Jimmy Guterman Sinéad O'Connor Ihr Leben und ihre Musik
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Jimmy Guterman Sinéad O'Connor Ihr Leben und ihre Musik
»Sinéad O'Connor ist genau das, was sie eigenen Aussagen zufolge nicht sein will: ein berühmter Popstar. Ob sie nun einen ihrer Hits vor einem ausverkauften Auditorium singt oder ob sie einem fasziniert lauschenden Reporter ihre streitbaren Ansichten erläutert – ihre Arbeit steht immer im Blickpunkt der Öffentlichkeit.« (Jimmy Guterman) Sie ist einer der bekanntesten Popstars der 90er Jahre: Sinéad O'Connor. Mit ihrer Ballade »Nothing compares to you« landete sie weltweit einen der sensationellsten Erfolge der letzten Jahre. Und doch galt sie bislang als eher publikumsscheu; als Star, der unter dem Rummel und Klatsch um ihre Person zutiefst leidet. Jimmy Guterman hat es jedoch geschafft – er erzählt die Geschichte der Sinéad mit einer entwaffnenden und oftmals provokanten Offenheit. Ihre Ansichten über Männer, Frauen, Politik, Religion und das Showgeschäft nimmt Guterman akribisch unter die Lupe. Ihr Leben, ihre Überzeugungen und ihre Musik – auf die mit zahlreichen Textbeispielen eingehend eingegangen wird – schließen sich so zu einem feinfühligen Portrait einer der engagiertesten und charismatischstenen Popkünstlerinnen unserer Tage zusammen.
Autor
Jimmy Guterman ist Autor zahlreicher Musikbücher. Zuletzt erschienen von ihm »The Sex Pistols and Amerika« und »The Rolling Stones«.
Jimmy Guterman
Sinéad O'Connor IHR LEBEN UND IHRE MUSIK Aus dem Amerikanischen von Kattrin Stier
GOLDMANN VERLAG
Deutsche Erstveröffentlichung Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Sinéad, Her Live and Music« bei Warner Books, New York
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Berteismann Made in Germany • 11/91 • 1. Auflage ©der Originalausgabe 1991 by Jimmy Guterman © der deutschsprachigen Ausgabe 1991 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Christine Aliano Belichtung: Compusatz, München Druck: Wenschow, München Verlagsnummer: 41266 Lektorat: Erna Tom / SD Herstellung: Sebastian Strohmaier ISBN 3-442-41266-8
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2002
Für Jane Kokernak
Inhalt
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Vorbemerkung des Autors Der dunkelblaue Vogel Irland London The Lion and the Cobra Amerika Kontrolle l Do Not Want What l Haven't Got Superstar Auseinandersetzung
9 11 25 39 49 63 79 91 111 123
Nachwort: Der blaue Vogel fliegt
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Anhang
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(Andrew Macpherson)
Vorbemerkung des Autors Ich weiß nicht, was für Mathe-Noten Sinéad O'Connor hatte, als sie elf war, und es interessiert mich auch nicht, ob sie ihren Sohn als Baby gestillt hat. Diese Art von aufdringlichen Histörchen, die als Enthüllungen daherkommen und dann zusammengenommen die Biographien von Popstars ergeben, gehen uns überhaupt nichts an. Und, was noch wichtiger ist, solche Informationen über eine Person fördern in der Regel weder das Verständnis ihrer Musik noch ihres Kontextes. Die Journalisten sollten sich (und auch die Mühe) nicht scheuen, mehr auf Sinéads Werk zu achten und weniger Tinte auf ihre Haarlänge oder ihren Familienstand zu verschwenden. Was an Sinéad interessant ist, sind weniger ihre privaten Lebensumstände als vielmehr ihre Musik und die damit verbundenen Probleme. Sinéad ist vierundzwanzig und hat erst zwei Alben herausgebracht, aber ihre Musik und ihr Verhalten haben bereits mehr Zündstoff geliefert, als es die meisten Rock and Roll-Sänger in ihrer ganzen Karriere tun. Wie wird man ein Superstar mit bewußt abgehobener, zurückhaltender Musik? Wie erreichen folkloristisch angehauchte Balla-
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den Spitzenplätze in den Charts, wo in unserer Zeit jeder so wild aufs Tanzen ist? Wie wird eine kahlköpfige Frau zum Sexsymbol? All dies sind untersuchenswerte Fragen, die interessanter sind als die Tatsache, ob Sinéad sich selbst die Haare schneidet oder was wirklich zwischen ihr und dem Sänger ihres Vorprogramms, Hugh Harris, gelaufen ist. Allerdings macht es einem Sinéad selbst schwer, ihre Musik isoliert zu betrachten. Auch wenn ihre Songs nicht buchstäblich autobiographisch sind (ein Songschreiber kann keine wahren Erlebnisse verarbeiten, ohne sie zu verändern), so präsentiert sie sie dennoch im übertragenen Sinne autobiographisch. Aus diesem Grund ist es unmöglich, sich genauer mit der Musik zu beschäftigen, ohne dabei auf die Künstlerin zu stoßen. Wenn Sinéad einem Interviewer erzählt: »Alle meine Songs sind autobiographisch«, und hinzufügt: »Wenn ich etwas zur Diskussion stellen will, dann mache ich das in meinen Songs«, so besteht sie selbst darauf, daß wir Rückschlüsse auf ihre Person ziehen, wenn wir ihre Musik hören. Und solange wir das tun, ohne dabei lächerliche Verrenkungen zu machen, können wir schließlich zu einem tieferen Verständnis der Songs und ihrer Interpretin kommen. Es könnte dann sogar noch mehr Spaß machen, Sinéads Platten zu hören. Jimmy Guterman Oktober 1990 In diesem Buch werde ich Sinéad nur bei ihrem Vornamen nennen, da das eher ihrem Selbstverständnis entspricht. Sinéads Musik behandelt die Themen Vertrauen und Nähe, und da würde der Gebrauch ihres Nachnamens unnötige Distanz schaffen.
1 Der dunkelblaue Vogel
Sinead O'Connor ist genau das, was sie eigenen Aussagen zufolge nicht sein will: ein berühmter Popstar. Ob sie nun einen ihrer Hits vor einem ausverkauften Auditorium singt oder ob sie einem fasziniert lauschenden Reporter ihre streitbaren Ansichten erläutert – ihre Arbeit steht immer im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Sie lebt ein äußerst exponiertes Leben, auch wenn sie sagt, daß ihr gerade dies nicht gefällt. Wenn sie auf der Bühne steht, versucht Sinéad sich so weit wie möglich den Leuten zu stellen, gleichzeitig bemüht sie sich, ihre Umgebung unter Kontrolle zu halten. Auf der Tournee, die ihrem zweiten, mehrfach mit Platin ausgezeichneten Album l Do Not Want What l Haven't Got (Ich will nichts, was ich nicht habe) folgt, hat sie ein Publikum, das diese Kontrolle erwartet. Sobald die Lichter im Saal ausgehen, wird Sinéad mit Gebrüll begrüßt, das sich stark von dem Getöse unterscheidet, wie es zum Beispiel bei Heavy-Metal-Bands üblich geworden ist, wenn die Roadies die Nebelmaschinen anwerfen. Es ist ein kniffliges Unterfangen, ein Gebrüll charakterisieren zu wollen, aber jeder, der schon öfter in Rockkonzerten war, kann unterscheiden zwischen einem Getöse, das nur als Auftakt dient, und einem wirklich erwartungsvollen Gebrüll. Sinéads Anhänger fühlen sich in der Regel von ihr angezogen, weil sie spüren, daß sie eine echte Persönlichkeit ist, die Gefühle und Erfahrungen beschreibt und besingt, mit denen sie
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sich identifizieren können. Es ist also klar, daß sie losbrüllen: Die ausgehenden Lichter verstärken ihre Verbundenheit mit Sinéad, und sie lechzen nach einem kraftvollen Auftakt. Und den bekommen sie. Während die Bühne noch im Dunkeln bleibt, ertönt Sinéads Stimme vom Band mit dem gesprochenen Anfangsteil von »Feel So Different« (Fühl' mich so anders), dem ersten Stück von der Platte: l Do Not Want What l Haven't Got. Das Gebrüll der Menge steigert sich, als die Erwartung in Erkennen umschlägt, und man hört: »God, grant me the serenity to accept the things l cannot change, the courage to change the things l can, and the wisdom to know the difference.« (Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.) Synthesizer untermalen ihre Worte. Sinéad spricht ein Gebet, das jedem bekannt ist, der jemals in eine der vielen »Zwölf Schritte zum Heil«-Gruppen geraten ist, die in den 1980er Jahren starken Zulauf hatten. Es gibt also einen Wiedererkennungseffekt auf mehreren Ebenen. Zwei Spots flammen auf und erfassen Sinéad in der Mitte der Bühne. Sie trägt ein enges geblümtes Dress, fast wie einen Badeanzug, der in Shorts übergeht. (Eines der wenigen Outfits, in dem sie in letzter Zeit auf der Bühne erscheint, das nicht weit geschnitten ist.) Sie dreht sich zum Mikrophon und vertieft sich in ihren Song. Das helle Licht betont ihre schlanke Figur ebenso wie ihren kahlen Kopf. Aufgefangen von den Synthesizern, die sich im Verlauf des Songs immer mehr entfalten, ist »Feel So Different« ein Geständnis an ihr Publikum. Für diejenigen, die sich nicht so sehr für Sinéads erste LP The Lion And The Cobra (Der Löwe und die Kobra) erwärmen konnten (und das müssen viele in der Menge sein, da von dieser LP nur knapp ein Fünftel soviel verkauft wurde wie von der nachfolgenden), löst »Feel So Different« auf der Platte wie auch im Konzert ein wahres Hörerlebnis aus. Dieser Song verkündet deutlich, daß etwas Neues mit Sinéad und ihrem Werk passiert, »l am not like l was before« (Ich bin nicht so, wie ich früher war), singt sie langsam und bedächtig, und das
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sind keine leeren Worte eines Rockstars. Dies sind Worte einer reflektierten Künstlerin. Dennoch erhält die Kultfigur Sinéad heute abend ebensoviel Aufmerksamkeit wie die Künstlerin Sinéad. Die kleinste Handbewegung beziehungsweise Steigerung der Lautstärke ruft automatisch euphorisches Kreischen hervor. Wenn sie nur einen ihrer schwarzen Stiefel ein paar Zentimeter bewegt oder die Synthesizermelodie der Keyboarder Mark Taylor und Susan Davis mit einem sanften Hüftschwung unterstreicht, wird sie mit Jubel belohnt, der sie fast übertönt. Sie singt jetzt einen besonders persönlichen Song – ruhig, ohne Schlagzeug, das die Botschaft verstärken könnte –, und doch ist die Lautstärke und Intensität ihres Publikums eher so, wie man sie bei den Playback-Auftritten der New Kids on The Block erwarten könnte. Sinéads Fans äußern oft, daß sie ihnen gefällt, weil sie in ihr eine reizvolle, wenig technisierte Alternative zu videounterstützten Tanznummern wie z. B. von Milli Vanilli oder Paula Abdul finden, aber gerade jetzt bejubeln die Fans eine Kultfigur. Sie kreischen so laut, daß die Musik nicht mehr zu hören ist – sie springen nur noch auf Sinéads Image an, auch wenn es ein Anti-Image ist. »Feel So Different« steigert sich zum Höhepunkt hin. Nachdem sie sich schnell eine akustische Gitarre gegriffen hat, rockt Sinéad los, und das Publikum kommt wieder auf die Beine. Sinéad führt ihre fünfköpfige Band (die zwei Keyboarder, den Gitarristen Marco Pirroni, den Bassisten Dean Garcia sowie den Schlagzeuger David Ruffy) durch eine harte Version von »The Emperor's New Clothes« (Des Kaisers Neue Kleider), ein derb-kräftiger Rocker aus dem neuesten Album, der zugleich als Liebesbotschaft und als Abfuhr aufzufassen ist. Sinéad hüpft über die Bühne, während ihr Gesicht als Dia auf der riesigen Projektionsfläche hinter ihr erscheint. Wieder wird der zurückhaltenden Ehrlichkeit des Songs ein eher aufdringliches Bild entgegengesetzt. Der bewährte Gitarrist Pirroni wirft ein paar kräftige Akkorde ein, die lockerer sein könnten, aber Sinéad singt rauh, ungehobelt, wie ein Punk. Sie geht über die verletzlichen ebenso wie über die herausfordernden Zeilen der gefühlsbetonten Geschichte mit
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gleichbleibender Beharrlichkeit hinweg. Sie starrt geradeaus, spielt ihre Gitarre und singt. Ob Sinéad nun eine Ballade wie »Feel So Different« nur mit Synthesizer oder einen elektrischen Rocker wie »The Emperor's New Clothes« präsentiert, immer bleibt sie hochkonzentriert. Die Menge hat ihr Vergnügen, aber auf der Bühne ist es kaum zu spüren. Dann löst Sinéad die Spannung und versucht, sich selbst und ihr Publikum aufzulockern. Sie legt die Gitarre beiseite und fährt fort mit »l Want Your (Hands On Me)« (Ich will deine Berührung) – einem der wenigen Songs des ersten Albums, der stark genug ist, um neben einem Stück des neuen Albums bestehen zu können, »l Want Your (Hands On Me)« ist als Funkstück zum Abreagieren gedacht, aber obwohl Sinéad Hände und Körper rhythmisch bewegt, während inhaltlich der Song zu rauher, ungezügelter Lust animiert, so ist sie doch nicht auf natürliche Weise funky. Nicht umsonst hat sie die Hilfe eines echten Rappers wie M.C. Lyte in Anspruch genommen, als sie dieses Stück für Tanzclubs neu abgemischt hat. Sinéad streicht mit ihren Händen an ihrem Oberkörper entlang, aufreizend, so wie es die Menge inzwischen von Musikern wie Prince oder Madonna erwartet (und die wiederum haben diese Idee zumindest teilweise von den Minneapolis Dervish übernommen). Sinéad versucht aber nicht, die Bewegungen der Tänzerin Cat Glover (aus der Prince-Truppe zur Zeit von Sign Of The Times) zu imitieren. Ihre fahrigen Bewegungen sind auch zu spontan, als daß man ihr das Etikett der »Madonna der Intellektuellen« anhängen könnte, wie es oberflächliche Rockkritiker getan haben. Im Gegensatz zu Stücken von Prince oder Madonna ist das bewußt Arrangierte nur ein kleiner Teil des sexuellen Aufschreis in Sinéads »l Want Your (Hands On Me)«. Ihre Bewegungen sind ungeprobt und nicht einstudiert; Sinéad stellt ihren Song dar, ohne ihn überzustrapazieren, und die Menge geht mit. Dies ist allerdings nur eine Station der neunzigminütigen Reise, auf die Sinéad ihr Publikum mitnimmt. Sie präsentiert ihre Live-Show auch nicht wie Prince oder Madonna als fortschreitenden Striptease – es sei denn, man wollte diese Show als einen Striptease der
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Gefühle bezeichnen, in dessen Verlauf Sinéad mehr und mehr persönliche Geschichten erzählt. Die folgenden zwei Songs – »Three Babies« und »Black Boys On Mopeds« gehören zu den ruhigsten Aufnahmen auf l Do Not Want What l Haven't Got, und sie zeigen eine Frau, die weit mehr im Sinn hat als den nächsten Beischlaf (während Prince' und Madonnas freie Ansichten letzten Endes doch immer in Sex und Macht gipfeln.) »Three Babies«, ein Song, bei dem Sinéad auf ihrer zwölfsaitigen Akustikgitarre nur von zwei Keyboards unterstützt wird, ist ein andächtiges Lied, das fast religiöse Züge trägt und das zugleich ihren Stimmumfang und die Bandbreite ihrer Anliegen als Texterin deutlich werden läßt. »Three Babies« streift das Thema hart erkämpfter Monogamie und Mutterschaft, und es muß Sinéad heute sehr schwerfallen, diesen Song in jeder Show zu präsentieren. Ein Ozean trennt sie von ihrem dreijährigen Sohn in England; es wurde viel über ihre zweite Trennung von Ehemann (und ehemaligem Schlagzeuger) John Reynolds geschrieben, und die kurze Affäre mit dem Sänger Hugh Harris hat alte Wunden aufgerissen und einige neue hinzugefügt. Es spricht für das Engagement des Songs – und für Sinéads Einsatz –, daß er in keinem Augenblick falsch klingt. Am Ende der letzten Strophe ist Sinéad außer Atem, aber sobald sie aufhört zu singen, fangen die Fans an zu rufen. Die Keyboards drehen auf, die bewundernde Menge jubelt, und das kurze Lächeln, bevor sich Sinéad vom Publikum abwendet, zeigt, daß ihr eine solche Verehrung wohl ein wenig peinlich ist. »Black Boys On Mopeds« zeigt der Menge, daß Sinéad auch in ihren ruhigsten Songs durchaus bissig sein kann. Es ist das bitterste Stück auf l Do Not Want What l Haven't Got (und das will was heißen, wenn man »The Last Day of Our Acquaintance« – Der letzte Tag unserer Freundschaft- und »You Cause as Much Sorrow« – Du bereitest so viel Kummer – betrachtet); es ist aber auch das vielschichtigste der Stücke. Voll bewußter Übersteigerung und Übertreibung, die eher aus durchdachter Erfahrung zu sprechen scheint, als aus den übernommenen Glaubensgrundsätzen, die manchmal The Lion and the Cobra prägten, beschreibt »Black Boys On Mopeds« den sinnlosen Mord an einem jungen Mann und
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erweitert die Geschichte dann zu einer Anklage der Mißstände in Margret Thatchers England. Das Arrangement ist stark ausgedünnt, nur Sinéad an der Gitarre und der Keyboarder Davis, der auf einer zweiten akustischen Gitarre zusätzliche Akkorde spielt. Die Menge weiß mit diesem ruhigen, bedächtigen Song nur wenig anzufangen. Der aus dem Publikum kommende Lärm unterscheidet sich stark von der üblichen Unruhe bei einem Rockkonzert während langsamer Songs, aber er droht dennoch, die völlig vertiefte Sängerin zu übertönen. Diejenigen allerdings, die genau zuhören, können ein paar Zeilen aufschnappen, die den Kern von Sinéads Musik offenlegen. Sinéad beschreibt, wie eine junge Mutter draußen in der Kälte um fünf Uhr früh die Abfallhaufen der vergangenen Nacht vor einem Restaurant nach Essen durchwühlt. Sie fügt hinzu »in her arms she holds three cold babies« (in ihren Armen hält sie drei kalte Babys). Das ist eine lebendige, prägnante Zeile, die sich direkt auf die »Three Babies« des gerade verklungenen Songs bezieht und (selbst wenn sich Sinéad dessen nicht bewußt ist) auf Dorothea Langes Foto von 1936, das eine von der Wirtschaftskrise gebeutelte »Migrant Mother« (nichtseßhafte Mutter) in Nipomo, Kalifornien, zeigt, die mit letzter Kraft versucht, für ihre drei hungrigen, schmutzigen Kinder zu sorgen. Dies ist für Sinéad aber keine heuchlerische Anspielung, mit der sie sich selbst in den Mittelpunkt rücken will; sie gibt vielmehr eine unverfälschte Beschreibung, die durch ihre Einfachheit nur noch betroffener macht. Im Refrain legt Sinéad ihre Seele bloß, wenn sie singt: »England's not the mythical land of Madame George and roses« (England ist nicht das legendäre Land der Madame George und der Rosen). Diese Worte sollen das gute alte England entmythologisieren, aber sie zeigen auch, wie tief Sinéad in ganz andere Mythen eingetaucht ist, die zum Teil von ihrem Landsmann, dem irischen Soulsänger und Mystiker Van Morrison, stammen. Ein Song, der sich »Madame George« nennt, ist das zentrale Stück auf Morrisons Album Astral Weeks von 1968. Es ist einer der Grundpfeiler für Morrisons Ruf als ein Künstler, der Ray Charles und William Butler Yeats in einem einzigen gesungenen oder gedichteten Erguß zusammenfassen und übertreffen
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kann. Obwohl Sinéads Musik so wurzellos und originell ist wie alles in der heutigen Popmusik, ist auch sie beeinflußt worden. Und die Möglichkeiten, die Van Morrisons kompromißlose Liederzyklen bieten, sind ohne Zweifel ein wichtiger Einfluß. »Black Boys On Mopeds« endet mit einem wortlosen Stöhnen, das im Kreischen der Fans untergeht. Es sind persönliche Songs, die Sinéad heute abend singt, auch wenn sie nicht ganz so autobiographisch sind, wie es einige ihrer Fans und Kritiker gerne versichern, wenn sie auf ihre Vertrautheit mit dieser Künstlerin, deren Werk intimer ist als manche Freundschaft, hinweisen. Sinéads Songs klingen wie Geschichten, die in einem Kaffeehaus oder einem Wohnzimmer erzählt werden sollten und nicht in einer ausverkauften Halle mit achttausend lärmenden, mitsingenden Ohrenzeugen, die an ihren Lippen hängen. Sinéad selbst bleiben die hörbaren Störungen während ihrer Songs erspart – anstatt über eine laute Monitoranlage hört sie sich und ihre Band über Kopfhörer – aber zwischen den Songs lächelt sie und scheint sich als Anbetungsobjekt ihrer Fans unwohl zu fühlen. »Ich bin der langweiligste Mensch auf der Welt«, sagt sie leise, nachdem sie »Black Boys On Mopeds« beendet hat. »Deswegen kann ich nur vielen Dank sagen.« Die Begeisterung steigert sich noch um einige Dezibel. Allein in der Mitte der großen Bühne singt Sinéad »Jackie«, den ersten Song ihrer ersten Platte. Die Darbietung heute abend ist überzeugend, obwohl der Song nichts Besonderes ist; mehr als alles andere zeigt er, wie sehr sich die Texterin Sinéad zwischen ihrem ersten und zweiten Album entwickelt hat. Verspaare wie »Jackie's gone/She's lost in the rain« (Jackie ist fort, sie hat sich im Regen verlaufen) klingen, als suche sie nach einem streunenden Cockerspaniel. Da fast eine Million Exemplare von The Lion and the Cobra verkauft wurden, führt kein Weg daran vorbei, daß Sinéad auch Teile daraus spielt, aber mit Ausnahme von »l Want Your (Hands On Me)« und »Madinka« (dem Gitarrenfresser, mit dem sie ihre Auftritte beendet) kann keines der Stücke von der früheren Platte mit ihren neueren, persönlicheren, glaubwürdigeren Songs mithalten. Dennoch wird die Songschreiberin Sinéad
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heute abend von der Sängerin Sinéad übertroffen; zumindest nimmt das Publikum an, daß sie glaubt, was sie singt. Und weil die Präsentation von Rocksongs wichtiger ist als ihr Inhalt, kann Sinéad bestehen. »Jackie« ist ein verhältnismäßig kurzer Song, und das Folgende löscht die Schwächen dieses Songs aus dem Gedächtnis. Ein Roadie stellt ein Tonbandgerät neben Sinéad, die noch immer allein auf der Bühne ist, und sie schaltet es ein. Es folgt ein Höhepunkt der Show: »l Am Stretched on Your Grave« (Ich liege auf deinem Grab), ein makaberes Gedicht von Frank O'Connor (kein Verwandter von Sinéad), dem Sinéad O'Connor einen Schlagzeugrhythmus aus James Browns vielkopiertem Hit »Funky Drummer« aus dem Jahre 1970 unterlegt hat. Das Gedicht ist ein Beispiel klassischer irischer Schauerliteratur – der Erzähler lebt ein scheinbar normales Leben, verbringt aber in Wirklichkeit seine Nächte ausgestreckt auf der letzten Ruhestätte einer Jugendliebe. Solche Gefühle scheinen einer Kennerin der Romantik wie Sinéad geradezu auf den Leib geschrieben. So seltsam die Verbindung eines irischen Gedichts mit afroamerikanischen Rhythmen zunächst erscheinen mag, ist sie doch harmonisch. Das Werk von James Browns Schlagzeuger Clyde Stubblefield ist, wie treue Anhänger dieses Vaters des Soul wissen, formbar genug, um so ziemlich alles aufnehmen zu können. Zum ersten Mal in dieser Show steht die Menge nicht nur auf und wiegt sich im Rhythmus, sondern die Menge tanzt. Der rein instrumentale Schlußteil von »l Am Stretched on Your Grave« ist, verstärkt durch eine Geige vom Band, langgezogen (ein Charakteristikum vieler Songs auf l Do Not Want What l Haven't Got), und Sinéad will sich hier offensichtlich ihren Fans anschließen und sich nicht nur wiegen, sondern sich wirklich bewegen. Sie ist keine besonders gute Tänzerin, wie »l Want Your (Hands On Me)« vor ein paar Minuten gezeigt hat, aber der Rhythmus von »l Am Stretched on Your Grave« ist so mitreißend, daß auch sie davon erfaßt wird. Sinéad zeigt eine Art Volkstanz mit Elementen eines Militärmarsches. Sie ist zwar nicht Paula Abdul, aber keinesfalls wird sie sich wie eine Folksängerin auf ihr Hockerchen setzen und ihre
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akustische Gitarre zupfen, während Stubblefields unvergleichlicher Beat die Nachtluft erfüllt. Sinéads Musik entwickelte sich aus der Tradition der amerikanischen und britischen Folkmusik – bei ihren ersten Auftritten trällerte sie Lieder aus Bob Dylans Comeback-Zeit, doch dabei handelt es sich nur um erste Vorbilder und keine Wurzeln, denen sie nachhaltig verbunden bleibt. Folkmusik ist nur eine Klangrichtung für Sinéad, ein eher zufälliger Ausgangspunkt. Heutzutage hört sie oft und gerne den harten Rap von Public Enemy und N.W.A. (Niggas with Attitude; Sinéad trägt manchmal ein P.W.A.-T-Shirt: Paddy with Attitude*). In ihrer Bearbeitung des Frank O'Connor Gedichts vereint Sinéad die unvereinbaren Welten von zurückgezogener, poetischer Folkmusik und hartem, beat-besessenem Rap. Eine solche Verbindung ist der eindeutige Höhepunkt des Abends, was allerdings nicht bedeutet, daß derjenige, der nun den Saal verläßt, nicht etwas Wunderbares verpaßt. Die verbleibenden Darbietungen sind trotz der Unbekümmertheit so eindrucksvoll, daß sie jedem in der Menge noch tagelang im Kopf herumspuken werden. Dazu kommt, daß alle Instrumente live gespielt werden, was mittlerweile bei großen Shows schon ungewöhnlich ist. Diese Songs haben mehr Leben als es jede PlaybackAufnahme jemals haben wird. »The Last Day of Our Acquaintance« ist verletzlich und aufmüpfig zugleich; »Jump in the River« (Spring in den Fluß) ist ein dissonanter Knalleffekt; »Madinka« ist ein noch spannungsgeladenerer Rocker, bei dem Pirronis Gitarre schließlich der Durchbruch gelingt; und »Troy« (Troja), von Sinéad allein auf ihrer zwölfsaitigen Akustikgitarre als Zugabe gespielt, ist ein bitterer Segen, der die Menge zum Schweigen bringt. Eine solche Ruhe ist selten. Der lauteste Aufschrei des Abends ist dem Auftakt von »Nothing Compares 2 U« (Du bist unvergleichlich) vorbehalten, einem kurzlebigen Song von Prince, den Sinéad neu interpretierte und in achtzehn Ländern erfolgreich auf den ersten Platz brachte. In einer Zeit der Power-Balladen – in der '»Niggas with Attitude« bedeutet» Nigger mit Haltung«. »Paddy« ist ein Spitzname für einen Iren.
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Hardrock-Gruppen wie Poison und Skid Row mehr Schlaflied-Hits landen können als gemäßigte Schnulzensänger wie Kenny Rogers oder Lionel Ritchie – ist Sinéads »Nothing Compares 2 U« eine anregende Wiederbelebung dessen, was heutzutage selten geworden ist: die große, geradlinige Rock and Roll-Ballade, die weder ein schmalziger Schlager noch ein verlangsamter HeavyMetal-Stöhner ist. Auf der Bühne erweitert Sinéad dieses Lied, das eine unglückliche Liebe besingt, und obwohl ihre fünfköpfige Band das ganze Stück hindurch gedämpft bleibt, strebt Sinéads stimmliches Feuerwerk dem explosiven Gitarrenspektakel in »Layla«, dem Rock-Meilenstein der unglücklichen Liebe von Derek and the Dominoes, nach. Sinéad ist durch und durch professionell – jede noch so kleine Nuance ihres Gesangs ist wohlüberlegt – und dennoch ist die Hingabe, mit der sie an »Nothing Compares 2 U« herangeht, nicht die einer professionellen Sängerin, die mit einem Repertoire von manipulierenden Effekten arbeitet. Wie bei Eric Clapton und Duane Allman hat man auch bei Sinéad und »Nothing Compares 2 U« das Gefühl, daß sie nur fühlt und nicht denkt. Die gekonnt präsentierte Nähe zur Sache macht die Wirkung dieser Ballade aus, die Millionen direkt angesprochen hat. Überhaupt ist diese Direktheit einer der grundlegenden Aspekte von Sinéads Wirkung. Man muß in der Regel nicht viel von ihrer Musik gehört haben, um sich ein Bild machen zu können: Entweder man ist begeistert oder man wendet sich ab. Eine solche, fast augenblicklich entstehende Verbindung zwischen Künstler und Fan ist in einer Zeit der engstirnigen Rundfunkprogramme und der Berieselung mit Musikvideos, in denen das Publikum nicht nur gesagt bekommt, was es zu hören hat, sondern auch durch visuelle Hinweise in seiner Interpretation des Gehörten gelenkt wird, fast unmöglich geworden. Sinéads zweites Album war ein völlig unerwarteter Erfolg, l Do Not Want What l Haven't Got war sechs Wochen lang die Nummer eins und schaffte den Sprung an die Spitze der Billboard LP-Hitliste in nur drei Wochen. »Nothing Compares 2 U«, das einen Monat an der Spitze blieb, erreicht diese Position in nur vier Wochen. Eine solche Geschwindigkeit ist sonst nur bei Superstars zu erwarten, die
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bereits eine riesige Fangemeinde haben. Aber viele haben »Nothing Compares 2 U« nur einmal auf Platte gehört oder als Video gesehen und sind zu Fans geworden, ohne lang zu fragen. Angeblich kommt so etwas in der heutigen Plattenindustrie nicht vor, die stolz auf die vorsichtige Lenkung der Geschicke ihrer Musiker ist. Zum Vergleich: Der Musiker, der nach Sinéad die Charts anführte, gelangte auf dem üblicheren Weg dorthin, d.h. durch kluges Marketing, Präsenz in den Medien und einen gerade ausreichend vertrauten Klang. Der Erfolg von M.C. Hammers Please Hammer Don't Hurt 'Em- Album und der Single »U Can't Touch This« – ein Rap über der Rhythmus-Spur von Rick James' 1981er Hit »Super Freak« – haben den Weg an die Spitze erst vier Monate nach ihrem Erscheinen geschafft. So sollte es nach Meinung der Verantwortlichen, der Programmacher und der Werbeleute immer funktionieren. Aber Sinéad ist anders. Weil sie sich in kürzester Zeit die Treue eines Käuferpublikums erworben hat, das zu groß ist, als daß es von den Plattenfirmen ignoriert werden könnte, kann sie sich ein Verhalten erlauben, wie es sonst nicht einmal Künstler können, die mehr Platten verkaufen. Es mag widersprüchlich erscheinen, aber Sinéad nutzt diesen Vorteil, um die Aufmerksamkeit stärker auf ihr Werk zu lenken und nicht auf ihr Gesicht. Fans, die zu Rockkonzerten gehen, sind nicht nur bereit, mehr als zwanzig Dollar für eine Karte auszugeben, sondern kaufen dazu noch die angebotenen Werbeartikel der Künstler, wie T-Shirts und Programme. Auch Sinéad bietet Zeug an, allerdings mit einem Unterschied. Keines der vielen verschiedenen T-Shirts und Sweatshirts trägt ihr Bild; viele tragen noch nicht einmal ihren Namen. Im Titelsong von l Do Not Want What l Haven't Got singt sie: »l saw a navy blue bird/Flying way above the sea/l walked on and l learned later/That this navy bird was me« (Ich sah einen dunkelblauen Vogel/Der flog hoch über dem Meer/Ich ging weiter und erfuhr später/Dieser dunkelblaue Vogel war ich selbst). Und so ist auf vielen der T-Shirts ein dunkelblauer Vogel zu sehen. Die T-Shirts sind geheime Mitgliedsausweise; nur Fans verstehen, was dieser Vogel bedeutet.
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Sinéad kann gefühllose Witze über die Kürze ihres Haares und abfällig chauvinistische Bemerkungen über ihr ziemlich offenes Benehmen gut wegstecken. In Interviews gibt sie nur die Informationen preis, die sie für notwendig hält. Und schnell lenkt sie von Themen ab, die ihr nicht behagen, was mitunter extreme Formen annimmt. Früher hat Sinéad Interviews selbst mitgeschnitten, um sich später gegen die erwarteten falschen Zitate wehren zu können, und während eines Fernsehinterviews mit dem amerikanischen Nachrichtenliebling Maria Shriver untersagte sie einem Kameramann, ständig ihre Stiefel zu filmen. (Diese Anweisung wurde sogar mit ausgestrahlt.) Sinéad möchte schon gerne ein Popstar sein, aber sie hat immer darauf bestanden, es auf ihre eigene Weise zu werden, und legt Wert darauf, es auf ihre eigene Weise zu bleiben.
2 Irland
Ist das eine Perücke unter der Mütze? (London Features International)
Nach
eigener Aussage war Sinéad schon immer so wie sie heute ist: dickköpfig, aufsässig, weder willens noch in der Lage, sich anzupassen. Sie wurde in Glenageary, einem Arbeiterviertel von Dublin, am 8. Dezember 1966 geboren und sollte eine unglückliche Kindheit in Irland verleben (als Mitglied einer Religionsgemeinschaft, deren Glauben sie als unterdrückend und sexistisch empfand), wo Ehescheidungen nicht erlaubt waren. Sinéad wuchs als drittes der vier Kinder von John und Marie O'Connor auf. Vorsichtig und ängstlich beobachtete sie die Überreste einer Ehe, deren Zerfall schon vor ihrer Geburt begonnen hatte. John O'Connor war Ingenieur (später wandte er sich der Juristerei zu), und Marie war vor ihrer Hochzeit Schneiderin gewesen. Sie hatten jung geheiratet, zu jung, wie sie beide rückblickend feststellten. Und Sinéad, ihre zwei Brüder und ihre Schwester verbrachten ihre Kindheit in einem Zuhause, in dem Streit, Ärger und bedrückendes Schweigen an der Tagesordnung waren. Allem Anschein nach hatte Marie das Gefühl, in der Beziehung zu erstikken. Sie fühlte sich durch die Aufgaben in der Ehe und mit den Kindern einer echten beruflichen Karriere beraubt. Da Marie und John als gute Katholiken jedoch an der Unauflösbarkeit der Ehe festhielten, führte dies schließlich zu einem unbehaglichen Dahinleben, das manchmal in Gewaltausbrüchen gipfelte. (Bei Interviews spricht Sinéad oft von einer Kindheit, die von nicht näher
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bezeichnetem »Mißbrauch« überschattet war.) 1975 trennten sich John und Marie endgültig (als irische Katholiken konnten sie sich nicht scheiden lassen), und während der folgenden fünf Jahre lebte Sinéad die meiste Zeit bei ihrer Mutter. Mit dreizehn begann Sinéad das zu tun, was die meisten Dreizehnjährigen tun, ob sie nun ein glückliches Zuhause haben oder nicht: Sie lehnte sich auf. Sinéad hat einmal gesagt, daß die fünf Jahre im Haus ihrer Mutter dunkel und größtenteils freudlos waren, und mit dreizehn zog sie zu ihrem Vater zurück. Während der folgenden Jahre sah sie ihre Mutter nur selten, zum letzten Mal mehr als ein Jahr bevor die Mutter 1985 mit dem Auto tödlich verunglückte. Es ist weder weit hergeholt noch aufdringlich anzunehmen, daß der Mangel an Rückhalt in einer so wichtigen Lebensbeziehung Sinéads Werk durchdringt, und auch die Künstlerin selbst hat das eingestanden. The Lion and the Cobra ist Marie O'Connor gewidmet; vielleicht der Gerechtigkeit halber widmete Sinéad l Do Not Want What l Haven't Got ihrem Vater, allerdings mit wesentlich wärmeren Worten. Es scheint, als habe John O'Connor die Zügel wesentlich lockerer gehalten als seine Frau. Wieder reagierte Sinéad wie alle anderen Jugendlichen auch: Sie probierte aus, wie weit sie gehen konnte, ohne zurückgepfiffen zu werden. Sie schwänzte so oft die Schule, daß man sie im Schulsekretariat als Bummlerin registrierte; anstatt zur Schule zu gehen, durchstreifte sie Dublin und spielte Videospiele. Sie finanzierte ihre regelmäßigen Space-Invaders-Eskapaden mit dem Geld, das sie aus der Brieftasche ihres Vater mitgehen ließ. Nachdem man ihr dieses kleine Vergehen hatte durchgehen lassen, fing sie an, auch Kleider und Parfüm zu klauen, so lange, bis sie geschnappt wurde, als sie versuchte, sich mit einem Paar unbezahlter Schuhe aus einem Laden zu schleichen. Sinéads Verstöße gegen das Gesetz waren äußerst geringfügig, wenn man bedenkt, in welch unschöne Situationen ein junger Teenager geraten kann. Sinéad, ihre Interviewer und ihre Fans würden ihre Herkunft gerne so stilisieren, daß sie an Dickens Roman Schwere Zeiten erinnert, aber eine solche Legendenbildung durch andere
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zeigt nur, daß sich keiner daran erinnert, wie es mit dreizehn wirklich war. Trotz allem hielt John O'Connor es aber schließlich für notwendig, daß seine Tochter Zucht und Ordnung lernte. Sinéad wanderte nun von einer strengen Schule zur nächsten, darunter auch das Internat Mayfield College in Drumcoda, bis sie schließlich in der Newton School in Waterford, einige Autostunden südlich von Dublin, zur Ruhe kam. Sinéad betont auch heute noch, daß es schwierige Jahre des Eingesperrtseins für sie waren. (Immer noch spricht sie mit Hohn über die Dominikanerinnen, die in Blackrocks Sion Hill School über ihre Seele wachten.) Aber es war auch eine Zeit, in der sie sich darüber klar wurde, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. In ihrem Schlafraum spielte sie Gitarre, und allmählich machte ihr das Singen und auch Schreiben erster Songs immer mehr Spaß (einige davon singt sie bis heute); gleichzeitig war ihre Musik aber auch Trost. Die Entwicklung verlief nur langsam, wurde aber durch den Mangel an anderen Zerstreuungen begünstigt. Schließlich führte Sinéad ein Klosterleben. Es überrascht nicht, daß dieser Abschnitt in Sinéads Leben auch durch ungeheure Zweifel an der institutionalisierten Religion gekennzeichnet war. Mark Cooper von O erzählte sie: »Wenn man in Irland aufwächst, möchte man so sein wie die Jungfrau Maria. Irische Frauen werden dazu erzogen, zu der Mutter Gottes aufzuschauen, und sie sind fixiert auf Reinheit und Keuschheit.« Die Tatsache, daß ihrem Wunsch nach künstlerischer Ausdrucksmöglichkeit die emotionale Unterdrückung (oder das Gefühl einer emotionalen Unterdrückung) durch die Nonnen, in deren Obhut sie sich befand, gegenüberstand, stürzte Sinéad in noch größere Verwirrung, als sie vor ihrem Eintritt in die betreffenden Anstalten bestanden hatte. Es gab aber auch Lehrer, die ihre aufkeimenden Talente förderten, und Sinéad hat sich nie völlig von ihrer religiösen Erziehung gelöst. Niemand hat den religiösen und spirituellen Qualitäten ihres Werks mehr Aufmerksamkeit geschenkt als sie selbst. Obwohl sie die institutionalisierte Religion ablehnt, beschäftigt sie sich oft
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damit. Sie erzählte SPIN, daß sie als Kind fasziniert war von der Hl. Bernadette und deswegen Nonne werden wollte. Sinéads erster Druchbruch kam, als eine ihrer Lehrerinnen von Mayfield sie bat, bei ihrer Hochzeit zu singen. Sinéad trällerte eine Version von »Evergreen«, Barbara Streisands Hit in Ein neuer Stern am Himmel, einem Film, dessen Hauptanliegen der Rock and Roll sein soll. (Sinéad war ein großer Fan der Musicals von Barbara Streisand.) Sinéads Darbietung dieses Lieds wäre nur ein kleiner Schritt in ihrer Entwicklung gewesen – das erste Mal vor vielen Leuten zu singen und so weiter – wenn nicht der Bruder der Braut, Paul Byrne, der Schlagzeuger der Band In Tua Nua gewesen wäre. Schnell wurden Byrne und Sinéad Freunde, und schließlich half Sinéad dabei, »Take my Hand« (Nimm meine Hand), die erste Single der Gruppe, zu schreiben. Mehr als sechs Jahre später klingt diese seltene Aufnahme (Sinéads nachfolgende Entwicklung zum Superstar hat aus der 45er Island-Records-Scheibe so etwas wie ein Sammlerobjekt gemacht) wie eine farblose, aber vielversprechende Komposition, die nicht mehr als die minimale Aufmerksamkeit verdient, die sie damals erhielt. »Take My Hand« ist durchaus gefälliger Folk-Rock, der aber keineswegs die Energie oder – was noch wichtiger ist – die Erfahrung der späteren Werke Sinéads bietet. Bestenfalls kann man ihn als den Sound eines jungen Talents, das gerade anfängt, seinen Weg zu finden, bezeichnen. Gar nicht so schlecht für eine Fünfzehnjährige, die noch ein Jahr zuvor keinerlei Richtung in ihrem Leben hatte. Frühe Aufnahmen sind oft der sicherste Hinweis auf die musikalischen Wurzeln eines Künstlers, aber wer danach in »Take My Hand« sucht, wird enttäuscht werden. Dieser Folk-Rock ist so arttypisch, daß er sich aus so verschiedenen Quellen wie Richard Thompsons bedrohlich schwindelerregender Musik und den eher sparsamen Äußerungen einer Joni Mitchell speisen könnte, womit dieses Gebiet praktisch abgedeckt ist. Sinéad und In Tua Nua sind nur zwei Namen in der irischen Rockmusik, bei denen eine solche detektivische Suche nach dem Ursprung ihrer Ideen ohne Erfolg bleibt. Eine Musikerin mit Sinéads Talent kann gar nicht umhin, wirklich originell zu sein. (Noch einmal zurück zu dem Artikel in SPIN:
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Der Interviewer schreibt, er habe Sinéad Patti Smith's »Piss Factory« und Richard Heils »Blank Generation« vorgespielt, die ihr beide nicht gefielen, ebenso wie die New York Dolls, von denen sie noch nie gehört hatte. Soviel also zu ihren angeblichen Wurzeln in der New Yorker Punkszene.) Der Mangel an deutlichen Einflüssen auf die Musik von In Tua Nua läßt sich auf eine für den irischen Rock and Roll grundlegende Eigenschaft zurückführen, seine fast unverschämte – und notwendige – Wurzellosigkeit. Diese Wurzellosigkeit ist ein entscheidendes Element der Rock and Roll-Szene eines jeden Landes mit Ausnahme der USA, wo Wurzellosigkeit mit Opportunismus und Faulheit gleichgesetzt wird. Rock and Roll ist aus allen amerikanischen Musikformen heraus entstanden, insbesondere aus Country- und Westernmusik, aus dem Country- und City-Blues sowie aus den Gospels der Schwarzen. (Alle diese Formen, die den Rock beeinflußt haben, lassen sich letztendlich bis nach Afrika zurückverfolgen, aber der Rock and Roll seit 1954 bezieht sich eher direkt auf seine amerikanischen Vorläufer.) Zuweilen versuchen die Briten, die amerikanischen Rundfunkprogramme mit eigenen Produktionen zu überrollen, indem sie den amerikanischen Hörern neue Sounds britischer Bands präsentieren, die allerdings fast immer nach amerikanischem Muster gestrickt sind. In den frühen l980er Jahren war die interessanteste und auch eine der erfolgreichsten unter den britischen Bands, die die US-Hitlisten stürmten, die Band Culture Club, ein Quartett, das eine Unmenge von Formen des Rock und Soul der 1960er Jahre (besonders die von Motown Records) wiederbelebte. Sicherlich hat den amerikanischen Hörern die Musik gefallen, aber gleichzeitig waren alle fasziniert vom Sänger der Gruppe, Boy George, einem hochgewachsenen Transvestiten mit Rasta-Frisur, der sogar Joan Rivers ausstechen konnte. Alle britischen Bands (und das gilt auch für alle anderen Bands außerhalb der Vereinigten Staaten) verwenden, wissentlich oder unwissentlich, musikalische Mittel, die der amerikanische Süden hervorgebracht hat. Wenn ein Musiker behauptet, seine Wurzeln lägen bei den Anfängen der britischen Bands, den Beatles oder den Rolling Stones, dann ist es mehr als
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wahrscheinlich, daß er oder sie in Wirklichkeit auf etwas zurückgreift, das durch die Beatles oder Stones herausgefiltert wurde. Eines der markantesten Beispiele der erwähnten Wurzellosigkeit ist U2, die bekannteste aller irischen Rockbands, deren visionäre und bombastische Tendenzen eine Zeitlang ein wichtiger Einfluß für Sinéad waren. Zur Zeit, als die Sammlung Rattle and Hum von U2 herauskam (als Nachfolger von The Joshua Tree, einer Platte, die alle Rekorde brach), wurde oft behauptet, diese Schallplatte und der gleichnamige Film handelten von der »Suche nach den Wurzeln« der Gruppe. (Viel von diesem Gerede wurde mittels Anzeigen und Werbematerial des Films verbreitet. Man muß also davon ausgehen, daß man dem Publikum genau das vermitteln wollte.) Rattle and Hum war das sechste Album des Quartetts (das achte, wenn man die Maxi-Singles mit Liveaufnahmen mitzählt); es scheint absurd, daß sich die Gruppe nach mehr als acht gemeinsamen Jahren auf einmal dazu entschließen sollte, ihre Wurzeln zu entdecken. Irische Bands wie U2 zeichnen sich vielmehr durch die fremden Wurzeln aus, die sie für sich beanspruchen. Da es keine echten irischen Rock and Roll-Wurzeln gibt (einzige Ausnahme: Van Morrisons Gruppe Them, die einen unvergleichlichen, düsteren irischen Bluesrock spielte – vergleichbar der britischen Mischung der frühen Rolling Stones), müssen irische Rockbands im Ausland nach einer Tradition suchen, die ihnen gefällt. U2 begann 1980 mit dem phantastischen Boy, das auf so unterschiedliche Vorbilder wie Led Zeppelin und die Sex Pistols zurückgreift, jede auf ihre Weise eine grundlegende britische Rock and Roll-Band, die amerikanische Formen verarbeitete. Die U2 ertasteten sich in der Folge ihren Weg durch verschiedenste Stilrichtungen, von denen einige vielversprechend (so 1983 der präzise, durchdachte Rock von War) und andere verwirrend waren (wie die unklaren Art-Rock-Posen von The Unforgettable Fire, das im folgenden Jahr erschien). Als der U2-Sänger Bono (alias Paul Hewson) das Lied mit dem Titel »l Still Haven't Found What l'm Looking For« (Ich hab' noch immer nicht das gefunden, was ich suche) sang, waren damit nicht nur geistige Anliegen gemeint.
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Aber mit Rattle and Hum begab sich U2, wie viele nicht-amerikanische Rockbands vor ihnen, in den Vereinigten Staaten auf die Suche nach ihren »Wurzeln«. Sie nahmen mehrere Stücke im Sun Studio in Memphis, Tennessee, auf, in der Heimat von Howlin' Wolf, Roy Orbison, Charlie Rich, Roscoe, Gordon und des millionenschweren Quartetts Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Carl Perkins und Johnny Cash. Hier, bei Sun, wurden die U2 von den Bläsern begleitet, die auch hinter den vielen wunderbaren Soul-Hits von Stax in den 60er und frühen 70er Jahren standen. Unter den Sun-Einspielungen der U2 finden sich auch ein Duett mit der Bluesgröße B.B. King und eine Hommage an die Sängerin Billie Holiday über Akkordwechsel, die aus Bob Dylans »Like a Rolling Stone« geklaut waren. (Dylan erscheint auf dieser Doppel-LP immer wieder als ein verehrter, wenn auch überholter Bezugspunkt der Gruppe.) Die U2 strebten nach einer »Ehrlichkeit«, wie sie bei den Musikern zu spüren war, die sie als ihre Vorläufer betrachteten. Und sie hofften auf ähnliche Erfolge, indem sie an denselben Orten wie einige dieser Leute Aufnahmen machten. Die genannten Quellen – wie Sun, Stax, Dylan und der amerikanische Electric-Urban-Blues – sind nicht nur weit entfernt von dem meist großen Klang der U2, sondern sie sind fast ebensoweit entfernt von den ursprünglichen Vorbildern der U2. Die U2 sind Fans dieser verschiedenen Repräsentanten der amerikanischen Musik, und manchmal sind sie dabei intelligent und respektvoll genug, die übernommenen Formen gut zu verarbeiten. Aber die Entscheidung der U2, »amerikanische Musik« zu machen, war ein bewußter Schritt und keine natürliche Reaktion auf das, was sie in ihrer heimatlichen Umgebung gehört hatten. Sie fühlten sich durch diese sehr unterschiedlichen Formen angezogen, nachdem sie den größten Teil eines Jahrzehnts auf der Straße verbracht hatten, und popularisierten sie. Rock and Roll-Bands verbringen viel – vielleicht sogar zu viel – Zeit damit, von Stadt zu Stadt zu reisen. Es ist also nicht verwunderlich, daß sich in dieser physischen Wurzellosigkeit vieler Bands (besonders bei den irischen, die ins Ausland gehen müssen, wenn sie für mehr als eine Woche auf Tour gehen wollen) eine musikalische Wurzellosigkeit spiegelt.
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Dieselbe Wurzellosigkeit findet sich auch bei anderen irischen Bands, die in den letzten Jahren von sich reden gemacht haben. Irlands wichtigste Punk-Bands (Stiff Little Fingers, That Petrol Emotion) haben nichts spezifisch Irisches als Kennzeichen ihrer Musik, und sogar bemerkenswertere Bands (wie Thin Lizzy) und weniger bemerkenswerte (wie die Boomtown Rats) haben sich entscheidende Anregungen aus Großbritannien und letztendlich aus den USA geholt. Die Pogues übernehmen Elemente irischer Musik aus der Zeit vor dem Rock und bauschen sie bis zur Lächerlichkeit auf; Clanna, Steeleye Soan und die Chieftains umgehen diese Frage, indem sie die Popmusik gänzlich vermeiden und sich auf die traditionellen Formen stützen. Was ein großer irischer Künstler leisten kann, zeigt sich an der Karriere eines Van Morrison. Dieser Musiker ist Sinéads deutlichster – vielleicht einziger – irischer Vorläufer. Mitte der 60er Jahre leitete Morrison die in Belfast beheimatete Gruppe Them, eine am Blues orientierte Band, die mit ebensolcher Begeisterung spielte wie die frühen Rolling Stones und, zumindest auf Platte, sogar noch wilder klang. Ihr Markenzeichen »Gloria« wurde zu recht zu einem RockKlassiker, und solche Musik setzte den Maßstab, an dem sich alle anderen irischer Bands messen lassen müssen. Als die Gruppe Them auseinanderging, zog Morrison in die Vereinigten Staaten und nahm hier eine Reihe von großartigen Schallplatten auf, die den keltischen Soul (und die keltische Seele) mit amerikanischem Pop verbanden. Schließlich ging er wieder zurück nach Irland, aber seine bedeutendsten Studioaufnahmen für Warner Brothers – Astral Weeks (1968), Moondance (1970), Tupelo Honey (1971), St. Dominic's Preview (1972), Veedon Fleece (1974) und Into the Musik (1979) – veranschaulichen die Spannung zwischen Morrisons tiefer Verwurzelung in der irischen Kunst (William Butler Yeats und James Joyce sind eindeutige Quellen) und seiner ungezügelten Liebe zur amerikanischen Musik (ganz besonders zu Bob Dylans Band und Basement Tapes-Zeit). Was Morrison hervorbrachte war keine Mischung (wie es bei U2 und vielen anderen der Fall ist), sondern etwas völlig Neues – und unverkennbar Irisches. Sinéad und Bono von U2 sind zwei der
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vielen irischen Musiker, die häufig und mit Respekt den Namen Van Morrison erwähnen. Die britische Band Dexy's Midnight Runners versuchte sogar, sich als irisch zu verkaufen, um Morrisons Erbe antreten zu können. Die irische Band Waterboys brachte ein Album (Fisherman's Blues) heraus, das ein ehrbarer Versuch war, etwas von der Kraft von Astral Weeks für sich zu gewinnen. Morrison selbst nahm ein Album mit den traditionell orientierten Chieftains auf (Irish Heartbeat, 1988), das trotz seiner ausufernden Sentimentalität stark an die Tradition erinnert. Morrisons Einfluß auf die irischen Bands ist zwar deutlich, aber er ist nicht ausschließlich: Einige bekannte Rockgruppen wie Cactus World News (zweitklassiges U2-Format) und die Undertones (passabler Power-Pop) entwickelten sich, als hätte Morrison nie existiert. Morrison ist der einzige irische Musiker vor Sinéad, der etwas völlig Neues geschaffen hat. Die meisten irischen Bands träumen davon, in die berühmt-berüchtigten, mehrfach platinierten Fußstapfen der U2 zu treten, so daß es ihnen ganz unmöglich ist, eine solche Originalität zu erreichen. Zu viele von ihnen tun so, als sei es dasselbe, einen erfolgreichen Sound (beispielsweise den von U2) nachzuahmen, wie ihn weiterzuentwickeln. Am Ende bleiben sie der Musik der U2 ebenso verpflichtet wie die Gruppe Knack der Musik der Beatles. Wurzellosigkeit, die nicht immer etwas Schlechtes ist, wurde hier durch unschönen Opportunismus ersetzt. Nichts kann die Geschichte des irischen Rock and Roll so vollkommen erzählen wie Morrisons Platten; zwei Bücher haben es dennoch versucht, und einem davon gelingt es beinahe. Mark J. Prendergasts The Isle of Noises: Rock and Roll's Roots in Ireland ist ein erfrischendes, anregendes Werk, dem größtenteils gute Recherche zugrunde liegt, aber Prendergast verliert sich schließlich in unzähligen unbedeutenden Anmerkungen über vergessene Kneipen-Rockgruppen aus Dublin, so daß es ihm am Ende nicht gelingt, das gesammelte Material in einen Zusammenhang zu bringen. Er beschreibt Sinéads Stimme als »rein wie frischer Schnee«. Im Gegensatz zu was: gelbem Schnee? Viel nützlicher, will man die irische Rockszene verstehen, ist Roddy Doyles komischer Roman The Commitments, der die kurze,
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aber steile Karriere einer fiktiven Dubliner Soul-Revival-Band analysiert. Die Commitments fahren auf die Soul-Musik von Sam Cooke und Otis Redding ab, weil sie »echter« klingt als das, was man in den heimischen Kneipen und im Radio hört. Und ihr Fanatismus der Neubekehrten (sehr ähnlich dem der U2 in den USA während ihrer Rattle and Hum-Sessions) beschert ihnen großen Erfolg, zum Beispiel wenn sie James Browns »Night Train« so umschreiben, daß die Aufzählung der Städte auf ihrer Insel einen Sinn ergibt. »Keiner lachte«, beschreibt Doyle einen Auftritt. »Es war nicht komisch. Es war wahr.« Natürlich werfen die Mitglieder der Band im nächsten Augenblick mit Beschimpfungen um sich. Am Schluß des Romans organisieren die wenigen Musiker, die noch nicht auseinandergelaufen sind, eine Country-Punk-Gruppe. Sie stürzen sich mit dem gleichen Engagement auf den neuen wie zuvor auf den alten Sound, und ihre Begeisterung ist ansteckend. Sie lieben ihr neues Spielzeug, die Alben der Byrds aus der Mitte der 60er Jahre, tatsächlich, aber der Leser wird den Verdacht nicht los, daß die Gruppe nach weiteren sechs Wochen vielleicht Power-Pop-Polkas spielen könnte. Es ist so schwierig, die Wurzeln der irischen Rock and Roll-Bands dingfest zu machen, weil diese übernommenen Wurzeln alle paar Monate ganz andere sein können. Hätte die Verbindung von Sinéad mit In Tua Nua gehalten, sie hätten sich ebensogut zu einer Heavy-Metal-Band wie zu einer ausgewachsenen Folk-Truppe entwickeln können. Es öffneten sich Wege in alle Richtungen. Sinéad blieb nicht lange bei In Tua Nua. Ihr Vater erlaubte ihr nicht, mit der Gruppe auf Tournee zu gehen (daß sie wohl nicht viel versäumt hat, weiß man, wenn man sich die Musik einmal anhört), und deswegen blieb sie in Waterford. Während sie in diesem Internat war, arbeitete sie noch stärker an ihrer Musik und fing an, regelmäßiger öffentlich aufzutreten, meist in Kneipen oder Kaffeehäusern und oft mit einem Gitarristen als Unterstützung. In der Regel sang sie Bob Dylan-Songs, und auch frühe Versionen der etwas weniger kommerziellen Stücke auf The Lion and the Cobra, »Drink before the War« (Trink noch vor dem Krieg) und »Never Get Old« (Werd niemals alt) wurden schon damals vorgestellt. Sinéad
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hielt es noch ungefähr ein Jahr in Waterford aus, bevor sie beschloß, in Zukunft ihren Lebensunterhalt als Sängerin zu verdienen. Auf Drängen ihres Vaters studierte Sinéad sogar für kurze Zeit an der Musikhochschule in Dublin. Mit siebzehn schloß sich Sinéad einer Gruppe namens Ton Ton Macoute als Sängerin an. Für die Gruppe schreiben durfte sie allerdings nicht. Keiner, der Ton Ton Macoute je gehört hat, hat irgend etwas Gutes über sie zu sagen. (Sie blieben nicht lange genug zusammen, um etwas wirklich Lobenswertes zu entwikkeln.) Das war auch die Meinung der englischen Plattenfirma Ensign Records, die auf einer Dubliner Probebühne mehrere Bands vorspielen ließ. Keine von ihnen hinterließ einen bleibenden Eindruck. Nigel Grainge und Chris Hill von Ensign waren allerdings beeindruckt von Sinéads Präsenz und Intensität (jedoch nicht von den Stücken, die sie sang) und sie machten ihr Mut. Zu dieser Zeit war Sinéad noch immer schrecklich schüchtern vor einem Publikum – und ganz besonders vor einem Publikum, das aus zwei Managern einer britischen Plattenfirma bestand. Und Grainge und Hill erkannten, daß es schwer sein würde, sie zu verkaufen, solange sie nicht lernte, sich entspannter in der Öffentlichkeit zu bewegen. Bemüh dich, sagten sie zu ihr, und wir sind gerne bereit, dich wieder einmal anzuhören. Und mit dieser halb ermunternden, halb typisch blasierten Plattitüde kehrten sie nach England zurück. Nur knapp einen Monat später (mittlerweile hatte sich Ton Ton Macoute in aller Stille aufgelöst) war eine selbstsicherere Sinéad überzeugt, daß sie nun reif genug für einen Plattenvertrag sei. Sie teilte dies Grainge in einem Brief mit. Sie erwähnte auch sein Versprechen, ihr bei der Aufnahme von Demos (Demonstrationsfassungen von Songs für Bewerbungszwecke) zu helfen, und äußerte nochmals ihre Bereitschaft, nach England zu kommen. Grainges Angebot, ihre Demos zu finanzieren, existierte nur in Sinéads Erinnerung, aber sie war ehrgeizig und verlangte gehört zu werden. Wie die Mehrzahl der Rock and Roll-Musiker mit Verstand, hat Sinéad später deutliche Vorbehalte gegenüber dem Erfolg geäußert. Aber damals konnte sie sich, wie die meisten, die die Kehrseite des Ruhms noch nicht kennengelernt haben, nichts
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Schöneres vorstellen: Sie wollte alles, was sie noch nicht hatte. Grainge, dem ihr Wagemut gefiel, schickte der altklugen Sinéad ein Flugticket, um sie dann sofort wieder zu vergessen. Die Zeitschrift Rolling Stone brachte in ihrer Titelgeschichte vom 14. Juni 1990 über Sinéad auch ein Photo von ihr, das sie auf dem Flughafen von Dublin vor dem Abflug nach England zeigt. Sie trägt eine Jeansjacke, und ihr Gepäck steht auf dem Boden zwischen ihren Beinen. Sie steht gerade, blickt in die Kamera und enthüllt die zarte Andeutung eines Lächelns. Sie wirkt zuversichtlich und beunruhigt zugleich. Dann erst bemerkt man, daß sie an der Kamera vorbei in die Zukunft schaut. Sie hat keine Zeit für diesen Moment; sie ist bereits weitergegangen. Als Sinéad dann im Büro von Ensign auftauchte, ließ der überraschte Grainge sie Platz nehmen und rief Karl Wallinger, einen der Musiker auf seiner Namensliste, an. Der aus Nordwales stammende Wallinger, ein früheres Mitglied der Waterboys, war in London, um ein Soloprojekt in Gang zu bringen (das er später unter dem Namen World Party herausbrachte). Grainge trug ihm auf, die kleine Sinéad durch die Wirren bei der Aufnahme ihres ersten professionellen Demobandes zu begleiten. Als Grainge kurz darauf ins Studio kam, traf er auf einen strahlenden Wallinger, und er sah und hörte, wie Sinéad eine umwerfende Version von »Troy« aufs Band sang, ein fesselndes Bekenntnis von Schmerz im Angesicht sexuellen Verrats. (Die anderen drei Songs, die sie an jenem Tag aufnahm, waren »Jerusalem«, »Drink before the War« und »Just Call Me Joe« – Nenn mich einfach Joe.) Die schlichte Darbietung, nur Sinéads geschmeidige Stimme und ihre unverstärkte Gitarre, vermochte eine Lawine des Schreckens auszulösen, die sowohl Grainge als auch Wallinger überraschte. Und als Grainge die vier Demos hörte, machte er gleich Nägel mit Köpfen; Sinéad unterzeichnete einen Vertrag mit Ensign Records und zog endgültig nach London (in eine Wohnung mit fließend kaltem Wasser in Stoke-Newington).
3 London
(Laura Levine)
Sinead hat die Jahre, in
denen sie in London hauste und The Lion and the Cobra schrieb, als einsam in Erinnerung. Der Ensign Manager Grainge erzählte dem Journalisten Mikal Gilmore von Rolling Stone: »Sie verbrachte viel Zeit damit, im (Ensign) Büro herumzuhängen, Tee zu kochen und das Telefon zu bedienen.« Sie hatte nichts anderes zu tun und wußte nicht, wo sie sonst hätte hingehen sollen. Und dennoch brachten ihr diese zwei Jahre ein beachtliches musikalisches Wachstum. Sie entwickelte ihre eher farblosen Folksongs zu ausgereiften Stücken und war Mitte des Jahres 1986 soweit, sie einspielen zu können. Grainge und Hill waren zufrieden und wollten sie nun mit dem Produzenten Mick Glossop ins Studio schicken. Während dieser Zeit traf Sinéad zwei Männer, die einen nachhaltigen Eindruck auf sie machten. Während sie in London war, verkehrte sie in denselben Kreisen wie Fachtna O'Ceallaigh, ein irischer Landsmann mit grenzenlosen Rock-Ambitionen. Einige Jahre zuvor war O'Ceallaigh bereits als Manager der Boomtown Rats und der Gruppe Bananarama auf den Geschmack des Erfolgs in der Rockszene gekommen. Und nun war er ebenso wild darauf, einen mit Platin ausgezeichneten Künstler zu managen, wie Sinéad wild darauf war, dieser Künstler zu sein. O'Ceallaigh stammt aus der »persönlichen« Schule der Rockmanager: Er
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glaubt aus tiefster Seele an seine Klienten und tut alles, was in seiner Macht steht, um seine Schützlinge vor echten oder eingebildeten Gefahren zu schützen. O'Ceallaigh gehörte zu der Sorte Managern, die von den Musikern geliebt und von allen anderen gehaßt wurden. Grainge, der in den frühen Zeiten der Boomtown Rats, als diese bei Ensign unter Vertrag standen, schon mit O'Ceallaigh zu tun gehabt hatte, versuchte alles, um Sinéad davon abzuhalten, einen Vertrag mit O'Ceallaigh abzuschließen. Aber für Sinéad, die einen starken Manager haben wollte, war das die beste Empfehlung, die O'Ceallaigh hätte bekommen können. O'Ceallaigh glaubte so fest an Sinéad wie sie selbst. Er besaß ihr Vertrauen. Neben seiner Fähigkeit, die Ensign-Leute in Schach und sie Sinéad vom Hals zu halten, sprach noch etwas anderes für O'Ceallaigh: seine Beziehungen. Die Gruppe U2 hatte mit einem Teil des Geldes, das ihr Platin-Album The Unforgettable Fire und die ausverkaufte Tournee danach eingespielt hatten, eine eigene Plattenfirma, Mother Records, gegründet, um anderen irischen Bands, die ein großes Publikum verdient hatten, zu helfen. O'Ceallaigh leitete Mother Records. Ein eigenes Label scheint ein fast unumgängliches Attribut für Rock-Superstars zu sein: Apple von den Beatles, Paisley Park von Prince, Rolling Stones, Fly von David Byrne und Luaka Bop. Sogar ein zweitrangiger Star wie Sting besaß für kurze Zeit seine eigene Firma. Es ist bemerkenswert, daß keines dieser Labels auf lange Sicht überlebte. (Die wenigen, die es doch geschafft haben, wie Paisley Park oder Rolling Stones, sind keine echten Plattenlabels, sondern lediglich ein Vorwand, um dem Produkt ein anderes Logo aufsetzen zu können.) Wie die meisten dieser Labels sollte auch Mother Records einem ganz bestimmten Zweck dienen. Plattenfirmen mit so eng gefaßten Zielen haben jedoch nie Erfolg. Obwohl es lobenswert war, daß die U2 einen Teil ihres Einkommens in die Szene investieren wollten, aus der sie selbst hervorgegangen waren, so konnte ein solches Vorhaben doch nicht von Dauer sein. Schlimmer noch, die erste Gruppe, die U2 bei Mother Records protegieren wollte, war Cactus World News, ein äußerst
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unselbständiger Verein, deren Verhältnis zu U2 dem von John Cafferty und der Beaver Brown Band zu Bruce Springsteen ähnelte: ein trauriger Abklatsch der echten Geschichte. All das störte O'Ceallaigh zu dieser Zeit nicht. Er hatte enge Verbindungen zu U2, der bekanntesten und beliebtesten Band in Irland und damit zu den nach Van Morrison wichtigsten Popmusikern der Insel. O'Ceallaigh, der einen Kopf größer war als Sinéad, war ein Manager, zu dem sie aufblicken und von dem sie lernen konnte. Der andere wichtige Mann in Sinéads Leben während der Zeit in London vor Erscheinen ihres Albums war ihr zukünftiger Ehemann John Reynolds. Man hatte ihn als Schlagzeuger für Sinéads erste Platte gewonnen. Und obwohl er nicht mehr vorzuweisen hatte als einen Einsatz als Stöcke-Spieler für Transvision Vamp, eine britische Version der amerikanischen Punks der zweiten Generation Holly and the Italiens, fügte sich Reynolds gut in die Studiogruppe ein, die Sinéad und O'Ceallaigh zusammengestellt hatten. Und es muß auch sonst gefunkt haben, denn schon bald nachdem er zur Band kam, wurden er und Sinéad ein Paar. Aber bevor Sinéad das Aufnahmestudio betrat, um zielsicher ihr Debüt-Album aufzunehmen, hatte die Neunzehnjährige noch ein anderes Vorhaben: eine Zusammenarbeit mit einem Mitglied von O'Ceallaighs Geschäftspartnern, U2. Der Gitarrist der Band, Dave Evans (als Musiker bekannt unter dem Namen »the Edge«), schrieb gerade die Filmmusik für The Captive (Der Gefangene) und wollte eines der Stücke in diesem Soloprojekt mit einer Sängerin besetzen. (Der U2-Sänger Paul »Bono« Hewson war schon seit In Tua Nuas »Take my Hand« ein Fan von Sinéad.) Sinéad flog nach Dublin, O'Ceallaigh stellte sie vor, und bald begannen Evans und Sinéad ihre Zusammenarbeit. Es ist keine Übertreibung, ihr gemeinsames Stück »Heroine« (Heldin) – das nichts mit dem gleichnamigen Titel von Velvet Underground zu tun hat –, als gewaltigen Fortschritt zu bezeichnen im Vergleich zu dem, was Sinéad mit In Tua Nua oder Ton Ton Macoute erreicht hatte. Zum ersten Mal arbeitete sie mit jemandem zusammen, der ihr als Texter und Musiker mindestens ebenbürtig war. Sinéad sollte später fast eben-
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soviel Wert auf Beherrschung legen wie Prince, aber man kann nicht leugnen, daß ein starker Partner sogar den zurückhaltendsten Rockmusiker herausfordern kann. Bei »Heroine« hatte Sinéad endlich jemanden gefunden, der es wert war, ihre Begabung zu teilen. »Heroine« ist um Synthesizer herum aufgebaut, aber der warme Sound dieser elektronischen Keyboards ist ganz anders als der gekünstelte, seelenlose, high-tech Synthesizerklang von Spitzenreitern der Charts Mitte der 80er Jahre, wie beispielsweise der Gruppe Eurythmics. Das erste Wort aus Sinéads Mund ist »Afraid« (Angst), und nach diesen ersten Silben hält sie für einen Moment inne, als sei mit diesem Wort bereits alles gesagt. (Dies ähnelt der ersten Zeile von Roy Orbisons »It's Over« – Es ist vorbei –: »Your baby doesn't love you any more. What more needs to be said?« – Deine Kleine liebt dich nicht mehr. – Was gibt es noch mehr zu sagen?) Aber Sinéads wehmütige Stimme wird von Instrumenten umgeben, die sie mit jedem Takt mehr einhüllen, und so kann sie fortfahren. Eberiso wie viele seiner Stücke für U2 ist Evans »Heroine« ein Stimmungsstück. Assoziationen überwiegen gegenüber einer fortlaufenden Erzählung. Die Worte geben nicht viel her, aber Sinéads Präsentation ist entscheidend. Ihr Aufschrei »Bring me into your arms again« (Nimm mich wieder in deine Arme), gefolgt von einer für Evans typischen sprunghaften Gitarrenmelodie, ist anrührend und provokant zugleich. Diese Ballade steigert ihr Tempo nicht, aber sie baut Druck auf: Sinéad singt frei und zeigt erste Andeutungen ihres mehroktavigen Stimmumfangs, den sie bald genauer erkunden sollte. Es war ein vielversprechendes Debüt für Sinéad; die erste Aufnahme unter ihrem eigenen Namen. Wer ihren Song hörte, verlangte nach einer ganzen Platte von ihr. Evans war so zufrieden mit dieser Einspielung, daß er Sinéad einlud, bei einer Sondersendung der britischen Pop-Fernsehshow »Old Grey Whistle Test« aus Belfast im Vorprogramm der U2 zu singen. Obwohl sie so klein, so dünn und so unbekannt war, überraschte sie das Publikum mit ihrer ausgereiften Stimme, ihren Texten, die von Verrat erzählten, und ihrer Autorität. Sie überraschte ihr Publikum auch mit ihrem kahlgeschorenen Kopf.
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Sinéad hatte in London nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch mit ihren Haaren herumexperimentiert. Die Angestellten bei Ensign schlossen damals Wetten ab, womit sie wohl bei ihrem nächsten Besuch im Büro ankommen würde. (Zur gleichen Zeit zogen die Ensign-Leute sie ständig damit auf, daß sie so klänge wie eine Vielzahl anderer Sängerinnen auch – Grace Slick, Aretha Franklin, Tammi Terrell –, die Sinéad nicht einmal dem Namen nach kannte.) Nach den üblichen, wenig benutzerfreundlichen Punkfrisuren versuchte es Sinéad mit einem Mohikanerschnitt, hatte den Mr. T.-Look jedoch bald leid und ließ einen Stoppelschnitt folgen. Schließlich rasierte sie den verbleibenden Flaum ganz ab. Ihr kahler Schädel – provokant und seltsam anziehend zugleich – blieb von da an ihr Markenzeichen: Selbst 1990 bezeichnete die Nachtprogramm-Talkshow-Marionette Arsenio Hall sie noch als »diese kleine kahle Dame«. Als die Zeitschrift Spin ihre fünfte Geburtstagsausgabe veröffentlichte, setzte man Sinéad auf die Titelseite und druckte ein zwei Jahre altes Interview ab (ein typischer Spin-Trick), das Legs McNeil, einer der Chefredakteure der Zeitschrift, mit Sinéad geführt hatte. Es zeigte sich, daß in diesem Artikel mehr von McNeil als von seiner eigentlichen Interviewpartnerin die Rede war. (Auch das ist ein normales Vorgehen für Spin.) Er enthielt auch ein köstliches Gerücht, das wunderbar wäre, wenn es stimmte. Weil Sinéads Plattenfirma sie dazu hatte bewegen wollen, sich mehr »aufzutakeln« und sich »mädchenhafter« zu präsentieren, hatte sie ihr ganzes Haar abrasiert. In Wahrheit hatte Sinéad ihre eigenen Gründe, ihren Kopf kahlzuscheren; dazu zählt auch, daß sie nicht noch ein typisch weiblicher Rockstar mit einer langen Mähne sein wollte. Alles spricht dafür, daß sie es aus eigenem Antrieb getan hat und nicht aufgrund unverschämter Forderungen anderer. Jeder hatte seine eigene Theorie, warum Sinéad ihre Haare rasiert hat. Diese Theorien reichten von – sie ist auf dem Frisiersessel eingeschlafen – bis hin zu – sie wollte sich öffentlich für ihre Untreue gegenüber einer ungenannten Person strafen –, aber keine dieser Hypothesen enthielt auch nur einen Funken Wahrheit. Sinéad selbst hat einmal gesagt, wobei sie sich offenbar der charmanten Widersprüchlich-
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Sinéad singt »Mandinka« bei der Verleihung der Grammy Awards 1988. (Paul Robicheau)
keit ihrer Aussage nicht bewußt war: »Mit der Frisur bezieht man Stellung zur Mode, und ich will keine Stellung beziehen.« Die energische, kahlköpfige Frau betrat das Londoner Aufnahmestudio, um The Lion and the Cobra einzuspielen, mit einer weiteren Überraschung: Sie war schwanger von Reynolds. Mit Unterstützung von Reynolds und den Ensign-Leuten plante Sinéad eine Abtreibung – sie war sogar schon im Krankenhaus –, aber in letzter Minute entschied sie sich dagegen. Ihr Leben war in Aufruhr. Sie war schwanger von einem Mann, der ihr zwar viel bedeutete, den sie aber noch nicht sehr lange kannte und deswegen nicht wußte, ob es eine gemeinsame Zukunft überhaupt gab. Sie lebte in London, einer riesigen, kalten Stadt, deren Kühle und Größe ihre Einsamkeit und ihr Heimweh noch verstärkten. Zudem stand sie noch unter dem extremen Druck, der mit der Aufnahme eines ersten Albums verbunden ist. Viele Popmusiker machen sich verrückt mit ihrem ersten größeren Werk, Sie arbeiten unter dem (leider sehr berechtigten) Verdacht, daß sie keine zweite Chance bekommen werden, wenn sie nicht gleich beim ersten Mal einen Hit landen. Vielleicht habe ich nie wieder die Chance, ein Publikum zu erreichen, denken sie, deswegen schließe ich jetzt alles andere aus meinem Leben aus und konzentriere mich ganz auf meine Arbeit. Diesen Luxus konnte sich Sinéad aufgrund ihrer übergroßen persönlichen und beruflichen Probleme damals nicht leisten. (Wie Grainge von Ensign vermutet hatte, versuchte O'Ceallaigh einen Keil zwischen Sinéad und ihre Plattenfirma zu treiben.) Sinéad konnte sich nicht ganz in ihrer Arbeit verlieren; die Anforderungen des wirklichen Lebens waren zu groß, um vernachlässigt zu werden. Unter diesen Umständen überrascht es nur wenig, daß die Sessions, die Sinéad unter Glossops Aufnahmeleitung im Herbst 1986 einspielte, ein Flop waren. Sie war nervös, Glossop und sie waren häufig anderer Meinung in bezug auf das Endprodukt, und sie wurde von Tag zu Tag runder. Sinéad war noch nicht soweit, ihre Probleme ganz in ihre Musik ableiten zu können, und selbst wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre, wäre Glossop der überhebliche Störfaktor geblieben, der andere Vorstellungen von
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der Platte hatte als Sinéad und O'Ceallaigh. Als die Aufnahmen beendet waren und Glossop nur noch darauf wartete, die Platte endgültig abzumischen, gaben die Verantwortlichen bei Ensign Sinéad und O'Ceallaigh schließlich nach, und es wurde beschlossen, Sinéad noch einmal von vorne anfangen und sie diesmal die Aufnahmen selber leiten zu lassen. Sie verstand am meisten von ihren Songs und sollte sie deshalb mit Unterstützung des Toningenieurs Kevin Moloney selbst produzieren. Sinéad muß während dieser Zeit wieder einige Kraft gesammelt haben, denn sie war nun in der Lage, unter größtem Druck ein stimmiges Album zu produzieren. Die Aufnahmen begannen im April 1987; zu diesem Zeitpunkt war sie bereits im siebten Monat schwanger und wußte, daß sie die Arbeit innerhalb von zwei Monaten beenden mußte. Daß sie mit ihren gerade zwanzig Jahren all das auf die Beine stellen konnte, ist in mancher Hinsicht weit beeindruckender als die Platte selbst. Im Juni desselben Jahres war die Platte fertig (die Ensign-Leute waren ebenso zufrieden wie Sinéad und O'Ceallaigh) und Sinéad brachte ihren Sohn Jake Reynolds zur Welt. Kurz nach Jakes Geburt zerstritt sie sich mit John, wodurch ihre Beziehung zu O'Ceallaigh noch enger wurde.
4 The Lion
and the Cobra
(© 1987 Chrysalis Records Ltd.)
Auf
der inneren Plattenhülle von Sinéads Album steht handschriftlich und auf gälisch: »Du wirst auf den Löwen und die Kobra treten. Du wirst den großen Löwen und die Schlange zertreten.« Sinéad mag Eigenwerbung ablehnen, aber solch ein Covertext ist eine wunderbar unverschämte Geste, die zeigt, daß Sinéad weiß, wie gut sie ist, und daß sie keine Ruhe geben wird, bis alle es wissen. (Die Tatsache, daß dieser kurze Text in Gälisch abgefaßt war, stellte gleichzeitig sicher, daß dabei nicht allzu viele Leute im Spiel waren.) Auf The Lion and the Cobra sind viele ruhige Stücke zu finden, aber diese Sammlung von neun Stücken hat dennoch nichts Gefälliges an sich. Das gilt vor allem auch für das Coverfoto, auf dem Sinéad ihren Kopf nach vorne neigt – und damit die Aufmerksamkeit auf ihre nur schwach angedeuteten Haare legt – und an den Trägern ihres Hemdes nach Halt sucht. Sie blickt auf den Boden, tief in quälende Gedanken versunken. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man ein unleserliches Gekritzel auf dem Rücken ihrer linken Hand. Das Cover von The Lion and the Cobra verspricht, daß diese Platte etwas noch nie Gehörtes, noch nie Dagewesenes ist. Das Photo stellt Sinéad als Widerspruch dar: zum einen als einen Menschen, der unbestimmte Qualen durchleidet, und gleichzeitig als Menschen, der ein Publikum auf eine ganze neue Weise ansprechen will.
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Tatsächlich ist The Lion and the Cobra mit Ausnahme weniger Stücke ein Album, das von einer selbstsicheren Frau gesungen wird, die gleichzeitig ständiger Bestätigung bedarf. Sie mag mit einer Intensität in die Kamera starren, als sei sie ein geistiges Kind von Johnny Rotten, und sie mag die Doc-Marten-Boots tragen, die bei der neuen Generation der rechtsgerichteten englischen Punks so beliebt sind (diese Punks sind natürlich, ebenfalls kahlköpfig, aber da hört die Ähnlichkeit mit Sinéad auch schon auf), aber dieses Erscheinungsbild paßt nicht zu der verletzlichen Frau, die die Songs auf The Lion and the Cobra singt. Sinéads Erscheinung ist die eine Sache, ihre Kunst ist eine andere. Der Kern von Sinéads Band für diese Platte bestand neben Reynolds am Schlagzeug und Schlagzeug-Computer aus dem Keyboarder Mike Clowes, dem Gitarristen Rob Dean und dem Bassisten »Spike« Hollifield. (Die wichtigste Ergänzung war Marco Pirroni, der frühere Begleiter von Adam Ant. Er fügte dem einzigen traditionellen Hardrock-Song des Albums, »Madinka«, mehrere Gitarrenspuren hinzu und erhöhte damit seine Spannung.) Dennoch ist The Lion and the Cobra ganz deutlich das Album einer einzelnen Musikerin und nicht das Album einer Band. Sinéads Stimme und ihre Rhythmusgitarre sind ständig im Vordergrund der luftigen Arrangements, und mit Ausnahme einiger sensationeller gesprochener Einwürfe sind keine anderen Stimmen auf der Platte zu hören. Viele Songs auf The Lion and the Cobra haben einen großen Klang, aber sie lassen sich immer auf diese einzelne Frau und ihre Gitarre zurückführen. Das klare Anfangsstück, »Jackie«, ist richtungweisend und macht deutlich, was an The Lion and the Cobra so aufregend und was andererseits unvollendet geblieben ist. Sinéads Stimme setzt allein ein und erzählt von einer lange verlorenen Liebe, und eine E-Gitarre, die per Computer Streicher imitiert, gewinnt nach und nach die gleiche Stärke. Es ist eine seltsame Mischung, mit der es Sinéad gelingt, eine winterliche Schauerszenerie heraufzubeschwören, die der wahnhaften Liebe zu einer Person, die »seit zwanzig Jahren unter der Erde ist«, genau entspricht. Sinéads experimenteller Gesang ist beispiellos in seinem Wechsel zwischen
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ganz leichten, ätherischen und kräftigen, erdverbundenen Stimmlagen. Der Song zeigt die Stärken ihrer Stimme, ohne dabei auf die üblichen angeberischen Kniffe von Sängern mit großem Stimmumfang zurückzugreifen. Trotzdem verliert die Darbietung an Überzeugungskraft, wenn Sinéads »Jackie«-Gebrüll langsam zu einem »Jackie O«-Singsang zusammenfällt. Neben dieser Anspielung auf eine Berühmtheit (die Witwe John F. Kennedys tauchte das letzte Mal in Tim Currys »l Do the Rock« und in »l Want to be Jackie Onassis« von Human Sexual Response auf) mindert dieser Kunstgriff die vertrauliche Wirkung, die Sinéad erzielen will. Mit »Madinka« gibt es solche Probleme nicht. Die Kombination von heißem Gesang mit kräftig knackigen Gitarren liefert einen Rock, der hart genug ist, die Programmacher der amerikanischen Plattensender (Album-Oriented-Radio, AOR) zufriedenzustellen. Und trotzdem war das Anliegen dieses Songs so verschieden von dem der gewöhnlichen, langhaarigen Plattensender-Jungs, daß er sofort eine Sonderrolle einnahm. Die drei Gitarristen (Sinéad, Dean und Pirroni) verbeißen sich in ihre Riffs, während Sinéads stark verzerrte Stimme kreischt. Im Refrain singt sie aus voller Kehle: »l don't know shame/l feel no pain/l can't/See the flame« (Ich kenne keine Scham/Ich fühle keinen Schmerz/Ich kann nicht/Die Flamme sehen). Bemerkenswerterweise fügt sie zwischen der dritten und vierten Zeile eine ganz kleine Pause ein und gibt dem ganzen damit eine fruchtbare Doppelbedeutung. Gegen Ende des Songs unterstreicht Sinéad diesen Punkt noch, indem sie die Passage ohne die vierte Zeile singt. Gesungen von einer zwanzigjährigen, kahlköpfigen, unverheirateten, schwangeren Frau, die überzeugt ist, irgendwie anders zu sein als die anderen, wirken diese Zeilen eindringlich und überzeugend. »Madinka« zeigt, daß Sinéad mit abgenutztem Material arbeiten und dabei etwas Neues zustande bringen kann. Die Zeilen, um die es sich hier dreht, sind alles andere als neu: »l'm not the same/l have no shame« (Ich bin nicht die gleiche, ich habe keine Scham) sang Madonna in »Burnin' Up« auf ihrem ersten Album, allerdings in einem wesentlich enger gefaßten Kontext. (Lust ist nur eines der vielen Themen, mit denen sich der offenherzige Song »Madinka«
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beschäftigt.) Die Akkorde der E-Gitarre von »Madinka« sind einer erstklassigen Heavy-Metal-Gruppe wie AC/DC würdig. Sinéad verschärft ihre textliche Aussage, aber sie glättet ihren Sound, indem sie den Erdrutsch der E-Gitarren in »Madinka« mit akustischen Gitarrenklängen überzuckert. Die Interaktion zwischen akustischen und E-Gitarren spiegelt gekonnt die verletzlichen und aggressiven Aspekte von Sinéads Gegenwart auf dieser Platte. Sobald sie den beruhigenden, mehrfach wiederholten lyrischen Nachsatz des Stückes, »So l can give you my heart« (So kann ich dir mein Herz schenken), erreicht, mäßigt Sinéad ihre bissige Seite, aber sie klingt noch immer kraftvoll. Als vielschichtige Mischung von allem, was Sinéad so interessant macht, ist »Madinka« ein phantastisches Stück, das wiederholtes Hören mit immer neuem Vergnügen belohnt. The Lion and the Cobra ist ein Debüt-Album voller Songs, die Sinéad noch als Teenager geschrieben hat. Daher kann die junge Musikerin und Texterin die Intensität von »Madinka« auch nicht die ganze Platte hindurch aufrechterhalten. Dennoch verraten auch die Songs, die einer genaueren Untersuchung nicht standhalten, viel über Sinéad, und einige von ihnen sind sogar wegweisend für spätere Erfolge. »Jerusalem« hat eine recht gute unveränderte melodische Figur zu bieten, und Sinéad liefert eine fast funkige Darbietung, die nur von ihren etwas zu neckischen und poetischen Worten untergraben wird. Wie schon »Jackie« bietet auch »Jerusalem« ein weiteres Beispiel dafür, daß Sinéad noch nicht im Vollbesitz einer Stimme ist, die Bewegtheit zeigen kann, ohne weinerlich zu klingen. Auch »Jerusalem« geht in einem Wirrwarr von Klängen unter – der abenteuerliche Mittelteil klingt wie eine Collage von Klangeffekten. »Just Like U Said It Would B« (Genau wie du es gesagt hast) bewegt sich auf derselben Ebene. Die folkige Einleitung ist an Beatles-Gitarrenklänge aus der Rubber-Soul-Ära angelehnt, und die Geschichte, die wieder einmal von einem religiösen Initiationsritus handelt, bleibt ohne Form. (Es bleibt auch unklar, ob hier eine geistige oder körperliche Defloration in sarkastischem Ton beschrieben wird.) Zeilenpaare wie »Will you be my lover/Will you be
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In »Troy« sang Sinéad, sie würde einen Drachen töten. Vom Aufräumen hinterher war nie die Rede. (London Features International)
my mama« (Wirst du mein Liebster, wirst du meine Mama sein) sind nichtssagend bis auf die ekstatische Haltung, mit der Sinéad sie rüberbringt. Und dennoch: »Just Like U Said It Would B« gelingt die Verbindung von britischem Folk (in der Tradition der innovativen Folkrock-Gruppe Fairport Convention) mit den neobarocken Stilelementen der Gruppe Left Bänke, die man zumindest einmal gehört haben sollte. Der etwas unsicher gekünstelt wirkende Song »Never Get Old« ist dagegen problematischer. Der gehobene Ton macht ihn langatmig, und seine guten Seiten, die an Aja-Zeiten von Steely Dan erinnern, kommen erst zum Vorschein, wenn Reynolds Drums endlich hart in Sinéads wortloses Stöhnen einbrechen. Am stärksten wird dieser Song aber durch die Nebenrolle der irischen Sängerin Enya (mit vollem Namen: Enya Ni Bhronäin) aufs Abstellgleis geführt. Enyas auf gälisch gesprochene Passagen sind als bewußt elitäre Mittel eingesetzt, da sie sicherstellen, daß die meisten Fans nicht verstehen, wovon hier die Rede ist. Die große Mehrheit von Sinéads Publikum bekommt so einen Teil der Geschichte nicht mit. Ein solches Elitedenken ist von gewollt künstlerischen Bohemiens zu erwarten (Enyas Musik und die ständig wiederholten Klagen von »Never Get Old« stammen beide aus dem Land von Laurie Andersons »O Superman«), aber es hat nichts mit der direkten emotionalen Kommunikation zu tun, um die sich Sinéad in allen Stücken auf The Lion and the Cobra bemüht. Das nächste Stück, das sechseinhalbminütige Psychodrama »Troy«, deckt ein ähnlich gehobenes musikalisches Terrain ab wie »Never Get Old« und »Jackie«, ist dabei aber wesentlich erfolgreicher und reizvoller. Als herausragende Analyse des trügerischen Weges von der Liebe zur Untreue verbindet »Troy« einen breiten Klang mit einer ausufernden Geschichte, die kleine, alltägliche Augenblicke und große, aus der griechischen Mythologie übernommene, mit gleichem Geschick erfaßt (obwohl Sinéads Versprechen »l'd kill a dragon for you/And die« (Ich würde für dich einen Drachen töten und sterben) ein bißchen zuviel des Guten ist). Synthetische Streicher umspielen Sinéad, während sie zum Kern einer durch Lügen zerstörten Beziehung gelangt. Sie richtet
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den Song an ihren untreuen Liebhaber, und man kann fühlen, wie er sich windet, obwohl die Erzählerin zu sehr in ihren eigenen Schmerz versunken scheint, um das zu bemerken. Mit Ausnahme einiger lyrischer Klischees (mehrfach steigt in diesem Song ein Phoenix aus den Flammen) ist »Troy« ein ideales Demonstrationsobjekt, das zeigt, wie genau Sinéad an Herzensangelegenheiten herangehen kann. Die Version von »Troy« auf The Lion and the Cobra ist inzwischen der sparsameren Live-Fassung gewichen, die Sinéad allein mit Akustikgitarre singt und die in dem herausgespuckten Schrei »You are still a fucking liar« (Du bist noch immer ein verdammter Lügner) gipfelt. Aber hier zeigt sich nicht nur irgendeine nüchterne Sängerin und Songschreiberin, die einen Ex-Liebhaber beschimpft; ungeachtet seiner Ambitionen wirkt dieser Song echt. Solche Geister lassen sich nicht endlos beschwören, und so läßt Sinéad auf »Troy« eine ausgeklügelte Weiße-Mädchen-FunkÜbung, »l Want Your (Hands On Me)« folgen. Es ist ein drängender Song, voller Verlangen nach körperlicher Zuneigung und voller Hoffnung auf das, was geschehen wird, wenn der Zuhörer sie beim Wort nimmt. E-Gitarren prallen von Reynolds programmierten Schlagzeugrhythmen ab und lassen Sinéad genügend Raum, ihre Lust in alle Richtungen zu versprühen. Sie nährt den Rhythmus und bezieht im Gegenzug ihre Kraft aus diesem Rhythmus. (Übrigens klingen sowohl »Madinka« als auch »l Want Your Hands On Me« viel heißer als der Rest auf The Lion and the Cobra, vermutlich weil sie erst nach der ursprünglichen Aufnahme unter Produzentin Sinéad, Toningenieur Moloney und Manager O'Ceallaigh von anderen Leuten neu abgemischt wurden. Die ruhigeren Songs auf The Lion and the Cobra schmeicheln sich langsam ins Bewußtsein des Hörers; »l Want Your (Hands On Me)« und »Madinka« springen einem vom ersten Augenblick an entgegen.) The Lion and the Cobra klingt nicht wie eine Platte, die von den U2 stammen könnte – es gibt hier nur wenig Verbindung zu der Ästhetik von Sinéads Landsleuten in »Three Chords and the Truth« – aber das Album ist mit Sicherheit ebenso düster und ernsthaft wie die Musik der U2 in ihren ernstesten und weihevollsten
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Momenten. Anstatt sich auf die Geschichte einzulassen und nach verstärkenden Details zu suchen, stößt Sinéad gleich zu einer unbefangenen Erklärung vor. Und in der Regel identifiziert sich Sinéad, wie die U2 in ihren besten Zeiten, so sehr mit den Gefühlen eines Songs, daß der Mangel an konkreten Details nicht annähernd so wichtig erscheint wie der Schwung der Musik. Die beiden vorletzten Stücke auf The Lion and the Cobra sind zwei ältere Kompositionen. »Drink before the War« ist eine glühende Ballade, in der Sinéad sich vorstellt, sie sei ein Soldat kurz vor Ausbruch der Schlacht. Die meisten der Reime sind etwas zu einfach (»You live in a shell/Create your own hell« – Du lebst in einer Muschel/Schaffst dir deine eigene Hölle; »You dig your own grave/lt's a life you can save« – Du gräbst dein eigenes Grab/Du kannst ein Leben retten). Aber wenn Sinéad nach zwei Dritteln dieses von der Orgel vorangepeitschten Stückes die rhetorischen Gesten ablegt und den Song die drastische Geschichte von zerbrechenden Leben erzählen läßt, dann scheinen die lyrischen Fauxpas schon nicht mehr so störend. In »Drink before the War« zeigt Sinéad ihre wohl gekonnteste Gesangstechnik auf dieser Platte, mit vielen bewußt eingesetzten Abstürzen und Ausfällen. Die Platte klingt aus mit »Just Call Me Joe«, einer Ballade voll gesteuerter Rückkopplungseffekte, die um die unheilverkündende Griffbrettartistik des Gastgitarristen Kevin Mooney herum aufgebaut wird, der das Stück unter dem Pseudonym Black Moon E. komponierte. Wenn Sinéad mit der Erklärung loslegt »We came here across the Great Divide« (Wir sind über den großen Graben hierhergekommen), fürchtet man fast, daß »Just Call Me Joe« sechs Minuten lang nichtssagende, große Mythen dahinschwätzen wird. Aber die herben, künstlich verzerrten Gitarrenmelodien, eine Fortentwicklung aus Lou Reeds betörenden Klagen bei Velvet Underground und den Moll-Epen von Neu Young mit Crazy Horse, überwältigen und überwinden schließlich alle Probleme des Textes. »Just Call Me Joe« ist der widerborstige, aber ironischerweise zurückhaltende Schluß eines Albums, das im ganzen alles andere als zurückhaltend ist. The Lion and the Cobra trug Sinéad sofort den
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Das Ende eines üblen Tages (man achte auf ihr linkes Auge). (Geoff Swane/LFI)
Ruf einer irischen Seherin in der Tradition Van Morrisons ein, die allen Erwartungen gerecht wurde, die sie mit ihrem Song für Captive geweckt hatte. Sinéad hatte sich der Prahlerei des Textes auf ihrer Plattenhülle gewachsen gezeigt, sie war auf den Löwen und die Kobra getreten und aus dieser Erfahrung klüger und noch temperamentvoller hervorgegangen. Aber ein emotional so tiefgreifendes Album ist normalerweise nicht der Stoff, aus dem Plattenhits gemacht werden (das wird jeder von Richard Thompson bis zu Steve Earle bestätigen können). Der amerikanische Partner von Sinéads Plattenfirma veranschlagte einen Verkauf von nur fünfundzwanzigtausend Exemplaren, und einige in der Firma waren noch nicht einmal überzeugt, daß eine Frau wie Sinéad, die einen ziemlich seltsamen Eindruck auf sie machte, überhaupt so viel erreichen könnte. Sinéads erstes Album wurde zu einem Zeitpunkt an die nichtsahnenden Plattenläden ausgeliefert, als man Alben von weiblichen Popmusikern noch als amüsantes Novum betrachtete. Rückwärtsgewandte Folkmusikerinnen wie Suzanne Vega und Tracy Chapman standen bei den jungen Fans, die Joni Mitchel nicht mehr kannten, und bei den älteren Fans, die ihr nachtrauerten, gerade besonders hoch im Kurs. Nur weil sie eine Frau war, wurde Sinéad mit diesen offensichtlichen Folkies in einen Topf geworfen. Sie selbst hat das in einem Interview mit Billy Coleman, das in Musician erschien, am besten kommentiert. »Ich bin weder eine Anhängerin der Folkmusik noch Suzanne Vegas oder Joni Mitchels«, sagte sie. »Das ganze Zeug ist wischi-waschi, wenn man mich fragt.« Aber weil sie eine Frau war, deren vielseitige Musik auch einige Elemente des Folk enthielt, war es leicht, sie in diese Schublade zu stecken. (Andere, weniger berühmte, aber nicht weniger begabte Musikerinnen wie Sam Phillips wurden auf ähnliche Weise über einen Kamm geschoren.) Viele Bäume mußten dran glauben, damit die Journalisten, die es nicht lassen konnten, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was das alles bedeuten mochte, sich wortreich darüber auslassen konnten. Die tiefere Bedeutung all dessen war ganz einfach: Ein weibli-
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cher Folkie, Suzanne Vega, hatte mit »Luka« eine Single auf Platz drei gelandet. »Luka« ist ein elektrisch verstärkter Song, der laut Vega den Kindesmißbrauch thematisiert, aber ebensogut auch über Gewalt gegen Frauen berichten könnte. Wie auch immer, der Folkhit »Luka« war ein Zufallstreffer, und anstatt ihn als das zu nehmen, was er war, nämlich als Ausnahmefall, beschloß die Musikindustrie, darin einen Trend zu sehen. So erschien plötzlich eine Fülle von Artikeln über »Frauen in der Rockmusik«, als könnte das eine sinnvolle Einteilung sein. Warum wurde nie ein Artikel über »Männer in der Rockmusik« geschrieben, über Pete Townshend, Boy George und Robert Cray, die ebensoviel (und ebensowenig) gemeinsam haben wie die Frauen in diesen Rundumschlägen. Der Grund ist, daß die Musikindustrie auf eine lange Tradition des Sexismus zurückblicken kann. Nur wenige unter Dutzenden von sehr ungleichen Rockmusikern sind Frauen. Und diese wenigen stehen in der Regel unter dem Diktat von Männern, wie Ike Turners Ex-Frau Tina gerne bestätigen wird. In der Zeitschrift TV Guide erschien unter anderem eine Titelstory mit der irreführenden Überschrift: »Warum Frauen jetzt den Rock regieren«. Die drei Frauen, die auf dem Titelbild abgebildet wurden – Janet Jackson, Paula Abdul und Madonna – waren Musikerinnen, die nolens-volens doch den traditionellen männlichen Erwartungen an eine Popsängerin entsprachen. Sinéad war ebensowenig auf diesem Titelbild zu finden wie irgendeine Rap-Musikerin. Die Frauen, die laut TV Guide die Rockszene beherrschten, waren diejenigen, die die Männer gerne an dieser Stelle gesehen hätten, da sie glaubten, diese Frauen leicht manipulieren zu können. Für das breite Rockpublikum (und man kann das auch auf die Rockindustrie ausweiten) war der Rock and Roll immer ein Rock and Roll, der von Männern geschrieben und produziert wurde. Viele können sich unmöglich ein weibliches Gegenstück zu Jerry Lee Lewis, Jimi Hendrix oder David Bowie vorstellen, weil man sie nicht als männliche Musiker, sondern als Rockmusiker schlechthin betrachtet. Es gibt keine bedeutenden weiblichen Plattenproduzenten, die nicht selbst aktiv Musik machen. Wenn einmal eine Frau – sei es Joan Jetti oder Patti Smith – versucht, ein Hardrocker
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nach den männlichen Hardrock-Regeln zu sein, wird sie gleich für verrückt erklärt. Und diese Einschränkungen gelten nicht nur für das Geschlecht, sondern auch für die Rasse. Als das Hardrock-Quartett Living Colour 1988 sein erstes Album auf den Markt brachte, waren die Zeitungen und Zeitschriften voll von Geschichten über den »schwarzen Rock and Roll«. Das war eine Anmaßung, da fast der ganze Rock and Roll aus Formen entstanden ist, die ursprünglich von Afroamerikanern stammten. Und deswegen sollte »schwarzer Rock and Roll« auch als überflüssige Bezeichnung verstanden werden. Aber die Polarisierung der Rassen hatte sich in den USA gegen Ende von Reagans zweiter Amtszeit so verschärft, daß die Vorstellung von Afroamerikanern, die Rock and Roll spielen, zum Novum geworden war. Unter diesen Umständen konnte Sinéad einfach nicht als das verstanden werden, was sie war: eine begabte junge Musikerin mit provokantem Aussehen und Sound. Es gab keine Schublade, in die die Popmusikindustrie ein »kahles Mäuschen« stecken konnte. Und anstatt sich um ein Verständnis von Sinéads Musik und Person zu bemühen, versuchte die Musikindustrie, sie zu vereinnahmen.
5 Amerika
(Laura Levine)
Die
plumpen Versuche der Musikindustrie, Sinéads runden Kopf in eine vorgefertigte quadratische Schublade zu pressen, konnten die wachsende Entschlossenheit der jungen Frau nur noch stärken. Sinéad mag beim Singen schon immer eine große Klappe gehabt haben, aber das war gar nichts gegen das, was sie erreichen konnte, wenn sie redete. Bevor jedoch Sinéad im positiven Sinne von sich reden machen konnte, mußte sie noch mit einer neuen Plattenfirma verhandeln. Ensign hatte eine Vertriebsvereinbarung mit Chrysalis getroffen, die The Lion and the Cobra international vermarkten sollten. Aber die knappen Finanzen bei Ensign führten schließlich dazu, daß die Firma von Nigel Grainge und Chris Hill ganz an Chrysalis verkauft wurde. Die nunmehr zur Tochtergesellschaft gewordene Firma behielt das Recht, in eigener Verantwortung Künstler unter Vertrag zu nehmen, und die Liste mit den Namen Sinéad, World Party, die Waterboys und die Blue Aeroplanes war kurz, aber unverwechselbar und beeindruckend und sowohl künstlerisch als auch kommerziell erfolgreich. Aber trotz aller Bemühungen und guter Vorsätze wurde Sinéad von den Chrysalis-Angestellten ebenso wie von außen als Chrysalis-Musikerin betrachtet. Grainge und Hill beschwerten sich manchmal, daß Mike Bone, der Chef von Chrysalis, und auch sein Nachfolger John Sykes die wichtige Rolle, die Ensign für Sinéad gespielt hatte, unter den Tisch
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fallen ließen. Aber gleichzeitig mußten die beiden Ensign-Leute zugeben, daß es Chrysalis besonders in den USA wahrscheinlich eher gelingen würde, ihren Musikern zum großen Erfolg zu verhelfen. Chrysalis machte gerade schwere Zeiten durch – Pat Benatar, die sich lange gehalten hatte, konnte nicht mehr so regelmäßig wie früher ihre Hits landen, und das Vorzeigeschild von Chrysalis, die Softrocker Huey Lewis und die News, standen kurz davor, die Firma zu verlassen. Immerhin konnte Chrysalis einen unerwarteten Erfolg mit Billy Idol verbuchen, einem Möchtegern-Punk, der sein spöttisches Lächeln bei Sid Vicious geklaut hatte und einen PlattensenderMassensound verbreitete, wie er Sid Vicious ganz und gar nicht behagt hätte. Idol war ein britischer Punk-Veteran (er sang für die äußerst drittklassige Punkband Generation X, die ja auch den Gründer der noch unmöglicheren Gruppe Sigue Sigue Sputnik hervorgebracht hat), dem aus unerklärlichen Gründen eine gewisse In-Qualität zugesprochen wurde. Wenn es Chrysalis also gelungen war, Idol so groß rauszubringen, konnte man annehmen, daß es ihnen auch bei Sinéad gelingen würde. Was aus Sinéads Sicht ebenfalls für Chrysalis sprach, war die Tatsache, daß sie sich sehr um das erste Album von Karl Wallingers World Party, Private Revolution, bemühten und auch wirklich zwei Hits daraus landen konnten: das Titelstück (mit einem Video, das Sinéad am Schlagzeug zeigte) und »Ship of Pools«, eine kraftvolle Geschichte vom ökologischen Untergang, die über einer präzisen Rhythmusspur aus der Beggar's Banquet-Ära der Rolling Stones gesungen wird. Wenn Sinéad schon unter einem der größeren US-Labels erscheinen mußte – und das mußte sie, wenn sie mehr als zehntausend Platten verkaufen wollte –, dann war Chrysalis gewiß nicht die schlechteste Entscheidung. So hätten zum Beispiel die Vielschwätzer Walter Yetnikoff, der Präsident von CBS-Records, oder Irving Azoff von MCA-Records wohl kaum gewußt, was sie mit einer Musikerin anfangen sollten, die nicht sofort bereit war, sich allen Konventionen zu beugen. Gerade als sich Grainge an die Arbeit für Chrysalis gewöhnte, geriet Sinéads Manager, Fachtna O'Ceallaigh (mit dem Grainge
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ja immer noch gestraft war), wieder mal in Schwierigkeiten. (Grainge hätte O'Ceallaigh bei Sinéad auch weiterhin anzuschwärzen versucht, wenn O'Ceallaigh ein Treffen der beiden ohne ihn nicht extrem schwer gemacht hätte.) Der schillernde Fachtna hatte sich durch sein Gerede um seinen Job als Manager von Mother Records gebracht. O'Ceallaigh war ein ausgesprochener Befürworter von Sinn Fein, der der irischen Separatistenorganisation angehörte. Diese Haltung entfremdete ihn den ausgesprochen pazifistisch gesinnten Mitgliedern von U2. In dem Film Rattle and Hum berichtet Bono vor dem aufwiegelnden Song »Sunday Bloody Sunday«, daß Menschen irischer Herkunft in den USA oft erwarteten, daß er den bewaffneten Kampf gegen die Briten aufnehme. Bonos Antwort auf der Bühne lautete: »Fuck the revolution!« In diesem Zusammenhang mußte O'Ceallaighs »Vive la revolution«-Haltung den U2 ein Greuel sein. Die Jungs von U2 schätzten O'Ceallaigh als einen hartgesottenen Typen so lange, bis er anfing, für sie zu arbeiten. Exzentriker sind immer angenehmer, solange man sie nicht auf der Gehaltsliste stehen hat. O'Ceallaigh gab dem Ganzen dann noch den Rest, als er einem Reporter anvertraute: »Ich finde die Musik der U2 buchstäblich zum Kotzen.« Als ihm gekündigt wurde, stand Sinéad als Schützling und gute Freundin von O'Ceallaigh natürlich auf Seiten ihres Mentors, dem sie in den Anmerkungen zu The Lion and the Cobra mit den Worten Dank zollte, er habe sie am stärksten beeinflußt und sei ihr bester Freund. Eine Haltung, die ihr eines Tages noch viel Kummer bereiten sollte. In den Interviews, in denen sie für The Lion and the Cobra warb, verhielt sich Sinéad wie jede frühreife Zwanzigjährige, der plötzlich ein Mikrophon hingehalten wird. Sie sagte Dinge wie: »Es kümmert mich nicht, ob ich berühmt bin, (aber) ich will mein Leben leben«, die ihr gleich Anerkennung verschafften. Und im Gegensatz zu der Anerkennung, die die Presse ihrem Kollegen Billy Idol entgegenbrachte, war dieser Respekt nicht aufgesetzt oder unbedacht. Aus Sinéad konnte man etwas machen, und O'Ceallaigh bestärkte sie darin, provozierende Äußerungen mit hoch erhobenem Kopf vor-
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zutragen, einem Kopf, den viele Interviewer so lange anstarrten, bis sie es ihnen verbot. Zu jedermanns großer Überraschung bei Chrysalis, waren die Zeitschriften ganz wild auf Interviews, und die Leute kauften die Platte. Chrysalis' Erwartung von fünfundzwanzigtausend verkauften Exemplaren wurde bald übertroffen. Und der Präsident von Chrysalis, Bone, rasierte sich seinen Kopf kahl, vielleicht als Buße für seinen Mangel an Zutrauen (aber wahrscheinlich eher als Werbegag). Sogar die konservativen kommerziellen amerikanischen Rundfunksender spielten die Platte. Sinéads Hauptstützpunkt unter den US-Sendern waren verständlicherweise die College-Rundfunkstationen (auch bekannt als »alternative radio«). Die CollegeSender waren gegenüber neuen Musikern, die sich von der Masse abheben, schon immer äußerst aufgeschlossen – und besonders, wenn es sich um etwas androgyne Musiker handelte, die offensichtlich literarisch versiert mit düsteren, angsterfüllten Texten spielten. Sinéad paßte genau in diese Kategorie und gelangte somit ganz selbstverständlich in die alternativen und College-Charts. Was hätte einen größeren Reiz auf die amerikanischen Mittelschicht-Kids ausüben können, als eine magere, kahlköpfige Frau mit irischem Akzent? Aber wahrscheinlich war es eher Sinéads Erfolg auf dem weit größeren Markt der AOR-Plattensender, der Bone zum Rasierer greifen ließ. Die große Überraschung war, daß Sinéad dort überhaupt nicht hineinpaßte neben all den alternden, legendären Rockstars. Regelmäßige Hörer der amerikanischen Plattensender laufen Gefahr, daß sie immer wieder die gleichen drei Songs hören, bis sie an Altersschwäche sterben. Diese Sender hatten Mitte der 70er Jahre großen Einfluß auf den amerikanischen Plattenmarkt, und daher überrascht es nicht, daß die wenigen, altgedienten Titel im Programm aus dieser Zeit stammen. Überraschend ist es vielmehr, daß die Hörer in den USA noch Interesse haben, eine Platte mit Lynyrd Skynryyds »Free Bird«, mit »Won't Get Fooled Again« von den Who, »Stairway to Heaven« von Led Zeppelin oder mit »(Don't Fear) The Reaper« von Blue Oister Cult zu kaufen. Es ist nämlich nur leicht übertrieben, wenn man behauptet, daß die AOR-Program-
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me praktisch eine Endlosschleife dieser Songs darstellen. Wenn man einen dieser Songs hören will, muß man nur das Radio anmachen und ein paar Minuten warten. Die wenigen neueren Songs im Programm – von Gruppen wie Foreigner oder Winger – sind dem großen Rock der 70er Jahre so verpflichtet, daß sie ebensogut von Cover-Bands* stammen könnten. Die Hauptursache für den deutlichen Verlust an Marktanteilen des Rockradios in den 80er Jahren – der nicht nur auf die größere Konkurrenz und eine stärkere Spezialisierung zurückzuführen ist – war die Tatsache, daß sich die Musikauswahl seit über einem Jahrzehnt kaum verändert hatte. »Won't Get Fooled Again« ist wirklich ein bahnbrechender Meilenstein der Rockgeschichte, aber diesen legendären Song fünfzehn Jahre lang alle paar Stunden hören zu müssen, wird sogar den begeistertsten Who-Fan zur Verzweiflung bringen. Es gab nur einen Song auf The Lion and the Cobra, der in das schmale AOR-Programm gepaßt hätte – »Madinka« – und nachdem er sich bei den College-Sendern bewährt hatte, machten sich die Chrysalis-Werbeleute bei den Programmachern der Plattensender für diesen Song stark. Manchmal gelingt einem der College-Radio-Lieblinge der Aufstieg zum AOR-Star, aber das ist die Ausnahme, nicht die Regel. Auf jeden Titel von R.E.M. oder Replacements kommen Hunderte von Robyn Hitchcocks oder Alarms. Man muß schon etwas Besonderes sein, um den Sprung von einem Publikum von einhundertausend zu einem Publikum von einer Million zu schaffen. Marco Pirronis Gitarrenakkorde kamen hart genug, daß »Madinka« neben den großen Jungs bestehen konnte, aber es war etwas ganz Ungewöhnliches, was diesen Song ins Radio brachte: Sinéad war einfach anders. Die Rock-Radio-Fans hatten die Nase voll, und sie waren aufgeschlossen für eine Musik, die sich in alte Strukturen einfügte, die aber doch etwas moderner als die Dinosaurier war. Dieser Unterschied wurde in einer ungeheuer erfolgreichen Werbekampagne herausgestellt. Diese Kampagne wurde inszeniert von Elaine Schock, einer altgedienten Werbefrau der Platten* Bands, die alte Songs von berühmten Bands imitieren
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branche, die gerade ihre eigene Firma aufgemacht hatte. Es war eine gute Verbindung; Schock gehört zu den wenigen wichtigen Werbeleuten des Rock, die nicht in einer der großen Städte sitzen. Und der Abstand zu der ungesunden Betriebsamkeit von New York oder Los Angeles machte eine weniger verrückte Konzeption der Kampagne möglich. Sinéad war Elaine Schocks erste Kundin. Schock wollte sich bei ihrem ersten Auftrag als Selbständige bewähren, und ihre Begeisterung war der entscheidende Faktor, der Sinéads Gesicht in die Presse brachte, was wiederum das Interesse der Radioleute weckte. Natürlich war das einzige, was den meisten Discjockeys in ihren Sendungen zu Sinéad einfiel, daß sie keine Haare hatte. Es war oberflächliches DJ-Geschwätz, aber es war werbewirksam. Auch Live-Shows trugen zum Verkauf der Platte bei. Und das, obwohl Sinéad und ihre Band nur in Clubs und kleinen Konzertsälen auftraten. Aber eine solche intimere Atmosphäre verstärkte die Wirkung der ruhigen, in sich geschlossenen Songs, die den Großteil von The Lion and the Cobra ausmachen. Ihre etwas mehr als einstündigen Auftritte enthielten fast alle Songs ihres ersten Albums sowie eine herbe Geschichte »The Value of Ignorance« (Der Wert der Unwissenheit), von der es noch keine Aufnahme gibt. Sinéad sang viele Songs ohne Band und tat damit alles, die unvermeidliche Distanz zwischen Künstlerin und Publikum zu verringern. Obwohl sie inzwischen ein ziemlich gut verkäufliches Album bei einer großen Plattenfirma hatte, bemühte sie sich, die Kaffeehaus-Atmosphäre ihrer ersten Auftritte wiederzubeleben. Das beeindrukkendste ihrer Solostücke war die Neuinterpretation von »Troy«. Ohne die reich verzierte Orchestrierung kam die schmerzliche und zweifelnde Stimmung des Liedes zum Vorschein. Nur mit Sinéad und ihrer Gitarre waren die Klagen in dieser Version von »Troy« noch besser vernehmbar. Viele Fans verließen Sinéads Konzerte tief bewegt. Der Erfolg von The Lion and the Cobra ließ sich mit dem von l Do Not Want What l Haven't Got nicht vergleichen – es erreichte nie Platin-Zahlen –, aber es war ein Hit von beachtlicher Größe, der sich allein in den USA schließlich mehr als eine halbe Million mal
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Sinéads erster amerikanischer Auftritt im World in New York. Man beachte den Button. (Nick Elgar/LFI)
verkaufte. Presse, Rundfunk, Live-Auftritte und Musikvideos machten Sinéad bekannt. Drei Songs aus The Lion and the Cobra – »Troy«, »l Want Your (Hands On Me)« und »Madinka« – wurden von John Maybury gefilmt, und als Ganzes gesehen umreißen sie das Spektrum von Sinéads Intentionen. Videos sind in der Regel nichts anderes als geistlose Werbespots, und auch Sinéads Videos leiden an den üblichen Problemen dieser Form (eine ungeschickte Mischung von Plattitüden, Übertreibungen und Selbstüberschätzungen). Aber die Songs sind zu gut, als daß sie durch aufgesetzte Bilder zerstört werden könnten. Der Film zu »Troy« dauert ganze zehn Minuten und sechzehn Sekunden und enthält weit mehr als nur dieses eine Stück. Der Anfang umfaßt große Teile von »Never Get Old« und Clips von verschiedenen anderen Titeln aus The Lion and the Cobra. Bis sich der Film schließlich auf »Troy« konzentriert, ist der Betrachter einer ganzen Reihe von Bildern der launisch wirkenden Sinéad in den verschiedensten Situationen ausgesetzt. Die Bildfolgen während des Songs selbst sind ebenso ausgefallen wie die musikalische Zusammensetzung. Sinéad wird in verschieden spärlich bekleideten Aufmachungen im Kreis herumgewirbelt, von denen eine an Pussy Galores vergoldete Schwester erinnert, die in dem Film Goldfinger ermordet wird. Dies war das erste Video, das zu The Lion and the Cobra erschien, und als solches stellt es Sinéad in ihrer Rolle als verstoßene Nonne vor. Sie trägt weite Umhänge, starrt in die Ferne und wirkt doch nur wie die Sekretärin des Kate Bush Fanclubs. Das Video ist gekünstelter als der Song und kann ihm deswegen nicht gerecht werden. Der Videoclip zu »l Want Your (Hands On Me)«, in dem auch M.C. Lyte mit ihrem kurzen Rap aus der Maxi-Single-Version des Songs zu sehen ist, wirkt zumindest wesentlich bestimmter. Sinéad trägt eine Lederjacke und wiegt sich im Rhythmus, während hinter ihr Bilder von Blumen und Händen vorübersausen. Mutig blickt sie in die Kamera. Und gleichzeitig fordert sie die Kamera heraus, auf ihr Verlangen nach körperlicher Zuwendung einzugehen. Sie vermittelt dabei das Gefühl, daß sie genügend Kraft hat zu überleben, auch wenn sie nicht gewinnt. Wieder mögen manche
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Sinéads Blicke als aggressiv empfunden haben, aber sie sind nicht mehr als die einer selbstsicheren Frau. Von einer ganz anderen Seite zeigt sich Sinéad in dem Video zu »Madinka«. Echte Rockfans waren vielleicht enttäuscht, daß Sinéad den Musik-TV-Zuschauern »Madinka« nicht als den hervorragenden schlichten Gitarrenrocker vorstellte, den sie auf der Platte und im Konzert präsentiert hatte. Aber selbst die schnellen Schnitte und die wirbelnden Fotomodelle lassen diesen Clip bei weitem nicht so gekonnt erscheinen wie beispielsweise die Videofassung von »Troy«. Sinéad bewegt die Lippen zu »Madinka«, ohne die Aufmerksamkeit auf die Kraft und das Durchsetzungsvermögen des Songs zu richten; an ihrem linken Ohr baumelt ein Ohrring mit einem Kruzifix. Die Kamera ist vor allem während des besänftigenden Schlusses auf Sinéad gerichtet, weniger während der dynamischeren Abschnitte davor. Dieses Video versucht in erster Linie, die Aggressivität des Songs herunterzuspielen. Wenn man sich The Lion and the Cobra anhört, die begleitende Tournee verfolgt und die danach gedrehten Videos betrachtet, dann zeigt sich überdeutlich, daß jeder, der Sinéad als aggressiv oder anmaßend (oder andere sexistische Bezeichnungen für eine solche Haltung) empfand, das Werk dieser Musikerin nicht ausreichend beachtet hatte. Jeder Song, den Sinéad in den Jahren 1987 und 1988 sang, war auf der Grundlage ihrer Verletzlichkeit aufgebaut. Diejenigen, die der Meinung waren, daß Sinéad zu stark auftrat, reagierten damit auf ihr Verhalten außerhalb des Konzertsaals oder des Studios, und das ist etwas ganz anderes. Zu viele Kritiker rezensierten ihre Interviews anstelle ihrer Platte und sprachen damit von einer ganz anderen Musikerin. Sinéad zeigte sich in ihren Interviews so, wie sie von der britischen Popmusik-Wochenzeitung New Musical Express einmal beschrieben worden war: »Ein weiblicher Johnny Rotten der 80er Jahre, eine angsterfüllte junge Frau, die die Gesellschaft mit ihrem Aussehen und ihren Ansichten schockiert.« Was hatte diese winzige, verletzliche Frau nur getan, um einen Vergleich mit dem Sänger der Sex Pistols zu rechtfertigen?
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Popmusiker, die zu jung zu viel Aufsehen erregen, neigen dazu auszuflippen. Michael Jackson wurde zum Einsiedler in seinem Zoo; Prince wurde zum sexuellen Eremiten, und W. Axl Rose von Guns n' Roses, faßte seine abstoßendsten Phantasien in Worte und setzte sie schließlich in die Tat um. Sinéad betrachtete die Reihe von Mikrophonen vor ihrer Nase und wollte einfach nur Krach schlagen. Sie wollte so artikuliert und streitbar sein wie Bob Dylan und so bestimmt und streitbar wie Johnny Rotten. Sie mag sich nicht getraut haben, in ihrer Musik richtig loszurocken, aber ihr Geplapper schmetterte sie heraus wie ein Gitarrensolo von Jimmi Hendrix. Es ist nicht verwunderlich, daß der Reporter von der Zeitschrift People Sinéads Haarschnitt als »Manson-Family«-Aufmachung bezeichnete; so stark und so unverschämt wirkte sie. Sinéad bestärkte die Presse darin, ihre Kindheit mit der des Artful Dodger aus Charles Dickens' Oliver Twist zu vergleichen. Und sie betonte, daß eines der Internate, durch die sie gewandert war, mit einem Pflegeheim für Sterbefälle verbunden war. »Als Strafe ließ man uns in der Altenstation auf dem Fußboden schlafen«, erzählte sie People. »Überall waren Ratten, und die alten Frauen stöhnten und kotzten.« Sie nutzte jede Gelegenheit, den gefeuerten Produzenten Mick Glossop anzugreifen, und versuchte ihre Zuhörer davon zu überzeugen, daß sie kein typischer egoistischer Rockstar sei. (»Ich möchte mich nie für etwas Besonderes halten, nur weil ich irgendeinen blöden Song geschrieben habe.«) Aber Sinéad war etwas Besonderes und das wußte sie auch. Wie hätte sie sich sonst ihrer eigenen Meinung so sicher sein und so bereit sein können, diese auf die kleinste Provokation hin zu vertreten? Zum Teil lag das sicher daran, daß Sinéad, die gerade einundzwanzig geworden war, unter dem starken Einfluß einer Clique stand, deren Anführer ihr Manager O'Ceallaigh war. Und wie die meisten in diesem Alter, schwatzte sie die Ansichten der Leute nach, deren Anerkennung sie erhalten wollte. Zum anderen lag es sicher auch daran, daß sie wie die meisten Zwanzigjährigen in ihre eigenen Ansichten verliebt war. Sinéad gibt O'Ceallaigh die Schuld an ihren damaligen Äußerungen, die sie heute zum Großteil bereut. Und ihre Kommentare
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zu dieser Zeit über die U2 und ihre Anhänger und über die allgemeine Lage in Irland waren sicherlich eine Folge von O'Ceallaighs Verbitterung darüber, daß die U2 ihn als Chef von Mother Records gefeuert hatten. Sinéad schätzte O'Ceallaigh und konnte daher die Angriffe, die angeblich auf ihn gerichtet waren, nicht hinnehmen. In der Zeitschrift i-D zerfetzte sie die »bombastische« Musik der U2. In der Zeitschrift Melody Maker, die ungefähr so zum New Musical Express steht wie Time zu Newsweek, attackierte sie die Hothouse Flowers, eine gar nicht so schlechte, folkoristisch angehauchte Gruppe bei Mother Records, indem sie den Sänger der Band einen »Wichtigtuer« schimpfte. Wie es sich für einen echten Punk gehört, biß sie nach der Hand, die sie erst gefüttert hatte. Die U2 hatten sie als erste gefördert, aber sie, ihre früheren Freunde, waren Feinde ihres jetzigen Freundes und damit auch ihre Feinde. In demselben Interview mit Melody Maker verriet Sinéad aufs Allerdeutlichste ihre grundlegende Naivität in bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen, die Arbeitsweise der Popmusikindustrie und auf den Inbegriff des Bösen, das viele in die Arme der IRA treibt. Die entscheidende Äußerung war: »Ich bin für die IRA und Sinn Fein. Ihre Gewaltanwendung gefällt mir nicht, aber ich kann sie verstehen, auch wenn es furchtbar ist.« Diese Waghalsigkeit fiel fast sofort auf ihre Urheberin zurück. Sinéad sprach nicht für sich selbst – sie sprach in Verteidigung von O'Ceallaigh. Mit ihren Angriffen gegen die U2, die auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit waren, erregte Sinéad den Zorn der Fans dieser Gruppe in der britischen, irischen und (nicht ganz so sehr) in der amerikanischen Musikszene. Und ihre Kommentare über die IRA waren einfach dumm. Solche Äußerungen waren ein gefundenes Fressen für die Presse, aber sie minderten auch die menschlichen Qualitäten ihrer Musik. Es war unmöglich, die Musik mit den Aussagen zu vereinen, es sei denn, man betrachtete entweder die Musik oder die Aussagen als falsch. Glücklicherweise hat sich gezeigt, daß Sinéads Aussagen falsch waren. Aber das konnte damals niemand wissen, nicht einmal Sinéad selbst, die von Mal zu Mal dreister wurde. Sie war das weibliche Gegenstück zu ihrem Zeitgenossen Terence Trent D'Arby, einem
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ungeheuer begabten Musiker, dessen Selbstdarstellung mindestens soviel Aufsehen erregte wie seine Musik. Aber D'Arby achtete darauf, nur seine eigene Person umstritten zu machen, so daß sich die Fans und Kritiker über sein wildes Innenleben den Kopf zerbrachen, ihn aber zugleich als äußerst intelligent erkannten. Sinéads Fans und Kritiker waren dagegen gezwungen, sich zu überlegen, ob sie überhaupt dachte, bevor sie den Mund aufmachte. O'Ceallaigh war begeistert von dem, was Sinéad sagte, und die Verantwortlichen bei Chrysalis und Ensign griffen nicht ein, weil Sinéad ihrer Meinung nach den Verkauf von The Lion and the Cobra damit nur förderte. Es könnte sogar sein, daß sowohl Leute von der Plattenfirma als auch O'Ceallaigh Sinéad zu ihrem provokanten Verhalten gedrängt haben. Auf diese Weise blieb ihr ungewöhnlicher Vorname im Bewußtsein der Öffentlichkeit, und es machte deutlich, daß Sinéad sich von den Heerscharen der anderen Folksängerinnen unterschied. Der Höhepunkt von Sinéads Veranstaltungen zu The Lion and the Cobra war ein Playback-Auftritt bei der Verleihung des Grammy, eine der vielen Auszeichnungen, mit denen sich die amerikanische Musikindustrie jährlich schmückt. Die Verleihung des Grammy ist die offizielle Ehrung der National Association of Recording Arts and Sciences und hat in dieser Funktion nur wenig mit dem zu tun, was wirklich gerade in der Popmusik passiert. Weil letztendlich die Industrie bestimmt, wer die Auszeichnung erhält, wird sie nur an Künstler verliehen, die einen kommerziellen Erfolg vorweisen können. Die Gewinner sind immer bereits mehrfach platinierte Veteranen. Veränderungen im Verhalten der Organisation finden nur ganz langsam statt: Mehrfach wurde in zwei aufeinanderfolgenden Jahren der gleiche Musiker für dieselbe Platte geehrt, beispielsweise Paul Simon für Graceland. Einmal wurde der Grammy in der Heavy-Metal-Kategorie an Jethro Tull verliehen, einer albernen Gruppe, die mit Heavy Metal nur wenig mehr zu tun hat als die Beach Boys. Die Show ist nichts anderes als eine Selbstbeweihräucherung im Stil der Oscar-Verleihung. Mit ihrem kahlen Kopf und grimmigen Aussehen wirkte Sinéad zwischen all den lächeln-
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den, aufgeputzten Stars so wie der Film »Twin Peaks« achtzehn Monate später bei der Verleihung des Emmy Awards der Fernsehanstalten: Sie war allen meilenweit voraus, sie hatte die Verhältnisse durcheinandergebracht, und keiner wußte so recht, was er mit ihr anfangen sollte. Obwohl sie sich mit dem Unding eines Playback-Auftritts vor einem echten Publikum zufriedengeben mußte (und sie hat niemals erwähnt, warum sie nicht wie andere an diesem Abend live spielte), fegte Sinéad durch »Madinka«, so gut sie nur konnte. Sie trug einen aufwendigen schwarzen BH, ein Paar zerschlissene Jeans mit einem »Jake«-Flicken auf dem Knie und einem Streifen von der Hose ihres Sohnes, der von einer Gürtelschlaufe baumelte, außerdem ihr Markenzeichen, die Doc-Marten-Boots und das Logo der Rap-Gruppe Public Enemy auf ihren kahlen Kopf gemalt. Bei ihrem Auftritt klappte den Zuschauern von Washington bis Florida die Kinnlade runter. Nichts kann einen Playback-Live-Auftritt wirklich retten, aber Sinéads wunderbare, bilderstürmerische Wiedergabe von »Madinka« kam dem näher als irgend etwas zuvor. Mitten in diesen höflichen Abend platzte sie hinein wie ein Punk. Zum ersten Mal lieferte sie einen Auftritt, der ihren großen Reden entsprach. Den Zuschauern (im Saal und auch zu Hause) verschlug es den Atem. Sie waren es nicht gewohnt, jemanden zu sehen, der echt zu sein schien. Unverhohlen sexy, bezogen auf Insiderwitze (kaum jemand wußte wer Jake oder Public Enemy waren), war dieser Auftritt gerade deshalb ein Erfolg, weil er fehl am Platze war. Obwohl Mike Bone von Chrysalis sich riesig freute, daß er Sinéad auf einer Bühne mit so vielen Zuschauern untergebracht hatte, munkelte man bei Chrysalis und Ensign, daß Sinéad diesmal zu weit gegangen war. Die Zeitschrift Variety zitierte Nigel Grainge: »Wir sind uns darüber im klaren, daß sie es sich an diesem Abend mit einer ganzen Menge Leute verdorben hat.« In aller Stille fingen die Verantwortlichen an, darüber nachzudenken, wie sie ihren merkwürdigen Star zur Ruhe bringen konnten. Aber alle wußten, wie schwierig dies sein würde, solange sie in der Obhut von Fachtna O'Ceallaigh war.
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Das Gewagteste an Sinéads Grammy-Auftritt war vielleicht ihre implizite Anerkennung von Public Enemy. Sinéad engagierte sich für den Rap noch bevor das für eine weiße Sängerin als cool – oder zumindest angebracht – galt. Sinéad war schon von Anbeginn ihrer Karriere an ein Rap-Fan gewesen. Sie wählte auch Rob Base als Vorprogrammnummer ihres amerikanischen Show-Debüts im New Yorker World. Wahre Rap-Liebhaber erkannten, daß die Hip-Hop-Kultur größtenteils schon seit dem Ende der ruhmreichen Tage von Afrika Bambaataa und Soul Sonic Force, von Grandmaster Flash und den Furious Five und von Run-D.M.C. im Jahre 1984 verzweifelt nach neuen Einfallen suchte. Aber Public Enemy gehörte zu den wenigen, die versuchten, neue Grenzen zu finden, die sie überwinden konnten. Musikalisch waren sie überragend: Sie waren in der Lage, aus beliebigen kurzlebigen Vorlagen neue Stücke mit ganz eigenem Sound zu machen. Und die beiden Rapper Chuck D. und Flavor Flav waren ein so unverwüstlich komisches Gegensatzpaar, wie es die Popmusik noch nicht gesehen hatte. Sie lieferten auch politischen Zündstoff: Die Ideologie der Gruppe grenzte an rassischen Separatismus, und sie hatten enge Verbindungen zu Louis Farrakhan, dem moslemischen Geistlichen, dessen bemerkenswerte Vorschläge, wie das ökonomische Joch des Rassismus zu durchbrechen sei, von seinen regelmäßigen Haßausbrüchen zunichte gemacht wurden. Public Enemy produzierte tolle Platten, aber Sinéads offensichtliche Unterstützung dieser Gruppe ließ erneut Zweifel aufkommen, was die Wahl ihrer Freunde anbetraf. Zu dieser Zeit waren Sinéad solche öffentlichen Überlegungen vollkommen egal. Im Anschluß an ihren Grammy-Auftritt flog sie nach London zurück und heiratete John Reynolds.
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Die
Menschen, die Sinéad näher kannten – viele von ihnen gehörten zu O'Ceallaighs irischem Patriotenzirkel – waren völlig von den Socken, als ihr Aushängeschild die Richtung wechselte und John Reynolds heiratete. Während des ganzen Jahres nach Jakes Geburt hatte Sinéad sich immer weiter von Reynolds weg und zu O'Ceallaigh hin entwickelt. Damit hatte also niemand gerechnet. Es hat in der britischen Boulevardpresse, in angeseheneren amerikanischen Zeitschriften wie Musician und unter Sinéads Fans viele Spekulationen darüber gegeben, ob O'Ceallaigh nun jemals Sinéads Liebhaber war. Wen schert's? Es geht uns nichts an, und es ist eigentlich auch nicht wichtig. Wirklich wichtig ist dagegen die Tatsache, daß Sinéad das Gefühl hatte, eine schwere Zeit durchzumachen, und daß sie einem wichtigen Menschen in ihrem Leben näherkam, während sie sich von dem anderen entfernte. Zweifellos bestand zwischen Sinéad, O'Ceallaigh und Reynolds eine starke emotionale Bindung, wenn auch nicht unbedingt eine sexuelle. Es ist leicht, während einer ausgedehnten Tournee, wie es Sinéads 1988er Beutezug war, das häusliche Leben zu verherrlichen. Wenn es nicht gelingt, mehrere Konzerte an aufeinanderfolgenden Abenden in einer Halle oder einem Stadion auszuverkaufen, was eine etwas gemächlichere Gangart ermöglicht, die sich nor-
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malen Reisen nähert, dann kann das Tourneeleben einer Rock and Roll-Band eine ruhelose, langweilige und immer wieder deprimierende Angelegenheit sein. Die standardisierten Holiday-lnnZimmer werden, wenn man hintereinander zwölf genau gleich aussehende bewohnt, zu Gefängniszellen; Busse und Lastwagen werden zu beweglichen Gefängniszellen oder täglichen Höllenfahrten (die genaue Umkehrung von Woody Guthries »Bound for Glory«-Zug). Jede Stadt und jede Bühne sieht gleich aus; eine Bronchitis fühlt sich wie Tuberkulose an; man weiß nicht mehr, welcher Tag heute ist, wenn man nicht die Lokalzeitungen liest; nichts und niemand ist von Dauer, und Verwirrung ist das einzige Gefühl, das lange genug vorhält, um einen Eindruck zu hinterlassen. Rockbands beschreiben diesen Zustand immer wieder; einige durchschauen das Ganze, die meisten nicht. Der langhaarige Superstar und Blödmann aus New Jersey, Jon Bon Jovi, hat, so scheint es, zehntausend Songs geschrieben, die herumreisende Rockbands mit Revolverhelden auf der Flucht vergleichen. Die Rockmusiker selbst sehen sich mehr als Handlungsreisende wie Willy Loman*, die auf der Suche nach Wahrheit von Stadt zu Stadt ziehen, bis sie irgendeine kosmische Antwort finden. Diese existentielle Sehnsucht ist völliger Schwachsinn. Das Herumreisen mit einer Rockband hat seine erhebenden, mit etwas Glück sogar ein paar erleuchtende Momente, aber es gibt auch lange Phasen der Langeweile und des alltäglichen Umgangs mit Leuten, die keine Musiker sind. Mit anderen Worten, für jeden, der nicht völlig in sich eingesponnen ist (und es gibt viele, die sich dem Rockerleben auf der Straße verschreiben, weil es die arroganteste Art der Abhängigkeit fördert), sind Rocktourneen dem echten Leben näher, als es die meisten zugeben wollen. Trotzdem macht es ein solches Leben notwendig, für ziemlich lange Zeit von zu Hause wegzusein. Und das wiederum ist besonders unschön für die Mutter oder den Vater eines kleinen Kindes, besonders für die Mutter, die auch noch schief angesehen wird, * Figur aus dem Drama »Der Tod eines Handlungsreisenden« von Arthur Miller
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wenn sie nicht bei ihrem Kind bleibt. Die langen Reisezeiten, die Stunden zwischen Soundcheck und Auftritt, in denen nie etwas passiert, und das ganze lockere Drum und Dran einer solchen Existenz, lassen einem Rockmusiker mehr als genug Raum, über sein ganzes Leben nachzudenken. Und man kann Babybilder nur kurze Zeit betrachten, ohne Heimweh zu bekommen. Sinéad nutzte diese Zeit zum Nachdenken, und gegen Ende ihrer Tournee wurde sie sich darüber klar, daß ihr Leben dabei war, außer Kontrolle zu geraten. Daß Sinéad nach London zurückzog und Reynolds heiratete, war ein Versuch, das Problem zu bewältigen. Gleichzeitig schuf ihre Hochzeit die notwendige Spannung zwischen Sinéad und O'Ceallaigh. Notwendig deshalb, weil Sinead eine eigenständige Persönlichkeit werden wollte. Sinéads Arbeit aus dieser Zeit ist genau dokumentiert in The Value of Ignorance, einer kurzen (nur 35 Minuten langen) Videoaufzeichnung einer Show vom Juni 1988 im Londoner Dominion Theatre von John Maybury. Die Auswahl der Songs entspricht so ziemlich dem, was man von einer ihrer Live-Shows erwarten würde, da sich ihr Programm immer nur wenig änderte: The Value of Ignorance präsentiert sieben Songs aus The Lion and the Cobra und eine a capella-Zugabe eines in einen neuen Zusammenhang gestellten Gedichts von Frank O'Connor: »l Am Stretched on Your Grave«. Obwohl dieser Film den Namen eines unveröffentlichten, sehr emotionalen Stücks trägt, das zu Sinéads damaligem Repertoire gehörte, erscheint dieser Song hier nicht. Mit Ausnahme von illegalen Konzertmitschnitten blieb er bis heute unveröffentlicht. Fast das ganze Video Value of Ignorance besteht aus Nahaufnahmen von Sinéad. Aber der Aufnahmestil ist so bewußt verzerrt, daß sich aus den extremen Nahaufnahmen keinerlei Intimität mit der Sängerin ergibt. Auf den Bildern ist kaum zu erkennen, daß Sinéad von einer Band begleitet wird; nur selten fährt die Kamera so weit zurück, daß das erkennbar wird. Ihre Begleitung könnte ebensogut aus einem Studiowagen auf der anderen Straßenseite kommen. Und das Publikum ist auch kaum zu hören und zu sehen und hätte auch überhaupt nicht zu kommen brauchen. The Value of Ignorance ist so unergiebig wie es eine Liveauf-
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Zeichnung überhaupt nur sein kann. Das Band wirkt wie ein ausgedehntes gestelltes Video, das nur zufällig während eines Konzerts aufgenommen wurde. Nichts von dem, was so gut ist an Sinéad, ist auf dieser Aufnahme zu finden. Was vermittelt wird, ist gekünstelte Gleichgültigkeit. Sinéad singt ein paar wunderbare Songs, aber es kümmert sie nicht, ob sie auch bei irgend jemandem außer ihr selbst ankommen. Letztendlich bleibt The Value of Ignorance nicht mehr als ein eitles Unterfangen und ein Souvenir für ganz hartgesottene Fans. Sowohl Sinéad als auch ihr treues Publikum haben Besseres verdient. Ein neuer Song aus dieser Zeit, der es bis zur Veröffentlichung gebracht hat, war »Jump in the River«. Ein Song, der in der Filmmusik zu Jonathan Demmes warmherziger Komödie Married to the Mob auftauchte. Geschrieben in Zusammenarbeit mit Marco Pirroni stellt dieser Song (wenn man von den allerbesten Stücken auf The Lion and the Cobra absieht) einen plötzlichen Entwicklungsschub in der Qualität von Komposition und Text dar. Sinéad spielt fast alle Instrumente dieses Stücks selbst (Andy Rourke, der Ex-Bassist der Smiths, macht Einwürfe auf der Bass- und der Akustikgitarre), und Sinéad klingt kontrollierter als auf allen früheren Aufnahmen. Der Sound des Stückes ist brutaler Rock (es bricht los mit einem Schuß), und darüber breitet sich in gefährlichen Kaskaden Sinéads schwermütige Stimme, die von einer aufwühlenden, zufälligen Liebschaft erzählt. »Jump in the River« hat mehr von einem kräftigen Riff als von einem Song und geht sowohl musikalisch als auch textlich stärker ran als die Stücke auf The Lion and the Cobra inklusive »Madinka«. Sinéads synthetischer Schlagzeugrhythmus ist so grimmig, als stamme er von der Platte White Light/White Heat der Velvet Underground, und ihre Erinnerung an harten Sex ist kraftvoll und lebendig. (»There's been days like this before, you know/And l liked it all/Like the times we did it so hard/There was blood on the wall« – Es hat schon Tage wie diesen gegeben/Und es hat mir gefallen/Wie die Male, als wir es so hart brachten/Daß die Wand voller Blut war.) Aber »Jump in the River« handelt nicht nur von einem unvergeßlichen Liebesabenteuer; es geht hier um die bedingungslose Hin-
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gabe. Der Refrain des Songs lautet: »And if you said >Jump in the RiverSpring in den Fluß