzieren, um mehr Kapazitaten fu r die Fu hrung des Wandels freizusetzen.
Eine Frage der Macht Scheitert ein Fu hrungsversuch, ist die Entschuldigung schnell parat: zu wenig Macht. Darauf spielte Prasident Bush an, als er sagte, seinem Land fehlten die Mittel. Die fehlenden –Mittel© waren in seinen Augen das zusatzliche Quantchen Macht, das er benotigt hatte, um einer besseren Bildung und Erziehung den Weg zu bereiten. Waren die Mittel vorhanden gewesen, wollte er implizit vermitteln, hatte er mit seiner Initiative sicherlich Erfolg gehabt. Fehlende Macht ist eine groÄ artige Entschuldigung fu r Versagen, aber ausreichend viel Macht ist niemals eine notwendige Voraussetzung fu r Fu hrung. Es gibt nie ausreichend viel Macht. Tatsachlich ist es gerade der Erfolg, der trotz einer unzureichenden Machtbasis erzielt wird, der Fu hrung definiert. Die kleinen Fu hrungsinitiativen, die Sie jeden Tag erleben, werden haufig von relativ machtlosen Menschen unternommen “ oder von Menschen, deren Fahigkeit, andere fu r sich und ihr Anliegen einzunehmen, bei weitem ihre Macht u bersteigt, die Erfu llung ihrer Wu nsche zu erzwingen. Aber warum sollten Sie als Boss Ihre Leute fu r sich einnehmen wollen, wenn Sie sie statt dessen zwingen konnen, das zu tun, was Sie ihnen sagen? Denken Sie an Ihre eigenen Erfahrungen, wie es ist, nicht zu fu hren, sondern gefu hrt zu werden: Haben Sie jemals eine Richtungsvorgabe von jemandem akzeptiert, der nicht die Autoritat hatte, sie zum Gehorsam zu zwingen? Natu rlich haben Sie das. Und wie haben Sie sich dabei gefu hlt? Was halten Sie von der Person, die Sie gefu hrt hat? Ich wette, je erfolgreicher diese Person abseits und jenseits der ihr verliehenen Autoritat agierte, desto starker empfinden Sie es als Glu ck, mit einer echten Fu hrungspersonlichkeit in Beru hrung gekommen zu sein.
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Hierarchielinien und Fuhrungslinien Fu hrung beschrankt sich nicht darauf, Autoritat von oben nach unten, entsprechend den Linien des Organigramms, auszuu ben. An den alltaglichen Fu hrungsinitiativen, die ein Unternehmen stark machen, sind Mitarbeiter beteiligt, die ihre Chefs fu hren, Mitarbeiter, die ihre Kollegen fu hren, Mitarbeiter, die Kollegen in anderen Abteilungen fu hren, die verhandeln, vermitteln und beeinflussen, ohne dass ihnen jemals die offizielle Macht u bertragen worden ware, das zu tun, was sie tun. Wahre Fu hrung heiÄ t, Menschen fu r sich einzunehmen, die definitiv nicht unter Ihren offiziellen Machtbereich fallen.
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21 Dilbert neu betrachtet Wenn Ihnen die Idee gefallt, dass Fu hrung auch von unten nach oben und seitwarts u ber den weiÄ en Raum des Organigramms hinweg funktioniert, werden Sie Ihre Verantwortung als nachrangiger Mitarbeiter ein fu r allemal mit anderen Augen sehen. Jeder, selbst der Mitarbeiter am untersten Ende der Hierarchie, besitzt ein gewisses Fu hrungspotenzial. Der Besitz dieses Potenzials impliziert eine gewisse Verpflichtung, es zu nutzen.
Abschuss eines amerikanischen Helden Noch vor ein paar Jahren hatte ich Dilbert als einen meiner groÄ en Helden bezeichnet. Heute wu rde ich eher Scott Adams, Dilberts geistigen Vater, als einen meiner Helden bezeichnen. Adams setzt uns fast taglich neue Einsichten und Lebensklugheiten vor und serviert sie mit einem herrlich humoristischen Dreh. Er ist der Schopfer eines unglaublichen Werkes! Adams ist mein Held, aber Dilbert selbst “dieser komische Kauz mit der nach oben stehenden Krawatte “ ist kein Held. Dilbert ist eine taube Nuss. Er zieht den Kopf ein, widersetzt sich nicht einmal den absurdesten unternehmerischen Absurditaten, fallt nie auf, setzt nie seinen Job aufs Spiel. Es sind die Dilberts dieser Welt, die dummes Management u berhaupt erst moglich machen. Wenn Sie solche Mitarbeiter haben, beginnt jeder Managementtag fu r Sie mit einem echten Handicap. Es ist heutzutage fast unmoglich geworden, ein Unternehmen zu besuchen, in dem nicht irgendwo ein Dilbertcartoon hangt. Ich nehme an, diese Cartoons sollen sagen –Unsere Firma ist in vieler Hinsicht Dilberts Firma ahnlich© oder noch schlimmer –Mein Chef ist in vieler Hinsicht Dilberts Chef ahnlich© . Wenn ich auf die Cartoons stoÄ e, wu rde ich immer gern denjenigen finden, der sie aufgehangt hat, und fragen: –Und Sie, sind Sie Dilbert ahnlich?© Ziehen Sie den Kopf ein? Akzeptieren Sie jede unsinnige Anweisung, die man Ihnen erteilt? Lassen Sie die Bu rokratie auf Kosten der echten Ziele siegen? –Falls ja© , wu rde ich dem Cartoon-Kleber gerne sagen, –sind Sie ein Teil des Problems.© 128
Auf die Gefahr hin, als miesepetriger Spielverderber zu erscheinen, schlage ich Ihnen vor, den nachsten Dilbert-Cartoon, der Ihnen in die Finger kommt, mit anderen Augen zu betrachten und u ber Dilberts Rolle in der verqueren Situation nachzudenken, die der Cartoon aufs Korn nimmt. Fragen Sie sich: Welche Reaktion hatte Dilbert zeigen sollen? (Der wahre Dilbert zeigt natu rlich nie eine Reaktion.) Was hatte Dilbert tun konnen, um dieser komischen Situation ihre Komik zu nehmen? Wie hatte er ihrer Absurditat ein Ende bereiten konnen? Die Antwort darauf liegt immer auf der Hand. Manchmal mu sste Dilbert allerdings etwas tun, was ihn den Job kosten konnte. Es ist einfach (und fair), die Schuld an einem lausigen Management lausigen Managern anzulasten. Aber das ware zu wenig. Es ist auch notig, sie den Leuten anzulasten, die zulassen, dass sie so schlecht gemanagt werden. An jeder schlechten Managemententscheidung ist zumindest teilweise ein kleinmu tiger Dilbert schuld, der sie widerspruchslos hinnimmt.
Wer soll dann die Fuhrung ubernehmen? (Wie wa re es mit Ihnen?) Eines habe ich in fu nfunddreiÄ ig Jahren Vortragstatigkeit gelernt: Je erfolgreicher ich ein Publikum aus der Wirtschaft von der Notwendigkeit u berzeuge, eine schwierige Veranderung vorzunehmen, desto wahrscheinlicher kommen nachher Leute auf mich zu und sagen: –Ich wollte, mein Chef hatte hier sein und Sie horen konnen!© Ich habe diesen Kommentar im Lauf meiner Karriere wohl dreihundert Mal oder ofter vernommen. Zuerst wertete ich all diese Kommentare als Zeichen, meine Botschaft auf der falschen Organisationsebene verbreitet zu haben. Deshalb drangte ich meine Agentur, mich anders zu positionieren und mir ein Publikum zu besorgen, das weiter oben im Organigramm angesiedelt war. Zu meiner U berraschung bekam ich daraufhin den gleichen Kommentar auch von hoherrangigen Managern zu horen. Auch sie hatten Chefs und auch sie wu nschten sich, ihre Chefs hatten hier sein konnen, um die erforderliche Veranderung in Angriff zu nehmen. Tja, wer wu nschte das nicht? Ganz gleich, auf welchem Platz der Firmenhierarchie Sie stehen (auÄ er auf dem Platz der Spottdrossel, nehme ich an), Sie haben einen Chef, und Ihr Chef hat mehr Macht als Sie. Wenn die anstehende Veranderung wirklich schwierig ist, ist es immer eine groÄ e Erleichterung, wenn nicht Sie sich darum ku mmern mu ssen, sondern Ihre Chefin die Kastanien aus dem Feuer holt. Nachdem ich –den Kommentar© so viele Jahre lang gehort habe, ruft er in mir heute eine vollig andere Reaktion hervor. Wenn ich zu horen bekomme, –Ich wollte, mein Chef hatte hier sein konnen© , weiÄ ich, dass meine Botschaft den 129
Richtigen erreicht hat. Ware sie fu r den Empfanger bedeutungslos gewesen, ware er ohne Kommentar gegangen; hatte er sich durch meine Botschaft nicht zum Handeln aufgefordert gefu hlt, hatte es keinen Anlass fu r Einwande gegeben. Derjenige, dem am meisten daran liegt, die Verantwortung nach oben abzuschieben, weiÄ genau, dass er die Veranderung bewirken kann, aber dass das natu rlich nicht leicht sein wird. Es wu rde bedeuten, aufwarts und seitwarts zu managen, und vielleicht ein paar Schuldscheine bei verschiedenen Leuten in der Organisation einzulosen. Ein Akt der Fu hrung ist dabei, sich anzubahnen.
Gefolgschaft Mein personlicher Favorit unter den widerlichen Abbildungen zum Thema –Impressionen aus der Geschaftswelt© , die sich bevorzugt in den Magazinen der Fluglinien finden, ist ein Bild einer Gruppe von Pferden (von hinten aufgenommen), die in einer Staubwolke von dannen stu rmen. Die U berschrift lautet F*U *H*R*U*N*G; mir allerdings vermittelt das Bild eher den Eindruck von Gefolgschaft. SchlieÄ lich sind vor allem Pferdenasen im Gefolge von Pferdeschweifen zu sehen. A hnlich gewinne ich, wenn Fu hrungskrafte sich in meiner Gegenwart beredt u ber die Bedeutung von Fu hrung ergehen, oft den Eindruck, dass sie eigentlich eher von Gefolgschaft als von Fu hrung reden. Sie versuchen, der Organisation eine Ethik der Gefolgschaft einzuimpfen. In ihren Augen gehoren die Fu hrungspersonlichkeiten einer Elite an, der die groÄ e Masse der (ungewaschenen) Arbeiter Gefolgschaft zu leisten hat. Diese Gefolgschaftsethik wirft das Problem auf, dass Fu hrung ausschlieÄ lich einer gesalbten Elite vorbehalten bleibt. Demgegenu ber ist den interessantesten Unternehmen, die ich kenne, eine Gefolgschaftsethik vollig fremd. Natu rlich gibt es auch dort Leute, die den Vorschlagen anderer Folge leisten, aber sie sind keine geborenen Gefolgsleute. In solchen Unternehmen geht Fu hrung jeden an, genauso wie es jeden angeht, dem zu folgen, der einen Moment der Erleuchtung hat. Fu hrung ist dort eine Rotationsfunktion. Als Nebenwirkung wird jedem Folge geleistet, der zufallig gerade das beste Blatt in der Hand halt.
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22 Sicherheit Worte schlagen kein Loch in den Kopf. “Sticks and stones can break my bones, but words can never hurt meö ß Ich habe dieses Sprichwort gelernt, noch ehe ich fu nf Jahre alt war, und Sie vermutlich auch. Fast jede Sprache kennt eine Redensart, die diesen Gedanken ausdru ckt. In diesem Kapitel wollen wir den Gedanken, der dem Sprichwort zugrunde liegt, auf den Pru fstand stellen, um (vielleicht) zu einer ganz anderen Einsicht zu gelangen.
Die Conditio sine qua non des Wandels Der einzige wirklich unverzichtbare Bestandteil des erfolgreichen organisatorischen Wandels ist Sicherheit. (Auch hier meine ich mit dem Schlagwort erfolgreicher organisatorischer Wandel pro-aktiven, nicht reaktiven Wandel.) Da Menschen sich zumindest teilweise u ber ihre berufliche Tatigkeit definieren, wirkt eine Veranderung ihrer Tatigkeit tief in den Bereich der personlichen Definition hinein. Verunsicherung ist die Folge. Durchgreifende Veranderungen konnen heftigen Widerstand hervorrufen, der sich unter anderem in Form von versteckter Feindseligkeit, Zorn, wu sten Beschimpfungen und Zerstorungswut auÄ ern kann. Gegen all das kommt Zwang von oben einfach nicht an. Sie konnen einen pro-aktiven Wandel nicht geschehen machen, sie konnen ihm allenfalls auf die Spru nge helfen. Ihr einziges Werkzeug heiÄ t Ansporn, nicht Zwang. Wandel bedeutet immer Preisgabe. Was Sie preisgeben, sind alte Verhaltensmuster. Sie geben sie preis, weil sie alt sind und sich im Lauf der Zeit u berlebt haben. Aber sie sind auch (eben weil sie alt sind) vertraute Wegbegleiter. Und, wichtiger noch, sie sind Verhaltensformen, die die Mitarbeiter in- und auswendig beherrschen. Deshalb verlangt der von Ihnen vorangetriebene Wandel Ihren Mitarbeitern ab, die sichere Beherrschung vertrauter Fahigkeiten preiszugeben und 131
wieder zu Einsteigern zu werden, zu blutigen Anfangern in einer Angelegenheit von hoher Bedeutung fu r das eigene Selbstbild. Menschen sind zu solchen Veranderungen fahig “sofern sie sich sicher fu hlen. In einer unsicheren Umgebung ist es unwahrscheinlich, dass Menschen sich in eine Position der Unerfahrenheit drangen lassen. Sie werden sich gegen den Wandel stemmen. Ganz gleich, wie sehr Sie sie ermutigen, Sie werden sie nicht von ihrer Entschlossenheit abbringen konnen, sich aus der Sache herauszuhalten.
Angst Wer sich nicht sicher fu hlt, hat Angst, und Angst kann Veranderungen verhindern. Interessanterweise verhindert Angst Veranderungen aber nicht immer. Menschen schaffen es manchmal, grundlegende Veranderungen in sich selbst zu bewirken, wenn ihnen die Angst im Nacken sitzt. Manche dieser Veranderungen sind rein reaktiv (durch Angst herbeigefu hrt), aber nicht alle. Manchmal kann Angst den Lernerfolg sogar verstarken. Anderenfalls konnten Eiskletterer, Fallschirmspringer und Loschexperten fu r O lbrande niemals ihre besonderen Fertigkeiten erlernen. Wenn Ihr dreizehnjahriger Sohn mit seinem Skateboard auf eine Parkbank aus Beton springt und beim Absprung einen Flip in der Luft dreht, fragen Sie ihn vielleicht in elterlicher Besorgtheit: –Hattest du denn keine Angst, dir dabei den Hals zu brechen?© Die Antwort lautet wie erwartet: –Mensch, Mama, natu rlich nicht!© Was ein klares Ja bedeutet. Natu rlich hatte er Angst. Skateboarden gehort offensichtlich zu den Fahigkeiten, die man am besten mit einer tu chtigen Portion Angst erlernt. Lernen, die Schlu sselaktivitat des sinnvollen Wandels, und Angst schlieÄ en einander nicht aus. Ich mochte sogar so weit gehen zu behaupten (in Kapitel 26, das noch vor Ihnen liegt), dass Angst eine Konstante jedes grundlegenden Lernprozesses ist. Wenn Angst also ein Lernen nicht grundsatzlich verhindert, warum ist Sicherheit dann so wichtig fu r den Wandlungsprozess? Und was bedeutet Sicherheit u ber Angstfreiheit hinaus? Lassen Sie uns diese Fragen nicht abstrakt, sondern am Beispiel eines erfundenen Szenarios betrachten: Stellen Sie sich vor, Sie haben gerade als neu eingestellter Mitarbeiter in einem brandneuen E-Commerce-Unternehmen angefangen, das das Ziel verfolgt, einen elektronischen Marktplatz fu r den Handel von Devisen-Futures aufzubauen. Wenn Sie einigermaÄ en bei Trost sind, haben Sie den Job mit einem flauen Gefu hl im Magen u bernommen. Weder Sie noch irgendjemand sonst weiÄ wirklich, was es heiÄ t, in einem neu geschaffenen elektronischen Markt mit Devisen-Futures zu handeln. Dazu kommen eine Menge Gru nde, die Sie an Ihrer Zukunft zweifeln lassen: Was ist, wenn Ihr Wettbewerber Sie aus dem Markt schlagt; was ist, wenn der 132
Markt so du nn ist, dass Ihre Spreadstrategie nicht aufgeht; was ist, wenn die Mafia sich einen Sicherheitsmangel zunutze macht; was ist, wenn die Aufsichtsbehorden Sicherheiten in Hohe von mehreren Millionen Dollar fordern; was ist, wenn die Investoren ungeduldig werden; was ist, wenn die Hardware die Spitzenbelastung in StoÄ zeiten nicht bewaltigen kann; was ist, wenn das Handelsvolumen eines Tages wegen irgendeines Fehlers verloren geht. Und vor allem: Was ist, wenn das Unternehmen aus diesem oder einem anderen Grund scheitert und Sie mit neunundvierzig Jahren und ohne Job auf der StraÄ e stehen. Puhhh. Sie haben Angst. Sie waren verru ckt, wenn Ihnen anders zumute ware. Konnen Sie in dieser Verfassung alltagliche Arbeitsvorgange verandern? Aber sicher. Unternehmen wie dieses leben von Veranderungen, sie sind eine einzige Veranderung. Jedem, der dort arbeitet, sitzt die Angst im Nacken, trotzdem kann sich jeder nach wie vor verandern. Paradoxerweise macht die Angst, sich den Hals zu brechen (in betriebliche Begriffe u bersetzt: den Job zu verlieren), Veranderungen nicht unmoglich. Die Angst, die Veranderungen wirklich behindert, ist teuflischer: die Angst, sich lacherlich zu machen. Wenn Sie Veranderungen in Ihrer Organisation unbedingt verhindern wollen, brauchen Sie nur die Leute zur Zielscheibe des Spottes zu machen, die mit den neuen, unvertrauten Methoden kampfen, die Sie ihnen soeben angedient haben. Das ist das sicherste Mittel, notwendige Veranderungen abrupt abzuwu rgen. Die fu r einen grundlegenden Wandel benotigte Sicherheit ist die Gewissheit, dass niemand ausgelacht, herabgesetzt oder beschamt wird, wahrend er sich abmu ht, sein Konnen erneut zu perfektionieren.
Worte schlagen doch ein Loch in den Kopf Somit sind Steine und Schlage in der Welt des unternehmerischen Wandels noch verkraftbar, wahrend Worte, anders als uns das Sprichwort glauben macht, todliche Verletzungen hervorrufen konnen. Ironie und Sarkasmus, gezielte, beiÄ ende Kritik, Spotteleien auf Kosten einzelner, offentliche Demu tigung, Angenervtheit, ausrastende Vorgesetzte, Augenrollen: Sie sind die wahren Feinde grundlegender Veranderungen. Um eine Organisation fu r Veranderungen aufzuschlieÄ en, mu ssen Sie Missachtung in jeder Form aus der Unternehmenskultur verbannen. Lassen Sie statt dessen das deutlich spu rbare Gefu hl entstehen, dass die Belastungen, die Mitarbeiter auf allen Ebenen auf sich nehmen, anerkannt und respektiert werden. In Zeiten des Wandels muss jeder Fehlschlag als wertvolle Erfahrunggelten (wegen der Lehren, die sich daraus ziehen lassen). Wer Fehler macht, ist ein Held, der seinen Beitrag zur Herbeifu hrung des Wandels leistet. Seine Fehlleistungen bringen ihm mehr Respekt ein, nicht weniger. 133
Nehmen Sie diese eine grundlegende Veranderung in Ihrer Organisation vor, um alle anderen Veranderungen zu ermoglichen.
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23 Vertrauen und Vertrauenswurdigkeit Immer wieder wird im Wirtschaftsteil von Zeitungen u ber Unternehmen berichtet, die ihre Schwierigkeiten urplotzlich u berwunden haben. Erfolgsstories dieser Art sind anscheinend fast jede Woche zu vermelden. Noch vor einem Jahr schien das ganze Unternehmen hilflos abzutreiben, ohne Steuerung, auf dem Weg in den Untergang. Heute gibt es jemanden, der ganz offenkundig das Steuer in der Hand halt, die Aussichten stehen besser, und der Aktienkurs steigt. Was um alles in der Welt ist in der Zwischenzeit passiert? Irgendwie ist eine Fu hrungspersonlichkeit aufgetaucht. Er oder sie wurde von auÄ en angeheuert oder auf der internen Karriereleiter nach oben gehievt, vom Vorstand oder einem ausscheidenden Vorstandsvorsitzenden geweiht (je nachdem, wer im Unternehmen fu r die hoheren Weihen zustandig ist) und dann ... und dann was? Meine Antwort darauf lautet, dass die neue potenzielle Fu hrungspersonlichkeit eine wie auch immer geartete Anfangsphase durchlaufen hat und von da an das allgemeine Vertrauen genieÄ t. Ohne dieses Vertrauen gibt es keine Fu hrungspersonlichkeit und keinen echten Umschwung. Aber wie wird Vertrauen gewonnen, noch dazu so schnell?
Wie man Vertrauen gewinnt: das Standardmodell Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie eine neue Fu hrungspersonlichkeit Vertrauen erwirbt, mu ssen wir zuerst die vorgefasste Meinung u ber erworbenes Vertrauen auf den Pru fstand stellen, die unsere Erziehung uns einimpfte. Es gehorte zu den Zielen unserer Eltern und Lehrer, uns zu zeigen, wie wir uns ihr Vertrauen erwerben konnten. Aber “ seien wir ehrlich “ es ging ihnen daru ber hinaus auch um etwas anderes: Wir sollten lernen, uns zu benehmen. Das Modell, das sie uns vermittelten, handelt deshalb ausschlieÄ lich von verdientem Vertrauen. Sie sagten uns nichts u ber unverdientes Vertrauen, weil es ihren Interessen kaum dienlich gewesen ware, uns u ber eine alternative Methode des Vertrauenserwerbs 135
aufzuklaren. Dieses Versaumnis erschien ihnen angesichts ihres hoheren Erziehungsziels vertretbar, in uns hinterlasst es jedoch eine entscheidende Lu cke in unserem Verstandnis daru ber, wie Fu hrung zustande kommt. Es lasst uns in dem Glauben: «Man gewinnt Vertrauen, indem man sich als vertrauenswu rdig erweist.Ü Das ist es! Das ist die einzige Moglichkeit, Vertrauen zu gewinnen (vermittelten unsere Erzieher uns stillschweigend). Wie viele der Regeln, die fest in uns verdrahtet sind, wirkt auch diese etwas seltsam, sobald wir sie schwarz auf weiÄ vor uns sehen. Wie sollen Sie sich als vertrauenswu rdig erweisen, wenn man Ihnen nichts anvertraut, dessen Sie sich wu rdig erweisen konnen? Wie immer Ihre Bewahrungsprobe auch aussehen mag, Sie muss Ihnen vorher anvertraut werden, lange, eine ganze Weile, bevor Sie sie verdient haben. Tatsache ist: Ein unverdienter Vertrauensvorschuss ist die einzige Moglichkeit, Vertrauenswu rdigkeit zu erlangen. Wahrend unsere Mentoren uns die Notwendigkeit einimpften, dass wir uns erst als vertrauenswu rdig erweisen mu ssen, bevor man uns Vertrauen entgegenbringt, schoben sie uns unablassig kleine Koder mit vollkommen unverdientem (noch nicht verdientem) Vertrauen zu und hofften, dass wir anbeiÄ en wu rden. Die Grundregel, die sie uns einpragten, stand im Widerspruch zu der Regel, die sie selbst mit zunehmender Erziehungserfahrung lernten. Die lautete namlich: «Elternregel: Gewa hren Sie immer einen kleinen Vertrauensvorschuss, kurz bevor der Beweis der Vertrauenswu rdigkeit erbracht ist.
Wie man wirklich Vertrauen gewinnt: das echte Modell Eine aufstrebende Fu hrungspersonlichkeit hat einfach keine Zeit, Vertrauen zu erwerben, indem sie Beweise ihrer Vertrauenswu rdigkeit erbringt, auch wenn sie im Prinzip dazu in der Lage ware. Der einzige Weg zum Erfolg besteht deshalb darin, sich noch-nicht-verdientes Vertrauen zu erwerben. Wenn Sie also gerade bei Hewlett Packard den Vorstandsvorsitz u bernommen haben, verdanken Sie Ihr Ansehen weniger der nu chternen Urteilskraft Ihrer Mitarbeiter (–Ich komme zu dem Schluss, die neue Chefin hat sich unserer Gefolgschaft als wu rdig erwiesen© ) als vielmehr ihrer kollektiven Ahnung (–Ich wette, sie ist eine Siegernatur!© ). Ich hatte das Glu ck, im Rahmen meiner Beratungstatigkeit ein paar u beraus erfolgreiche aufstrebende Fu hrungspersonlichkeiten in Aktion erleben zu du rfen. Sie alle waren Meister des Vertrauenserwerbs. Sie zu beobachten, hat mich in 136
meiner U berzeugung bestarkt, dass es einer erheblichen personlichen Ausstrahlung bedarf, sich noch nicht verdientes Vertrauen zu erwerben. Konner auf diesem Gebiet sind in der Regel beredt, lebhaft, attraktiv und mit einem trockenen Humor begabt. (Ich denke da konkret an einen CEO mit einem riesigen Ego, gepaart mit einem herrlichen Sinn fu r Selbstironie.) Diese Eigenschaften sind angeboren: Man hat sie oder man hat sie nicht. Interessanter ist daher die U berlegung, mit welchen Methoden sich noch-nichtverdientes Vertrauen erwerben lasst. Dabei sehe ich ein Muster, das alle Siegernaturen kennzeichnet: Sie gewinnen Vertrauen, indem sie Vertrauen schenken.
Fuhren und Vertrauen schenken Als eines Morgens die Maschine aus L. A. nach einem endlosen Flug in Sydney aufsetzte, blieb ich auf meinem Platz sitzen, bis sich der Gang allmahlich geleert hatte. AuÄ er mir hatten sich auch andere Fluggaste entschlossen zu warten: eine Mutter mit zwei kleinen Madchen, die ein paar Reihen vor mir saÄ en. Da ich nur eine Schultertasche dabei hatte, blieb ich auf meinem Weg zum Ausgang neben ihr stehen und fragte, ob ich ihr mit dem Gepack helfen konnte. (Es verblu fft mich immer wieder, wie viele Sachen Mu tter mit sich herumschleppen mu ssen.) –Ich habe einen Arm frei© , sagte ich. –Kann ich Ihnen etwas abnehmen?© –Aber sicher© , antwortete die Frau und dru ckte mir ein zauberhaftes blondhaariges Madchen in den Arm. Ich verlieÄ das Flugzeug und schwebte wie auf Wolken. Die Mutter hatte einen Buggy fu r zwei Kinder dabei, den sie aufklappte, sobald wir das Terminal erreicht hatten. Ich setzte das kleine Madchen auf seinen Platz im Buggy und verabschiedete mich. Der kleine Vorfall hatte drei Minuten meines Lebens in Anspruch genommen und ereignete sich vor neunzehn Jahren. Aber ich habe und werde ihn nie vergessen. Vertrauen zu schenken ist eine unglaublich starke Geste. Sie veranlasst den Empfanger fast automatisch, mit Loyalitat zu reagieren. Begabte Fu hrungspersonlichkeiten verstehen es intuitiv, Vertrauen zu gewahren. Sie tun es Tag fu r Tag. Sie u bertragen Verantwortung, lange bevor der andere sie sich komplett verdient hat. Sie wissen, wann es angezeigt ist, den Dingen auf gut Glu ck ihren Lauf zu lassen. Als junger Ingenieur hatte ich das Glu ck, unter einer Reihe groÄ artiger Manager bei Bell Telephone Laboratories, Computer Applications, La CEGOS Informatique und Philips Schweden zu arbeiten. Neben jeden ihrer Namen konnte ich eine Geste des Vertrauens schreiben, eine Verantwortung, die sie mir unverdienterweise u bertrugen, kurz bevor der Rest der Welt (und sogar ich selbst) zu der Erkenntnis gekommen war, dass ich sie mir verdient hatte. Bis heute lost der Gedanke an die Aufgaben, die sie mir anvertrauten, ein Gefu hl der Bewegtheit in mir aus. Damals war ich stolz, begeistert und voll innerer Anspannung. Vor allem war ich ent137
schlossen, dass die Person, die mir so viel Vertrauen entgegenbrachte, es nie bereuen sollte. Diese Zeilen u ber Vertrauensbeweise lesen sich wie ein einfaches Rezept, Loyalitat zu erwerben. Die Umsetzung dieses Rezepts ist jedoch alles andere als einfach. Fu hrungspersonlichkeiten wissen aufgrund ihres Talents, das einen GroÄ teil ihres Erfolgs ausmacht, wem sie wann wie viel zutrauen konnen. Wie bei Kindern gilt, dass ein Vertrauensvorschuss gewahrt werden sollte, kurz bevor der Beweis der Vertrauenswu rdigkeit erbracht ist. Die wahre Kunst besteht darin, Vertrauen nicht zu fru h zu gewahren. Das erfordert ein untru gliches Gespu r fu r die Leistungsfahigkeit der Menschen um Sie herum. Wer Leute in ihr Verderben schickt, wird sich kaum ihre Loyalitat erwerben; Sie mu ssen sie also auf die Erfolgsbahn setzen. Jedes Mal, wenn Sie Vertrauen schenken, bevor die entsprechende Leistung erbracht wurde, spielen Sie mit der Gefahr. Wenn Sie Risiken scheuen, werden Sie diese Gefahr nicht eingehen wollen. Das ist schade, denn am wirkungsvollsten erwerben Sie sich das Vertrauen und die Loyalitat der Leute unter Ihnen, indem Sie Gleiches mit Gleichem entgelten.
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24 Die zeitliche Gestaltung des Wandels
To every thing, Turn, turn, turn, There is a season, Turn, turn, turn, And a time to every purpose under heaven. Pete Seeger; gesungen von The Byrds ß mit Unterstu tzung aus dem Buch Kohelet 3,1:
Alles hat seine Stunde. Fu r jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. Wenn es zu Ihren Aufgaben gehort, die Organisation zu verandern, benotigen Sie das Gespu r eines Aktien-Market-Timers fu r den richtigen und den falschen Moment. Das –Richtige© im falschen Moment zu tun ist schlimmer, als u berhaupt nichts zu tun. Um die Sache zusatzlich zu verkomplizieren, weist die gangige Meinung zum Thema Timing Ihnen den falschen Weg. Sie lautet namlich: –Was nicht kaputt ist, braucht nicht repariert zu werden.© In anderen Worten: Denken Sie u ber Veranderungen erst dann nach, wenn etwas eindeutig –kaputt© ist. Das fu hrt zu folgender Situation:
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Im Gegensatz zu Sonderzahlungen oder zusatzlichen Vergu nstigungen konnen Sie Veranderungen nicht in die unternehmerische Gleichung einflieÄ en lassen, wenn der Zeitpunkt gerade gu nstig ware. Es gibt Zeiten, in denen Veranderungen einfach nicht greifen (zum Beispiel wahrend eines Geschaftsru ckgangs). Umgekehrt gibt es gu nstige Momente, in denen die Organisation einigermaÄ en geneigt ist, Veranderungen zu akzeptieren.
Wandel: Womit Sie es zu tun haben Als Beauftragter fu r den unternehmerischen Wandel fu hlen Sie sich vermutlich den aktuellen Geschaftsprozessen nicht sonderlich stark verbunden; das heiÄ t jedoch nicht, dass andere genauso fu hlen. Wahrend Sie nach erfolgreich vollzogenem Wandel sehr wahrscheinlich weiterziehen und sich neuen Aufgaben zuwenden, bleiben diejenigen, deren Welt Sie gerade auf den Kopf gestellt haben, zuru ck und mu ssen mit den Ergebnissen leben. Solange Menschen sich zumindest teilweise u ber ihre Arbeit definieren, ist jede Veranderung dieser Arbeit, ihrer Verfahren und Methoden wahrscheinlich von Bedeutung fu r ihr Selbstbild. Deshalb kann der Widerstand gegen den Wandel erstaunliche AusmaÄ e erreichen. Lassen Sie mich das in die richtige Perspektive ru cken: Sie sind David, und der Widerstand gegen den Wandel, auf den Sie mit Ihrem scheinbar harmlosen Veranderungsvorschlag stoÄ en werden, ist Goliath. Sie sind ein winzig kleines Menschlein, und Goliath ist ein sechs Ellen groÄ er Riese. (Gehen wir fu r die Zwecke dieser Diskussion davon aus, dass l Elle = 1,609 Kilometer). Natu rlich hat der biblische David Goliath am Ende besiegt, aber nur dank Gottes Hilfe. Wenn kein Grund besteht zu glauben, dass Gott auf Ihrer Seite steht und sich dem Wandel Ihrer Organisation personlich verpflichtet fu hlt, neigen wir anderen eher dazu, auf Goliath zu setzen. 140
Offenkundig brauchen Sie ein paar ernsthafte Vorteile auf Ihrer Seite, um einen derart groÄ en Widerstand u berwinden zu konnen. Dazu gehoren 1) eine Reihe vernu nftiger Ansatze zur Einfu hrung von Veranderungen und 2) eine Kultur, die nicht an einer Veranderungsphobie leidet. Statt im Einzelnen auf diese beiden Voraussetzungen einzugehen, verweise ich Sie auf ein Buch u ber die Einfu hrung von Veranderungen4 sowie ein Buch u ber Unternehmenskultur5 und konzentriere mich auf den dritten Vorteil, den Sie benotigen werden: 3) das richtige Timing. Der goliathgroÄ e Widerstand gegen Veranderungen ist nicht logisch, sondern fast immer emotional begru ndet. Aber Gefu hle sind fu r den Erfolg des Wandels nun einmal genauso wichtig wie rationale Schlussfolgerungen. Angst jeder Art kann die Aufgabe erschweren, Veranderungen einzufu hren. Deshalb ist die Phase, in der die Geschicke des Unternehmens einen plotzlichen Ru ckschlag erleiden, der denkbar schlechteste Moment zur Einfu hrung von Veranderungen. Die Mitarbeiter fu rchten um ihre Jobs, machen sich Sorgen um das langfristige Wohlergehen des Unternehmens und erleben schockiert den kraftstrotzenden Elan der Konkurrenz. Im Nachhinein zeigt sich dann, dass eine gesunde Wachstumsphase ein wesentlich gu nstigerer Zeitpunkt fu r die Veranderung gewesen ware:
Jedes Wachstum erfordert gewisse Veranderungen. Moglicherweise mu ssen Sie, um Ihrem groÄ eren Erfolg gerecht zu werden, mehr Leute einstellen, zusatzliche Bu ros anmieten und Ihre Geschaftstatigkeit diversifizieren oder zentralisieren. Aber Wachstum fu hlt sich gut an und vermittelt das Gefu hl, auf der Gewinnerseite zu stehen. Es fu hlt sich sogar gut genug an, um die Intensitat des Widerstands gegen Veranderungen zu verringern. Weil wachsen siegen heiÄ t, betrachten die Mitarbeiter wachstumsbedingte Veranderungen mit vollig anderen Augen. 4
Bridges, W.: Managing Transitions: Making the Most of Chance, Addison Wesley, 1991. 5 DeMarco, T., und T. R. Lister: Wien wartet auf Dich. Der Faktor Mensch im DVManagement. Carl Hanser Verlag, 1999. 141
Nutzen Sie fur Vera nderungen die Flut Wachstum ist die steigende Flut, die alle Boote zu Wasser bringt. In einer Wachstumsphase stehen Menschen Veranderungen von Natur aus aufgeschlossener gegenu ber. Sie ist daher die optimale Zeit, Veranderungen aller Art einzufu hren. Vor allem Veranderungen, die nicht wachstumsbedingt sind, sollten zeitlich so abgestimmt werden, dass sie in Wachstumsperioden fallen. Nicht, weil sie in dieser Zeit unbedingt notwendig sind, sondern weil sie in dieser Zeit leichter moglich sind. Im Kampf gegen Goliath ist selbst der geringste Vorteil von Bedeutung.
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25 Die Rolle des mittleren Managements In diesem Kapitel wenden wir uns voru bergehend ab von der zentralen Frage –Wie vollziehen sich Veranderungen?© und verengen den Blickwinkel auf die Frage –Wo vollziehen sich Veranderungen?© Genauer gesagt, wo in der Organisation befindet sich das Zentrum des Wandels? Eine einfache (aber falsche) Antwort lautet: Veranderungen vollziehen sich an der Spitze. Zwar kann die Veranderungsinitiative von ganz oben ausgehen, fu r die Details der Umsetzung sind jedoch andere Stellen zustandig. Veranderungen, insbesondere grundlegende Veranderungen, sind ohne Erneuerung nicht denkbar. Erneuerung in Unternehmen aber verlangt eine tiefe Verbundenheit mit dem Alltagsgeschaft der Organisation, die das Topmanagement vermutlich nicht mehr besitzt. Eine ebenso falsche Antwort lautet: Veranderungen vollziehen sich ganz unten. Menschen am unteren Ende der Hierarchie haben weder die Perspektive, Chancen der Erneuerung zu erkennen, noch die Macht, einen Erneuerungsplan umzusetzen. Wenn sich Erneuerung weder ganz oben noch ganz unten vollzieht, bleibt nur noch eine Moglichkeit u brig: Sie muss sich in der Mitte vollziehen.
Die Schlusselrolle des mittleren Managements Die Schlu sselrolle des mittleren Managements ist Erneuerung. Keine Frage, mittlere Manager sind auch fu r die Leitung des operativen Geschafts und andere Alltagsaktivitaten zustandig. Den Unterschied aber zwischen Unternehmen, die im Chaos einer sich standig verandernden Wirtschaft u berleben, und Unternehmen, denen das nicht gelingt, macht das mittlere Management in seiner Rolle als Agent des Wandels aus. Die u berlebenden Unternehmen verfu gen u ber ein vitales, selbstsicheres mittleres Management, vor allem auf den Ebenen 2 bis 4. Dagegen haben die Unternehmen, die den Wandel nicht u berleben, sehr oft die Hierarchiestruktur um die mittleren Positionen ausgedu nnt und die noch verbliebenen
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mittleren Manager so verschreckt und desillusioniert, dass ihnen der Mut zu handeln abhanden gekommen ist. Oder noch brutaler formuliert: Die Unternehmen, die heute erkennen mu ssen, dass sie im Bestehenden festgefahren sind, befinden sich in dieser Situation, weil sie genau die Leute entlieÄ en, die in der Lage gewesen waren, die notwendigen Veranderungen zu begleiten. Indem sie sich ihrer Zentren des Wandels entledigten, haben sie sich im doppelten Sinne des Wortes platt gemacht. Hinter dieser Logik stand die verzerrte Wahrnehmung, dass Mitarbeiter der mittleren Ebene Zeit u brig hatten und daher u berflu ssig waren. Dieses –Fett© sollte abgebaut werden. Die Tatsache, dass die Leute Zeit u brig hatten, machte sie zu Fett.
Spielra ume Wenn Erneuerung zu den grundlegenden Aufgaben des mittleren Managements gehort, stellt sich die Frage, wann diese Aufgabe erbracht wird. Die Antwort lautet: in der Zeit, die nicht zur Leitung des Tagesgeschafts benotigt wird. Die Tatsache, dass Manager Zeit u brig haben (d.h. dass das operative Geschaft weniger als acht Stunden ihres Arbeitstages verschlingt), lasst ihnen Zeit, u ber Neuerungen nachzudenken. Die zusatzliche Zeit ist nicht verschwendet, sondern schafft Spielraume. Ohne sie konnten Mittelmanager nur das operative Geschaft erledigen. Erneuerung ware unmoglich, weil die Leute, die sie bewirken konnen, zu beschaftigt sind, um sich dafu r Zeit zu nehmen. Selbst Unternehmen, die ihre Zentren des Wandels nicht abgebaut haben, haben sich Schaden zugefu gt, weil sie ihren Managern hektische Betriebsamkeit abverlangten. Um dem Wandel den Boden zu bereiten, mu ssen sie begreifen, dass es grundfalsch ist, Manager standig auf Trab zu halten. Wenn unter Ihnen hektisch betriebsame Manager arbeiten, stellt dies sowohl Ihre visionare Kraft als auch Ihre Fahigkeit infrage, Visionen in die Realitat umzusetzen. Gestehen Sie Ihren Leuten mehr Spielraum zu.
Isolation Genu gend Spielraum ist nicht die einzige notwendige Voraussetzung fu r Erneuerung. Manager der mittleren Ebene mu ssen zusammenarbeiten, um sinnvolle Veranderungen zu planen und umzusetzen. Aber Mittelmanager arbeiten fast nie zusammen. Tatsachlich neigen Manager auf allen Ebenen dazu, relativ isoliert voneinander zu arbei ten.
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Sogar frischgebackene Manager, die vor einer vollig neuen Aufgabe stehen, sitzen oft allein hinter den verschlossenen Tu ren ihres Bu ros und fragen sich, wie ihre Kollegen wohl einige der Probleme anpacken wu rden, mit denen sie gerade konfrontiert wurden. Nun denken Sie vielleicht, sie wu rden den Gang hinunterschlendern, einen alteren Manager abfangen und fragen: –Hey, wie sind Sie eigentlich mit ,was auch immerÖfertig geworden?© Das ware sicherlich vernu nftig, aber so einfach ist die Sache nicht. Das vertraute Miteinander und An-einem-Strang-Ziehen, das unter Wissensarbeitern, die keine Manager sind, u blich ist, ist unter Managerkollegen weitaus weniger verbreitet. Stattdessen herrscht unter ihnen eine nervose Anspannung, ein Gefu hl des Wettbewerbs. Dieser Konkurrenzdruck ist besonders spu rbar, wenn Mittelmanager sich nicht sicher fu hlen. Sie alle beten, wenn jemand gehen muss, dann lass es einen der anderen sein. Das ist kaum eine Haltung, die die Zusammenarbeit fordert.
Und noch einmal: Sicherheit Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Menschen, die die Hauptlast des Wandels tragen sollen, sich sicher fu hlen mu ssen. Das gilt auch fu r die Mitarbeiter, die den Wandel planen und seine Umsetzung leiten. Veranderungen sind nicht ohne Risiko zu haben, und das Eingehen von Risiken ist nur in einer Umgebung moglich, die zumindest ein gewisses MaÄ an Fehlschlagen ertragen kann. Wir stehen hier vor einem Paradoxon: Um ein Umfeld zu schaffen , in dem Risiken gewagt und riskante Vorhaben erfolgreich bestanden werden, mu ssen wir auch ein Umfeld schaffen, in dem Fehlschlage akzeptiert werden. Wenn Ihnen der Gedanke zu schaffen macht, dass Risiken nur dort eingegangen werden, wo man Fehler toleriert, stellen Sie sich das Gegenteil vor: Strafen fu r Fehlschlage. Drohende Strafen werden oft als eine Moglichkeit der Erfolgssicherung gerechtfertigt; haufiger wirken sie jedoch als Abschreckungsmittel und verhindern, dass u berhaupt Risiken eingegangen werden.
Zusammenfassung: Erneuerung und ihre Voraussetzungen Erneuerung findet in der Mitte der Organisation statt. Als erste Voraussetzung muss daher eine Mitte vorhanden sein. Ich gehe einmal davon aus, dass das in Ihrer Organisation noch der Fall ist. Nun gestehen Sie Ihren Leuten mehr Spielraum zu, erhohen die Sicherheit und locken die Manager aus ihrer Isolation hervor. Voil`, das ist die Formel fu r Erneuerung aus der Mitte der Hierarchie 145
heraus. (Sie klingt solange einfach “ bis Sie versuchen, sie in die Tat umzusetzen.) Um die Notwendigkeit jedes dieser Elemente zu verstehen und Moglichkeiten fu r ihre Einfu hrung zu erkennen, mu ssen wir uns die Kernaktivitat der Erneuerung naher ansehen: Lernen innerhalb der Organisation. Das ist das Thema des nachsten Kapitels.
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26 Die lernende Organisation Ich nehme an, man konnte eine Organisation verandern, ohne auch nur das Geringste zu lernen, aber wozu sollte das gut sein? In aller Regel wird eine Veranderung durch etwas Gelerntes motiviert und dann mit Hilfe der Palette neuer Fertigkeiten, die wahrend des Veranderungsprozesses erlernt werden, umgesetzt. Lernen und Wandel gehen Hand in Hand.
Lernmaschine Mensch Menschen sind natu rliche Lernmaschinen, die ununterbrochen neu hinzulernen. Die Evolution hat diese Lernfahigkeit in uns angelegt und keinen Ausschaltknopf vorgesehen. Wenn Sie also am Abend Ihr Buch u ber die Geschichte des Ersten Weltkriegs mit dem Gedanken –Genug gelernt fu r heute© zuklappen und eine Unterhaltung mit Ihrem Partner oder Ihrem Kind beginnen, horen Sie nicht auf zu lernen. Sie schalten lediglich in einen anderen Gang. Sie horen erst auf zu lernen, wenn Sie tot sind. Auch Organisationen lernen standig. Aber Gelerntes wird nicht immer umgesetzt, und nicht alles Erlernte ist von Nutzen. Um zu einer lernenden Organisation zu werden, die ihren Namen verdient, mu ssen Sie sich kontinuierlich und zielgerichtet die Fertigkeiten und Denkrichtungen aneignen, die den Boden fu r einen konstruktiven Wandel bereiten. Diese Art von Lernen ist weniger natu rlich. Irritierenderweise neigen wir ja dazu, neues Wissen wie Schwamme in uns aufzusaugen, wenn das Gelernte weitgehend irrelevant fu r uns ist, wahrend wir uns strauben, die Dinge zu lernen, auf die es wirklich ankommt. Das gilt sowohl fu r Organisationen als auch fu r Einzelpersonen. Sie zum Beispiel haben vielleicht kein Problem, etwas zu lernen, was vor fast hundert Jahren geschah. Dagegen kann es gut sein, dass Sie zumindest teilweise blockiert sind, wenn Sie eine drastisch neue Arbeitsmethode meistern sollen.
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Das klassische Modell des Lernprozesses Erziehungswissenschaftlern zufolge besteht der Lernprozess aus vier Elementen: dem Lernenden, dem Mentor, dem Material und dem oder den Mitlernenden. Das Modell sieht in etwa so aus:
Offensichtlich ist ein gewisses MaÄ an Lernen moglich, auch wenn eines oder mehrere dieser Elemente fehlen. Denken Sie nur an sich selbst, wie Sie alleine, ohne Unterstu tzung durch einen Mentor oder durch Mitlernende, in dem Buch u ber Geschichte lesen, von dem gerade die Rede war. Wir lernen andauernd in solch unvollstandigen Lernumgebungen. Lassen Sie uns aber nicht vergessen, dass es uns hier nicht um das einfache natu rliche Lernen des Amateurs geht, sondern darum, wirklich relevante Fahigkeiten zu erlernen, die das Arbeitsleben verandern, u ber das wir uns definieren. Fu r diese Art von Lernen ist die volle Lernumgebung praktisch unverzichtbar. Ein Beispiel: Nehmen wir an, Ihr Buch u ber die Geschichte des Ersten Weltkriegs lehrt Sie, dass die 1918 entlang des Chemin des Dames stattfindende Schlacht durch die Meuterei eines russischen Heeres erschwert wurde, das auf der Seite der Franzosen kampfen sollte. (Die prorevolutionaren Soldaten rebellierten gegen ihre zaristischen Offiziere.) Als an Geschichte interessierter Laie konnen Sie dieses Informationshappchen einfach zur Kenntnis nehmen und weiterlesen. Aber stellen Sie sich vor. Sie waren kein Amateur. Stellen Sie sich vor, Sie waren Geschichtswissenschaftler, ein Profi auf Ihrem Gebiet. Stellen Sie sich vor, Sie hatten selbst ein Buch u ber die Schlacht beim Chemin des Dames geschrieben und bis zu diesem Moment nie etwas von der russischen Meuterei gehort. Dann sahe die Sache vollig anders aus. Die Information, die man Ihnen vermitteln will, ware von Bedeutung 148
fu r Ihr Selbstbild. Von Rechts wegen sollten Sie unverzu glich in den Modus des Recherchierens umschalten, dem Thema in all seinen Verastelungen nachgehen und entweder eine Berichtigung Ihrer eigenen Arbeit u ber die Schlacht veroffentlichen oder Protest gegen die Theorie eines Aufstands einlegen. Auf diese Weise wu rden Sie lernen und wachsen. Das ware die richtige Vorgehensweise, aber etwas in Ihnen straubt sich dagegen. Eine Gegenstimme flu stert Ihnen ein, die ganze Idee einer Meuterei als lachhaft abzutun und ein fu r allemal zu verwerfen: Die Gelegenheit, etwas Wichtiges zu lernen, wurde vertan.
Bleichgesichtiges Lernen Ich weiÄ aus meiner Anfangszeit, als ich Entwicklungsmethoden lehrte, dass Menschen, die etwas lernen, was wirklich wichtig fu r sie ist, einen Moment der Panik durchleben. Sowie offenkundig wird, dass der gelehrte neue Ansatz ihren seit Jahren genutzten Methoden eindeutig u berlegen ist, geht durch den Raum ein unausgesprochenes –O Shit!© Ihre Gesichter werden weiÄ . Man spu rt formlich, wie ihr Magen Purzelbaume schlagt. In derartigen Momenten hilft es dem Lernenden, einen raschen Blick auf einen anderen Teilnehmer werfen zu konnen, der wie er bleich geworden ist und auf dessen Oberlippe sich ebenfalls winzige SchweiÄ perlen zu bilden beginnen. Die Anwesenheit der Mitlernenden, die geduldige U berzeugungsarbeit des Mentors und leicht verdauliches, unbedrohliches Material zur Verstarkung des Lernprozesses sind notwendig, um den Teilnehmern u ber diese ganz spezielle Lernblockade der Profis hinwegzuhelfen. Fehlt auch nur eines dieser Elemente, werden viele oder alle Teilnehmer die beunruhigende neue Idee als –lachhaft© abtun und eine wichtige Lernchance versaumen.
Warum Teams wichtig sind Teams aus Wissensarbeitern sind ein Ratsel besonderer Art. Der weitaus groÄ te Teil der Arbeit, die das Team leistet, wird letztendlich von Einzelpersonen erledigt, die alleine vor sich hin arbeiten; nur wenig wird wirklich in Teamarbeit erledigt. Warum ist das Team dann so wichtig? Warum schneiden verschworene Teams aus Wissensarbeitern so viel besser ab als isolierte Einzelkampfer? Zum Teil liegt das daran, dass das Team dabei hilft, Ziele aufeinander abzustimmen, und dafu r sorgt, dass alle Mitglieder am gleichen Strang ziehen. Daru ber hinaus konnen Teams dazu beitragen, das Bedu rfnis des Individuums nach Gemeinschaft zu erfu llen. Diese Vorteile sind nicht zu unterschatzen und
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erklaren durchaus ausreichend, warum Teams bei Wissensaktivitaten erwiesenermaÄ en mehr leisten als Einzelkampfer. Nehmen Sie dazu noch die ausgewogene Lernumgebung, die das Team bereitstellt. Wenn Sie im Team lernen, haben Sie einen Mentor: ein anderes Teammitglied, das inhaltlich etwas weiter ist als Sie. Dieses Teammitglied ist Ihr Coach. Sie haben U bungsmaterial zur Verfu gung: ein bewaltigbares Stu ck Projektarbeit, das Ihr Coach so passgenau fu r Sie zurechtschneidet, dass es Ihnen den Erwerb der notwendigen Fertigkeiten erleichtert.
Und Sie haben Mitlernende: die anderen Teammitglieder, die gleichzeitig mit Ihnen lernen, oder Ihnen nur einen kleinen Schritt voraus sind (so dass die Blasse noch nicht ganz aus dem Gesicht gewichen ist). Das ist eine perfekte Umgebung, das zu lernen, worauf es wirklich ankommt. In der Anfangszeit Ihrer Karriere hat vermutlich ein GroÄ teil Ihres Wissenserwerbs in einem derartigen Umfeld stattgefunden. Das Team stellt eine ideale Lernumgebung bereit, einen Ort, wo Coachen und gecoacht zu werden ein natu rlicher Bestandteil der taglichen Arbeit sind. Ihre Organisation hort den Gedanken, dass Teams fu r den Lernerfolg wichtig sind, vermutlich nicht ungern, denn die Chancen stehen gut, dass sie der Teamarbeit einen hohen Wert beimisst. Das ist schon “ nur, wo sind die Teams? Es ist nicht ungewohnlich, echte Teams ausschlieÄ lich auf der untersten Hierarchieebene 150
vorzufinden. Wenn das stimmt, so mu ssen wir uns fragen, ob wir Lernen nur auf der untersten Ebene fordern wollen? Oder setzen wir auch dort Teams ein, wo das Lernen besonders wichtig ist?
Lernen, wie man managt In Unternehmen mu ssen die unterschiedlichsten Fahigkeiten erlernt werden, allen voran die Fahigkeit zu managen. In schoner RegelmaÄ igkeit werden Leute ins Management befordert, die bisher keine Manager waren, und niedrigrangige Manager u bernehmen Aufgaben, die qualitativ andere Managementfahigkeiten erfordern. Auf welche Weise eignen sie sich das dafu r erforderliche Wissen an? Traurigerweise sind sie fast immer gezwungen, in einer reduzierten Lernumgebung zu lernen:
Hier ist kein Coach zu sehen, kein gleichrangiger Kollege, der die Rolle des Mentors u bernimmt. Es gibt kein anderes U bungsmaterial als den Job als Ganzes, keine unbedrohliche Teilaufgabe, die so zurechtgeschnitten wurde, dass sie eine ideale U bungsaufgabe fu r Sie darstellt. Und es gibt keine sichtbaren Mitlern-
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enden. Es wird erwartet, dass frischgebackene Manager das, was zu lernen ist, in fast vollstandiger Isolation erlernen. Ich selbst hockte als junger Manager allein hinter der geschlossenen Tu r meines Bu ros. Ich hatte Zugang zu meinem Chef, aber nicht zu den Leuten, die mir wirklich hatten helfen konnen, den anderen Managern auf meiner Hierarchiestufe. Bei jeder neuen Managementherausforderung, mit der ich konfrontiert war, fragte ich mich, wie um alles in der Welt wu rden Sharon oder George oder Eugene (meine gleichrangigen Managerkollegen) ein Problem dieser Art losen? Ich hatte alles fu r eine Gelegenheit gegeben, in einem ihrer Bu ros Mauschen spielen und einem Experten bei der Arbeit zusehen zu du rfen. Aber die Firmenkultur, in der ich mich damals befand, machte es ihren Managern durch ein komplexes und hassliches Regelwerk unmoglich, einander um Hilfe zu bitten. Ja klar, junge Manager werden oft auf ein paar Managementseminare geschickt. Leider haben solche Seminare den Haken, abstrakt und praxisfern zu sein. Sie sind kein Ersatz fu r die Teamumgebung, in der Sie fru her Ihre Fertigkeiten erlernt haben, indem Sie sie auf ein echtes Stu ck Arbeit angewendet haben. Und wenn wir schon dabei sind: In Managementseminaren lernt man sehr haufig nur Managementmethoden (Berichtswesen, Projektplanung, Gant-Diagramme und PERT-Analyse) und nicht die wirklich schwierigen Dinge, die gute Manager von schlechten unterscheiden: Mitarbeiter auszuwahlen und zu motivieren, Teams zu verschmelzen, zuzuhoren, zu fordern, korrekt zu erkennen, wann jemand bereit ist, mehr Verantwortung zu u bernehmen. Den meisten von uns fallt es schwer, anhand abstrakter Theorien zu lernen. Wir lernen am Beispiel. Schon deshalb lernen wir isoliert nicht besonders gut. Managementfahigkeiten werden wie Erziehungsfahigkeiten am besten am Beispiel, mit Hilfe eines fahigen Coachs und im gemeinsamen Erleben mit anderen Lernenden erlernt. Warum konnen neue Manager ihre Fahigkeiten nicht in einer Teamumgebung erlernen? SchlieÄ lich gibt es doch in praktisch jedem Unternehmen ein so genanntes Managementteam.
Das Managementteam Wenn ich einen neuen Beratungsauftrag u bernommen habe, verbringe ich normalerweise einen Teil meines ersten Tages mit dem –Managementteam© . Zusammen mit etwa einem Dutzend anderer Leute sitze ich in einem Raum und nehme an der wochentlichen Lagebesprechung teil. Alle diese Besprechungen sind einander ahnlich. Der Chef sagt ein paar einleitende Worte; anschlieÄ end wechseln die nachrangigen Manager einander ab und informieren den Chef u ber die neuesten Entwicklungen in ihren Verantwortungsbereichen. Wahrend Manager D sagt, was er zu sagen hat, kann man haufig beobachten, wie sich 152
Managerin G etwas weiter unten am Tisch ein paar Notizen macht. Inzwischen hege ich den Verdacht, dass diese Notizen fast nie etwas mit den Beitragen der anderen Teilnehmer zu tun haben; Managerin G macht sich vielmehr Notizen fu r die wenigen Minuten, in denen sie Gelegenheit hat, dem Chef zu berichten. Manager, die ihren Moment im Rampenlicht bereits hinter sich haben, nehmen eine passive Zuhorerhaltung ein, die sie aussehen lasst, als waren sie halb eingenickt. Wenn die Manager aufstehen und den Raum verlassen, werden sie sich typischerweise erst bei der nachsten Lagebesprechung wiedersehen. Die Lagebesprechung, die ich beschrieben habe, ist eigentlich gar keine Besprechung, sondern eine Zeremonie. Bei einer echten Besprechung namlich stecken n Leute die Kopfe zusammen, um zu einer gemeinsamen Schlussfolgerung zu gelangen oder eine neue Richtung einzuschlagen, die den Beitrag und die Mitwirkung aller erfordert. Abwechselnd mit dem Chef zu sprechen ist keine Besprechung in diesem Sinn, sondern ein Ritual, das den Chefstatus des Chefs anerkennt und zelebriert. Ich raume ein, dass Rituale im Geschaftsleben erforderlich sein mogen; trotzdem ware es mir lieb, wenn wir uns darauf einigen konnten, dass die wochentliche Zeremonie der Lagebesprechung im Grunde keine Besprechung ist. Und das Managementteam ist eigentlich kein Team. Ein Team ist eine Gruppe von Leuten, die gemeinsam fu r ein oder mehrere Arbeitsprodukte verantwortlich sind “und die gemeinsam die Eigentumsrechte daran besitzen. Wenn Menschen, die nichts miteinander gemeinsam haben, als –Team© bezeichnet werden, mu ssen sie deshalb noch lange kein Team sein. Ich will damit nicht sagen, dass Unternehmen nie echte Managementteams bilden, sondern nur, dass sie es zu selten tun. Die meisten so genannten Managementteams sind eine Verballhornung des Teamkonzepts. Ein echtes Managementteam besteht aus einer Handvoll von Managern, die ihre jeweiligen Gruppen zusammen fu hren. Die Gruppenmitarbeiter merken, dass ihre Chefs viel Zeit zusammen verbringen. (Manchmal beklagen sie sich sogar daru ber: Aufgrund ihrer fru heren Erfahrungen sind sie an einen Manager gewohnt, der einen GroÄ teil des Tages allein in seinem Bu ro verbringt und deshalb ofter fu r sie zu sprechen ist.) Entscheidungen werden vom Team getroffen und gehoren dem Team. Das Managementteam verantwortet und rechtfertigt seine Entscheidungen gemeinsam, genau so wie die niedrigrangigeren Teams, die ihm zuarbeiten. Diese nicht hundertprozentig klare Abgrenzung der Verantwortungsbereiche ist das –Problem© , das Organisationen anfu hren, die keine echten Managementteams zulassen. Lauthals verteidigen sie die Vorteile, jeden Manager die volle Verantwortung fu r die ihm zugewiesenen Aufgaben tragen zu lassen. Die Kehrseite dieses einfaltigen Verantwortlichkeitskonzepts sind Manager, die isoliert von ihren Kollegen arbeiten.
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Lenken Sie Ihren Blick auf den wei en Raum Im vorigen Kapitel habe ich die Frage gestellt: Wo findet der Wandel statt? Da in einer Organisation Lernen und Wandel Hand in Hand gehen, habe ich angefu hrt, dass sich das Zentrum des Lernens als das Zentrum des Wandels herausstellen wird. Ich habe weiter argumentiert, dass Wandel und Lernen ausnahmslos in der Mitte der Hierarchie stattfinden. Aber wo in der Mitte? Die genaue Antwort darauf lautet: Wandel und Lernen finden in dem weiÄ en Raum in der Mitte des Organigramms statt.
Ein signifikantes Lernen innerhalb der Organisation kann nicht isoliert erfolgen. Dafu r ist immer die Mitwirkung einer Gruppe von Mittelmanagern erforderlich, die miteinander reden und einander zuhoren, statt abwechselnd mit einem gemeinsamen Chef zu reden und ihm zuzuhoren. Bei Unternehmen, die als lernende Organisation besonders erfolgreich sind, findet im weiÄ en Raum eine lebendige Kommunikation statt. Das gilt sowohl fu r die oberen als auch die unteren Hierarchieebenen, vor allem aber fu r die mittleren. Der weiÄ e Raum zwischen gleichrangigen Mittelmanagern ist der Ort, wo sich das Unternehmen immer wieder neu erfindet. Wo Kommunikation und gemeinsame Verantwortung im weiÄ en Raum nicht gefordert werden, gibt es keine Neuerfindung.
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27 Gefahr im wei en Raum Dieses Kapitel nimmt das Gegenteil der lernenden Organisation ins Visier: die nicht-lernende Organisation. Wenn Unternehmen, Unternehmensbereiche und Abteilungen festgefahren sind und einfach nicht mehr aus dem Schlamassel herausfinden, suchen sie ihr Heil oft darin, die Verbindungslinien und Kastchen des Organigramms zu verandern. Sie taten besser daran, sich auf den Raum zwischen den Linien und Kastchen zu besinnen. Da gesunde Organisationen den weiÄ en Raum als Lernzentrum nutzen, konnen Sie sicher sein, dass die Probleme nicht-lernender Organisationen genau an dieser Stelle angesiedelt sind. In nicht-lernenden Organisationen ist der weiÄ e Raum kein Ort der Begegnung und Zusammenarbeit, sondern ein trennendes Niemandsland, dessen Erforschung gefahrlich sein kann. Ein alarmierendes Beispiel fu r dieses Problem lieferte mir ein Seminarteilnehmer, als er beim Mittagessen zu mir sagte: –Ich fu rchte mich vor meinen gleichrangigen Managerkollegen.© Dann erklarte er mir, wie in seiner Firma Manager gegeneinander ausgespielt wurden. In ihm wuchs das Gefu hl, die Erfolge anderer Manager bedeuteten einen Misserfolg fu r ihn, wahrend ihre Misserfolge ihm umgekehrt zum Vorteil gereichten. Natu rlich empfanden die anderen genau so, und aus diesem Grund fu rchtete er sie auch: Sie suchten standig nach einer Gelegenheit, seine Starken zu unterminieren und seine Schwachen auszubeuten. Wo eine solche –Gefahr im weiÄ en Raum© lauert, kommt jedes Lernen in der Organisation “ neben allen anderen Formen der Zusammenarbeit und Verbundenheit “zum Erliegen.6
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Den wunderbar dramatischen Begriff –Gefahr im weiÄ en Raum© pragte meine Freundin und Kollegin in der Atlantic Systems Guild, Suzanne Robertson, um das Problem lerngehemmter Unternehmen zu beschreiben. 155
“Ein gesunder Wettbewerb hat noch niemandem geschadetö In praktisch jeder Organisation, die durch einen intensiven Wettbewerb zwischen gleichrangigen Managern gekennzeichnet ist, gibt es eine Person etwas weiter oben in der Hierarchie, die den Eindruck entstehen lasst, die Spannungen seien ein bewusst geplanter Teil der Unternehmenskultur. –Ich bin der Meinung, ein gesunder Wettbewerb hat noch niemandem geschadet© , lautet ihr Credo. Im Lauf der Jahre bin ich allerdings zu der Ansicht gekommen, dass diese Art von Wettbewerb fast nie bewusst geplant ist, sondern sich einfach ungewollt einschleicht. Und Manager, die ihn verteidigen (ihn sich geradezu als Verdienst anrechnen), sind ein trauriges Beispiel fu r Machtinhaber, die sich selbst etwas vormachen, indem sie sich bei jedem unvorhergesehenen Ereignis einreden, es hatte schon immer und ohnehin in ihrer Absicht gestanden. Es ist interessant zu spekulieren, wie Wettbewerb unter Peers entsteht. Wenn Geschwister miteinander konkurrieren, so ist oft eine emotionale Unterversorgung daran schuld: das Gefu hl, zu wenig Aufmerksamkeit, Zuwendung, Ru ckmeldung oder Anerkennung bekommen zu haben. Vielleicht ist der Wettbewerb unter gleichrangigen Managerkollegen und die fu r ihre Ebene typische Gefahr im weiÄ en Raum auf eine ahnliche Unterversorgung zuru ckzufu hren. Vielleicht wird er durch die unnachgiebige autoritare Unerbittlichkeit einiger Topmanager hervorgerufen, die den Wettbewerb fordern oder zumindest zulassen.
Interner Wettbewerb fordert seinen Preis Einen –gesunden© Wettbewerb in einer Wissensorganisation gibt es nicht; jeder interne Wettbewerb ist destruktiv. Unsere Arbeit ist so geartet, dass sie nicht von einer einzigen, isolierten Person erledigt werden kann. Wissensarbeit ist per Definition Gemeinschaftsarbeit. Die notwendige Zusammenarbeit beschrankt sich nicht auf das Innere der niedrigrangigen Teams; es muss auch eine Zusammenarbeit zwischen den Teams und zwischen den Organisationen geben, denen die Teams angehoren. Fairerweise muss ich zugeben, dass Manager, die Wettbewerb unter ihren Mitarbeitern zulassen und fordern, die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit genau dieser Mitarbeiter sehr wohl erkennen. Aber sie reden sich ein, Wettbewerb und Zusammenarbeit schlossen einander nicht aus. Sie setzen darauf, dass das Streben nach Professionalismus ihre Mitarbeiter dazu veranlassen wird, einander dort, wo es notwendig ist, im Interesse der gemeinsamen Sache zu unterstu tzen. Ist das nicht der Fall, beklagen sie sich murrend u ber –unprofessionelles© Verhalten.
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Diese Vorstellung von professionellem Verhalten kommt mir lacherlich optimistisch vor. Wenn Manager direkte und explizite Anreize erhalten, mit ihren Kollegen zu konkurrieren, ist es sinnlos, von ihnen zu erwarten, aus Achtung vor einer schwammigen Abstraktion wie Professionalismus darauf zu verzichten, das Spiel mit vollem Einsatz zu spielen. Was heiÄ t es schlieÄ lich, eine Abteilung professionell zu managen? Soll man sich dabei von einer professionellen Ethik leiten lassen, die mit jeder Managementaufgabe per se einhergeht? Oder von einer, die mit der speziellen Aufgabe zu tun hat, die die Abteilung leistet (Forschung, Anspruchsregulierung oder PR)? So oder so ist Wettbewerb an sich nichts Unprofessionelles. Es ist nicht unprofessionell, auf dem Markt darum zu kampfen, ein Konkurrenzunternehmen auszustechen. Allenfalls mag dieses Verhalten unter bestimmten Umstanden nicht ratsam sein: zum Beispiel, wenn Sie und Ihr Konkurrent zusammen einen gemeinsamen Krieg fu hren. Wir alle richten unsere Wettbewerbsenergie in die Richtung, die uns die Manager u ber uns weisen, und wenn das Management uns den Kurs vorgibt, uns im direkten Wettbewerb mit unseren Peers zu bewahren, kann es sich kaum daru ber beklagen, dass wir unprofessionell handeln, wenn wir diesen Kurs halten.
Defensives Spielverhalten Bei jedem echten Wettbewerb kommen mindestens zwei Elemente zum Tragen: die Offensive und die Defensive. Die Offensive besteht aus den Anstrengungen, die Sie unternehmen, um einen Treffer gegen Ihre Gegner zu landen; die Defensive aus den Anstrengungen, die Ihre Gegner davon abhalten sollen, einen Treffer gegen Sie zu landen. Manager, die die Meinung vertreten –Ein gesunder Wettbewerb hat noch niemandem geschadet© , sehen nur die offensive Seite des Wettbewerbs. Sie argumentieren, dass sich ein –Treffer© , was immer das im jeweiligen Kontext heiÄ en mag, durch cleveres Management in einen Vorteil fu r die Organisation als Ganzes verwandeln lasst. Landet ein einzelner Mitarbeiter einen Treffer, steht nach dieser Interpretation auch die Organisation auf der Gewinnerseite. Es mag moglich sein, den Sieg eines einzelnen Mitarbeiters in einen Sieg fu r das Unternehmen zu verwandeln, aber es ist nicht leicht. Diese Einstellung kommt dem Management by Objectives gefahrlich nahe und ist damit fu r die gleichen Fehlschlage anfallig wie MBO, insbesondere fu r Dysfunktion. Wenn es zu einer Dysfunktion kommt, landet der einzelne Mitarbeitereinen Treffer und die Organisation geht als Verlierer vom Spielfeld. Der offensive Anteil des internen Wettbewerbs ist problematisch, der defensive Anteil ist immer schadlich. Wenn gleichrangige Kollegen mit defensiven Taktiken gegeneinander spielen (um einander davon abzuhalten, einen Treffer zu landen), betreiben sie das genaue Gegenteil von Kooperation. 157
Statt Wettbewerb zu fordern und zu hoffen, dass abstrakte Konzepte wie Professionalismus der natu rlichen Neigung zur Anwendung defensiver Taktiken entgegenwirken, mu ssen Unternehmen lernen, Konkurrenz zwischen Managern zu unterbinden. Gefahr im weiÄ en Raum kann einer Organisation helfen, effizient zu sein, hindert sie aber ein fu r allemal daran, effektiv zu sein.
Ein wiederkehrendes Muster Wettbewerb findet unter autoritaren Managern statt. Organisationen ohne Spielraume sind in der Regel autoritar. Wo Effizienz das Hauptziel ist, ist es nicht moglich, die Entscheidungsmacht zu verteilen. Sie muss in der Hand einer Person (oder weniger Personen) liegen, wahrend alle anderen Anweisungen entgegennehmen, ohne sie zu hinterfragen, und Befehle unverzu glich ausfu hren. Das ist ein wunderbares Rezept, eine Menge Arbeit vom Tisch zu bekommen, aber ein katastrophaler Ansatz, um Neuerfindung und Lernen zu fordern. Den Mitarbeitern, die zu Neuerfindung fahig waren, wird Verantwortung entzogen, und sie haben ohnehin so verdammt viel zu tun, dass Neuerfindung kein Thema ist. Lernen und Neuerfindung aber brauchen Zeit. Wenn Leute zu beschaftigt sind, die Arbeit vom Tisch zu bekommen, werden sie nie die Zeit dafu r finden, neue Herangehensweisen zu erlernen. Autoritare Manager sind zeitbesessen. Sie vernichten Spielraume und halten ihre Mitarbeiter gerne dazu an, ihre Kollegen zu u bertreffen. Und sie machen ein Lernen unmoglich. Damit kommen wir zum Thema Training ...
Training Ja, ich weiÄ , dieser Abschnitt hatte in das vorherige Kapitel u ber die lernende Organisation gehort, nicht in dieses Kapitel, das die nicht-lernende Organisation behandelt. Vermutlich fragen Sie sich schon die ganze Zeit u ber, was dieser DeMarco sich bloÄ dabei denkt, mit keinem Wort auf das Thema Training einzugehen. Lernen Organisationen nicht primar durch Training? Es hat seinen Grund, warum ich Training an dieser Stelle behandle: Training, wie es in einer Organisation ohne Spielraume normalerweise stattfindet, ist eine sichere Methode, nichts zu lernen. Bevor ich diese Behauptung explizit begru nde, mochte ich Ihnen gerne eine ideale Trainingssituation beschreiben, die sehr wahrscheinlich zu einem Lernerfolg fu hren wird. Stellen Sie sich vor, Sie wollen Klavier spielen lernen und kommen zur ersten Stunde. Ms. Melodie, Ihre Lehrerin, sagt Ihnen, dass Sie 158
als Erstes die Malaguena-Suite einstudieren werden. Wow, sagen Sie, aber schauen Sie, ich habe nur zehn Finger. Hilfreich fuchteln Sie vor ihren Augen damit herum, um Ihre Bedenken zu verdeutlichen. Nie und nimmer kann ich die Malaguena-Suite spielen. Keine Angst, sagt Ms. Melodie, wir gehen die Sache extrem langsam an. Dann fangen Sie an. Sie lasst Sie den ersten Takt mit einem Zehntel der Geschwindigkeit spielen, mit der ihn ein Konzertpianist spielen wu rde. Diese kurze Tonfolge wiederholen Sie so oft, bis Ihre Finger ganz gut darauf trainiert sind, nicht –Klavier zu spielen© , sondern diesen einen Takt. Dann nehmen Sie sich den nachsten vor. Ich will darauf hinaus, dass Training im Wesentlichen aus Verlangsamung besteht. (Lernen braucht Zeit.) Verlangsamung ist das charakteristische Kennzeichen des Trainings. Training = U ben, indem man eine neue Aufgabe viel langsamer erledigt, als ein Experte sie erledigen wu rde.à Jedes so genannte Training, dem das charakteristische Kennzeichen der Verlangsamung fehlt, ist eine U bung, die keinen Lernerfolg bringen wird. Fast jedes unternehmensinterne Training lasst sich dieser Kategorie zuordnen. Es besteht aus einer reinen Informationsphase, in der Sie eine neue Idee oder Methode kennen lernen, und einer anschlieÄ enden Praxisphase, in der Sie sie einu ben. Allerdings bekommen Sie keine Gelegenheit, sich mit dem neuen Ansatz vertraut zu machen und ihn erst einmal nur mit einem Zehntel (oder neun Zehntel) der Geschwindigkeit auszufu hren, die ein Experte dafu r benotigen wu rde. Statt dessen wird erwartet, dass Sie im gleichen Tempo wie ein Experte arbeiten konnen. Bewaffnet mit der neuen (noch nicht ausprobierten) Methode sollen Sie die gleiche Arbeit wie bisher in weniger Zeit als vorher erledigen. Deshalb wurden Sie ja, so sieht es die Schulungsabteilung, in der neuen Methode geschult: damit Sie effizienter arbeiten konnen. Die Chancen stehen gut, dass auch Sie sich schuldig gemacht haben, Mitarbeiter auf diese Weise zu –trainieren© . Haben Sie jemals einem neuen (frischgebackenen) Manager ein Projekt u bertragen und sich vorgestellt, er konne es in etwa der gleichen Zeit leiten wie Sie selbst? Ich schon. Es gab Zeiten in meinem Leben, da hatte ich von einem frischgebackenen Manager erwartet, ein Projekt in einem Jahr zu Ende zu bringen, nur weil ich selbst es in dieser Zeit hatte abwickeln konnen. Ich weiÄ nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Das Training des Managerneulings hatte ich jedenfalls nicht im Auge. Ware mir daran gelegen gewesen, hatte ich ihm 24 Monate oder mehr fu r den Job zugestehen mu ssen. Ich hatte darauf bestehen mu ssen, dass das Projekt mit weniger Leuten abgewickelt wird, als wenn ich selbst der Projektleiter gewesen ware, denn je weniger Leute an Bord sind, desto realistischer ist die Managementerfahrung.
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Training ist ohne eine langere U bungsperiode, in der das Tempo gegenu ber der Expertengeschwindigkeit stark verlangsamt ist, nicht moglich. In den Gib-GasUnternehmen von heute heiÄ t das in der Regel, dass es kein Training gibt. Echtes Training und Beschleunigung schlieÄ en einander aus. Und die Gib-Gas-Botschaft ist u berall; man kann ihr genauso wenig entrinnen wie den Tapeten an der Wand:
Damit ergibt sich ein weiteres Problem im weiÄ en Raum: Er ist zu gefahrlich, um ihn zu durchqueren, und zu sehr von der Gib-Gas-Bot-schaft beherrscht, als dass dort etwas anderes kommuniziert werden konnte.
Nieder mit der nicht-lernenden Organisation! Um eine nicht-lernende Organisation in eine Organisation zu verwandeln, in der immerhin die Moglichkeit des Lernens gegeben ist, sind zwei einfache A nderungen notig: 1. Unterbinden Sie internen Wettbewerb innerhalb der Organisation, um Kooperation, Teamwork und geteilte Verantwortung unter Managern zu ermoglichen. 2. Nehmen Sie sich Zeit fu r die Praxisphase des Trainings, indem Sie Ihren Mitarbeitern Gelegenheit geben, neue Fertigkeiten in einem Tempo einzuu ben, das sehr viel langsamer ist als die Expertengeschwindigkeit. Diese A nderungen vorzuschlagen, ist einfach. Etwas schwieriger ist es, sie umzusetzen.
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28 Management des Wandels Der Ausdruck –Management des Wandels© erschien mir schon immer als geradezu ru hrend optimistisch. Er klingt, als konne man den Wandel im Prinzip auf die gleiche Weise managen wie die Poststelle oder das Regionalbu ro Su dwest. Ich wollte, es ware so! Sie konnen den Wandel allenfalls in dem Sinn –managen© , wie Sie “noch so eine optimistische Umschreibung “ eine Krebserkrankung –managen© konnen. Ich will damit nicht sagen, dass der Wandel etwas Schlimmes ist, sondern einfach darlegen, dass sein Ausgang ungewiss und seine Steuerbarkeit begrenzt ist. Er nimmt seinen eigenen Lauf, und Ihre Bemu hungen, auf seinen Kurs einzuwirken, mogen zwar einen gewissen Einfluss zeigen, es ware jedoch vermessen zu meinen, Sie hielten das Steuerrad in der Hand. Diese Einschrankung ist nicht so fatal, wie sie auf den ersten Blick wirkt: Der Einfluss eines talentierten Managers kann mehr bewirken als die volle Kontrolle einer Person ohne Talent. Angenommen, Sie managen im Job die Poststelle und an den Fr u hlingsabenden, an denen es abends lange hell bleibt, managen Sie die Kindermannschaft Ihres ortlichen Baseballvereins. Was unterscheidet diese beiden –Management© -Aufgaben? Ganz einfach: Tagsu ber sagen Sie Ihren Mitarbeitern einmal, was zu tun ist, und konnen sicher sein, dass Ihre Anweisungen mehr oder weniger befolgt werden. Auf dem Spielfeld dagegen mu ssen Sie alles wieder und wieder sagen, wenn Ihre Botschaft gehort werden soll. Sie mu ssen intervenieren, schon Gesagtes noch einmal erzahlen, korrigieren, ermutigen, gut zureden und motivieren. Und ganz gleich, was Sie tun, es kann gut sein, dass Sie mehrere Male hintereinander bei Null anfangen mu ssen. Ihre Schu tzlinge horen nicht immer zu und gehorchen nur selten; sie scheinen mit ihren Gedanken in andere Galaxien entschwebt zu sein, wahrend Sie versuchen, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, und das Kind, das als nachstes den Ball schlagen soll, hat sich ins Gebu sch abgesetzt, weil es mal musste. Das ist die Art von Management, die Manager des Wandels aus dem Effeff beherrschen.
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Andere Regeln Viele Regeln, die wir in unserem Managementalltag als gegeben hinnehmen, besitzen in der Mitte des Wandels keine Geltung mehr. Das gilt auch fu r die Regel, die ich als die Kardinalregel des Managements bezeichne: Ich bin der Boss, nicht Sie, und deshalb haben Sie zu tun, was ich Ihnen sage. Von dieser Regel profitieren selbst Manager, die nicht im geringsten autoritar sind; sie ist immer da und hangt unausgesprochen in der Luft. Wenn Sie zum Beispiel Ihre eigene Managerin fu r ausgesprochen vernu nftig halten und ihr hoch anrechnen, dass sie ungern auf Autoritat pocht, so liegt das nur daran, dass sie darauf verzichtet, die Autoritat zu nutzen, die sie besitzt. Die Kardinalregel ist in jeder Managementsituation am Werk “auÄ er beim Management des Wandels. Wenn ein ausgewachsener Wandel im Gange ist, ist es fast unmoglich, den Unterschied zu erkennen zwischen jemandem, der sich ehrlich bemu ht und dabei scheitert (was wahrend des Wandels ganz normal ist), und jemandem, der den Wandel ablehnt. Weil Sie den Unterschied nicht erkennen konnen, mu ssen Ihre Mitarbeiter sich selbst gegenu ber nie zugeben, ob sie versagen oder sich einfach nur verweigern. Die Kardinalregel ist effektiv auÄ er Kraft gesetzt. Das mogen Sie bedauern, besser ist es jedoch, wenn Sie sich damit abfinden. Fehlt die gewohnte Autoritat, mu ssen Sie auf Ihre U berredungsku nste und Ihre Fahigkeiten setzen, ohne formale Macht zu fu hren. Im Moment ist Ihre Rolle weniger die des Chefs als die des Verhandlungsfu hrers.
Das Spiel endet, ehe es begann Weiter unterscheidet sich Management in Zeiten des Wandels dadurch, dass die MaÄ gabe Belohnung nach erbrachter Leistung nicht mehr gilt. Das Konzept –Belohnung nach erbrachter Leistung© ist ein so fest verwurzelter Bestandteil der Unternehmenswelt, dass seine Existenz Ihnen vielleicht nicht einmal bewusst ist. Trotzdem steht es immer im Raum. Sie erhalten Ihren Gehaltsscheck, nachdem Sie eine bestimmte Zeit lang gearbeitet haben, nicht vorher. Unausgesprochen gilt die Abmachung, dass Sie bei unzureichender Leistung damit rechnen mu ssen, kein Gehalt zu bekommen. A hnlich erhalten Sie auch alle –weichen© Entlohnungsformen “Anerkennung, mehr Verantwortung, die Wertschatzung Ihrer Kollegen “erst nach erbrachter Leistung. In Zeiten des Wandels dagegen muss die Belohnung zuerst erfolgen. Anders ausgedru ckt: Die Grundwahrung des Wandels ist eine Menge von –Schuldscheinen© , die Sie einlosen konnen: fu r fru her erwiesene Gefalligkeiten und in der Vergangenheit erworbenes Vertrauen. Gute Manager des Wandels besitzen eine Menge Schuld-
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scheine, die sie einlosen konnen. Sie haben sich ein Vertrauensreservoir aufgebaut, auf das sie zuru ckgreifen konnen, um ihre Leute fu r den Wandel zu gewinnen. Das ist eine schlechte Nachricht fu r neueingestellte Manager, die als Fremde von auÄ en kommen, um den Wandel zu organisieren und zu befehligen. Sie besitzen keine Schuldscheine zum Einlosen und haben damit auÄ er etwas –Flitterwochenkapital© nichts, worauf sie setzen konnen. Auch Versprechungen, der Wandel wu rde sich in Form zuku nftiger Vorteile auszahlen, zeigen keine Wirkung. Der neue Manager ist deshalb mit der rauen Realitat konfrontiert, dass die entscheidende Aktivitat im Management des Wandels “ der Vertrauenserwerb “ stattfinden muss, noch ehe der Wandel u berhaupt ein Thema ist.
Das Fabrik/Familien-Modell Als wir am ersten Arbeitstag unseres Lebens am Arbeitsplatz erschienen, brachten wir bereits ein vages Modell u ber die Manager-Mitarbeiter-Beziehung mit. Dieses Modell basierte auf unseren Erfahrungen in der Familie. Papa war der Boss. Die Kinder waren dazu angehalten zu gehorchen “ sie taten es zwar nicht immer, aber sie waren dazu angehalten, und wenn sie nicht folgten, mussten sie mit –Konsequenzen© rechnen. Mangels anderer Vorbilder gingen wir davon aus, dass im Job ahnliche Regeln gelten wu rden: Chef = Papa, Mitarbeiter = Kind. Dieses Modell ist auch in vielen Fabriken anzutreffen. Viele von uns, die heute Wissensarbeiter managen, sind die Kinder von Vatern, die zu ihrer Zeit Betriebsleiter waren. (Mein Vater leitete eine Messing- und BronzegieÄ erei in den Neu-EnglandStaaten.) Wenn also unsere Vater zu Hause u ber ihre Arbeit sprachen, zeugten ihre Geschichten davon, dass Management in der Fabrikhalle dem Management in der Familie sehr ahnlich war: Hier wie dort waren Autoritat, direkte Befehle, Gehorsam und –Konsequenzen© gang und gabe. Das Fabrik/Familien-Modell des Managements ist in Zeiten des Wandels einfach nicht anwendbar. Zum einen treten, wie bereits diskutiert, einige Grundregeln auÄ er Kraft. Daru ber hinaus “und darauf will ich eigentlich hinaus “eignet sich das Fabrik/Familien-Modell selbst in ruhigeren Zeiten nicht besonders gut fu r das Management von Wissensarbeitern. Das liegt daran, dass der Begriff –ruhige Zeiten© in einer Wissensorganisation relativ ist und nur geringfu gig weniger wechselhafte Zeiten meint. Deshalb sind die Werkzeuge des Managements des Wandels in der Wissensorganisation die wichtigsten Management-Werkzeuge u berhaupt. Statt fu r ihre Autoritat und Konsequenz (den wichtigsten ManagementInstrumenten in der Fabrikhalle) sind die besten Manager in Wissensorganisationen fu r ihre U berzeugungskraft, ihr Verhandlungsgeschick, die Schuldscheine, die sie einlosen konnen, und ein gut gefu lltes Vertrauenskonto bekannt.
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Teil IV: Risiko und Risikomanagement
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Ein enormer Wandel unserer globalen Wirtschaft hat uns neue Geschaftsmethoden, neue Markte und grenzenlosen Wettbewerb gebracht. Daraus erwachsen Chancen, und Chancen implizieren Risiken. Niemand wird Erfolg haben konnen, ohne Risiken einzugehen, und wir alle wissen das. Risikobereitschaft gilt als moderne Notwendigkeit. Selbst die tragsten Unternehmen haben inzwischen erkannt, dass sie es nicht wagen du rfen, Risiken auszuweichen. In einem derartigen Umfeld konnte eine einleuchtende Definition fu r Erfolg so lauten: Gehen Sie massenhaft Risiken ein und u berwinden Sie sie Schritt fu r Schritt. Halt man die Einzelheiten all der dazu notwendigen kleinen Triumphe in einem offiziellen Plan fest, so kommt als Ergebnis der so genannte Erfolgsplan heraus. Der Erfolgsplan ist eine feste GroÄ e der Managementphilosophie, besonders in Hightech-Branchen wie unserer. Er notigt uns, erwu nschte Resultate in Beton zu gieÄ en und uns auf Verpflichtungen einzulassen, die uns diesen Resultaten naher bringen. Der Erfolgsplan ist das intellektuelle A quivalent zu der Vorstellung, das groÄ e Geld zu machen, indem man fu nfzehn Mal hintereinander beim Siebzehnundvier gewinnt und keinen Pfennig Geld vom Tisch nimmt, ehe die Runde zu Ende ist. Es klappt, wenn es klappt, und lasst Sie alt aussehen, wenn es (wie meistens) nicht klappt. AuÄ erdem dampft diese Taktik die Risikobereitschaft. Eine Organisation, die sa mtliche Widerstande bravouros meistern soll, kann sich das Eingehen nennenswerter Risiken nicht leisten. Umgekehrt hat sich eine Organisation, die keine erheblichen Ru ckschlage erlitten hat, nie auf echte Risiken eingelassen. Risikomanagement ist fast das genaue Gegenteil des Erfolgsplans. Risikomanagement ist “ holen Sie tief Luft, das Folgende wird Sie in den Grundfesten erschu ttern “ eine Disziplin zur Planung von Fehlschla gen. Unternehmen, die Risikomanagement praktizieren, treffen explizite Vorkehrungen fu r den Fall, dass sie sich auf dem Weg zum ganz groÄ en Erfolg mit einer Menge kleiner (aber teurer) Fehler konfrontiert sehen werden. Ganz groÄ er Erfolg bedeutet, am Ende eine Menge Geld einstecken zu konnen. Wer ein Risiko eingeht, bu rdet sich zusatzliche Kosten oder Verzogerungen auf. Wenn Sie viele Risiken eingehen, werden Sie einige davon teuer zu stehen kommen und andere nicht. Vielleicht haben Sie insgesamt gesehen Glu ck, und nur ein Zehntel der zeitaufwandigen oder teuren Fehlschlage, die denkbar gewesen waren, treten tatsachlich ein. Sie konnen jedoch nicht darauf zahlen, dass Ihnen negative Folgen ganz erspart bleiben. Sie mu ssen zeitliche und finanzielle Spielraume vorsehen, um auftretenden Risiken begegnen zu konnen, auch wenn zu hoffen steht, dass sich ein Teil der potenziellen Risiken in Luft auflosen wird. Die Wissenschaft des Risikomanagements gibt Ihnen Anhaltspunkte, wie viel Spielraum notwendig ist.
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29 Ungesunder Menschenverstand Die Wissenschaftsdisziplin des Risikomanagements ist so alt wie die Versicherungsbranche. Da sie von und fu r Versicherungsunternehmen erfunden wurde, wollen wir uns zunachst ansehen, wie Versicherungen ihre Risiken managen: Wenn Sie eine Fu hrungskraft bei Lloyds in London, Aetna, John Hancock oder GEICO waren, wu rden Sie Risikomanagement primar in Bezug auf Ihr Portfolio, Ihren Versicherungsbestand, betreiben. Ihre Risiken waren schlecht gemanagt, wenn zu viele Policen in Ihrem Versicherungsbestand von der gleichen Katastrophe betroffen sein konnten. Wenn Sie sich also allzu sehr auf Gebaudeversicherungen an den Ku sten Floridas konzentrieren, spielen Sie ein gefahrliches Spiel: Wenn kein Hurrikan u ber Florida hinwegfegt, verdienen Sie Geld wie Heu; wenn er aber kommt, sind Sie moglicherweise im Nu von der Bildflache verschwunden. Was konnen Sie tun, um dieses Risiko zu streuen? Wie konnen Sie sicherstellen, dass Ihr Verlustrisiko ertraglich ist, ohne auf alle Gewinnchancen (den regelmaÄ igen Eingang ansehnlicher Beitragspramien) verzichten zu mu ssen? Das prototypische Risikomanagement von Versicherungsgesellschaften besteht darin, einen Teil der Risiken an einen anderen Versicherer abzugeben und gegen eines seiner unausgewogenen Portfolios auszutauschen. Das heiÄ t: Sie tauschen einen Teil Ihrer Gebaudeversicherungen in Florida gegen Erwerbsunfahigkeitsversicherungen in Kalifornien, Arbeiterunfallversicherungen in Hawaii oder die Versicherung von Schlu sselkraften in Silicon Alley aus dem Bestand des anderen Unternehmens ein. Wird dann die Ku ste von Florida von einem Hurrikan heimgesucht, fahren Sie zwar Verluste ein, deren Hohe jedoch nicht ausreicht, Ihr Unternehmen in den Bankrott zu treiben. Aus diesem Versicherungsbeispiel lassen sich die folgenden Lehren ziehen: 1. Risiken sind nicht von Haus aus schlecht. (Ohne Risiken konnten Sie in Ihrer Branche kein Geld verdienen.) 2. Risiken verschwinden nie ganz. (Tritt der Risikofall ein, mu ssen Sie trotz des Risikomanagements mit gewissen Verlusten rechnen.)
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3.
Es kostet etwas, das Risiko zu managen (die Arbeit, die u berschu ssigen Policen an den anderen Versicherer zu u bertragen, und die Ausgleichszahlung, die ein Partnerunternehmen moglicherweise beansprucht, ehe es Ihre besonders riskanten Falle u bernimmt). 4. Tritt der Schadensfall nicht ein, verursacht das Risikomanagement zusatzliche Kosten (den entgangenen Gewinn der Beitrage zur Gebaudeversicherung in einem Jahr, in dem keine Schadensanspru che geltend gemacht wurden). 5. Risikomanagement wird auf den gesamten Versicherungsbestand angewendet, nicht nur auf einzelne Risikofaktoren. (Wenn Sie alles auf eine Karte “ eine einzige Police “ setzen, haben Sie keine Gewahr, dass die Versicherung im Lauf des Jahres nicht in Anspruch genommen wird.) Alle diese Punkte gelten nicht nur fu r das Risikomanagement im Versicherungsgeschaft, sondern auch f u r das Risikomanagement in Ihrer Branche.
Die schlechte Nachricht Da Sie keine Fu hrungskraft in der Versicherungsbranche sind, ist Risikomanagement fu r Sie hauptsachlich beim Management eines einzelnen riskanten Vorhabens relevant, zum Beispiel beim Management eines Projekts. Weil das so ist, setzen Sie alles auf eine Karte: dieses eine Projekt. Sie wissen, dass von Ihnen die erfolgreiche Abwicklung des Projekts erwartet wird, weil das Unternehmen damit und mit nichts anderem rechnet! Die schlechte Nachricht lautet: Mit Risikomanagement konnen Sie den Erfolg des Projekts nicht erzwingen, sondern lediglich seine Erfolgschancen maximieren. Es brauchen nur ausreichend viele der mit dem Projekt verbundenen Risiken einzutreten, und all Ihre Bemu hungen waren vergeblich. Das kann heiÄ en: Das Projekt wird nicht rechtzeitig abgeschlossen, das Budget wird u berzogen, der Nutzwert bei Fertigstellung entspricht nicht den Erwartungen. Risikomanagement erlaubt Ihnen, das Projekt stochastisch, aber nicht deterministisch zu kontrollieren. Sie haben zum Beispiel die deterministisch Kontrolle u ber den Gasdruck in einem Kessel; die von Ihnen gewahlten Temperatureinstellungen und das von Ihnen vorgegebene Fu llvolumen determinieren den Druck absolut. Solange Sie die Moglichkeit haben, diese Parameter einzustellen, haben Sie die volle Kontrolle. U ber die Haufigkeit, mit der Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, um einen Job bei der Konkurrenz anzunehmen, haben Sie dagegen nur eine stochastische Kontrolle. In der Regel wird die Fluktuationsrate von Variablen wie Gehalt, Nebenleistungen, Arbeitszeiten und Druck beeinflusst; aber ganz gleich, wie korrekt Sie sie einstellen “es gibt keine Garantie dafu r, dass Harold bis zum Projektende bei der Stange bleibt. Stochastische Kontrolle mag fu r das Unternehmen schon und gut sein. Sie ist jedoch weniger vorteilhaft fu r einen einzelnen Manager, der sich aufgrund eines einzigen 167
Vorhabens als Gewinner oder Verlierer positionieren wird. Dennoch ist es wichtig, sich klarzumachen, dass stochastische Steuerung gut fu r das Unternehmen ist. Daru ber hinaus sind einige Projekte groÄ genug, um als vollstandige Risikoportfolios betrachtet zu werden, so dass sich der Gesamterfolg des Projekts moglicherweise durch stochastische Steuerung sicherstellen lasst. Zu der schlechten Nachricht, dass eine deterministische Projektsteuerung nicht moglich ist, gesellt sich eine weitere unangenehme Tatsache: Die Werkzeuge des Risikomanagements laufen der Intuition zuwider. Da sie mit Unsicherheit fertig werden mu ssen, sind sie von Natur aus wahrscheinlichkeitsbasiert und nicht einfach zu erfassen. Und schlieÄ lich eine letzte schlechte Nachricht: Der Ansatz des Risikomanagements steht in deutlichem Widerspruch zu einer Glaubenslehre der Unternehmenstheologie, dem so genannten Das-schaffen-wir-Management (mehr daru ber am Ende dieses Kapitels). Damit habe ich die negativen Seiten des Risikomanagements offen gelegt. Ab jetzt gibt es nur noch Gutes daru ber zu berichten. Trotzdem sind die negativen Seiten natu rlich ein dicker Brocken: nicht-deterministische Steuerung, der Intuition zuwiderlaufende Werkzeuge und Unvereinbarkeit mit einem wichtigen Teil der Unternehmenskultur. Warum um alles in der Welt sollten Sie sich darauf einlassen?
Warum Risikomanagement sich trotzdem lohnt Stellen Sie sich vor, ich wu rde fu r ein paar Tage in Ihre Firma kommen, um an Ihrem Schlu sselprojekt mitzuarbeiten. Stellen Sie sich vor, am Ende meines Aufenthalts wu rde ich Sie informieren: –Das Projekt hat nicht die geringste Chance, vor Ende Mai abgeschlossen zu werden; am ehesten tippe ich darauf, dass es am 1. September fertig ist. Und das Worst-Case-Szenario sieht natu rlich um einiges du sterer aus “Mitte bis Ende nachsten Jahres, wu rde ich sagen.© Als Sie mich als Berater anheuerten, wussten Sie nur allzu gut, dass Sie keine sichere Aussage u ber den wahrscheinlichen Fertigstellungstermin des Projekts treffen konnten. Auch ich, daraus mache ich kein Hehl, vermag das Ende nicht sicher vorherzusagen. Zwischen Ihrer unsicheren Aussage und meiner gibt es jedoch einen Unterschied: Ich habe Ihnen ein paar Informationen u ber den Grad meiner Unsicherheit gegeben. Ich halte eine Fertigstellung irgendwann zwischen 1. Juni und Dezember nachsten Jahres fu r moglich. Und ich habe Ihnen etwas daru ber gesagt, wann die Wahrscheinlichkeit der Fertigstellung ihren Hohepunkt erreichen wird, auf welchen Fertigstellungstermin ich tippen wu rde.
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Dieses Risikodiagramm ist eine explizite Unsicherheitsbewertung. Es zeigt die relative Wahrscheinlichkeit, mit der das Projekt zu einem gegebenen Zeitpunkt fertig gestellt wird. Die Flache unter dem Graphen zwischen den beiden Datumsangaben reprasentiert die Wahrscheinlichkeit, dass das Projekt in diesem Zeitraum fertig gestellt wird:
Der MaÄ stab ist so gewahlt, dass die Gesamtflache unter dem Graphen gleich eins ist. Dies entspricht der Aussage, dass eine Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent besteht, das Projekt zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen dem optimistischsten und dem pessimistischsten Datum abzuschlieÄ en. Risikomanagement (das ist die einfache Definition) ist die explizite Bewertung des Grades der Unsicherheit. Es erlaubt Ihnen, unsicheres Terrain mit einer relativ klaren Vorstellung des moglichen Risikos zu betreten. Die explizite Bewertung der beteiligten Unsicherheiten “ der Unsicherheiten, die zum Beispiel zu einer verspateten Fertigstellung fu hren konnen “ ermoglichen es Ihnen, eine vernu nftige Risikoru ckstellung auf der Basis der verschiedenen Risiken zu bilden, um die Chancen auf einen Gesamterfolg zu maximieren. Auch wenn es Ihnen trivial erscheinen mag: Stellen Sie sich vor, wie Projekte ohne eine explizite Angabe des Risikos verlaufen:
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UNSITTE: Die Aussage, dass ein Projekt –nicht die geringste Chance hat, vor
Ende Mai abgeschlossen zu werden© , wird dahingehend interpretiert, dass der 1. Juni ein machbarer Fertigstellungstermin ist. Auf diese Weise kommt ein Termin zustande, der (wie der Graph zeigt) eine Chance von 0 Prozent hat, eingehalten zu werden.
UNSITTE: Aufgeschlossenere Manager werden das –wahrscheinlichste
Datum© als Fertigstellungstermin wahlen. Trotzdem werden sie feststellen mu ssen, dass sie in fast zwei Drittel der Falle den Termin nicht halten konnen. Das Diagramm zeigt den Grund dafu r: Projekte sind wie die meisten menschlichen Unternehmungen durch eine lang auslaufende Kurve auf der rechten Seite gekennzeichnet, so dass der Hohepunkt der Kurve nach links verschoben ist; der Bereich links vom Hohepunkt macht kaum ein Drittel des gesamten Graphen aus:
UNSITTE: Die Nachricht, dass das Projekt sich moglicherweise bis ins nachste Jahr hinziehen kann, wird den Kunden und Projektbeteiligten verheimlicht. Geschieht das Projekt fu r Projekt, verlieren die Stakeholder den Glauben an samtliche Terminzusicherungen.
Meine Kunden sprechen oft die Schwierigkeit an, mit den Stakeholdern klarzukommen: –Ich kann den Marketing-Leuten einfach nicht sagen, dass sie womoglich weitere neun Monate auf ihr neues Produkt verzichten mu ssen; sie wu rden mich fertig machen oder das Projekt einfach nicht mehr mittragen.© Stakeholder sind jedoch keine amorphe Abstraktion, sondern Menschen, fahige Menschen mit einem langen Gedachtnis. Wenn sie merken, dass Terminzusicherungen leere Versprechungen sind, haben sie keine Moglichkeit zu wissen, welche Risiken sie wirklich eingehen. Deshalb sind sie gezwungen, groÄ te Vorsicht walten zu lassen und vom Schlimmsten auszugehen. Damit befinden wir uns in der paradoxen 170
Situation, dass Organisationen ohne eine vernu nftige Unsicherheitsbewertung Risiken nicht aggressiv eingehen ko nnen. Ohne ein vernu nftiges Risikomanagement neigen Organisationen deshalb dazu, sich Risiken hartnackig zu verschlieÄ en.
Der Unsicherheit ins Auge sehen Risikomanagement ist eine explizite quantitative Unsicherheitsbewertung. In manchen Unternehmenskulturen aber du rfen Mitarbeiter nicht unsicher sein. Sie du rfen falsche Aussagen treffen, aber keine unsicheren. Lieber sollen sie ihren Chefs und Kunden ins Gesicht lu gen, als ihre Unsicherheit u ber den endgu ltigen Ausgang zu zeigen. Nur Schwachlinge sind unsicher. Wenn Sie in einer solchen Kultur leben, habe ich keine einfache Antwort fu r Sie. Ein offentliches Risikomanagement wird sicherlich nicht moglich sein. Moglicherweise konnen Sie in Ihrem eigenen Bereich inoffiziell etwas Risikomanagement betreiben “nur weil Sie gezwungen sind, Ihren Chef anzulu gen, mu ssen Sie ja nicht auch sich selbst tauschen. Allerdings wird der Nutzen Ihrer Bemu hungen geringer sein, als wenn die Organisation mit vereinten Kraften Risikomanagement betreiben konnte. Leicht variiert begegnen wir dem Thema –Nur Schwachlinge sind unsicher© auch in Unternehmenskulturen, in denen die Manager ein bisschen, aber nicht sehr viel Unsicherheit zeigen du rfen. Der Umfang der vorzeigbaren Unsicherheit liegt typischerweise in einer GroÄ enordnung von 5 Prozent. Wenn also zu erwarten steht, dass ein Projekt in 18 Monaten abgeschlossen sein wird, hat eine Managerin vielleicht eine Chance, ein Fenster von zwei Monaten herauszuhandeln: Ihr wird zugestanden, das Projekt zu einem beliebigen Zeitpunkt zwischen dem Anfang von Monat 18 und dem Ende von Monat 19 unter Dach und Fach zu bringen. Aber das war's dann auch, mehr Unsicherheit ist nicht erlaubt. All das ware gut und schon, wenn das Unternehmen in der Vergangenheit bewiesen hatte, dass seine vorhergesagten Ergebnisse regelmaÄ ig um hochstens 5 Prozent von den tatsachlichen Ergebnissen abweichen. Die meisten mir bekannten Firmen, die eine Unsicherheit von hochstens 5 Prozent dulden, sind mit ihren Vorhersagen jedoch wesentlich weniger erfolgreich. Sie erzielen regelmaÄ ig Ergebnisse, die um 50 bis 100 Prozent vom vorhergesagten Ergebnis abweichen. Bei einer derartigen Leistungsbilanz auf einem Unsicherheitsfenster von maximal 5 Prozent zu bestehen, heiÄ t jeden zur Lu ge zu verpflichten.
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Das schaffen wir Es kommt schlecht an, wenn Sie Ihrer Chefin mit festem Blick den 1. Juni als Termin zusagen, obwohl Sie wissen, dass selbst Juni in einem Jahr noch ein optimistisches Datum ist. Eigentlich kommt es einer glatten Lu ge gleich. Aber es kommt gut an, ein Das-schaffen-wir-Manager zu sein. Von uns allen wird eine gewisse Das-schaffen-wir-Haltung erwartet. Geben Sie es zu, es lost einen wohligen Schauer der Zustimmung in Ihnen aus, wenn der Big Boss eine auÄ ergewohnliche Leistung verlangt und seine Mitarbeiter antworten: –Das schaffen wir.© Eine Herausforderung wurde gestellt und angenommen, ganz wie es sich gehort. Niemand wu rde je ein ehrgeiziges Projekt abwickeln, sagen Sie sich, wenn er sich nicht darauf einlassen wu rde, obwohl es zunachst einmal vollig unrealistisch klingt. Die Das-schaffen-wir-Mentalitat ist in den meisten modernen Unternehmen weit verbreitet. Leider ist diese Mentalitat die Antithese des Risikomanagements. Risikomanagement muss die Gru nde, warum wir es moglicherweise nicht schaffen, ohne Umschweife anerkennen. Es gibt keinen Weg, gleichzeitig ein eingefleischter Das-schaffen-wir-Manager und ein praktizierender Risikomanager zu sein. Sie selbst konnen nicht beides in sich vereinen, Ihr Unternehmen kann es sehr wohl. Der einzelne Manager muss entweder eine Das-schaffen-wir-Haltung oder eine Das-schaffen-wir-nicht-Haltung haben; beides zusammen geht nicht. Das Unternehmen dagegen konnte eingefleischte Das-schaffen-wir-Manager mit ein paar Das-schaffen-wir-nicht-Managern zusammenspannen. Fu r die meisten Beteiligten wu rde dann die Parole gelten, sich psychologisch auf Erfolg zu trimmen. –Aber,© wu rde Ihr Chef Ihnen am Anfang erklaren, –Lillian ist unsere Das-schaffen-wir-nicht-Spezialistin, unsere Risikomanagerin. Ihr Job ist es, sich auf all die Unannehmlichkeiten zu konzentrieren, die schief gehen und sich unseren Planen in den Weg stellen konnen. Sie alle sind erfolgreich, wenn Sie Ihre ehrgeizigsten Ziele erreichen. Lillian dagegen ist erfolgreich, wenn sie mich vor jeder moglichen Eventualitat warnt, die uns nu chtern betrachtet einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Und sie hat versagt, wenn ich eine Breitseite abbekomme, auf die sie mich nicht hingewiesen hat.©
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30 Risikomanagement: Die minimale Dosis Ein Risiko ist eine unangenehme Sache, die eintreten kann oder auch nicht (oder bis zu einem gewissen Grad). Sie ist unangenehm, weil im Falle ihres Eintretens Ihre Erfolgschancen sinken. Wenn es so weit kommt, tritt “ so heiÄ t das in der Versicherungssprache “der Schadensfall ein. Ich habe Risikomanagement etwas vereinfacht als explizite Unsicherheitsbewertung bezu glich der Wirkung eines erwarteten Schadensfalls definiert, und damit sicherlich das entscheidende Element des Risikomanagements genannt. Zusatzlich gilt es aber, fu r jede erkannte Unsicherheit ein paar Hausaufgaben zu erledigen. Diese je Risiko zu leistende Arbeit ist das Thema dieses Kapitels. Es gibt zwei Risikoklassen, die etwas unterschiedlich behandelt werden.
Gesamt- und Teilrisiken Gesamtrisiken sind die moglichen Totalschaden, die bei einer Unternehmung auftreten konnen. Wenn es Ihr Ziel ist, eine Bru cke zu bauen, bestehen zum Beispiel die folgenden Gesamtrisiken: 1. Sie schaffen es nicht, den Fluss zu u berspannen, und mu ssen aufgeben. Was fu r eine Schande! 2. Sie bringen das Projekt erfolgreich zu Ende, aber nur zu exorbitant hohen Kosten (viel mehr, als Ihre Investoren jemals zahlen wollten). 3. Sie schaffen es zwar, die Bru cke zu bauen, aber mit einer so groÄ en Verzogerung, dass der Einkommensverlust jeden moglichen Gewinn zunichte macht. 4. Sie missachten Sicherheitsvorschriften und verschulden dadurch den Tod eines oder mehrerer Beschaftigter. 5. Sie stellen die Bru cke rechtzeitig und budgetgerecht auf, werden aber spater dafu r verantwortlich gemacht, wenn sie ohne erkennbaren auÄ eren Grund zusammenbricht.
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Tritt ein Gesamtrisiko tatsachlich ein, wird das gesamte Vorhaben null und nichtig; es ware besser gewesen, Sie hatten sich gar nicht erst darauf eingelassen. Sie betreiben Risikomanagement, um die Moglichkeit derartiger Totalschaden zu minimieren oder ganz auszuschlieÄ en. Das heiÄ t jedoch nicht, dass Sie ein Gesamtrisiko direkt managen konnen. Hauptaufgabe des Risikomanagements ist es vielmehr, die Teil- oder Kausalrisiken zu managen, das heiÄ t, die Menge von Dingen, die schief laufen und in einen Totalschaden mu nden konnen. Eine unzureichende Technik oder eine schlechte Konstruktion sind zum Beispiel zwei Teilrisiken, die dazu beitragen konnen, dass das Gesamtvorhaben Bru ckenbau misslingt. Sie sind der Nahrboden fu r einen potenziellen Totalschaden.
Was Risikomanagement bedeutet Die praktische Umsetzung des Risikomanagements ist von Organisation zu Organisation verschieden. In einigen Unternehmen gibt es einen formalen Prozess dafu r, wahrend andere das Risikomanagement fast nebenbei als integralen Bestandteil der Gesamtmanagementaufgabe betrachten. Ganz gleich, welchen Stil Sie bevorzugen, die grundlegenden Regeln sind vergleichbar. Sie konnen nicht von sich behaupten, Ihre Risiken zu managen, wenn Sie nicht: 1. Jedes Risiko auflisten und zahlen, 2. einen begleitenden Prozess zur Aufdeckung neuer Risiken installiert haben, 3. die moglichen Auswirkungen und Wahrscheinlichkeiten jedes Risikos quantifizieren, 4. einen U bergangsindikator fu r jedes Risiko festgelegt haben, der Sie (hoffentlich fru hzeitig) warnt, dass der Schadensfall dabei ist, einzutreten, 5. im Voraus einen Plan aufgestellt haben, wie Sie auf jedes eintretende Risiko reagieren werden. SchlieÄ lich wird es notwendig sein, eine Art Modell zu schaffen, das Ihnen zeigt, wie die addierte Wirkung der Teilrisiken den Unsicher heitsgrad in Bezug auf den Gesamterfolg beeinflusst. Diese Art von Unsicherheit wird typischerweise in Risikodiagrammen dargestellt, wie wir sie im vorhergehenden Kapitel gesehen haben. Normalerweise werden Kosten, Zeitplan und mogliche andere Risikofaktoren in getrennten Diagrammen ausgewiesen. Risikomanagement muss dynamisch sein. Damit meine ich, dass die Bewertung des Gesamtrisikos standig auf dem neuesten Stand gehalten werden muss. Wann immer ein Teilrisiko eintritt beziehungsweise nicht eingetreten ist (und Sie somit nicht mehr treffen kann), mu ssen die Gesamtrisikodiagramme aktualisiert werden.
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Risikobegrenzung Wie Sie mit einem auftretenden Risiko umgehen, hangt ab von seiner Beschaffenheit, seiner Wahrscheinlichkeit und der Beeintrachtigung Ihrer Erfolgsaussichten durch den moglichen Schaden. Im einfachsten Fall ertragen Sie die entstehende Belastung mit Fassung, zahlen den Preis dafu r und gehen zur Tagesordnung u ber. Der zu zahlende Preis kann in Form von Geld und/oder Zeit zu leisten sein. Ein Beispiel: Sie hatten gehofft, Ihre Testingenieurin wu rde sich nicht nach einem anderen Job umsehen. Trotzdem legt sie Ihnen die Ku ndigung auf den Tisch. Also beschaffen Sie teuren Ersatz, zahlen all die anfallenden Einstellungs- und Schulungskosten und schauen zu, wie Ihr Projekt sich ein paar Wochen lang mit halber Kraft dahinschleppt, wahrend der Nachfolger sich einarbeitet. Gesamtkosten: 35000 Dollar plus eine Verzogerung von einem Monat, die sich vermutlich nicht wieder einholen lasst. Wo kommen das Geld und die Zeit dafu r her? Auch wenn es so aussieht, als hatten Sie das Geld zusammengekratzt und die Zeit irgendwie herausgeschunden, war beides nur moglich, wenn in Budget und Zeitplan eine gewisse Flexibilitat eingeplant war. Diese Flexibilitat werde ich als Ru ckstellung bezeichnen. Ereignen sich unangenehme Dinge ohne Vorwarnung, mu ssen Sie mu hsam den Ressourcen hinterher rennen, die Sie benotigen, um dagegen anzusteuern. Wurden unangenehme Dinge dagegen dank der Methode des Risikomanagements im Voraus einkalkuliert, ist typischerweise eine explizite Ru ckstellung vorhanden, um sie gegebenenfalls abzudecken. Diese Ru ckstellung bezieht sich auf das Gesamtvorhaben, nicht auf jedes einzelne damit verbundene Risiko. Ziel ist es, so viel Zeit und Geld vorzuhalten, dass zumindest eine Sicherheit von 50 zu 50 besteht, die Kosten fu r die Risiken auffangen zu konnen, bei denen der Schadensfall tatsachlich eintritt. Wenn Ihre Risikobewertung bezu glich der Kosten so aussieht:
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dann wu rde sich eine Risikoru ckstellung, die ein Konfidenzniveau von 50 Prozent liefert, auf $ l Million zusatzlich zu dem Mindestbudget von $ 5 Millionen belaufen. (Fu r den Zeitplan gabe es ein ahnliches Risikodiagramm, das dazu dienen wu rde, die Ru ckstellung in Form von Kalenderzeit festzulegen.) Die Risikoru ckstellung schafft somit finanzielle und zeitliche Spielraume, die fu r Arbeiten veranschlagt werden, die mo glicherweise u berhaupt nicht anfallen! Ohne Risikomanagement wu rden derartige Ru ckstellungen beschnitten, um ein akzeptableres Budget und Preisangebot vorlegen zu konnen. Deshalb haben wir so oft mit Budgets und Zeitplanen zu kampfen, die davon ausgehen, dass sich schon keine Risiken einstellen werden “ von einem Fall also, dessen Wahrscheinlichkeit bei 0 Prozent liegt. Da Risikomanagement eine explizite Risikobewertung erfordert, bedeutet es keinen groÄ en Zusatzaufwand, ein Budget zu erstellen, das das Auftreten von Risiken realistisch einkalkuliert. Die Bereitstellung einer Risikoru ckstellung mit einem Konfidenzniveau von 50 Prozent oder mehr heiÄ t Risikoeinda mmung. Wenn auftretende Risiken durch diese Ru ckstellung abgedeckt werden konnen, gelten sie als eingedammt. Es erfordert keine gedankliche Schwerarbeit, die zeitlichen und finanziellen Ru ckstellungen zur Begrenzung der u blichen Risiken unserer Arbeit zu ermitteln. (Ein paar gru ndliche Projekt-Nachbesprechungen liefern einen GroÄ teil der benotigten Daten.) Weitaus schwieriger ist es zu verhindern, dass die Risikoru ckstellung von jemandem gestrichen wird, der unbedingt niedrigere Zahlen horen mochte.
Risikoverminderung Als Risikoverminderung wird die Menge der Vorkehrungen bezeichnet, die Sie treffen, um die Auswirkungen eines Risikos bei Eintritt des Schadensfalls abzumildern. Risikoverminderung hat zwei Aspekte, die nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind: 1. Der Plan muss vor Schadenseintritt entwickelt werden, und 2. einige der Aktivitaten zur Risikoverminderung mu ssen ebenfalls vor Schadenseintritt erfolgen. Ich behandle die beiden Punkte in umgekehrter Reihenfolge, weil der zweite Punkt eine teilweise Begru ndung des ersten darstellt. Nehmen wir die Brandgefahr in einer Schule. Solange sie nur ein Risiko darstellt “ eine unangenehme Sache, die eintreten kann oder nicht “ mu ssen Sie nicht unbedingt etwas unternehmen. Bei Schadenseintritt allerdings entwickelt sich das Risiko von der rein abstrakten Vorstellung zur echten, lebensbedrohlichen Krise. Jetzt mu ssen Sie handeln. Wenn Sie allerdings auf Vorkehrungen im Vorfeld verzichtet haben, werden Ihren verzweifelten Bemu hungen Grenzen gesetzt sein. Am liebsten wu rden Sie sich einen Feuerloscher schnappen, aber niemand hat die 176
Vorarbeit geleistet, Feuerloscher zu beschaffen, zu fu llen und zu montieren. Sie brauchten eine Glocke, um die Kinder zu warnen, aber sie wurde nie eingebaut. Sie wu nschten, die Kinder konnten das Gebaude rasch und diszipliniert verlassen, aber niemand hat je eine Feueralarmu bung mit ihnen durchgefu hrt. Weil eine effektive Schadensverminderung also unter Umstanden bereits vor Schadenseintritt beginnt, muss es einen Aktionsplan geben, der die Formen der Schadensverminderung sowie die dafu r notwendigen Vorbereitungen festlegt. Natu rlich wussten Sie, langst bevor ich auf den Plan trat, dass fu r den Fall eines Schulhausbrands Sicherheitsvorkehrungen zu treffen sind. Weniger klar liegt auf der Hand, dass auch die Verminderung geschaftlicher Risiken fast immer Vorbereitungen im Vorfeld erfordert. Das mag intellektuell einsichtig sein, leider aber neigen wir dazu, solche Arbeiten vor Schadenseintritt zu vernachlassigen. Lieber halten wir uns an die ungeschriebene Regel: Erledige nie eine Arbeit, die moglicherweise u berhaupt nicht erledigt werden muss. Dieses Verhalten ist besonders verbreitet, wenn Leute unter Druck stehen. (Und wer tut das heute nicht?) Geben Sie einem Manager einen entsprechend knappen Termin vor, und er wird sich sagen: –Ich muss einfach nur ein- oder zweimal Dusel haben, um den Termin zu halten.© Weil der Terminplan so aggressiv ist, wird der –Dusel© zu einem fest einkalkulierten Bestandteil des Plans. Der Planen-wir-den-Erfolg-Zeitplan sieht keine Zeit fu r Arbeiten vor, die moglicherweise u berhaupt nicht anfallen, die “ so reden wir es uns ein “ definitiv nicht anfallen werden, weil der Dusel, den wir schon haben werden, sie u berflu ssig machen wird. Als Mindestvorbereitung fu r den Schadenseintritt muss fu r jedes einzelne Risiko ein Plan skizziert werden, was im Schadensfall zu tun ist. Denken Sie daran, dass die geplanten Aktivitaten zur Risikoverminderung im Ernstfall auf dem kritischen Pfad enden werden, und achten Sie darauf, dass alle notwendigen Vorkehrungen getroffen sind, falls dieser Fall eintritt.
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31 Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit arbeiten Das Gib-Gas-Mantra gibt uns vor, alles so schnell wie moglich zu erledigen. Okay, wie schnell ist schnell? Wie rasch konnen Sie eine gegebene Aufgabe erledigen? Sie mu ssen sich vorstellen, dass Sie wie besessen arbeiten, voll konzentriert und ohne Kraftreserven, die Sie noch mobilisieren konnten. Sie sind aufgeputscht, Ihr gedankliches Pedal ist bis zum Anschlag durchgedru ckt. Schneller kann ein menschlicher Wissensarbeiter nicht arbeiten. Wu rden Sie in diesem Tempo Auto fahren statt Denkarbeit zu leisten, wu rden wir von –halsbrecherischer Geschwindigkeit© sprechen. Das Gib-Gas-Mantra weist uns an, Wissensarbeit mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu erledigen. Was meinen Sie, wo der Ausdruck –halsbrecherische Geschwindigkeit© herkommt? Was besagt er? Ganz einfach: Er dru ckt aus, dass Sie bei einem solchen Tempo das Schicksal herausfordern. Sie geben Ihr A uÄ erstes. (Ware das nicht der Fall, ware noch eine kleine Geschwindigkeitssteigerung drin, dann wu rden Sie aufs Gas treten und spatestens jetzt Ihr A uÄ erstes geben.) Mit Ihrem Tempo sind Sie kurz vor einem katastrophalen Crash mit allem, was dazugehort. Ein winziger Fehler, und alles ist verloren. Hmmm. Klingt das fu r Sie nach Risikomanagement?
Das schmutzige kleine Geheimnis Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vorzugehen, ist per Definition mit Risikomanagement nicht vereinbar. Natu rlich war Ihnen diese selbstverstandliche Tatsache bereits bekannt. Aber vielleicht ist Ihnen ihre logische Folge bisher entgangen “ dass Sie namlich Ihre Geschwindigkeit verringern mu ssen, um Ihre Risiken zu managen. Das wiederum fu hrt dazu, dass Sie spater fertig werden, als Sie fertig geworden waren, wenn Sie Ihr halsbrecherisches Tempo beibehalten und das Glu ck gehabt hatten, sich nicht den Hals zu brechen. Sehen wir uns ein Beispiel an. Angenommen, Sie u bernehmen ein Projekt mit nur einem signifikanten Risiko. Es gibt genau eine unangenehme Sache, die ein178
treten kann, und je nachdem, ob sie eintritt oder nicht und wann und in welchem AusmaÄ , kann sie Ihr Projekt mehr oder weniger verzogern. Tritt die unangenehme Sache u berhaupt nicht ein, lasst sich das Projekt in 12 Monaten abwickeln. Tritt sie dagegen ein, konnte sich die Fertigstellung im schlimmsten Fall um ein ganzes Jahr verzogern. Ihr wahrscheinlichstes Szenario ist ein Verzug von vier Monaten. Im Folgenden sehen Sie das Risikodiagramm fu r das Projekt, so wie ich es beschrieben habe:
Sie setzen Ihren Risikomanagement-Hut auf, und Ihr erster Gedanke ist: Was kann ich tun, um der unangenehmen Sache, falls sie eintritt, moglichst optimal zu begegnen? Zufallig stoÄ en Sie auf einen kompakten Kurs, in dem einige Ihrer Schlu sselleute lernen konnen, im Schadensfall effizienter zu reagieren. Das ist Risikoverminderung. Sie erkennen, dass der Kurs Sie zwar ein paar Personenmonate kosten wird, Ihnen aber im Fall des Falles eine Verdoppelung der Gesamtkosten und u ber die Halfte der potenziellen Verzogerung ersparen kann. Kurzentschlossen schicken Sie Ihre Leute in den Kurs. Im Folgenden sehen Sie, wie Ihr Risikodiagramm sich durch die Risikoverminderung verandert:
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Das ist eine erhebliche Verbesserung. Ihr wahrscheinlichstes Datum ru ckt um ganze sechs Wochen nach vorn. Ihr mittleres erwartetes Datum (50:50-Chance) verbessert sich sogar noch starker. Im schlimmsten Fall mu ssen Sie mit einer hochstens halb so langen Verzogerung rechnen, wie sie ohne Risikoverminderung gedroht hatte. Das sind gute Neuigkeiten. Allerdings mu ssen Sie dafu r eine Verschlechterung Ihrer optimistischsten Moglichkeit in Kauf nehmen. Ihr rosiges Szenario sieht jetzt etwas weniger rosig aus. Ohne Risikoverminderung hatten Sie eine hauchdu nne Chance, in 12 Monaten und einem Tag fertig zu sein; mit der Risikoverminderung erhoht sich Ihre absolute Mindestzeit bis Fertigstellung um die Zeit, die fu r das Training Ihrer Mitarbeiter benotigt wird. Die Kosten der Risikoverminderung sehen Sie im nachsten Diagramm:
In mindestens der Halfte der Firmen, die ich berate, konnen sich die Leute auf kein anderes Datum konzentrieren als das Datum des rosigen Szenarios. Sie wollen den Sinn einer Risikoverminderung nicht erkennen und sehen nur die Zeit, die dafu r auf gewendet werden muss. Sie planen fu r den Erfolg, und das Risikomanagement steht ihnen dabei ihm Weg. 180
Risikoverminderung ist das Kleinod in der Krone des Risikomanagements. Wer keine Risikoverminderung betreiben kann (heute keine Vorkehrungen treffen kann, um spatere MaÄ nahmen zur Risikoeindammung zu ermoglichen oder ihre Kosten zu verringern), kann kein Risikomanagement betreiben.
Mit aller zu Gebote stehenden Geschwindigkeit Im Zeitalter der Segelschiffe war jede Schiffsreise ein riskantes Unterfangen. Schneller zu segeln, erhohte das Risiko (bei Sturm mehr Segel gesetzt zu lassen, mehr Risiken in unbekannten und seichten Gewassern einzugehen, mehr Erschopfung und mehr menschliches Versagen). In diesen Zeiten wies die Marine ihre Kapitane an, –mit aller zu Gebote stehenden Geschwindigkeit© zu reisen, um rechtzeitig am Zielort anzukommen. Ein zu Gebote stehendes Tempo ist etwas anderes als ein halsbrecherisches Tempo. Es ist langsamer. Wir mu ssen lernen, unsere Wissensunternehmungen –mit aller zu Gebote stehenden Geschwindigkeit© anzugehen. Das setzt voraus, dass wir uns den Gesamtverlauf von Risikokurven ansehen, nicht nur den Endpunkt des rosigen Szenarios, an dem sie die Achse durchschneiden. Wenn eine gegebene Strategie das Gewicht Ihres Risikodiagramms deutlich nach links verschiebt, ist sie eine gute Strategie. Tun Sie, was sie Ihnen zu tun vorgibt! Tritt der Schadensfall dann doch nicht ein, haben Sie unnotigerweise etwas zusatzliche Zeit aufgewendet. Ordnen Sie diese Zeit der gleichen Kategorie zu wie das Geld, das Sie letztes Jahr in Ihre Risikolebensversicherung eingezahlthaben, die dann doch nicht benotigt wurde. Der Unterschied zwischen der Zeit, die Sie mit –aller zu Gebote stehenden Geschwindigkeit© benotigen und der Zeit, die Sie mit –halsbrecherischer Geschwindigkeit© benotigen, ist Ihr Spielraum. Spielraume helfen Ihnen, schnell, aber heil ans Ziel zu kommen.
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32 Lernen, mit dem Risiko zu leben Wir wuchsen in einem Zeitalter auf, in dem Bestandigkeit moglich und erwu nscht war. Wandel war eine Phase, die man durchlief, um einen neuen, besseren Zustand der Bestandigkeit zu schaffen. Moglicherweise empfanden wir die Phase des Wandels als beunruhigend oder sogar unangenehm, aber wir wussten, wir wu rden sie irgendwann hinter uns haben. Bald wu rden wir uns zuru cklehnen und einer langen Phase entgegensehen du rfen, in der wir die Fru chte des Wandels genieÄ en konnten. Die Veranderungen, die unser Leben aus den Angeln gehoben hatten, wu rden dann nur noch eine blasse Erinnerung sein. Nun, diese Zeiten sind vorbei. Der Unterschied zwischen den fru hen neunziger Jahren und heute ist der Unterschied zwischen Lenins Vorstellung von Revolution (man zerstore den alten Staat und lose ihn durch einen besseren neuen ab) und Trotzkis Vorstellung von der permanenten Revolution (man zerstore den alten Staat und zerstore daru ber hinaus jeden nachfolgenden Staat, der ihn ablost). In der New Economy von heute ist Bestandigkeit nichts als ein Objekt unserer Sehnsucht. Wir mogen wehmu tig daran zuru ckdenken, so wie wir an das vornukleare Zeitalter zuru ckdenken, aber wir werden nie mehr dorthin zuru ckkehren konnen. In Zeiten der Bestandigkeit war das Risiko ein unwillkommener Besucher, der bald wieder gehen wu rde. Heute ist es ein Dauergast. Niemand wird jemals mehr Erfolg haben konnen, ohne standig Risiken einzugehen. U berraschenderweise ist Risikoscheu trotzdem allgegenwartig.
Risikovermeidung Risikovermeidung ist die Flucht vor der Chance. Wahrend Sie diese Zeilen lesen, startet gerade jemand in Ihrem Unternehmen eine neue Initiative, etwas zu tun, was das Unternehmen schon tausend Mal vorher getan hat. Das kann ein weiterer U bergang zu einer Client-Server-Losung sein, ein kleiner Upgrade, um einen etwas schnelleren Chip in ein vorhandenes Prozessorboard einzusetzen, oder ein pro-forma-Redesign eines Fahrzeugtyps vom letzten Jahr mit dem 182
Motor vom letzten Jahr und dem Getriebe vom letzten Jahr, aber einem neu gestalteten Cockpit und neu gestylten Kotflu geln. Solche –Initiativen© sind praktisch risikofrei ... und deshalb ist es an der Zeit, darauf zu verzichten. Die einzige Initiative, die Sie sich heute noch leisten konnen, ist hochriskant. Sie muss Sie in einen vollig neuen Markt hineinkatapultieren oder eine brandneue Technologie nutzbar machen, die nicht nur Ihre Firma, sondern auch Ihre Kunden und deren Arbeitsweise von Grund auf verandert. Wenn Sie ein Projekt als risikofrei oder relativ risikofrei identifizieren, vergessen Sie es am besten gleich. Um Bahnbrechendes in Angriff zu nehmen, benotigen Sie Ressourcen und Zeit, die Sie nur aufbringen konnen, wenn Sie auf nicht-bahnbrechende Aufgaben verzichten. Wenn Sie Projekte abwickeln, die ohne echtes Risikomanagement durchgefu hrt werden ko nnten, so ist auch das ein Hinweis darauf, dass Sie Ihre Ressourcen umleiten mu ssen. Wenn Risikomanagement Ihnen als Overkill erscheint, handeln sie moglicherweise unter Vermeidung jedes Risikos. Stimmt, um etwas schnittigere Kotflu gel oder eine neue Cockpit-Uhr zu prasentieren, brauchen Sie kein Risikomanagement. Das spricht aber nicht gegen die Methode; das spricht gegen Ihre Gesamtstrategie.
Betreiben wir denn nicht bereits Risikomanagement? Weil Ihnen gefu hlsmaÄ ig, wenn auch nicht verstandesmaÄ ig, bereits klar war, dass das Eingehen von Risiken ein Muss unserer Tage ist, reden Sie sich vielleicht ein, dass Risikomanagement in Ihrer Firma langst fest installiert ist. Vielleicht glauben Sie, dass Sie schon die ganze Zeit u ber Risikomanagement betrieben haben. SchlieÄ lich werden Sie dafu r bezahlt, in einem Zeitalter des Risikos zu managen. Wie anders als durch Risikomanagement sollten Sie das bewerkstelligen? Selbst wenn Sie personlich kein Risikomanagement betreiben, haben Sie sich moglicherweise eingeredet, dass es irgendwo unter Ihnen im Unternehmen stattfinden muss. Dabei lassen Sie wieder die gleiche Logik walten: Wir zahlen diese Leute, um hochriskante Projekte und neue Unternehmungen zu managen “ deshalb muss das, was sie tun, Risikomanagement sein. Haufig ist das jedoch nicht der Fall. Haufig wird ein Managementstil aus den Zeiten der Bestandigkeit auf Projekte angewendet, bei denen Bestandigkeit keine Rolle mehr spielt. Hauptkennzeichen eines Managementstils, der auf die Zeiten der Bestandigkeit zuru ckgeht, ist das, was ich als –Produktionsmentalitat© bezeichne. Eine Produktionsmentalitat erkennt man an der Ausdrucksweise von Managern, die Entwicklungsanstrengungen (nicht etwa die MontagestraÄ e) managen und mit Begriffen wie Development-Factory, Durchsatzmessung, Prozess, Qualita tskontrolle, Effizienz und Kapitalertrag, Wertminderung und Kostenabbau um sich werfen. 183
Alle diese Begriffe und Konzepte gehoren dem Produktionsbereich an und haben in Zeiten relativer Bestandigkeit ihre Berechtigung. Im Entwicklungsbereich aber zeugen sie von Risikovermeidung, dem Versaumnis, die Aufgaben des 21. Jahrhunderts anzupacken. Im folgenden Abschnitt finden Sie einen Test, mit dem Sie ermitteln konnen, ob in Ihrer Organisation ein echtes Risikomanagement stattfindet. Dieser Test ist schwierig. Die meisten Unternehmen bestehen ihn nicht. Aber er ist fair. Ich denke, Sie werden einsehen, dass eine Organisation, die den Test “ oder einen seiner Teile “ nicht besteht, ihre Risken nicht wirklich managt und deshalb vermutlich nicht annahernd genug Risiken eingeht.
Risikomanagement: ein schwieriger Test Wahlen Sie einen Teil Ihres Unternehmens, in dem die Risiken besonders groÄ sind. Das kann ein brenzliges Projekt sein, von dem die Zukunft des Unternehmens abhangt. Das kann eine neue Produktentwicklung sein oder ein Vordringen in bisher unerforschte Markte. Fragen Sie sich nun schonungslos: 1. Gibt es eine veroffentlichte Erhebung der Risiken? Enthalt die Liste die wichtigsten Kausalrisiken und nicht nur die paar Produktrisiken, die wir alle fu rchten? Ist die Risikoliste fu r alle sichtbar, die an dem Projekt arbeiten? Enthalt die Liste eine ausreichende Zahl von Risiken, um von einer sorgfaltigen Risikoanalyse zu zeugen? 2. Ist ein Mechanismus vorhanden, der die Erkennung neuer Risiken fordert? Du rfen alle Beteiligten gefahrlos auf Risiken hinweisen? 3. Konnen einige der Risiken auf der Liste verhangnisvoll sein? Ein Risikomanagement, das sich nur auf die handhabbaren Risiken konzentriert, macht das Konzept des Risikomanagements zur Farce. Es sind die verhangnisvollen Risiken, die Ihrer ganzen Aufmerksamkeit bedu rfen. 4. Haben Sie fu r jedes Risiko die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens, die moglicherweise anfallenden Kosten und die Wirkung auf den Terminplan quantifiziert? 5. Ist jedem Risiko ein U bergangsindikator zugewiesen, um den Schadenseintritt rechtzeitig zu erkennen? Wird jeder U bergangsindikator u berwacht? 6. Ist fu r das Risikomanagement eine einzelne Person zustandig? Wo die Einstellung vorherrscht, jeder sei fu r Risikomanagement zustandig, fu hlt sich niemand dafu r verantwortlich, weil jeder genug –echte Arbeit© am Hals hat. 7. Stehen auch Aufgaben auf dem Arbeitsplan, die moglicherweise u berhaupt nicht erledigt werden mu ssen? Fehlen solche nur bedingt auszufu hrenden Aufgaben, so ist das ein sicheres Zeichen dafu r, dass kein Risikomanagement vorhanden ist. 184
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Gibt es fu r die Gesamtanstrengung einen Fertigstellungstermin und ein Fertigstellungsziel, die sich deutlich voneinander unterscheiden? Sind Termin und Ziel identisch, ist kein Risikomanagement vorhanden. Der fru heste Tag, an dem die Aufgabe bestenfalls erledigt sein kann, ist als Ziel ideal, aber als Termin katastrophal. 9. Besteht eine signifikante Wahrscheinlichkeit, lange vor dem veranschlagten Datum fertig zu werden? Ist das nicht der Fall “ gibt es keine echte Wahrscheinlichkeit, den Termin um 20 oder 30 Prozent zu unterschreiten “so ist der Termin ein Ziel, keine Voranschlag. Mit diesem neunteiligen Indikator konnen Sie feststellen, ob in Ihrer Organisation Risikomanagement betrieben wird. Alle Fragen zahlen; das heiÄ t, Sie mu ssen alle Fragen mit ja beantworten konnen, um den Test zu bestehen. Seien Sie nicht entmutigt, wenn Sie eine oder zwei Testfragen nicht bestanden haben. Das heiÄ t einfach, dass noch etwas Arbeit vor Ihnen liegt. Wenn Sie die meisten Testfragen nicht bestanden haben, besteht allerdings wirklich Grund zur Beunruhigung. Unternehmen, die ihre Risiken nicht benennen konnen, die nicht zwischen Ziel und Voranschlag unterscheiden konnen, befinden sich entweder im Modus der Risikovermeidung oder sie gehen Risiken blindlings ein. Beides spricht nicht fu r sie.
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Nachwort Als Aufhanger fu r dieses Buch habe ich den Effizienzwahn aufs Korn genommen. Ich hoffe, Sie haben daraus nicht den Schluss gezogen, dass Effizienz keine Rolle spielt. Ich wollte damit lediglich verdeutlichen, dass Effizienz nicht die Hauptrolle spielt. Die anschlieÄ ende Fabel –Die Nadel im Heuhaufen© dient dazu, die Verhaltnisse zurechtzuru cken. Sie dru ckt aus: Wenn Effizienz Ihnen im GroÄ en Plan der Dinge einen Punkt einbringt, dann besitzen eine Spur von Einfallsreichtum, Wendigkeit, Risikobereitschaft und das Wissen um menschliche Beziehungen das Potenzial, Ihnen drei einzubringen. Am Beginn der Fabel steht ein einfaches und klares Ziel. Am Ende wurde dieses Ziel erreicht. Das klingt gut “wenn man von einer Kleinigkeit absieht: Das echte Ziel hat sich auf dem Weg dorthin verandert. Wird der Protagonist, unser Held, klug genug sein, sich auf das neue (viel aufregendere) Ziel einzulassen, und effektiv daran arbeiten, es zu erreichen? Seien Sie sich da mal nicht so sicher.
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33 Die Nadel im Heuhaufen Es war einmal ein junger Schneider, der das Pech hatte, eine Nadel in einem Heuhaufen zu verlieren. Er suchte und suchte, aber er konnte die Nadel nicht finden. (Tatsachlich suchte er ziemlich lange, aber im Interesse meiner Leser u berspringe ich diesen Teil.) Und weil er eine philosophische Ader besaÄ , betrachtete er, wahrend er so suchte, die Sache abstrakt. Er wollte wissen, ob dies eine einzelne Instanz einer groÄ eren Klasse von Problemen war. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass der Ursprung seiner gegenwartigen Notlage ein u berreichlich vorhandenes, kaum zu durchdringendes Element war: Der Heubestand war groÄ verglichen mit den Nadelbestand. Natu rlich konnte es eine unendliche Menge derartiger Probleme geben, die “zumindest abstrakt betrachtet “alle mit seinem eigenen identisch waren. Sei n, dachte er, die Zahl der Nadeln, wobei n im vorliegenden Fall gleich eins ist. Und sei h die Zahl der diskreten Heuhalme. Wenn dann h groÄ er n, kann die Schwierigkeit, n zu finden, beliebig hoch sein. Oder anders betrachtet: Wenn h steigt, sinkt die Wahrscheinlichkeit P, n zu finden. Tatsachlich gibt es keine Zahl, delta (ganz gleich, wie klein sie auch sein mag), die bei ausreichend groÄ em h nicht groÄ er als P ist. Wahrend er diese Logik fu r sich erschloss, entdeckte der junge Mann einen Zusammenhang, der sich in spateren Zeiten als unverzichtbar fu r die Berechnung von Mandelbrot-Mengen und andere Fraktalen erweisen wu rde. Das wusste er natu rlich nicht, denn er war ja nur ein kleiner Schneider. Obwohl er die Beziehung zwischen P, h, n und delta erkannt hatte, war er der Losung des zugrunde liegenden Problems keinen Schritt naher gekommen, denn er konnte die Nadel noch immer nicht finden. Nun trug es sich zu, dass just in diesem Augenblick eine wunderschone junge Prinzessin an dem Heuhaufen vorbeikam. Fu r gewohnlich hatte der Schneider gesenkten Hauptes weiter nach seiner Nadel gesucht und es nicht einmal gewagt, zu ihr aufzublicken. Aber nun besann er sich eines Besseren. –Ei,© sagte er. –Ich sehe, du bist eine schone Prinzessin, und mit schonen Prinzessinnen kenne ich mich aus.© 187
–Ja,© seufzte sie, –das ist ein Berufsrisiko. Kaum ist man langer als ein paar Augenblicke in der Prinzessinnenbranche tatig, schon glaubt jeder, er kenne einen in- und auswendig.© –Ich weiÄ zum Beispiel, dass eine Prinzessin sogar durch sieben Matratzen hindurch spu ren kann, dass jemand ihr eine Erbse ins Bett gelegt hat.© –Mhm© , sagte sie. –Das stimmt zwar nicht ganz, aber das Wesentliche hast du erfasst: Wir Prinzessinnen sind u beraus empfindsam.© Dann erklarte er ihr das Problem der Nadel im Heuhaufen. –Ich verstehe, was du meinst© , sagte sie. –Du mochtest, dass ich mich auf diesen Heuhaufen lege und dir helfe, die Nadel zu finden.© –Genau.© –Ich bin dabei. Du wirst sehen, das haben wir im Nu. Wo genau hast du die Nadel verloren?© –Das weiÄ ich nicht so genau. Aber es muss irgendwo hier gewesen sein.© Mit seinen Handen beschrieb er einen Heuhaufenbereich, der ein sehr groÄ es h darstellte. –Hm. Dann lass es uns einfach versuchen.© Mit diesen Worten lieÄ sie sich aufs Heu fallen, kuschelte sich ein und schaute ziellos ins Leere. –Nein. Hier ist nichts. Versuchen wir's dort dru ben.© Sie ging zu einem anderen Teil des Heuhaufens und legte sich wieder hin. Wieder schweiften ihre Augen traumerisch in die Ferne. Der Schneider fu hlte, wie sein Herz pochte. Er erkannte, das er bis dahin nicht die leiseste Ahnung von Prinzessinnen gehabt hatte, jedenfalls nicht von dieser Prinzessin. Und jetzt ... jetzt hatte sich sein Leben fu r immer verandert und wu rde nie mehr so wie fru her sein. Statt wie bisher zu flicken und zu stopfen, konnte er die Liebe einer schonen Prinzessin erringen. Seine Tage wu rden voller Schonheit und Entzu cken sein, voller Tanzen und Kosen. Das war die gute Seite. Aber es gab auch eine Schattenseite: Wo er vorher nichts als eine alberne Nadel zu verlieren hatte, hatte er nun alles zu verlieren. Plotzlich war sein Herz von Angst erfu llt. Wenn ich mir diese Chance bloÄ nicht vermassle, dachte er. Die Prinzessin runzelte die Stirn. Seine Prinzessin runzelte die Stirn. Er fu hlte, wie seine rosige neue Zukunft ihm zu entgleiten drohte. –Also hier ist sie auch nicht© , sagte sie. –Ich versteh das einfach nicht.© –Es ist nicht so wichtig, wirklich© , beeilte sich der Schneider zu versichern. –Wirklich. Es ist nur eine Nadel.© –Aber ich fu hle mich schrecklich. Ich mochte dich nicht enttauschen.© Traurig blickte sie zu ihm auf. Sie war einfach wunderschon. –Du darfst nicht traurig sein. Bitte nicht. Selbst der empfindsamste Mensch der Welt wu rde von den Zahlen hier u berwaltigt werden. Du musst namlich wissen, wenn die Zahl der Heuhalme (wir nennen sie h) verglichen mit der Zahl der Nadeln n steigt, sinkt die Wahrscheinlichkeit P, n zu finden, monoton ohne Grenzwert und nahert sich beliebig nahe null.© 188
Nun fu hlte auch die Prinzessin, wie ihr Herz zu pochen begann. –Wow© , sagte sie. –Du musst ein Dichter sein.© –Nein, ich bin nur ein Schneider. Aber bitte, denk nicht, dass du versagt hast.© Sie setzte sich im Heu hoch. –Versagt? Ich? Ich habe einfach noch keinen Erfolg gehabt.© –Weil das Problem zu komplex ist. Bitte, denk nicht mehr daran. Ich mochte nicht der Grund dafu r sein, dass ...© –Unsinn. Lass uns die Sache einfach anders betrachten. Das Problem, eine Nadel im Heuhaufen zu finden, ist eindeutig losbar, selbst ohne prinzesslichen Po. Wir mu ssen lediglich das h auf eine Seite bringen, und alles, was u brig bleibt, ist n. Wahrend h zugegebenermaÄ en groÄ ist, ist es nicht unendlich groÄ . Die Formel aus P, n und h, die du dir so hu bsch ausgedacht hast, ist statisch, weil sie kein zeitliches Element beinhaltet. Wenn wir stattdessen den dynamischen Parameter P(t) betrachten, also die Wahrscheinlichkeit, n in h innerhalb einer Zeit t zu finden, steigt P(t) mit zunehmendem t montoton gegen 1,0.© –Ja, aber was fu r ein t. Wir reden hier u ber A onen© , sagte der Schneider missmutig. Sie wu rden alt und grau sein, bevor sie sich endlich der Liebe zuwenden konnten. –Dann betrachten wir das Ganze eben noch einmal neu.© Sie lachelte zufrieden u ber das, was folgen wu rde: ein Paradebeispiel weiblicher Logik, um die Sache endlich abzuschlieÄ en. –Wo du hier einen Heuhaufen der GroÄ e h siehst, sehe ich einen Nadelhaufen der GroÄ e n. In diesem Nadelhaufen sind h Heuhalme verloren.© –Aber n ist immer noch gleich eins, und h ist immer noch riesig!© –Stimmt, aber jetzt stell dir vor, wir suchen nach h statt nach n. Wir finden den Heuhalm, den wir im Nadelhaufen verloren haben. Jetzt arbeiten die Zahlen fu r uns, so dass wir einfach Erfolg haben mu ssen.© Der Schneider atmete erleichtert auf. –Warum ist mir das nicht auch eingefallen? Was bin ich bloÄ fu r ein Versager.© Die Prinzessin beachtete ihn nicht und legte sich wieder ins Heu zuru ck. –Hey, ich habÖs gefunden,© sagte sie sogleich. Mit einem Griff zog sie einen perfekt geformten Heuhalm unter ihrer Hu fte hervor. –Ein h. Jetzt habe ich es doch geschafft. Wir haben es geschafft. Und jetzt konnen wir uns anderen Dingen zuwenden.© Sie sah zu dem Schneider empor, der nicht nur redete wie ein Dichter, sondern auch ziemlich gut aussah. Aber der Schneider starrte auf etwas Glitzerndes im Heu hinunter. –Meine Nadel© , sagte er. Und hob sie triumphierend auf. Er ist wirklich ein Versager, dachte sie. Kann keinen Heuhalm im Nadelhaufen finden, selbst wenn das Glu ck auf seiner Seite steht. Sie zuckte die Schultern und ging ihres Weges, und er begegnete ihr niemals wieder.
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