Kristin Bulkow · Christer Petersen (Hrsg.) Skandale
Kristin Bulkow Christer Petersen (Hrsg.)
Skandale Strukturen und...
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Kristin Bulkow · Christer Petersen (Hrsg.) Skandale
Kristin Bulkow Christer Petersen (Hrsg.)
Skandale Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17555-3
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
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Inhalt
Kristin Bulkow & Christer Petersen
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Skandalforschung: Eine methodologische Einführung
Geschichte und Politik des Skandals Frank Bösch
029
Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive Annika Klein
049
Hermes, Erzberger, Zeigner: Korruptionsskandale in der Weimarer Republik Michael Holldorf
067
Von der Möglichkeit eines Neuanfangs: Der politische Skandal und Hannah Arendts Gesellschaftskritik Lars Koch
087
Sloterdijk-Debatte 2.0: ‚Skandalöse‘ Anthropologie im diskursiven Spannungsfeld von Biotechnologie, Ökonomie und Zukunftsangst Patrick Weber
Determinanten von Skandalisierung in der politischen Auslandsberichterstattung: Eine empirische Analyse
105
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Skandalforschung: Eine methodologische Einführung
Medienskandale und Skandalmedien Steffen Burkhardt
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Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal: Eine Typologie öffentlicher Empörung Franziska Oehmer
157
Skandale im Spiegel der Zeit: Eine quantitative Inhaltsanalyse der Skandalberichterstattung im Nachrichtenmagazin Der Spiegel Kristin Bulkow & Christer Petersen
177
Reich-Ranicki, Heidenreich und der Deutsche Fernsehpreis 2008: Quantitativ-qualitative Inhaltsanalyse eines Medienskandals Stefan Hauser
207
„Im Klub der Spritzensportler“ – Medienlinguistische Beobachtungen zur kontrastiven Analyse von Dopingskandalen Ingo Landwehr
Unfundiert, tendenziös und unnötig verletzend. GeenStijl – Das Medium ist der Skandal
227
Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
7
Skandalkultur und die Kunst der Provokation Johann Holzner
249
Kunst und Spektakel: Skandale im Beziehungsraum zwischen Literatur und Macht Sascha Seiler
263
„Das Herz ist vor allem trügerisch“ – Inszenierung von sexuellem Missbrauch in J.T. Leroys Sarah und Andrew Jareckis Capturing the Friedmans Anke Steinborn
277
Frauenmord und Skandal viral – Young British Art. Ein Fallbeispiel Martin Gegner
God Save the Queen: Zur gesellschaftlichen Funktion von Popskandalen im Vereinigten Königreich
299
Skandalforschung: Eine methodologische Einführung
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Skandalforschung: Eine methodologische Einführung Kristin Bulkow & Christer Petersen
Wenn Jean Baudrillard in einem seiner frühen Essays über Watergate und damit über das Beispiel für einen modernen politischen Skandal gleichermaßen beiläufig wie selbstverständlich behauptet: „Watergate ist kein Skandal – das gilt es auf jeden Fall festzuhalten“ (1979: 28), dann liegt dem ein Skandalbegriff zugrunde, der mit der Öffentlichmachung einer Verfehlung auch impliziert, dass die Verfehlung als Abweichung von der Norm eine Ausnahme darstellen muss. Und genau darum, weil Watergate in Baudrillards Beschreibung des westlichen Kapitalismus und seiner Institutionen, der Wissenschaft, der Justiz, der Medien und eben der Politik, keine Ausnahme darstellt, dürfe Watergate nicht als Skandal gelten. Vielmehr sei es mit dem ‚Watergate-Skandal‘ bloß „gelungen, den Eindruck zu erwecken, dass es tatsächlich einen Skandal gegeben“ habe, um damit „der Gesellschaft wieder eine ordentliche Dosis politische Moral“ zu verabreichen (1979: 27), eine politische Moral, die es in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr gibt und die es für Baudrillard nie gegeben hat: „Watergate war nur eine Falle, die das System seinen Gegnern gestellt hat – die Simulation eines Skandals“ (1979: 29). Diese Interdependenz von Skandal und Norm, die reziproke Konstruktion des einen im anderen, lässt den Skandal nicht allein für den Soziologen und Medienphilosophen Baudrillard zu einem Phänomen gesteigerten Interesses avancieren. Vielmehr scheint sich der Skandal als Untersuchungsobjekt keiner bestimmten Disziplin verorten zu lassen, da er in seiner komplexen kommunikativen Struktur die Aufmerksamkeit einer Vielzahl geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen weckt, unter anderem der Medien- und Kommunikationswissenschaft, der Historiographie, Politologie und Soziologie sowie der Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaft. So offenbart bereits ein erster Blick auf einige wenige Skandale der letzten Dekade: Skandale machen nicht nur Normverletzungen in großem Stil sichtbar und produzieren öffentliche Empörung über ein vermeintliches Fehlverhalten, sondern legen im Verstoß die Regeln und Dispositive der jeweiligen diskursiven und performativen Praxis – gerade auch für die wissenschaftliche Analyse – offen. Während beispielsweise in der Endphase der Bush-Administration Verletzungen des Kriegs- und Menschenrechts in Haditha, Abu Ghraib oder Guantanamo von den westlichen Medien skandalisiert wurden, empörte man sich in K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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denselben Medien kurz nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 noch vorzugsweise über Äußerungen, die nicht konform mit der Selbstinszenierung der USA als einem singulären Opfer gingen.1 So etwa über Karlheinz Stockhausens Statement, die Anschläge seien „das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat, […] das es überhaupt gibt für den Kosmos“ (2001: 91). Dabei zeigt das Beispiel auch, wie sich Skandale über ihren jeweiligen Diskurs hinaus ausweiten können. Ein künstlerisches Statement wird hier zu einem Politikum. Zugleich scheint das, was als skandalträchtig gilt, nicht nur stets historisch bedingt, sondern auch medial. Erst im Verstoß gegen ein jeweils gültiges Tabu und im Rahmen massenmedialer Verbreitung kann sich ein Skandal voll entfalten, heute überhaupt erst zu einem Skandal werden. Das gilt sowohl für politische, wirtschaftliche und kulturelle als auch für genuin mediale Skandale, Skandale in und über (Massen-)Medien, wie etwa Reich-Ranickis ‚Wutrede‘ über den vermeintlichen Verfall der Fernsehkultur anlässlich der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises 2008, Janet Jacksons ‚Nippelgate‘, die sich 2004 während der Liveübertragung des 38. Super Bowl buchstäblich enthüllte, oder die politischen Enthüllungen von Wikileaks und ihrem Gründer Julian Assange im Jahre 2010, der selbst zum Objekt einer Skandalkampagne um sein vorgeblich kriminelles Sexualverhalten wurde. Die Beispiele zeigen nicht zuletzt auch, dass in dem Moment, in dem ein Skandal der Öffentlichkeit präsentiert wird, er mediale Kampagnen und Gegenkampagnen auslöst, die um eine Vorherrschaft in der öffentlichen Meinung streiten, und je nachdem, wofür oder wogegen sie eintreten, gesellschaftliche Normen de- oder rekonstruieren, aus einer Position der Beobachtung zweiter Ordnung – ganz im Sinne Baudrillards – aber genau die moralische Differenz etablieren, die im Skandal gefährdet scheint, um im Zuge der öffentlichen Konsolidierung der moralischen Differenz diese auch schon wieder zu destabilisieren: Wenn die öffentliche Zurschaustellung von Janet Jacksons Brust samt Piercing die Sittenwächter auf den Plan rief, dann nur um den Preis der wiederholten (wie auch immer encodierten) Zurschaustellung dessen, was man gerade nicht in der Öffentlichkeit sehen wollte. Denn indem Janet Jackson sich so öffentlich entblößte,2 sollte eine Aufmerksamkeit provoziert werden, die ihr erst im Normbruch zuteil werden konnte, und zwar sowohl in der Empörung über die Zurschaustellung selbst als auch in der Entrüstung über die Empörung derer, die sich tatsächlich ernsthaft moralisch an der Entblößung stießen. Und auch die scheinbar gelassene, moralisch indifferente Haltung derer, die Janet Jacksons 1 2
Kritisiert wird diese Haltung ausführlich in Butler (2004). Um den Sachverhalt in der knappen Beschreibung etwas zu vereinfachen, schweigen wir uns auch hier über die Assistentenrolle aus, die Justin Timberlake als ‚inszeniert zufälliger‘ Verursacher der Entblößung innehatte.
Skandalforschung: Eine methodologische Einführung
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Selbstinszenierung zu durchschauen meinten, reproduzierte im vermeintlich distanzierten Diskurs über die Naivität der anderen die Normen der Empörten wie die Normen derer, die sich glaubten über die Empörten entrüsten zu müssen. Der Band will dieser Vielschichtigkeit von Skandalen, ihrer Strukturen und Strategien, ihrer Mechanismen und Ökonomien gerecht werden, indem sich seine Beiträge im Rahmen quantitativer und qualitativer Methoden einerseits sowie aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen andererseits dem Phänomen des ‚modernen Skandals‘ in drei Kapiteln nähern. Innerhalb jedes der – nicht unbedingt trennscharfen – thematischen Abschnitte sollen ausgehend von Skandaltheorien und Fallanalysen grundsätzliche Überlegungen zu den Konstituenten, Inhalten und Kommunikationsweisen von Skandalen im Feld der Politik, der Medien und der Kunst angestellt werden. DER FORSCHUNGSSTAND Während Baudrillard Watergate nur als ein prominentes Beispiel im Rahmen seines skeptizistischen Diskurses dient, soll ein Überblick über die Studien, die sich vorrangig und systematisch dem Phänomen des Skandals gewidmet haben, auch einen Überblick über den aktuellen Stand der Skandalforschung bieten, um damit nicht zuletzt den Ausgangspunkt für die in diesem Band versammelten Beiträge zu markieren. Konstituenten des Skandals Kaum eine Studie zur Skandalforschung kommt ohne den Hinweis auf das breite Alltagsverständnis des Skandalbegriffs und, daraus resultierend, der definitorischen Eingrenzungen desselben aus (z.B. Neu 2004; Bösch 2006; Pundt 2008). Der Skandalbegriff, der aus diesen theoretischen Bemühungen hervorgegangen ist, hat dabei in den letzten Jahrzehnten deutlich an Kontur gewonnen. So besteht inzwischen ein weitgehender, durchaus interdisziplinärer Konsens darüber, was einen Skandal ausmacht, welche Rollen die daran Beteiligten einnehmen und welche Phasen Skandale in der Regel durchlaufen. So findet Neckels (1989) Skandaltriade, welche die Akteure des Skandals umreißt, in der Skandalforschung breite Anwendung. Demnach sind an einem Skandal mindestens folgende Akteure beteiligt: „der Skandalierte (der einer Verfehlung von öffentlichem Interesse öffentlich bezichtigt wird), der Skandalierer (einer, der diese Verfehlung öffentlich denunziert), so wie ein, oder besser:
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mehrere Dritte, denen über das, was zum Skandal geworden ist, berichtet wird und die daraufhin eine wie auch immer geartete Reaktion zeigen“ (1989: 58f.). Schon diese Vorstellung der Akteure macht deutlich, dass es sich bei einem Skandal um einen dynamischen Prozess handelt. Jeder einzelne Akteur bzw. jede Akteursgruppe reagiert auf die Handlung der anderen. In stark vereinfachter Form lässt sich der Skandal somit wie folgt umreißen: Eine Handlung des Skandalierten führt zu einer Handlung des Skandalierers, Dritte reagieren wiederum auf diese beiden Handlungen. Der Ablauf eines tatsächlichen Skandals ist dennoch meist komplexer. Um diese dynamischen Prozesse systematisch zu untersuchen, hat sich die Unterteilung in mehrere Skandalphasen durchgesetzt (z.B. Thompson 2000; Kepplinger 2005; Burkhardt 2006). In Anlehnung an Luhmanns (1971: 18f.) Phasen einer Themenkarriere lassen sich beispielsweise Latenz-, Aufschwungs-, Etablierungs- und Abschwungsphase unterscheiden (Burkhardt 2006: 204). In der Latenzphase ist der eigentliche Inhalt des Skandals, die potentiell skandalöse Handlung, angesiedelt. Die Enthüllung dieser Tat fällt in die Aufschwungsphase. Hier erfolgt die Veröffentlichung der Handlung in den Medien. In der Etablierungsphase findet die Bewertung als Skandal statt, die aus der hervorgerufenen breiten öffentlichen Empörung über die Tat resultiert. Hier können sich auch die Konsequenzen für den Skandalierten ergeben, die auf die Abstellung des Missstandes zielen. Gleichzeitig setzt damit die Abschwungsphase des Skandals ein. Je nach Verlauf des Skandals ist auch eine mögliche Rehabilitationsphase im Anschluss an den eigentlichen Skandal denkbar. Trotz der definitorischen Fortschritte ist und bleibt der Skandal ein gesellschaftliches Phänomen, das in seinem Verlauf kaum zu prognostizieren ist. So können etwa potentielle Skandale, die augenfällig alle von der Forschung ausgemachten Kriterien eines ‚erfolgreichen‘ Skandals erfüllen, dennoch wirkungslos verpuffen. Eine Erklärung für diesen Umstand zeichnet sich ab, wenn man den Skandal als zweidimensionales Konstrukt betrachtet. Auf der ersten Ebene lässt sich dabei der Sachverhalt verorten, auf den Bezug genommen wird. Die zweite Ebene ist der Vorgang der Skandalisierung selbst, der als komplexes Kommunikationsverfahren begriffen werden muss (Pundt 2008: 211). Inhalt des Skandals Auf der ersten Ebene ist demnach der Inhalt des Skandals zu verorten. Darüber, was potentiell als skandalös erachtet werden kann, besteht in der Skandalforschung ein interdisziplinärer Konsens. Hierunter wird fast ausnahmslos eine Normüberschreitung gegen die in einer Gesellschaft vorherrschenden Wertesys-
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teme verstanden (Neckel 1989: 57). Diese Sichtweise ist der Soziologie entlehnt. Als ethische Imperative leiten Werte demnach das Handeln der Menschen, indem Werte vorgeben, was gesellschaftlich als wünschenswert gilt (Schäfers 2010: 37). Daraus lassen sich wiederum drei für den Skandal wesentliche Punkte ableiten: 1.
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3.
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Nur das Handeln von Menschen kann potentiell skandalös sein. Ein Skandal ist somit ein „menschliches Phänomen“ (Neu 2004: 4). Damit ist der Skandal immer auch an Individuen gebunden. Zwar können auch Handlungen von Institutionen oder Organisationen skandalisiert werden (Konken 2002: 23), dennoch werden auch hier die Normverstöße meist Individuen als persönlich zu verantwortende Handlungen zugeschrieben, was sich häufig in den personalen Konsequenzen äußert, die bei solchen Skandalen gezogen werden. Deshalb kommt Thompson (2000: 22) auch zu dem Schluss: „a scandal is a phenomenon where individuals’ reputations are at stake.“ Interdisziplinär anschlussfähig ist die Definition des potentiellen Skandals als Normüberschreitung gegen in einer Gesellschaft geltende Werte nicht zuletzt deshalb, weil Werte Handlungsorientierungen in ganz verschiedenen Bereichen bieten. So lassen sich z.B. moralische (Aufrichtigkeit, Treue), religiöse (Gottesfurcht, Nächstenliebe), politische (Freiheit, Gleichheit), ästhetische (Kunst, Schönheit) und materielle (Wohlstand) Werte unterscheiden (Raithel et al. 2009: 25). Dementsprechend breit ist auch das Feld, auf welchem potentiell skandalöse Normüberschreitungen erfolgen können. Sowohl der Analyse von politischen Skandalen (z.B. Kohlrausch 2005; Bösch 2009), von Literatur- und Kunstskandalen (z.B. Neuhaus 2007) als beispielweise auch von Sportskandalen (z.B. Böcking 2007) lässt sich dieses SkandalVerständnis zugrunde legen. Werthaltungen sind an bestimmte Gesellschaften gebunden. Das heißt zum einen, dass in verschiedenen Kulturen verschiedene Werte bedeutsam sein können (Trommsdorf 1999: 171). So wurden gerade nach dem 11. September 2001 unter dem Schlagwort ‚Clash of Civilisations‘ (Huntington 1993, 1998)3 häufig unterschiedliche Wertesysteme des christlichen und islamischen Kulturkreises diskutiert. Was als potenziell skandalös gilt, kann demnach einerseits von Kulturkreis zu Kulturkreis differieren. Andererseits kann es, beispielsweise durch Modernisierung, auch zu einem Wertewandel innerhalb einer Gesellschaft Zur Kritik an Samuel Huntingtons spätestens in ihrer Begründung haltlosen These vom (so die im Deutschen übliche Übersetzung) ‚Kampf der Kulturen‘ siehe ausführlich Sen (2006).
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Kristin Bulkow & Christer Petersen kommen (Inglehart 1989). Werthaltungen, die etwa im Mittelalter in Westeuropa handlungsleitend waren, müssen es in der heutigen Gesellschaft nicht mehr sein: „Was zu einer bestimmten Zeit unzulässig ist, führt zu einem anderen Zeitpunkt nicht zwangsläufig zum Skandal“ (Bösch 2006: 26).
Ob eine vermeintliche Normüberschreitung jedoch zum Skandal wird, entscheidet sich erst auf einer zweiten Ebene des Skandals, der Ebene der Kommunikationsverfahren der Skandalisierung. Skandalisierung als Kommunikationsverfahren Die vermeintliche Verfehlung ist demzufolge „nur der erste Schritt zum Skandal“ und seine „Enthüllung […] der notwendige zweite Schritt“ (Hondrich 2002: 15). Hier erst wird der vermeintliche Fehltritt öffentlich gemacht. Da das Herstellen von Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften hauptsächlich über die Massenmedien erfolgt (Schicha 2000: 173), gilt: „Ohne Medien gäbe es Skandale allenfalls auf dem lokalen Niveau […]. Medien machen aus latenten Skandalen manifeste Skandale, und zwar durch ‚Enthüllungen‘“ (Preiser 1990:15f.; ähnlich auch bei Thompson 2000: 31). Streng genommen macht aber auch die mediale Enthüllung aus einer Normüberschreitung noch keinen Skandal. Vielmehr ist dafür „der dritte Schritt“ der Empörung oder „Entrüstung“ notwendig (Hondrich 2002: 15). Erst in diesem wird die potentiell skandalöse Handlung zum Skandal und öffentlich als ein empörender Verstoß gegen geltende Normen bewertet (Kamps 2007: 260). Im Zuge der Skandalisierung wird demnach moralische Sensibilität reproduziert (Luhmann 1996: 64) und das „Bewußtsein für Grenzen“ geschärft (Hondrich 2002: 60). In der funktionalistischen Skandaltheorie erscheinen Skandale deshalb auch als funktional für die Gesellschaft, weil im Zuge eines Skandales auf Missstände aufmerksam gemacht wird, Skandale zur Stärkung der sozialen Normen beitragen und in ihrer Konsequenz zur Abstellung von Missständen zwar nicht führen müssen, aber durchaus führen können. Erfolgt allerdings keine breite öffentliche Empörung oder verliert sie sich relativ schnell, ist die Skandalierung gescheitert (Kepplinger 2009: 179). Insofern ist „das eigentliche Treibgas, das den Skandal hochgehen lässt, […] die Empörung einer relevanten Öffentlichkeit“ (von Bredow 1992: 200).
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Da die Empörung demnach von zentraler Bedeutung für den Skandal ist, sind die Faktoren von besonderem Interesse, die den Grad der Empörung beeinflussen und somit zum ‚Gelingen‘ einer Skandalisierung beitragen. Wie ausgeführt, ist eine Handlung, die gegen das jeweils gültige Wertesystem einer Gesellschaft verstößt, die Basis eines jeden Skandals. Bestimmte Verstöße haben allerdings laut Neckel (1989: 58f.) und Thompson (2000: 15) größeres Skandalpotential als andere. Dazu zählen Normüberschreitungen im Zusammenhang mit Liebe/Sexualität, Finanzen und politischer Macht. Nach Laermann (1984: 1971) liegt dies darin begründet, dass „Geld, Macht und Sex […] nun mal jedem anschaulich“ sind. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass solche Vorgänge von den zunehmend publikumsorientierten Massenmedien (Sarcinelli 2009: 113) überhaupt aufgegriffen und so einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Die Veröffentlichungswahrscheinlichkeit ist auch dann als größer einzuschätzen, wenn es im Vorfeld bereits ähnliche Ereignisse gegeben hat. Zumindest dann, wenn diese Ereignisse den Charakter von Schlüsselereignissen haben (vgl. dazu Rauchenzauner 2008). Diese verändern die journalistischen Selektionskriterien. Ereignisse, die den Schlüsselereignissen ähneln, haben dadurch eine bessere Chance veröffentlicht zu werden (Esser et al 2002: 18). Aber nicht nur in welchem Bereich der Normverstoß erfolgt, ist für das Skandalpotenzial relevant, sondern auch wer die potentiell skandalöse Handlung begeht: Individuals who, by virtue of their positions or affiliations, espouse or represent certain values or beliefs (such as those advocated by a religious organizations or a political party) are especially vulnerable to scandal, since they run the risk that their private behavior may be shown to be inconsistent with the values or beliefs which they publicly espouse. (Thompson 1997: 40f.) Thompson macht deutlich, dass auch der öffentliche Status einer Person ausschlaggebend dafür ist, ob ein Normverstoß als Skandal bewertet wird. Wenn eine Person zudem durch ein ihr übertragenes Amt öffentlich für bestimmte Werte einsteht, gilt auch ein privates Zuwiderhandeln des Funktionsträgers als potentiell skandalös: Die moralische Fallhöhe, unentbehrlich für einen Skandal (Enzensberger 1991: 234), ist dann besonders groß. Nach Hitzler (1989: 334) besteht der Skandal darin, dass durch ihr potentiell skandalöses Handeln bestimmte Erwartungen an eine Person erschüttert werden. Dabei sind die Erwartungen an Personen auf jeweils spezifische Normbereiche bezogen. Dieselben Normverstöße können deshalb bei einigen Personen als skandalös bewertet werden, bei anderen dagegen nicht. Oder mit Williams (1998: 6): „No one is sur-
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prised by pop singers or filmstars who sleep around or experiment with drugs but, if a president or a pope engaged in such behavior, there would be a major sandal.“ Darüber hinaus steigern Status und Prominenz desjenigen, der gegen eine Norm verstößt, wiederum die Selektionswahrscheinlichkeit des Vorgangs durch die Massenmedien (Schulz 1997) und leisten somit einer breiten Empörung Vorschub. Umgekehrt gilt dies auch für denjenigen, der den Missstand anprangert. Auch hier ist der „Status des Absenders einer Kommunikation“ nicht nur allgemein (Luhmann 1971: 17), sondern auch für die Skandalisierung von Bedeutung. Dies gilt ebenfalls, wenn die Rolle des Skandalierers von den Medien selbst übernommen wird. Skandalisierungen durch Meinungsführermedien, wie etwa durch den Spiegel oder die Tagesschau (Bönisch 2006: 89), können andere Quantitäten und Qualitäten haben als Skandalisierungen durch weniger auflagenstarke oder angesehene Medien. Das liegt vor allem darin begründet, dass Themen, die in solchen ‚Leitmedien‘ aufgegriffen werden, häufig auch von anderen Medien berichtet werden (Scholz 2006: 45). Die Sichtbarkeit des potentiellen Skandals potenziert sich dadurch. Handelt es sich beim Skandalierer um ein Individuum, sollte auch ein Bezug zwischen dessen Status und dem Normbereich der skandalisierten Handlung vorhanden sein. Im oben ausgeführten Beispiel von Williams wäre es also wenig glaubwürdig, wenn ein für ausschweifende Exzesse bekannter Popsänger die Handlungen des Papstes kritisieren würde. In einem Skandal geht es deshalb immer auch um Glaubwürdigkeit (Kepplinger 2003: 54), zum einen um die Glaubwürdigkeit, mit der der Skandalierte bis dato Normen vertreten hat, diese wird schließlich durch das Fehlverhalten erschüttert; zum anderen um die Glaubwürdigkeit desjenigen, der den Missstand anprangert. Auch sie steht bei einer Skandalisierung auf dem Spiel. Denn: „Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt zugleich mit drei Fingern auf sich“ (Kamps 2007: 286). Sollte also dem Kritiker im Zuge der Skandalisierung seine Glaubwürdigkeit abhanden kommen, kann der ursprüngliche Skandal verpuffen oder durch ein Verschiebung des Skandals, bei dem der Kritiker nun selbst im Zentrum steht, abgelöst werden. Ob eine Skandalisierung erfolgreich verläuft, hängt deshalb auch von dem Verhalten und den Kommunikationsstrategien der Skandalakteure im Verlauf der Enthüllung ab (im Einzelnen dazu Donsbach & Gattwinkel 1998: 46). Luhmanns Hinweis: „Im Falle von Skandalen kann es ein weiterer Skandal werden, wie man sich zum Skandal äußert“ (1996: 61), gilt dabei für alle Akteure, die sich an der Skandalkommunikation beteiligen. Jede Handlung kann wiederum für sich skandalös sein. Im Besonderen gilt dies für die Handlungsoption des Skandalierten, den Sachverhalt zu bestreiten. Sollte es sich dabei um eine Lüge handeln und diese im weiteren Skandalverlauf aufgedeckt werden, verleiht dies dem Skandal oftmals eine weit größere Dynamik als der ursprüngli-
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che Normverstoß (Imhof 2000: 59f.). Lügen auf Seite des Skandalierers wiederum könnten einen neuen Skandal auslösen, hinter den selbst der Ausgangsskandal zurücktritt. Auch andere Akteure, die sich im Laufe eines Skandals äußern, wie etwa „Trittbrettfahrer“ (Kepplinger 2009: 185), können im Zuge der Skandalkommunikation, willentlich oder unwillentlich, in den Skandal verwickelt werden bzw. einen neuen Skandal auslösen und so Aufmerksamkeit vom ursprünglichen Skandal abziehen. Skandale als Forschungsgegenstand Der Abriss über die in der Skandalforschung weitgehend konsensfähigen Konstituenten, Inhalte und Kommunikationsverfahren des Skandals hat gezeigt, wie voraussetzungsvoll und fragil der Prozess der Skandalisierung ist. Dieser Komplexität des Skandals als sozialem Phänomen mag es geschuldet sein, dass eine Vielzahl der vorliegenden Forschungsliteratur sich mit dem Verlauf einzelner Skandale befasst (Beckmann 2006: 61). Zugleich aber machen die Bandbreite an denkbaren Akteursgruppen, Inhalten und Kommunikationen sowie deren vielfältige Interdependenzen untereinander den Skandal zu einem Gegenstand interdisziplinärer Forschung, deren Interesse weit über den Verlauf von Einzelfällen sowie den Untersuchungsbereich einzelner Disziplinen hinausreicht. So können potentiell skandalöse Handlungen in zahlreichen Bereichen des sozialen Lebens erfolgen. Dabei offenbart jeder Skandal Einblicke in die gesellschaftliche Wirklichkeit, die über die einzelne Normverletzung und den damit verbundenen Skandalisierungsvorgang hinausgehen. Skandale ermöglichen grundsätzlich Rückschlüsse auf die jeweiligen Normen und Werte einer Gesellschaft. Auch unterschiedliche Wertesysteme unterschiedlicher Kulturkreise einerseits und innerkultureller Binnen- und Subkulturen andererseits werden in ihnen sichtbar. Skandaldiskurse versetzen Gesellschaften aber auch in die Lage, Normen und Werte neu auszuhandeln, beispielsweise durch Enttabuisierung eines Themenkomplexes (Bösch 2003). Diese Grenzverschiebungen sind am Skandaldiskurs (Pundt 2008) oder gerade auch an der Abwesenheit eines solchen nachvollziehbar. So kann beispielswiese die Homosexualität eines Politikers im Gegensatz zu früheren Zeiten heute (zumindest in der BRD) nicht mehr als Auslöser eines Skandals funktionalisiert werden. Neben den oft zitierten Rückschlüssen auf die jeweiligen in einer Gesellschaft geltenden Werten und Normen werden im Skandal aber auch andere Strukturen und Mechanismen enthüllt. So sind Skandale in der Lage, über den einzelnen Missstand hinaus Systemprobleme zu offenbaren. Sich häufende Lebensmittelskandale deuten beispielsweise auf eine verfehlte Agrar- oder Ver-
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braucherschutzpolitik (Ehrke 2001: 276), sich wiederholende Dopingskandale können als Problem des Systems Spitzensport verstanden werden (Singler & Treutlein 2000: 16ff.) und eine Häufung politischer Skandale kann zum Hinterfragen der Gültigkeit und Angemessenheit einer ganzen Regierungsform führen (Kohlrausch 2005: 473). In modernen Gesellschaften, in denen Skandale hauptsächlich medial vermittelt werden, offenbaren Skandale auch Spezifika der medialen „Selbstbeobachtung“ der Gesellschaft (Luhmann 1996: 173). So werden Selektionskriterien für Medieninhalte an der Skandalkommunikation sichtbar, aber auch Veränderungen im Mediensystem selbst. Sich häufende Berichterstattung über Skandale wird dabei etwa als Indikator für eine zunehmende Boulevardisierung der Medien interpretiert (Esser 1999). Skandale erscheinen somit als ein komplexer Forschungsgegenstand, dessen Inhalte, Bedingungen, Prozesse und Konsequenzen inzwischen von den unterschiedlichsten Disziplinen untersucht werden. Sicherlich also stellt die Skandalforschung – wie es Ebbinghausen und Neckel (1989) noch Ende der 1980er feststellen – heute kein vernachlässigtes Forschungsgebiet mehr dar. So hat sich nicht nur eine Vielzahl von Studien aus den unterschiedlichsten Disziplinen diesem Forschungsfeld gewidmet, sondern die Skandalforschung ist immer mehr auch zu einer „interdisziplinäre[n] Schnittstelle“ (Bösch 2004: 503) zwischen den Disziplinen avanciert. Dennoch stehen die Ergebnisse der unterschiedlichen Forschungszweige vielfach immer noch relativ unverbunden nebeneinander, sind Werke, innerhalb derer sich dem Phänomen Skandal auf unterschiedlichem methodischen Wege und aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen genähert wird, nach wie vor selten. DER BAND Der vorliegende Band versucht dem komplexen Phänomen des Skandals auf den beiden zuvor skizzierten Ebenen, der Inhalte von Skandalen sowie der Kommunikationsverfahren im Zuge des Skandalisierungsprozesses, gerecht zu werden. So vereint er Beiträge, die sich mit Normüberschreitungen in ganz unterschiedlichen Bereichen beschäftigen, um so der breitgefächerten Inhaltsebene eine Entsprechung zu geben. Die einzelnen Aufsätze behandeln politische Skandale, Medienskandale und Sportskandale ebenso wie Skandale in der Literatur, im Feuilleton, in der Kunst und der Popkultur. Auch auf der zweiten Ebene, der Kommunikationsverfahren, soll die Gesamtschau der Beiträge ein möglichst vielschichtiges Bild zeichnen. Dazu bedienen sich die einzelnen Analysen unterschiedlicher methodischer Ansätze. Insbesondere die Strategien und Ziele sowie
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die diskursive Wirkungsmacht der Skandalkommunikation werden dabei durch qualitative Ansätze offenbart. Mittels quantitativer Verfahren werden Muster von Skandalverläufen, Akteursstrukturen sowie mediale Selektionskriterien im Skandalfall analysiert. Es kommen dabei sowohl Längsschnitt- als auch Querschnittdesigns zum Einsatz. Jedem der drei Kapitel des Bandes ist ein einleitender Artikel vorangestellt, der anhand theoretischer Überlegung in das Thema einführt, unter anderem indem paradigmatische Beispiele für Skandale in Politik, Medien und Kunst angesprochen werden. Ausgehend von Fallbeispielen versuchen die jeweils folgenden Artikel dann, Skandaldiskurse hinsichtlich der genannten Ebenen strukturell – und stets auch mit Blick auf eine Generalisierbarkeit der aus den exemplarischen Analysen gewonnenen Ergebnisse – zu erfassen. Geschichte und Politik des Skandals Das erste Kapitel behandelt den die Mediengesellschaft am stärksten prägenden Skandaltyp (Sabrow 2004: 7), den politischen Skandal. Dem Historiker Frank Bösch geht es in seinem einführenden Beitrag um eine systematische Typologisierung des politischen Skandals in diachroner Perspektive. Auf Basis eines historischen Ländervergleichs diskutiert er methodische Zugänge zur Analyse des Skandals. Parallelen und Diskontinuitäten politischer Skandale in der Weimarer Republik untersucht die Historikerin Annika Klein. Sie kann zeigen, dass Motive und Strukturen durchaus ähnlich sind, die Konsequenzen für die Skandalierten, Politiker der Weimarer Republik, jedoch stark differieren. In dem Beitrag des Politikwissenschaftlers Michael Holldorf werden Skandale im Lichte der politischen Ideengeschichte betrachtet. Vor dem Hintergrund gesellschaftskritischer Theorien Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zeichnet Holldorf ein durchaus ambivalentes Bild: Der Skandal kann demnach einerseits als bloßes Konsumgut betrachtet werden, andererseits aber auch als Grundlage politischen-gesellschaftlichen Handels dienen. Der Kulturwissenschaftler Lars Koch hinterfragt in seinem Aufsatz die diskursiven Folgen der ‚SloterdijkDebatten‘ 1999 und 2009. Koch geht es ausdrücklich nicht darum, das aufmerksamkeitskalkulierende Handeln des populären Philosophen am Skandalverlauf zu rekonstruieren. Es soll vielmehr herausgearbeitet werden, inwieweit Sloterdijks Thesen einer neoliberalen Neuformierung gesellschaftlicher Grundüberzeugungen Vorschub leisten. Am Ende steht daher die Frage, ob nicht Sloterdijks Thesen – auch in ihrer medialen Reichweite – einer Skandalisierung bedürfen, die diese vor dem Hintergrund einer weitgehend leer laufenden Empörungsökonomie noch gar nicht in angemessener Weise erfahren haben. Der Kommuni-
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kationswissenschaftler Patrick Weber analysiert die in der Skandalforschung bisher kaum beachtete Skandalisierung in der politischen Auslandsberichterstattung. Dabei entwickelt er ein theoretisches Erklärungsmodell des Berichterstattungsmusters der Skandalisierung und unterzieht es mittels seines neu entwickelten Messinstrumentes einer ersten empirischen Prüfung. Medienskandale und Skandalmedien Gleichzeitig leitet der Beitrag thematisch zum zweiten Kapitel des Bandes über. Da Skandalisierungen in modernen Gesellschaften in und durch Massenmedien erfolgen, liegt das Augenmerk in diesem Abschnitt auf den Bedingungen und Prozessen massenmedialer Skandalisierung sowie auf der Skandalaffinität von Massenmedien. Der Medienwissenschaftler Steffen Burkhardt gibt in seinem einführenden Beitrag einen Überblick über die Interdependenzen von Medien, insbesondere Massenmedien, und Skandalen: Er differenziert die Skandalkontexte Skandal, medialisierter Skandal und Medienskandal voneinander, bevor er umfassend auf die Rollen des Skandalpersonals sowie die journalistischen und gesellschaftlichen Funktionen von Medienskandalen eingeht. Der Beitrag der Kommunikationswissenschaftlerin Franziska Oehmer untersucht mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse als Skandale etikettierte Medienereignisse im Nachrichtenmagazin Spiegel. In einer diachron vergleichenden Untersuchung und aus dem theoretischen Kontext der Nachrichtenwerttheorie heraus werden als Skandale gekennzeichnete Ereignisse in der Zeit von 1950 bis 2008 analysiert und auf strukturelle Veränderungen im Zeitverlauf hin überprüft. Im Zuge dessen kann sie unter anderem empirisch belegen, dass es – entgegen einer oftmals postulierten Boulevardisierung der Medien – zumindest im untersuchten Medium zu keiner kontinuierlichen Zunahme der Skandalkommunikation kommt. Der Skandalisierung eines Mediums in den Medien widmet sich der Beitrag der Kommunikationswissenschaftlerin Kristin Bulkow und des Medienwissenschaftlers Christer Petersen. Am Fallbeispiel des durch Marcel Reich-Ranicki 2008 ausgelösten Fernsehpreisskandals zeichnen sie mittels einer quantitativ-qualitativen Inhaltsanalyse den Verlauf der Skandalisierung nach, benennen Wendepunkte und suchen nach den Gründen für das Scheitern einer Skandalisierung, die zunächst auf breite Resonanz stieß. In einer kontrastiven Analyse untersucht der Linguist Stefan Hauser Dopingskandale in der deutsch- und englischsprachigen Presse. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Journalismuskonzepte und gesellschaftlicher Gegebenheiten arbeitet er zunächst Gemeinsamkeiten und Unterschiede der sprachlichen Organisation von Dopingskandalen heraus und bietet dann verschiedene – teils konkurrierende – Erklärungsmodelle für die differie-
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rende sprachliche Realisation identischer Skandalinhalte an. Der Kulturwissenschaftler Ingo Landwehr stellt mit dem niederländischen Weblog GeenStijl ein Medium vor, das sich selbst als Skandal versteht. Am Beispiel der spezifischen Kommunikationspraxis des Weblogs zwischen Fremd- und Selbstskandalisierung gelingt es Landwehr die Funktionsweisen von Überzeichnung und Provokation als Skandalisierungsmechanismen einerseits und die Voraussetzungen und Effekte medialer Selbstreflexion andererseits theoretisch zu modellieren. Skandalkultur und die Kunst der Provokation Damit fungiert der Beitrag auch als Bindeglied zum letzten Kapitel des Bandes, in dem es nicht nur um Provokationen in Kunst und Kultur, sondern primär um die Kunst der Provokationen geht. Zwar können insbesondere Kunstskandale als „Geigerzähler des Provinzialismus“ (Glaser 1973: 133) in der Gesellschaft vorhandene Konfliktpotentiale virulent werden lassen (Neitzert 1990: 173; Neuhaus 2007: 46), so dass im Kunstskandal Kunst nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch rezipiert wird (Resch 1994: 35). Darüber hinaus scheint eine Eigenart des Kunstskandals jedoch vor allem darin zu bestehen, dass spätestens seit der Frühen Moderne regelmäßige Skandale aus dem Kunst- und Kulturbetrieb nicht mehr wegzudenken sind. Offensichtlich braucht der Künstler vor dem Hintergrund eines avantgardistischen Innovationszwangs den Skandal, um das Provokative und jeweils Neue des eigenen Werkes öffentlichkeitswirksam zu inszenieren (Ladenthin 2007: 20; Larcati 2007: 111; Hieber & Moebius 2009: 8ff.). Dabei geht die Skandalisierung jedoch nicht nur von den Künstlern und ihren Werken selbst aus, sondern auch der feuilletonistische Kulturbetrieb scheint sich zusehends in der Skandalisierung der Werke und ihrer Autoren – publikumswirksam – zu gefallen (Moritz 2007: 59). Der Literaturwissenschaftler Johann Holzner umreißt in seinem einleitenden Artikel diesen Beziehungsraum zwischen der Macht der Kunst und der Kritik, in dem sich Kunstskandale verorten. Anhand von Beispielen zeigt er die Charakteristika dieses Skandaltypus auf, bevor er zwei repräsentative Fälle aus dem Literaturbetrieb der DDR und Österreichs eingehend untersucht. Der Literaturwissenschaftler Sascha Seiler illustriert anhand zweier Fallbeispiele, J.T. Leroys Roman Sarah und Andrew Jareckis Dokumentarfilm Capturing the Friedmanns, wie zwei Texte, die – scheinbar skandalträchtig genug – den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen thematisieren, letztlich aber nicht wegen ihres textimmanenten Provokationspotentials, sondern aufgrund der (vorsätzlichen) Irreführung ihrer Rezipienten zu Skandalen um die Autoren eskalieren. Die Kunstwissenschaftlerin Anke Steinborn skizziert an Beispielen aus der Young British Art die Besonderheiten des
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Kunstskandals in der Postmoderne. Insbesondere die strukturelle Öffnung des Kunstwerkes und die damit verbundene Einbeziehung der Rezipienten werden dabei als charakteristische Grenzverschiebungen und paradigmatische Räume postmodernistischen Provokationspotentials ausgemacht. Im abschließenden Beitrag des Soziologen Martin Gegner stehen Popskandale im Vereinigten Königreich im Mittelpunkt. Gemeinsames Merkmal dieser ist die Figur der Queen, die, wie es Gegner herauszuarbeiten gelingt, nicht allein als Ikone und passives Objekt skandalöser Provokationen von den Beatles über die Sex Pistols bis hin zu Lady Gaga fungiert. Elisabeth II. beeinflusst vielmehr durch ihre Interaktion mit der Popkultur die Skandaldynamik maßgeblich, indem sie eine nachhaltige Politik der Integration betreibt, gerade derer, die sich skandalträchtig an ihrem Status zu reiben versuchen. Gegners Beitrag spannt wiederum den Bogen zum politischen Skandal und damit zum ersten Kapitel des Bandes. Dessen Ziel ist es, in den Einzelbeiträgen die zahlreichen Facetten des Skandales sichtbar zu machen, die in ihrer Gesamtschau eine differenzierte interdisziplinäre Analyse des komplexen Phänomens Skandal ermöglichen sollen. Unser Dank gilt den Autoren sowie den Teilnehmern an einer diesem Band vorausgegangenen Tagung an der BTU Cottbus im Januar 2010. Beide, Autoren und Tagungsteilnehmer, haben diese neue Perspektive auf den Skandal durch ihre Beiträge und ihre Bereitschaft zur methoden- und fachübergreifenden Auseinandersetzung erst ermöglicht. Literatur Baudrillard, Jean (1978): Die Präzession der Simulakra. In: Ders.: Die Agonie des Realen. Berlin: Merve, S. 7-69. Beckmann, Susanne (2006): Der Skandal – ein komplexes Handlungsspiel im Bereich öffentlicher Moralisierungskommunikation. In: Girnth, Heiko/Spieß, Constanze (Hg.): Strategien politischer Kommunikation. Pragmatische Analysen. Berlin: Erich Schmidt, S. 61-78. Böcking, Tabea (2007): Sportskandale in der Presse. Thematisierungsmuster und ihre gesellschaftlichen Folgen. In: Publizistik 52/4, S. 502-523. Bönisch, Julia (2006): Meinungsführer oder Populärmedium? Das journalistische Profil von Spiegel Online. Berlin: LIT. Bösch, Frank (2009): Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914. München: Oldenbourg. Bösch, Frank (2006): Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 53/7, S. 25-32.
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Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal
Geschichte und Politik des Skandals
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Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive Frank Bösch
Skandale gelten als ein Charakteristikum der Gegenwart und werden vornehmlich gegenwartsbezogen analysiert. Sozial- und Kommunikationswissenschaftler betonten vielfach den starken Anstieg von Skandalen in jüngster Zeit und verbanden dies mit differenten Erklärungen. Diese reichen vom Vorwurf der Übertreibung und der Hysterie der linksstehenden Medien, die sich seit 1982 gegen die CDU-Regierung gerichtet hätten (so Kepplinger 2001: 12, 39, 119), bis hin zur funktionalen Annahme, die Zunahme der Skandale als Korrekturfunktion in einer lernenden liberalen Gesellschaft zu verstehen (Hondrich 2002: 67). In dieser erstaunlich normativen Debatte steht dabei das Bild des journalistischen Verschwörers, der seine Medienmacht missbrauche, der Vorstellung eines investigativen Journalismus gegenüber, der Verfehlungen der Mächtigen aufdecke. In beiden Fällen spielen Medien eine entscheidende Rolle, so dass oft von ‚Medienskandalen‘ gesprochen wird. Medien, so Steffen Burkhardt, prägen dabei den moralischen Diskurs, die Narration und die Politisierung (Burkhardt 2006: 381). Und erst die permanente Visualisierung des Politischen führte dazu, so John Thompson, dass Skandale sich als Kämpfe um Vertrauen etablierten (Thompson 2000: 252). Auch die Abnahme der politischen Unterschiede wird oft als Ursache angeführt, um die Häufung von Skandalen zu erklären, weil Politiker sich deshalb durch moralische Qualitäten profilieren müssten (Imhof 2000: 57; Bergmann & Pörksen 2009: 19). Andere Lesarten sehen Politiker als zunehmend korrupt und machtversessen an (von Arnim 2003). Danach erklärt ein zunehmender moralischer Verfall in der Politik die Zunahme von Skandalen. Es gibt vor allem zwei Möglichkeiten, die hier skizzierten Einschätzungen genauer zu prüfen und mehr über die Rolle von einzelnen Akteuren des Politikund Mediensystems oder die gesellschaftliche ‚Lernfähigkeit‘ und Normen zu erfahren. Erstens wären Skandale in unterschiedlichen Ländern oder Kulturen zu vergleichen. Erst dann würde deutlicher, ob tatsächlich die (linke) politische Ausrichtung von Journalisten, das Machtverständnis von Politikern, die politische Polarisierung und/oder der Medienmarkt für das Aufkommen und den Verlauf von Skandalen verantwortlich sind. Eine derartige systematisch vergleichende Perspektive wurde bislang jedoch selten gewählt. Vielmehr liegen bisK. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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lang allenfalls sehr knappe Vergleiche vor, die thematische Besonderheiten von Skandalen festhalten. Als Differenz wurde etwa das Fehlen von Korruptionsskandalen in Großbritannien betont (King 1986), während für Deutschland das Ausbleiben von ‚Sex-Skandalen‘ vermerkt wurde und Skandale um Umweltfragen und die NS-Vergangenheit als Besonderheit gesehen wurden (Esser & Hartung 2004). Eine zweite Möglichkeit, um die eingangs zitierten Urteile zu prüfen, ist der historische Vergleich. Mit ihm lassen sich durch die Gegenüberstellung von Epochen typische Merkmale für das Aufkommen und den Verlauf von Skandalen ausmachen. Auch dieser Zugriff wurde in der Erforschung von Skandalen bislang weitgehend vernachlässigt oder auf recht zusammenhangslose Sammlungen von einzelnen Fällen beschränkt.1 Der vorliegende Beitrag vereint beide Ansätze, konzentriert sich aber vornehmlich auf eine systematische Typologisierung in diachroner Perspektive. Ziel des Artikels ist, methodisch Zugänge jenseits einer einzelnen historischen Fallanalyse aufzuzeigen und, im zweiten Teil, diese mit einzelnen historischen Befunden zu Skandalen in der Neuzeit zu verbinden. Dabei schließt der Artikel an eine umfangreiche quellenfundiertempirische Analyse zu britischen und deutschen Skandalen im ausgehenden 19. Jahrhundert an, die auf rund 30 vertieft untersuchten Fällen basiert, baut dies jedoch typologisch und zeitlich weit aus (vgl. Bösch 2009). WAS SIND SKANDALE? BEGRIFFLICHE ANNÄHERUNGEN IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE Jede Untersuchung von Skandalen hängt stark von der begrifflichen Eingrenzung des Gegenstandes ab. Analysen von Skandalen gehen generell im hohen Maße von der Selbstbeschreibung und Verwendung des Begriffes aus. Denn ein gewisser Konsens besteht darin, dass Skandale nicht essentiell als Verfehlungen zu fassen sind, sondern über die Zuschreibung als Skandal durch viele Menschen. In der Geschichtswissenschaft gibt es derzeit generell die Tendenz, Gegenstände aus dem begrifflichen Gebrauch in der jeweiligen Zeit heraus zu verstehen, um nicht unser heutiges Verständnis verengt zu absolutieren. Das jeweilige begriffliche Verständnis der Zeitgenossen gilt dabei als Untersuchungsgegenstand und -ergebnis.2 Dies birgt freilich mehrfache Probleme, wenn man eine historische oder vergleichende Perspektive anstrebt. Erstens unterliegen Begriffe einem starken Bedeutungswandel oder entstehen überhaupt erst neu. Was im 15. Jahrhundert als ‚Skandal‘ bezeichnet wurde, ist different zu heutigen so bezeich1 2
Beispiele seit der Antike finden sich in Boltanski et al. (2007). Vgl. etwa zur Geschichte der Politik Landwehr (2003).
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neten Handlungen. Zweitens haben Begriffe oft bestimmte Konjunkturen. Selbst wenn sie nicht verschwinden, können Synonyme sie zeitweise verdrängen, die dann jeweils ähnliches meinen. In diesem Fall gilt das für Worte wie ‚Affäre‘, ‚Ärgernis‘ oder ‚Schande‘. Drittens können Schwierigkeiten beim interkulturellen Vergleich entstehen. Begriffe entwickeln sich selbst in benachbarten Ländern und Kulturen different. Noch schwieriger wird es, wenn man westliche Kulturen etwa mit asiatischen oder arabischen historisch vergleichen will. Die vielfältigen japanischen Begriffe für ‚Skandal‘, die zwischen ‚Unehre‘, ‚schmutziger Affäre‘, ‚Tumult‘ oder ‚übler Zwischenfall‘ changieren, zeigen die Schwierigkeit, den Gegenstand interkulturell allein über den Begriff selbst einzugrenzen. Trotz dieser Einwände spricht einiges dafür, eine historische Analyse von Skandalen mit einer Begriffsgeschichte zu verbinden und diese als Niederschlag sozialer Wandlungsprozesse zu verstehen (zum Ansatz vgl. Koselleck 1978). Ein begriffsgeschichtlicher Zugang kann für den europäischen Raum zunächst die Säkularisierung des Wortes ‚Skandal‘ in den letzten 1000 Jahren zeigen. Während das Wort ‚Skandal‘ im Mittelalter und der Frühen Neuzeit noch stark religiös aufgeladen war und schwere religiöse Frevel und Sünden umschrieb, bezog es sich seit dem 18. Jahrhundert aus seinem vormals kirchlich definierten Verständnis stärker weltlich auf moralische Verfehlungen, die die neu etablierte Öffentlichkeit betrafen. ‚Skandal‘ bekam in Deutschland Konnotationen wie Schande, öffentlicher Ehrverlust und „ärgernisz, schmachvolles aufsehen erregender vorgang“ (Deutsches Wörterbuch, Bd. 16 1905: 1306). In Großbritannien löste sich der Begriff bereits im 17. Jahrhundert zunehmend von seinem religiösen Bezug und verwies auf Missstände und Gerüchte, die die Reputation minderten. Vor allem das erfolgreiche Theaterstück School for Scandal (1777) machte den bereits deutlich früher etablierten Begriff populär und wies mit ironischem Unterton auf die Problematik des Skandalisierens (Sheridan 1777 [1948]). Im Sprachgebrauch des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff Skandal in beiden Ländern Missstände, die häufig als ‚Sensationen‘ empfunden oder angepriesen wurden – also als emotional ergreifende ungewöhnliche Neuigkeiten. Folglich war der Skandal bereits damals mit Medienlogiken und Nachrichtenwerten verbunden, die seit dem späten 17. Jahrhundert mit dem Medium Zeitung assoziiert wurden. Skandale waren damit äußerst negativ konnotiert. In zeitgenössischen Schriften über Skandale fehlte es nicht an drastischen Verurteilungen. Sie wurden etwa als ‚pest of society‘ beschrieben, da sie durch Übertreibungen Männern die Reputation raubten und sie ins Verderben stürzten. Generell bezog sich das Wort Skandal damit bereits um 1900 sowohl auf das Ereignis, das Anstoß erregte, und auf den Vorgang der Erregung selbst. Eine trennscharfe Verwendung des Begriffs ‚Skandal‘ bestand allerdings schon damals nicht. Insbesondere
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Zeitperiode
wurde er, wie auch heute üblich, oft synonym mit dem Begriff ‚Affäre‘ benutzt. Eine begriffliche Trennung von Skandal und Affäre lässt sich bei den historischen Fällen nicht ausmachen. Die Halsband-Affäre, Dreyfus-Affäre oder DailyTelegraph-Affäre wurden auch von den Zeitgenossen als Skandale bezeichnet.
1786-1795 1796-1805 1806-1815 1816-1825 1826-1835 1836-1845 1846-1855 1856-1865 1866-1875 1876-1885 1886-1895 1896-1905 1906-1915 1916-1925 1926-1935 1936-1945 1946-1955 1956-1965 1966-1975 1976-1985
151 94 86 362 487 633 956 1580 2154 2296 2578 2284 2177 2068 2088 1143 761 1399 2360 3442 0
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Häufigkeit Abb. 1: Häufigkeit des Begriffs ‚scandal‘ in der Times 1786 bis 1985 [eigene Auswertung im Times Digital Archive]
Eine wichtige Frage ist, wie häufig oder auch wie leichtfertig ein Begriff zu einer bestimmten Zeit benutzt wurde. Dass in einer Zeit vielfältig Skandale ausgemacht werden, kann schlichtweg damit zusammenhängen, dass ein Begriff gerade sehr geläufig ist, und sagt noch wenig über Veränderungen bei Normbrüchen. So lässt sich für unterschiedliche Quellen ausmachen, dass im späten 19. Jahrhundert das Wort Skandal sehr schnell für alle möglichen Zustände benutzt wurde, die Verärgerung auslösten. Ausrufe wie „Skandalöse Verhältnisse“ und „es ist ein Skandal“ wurden zu umgangssprachlichen Formulierungen. Die stark ansteigende Bedeutung des Begriffs Skandal lässt sich bereits quantitativ leicht mit Volltexterhebungen größerer Datenbestände belegen. So wurde in der Times
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– eine der weltweit wichtigsten Zeitungen des 19. Jahrhunderts – in dieser Zeit so häufig der Begriff Skandal benutzt wie nie zuvor und wie für lange Zeit danach. Erst seit Mitte der 1970er Jahre wurde diese Intensität wieder erreicht (Abb. 1). Offensichtlich gab es also keinen kontinuierlichen Anstieg der Thematisierung von Skandalen, sondern bestimmte Phasen, in denen sie bzw. der Begriff eine starke Rolle spielte. Gerade wenn man bedenkt, dass der Umfang der Zeitung im 20. Jahrhundert weiter wuchs (und damit eigentlich die Worthäufigkeit noch hätte ansteigen müssen), fällt umso deutlicher auf, dass die Thematisierung von Skandalen kein neuartiges Signum der Gegenwart ist. Ein ähnlicher Anstieg lässt sich auch bei Begriffen wie ‚corruption‘ ausmachen, die im Englischen im 19. Jahrhundert noch semantisch mit ‚scandal‘ verwandt waren. Für eine historische Analyse von Skandalen ist es jedoch aus den eingangs genannten Gründen nicht ausreichend, sich allein auf die Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Epochen zu stützen. Ergänzend muss vielmehr eine analytische Definition des Skandals hinzugezogen werden. Einerseits muss sie sicherstellen, dass nicht jede Handlung, die von jemanden als ‚Skandal‘ bezeichnet wird, als solcher analytisch gefasst wird. Zudem muss sie ermöglichen, auch jene Vorgänge als Skandale zu untersuchen, für die die Zeitgenossen unter Umständen andere Begriffe wählten. Um von einem Skandal im analytischen Sinne zu sprechen, sollten in Anlehnung und Ergänzung der bisherigen Literatur (Hondrich 2002: 40, 59) drei Bedingungen erfüllt sein: (1) Ein praktizierter oder angenommener Normbruch einer Person, einer Gruppe von Menschen oder Institution; (2) dessen Veröffentlichung; und (3) eine breite öffentliche Empörung über den zugeschriebenen Normbruch. Dementsprechend bildet etwa eine korrupte Handlung noch keinen Skandal, wenn sie nicht bekannt wird oder wenn ihre Veröffentlichung keine Empörung auslöst, weil sie mehrheitlich als eine akzeptable Praxis gilt. Folglich existiert kein Verhalten, das per se zu Skandalen führt. Was in einer Kultur oder Epoche als Normenüberschreitung erscheint, kann in der benachbarten Epoche oder Kultur wieder ganz anders bewertet werden. Ein Gesetzesbruch ist ebenfalls nicht unbedingt für das Aufkommen eines Skandals erforderlich. Vielmehr reichen oft bereits Überschreitungen von Normen, also von gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen, deren Bruch mit sozialen Sanktionen bestraft werden kann. Diese wiederum sind historisch und kulturell stark wandelbar. Dabei muss sich die Enthüllung nicht unbedingt auf bereits vorhandene Normen beziehen. Vielmehr kann mit der Enthüllung die Norm erst eingefordert werden, wobei die öffentliche Reaktion dann über deren Geltung entscheidet. Ob an Skandalen ‚hochgestellte Personen oder Institutionen‘ beteiligt sein müssen, ist zu bezweifeln, auch wenn diese durch ihre Fallhöhe leichter eine hohe medi-
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ale Aufmerksamkeit erhalten. Präziser scheint mir die Beobachtung, dass Skandale sich vornehmlich auf Personen oder Institutionen beziehen, von denen durch ihre gesellschaftliche Stellung die Wahrung der verhandelten Normen erwartet wird. Während beispielsweise das exzessive Sexualleben eines bekannten Rockmusikers in der heutigen westlichen Kultur keine breite öffentliche Empörung auslöst, ist das bei einem unbekannten Pastor kraft der Anforderungen an sein Amt anders. Schließlich ist es für Skandale nicht notwendig, dass etwas vormals ‚Geheimes‘ plötzlich aufgedeckt wird. Vielmehr ist es charakteristisch für viele Skandale, dass sie bereits öffentlich zugängliche, aber nur wenigen bekannte Informationen verbreiten. Ebenso können die Veröffentlichung und der Normbruch zusammenfallen. Dies gilt insbesondere für Skandale im Bereich der Kultur. Die genannte Definition umfasst sowohl politische wie auch Kunst-Skandale. Letztere dürften sich vornehmlich durch ihre differente Intentionalität und Akteursstruktur auszeichnen, da Skandale mitunter selbst produziert werden. Ob dies gelingt und der Kunstskandal als Normverstoß eine breite Empörung auslöst, entscheidet auch hier die Öffentlichkeit. Zusammenfassend lässt sich daraus das Plädoyer ableiten, das Ausmachen von Skandalen zwar zunächst an dem Begriff zu orientieren und so dessen jeweilige semantische Kontexte zu analysieren, dies aber zugleich mit einem analytischen Verständnis von Skandalen zu verbinden und auch anders bezeichnete Handlungen mit einzubeziehen, wenn sie die skizzierten Merkmale der Definition erfüllen. SKANDALFORSCHUNG IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE Da Skandale mit einer Verdichtung der Kommunikation einhergehen, bieten sie sich in vielfacher Weise als eine Sonde für historische Studien an. Generell sei daher dafür plädiert, Skandalen als herausgehobenen Ereignissen zwar einen eigenen Analysewert zuzusprechen, sie aber vor allem zur Erforschung übergeordneter Prozesse zu untersuchen. Skandale eröffnen den Zugang zu vielfältigen Forschungsfeldern. Besonders relevant und naheliegend erscheinen in Anlehnung an die angeführte Definition vier Forschungsbereiche, die jeweils die einzelnen Komponenten des Skandals in ihrer Historizität erfassen: den Wandel von Normen, von Medien, der Öffentlichkeiten und der Empörung.
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Skandale und Normenwandel Skandale erscheinen also erstens ein sehr guter Zugriff zu sein, um die Geschichte von Normen zu untersuchen. An Skandalen ist sowohl ihr historischer Wandel ablesbar als auch Konflikte und Aushandlungsprozesse um Normen. Welche Verhaltensregeln etwa für hetero- und homosexuelle Beziehung gelten, lässt sich ebenso gut an Skandalen aufzeigen wie an deren Ausbleiben nach entsprechenden Skandalisierungsversuchen. Skandale konturieren dabei auch ideale Verhaltenskodizes für einzelne soziale Gruppen wie etwa Politiker. Die Konstruktion solcher internalisierten Regeln hat seit der FoucaultRezeption der 1980er Jahre stärkere Aufmerksamkeit in den Kultur- und Geschichtswissenschaften gefunden. Obgleich Foucault Skandale selbst nicht thematisiert, haben sie jedoch sehr große Ähnlichkeit zu Mechanismen, die er etwa in Sexualität und Wahrheit beschrieb (Foucault 1983). So produzieren Skandale ein permanentes Bekenntnisverfahren, überführen Verhaltensweisen in Wissensordnungen und unterlaufen Macht ebenso, wie sie Machtstrukturen schaffen. Selbst wenn man Skandalen eine funktionale, gesellschaftsverändernde Kraft zuschreibt, sind im Hinblick auf den Normwandel Teleologien zu vermeiden. So lässt sich anhand der Skandale des 19./20. Jahrhunderts sicherlich keine zunehmende Liberalisierung der Normen ausmachen. Vielmehr kam es um 1900 und dann auch wieder in den 1950ern selbst im parlamentarischen Großbritannien zu Verengungen (Bösch 2009: 45). Gleiches zeigt sich auch für die USA, wo seit den 1970er Jahren die Spielräume für sexuelle Normbrüche bei Politikern und Prominenten zunehmend enger wurden und entsprechende ‚Sex-Skandale‘ nun erst wieder zunahmen. Umgekehrt stimmt sicherlich nicht die Annahme, die gegenwärtige Mediengesellschaft habe aus ihrer ‚Skandalsucht‘ heraus die Spielräume für Politiker immer weiter eingeschränkt. Das Ausbleiben von ‚Sex-Skandalen‘ zeigt vielmehr, wie sich die Spielräume für Politiker in der Bundesrepublik erweiterten, nachdem versuchte Skandalisierungen wegen Ehebruch, Scheidungen oder Homosexualität im letzten Jahrzehnt scheiterten. Gegner funktionaler Ansätze haben eingewandt, wenn Skandale zur Besserung der Gesellschaft beitragen würden, so müsste ihre Zahl viel stärker ansteigen, um alle Missstände zu erfassen (so Kepplinger 2009: 192). Dies ist jedoch kein Einwand dagegen, Skandale mit historischen Veränderungen von Normen zu verbinden. Zeigt sich, dass ein bestimmter Skandaltypus in einer Epoche immer wieder auftritt (etwa das ‚Fremdgehen‘ eines Politikers), so steht dies für die große Bedeutung und Verfestigung einer Norm. Das ‚Lernen‘ besteht darin, dass abweichendes Verhalten erneut sanktioniert wird und bei jedem Normverstoß nun die Angst besteht, ein Skandal könne auftreten, was Verschleierungsversuche verstärkt. Skandale sind insofern zwar nicht als eine moralische Besserungs-
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anstalt misszuverstehen, aber sie beeinflussen Verhaltensregeln, Deutungen und Handlungen. Dass deshalb jeder Normverstoß zu einem Skandal mutieren muss, lässt sich hieraus nicht ableiten. Die ‚Bestrafung per Skandal‘ hat vielmehr einen Stellvertretercharakter, der vielen unentdeckten Normbrechern das Fürchten lehren kann. Welche Form des Normverstoßes einen Skandal auslösen kann, veränderte sich stark. Bei Korruptionsskandalen führten etwa in einigen Jahrzehnten bereits kleinere Geschenke zu Skandalen (etwa vor 1914 oder in der Gegenwart), in anderen Phasen, wie in den 1950er Jahren, galten selbst sehr große Summen als akzeptabel, die von der Industrie an Parteien transferiert wurden. Dass etwa nach der Flick-Affäre in den 1980er Jahren eine Sensibilisierung eintrat, die schließlich sogar kleine indirekte Vorteile wie Bonus-Meilen zum Skandalon werden ließ, unterstreicht wie sehr Skandale Normen verengen und deren zunehmende öffentliche Überwachung fördern können. Skandale um Parteispenden wird es zwar weiterhin geben, aber eine ‚politische Landschaftspflege‘ im breiten Stil, wie sie von Flick und durch die „Staatsbürgerliche Vereinigung e.V.“ von bundesdeutschen Unternehmen betrieben wurde, ist auf absehbare Zeit nicht mehr vorstellbar. Skandale und Medienwandel Ein zweites historisches Forschungsfeld, das über Skandale gut erschlossen werden kann, ist die Geschichte der Medien. Skandale zeigen die Funktionslogiken von Medien, ermöglichen Blicke in ihr Innenleben und schaffen Quellen der medialen Selbstreflektion.3 Sie ermöglichen damit eine Mediengeschichte, die über deren technische und institutionelle Struktur hinausreicht und neben Medieninhalten journalistische Routinen erfassbar macht. Skandale, so könnte man es pointiert ausdrücken, ermöglichen eine Geschichte medialer Praktiken.4 So eröffnen sie einen akteursbezogenen Zugang zur Mediengeschichte, der gerade in Deutschland aufgrund der Quellenlage zumeist schwierig ist. Denn in Skandalen wird vielfach die Recherchetechnik der Publizisten reflektiert – sei es vor Gericht oder in der journalistischen Selbstlegitimierung im Zuge der Enthüllungen. Selbstverständlich sind Skandale journalistische Ausnahmesituationen. Aber gerade an ihnen lässt sich ablesen, in welchem Maße Journalisten Quellen eigenständig recherchierten und prüften oder wie redaktionelle Abläufe sich entwickelten. So unterschiedliche Skandale wie die Spiegel-Affäre und der Skandal um die ‚Hitler-Tagebücher‘ im Stern haben gemein, dass sie eine an3 4
Siehe weiterführend den Beitrag von Landwehr in diesem Band. Siehe ausführlich hierzu den Beitrag von Burkhardt in diesem Band.
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sonsten kaum mögliche Einsicht in Redaktionsroutinen und Kontaktformen zu Informanten bieten. Skandale zeigen vielfach die Grenzen einer journalistischen Professionalisierungsgeschichte auf. Im internationalen Vergleich trifft zwar sicherlich zu, dass vor allem die amerikanischen und britischen Journalisten seit dem 18. Jahrhundert skandalisierende Anklagen erhoben und seit den 1880er Jahren eigenständig recherchierten, um durch anschließende Enthüllungen Skandale anzustoßen. Aber zugleich zeigen verschiedene Skandale, dass ihre Redaktionen mitunter nur schlampig Quellen überprüften und Informationen unlauter zuspitzten. So versuchte die angesehene Times 1887 in einer Artikelserie den politischen Führer der Irish Parliamentary Party, Charles Stewart Parnell, mit angeblich von ihm verfassten Briefen zu skandalisieren, die seine Nähe zum irischen Terrorismus belegen sollten. Tatsächlich saß die Redaktion dabei schlechten Fälschungen auf, wie vor Gericht belegt werden konnte (Bösch 2009: 331-343). Besonders für Deutschland zeigt sich in dieser Zeit, dass viele Journalisten zunächst nur auf mündlichen Zeugenaussagen beruhende Gerüchte druckten, und erst im Zuge der dann oft gegen sie gerichteten Gerichtsprozesse fundierte Recherchen begannen. Skandale lassen sich zudem als Medienereignisse verstehen, die, wie andere Ereignisse auch, durch kommunikative Zuschreibungen konstruiert werden. Dabei sind an Skandalen grenzübergreifend Kommunikationsflüsse auszumachen, die ansonsten kaum greifbar sind. So werden in Skandalen die Arbeitsweisen von Auslandskorrespondenten sichtbar, über die historisch bislang recht wenig bekannt ist (vgl. jüngst: Geppert 2007; Gebhardt 2007), ebenso der regionale und transnationale Nachrichtenfluss, der bislang ebenfalls nur spärlich erforscht ist.5 Gerade für die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts bieten sich Skandale dabei auch an, um intermediale Bezüge zu analysieren, insbesondere zwischen der Presse und dem Fernsehen. Mit Blick auf intermediale Verflechtungen fällt auf, dass Skandale besonders häufig in den historischen Epochen auftraten, in denen neue Medien aufkamen und sich in Konkurrenz zu anderen positionierten. Das gilt für das Zeitalter des Drucks in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, des Zeitschriftenbooms im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, der Massenpresse im ausgehenden 19. Jahrhundert, der Etablierung des Fernsehens seit 1960 und schließlich dem Internetzeitalter. Insofern lässt sich anhand von Skandalen auch der Wandel des medialen Ensembles im Kontext von neuen Konkurrenzbedingungen ausmachen.
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Siehe hierzu aber den Beitrag von Weber in diesem Band.
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Die Skandalforschung kann dabei auch zu einer Geschichte der Medienethik beitragen. Da es bei Skandalen häufig zu Prozessen, Untersuchungen oder Recherchen kommt, müssen auch Journalisten ihr Vorgehen und ihr Selbstverständnis rechtfertigen. Darüber hinaus gaben Skandale zumeist Anlass für Selbst- und Fremdreflektionen über die Rolle der Medien, an der sich auch die Politik, Justiz oder Wissenschaftler beteiligten. Ihre sehr variablen Einschätzungen bieten exzellente Quellen, um die den Medien jeweils zugeschriebene Stellung und Freiheit auszumachen. Gleiches gilt für die Begründungen der juristischen Verurteilungen von Journalisten, denen im Kontext von Skandalen bis zum Ersten Weltkrieg häufig noch Gefängnisstrafen drohten. Skandale und der Wandel der Öffentlichkeit Skandale bieten sich drittens an, um die Geschichte der Öffentlichkeit zu untersuchen (vgl. auch Imhof 2000). Der vielschichtige Begriff der Öffentlichkeit lässt sich zunächst, ohne die Habermas’schen normativen Implikationen, als ein allgemein zugänglicher Kommunikationsraum fassen, der neben Medienöffentlichkeiten ebenso Versammlungsöffentlichkeiten (Parlamente, Gerichtssäle, Vereine, Vorträge etc.) und situative Öffentlichkeiten (Gespräche in Kneipen, auf Marktplätzen etc.) umfasst (Requate 1999). Die Pluralform ist hierbei angebracht, da jede dieser drei Öffentlichkeitsebenen wiederum in sich vielfältig segmentiert ist – in differente politische, soziale oder kulturelle Öffentlichkeiten. Anhand von Skandalen lässt sich nun ausmachen, in welcher Beziehung diese unterschiedlichen Ebenen der Öffentlichkeiten jeweils zueinander standen. In welchem Maße beeinflussten etwa Medien alltägliche Gespräche oder Parlamentsdebatten und umgekehrt? Eigene Recherchen zur Kommunikation in Kneipengesprächen im ausgehenden 19. Jahrhundert zeigten anhand von Skandalen, dass Medien in hohem Maße Gespräche anstießen, wobei die Skandalthemen dann auf die eigene Lebenswelt übertragen wurden (Bösch 2004). Ebenso verdeutlichen Skandale, in welchem Maße Mediendynamiken mit den physischen Reaktionen eines Publikums der Versammlungsöffentlichkeit verbunden sind. Die unmittelbaren Reaktionen in den Gerichtssälen oder Parlamenten sind bereits im 19. Jahrhundert entscheidende Bestandteile der medialen Narrative. Skandale sind zudem ein Gradmesser dafür, wie frei Öffentlichkeiten in unterschiedlichen historischen Epochen und Kulturen waren. Denn Skandale setzen ein gewisses Maß an Pluralismus, Meinungsfreiheit und Parteibildungen voraus. Auch aus diesem Grunde nahmen sie im späten 19. Jahrhundert international zu. Verharrt man lediglich auf der Medienebene, so sind Skandale in Diktaturen nicht möglich. Vielmehr dominieren in autoritären Herrschaftssystemen
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Schauprozesse und staatlich inszenierte Versuche, über von oben angestoßene Skandalisierungen Empörungen zugunsten des Regimes auszulösen. So initiierten die Nationalsozialisten zahlreiche Korruptionsprozesse gegen Eliten der Weimarer Republik (Bajohr 2004). Auffällig ist allerdings, dass die Skandalinszenierungen der Diktaturen anscheinend kaum breite Empörung auslösen konnten. Vielmehr wurden derartige Kampagnen meist nach einiger Zeit abgebrochen, da sie auch Mitleid mit den Angeprangerten auslösten (vgl. ebd. sowie die Beiträge in Sabrow 2004). Analysiert man hingegen Skandale im Rahmen einer Geschichte der Öffentlichkeit, lassen sich auch für die Diktaturen interessante Erkenntnisse ermitteln. Denn zumindest in der situativen Öffentlichkeit, also den Gesprächen in Kneipen oder Warteschlangen, konnten sich durchaus Empörungen über Normverstöße verbreiten. Wie etwa die Spitzel-Berichte der Gestapo und des SD im Nationalsozialismus oder Stasi-Berichte in der DDR andeuten, führten einige Repressionsformen der Systeme oder die Doppelmoral der Partei-Eliten durchaus auch zu punktuellem Unmut (Sabrow 2004). Für eine Geschichte der Öffentlichkeit bieten sich schließlich Skandale an, wenn man jeweils die Grenzen der Öffentlichkeit bzw. des Arkanen oder Privaten ausmachen will (zur abgrenzenden Begriffsgeschichte vgl. Hölscher 1979). Denn Skandale verhandelten zumeist, was jeweils als ‚geheim‘ oder ‚privat‘ gelten soll und was nicht. Skandale lassen sich auf den ersten Blick als ein ständiger Versuch fassen, die Grenzen der Öffentlichkeit zu erweitern. Tatsächlich führen sie jedoch auch zu gegenläufigen Bewegungen, etwa zum rechtlichen Schutz der Privatsphäre oder zu Gesetzen zum politischen Geheimnisverrat. Die so genannten Carolinen-Urteile zum Schutz der Privatsphäre im Jahr 2004 bieten ein jüngstes Beispiel dafür. Die Öffentlichkeit zehrt das Geheime also nicht auf, sondern markiert nur vorläufige Formen der Anerkennung, deren Begründungszwang sich stets ändern kann (Assmann & Assmann 1997: 16). Dabei zeigt sich im internationalen Vergleich, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz der Privatsphäre entscheidende Auswirkungen auf den Verlauf von Skandalen haben. In Großbritannien führte etwa die Öffentlichkeit von Scheidungsprozessen bereits im 19. Jahrhundert dazu, dass führende Politiker, hohe Adlige oder andere Prominente in den Mittelpunkt von ‚SexSkandalen‘ rückten und damit intimste Bereiche der Privatsphäre ausgebreitet wurden. In Deutschland verhalf vor dem Ersten Weltkrieg die konservative Justiz dazu, durch den weitgehenden Ausschluss der Öffentlichkeit ähnliches zu verhindern.
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Skandale und Emotionsgeschichte Eine vierte historische Analyseperspektive eröffnet die breite Empörung, die den Skandal erst konstituiert. Sie könnte einen Zugang zu einer Geschichte der Emotionen bieten. Da Emotionen nicht nur körperlich festgelegt sind, sondern auch kulturellen Prägungen unterliegen und damit historisch wandelbar sind, hat sich die Geschichtswissenschaft jüngst verstärkt diesem Thema angenommen (Frevert 2000). Skandale bieten sich für eine Emotionsgeschichte an, da sie Ereignisse sind, die offensichtlich mit sehr emotionalen Reaktionen einhergingen – sowohl beim Publikum als auch bei den unmittelbar Involvierten. Blickt man in die Briefe und Aufzeichnungen von Betroffenen, so findet sich häufig eine Verzweiflung, die bis zum Ersten Weltkrieg oft zur Emigration führte. Skandale lassen sich damit als ein Teil einer Geschichte der Ehre und Ehrverletzung fassen. Hieran lässt sich ausmachen, wie die Bedeutung von Ehre sich in unterschiedlichen Kulturen veränderte. Während der Kampf um die Ehre lange Skandalen ihre Dynamik gab, verlor dies seit den 1960ern zunehmend an Bedeutung. Auf Seiten des Publikums gingen Skandale mit vielfältigen emotional gefärbten Äußerungen und Handlungen einher: Spott und Gelächter, Wut und Hass, Angst und Trauer zählten dazu. Oft war dies eine karnevaleske Erhebung über die Mächtigen. Zu kulturellen Konstituierungen der Emotionen trugen auch Medien bei, wobei die Interaktion zwischen Medien und Emotionen in jüngster Zeit verstärkt die Aufmerksamkeit auch in den Medienwissenschaften fand (Brütsch et al. 2009; Bartsch et al. 2007; Bösch & Borutta 2006). Medien können dabei als Quellen für die Repräsentation von Emotionen, des Diskurses über sie und als jeweiliger Anstoß von Emotionen gesehen werden. Somit lässt sich festhalten, dass einzelne Elemente, die einen Skandal konstituieren, in ihrer Historizität breitere historische Zugänge eröffnen. Besonders interessant erscheinen dabei historische Untersuchungen, die die Interferenzen der Einzelelemente untersuchen. Wie korrespondierte etwa der Wandel von spezifischen Normen mit dem zeitgleichen Medienwandel, der das öffentliche Beobachtungssystem veränderte? Oder wie veränderten sich Emotionsregime durch neue Medien? Für alle genannten Bereiche können Skandale als Sonde dienen, um weiter reichende Forschungsfelder zu erschließen. Zugleich wäre zu untersuchen, welche formierende Kraft Skandale selbst in diesen Feldern haben.
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HISTORISCHE BEDINGUNGEN UND MERKMALE VON SKANDALEN Betrachtet man die Entwicklung von Skandalen in der Neuzeit, so zeigt sich, dass sie zu bestimmten Zeiten deutlich häufiger auftraten. Diese Häufung von Skandalen lässt sich einerseits, wie bereits angedeutet, mit Medienumbrüchen erklären. Darüber hinaus ließe sich von jeweiligen opportunity structures sprechen, also den exogen bedingten gesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen für Skandale. Dazu zählen etwa das politische System und die politische Kultur, der Grad der Pressefreiheit, die Struktur des Mediensystems und der Wertewandel. Welche externen Faktoren in den letzten beiden Jahrhunderten Skandale begünstigten, lässt sich ermitteln, wenn man die Jahrzehnte genauer vergleicht, in denen Skandale in den westlichen Ländern besonders häufig auftraten – also die Zeit um 1900, 1960, Mitte der 1980er und um 2000. Dabei lassen sich vor allem fünf gemeinsame Kontextbedingungen ausmachen. Erstens gingen Phasen mit erhöhten Skandalaufkommen, wie bereits erwähnt, mit Umbrüchen im Mediensystem einher: sei es durch die Expansion und Neuformierung alter Medien (wie der Massenpresse und Fotoillustrierten um 1900, der massenhaften Ausweitung des Boulevardjournalismus um 1960 und des dualen Rundfunks in den 1980er Jahren), sei es durch die Etablierung neuer Medien (wie des Films um 1900, des Fernsehens um 1960 und des Internets seit Ende der 1990er Jahre). Die jeweils neuen Medien und ihre spezifischen Inhalte wurden dabei häufig selbst zum Gegenstand von Skandalen, da ihnen gefährliche moralische Grenzüberschreitungen zugeschrieben wurden.6 Zweitens sind dies Phasen, in denen das journalistische Selbstverständnis sich verstärkt wandelte. Mit der Jahrhundertwende um 1900 können wir die erste Professionalisierung des Journalistenberufs ausmachen (Requate 1995), zu Beginn der sechziger Jahre etablierte sich der kritische Journalismus (von Hodenberg 2006) und um 2000 verfestigte sich ein kommerziell orientierter, dafür aber eher unpolitischer Journalismus (Meyen & Riesmeyer 2009). Dieser mediale Wandel ging drittens mit politischen Umbrüchen in dieser Zeit einher, die anscheinend Skandale förderten. Ende des 19. Jahrhunderts korrespondierte die Skandalwelle in den meisten westlichen Ländern mit der Demokratisierung und forcierten Parteibildung, insbesondere mit dem Aufstieg neuer oppositioneller Parteien wie den Sozialdemokraten. Um 1960 können wir in den meisten westlichen Ländern eine Liberalisierung und Pluralisierung der politischen Kultur ausmachen sowie den Aufbruch bestehender Milieus. Die 1980er stehen hingegen in vielen Ländern einerseits für eine konservative Wende, die das Konfliktpotential für Skandale erhöhte, andererseits für einen Umbruch der bisherigen Parteienlandschaft, wie es etwa der Aufstieg 6
Vgl. für das kommerzielle Fernsehen der 1990er Pundt (2008: 349).
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der GRÜNEN oder von nationalliberalen Parteien in den Nachbarländern belegt. Einiges deutet darauf hin, dass es im Zuge der Jahrtausendwende erneut zu einem Wandel der politischen Kultur kam, der durch die Krise der bisherigen Großparteien und eine neuartig große Wechselwählerschaft gekennzeichnet ist. Diese politischen Umbrüche in Zeiten von Skandalkonjunkturen gingen viertens mit grundsätzlichen Verschiebungen im kulturellen Wertgefüge einher. So gelten die Jahrzehnte um 1900 als Beginn der klassischen Moderne, in der insbesondere in den Großstädten neue Lebensweisen und Weltdeutungen die bisherigen Verhaltensregeln herausforderten. Ähnliches lässt sich für die Zeit ab 1960 postulieren, die als Phase einer fundamentalen Liberalisierung gesehen wurde (Herbert 2002), die offensichtlich ebenfalls Skandalisierungen förderte. Auch wenn für die Gegenwart die zugeschriebenen Werthaltungen noch stark differieren (‚Postmoderne‘, ‚Erlebnisgesellschaft‘ etc.), scheint sich in jedem Fall eine Pluralisierung abzuzeichnen, die ebenfalls das Aushandeln von Werten intensivierte. Gerade diese Koinzidenz des medialen, kulturellen und politischen Wandels dürfte in den benannten Phasen jeweils das Aufkommen von Skandalen begünstigt haben. Kaum Skandale finden wir dagegen in Phasen mit besonders starken außenpolitischen Konflikten wie den 1930er bis späten 1950er Jahren. Der Zweite Weltkrieg, aber auch der Kalte Krieg, dürften die Sehnsucht nach einer nationalen Einheit gestärkt und skandalisierende Vorwürfe und Empörungen abgebremst haben. Es ist auffällig, dass beispielsweise in den ganzen 1950er Jahren kein Bundesminister aus Adenauers Regierungen wegen eines Skandals zurücktreten musste. Der Skandal um die NS-Vergangenheit von Vertriebenenminister Theodor Oberländer markierte dann 1960 die anbrechende Skandalwelle und die neue Verletzbarkeit der Spitzenpolitiker. Der Rücktritt Franz Josef Strauß folgte im Zuge der Spiegel-Affäre kurz darauf. Genauere Erkenntnisse über das Bedingungsgefüge von Skandalen erhält man auch, wenn man Demokratien unterschiedlicher Epochen vergleicht. Eine fünfte opportunity structure für das Aufkommen von Skandalen scheint der Grad der Polarisierung in der politischen Kultur zu sein. Auffälligerweise gab es etwa in der Weimarer Republik im Vergleich zu heute wenige Skandale, aber dafür sehr viele Skandalisierungen. Dies erklärt sich auch aus der differenten politischen Kultur: Skandale bedürfen zwar des Pluralismus, eine sehr starke politische Polarisierung bremst hingegen ihre Entfaltung. In der Weimarer Republik standen sich die politischen Lager teilweise so polar gegenüber, dass Vorwürfe und Enthüllungen völlig überzogen formuliert wurden, was ihre Glaubwürdigkeit minderte. Zudem misstrauten sich die politischen Lager generell so sehr, dass wechselseitige Enthüllungen oft lediglich als politische Kampagnen wahrgenommen wurden, was sie letztlich auch waren (vgl. Nieden &
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Reichardt 2004).7 Wenn auch abgeschwächt galt ähnliches für das Jahrzehnt nach 1968, als Medien und Politik sich erneut polarisierten. Die zahllosen Skandalisierungen gegen Brandt und Strauß, inklusive publizierter Liebesaffären, verpufften hier in gewisser Weise an der Spaltung der Öffentlichkeit (Bösch 2003: 141). Umgekehrt förderte die dazu vergleichsweise konsensuale politische Kultur, die sich um 2000 ausmachen lässt, das Aufkommen von Skandalen. Da weite Teile der Bevölkerung weniger auf einzelne Lager festgelegt sind, sind sie auch eher bereit, sich über Lagergrenzen hinweg zu empören. So sorgte etwa die CDU-Spendenaffäre auch in Kreisen der Christdemokraten für Unmut, und der Missbrauch durch katholische Geistliche empörte auch Katholiken. Gerade diese weitreichende Empörung ermöglichte erst folgenreiche Skandale mit Rücktritten. Insofern lässt sich bilanzieren, dass für das Aufkommen von Skandalen ein gewisser Pluralismus von Nöten ist, eine starke Polarisierung der Gesellschaft hingegen hinderlich. Obgleich Medienumbrüche mit einer Zunahme von Skandalen einhergingen, waren es nicht die jeweils neuen Medien, die vornehmlich die Empörung anstießen. So wurden um 1900 zwar prominente Skandale wie die ‚DreyfusAffäre‘ oder der Skandal um den Hauptmann von Köpenick gleich verfilmt (Müller 2005: 219). Das neue Medium Film verbreitete jedoch, ebenso wie die nun gedruckten Fotos, eher die Empörung. Angestoßen wurden die Skandale aber durchweg vom ‚alten‘ Medium Zeitung, das nun ein neues Profil gewann. Ähnliches gilt für die Skandalwellen seit 1960. Fernsehen und Internet verstärkten eher die Dynamik von Skandalen, die weiterhin klassische Printmedien ins Rollen gebracht hatten. Ihr Auftreten führte jedoch zu neuen Konkurrenzsituationen, in denen sich Medien durch sensationelle Meldungen und eigenständige Recherchen zu profilieren suchten. Zugleich veränderten sie jeweils die Geschwindigkeit der Nachrichten, die Techniken der Darstellung und der journalistischen Arbeit, was auch den Wandel von journalistischen Ethiken bei Enthüllungen beeinflusst haben dürfte. Die jeweils neuen Medien übernahmen dabei mitunter Techniken und Darstellungsformen der beteiligten Printmedien; so etwa die investigative Recherche in TV-Nachrichtenmagazinen wie Panorama und in Internet-Blogs wie Wir in NRW bei den Skandalisierungen von Jürgen Rüttgers im Landtagswahlkampf 2010 oder Wikileaks zum Irak-Krieg. Beide Medien konnten durch neue Kommunikationsformen den Journalismus im Zuge von Skandalen verändern, etwa 7
Die Skandale und Kampagnen in der Weimarer Republik sind, bis auf wenige Ausnahmen (Barmat und Sklarek), bislang kaum erforscht. Vgl. hierzu jedoch den Beitrag von Klein in diesem Band sowie ein laufendes Projekt zum Barmat-Skandal von dem Münchner Historiker Martin Geyer.
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durch die audiovisuelle Wiederholung diskreditierender Aussagen und Handlungen und die erhöhte Geschwindigkeit der Live-Übertragung. Gerade bei Verbraucherskandalen, die Normbrüche in Behörden und Unternehmen aufzeigen, haben Fernsehmagazine sicher eine wichtige Bedeutung gewonnen. Dennoch stammen die zentralen Enthüllungen auch bei Skandalen der Gegenwart überwiegend aus der Welt der ‚alten‘ Printmedien. Selbst die im Fernsehen oft gesendeten Missstände gegenüber Verbrauchern werden nur selten zu Skandalen mit breiter Empörung, und dies zumeist nur durch die Selektion der Printmedien. Im Politikbereich hierarchisieren die Nachrichtensendungen wie die tagesschau dagegen eher Meldungen über Missstände, als dass sie diese selbst recherchieren. Die erstaunlicherweise anhaltende Schlüsselstellung der Printmedien ist erklärungsbedürftig. Hier scheint die Art ihrer Speicherfähigkeit ein entscheidendes Kriterium zu sein. Politiker, Journalisten, aber auch andere Eliten der Gesellschaft beginnen ihren Tag mit einer umfassenden Presseschau, die in der Politik Presseausschnittsammlungen komprimieren. Obgleich die Parteien und Journalisten auch den Rundfunk beobachten, ist die Presse damit die Beobachtungsinstanz, die durch das Zusammenspiel ihrer Stimmen die Öffentlichkeit verkörpert. Schon Ende des 19. Jahrhunderts waren es daher die Presseausschauen, die Politiker zu Reaktionen drängten (zahlreiche Beispiele in Bösch 2009). Vorwürfe in gedruckter Form scheinen sie dadurch wesentlich nachhaltiger zu treffen und sind besser überprüfbar. Zudem steht den Printmedien wesentlich mehr Platz zur Verfügung als den zumeist kurzen Nachrichtenbeiträgen. Der Internet-Journalismus kann dagegen bislang nicht mit den Printmedien konkurrieren, weil ihm bislang die finanziellen Ressourcen für eine personalaufwendige Recherche fehlen sowie die nötige Reputation und die Fähigkeit, ein Millionenpublikum zeitgleich auf einen Nachrichtenbeitrag zu fokussieren. Auffällig ist zudem, wie begrenzt die Zahl der Journalisten ist, die Skandale anstoßen. Bereits im späten 19. Jahrhundert trifft man auf wenige Journalisten, die einen Großteil der Skandale aufbringen, wie W.T. Stead in England oder Maximilian Harden im deutschen Kaiserreich. Ebenso begrenzt ist die Zahl der Medien, die die breite Empörung über Normverstöße auslösen – in der Bundesrepublik insbesondere der Spiegel, BILD und die Süddeutsche Zeitung. Erklären lässt sich dies mit der Ausstattung und dem Selbstverständnis der Blätter, aber auch mit der Tatsache, dass bekannten Akteuren häufiger Material zugespielt wird. Auch bei anderen Akteuren trifft man bei einer historischen Analyse häufiger auf ähnliche Namen, sei es bei den angeklagten Politikern, Anwälten oder internen Vermittlern (vgl. auch zum Folgenden jeweils Bösch 2009).
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Skandale werden oft als Herausforderung der Politiker durch die Medien gesehen, also als eine Art Machtkampf zwischen zwei getrennten Systemen. Tatsächlich zeichnet sich im historischen Längsschnitt ab, dass die Grenzen zwischen Medien und Politik meist fluider waren und sind. Dies gilt gerade für Länder wie Frankreich und Deutschland, wo der Journalismus überwiegend parteinah war (Requate 1995). Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die Skandale deshalb vielfach von Journalisten angestoßen, die in enger Interaktion mit einzelnen Politikern und Parteien agierten. Mitunter kam es zu konzertierten Enthüllungen in Parlament und Presse. Politiker im Reichstag oder Unterhaus versorgten dabei die Presse mit Artikeln oder Material. Auch heute, im Zeitalter von hochgradig professionalisierten Journalisten und Politikern, die stärker in getrennten Systemen sozialisiert sind, ist bei Skandalen von engen Verbindungen auszugehen. Viele Skandale, die scheinbar unabhängig von Medien gestartet werden, beruhen auf zugespielten Quellen von gegnerischen Parteien. Umgekehrt dienen auch Journalisten als Informanten für die Politik. Die berühmten vertraulichen Hintergrundgespräche, wie sich gerade in der Bundesrepublik Deutschland etabliert haben, sind insofern als ein Informationssystem in beide Richtungen zu verstehen, da auch Politiker dabei ‚Tipps‘ erhalten. Welche Folgen Skandale haben, entscheiden dabei nicht allein die Vorwürfe und die vorherrschenden Normen, sondern auch das jeweilige Verhalten der Beteiligten. Auffällig ist in internationaler und historischer Perspektive, dass Skandale mit schweren personellen Folgen (wie Rücktritten) vor allem durch ‚sekundäre Skandale‘ erfolgen. Weniger der Normverstoß als die öffentliche Lüge über den Vorwurf wurde immer wieder zum eigentlichen Skandalon, das dann die Anschuldigungen selbst geradezu überdeckte. Insofern kristallisiert sich durch die Skandale heraus, dass Aufrichtigkeit und Vertrauen zu einer zentralen Anforderung an Politiker wurden (Thompson 2000: 245f.). FAZIT Der Beitrag diskutierte Zugänge, um jenseits der Einzelanalyse Skandale für die historische Forschung fruchtbar zu untersuchen. Ausgangspunkt für künftige Forschungsarbeiten sollte nicht allein die Verwendung des Begriffes ‚Skandal‘ sein, sondern eine analytische Definition, die Skandale als zugeschriebene Normverletzungen eingrenzt, deren Veröffentlichung eine breite Empörung auslöst. Entsprechend bieten sich Skandale an, um in künftigen historischen Studien aus diesen Komponenten Forschungsfelder neu zu erschließen – also etwa für
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eine Geschichte des Normenwandels, der Medien, der Öffentlichkeiten und der Emotionen. Deutlich wurde, dass eine historisch-vergleichende Betrachtung von Skandalen dazu verhelfen kann, gegenwartsbezogene Einschätzungen zu differenzieren und typologische Erkenntnisse über das Aufkommen, den Ablauf und die Folgen von Skandalen zu gewinnen. Als Erklärung für das verstärkte Aufkommen von Skandalen wurden fünf extern bedingte Gelegenheitsstrukturen (opportunity structures) ausgemacht: Begünstigt werden Skandale durch einen Medienwandel, durch Veränderungen im journalistischen Selbstverständnis, durch politische Umbrüche, einen beschleunigten Wertewandel und durch eine begrenzte politische Polarisierung. Entsprechend ist vor Teleologien zu warnen, die etwa allein aus der Expansion der Medien eine kontinuierliche Zunahme der Skandale ableiten. Ohnehin zeigte sich, dass die jeweils neuen Medien zunächst eher selbst zum Gegenstand von Skandalen wurden, als dass sie diese anstießen. Dieser Ansatz relativiert die Bedeutung von Akteuren. Gerade der internationale historische Vergleich zeigt, dass man ihr verstärktes Auftreten nicht mit einzelnen umstrittenen Politikern (wie Wilhelm II. oder Helmut Kohl) oder Journalisten (wie Maximilian Harden oder Rudolf Augstein) erklären kann. Vielmehr belegt das internationale Aufkommen von Skandalen ihre Verbindung zu übergreifenden strukturellen Wandlungsprozessen. Literatur Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hg.) (1997): Schleier und Schwelle, Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. München: Fink. Bajohr, Frank (2004): Der folgenlose Skandal. Korruptionsaffären im Nationalsozialismus. In: Sabrow, Martin (Hg.): Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR. Göttingen: Wallstein, S. 59-77. Bartsch, Anne/Eder, Jens/Fahlenbrach, Kathrin (Hg.) (2007): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medien. Köln: Halem. Bergmann, Jens/Pörksen, Bernhard (2009): Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung. Köln: Halem. Boltanski, Luc et al. (2007): Affaires, Scandales, Grande Causes. De Socrate à Pinochet. Paris: Éditions Stock. Bösch, Frank (2009): Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914. München: Oldenbourg. Bösch, Frank/Borutta, Manuel (Hg.) (2006): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen seit dem 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Campus. Bösch, Frank (2004): Zeitungen im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich. In: Publizistik 49, S. 319-336.
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Hermes, Erzberger, Zeigner
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Hermes, Erzberger, Zeigner: Korruptionsskandale in der Weimarer Republik Annika Klein
Die Moselbauern erhielten billigen Zucker durch den Minister Hermes – der Herr Minister erhielt billige Weine – wer wagt es, einen Zusammenhang zu konstruieren? [...] Aber man denke, welche Kübel von Schmutz ausgeladen würden, wenn es sich um einen Sozialdemokraten handelte! Die schwerindustriell-reaktionäre Presse gäbe keinen Tag Ruhe – man weiß ja, wie sie [es] mit Erzberger seinerzeit gemacht haben, der nicht einmal Sozialdemokrat war – und man weiß es noch besser seit der Hetze gegen Zeigner. An dem Unschuldigsten bliebe bei solchem Feldzug etwas hängen! (Chemnitzer Volksstimme 7.4.1924) Hermes, Erzberger, Zeigner – diese Namen stehen für drei Korruptionsskandale, die sich in der Anfangszeit der Weimarer Republik, zwischen 1919 und 1924, abspielen. Im Zentrum der Skandale stehen der Reichsernährungs- und spätere Finanzminister Andreas Hermes (Zentrumspartei), der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (ebenfalls Zentrumspartei) sowie der sächsische Justizminister und spätere Ministerpräsident Erich Zeigner (SPD). Wie die Passage aus der Chemnitzer Volksstimme zeigt, werden die drei Fälle bereits in der zeitgenössischen Presse immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt. Dies liegt nicht nur an ihrer zeitlichen Nähe, sondern auch daran, dass mit Hermes, Erzberger und Zeigner durchweg Angehörige der Regierungsparteien in die Fälle verwickelt sind. Obwohl die Skandalierung von Korruptionsvorwürfen auch in der Weimarer Republik nicht ausschließlich Mitglieder der Regierungsparteien betrifft, erweist sie sich für diese als besonders folgenreich. Als Vertreter des noch auf recht tönernen Füßen stehenden neuen Systems müssen sie besonders um die Legitimierung ihrer Herrschaft bemüht sein. Dies macht sie anfällig für alle Vorwürfe, die im Zusammenhang mit dem Missbrauch der ihnen anvertrauten Macht stehen. Aus Korruptionsfällen oder schon aus bloßen Korruptionsvorwürfen lassen sich vor diesem Hintergrund leicht Korruptionsskandale machen.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Den größten Anteil an der Skandalierung tragen dabei die Vertreter politischer Gruppierungen, die der Republik mehr oder weniger ablehnend gegenüberstehen. Korruptionsskandale werden für sie zu einem Mittel der Destabilisierung des Systems. Die zahlreichen Reibungspunkte zwischen den einzelnen Regierungsparteien und selbst innerhalb der Parteien machen die Skandalierung von Korruptionsvorwürfen aber auch für die Vertreter der Republik zu einem probaten Mittel der Politik. Angeheizt durch immer neue Artikel in der Weimarer Tagespresse weiten sich solche Skandale daher häufig zu einer Grundsatzdebatte zwischen Gegnern und Befürwortern des ‚System Weimar‘ und seiner unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten aus, bei der das eigentliche Korruptionsdelikt zunehmend in den Hintergrund tritt. Im Folgenden sollen zunächst die drei Fallgeschichten kurz dargestellt werden. Im Anschluss daran wird analysiert, welche Motive der jeweiligen Skandalierung der Korruptionsvorwürfe zugrunde liegen, welche Strategien dabei zum Einsatz kommen und welche Erfolge die Skandalierer zu verzeichnen haben. Hermes Auf dem Kasseler Parteitag der SPD im Oktober 1920 zählt die zukünftige Entwicklung der Landwirtschaft zu den Punkten, über die besonders hitzige Debatten geführt werden. Es geht dabei um die Frage, ob und inwieweit die kriegsbedingte Zwangswirtschaft durch ein privatwirtschaftliches oder stärker sozialistisch geprägtes Modell abgelöst werden soll, ein Punkt über den auch innerhalb der Fraktion Uneinigkeit herrscht (Barclay 1986: 451-467). Der preußische Ministerpräsident Otto Braun und der Abgeordnete Ernst Heilmann üben dabei scharfe Kritik an der Politik von Reichsernährungsminister Andreas Hermes, der sich für den verstärkten Abbau der Zwangswirtschaft zugunsten eines privatwirtschaftlichen Modells und der verstärkten Einfuhr landwirtschaftlicher Güter ausgesprochen hat (Verhandlungen des Reichtags 1920a: 127A-128A).1 Braun befürwortet dagegen eine verstärkte Subventionierung der Landwirtschaft und hält eine Kombination aus Privat- und Gemeinwirtschaft auf Grund der Profitorientierung der Privatwirtschaft für nicht realisierbar. Als Beispiel für die daraus entstehende Korrumpierung führt Braun die Bestechlichkeit eines nicht namentlich genannten Beamten im Reichsernährungsministerium an. Nachdem auch Ernst Heilmann die Politik Hermes’ scharf angegriffen hat, spricht die SPD dem Minister noch auf dem Parteitag das Misstrauen aus (Parteitag der SPD 1920: 145-148, 150-151, 173). 1
Alle in Klammern abgekürzten Nachweise werden im Literaturverzeichnis ausführlich angegeben.
Hermes, Erzberger, Zeigner
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Der Vorwärts greift die Vorwürfe Brauns noch am gleichen Tag, dem 15. Oktober 1920, auf und weitet sie in den folgenden Artikeln immer mehr aus. Im Dezember schreibt er bereits von „Dutzenden solcher Fälle“ (8.12.1920). Korruption und Unterschlagung hätten im Ministerium Hermes geradezu System gehabt, neben dem von Braun erwähnten bestechlichen Beamten Erich Augustin gebe es noch eine Reihe weiterer korrupter Beamten, deren Vergehen Hermes gedeckt habe. Hermes selbst habe rechtswidrig Gelder aus der Stickstoffkasse des Ministeriums zum eigenen Vorteil für Automobile und Büromobiliar verwendet und agiere außerdem als Interessenvertretung der rheinisch-katholischen Agrarier. Nur ihrer Protektion habe er sein Amt überhaupt erst zu verdanken. Neben dem Vorwärts gehen die Presseattacken gegen Hermes vor allem von der Freiheit, dem Organ der USPD, und der kommunistischen Rote Fahne aus. Die Vorwürfe gegen Hermes werden dabei immer wieder mit scharfer Kritik an seiner Ernährungspolitik verbunden. Das Zentrumsblatt Germania und der konservative Berliner Lokal-Anzeiger, aber auch die Vossische Zeitung als Stimme des liberalen Bürgertums werten das Verhalten Brauns und die Berichterstattung der sozialdemokratischen Presse dagegen als Skandalmache und „skrupellose Wahlagitation“ (Germania 20.10.1920). Nachdem die Angelegenheit in verschiedenen Reichstagsdebatten zur Ernährungspolitik zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Braun und Hermes führt, bei denen beide Seiten die ‚Hetze‘ durch die gegnerische Presse scharf verurteilen, setzt der Reichstag schließlich am 15. Dezember 1920 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Klärung der Vorwürfe gegen den Minister ein. Obwohl dieser Ausschuss noch in den folgenden zwei Jahren mit seiner Aufgabe beschäftigt ist, nimmt die Thematisierung des Hermes-Falles in der Presse wie im Reichstag zunächst ein abruptes Ende. Der Grund ist dabei wiederum in der politischen Entwicklung zu suchen: In der Reichstagsitzung vom 15. Dezember war nicht nur der Untersuchungsausschuss gegen Hermes eingesetzt, sondern auch der Haushalt des Reichsernährungsministeriums beschlossen worden. Die von Hermes vertretene Landwirtschaftspolitik hatte sich dabei eindeutig durchgesetzt (Verhandlungen des Reichstags 1920b: 1666C1668A, 1920d: 705). Nachdem die Entscheidung in der Ernährungspolitik also zugunsten seiner Politik gefallen ist, und zwar ohne dass Hermes von seinem Posten hätte zurücktreten müssen, verliert das Schlagwort ‚Korruption im Reichsernährungsministerium‘ offensichtlich vorerst sein Skandalpotential. Im März 1922, wenige Tage nach der in Aussicht gestellten Ernennung Hermes’ zum Reichsfinanzminister, kommt es jedoch zu einer zweiten Pressekampagne gegen den Minister. Beginnend mit dem Artikel „Hermes als Empfänger von Liebesgaben?“ am 8. März 1922 veröffentlicht die Freiheit eine Serie von Artikeln, in denen sie Hermes erneut der Korruption beschuldigt. Er soll
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vom Winzerverband für Mosel, Saar und Ruwer durch billige Weinlieferungen zu Sonderkonzessionen bewegt worden sein. In den folgenden Artikeln werden nicht nur die bereits 1920 geäußerten Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfe, sondern auch die Kritik an Hermes’ Ernährungspolitik wieder aufgegriffen und mit Prognosen über seine zukünftige Tätigkeit als Reichsfinanzminister verbunden. Auch diese Pressekampagne nimmt allerdings ein abruptes Ende, nachdem sie die Ernennung Hermes’ zum Finanzminister offenbar nicht verhindern kann. Die sich anschließenden Beleidigungsklagen Hermes’ gegen den Vorwärts (März bis Juni 1921) und die Freiheit (März bis November 1922) stoßen nur noch auf geringes Presseinteresse und enden für den Minister günstig. Mit dem Vorwärts einigt er sich auf einen Vergleich, nachdem der verantwortliche Redakteur alle Vorwürfe gegen Hermes zurückgezogen hatte. Der Prozess gegen die Freiheit endet mit der Verurteilung des verantwortlichen Redakteurs Richard Hensel zu einer Geldstrafe von 10.000 Mark wegen Beleidigung und übler Nachrede, obwohl das Gericht mildernd anerkennt, dass Hermes’ Beziehungen zu den Winzern in der Tat „nicht vereinbar mit der Peinlichkeit, mit der der Beamte seine Integrität wahren und selbst den Anschein vermeiden muß“ gewesen seien (Vossische Zeitung 4.11.1922). Am 15. November 1922 schließlich spricht der Ausschuss Hermes von allen Vorwürfen frei, sowohl seine Kenntnis der Bestechlichkeit des Beamten Augustin als auch seine eigene Bestechlichkeit und den Vorwurf der Veruntreuung von Geldern betreffend (Verhandlungen des Reichstags 1920e: 6014-6025). Erzberger Matthias Erzberger war 1918 Leiter der Waffenstillstandskommission und Mitunterzeichner des Versailler Vertrages. Im Juni 1919 wird er Reichsfinanzminister und beginnt mit der Planung einer umfassenden Finanzreform. Zeitgleich beschuldigt ihn der Staatssekretär a. D. Karl Helfferich (DNVP) des Landesverrates und der Korruption. Der sich anschließende Schlagabtausch zwischen Helfferich und Erzberger erweist sich für letzteren nicht zuletzt deshalb als besonders brisant, weil er Spiegelbild einer früheren Auseinandersetzung zwischen den beiden Gegnern ist: Als junger Abgeordneter hatte sich Erzberger in den Kolonialskandalen 1904 – ebenfalls auf dem Wege einer Pressekampagne – als Ankläger gegen Korruption und Unwahrheit hervorgetan und dabei auch Karl Helfferich scharf angegriffen (Leitzbach 1998: 297-306; Williamson 1971: 6267).
Hermes, Erzberger, Zeigner
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Die Auseinandersetzung zwischen Erzberger und Helfferich spielt sich zunächst vor allem in der Presse ab, da Helfferich kein Mitglied der Nationalversammlung ist und Erzberger somit nicht direkt konfrontieren kann. Helfferich veröffentlicht zwischen dem 1. und dem 23. Juni 1919 die Artikelserie „Fort mit Erzberger“ in der Kreuzzeitung, Erzberger bzw. seine Mitarbeiter antworten in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Nachdem Helfferich die Artikel beider Seiten, zusammen mit weiterem Material in der ebenfalls „Fort mit Erzberger“ betitelten Flugschrift zusammenfasst, verklagt ihn Erzberger im September 1919 wegen Beleidigung.2 In dem von Januar bis März 1920 stattfindenden Prozess werden eine Vielzahl einzelner Punkte behandelt, die zum Teil auf den bereits in der Presse bzw. der Flugschrift geäußerten Vorwürfen basieren, zum Teil aber auch von Helfferich während des Prozesses neu eingebracht werden. Hauptsächlich geht es jedoch um zwei Komplexe: den Vorwurf der „Vermischung politisch-parlamentarischer Tätigkeit mit eigenen Geldinteressen“3 sowie den der gewohnheitsmäßigen Unwahrhaftigkeit. Helfferich wirft Erzberger insbesondere vor, er sei auf Grund seiner Befürwortung eines Friedensschlusses und der Unterzeichnung des Versailler Vertrages ein „Reichsverderber“ (Helfferich 1920: 3, 66, 73, 74) und Landesverräter. Nachdem er zu Kriegsbeginn zunächst ein überzeugter Annexionist gewesen sei, habe Erzberger durch seine Friedensresolution im Juli 1917 maßgeblich zur Niederlage Deutschlands und der für das Reich so ungünstigen Art des Friedensschlusses beigetragen. Erzbergers Positionswechsel sei dabei durch seine privaten Geldinteressen und nicht durch seine Sorge um das Wohl des Staates begründet gewesen. In seiner Doppelfunktion als Reichstagsabgeordneter und Vorstandsmitglied der Thyssen A.G. habe er Thyssens Annexionswünsche im Reichstag vertreten, solange er ein Gehalt von diesem bezogen habe. Erst nach seinem Ausscheiden bei Thyssen habe er sich von dieser Position abgewandt. Auch in anderen Fällen habe er sich in seinen Entscheidungen durch seine Verbindungen zu verschiedenen Konzernen beeinflussen lassen, ein Verhalten, dass Helfferich als „politisch-parlamentarische Korruption“ bezeichnet (Erzberger-Prozeß 1920: 15). Die Verbindung von Korruptionsvorwürfen mit der Beschuldigung, Erzberger habe entscheidende Wendungen im deutschen Kriegserfolg und den Friedensverhandlungen zu verantworten, beschert dem Prozess ein großes Echo in der Presse und trägt gleichzeitig zu deren extremer Polarisierung bei. Gespalten in Anhänger der Republik und damit Befürworter von Erzbergers Friedensmaßnahmen versus Gegner der Republik und Anhänger Helfferichs wird der Ton der Prozessberichterstattung zunehmend schärfer. Am 26. Januar 1920, also noch während des Prozesses, verübt der Fähnrich Oltwig von Hirschfeld, nach eigener 2 3
Landesarchiv Berlin: Erzberger vs. Helfferich, A Rep. 358-01, Nr. 69, Bd. 1, 2-3. Landesarchiv Berlin: Erzberger vs. Helfferich, A Rep. 358-01, Nr. 69, Bd. 4, 1.
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Aussage beeinflusst durch die Berichterstattung des Berliner Lokal-Anzeigers, ein Revolverattentat auf den Minister, mit dem Ziel ihn (politisch) „unschädlich“ zu machen.4 Da Erzberger nur in die Schulter getroffen wird, kann der Prozess jedoch fortgesetzt werden, und der Minister nimmt schon nach kurzer Zeit wieder an den Verhandlungen teil. Am 12. März 1920 verurteilt das Gericht Karl Helfferich wegen „fortgesetzter übler Nachrede durch Verbreitung von Schriften in Tateinheit mit fortgesetzter wörtlicher Beleidigung“ zu einer Geldstrafe in Höhe von 300 Mark (Erzberger-Prozeß 1920: 995), einer im Vergleich zu anderen Beleidigungsprozessen recht niedrigen Summe.5 Trotzdem betrachtet das Gericht den Wahrheitsbeweis als „im Wesentlichen erbracht“, obwohl dies konkret nur für zehn der insgesamt 43 einzeln verhandelten Punkte zutrifft (Erzberger-Prozeß 1920: 1053-1055). Noch während des Prozesses war die Steuererklärung Erzbergers aus dem Charlottenburger Finanzamt verschwunden und am 22. Februar 1920 verbunden mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung in den rechtsstehenden Hamburger Nachrichten veröffentlicht worden. Erzberger legt daraufhin sein Amt als Finanzminister nieder und bittet um Einleitung des Verfahrens gegen sich selbst. Dieses Verfahren wird zwar am 30. Juni aus Mangel an Beweisen eingestellt (Verhandlungen des Reichstags 1920c: 2095D), die Untersuchungen über Erzbergers Steuererklärung ziehen sich aber noch bis August 1921 hin. Ein endgültiger Abschluss wird jedoch, ebenso wie die Versuche Erzbergers, in die Politik zurückzukehren, durch ein zweites, tödliches Attentat am 26. August verhindert. Es ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht gelungen, Erzberger eine wissentliche Steuerhinterziehung nachzuweisen oder sein angeblich ins Ausland verschobenes Vermögen aufzufinden (Epstein 1959: 484-489). Obwohl diese Fälle nicht mehr in direktem Zusammenhang mit den ursprünglichen Vorwürfen gegen den Minister stehen, werden sie in der Presse – je nach politischem Standpunkt der Zeitungen – als eine Fortführung der ungerechten Hetze gegen Erzberger oder als ein weiteres Anzeichen der Korrumpiertheit Erzbergers bzw. des gesamten Regierungssystems betrachtet und tragen dazu bei, dass die Diskussion um Erzberger bis zu seiner Ermordung in der Öffentlichkeit lebendig bleibt.
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Landesarchiv Berlin: Oltwig v. Hirschfeld wegen Attentates auf Matthias Erzberger, A Rep. 35801, Nr. 2016. Siehe hierzu wiederum den oben geschilderten Prozess Hermes’ gegen die Freiheit.
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Zeigner Erich Zeigner, ab 1921 sächsischer Justizminister, führt als solcher die Praxis der Gnadengesuche, der Umwandlung von Gefängnis- in Geldstrafen, ein. Im März 1923 wird er sächsischer Ministerpräsident in einer aus SPD und KPD bestehenden Koalitionsregierung, bleibt dabei aber zunächst auch Leiter des Justizministeriums. Nachdem Zeigner schon in seiner Regierungserklärung das Verhältnis von Reichsregierung und Reichswehr scharf kritisiert, beginnen sich die Beziehungen zwischen der sächsischen und der Reichsregierung zunehmend zu verschlechtern. Im Herbst 1923 befürchtet die Reichsregierung außerdem einen Aufstand der von der KPD bewaffneten ‚Proletarischen Hundertschaften‘, also einen linken Putsch, in Sachsen. Die Situation eskaliert als Zeigner Anfang Oktober 1923 zwei KPD-Mitglieder in sein Kabinett aufnimmt und sich trotz mehrmaliger Aufforderung weigert, diese wieder zu entlassen. Mitte Oktober marschiert daraufhin zunächst die Reichswehr in Sachsen ein, am 29. Oktober wird Zeigner schließlich durch Reichspräsident Friedrich Ebert unter Anwendung der Reichsexekutive seines Amtes enthoben (Schmeitzner 1994: 104).6 Am 1. November 1923, also nur wenige Tage nach der Absetzung Zeigners, erstattet der deutschvölkische Rechtsanwalt Georg Melzer bei der Staatsanwaltschaft sowohl Anzeige gegen den Schmied Friedrich Möbius, der „aus der angeblichen oder wirklichen Vermittlung von Begnadigungen der sächs. Justizhoheit unterstehender Personen ein Gewerbe“ mache, als auch gegen einen „ungetreuen Beamten im sächsischen Justizministerium“.7 Zeigner wird dabei zunächst nicht namentlich genannt. Aus der Aussage Melzers ergibt sich jedoch, dass dieser bereits seit Anfang 1922 einen „Schlag“ gegen den Justizminister geplant hatte, nachdem er durch seine Klienten, für die er oft auch Gnadengesuche aufsetzte, von den Aktivitäten Möbius’ und Zeigners erfahren hatte. Als er Anfang 1923 mit der Verteidigung zweier Mitarbeiter der Leipziger Neuesten Nachrichten, die Zeigner in einem Artikel „Korruption und ähnliches“ vorgeworfen hatten, beauftragt wird, sieht Melzer die Gelegenheit zur Überführung des Justizministers gekommen. In Vorbereitung des Prozesses hatte er bereits mehrere Zeugen befragt und umfangreiche Ermittlungen angestellt. Nachdem Zeigner jedoch Anfang Oktober die Strafanträge gegen die beiden Mitarbeiter der Leipziger Neuesten Nachrichten zurückzieht, entschließt sich Melzer, selbst Anzeige zu erstatten. Zeigner wird daraufhin am 21. November verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis Leipzig gebracht.8
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Vgl. auch Bundesarchiv Berlin: Akten betreffend Sachsen, Bd. 3, R 43 I/2309, 280. Hauptstaatsarchiv Dresden: Verfahren gegen Möbius/Dr. Zeigner, 11018, Nr. 1507, 1. Hauptstaatsarchiv Dresden: Verfahren gegen Möbius/Dr. Zeigner, 11018, Nr. 1507, 1-17.
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Der Prozess gegen Zeigner und Möbius beginnt am 14. März 1924. Er findet damit parallel zu dem Hochverratsprozess gegen Adolf Hitler und Erich Ludendorff in München statt. Vergleiche zwischen den beiden Prozessen drängen sich damit geradezu auf und generieren ein entsprechendes Presseinteresse, das weit über Sachsen hinausreicht. Zeigner wird vorgeworfen, er habe als Gegenleistung für die Bewilligung von Gnadengesuchen Bestechungen angenommen. Bei den Antragstellern dieser Gesuche handelt es sich um Händler und Handwerker, die wegen kleinerer Vergehen wie Wucher oder Hehlerei zu Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. Da sie in der Regel Klein- und Familienbetriebe führen, ist die Umwandlung ihrer Gefängnis- in eine Geldstrafe für sie besonders erstrebenswert. Der Mitangeklagte Möbius soll die Verurteilten an Zeigner verwiesen und dafür einen Teil der späteren Bestechungssumme einbehalten haben. Bereits am 31. März 1924 wird Zeigner wegen der Annahme von Geld und Wertsachen als Gegenleistung für die Bewilligung der Gnadengesuche der Bestechenden zu drei Jahren Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt, sein Mitangeklagter Möbius zu zweien. Auch im Fall Zeigner wird vor allem in der Presse, aber auch durch das mehrheitlich deutschnational besetzte Gericht die Bestechlichkeit des Justizministers stets in Verbindung mit Zeigners Politik als sächsischer Ministerpräsident gebracht. So enthält die Urteilsbegründung nicht nur ein Urteil über den Justizminister, sondern auch über seine Partei und das von ihr vertretene Regierungssystem: Als mildernden Umstand erkennt das Gericht an, Zeigner sei ein „Psychopath“, der nicht zuverlässig zwischen Recht und Unrecht unterscheiden könne. Er sei daher nicht auf Grund seiner persönlichen Eignung ins Amt gekommen, sondern nur durch die „politischen Verhältnisse“, in denen die Sozialdemokratie Ministerposten unbedingt mit Parteigenossen zu besetzen suche, unabhängig davon, ob diese ihrem Amt gewachsen seien.9 Zeigners Revisionsversuche bleiben vergeblich, erst im August 1925 wird er bedingt begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen. Nach seiner Haftentlassung arbeitet Zeigner als Redakteur verschiedener sozialdemokratischer Zeitungen, bekleidet aber in der Weimarer Republik kein politisches Amt mehr (Schmeitzner 1994: 108).
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Hauptstaatsarchiv Dresden: Verfahren gegen Möbius/Dr. Zeigner, 11018, Nr. 1507, 155-156.
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Die Fälle Hermes, Erzberger und Zeigner als Skandale Obwohl es sich bei Hermes, Erzberger und Zeigner auf den ersten Blick um doch recht unterschiedliche Fälle zu handeln scheint, lässt ein Vergleich der Strategien und Motive der Skandalierung von Korruptionsvorwürfen gegen die Minister deutliche Parallelen erkennen. Als Basisdefinition des politischen Skandals soll im Folgenden die Enthüllung eines moralischen Regelverstoßes eines Politikers durch Mitglieder einer oppositionellen politischen Gruppierung, die in der Öffentlichkeit große Empörung auslöst, zugrunde gelegt werden. Diese Enthüllung geschieht mit dem Ziel, entweder die Niederlage des Beschuldigten zu erreichen, oder zumindest Schaden von sich selbst abzuwenden. Die Eckpfeiler des Skandals bildet somit die von Sighard Neckel als „Skandal-Triade“ bezeichnete Konstellation aus Skandaliertem, Skandalierer und dem Publikum, dem der Skandal berichtet wird (Neckel 1989: 58; Käsler 1991: 13; Hondrich 2002: 40). Diese Grundkonstellation ist in allen der hier geschilderten Fälle vorhanden, beginnend mit dem Regelverstoß: Die drei Minister haben nachweislich Zuwendungen von Personen angenommen, die zumindest ein gesteigertes – und dem Minister bekanntes – Interesse daran hatten, diesen zu beeinflussen. Die tatsächliche Beeinflussungsabsicht bzw. das Eingehen des Ministers auf diese Absicht wird später von den meisten Beteiligten abgestritten und ist daher vor Gericht nur schwer nachzuweisen. Trotzdem wird deutlich, dass es sich zwar möglicherweise nicht in allen Fällen um ein strafrechtliches, aber doch auf jeden Fall um ein moralisches Vergehen handelt, dessen Enthüllung wohl kaum im Interesse des Ministers lag. Im Fall von Matthias Erzberger gewinnt dieser Regelverstoß noch zusätzlich an Brisanz dadurch, dass er, der in den Kolonialskandalen 1904 die Rolle des Skandalierers, des Enthüllers von Korruption und Unwahrheit gespielt hatte, sich nun selbst in der Position des Skandalierten wiederfindet. Aber selbst im Fall Hermes, in dem das Gericht die Annahme der Weinlieferungen äußerst milde bewertet und nicht als Nachweis einer Bestechung oder auch nur einer Bestechungsabsicht erachtet, wird deutlich, dass auch von einem Politiker der Weimarer Republik eine Trennung von „Politik, Gott, Geld, Liebe“ (Hondrich 2002: 14) erwartet wird, unabhängig davon, welcher Partei er angehört. So heißt es in der Urteilsbegründung des Beleidigungsprozesses Hermes’ gegen die Freiheit: Rein objektiv betrachtet sind nämlich die Beziehungen des Nebenklägers zu den Winzern nicht vereinbar mit der Peinlichkeit, mit der der Beamte seine Integrität wahren und selbst den Anschein vermeiden muß. [...] Auf jeden Fall aber hätte der Minister seine Beziehungen zu
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Annika Klein dem Winzerverband abbrechen müssen, als er von den geringen Preisen Kenntnis erhielt, keinesfalls hätte er diese Beziehungen von neuem aufnehmen dürfen. (Vossische Zeitung 4.11.1922)
Auch die Skandalierer sind in allen drei Fällen recht klar auszumachen: Im Fall Erzberger ist es Karl Helfferich, der durch seine Artikelserien und spätere Flugschrift die Erzberger’schen Vergehen zunächst enthüllt und ihre Skandalierung dann sowohl in der Presse als auch vor Gericht durch immer neue Details vorantreibt. Im Fall Hermes geht ein erster Impuls von Otto Braun und dem Vorwärts aus, eine zweite Welle erfolgt durch die kommunistische Presse in Form der Freiheit und der Roten Fahne. Im Falle Zeigner schließlich sind es die Leipziger Neuesten Nachrichten und der deutschvölkische Rechtsanwalt Georg Melzer, die mehrere Ansätze zur Skandalierung der Korruptionsvorwürfe gegen Erich Zeigner unternehmen. Während der Skandal klar im politischen und zumindest in den Fällen Erzberger und Zeigner auch im persönlichen Interesse der Skandalierer liegt, streiten dennoch alle Skandalierergruppen entschieden ab, einen Skandal provoziert haben zu wollen. Stattdessen berufen sie sich auf ihre moralische Pflicht, die Wahrheit aufzudecken und damit das schädliche Verhalten des korrupten Politikers dauerhaft zu unterbinden (Neckel 1989: 61): [Karl Helfferich:] Nicht um Sensation zu machen, nicht um einen Skandal hervorzurufen, sondern durchdrungen von der Richtigkeit und Erweislichkeit meiner Anklage und erfüllt von der Überzeugung, dass unter allen Übeln und Krankheiten, die das deutsche Volk befallen haben, die Korruption das allerschlimmste ist; durchdrungen von der Überzeugung, daß dieses Übel mit Pech und Schwefel ausgebrannt werden muß, wo immer es sich findet, und daß es nur ausgebrannt werden kann, wenn Volk und Beamtenschaft nicht den leisesten Zweifel zu hegen brauchen, an den untadelig reinen Händen derer, die den Staat regieren. (Erzberger-Prozeß 1920: 15). Obwohl in allen drei Fällen die ursprünglichen Vorwürfe auf dem Wege eines Zeitungsartikels geäußert werden, bedarf es jedoch eines gesonderten Blicks auf die unterschiedlichen Strategien, derer sich die Skandalierer zur Diskreditierung des politischen Gegners bedienen: In den Fällen Erzberger und Hermes wird der Minister durch eine gezielte Pressekampagne solange provoziert, bis er selbst einen Beleidigungsprozess anstrengt. Dabei lassen die Skandalierer keinen Zweifel daran, dass es ihnen um die politische Unschädlichmachung des Skandalierten geht. Der Beschuldigte wird in Handlungszwang gesetzt, indem mehr
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oder weniger direkt impliziert wird, ein Ausbleiben einer Beleidigungsklage komme einem Schuldeingeständnis gleich. Im Fall Erzberger gibt Helfferich vor Gericht diese Strategie sogar unumwunden zu (Erzberger-Prozeß 1920: 24). Aber selbst wenn der so Provozierte schließlich eine Beleidigungsklage anstrengt, um sich von den Vorwürfen rein zu waschen, hat dies in einem Beleidigungsprozess der Weimarer Zeit häufig desaströse Konsequenzen: Im Rahmen des Prozesses ergibt sich für den Beklagten und die seine Seite vertretende Presse noch einmal die Gelegenheit, sämtliche Anschuldigungen ausführlich und öffentlich zu wiederholen. Hinzu kommt, dass während des Prozesses geäußerte Vorwürfe, selbst wenn sie sich im Verlaufe des Verfahrens als unwahr erweisen, nicht erneut Gegenstand einer Beleidigungsklage werden können, eine Regelung, die Siegfried Löwenstein in seinem Rechtsgutachten zum Erzberger-Prozess als einen „Freibrief“ für den Beleidiger bezeichnet (1921: 101-104). Auch aus einem gewonnenen Beleidigungsprozess folgt daher für den Betroffenen nicht zwangsläufig eine Rettung von Ruf und Karriere. Andreas Hermes stellt somit eher einen Ausnahmefall dar, sein Name wird zwar in der Linkspresse auch in späteren Jahren immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht, er lässt sich aber nicht zu weiteren Klagen provozieren, und seine Karriere trägt offenbar keinen größeren Schaden davon. Im Fall Zeigner kommt zunächst ebenfalls diese Strategie der Provokation zum Zuge: Die Leipziger Neuesten Nachrichten veröffentlichen einen Artikel, in dem Zeigner Bestechlichkeit vorgeworfen wird, dieser klagt, zieht seine Klage jedoch später zurück. Erst daraufhin erstattet der Rechtsanwalt Gustav Melzer Strafanzeige gegen Zeigner, so dass es hier nicht zu einem Beleidigungsprozess mit Zeigner als Kläger, sondern zu einem Strafprozess mit Zeigner als Angeklagtem kommt. Als Instrument der Diskreditierung politischer Gegner durch die Skandalierung von Korruptionsvorwürfen ist diese Methode des direkten Angriffs für den Beschuldigten potentiell von noch größerer Tragweite als der Beleidigungsprozess. Obwohl im Fall Zeigner höchst erfolgreich, scheitert sie aber in anderen Fällen häufig am Besitz ausreichenden Beweismaterials durch den Skandalierer bzw. an der Bereitschaft der Staatsanwaltschaft vor allem gegen rechtskonservative Beschuldigte Anklage zu erheben. Auslöser und Motive der Skandalierung In allen drei Fällen stellen jedoch die konkreten Korruptionsvorwürfe gegen den Minister nur einen Teilaspekt des Gesamtskandals dar. Schon der Zeitpunkt des Einsetzens der jeweiligen Pressekampagne ist nicht durch das Bekanntwerden der korrupten Handlungen des Ministers, sondern vielmehr durch dessen ‚Res-
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sortpolitik‘ bedingt: Erzberger hatte sich als Leiter der Waffenstillstandskommission schon mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages in konservativen Kreisen höchst unbeliebt gemacht. Im Sommer 1919 kommt es dann zwischen den langjährigen Gegnern Erzberger und Helfferich auf Grund der vom neu ernannten Finanzminister Erzberger geplanten weitreichenden Finanz- und Steuerreform erneut zum Eklat. Auch der Fall Hermes wird nicht durch das Bekanntwerden der Vorfälle im Reichsernährungsministerium ausgelöst. Entscheidend ist in diesem Fall vielmehr die von Hermes vertretene Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, mit der er sich die heftige Kritik der SPD zugezogen hatte. Auf dem Kasseler Parteitag der SPD spricht sich Otto Braun gegen die von Hermes befürwortete Privatwirtschaft aus, die Bestechlichkeit des Hermes-Beamten Augustin führt er dabei als Beispiel für die aus einem solchen Modell unweigerlich resultierende Korruption an. Neben diesen aktuellen Entscheidungen in der Landwirtschaft spielt dabei aber sicherlich auch die im Februar 1921 anstehende Landtagswahl in Preußen eine Rolle für den Zeitpunkt der Skandalierung. Die in Aussicht gestellte Ernennung Hermes’ zum Finanzminister löst 1921 dann die zweite Skandalierungswelle, diesmal durch die kommunistische Presse, aus. Im Falle Erich Zeigners ist es seine Politik als sächsischer Justizminister, in der er nicht nur die Praxis der Gnadengesuche einführt, sondern auch auf eine gezielte (Sozial-)Demokratisierung der sächsischen Justiz hinarbeitet, die seinen politischen Gegnern einen ersten Impuls gibt. Der zweite Auslöser ist seine Kabinettsbildung als sächsischer Ministerpräsident, die der Angst vor einer ‚roten Revolution‘ in Sachsen Vorschub leistet und zu seiner Absetzung führt – ein Faktor der zumindest die schnelle Behandlung von Melzers Anzeige begünstigt. Dessen am 1. November bei der Staatsanwaltschaft eingehende Anzeige erhält den Vermerk „beschleunigt zu klären“.10 Zusätzliche Sprengkraft erhält dieser zweite Aspekt des Skandals eher zufällig dadurch, dass der Prozess gegen Zeigner im März 1924 parallel zum Münchener Hitler/Ludendorff-Prozess stattfindet. Der politische Kontext spielt auch für die Thematik der Skandale selbst eine wichtige, wenn nicht sogar dominante Rolle. Politischen Skandalen wird häufig eine eher systemstabilisierende Wirkung zugeschrieben: Sie können die im Skandal diskutierten Normen bestätigen und führen in der Regel nicht zu einer Infragestellung des gesamten Systems, da nach Hondrich auch oppositionelle Gruppen „ein weitergehendes Interesse an Vertrauen in Institutionen, von denen
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Hauptstaatsarchiv Dresden: Verfahren gegen Möbius/Dr. Zeigner, 11018, Nr. 1507, 1.
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sie selber ein Teil sind“ haben (Hondrich 2002: 34-35).11 Ein Charakteristikum der Weimarer Korruptionsskandale ist jedoch genau dieser Angriff nicht nur gegen den Skandalierten bzw. seine Partei, sondern gegen das gesamte politische System:12 Von Anfang an werden dabei sowohl in der Presseberichterstattung als auch in den Reichs- und Landtagsdebatten und im Gerichtssaal die konkreten Korruptionsvorwürfe mit weitreichender Kritik an politischen Entscheidungen zu einem Gesamtbild moralischer Korruption verbunden. Es ergibt sich so die Möglichkeit, mit der Person des Ministers gleichzeitig auch seine bisherige Politik zu diskreditieren und die zukünftige zum Scheitern zu bringen. Diese Strategie funktioniert besonders gut für Skandalierer, die aus den Reihen der Gegner des Versailler Vertrages und der ‚Novemberrepublik‘ kommen und deren Rhetorik daher auch auf dieses Publikum zugeschnitten ist. Die Fälle Erzberger und Zeigner sollen nicht nur für Empörung sorgen, weil die Minister Bestechungen angenommen und dies dann später (im Falle Erzbergers unter Eid) abgestritten haben, sondern vor allem weil impliziert wird, dass ihre Bestechlichkeit und ihre sonstigen Charakterschwächen sich entscheidend zum Nachteil Deutschlands ausgewirkt haben. Im Gegensatz zu Erzbergers Umschwung in der Annexions- und Friedensfrage haben die von Zeigner bewilligten Gnadengesuche zwar keine weitreichenden politischen Auswirkungen, da es sich bei den Antragstellern nicht um Personen mit politischem Einfluss handelt. Es wird jedoch immer wieder betont, welch fatalen Schaden Zeigner der sächsischen Justiz und dem Land Sachsen allgemein dadurch zugefügt habe, dass sich ausgerechnet der oberste Landesherr als korrupt erwiesen habe. Gleichzeitig wird immer wieder auf seine Annährung an die KPD, die erheblich zur Gefährdung der nationalen Stabilität beigetragen habe, Bezug genommen. Erzberger und Zeigner werden so als typische Repräsentanten eines Systems dargestellt, das den von ihm erhobenen moralischen Anspruch nicht einhalten kann, weil es seine Vertreter auf Grund ihrer politischen Verbindungen und nicht auf Grund ihrer persönlichen Eignung ins Amt gebracht hat. Der notorische Lügner Erzberger habe sich des in ihn gesetzten Vertrauens als unwürdig erwiesen und sei daher nicht befugt, weitreichende Entscheidungen über die Finanzen seiner Mitbürger zu treffen. Der „Psychopath“ Zeigner, der nicht zwischen Recht und Unrecht entscheiden könne, sei dagegen nicht nur ein Muster11
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Hondrich (2002: 36) merkt allerdings auch an, dass es keine Garantie für diese „unterbödige Rationalität“ des Skandals gebe und sich Skandale abhängig von ihrer Anzahl und ihrem Ausmaß durchaus negativ auswirken können. Dies trifft im Fall Hermes sogar auf die SPD zu, die hier nicht nur den Minister bzw. die Zentrumspartei, sondern die von diesen vertretene, stärker kapitalistisch orientierte Politik angreift. In der Regel ist die SPD als Regierungspartei allerdings eher Angegriffene als Angreiferin.
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beispiel für den sozialdemokratischen Nepotismus, sondern geradezu selbst Opfer dieses Systems. Aber auch wenn die Skandalierung sich in den Fällen Zeigner und Erzberger eher an das rechte Ende des politischen Spektrums richtet, wird die dabei proklamierte Dichotomie zwischen altem und neuem System vor allem im Fall Erzberger auch von den Kommunisten dahingehend instrumentalisiert, dass sich dieses neue System eben auch nicht als weniger korrupt erwiesen habe als das alte. Der Fall Hermes schließlich zeigt, dass die Verbindung von Korruptionsvorwürfen und Systemkritik auch aus der Gegenrichtung funktionieren kann, selbst wenn sie nicht die Schlagkraft der beiden anderen Fälle erreicht. Auch bei Hermes wird stets die Verbindung zwischen Korruptionsvorwürfen und schwerwiegenden politischen Fehlentscheidungen in der Ernährungspolitik hergestellt. Und auch er wird, hier von Seiten beider Flügel der Sozialdemokratie und der Kommunisten, als ein Politiker dargestellt, der seinen Aufstieg weit mehr seinen parteipolitischen Verbindungen als seinen Fähigkeiten zu verdanken habe. So spielt es für die Rhetorik der Skandalierung kaum eine Rolle, aus welcher politischen Richtung die Angriffe kommen, sie funktioniert bei den rechtskonservativen Angriffen auf Erzberger und Zeigner ebenso wie bei denen der Sozialdemokraten und Kommunisten im Falle Hermes. Beide Seiten bedienen sich dabei gern einer Metaphorik, in der der korrupte Politiker als Schädling oder Krankheitssymptom dargestellt wird: Helfferich stellt Erzberger als „Krebsschaden“ dar (Helfferich 1920: 16), der das Vaterland zugrunde richte, während Heilmann vom „Volksschädling“ (Parteitag der SPD 1920: 151) Hermes spricht, der das Leben des deutschen Volkes gefährde. Mit dem Fortschreiten des Skandals geraten die ursprünglichen Korruptionsvorwürfe dabei immer mehr in den Hintergrund, häufig wird sogar betont, es gehe ja gar nicht (mehr) um die persönlichen Verfehlungen des Ministers, seine Korrumpiertheit sei eben nur ein Symptom einer tiefgehenden Zerrüttung der parlamentarischen Demokratie und damit eines Versagens der Republik. So schreibt beispielsweise die Freiheit über Hermes: „Dieser Mann muß verschwinden, nicht wegen seiner persönlichen Verfehlungen, sondern als der Träger eines Systems, das den Wiederaufbau des Kapitalismus auf dem Rücken der Massen zu bewerkstelligen sucht“ (23.10. 1920). Auswirkungen der Skandalierung Obwohl die drei Fälle in Bezug auf Motive und Strategien der Skandalierung von Korruptionsvorwürfen deutliche Parallelen aufweisen, unterscheiden sie sich doch drastisch in Bezug auf die Konsequenzen für die Beschuldigten: Erzberger
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muss als Finanzminister zurücktreten und wird das Opfer zweier Attentate, von denen das erste eindeutig, das zweite, tödliche, zumindest indirekt durch die Presseagitation gegen ihn motiviert ist. Zeigner musste sein Amt als Ministerpräsident zwar schon vor dem Beginn des Strafprozesses niederlegen, der Korruptionsskandal und die gegen ihn verhängte Zuchthausstrafe beenden seine politische Karriere in der Weimarer Republik aber endgültig. In Bezug auf den Schaden an Amt und Person sind die Auswirkungen des Skandals auf Hermes dagegen als relativ gering einzustufen. Bedeutet dies, dass im Fall Hermes der dritte Eckpunkt der Skandal-Trias, die öffentliche Empörung, fehlt? Handelt es sich um einen Skandalierungsversuch, der zwar den Regeln des politischen Skandals folgt, letztendlich aber trotzdem scheitert? In der Tat erreichen die Skandalierer ihre Ziele im Fall Hermes letztendlich nicht. Es kommt nicht zu einem Disziplinar- oder gar Strafverfahren gegen ihn, der eingesetzte Untersuchungsausschuss gelangt – obwohl er die Annahme der Weinlieferungen bestätigt – zu einem für Hermes sehr günstigen Urteil. Und auch aus dem Prozess gegen die Freiheit geht er als klarer Sieger hervor. Im Unterschied zum Fall Erzberger ist die gegen ihn gerichtete Presseagitation außerdem offenbar nicht in der Lage, genügend Druck zu verursachen, um Hermes auch nur zu einer vorübergehenden Niederlegung seiner Ämter zu zwingen: Unterstützt von den bürgerlichen Parteien stehen seiner Ernennung zum Finanzminister weder der Fall Augustin noch die unmittelbar zuvor aufgebrachte Weinlieferungs-Affäre im Wege. Hermes stellt damit einen der wenigen Fälle dar, in denen ein durch Korruptionsvorwürfe zu einer Beleidigungsklage provozierter Politiker aus diesem Prozess im Wesentlichen unbeschadet hervorgeht. Aber auch wenn es nicht gelingt, die politische Karriere des Ministers zu beenden, zeigt der Verlauf des Hermes-Falles doch, dass Hermes die typischen Schritte eines Skandalopfers vollzieht: Er versucht zunächst, durch Stellungnahmen in der Presse und im Reichstag den Schaden einzudämmen, greift dann die Skandalierer, insbesondere Braun, selbst an und beruft sich schließlich auf die „institutionelle Bearbeitung“ des Skandals durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss und die Gerichte (Neckel 1989: 75). Die durch die Korruptionsvorwürfe ausgelöste Empörung generiert also zumindest so viel Druck, dass Hermes es sich nicht leisten kann, die Vorwürfe einfach zu ignorieren, sondern auf einen durch Reichstag und Gericht legitimierten Abschluss des Skandals hinarbeiten muss. Auf Grund ihrer zeitlichen Nähe und ähnlichen Grundstruktur werden die drei Fälle – wie im Anfangszitat gesehen – bereits in der Weimarer Presse immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei dienen sie den einen als Beweis für die von rechts- und linksextremen Gruppierungen betriebene ‚Hetze‘, bei der
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die Parteizugehörigkeit und die politischen Verbindungen des Beschuldigten in der Presse wie auch vor Gericht eine ungleich höhere Rolle spielten als Ausmaß und Wahrheitsgehalt der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen. Die Gegner der Republik dagegen nutzen gerade Fälle wie Zeigner und Erzberger, um eine ‚Korruptionskontinuität‘ herzustellen und so den Beweis für die alles durchziehende und rettungslose Korrumpierung der parlamentarischen Demokratie als solcher zu erbringen. Beide Argumentationslinien tragen in Form emotionalisierter Schlagwörter wie der ‚politischen Justiz‘ und der ‚korrupten Republik‘ ihrerseits wieder ein hohes – und gern genutztes – Skandalierungspotential in sich. Literatur & Quellen Barclay, David E. (1986): The Insider as Outsider: Rudolf Wissell’s Critique of Social Democratic Economic Policies, 1919 to 1920. In: Feldmann, Gerald D./Holtferich, Carl-Ludwig/Ritter, Gerhard A./Witt, Peter-Christian (Hg.): Die Anpassung an die Inflation. Berlin, New York: de Gruyter 1986, S. 451-471. Chemnitzer Volksstimme vom 7.4.1924: Gegenstück zum Zeigner-Urteil (ohne Verfasserangabe). Epstein, Klaus (1959): Matthias Erzberger and the Dilemma of German Democracy. Princeton: Princeton University Press. Erzberger-Prozeß (1920): Der Erzberger-Prozeß. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen im Beleidigungsprozeß des Reichsfinanzministers Erzberger gegen den Staatsminiser a.D. Dr. Karl Helfferich. Berlin: Carl Schmalfeldt Verlag und Druckerei GmbH. Freiheit vom 8.3.1922: Hermes als Empfänger von Liebesgaben? (ohne Verfasserangabe). Freiheit vom 23.10.1920: Die Korruption als Regierungssystem (ohne Verfasserangabe). Germania vom 20.10.1920: Um Hermes (ohne Verfasserangabe). Helfferich, Karl (1920): Fort mit Erzberger. Berlin: Berliner Kommissionsbuchhandlung GmbH. Hondrich, Karl Otto (2002): Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Käsler, Dirk (1991): Der Skandal als Politisches Theater. In: Albers, Hans Peter/Castello Leonarda/Germis, Carsten/Käsler, Dirk/Kelting, Peter-Jakob/Klupp, Matthias/Redlin, Sabine/Rimek, Jochen/Schmidt, Franz-Josef/Smeddinck, Frank/ Steiner, Thomas (Hg.): Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 9-68. Leitzbach, Christian (1998): Matthias Erzberger. Ein kritischer Beobachter des Wilhelminischen Reiches. 1895-1914. Frankfurt a.M.: Lang. Löwenstein, Siegfried (1921): Der Prozess Erzberger-Helfferich. Ein Rechtsgutachten. Ulm: Süddeutsche Verlags-Anstalt.
Hermes, Erzberger, Zeigner
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Von der Möglichkeit eines Neuanfangs: Der politische Skandal und Hannah Arendts Gesellschaftskritik Michael Holldorf
Nach eigener Auskunft hat Hannah Arendt in ihrer Jugend- und Studienzeit kein tiefgehendes Interesse für zeitgeschichtliche Ereignisse, Politik oder gar politische Theorie entwickelt (vgl. Arendt 1998: 29). Sie studiert in den 1920er Jahren Philosophie, griechische Philologie und protestantische Theologie, in ihrer Dissertation behandelt sie den Liebesbegriff bei Augustinus. Eine intensive Beschäftigung mit politischer Theorie beginnt Arendt erst nach der Konfrontation mit dem totalitären Regime der Nationalsozialisten, in deren Verbrechen sich für Arendt das Versagen jeder Tradition praktischer Philosophie offenbart hat. Die aus dieser Erfahrung formulierte politische Theorie, die in der Absicht, einen neuen Bezugsrahmen für menschliches Zusammenleben zu entwickeln, verfasst wurde, bildet den Hintergrund der folgenden Überlegungen zu dem Phänomen des politischen Skandals. Im Lichte dieser Theorie verbleiben lediglich zwei Bedeutungsvarianten des Skandals. Einerseits erscheint der politische Skandal als ein austauschbares und beliebiges Instrument der Unterhaltung, er wird nicht mehr als originäres Phänomen wahrgenommen, sondern zu einem bloßen Konsumgut degradiert. Andererseits kann der Skandal zu einem positiven Moment für die Bürger werden, indem er eine republikanisch-freiheitliche Lebensweise reanimiert. Um diese Bedeutungsvarianten des politischen Skandals herleiten und begründen zu können, werden in einem ersten Schritt Hannah Arendts politiktheoretische Grundannahmen skizziert, aus denen sie eine Kritik an der modernen Gesellschaft ableitet. Diese Kritik gilt es näher zu betrachten, um daran anknüpfend die vorgeschlagenen Varianten des politischen Skandals beleuchten zu können. Im Falle des Skandals als Konsumgut werden ergänzend die Überlegungen Adornos und Horkheimers zur Kulturindustrie herangezogen, da auf diese Art die Perspektive auf das Konsumgut Skandal erweitert und um einen entscheidenden Aspekt ergänzt werden kann.
K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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THEORETISCHE GRUNDANNAHMEN Angesichts des „Ruin[s] unserer Denkkategorien und Urteilsmaßstäbe“, der für Hannah Arendt in den Gräueltaten der Konzentrationslager „ans Licht gebracht worden ist“ (Arendt 1994: 122), verbleiben für sie aufgrund des Mangels an anschlussfähigen Denktraditionen nur noch die Menschen, ihre Beziehungen untereinander und ihre Erfahrungen als Bezugspunkt für eine politische Theorie. Der Mensch als Bezugspunkt geht bei Arendt allerdings nicht mit einer universell gültigen Idee des Menschen einher, da zum einen unter den vielfältigen Versuchen, ein Menschenbild zu entwerfen, keiner ein höheres Maß an Wahrheit für sich beanspruchen kann als andere; zum anderen verhindert die menschliche Pluralität – also die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit – allgemeingültige Aussagen zu einer Idee des Menschen. In Ermangelung eines universellen Menschenbilds muss Arendt sich den Menschen auf anderem Wege nähern: „Was ich daher im folgenden vorschlage, ist eine Art Besinnung auf die Bedingungen, unter denen, soviel wir wissen, Menschen bisher gelebt haben, und diese Besinnung ist geleitet [...] von den Erfahrungen und den Sorgen der gegenwärtigen Situation“ (Arendt 2002: 13). Ihr Vorhaben ist vorgeblich „etwas sehr Einfaches, es geht mir um nichts mehr, als dem nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind“ (Arendt 2002: 14). Dieses scheinbar einfache Vorhaben entfaltet Arendt in ihrem 1958 erstmals erschienenen Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben, in dem sie mit Hilfe eines Rekurses auf verschiedene philosophische Theorien und deren Rekonstruktion ein anthropologisches Modell in Form einer Phänomenologie menschlicher Lebensbedingungen und menschlichen Tätigseins entwickelt. Die von Arendt ausgemachten Grundbedingungen einer jeden menschlichen Existenz sind die Lebendigkeit bzw. Leiblichkeit, die Weltlichkeit und die Pluralität. Wobei Lebendigkeit die basale Tatsache des Lebens selbst meint, die Weltlichkeit im Sinne einer Weltangewiesenheit menschlicher Existenz zu verstehen ist, der Mensch also einer von Menschen errichteten Welt bedarf, die ihn vor der Natur schützt, und Pluralität zunächst als die „Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“, verstanden werden kann (Arendt 2002: 17). Diesen Grundbedingungen korrespondieren nach Arendt das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln als menschliche Grundtätigkeiten. Die Grundtätigkeiten entsprechen den Grundbedingungen, indem sie die je spezifischen Anforderungen, welche die Grundbedingungen an menschliche Existenz herantragen, zu erfüllen suchen.
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Im Folgenden soll Hannah Arendts Charakterisierung der Grundbedingungen und der diesen korrespondierenden Grundtätigkeiten skizziert werden, um das Fundament zu legen, auf dem Arendts Kritik der Gesellschaft verständlich wird.1 Lebendigkeit und Arbeit Die erste von Hannah Arendt ausgemachte Grundbedingung menschlicher Existenz ist die basale Tatsache des Lebens selbst. Der Mensch ist lebendig, am Leben, woraus für jeden Menschen die Notwendigkeit entsteht, das eigene Überleben und das Fortbestehen seiner Gattung zu sichern. Die Lebendigkeit definiert somit die Rahmenbedingungen menschlicher Existenz in doppelter Hinsicht, indem sie sich zum einen hinsichtlich der menschlichen Gattung im Kreislauf von Leben und Tod manifestiert, zum anderen jedem Menschen die Aufrechterhaltung des Stoffwechselprozesses zum Zwecke des individuellen Überlebens abverlangt. Aus der Grundbedingung der Lebendigkeit bzw. Leiblichkeit entwickelt Arendt ein aus heutiger Sicht ungewöhnliches Arbeitsverständnis. Arbeit charakterisiert sie zunächst in Anlehnung an Marx als einen zyklischen Prozess zwischen Mensch und Natur, in dem der Mensch der Natur Ressourcen entnimmt, diese zum Zwecke der Nahrungsaufnahme aufbereitet, konsumiert und die Abfallprodukte wieder in die Natur ausscheidet. Im Gegensatz zu Marx spricht Arendt der Arbeit aber jede Form der Produktivität ab, da sich für Arendt das Arbeiten einzig auf die Notwendigkeit der Lebensaufrechterhaltung bezieht und sich in dieser auch erschöpft. Die dem Arbeiten in der Moderne zugeschriebene Produktivität spricht sie einzig der Tätigkeit des Herstellens zu, das als weltbildende und schaffende Tätigkeit auf die Grundbedingung der Weltangewiesenheit der Menschen reagiert. Arbeit ist ausschließlich Zerstörung von Natur zum Zwecke des Konsums. Weiterhin charakterisiert Arendt Lebendigkeit und auch Arbeit als rein private Angelegenheiten, da subjektive Gefühle und Empfindungen wie Lust und Schmerz sich nicht objektivieren lassen und somit immer Selbsterfahrungen bleiben. Jede menschliche Existenz, die sich vorrangig an Lebendigkeit und Arbeit orientiert, stellt nach Arendt eine verkürzte Existenz dar, die im Extremfall zu einer radikalen Weltlosigkeit führt, da eine solche Existenz der eigenen Privatheit verhaftet bleibt und es ihr an der Teilnahme an weltlichen, öffentlichen Dingen mangelt. Auch würde auf diese Weise ein Leben in Unfreiheit geführt, da 1
Das Herstellen und die Weltlichkeit werden im Abschnitt zur Lebendigkeit und Arbeit lediglich gestreift, da eine detaillierte Behandlung für die Intention dieses Textes nicht notwendig ist. Für eine nähere Auseinandersetzung siehe Arendt (2002: 161ff.) und dazu Gutschker (2002: 148ff.).
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die Tätigkeit des Arbeitens lediglich der Notwendigkeit des ‚Überleben-Müssens‘ entspricht, passiv auf sie reagiert und somit eine unfreie Tätigkeit ist. Dieses Arbeitsverständnis ist aus heutiger Sicht ungewöhnlich, da es zu eng gefasst zu sein scheint, um tatsächlich alle Facetten ‚modernen Arbeitens‘ fassen zu können. Allerdings kann Arendt aufgrund der ihr eigenen theoretischen Konsequenz2 moderne gesellschaftliche Zustände, in denen sich die heutige ausdifferenziertere Form des Arbeitens vollzieht, nicht anerkennen. Aus dieser theoretischen Konsequenz heraus konnten Arbeit und Konsum von ihr nur als ein sich immer wiederholender, privater und unproduktiver Prozess gedacht werden, der lediglich der Notwendigkeit des ‚Überleben-Müssens‘ entspricht, sich darin erschöpft und somit als unfrei gelten muss. Ein Leben in Freiheit ist für Arendt in der privaten Einsamkeit von Arbeit und Konsum nicht vorstellbar, sondern immer angewiesen auf die Anwesenheit anderer Menschen und das gemeinsame Handeln in dieser Pluralität. Pluralität und Dignität des Handelns Die Pluralität als Grundbedingung menschlicher Existenz ist zunächst als die Tatsache zu verstehen, dass der Mensch nicht allein auf der Welt ist, sondern unter der Anwesenheit anderer Menschen und gemeinsam mit ihnen lebt. Weiter ausdifferenziert meint Pluralität, wie gesagt, die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit der Menschen. Gleichheit ist im Sinne einer Gleichartigkeit zu verstehen, die sowohl die zwischenmenschliche Kommunikation als auch ein generationenübergreifendes Verständnis ermöglicht. Arendt betont aber auch, dass es sich lediglich um eine Wesensgleichheit handelt und Menschen nicht die reproduzierten Abbilder eines Urtyps sind, so dass Pluralität neben der Gleichartigkeit auch Verschiedenheit als „das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird“ bedeutet (Arendt 2002: 213). Dieses absolute Unterschiedensein eines jeden von jedem macht Kommunikation erst notwendig, da Menschen sich aufgrund ihrer Verschiedenheit über differente Meinungen, Überzeugungen und Lebenspläne austauschen und verständigen müssen. Ohne eine solche Verschiedenheit wäre Sprache in der komplexen Form, wie die Menschheit sie entwickelt hat, nicht notwendig, und eine rudimentäre Form der Verständigung würde ausreichen. Unter dieser Bedingung der Pluralität treffen Menschen aufeinander, begegnen sich und können der nach Arendt einzig freien Tätigkeit des Handelns nachgehen. Handeln – und zum Handeln gehört bei Hannah Arendt immer das 2
Die hier angesprochene theoretische Konsequenz wird im Abschnitt zu Hannah Arendts Gesellschaftskritik wieder aufgenommen.
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Sprechen – gilt als freie Tätigkeit, da die Menschen im Handeln ohne vermittelndes Material zueinander in Kontakt treten und vor allem, weil es als einzige Tätigkeit innerhalb der Tätigkeitentrias nicht auf eine Notwendigkeit reagiert. Handeln entspricht zwar der Grundbedingung der Pluralität, anstelle des Handelns ist aber auch ein bloß passives Sich-Verhalten denkbar. In einem Extremfall wäre auch eine diktatorische Unterdrückung der Pluralität möglich. Handeln entspricht also der Pluralität, ist aber kein notwendiger, sondern ein freier Umgang mit dieser Bedingung. Weiterhin fällt das Handeln einzig dem Menschen zu. Auch Tiere können im Arendtschen Sinne arbeiten und ihr Leben aufrechterhalten, demiurgische Götter sind zumindest im Mythos in der Lage, Dinge und Welten herzustellen, allein das Handeln ist ein menschliches Privileg, die eigentlich menschliche Tätigkeit. Aus diesen Gründen kommt dem Handeln innerhalb der Tätigkeitentrias von Arbeiten, Herstellen und Handeln ein anthropologischer Vorrang zu. Diese Vorzugswürdigkeit und hohe Wertschätzung des Handelns geht auf zwei von Arendt untersuchte Bedeutungsdimensionen des Handelns zurück. Handeln stammt vom griechischen praxis, das wiederum in das Anfangen (archein) und das Vollziehen (prattein) einer Handlung zerfällt. Während Arendt aus dem Aspekt des Anfangens eine existentialistische Bedeutung für das Handeln ableitet, kommt dem Vollzug – also dem gemeinsamen Ausführen der Handlung – eine Bedeutungsdimension zu, die sich auf die Erfahrung von Freiheit bezieht. Existentielle Bedeutung erfährt das Handeln, da sich die Menschen in der Pluralität des öffentlichen Raums offenbaren und auszeichnen, ihre Einzigartigkeit hervorkehren, sprechend und handelnd den anderen zeigen können, wer sie sind. Arendt spricht in diesem Zusammenhang von einer zweiten Geburt des Menschen, der aus der Dunkelheit der privaten Sicherheit in das Licht des öffentlichen Raums tritt und einen Neuanfang wagt: „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür übernehmen“ (Arendt 2002: 215). In dieser Präsentation auf der Bühne der Öffentlichkeit liegt aber auch immer ein Wagnis, da der einzelne Mensch den anderen zwar zeigen kann, wer er ist, allerdings nicht beeinflussen kann, welches Bild er hinterlässt und somit immer die Möglichkeit besteht, einen unerwünschten Eindruck zu erwecken. Weiterhin liegt in jeder Initiative, in jedem Neuanfang unter der Bedingung der Pluralität, eine gewisse Kontingenz, da die Absicht, die mit der Initiative verfolgt wird, nicht notwendigerweise auch das Ergebnis gemeinsamen Handelns und Sprechens sein muss. Denn jegliche Diskussion im öffentlichen Raum wird immer von vielen geführt, ist nie berechenbar, sondern ergebnisoffen und für denjenigen, der die Initiative ergriffen
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hat, immer mit dem Risiko verbunden, in einem gänzlich anderen Ergebnis zu enden (vgl. Arendt 2002: 239f.). Der Lohn, dieses „Wagnis der Öffentlichkeit“ (Arendt 1998: 70) einzugehen, besteht nun darin, sich zu offenbaren und auszuzeichnen und so in einer Welt, der es an metaphysischen und transzendenten Sicherheiten mangelt, eine Spur zu hinterlassen, die das eigene Leben überdauert. Die Möglichkeit durch die eigene Tat und das eigene Wirken im öffentlichen Raum etwas zu hinterlassen, das den eigenen Tod überdauert, macht die existentielle Dimension des Handelns aus. Da aber jeder Neuanfang riskant und ungewissen Ausgangs ist, in ihm stets das Wagnis der Öffentlichkeit mitschwingt, liegt die eigentliche Vorzugswürdigkeit des Handelns im prattein, im gemeinsamen Vollzug der Handlung. In jeder gemeinsamen Handlung machen die teilnehmenden Menschen die Erfahrung von Freiheit; die Freiheit, die eigene Welt durch gemeinsames Sprechen und Handeln gestalten zu können. Die hier erfahrene Freiheit ist eine positive Freiheit zur Partizipation am politischen Zusammenleben und den Angelegenheiten der Gemeinschaft. Handeln und Sprechen verfolgen zwar immer ein Ziel, aber der eigentliche Sinn des Handelns besteht nicht im Erreichen des Ziels, sondern Handeln gilt als Selbstzweck, wird um des Handelns willen vollzogen und wertgeschätzt. Somit kann der einzelne über das Ziel, das hinter jedem Neuanfang steht, unter der Bedingung der Pluralität nicht verfügen, den Sinn des Handelns als die Erfahrung von Freiheit erfährt er aber in jeder Handlung. Zu jedem Zeitpunkt, an dem Menschen sprechend und handelnd die ihnen gemeinsame Welt gestalten, entsteht zwischen ihnen ein öffentlicher politischer Raum, in dem sich Freiheit manifestiert. Aus diesen theoretischen Grundannahmen leitet Hannah Arendt eine Kritik der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse ab, vor deren Hintergrund dem politischen Skandal eine unerwartete Bedeutung zukommt. HANNAH ARENDTS GESELLSCHAFTSKRITIK Bevor sich Hannah Arendts Kritik der Gesellschaft gewidmet werden kann, bedarf es noch einiger Vorbemerkungen. Als der wesentliche Bezugspunkt für Arendts Gesellschaftskritik muss die praktische Philosophie des Aristoteles angesprochen werden,3 da in der aristotelischen Darstellung des attischen Gemein3
„Niemand hat in unseren Tagen die Idee der antiken Polis so entschieden ergriffen und hell leuchten gemacht wie Hannah Arendt“ schreibt Dolf Sternberger zu Arendts Idee der Politik und ihren
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wesens mit der Trennung von oikos und polis, also der Trennung des privaten Raums der Notwendigkeiten und des öffentlichen Raums der Freiheit, bereits wesentliche Aspekte arendtscher Theorie angelegt sind. Die aristotelische Beschreibung des Zusammenlebens der Bürger im antiken Athen umfasst auch eine politische Ordnung, in der die von Arendt präferierte Hierarchie der Tätigkeiten mit dem Handeln an der Spitze realisiert ist. Die freien Bürger Athens, die in der polis sprechend und handelnd ihre gemeinsame Welt gestalten, können als paradigmatisch für Arendts politische Theorie angesehen werden. An dieser Stelle ist allerdings anzumerken, dass dieses Leben in Freiheit und ohne die Last der alltäglichen Notwendigkeiten den Bürgern nur möglich war, indem sie diese Notwendigkeiten aus ihrem öffentlichen Lebensraum in die Privatheit des oikos externalisierten, in der Frauen und Sklaven alles Nötige besorgten, um das Leben der Bürger aufrechtzuerhalten. Die oikodespotischen Herrschaftsverhältnisse ermöglichen somit erst das Leben der freien und vor dem Gesetz gleichen Bürger in der polis. Es ist nahezu überflüssig zu betonen, dass es Arendt nicht um die Reanimation dieser Externalisierung auf einen Sklaven- und Frauenstand geht, sondern die ursprüngliche Hierarchie der menschlichen Tätigkeiten mit dem Handeln an der Spitze der Tätigkeitentrias einer Wiederbelebung bedarf. In Vita activa zeigt Arendt, dass diese Hierarchie der Tätigkeiten, die in der polis noch verwirklicht war, schon sehr früh zu verwischen beginnt. Der entscheidende Einschnitt vollzieht sich für Arendt allerdings erst mit der Etablierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Gesellschaft ist für Arendt wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass das Ökonomische – also die Tätigkeiten des Haushalts (oikos) – zu der dominanten Kategorie menschlicher Existenz avanciert. Der öffentliche Raum, der vormals der Politik und dem gemeinsamen Handeln vorbehalten war, wird in Gesellschaft zunehmend von den privaten Tätigkeiten des Arbeitens bzw. Konsumierens durchsetzt. Die unfreie und niedrigste Tätigkeit des Menschen steigt zu der alles bestimmenden Tätigkeit auf. Arbeit marginalisiert und korrumpiert die anderen Tätigkeiten. Handeln und Sprechen werden somit von Arbeit und Konsum an den Rand gedrängt und in den Fällen, in denen man ihnen noch nachgeht, verfolgt man sie mit einer Arbeitsmentalität, so dass zwar noch hergestellt und gehandelt wird, allerdings zum Zwecke des Konsums. Arbeit wird unter diesen Bedingungen nicht mehr als eine Notwendigkeit, das eigene Leben aufrecht zu erhalten, verstanden, sondern als sinnstiftende und identitätsbildende Tätigkeit angesehen und somit zum Selbstzweck. Es geht nicht mehr um das ‚Überleben-Müssen‘, sondern um Selbstverwirklichung im Job, so dass in gesellschaftlichen Verhältnissen das unfreie Arbeiten als ursprünglich Bezug zur aristotelischen Philosophie in Die versunkene Stadt (1979). Weiterhin zu Arendt und Aristoteles Gutschker (2002).
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niedrigste Tätigkeit den höchsten Rang einnimmt und die höchste Wertschätzung erfährt. Wenn Hannah Arendt von ihrer eingangs schon erwähnten „Sorge um die Welt“4 spricht, bezieht sie sich wesentlich auf diese Hierarchieverschiebung innerhalb der Tätigkeiten. Die Menschen haben es nahezu völlig aufgegeben, der eigentlich menschlichen Tätigkeit des gemeinsamen Handelns und Sprechens nachzugehen und verlieren sich stattdessen in einem Zyklus von Arbeit und Konsum. Der Mensch ist auf dem Weg, zu einem Animal laborans zu werden, dem es als Exemplar der Gattung versagt bleibt, sich auszuzeichnen oder etwas Besonderes zu sein. Der Mensch als Sklave im antiken Athen und ebenso als Jobholder in der Moderne ist als Animal laborans aus der Welt, sprich aus dem Beziehungsgefüge handelnder Personen, verbannt. Indem es allein dem Prozess der Lebenserhaltung und -steigerung dient – im Wechsel zwischen mühseliger Erarbeitung und genussreicher Einverleibung –, ist es wesentlich auf die eigene Körperlichkeit und die ihr innewohnenden Bedürfnisse verwiesen. (Breier 2001: 33) Hat der Mensch erst gänzlich verlernt zu handeln und diese höchste menschliche Tätigkeit vollends ersetzt durch ein am eigenen ökonomischen Vorteil orientiertes Verhalten – reagiert er also nur noch auf ökonomische Notwendigkeiten anstatt einen eigenen Neuanfang in die Welt zu bringen –, wird die Arbeitsgesellschaft zu einer „Gesellschaft von Jobholders“, in der es den Anschein hat, als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ‚beruhigt‘ desto besser und reibungsloser ‚funktionieren‘ zu können. (Arendt 2002: 410f.) In einer Arbeits- und Konsumgesellschaft, die „von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren“ verlangt (Arendt 2002: 410), verbleiben für den politischen Skandal zwei Erscheinungsvarianten, die im Folgenden behandelt werden.
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Eine detailliertere Behandlung dieses Aspekts findet sich bei Breier (2007: 29ff.).
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DER POLITISCHE SKANDAL AUS GESELLSCHAFTSKRITISCHER PERSPEKTIVE In sozialen Verhältnissen, in denen das Ökonomische das dominante Kriterium der menschlichen Existenz geworden ist, Arbeit und Konsum den öffentlichen Raum besetzt halten und die anderen Tätigkeiten eine korrumpierte Randexistenz fristen, ist der politische Skandal in zwei Varianten denkbar. Hat sich die Arbeitsmentalität endgültig über alle Lebensbereiche gelegt, bleibt für den politischen Skandal – wie für jedes Phänomen, das nicht direkt zum eigentlichen Arbeitsprozess gehört – zunächst nur die Rolle eines austauschbaren Konsumguts, das in der Gesellschaft von Jobholdern von diesen in gleicher Art verbraucht wird, wie andere Konsumgüter auch. Der politische Skandal als Konsumgut Bei einem nur arbeitenden Menschen, dessen einzige Tätigkeit darin besteht, den eigenen Lebensprozeß und den seiner Familie zu erhalten und zu steigern durch Erweiterung des Konsums und Hebung des Lebensstandards, schiebt sich das Vergnügen an die Lebensstellen, wo in dem biologisch bedingten Kreislauf der Arbeit – „dem Stoffwechsel des Menschen mit der Natur“ (Marx) – ein Hiatus entsteht. (Arendt 1958: 1124) Besteht das Leben des Menschen nur noch aus den zwei komplementären Ausprägungen der Lebensaufrechterhaltung, erleidet auch seine Wahrnehmung der Welt und ihrer Phänomene eine Bestimmung durch die Kategorien der Arbeit und des Konsums. Jedes Phänomen, das nicht unmittelbar dem Lebensbereich des Arbeitens zugeordnet ist, wird zu einem Objekt des Konsums, wobei diejenigen Konsumgüter, die man sich nicht direkt einverleiben kann, zum Zwecke der Unterhaltung und des Vergnügens verbraucht werden. „Sie dienen, wie man sagt, dazu, die Zeit zu vertreiben, das aber heißt, sie dienen dem Lebensprozess der Gesellschaft, von dem sie nicht anders verzehrt werden als andere Konsumgüter auch“ (Arendt 1958: 1123). Arendt verortet diese Güter in der gegenwärtigen Massenkultur, in der eine „Vergnügungsindustrie“ (Arendt 1958: 1124) sich darauf spezialisiert hat, diese Produkte der Unterhaltung in die Welt zu bringen. Wird der politische Skandal von der Vergnügungsindustrie massenkulturell aufbereitet, wird auch er zu einem Objekt des Konsums, das der Unterhaltung und dem Vergnügen dient. Arendt hält fest, dass die Vergnügungsindustrie unproblematisch ist, solange sie
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sich auf ihre eigenen Verbrauchsgüter beschränkt, sich also originär unterhaltsamen und vergnüglichen Dingen widmet. Nimmt sie sich aber anderer Dinge an, die ursprünglich zu einem anderen Zweck erschaffen wurden, wie beispielsweise der Kunst, verliert das Vergnügen seine Unschuld und es erhebt sich die große Gefahr, daß der Lebensprozeß der Gesellschaft, der wie alle Lebensprozesse prinzipiell unersättlich alles in den biologischen Kreislauf seines Stoffwechsels bezieht, was ihm nur überhaupt geboten wird, die Kulturgüter im wahrsten Sinne des Wortes zu verzehren beginnt. (Arendt 1958: 1124) Unter Bedingungen der Massenkultur, in der die Massen möglichst kurzweilig unterhalten werden wollen, kommt zeitgeschichtlichen Ereignissen analog zu Erzeugnissen der Kultur die Stellung eines möglichst vergnüglichen Konsumguts zu. Diese Degradierung aller Phänomene zu Objekten des Konsums wird am Beispiel des politischen Skandals besonders deutlich, da sich an ihm die Weltsicht des Animal laborans, die es in jeder Lebenssituation an den Tag legt, in besonderer Weise exemplifizieren lässt. Politische Skandale – ganz allgemein verstanden als ein als Normenverletzung wahrgenommenes Ereignis innerhalb einer Wertegemeinschaft, in das politische Akteure oder Gegenstände involviert sind – werden vom Animal laborans in der Massenkultur nicht als solche rezipiert, sondern als Konsumgut zu einem Mittel der Unterhaltung und des Zeitvertreibs. Das Skandalöse wird weder erkannt, noch findet eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Ereignis statt. Stattdessen lässt man sich von dem durch die Vergnügungsindustrie aufbereiteten Phänomen berieseln und vertreibt sich die von der Arbeit freie Zeit mit Empörung um der Empörung willen. Die Ursache des Skandals, die Hintergründe und mögliche Konsequenzen werden nicht reflektiert oder gar debattiert, sondern konsumiert wie eine beliebige Vorabendserie. Und ebenso wie diese sich schnell abnutzt, immer wenigstens scheinbar neue Erzählstränge einweben muss, um sich nicht zu verbrauchen und die Zuschauer vor den Fernsehern zu halten, muss auch der Skandal als Konsumgut abseits von der eigentlichen Normenverletzung mit weiteren Details ausstaffiert werden, um sich im schnelllebigen Konsumverhalten des zu unterhaltenden Animal laborans nicht allzu schnell zu verbrauchen. Konsumgüter in Form von Nahrung und Vergnügen sind „notwendig für den Lebensprozeß, für seine Erhaltung und Erholung“ und werden in diesem Prozess auch verbraucht, so dass eine Notwendigkeit besteht, sie „immer wieder von neuem produziert und dargeboten“ zu bekommen, „soll dieser Prozeß nicht überhaupt zum Stillstand kommen“ (Arendt 1958: 1124). In Massenkulturen bedarf es somit einer erhöhten Schlagzahl an skandalisierten Ereignissen, die
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dann sowohl vergnügt als auch empört konsumiert werden können. Die Beliebigkeit, die ohnehin ein wesentliches Merkmal des Skandals als Objekt des Konsums ist, nimmt aufgrund dieser erhöhten Schlagzahl an skandalisierten Phänomenen noch zu. Nicht zuletzt darum wird der Skandal von den Konsumenten nicht als originäres Phänomen wahrgenommen, mit dem sich auseinandergesetzt werden muss, das hinterfragt, gemeinsam diskutiert und analysiert werden will, um aus einer solchen öffentlichen Debatte mögliche Rückschlüsse für das gemeinsame Normengefüge abzuwägen; vielmehr verweilen die Jobholder der Massenkultur in der Sicherheit des Privaten, lassen sich von dem vergnüglichen Schauspiel berieseln und besiegeln somit ihren Rückzug aus der Öffentlichkeit, mit dem eine Absage an aktive politische Partizipation sowie an gemeinsames Handeln und Sprechen einhergeht. Der politische Skandal existiert nicht mehr als Skandal, sondern tritt unter Bedingungen der Massenkultur nur noch in Form eines austauschbaren Konsumguts in Erscheinung.5 Der politische Skandal in der Kulturindustrie Auch wenn sich erste Ansätze zu einer Theorie der Kulturindustrie bereits in den musiksoziologischen Schriften Adornos ausmachen lassen (vgl. Müller-Doohm 1996: 200), ist der Begriff „Kulturindustrie“ eng mit der Dialektik der Aufklärung verbunden, in der Adorno und Horkheimer den Topos erstmalig als ein globales und ausdifferenziertes System der Kulturvermittlung unter Bedingungen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse einführen (vgl. Adorno 2003: 337). Unter dieses System lassen sich „sowohl die Medien der Massenkommunikation, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Schallplatte, Film und Fernsehen als auch solche Institutionen der Kulturverbreitung wie das Theater, die Museen, Festivals, der Buchmarkt, aber auch diverse Sparten des Sports und andere Einrichtungen des Hobby- und Unterhaltungswesens“ fassen (Müller-Doohm 1996: 200). Die Güter der Kulturindustrie werden unabhängig von ihrem Gebrauchswert als Ware hergestellt und von vornherein für den Markt konzipiert und produziert. Während Kultur und Kunst im bürgerlich-liberalen Zeitalter noch ein durch „Kraft zur Negativität“ (Gebuhr 1998: 98) geprägtes kritisches Potential bargen, verschieben sich im Spätkapitalismus durch die auf den Markt gerichtete Produktion der Gehalt und die Qualität der Kulturgüter. Authentische Erscheinungen der Kultur finden sich nur noch in einem zurückgehenden avantgardistischen Bereich, der zunehmend von der Kulturindustrie verdrängt wird. Diese kulturin5
Siehe als exemplarische Belege dieser These die Beiträge von Bulkow & Petersen sowie von Gegner in diesem Band.
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dustriellen Waren büßen jede Authentizität ein, dienen lediglich als Tauschwert auf dem Markt und werden somit zu Produkten, die – „mehr oder minder planvoll hergestellt“ – „auf den Konsum der Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmen“ (Adorno 2003: 337). Sie unterliegen wie alle Tauschwerte im Kapitalismus dem Primat des Profits. „Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sie sind es durch und durch“ (Adorno 2003: 338). Diesen Kulturwaren kommt keine Originalität mehr zu, sie haben ihren Grund nicht mehr in sich selbst, sondern im Profit und aufgrund dieser ihnen eigenen kommerziellen Natur verflachen sie zu oberflächlichen, trivialen und konformistischen Produkten von kurzer Haltbarkeit. Unter diesen Bedingungen geht jedes kritische Potential verloren; es wurde „das geopfert, wodurch sich die Logik des Werks von der des gesellschaftlichen Systems unterschied“ (Adorno & Horkheimer 1981: 109). Die entscheidende Erweiterung der Perspektive auf das Konsumgut Skandal wird allerdings erst deutlich, wenn man die Kategorien des Amusements und der Manipulation innerhalb der Kulturindustrie näher in den Blick nimmt. Die Kulturindustrie reagiert zwar auf die Bedürfnisse und Vorlieben der Konsumenten, orientiert sich also an deren Nachfrage an Amusement, diese scheinbar harmlose Form ihrer Befriedigung ist aber zu kritisieren. Amusement erfüllt unter kulturindustriellen Bedingungen eine soziale Funktion, die sich aus der Dialektik von Arbeit und Freizeit herleiten lässt. „Freizeit ist an ihren Gegensatz gekettet. Dieser Gegensatz […] prägt ihr selbst wesentliche Züge ein“ (Adorno 2003: 645). Der die Freizeit prägende Gegensatz ist die Arbeit und „[u]nterstellt man einmal den Gedanken von Marx, in der bürgerlichen Gesellschaft sei die Arbeitskraft zur Ware geworden und deshalb Arbeit verdinglicht“ (Adorno 2003: 647) und nimmt gleichzeitig Freizeit als durch Arbeit geprägt an, so herrschen in der Freizeit die gleichen Regeln und Bedingungen, die auch den Arbeitsprozess dominieren. Freizeit dient der Erholung und der Reproduktion von Arbeitskraft, in ihr „setzen sich [demnach] die Formen des nach dem Profitsystem eingerichteten gesellschaftlichen Lebens fort“ (Adorno 2003: 647), so dass der Mensch in Freizeit und Arbeit auf seine Rolle als die Ware Arbeitskraft festgelegt ist. Das „reine Amusement, […] das entspannte sich Überlassen an bunte Assoziation und glücklichen Unsinn“ wird immer weiter zurückgedrängt durch das „gängige Amusement“ der Kulturindustrie (Adorno & Horkheimer 1981: 128). Gängiges Amusement wiederum „ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein“ (Adorno & Horkheimer 1981: 123). Folglich ist die Bedürfnisstruktur, die durch gängiges Amusement bedient wird, durch Arbeit fremdbestimmt, wodurch Rückkopplungen dieser Form von Unterhaltung auf die Verhaltensmuster der Konsumenten entstehen:
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Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amusement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengungen kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgleisen sich bewegt. Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen. (Adorno & Horkheimer 1981: 123) Die Erfüllung der Vorlieben und Interessen der Konsumenten durch die Kulturindustrie ist somit nur scheinbar eine harmlose, da die zu bedienenden Interessen von dem kapitalistischen System fremdbestimmt sind: Die Gewalt der Industriegesellschaft wirkt in den Menschen ein für allemal. Die Produkte der Kulturindustrie können darauf rechnen, selbst im Zustand der Zerstreuung alert konsumiert zu werden. Aber ein jegliches ist ein Modell der ökonomischen Riesenmaschinerie, die alle von Anfang an, bei der Arbeit und der ihr ähnlichen Erholung, in Atem hält. (Adorno & Horkheimer 1981: 114) Es handelt sich also nicht um eine schlichte Reaktion auf die Konsumentenbedürfnisse, sondern um eine aktive Manipulation eben dieser. „In der Tat ist es ein Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschließt“ (Adorno & Horkheimer 1981: 109). Diese Form der Manipulation ist nicht im Sinne gezielter Steuerungsmaßnahmen einzelner Akteure zu verstehen, sondern als Konsequenz der gesellschaftlichen Struktur und der in ihr herrschenden Produktionsweise, die auch die Kultur infiziert. Dieser dem System innewohnende manipulative Charakter äußert sich zum einen darin, dass die Menschen auf ihre Konsumentenrolle reduziert werden, sich ihr Leben also nur noch in der Sphäre des Konsums abspielt. Diese Sphäre wird von den Individuen nicht selbstbestimmt gestaltet, sondern stellt die Fortsetzung der Bedingungen materieller Produktionsprozesse in der von Arbeit freien Zeit dar. Zum anderen ist Kulturindustrie trivial, sie produziert nur oberflächliche Güter ohne tatsächlichen Inhalt oder Substanz, so dass den Konsumenten nur Banalitäten und Nichtigkeiten serviert werden. Ihre Produkte sind auf Gewinn
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zielende Waren, die nicht originär den Lebenszusammenhängen der Menschen entsprungen sind. Aus diesem Grund sprechen Adorno und Horkheimer bewusst nicht von einer ‚Massenkultur‘, sondern ersetzen diesen Begriff durch den der ‚Kulturindustrie‘, um die Deutung auszuschließen, dass es sich bei diesen gesellschaftlichen Prozessen „um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst“ (Adorno 2003: 337). Kulturindustrie ist kein kultureller Ausdruck der Bevölkerung, sondern die Verdrängung originär kultureller Ausdrucksweisen durch gleichförmige, standardisierte und auf den Markt gerichtete Kulturwaren. Die Massen sind „nicht das Primäre, sondern ein Sekundäres, Einkalkuliertes; Anhängsel der Maschinerie. Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt“ (Adorno 2003: 337). Aufgrund dieser doppelten Manipulation, die sich über die allgegenwärtige Präsenz kulturindustrieller Güter vollzieht, muss die Kulturindustrie als „Integration von oben“ verstanden werden (Adorno 2003: 337). Die permanente Berieselung bleibt nicht folgenlos. Standardisierte und immer gleiche Produkte führen gemeinsam mit den Arbeitsbedingungen und deren Fortsetzung in der Freizeit zu einer Verkümmerung menschlicher Phantasie: Die Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten heute braucht nicht auf psychologische Mechanismen erst reduziert werden. Die Produkte selber [...] lähmen ihrer objektiven Beschaffenheit nach jene Fähigkeiten. Sie sind so angelegt, daß ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, daß sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbietet, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will. (Horkheimer & Adorno 1981: 113f.) Die doppelte Manipulation der Kulturindustrie, die den Menschen auf seine Rolle als Konsumenten bzw. als Ware Arbeitskraft reduziert und ihn gleichzeitig mit oberflächlichen, standardisierten und inhaltsleeren Produkten umzingelt, entfaltet in den Konsumenten eine konformistische Wirkung. Die Wiederholung des Immergleichen bedeutet auch „Ausschluß des Neuen“ (Horkheimer & Adorno 1981: 120), so dass das banale Amusement tendenziell die Möglichkeit des Menschen blockiert, sich die Welt als eine Andere vorzustellen. Ein phantasievolles Vorstellen wird den Menschen durch eine Verstetigung ihrer Konsumentenrolle und durch die permanente Präsenz der trivialen Monotonie des Amusements genommen, wodurch jegliches kritische Potential in der Gesellschaft dauerhaft unterbunden wird. Die scheinbar harmlose Erfüllung des
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menschlichen Bedürfnisses nach Amusement wird in ihrer kulturindustriellen Variante zu einem systemstabilisierenden Instrument, das Konformität fördert, Kritik unterbindet und sich letztlich zu einem „Mittel von Herrschaft und Integration“ entwickelt (Adorno 2003: 653). Die Perspektive auf den politischen Skandal als Konsumgut wird unter kulturindustriellen Bedingungen somit um ein systemstabilisierendes Element ergänzt. Der politische Skandal, der in gegenwärtigen Gesellschaften massenmedial also kulturindustriell Verbreitung findet, ist weiterhin als Konsumgut charakterisiert, erhält aber zusätzlich eine gesellschaftliche Funktion. Als ein Objekt der Massenmedien wird die Aufbereitung und Präsentation des politischen Skandals auf den Konsum der Menschen zugeschnitten. Da diese Befriedigung des Bedürfnisses nach Amusement aber durch Arbeit fremdbestimmt, daher trivial, oberflächlich und für die Konsumenten in keinster Weise geistig fordernd ist, führt die kulturindustrielle Präsentation des politischen Skandals nicht zu einer Debatte um das Skandalöse,6 sondern dient einzig der Erholung für zukünftige Arbeit. Die inhaltsleere und kaum anspruchsvolle Form der Darbietung regt nicht zur Kritik an, sondern verstetigt die „Verkümmerung der Phantasie“, so dass nicht zu erwarten ist, dass ein politischer Skandal zu einer Auseinandersetzung über bestehende Normengefüge führt, sondern der Skandal als Ware der Kulturindustrie vielmehr konformistische Wirkung entfaltet und jedes Potential zur Negativität und Kritik im Vorhinein aus der Aufbereitung des Skandals getilgt wird. Hier ist zu betonen, dass die Präsentation des Skandals nicht aktiv manipuliert wird, um eben diese konformistische Wirkung zu erreichen, sondern systemische Zwänge der Profitmaximierung eine Form der Darbietung fordern, die langfristig die Kritikfähigkeit aus der Gesellschaft tilgt. Nicht nur, dass in der Kulturindustrie der politische Skandal nicht mehr als originäres Phänomen wahrgenommen wird, er wird aufgrund der systemischen Zwänge darüber hinaus in ein affirmatives Element sozialer Integration verkehrt. So entsteht unter kulturindustriellen Bedingungen die paradoxe Situation, dass der politische Skandal, der mit seiner Aufdeckung und Verbreitung in der Öffentlichkeit Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen evozieren müsste, zu einem systemstabilisierenden, den status quo bejahenden und verfestigenden Element wird:7
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Siehe gerade hierzu nochmals die Analyseergebnisse von Bulkow & Petersen. Weiterhin erhöht die oberflächliche Rezeption politischer Phänomene die Anfälligkeit der Gesellschaft für populistische Agitatoren und Bewegungen. Denn der nicht-kritische Umgang mit Politik entfaltet nicht nur für den status quo eine stabilisierende Wirkung, sondern ist darüberhinaus weniger in der Lage, Populismus als solchen zu identifizieren und lässt sich leichter instrumentalisieren.
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Michael Holldorf Die Personalisierung von Sachfragen, die Vermischung von Information und Unterhaltung, eine episodische Aufbereitung und die Fragmentierung von Zusammenhängen schießen zu einem Syndrom zusammen, das die Entpolitisierung der öffentlichen Kommunikation fördert. Das ist der wahre Kern der Theorie der Kulturindustrie. (Habermas 1998: 46)
Dieser „wahre Kern“ der Kulturindustrie mit all seinen Konsequenzen tritt am Beispiel des politischen Skandals besonders deutlich zu Tage. Der politische Skandal als Katalysator Nimmt man aber an, dass die Menschen nicht völlig in ihrer Rolle als Animal laborans aufgehen und dass die Kulturindustrie das Kapillarsystem der Gesellschaft noch nicht allumfassend durchdrungen hat, die oben formulierten gesellschaftskritischen Überlegungen zwar beunruhigende Tendenzen darstellen, aber nicht für sich beanspruchen können, eine alleingültige Darstellung menschlicher Existenz zu sein – und diese Annahme ließe sich anhand verschiedener Ereignisse, Lebensformen und Ausdrucksweisen stützen –, so kann der politische Skandal auch eine positive Wirkung auf das Zusammenleben der Menschen haben. Die in die Privatheit zurückgezogene Existenz und der permanente Konsum von Waren des Amusements lassen sich auch dahingehend verstehen, dass die Bürger eines Staates den Verlust der gemeinsamen Freiheitserfahrung und der Möglichkeit einen Neuanfang in die Welt zu setzen zumindest unbewusst als Mangel wahrnehmen, den sie durch Unterhaltung und Konsum zu kompensieren suchen. Vor diesem Hintergrund könnte ein politischer Skandal insofern als Katalysator dienen, als er gemeinsames politisches Handeln und Sprechen anstoßen und so eine republikanisch-freiheitliche Lebensweise im Sinne Hannah Arendts reanimieren könnte. Um einen politischen Skandal könnte eine Debatte entstehen, die das bisher marginalisierte gemeinsame Handeln wiederbelebt. Die Normenverletzung wäre in diesem Fall so gravierend, dass sie nicht Empörung um des Amusements willen verursacht, sondern zu einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem Skandal führt. Die Bürger würden öffentlich Position zu dem Ereignis beziehen und miteinander über die Normenverletzung und die Norm selbst diskutieren. Verschiedene Sichtweisen auf den Skandal könnten sich herauskristallisieren, so dass eine Gruppe möglicherweise den die Norm verletzenden Akteur verteidigt und die Norm selbst in Frage stellt, während andere die Norm verteidigen und für die in den Skandal involvierten Personen Sanktionen fordern. Aber auch bei
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einer einhelligen Beurteilung des politischen Skandals würde sich an die Debatte um den Skandal ein gemeinsames Handeln der Bürger anschließen, in welchem die Ergebnisse der Diskussion umgesetzt werden und das möglicherweise die Bedingungen des Zusammenlebens verändert. In diesem gemeinsamen Handeln würde darüber hinaus auch der bisher im Wesentlichen unbewusst erfahrene und durch Konsum zu kompensieren gesuchte Mangel ins Bewusstsein treten und als Defizit an politischer Partizipation identifiziert. Die wiederentdeckte Erfahrung von Freiheit im gemeinsamen politischen Wirken und die Identifikation des Mangels würden Maßnahmen nach sich ziehen, die einer erneuten Marginalisierung gemeinsamen Handelns und Sprechens vorbeugen. Denkbar sind verschiedene systemische und politische Reformen, die neue Formen bürgerlicher Beteiligung etablieren und die Möglichkeit, in einem öffentlichen Raum politisch aktiv zu werden, dauerhaft offen halten. Der politische Skandal löst in dieser Variante also einen Prozess aus, der sich mit der Normenverletzung des Skandals tatsächlich auseinandersetzt, sie als solche reflektiert und hinterfragt sowie zu gemeinsamen Handlungen motiviert. Am Ende des Prozesses steht die Erfahrung einer politischen Debattenkultur, in der sich auch das Defizit an politischem Tätigsein offenbart, so dass in letzter Konsequenz dieser Prozess in Reformen mündet, die politische Partizipation wieder in den Alltag der Bürger integrieren und verstetigen. In dieser Variante wäre der politische Skandal ein positives Moment für die Bürger, das sie aus der Lethargie ihrer Privatheit rüttelt und die Passivität der permanenten Berieselung durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Skandalösen ersetzt. Die Form des katalytisch wirkenden politischen Skandals ist sowohl in einer kontrollierten als auch in einer unkontrollierten Variante denkbar. Als unkontrolliert kann im Normalfall die Wirkung eines politischen Skandals charakterisiert werden, in dem eine Normenverletzung an die Öffentlichkeit gelangt, die ursprünglich verschleiert werden sollte. Diese Normenverletzung löst Empörung in der Gesellschaft aus; innerhalb der Öffentlichkeit wird eine intensive Debatte um das Ereignis und das betroffene Normengefüge geführt, an deren Ende eine Beurteilung des Skandals und mögliche Konsequenzen stehen. Dabei ist es offen, ob die involvierten Akteure sanktioniert werden und/oder die betroffene Norm hinterfragt und reformuliert wird. In der kontrollierten Variante des politischen Skandals hingegen soll eben diese Reformulierung der Norm erreicht werden. Die Normenverletzung wird bewusst – im Sinne einer Provokation – begangen, um über deren Skandalisierung ein bestimmtes Thema in die öffentliche Diskussion einzubringen. Die Norm wird aktiv von den Akteuren zur Disposition gestellt, um einen Themenkomplex in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu heben oder mit der Absicht die Norm zu verändern.
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Unabhängig davon, ob ein politischer Skandal aktiv in der Öffentlichkeit platziert wird oder unkontrolliert ans Tageslicht gelangt, kann er aus der hier vertretenen Perspektive positiv bewertet werden, sobald eine Auseinandersetzung um den Skandal entsteht, die über bloße Empörung und Unterhaltung hinausgeht, da er in dieser Form zu einer aktiven Beteiligung an öffentlichen Belangen motiviert und die Wiederbelebung einer republikanisch-freiheitlichen Lebensform fördert. FAZIT Die Betrachtung des politischen Skandals vor dem Hintergrund gesellschaftskritischer Theorien hat ein ambivalentes Bild ergeben. Einerseits ist deutlich geworden, dass in Gesellschaften, die weitestgehend von der ökonomischen Kategorie der Arbeit dominiert sind, der Skandal ebenso zu einem Konsumgut degradiert wird wie andere Phänomene auch. In dieser Spielart wird die Normenverletzung zu einem Mittel der Unterhaltung, mit dem sich kaum auseinandergesetzt wird und das unter Hinzuziehung kulturindustrieller Überlegungen paradoxerweise zu einer affirmativen Einstellung gegenüber einem eigentlich zu kritisierenden status quo führt. Der Skandal ist dann eine Ware des Vergnügens und wird über den kulturindustriellen Umweg zu einem Instrument sozialer Integration. Andererseits konnte auch die Möglichkeit aufgezeigt werden, dass politische Skandale sich positiv auf das Zusammenleben der Menschen auswirken, da sie Impulse zu erneutem politischem Handeln und Sprechen geben können. Der politische Skandal befördert in dieser Variante eine politische Debatte, aus der gemeinsame politische Handlungen erwachsen. Diese wiederentdeckte Erfahrung von Freiheit im gemeinsamen Handeln könnte dann in eine Verstetigung politischer Partizipation münden, so dass der im Arendtschen Sinne „eigentlich menschlichen Tätigkeit“ des gemeinsamen Handelns der ihr zustehende Platz innerhalb menschlicher Existenz wieder eingeräumt wird. Aus gesellschaftskritischer Perspektive kann für politische Skandale somit festgehalten werden, dass sie in der gegenwärtigen Gesellschaft die Menschen auf ihre Konsumentenrolle festschreiben und systemstabilisierende Wirkung entfalten, ihnen aber gleichzeitig immer die Chance innewohnt, dem ewig gleichbleibenden Trott von Arbeit und Konsum zu entkommen, Anstöße zu gemeinsamen Handeln und Sprechen zu geben und auf diesem Weg letztlich zu einer republikanisch-freiheitlichen Existenz zurückzukehren.
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Sloterdijk-Debatte 2.0: ‚Skandalöse‘ Anthropologie im diskursiven Spannungsfeld von Biotechnologie, Ökonomie und Zukunftsangst Lars Koch
1999 und 2009: Zwei Jahreszahlen, zwei Debatten, zumindest zum Teil die gleichen Akteure. Während die hitzige Diskussion, die im Jahr vor der Jahrtausendwende einem von Peter Sloterdijk auf Schloss Elmau vorgetragenen Referat über Biotechnologie nachfolgte, mittlerweile unter dem Label ‚Sloterdijk-Debatte‘ einen festen Platz in der deutschen Skandalgeschichte gefunden hat, sind Relevanz und Konsequenzen der Debatte neueren Datums, die im Herbst 2009 ihren (vorläufigen) Höhepunkt erreichte und sich um Sloterdijks Einwürfe zur Frage sozialer Gerechtigkeit drehte, bislang nur schwer abzuschätzen. Jenseits einer naheliegenden Fokussierung auf die ‚Wirkungsästhetik‘ des Fernseh-Philosophen, die schnell auf eine kontinuierlich aufmerksamkeitskalkulierende Platzierungsstrategie rekurriert und – so etwa Hans Ulrich Gumbrecht in der Zeit (Gumbrecht 2009) – Sloterdijks skandalaffirmatives Medienhandeln als eigentliche Kontinuität beider Auseinandersetzungen auszumachen glaubt, soll im Folgenden die Frage gestellt werden, wie beide Debatten inhaltlich zusammenhängen. Einerseits ist klar, dass die Sloterdijk-Debatte 1999 nahezu alle Parameter eines Medienskandals in paradigmatischer Weise erfüllt. Es finden sich die für einen Skandal konstitutiven Handlungssequenzen – die vermeintliche Verfehlung in einer Rede Sloterdijks, Enthüllungsberichte in der Zeit und im Spiegel, im Anschluss daran eine breite Empörungsdebatte (vgl. Hondrich 2002: 15f.) –, die Akteursrollen waren mit Sloterdijk und Habermas in Anfangsaufstellung prominent besetzt (vgl. Luhmann 1983: 17), zudem wird in der Verortung der Auseinandersetzung auf den Bühnen des deutschen Feuilletons zugleich deutlich, dass Skandale heute immer massenmedial imprägnierte Skandale sind (vgl. Kepplinger & Ehmig 2004: 363). Bringt eine solche Nachzeichnung der Skandalarchitektonik Aufklärung über Aushandlungsdynamiken in einer hoch medialisierten Gesellschaft, so ist damit gleichwohl noch nicht ausreichend beantwortet, welche mittelfristige Reichweite Skandale eigentlich haben. Kulturwissenschaftliches Interesse an Kontroversen sollte daher nicht bei der „Ortung und Ordnung“ (Schmitt 1950: 17) von Skandalen stehen bleiben, sondern auch nach den nachhaltigen diskursiven Folgen fragen, die aus einer als Skandal K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Lars Koch
begriffenen Konfrontation folgen. Entscheidend ist, dass diskursive Neuformatierungen gesellschaftlich dominanter Grundüberzeugungen nicht alleine in der moralisierenden Sphäre der Medienöffentlichkeit stattfinden, sondern Ergebnis diskursiver Austauscheffekte sind, welche sich als Ergebnis der Interaktion von Meinung, Wissen und Narration realisieren. Die Produktion von Wissen – dass sollte bei aller verständlichen kommunikationswissenschaftlichen Begeisterung für Empirie und Kategorienkonstruktion nicht aus dem Blick geraten – ist ihrerseits wiederum Ergebnis historischer Transformationsprozesse, in die sich Deutungsmuster, Argumentationsfiguren und Narrativierungsstrategien einschreiben. Einen Skandal innerhalb seines diskursiven Ermöglichungszusammenhangs zu situieren heißt dementsprechend auch, ihn retrospektiv auf seine prospektiven Diskursanstöße und seine argumentativen Umschriften zu befragen. Einen historischen Skandal zum Sprechen zu bringen, bedeutet, seine Resonanzen zu rekonstruieren – und dies ebenso auf der Ebene handelnder Akteure wie auch auf der niederschwelligen Diskurs-Ebene mittlerer Latenzen. Diese allgemeinen Überlegungen auf ein konkretes Fallbeispiel herunterbrechend lautet die zu erörternde These dementsprechend, dass Sloterdijks Reflexion über Gentechnik (1999) und seine Argumentation zur Selbstmodifikationszumutung des Individuums der Gegenwart (2009) die Sichtweise des Menschen in ein bio- bzw. sozialtechnologisches Spannungsfeld einschreiben, das sich assoziativ über die gentechnischen Debatte im postgenomischen Zeitalter vermittelt und die Direktive einer neuen Selbsttechnologie im Sinne Foucaults als ein vertikales Leitbild des ‚guten Lebens‘ formuliert. Um dies zu zeigen, soll im Folgenden ein argumentativer Dreiklang durchgeführt werden: Nachdem es zunächst um Sloterdijks Sichtweise der molekulargenetischen Biotechnologie gehen wird, soll in einem zweiten Schritt die Frage erörtert werden, inwieweit der aktuelle Kenntnisstand der Molekulargenetik die um die Jahrtausendwende befürchtete Austreibung des sozialen Faktors aus unserem Menschenbild zurückgenommen und umweltadäquates Handeln im Umgang mit genetischen Dispositionen wieder ins Zentrum der Diskussion gestellt hat. Abschließend soll in einem dritten Schritt die These weiterverfolgt werden, dass die in Sloterdijks aktueller Publikation ausformulierte Denkfigur des ‚übenden Lebens‘ ein habituell gewendetes Korrelat zur Regierung genetischer Risiken darstellt und sich damit auf luzide Weise einer neoliberalen Gouvernementalität der Eigenverantwortung anverwandelt.
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Die Sloterdijk-Debatte Will man die Erregungsintensität richtig gewichten, die Sloterdijk 1999 mit seiner Rede über mögliche „Regeln für den Menschenpark“ auslöste, dann ist es notwendig, sich den diskursiven Ermöglichungszusammenhang in den Jahren vor dem Millennium kursorisch in Erinnerung zu rufen. Hatte der Zusammenbruch des Kommunismus in der kulturräsonierenden Öffentlichkeit Anfang der 1990er Jahre zunächst eine kollektive Hochstimmung ausgelöst, so verdüsterten sich die Zukunftsprognosen immer mehr, je näher das ‚magische‘ Jahr 2000 kam. Hierbei spielten politische Gründe – die Rückkehr des Krieges nach Osteuropa etwa – ebenso eine Rolle wie auch jene neuen technischen Möglichkeiten, die – man denke an die erste erfolgreiche gentechnologische Reproduktion eines Schafes mit Namen ‚Dolly‘ im Jahr 1997 – die anthropologische Ursprungsversicherung einer klaren Trennung von Natur und Kultur in Frage stellten. Insbesondere die popkulturell imprägnierte Figur des ‚Klons‘ wurde zu einem kulturellen Faszinosum, welches sich – in den Ausbuchstabierungen von Baudrillard und Houllebecq jeweils von einem öffentlichen Entrüstungssturm begleitet – aus dem Versprechen speiste, technikbasiert die postmoderne Überbietung von Differenz in einem neuen Gleichheitsformat überwinden zu können.1 Welche sozialpsychologischen Folgen ein solches Gedankenspiel haben kann, hatte Hans Blumenberg schon Jahre zuvor vorausschauend skizziert, als er mahnend feststellte: „Alle, die Umstände herbeiführen zu sollen meinen, die die Zusammenhänge der Urheberschaften von Menschen an Menschen verunsichern und verwirren, sollten sich vergegenwärtigen, was Ungewissheit hinsichtlich des Seinsgrundes in den Gemütern [...] zerstören kann“ (Blumenberg 1987: 203). Die Sloterdijk-Debatte war somit nicht nur Produkt einer selbstreferentiellen Mediendynamik, sondern artikulierte eine substanzielle Verunsicherung, die sich aus ganz verschiedenen Angst-Diskursen speiste und manchem zeitgenössischen Beobachter einen Vergleich mit dem Fin de siècle 1900 aufdrängte. Konkretisierte sich die kulturpsychologische Relevanz des anthropologischen Diskurses nach 1900 vor allem als notwendige Reaktion auf die Infragestellung des menschlichen Selbstbildes durch die Evolutionstheorie und die hierzu parallel laufende Krise der Repräsentation, so ist die Heftigkeit der Sloterdijk-Debatte in inhaltlicher Hinsicht ein Symptom dafür, dass die neuen molekulargenetischen Möglichkeitsversprechen eine diffuse Angst vor einem nicht genau zu benennenden Herkunftsverlust befördert haben. Dementsprechend ging es bei den 1
In gewisser Weise fungiert der Klon damit als das Phantasma eines Übermenschen der Unterkomplexität. So stellt Baudrillard die programmatische Frage: „Aren’t we actually sick of sex, of difference, of emancipation, of culture?“ (Baudrillard 2000: 15). Zur Faszination des Klons vgl. Caduff (2004).
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nahezu hysterischen Reaktionen auf die Rede Sloterdijks um weit mehr als dessen Äußerungen selbst. Die drei Kernbegriffe des zunächst nur unter der Hand verbreiteten und erst auf dem Höhepunkt der Debatte veröffentlichten Manuskripts – ‚Humanismus‘, ‚Gentechnik‘ und ‚Anthropologie‘ – markierten einen Imaginationsraum, den in den Debatten-Monaten eine ganze Reihe von Intellektuellen und Journalisten betraten, um in den wichtigen deutschsprachigen Feuilletons öffentlichkeitswirksam die Grundlagen einer post-metaphysischen Anthropologie auszuhandeln und dabei en passant zugleich die Vererbungsmasse der deutschen Nachkriegsphilosophie zu verteilen. Betrachtet man mit einigem Abstand den Ablauf der auf allen Seiten erhitzt geführten und mit Letztbegründungsbegriffen operierenden Auseinandersetzung, so wird eine eigentümliche Eskalationsdynamik deutlich, die so – oder so ähnlich – für viele Skandalgeschichten typisch ist, hier aber ob der Vielstimmigkeit ihrer um Deutungsmacht streitenden Sprecherrollen die „Chronik einer Inszenierung“ (Nennen 2003)2 in besonderer Weise vor große Probleme stellt. Unternimmt man trotzdem auf engem Raum den Versuch einer kursorischen Rekonstruktion, dann lassen sich zumindest drei Diskursebenen unterscheiden, die zwar in den verschiedenen Debattenbeiträgen immer wieder übereinander geblendet wurden und sich im argumentativen Austausch gegenseitig imprägnierten, gleichwohl aber ihrem Objekt- und Adressatenbezug nach zu differenzieren sind. Zunächst einmal hat Peter Sloterdijk im Juli 1999 bei einer auf Schloss Elmau stattfindenden Tagung mit dem Titel „Jenseits des Seins – Exodus from Being, Philosophie nach Heidegger“ eine Rede gehalten, die nicht bei allen Zuhörern auf Akzeptanz stieß und dementsprechend im Rahmen der bei solchen Veranstaltungen üblichen diskursiven Gepflogenheiten kommentiert bzw. kritisiert wurde. Im Fortgang entwickelte sich – initiiert durch die Leserbriefe einiger Augenzeugen, die von einem vermeintlichen Eklat zu berichten wussten – dann ab September sukzessive eine die anfängliche Irritation zum handfesten Skandal verdichtende Woge der Entrüstung, die sich energetisch im Modus des Hörensagens aus dem Nichtvorhandensein eines lektürefähigen Redemanuskript speiste und in dem Generalvorwurf subsumiert werden kann, Sloterdijk habe seiner Heidegger-Lektüre die Folie eines faschistischen Übermenschentums zugrunde gelegt, um hieraus die Legitimation für die biotechnologisch scheinbar möglich 2
In ebenso brillanter wie genauer Form ist eine solche Rekonstruktion Heinz-Ulrich Nennen gelungen. Seine Studie zeigt die Chancen und Risiken einer kulturwissenschaftlichen Skandalforschung. Einerseits gelingt es Nennen, die Agonalität und Theatralität des Skandals in seiner temporalen Abfolge nachzuzeichnen, andererseits macht er deutlich, dass Skandale nicht alleine als Medienphänomene zu werten sind, sondern immer noch – und zu allererst – auf ihre normative Irritationsfunktion befragt werden müssen.
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gewordene Selektion des Menschen ableiten zu können. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Debatte mit mehreren Beiträgen in den Wochenblättern Die Zeit und Der Spiegel, in denen Sloterdijk von den Journalisten Thomas Assheuer und Reinhard Mohr der Vorwurf faschistischer Gesinnung gemacht wurde.3 Hierauf wiederum reagierte Sloterdijk mit dem Argument einer intentional gesteuerten Fehllektüre seiner Ausführungen und der Unterstellung einer gezielten Intrige, in deren Hintergrund Jürgen Habermas – als ehemaliger Lehrer Assheuers und eigentlicher Skandalierer – die Fäden ziehe, um die bröckelnde symbolische Macht der Kritischen Theorie zu konsolidieren, indem er Sloterdijk öffentlich diskreditieren lasse. Diese zweite Diskursebene, die in gewisser Weise der Sloterdijk-kritischen Skandalisierung durch die Eröffnung einer zweiten Front – einer Skandalisierung der Skandalisierung – zu begegnen suchte, gipfelte in der Ausstellung einer (vatermordenden) Sterbeurkunde an die Kritische Theorie in einem Beitrag Sloterdijks in der Zeit vom 9. September 1999.4 Eine dritte Diskursebene schloss sich direkt an diese Positionierungskämpfe an: Im Fortgang der Debatte wurde nun nicht mehr allein um den Inhalt von Sloterdijks Rede und dessen Bewertung gestritten, sondern immer auch um die Frage, welche Bedeutung Habermas und die Kritische Theorie im 21. Jahrhundert noch beanspruchen können. Diese interne Entwicklungsgeschichte der Sloterdijk-Debatte vor Augen hieße es, den Sloterdijk’schen Text in doppelter Hinsicht missdeuten, wollte man ihn alleine auf die Funktion eines Impulsgebers zu einer Debatte reduzieren, die lediglich aufmerksamkeitsstrategisch zu erklären wäre. Sloterdijk machte sich zwar durchaus resonanzkalkulierend (und die Resonanzen falsch einschätzend) zum Stichwortgeber einer Diskussion über die anthropologischen Konsequenzen der Biotechnologie, noch mehr wollte er diese aber auch in eine bestimmte inhaltliche Richtung lenken. Sloterdijk ist – dies wird in seinem Sphären-Werk ebenso deutlich wie in seinem aktuellen Buch über die Anthropotechnik des Übens – einer der letzten Vertreter einer langen und im deutschen Sprachraum profilierten kulturkritischen Tradition, die die Gegenwart als Schwund- und Verfallsstufe einer besseren Vergangenheit ansieht und seine Leser – die Rolle eines poetavates imitierend – zu einer fundamentalen Umkehr bzw. Neuausrichtung aufruft. Diese Denk- und Argumentationsfigur eines katastrophischen Nieder3
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Nennen hat seiner rund 600 Seiten starken Studie eine Bibliografie aller Debatten-Beiträge beigefügt, die auf über 200 einzelne Wortbeiträge kommt. Vgl. Nennen (2003: 619ff.). Sloterdijk versuchte aus der Verteidigungshaltung selbst in den Angriff überzugehen. Sein Argument zielte dabei auf einen Vergleich zwischen der Hypermoral der Kritischen Theorie und ihrer praktischen Suggestionspolitik ab und gipfelte in der These, dass die vermeintliche Verschwörung gegen ihn als Beleg für den Geltungsverlust der Frankfurter Theorie- und Kritikschmiede zu dekonstruieren sei, die ihre Thesen nicht mehr argumentativ, sondern nur noch emotional zu plausibilisieren verstünde.
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gangs markiert eine zentrale Scharnierstelle der breitgefächerten Sloterdijk’schen „Weltanschauungsliteratur“ (Thomé 2003), die im Falle der Regeln für den Menschenpark angesichts des dort vorgetragenen Auslese-Phantasmas zu großen Irritationen geführt hat, intrinsisch aber auch Sloterdijks Misstrauensbekundungen gegen den Sozialstaat motiviert. Sloterdijks Büchern ist ein ebenso aufmerksamkeitssichernder wie verkaufsfördernder Alarmismus eigen, der den Zustand der Welt immer wieder in den dunkelsten Farben malt und hieraus tiefe Spekulationen über die Natur des Menschen und die Logik der Kultur ableitet. In diesem Sinne stellt auch der Text über Regeln für den Menschenpark den Versuch dar, Philosophie als anthropologisch legitimierte Gegenwartsdeutung zu positionieren und der eigenen Person die normative Autorität eines Mahners in vordergründig selbstzufriedenen, aber untergründig unruhigen Zeiten zuzusprechen. Zu diesem Zwecke aktualisiert Sloterdijks Rede-Manuskript in raunendem Ton eine normative Herausforderung, die nach 1945 in der Philosophischen Anthropologie – bei Helmut Plessner etwa – schon lange nüchtern diskutiert wurde. Bei Peter Sloterdijk klingt die Problemanamnese dann wie folgt: Es ist die Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters, daß Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten, auch ohne dass sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt haben müssten. Man darf zudem feststellen: Es gibt ein Unbehagen in der Macht der Wahl, und es wird bald eine Option für Unschuld sein, wenn Menschen sich explizit weigern, die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben. Aber sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind, machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie [...] eine höhere Gewalt, sei es den Gott oder den Zufall oder den Anderen, an ihrer Stelle handeln lassen wollen. Da bloße Weigerung oder Demission an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren. (Sloterdijk 1999a: 44f.) Sloterdijks Rede gewann ihre Brisanz weniger aus der Diagnose, dass es notwendig sei, zu der sich rapide weiterentwickelnden Biotechnologie einen neuen normativen Standpunkt zu gewinnen. Weit problematischer war, dass sich Sloterdijk einerseits einer Sprache bediente, die ganz bewusst die provozierende Nähe zum Jargon der NS-Eugenik suchte,5 und er darüber hinaus immer wieder 5
Sloterdijks Text bearbeitet ein Feld der Assoziationen und der semantischen Verweise, das um die folgenden Begriffe kreist: ‚Erziehung‘, ‚Zucht‘, ‚Züchtung‘, ‚Pädagogik‘, ‚Politik‘, ‚Gestaltung‘, ‚Manipulation‘, ‚Förderung und Aussonderung‘, ‚Lesen und Auslesen‘, ‚Selektion und Lektion‘.
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auch semantische Leerstellen in seine Argumentation inkorporierte, die seinem Text insgesamt zu einer ambivalenten Aura verhalfen. Die Regeln für den Menschenpark sind von einer Dramaturgie der Eskalation bestimmt, die letztlich in der suggestiv gestellten Frage mündet, „ob eine künftige Anthropologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung“ (Sloterdijk 1999a: 46) vordringen werde oder nicht. Um einer Antwort näher zu kommen, rekonstruiert Sloterdijk zunächst zentrale Elemente einer Zivilisationsdynamik, wie er sie in seinem geschichtspessimistischen Buchprojekt Sphären entwickelt hatte. Dort formuliert er die Überlegung, dass körperliche, soziale und symbolische Nahverhältnisse die primäre Weise darstellen, in der der Mensch einen Zugang zur Welt findet. In-der-Welt-Sein bedeutet demzufolge In-Sphären-Sein. Diese Sphären – angefangen bei der Mutter-Kind-Symbiose – sind Schutzvorrichtungen, mit denen sich der Mensch in immunisierender Absicht umgibt: „Sphären sind immunsystemisch wirksame Raumschöpfungen für ekstatische Wesen, an denen das Außen arbeitet“ (Sloterdijk 1998: 28). Im Fortgang der Zivilisationsgeschichte sei nun zu beobachten, dass es zu einem sukzessiven Verlust von „Nähe-Beziehungen“ kommt. Der sukzessive Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft bringe eine tendenzielle Überforderung des sich herausbildenden Individuums mit sich.6 Den Individualismus der Moderne begreift Sloterdijk als einen Einschnitt in das ursprüngliche „Mit-Sein“, infolgedessen es zu einer „Mikrosphärenkatastrophe“ komme, die auch durch den parallelen Aufbau von „Makrosphären“ – Ideologien, soziale Netze, Versicherungen – nicht befriedigend kompensiert werden könne (Sloterdijk 1999b: 143). Kumulativ mündet die schleichende Erosion evolutionär gewachsener Immunsysteme in eine anthropologische Verlustgeschichte, die sich in der Moderne als eine an ‚spätrömische Dekadenz‘ erinnernde Ausbreitung der hemmungslosen Massen und der gewalttätigen Geistlosigkeit manifestiert. Gehört damit Grausamkeit als Reaktion auf Sphärenverlust substanziell in die Signatur der Menschheitsgeschichte, so kann die höchste Form der Menschlichkeit für Sloterdijks Massenkulturkritik nur darin bestehen, „zur Entwicklung der eigenen Natur die zähmenden Medien zu wählen und auf die enthemmenden zu verzichten“ (Sloterdijk 1999a: 19). Hier setzt Sloterdijks eigentliches Argument der Regeln für den Menschpark ein, indem er den abendländischen Humanismus als die Geschichte einer versuchten „Entwilderung des Menschen“ (Sloterdijk 1999a: 17) liest:
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Auch hier wird die lange kulturkritische Traditionslinie in Sloterdijks Denken deutlich, die etwa bis zu Ferdinand Tönnies zurückreicht.
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Lars Koch Daß die Domestikation des Menschen das große Ungedachte ist, vor dem der Humanismus von der Antike bis in die Gegenwart die Augen abwandte – dies einzusehen genügt, um in tiefes Wasser zu geraten. […] Gewiß war das Lesen eine menschenbildende Großmacht – und sie ist es, in bescheideneren Dimensionen noch immer; das Auslesen jedoch – wie auch immer es sich vollzogen haben mag – war stets die Macht hinter der Macht im Spiel. (Sloterdijk 1999a: 43)
Um diesen Gedankengang einer Reduktion von Moralität auf Menschenzähmung zu verifizieren, beruft Sloterdijk sich auf Heidegger (2000), der in seinem Humanismusbrief aus dem Jahr 1947 im Nachbeben von Weltkriegs-Katastrophe und Holocaust das Scheitern der humanistischen Programmatik attestiert hatte (vgl. Mende 2003). Zunächst folgt Sloterdijk Heideggers Kritik, der Humanismus tendiere aufgrund seiner Seinsvergessenheit und der daraus resultierenden Konzeptualisierung des Menschen als animal rationale zu einer in sein Gegenteil umschlagenden Selbstermächtigung der Vernunft. Das sich anschließende Plädoyer für ein kontemplatives Hören auf „das Sagen des Seins“ (Heidegger 2000: 115), das den Menschen in die pastorale Rolle eines Hirten bringt, weist Sloterdijk allerdings zurück. Gleichwohl komme Heidegger das Verdienst zu, die Epochenfrage gestellt zu haben: „Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert?“ (Sloterdijk 1999a: 32f.). Eine neue, Heideggers Epochenfrage aufgreifende Position, die neben den Begriff der Zähmung den der Züchtung stellt, findet Sloterdijk mittels seiner strategische Kooperationen herstellenden Verkündigungsprosa im Rekurs auf Nietzsche und Platon. Nietzsches Raubtier-Anthropologie zieht Sloterdijk heran, um auf andere Weise seine Grundannahme über die Gefährlichkeit der menschlichen Natur zu untermauern. Platon, der in seinem Dialog „Politikos“ einen „gefährlichen Sinn für gefährliche Themen“ (Sloterdijk 1999a: 49) an den Tag gelegt habe, wird angeführt, weil er laut Sloterdijk die notwendige Konvergenz von Wissen und Macht – Lesen und Auslesen – reflektiert und als eine biologische Effekte zeitigende Elitenbildung beschrieben habe. Ausgehend von Platons „königliche[r] Hirtenkunst“ (Sloterdijk 1999a: 54) begründet Sloterdijk sein Nachdenken über posthumanistische Menschenzüchtung als eine den „Perioden der gattungspolitischen Entscheidung“ (Sloterdijk 1999a: 47) gemäße Denkfigur. Da sich ein „evolutionäre[r] Horizont vor uns zu lichten beginnt“ (Sloterdijk 1999a: 47), sei zumindest als technische Möglichkeit zu erwägen, dass es zu einer „genetischen Reform der Gattungseigenschaften“, zu „optionale[r] Geburt und zur pränatalen Selektion“ (Sloterdijk 1999a: 46) kommen könnte. Damit stellt sich für Deutschlands mittlerweile prominentesten Philosophen die Frage: Wer soll
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möglicherweise notwendig werdende Regeln im Sinne eines Codex der Anthropotechniken aufstellen? Da im Sloterdijk’schen Kosmos gegenüber dem „Demos“ größte Vorbehalte herrschen, bleibt angesichts der drohenden „biokulturellen Drift“ die dezisionistische Entscheidung über die Nutzung biotechnologischer Ressourcen letztendlich den „Weisen“ (Sloterdijk 2000a: Kapitel 4), und das heißt im Klartext: einer kleinen intellektuellen Elite der Weisheitsliebhaber vorbehalten. Soweit sein sozialtechnologisches Top-Down-Modell. Schon in der ersten Skandal-Schrift angelegt, dann aber in den Folgejahren deutlicher modelliert, tritt neben diesem Blick von oben auf die Massen eine zweite Argumentationsfigur, die die notwendige Abkehr von den Verhältnissen gemäß einer Bottom-Up-Perspektive in die Individuen selbst verlegt. Sloterdijk geht es, dies macht seine selektive Lektüre von Nietzsche und Platon deutlich, in diesem Sinne nicht nur um Zähmung – sei es um die der destruktiven menschlichen Potenziale, sei es um die der Technik –, sondern zugleich um eine anthropotechnische Implementierung des Gedankens einer Vertikalorientierung, die den Subjekten den fortwährenden Auftrag einer Selbstvervollkommnung zuschreibt.7 Nach dem Orkan der Medienschelte, die 1999 über ihn hereinbrach, ist die Metapher des „Menschenparks“ in Sloterdijks aktuellem Buch diskurssensibel der des „Gartens“ gewichen. Auch hat er – in Reaktion auf die aktuellen Erkenntnisse der postgenomics – sein Gedankenspiel vom Bereich der ‚Zoe‘ ab und wieder dem ‚Bios‘ zugewendet. Hieraus resultiert der seinem neuen Buch den Titel gebende Imperativ: Du musst Dein Leben ändern. Wie gut Sloterdijk damit in die hegemonialen Diskurse des Zeitgeistes passt, ist im letzen Teil dieses Textes zu veranschaulichen. Zuvor jedoch soll die im Sloterdijk’schen Imperativ formulierte Aufforderung zu einer verantwortungsvollen Selbstregierung als ein Ideologem markiert werden, das auch innerhalb aktueller Debatten der postgenomics eine wichtige Rolle spielt. Vom Gen zum genetischen Risiko Die in den 1990er Jahren geführte Diskussion über Chancen und Risiken der Gentechnologie war stark geprägt von der Vorstellung, den genetischen Code als ‚Buch des Lebens‘ lesen zu können. Die vom Gen-Hype angestoßene Überzeugung, dass „Biologie und Metabiologie“ die „Zentralwissenschaften des kom7
Der Aufruf zur Ausschöpfung der eigenen Potenziale ist ein alter abendländischer Topos. Spannend wird es allerdings mit der Frage, wie denn diese Potenziale näher zu bestimmen seien. Qualitativ zu profilieren sind sie bei Sloterdijk vor allem in der Absetzbewegung zu dem, was er in seinem aktuellen Buch das „Basislager-Problem“ nennt.
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menden Jahrhunderts“ (Sloterdijk 2000b: 38) sein werden, findet in der breiten Öffentlichkeit auch heute noch große Zustimmung. Gleichwohl hat sich in den letzten Jahren das Nachdenken über die theoretische und praktische Konzeptualisierung genetischer Kausalketten in wichtigen Fragen verändert. Die noch vor wenigen Jahren enthusiastisch vorgetragene Utopie, nach einer vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Gen-Codes die Emanzipation des Menschen von seiner biologischen Ausstattung bewerkstelligen zu können, gilt inzwischen als naiv. Dort, wo das klassische Paradigma der Genetik das Genom informationstheoretisch als ein ablesbares statisches Programm begriff, ist die Forschung nach der erfolgreichen Sequenzierung des menschlichen Genoms dazu übergegangen, organizistische Modelle zu favorisieren, die eindeutige Ursache-Wirkungsverhältnisse nach dem Muster ‚ein Gen – ein Protein, ein Protein – eine Funktion‘ negieren. Die Ergebnisse des Human Genom Projects haben konträr zu den eigenen Erwartungen belegt, dass die Proteinsynthese der menschlichen Zelle nicht von den Genen ‚gelenkt‘ wird, sondern nur innerhalb einer umfassenden „Regulationsdynamik“ der Zellfunktion zu verstehen ist (Keller 2001: 94). Die zunächst angenommene direkte Korrelation eines Gens zu einer bestimmten Eigenschaft ist nicht gegeben, die Ausbildung phänotypischer Merkmale ist vielmehr das Ergebnis eines hochkomplexen Prozesses von Wechselwirkungen und Rückkopplungen zwischen DNA, RSA, Protein und Zellplasma. Wie Thomas Lemke (2007) betont, wird als Reaktion auf den neuerlichen Komplexitätszugewinn der strategische Bezug auf Gene und genetische Regulationsmuster gleichwohl nicht aufgegeben, sondern nur anders justiert. Zum einen wird das hierarchische Kausalmodell des einzelnen verantwortlichen Gens durch ein Denken in Gen-Netzwerken ersetzt, zum anderen wird die Kategorie ‚Umwelt‘ als neue Variable in die Gleichung eingeschrieben. Heraus kommt im Ergebnis eine postgenomische Vorstellung vom Menschen, die ein komplexes Zusammenspiel aus genetischen Faktorenbündeln, Umwelteinflüssen und Verhaltensweisen am Werke sieht. In diesem Sinne betreiben die postgenomics eine Auflösung der Substanzialität von Molekülen in bloßen Wahrscheinlichkeiten möglicher Genexpression: „Das Genom ist heute kein festgeschriebenes faktisches ‚Programm‘ mehr, sondern nur mehr ein Hinweis auf die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, die überdies durch äußere Umstände, sprich den jeweiligen ‚Lebensstil‘ beeinflusst werden können“ (Weiß 2009: 47f.). Im Ergebnis eröffnet sich im postgenomischen Zeitalter damit ein neues Handlungsfeld, in dem der Körper, verstanden als ein statistisches Risiko, zur zentralen Aufgabe für den Einzelnen wie für die Politik wird. Zunächst einmal setzen die molekulargenetischen Erkenntnisse eine Signifikationsdynamik in Gang, die ebenso immer neue Unsicherheiten produziert, mithin den augenscheinlich gesunden Körper in einen Angstraum potenzieller Krankheit verwan-
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delt, wie sie gleichzeitig das Versprechen auf Gefahrenabwehr, Therapie und Prävention artikuliert. Die alte Biomacht, die die statistisch erfasste Gesamtbevölkerung zum Gegenstand hatte und vom Normalitätsregulativ ausgehend Praktiken einer Disziplinartechnik entwarf, weicht zusehends neuartigen Formen biopolitischer Steuerung, die ‚Zoe‘ – fokussiert als probabilistische Berechnungen möglicher Genexpression – und ‚Bios‘ – verstanden als risikoadjustierte Verhaltensmaßregel – wieder zusammen denken. Bemerkenswert ist eine diskursive Tendenz weg von sozialtechnokratischer Verwaltung hin zu einem politischen Präventionsregime, das auf selbstregulatorische Maßnahmen abzielt. ‚Prävention‘ und ‚Lebensstil‘ sind demgemäß die Zauberworte eines neoliberalen Gesellschaftsverständnisses, das in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen den Rückzug des Staates aus sozialen Handlungsfeldern betreibt und solidarische Sicherungssysteme zu Gunsten privater Aufgabenprofile abwickelt. In die gleiche Richtung zielt die zu beobachtende Neukonzeptualisierung von Krankheit: Galten viele Erkrankungen vor wenigen Jahren noch als ein genetisches Schicksal, dem man alleine medizinisch begegnen konnte, so bekommt der Einzelne im postgenomischen Zeitalter die Bürde zurück, seine etwaige Krankheitsbiografie selbst zu verantworten. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Zeitalter genetischer Präventivmedizin organisiert sich damit weniger um das von Sloterdijk 1999 noch prognostizierte Ausleseverfahren, als dass es sich vielmehr aus einem neuartigen Beziehungsgeflecht von Machtprozessen, Wissenspraktiken und Subjektivierungsformen speist, das in das Innenleben des Individuums eingreift. Macht übersetzt sich damit einmal mehr in die Frage nach einem ‚guten Leben‘, die im Namen von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Wahlfreiheit durch den Appell beantwortet wird, den Körper als Humankapital zu begreifen und dementsprechend wertschöpfend mit ihm umzugehen. Blickt man in die USA, wo genetische Diagnoseverfahren schon sehr viel weiter verbreitet sind als in Deutschland, so erkennt man, dass die Aufforderung zu risiko-adäquatem Verhalten durch eine diskursive Kopplung an kommunitaristische Denkfiguren zusätzliches moralisches Gewicht erhält, und genau hier schließt sich mittelbar der Kreis zu Sloterdijks skandalträchtigem Angriff auf den Sozialstaat in der Debatte 2009. Leitbegriff dieser Anrechnung von individueller Gesundheitsverantwortung auf die Gesellschaft ist der Neologismus eines „biologicalcitizenship“ (Rose &Novas 2005). Angesiedelt in der Nachbarschaft zur Idee der Zivilgesellschaft, verbirgt sich hinter „biologischer Bürgerschaft“ (Lemke & Wehling 2009) die Forderung nach Selbstverantwortung im Gesundheits- und Reproduktionsverhalten. Aktive Bürgerschaft wird so zu einer neoliberalen Schlüsselstrategie, die die Notwendigkeit von Transferleistungen minimieren soll, indem sie auf der Grundlage eines Bündels performativer
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Gesundheitsdiskurse Gouvernementalität als Angst vor Krankheit, vor demografischen Problemen und vor steigenden Kosten organisiert. Während institutionelle und ökonomische Strukturen als unveränderlich, weil natürlich angesehen werden (Žižek 2009: 307ff.), präsentiert die postgenomische „Mikrophysik der Macht“ (Foucault 1976) das Ineinander von biologischer und sozialer Natur der Individuen als modulationsnotwendig und interventionsoffen: Du musst Dein Leben ändern! Sloterdijk, Anthropotechnik und das unternehmerische Selbst Die postgenomics propagieren eine Form genetischer Selbstregierung, die auf die Internalisierung von Verhaltenserwartungen abzielt. Während die Biomacht alten Typs von außen auf Individuen und Bevölkerung zugreift, schreibt sich das gegenwärtig anvisierte Management genetischer Risiken in die Adressaten selbst ein. Momentan betritt eine neue Form gouvernementaler Macht die Bühne, die mit Nikolas Rose zutreffend als „Ethopolitik“ beschrieben werden kann. Gemeint sind damit jene Formen, in denen das Ethos menschlicher Existenz – die Gefühle, die Moral oder Glaubensvorstellungen von Personen, Gruppen oder Institutionen – zum ‚Medium‘ geworden sind, innerhalb dessen die Selbstregierung des autonomen Individuums mit den Imperativen guten Regierens verbunden werden kann. (Rose zit. n. Lemke 2007: 129f.) Angetrieben vom Diktat des ‚Sich-in-Form-Bringens‘ forciert die Ethopolitik derzeit eine anthropologische Figur, die Ulrich Bröckling (2007) als das „unternehmerische Selbst“ bezeichnet hat. Diese Subjektivierungsform ist das Produkt „einer Reihe von Rationalitäten und Techniken des Regierens, […] die ohne Gesellschaft auskommen“ (Rose 2000: 73) und ein ganzes Ensemble von Selbsttechniken für das Bestehen in der kapitalistischen Gesellschaft bereitstellen. Oberster Lehrsatz des unternehmerischen Selbst ist die Maxime, dass Stillstand Rückschritt bedeutet und der Einzelne einer fortwährenden Aufforderung zur Selbstüberprüfung unterliegt. Während man – mit Deleuze gesprochen – in den Zeiten der alten Disziplinarmacht nie damit aufhören durfte, einen neuen Anfang zu machen, wird man, da man die zeitlichen Prozeduren des genetischen Risikos nicht genauer bestimmen kann, im postgenomischen Zeitalter nie damit fertig, sich Sorgen zu machen. In Sloterdijks Aufforderung, sein Leben zu ändern, firmiert die turbokapitalistische Dynamik permanenter Selbstoptimierung unter dem schönen Begriff der ‚Vertikalspannung‘. Wie gut dieser von einem
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Affekt gegen die Mittelmäßigkeit geleitete Appell zeitgeistig anschlussfähig ist, soll abschließend kurz dargestellt werden. Überblickt man die im Windschatten der seit 2008 anhaltenden ökonomischen Krise geführte Debatte über die Verfasstheit des Sozialen, so fällt auf, dass eine neue Bereitschaft für Leistungsbereitschaft und eine zunehmende Intoleranz gegenüber leistungsschwachen Mitgliedern der Gesellschaft zu beobachten ist (vgl. z.B. Bolz 2009). Sloterdijk stößt in die gleiche Richtung, wenn er die Gegenwart als das Produkt einer fulminanten „Kulturrevolution nach unten“ brandmarkt, die ihren „Schatten auf das 21. Jahrhundert vorauswirft“ (Sloterdijk 2009a: 28). Demgemäß positioniert er sich als Physiognomiker der Zeitläufe, der zu formulieren hat, „was aus der Krise unserer Zeit emaniert“ (Sloterdijk 2009b): Man muss das ganz ernst nehmen, weil jetzt zum ersten Mal so etwas wie eine apokalyptische Endspielsituation eingetreten ist. Wir haben immer geglaubt, die Apokalypse ist nur eine symbolische Struktur oder eine Schreibweise für Texte, mit denen Fanatiker sich selber aufputschen wollen. Wir bekommen aber inzwischen von unseren Freunden, den Meteorologen, von unseren Freunden, den Ozeanografen, von den Wirtschaftsstatistikern, von den Demografen aus allen möglichen Bereichen, in denen äußerst nüchterne Personen Forschung betreiben, wir bekommen von allen Fronten relativ gleichzeitig gleichlautende Hinweise darauf, dass im Augenblick die Krisenspannung an 20 Fronten gleichzeitig steigt. (Sloterdijk 2009c) Um dieser Krisenstimmung etwas entgegensetzen zu können, plädiert Sloterdijk in seinem aktuellen Buch für nichts weniger als eine anthropologische Neubegründung des Menschen, für die einmal mehr Nietzsche die Perspektive vorgibt. Ausgangspunkt der Argumentation ist die Rekonstruktion eines Erweckungserlebnisses, das der Autor bei der Lektüre von Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ gehabt zu haben vorgibt: Du musst dein Leben ändern! – so lautet der Imperativ der die Alternative von hypothetisch und kategorisch übersteigt. Es ist der absolute Imperativ – der metanoetische Befehl schlechthin. [...] Ich lebe zwar schon, aber etwas sagt mir mit unwidersprechlicher Autorität: Du lebst noch nicht richtig. [...] Änderst du daraufhin dein Leben wirklich, tust du nichts anderes, als was du selber mit deinem besten Willen willst, sobald du spürst, wie eine für dich gültige Vertikalspannung dein Leben aus den Angeln hebt. (Sloterdijk 2009a: 47)
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Um den „Sensitiven, die auf den Appell antworten“, einen Ausweg aus der Krise zu eröffnen, entwickelt Sloterdijk auf den nachfolgenden 500 Seiten den normativ-praktischen Grundriss einer allgemeinen „Disziplinik“8 der Lebensmeisterung, wohl wissend, dass es auch „die Stumpfen“ gibt, die sich nicht von seinem Evidenz-Netz einfangen lassen, sondern „einfach nur weitermachen wollen“ (Sloterdijk 2009b). Im Kern geht es der Sloterdijk’schen Ethopolitik darum, im Angesicht der Krise den „übende[n] Mensch[en]“ als ein neues Format der Anthropologie darzustellen. Ziel aller Übung soll es sein, sich mittels Askese, Athletik, Diätik, Artistik und anderen Techniken der Selbstvitalisierung so aufzurichten (vgl. Sloterdijk 2009a: 248f.), dass man fortwährend den status quo der eigenen Möglichkeiten übersteigt. Individuelle Vertikalspannung soll dazu beitragen, sich aus den Niederungen des „Basislagers“ (Sloterdijk 2009a: 278) zu erheben. Dort, wo im Menschenpark Züchtung als Denkmöglichkeit durchaus auch eine eugenische Komponente haben konnte, rüstet Du musst dein Leben ändern im Entwurf einer von biologistischen Implikationen entschlackten Phänomenologie des Übermenschen diskursiv ab. An die Stelle des links und rechts scheidenden Säbels tritt das mikroinvasive Skalpell. Strategien der sozialen Steuerung codiert Sloterdijk so, dass sie nunmehr als selbstbestimmtes Handeln im Angesicht der „auto-operativen Krümmung des modernen Subjekts“ erscheinen: „Moderne Verhältnisse zeichnen sich dadurch aus, dass die für sich selbst kompetenten Einzelnen in steigendem Maß die operative Kompetenz der anderen für ihre Einwirkungen auf sich selbst in Anspruch nehmen“ (Sloterdijk 2009a: 278). Während im sozialphilosophischen Diskurs „Identität als das Recht auf Faulheit“ (Sloterdijk 2009a: 296) verkauft werde, strebt das unternehmerische Selbst in Sloterdijks Version an, eine souveräne „Ufer-Subjektivität“ (Sloterdijk 2009a: 354) zu gewinnen, die Erholung, Bewusstheit und Aktivität optimal verzahnt und genetische Risiken präventiv bzw. auto-operativ bearbeitet. Dass Sloterdijks Denkgebäude dezidiert elitäre Züge trägt, wird auch an einer anderen Textstelle deutlich, an der sich der Autor kursorische Überlegungen zum aktuellen „Steuerstaat“ (Sloterdijk 2009a: 608) macht. Als „real existierender liberal-fiskalischer Semi-Sozialismus“ (Sloterdijk 2009a: 608) beschreitet dieser den „Weg zur Knechtschaft“9 und trägt dazu bei, ökonomische Vertikal8
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Das ‚13-köpfige Ungeheuer der Disziplinik‘ umfasst: „Akrobatik und Ästhetik“, „Athletik“, „Rhetorik“, „Therapeutik“, „Epistemik“, „allgemeine Berufe-Kunde“, „Technik-Kunde“, „Administrativik“, „Enzyklopädie der Meditationssysteme“, „Ritualistik“, „Sexualpraxiskunde“, „Gastronomik“ und schließlich eine „offene Liste kultivierungsfähiger Aktivitäten“; vgl. Sloterdijk (2009a: 248f.). In diesem Sinne bezieht sich Sloterdijk in einer Fußnote positiv auf Friedrich August von Hayeks Werk aus den 1940er Jahren mit dem Titel Der Weg zur Knechtschaft. Vgl. Sloterdijk (2009a: 608).
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spannung als eine „Ethik der Gabe“ (Sloterdijk 2009d) zu verunmöglichen. Ist die Wertung der sozialstaatlichen Umverteilung als „Semi-Sozialimus“ für sich genommen schon provokant, so hat eine weitere Zuspitzung in einem Beitrag für die FAZ zu einer erneuten Debatte rund um Sloterdijks Person geführt, die hier nur insofern Erwähnung finden soll, als sie den vorläufigen Schlusspunkt Sloterdijks medienpraktischer Mobilisierung der Affekte markiert. Sloterdijks These lautet, dass es angesichts einer die Leistungsträger der Gesellschaft malträtierenden „Enteignung per Einkommensteuer“ (Sloterdijk 2009e) gerechtfertigt sei, von einer „Kleptokratie des Staates“ (Sloterdijk 2009e) zu sprechen. Dieser steuerlichen Zwangspraxis gegenüber entwickelt der selbst an öffentlich-rechtlichen Gebührengeldern partizipierende Fernseh-Philosoph eine seltsame Idee steuerpolitischen Edelmuts, wonach es ihm „würdevoller und sozialpsychologisch produktiver“ erscheint, die Steuereinkünfte des Staates würden nicht durch „fiskalische Zwangsabgaben aufgebracht, sondern in freiwillige Zuwendung von aktiven Steuerbürgern an das Gemeinwesen umgewandelt“ (Sloterdijk 2009d). War es in der Debatte 1999 Jürgen Habermas, der sich Sloterdijk gegenüber als scharfer Kritiker positionierte, so war es mit Axel Honneth dieses Mal ein anderer Vertreter der Kritischen Theorie, der Sloterdijk die Publikation von „fatalen Tiefsinn“ (Honneth 2009) vorwarf und damit eine mittlere Aufgeregtheitsdynamik in Gang setzte, an deren Weiterführung mit Karl Heinz Bohrer, Hans Ulrich Gumbrecht (pro Sloterdijk), Christoph Menke (contra Sloterdijk) und Richard David Precht (metareflexiv) ein illustres ‚Philosophisches Quartett‘ beteiligt war, bevor Ulrich Beck dann mit seiner Bewertung des Sloterdijk’schen Gedankenexperiments als „im strengen Sinne reaktionär“ (Beck 2010: 67) einen vorläufigen Schlusspunkt setzte. Jenseits der Frage, inwieweit soziale Gerechtigkeit überhaupt fiskalisch realisiert werden kann (vgl. Kirchhof 2009), ist an der Sloterdijk-Debatte 2.0 vor allem das Argument von Christoph Menke von Interesse, wonach sich „soziale Mitgliedschaft [...] nur als gleiche Mitgliedschaft“ verwirkliche und Sloterdijks Elitarismus mithin eine prekäre Melange zwischen vertikalgespannten Lebensveränderern und trägheitsfixierten Überflüssigen präsentiere: „Indem er den Einzelnen zur permanenten kreativen Selbstmobilisierung verpflichtet“, produziere Sloterdijk, so Menke, „notwendig die Gegen- und Unterklasse der Immobilen, Nichtkreativen, Unfähigen, denen ihr Scheitern als Versagen vorgehalten werden kann“ (Menke 2009). Was ist dann, so muss man wohl weiterfragen, die Konsequenz eines solchen Versagens im Management von Risiken, seien diese im Einzelfall genetisch, ökonomisch oder sozial imprägniert? Und ebenso brisant: Auf welcher Legitimationsbasis etabliert sich die Instanz einer Ethopolitik, die über anthropotechnisches Versagen oder Gelingen des Einzelnen richtet?
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Der amerikanische Sozialpsychologe Kurt Lewin hat in den 1940er Jahren ein Modell zur Analyse von Veränderungsprozessen entwickelt, welches dazu beitragen kann, das eigentümliche Skandalpotenzial des öffentlichen, und mit einem öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag ausgestatteten Intellektuellen Peter Sloterdijk deutlicher herauszuarbeiten. Lewins Gedanken weiter gedacht, zeichnen sich Großprojekte diskursiver Umcodierung durch die Abfolge dreier Phasen aus: Auf die Phase der Auflockerung eines Diskurses (defreezing) folgt eine zweite Phase der eigentlichen inhaltlichen Neuausrichtung (moving). Abschließend wird die geleistete Diskursarbeit durch ein breites Ensemble an Rationalitäten, Regierungstechniken und Institutionen auf Dauer gestellt (refreezing, vgl. Lewin 1997). Vielleicht wäre es lohnenswert, in dieser Perspektive zu fragen, inwieweit das Sloterdijk’sche Anthropologie-Projekt eine symptomale Lektüre erlaubt. Gegenstand einer solchen Spurenlese könnte die Überlegung sein, ob sich in Sloterdijks Texten die subkutanen Unterströmungen einer um die Begriffe ‚Zoe‘ und ‚Bios‘ zirkulierenden Neuerfindung des Menschen ausmachen lassen, die sich nicht mehr wie noch in den 1990er Jahren in Expertendiskursen oder der Evokation technischer Möglichkeiten erschöpfen, sondern als integraler Bestandteil eines neoliberalen Dispositivs die konsensuelle Vorstellung von einem ‚guten Leben‘ in eine bestimmte Richtung weiter schreiben und damit ein Leitbild gesellschaftlich akzeptablen Verhaltens zementieren. Das hieße gleichwohl, Sloterdijks Medienhandeln im Sinne Foucaults die „Prävalenz eines strategischen Ziels“ (Foucault 2003: 393) zu unterstellen, die einer Skandalisierung wert wäre. Literatur Baudrillard, Jean (2000): The Vital Illusion. New York: Columbia University Press. Beck, Ulrich (2010): Schlemmen für die Dritte Welt. Peter Sloterdijks Gedankenexperiment ist im strengsten Sinne reaktionär. Eine Erwiderung. In: Cicero. Magazin für politische Kultur 1/2010, S. 67-69. Blumenberg, Hans (1987): Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bolz, Norbert (2009): Irgendetwas kann man immer werden. Norbert Bolz im Interview. In: Die Wirtschaftswoche 16/2009, S. 39-42. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Caduff, Corina (2004): Experiment Klon. In: Macho, Thomas/Wuschel, Anette (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 230-241. Foucault, Michel (2003): Das Spiel des Michel Foucault. In: Ders: Dits et Écrits. Schriften in vier Bänden, Bd. III 1976-1979. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 391-429.
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Determinanten von Skandalisierung in der politischen Auslandsberichterstattung: Eine empirische Analyse Patrick Weber
Auslandsberichterstattung steht in der Kritik. Waren es früher noch der „ungleiche Nachrichtenaustausch“ zwischen den im internationalen Nachrichtensystem dominierenden Ländern des kapitalistischen Westens und den sozialistischen Ländern Osteuropas sowie zwischen den industrialisierten Ländern der nördlichen Hemisphäre und den Entwicklungsländern der sog. Dritten Welt und die daraus vermeintlich resultierenden „fragmentarischen Weltbilder“, die Debatten und Forschung bestimmten (Meier 1984), wird die Diskussion heute unter veränderten Vorzeichen geführt. So habe der mit dem Ende des Kalten Krieges verbundene Wegfall der „funktionalen Distanz“ (Schenk 1987: 40) zwischen Ländern ehemals grundverschiedener politischer Systeme, die Verbesserung der technologischen Rahmenbedingungen von Auslandsberichterstattung sowie die Globalisierung der Nachrichtensysteme eben gerade nicht zu den erhofften umfassenderen und vollständigeren medialen Weltbildern geführt. So konstatiert etwa Berger (2009: 1): „Ausgerechnet diese historischen Umbrüche lösten aber in vielen westlichen Medien eine entgegengesetzte Reaktion aus. Die Berichterstattung über die neue Welt wurde nicht verstärkt, sondern ausgedünnt“. Gleichzeitig wird Auslandsberichterstattung in der globalisierten Gesellschaft eine zentrale soziale Funktion zugeschrieben: Prominente Globalisierungstheoretiker argumentieren, dass die Ausweitung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu immer mehr Staaten und Institutionen umfassenden Interaktionsnetzwerken nur auf der Basis des in den (Auslands-)Nachrichten repräsentierten gemeinsamen Wissens möglich ist (Giddens 1996: 100f.). Empirische Annäherungen an das Phänomen zeigen, dass Auslandsberichterstattung sowohl auf der Individualebene als auch im politischen Prozess bedeutende Wirkungen entfaltet, die man als Mechanismen solcher Integrationsprozesse verstehen kann. So kann das Ausmaß der Berichterstattung über ein Land die Salienz dieser Nation in der öffentlichen Wahrnehmung beeinflussen (Salwen & Matera 1992) sowie die Beurteilung ihrer Wichtigkeit in den internationalen Beziehungen (Wanta et al. 2004). Darüber hinaus stellt massenmediale (Auslands-)Berichterstattung für Politiker eine wichtige Informationsquelle über die öffentliche Meinung dar (Powlick 1995), auf die auch politisches Handeln K. Bulkow, C. Petersen (Hrsg.), Skandale, DOI 10.1007/978-3-531-93264-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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reagiert (Brettschneider 1996). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Auslandsberichterstattung als eine wichtige Determinante diplomatischer Beziehungen und Außenpolitik allgemein angesehen wird (Hafez 2002: 108ff.) und dass es für ein anderes Land durchaus bedeutsam ist, ob und wie es in der Auslandsberichterstattung Deutschlands präsent ist. Seine Relevanz spiegelt sich auch in der langen Tradition wider, die das Thema Auslandsberichterstattung in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung hat.1 Sie beschäftigt sich insbesondere mit zwei zentralen Fragen: 1)
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Struktur der Auslandsberichterstattung: hier interessieren bspw. Fragen nach dem Anteil der Auslandsberichterstattung in den Nachrichten, der unterschiedlichen Medienpräsenz/-resonanz einzelner Länder und eine Vielzahl von Inhaltseigenschaften. Meist haben diese Fragestellungen einen normativen Hintergrund und spiegeln die Sorgen über Ungleichheiten und Ungleichgewichte im internationalen Nachrichtenfluss, ‚verzerrte‘ Nationenimages und die potentiellen Folgen solcher Berichterstattungsmuster, was auch den Hintergrund der Debatte um eine „Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung“ bildet,2 deren Argumentation noch immer einen relevanten Referenzpunkt für die Forschung darstellt (siehe z.B. Madikiza & Bornman 2007). Die Frage nach der Erklärbarkeit dieser Berichterstattungsmuster. Insbesondere die Frage nach den Einflussfaktoren der medialen Präsenz eines Landes in einem anderen ist von anhaltendem Interesse (Wu 1998). Neueste Forschungsarbeiten erweitern diese Perspektive und versuchen neben der reinen Präsenz eines Landes in den Medien auch weitere Berichterstattungsmuster zu beschreiben und zu erklären: So zeigt Weber (2010), dass auch die Kontinuität der Berichterstattung über ein Land, deren thematische Vielfalt und die Variabilität der journalistischen Darstellungsweisen vorhergesagt werden können.
Der vorliegende Beitrag reiht sich in diese Entwicklung ein und hat zum Ziel, Skandalisierung als Berichterstattungsmuster messbar zu machen, eine Erklärung zum Ausmaß der Skandalisierung in der Auslandsberichterstattung zu entwickeln und einer ersten empirischen Prüfung zu unterziehen. Zum einen soll damit die Diskussion um die oft als problematisch empfundene Skandalorientierung der Auslandsberichterstattung auf empirische Beine gestellt, zum anderen darüber hinausgehend ein Erklärungsansatz für ein Be1 2
Einen Überblick bis einschließlich der 1980er Jahre bietet z.B. Alscheid-Schmidt (1991: 10-18). Siehe die von der International Commission for the Study of Communication Problems verfasste Studie (1980: 156ff.).
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richterstattungsmuster (welches nicht von vornherein als negativ zu bewerten ist) expliziert werden. Ein wesentliches Merkmal von Skandalberichterstattung ist die Aufdeckung von Verstößen gegen zentrale Werte und Normen. Durch dieses öffentliche Anprangern von Missständen wird ihr das Potential zugeschrieben, das Wertegefüge zu bekräftigen und damit einen wesentlichen gesellschaftlichen Integrationsbeitrag zu leisten (Neckel 1989, 1990; Gluckmann 1989). Vor diesem Hintergrund wird hier von der These ausgegangen, dass Skandalisierung ein Mechanismus medialer Aufmerksamkeitserzeugung ist, der das öffentliche Bewusstsein auf besonders relevante Auslandsthemen lenken kann. Eine Studie von Baum (2002) zeigt, dass man Skandalisierung dieses Potential empirisch begründet zuschreiben kann: Er zeigt, dass die Nutzung sog. Soft-News mit ihrer Fokussierung auf Gewalt, Skandale, Dramatisierung und Krisen die Aufmerksamkeit für und die Vertrautheit mit politischen Auslandsthemen insbesondere bei sonst uninteressierten Publika erhöht.3 Skandalisierung stellt danach also einen Mechanismus dar, der in der Lage ist, die ‚Hindernisse‘ im internationalen Nachrichtenfluss zu überwinden und andere Länder mit politischen Themen ins Bewusstsein des heimischen Publikums zu rücken. Sie bildet so eine wichtige Grundlage für politische Mobilisierung in diesem Politikfeld. Angesichts der daraus erwachsenden Relevanz geht es zunächst um die Frage: Wodurch zeichnet sich Skandalisierung als Berichterstattungsmuster aus? Skandale, Medienskandale & Skandalisierung Besonders zur Form des politischen Skandals gibt es eine Fülle an Literatur – eine konsentierte Definition sucht man, so das weit verbreitete Urteil (z.B. bei Böcking 2007: 503 oder Neu 2004: 3), aber vergeblich. Dieses Problem muss hier nicht gelöst werden. Auf Basis eines Einblicks in einige Systematisierungsversuche (der nicht den Anspruch einer vollständigen Übersicht erhebt) sollen hier lediglich einige Kernmerkmale von Skandalen identifiziert werden, die in einem zweiten Schritt, sofern geeignet, zur Entwicklung eines Messinstruments für Skandalisierung in der Berichterstattung genutzt werden, das mit diesem Beitrag zur Diskussion gestellt wird.
3
Andererseits muss auch darauf hingewiesen werden, dass der Skandalberichterstattung eine Reihe negativer Wirkungen zugeschrieben wird (z.B. Neckel 1990), worunter die Vermutung, Skandalisierung gehe längerfristig mit steigender Politikverdrossenheit einher (Friedrichsen 1996; Kepplinger 1996) auf die potentielle Janusköpfigkeit des Phänomens Skandalisierung verweist. Empirisch erweist sich diese Wirkungsbeziehung höchstens als schwach (Wolling 2001; Maier 2003). Für den Bereich der Auslandsberichterstattung liegen dazu bisher keine Befunde vor.
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Ausgangspunkt dafür ist die Definition von West, der unter einem Skandal „an event in which the public revelation of an alleged private breach of a law or a norm results in significant social disapproval or debate and, usually, reputational damage“ versteht (2006: 9). Ein Skandal ist demnach ein Ereignis, für das ein (auch mutmaßlicher) Normbruch konstituierend ist sowie dessen öffentliche Enthüllung. Skandale sind zudem gekennzeichnet durch zwei typische Reaktionen auf das Bekanntwerden des Normbruchs: soziale Missbilligung und die kontroverse Debatte über den Normbruch. Als typische Folge eines Skandals nennt West den Ansehensverlust. Thompson (2000:13f.) fügt den konstituierenden Merkmalen hinzu, dass die öffentliche Enthüllung trotz Verheimlichungsversuch des Normbrechers erfolgt. Hinsichtlich der skandaltypischen Reaktionen stellt er heraus, dass auch Unbeteiligte und vom Skandal nicht Betroffene ihre Missbilligung öffentlich äußern. Die Folgen sieht er ähnlich wie West im Reputationsverlust. Bösch (2006: 27)4 gelangt ähnlich wie Hondrich (2002: 15f.) auf Basis eines Vergleichs von Skandalen aus zwei Jahrhunderten zu drei Merkmalen, die einen Sachverhalt als Skandal auszeichnen. Als konstituierendes Element sieht auch er den Normbruch eines Akteurs, der für die Wahrung von Normen und Werten steht. Dieser Zusatz verweist (wie auch die von den anderen Autoren angesprochene Gefahr des Reputationsverlusts) darauf, dass Normverstöße von Statusakteuren im besonderen Maße Skandale provozieren. Weiterhin führt Bösch die Aufdeckung des Normbruchs als separates Kriterium an und nennt schließlich als skandaltypische Reaktion die breite öffentliche Empörung über den Normbruch. Zentrale Voraussetzung dafür, dass ein Normbruch zu einem Skandal werden kann, ist mithin dessen öffentliches Bekanntwerden. Selbiges sowie das Entstehen einer breiten öffentlichen Empörung ist heute ohne Massenmedien kaum vorstellbar: indem sie Normbrüche thematisieren, verschiedene Akteure mit bewertenden Aussagen ein Forum geben und selbst Stellung beziehen, bilden sie eine entscheidende Instanz in Skandalen. Im Zuge der Medialisierung der Gesellschaft spielen Medien eine immer aktivere Rolle in Skandalen, werden selbst zu aktiven Skandalierern, was sich nicht zuletzt an einer Zunahme der Skandalkommunikation ablesen lässt (Imhof 2006: 202). Dieser aktiven Rolle der Medien versucht u.a. Burkhardt (2006: 25f.)5 mit dem Begriff des ‚Medienskandals‘ gerecht zu werden: Während sich bei mediatisierten Skandalen die Rolle der Medien auf das bloße Publikmachen des Skandals beschränke, zeichneten sich Medienskandale durch eine narrative Inszenierung des Normbruchs aus, die spezifischen Produktionsmechanismen 4 5
Siehe hierzu auch den Beitrag von Bösch in diesem Band. Siehe hierzu auch den Beitrag von Burkhardt in diesem Band.
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des Mediensystems folgt.6 Für diese ‚narrative Inszenierung‘ wird im Folgenden der Begriff Skandalisierung verwendet und danach gefragt, wie der Begriff empirisch zu füllen ist. Nach Sanders bezeichnet Skandalisierung in der Berichterstattung „the apparent tendency for news content to focus on material exposing the foibles and misdemeanors of fellow citizens, especially the rich, famous, and powerful“ (Sanders 2008: 4482). Demnach ist die Berichterstattung umso stärker skandalisiert, je intensiver Normbrüche insbesondere von Statusakteuren thematisiert werden. Damit ist ein grundlegendes Berichterstattungsmerkmal für die Identifizierung von Skandalisierung benannt. Die vorstehende Diskussion zeigt, dass dies nur ein Minimalkriterium sein kann. Detaillierter rekonstruiert werden die Mechanismen der Skandalisierung in der Regel in Form von exemplarischen Analysen einzelner Skandale (z.B. Burkhardt 2006). Tabea Böcking (2007: 504f.) systematisiert die Erkenntnisse solcher Arbeiten und kommt zu zwei Klassen von Berichterstattungsmerkmalen. Unter die strukturellen Merkmale fallen neben Einfachheit und Ereignisorientierung insbesondere die inhaltliche und zeitliche Dynamik der Berichterstattung. Als wichtigstes inhaltliches Merkmal gilt die Negativität: „Ausdruck findet sie sowohl in den berichteten Ereignissen als auch in bewertenden Stellungnahmen der beteiligten Akteure und der Journalisten“ (2007: 505). Dies verweist auf ein zweites zentrales inhaltliches Merkmal, die verbale Kontroverse (Thematisierung, Deutungen und Gegendeutungen). Schließlich fällt die verstärkte Verwendung rhetorischer Stilmittel in diese Merkmalsklasse. Überdies weist Böcking (2007: 504f.) auf die starke Verschränkung struktureller und inhaltlicher Merkmale hin, die sich u.a. darin äußert, dass die aktuellen Inhalte der Berichterstattung stark von der aktuellen Phase innerhalb der Skandaldynamik abhängig sind. So wird nach Burkhardt (2006: 184f.) der Normbruch und die negative Bewertung primär in der sog. Durchbruchsphase thematisiert, während die Entstehung breiter öffentlicher Empörung (und ggf. ihrer Korrelate in der Berichterstattung wie bspw. Moralisierung und negative Reaktionen Dritter) primär in der Kulminationsphase liegt. Nach diesen zwei eher berichterstattungsintensiven Phasen (Böcking 2006: 505) ist die Abschwungphase durch weniger Berichterstattung charakterisiert sowie, da die Lösung des durch den Normbruch bedingten Konflikts in diese Phase fällt, durch geringere verbale Kontroverse. Das zu entwickelnde Messinstrument sollte demnach in der Lage sein, Skandalisierung in der Berichterstattung unabhängig vom Skandalstadium zumindest zu identifizieren und gleichzeitig so sensibel auf die Dynamik reagieren, 6
Siehe hierzu auch Thompson (2000: 31) sowie Lull & Hinerman (1997: 16).
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dass es dann hohe Skandalisierungswerte anzeigt, wenn die Rolle der Medien in der Skandaldynamik am bedeutendsten ist. Aus diesem Grund wird das Ausmaß der Skandalisierung auf Basis unterschiedlicher Berichterstattungsmerkmale erfasst, die die wesentlichen Skandal- und Skandalisierungselemente der bisherigen Diskussion abbilden.7 Das erste, in der Skandaldynamik relativ konstante Berichterstattungsmerkmal, ist die Thematisierung eines Normbruchs. Er bildet das konstituierende Element eines Skandals und muss, wie marginal auch immer, in der Berichterstattung referenziert werden. Bezüglich des Normbruchs wird hier die Ansicht von Maier (2003: 3) geteilt, dass es ausreicht, wenn eine Norm als verletzt wahrgenommen wird oder ein Sachverhalt als Normverletzung dargestellt wird – unabhängig davon, ob tatsächlich ein breiter gesellschaftlicher Konsens über diese Norm besteht. Die Diskussion hat gezeigt, dass (vermeintliche und/oder unterstellte) Normbrüche besonders dann Skandalpotential haben, wenn sie Statusakteuren zugeschrieben werden, weshalb der Status des Skandalierten als Kriterium zur abgestuften Erfassung des Normbruchs berücksichtigt wird. Als zweites Berichterstattungsmerkmal, dessen Vorkommen in der Skandalberichterstattung relativ unabhängig von der Skandalphase ist, dessen Intensität aber stärker mit den Phasen variieren dürfte, ist Negativität. Darunter wird die negative Bewertung des Normbruchs verstanden und durch das Skandalmerkmal der Missbilligung abgebildet. Man kann davon ausgehen, dass die Missbilligung am größten ist, wenn sich eine konsonant negative Bewertung des Normbruchs als Deutung durchgesetzt hat. Negativität soll deshalb abgestuft über die Konsonanz der (negativen) Bewertungen in einem Artikel erfasst werden. Mit der Thematisierung von Empörungsreaktionen wird schließlich ein weiteres zentrales Skandalmerkmal berücksichtigt, dessen Vorkommen sich hauptsächlich auf die Kulminationsphase von Skandalen konzentrieren dürfte. Darunter werden alle berichteten Reaktionen auf einen Normbruch von Akteuren verstanden, die als Ausdruck von Entrüstung, Auflehnung, Groll oder Protest gelten. Sowohl Thompson (2000) als auch Bösch (2006) und Burkhardt (2006) haben darauf hingewiesen,8 dass die Öffentlichkeit und gesellschaftliche Gemeinschaftlichkeit der Empörung Kennzeichen von Skandalen sind. Aus diesem Grund soll Empörung abgestuft über die in einem Artikel dargestellte Kollektivität von Empörungsreaktionen erfasst werden.
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Der Vollständigkeit wegen sei erwähnt, dass das Skandalkriterium der öffentlichen Enthüllung auf Grund des hiesigen Verständnisses von Skandalisierung nicht geeignet ist, da auf Grund der Publizität von Skandalberichterstattung jeglicher Beitrag dieses Kriterium erfüllt. Letztere auch in ihren Beiträgen zu diesem Band.
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Alle übrigen in der bisherigen Diskussion aufgeworfenen Kriterien werden für die Entwicklung des Messinstruments nicht berücksichtigt, weil sie sich entweder einer inhaltsanalytischen Erfassung entziehen (wie z.B. der Ansehensverlust des Skandalierten), zu stark von einzelnen Skandalphasen abhängig sind (z.B. Thematisierung von Verheimlichungsversuchen, verbale Kontroversen) oder ihr Bezug zur Intensität von Skandalisierung nicht ganz klar ist (z.B. Verwendung rhetorischer Stilmittel). Den weiteren Überlegungen liegt daher folgende Minimaldefinition von Skandalisierung zu Grunde: Unter Skandalisierung wird ein Bündel journalistischer Selektions- und Darstellungsentscheidungen verstanden, das sich in folgendem Berichterstattungsmuster ausdrückt: Thematisierung von Normbrüchen bei gleichzeitiger Thematisierung mindestens eines der Skandalmerkmale Negativität und Empörungsreaktionen. Wie ist nun – aufbauend auf diese Definition – das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über ein Land zu erklären? Skandalisierung der Auslandsberichterstattung – Ein Erklärungsansatz Als zentrale Hintergrundfaktoren zur Erklärung von Skandalisierung als Berichterstattungsmuster gelten nach Sanders (2008: 4483) die Kommerzialisierung der Medien und die Ideologie des investigativen Journalismus, da dieser die Aufmerksamkeit für potentielle Normbrüche von Machtakteuren erklärt und Skandale i.d.R. alle Zutaten einer ‚guten Geschichte‘ aufweisen, die in der Lage sind, Publikumsinteresse und damit Publika als zentrales von Medien produziertes Gut zu generieren.9 Auch die hier zu entwickelnde Erklärung für das Ausmaß von Skandalisierung in der Auslandsberichterstattung setzt am Punkt der kommerziell bedingten Orientierung journalistischer Inhalte an Publikumsinteressen an. Eine etablierte Theorie, die journalistische Selektionsentscheidungen an das Publikumsinteresse koppelt, ist die Nachrichtenwerttheorie, wie sie erstmals ausführlich von Galtung und Ruge (1965) formuliert wurde.10 Diese erklären die Auswahl bestimmter Ereignisse zur Publikation auf Basis der sog. Nachrichtenfaktoren. Dies sind Ereignismerkmale, von denen auf Grund allgemein- und wahrnehmungspsychologischer Mechanismen angenommen wird, dass sie die Selektivität im Nachrichtensystem und das Publikumsinteresse gleichermaßen lenken (1965: 68). Dass Nachrichtenfaktoren sowohl journalistische Publikationsentscheidungen als 9
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Für eine ausführliche Darstellung der historischen Entwicklung von Skandalen zu Medienskandalen und eine umfassendere Systematisierung von Einflussfaktoren siehe Burkhardt (2006: 60ff.). Zu Vorläufern und Theorieentwicklung siehe Eilders (1997) und Fretwurst (2008).
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auch Publikumsreaktionen beeinflussen, ist inzwischen gut bestätigt.11 Insbesondere folgende Faktoren haben sich nach Eilders (2006: 10f.) als erklärungskräftig für journalistische Selektion erwiesen: die Betroffenheitsreichweite eines Ereignisses, sein Kontroversitätsgrad und der mit ihm verbundene Schaden, die Beteiligung von Statusakteuren und prominenten Personen sowie die Zugehörigkeit eines Ereignisses zu einem etablierten Thema. Zusätzlich zählen die auf den Ereignisort bezogenen Nachrichtenfaktoren Nähe und Elitenationen zu den stabilen Selektionskriterien. Eilders (1997) konzeptualisiert Nachrichtenfaktoren als Relevanzindikatoren, wobei Relevanz definiert ist als „die Entsprechung eines Stimulus mit individuellen Interessen, wobei diese Interessen durch vorherige Erfahrungen oder bestimmtes Wissen bedingt oder aber von kurzfristig wirksamen Zielen bestimmt sein können“ (1997: 93f.). Ausgehend davon wird kollektive Relevanz „als Schnittmenge oder gemeinsamer Nenner der individuellen Relevanzen verstanden“ (1997: 94). Nachrichtenfaktoren sind, so Eilders (1997: 86-106), dazu geeignet, solche kollektiven Relevanzzuweisungen auf evolutionstheoretischer, allgemein-psychologischer und sozialisationstheoretischer Basis zu erklären: Evolutionstheoretisch sind Relevanzzuweisungen dadurch zu erklären, dass die bevorzugte Wahrnehmung bestimmter Umweltstimuli und entsprechende Reaktionen darauf zu einem Überlebensvorteil führen. Besonders Ereignisse, von denen man selbst betroffen oder gar bedroht ist, sollten somit hohe Relevanz haben. Auch bei der sozialisationstheoretischen Erklärung beruht die Relevanzzuweisung auf einer (potentiellen) Betroffenheit: Sind im Laufe der Sozialisation erworbene gemeinsame Werte und Normen betroffen, ist man als Gesellschaftsmitglied betroffen. Allgemeinpsychologische Informationsverarbeitungsmechanismen (im Sinne anthropologischer Konstanten) erklären die Relevanzzuweisung zu bekannten und vertrauten Reizen: Sie können inhaltlich leicht zu bestehendem Wissen in Beziehung gesetzt werden und machen dadurch Sinn. Vor dem Hintergrund der hier vertretenen These, dass Skandalisierung ein Mechanismus der Aufmerksamkeitsgenerierung für besonders relevante Auslandsereignisse ist, bildet die so spezifizierte Theorie die Grundlage für die Erklärung von Skandalisierung in der Berichterstattung über ein Land. Basisannahme der Erklärung ist, dass nicht nur Selektionsentscheidungen (publizieren vs. nicht publizieren), sondern auch Darstellungsentscheidungen durch Nachrichtenfaktoren erklärbar sind.12 Darauf aufbauend wird angenommen, dass 11 12
Siehe hierzu die Überblicke bei Eilders (1997) und Fretwurst (2008). Diese Annahme ist m.E. gerechtfertigt durch die Vielzahl inhaltsanalytischer Studien die nachweisen, dass die mediale Beachtung einer Meldung (i.d.R. ein Index aus Platzierung und Hervorhebung) durch die in ihr vorkommenden Nachrichtenfaktoren erklärbar ist (siehe Eilders 1997: 31ff.). Damit sind im Grunde Darstellungsentscheidungen erklärt. Erst die Befunde experimentel-
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Skandalisierung in der Auslandsberichterstattung umso wahrscheinlicher ist, je (kollektiv) relevanter ein Sachverhalt für das heimische Publikum auf Grund potentieller Betroffenheit ist. Betroffenheit indizieren nach Eilders (1997: 105) die Nachrichtenfaktoren Nähe und Status des Ereignislandes, Bezug zur Eigengruppe (deutsche Beteiligung an einem Ereignis), Einfluss der Akteure, Kontroverse, Überraschung, Betroffenheitsreichweite und Schaden. Annahme drei ist, dass Skandalisierung sowohl durch transsituativ stabile Faktoren als auch durch konkrete und wechselnde Ereignislagen beeinflusst wird. Als stabile Faktoren werden alle Faktoren bezeichnet, die unabhängig von bestimmten Ereignislagen die Wahrscheinlichkeit von Skandalisierung erhöhen, weil sie im Nachrichtensystem eine höhere Sensibilität für Normbrüche verursachen. Basierend auf der Nachrichtenwerttheorie lassen sich hier in erster Linie die Ländereigenschaften nennen, die eine stärkere Relevanzzuweisung begründen. Verschiedene Studien zeigen, dass es für statushohe und nahe Länder ein generalisiertes journalistisches Interesse gibt, was zu einer stärkeren Präsenz dieser Länder in der Auslandsberichterstattung führt (z.B. Hagen et al. 1998; Wu 2000; Scherer et al. 2006). Hier wird Ähnliches für Skandalisierung vermutet, woraus sich die ersten beiden Hypothesen ergeben: H1: Je höher der Status eines Landes, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H2: Je größer die Nähe eines Landes, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. Als zweiter erklärungsrelevanter Faktor wird das Thema (im Sinne des berichteten Realitätsbereichs) berücksichtigt. Grundlage dafür bildet einerseits die Annahme, dass es bei einigen Realitätsbereichen wahrscheinlicher ist, dass Normbrüche thematisiert werden. Dies sollte z.B. beim Thema politische Kriminalität so sein, weil kriminelle Handlungen immer einen Normbruch implizieren und dieser Realitätsbereich somit durch Normverletzungen definiert ist. Ein anderes Beispiel sind Themen wie Kultur oder Politik. In diesen Realitätsbereichen geht es häufig um normgebende bzw. -verändernde Fragen (z.B. Gesetzgebung) oder normrelevante Diskurse (z.B. über provokative Kunst oder nationale Erinnerungs- und Gedenkkultur), so dass hier die Thematisierung von Normverletzungen wahrscheinlicher ist als in Bereichen, die nicht so stark im Normativen und ler Studien mit Journalisten zur Selektionsrelevanz von Nachrichtenfaktoren (1997: 53ff.) rechtfertigen aber die Verwendung des Beachtungsgrades als Indikator für journalistische Selektion. Über diese Indikatorfunktion hinaus wird dadurch zudem gezeigt, dass sich der Geltungsbereich der Theorie nicht nur auf Selektion beschränkt, sondern eben auch auf journalistische Darstellungsentscheidungen anwendbar ist.
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Symbolischen angesiedelt sind. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass in Realitätsbereichen, von denen die einheimischen Bürger potentiell eher betroffen sind (z.B. die Außen- und internationale Politik des berichteten Landes), Skandalisierung wahrscheinlicher ist. Wie bereits bei den transsituativ stabilen Ländermerkmalen wird angenommen, dass Themen ein unterschiedliches ‚Skandalisierungspotential‘ haben – und zwar unabhängig von konkreten, aktuellen Ereignislagen. Ob dem so ist, soll durch Beantwortung folgender Forschungsfrage geklärt werden: FF1: Welche Rolle spielen Themen für das Ausmaß der Skandalisierung der Berichterstattung über ein Land? Wesentliche Eigenschaften der aktuellen Ereignislage lassen sich über Nachrichtenfaktoren abbilden. Unter der Annahme, dass insbesondere Ereignismerkmale, die potentielle Betroffenheit indizieren, Skandalisierung wahrscheinlicher machen, werden folgende Hypothesen formuliert: H3: Je intensiver die deutsche Beteiligung an Ereignissen der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H4: Je größer der Einfluss der Akteure in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H5: Je größer die Kontroverse in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H6: Je größer die Überraschung in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H7: Je größer die Reichweite in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. H8: Je größer der Schaden in der Berichterstattung über ein Land, desto intensiver das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über dieses Land. Explorativ soll zudem die Rolle weiterer Nachrichtenfaktoren berücksichtigt werden:
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FF2: Welche Rolle spielen die Nachrichtenfaktoren Prominenz, Nutzen und Etablierung in der Berichterstattung über ein Land für das Ausmaß der Skandalisierung in der Berichterstattung über ein Land? Anlage der empirischen Studie Den Forschungsfragen soll hier in einer exemplarischen Studie zur Osteuropaberichterstattung einer deutschen Tageszeitung nachgegangen werden, die auch eine erste Prüfung des entwickelten Erklärungsmodells darstellt. Es handelt sich dabei um eine partielle Sekundäranalyse einer Studie zu Nachrichtengeographie und Nachrichtenfluss (Weber 2008). ‚Partiell‘ deshalb, weil das Messinstrument für Skandalisierung für die hier berichtete Arbeit neu entwickelt und am Originalmaterial der Studie nachcodiert wurde. Auf Grund forschungsökonomischer Beschränkungen konnte dies nur für die Berichterstattung einer Tageszeitung der ursprünglichen Medienstichprobe erfolgen, den Münchner Merkur.13 Untersuchungsgrundlage bildet die Osteuropaberichterstattung des Jahres 2006. Durch einfache Zufallsauswahl wurden pro Quartal 13 Tage, insgesamt also 52 Zeitungsausgaben, zur Abbildung dieses Zeitraums ausgewählt. Darin wurden alle Artikel aus dem täglich erscheinenden redaktionell betreuten allgemeinen überregionalen Nachrichtenteil der Zeitung mit Osteuropabezug14 analysiert. Für jeden Artikel bzw. das darin berichtete Ereignis wurden folgende Merkmale codiert (die Zahlen in Klammern geben die Reliabilitätskoeffizienten15 an): Osteuropabezug (codiert wurden bis zu zwei Länder, über die im Artikel berichtet wird; Reliabilität 1 bzw. 0,98 für den zweiten Bezug), Thema (Codierung von insgesamt 30 Realitätsbereichen: 0,77), Einfluss (Macht des zentralen Akteurs: 0,91), Prominenz (Bekanntheitsgrad des zentralen Akteurs: 0,74), Kontroverse (Intensität der Auseinandersetzung: 0,77), Reichweite (Anzahl der betroffenen Personen: 0,72), Schaden (negative Folgen: 0,86), Nutzen (positive Folgen: 0,84), Überraschung (Erwartungswidrigkeit eines Ereignisses: 13
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Aus Platzgründen werden im Folgenden nur die wichtigsten Punkte der Untersuchungsanalage vorgestellt – für eine ausführliche Diskussion wird auf die Publikation zur Primärstudie (Weber 2008) verwiesen. Durch Schauplatz oder zentrale Akteure hergestellte Bezüge zu: Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Rumänien, Serbien, Montenegro, Moldawien, Russland, Ukraine, Weißrussland. Intercoderreliabilität: Anteil übereinstimmender Codierungen zweier unabhängiger Codierer bei der Codierung identischen Materials im Pretest unter Berücksichtigung der Reihenfolge. Siehe Früh (2001: 179f.). Werte über 0,7 gelten als akzeptabel.
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0,95), Deutsche Beteiligung (Bezug zu Deutschland: 1), Etablierung von Themen (Beachtungszeitraum des zum Ereignis gehörenden Issues: 0,93). Neu für diese Analyse entwickelt wurde das Messinstrument für Skandalisierung. Mittels folgender Kategorien wurden die oben explizierten Dimensionen des Konstrukts erhoben (Reliabilitätswerte in Klammern).16 Mit der Variable Normbruch wurde auf einer Skala von 0-2 erfasst, ob im Artikel ein Normbruch thematisiert wurde und ob er einem Statusakteur zugeschrieben wurde oder nicht (0,94). Ein Normbruch wurde codiert, wenn ein im Artikel berichteter Sachverhalt explizit als Normverletzung bezeichnet wurde oder wenn auf Grund des Alltagswissens klar ist, dass er einen Normbruch darstellt (z.B. Menschrechtsverletzungen, Bruch demokratischer Regeln und Rechte, Straftaten bzw. alle illegalen Handlungen). Mit der Variable Negativität wurde auf einer Skala von 0-2 erfasst, ob der Normbruch negativ bewertet wird und ob diese Bewertung konsonant im gesamten Artikel vorhanden ist, wobei die Bewertung explizit durch den Journalisten oder indirekt durch zu Wort kommende andere Akteure erfolgen kann (0,94). Mit Empörung wurde auf einer Skala von 0-2 erfasst, ob im Artikel Empörung über den Normbruch zum Ausdruck kommt und ob sie ggf. als von einer größeren Akteursgruppe geteilt dargestellt wird (0,94). Jedem der in einem Artikel erfassten Osteuropabezüge wurden nachträglich der Status und die Nähe des berichteten Landes zugeordnet. Die Werte ergaben sich auf Grund einer Faktorenanalyse mehrerer Indikatoren für diese beiden Konstrukte, die für jedes der osteuropäischen Länder erfasst und einer statistischen Analyse unterzogen wurde (siehe ausführlich Weber 2008, 400ff.). Mittels Faktorenanalyse wurden drei voneinander unabhängige Dimensionen von Ländereigenschaften ermittelt:17 Der Status eines Landes ergibt sich u.a. auf Basis des Bruttoinlandsprodukts und des Verteidigungsetats des Landes. Die Ähnlichkeit eines Landes zu westlichen Demokratien ergibt sich u.a. auf Basis der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und dem Ausmaß der Pressefreiheit. Die räumliche Nähe ergibt sich auf Basis der räumlichen Entfernung und dem Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung in diesem Land. Ähnlichkeit und räumliche Nähe sind zwei unabhängige Dimensionen des übergeordneten Konstrukts Nähe.
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Intracoderreliabilität nach Holsti (1969), die auf Basis der doppelten Codierung von 54 Artikeln im Abstand von zwei Wochen mit dem Programm von Jenderek (2006) errechnet wurde. Eine ausführliche Version des Messinstruments ist auf Anfrage vom Autor erhältlich. Es handelte sich um eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimaxrotation. Extrahiert wurden drei orthogonale Dimensionen mit Eigenwerten größer 1, die zusammen mehr als 89% der Varianz erklären. KMO=0,762; min. MSA=0,6; Bartlett: Chi²=251,62; df=45; p