Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Paul Henricks Sieben Tage Frist für Schramm
Kriminalro...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Paul Henricks Sieben Tage Frist für Schramm
Kriminalroman
Der mysteriöse Tod des Schülers Kurrat, seinerzeit als Unfall abgetan, wird nach Jahren wieder gegenwärtig, als Schramm aus der Haft entlassen wird. Die Kollegen des Gymnasiums sind konsterniert über das plötzliche Auftauchen des ehemaligen Studienrates, so daß ein Lehrer beschließt, die seltsamen Ereignisse, die vor sechs Jahren das beschauliche Internatsleben durcheinanderbrachten, zu rekonstruieren. Sieben Tage bleiben, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Paul Henricks
Sieben Tage Frist für Schramm
Verlag Das Neue Berlin
© Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH Reinbek bei Hamburg, 1966. Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung der Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Der Vertrieb in der Bundesrepublik Deutschland, in Westberlin, im westlichen Ausland und in Jugoslawien ist nicht gestattet.
Der erste Tag Heute erschien überraschend Schramm bei uns. Einen Augenblick lang verschlug es mir die Sprache, als er mir auf dem Korridor gegenübertrat. Wir hatten uns bemüht, ihn als nicht mehr existent zu betrachten. Niemand sprach über ihn, nicht einmal sein Name wurde genannt. Schramm war zu einem Tabu geworden. Und jetzt stand er plötzlich da. Er tat, als sei nichts geschehen, und es ist bezeichnend, daß es mir schon nach wenigen Augenblicken leichtfiel, mich seinem unverfänglichen Plauderton anzupassen. Er fragte nach seinem Hund, den ich bei seinem Fortgang übernommen hatte, und meinte ironisch lächelnd, der gelbe Anstrich, den Flure und Treppenhaus inzwischen erhalten hätten, solle sicher den Lerneifer unserer Schüler fördern – Farbpsychologie, nicht wahr? Die Fähigkeit, über peinliche Situationen hinwegzukommen, gehört zu den Eigenschaften, die ich immer an Schramm bewundert habe, obwohl er natürlich nicht der Mann ist, den man bewundern sollte. Schramm ist gekommen, um in der Lehrerbibliothek zu arbeiten. Ohne sich vorher mit mir zu beraten, hat 6
der Direktor es ihm für eine Woche erlaubt. Ich bange um den Frieden im Kollegium, für den ich mich als Stellvertreter des Direktors mitverantwortlich fühle. Alles ist wieder gegenwärtig, was fast vergessen war. Ich bin beunruhigt; deshalb habe ich mich heute entschlossen, die Geschehnisse um Schramm und den Schüler Kurrat aufzuzeichnen. Seit langem trage ich mich mit dem Gedanken, wohl aus dem Bedürfnis, mir etwas von der Seele zu schreiben, mit dem ich innerlich noch nicht fertig geworden bin. Ich muß einräumen, daß es eine Zeit gegeben hat, in der mir Schramm nahestand. Dies mag daran gelegen haben, daß Schramm und ich unverheiratet sind und einen großen Teil unserer Ferien hier im Internat verbracht haben, während die anderen Kollegen bei ihren Familien waren. So wurde ich auch unmittelbarer Zeuge der Geschehnisse um Schramm und Kurrat, und vielleicht sollte ich es geradezu als meine Pflicht betrachten, sie schriftlich festzuhalten. Der Fall Schramm ist nicht abgetan. Ich spüre es heute deutlicher denn je. Man kann nicht sagen, daß unser Internat durch die Ereignisse, die sich vor sechs Jahren abspielten, einen unmittelbaren Schaden erlitten hätte. Von unseren zweihundert Schülern wurde keiner sofort danach abgemeldet, und auch unser zwölfköpfiges Kollegium blieb vollzählig. Es gingen dann allerdings in den darauffolgenden Monaten einige Abmeldungen ein. Auch zwei von unseren Kollegen ließen sich kurz darauf versetzen. Das Geschehen der Monate Juni und Juli hat seine Nachwirkungen gehabt, so wie uns manche Ereignisse des Tages erst spätabends einen Hauch von Kälte über den Rücken jagen. In unserem Schulgebäude wurden gleich nach dem Unglück einige Umbauten vorgenommen. Wir haben die Wände des veralteten Duschraums einreißen lassen und an dieser Stelle einen Lagerraum eingerichtet. An einem 7
anderen Ende des Kellers, leichter erreichbar von den Schlafräumen der Schüler, ist dafür ein neuer Duschraum gebaut worden, der allen modernen Anforderungen genügt. Geplant war der Umbau seit langem. Ich muß aber zugeben, daß er wohl im Grunde der Verdrängung unserer Erinnerung diente. Wenn Schramm jetzt in der, im zweiten Stock gelegenen Bibliothek zwischen den hohen Regalen herumklettert, als wäre er noch einer von uns, ist das bezeichnend für seine Wesensart. Ich habe ihn niemals unsicher oder gar verlegen gesehen. Sein Gesicht, hart, wie aus Holz, blieb stets beherrscht, meist unbewegt; nur der bittere Zug um den Mund nahm gelegentlich den Ausdruck der Ironie an. Ich bringe es nicht fertig, mir diesen überlegenen Mann als Zuchthäusler vorzustellen. Nur zweimal habe ich ihn sozusagen ohne Maske gesehen; zwei Bilder stehen mir vor Augen: Schramm – hinabblickend auf den zusammengeschlagenen Kurrat, Blut an den Händen, gelöst und befriedigt. Schramm – am Waschbecken im Krankenzimmer, sich sorgsam die Hände waschend, wieder diesen seltsamen Zug der Genugtuung im Gesicht. Hinter ihm auf dem Bett: Kurrat unter dem weißen Laken. Bei vielen stand Schramm im Ruf der Unverfrorenheit; einer Unverfrorenheit, die sich weniger in Worten und Handlungen äußerte als vielmehr in einer ungerührten Starrheit. Er verzichtete dann auf jedes Argumentieren, aber ein kurzer Satz nur, ein Blick konnte seinen Gegner in Zorn versetzen. Es war, als stecke er in einem Eispanzer und verfolge spöttisch lächelnd, wie alle Pfeile daran abprallten. Ohne diese Eigenart hätte er kaum die Stirn gehabt, hier heute zu erscheinen, als wäre niemals etwas gewesen. Schramm will eine wissenschaftliche Arbeit über Paracelsus fortführen, die er seinerzeit abbrechen mußte. 8
Damals hat er einige Bücher aus der Bibliothek benutzt, die er sich jetzt wieder zusammensuchen will. Es handelt sich dabei vor allem um ein sehr altes mehrbändiges Werk über mittelalterliche Heilkunde, das er vor Jahren in einem verstaubten Winkel unserer Bibliothek aufgestöbert hat und das anderswo nicht zu beschaffen ist. Trotzdem hätte ich es an seiner Stelle vermieden, noch einmal hierherzukommen. Allerdings hat ihn seine Arbeit über Paracelsus damals stark beschäftigt, und ich kann schon verstehen, daß er sie wieder aufnehmen will. Wenn ich einmal abends bei ihm klopfte, fand ich ihn meistens über den Schreibtisch gebeugt. Das Zimmer lag im Dunkel. Die Tischplatte reflektierte schwach den Schein der Lampe, der nur nach unten fiel. Oder Schramm saß unter seiner kleinen roten Leselampe, die ebenfalls nur einen grellen Fleck auf das Buch warf. Damit will ich nicht etwa sagen, daß ich Schramm schon immer als „lichtscheu“ empfunden hätte. Sicherlich hing seine Neigung, nur einen Punkt zu beleuchten, diesen aber taghell, mit seinem unbedingten Willen zur Konzentration zusammen. So wie das Licht auf einen Punkt fiel, setzte Schramm sich stets ein engbegrenztes Ziel, das er anvisierte. Auch diese Eigenart wurde ihm negativ ausgelegt; es hieß, er sei verbohrt. Opposition gegen die gesellschaftliche oder berufliche Ordnung lag ihm fern. Niemals habe ich beispielsweise ein Wort der Kritik gegenüber der Schulleitung von ihm gehört. Er erkannte die Autorität unseres Direktors unbeschränkt an, womit er allerdings nicht allein stand, abgesehen von einigen Außenseitern, denen jeder zum Ärgernis wird, der über sie gesetzt ist. „Schramm ist für mich das Urbild des preußischen Beamten“, sagte unser Direktor einmal, „mit seinen positiven und negativen Eigenschaften: Korrektheit, Disziplin auf der einen Seite – Starrheit, Härte und eine leichte Verklemmtheit auf der anderen.“ 9
Dabei übersah der Direktor allerdings eine ganze Reihe von Eigenschaften, die er weniger positiv beurteilt hätte … Ich habe es ihm vorhin angemerkt, wie sehr ihn das heutige Zusammentreffen mit Schramm erregt hat. Zwar äußerte er sich zurückhaltend darüber, aber er schien mir geradezu ratlos über ein solches Maß an Ungerührtheit zu sein. Bei seinen Schülern war Schramm weder beliebt noch unbeliebt. Sie erkannten seine Überlegenheit an, litten aber unter seiner ironischen Frostigkeit. Bezeichnenderweise nannten sie ihn „Pokerface“. Dabei hatte er viel Verständnis für sie, besonders für ihre Schwächen. Manchmal taute er in einem Gespräch auf und brachte einzelne Schüler zu persönlichen Eingeständnissen, die niemand sonst erlangt hätte. Aber immer kam in solchen Gesprächen der Augenblick, wo Schramm durch seinen Sarkasmus alles zerstörte. Dies wurde mir später bestätigt, als ich mich genötigt sah, einige Nachforschungen über ihn anzustellen. Im ganzen war Schramm mit den Jahren seiner Arbeit an unserer Schule ein gelittenes Mitglied des Kollegiums, weder hervorstechend durch besonderen Eifer noch durch mangelnden Einsatz. Aber er wahrte um sich einen Raum der Freiheit, mied jeden engeren Kontakt und lebte in der Distanz. Einmal allerdings, noch vor den Ereignissen, die ihn zu Fall brachten, überschritt er alle Grenzen. Dies hing mit seiner Tierliebe zusammen. Schramm und sein Hund war ein vielbelächeltes Gesprächsthema, bis es zu dem Zwischenfall mit Kurrat kam. Ich muß hier einen Augenblick der Besinnung einschieben, denn der Person Kurrats kommt eine würdige Einführung zu. Die Schicksale Kurrats und Schramms sind auf eigenartige, ich möchte sagen, mysteriöse Weise miteinander verbunden. Dieser Zusammenhang und seine 10
ungelöste Problematik ist ein Beweggrund dafür, daß ich diesen Bericht niederschreibe. Es fällt mir schwer, mich an Kurrats Aussehen zu erinnern, obwohl er doch erst sechs Jahre tot ist: dunkles, dichtes Haar, braune Augen, straffe, sonnverbrannte Haut – das war Kurrat … Aber ich sehe ihn anders. Ich sehe ihn: das Haar naß, am Schädel klebend, die Augen gläsern, heiß und weich die Haut, wie gekocht – ich spüre diese Haut an den Innenflächen meiner Hände, wenn ich an Kurrat denke. Wir trugen ihn die Treppe hinauf; ich hielt seine Beine … Diese Vorstellung hat mich verfolgt; ich mußte mich dagegen wehren, sie gewaltsam verdrängen, bis sie schließlich aus meinem Bewußtsein geschwunden war. Jetzt hat Schramms Gegenwart alles wieder aufgerissen. Es fällt mir nicht leicht, mir Kurrat als lebendigen jungen Menschen vorzustellen. Fast kommt es mir vor, als störte ich seine Ruhe. Kurrat, damals sechzehnjährig, war ein schwieriger Junge. Vital, phantasiebegabt, intelligent, aber Schule und Lehrern gegenüber voller Abneigung. Es ist uns nicht mehr gelungen, sein Vertrauen zu gewinnen, und vielleicht haben wir es auch nicht verdient. Über seine Herkunft wußten wir wenig. Er war im Jahre 1942 in Jugoslawien zur Welt gekommen, nach dem Krieg mit seinem Vater, einem gebürtigen Deutschen, nach Hamburg gelangt. Bevor er zu uns kam, war er auf einem Internat in Süddeutschland gewesen. Sein Vater wollte ihn aber in seiner Nähe wissen. Heute werfe ich mir vor, daß wir uns nicht genug um den Jungen bemüht haben, doch er machte es uns wirklich schwer. Ich muß zugeben, daß niemand von uns Kurrat sonderlich mochte – ein Grund vielleicht, meine Äußerungen über ihn kritisch zu betrachten … Einiges Negative werde ich über ihn sagen müssen, auch wenn er nicht mehr am Leben ist. 11
Schramm war Kurrats Englischlehrer. Ein Jahr lang saßen sie sich gleichgültig im Unterricht gegenüber, bis sich ihre Wege zum erstenmal schmerzlich kreuzten. Ich komme auf den Zwischenfall mit Schramms Hund zurück. Dieser Hund war ein verängstigtes Bündel Leben, schwarz und struppig. Niemandem brachte er Vertrauen entgegen. Ich war fast gekränkt, als es selbst mir als Hundefreund zuerst nicht gelang, das Tier auch nur heranzulocken. Betrat jemand Schramms Zimmer, schoß der Hund wild bellend auf ihn zu; hatte der Besucher Platz genommen, zog er sich angstvoll zurück. Seine Scheu vor Menschen stand im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Größe. Je kleiner sie waren, desto mehr ängstigten sie ihn; Kinder konnten ihn in Panik versetzen. Das Leben im Internat war für den Hund mit dauernden Schrecknissen verbunden, zumal es ihm völlig an Instinkt dafür fehlte, ob jemand ihm wohlwollte oder nicht. Freundliche Annäherungsversuche von Schülern ängstigten ihn ebensosehr wie aggressive Absichten. Diese gab es allerdings kaum, denn erstens war der Hund so harmlos, daß er keinerlei Gewaltakte gegen sich herausforderte, und zweitens wachte Schramm mit Sorgfalt und Mißtrauen darüber, daß dem Tier nichts widerfuhr. Die Schüler wußten, daß Schramm ein böses Wort für den Hund so empfand, als wäre es für ihn selbst bestimmt. Als Schramm verhaftet wurde, bat er mich, für den Hund zu sorgen. Obwohl es für mich viele Ungelegenheiten mit sich brachte, habe ich eingewilligt. So hat der Hund mich über die Jahre hinweg mit Schramm verbunden. Eigentlich paßte der Hund nicht zu Schramm. Seiner Wesensart hätte eher ein Schäferhund entsprochen, nicht ein struppiger Zwergschnauzer. In der Tat hatte Schramm einmal einen solchen Hund besessen, ihn aber anscheinend auf eine betrübliche Art verloren, denn er sprach 12
niemals mehr darüber, nachdem er es einmal unversehens erwähnt hatte. Obwohl ich heute in ähnlicher Weise an dem Hund hänge wie Schramm, würde ich mich niemals seinetwegen so hinreißen lassen. Eine fast teuflische Kraft schien in Schramm losgebrochen, als er Kurrat dabei überraschte, wie er den Hund quälte. Vielleicht hat der Junge sich nicht viel dabei gedacht, vielleicht wollte er auch Schramm treffen, indem er dem Hund etwas antat. An einem sonnigen Tag, Mitte Mai, gingen Schramm und ich ein Stück am Fluß entlang. Trotz der Brise von der See her konnte man es oben auf dem Deich gut aushalten. Es war Flut, und das braune Wasser schwappte in das Gras der Uferböschung hinein. Der Bootssteg mit dem Pegel lag nur eben über der Wasserfläche. Bei Ebbe hebt er sich auf stakigen Pfahlbeinen hoch über den Schlick. Auf dem Steg hockte Kurrat, von weitem kenntlich an seinem schwarzen Haar, und ließ, wie es schien, etwas im Wasser treiben. Er war so beschäftigt, daß er unser Nahen nicht bemerkte. Nie werde ich Schramms Miene vergessen, als er sah, daß sein Hund im Wasser schwamm, unentwegt auf den Steg zu, von Kurrat aber mit einem Stock immer wieder zurückgestoßen wurde. Schramm stürzte auf den Steg, und ehe Kurrat es sich versah, packte er ihn an den Haaren, riß ihn zurück, gab ihm einen Stoß, daß er ausglitt und quer über den Steg fiel, ließ ihn liegen, kniete nieder und zog den Hund aus dem Wasser. Kurrat war inzwischen aufgestanden, totenblaß, die Hand an die Brust gepreßt, wo er sich beim Fallen an der Kante des Steges verletzt hatte. Schramm drückte mir den nassen, zitternden Hund in die Arme und sprang auf Kurrat los. Der wich langsam zurück, wie gelähmt vor Schreck, und fiel, ohne auch nur an Gegenwehr zu denken, rücklings auf die Planken. Schramm war über ihm und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Vergebens versuchte ich ihn zur Vernunft zu bringen. Links 13
und rechts trafen den Jungen die Fausthiebe ins Gesicht. Blut floß aus der Nase; Schramm, rasend, packte ihn am Hals, würgte ihn, riß Kurrats Kopf hoch und schlug ihn auf die Bohlen, immer wieder, bis ich mich endlich von meiner Verblüffung erholt hatte und Schramm zurückzerrte. Der Hund war in sinnloser Angst hinter dem Deich verschwunden. Schramm stand auf, schwer atmend, Blut an den Händen, und sah auf sein Opfer nieder. Kurrat lag bewegungslos da, das Gesicht zerschlagen, die linke Augenbraue aufgerissen, die Oberlippe klaffend. Die Augenpartien begannen blau anzuschwellen, das Gesicht schien eine einzige Wunde. Ich zog Kurrat ganz auf den Steg, legte ihn auf die Seite, damit das nach innen laufende Blut ihn nicht erstickte. Als ich seinen Kopf stützen wollte, merkte ich, daß seine unteren Schneidezähne eingeschlagen waren … Schramm hätte allen Grund zur Besorgnis gehabt. Aber er stand regungslos da, sah auf uns herab, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von Befriedigung, wie ich ihn nie zuvor bei ihm wahrgenommen hatte. Zwei kleinere Schüler waren inzwischen dazugekommen und standen interessiert in einiger Entfernung. Ich schickte sie ins Fährhaus, von wo aus ein Arzt benachrichtigt werden konnte, schleppte Kurrat vom Steg herunter, legte ihn ins Gras und wußte nicht, was ich noch unternehmen sollte. Das Blut rann aus den Wunden im Gesicht, troff ins Gras, lief am Halse herunter über die Brust. Ich wischte es mit meinem Taschentuch ab, um irgend etwas zu tun. Kurrat trug nur eine verschossene grüne Sporthose, und es bestand ein eigenartiger Kontrast zwischen dem Ebenmaß seines Körpers und dem blutenden, zerschlagenen Gesicht. Schramm war verschwunden. Auch als der Arzt endlich kam und Kurrat ins Auto gebracht wurde, ließ Schramm sich nicht blicken. Wir brachten den Jungen 14
ins Krankenhaus. Ich sprach telefonisch mit unserem Direktor; ich sagte nur das Nötigste, denn ich war mir selbst noch nicht klar, wie ich zu Schramms Tat stand. Dann überließ ich Kurrat der Obhut des Krankenhauses und fuhr ins Internat zurück. Bevor ich zum Direktor ging, wollte ich mit Schramm sprechen. Er saß in seinem Zimmer, ein Buch in der Hand, darunter auf seinen Knien, in eine Decke gehüllt, der Hund. „Er ist hierhergelaufen“, sagte er; „er hat sich im Korridor unter einem Sessel verkrochen … Hoffentlich verliert er jetzt nicht ganz den Verstand.“ „Schramm!“ rief ich. „Menschenskind, wissen Sie denn, was Sie angerichtet haben? Interessiert es Sie nicht einmal?“ „Er wird nicht daran sterben … Die Prügel hat er verdient.“ Und dann setzte er lächelnd hinzu: „Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, mein Verhalten hat Sie schockiert; aber sehen Sie, ich bin Stiergeborener, und da ist das nun manchmal so.“ Es war unglaublich: Dieser ruhige, überlegene Mann mit dem Hund auf dem Schoß und dem Buch in der Hand war der Berserker von vorhin … Diese Beherrschtheit, obwohl er doch wußte, daß seine Stellung auf dem Spiele stand! Sollte ich diese Haltung bewundern oder den Mangel an Teilnahme verurteilen? Mit Mühe konnte ich ihn bewegen, gemeinsam mit mir zum Direktor zu gehen. Es stellte sich heraus, daß die Angelegenheit so schwerwiegend war, wie ich es befürchtet hatte. Kurrat hatte eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen, und zwei Platzwunden im Gesicht mußten genäht werden. Außerdem hatte er zwei untere Schneidezähne verloren. Unglücklicherweise hatte die hiesige Zeitungsredaktion von dem Zwischenfall erfahren, und es kostete mich einige Überredungskunst, den Lokalredakteur von einer Veröffentlichung abzuhalten. Aber er mußte einsehen, 15
daß der Schule als privater, nichtstaatlicher Lehranstalt durch die Bekanntgabe dieses unangenehmen Vorfalls schwerer Schaden zugefügt werden würde, und keinem im Ort, dem geistiges Leben etwas bedeutet, ist unsere Schule ganz gleichgültig. Kurrats Vater mußte benachrichtigt werden. Und eigentlich wäre wohl auch ein Disziplinarverfahren oder gar eine Anzeige wegen Körperverletzung fällig gewesen. Aber wir wollten die Unterredung mit dem alten Herrn Kurrat abwarten, ehe wir Weiteres unternahmen. Einige unter den Kollegen zeigten unverhohlen ihre Schadenfreude darüber, daß der korrekte Schramm jetzt selber in einen Disziplinarfall verwickelt war. Er hatte manchmal die Kollegen verärgert, wenn er sich in die Untersuchung eines der üblichen Schülervergehen hineindrängte. Ungeklärte Fälle waren seine Spezialität. Wenn die zuständigen Lehrer oder die Schulleitung längst geneigt war, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, griff Schramm sie auf. Mit zäher Beharrlichkeit vernahm er dann die Angeschuldigten, zog Zeugen heran, konfrontierte sie, durchdachte den Fall mit strenger Logik, und fast immer führten seine Bemühungen zum Ziel. Es sprach sich herum, daß Schramm einen Fall, den er übernommen hatte, niemals aufgab. War er zum Ziel gelangt, legte er auf eine Bestrafung keinen Wert. Zuerst nahm ich an, daß es ihm leid tat, einen Schüler überführt zu haben, aber wenn dann wieder etwas vorgefallen war, griff er den Fall mit ungeminderter Energie auf. Jetzt war er also selber gestrauchelt, und das Straucheln des Gerechten erfreut die Mitmenschen mehr als das des Ungerechten. Herr Kurrat, telefonisch herbeigerufen, erschien bereits am folgenden Tag in der Schule. Er war etwa sechzig Jahre alt, wirkte aber viel älter. Sein volles weißes Haar hob sich stark gegen das hagere, zerfurchte Gesicht 16
ab und wirkte wie eine Perücke. Die scharfe Nase mit den fleischigen Flügeln, die tiefen Falten zu den Mundwinkeln hinunter und die schmalen, abwärts gebogenen Lippen gaben ihm etwas Raubvogelartiges. Aber betrachtete man Stirn und Augen, gewann man den Eindruck eines von Leid gezeichneten Gesichtes – wenigstens für Augenblicke; dann zog sich die Stirn zusammen, die Augen wurden zu schmalen Schlitzen und bekamen einen lauernden Ausdruck. Ohne Zweifel ein interessantes Gesicht; aber der Eindruck war zwiespältig, wie bei dem Sohn. Dieser hatte die gleichen scharfen Züge – man hätte sie „edel“ nennen können, wenn nicht ein wenig Verschlagenheit darin gelegen hätte. Außerdem, edel – nein; das ist ein zu großes Wort. Aber wäre der Sohn jemals alt geworden, seine Züge hätten sicherlich denen des Vaters geglichen. Es kam im Zimmer des Direktors zu einem etwa einstündigen Gespräch zwischen Herrn Kurrat, dem Direktor und mir als seinem Stellvertreter. Später wurde Schramm noch hinzugezogen. Der Direktor brachte sein Bedauern zum Ausdruck, legte den Tatbestand noch einmal dar, nicht ohne Schramms außergewöhnliche Tierliebe mit einem versöhnlichen Lächeln zu erwähnen, und unterrichtete den alten Herrn von den möglichen dienstlichen Maßnahmen gegen Schramm. Herr Kurrat sagte wenig, und wir begannen auf einen glimpflichen Ausgang der Affäre für Schramm und damit für unsere Schule zu hoffen. Selbstverständlich würden Herrn Kurrat durch den Unfall keinerlei Kosten entstehen für Krankenhausaufenthalt erster Klasse und Zahnersatz … Bei dem letzten Wort schluckte der Direktor etwas. Dann wurde Schramm hereingebeten, und nun vollzog sich etwas Eigenartiges: Der Direktor erhob sich, reichte Schramm ostentativ die Hand, obwohl er ihn an diesem Tage bereits mehrfach gesprochen hatte; auch ich stand auf, nur Herr Kurrat blieb sitzen. Dabei sah er 17
Schramm mit einer Miene an, die ich nicht zu deuten vermochte. Wenn es nicht abwegig gewesen wäre, hätte ich Erschrecken daraus lesen mögen; aber es konnte wohl nur Empörung sein. Endlich stand der alte Herr doch noch auf, reichte Schramm aber nicht die Hand. Schramms Haltung war bewundernswert. Man muß sich vorstellen, was diese Unterredung für seine berufliche Zukunft bedeutete. Eine Anzeige wegen vorsätzlicher Körperverletzung hätte ein Disziplinarverfahren nach sich gezogen und dessen Ausgang entscheidend beeinflußt. Aber Schramm saß da, die Beine übereinandergeschlagen, mit einem Gesicht, das einfach nichts ausdrückte. Das nun folgende Gespräch will ich möglichst genau wiedergeben – es wird mir nicht schwerfallen, da ich darüber ein Protokoll angefertigt habe. Schramm begann mit der in diesem Falle unumgänglichen Entschuldigung. „Ich möchte nicht so weit gehen, Sie um Verständnis für meine heftige Reaktion zu bitten“, sagte er. „Selbstverständlich war es nicht meine Absicht, Ihren Sohn so zuzurichten. Ich habe mich durch die Situation hinreißen lassen. Bedenken Sie bitte, daß ich ihn bei einer Roheit überraschte.“ „Roheit? Und da haben Sie es als Ihre Aufgabe betrachtet, erzieherisch auf ihn einzuwirken?“ Es klang ironisch, aber das Gesicht des alten Herrn Kurrat blieb ernst. „Es ist mir klar, daß ich zu weit gegangen bin.“ „Sie sind sonst kein Freund von körperlichen Mißhandlungen?“ Schramm ging nur widerstrebend auf diese verletzende Frage ein. „Ich habe niemals einen Schüler so geschlagen, daß es Spuren hinterlassen hätte. Gelegentlich sind Ohrfeigen im Internatsbetrieb nicht zu vermeiden.“ „Dann habe ich also in Ihnen einen besonders humanen Menschen vor mir.“ „Ich versuche, den Schülern gerecht zu werden.“ 18
Schramm war jetzt sichtlich verärgert, aber er antwortete zurückhaltend und mit großer Konzentration. Seine Situation ließ das Entstehen eines Streites einfach nicht zu. Herr Kurrat setzte sein merkwürdiges Verhör fort: „Sie lieben also Tiere?“ „Tierquälerei empört mich. Es kommt hinzu, daß mein Hund besonders empfindlich ist, klein und völlig harmlos; ein Zwergschnauzer.“ „Hier unter den vielen Jungen sollten Sie sich lieber einen größeren Hund halten – einen Schäferhund vielleicht.“ Schramm stutzte, sagte aber nichts. „Ich bin gegen jede Form der Tierquälerei“, sagte Herr Kurrat langsam, „da gehe ich mit Ihnen einig. Ich bin aber auch gegen Menschenquälerei.“ „Es tut mir leid, daß ich mich Ihrem Sohn gegenüber vergessen habe.“ Man merkte es Schramm an, daß er das Gespräch beenden wollte. „Ich bin Ihnen gegenüber in der schwächeren Position. Seien Sie bitte fair, und geben Sie mir eine Chance. Ich bedauere mein Verhalten, aber es läßt sich jetzt nichts mehr daran ändern.“ „Zu bedauern ist leicht, nichts mehr ändern können ist bequem, Herr Schramm.“ Kurrats Stimme klang fast drohend. Unvermittelt stand er auf und wirkte in diesem Augenblick furchteinflößend, wie ein Richter, der über uns gesetzt war. Unwillkürlich blieben wir sitzen. Aber seine Worte wirkten wie ein Freispruch: „Ich werde von mir aus in dieser Angelegenheit nichts unternehmen. Mit Herrn Schramm möchte ich noch einmal allein sprechen.“ Wir sprangen erleichtert auf; es wurden noch einige höfliche Worte gewechselt, der Direktor geleitete Herrn Kurrat zur Tür. Ich ließ mich in meinen Sessel fallen. Schramm schien sein Glück noch nicht zu fassen, stand starr, blickte auf die Tür, hinter der Kurrat verschwunden war, und schien mit seinen Gedanken sehr weit weg zu sein. 19
„Schramm, kommen Sie zu sich!“ rief ich. „Kein Gerichtsverfahren, keine Disziplinarstrafe – alles ist überstanden!“ Schramm nickte mir flüchtig zu und ging dem alten Herrn Kurrat nach. Später zog er sich auf sein Zimmer zurück und kam auch zum Abendessen nicht herunter. Als ich gegen zehn Uhr noch einmal klopfte, bat er mich, ihn bei seinem Abendspaziergang mit seinem Hund zu begleiten. Während der Schnauzer seinen gewohnten Weg lief, geschäftig schnüffelte, das Bein hob, zusammenzuckte, wenn er ein ihm bedrohlich erscheinendes Geräusch hörte, und uns kläffend ansprang, gingen Schramm und ich schweigend nebeneinanderher. Vergebens wartete ich auf ein Gefühl der Erleichterung. Irgend etwas war geblieben, etwas Bedrückendes, unbestimmt Drohendes. Ich hatte den Eindruck, als wollte Schramm mir etwas sagen, aber er schien sich nicht dazu überwinden zu können. „Wie fanden Sie den alten Kurrat?“ fragte er schließlich unvermittelt. „Er hat Sie ziemlich zappeln lassen, aber … Ich finde, mit seinem Entschluß können Sie zufrieden sein. Nicht jeder wäre so großzügig gewesen.“ „Ich fand ihn widerwärtig. Wie er sich duckte und aus der Deckung heraus aggressiv wurde … Ganz wie der Sohn übrigens; das gleiche Kaliber.“ „Ich glaube, jetzt sind Sie ungerecht. Herr Kurrat wirkte ausgesprochen souverän, und Sie waren ihm gegenüber in einer ungünstigen Position. Man muß eben im Leben manchmal ein wenig den Kopf einziehen, auch wenn es schwerfällt … Was hatte er denn noch mit Ihnen zu besprechen, als Sie mit ihm allein waren?“ „Erziehungsfragen“, sagte Schramm kurz. „Pädagogisches Gewäsch.“ 20
„Manchmal gefallen Sie sich in der Rolle des Menschenverächters“, entgegnete ich mit Nachdruck. „Als Lehrer sollte man in dieser Hinsicht nicht zu weit gehen. Schüler lassen sich nur zu leicht in negativem Sinne beeinflussen.“ Wir waren stehengeblieben. Der Hund schnüffelte im Gras, krümmte seinen Rücken und schickte sich an, einem Bedürfnis nachzukommen. Sofort wandte sich Schramm ab, und wir gingen langsam weiter. Als der Hund auf sich warten ließ, blieb Schramm wieder stehen und sah sich nach ihm um, bis er heran war. Seine Rücksichtnahme und Besorgnis gegenüber dem Tier stand nicht im rechten Verhältnis zu seiner Einstellung den Menschen gegenüber. „Es ist nicht leicht, sich die Achtung vor den Menschen zu bewahren, wenn man sich mit der Geschichte beschäftigt“, sagte Schramm, nachdem er eine Zeitlang geschwiegen hatte. „Gemeinheit und Verbrechen … Nichts als eine Folge von Gemeinheit und Verbrechen.“ Mir war bekannt, daß Schramm in seinen Unterrichtsfächern – Geschichte, Geographie und Englisch – immer wieder auf Themen kam, aus denen sich die Unzulänglichkeit des Menschen ableiten ließ. Sicher hatte er nicht ganz unrecht, aber es scheint mir doch fraglich, ob es pädagogisch vertretbar ist, die negativen Seiten der Menschen zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Ich entgegnete: „Und schließlich entsteht bei den Schülern der Eindruck, daß Gemeinheit und Verbrechen Selbstverständlichkeiten sind … Bedenken Sie, daß destruktive Kräfte bei Heranwachsenden noch recht ungehemmt wirksam sind. Man sollte die Geschichte nicht als Rechtfertigung anbieten.“ „Machen Sie. mir das Kunststück vor“, sagte Schramm, „unsere jüngste Vergangenheit zu behandeln und den Jungen dabei klarzumachen, daß die Menschheit sich in positivem Sinne entwickelt und an Humanität gewon21
nen hat! Homo homini lupus – der Satz gilt unverändert.“ Schramms Anspielung auf die Hitlerzeit überraschte mich etwas. Es war mir bisher nie gelungen, ein Gespräch darüber mit ihm anzuknüpfen. Seine persönliche Einstellung hierzu war nicht zu ermitteln. Er äußerte weder Sympathie noch Antipathie und war im Unterricht meines Wissens noch nie über die Behandlung des ersten Weltkrieges hinausgekommen. Dabei konnte er doch vor allem im Nationalsozialismus eine Bestätigung seiner These von der, sich in der Geschichte offenbarenden menschlichen Bestialität finden. „Entweder man heult mit den Wölfen, oder man geht unter“, fuhr er fort. „Das ist die wichtigste Lehre, die wir unseren jungen Leuten mitgeben können. Alles andere ist Pädagogengewäsch.“ Mich verletzte die Art, in der Schramm sich über unsere Arbeit äußerte. „Vielleicht sollten Sie manchmal doch die Pädagogik etwas ernster nehmen“, sagte ich ärgerlich. „Ich denke dabei nicht nur an den Fall Kurrat.“ „Sprechen Sie sich ruhig aus. Ich werde es zu ertragen wissen.“ „Man sagt zum Beispiel, Sie fordern Ihre Schüler während der Klassenarbeiten geradezu zum Mogeln heraus.“ „Internatstratsch. Aber ich muß zugeben: Ich stelle sie manchmal auf die Probe.“ Im Laufe der letzten Tage war mir in den zahlreichen Gesprächen über Schramm zugetragen worden, daß er seine Schüler manchmal zum Mogeln verführte, indem er aus dem offenen Fenster blickte. Aber während er scheinbar nach draußen sah, verfolgte er in der spiegelnden Fensterscheibe die Bewegungen der Schüler. Manchmal sollte es förmlich zu einem stillen Wettkampf zwischen Schramm und der Klasse gekommen sein. Die 22
Schüler versuchten zu mogeln, Schramm verhinderte es. Wer erwischt wurde, ging straffrei aus. „Ich würde es für besser halten, die Schüler gar nicht erst vor diese Möglichkeit zu stellen“, sagte ich, „Unsere Aufgabe ist es nicht, die Moral der Jungen auf die Probe zu stellen, sondern ihnen Moral zu vermitteln. Durch Ihre Methode erwecken Sie bei den Jungen den Eindruck, als wäre alles erlaubt, wenn es nur nicht herauskommt.“ Schramm lächelte. „Im Grunde sind sie allesamt kleine Betrüger. Von Natur aus sind sie lebenstüchtig. Wir bringen sie davon ab.“ „Wir sollen anständige Menschen aus ihnen machen, keine Opportunisten.“ „Anständige Menschen!“ knurrte Schramm wegwerfend. „Was heißt das schon! Was nicht herauskommt, ist nicht gewesen. Die Zeit löscht alles aus.“ Es hat heute keinen Zweck, mit ihm zu reden, dachte ich. Er fühlte sich wohl durch das Gespräch mit Herrn Kurrat gedemütigt und haderte mit sich und seiner Umwelt … Es hatte allerdings auch schon früher Augenblicke gegeben, in denen Ansichten aus ihm hervorbrachen, die destruktiv wirkten und unsere gesamte Arbeit in Frage stellten. Meistens hatte er sich dabei durch Ironie getarnt oder seine Äußerungen unauffällig wieder abgeschwächt, so daß man ihm manchmal fast recht geben mußte. Ich war hinterher etwas enttäuscht, daß unser Gespräch so ergebnislos verlaufen war, denn immer noch hatte ich den Eindruck, daß Schramm mir etwas hatte sagen wollen. Heute bedauere ich, daß ich nicht stärker in ihn gedrungen bin, denn damals lag vielleicht Kurrats Schicksal einen Augenblick lang in meiner Hand. Nach etwa einer Woche wurde Kurrat aus dem Krankenhaus entlassen. Wir hatten im stillen darauf gehofft, sein Vater werde ihn auf eine andere Schule schicken, aber die 23
Abmeldung blieb aus. Allerdings hätte ein Schulwechsel für Kurrat Schwierigkeiten mit sich gebracht. Er stand in den naturwissenschaftlichen Fächern schlecht, wurde bei uns besonders gefördert und hätte wahrscheinlich durch einen Schulwechsel ein Jahr verloren. Wir waren natürlich sehr freundlich zu ihm, da die Schule ja insgesamt an ihm etwas gutzumachen hatte. Aber in Wahrheit erzeugen Schuldgefühle gegenüber einem Menschen Abneigung, auch wenn man sich dagegen wehrt. Nur Schramm schien ganz froh zu sein, daß Kurrat weiterhin an unserer Schule blieb, und ich muß sagen, daß er sich sehr um sein Vertrauen bemühte. Man sah ihn öfter mit Kurrat zusammen, und dieser trug ihm anscheinend nichts nach. Knapp zwei Wochen nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, am Abend des 3. Juni, einem Dienstag, verschwand Kurrat, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Der zweite Tag Schramm kam heute morgen gegen neun Uhr in die Schule. Ich sah ihn über den Hof gehen, und unsere Begegnung auf der Treppe war nicht so zufällig, wie sie ihm erscheinen mußte. Es drängte mich, mit Schramm zu sprechen, denn sehr vieles ist vor sechs Jahren unausgesprochen geblieben. Ich wollte auf Schramms Art eingehen, dem Gespräch einen ironischen Unterton geben, und fragte: „Na, haben Sie das Buch schon gefunden, aus dem Sie Ihre Arbeit abschreiben wollen?“ Er konterte mit der Aufforderung: „Machen Sie nur schon meinen Hund reisefertig; ich will ihn Ende der Woche mitnehmen.“ 24
Dies konnte er nicht im Ernst meinen, aber trotzdem nahm es mir alle Lust, die Unterhaltung fortzusetzen. Natürlich kann Schramm den Hund nicht beanspruchen. Der Entschluß, ihn zu übernehmen, ist mir vor sechs Jahren nicht leichtgefallen, denn ein Hund verlangt mancherlei Rücksichtnahme. Ich habe Schramm damit einen Dienst erwiesen. Jetzt gebe ich das Tier nicht wieder heraus … Schramms gute Laune wirkte übrigens gekünstelt; er sah an mir vorbei, und es ist bezeichnend, daß auch er keine Neigung hatte, es zu einem Gespräch kommen zu lassen. So blieb ein Gefühl des Unbehagens. Als mir vor sechs Jahren, am Morgen des 4. Juni, gemeldet wurde, daß Kurrat verschwunden sei, empfand ich zuerst nichts als Ärger, einen normalen Lehrerärger. Kurrat bewohnte zusammen mit drei Altersgenossen ein Zimmer in der langgestreckten Baracke, die vor Fertigstellung des Anbaus als Unterkunft für unsere Schüler diente. Seine drei Schlafgenossen bekannten, daß er bereits am vorhergehenden Abend nicht nach Hause gekommen sei. Sie hatten an ein nächtliches Abenteuer gedacht und seine Abwesenheit verschwiegen. Der zuständige Lehrer, ein junger Kollege, der nur für ein halbes Jahr Internatsdienst versah, behauptete, er habe die Anwesenheit kontrolliert. Die Jungen blieben dabei, daß ein Bett leer gewesen sei. Möglich, daß sie zusammengerollte Wolldecken unter Kurrats Bettdecke geschoben hatten, um seine Anwesenheit vorzutäuschen. Ich benachrichtigte den Direktor, und wir gingen in Kurrats Zimmer. Im Korridor trafen wir Schramm, der sich uns anschloß. Kurrats Klassenleiter war der erwähnte junge Kollege, den wir nicht heranziehen wollten, weil er uns zu ungeschickt erschien und aus internen Schulangelegenheiten herausgehalten werden sollte. Schramm war als einer der Fachlehrer Kurrats besser geeignet, sich an den Nachforschungen zu beteiligen. 25
Die drei Schlafgenossen Kurrats – Genschke, Hensen und Lünzmann – standen etwas betreten vor ihren Betten, denn sie wußten nicht, ob sie sich richtig verhalten hatten, und fühlten sich mitschuldig. Mit einer Bestrafung – befristete Ausgangssperre – hatten sie allerdings zu rechnen, denn sie wären verpflichtet gewesen, Kurrats Abwesenheit schon am Abend zu melden. Andererseits hatten wir natürlich Verständnis dafür, daß die Jungen versucht hatten, Kurrat zu decken. Die drei schienen über Kurrats Ausbleiben ehrlich besorgt. Kurrat hatte das untere Bett links vom Fenster, Lünzmann das darüber. Rechts vom Fenster schliefen die beiden anderen. Die Schränke der Jungen standen beiderseits der Tür. Kurrats Schrank war unverschlossen und hing voller Kleidungsstücke, wie ich mit einem schnellen Blick feststellte. Die Jungen hatten Kurrat während des gemeinsamen Abendessens zuletzt gesehen. Er hatte einen dunkelblauen Pullover getragen, dazu einen gestreiften Wollschal. Sonst war den Jungen angeblich nichts aufgefallen; weder habe er von einem Plan gesprochen, die Nacht hindurch wegzubleiben, noch habe sein Verhalten sonst Anlaß zur Sorge gegeben. Wenn Kurrat Kleidungsstücke mitgenommen hätte, zumindest seinen Trenchcoat, hätten wir annehmen können, daß er in einem plötzlichen Entschluß, einer Reaktion auf Spannungen zwischen ihm und der Schule, zu seinem Vater gefahren war oder schlimmstenfalls sich irgendwo herumtrieb. Wir sahen seine Sachen im Beisein seiner Stubengenossen genau durch, und diese glaubten bestätigen zu können, daß nichts fehle. Allerdings bestand die Möglichkeit, daß er außerhalb der Schule einen Koffer mit Kleidungsstücken versteckt gehalten hatte, die von zu Hause stammten. Es war aber nicht einzusehen, warum er nicht Sachen aus dem Internat mitgenommen hatte, denn sein Verschwinden mußte ohnehin bemerkt werden. 26
Die Durchsicht seiner Hefte und Bücher ergab ebenfalls keine Anhaltspunkte. Dem Direktor geriet dabei ein Brief Kurrats in die Hand, unfrankiert und noch nicht zugeklebt. Er war für Ulrich Blieske bestimmt, einen Freund Kurrats, der Ostern bei uns Abitur gemacht hatte. Es war fast rührend, zu verfolgen, wie unser Direktor mit sich rang, ob er den Brief lesen sollte oder nicht. Natürlich konnte der Brief uns einen Hinweis für Kurrats Verschwinden geben, und wir durften ihn nicht ungelesen zurücklegen. So hielt der Direktor den Brief unschlüssig in der Hand und hoffte, Schramm oder ich würden ihm die Entscheidung abnehmen. Ich hätte gern gewußt, wie dieser stille Kampf zwischen Anstand und Notwendigkeit ausging, und machte keine Anstalten, dem Direktor zu Hilfe zu kommen. Aber Schramm erbarmte sich und nahm sich den Brief vor. Währenddessen entdeckte ich in einer Pappschachtel dreiundfünfzig Mark. Wenn Kurrat diesen Betrag zurückgelassen hatte, war eine geplante Flucht ausgeschlossen. Schramm reichte mir mit einem Achselzucken den Brief. Es war ein beidseitig beschriebener Bogen ohne Grußformel und Unterschrift. Kurrat hatte den Brief nicht beendet; jedenfalls fehlte das zweite Blatt. Ich überflog den Text: Lieber Ulli, endlich komme ich dazu, Deinen Brief zu beantworten … Es folgten einige Äußerungen hierzu, für uns ohne Belang. Weiter unten kam Kurrat auf sich zu sprechen: Ich bin erst seit kurzem aus dem Krankenhaus zurück, wo ich mit einer leichten Gehirnerschütterung und einigen Kratzern im Gesicht eine Woche gelegen habe. Grund: die Faustschläge eines unserer Musterpädagogen … Es folgte eine Darstellung des Zwischenfalls aus Kurratscher Sicht. Ganz am Ende der zweiten Seite hieß es: Auch sonst ist hier einiges faul. Wenn in nächster Zeit jemand, der mich schon jetzt zum Teufel wünscht … Damit endete die zweite Sei27
te. Vielleicht hatte ein weiteres Blatt nie existiert – Kurrat mochte beim Schreiben unterbrochen worden sein. Möglich auch, daß ihm die Fortsetzung des Briefes mißglückt war und er das zweite Blatt zerrissen hatte, um es später neu zu beginnen. Auf wen sich die letzte Bemerkung bezog, blieb unklar. Daß Kurrat einiges an der Schule „faul“ erschien, konnte niemanden überraschen, der sich in Schülerseelen auskennt. Hinter dieser Feststellung brauchten wir nichts Schwerwiegendes zu vermuten. Gleich nach dem Frühstück wurde das Kollegium zusammengerufen. Der Direktor fragte, ob einer der Herren in den letzten Tagen Schwierigkeiten mit Kurrat gehabt habe, die eine Kurzschlußreaktion hätten bewirken können. Der Kollege Jensch teilte mit, er habe Kurrat wegen einer fehlenden Mathematikaufgabe nachdrücklich zur Rede gestellt; etwas Schwerwiegendes lag jedoch nicht vor. Es blieb die Möglichkeit, daß Spannungen zwischen Kurrat und seinen Mitschülern bestanden hatten, aber Kurrat hätte darauf kaum in dieser Weise reagiert. Er nahm eine gewisse Führerstellung unter seinen Altersgenossen ein und spielte, wie ich gehört hatte, in einem Schülerclub eine Rolle. Bisher hatte ich mich um diesen Club nicht weiter gekümmert, weil die Schüler es ungern sehen, wenn sie bei allem, was sie tun, von Lehrern überwacht werden. Auf jeden Fall konnten wir die Jungen fragen, ob Kurrat im Zusammenhang damit Schwierigkeiten gehabt habe, wenn ich mir auch nicht viel davon versprach. Es blieben zwei andere Möglichkeiten: Selbstmord oder Unfall. Selbstmord war unwahrscheinlich. Nach allem, was wir wußten, war ein unmittelbarer Anlaß nicht gegeben, weniger noch als für eine Flucht. Außerdem hatte Kurrat nichts Schriftliches hinterlassen, was Selbstmörder, besonders in diesem Alter, zu tun pflegen. Mir 28
kam der Gedanke, daß Kurrat letzte Worte auf Band gesprochen haben konnte. Er besaß ein Tonbandgerät, und wir hatten in seinem Schrank einige Bänder liegen sehen. Aber dieser Gedanke erschien zu phantastisch. Am nächsten lag die Annahme, daß Kurrat bei einem nächtlichen Ausflug einen Unfall erlitten hatte. Die Möglichkeit eines Verbrechens zogen wir nicht in Betracht. Es war damals noch niemand bereit, dem Verschwinden Kurrats eine allzu schwerwiegende Bedeutung beizumessen. Inzwischen war über eine Stunde vergangen, und noch immer hatte Kurrat sich nicht wieder eingefunden, wie wir es alle im stillen gehofft hatten. Ein Anruf bei der Polizei war nicht mehr zu umgehen. Dort war von einem Unfall nichts bekannt. Der Beamte nahm die Personalien und die Beschreibung des Verschwundenen auf und schien die Angelegenheit nicht sonderlich wichtig zu nehmen. Der Direktor versuchte, den alten Herrn Kurrat telefonisch zu erreichen, aber es meldete sich niemand. Wir mußten also darangehen, eine schriftliche Benachrichtigung zu entwerfen. Dies war für uns doppelt unangenehm, da der Zusammenstoß mit Schramm erst knapp drei Wochen zurücklag. Auf keinen Fall durfte der Eindruck entstehen, als sei Kurrats Flucht noch eine Reaktion auf diesen Vorfall. Schramm bat den Direktor eigens, die Benachrichtigung entsprechend zu formulieren. Unser Schreiben lautete: Sehr geehrter Herr Kurrat! Leider müssen wir Ihnen mitteilen, daß Ihr Sohn am 3. Juni abends ohne Erlaubnis das Internat verlassen hat und bisher nicht zurückgekommen ist. Einen Anlaß für diese Handlungsweise sehen wir nicht gegeben, und wir legen Wert auf die Feststellung, daß das Verhältnis 29
zwischen Herrn Studienrat Schramm und Ihrem Sohn sich nach dem bedauerlichen Vorfall am 16. Mai sehr positiv entwickelt hat. Wir konnten nicht umhin, die örtliche Polizeibehörde zu informieren, und hoffen zuversichtlich, daß Ihr Sohn sich bald wieder einfindet. Daß er einen Unfall erlitten haben könnte, ohne daß jemand es bemerkt hätte, ist nach Ansicht der Polizei kaum anzunehmen. Wir bedauern sehr, Ihnen diese Mitteilung machen zu müssen. Seien Sie versichert, daß von unserer Seite alles geschieht, diesen Vorfall aufzuklären. Mit vorzüglicher Hochachtung (Unterschrift) Schramm hätte dieses Schreiben am liebsten persönlich überbracht, was mir etwas übertrieben vorkam. Auch der Direktor hielt es nicht für glücklich, daß gerade Schramm eine solche, für die Schule unangenehme, Nachricht überbrachte. So ging das Schreiben noch am Vormittag als Eil- und Einschreibbrief ab. Den ganzen Tag über warteten wir vergeblich auf die Rückkehr Kurrats. Hinweise konnten vielleicht noch die Tonbänder liefern, die wir in Kurrats Schrank gefunden hatten. So kam es, daß wir uns am Abend in meinem Zimmer zusammenfanden, der Direktor, Schramm und ich, um Kurrats Bänder ablaufen zu lassen. Dies brachte uns erst einmal eine halbe Stunde billiger Schlagermusik ein. Dann folgte etwas Amüsantes: der erste Teil einer Unterrichtsstunde, die ein Kollege gegeben hatte, von dessen Fähigkeiten niemand sonderlich überzeugt war. Kurrat hatte offenbar das Mikrofon in der Nähe des Lehrertisches verborgen gehabt. Das meiste ging zwar in Gedröhn und Gepolter unter, aber es waren doch einige so typische Passagen zu hören, daß wir unserer Heiterkeit freien Lauf ließen. Die Schwächen eines anderen 30
steigern das Bewußtsein des eigenen Wertes … Nach dieser interessanten Einlage folgte wieder endlos Schlagermusik. Ein nächstes Band fing besser an, mit Wagnermusik nämlich, dem Walkürenritt. Schramm war Wagnerverehrer, und es war deutlich zu merken, wie es ihn freute, daß Kurrat trotz seiner jungen Jahre an dieser Musik Gefallen fand. Aber der Walkürenritt verlor sich bald in der Ferne, und es folgte eine Reihe von scharfen Kommandos: „Aufstellung! Erster Grad. Fertig! Los! Eins – zwei – drei – vier / eins – zwei – drei – vier …“ Diese Zahlenreihe wiederholte sich noch achtmal, dann hieß es: „Pause!“ Nach einer kurzen Weile kam das Kommando: „Aufstellung! Zweiter Grad. Fertig! Los!“ Wieder folgte zehnmal die Zahlenreihe eins – zwei – drei – vier. Nach einer letzten Pause wiederholte sich das Ganze noch einmal, nur daß es jetzt „Dritter Grad“ hieß. Nach einem abschließenden „Fertig!“ setzte mit großer Lautstärke der Walkürenritt wieder ein. Wir überlegten eine Zeitlang hin und her. Das Band enthielt möglicherweise Anweisungen für eine Art Mensur, mit einigen jugendlich-unbeholfenen Zutaten. Daß aber unter den Schülern mit Säbeln gefochten wurde, war undenkbar. Es konnte sich um ein Ritual des „Clubs“ handeln, dem Kurrat angehörte. Für den nächsten Tag nahmen wir uns vor, diesen Club unter die Lupe zu nehmen und den Unfug zu unterbinden, der dort vielleicht getrieben wurde. Möglich, daß sich ein Anhaltspunkt für Kurrats Verschwinden ergab. Es war anzunehmen, daß Kurrats Stubengenossen dem Club angehörten, wenigstens einer oder zwei. Am nächsten Morgen holten wir die drei einzeln aus dem Unterricht heraus, so daß sie keine Gelegenheit hatten, ihre Aussagen vorher abzusprechen. Als ersten nahmen wir uns Hensen vor. Wir saßen zu viert um den Tisch im Direktorzimmer herum, damit 31
mehr der Eindruck eines Gesprächs als eines Verhörs entstand. Hensen war ein bescheidener, gutartiger Junge von wenig ausgeprägtem Wesen. Gespräche mit ihm waren meist unergiebig, weil er ungern eine eigene Meinung vertrat. Es war sein Bestreben, sich mit jedermann gutzustellen. Er sprach wenig, war nicht besonders geschickt in der Formulierung seiner Gedanken, begann häufig einen Satz und brachte ihn nicht zu Ende. Auf seinem Gesicht erschien dann ein hilfloses Lächeln. Das Gespräch mit ihm ergab nichts, was uns hätte dienlich sein können. „Weißt du einen Grund, weshalb Kurrat durchgebrannt sein könnte?“ „Nein.“ „Ist dir an seinem Verhalten in den letzten Tagen etwas aufgefallen?“ „Nein, er war wie sonst.“ „Kannst du uns etwas über den Club sagen, mit dem Kurrat zu tun hatte?“ „Nein, leider nicht.“ Schramm wandte darauf einen seiner üblichen Vernehmungstricks an, indem er vorgab, zwei andere Schüler hätten ausgesagt, Hensen sei Mitglied. Dieser errötete darauf heftig und sagte: „Ich bin nur ein paarmal mitgegangen, zuletzt gar nicht mehr. Es … Das ist doch alles Kinderkram.“ Seinen spärlichen Äußerungen nach mußte es sich um eine harmlose Spielerei handeln. Man war in einer alten Scheune in der Nähe zusammengekommen, hatte ein Feuer gemacht, gesungen, erzählt, wohl auch geraucht. „Und was für eine Rolle spielte Kurrat dabei?“ „Er war der … na, der Vorsitzende. Eins-X nennen sie das.“ „Hast du mal etwas von den drei Graden gehört?“ „Nein.“ „Hat Kurrat sein Tonbandgerät manchmal mitgebracht?“ 32
„Ja, aber nur, um Musik abzuspielen.“ „Wozu hätte er es denn sonst benutzen können?“ „Ja – wozu sonst?“ Es war nichts aus Hensen herauszubekommen. Wir machten ihm klar, daß wir uns um Kurrat sorgten und ihn vor weiteren Dummheiten bewahren wollten. Es sei deshalb seine Pflicht als guter Kamerad, alles zu sagen, was er wisse. Darauf verstummte er völlig. Wir entließen ihn unzufrieden; er sah uns an, als wollte er uns um Verzeihung bitten. Etwas mehr versprachen wir uns von dem Gespräch mit Genschke. Dieser war Lehrern gegenüber mitteilsam und galt unter seinen Altersgenossen lange Zeit als Streber, bis seine Leistungen so schlecht wurden, daß die Bezeichnung nicht mehr zu ihm paßte. In den unteren Klassen hatte Genschke durch emsige Arbeit gute Leistungen erzielt. Sein Denkvermögen ließ aber zu wünschen übrig, und in dem Maße, wie es mit zunehmendem Alter im Unterricht stärker beansprucht wurde, gingen seine Leistungen zurück. Demgegenüber wuchs aber sein Ehrgeiz noch, so daß er bitter wurde, reizbar und vergrämt. Da er bei seinen Altersgenossen nicht beliebt war, bemühte er sich um die Gunst der Lehrer. Man merkte ihm an, daß es ihm viel bedeutete, zusammen mit uns im Direktorzimmer an einem Tisch zu sitzen. Auch ihm war in den letzten Tagen hinsichtlich Kurrats nichts aufgefallen, aber wir merkten bald, daß er Kurrat nicht mochte und Neigung hatte, über ihn zu reden. Seine Stimme blieb häufig in der Schwebe, und er tat so, als fiele es ihm schwer, etwas Negatives über einen Kameraden zu sagen. Aber wir brauchten ihn nicht zu drängen; in Wahrheit erfüllte es ihn offensichtlich mit Genugtuung, Kurrat uns gegenüber herabzusetzen. „Er hat die andern beiden gegen mich aufgehetzt. Immer haben sie mir alles zugeschoben. Manchmal ha33
ben sie tagelang nicht mit mir gesprochen, und …“ Seine Stimme erstickte vor Empörung. „Haben sie dich auch geschlagen?“ Er nickte. „Einmal nachts … Von Kurrat ging alles aus, die andern sind gar nicht so. Sie haben mich an das Bett gebunden und mich mit Stöcken geschlagen …“ Es fiel ihm nicht leicht, über seine Schmach zu sprechen, aber es befriedigte ihn sichtlich, und auch das Äußerste wollte er nicht mehr für sich behalten: „Sie haben mir den Schlafanzug ausgezogen und mir den Jackenärmel in den Mund gestopft …“ „Und warum haben sie dich geschlagen?“ „Kurrat hat sie aufgehetzt. Ich würde sie verraten, hat er gesagt.“ „Verraten? Inwiefern?“ „Sie sind nachts öfter aus dem Fenster gestiegen und haben sich in einer Scheune getroffen. Ich wäre sowieso nicht mitgegangen. Sie haben sich da manchmal geschlagen. Sie hatten dann Striemen auf der Haut. Einmal ist Kurrat eine Woche lang schon vor dem Wecken in den Waschraum gegangen, weil ihn keiner sehen sollte. Sie haben sich noch was darauf eingebildet. Kurrat hat sich mit seinen Striemen vor mich hingestellt und hat gemeint, es macht Eindruck auf mich.“ „Näheres über die Zusammenkünfte weißt du nicht?“ „Sie haben mir nichts gesagt. Sie haben das Tonbandgerät öfter mitgenommen. Ich möchte mit ihnen nicht mehr zusammen wohnen. Sie sind auch sonst nicht anständig, abends …“ Man merkte, daß Genschke bereit war, uns noch intimere Dinge zu erzählen, nachdem der Damm gebrochen war und er festgestellt hatte, daß wir seine Auskünfte recht wichtig nahmen. Daß in einem Internat unter halbwüchsigen Jungen manches vorgeht, was besser verborgen bleibt, weiß jeder. Durch moralische Ermahnungen kann hier wenig erreicht werden, zumal die 34
Jungen sich in diesen Angelegenheiten gänzlich vor Erwachsenen verschließen. So ist es das beste, man verhindert unauffällig, was verhindert werden kann. Die Belegung der einzelnen Zimmer muß sorgfältig durchdacht werden, und ab und zu müssen Umstellungen vorgenommen werden. Unser Direktor neigt allerdings dazu, diese Dinge einfach als nicht existent zu betrachten, und er bog jetzt auch sofort das Gespräch ab. Genschke wurde entlassen. Da ich für die Ordnung im Internat verantwortlich bin, war es mir nicht angenehm, die nächtlichen Unternehmungen der Jungen aufgedeckt zu sehen. Der Direktor äußerte zwar kein Wort der Kritik, aber seine Miene war ein einziger Tadel für mich. Ich hatte mich bemüht, unseren Schülern so viel Freiheit zu lassen wie irgend möglich, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, das Internat sei eine Zuchtanstalt. Damit hatte ich auch bisher immer Erfolg gehabt. Es war jahrelang nichts vorgefallen, bis jetzt ein Junge wie Kurrat, phantasiebegabt, zur Auflehnung neigend, alles zunichte machte. Denn von Kurrat war offenbar das Ganze ausgegangen. Die Miene des Direktors ließ ahnen, daß ein anderer pädagogischer Geist seinen Einzug halten sollte, und fast hatte ich den Eindruck, als ob er mich auch für das Verschwinden Kurrats verantwortlich machte. Er schien die Aufklärung des Falles als meine Angelegenheit zu betrachten und ließ mich deutlich merken, daß ich etwas gutzumachen hatte. Ob der „Club“ in irgendeinem Zusammenhang mit Kurrats Verschwinden stand, blieb ungeklärt. Lünzmann war mit Kurrat befreundet; von ihm hofften wir Näheres zu erfahren. Lünzmann war von sprunghaftem, ungebärdigem Wesen und wirkte noch recht unausgegoren. Aber er war voller Temperament, ein guter Sportler, geistig beweglich und bei allen gern gesehen. Wir schickten wieder voraus, 35
daß niemand beabsichtige, Kurrat zu schaden, und daß uns die Sorge um ihn bewege, sein Verschwinden aufzuklären. Doch auch Lünzmann war anscheinend völlig überrascht worden. Kurrat habe es ihm sonst stets vorher gesagt, wenn er etwas plante. Man merkte Lünzmann an, daß er die Wahrheit sagte und sich selber Sorgen machte. Es war nicht einfach, aus ihm etwas über den „Club“ herauszubekommen, aber er stand offenbar unter dem Eindruck, daß wir das meiste ohnehin wüßten. In Ergänzung dessen, was uns schon bekannt war, ergab sich folgendes. Die Mitglieder kamen einmal wöchentlich in einer Scheune zusammen. Im Mittelpunkt des Rituals standen nach dem Muster studentischer Verbindungen sogenannte Duelle, die alle Mitglieder in regelmäßigen Abständen bestehen mußten. Der „Eins-X“, Kurrat, war verpflichtet, jeder Forderung Folge zu leisten. Die Jungen standen sich gegenüber, zuerst einen Trainingsanzug auf dem Leib. Innerhalb der drei Grade wurde je vierzigmal zugeschlagen bzw. pariert. Der zweite Grad wurde mit nacktem Oberkörper durchgefochten, der dritte in noch minderer Bekleidung. Zum Schlagen dienten dünne, biegsame Bambusstöcke, mit denen sich die Jungen zwar keine Verletzungen zufügen konnten, aber doch schmerzhafte Striemen. Das Gesicht war durch ein Drahtgeflecht geschützt. Das Ganze spielte sich nach dem Kommando des Tonbandes und mit Wagnermusik ab. Eine Ausgeburt pubertärer Regungen also, deren sadistische Note unverkennbar war. Abwandlung des studentischen Mensurfechtens, das auf die gleichen Wurzeln zurückgeht, aber durch das Blutvergießen die sadistische Note noch stärker betont. Dafür hatten die Jungen die „drei Grade“ eingeführt, die der Lust am Körperlichen entgegenkamen. 36
„Wir wollten uns überwinden“, sagte Lünzmann auf unsere Frage, weshalb sie diese Kämpfe durchgeführt hätten. Auch sonst hatten sie sich darin geübt: Jeder mußte mindestens einmal vom 10-m-Brett springen, und sie hatten sogar im letzten Winter im Freien gebadet. Auf unsere Frage, ob Kurrat vielleicht vor einer solchen Probe fortgelaufen sei, sagte Lünzmann: „Er war für den nächsten Abend von einem gefordert worden, der ihn jämmerlich verhauen hätte. Aber das hat Kurrat schon zweimal erlebt. Gekniffen hat er nie.“ Auch im Laufe des zweiten Tages tauchte Kurrat nicht wieder auf. Wir riefen noch einmal die Polizeibehörde an, die jetzt eine Suchaktion einleiten wollte. Ich überbrachte ein Paßfoto Kurrats und gab den Beamten eine genaue Personenbeschreibung. Auch jetzt noch hatte ich das Gefühl, daß man der Angelegenheit nicht genug Gewicht beimaß. Schließlich war das Verschwinden eines Schülers doch nichts Alltägliches! Unser Schreiben an Kurrats Vater erhielten wir als unzustellbar zurück. Der Empfänger des Briefes sei verreist und nicht zu erreichen. Uns war dies gar nicht unlieb, denn wir hofften, daß Kurrat sich schon wieder eingefunden hatte, wenn sein Vater von der Reise zurückkam. Es war übrigens möglich, daß der Zeitpunkt, den Kurrat für seine Flucht gewählt hatte, mit der Abwesenheit seines Vaters zusammenhing. Der Direktor wollte nicht untätig bleiben und forderte unsere Schüler auf, die Umgebung des Internats systematisch abzusuchen. Natürlich kam nichts dabei heraus, höchstens wurde die Phantasie der Schüler noch stärker angeregt. Es ergaben sich mancherlei Spekulationen über das Schicksal Kurrats, mehr oder minder spaßhaft gemeint. Aber ein Gerücht hielt sich hartnäckig: Muhl, unser damaliger Hausmeister, habe Kurrat um die Ecke 37
gebracht. Natürlich weiß man, was von Schülergeschwätz zu halten ist, und es widerstrebte mir anfangs, dieses Gerücht ernst zu nehmen. Muhl war allerdings ein merkwürdiger Mensch. Niemand wußte genau, was er getrieben hatte, bevor er bei uns den Hausmeisterposten übernahm. Er war etwa fünfzig Jahre alt und erweckte den Eindruck, als habe er das Leben über sich ergehen lassen. Wir vertrauten ihm seinerzeit den Hausmeisterposten an, weil kein anderes Angebot vorlag. Es zeigte sich jedoch, daß wir keine ungünstige Entscheidung getroffen hatten. Muhl erfüllte seine Pflichten gewissenhaft, unterstützt von seiner resoluten Frau. Manchmal schien es, als bedürfte er unbedingt ihrer treibenden Kraft. Als sie einmal längere Zeit krank war, unterliefen ihm erstmalig Nachlässigkeiten. Sie organisierte die tägliche Reinigung des Gebäudes, hatte ein Auge auf die Schüler, und ich wandte mich in dienstlichen Angelegenheiten lieber an sie als an ihren Mann. Muhl war kein typischer Hausmeister. Er nahm sich nicht wichtiger, als er war, tat still seine Pflicht und hielt sich die Schüler vom Leibe. Es war von Vorteil für die Schule, daß er handwerklich geschickt war, mit unermüdlichem Fleiß zerbrochene Schulmöbel reparierte, zerschlagene Fensterscheiben erneuerte oder elektrische Leitungen legte. Als seinerzeit die neue Ölheizung eingebaut wurde, beteiligte er sich unaufgefordert an den Installationsarbeiten, und es stellte sich heraus, daß er einmal in die Klempnerlehre gegangen war. Später war er anscheinend aus der Bahn geworfen worden und hatte sich nicht mehr so recht gefunden. In der wärmeren Jahreszeit verbrachte er seine freien Stunden meist mit Angeln, und auch durch schlechtes Wetter ließ er sich nicht davon abhalten. Stundenlang konnte man ihn am Bootssteg hocken sehen, unverwandt auf die Wasseroberfläche starrend. Das brackige 38
Wasser zog bei Flut an den Schwimmern seiner beiden Angeln vorbei flußaufwärts, und wenn es mit dem Ebbstrom wieder seewärts zog, saß Muhl manchmal immer noch da. Bei Regen hüllte er sich in einen glatten schwarzen Gummiumhang, zog sich eine Kapuze über den Kopf und war für seine Umwelt nicht mehr ansprechbar. Auch sonst liebte er es nicht, sich beim Angeln in Gespräche einzulassen. Wenn Schüler im Sommer an den Steg kamen, jagte er sie nach kurzer Zeit unter einem Vorwand weg. Dann erhob er sich zu seiner vollen Größe – er war ein breiter, schwerer Mann – und kam unheildrohend auf sie zu. Die Kleineren hatten Angst vor ihm, aber wenn sie etwas älter wurden, merkten sie, daß er harmlos war, und sie vergalten ihm ihre anfängliche Furcht durch kleine Frechheiten. Muhl hatte sich schon einige Male über Schüler beschwert, aber wenn wir den Vorgang klärten, stellte sich immer heraus, daß den Schülern kaum etwas vorzuwerfen war. Es brachte ihn schon in Zorn, wenn jemand sich schweigend neben ihn stellte und ihm beim Angeln zusah. Unter Hinweis auf die Reizbarkeit des Hausmeisters versuchten wir auf die Jungen einzuwirken, aber wir gingen natürlich nicht so weit, die grundlosen Empfindlichkeiten Muhls gegenüber den Schülern zu verteidigen. Durch sein mürrisches Auftreten provozierte er des öfteren Streitigkeiten mit ihnen, und wie es so zu gehen pflegt, provozierten sie ihn dann ihrerseits erst recht. Nun hieß es also, Muhl habe Kurrat um die Ecke gebracht. Über ihre Beziehungen zueinander ist folgendes zu berichten: Kurrat verstand, sich in Szene zu setzen und durch ungewöhnliche Einfälle die Aufmerksamkeit seiner Umwelt auf sich zu lenken. Mit Muhl hatte er etwas ganz Besonderes vor. Eines Tages sah man Kurrat mit einer nagelneuen Angelrute an den Steg kommen. Schweigend 39
setzte er sich neben Muhl, warf die Leine aus und wartete. Muhl konnte dagegen nichts einwenden, und als Kurrat öfter herunterkam, gewöhnte er sich an ihn und ließ sich sogar hin und wieder auf ein Gespräch ein. An einem Regentag wollte man die beiden, eng beieinander hockend, unter Muhls Gummiumhang gesehen haben. Kurrat hatte Muhl für sich eingenommen – ein Erfolg, der ihm bereits die Anerkennung vieler Mitschüler einbrachte. Aber Kurrat ließ es dabei nicht bewenden. Ganz plötzlich wandelte sich sein Verhältnis zu Muhl. Diesen sah man nie mehr am Steg, Kurrat dagegen fast täglich. Er hatte inzwischen einige Erfahrung im Angeln gesammelt, sich auch mit dem Fährmann Sievert angefreundet, der ihm das Auslegen von Netzen und Aalkörben beibrachte, und nahm jetzt Muhls angestammten Platz ein. Den Schülern erschien das wie ein großer Sieg. Kurrat habe Muhl durch sein Angeltalent verärgert, erzählten sie. Kurrat habe ihm alles weggefangen und ihm bewiesen, daß er vom Angeln überhaupt nichts verstehe. Muhl, von Neid und Ärger zerfressen, habe das Angeln aufgesteckt. Wenn Kurrat jetzt am Steg angelte, war es in den Augen der Schüler weit mehr als angeln: Es war ein Zeichen seines Sieges über Muhl. Aber auch damit ließ Kurrat es nicht bewenden. Er nahm sich in der nächsten Zeit Muhl gegenüber Frechheiten heraus, die alle in Erstaunen versetzten. Er grinste ihn herausfordernd an, grüßte ihn erst im letzten Augenblick, ihn von oben bis unten musternd, oder übersah ihn absichtlich. Man erzählte sich, Kurrat habe einmal sogar eine Bananenschale unmittelbar unter den Augen Muhls auf den Hof geworfen. Muhl habe absichtlich weggesehen und die Schale später selbst aufgehoben. Vor allem forderte Kurrat ihn ständig heraus, indem er im Duschraum das heiße Wasser voll aus allen Brausen 40
strömen ließ, auch wenn er ganz allein darunter stand. Muhl hatte etwas gegen den reichlichen Verbrauch heißen Wassers, und es gab darüber oft Streit mit den Schülern. Kurrat benutzte die Brausen jetzt jeden Abend und übertrieb den Wasserverbrauch immer maßloser. Einmal ließ er das heiße Wasser zur Freude seiner Genossen fast eine Stunde lang sinnlos laufen, obwohl Muhl bereits mahnend in den Waschraum gesehen hatte. Endlich kam er doch herein und mußte feststellen, daß niemand die Brausen benutzte. Darauf erklärte Kurrat ihm seelenruhig, er wolle gleich duschen, habe nur das Wasser schon etwas früher laufen lassen. Gelächter der anderen Schüler. Muhl stellte die Brausen ab und wies Kurrat aus dem Waschraum. Aber dieser beachtete ihn gar nicht, zog sich vor seinen Augen aus, drehte alle Hähne wieder voll auf und ging in den Duschraum. Muhl geriet darauf in solche Erregung, daß er kurz davor war, sich auf Kurrat zu stürzen. Da trat dieser, triefend und dampfend, vor ihn hin und forderte ihn auf zuzuschlagen. Muhl murmelte etwas Unverständliches, drehte sich um und ging hinaus. Durch diesen zweiten Sieg über den Hausmeister war Kurrats Ansehen unter den Jungen noch gewachsen. Es umgab ihn eine Aura des Außergewöhnlichen, des Andersseins, aber eines Andersseins, das anerkannt und bewundert wird. Als am dritten Tag nach Kurrats Verschwinden unten am Steg ein Taschentuch gefunden wurde, in das Kurrats Initialen gestickt waren, erhielt das Gerücht, Muhl habe ihn umgebracht, neue Nahrung. Das Taschentuch hatte im Schilf gelegen und war anscheinend in diagonaler Richtung gereckt worden. Eine ausschweifende Phantasie konnte sich ausmalen, daß jemand damit erwürgt worden sei. Es war aber auch möglich, daß diesem Fund keinerlei Bedeutung zukam. Vielleicht hatte Kurrat das Taschentuch beim Angeln verloren, der Wind hatte 41
es ins Schilf getrieben, und da hier niemand gesucht hatte, war es bisher nicht gefunden worden. Was sich zwischen Muhl und Kurrat abgespielt hatte, war uns von Schülern erzählt worden. Es war nicht klar, inwieweit sie dabei übertrieben hatten. Aus der Sicht eines Schülers erscheint vieles schärfer umrissen, als es in Wirklichkeit ist. Kurrats Siege über Muhl waren vielleicht gar nicht so eindeutig gewesen. Ich hielt es für abwegig, Muhl ernsthaft zu verdächtigen. Schramm dagegen glaubte, daß hinter den Erzählungen der Jungen etwas mehr stecken könnte. Er wies auch auf den Brief Kurrats hin, den wir in seinem Schrank gefunden hatten, und meinte, Muhl könne derjenige sein, der Kurrat „zum Teufel wünsche“. Das Gerede war Muhl nicht verborgen geblieben. Die Schüler machten sich einen Spaß daraus, furchtsame Mienen aufzusetzen, wenn sie ihm begegneten, die Köpfe zusammenzustecken, zu tuscheln und sich vielsagend zuzunicken. Man sah Muhl noch einen Tag lang hier und dort auftauchen, dann zog er sich, angeblich krank, in seine Wohnung zurück. Am vierten Tage nach Kurrats Verschwinden bequemte sich morgens ein Beamter der Kriminalpolizei zu uns. Er schien mir auf Fahrrad- und Hühnerdiebstähle spezialisiert zu sein, erwähnte mit ernster Miene einen solchen Fall, den er gerade bearbeitete, und hatte für Kurrats Verschwinden nur Worte wie „… schließlich auch mal jung gewesen! Durchgebrannt, der Bengel, muß man verstehen, muß man das … Prügel muß er haben.“ Er schrieb das wenige, was wir über Kurrats Verschwinden sagen konnten und der Polizei schon mehrfach mitgeteilt hatten, in sein Notizbuch, und ich hatte den Eindruck, daß er es uns zuliebe tat: Beim Abendessen zuletzt gesehen – blauer Pullover, gestreifter Schal – unter Rücklassung seiner Sachen, darunter 53,40 DM, verschwunden. Sonst keine Anhaltspunkte. 42
So dürfte seine Eintragung etwa gelautet haben, denn mehr konnten wir ihm nicht sagen. Nachmittags bat Frau Muhl mich um eine Unterredung. Sie war sehr erregt, wirkte ganz verändert, entschuldigte sich mehrfach und wollte mir etwas über Herrn Schramm sagen, sich beklagen über ihn, über sein Auftreten ihrem Mann gegenüber. Schramm hatte offenbar den Hausmeister aufgesucht, um ihn über sein Verhältnis zu Kurrat zu befragen. Ich war darüber sehr ärgerlich, denn daß Schramm durch seine schroffe Art und durch die Direktheit seiner Fragen den Hausmeister verletzt hatte, konnte ich mir gut vorstellen. Ich hielt es für das beste, zusammen mit Frau Muhl zu ihrem Mann zu gehen. „Sie können ihn jetzt aber schlecht sprechen“, sagte sie. „Er hat die ganze Nacht kein Auge zugetan, und gerade vorhin ist er eingeschlafen.“ „Wenn es Ihnen und Ihrem Mann wirklich wichtig ist, die Mißverständnisse zu klären, die durch das Gespräch mit Herrn Schramm entstanden sind, ist es meiner Meinung nach besser, ihn zu wecken“, entgegnete ich etwas ungehalten. Die Hausmeisterwohnung liegt in einem Anbau, und mir wurde wieder einmal deutlich, daß bei uns der Hausmeister besser untergebracht ist als die Lehrkräfte. Die Muhls waren sauber und ordentlich eingerichtet, nur hatten sie ihre Wohnung durch allen möglichen Kitsch verunziert. Als ich mich auf dem Sofa niederließ, befand ich mich in der Gesellschaft mehrerer Puppen mit starren, prallgefüllten Stoffgliedern. Sie purzelten übereinander, als ich mich setzte, und ich mühte mich vergeblich, sie wieder aufzurichten. „Sehr nett“, sagte ich. „Haben Sie sie selber genäht?“ „Sie sind schon ziemlich alt“, erklärte Frau Muhl entschuldigend; „mein Mann hat sie gemacht. Kurz nach 43
dem Krieg, als er nichts zu tun hatte. Wir haben sie eingetauscht gegen Lebensmittel … Die hier sind übriggeblieben. Es sind nicht die besten.“ Ich sah mir die Puppen daraufhin etwas genauer an. Die Gesichtszüge waren nur angedeutet, wahrscheinlich sollten sie fröhlich wirken, aber mir erschienen sie gemein und irgendwie schamlos. „Sehr nett“, wiederholte ich und schob die Puppen beiseite. „Vielleicht ist Ihr Mann inzwischen aufgewacht.“ Frau Muhl ließ mich für einen Augenblick allein, um nach ihrem Mann zu sehen. „Er schläft ganz fest“, sagte sie, als sie zurückkam. „Ich kann ihn jetzt unmöglich wecken. Es geht ihm gar nicht gut.“ „Was fehlt ihm denn? Ich nehme doch an, daß Sie einen Arzt …“ „Doch, ja“, sagte sie schnell. „Gelbsucht wahrscheinlich, aber nicht sehr schlimm. Er hat sich zu sehr geärgert über das Gerede unter den Schülern. Aber das Schlimmste war heute morgen das mit Herrn Schramm … Jetzt wissen wir, daß auch die Herren vom Kollegium etwas dahinter suchen!“ Ich bemühte mich vergeblich, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Plötzlich sagte sie: „Und wenn die Jungen reden, daß zwischen meinem Mann und Kurrat was gewesen ist, dann wissen wir gar nicht, was wir dazu sagen sollen. Kurrat hat meinen Mann von Anfang an nur lächerlich machen wollen und seine Gutmütigkeit ausgenutzt … Die wissen ja gar nicht, was sie mit ihrem Gerede anrichten!“ Sie war den Tränen nahe und tat mir wirklich leid. Als sie schließlich damit herauskam, daß ihr Mann kündigen wolle, wünschte ich innerlich Schramm zum Teufel. Sie verlor die Fassung, als sie auf die Kündigung zu sprechen kam, und ich versuchte noch einmal, die direkte 44
Art Schramms zu entschuldigen. Als ich ihr begütigend die Hand auf den Arm legte, fuhr sie plötzlich hoch, und dann bekam ich etwas zu hören, das mir einen Schreck einjagte. „Herr Schramm soll sich nur vorsehen mit seinen Worten! Mein Mann hat gesehen, wie Kurrat noch nach dem Essen mit Herrn Schramm auf sein Zimmer gegangen ist … Aber davon wird natürlich nicht gesprochen!“ Und als ich darauf nichts entgegnete, weil ich ehrlich überrascht war, setzte sie noch herausfordernd hinzu: „Ich will kein Gerede in Gang bringen, aber vielleicht fragen Sie Herrn Schramm auch mal, was er mit dem leeren Kartoffelsack wollte, den er sich am Nachmittag aus dem Keller geholt hat.“ Ich ging auch darauf nicht ein, sagte nur, daß ich die Kündigung noch nicht als endgültig betrachtete, war mir aber klar darüber, daß Muhl den Hausmeisterposten so oder so nicht mehr bekleiden konnte. Schramm wurde nervös, als ich ihm die Äußerungen von Frau Muhl vorhielt. Er gab sofort zu, an dem entscheidenden Abend noch nach dem Essen mit Kurrat zusammen gewesen zu sein. Auf meine Frage, weshalb er das bisher verschwiegen habe, sagte er: „Es sollte nicht so aussehen, als hätte Kurrats Verschwinden etwas mit mir zu tun, wo kürzlich erst die unangenehme Sache zwischen uns passiert ist … Außerdem trägt die Tatsache, daß ich noch mit ihm zusammen war, zur Aufklärung des Falles nicht bei.“ „Und der leere Kartoffelsack?“ „Für die Leiche. Das wollen Sie doch hören, oder?“ Ich bat um eine ernsthafte Antwort. „Ich habe mich in letzter Zeit etwas um Kurrat gekümmert, wie Sie wissen. Er wollte mir helfen, die Stapel von alten Arbeitsheften und Zeitschriften beiseite zu schaffen, die sich in meinem Zimmer angesammelt hatten. Ich 45
brauchte Platz für Bücher. Kurrat sollte mir an der Gartenmauer ein Loch ausheben und die Hefte vergraben.“ Das war nichts Ungewöhnliches. Bei jedem Lehrer sammeln sich solche Stapel an. Alte Klassenarbeitshefte müssen zwei Jahre aufbewahrt und dann vernichtet werden, damit sie nicht unter die nachfolgenden Schülergenerationen geraten und diesen Hinweise über Arbeitsthemen geben. Am besten verbrennt man sie, aber unsere neue Ölheizung bot dafür keine Möglichkeit, und einen Papierverbrennungsofen hatten wir uns damals noch nicht angeschafft. „Kurrat brachte mich auf den Gedanken“, fuhr Schramm fort, „die Hefte in einen Sack zu stecken und sie bei Ebbe in den Fluß zu werfen, mit ein paar Steinen darin. Ich holte mir deshalb den Sack aus dem Keller, und Kurrat wollte ihn an den Fluß tragen. Er half mir auch, die Hefte zusammenzusuchen. Erst wollte ich ihn allein gehen lassen, aber wer weiß, wo die Hefte geblieben wären. Deshalb ging ich dann doch mit – fatalerweise.“ Schramm machte eine Pause. Seine Eröffnungen berührten mich recht unangenehm, obgleich er sein anfängliches Schweigen glaubhaft begründet hatte: Eine Bedeutung konnte sein Zusammensein mit Kurrat allerdings nur dann gewinnen, wenn dieser tatsächlich nicht wieder auftauchen sollte, was niemand von uns für möglich hielt. „Weiter war nichts“, setzte Schramm hinzu. „Wir warfen am Steg den Sack ins Wasser, und dann bat mich Kurrat, noch kurz in den Ort gehen zu dürfen.“ Ich erkannte gleich, daß hier noch ein unglückliches Moment lag: Schramm war mit Kurrat zusammen fortgegangen und allein zurückgekommen. „Waren Sie am Steg mit ihm allein?“ fragte ich. „Hat jemand gesehen, wie Sie sich von Kurrat trennten?“ „Am Steg war niemand. Und ich kann mich auch nicht erinnern, jemandem begegnet zu sein. Deshalb 46
habe ich vorsichtshalber nichts gesagt … Irgendwann muß doch der verdammte Kerl wieder auftauchen!“ Ich beruhigte Schramm und konnte mich dabei einer leichten Schadenfreude nicht erwehren. Zuerst war er so erpicht darauf gewesen, uns bei der Aufklärung des Falles behilflich zu sein, und nun hatte er sich fast selber verdächtig gemacht … Oder hatte er sich eingeschaltet, um sich eben davor zu schützen? Es würde nicht ganz einfach sein, Schramms zusätzliche Aussage der Polizei beizubringen. Sollte er sehen, wie er damit fertig wurde! Er nahm sich vor, die Kriminaldienststelle gleich zu Beginn der nächsten Woche, am Montagmorgen noch, unter dem Vorwand aufzusuchen, er wolle sich nach dem Stand der Ermittlungen erkundigen. Bei der Gelegenheit wollte er dann anbringen, daß er als letzter mit Kurrat zusammen gewesen sei. Am Vormittag des nächsten Tages, eines Sonntags, trat Schramm während eines Rundganges durch die Unterkunftsräume der Schüler an mich heran und sagte: „Wissen Sie eigentlich, daß der angeblich so schwerkranke Muhl nicht einmal einen Arzt hat?“ „Mir gegenüber hat Frau Muhl ausdrücklich bestätigt, es sei ein Arzt dagewesen. Bei Gelbsucht dürfte das auch erforderlich sein.“ „Als ich gestern morgen bei ihm war, sah er nicht nach Gelbsucht aus. Ich habe eben versucht, noch einmal mit ihm zu sprechen, aber die Frau hat mich nicht reingelassen. Ich fragte sie, wie lange der Arzt ihren Mann krank geschrieben habe. Nötigenfalls könnte ich ja einmal selbst mit ihm sprechen. Darauf sagte sie, einen Arzt habe ihr Mann bisher nicht gehabt.“ Vor dem Essen pflege ich ohnehin einen Spaziergang zu machen. Ich beschloß, bei der Gelegenheit nach Muhl zu sehen und wegen der Kündigung mit ihm zu sprechen. 47
Ich klingelte. Frau Muhl öffnete, gab die Tür aber nicht frei. „Mein Mann will niemanden sehen“, sagte sie. „Er soll sich auch nicht aufregen.“ „Wahrscheinlich hat der Arzt das verordnet“, sagte ich, sie scharf ansehend. „Wir haben bisher keinen Arzt gehabt“, sagte sie nach kurzem Zögern. „Ich verstehe mich auf Hausmittel, und … ich wollte es Ihnen gestern bloß nicht sagen. So schlimm ist es auch nicht. Das Fieber ist schon zurückgegangen. Es ist mehr die Aufregung, der Ärger.“ „Dann möchte ich ihn aber bei nächster Gelegenheit sprechen. Schließlich ist er immer noch Hausmeister.“ „Damit ist es nun ja doch aus“, sagte sie. „Ich sage Ihnen Bescheid, wenn er sich soweit wieder erholt hat.“ Ich wandte mich ärgerlich ab. Das war nun schon das zweite Mal, daß sie mich wegschickte. Und dabei war Muhl doch gar nicht schwerkrank. Bisher waren die Muhls mir gegenüber stets entgegenkommend gewesen. Sie konnten mich nicht für Schramms Verhalten verantwortlich machen. Das Ganze kam mir sehr merkwürdig vor. Kurz nach dem Mittagessen, als ich mich gerade für eine Stunde hinlegen wollte und noch einen Blick aus dem Fenster warf, sah ich Frau Muhl weggehen. Sie trug Hut und Handtasche und schlug den Weg zur Bushaltestelle ein. Es wunderte mich, daß sie ihren kranken Mann allein ließ. Als ich am Nachmittag mit Schramm darüber sprach, meinte der: „Gestern ist sie auch gleich nach Ihrem Besuch weggegangen und erst abends zurückgekommen … Irgendwas stimmt da doch nicht.“ Ohne uns viel davon zu versprechen, gingen wir über den Hof und musterten die Fenster der Hausmeisterwohnung. „Die Schlafzimmerfenster sind oben ganz rechts. Die Rollos sind heruntergelassen“, sagte Schramm. „Das ist bei Gelbsucht üblich“, entgegnete ich. „Man ist dann lichtempfindlich.“ 48
„Wenn das Schlafzimmer parterre läge, könnten wir mal anklopfen“, meinte Schramm. Und nachdem wir eine Zeitlang zu den Fenstern hinaufgesehen hatten, sagte er plötzlich: „Sie haben doch Schlüssel für sämtliche Türen. Wie wäre es, wenn wir jetzt … Was würden Sie tun, wenn Sie hinter den Fenstern ein Stöhnen hören würden?“ Ich sah ihn verblüfft an; dann begriff ich. „Ach so … Nun, wir müßten uns dann um den Kranken kümmern, weil niemand im Hause ist.“ „Ja eben. Und … Hören Sie nichts?“ Er hielt inne. „Da stöhnt doch jemand! Also ich bin ganz sicher … Los! Sie müssen schnell den Schlüssel holen.“ Vielleicht war es tatsächlich gut, die Abwesenheit Frau Muhls zu benutzen, um einen Blick ins Krankenzimmer zu werfen. Uns bewegte schließlich nur die Sorge um Muhl. Ich holte den Schlüssel, öffnete die Haustür, bat Schramm zurückzubleiben und rief laut Muhls Namen. Alles blieb still. Ich sah mich nach Schramm um. Er nickte mir aufmunternd zu und wies auf die Treppe. Zögernd ging ich die Stufen hinauf, rief noch mal und stand vor der Schlafzimmertür. Ich legte mir die Ausrede zurecht, mit der ich mein Eindringen in die Wohnung rechtfertigen wollte, und klopfte behutsam. Nichts rührte sich. Ich klopfte noch einmal, diesmal stärker. Wieder nichts. Da öffnete ich die Tür und sah in das Zimmer hinein. Das Licht drang gedämpft durch die Rollos. Ein muffiger Schlafzimmergeruch kam mir entgegen. Die Betten waren sorgfältig glattgezogen. Niemand lag darin. Das Zimmer war leer.
Der dritte Tag Heute sah ich Schramm erst gegen Mittag, als ich mir ein Buch aus der Bibliothek holen wollte. Er stand ganz 49
oben auf der langen Leiter und stöberte in den Regalen an der Decke. Ich beobachtete ihn eine Weile, ehe er mich bemerkte. Er zog ein Buch nach dem anderen heraus, pustete den Staub ab und ließ die Seiten am Daumen entlangblättern. Hoch oben hockte er auf der Leiter, schräg von unten beleuchtet, ganz in seine Arbeit vertieft. „Kommen Sie mich besuchen?“ rief er von oben. „Warum haben Sie den Hund nicht mitgebracht?“ Wenn diese Frage scherzhaft wirken sollte, dann hatte Schramm danebengetroffen. Ich kann durchaus Spaß verstehen, aber in bezug auf den Hund ging Schramm zu weit. Ich sperre den Hund in meinem Zimmer ein, solange Schramm sich in der Schule aufhält. Zuerst wollte ich gar nicht antworten, sagte dann aber: „Den Hund bekommen Sie nicht zu Gesicht. Ich halte es für besser, wenn er Sie gar nicht erst sieht.“ Dann setzte ich noch boshaft hinzu: „Sie blättern die Bücher ja nur durch. Müssen Sie sich erst wieder manuell an den Umgang mit Büchern gewöhnen?“ „Sie werden lachen“, sagte er, „ich war im Zuchthaus Bibliotheksverwalter.“ Das Wort „Zuchthaus“ klang an diesem Orte so deplaciert, daß es förmlich im Raum stehenblieb. Es mangelt Schramm manchmal völlig an Feingefühl. Ich brachte es jetzt auch über mich, ihn nach seiner gegenwärtigen Beschäftigung zu fragen. Er ist als Vertreter tätig, hat anscheinend sein Auskommen, sehnt sich aber nach geistiger Arbeit. Für diese Woche wohnt er in einem Gasthaus im Ort. Ein wenig tut mir Schramm auch wieder leid – ich gebe es zu … Trotz allem, was geschehen ist. Natürlich brachte ich Schramm anfangs noch nicht mit dem Verschwinden Kurrats in Verbindung, auch wenn er verschwiegen hatte, daß er als letzter mit ihm zusammen gewesen war. Der Direktor war sehr verärgert 50
über Schramms Schweigen und die, auch für die Schule peinliche, aber unvermeidbare Ergänzung unserer Angaben gegenüber der Polizei. „Unter diesen Umständen halte ich es für richtig, Herrn Schramm zukünftig aus unseren Nachforschungen herauszuhalten“, sagte er, als ich ihm am Sonntagabend Bericht erstattete. Er war übers Wochenende nach auswärts gefahren, und es harrten seiner also zwei unangenehme Neuigkeiten. Ich muß zugeben, daß es mir eine gewisse Genugtuung bereitete, sie ihm mitzuteilen. Eine unangenehme Nachricht, die einen anderen angeht, vermittelt dem Überbringer ein Gefühl der Überlegenheit. „Das ist aber wirklich eine unangenehme Nachricht, mit der Sie mich empfangen. Und von Kurrat immer noch keine Spur!“ sagte der Direktor, in der Meinung, unser Gespräch sei beendet. „Von Kurrat keine Spur, aber noch eine Neuigkeit: Muhl ist verschwunden!“ „Muhl verschwunden, Kurrat verschwunden … Leben wir denn in einem Narrenhaus?“ „Es scheinen Zusammenhänge zu bestehen: Muhl ist verschwunden, weil Kurrat verschwunden ist.“ „Sie glauben doch nicht etwa, daß darin eine Bestätigung für das Gerede unter den Schülern liegen könnte!“ „Das nicht, aber Muhl kann sich das Gerede so zu Herzen genommen haben, daß er es hier nicht mehr aushielt. Seine Frau hat vermeiden wollen, daß ein Verdacht auf ihn fiel, und uns deshalb erzählt, er sei krank.“ „Weiß sie wenigstens, wo er sich aufhält?“ „Wir haben noch nicht mit ihr darüber sprechen können. Sie ist heute mittag mit dem Bus weggefahren.“ „Wahrscheinlich auch verschwunden“, knurrte der Direktor sarkastisch, aber seine Vermutung traf nicht zu, denn ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, daß in der Muhlschen Wohnung Licht brannte. 51
Ich erzählte dem Direktor, wie wir Muhls Abwesenheit entdeckt hatten. Obwohl es schon spät war, beschlossen wir, noch heute mit Frau Muhl zu sprechen. „Um diese Zeit wollen Sie doch wohl meinen Mann nicht mehr besuchen“, sagte sie, als sie uns öffnete. „Wir wissen, daß Ihr Mann gar nicht im Hause ist“, erwiderte ich kurz. „Es hat keinen Sinn mehr, uns etwas vorzumachen.“ Frau Muhl zeigte mehr Selbstbeherrschung, als ich ihr zugetraut hatte. Sie schien fast erleichtert, als sie nun nichts mehr zu verbergen hatte. Außerdem gab ihr wohl das Bewußtsein Sicherheit, daß ihr Mann beruflich nichts mehr zu verlieren hatte. „Mein Mann hat es hier nicht mehr ausgehalten“, erklärte sie. „Die Schüler haben ihn mit ihrem Gerede völlig fertiggemacht. Mein Mann ist so ungeheuer empfindlich.“ Es schien mir sinnlos, sie zu fragen, ob an dem Gerede etwas Wahres sei. Dies konnte ich sicher von anderen eher erfahren. „Haben Sie Ihren Mann heute aufgesucht?“ erkundigte ich mich statt dessen. „Ich weiß nicht, wo er hingefahren ist“, sagte sie müde. „Wir hatten zuletzt Streit miteinander, weil … Ich wollte ihn nicht weglassen. Gestern und heute bin ich schon unterwegs gewesen, ihn zu suchen. Bei unseren Verwandten ist er nicht. Er hatte früher Freunde in Hamburg. Vielleicht müßte man es da versuchen.“ „Und weshalb haben Sie uns erzählt, er sei krank?“ „Weil Sie es sonst wahrscheinlich der Polizei gemeldet hätten, daß er einfach weggefahren ist. Dann das Gerede unter den Schülern dazu. Mein Mann sollte nicht in einen falschen Verdacht kommen … Ich hoffte, er würde zurückkommen, ehe hier jemand was merkt.“ „Wenn er nachweisen könnte, wo er am Dienstagabend gewesen ist, als Kurrat verschwand, käme ein ernsthafter Verdacht nicht in Frage.“ 52
„Er war hier auf dem Gelände. Ich hatte eine Freundin zu Besuch, die ihm zuviel redet. Deshalb hat er noch nach dem Essen Rasen gemäht – die Fläche unter Herrn Direktors Fenstern. Und hinterher hat er bei uns gegessen.“ Der Direktor dachte nach. „An das Rasenmähen erinnere ich mich. Der Motor störte mich etwas, weil es im Radio ein Konzert gab. Ich wollte Ihren Mann schon bitten aufzuhören. Aber weil er doch noch so fleißig war …“ „Haben Sie eine Radiozeitung von der vorigen Woche?“ fragte ich Frau Muhl. Sie kramte unter dem Tisch, auf dem das Rundfunkgerät stand, und brachte schließlich die gewünschte Zeitung zum Vorschein. Ich schlug das Programm von Dienstag auf, fand ein Konzert angezeigt und hielt dem Direktor das Heft hin. „Ja, das war es“, sagte er. „Ich erinnere mich genau, daß mich der Rasenmäher fast vom Beginn an gestört hat.“ „Da das Konzert um sieben Uhr begonnen hat, dürfte Ihr Mann ein lückenloses Alibi haben“, sagte ich. „Er hat also gar nichts zu befürchten.“ „Er wollte aber auf keinen Fall mit der Polizei was zu tun haben, er wollte sich ganz heraushalten. Er ist da sehr empfindlich.“ Mir schien diese Empfindlichkeit übertrieben. Sollte an dem Gerede der Schüler doch etwas Wahres sein? Mußte Muhl Angst haben, daß es zur Sprache kam? „Es ist ohnehin absurd“, sagte ich abschließend, „Kurrats Verschwinden mit einem Verbrechen in Zusammenhang zu bringen. Es wäre besser gewesen, wenn Ihr Mann sich zu einer offenen Aussprache mit uns bereit gefunden hätte. Aber das kann er nachholen, wenn er wieder da ist.“ Als wir allein waren, sagte der Direktor: „An die Sache mit Muhl rühren wir lieber nicht. Ich nehme zwar nicht 53
an, daß zwischen ihm und Kurrat irgendwelche Beziehungen bestanden haben, aber es ist besser, wir lassen das Ganze vorerst auf sich beruhen. Der eine Skandal, daß uns ein Schüler durchbrennt, reicht völlig. Betrachten wir Muhl als ordnungsgemäß beurlaubt. Unterrichten Sie bitte auch die anderen Herren entsprechend.“ Diese Anordnung, deren Richtigkeit ich übrigens völlig einsah, nahm mir die Möglichkeit, die Schüler über das Verhältnis zwischen Muhl und Kurrat zu befragen. Hierdurch hätten die umlaufenden Gerüchte unversehens einen offiziellen Charakter erhalten können. Muhls Verhalten erweckte den Eindruck einer Kurzschlußreaktion. Wenn er Angst vor polizeilichen Vernehmungen haben mußte, konnte er seine Lage durch sein Verschwinden nur verschlimmern … Mir war noch keineswegs klar, ob Kurrats Verschwinden vielleicht doch irgendwie mit Muhl zusammenhing. Am Montagmorgen trat Schramm den heiklen Gang zur Kriminalpolizei an, und am Nachmittag fand sich prompt ein Inspektor bei uns ein, der weniger gemütlich wirkte als sein Vorgänger. Er erkundigte sich, ob es üblich sei, alte Hefte in einem Sack in den Fluß zu werfen, und befragte uns eingehend über die Person Kurrats. Dann sprach er noch mit dessen drei Stubengenossen, nicht in unserer Gegenwart übrigens, ließ sich den Schlüssel zu Kurrats Schrank geben – kurz, unternahm alles, was wir schon vor ihm unternommen hatten. Ich bezweifelte allerdings, daß er von den Schülern mehr erfuhr als wir. Endlich verschwand er wieder, ohne es für nötig zu halten, sich beim Direktor zu verabschieden. Obwohl wir uns in den ersten Tagen eine größere Aktivität gewünscht hätten, erfüllten uns die polizeilichen Ermittlungen nun mit Unbehagen. Am Spätnachmittag ging ich zum Fluß hinunter. Der Steg ragte auf seinen langen, stakigen Beinen aus dem 54
Schlick. Ich ging bis ans äußerste Ende. Der Steg schwankte ein wenig, und ich sah in den Schlick unter mir. Es war unsinnig, nach dem Sack zu suchen, den Kurrat hier ins Wasser geworfen haben sollte. Er mußte vom Ebbstrom fortgetrieben worden sein. Ob Sack oder Leiche, nichts hätte sich hier halten können. Ich ertappte mich dabei, daß ich gar nicht mehr nach dem Sack spähte, sondern nach einem menschlichen Körper. Als ich im Schilf einen dunklen Klumpen entdeckte, stockte mir der Atem. Wir sind immer geneigt, das Schlimmste nicht nur zu fürchten, sondern im Grunde auch zu ersehnen – das heißt, wenn es nicht uns selber betrifft … Ich muß zugestehen, daß es mich enttäuscht hätte, wenn Kurrat in diesem Augenblick unversehrt wiederaufgetaucht wäre. Gefühlsmäßig natürlich nur; die Vernunft hätte Freude gefordert. Eigentlich wollte ich mich zwingen, den Steg wieder zu verlassen, ohne den Klumpen näher zu mustern, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden und war enttäuscht, als ich sah, daß es sich um einen alten Weidenkorb handelte. Aber schließlich war der Gedanke, im Schilf einen toten Kurrat zu entdecken, nicht ernst zu nehmen. Es war ein grauer Tag; die Wolken hingen tief, und von der See her kam ein naßkalter Wind. Der Wasserspiegel hatte seinen niedrigsten Stand erreicht, und die breiten Schlickstreifen an den Ufern ließen den Fluß dreckig erscheinen. Das braune Wasser, das fast ganz zum Stillstand gekommen war, erinnerte an Abwässer. Ich wandte mich ab und ging ein Stück flußaufwärts auf dem Deich entlang, um ein paar Worte mit dem Fährmann zu sprechen. Das Haus hockte wie ein großes, träges Tier auf dem Deich. Die Fensterscheiben spiegelten das fahle Licht der Wolkendecke. Kindergeschrei kam irgendwoher aus dem Innern. Der Fährmann Sievert war ein Mann an die 55
Sechzig, der noch bis vor kurzem Kinder in die Welt gesetzt hatte. Die ältesten hatten das Haus längst verlassen, waren verheiratet und hatten wohl selbst schon wieder Kinder. Seine erste Frau hatte dem Kindersegen nicht standgehalten; vor einigen Jahren hatte er zum zweitenmal geheiratet. Mir war diese zweite Frau bisher nur durch ihre übermäßig laut und hart klingende Stimme aufgefallen. In einigen Gegenden unseres Landes haben sich die Frauen – im Laufe vieler Generationen wahrscheinlich – eine kehlig-gepreßte Stimmlage angewöhnt, die erhebliche Lautstärken möglich macht, dabei aber etwas an das Schnattern von Gänsen erinnert. Ich hatte die Stimme der Fährmannsfrau oft bei Spaziergängen auf dem Deich vom Fährhaus her gehört. Die Haustür war angelehnt. Als ich in den Flur trat, um mich bemerkbar zu machen, durchdrang die Stimme der Frau plötzlich das ganze Haus. Das Kindergeschrei wirkte daneben fast verloren. Die Frau hielt sich anscheinend in der Küche auf und gab ihrem Mann über den Korridor durch zwei Türen hindurch irgendwelche Anweisungen. Aus der Küche kam ein penetranter Bratkartoffelgeruch. Geschirr klapperte. Ich klopfte an die Wohnzimmertür, hinter der ich Sievert vermutete. Er hatte auf dem Sofa gelegen, fuhr in seine Lederpantoffeln und nötigte mich zum Sitzen. Er war ein freundlicher, bei unseren Schülern beliebter Mann. Selber ein passionierter Angler, hatte er schon manchen Schüler in die Anfangsgründe dieser Kunst eingeweiht. Er kümmerte sich auch um ihr Angelzeug und verwahrte es. Auf diese Art hatte er Kurrat kennengelernt. Er sprach übrigens nur plattdeutsch, seine Bemühungen um das Hochdeutsche waren peinlich und bejammernswert. Ich mühte mich deshalb, plattdeutsch zu sprechen, was ihn aber nur veranlaßte, mir seinerseits zu beweisen, daß er des Hochdeutschen mächtig war. 56
Ich sprach daher wieder eiligst hochdeutsch, worauf er in das angestammte Platt zurückfiel. Nach dieser sprachlichen Abstimmung konnte ich allmählich auf meine Frage kommen. Nach Schramms Angabe hatte sich Kurrat von ihm getrennt, nachdem sie den Sack ins Wasser geworfen hatten. Kurrat mußte auf seinem Weg in den Ort am Fährhaus vorbeigekommen sein. Vielleicht hatte Sievert ihn gesehen oder sogar noch ein paar Worte mit ihm gewechselt. Sievert hielt es für nötig, Kurrat erst einmal einige Worte des Gedenkens zu widmen, und ich mußte ihn darauf aufmerksam machen, daß sein Verschwinden sich noch ganz harmlos aufklären konnte. „Und dabei hab’ ich noch Dienstag abend mit ihm gesprochen“, sagte Sievert klagend auf plattdeutsch. Ich fuhr auf. „Herr Sievert“, sagte ich ernst, „das ist ungeheuer wichtig! Sie waren dann der letzte, der mit ihm gesprochen hat, bevor er in den Ort ging.“ „Tjaaa …“ Sievert war sichtlich vergnügt, weil er mich verbessern konnte. „Das stimmt ja nun wohl nicht. Da ist er nicht hingegangen. Er wollte ja noch nach ’m Steg und bloß bei mir erst noch’n bißchen warten, weil da einer von seinen Lehrern am Deich saß. Den wollte er da nicht treffen.“ „Aber er kam doch gerade vom Steg her!“ rief ich. „Nee“, widersprach er, „das kann ja nun wohl nicht angehen. Er fragte mich doch nach seinen Aalkörben und sagte, er wollte jetzt noch nach’m Steg hin und danach gucken, wenn Herr Schramm weg war.“ „Herr Sievert“, sagte ich ernst, „können Sie sich genau erinnern? Es hängt sehr viel davon ab.“ „Klar, kann ich.“ Sievert nickte. „Ich hab’ das ja vorhin auch schon dem Inspektor erzählen müssen.“ Der war also auch schon dagewesen! „Haben Sie Kurrat weggehen sehen?“ fragte ich. 57
„Ja, er ging denn ja noch zum Steg hin“, sagte Sievert etwas kleinlaut. „Und wenn Sie das genau wissen wollen …“ In diesem Augenblick fuhr die Stimme der Frau Sievert dazwischen: „Gustav, hol di da rut!“ Offenbar hatte sie unser Gespräch hinter der angelehnten Tür verfolgt. Überhaupt schien es in diesem Hause Sitte zu sein, die Türen offenzuhalten, wohl damit man aus jedem beliebigen Raum mit den Leuten in anderen Räumen sprechen konnte. Sievert verstummte auf den Zwischenruf hin. Aber was er mir bisher gesagt hatte, war schwerwiegend genug. Da hatte ich gehofft, Schramm durch dieses Gespräch entlasten zu können, und das Gegenteil war herausgekommen. Ich machte noch einen letzten Versuch: Ob er Kurrat später noch einmal habe vorbeigehen sehen, auf dem Weg in den Ort. Sievert verneinte. Er sei die ganze Zeit draußen gewesen, aber Kurrat sei nicht mehr vorbeigekommen. Als ich die Haustür hinter mir schloß, schlug ich mein Jackett einige Male auf und zu, um den Bratkartoffelgeruch loszuwerden, der sich darunter gefangen hatte. Die Sache begann mir unheimlich zu werden; ich mußte sofort mit Schramm sprechen, noch bevor der Inspektor ihn vernahm. Von einem begründeten Verdacht konnte zwar nicht die Rede sein, denn welches Tatmotiv sollte Schramm gehabt haben? Aber auch lückenhafte Indizien können Unheil anrichten, wenn man darauf aus ist, sie um jeden Preis zu vervollständigen. Ich traf Schramm in seinem Zimmer an. Er war etwas überrascht, als ich ihn fragte, ob der Inspektor von der Kriminalpolizei schon wieder bei ihm gewesen sei. Ich bereitete ihn darauf vor, daß ich ihm unangenehme Dinge zu sagen hätte, und bat ihn, mir den Gang zum Steg noch einmal genau zu schildern. Zu meiner Bestürzung 58
wiederholte er genau das, was er schon gesagt hatte: Er sei mit Kurrat zum Steg gegangen; dieser habe den Sack ins Wasser geworfen und dann gefragt, ob er noch kurz in den Ort gehen könne. Darauf hatten sie sich getrennt. In knappen Worten hielt ich Schramm jetzt die Darstellung Sieverts vor. Es war ihm sofort klar, was diese Aussage für ihn bedeuten konnte. Aber er blieb dabei, daß er die Wahrheit gesagt habe und sich ganz genau erinnere. Wir machten darauf den Versuch, die beiden Versionen miteinander in Einklang zu bringen, aber es gelang nicht. Kurrat hatte nach Sieverts Aussage eindeutig zu verstehen gegeben, daß er noch nicht am Steg gewesen sei, mußte aber nach Schramms Angabe gerade von dort gekommen sein. Außerdem sollte Kurrat ausdrücklich zu Sievert gesagt haben, er wolle es vermeiden, Schramm zu treffen … Es blieb nur die Möglichkeit, daß Sievert sich nicht mehr genau erinnerte. Vielleicht war Kurrat noch einmal zum Steg zurückgegangen, weil er vergessen hatte, nach den Aalkörben zu sehen? Auf jeden Fall widersprachen sich die Angaben Schramms und Sieverts. Je länger wir die Sachlage besprachen, desto ungünstiger erschien sie für Schramm. Die Polizei würde dem Fährmann wahrscheinlich mehr Glauben schenken. Und auch ich mußte mich fragen: Was sollte den alten Sievert zu einer falschen Aussage veranlassen? Ich begann mich damals innerlich von Schramm zu distanzieren, und er merkte das sehr wohl. Aber ich wollte Schramm nicht unrecht tun und bei meinen Überlegungen voraussetzen, daß seine Angaben über das letzte Zusammensein mit Kurrat zutrafen. Dieser hatte darum gebeten, noch kurz in den Ort gehen zu dürfen. Schramm hatte zugestimmt, ohne eine genaue Begründung zu verlangen. Wahrscheinlich war der Gang in den Ort nur ein Vorwand gewesen, aber es bestand eine winzige Aussicht, daß Kurrat vielleicht doch noch 59
eine Besorgung gemacht hatte. Schramms Situation war so, daß jetzt auch die geringste Spur verfolgt werden mußte. Am nächsten Morgen ließ ich Lünzmann rufen und fragte ihn, ob Kurrat in den Tagen vor seinem Verschwinden etwas im Ort habe besorgen wollen und welche Geschäfte er aufzusuchen pflegte. Ich erfuhr, daß Kurrat in der Woche vor seinem Verschwinden einen Film zu Foto-Schönle gebracht hatte, um eine Reihe von Vergrößerungen anfertigen zu lassen. In der folgenden Unterrichtspause sprach ich Schramm darauf hin an, und zu meiner Freude glaubte er sich jetzt zu erinnern, daß Kurrat von „Bildern“ gesprochen habe. Da ich meinen Vormittagsunterricht schon hinter mir hatte, versprach ich Schramm, gleich im Fotogeschäft nachzufragen. Wir hatten unser Gespräch noch nicht beendet, als der Direktor ins Lehrerzimmer trat und uns mit vorwurfsvoller Miene mitteilte, der Beamte von der Kriminalpolizei sei schon wieder im Hause und wolle noch einmal mit Herrn Schramm sprechen. Ich glaube, ich hätte mich nicht gewundert, wenn Schramm anschließend in Handschellen abgeführt worden wäre. Immer wieder mußte ich mir bewußt machen, daß er ein geschätzter Kollege war, der nun schon seit rund zehn Jahren mit uns zusammengearbeitet hatte. Es war undenkbar, daß dieser Mann ein Verbrechen begehen konnte, schon deshalb, weil er überhaupt kein Motiv hatte. An diesen Gedanken hielt ich mich vor allem. Ich wollte das Ende der Vernehmung nicht abwarten und fuhr in den Ort. Dabei stellte ich mir wohlgefällig das Gesicht des Inspektors vor, wenn ich nachher die Vernehmung mit der Nachricht unterbrechen würde, Kurrat sei nach der Trennung von Schramm noch im Fotogeschäft gewesen. Das Geschäft liegt im Ortszentrum in einer Seiten60
straße. Herr Schönle, der Besitzer, ist mir persönlich bekannt. Er kommt jedes Jahr einmal in unsere Schule und macht Klassenaufnahmen. Wir legen Wert darauf, daß dies regelmäßig geschieht, weil sich hierdurch die äußere Entwicklung eines Schülers von Sexta bis Oberprima verfolgen läßt. Für den Lehrer sind die Fotos außerdem Erinnerung und Gedächtnisstütze zugleich, denn die Zahl der ehemaligen Schüler wächst schließlich mit den Jahren. Herr Schönle hantierte hinter dem Ladentisch. Sein Lächeln sprang mir ins Gesicht; der kahle Kopf glänzte, die Brillengläser funkelten. „Bedauerlich, sehr bedauerlich“, sagte er auf meine Frage, ob er unseren Schüler Kurrat kenne, „ich bedauere vor allem auch den Vater … Ja, vor allem den Vater.“ Sein Lächeln war schlagartig verschwunden, als ich den Namen Kurrat aussprach. Aber wie von selber gewann sein Gesicht schnell den gewohnten Ausdruck freudiger Beflissenheit zurück. „Kennen Sie denn den Vater?“ Ich war etwas erstaunt, denn meines Wissens war der alte Herr Kurrat nur zweimal im Ort gewesen, einmal bei der Anmeldung seines Sohnes vor etwa einem Jahr und dann nach dem Zwischenfall mit Schramm. „O ja“, sagte Schönle, „er ist Kunde bei mir, obwohl er gar nicht hier am Ort wohnt. Er hat sich kürzlich einen recht guten Apparat bei mir gekauft.“ Ich erwiderte darauf nichts, aber es erschien mir etwas merkwürdig, daß jemand, der aus der Großstadt kam, bei Schönle einen Fotoapparat kaufte. „Ein bedeutender Kopf“, sagte Schönle mit Kennermiene. „Hoffentlich hat Ihnen sein älterer Sohn nicht ähnlichen Kummer bereitet.“ „Von einem älteren Sohn weiß ich nichts“, sagte ich verwundert. „Soweit mir bekannt, hat er nur den einen Sohn.“ „Dann verstehe ich aber nicht …“ Schönle lächel61
te noch immer, aber er schien befremdet. „Dann verstehe ich aber nicht, weshalb er den Abzug einer alten Klassenaufnahme bestellt hat, fast zehn Jahre alt. Er hat lange danach gesucht. Er sagte doch, sein Ältester sei darauf.“ Ich bat Schönle, mir die Aufnahme zu zeigen, und er kramte sie aus einer Schublade hervor. Die einzelnen Gesichter waren im Negativ nur schwer zu erkennen. An dieses und jenes konnte ich mich erinnern, die Aufnahme mußte in der Tat mindestens zehn Jahre alt sein. Links an der Seite stand der Klassenlehrer; ich sah genau hin und mußte lächeln: Schramm, noch im vollen Besitz seines Haares, kaum zu erkennen. In den vergangenen Jahren war er ziemlich kahl geworden. Ich erklärte Schönle, daß es sich um ein Mißverständnis handeln müsse, merkte aber deutlich, daß er nicht zufrieden war. Ich wollte endlich zu meiner Frage kommen: Ob der junge Kurrat am vergangenen Dienstag, heute vor einer Woche, gegen sieben Uhr Fotoarbeiten abgeholt habe. „Dienstag … Ja, das kann sein.“ Es klang ein wenig unsicher. „Wenn Ihnen damit gedient ist.“ Ich wollte mich nicht zu früh freuen. „Wenn Sie es genau sagen könnten, wäre mir sehr damit gedient.“ Schönle brachte ein abgewetztes schwarzes Buch zum Vorschein und begann zu blättern. Jetzt würde sich vielleicht gleich zeigen, wie vorsichtig man Indizien und Zeugenaussagen handhaben muß und wie leicht man geneigt ist, einen Mitmenschen grundlos zu verdächtigen … Schönle hatte die richtige Seite gefunden, fuhr mit dem Zeigefinger eine Spalte hinunter und tippte auf eine Stelle. „Hier: zwölf Vergrößerungen sieben mal zehn, chamois, halbmatt, ohne Rand. Eingeliefert am neunundzwanzigsten Mai, abgeholt am zweiten Juni … Ich 62
kann mich noch genau erinnern“, setzte er hinzu, „ich habe ihm die Bilder selber herausgesucht.“ Ich brauchte gar nicht auf den Kalender zu sehen. Der 2. Juni war am Montag gewesen, Kurrat war aber am Dienstagabend verschwunden. Ich muß einen recht enttäuschten Eindruck gemacht haben. Schönle entschuldigte sich, ohne eigentlich einen Grund zu haben. Die Eintragung sei unbedingt zuverlässig. Als ich die Ladentür hinter mir schloß, stieß ich auf den Inspektor. Er sah mich etwas mißtrauisch an und fragte sehr direkt: „Stellen Sie Privatermittlungen an, oder haben Sie eine Porträtstudie von sich machen lassen?“ Ich erklärte kurz, daß mir wahrscheinlich mehr daran liege als ihm, das Verschwinden des Schülers aufzuklären, und konnte mir eine kleine Spitze nicht verkneifen: „Anscheinend war der Amateur diesmal schneller als der Profi.“ Er warf mir einen bösen Blick zu und sagte langsam: „Nein – anscheinend hat Ihr Herr Kollege Sie besser informiert als uns. Damit, daß der Junge noch ins Fotogeschäft wollte, hat er eben erst herausgerückt.“ Ich zuckte die Achseln und ließ den Inspektor merken, daß ich das Gespräch beenden wollte. „Wollen Sie mich nicht das Ergebnis Ihrer Ermittlungen wissen lassen, Herr Doktor?“ fragte er noch ironisch. Mir war dieser Mann von vornherein unsympathisch gewesen, und ich bedauerte Schramm, daß er ausgerechnet ihm in die Hände gefallen war. „Lassen Sie sich nur überraschen“, sagte ich nicht ohne Überlegenheit. Erst als ich wieder im Wagen saß, ordnete ich meine Gedanken. Entweder hatte Kurrat den Gang zum Fotohändler Schramm gegenüber gar nicht erwähnt, oder er hatte ihn nur vorgeschoben, um sich von Schramm trennen zu können … Oder er hatte sich gar nicht von 63
Schramm getrennt und war bis zum Ende mit ihm zusammen gewesen! Diese Möglichkeit schied natürlich aus, aber wenn man die bestehenden Möglichkeiten theoretisch durchdachte, durfte man auch diese nicht außer acht lassen. Und was sollte ich von dem Interesse des Vaters für die alte Klassenaufnahme halten? Ich benutzte die Zeit, die noch bis zum Mittagessen blieb, um eine komplizierte Änderung des Stundenplanes vorzunehmen. Dabei wurde ich durch Lärm vom Schulhof her gestört. Eine Klasse hatte dort Sportunterricht und führte irgendwelche Übungen aus, die zu regelmäßig wiederkehrenden Anfeuerungsrufen Anlaß gaben. Ich blickte aus dem Fenster und erkannte, daß es sich um Kurrats Klasse handelte. Der unterrichtende Kollege, der erwähnte junge Referendar, verstand es anscheinend nicht, Disziplin zu halten. Er übte mit den Jungen Kurzstreckenlauf, schickte sie paarweise auf die Bahn, die sie unter völlig überflüssigem Gebrüll ihrer Kameraden durchmaßen, einem Gebrüll, das keineswegs der Sportbegeisterung entsprang, sondern offenbar den Lehrer provozieren sollte. Ich hätte vom Fenster aus um mehr Ruhe bitten können, aber ich wollte den jungen Kollegen nicht wie einen Rekruten zu mir ans Fenster rufen, und lautes Schreien quer über den Schulhof liegt mir nicht. So ging ich also nach draußen – ohne zu ahnen, daß ich hierdurch einen neuen Hinweis zum Verschwinden Kurrats erhalten sollte, dem vielleicht sogar ein beträchtliches Gewicht zukam. Ich ging über den Hof und stellte mich neben den jungen Kollegen, so daß der Eindruck entstand, als wollte ich seinem Unterricht ein wenig zusehen. Das Gebrüll der Jungen war bei meinem Näherkommen verstummt, und ich gab dem Referendar zu verstehen, daß er für mehr Ruhe sorgen müsse, wenn er in unmittelbarer Nähe der Klassen- und Verwaltungsräume Sportunterricht 64
gebe. Der Referendar mahnte darauf die Jungen mit übertriebenem Nachdruck zur Ruhe, obwohl dies eigentlich gar nicht mehr nötig war, und es war unverkennbar, daß er jetzt mit dem Unterricht Ernst machen wollte. Die vollen hundert Meter sollten zurückgelegt werden, Zeiten sollten genommen und in Listen eingetragen werden; Reihenfolgen wurden bestimmt, die Schüler übersichtlich nebeneinander und hintereinander gruppiert; es entfaltete sich ein reger Sportbetrieb. Die Jungen liefen mit mehr oder weniger Hingabe. Lünzmann lag in der Wertung vorn; mit einer winzigen grünen Hose bekleidet, stob er über die Bahn. Er lief unter zwölf Sekunden, war ein vielversprechendes Talent, der Stolz seines Sportlehrers, der Lünzmanns Verdienste um die Bewältigung der hundert Meter offenbar für sich in Anspruch nahm. Aber da war Genschke – ein erbarmungswürdiger Anblick! Die Sportkleidung stellte die unzulänglichen Proportionen seines Körpers bloß. Er war fett, hatte kurze, dicke Beine und ein breites Hinterteil, das in urtümlich wirkenden schwarzen Turnhosenröhren steckte. Er lag hoffnungslos hinten, hampelte ungeschickt über die Bahn, schnaufte asthmatisch und verlor vor dem Ziel fast die Kraft. Seine Zeit will ich nicht nennen; sie erregte Mitleid, Hohn und Beschämung. Ich nehme sportlichen Übungen gegenüber eine distanzierte Haltung ein. Sport kann etwas Schönes sein, fehlt aber die ästhetische Komponente oder die Leistung, wirkt er kompromittierend. Ich selber war in meiner Jugend kein guter Sportler und glaubte mich, peinlich berührt, in Genschke wiederzuerkennen. Es ist nicht leicht für einen Jungen, Häßlichkeit zur Schau stellen zu müssen. Ihn kann nur das Bewußtsein trösten, daß es auf äußerliche Dinge und körperliche Leistungen im Grunde nicht ankommt, daß sie nur Zutat sind, schön, aber entbehrlich. 65
Genschke empfand meine Gegenwart als peinlich. Er sah mich gequält an, und ich lachte, um ihm zu zeigen, daß ich seine Schaustellung nicht ernst nahm, daß sie mir nichts bedeutete. Aber Genschke verstand mich falsch. Er stimmte nicht in mein Lachen ein, sein Gesicht wurde böse; er glaubte, ich hätte ihn ausgelacht. Und diesem Eindruck, mißachtet zu werden, entsprang sein Entschluß, mich um ein Gespräch zu bitten. Er wollte mich zwingen, ihn ernst zu nehmen. Ob er mich am Nachmittag noch einmal sprechen könne, fragte er; es sei wegen Kurrat. Ich forderte ihn auf, mir jetzt gleich zu sagen, was er zu sagen habe. Es war ihm sicher nicht recht, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Die Klasse war zum Umkleiden entlassen worden und verschwand im Gebäude, wo sich damals noch im Keller die Umkleide- und Waschräume befanden. Genschke und ich folgten langsam und blieben schließlich im Kellereingang stehen. Was Genschke mir zu sagen hatte, war wichtiger, als ich angenommen hatte. „Ich glaube nicht, daß es stimmt“, sagte er, „aber ich möchte es doch lieber sagen.“ „Jeder Hinweis, der uns nützen kann, ist uns willkommen; wir haben dich doch ausdrücklich aufgefordert, nichts zu verschweigen.“ „Ich konnte darüber nicht sprechen, als Herr Schramm dabei war. Ich glaube auch nicht, daß es stimmt, aber …“ Wir wurden unterbrochen. Die Tür des Waschraums flog auf, und Lünzmann stürmte heraus, nackt, Turnhose und Handtuch wie Flaggen in den hochgerissenen Händen. Hinter ihm johlend drei oder vier seiner Kameraden. „Zieh dir was an, wenn du über den Gang läufst!“ rief ich. Er machte vor Schreck einen Satz, als er mich sah, verschwand aber nicht im Umkleideraum, sondern sprang noch einmal zurück in den Waschraum, erschien wieder, 66
diesmal die Hose am gehörigen Platz, das Handtuch eng um die Schultern gezogen, freundlich grinsend. Der Duschraum mußte unbedingt vom Umkleideraum her zugänglich sein. Ich beschloß, wegen des bereits geplanten Umbaus noch einmal mit dem Direktor zu reden, vergaß es dann aber leider. Unwichtig Erscheinendes offenbart häufig erst später seine Wichtigkeit. Ich wandte mich Genschke wieder zu: „Was sollte denn Herr Schramm nicht hören?“ „Ich glaube nicht, daß es stimmt“, sagte Genschke, „aber Kurrat hat noch vorige Woche gesagt, er hat Herrn Schramm in der Hand. Er kann von ihm jede Zensur kriegen, die er haben will.“ „Da wird er allerdings übertrieben haben … Näher hat er sich dazu nicht geäußert?“ „Ich glaube ja auch nicht, daß es stimmt, aber er hat uns einmal etwas über Herrn Schramm erzählt, was er von dem Blieske gehört hat, seinem Freund … Der, an den der Brief war, den Sie in seinem Schrank gefunden haben.“ Blieske hatte, wie ich schon erwähnte, Ostern an unserer Schule das Abitur abgelegt. Er gehörte zu den Jungen, die ihre Nase in alles stecken und ständig herumreden, ohne viel zu wissen. „Ich glaube nicht daran“, fuhr Genschke fort, „aber Herr Schramm soll einem aus Blieskes Klasse die Abiturthemen in Englisch vorher gegeben haben. Er soll auch Geschenke von seinen Eltern angenommen und in seinen Klassenarbeiten Fehler nicht angestrichen und mit blauer Tinte verbessert haben … sagt Blieske.“ „Wer war noch dabei, als Kurrat das erzählte?“ „Lünzmann und Hensen. Kurrat hat es abends in unserem Zimmer erzählt, als wir schon im Bett lagen.“ Es war eine peinliche Angelegenheit. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß Schramm solche Pflichtwid67
rigkeiten begangen hatte – was sollte ihn auch dazu veranlaßt haben? Aber es war schon schlimm genug, daß ein derartiges Gerede unter den Schülern kursierte. Oder hatte Genschke übertrieben, um seinen Mitteilungen mehr Gewicht zu geben? Erstaunlich war, daß Genschke es über sich brachte, mir über einen Lehrer derartige Dinge zu sagen. Sein Hang, eine Rolle zu spielen, war anscheinend größer als seine Furcht, sich bei seinen Lehrern unbeliebt zu machen. Das gleiche galt ja auch hinsichtlich seiner Mitschüler. Auf seine Art bewies Genschke Mut. „Ich wollte zuerst nichts davon erzählen“, sagte er noch. „Wenn Sie vorhin nicht auf den Hof gekommen wären …“ Gerade kam Lünzmann aus dem Umkleideraum. Ich rief ihn heran und fragte ihn nach Kurrats Äußerungen über Schramm. Lünzmann warf Genschke einen wütenden Blick zu. Sicher wäre es Genschke lieber gewesen, wenn ich seine Mitteilungen für mich behalten hätte, aber ich setzte mich über eine solche Rücksichtnahme hinweg, weil mich Genschkes Zwischenträgerei ärgerte. Seine Mitteilungen konnten natürlich von Wichtigkeit sein, aber … Nun, wenn er bei seinen Mitschülern unbeliebt war, hatte er sich das selbst zuzuschreiben. „Der Blieske nimmt den Mund immer ziemlich voll“, sagte Lünzmann, „man kann darauf gar nichts geben. Außerdem hat Kurrat nicht gesagt, daß er deshalb Herrn Schramm in der Hand hätte.“ „Aber daß er ihn in der Hand hätte, hat er gesagt? Kannst du dich an diese Formulierung erinnern?“ „Ja, das hat er gesagt, aber … Gott, vielleicht wollte er damit nur ein bißchen angeben.“ Lünzmann wollte mich beruhigen, aber ich merkte, daß seine Zweifel an Kurrats Worten nicht echt waren. Ich schickte Genschke, der sich in seinem Sportdreß sichtlich nicht wohl fühlte, in den Umkleideraum. Lünzmann warf ihm einen drohenden Blick nach. 68
„Laßt den Genschke in Ruhe“, sagte ich zu ihm. „In diesem Fall ist es tatsächlich gut, wenn jeder sagt, was er weiß. Obwohl hinter dem Gerede über Herrn Schramm sicher nichts steckt.“ Damit war auch Lünzmann entlassen. Hensen mußte noch im Umkleideraum sein. Ich sah hinein. Er war wieder einmal der letzte. Alles, was er tat, geschah langsam und bedächtig. Ich fragte ihn nach Kurrats Äußerungen über Schramm und war fast etwas belustigt, als ich die Antwort bekam, mit der ich gerechnet hatte. „Davon weiß ich nichts. Wenn er das erzählt hat, als wir schon im Bett lagen, war ich wohl schon eingeschlafen.“ Vielleicht stimmte es, vielleicht wollte er nur nichts sagen. Beide Möglichkeiten waren typisch für Hensen. Wäre mir dies Gerede vor Kurrats Verschwinden zu Ohren gekommen, hätte ich selbstverständlich gleich mit Schramm darüber gesprochen, in der Überzeugung, daß es aus der Luft gegriffen sein mußte. Aber jetzt, wo Schramm in ein etwas schiefes Licht geraten war, erschien vor allem Kurrats Äußerung, er habe Schramm in der Hand, recht schwerwiegend. Während ich überlegte, was ich unternehmen sollte, ging ich in den Waschraum. Ich hörte Wasser aus den Brausen auf die Fliesen klatschen und wollte den Hahn abdrehen, weil sich drinnen anscheinend niemand mehr aufhielt. Vom Waschraum mit der langen Reihe der Hähne und Waschbecken ging es in den Duschraum. Ich trat in den Türrahmen. Nur vom Waschraum her fiel spärliches Licht hinein. Dort befanden sich einige Fensterluken oben an der Decke. Der Duschraum hatte keine richtigen Fenster. Ich schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Das Licht war trübe, die ehemals weißen Kacheln erschienen schmutzig-gelb. Überall braune Spuren von rinnendem Wasser, drückend feuchte Luft. Die Lüftung oben an der Decke schien verstopft zu sein. Die ganze 69
Anlage war veraltet. Mir kam der Gedanke, daß einer unserer Jungen im Duschraum ohnmächtig werden könnte. Jetzt war hier wohl nur kalt geduscht worden. Wie schlecht mußte die Luft erst sein, wenn heißes Wasser ausströmte! Ich drehte einen der Hähne außen neben der Tür auf. Scharfe Wasserstrahlen schossen auf die Bodenfliesen, umhüllt von Dampf. Wenigstens die Warmwasserversorgung funktionierte. Ich streckte die Hand in die Wasserstrahlen und fuhr zurück. Das Wasser war kochend heiß. Ich drehte den Hahn zu. Schlagartig versiegte der Strom. Als ich wieder auf den Kellergang trat, war mein Entschluß hinsichtlich des Geredes über Schramm gefaßt: Ich wollte Blieske gleich am folgenden Tag aufsuchen. Er studierte in Hamburg und mußte jetzt während des Sommersemesters dort anzutreffen sein. Als Vorwand für meinen Besuch konnte mir der angefangene Brief Kurrats an Blieske dienen, der noch in meinem Schreibtisch lag. Blieskes Anschrift stand auf dem Umschlag. Auch die Polizei hatte sich dafür interessiert. Man wollte feststellen, ob Kurrat sich dort aufhielt. Nach meinem Urteil eine etwas unsinnige Vermutung, denn Kurrat hätte nicht bei seinem Freund Unterschlupf gesucht und einen Brief mit dessen Adresse in seinem Schrank zurückgelassen. Nachmittags machte ich einen Spaziergang auf dem Deich. Ich beschloß, mit der Fähre auf die andere Seite des Flusses zu fahren, um noch einmal mit Sievert ins Gespräch zu kommen. Ich wollte mich vergewissern, ob er in seiner Sache wirklich sicher war und bei seinen Angaben blieb. Vielleicht konnte ich auch noch etwas mehr erfahren, denn gestern hatte seine Frau ihn unterbrochen. Die Fähre war gerade auf der anderen Seite. Der Ebbstrom schien mir heute noch schneller zu fließen als sonst, besonders dort, wo er um die Dalben gurgelte. Am Boll70
werk war schon ein breiter Streifen modrigen, schlicküberzogenen Holzes sichtbar, das bei Flut unter Wasser lag. Aus dem Garten des Fährhauses hörte ich die durchdringende Stimme der Frau Sievert. Sie unterhielt sich mit jemand aus der Nachbarschaft, der so weit weg war, daß ich seine Antworten nicht hören konnte. Als ich ein paar Schritte den Weg hinaufging, der auf den Deich führte, konnte ich den Garten des Fährhauses sehen. Die Frau war dabei, Wäsche aufzuhängen, und hantierte zwischen vier weißen, vom Wind prallgefüllten Männerunterhosen. Ich grüßte, aber sie schien mich nicht gesehen zu haben oder sah absichtlich weg. Jedenfalls brach sie ihre Arbeit brüsk ab und ging ins Haus. Inzwischen hatte sich die Fähre herangearbeitet. Ich sah Sievert in dem kleinen Ruderhaus unmittelbar an der Bordwand. Die Fähre schob sich mit ihrem beweglichen Ende auf den Kies der Rampe, die flach ins Wasser hineinführte. Als der Lieferwagen heruntergeholpert war, betrat ich die Fähre und grüßte auch zu Sievert hinauf. Der kam auch gleich aus seinem Ruderhaus heraus, nickte mir zu, machte eine Bemerkung über das Wetter und erklärte, er habe noch schnell etwas mit seiner Frau zu besprechen. Als er zurückkam, hatte sein Gehilfe schon einen schweren Lastwagen auf die Fähre gelotst, und es ging gleich wieder nach drüben. Wohl oder übel mußte ich von der Fähre herunter. Um den Schein zu wahren, ging ich ein kleines Stück am Deich entlang und setzte mich in eine Wirtschaft, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Die Fähre würde bald wieder abfahren, aber es mußte noch einige Zeit dauern, bis sie zurückkam. Ich überprüfte noch einmal die Verdachtsmomente gegen Schramm. Kurrat war spurlos verschwunden; zwischen ihm und Schramm hatten Spannungen bestanden; Schramm war jähzornig und im Affekt zu Gewalttätigkeiten fähig, wie ich selbst es miterlebt hatte; er war als letzter mit Kurrat zusammen gewe71
sen; dies hatte er zuerst verschwiegen; niemand hatte den Sack mit den Heften gesehen; Kurrat war nach Sieverts Angaben erst mit Schramm zusammengetroffen, als er vom Fährhaus kam, und dies stand im Widerspruch zu Schramms Angaben; am Steg war ein zusammengedrehtes Taschentuch Kurrats gefunden worden. Trotz allem erschien es mir abwegig, Schramm eines Mordes zu verdächtigen. Es fehlte jedes Motiv – es sei denn, Kurrat hätte Schramm wirklich in der Hand gehabt … Eine Tat im Affekt schied auch aus. Was sollte Schramm derart in Erregung versetzt haben, daß er einen Menschen umbrachte? Ich bezahlte meinen Kaffee und ging zur Anlegestelle der Fähre zurück. Sie war schon wieder herübergekommen. Ich nickte Sievert zu und traf Anstalten, zu ihm ins Ruderhaus zu klettern. Aber da kam er mir schon entgegen und erklärte, dringend nach der Maschine sehen zu müssen. Er kam erst wieder nach oben, als die Fähre zwei Fahrzeuge aufgenommen hatte und wieder abfahren mußte. Während der Fahrt war der Aufenthalt im Ruderhaus für Fahrgäste verboten. Als die Fähre das diesseitige Ufer erreicht hatte, schickte sich Sievert an, wieder eilig in seine Wohnung zu gehen. Jetzt merkte ich deutlich, daß er mir ausweichen wollte, und das veranlaßte mich erst recht, ihn zum Gespräch zu stellen. Ich ging ihm nach, erreichte ihn an der Pforte und bat, noch einige Fragen über Kurrats letzten Besuch an ihn stellen zu dürfen. Aber bevor ich noch eine Frage vorbringen konnte, erklärte er, daß er nichts anderes sagen könne als gestern. Sonst wisse er nichts, wolle auch nichts damit zu tun haben. Es sei besser, wenn ich ihn mit dieser Sache in Ruhe ließe. Wir waren auf dem Gartenweg stehengeblieben. Da tat sich die Haustür auf, und Frau Sievert schoß auf uns zu. Ehe ich auch nur den Mund auftun konnte, schallte 72
mir ein ganzer Schwall von Gemeinplätzen entgegen, in fließendem Hochdeutsch übrigens, wenn auch mit starkem Akzent. „… und nun lassen Sie uns doch in Ruhe, Herr!“ keifte sie zum Abschluß. „Wir wissen da gar nichts drüber … Hinterher hat man nur Ärger. Und denn glauben sie einem nicht, und denn steht man da! Uns geht das gar nichts an – wir wollen da nichts mit zu tun haben! Überhaupt, wenn man …“ Ich fiel ihr endlich ins Wort und sagte etwas Sachliches, aber das brachte sie nur noch mehr in Fahrt. „Ich weiß, was ich weiß, und wenn Sie uns denn gar nicht in Ruhe lassen, von mir aus! Sehen Sie zu, wie Sie damit zurechtkommen!“ Was schließlich herauskam, war so wichtig, daß ich es nicht in ihrer unbeholfenen Ausdrucksweise wiedergeben will: Sie hatte am Dienstagabend ein Schaf vom Außendeich geholt, wo es angepflockt gewesen war. Kurrat war kurz vorher in Richtung auf den Steg fortgegangen. Dieser ist vom Fährhaus aus nicht zu sehen, obwohl er keine zweihundert Meter entfernt liegt, weil der Fluß eine Biegung macht und der Außendeich stark bewachsen ist. Frau Sievert behauptete nun, dort Geräusche gehört zu haben, die auf ein Handgemenge hindeuteten. Sie habe sich nichts dabei gedacht, weil sich dort öfter Jungen vom Internat herumbalgten. Kurz darauf habe sie dann einen schweren Gegenstand ins Wasser fallen hören. Das sei alles, und jetzt solle ich damit anfangen, was ich wolle. Bisher habe sie niemand danach gefragt. Sie drehte sich um und ging mit langsamen Schritten ins Haus zurück. Sievert blickte mich entschuldigend an und sagte: „Wir mögen mit solchen Sachen nichts zu tun haben, nichts für ungut denn auch.“ Die Auskünfte der Frau Sievert stellten mich vor eine schwere Entscheidung. Sollte ich der Polizei davon Mit73
teilung machen – war ich nicht sogar verpflichtet dazu? Aber es kam dann womöglich zu einem Verfahren gegen, Schramm, das im Interesse des Ansehens unserer Schule unbedingt vermieden werden mußte. Mit Schaudern malte ich mir die Zeitungsberichte und die Reaktion unserer Elternschaft aus. Ich beschloß, auf jeden Fall vorher noch einmal mit Schramm zu sprechen. Er verlor nicht die Fassung, als ich ihm die neue Hiobsbotschaft überbrachte, doch spürte ich seinen Schrecken. Er war kurze Zeit unfähig, überhaupt etwas zu entgegnen. Dann beteuerte er mit einem Ernst, den ich sonst bei ihm nicht kannte, daß er sich in bestem Einvernehmen von Kurrat getrennt habe, auch wenn der Schein dagegenspreche; ich möchte auch weiterhin alles versuchen, Kurrat zu finden. Er könne zwar nicht von mir verlangen, daß ich ihm glaubte, aber ich möchte seine Unschuld doch wenigstens als Arbeitshypothese akzeptieren. Ich wußte allerdings nicht, was ich noch unternehmen konnte. Wir mußten abwarten, ob sich irgendein neuer Fingerzeig bot. Es schien mir nicht klug, jetzt die Polizei über die Aussage der Frau Sievert zu unterrichten. Wenn die Polizei erst jemand dringend verdächtigt, neigt sie immer dazu, diesen Tatverdacht durch weitere Untersuchungen zu erhärten und alle Spuren außer acht zu lassen, die in eine andere Richtung führen. Falls solche Spuren nicht aufzufinden waren, konnte die Aussage der Frau Sievert immer noch verwendet werden. Es widerstrebte mir auch, daß gerade ich Schramm durch die Weiterleitung dieser Aussage hereinreißen sollte. Außerdem war es durchaus möglich, daß Frau Sievert die Geräusche am Steg mißdeutet hatte. Ich nahm mir vor, es erst einmal so zu verstehen; dies konnte mir auch als Rechtfertigung dienen, wenn man mir später vorwarf, die Aussage nicht sofort weitergeleitet zu haben. Es schien mir unter diesen Umständen besser, den Direktor vorerst nicht zu unterrichten. Ich ging ihm für 74
den Rest des Tages aus dem Wege und schrak zusammen, als er mich abends auf dem Korridor plötzlich anrief. „Ich wollte es Ihnen schon den ganzen Abend sagen, aber Sie waren ja nicht aufzufinden … Die Kriminalpolizei hat angerufen. Wir sollen eine Leiche identifizieren.“ „Eine … Um Gottes willen! Hat man Kurrat etwa gefunden?“ „Halten Sie es für möglich, daß er ertrunken ist – beim Schwimmen vielleicht?“ „Hat man ihn etwa im Fluß gefunden?“ „Eine unbekannte Leiche ist aufgefischt worden. Heute nachmittag, in der Nähe von Bilsdorf … Wir sollen sie identifizieren, wenn wir können.“ „Bilsdorf? Das liegt doch flußaufwärts … Als Kurrat mit Herrn Schramm an den Fluß ging, herrschte Ebbstrom!“ rief ich erleichtert. Der Direktor sah mich ungehalten an. Obwohl ich ihm die Ergebnisse aller meiner Nachforschungen mitgeteilt hatte, bis auf die letzte Auskunft der Frau Sievert, weigerte er sich hartnäckig, die Verdachtsmomente gegen Schramm zur Kenntnis zu nehmen. Er wollte eine solche Möglichkeit einfach nicht in Betracht ziehen. „Kurrat könnte die Nacht über irgendwo in der Nähe einen Unterschlupf gefunden haben“, sagte er. „Vielleicht hat er am folgenden Morgen im Fluß gebadet und ist dabei ertrunken. Wir wollen es nicht wünschen, aber wir werden uns die Leiche ansehen müssen. Am besten fahren Sie mit Herrn Schramm morgen früh gleich nach Bilsdorf.“ „Herrn Schramm möchte ich unbedingt heraushalten“, sagte ich mit Nachdruck. „Ich glaube auch nicht, daß es der Kriminalpolizei recht wäre, wenn Herr Schramm die Identifizierung der Leiche übernähme; abgesehen davon, daß ich es für etwas geschmacklos halte, ihn beim Stande der Dinge damit zu beauftragen.“ 75
„Wie Sie meinen“, sagte der Direktor kühl, „Sie können natürlich allein fahren.“ Ich merkte, daß er um die Identifizierung herumkommen wollte, sah aber nicht ein, weshalb ich ihm diese unangenehme Pflicht abnehmen sollte. Deshalb entgegnete ich in aller Deutlichkeit: „Ich würde es für richtig halten, wenn Sie mitfahren, Herr Direktor. Es wird sicher gewünscht, daß die Leiche nicht nur von einem identifiziert wird, und wir können diese Pflicht nicht auf Kollegen abschieben, die wir bisher an unseren Nachforschungen gar nicht beteiligt haben.“ Der Direktor erwiderte darauf nichts, nickte mir nur flüchtig zu und wandte sich verärgert ab. Mir war dieser brüske Abbruch unseres Gesprächs nicht unlieb, weil ich versucht gewesen war, ihm die Aussage der Frau Sievert doch noch mitzuteilen. Die Leiche war flußaufwärts gefunden worden. Kurrat und Schramm waren aber bei Ebbstrom an den Fluß gegangen. Vor allem an diesen Gedanken versuchte ich mich zu halten. Aber eine Leiche kann sich im Schilf verfangen; dann trägt sie vielleicht der Gegenstrom mit sich fort …
Der vierte Tag Heute besaß Schramm die Dreistigkeit, an meine Zimmertür zu klopfen. Ehe ich es mir versah, stand er auf mein „Herein!“ im Zimmer und sagte spottend: „Na, wo ist denn unser gutes Tierchen? Ich werde es doch wohl mal begrüßen dürfen!“ Ich wurde eiskalt vor Zorn, zumal Schramm mich so beziehungsvoll ansah, daß man hätte meinen können, das „gute Tierchen“ sei auf mich gemünzt. Allerdings muß ich zugeben, daß ich Schramm gegenüber nie mit der nötigen Konsequenz aufgetreten bin und bis ganz 76
zuletzt geradezu beflissen war, ihm zu helfen. Schramm zuliebe habe ich mich damals sogar auf etwas eingelassen, das für mich ein schlimmes Ende hätte nehmen können, auf jeden Fall aber beschämend war … Es wurde mir vorhin klar, daß Schramm im Ernst die Absicht hat, mir den Hund streitig zu machen. Man möge meine Empörung darüber nicht belächeln; ich hänge an dem Hund und habe ihn sechs Jahre lang als mein Eigentum betrachtet. Er lief übrigens auf Schramm zu, schien ihn auch wiederzuerkennen, aber seine Reaktion war bei weitem nicht so enthusiastisch, wie ich befürchtet hatte. Dies stimmte mich etwas versöhnlicher. Ich bot Schramm aber keinen Stuhl an und ging auf seine Bemerkungen nicht ein. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Zimmer wieder zu verlassen. Aber ich kann nicht sagen, daß ich mich danach als Sieger fühlte. Ein Gefühl des Unbehagens, ja der Scham, hinterließ auch die kurze Begegnung mit Schramm an jenem Morgen, an dem der Direktor und ich uns anschickten, nach Bilsdorf zu fahren. Wir hatten Schramm nichts über die Auffindung der Leiche erzählt und ließen ihn über unsere Absicht im unklaren. Aber irgendwie muß er es gespürt haben, daß unsere Fahrt mit ihm im Zusammenhang stand. Er nahm mich beiseite und sagte eindringlich: „Bitte, denken Sie an unser gestriges Gespräch. Ich versichere Ihnen noch einmal ausdrücklich, daß ich mit Kurrats Verschwinden nichts zu tun habe, auch wenn der Schein dagegenspricht.“ Ich gab eine ausweichende Antwort. Schramm vertraute mir, und Vertrauen sollte man eigentlich mit Vertrauen erwidern. Oder glaubte Schramm, mich für dumm verkaufen zu können? Möglicherweise stand ich schon in knapp einer Stunde vor der Leiche Kurrats. Wer konnte dann noch im Ernst annehmen, Kurrat sei beim Baden ertrunken! 77
Bis Mittag mußten wir aus Bilsdorf zurück sein. Gleich nach dem Essen wollte ich nach Hamburg fahren, um Blieske aufzusuchen. Auch hiervon wußte Schramm nichts. Dabei entschied sich heute vielleicht sein Schicksal. Bevor wir abfuhren, rief der Direktor das Gemeindebüro in Bilsdorf an und erhielt die Auskunft, daß die Leiche im Spritzenhaus zur Besichtigung bereit liege. Wir sollten uns nur vorher auf dem Büro melden, die Kriminalpolizei habe unser Kommen schon angekündigt. Während der Direktor telefonierte, sah ich die Morgenpost durch, die auf dem Schreibtisch lag. Es berührte mich eigenartig, als ich darunter eine Ansichtskarte aus Skopje fand, von dem alten Herrn Kurrat für seinen Sohn bestimmt. Uns war inzwischen mitgeteilt worden, daß Herr Kurrat sich auf einer Balkanreise befand und nach alten Bekannten suchte. Eine feste Adresse hatte er nicht hinterlassen. Man war bemüht, ihn ausfindig zu machen, hatte sich damit aber anscheinend nicht gerade beeilt. Ich reichte dem Direktor die Karte. „Ich glaube, wir müssen sie lesen“, sagte ich. „Vielleicht geht der Aufenthaltsort von Herrn Kurrat daraus hervor.“ Der Direktor überflog die Karte und schüttelte den Kopf. „Eine Adresse in Skopje ist nicht angegeben. Aber er kündigt seine baldige Rückkehr an … ‚Es geht mir gut‘, schreibt er, ‚bis auf meine Nierenbeschwerden. Einige alte Bekannte habe ich noch getroffen, aber es ist inzwischen doch zuviel Zeit vergangen. Ich freue mich auf unser baldiges Wiedersehen und grüße Dich herzlich. Dein Vater.‘ “ Wir sahen uns peinlich berührt an und hatten sicher beide den gleichen Gedanken: Vielleicht würden wir seinen Sohn heute morgen noch wiedersehen. „Haben Sie eine Vorstellung, wie eine Leiche aussieht, die einige Tage im Wasser getrieben ist?“ fragte der Direktor betont gleichgültig, als wir im Wagen saßen. 78
„Aufgedunsen wahrscheinlich“, sagte ich, „wohl auch etwas blau … Wir werden ja sehen. Wir wollen nur hoffen, daß wir unseren Kurrat nicht in so deformiertem Zustand zu sehen bekommen.“ „Ich habe es bisher immer vermeiden können, einer Leiche sozusagen ins Angesicht zu schauen. Selbst bei Angehörigen.“ Ich schwieg. „In meiner Kindheit habe ich einmal einen Schock bekommen, als ich meine Großmutter morgens wachrütteln wollte und feststellte, daß sie nur noch eine Gliederpuppe aus Fleisch und Bein war. Ich habe mich noch Jahre danach geweigert, jemanden zu wecken, aus Angst, diese Erfahrung könne sich wiederholen … Es wird Sie erheitern, aber eine Spur dieser Scheu hat sich bis heute erhalten.“ „In unserem Fall wissen wir ja sicher, daß es sich um eine Leiche handelt“, sagte ich ungerührt. Ich dachte gar nicht daran, die Identifizierung allein zu übernehmen, zumal ich den Anblick der Leiche auch fürchtete. Es verletzt die Menschenwürde, wenn ein Mensch zu einem Stück Aas wird. Mich belastete vor allem die Vorstellung, Kurrats Überreste derart entmenscht vor mir zu sehen. Wir fuhren durch den Ort, dann immer am Deich entlang, bis wir Bilsdorf erreichten. Es wunderte mich etwas, daß der Flutstrom eine Leiche überhaupt so weit flußaufwärts getrieben haben sollte. Im Gemeindebüro trafen wir nur eine Angestellte an, die uns zwei Häuser weiter wies, wo der Ortspolizist wohnte. Das Haus war durch ein Schild als Sitz des Polizeipostens gekennzeichnet. Auf unser Klopfen öffnete uns niemand. Wahrscheinlich machte sich der Polizist hinter dem Hause im Garten zu schaffen. Wir fanden ihn im Stall, der hinten an das Haus angebaut war. Er hantierte mit einigen schwärzlichen Kisten, die mir zuerst wie Kindersärge erschienen, sich aber bald durch 79
ihre vielen Luftlöcher als Fischkästen auswiesen. An den Wänden lehnten verschiedenartige Angelgeräte – Kescher, Bambusruten, Aalkörbe und dergleichen. Ich verstehe nichts davon. „Petri Heil!“ sagte ich. „Sind Sie Wachtmeister Cohrsen?“ „Jawoll, bin ich. Sie kommen wegen der Leiche, ich weiß Bescheid.“ Er trug Uniformhosen und sah in der unteren Hälfte korrekt aus. Oberhalb der Gürtellinie war er ein Zivilist mit breiten Hosenträgern über einem gelblichen wollenen Unterhemd mit langen Ärmeln. Er sprach derart heiser, daß er nur mit Mühe zu verstehen war. Kasernenhof? fragte ich mich. Oder Schnaps? „Ich bin sofort soweit“, krächzte er und schüttete aus einer Tüte etwas Weißes in einen Eimer. Dann sah er zufrieden hinein und nickte uns zu. Ich trat heran und warf höflich auch meinerseits einen Blick hinein. Der Eimer war fast bis zum Rand mit Aalen gefüllt, die einen ständig sich neu verwickelnden Knäuel bildeten. Die glatten Leiber glitten aneinander entlang, bildeten Schlingen und Knoten, die sich wieder entwirrten, bogen sich in qualvollen Windungen. „Salz“, erklärte Cohrsen. „Ich schütt’ da Salz ’rein. Dann laufen sie sich den Schleim ab.“ Angewidert wandte ich mich ab. „Dann erstatte ich hiermit Anzeige wegen Tierquälerei“, sagte ich halb im Ernst. Cohrsen lachte. „Das kennen wir hier nicht anders“, sagte er, „das sind doch bloß Aale.“ „Der Bewußtseinsgrad von Fischen ist gering“, warf der Direktor ein, hütete sich aber, in den Eimer zu blicken; „infolgedessen ist auch die Schmerzempfindlichkeit gering. Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Schmerzempfindlichkeit höher organisierter Tiere bei Aalen vorauszusetzen.“ 80
„Wir kennen das hier nicht anders“, wiederholte Cohrsen und stellte den Eimer nachdrücklich in eine Ecke. „Kommen die Herren für einen Augenblick mit ’rein? Ich will mich bloß anziehen. Dann können wir gleich gehen.“ „Verärgern Sie den Mann doch nicht“, sagte der Direktor leise und begann mit Cohrsen ein Gespräch über den Fischfang. Er zeigte dabei bemerkenswerte Kenntnisse und erstaunte mich wieder einmal mit einem Wissen, das ich nicht bei ihm vermutet hatte. Cohrsen fühlte sich angesprochen. Er bat uns in die Wohnstube und nötigte uns, Platz zu nehmen. Es kam mir etwas unpassend vor, daß der Direktor sich auf ein Gespräch über die Angelei einließ, während wir in wenigen Augenblicken vor der Leiche Kurrats stehen konnten. Aber wahrscheinlich wollte er sich ablenken, denn die bevorstehende Identifizierung ließ ihn ja keineswegs kalt. Es ergab sich, daß Cohrsen uns zum Frühstück einlud. Ich verfolgte mit Widerwillen, wie seine Frau eine Schnapsflasche, Brot, Butter und eine Schüssel mit Aal in Gelee auf den Tisch stellte. Letzteres machte auf mich den Eindruck, als wäre der sich windende Eimerinhalt plötzlich erstarrt, und ich erklärte, wegen meines Magens nichts essen zu können. Es wunderte mich, daß der Direktor es über sich brachte, davon zu essen. Die Dinge fügten sich allerdings so, daß dies die letzte Aalmahlzeit in seinem Leben werden sollte. Von der Leiche im Spritzenhaus war bisher noch nicht die Rede gewesen. Als ich sie mehrfach nachdrücklich ins Gespräch brachte, hob man die Frühstückstafel auf. Cohrsen verschwand für kurze Zeit und erschien in voller Montur als Wachtmeister Cohrsen wieder. Wir machten uns auf den Weg. „Die Leiche hat erst ’n paar Tage im Wasser getrieben“, berichtete er; „sie sieht aber nicht schön aus. Scheint kein 81
jüngerer Mann zu sein, ist aber schlecht zu sagen, weil er so aufgegangen ist.“ „Der Schüler, den wir vermissen“, sagte der Direktor, „hatte ganz dunkles Haar. Wenn die Leiche vielleicht helleres Haar hat, brauchten wir sie gar nicht erst zu besehen.“ Cohrsen schüttelte den Kopf. „Die Leiche sieht ziemlich aus“, erläuterte er. „Der obere Teil vom Kopf fehlt, ist nur der Unterkiefer noch dran.“ „Ich denke, er ist ertrunken?“ fragte ich entsetzt. „Glauben Sie, daß … Ich meine, war es mit der Axt …?“ „Das wohl nicht. Er ist in eine Schiffsschraube reingekommen. Da fehlt auch noch mehr an ihm.“ Seltsamerweise erleichterte es mich sehr, daß der Tote durch eine Schiffsschraube verstümmelt worden war. Der Direktor war ziemlich bleich geworden und sagte gar nichts mehr. Cohrsen wies auf ein Gebäude rechts von der Straße. „Unser Spritzenhaus … Denken Sie daran, daß er ziemlich aussieht.“ Er führte uns in einen kleinen Nebenraum. Der Direktor und ich hielten uns die Taschentücher vor die Nase. Man hatte einige Bretter über zwei Böcke gelegt, und darauf wölbte sich etwas unter einer braunen Pferdedecke. Cohrsen betrachtete uns voller Erwartung und enthüllte genießerisch den Leichnam, an den Füßen beginnend. Er wirkte wie ein großes, prall aufgeblasenes Gummitier. Ich konnte mir keine rechten Vorstellungen über die ursprünglichen Körperformen machen. War es Kurrat? „Die Kleider sind größtenteils von der Schiffsschraube weggerissen“, erklärte Cohrsen. „Der eine Arm fehlt auch. Den fressen die Fische.“ Als die Leiche bis zur Brust freigelegt war, wurde ich immer sicherer, daß es sich nicht um Kurrat handeln 82
konnte. Seine Haut war brauner gewesen, seine Figur schlanker. Aber die Haut der Leiche hatte sich verfärbt, und der Körper war völlig verquollen … Da entdeckte ich ein sicheres Merkmal und atmete auf: Die Leiche war auf der Brust behaart. Ich konnte mich mit Sicherheit daran erinnern, daß dies bei Kurrat nicht der Fall gewesen war. Er hatte doch noch vor kurzem eine ganze Zeit lang bewußtlos in der Turnhose vor mir gelegen, als Schramm ihn am Steg zusammengeschlagen hatte. Ich wollte die Besichtigung beenden, aber Cohrsen hielt mich zurück. „Gucken Sie sich das Gesicht noch an, oder das, was davon noch ist!“ Wir starrten schaudernd und gebannt auf den blutigen Klumpen, der einmal ein menschlicher Kopf gewesen war. „Ja“, sagte Cohrsen, zum Direktor gewandt, „wenn das Leben da ’raus ist, ist das bloß noch ein Stück Schiet, und … Ach, übrigens, wo Sie sich doch fürs Angeln interessieren und so: Aas, das ist nämlich ein guter Köder für Aale, ja? Ich meine, nicht von Menschen natürlich, aber …“ Er hielt erstaunt inne. Seine letzten Worte hatten den Direktor nicht mehr erreicht. Der hatte sein Taschentuch fest vor den Mund gepreßt und lief eilends hinaus. „Was hat er denn auf einmal?“ erkundigte sich Cohrsen mißbilligend. „ Innen ist ’n Aal doch ’rein!“ Mir reichte es auch. Ich trat mit weichen Knien vor die Tür und atmete einige Male tief durch. Der Direktor war nirgends zu sehen. „Die Herren haben schlechte Nerven“, stellte Cohrsen fest. „In meinem Beruf braucht man starke Nerven … War er es denn nun oder nicht?“ „Nein“, sagte ich, „mit Sicherheit nicht, Gott sei Dank nicht.“ „Das habe ich mir gleich gedacht. Der ist älter gewesen. Aber wo Sie sich extra den Weg hierher gemacht haben …“ „Sagen Sie dem Herrn Direktor, daß ich 83
schon zum Wagen gegangen bin“, sagte ich kurz und wandte mich ab, ohne dem Polizisten die Hand zu reichen. Der Direktor kam kurz darauf an der Seite seines Angelfreundes die Dorfstraße herunter, aber ein Gespräch schien sich nicht mehr ergeben zu haben. Als er neben mir im Wagen saß und die letzten Häuser des Dorfes hinter uns verschwanden, konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken: „Aas als Köder ist mir schon mal irgendwo in der Literatur begegnet … Außerdem, es ist ja nicht gesagt, daß der Aal in Gelee aus der Leiche stammte.“ Ich war in guter Stimmung, trotz des Anblicks, den wir überstanden hatten. Es war nicht Kurrat, der dort im Spritzenhaus lag. Während ich in flottem Tempo den Windungen der Straße am Deich entlang folgte, verhielt sich der Direktor schweigsam. Ich merkte jedoch, daß er etwas sagen wollte, und schließlich kam er damit heraus. „Ich denke die ganze Zeit darüber nach; ich hätte es wohl vorhin schon sagen sollen, aber dieser Anblick und vor allem der Geruch haben mich derartig mitgenommen … Haben Sie die kleine Wunde am Unterarm des Toten gesehen – am linken, glaube ich; es war ja ohnehin nur noch der eine da?“ Ich hatte die Wunde nicht gesehen. Der Direktor wollte nicht recht mit der Sprache heraus. Dann überwandte er sich und sagte: „Es könnte Muhl sein. Ich sah ihm kürzlich zu, als er eine Scheibe einsetzte. Er hatte die Ärmel aufgekrempelt, und ich glaube mich an die Verletzung zu erinnern. Es klebte ein Pflaster darüber.“ Ich war so überrascht, daß ich zu stark auf die Bremse trat und den Wagen schlitternd zum Halten brachte. „Wir müssen gleich zurückfahren“, sagte ich. „Jetzt, wo Sie Muhl erwähnen … Ja, es wäre möglich! Die dunklen Haare am Körper, die Figur … Aber vielleicht war der 84
Körper auch nur stark aufgedunsen. Der Kopf allerdings so gut wie unkenntlich.“ „Bitte, fahren Sie weiter“, erwiderte der Direktor. „Ich könnte den Anblick nicht noch einmal ertragen. Außerdem weiß ich es nicht genau. Da müßte wohl Frau Muhl gebeten werden. Wir könnten die Polizei entsprechend unterrichten.“ Wir beschlossen, Frau Muhl die schreckliche Möglichkeit nicht selber zu eröffnen. Nach unserer Rückkehr rief der Direktor bei der Polizeibehörde an, und man versprach uns, daß am Nachmittag ein Beamter kommen werde, um Frau Muhl möglichst noch heute nach Bilsdorf zu fahren. Gleich nach Mittag setzte ich mich wieder ins Auto und fuhr nach Hamburg. Ich ließ es darauf ankommen, Blieske zu verfehlen, denn das Gespräch mit ihm duldete keinen Aufschub. Was ich zum Fall Kurrat, der allmählich zu einem Fall Schramm wurde, erfahren hatte, konnte ich auf die Dauer der Polizei nicht vorenthalten. Es machte mir viel Mühe, die auf dem Brief Kurrats angegebene Straße zu finden. Ich bin es nicht gewohnt, in der Großstadt zu fahren, mußte auf den Verkehr achten und außerdem noch die Straße suchen. Als ich sie endlich gefunden und eine günstige Parkmöglichkeit ausgemacht hatte, war ich völlig erschöpft. Es war spät geworden, ich hatte mich mehrfach verfahren. Für eine Tasse Kaffee blieb keine Zeit. Ich mußte jetzt gleich versuchen, Blieske anzutreffen. Die Häuserfront hatte nahezu unbeschädigt den Krieg überstanden. Fast mußte ich es bedauern. Hohe, sechsstöckige Mietshäuser aus der Zeit der Jahrhundertwende, schwärzliches Stuckgekröse an den Wänden, abbröckelnder Putz. Als ich das Haus gefunden hatte und die Außentür hinter mir zufallen ließ, fühlte ich mich förmlich verschluckt. Es war dunkel und roch nach Moder, menschlichem Mief 85
und abgestandenem Essen. Ich quälte mich mühsam die dunklen Treppenwindungen hinauf, entzifferte im ersten und im zweiten Stock hoffnungsfroh die Türschilder, entdeckte aber den Namen Blieske nicht. Aus der Anschrift auf dem Briefumschlag ging nicht hervor, in welchem Stockwerk er wohnte. Ich wollte nicht Gefahr laufen, unnötig Treppen bewältigt zu haben, und klingelte wahllos an einer Tür im zweiten Stock. „Blieske? Ach so, der Student … Ganz oben, im Dachgeschoß.“ Als ich den fünften Stock erreicht hatte, war ich am Ende meiner Kraft. Ich bin etwas herzleidend, und das Treppensteigen macht mir Schwierigkeiten. Mit Besorgnis dachte ich daran, daß ich Blieske vielleicht nicht antraf und die Kletterei in zwei Stunden wiederholen mußte. Es war zu optimistisch gewesen, auf gut Glück hierherzufahren … Für wen nahm ich solche Mühen eigentlich auf mich – für Schramm? Für Kurrat? Oder hatte mich etwa nur eine ordinäre Jagdlust gepackt? Als ich mit fliegendem Atem und rasendem Puls das Dachgeschoß erreicht hatte, verlor ich alle Hoffnung, Blieske anzutreffen. An einer der braungestrichenen Türen entdeckte ich ein Pappschild: Ulrich Blieske. Ich klopfte und erschrak, als sofort ein helles „Herein!“ ertönte. Ich hätte einen Augenblick warten müssen, Luft schöpfen, zu Atem kommen. Mein Puls hüpfte, als ich die Tür öffnete; ich merkte, daß ich kaum sprechen konnte. Auf einer Liege lag ein junges Mädchen. Offenbar hatte sie zuerst nicht die Absicht aufzustehen, aber wahrscheinlich mißdeutete sie meinen körperlichen Zustand, sprang erschreckt auf und fixierte mich, der ich schwer atmend, verschwitzt und mit hochrotem Kopf vor ihr stand und mühsam abgerissene Worte hervorstotterte. Aber im ganzen muß ich wohl doch einen vertrauenerweckenden Eindruck gemacht haben, denn sie sagte: „Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank?“ 86
„Die Treppen …“, stieß ich hervor; „die sechs Treppen.“ Sie zeigte sich mitfühlend. „Ja, ja“, sagte sie „in ihrem Alter ist das nicht mehr das Richtige … Kommen Sie, setzen Sie sich hierher. Ruhen Sie sich erst mal aus.“ Ich sank auf die Liege. Sie war so weich, daß ich fast in die Rückenlage geriet. Meine Gastgeberin befreite inzwischen die einzige in dem Zimmer außerdem noch vorhandene Sitzgelegenheit von Heften, Büchern, schmutziger Wäsche und einem Marmeladenglas. Dann setzte sie sich, schlug mit Eleganz die Beine übereinander, zog den Rock übers Knie, nachdem sie mir die Möglichkeit des Einblicks gewährt hatte, und sah mich interessiert an. „Ich habe Ihren Namen eben nicht verstanden“, sagte sie. „Zu Ulli wollen Sie? Er muß gleich zurückkommen; er wollte nur Zigaretten holen.“ Ich nannte meinen Namen, fügte Titel und Amt hinzu, um wenigstens hierdurch mein zur Zeit etwas klägliches Ansehen zu heben. Sie schien nicht beeindruckt, hob nur ein wenig ihre viel zu schwarz getuschten Augenbrauen. „Besuchen wollen Sie Ulli? Als ehemaliger Lehrer?“ Eine solche Absicht schien nicht zu den Vorstellungen zu passen, die sie hinsichtlich eines Lehrers hegte. Sie sah übrigens nicht schlecht aus, hatte sich nur zu extravagant hergerichtet: glattes, dunkles Haar, Lippen blaßviolett, Augen durch schwarze Tuschstriche verunziert … Ich rang noch immer nach Atem. „Aber Sie kriegen doch wohl keinen Infarkt?“ sagte sie besorgt. „Legen Sie sich doch hin! Die Beine hoch!“ Energisch stieß sie mich vollends zurück, hob meine Beine auf die Liege, beugte sich über mich und sah mir forschend ins Gesicht. „Soll ich Ihnen meine Zunge zeigen?“ fragte ich. Aber sie merkte die Ironie nicht und war sichtlich ungehalten, 87
als ich mich wieder aufrichtete. Gerade rechtzeitig, denn die Tür flog auf, und herein kam Blieske. Ich hätte ihn auf der Straße nicht erkannt. Er trug einen blonden Vollbart, soweit sein schütterer Bartwuchs dafür ausreichte. „Herr Doktor!“ rief er, fast ein wenig erschrocken. „Das ist aber eine Überraschung … Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“ Er riß hastig seine Packung auf und hielt sie mir hin. „Und einen Whisky vielleicht? Es ist doch noch welcher da, Lonnie?“ Es war keiner mehr da. Hinter einem Vorhang in einer Nische sah ich eine ganze Batterie von leeren, verstaubten Flaschen, sorgsam aufgehobene Trophäen eines unsoliden Lebens, das man sich selbst immer wieder zu bestätigen sucht. „Ich komme nicht ganz ohne Grund zu Ihnen, Herr Blieske“, sagte ich. Es fällt mir immer schwer, einen ehemaligen Schüler, den ich jahrelang nur mit seinem Nachnamen angeredet habe, plötzlich „Herr“ zu titulieren. „Herr Blieske“, sagte ich noch einmal ganz betont, um mich daran zu gewöhnen, „natürlich interessiere ich mich auch für Ihr Ergehen und freue mich, Sie einmal wiederzusehen, aber ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen im Zusammenhang mit Ihrem Freund Kurrat, um den wir uns große Sorgen machen … Sie wohnen hier übrigens nett. Ihre Freundin – ich darf doch so sagen – war so freundlich, mich zu empfangen.“ „Hier war gestern einer von der Polizei und hat nach Kurrat gefragt“, sagte Blieske. „Wenn Sie meinen, daß er sich bei mir aufhält – tut mir leid. Ich hab’ ihn zuletzt Ostern gesehen. Seitdem nicht mehr.“ „Ich habe damit nicht gerechnet“, sagte ich. „Unter anderem wollte ich Ihnen einen Brief bringen, den wir in Kurrats Schrank gefunden haben, an Sie adressiert, aber nicht beendet. Wir haben uns erlaubt, ihn zu lesen, weil wir einen Anhaltspunkt für Kurrats Verschwinden suchten.“ 88
Blieske war über Kurrats Verbleib offenbar wirklich nicht orientiert, oder sein Interesse war gespielt. Ich mußte ihm alles genau erzählen, verschwieg aber natürlich die Verdachtsmomente hinsichtlich Schramms. Blieske schien zuversichtlich. „Das hab’ ich mir schon gedacht, daß der Junge noch mal durchbrennt. Dem ist bestimmt nichts passiert. Wenn der was macht, hat er es sich vorher genau überlegt … Aber daß er die dreiundfuffzig Mark zurückgelassen hat, das paßt nicht zu ihm. Das ist bedenklich.“ Ich ging nicht darauf ein, denn ich wollte Blieske nicht darauf bringen, daß etwas anderes vorliegen könnte als Flucht. Dann wären meine Fragen in bezug auf Schramm zu kompromittierend gewesen. Ohnehin konnte ich über so heikle schulische Dinge nicht in Gegenwart des Mädchens sprechen. „Ich möchte gern unter vier Augen mit Ihnen reden, Blieske“, sagte ich. Und zu dem Mädchen gewandt: „Seien Sie bitte nicht böse, Sie haben mich so nett empfangen, aber es handelt sich um schulische Dinge. Verstehen Sie bitte!“ Sie verstand nicht und schob die Unterlippe vor. „Ulrich erzählt es mir nachher doch“, sagte sie. „Da kann ich ebensogut dabeisein.“ „Aber wenn er doch … Wenn Herr Doktor doch … Lonnie, sei so lieb … Ach, jetzt fang doch nicht gleich die Tour an …“ Blieske war sehr darum besorgt, sein Mädchen bei Stimmung zu halten, und ich hatte ein Einsehen. Wer weiß, um was ich ihn brachte, wenn ich sie weiter vor ihr bemaltes Köpfchen stieß. „Ich lade Sie ein, Blieske“, sagte ich, „dann kann Ihre Freundin hier auf Sie warten. Ich kann wirklich nur unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Verstehen Sie das bitte.“ Die beiden einigten sich nach einigem Hin und Her. Das Mädchen gab mir herablassend die Hand. „Als Sie kamen, gefielen Sie mir besser!“ rief sie mir noch nach. 89
Es ging die sechs Stockwerke wieder hinunter; abwärts machte es mir keine Mühe. „Sie haben ein nettes Zimmer“, sagte ich, „so als Studentenbude.“ „Hauptsache, daß einen keiner kontrolliert“, meinte Blieske. „Hier kommt und geht, wer will.“ „Setzen wir uns in der Nähe in eine Kneipe“, schlug ich vor, bemüht, mich Blieskes Lebensstil anzupassen. „Wenn Sie Ihren Wagen hier haben“, erwiderte er, „hätte ich nichts dagegen, ein paar Ecken weiter zu fahren. Hier ist kein passendes Lokal für Sie … Wir sollten vielleicht etwas essen, Sie sehen ganz erledigt aus.“ Wir stiegen in meinen Wagen. Die Zahl der Ecken, die wir umfuhren, übertraf meine Erwartungen erheblich. Wir gerieten in eine bessere Gegend, wo mich Blieske schließlich auf einen Parkplatz lotste. Das Restaurant, das er uns bestimmt hatte, sah schon von außen teuer aus. Ich muß zugeben, daß ich ungern in Lokalen viel Geld ausgebe. Aber ich hatte Blieske eingeladen und mußte ihn bei Stimmung halten, wenigstens so lange, bis ich die gewünschten Auskünfte hatte. Das Lokal entsprach meinen Erwartungen: dicke Teppiche, Garderobenabgabe, Kellner im Frack, gedämpftes Geschirrklirren, wenige Gäste. Ich warf einen schrägen Blick auf meinen Begleiter, der mit seinem struppigen Bart und dem ausgeweiteten Pullover schlecht in diese Umgebung paßte. Auch der Kellner bedachte ihn mit einem Seitenblick, als er uns die Karten brachte. „Ich möchte nur eine Kleinigkeit essen“, sagte ich betont, zu Blieske gewandt. Blieske wählte mit sichtlichem Behagen. Er entschied sich für Schinken in Burgunder. Ich begnügte mich in Anbetracht der reichlich überhöhten Preise mit einer Pastete. „Kommen wir zur Sache“, sagte ich, „Ihr Freund Kurrat hat seinen Stubengenossen gegenüber etwas über 90
Herrn Schramm geäußert, das er von Ihnen gehört haben will.“ „Kurrat kann ihn nicht leiden. Wahrscheinlich hat er übertrieben.“ „Wissen Sie, weshalb er ihn nicht leiden kann?“ „Nee … Na ja, Herr Schramm ist wohl manchmal ein bißchen ‚braun‘ in seinem Geschichtsunterricht, und damit hat Kurrat nichts im Sinn.“ Ich ging darüber hinweg; ein derartiger Gesichtspunkt sollte nicht auch noch ins Gespräch kommen. „Und wo Herr Schramm ihn jetzt auch noch verprügelt hat“, setzte Blieske hinzu. „Was soll ich denn über Herrn Schramm gesagt haben?“ „Zum Beispiel, daß manchmal Arbeitsthemen vorher bekannt waren“, deutete ich vorsichtig an. „Na ja, man konnte sie manchmal erraten. Herr Schramm gab meistens vorher Vokabeln, und wir wußten von älteren Schülern, welche Texte er besonders gern gab … Gesagt hat er die Themen nicht, und daß wir sie manchmal herauskriegten, wußte er nicht.“ „Und so war es auch mit dem Abiturthema?“ „Dazu möchte ich lieber nichts sagen. Sie verstehen.“ Der Kellner stellte ein kleines Tischchen heran und rückte darauf zwei Warmhalteplatten zurecht. Dann brachte er mehrere verdeckte silberne Schüsseln. Blieske zeigte keine Neigung, das Gespräch fortzusetzen, und verfolgte genießerisch, wie der Kellner uns das Essen vorlegte. „Wollen wir uns doch nicht die Mahlzeit durch unangenehme Schuldinge verderben“, sagte er. Dann aß er langsam und mit Bedacht. „Sie nehmen Anstoß daran“, sagte er nach einer Weile, „daß ich die Kartoffeln mit dem Messer schneide … Eines der unsinnigen Dinge, die ‚man‘ nicht tut. Ich zwinge mich dazu, mich über solche Konventionen hinwegzusetzen. Sie werden sehen, daß ich auch unter den Augen des Kellners die Kartoffeln schneide.“ 91
Er tat es, aber der Kellner nahm keine Notiz davon. „Wenn ich einmal sagen darf“, meinte Blieske, „Sie behandeln den Kellner nicht als Kellner. Dadurch bestärkt man diese Leute in ihrer Blasiertheit. Je arroganter sie tun, desto auffälliger muß man ihnen am Schluß ein möglichst kleines Trinkgeld geben. Auf diese Art werden sie gedemütigt.“ Mir lag eine passende Antwort auf der Zunge, aber ich wollte Blieskes Laune nicht verderben, weil ich noch einiges von ihm wissen mußte. „Herr Schramm soll manchmal auch nicht alle Fehler angestrichen haben“, nahm ich den Faden vorsichtig wieder auf. „Na ja, hin und wieder hat er einen übersehen.“ Mit solchen Auskünften konnte ich nichts anfangen. „Darf ich noch einen Nachtisch für Sie bestellen?“ fragte ich. Blieske durchforschte die Speisekarte. „Sie sind sehr liebenswürdig. Dies hier bitte: Hummercocktail.“ Über sechs Mark! Ein Blick zeigte es mir. Aber ich konnte beruhigt sein. „Das ist ein Vorgericht“, sagte ich lächelnd. „Sie müssen jetzt eine Nachspeise wählen.“ „Das sind doch nichts als Konventionen! Beweisen wir unsere innere Unabhängigkeit, indem wir nach dem Hauptgericht ein Vorgericht bestellen. Schockieren wir diesen Affen!“ Blieske bekam seinen Hummercocktail. „Es soll vorgekommen sein, daß Herr Schramm einzelne Schüler bevorzugt hat“, bohrte ich hartnäckig weiter. Offenbar mußte ich etwas deutlicher werden. „Nein“, sagte Blieske, „nie. Wenigstens habe ich das nie behauptet. Wenn Kurrat das erzählt hat …“ Er schien ehrlich gekränkt zu sein. „Kurrat hat noch mehr erzählt.“ Ich wurde jetzt ganz deutlich. „Sie sollen gesagt haben, Herr Schramm habe von bestimmten Eltern sogar Geschenke angenommen.“ „Der Grüter hat ihm mal ein Buch geschenkt. Wenn 92
Sie das meinen … Er war lange krank gewesen, und Herr Schramm hat ihm kostenlos Privatstunden gegeben, jede Woche. Das Buch war doch nur eine kleine Anerkennung.“ Ich hatte Grund aufzuatmen. Das mögliche Motiv Schramms zerrann wie Wasser. Blieske liebäugelte wieder mit der Speisekarte. „Sie waren so nett, mich einzuladen“, sagte er. „Ich möchte das nicht etwa ausnutzen, aber ich habe noch nie echten englischen Plumpudding gegessen, und den gibt es hier. Auf meine Rechnung dann. Darf ich für Sie auch …?“ „Bestellen Sie schon, in Gottes Namen!“ Es kam jetzt auf ein paar Mark mehr oder weniger nicht mehr an. „Hat Herr Schramm später in Grüters Arbeiten Fehler mit blauer Tinte verbessert und nicht angestrichen?“ fragte ich ganz direkt. „Nein; das muß Kurrat falsch verstanden haben. Er hat Grüters Arbeiten immer besonders genau durchgesehen und jeden einzelnen Fehler ausführlich berichtigt, aber natürlich auch angestrichen.“ Jetzt war nur noch eine Frage erforderlich: „Glauben Sie, daß etwas dahintersteckte, wenn Kurrat behauptete, Herrn Schramm aus irgendwelchen Gründen in der Hand zu haben?“ „Hm … Nein. Kurrat macht sich manchmal ganz gern wichtig. Ich glaube nicht, daß Herr Schramm sich überhaupt etwas zuschulden kommen läßt, und ich verstehe gar nicht, weshalb Sie auf solches Gerede hören.“ Das war etwas unverschämt. Aber von den Verdachtsmomenten gegen Schramm wollte ich Blieske nichts sagen. Sollte er doch von mir denken, was er wollte. „In dem Brief, den ich Ihnen übergab“, fuhr ich fort, „ist unten auf der Seite von jemandem die Rede, der Kurrat zum Teufel wünscht. Leider bricht der Satz hier ab. Könnte Kurrat vielleicht Herrn Schramm gemeint haben?“ 93
„Kann sein“, sagte Blieske mürrisch. „Oder auch jemand anders – was weiß ich?“ Der Plumpudding wurde serviert. Ich nahm mir vor, Blieske ein wenig den Appetit zu verderben. „Heute morgen habe ich übrigens schon einen Toten identifizieren müssen, den man aus dem Wasser gezogen hat.“ „Aufgeblasen und blau wie ein Ballon.“ Blieske nickte sachkundig und führte sich ein großes Stück Plumpudding zu. „Der Kopf war von einer Schiffsschraube halb abgeschlagen.“ Blieske hörte für einen Augenblick auf zu kauen und sah interessiert auf. „Ein Bekannter von Ihnen?“ „Möglicherweise Muhl, unser Hausmeister. Wir sind durch eine Verletzung am Arm des Toten daraufgekommen.“ „Selbstmord oder Unfall?“ fragte Blieske mit Kennermiene und vollem Mund. „Wie kommen Sie auf Selbstmord?“ „Na ja, der gute Muhl war ja wohl in mancher Hinsicht … eh … nicht so ganz astrein.“ „Wie meinen Sie das?“ Ich stellte mich ahnungslos. „Ach Gott …“ Blieske kaute heftig. „Er soll ja wohl mal was mit Jungens gehabt haben und so … Ich will aber nichts gesagt haben.“ „Ist etwa zwischen ihm und Kurrat …?“ „Das glaube ich nicht, aber Kurrat ist in dieser Hinsicht ein Aas. Er hatte es darauf angelegt, ihm den Kopf zu verdrehen. Gerade weil Muhl immer so unzugänglich und unfreundlich tat.“ „Ich weiß, daß unter den Jungen einiges geredet wird“, räumte ich ein; „es lief sogar das Gerücht um, Muhl habe Kurrat um die Ecke gebracht. Aber das ist doch wohl Unsinn.“ Blieske wiegte den Kopf hin und her. „Kurrat läßt sich 94
nicht so leicht umbringen, aber er hat Muhl ganz schön in die Enge getrieben … So was machte er mit Vorliebe, auch Schülern gegenüber. Es haben viele Angst vor ihm, aus allen möglichen Gründen. Aber ich will ihn nicht schlechtmachen; er hat auch seine guten Seiten.“ Ich beschloß, nicht weiter in Blieske zu dringen. Wenn an den Gerüchten über Muhl etwas Wahres war, rührte man am besten nicht daran, zumal Muhl ja bei uns keinen Schaden mehr anrichten konnte. Ich winkte den Kellner heran. „Geben Sie ihm ein kleines Trinkgeld, aber auffällig“, flüsterte Blieske eindringlich. „Zeigen Sie Zivilcourage!“ Ohne darauf zu reagieren, rundete ich den recht erheblichen Rechnungsbetrag großzügig ab und erhob mich wortlos. Blieske folgte mir nach draußen. Er lächelte nachsichtig. Als er sich wartend neben die rechte Wagentür stellte, stieg mir die Galle hoch. „Es sind doch nur ein paar Ecken bis zu Ihrer Wohnung, wie Sie vorhin sagten“, erklärte ich kühl. „Ich fahre in die andere Richtung. Ein kleiner Spaziergang wird Ihnen nach dem ausgiebigen Essen guttun.“ „Ich danke für die Einladung“, sagte er mit Haltung, „obwohl Geben ja seliger ist, denn Nehmen.“ „Seit wann kennen Sie sich in frommen Sprüchen aus?“ Blieske lächelte. „Vielleicht sattle ich auf Theologie um.“ „Wenn ich einmal geistlichen Zuspruch brauche, werde ich an Sie denken“, sagte ich abschließend und schlug die Wagentür zu. Eigentlich konnte ich mit dem Ergebnis der Unterredung zufrieden sein. Es gab für Schramm nach wie vor kein Motiv. Ich hätte mich darüber freuen müssen. Aber ich war ärgerlich, fast wütend – und nicht nur, weil Blieske mich geschröpft hatte. Es war vertrackt: Gegen Schramm sprachen viele Verdachtsmomente, 95
aber es ließ sich kein Motiv finden. Muhl hatte vielleicht ein Motiv gehabt, aber hier fehlten wieder die Verdachtsmomente. Als ich müde und zerschlagen wieder zu Hause ankam, bat mich der Direktor in sein Amtszimmer, drückte mir warm die Hand und sagte nur: „Ich bin so froh … Er ist es nicht.“ Erleichtert sank er in den Sessel hinter seinem Schreibtisch. Ich atmete auf. „Hat man die Leiche identifiziert?“ „Ja. Es soll ein Landarbeiter sein. Er hat sich die Tage vorher herumgetrieben und ist wahrscheinlich betrunken ins Wasser gefallen … Ich bin so froh, daß es Muhl nicht ist. Erst ein Schüler spurlos verschwunden, dann der Hausmeister ertrunken aufgefunden – das wäre zuviel! Man hätte Zusammenhänge herauskonstruieren können!“ Er wollte damit das Gespräch beenden. „Ich habe in Hamburg einiges in Erfahrung gebracht“, sagte ich, „was Sie interessieren wird, Herr Direktor.“ Er sah mich unfreundlich an. „Lieber Herr Kollege, glauben Sie eigentlich, daß Sie der Schule oder sonst jemandem einen Dienst erweisen? Sie säen Zwietracht, bringen einen langjährigen, geachteten Kollegen in einen unsinnigen Verdacht und betreiben eine … eh … eine Schnüffelei; jawohl, Schnüffelei, die einfach unter Ihrer Würde ist!“ Ich holte tief Luft. „Herr Direktor, ich bedaure es, daß Sie meine Bemühungen so einschätzen. Alles, was ich unternommen habe, sollte lediglich der Entlastung von Herrn Schramm dienen, der durch einige unglückliche Umstände in einen, ich gebe es zu, unsinnigen Verdacht geraten ist. Leider haben alle meine Ermittlungen ihn nicht entlasten können, sondern ihn im Gegenteil weiter belastet. Gerade deshalb darf nichts unversucht bleiben, Klarheit zu schaffen. Und ich glaube, im Interesse der Schule ist es besser, wenn ich diese Aufgabe auf mich nehme, anstatt sie der Polizei zu überlassen.“ 96
Der Direktor versuchte darauf, seine Worte abzuschwächen und sie auf seine nervliche Überreiztheit zu schieben. „Und gerade heute“, setzte ich gekränkt hinzu, „kann ich Ihnen mitteilen, daß die Äußerung Kurrats, er habe Herrn Schramm in der Hand gehabt, offenbar völlig aus der Luft gegriffen ist. Trotz aller Verdachtsmomente fehlt also nach wie vor jedes Motiv, und der Verdacht bleibt unsinnig, wie Sie ganz richtig sagen.“ Der Direktor reichte mir noch einmal die Hand. „Ich sehe ein, daß ich Ihre Bemühungen wohl falsch beurteilt habe. Aber manchmal haben sie auf mich wie nackte Jagdlust gewirkt … Entschuldigen Sie bitte.“ Ich war entlassen. „Hätten Sie an einen Selbstmord Muhls geglaubt?“ fragte ich Schramm, den ich auf der Treppe traf. „Jedenfalls hat er gefürchtet, mit dem Verschwinden Kurrats in Zusammenhang gebracht zu werden“, meinte Schramm. „Wer weiß, was alles herauskommt, wenn man dem Gerede unter den Schülern wirklich nachgeht.“ „Meinen Sie, daß Muhl ein Mann ist, der sich seines Ansehens wegen das Leben nehmen könnte?“ „Nicht gerade seines Ansehens wegen, aber aus Schreck darüber, in die Enge getrieben zu sein. Ich kann mir schon vorstellen, daß jemand, für den es kein Entrinnen mehr gibt, den Tod wählt, um sich mit Anstand aus der Affäre zu ziehen.“ „Ich muß Ihnen noch eine Frage stellen: Vorausgesetzt, Muhl hatte ein echtes Motiv – glauben Sie, daß er Kurrat umgebracht haben könnte?“ „Kurrat ist einfach durchgebrannt, davon bin ich überzeugt. Gedulden Sie sich noch einige Tage; er wird wieder auftauchen.“ Aus Schramms Worten klang so viel Zuversicht, daß 97
ich fast geneigt war, seine Überzeugung zu teilen. Wenn es wirklich seine Überzeugung war … Obwohl ich todmüde war, fand ich an diesem Abend keine Ruhe. Ich wanderte in meinem Zimmer auf und ab und begab mich gegen elf Uhr sogar noch auf einen Rundgang durch das ganze Gebäude. Als ich den Korridor abschritt, an den die Schlafräume der Mittelstufenschüler grenzten, sah ich etwas über den Gang huschen. Es drückte sich hinter einen Mauervorsprung, und als ich herangekommen war, sah ich den Quintaner Rehbein im hellblauen Schlafanzug vor mir. Er mußte aus einem der Tertianer-Schlafräume gekommen sein und hatte sich somit eines Verstoßes gegen die Hausordnung schuldig gemacht. Mit einer Bestrafung hatte er zu rechnen, aber dazu stand seine offenkundige Angst in keinem Verhältnis. Auf meine Frage, was er in dem fremden Zimmer zu suchen habe, erhielt ich nur eine unzusammenhängende Antwort. Was sollte er allerdings auch sagen; eine Rechtfertigung war hier nicht möglich. Hätte der Junge nicht einen so verstörten Eindruck gemacht, hätte ich mich fürs erste vielleicht mit einigen energischen Worten begnügt. So aber war mein Spürsinn angerührt, und ich beschloß, dem Gemütszustand Rehbeins auf den Grund zu gehen. Er mußte seinen Bademantel anziehen, und ich nahm ihn mit in mein Amtszimmer. Inzwischen hatte er sich etwas gefaßt, war aber noch immer bleich und fahrig. Nach bewährtem pädagogischem Rezept legte ich es zuerst einmal darauf an, ihn sicherer zu machen, ihm das Gefühl zu geben, daß ich ihm helfen wolle. „Warum warst du so verstört, als du mir eben über den Weg liefst?“ fragte ich milde. „Hattest du solche Angst, von mir erwischt zu werden?“ „Nein“, sagte er, „das war es nicht.“ 98
„Haben dir die Jungen, in deren Zimmer du warst, solchen Schrecken eingejagt? Was wolltest du denn dort?“ „Es ist, weil … Ich bin diese Nacht allein in unserem Zimmer“, sagte er leise. Das stimmte. Seine beiden Schlafgenossen waren abwesend, der eine lag mit Grippe im Krankenzimmer, der andere war für zwei Tage beurlaubt. „Und da hat ein Junge von zwölf Jahren Angst? In einem Haus voller Menschen?“ „Sonst nicht“, murmelte er leise. „Ich meine, normalerweise nicht.“ „Und warum heute? Na los, sag’s schon! Es passiert dir nichts.“ Er druckste einige Zeit herum. „Den andern auch nicht?“ „Auch nicht, wenn du mir sagst, was los war.“ Er stockte wieder; es fiel ihm schwer, Worte zu finden. „Es ist wegen Kurrat“, sagte er, „ich habe ihn gesehen.“ Mir blieb fast die Luft weg. „Kurrat? Wann? Wo?“ „Gestern nacht … Und heute nacht kommt er vielleicht wieder.“ Rehbeins Stimme klang heiser. „Wo hast du ihn gesehen?“ „Bei Sickelka im Zimmer, gestern – und heute vielleicht bei mir, aber ich bleib da nicht, ich bleib da auf keinen Fall!“ „Heute nacht wollte er wiederkommen?“ Ich wagte es kaum auszusprechen. „Weißt du denn, wo er sich aufhält?“ „Nein, so ist es nicht“, sagte er gequält. „Er … Ich meine, er war nicht so richtig da. Er ist doch tot.“ Ich faßte Rehbein unsanft vorn an seinem Bademantel und zog ihn hoch. „Siehst du Gespenster, oder willst du mich zum Narren halten?“ fuhr ich ihn an. Auf Rehbein schien meine Grobheit ganz wohltuend 99
zu wirken. „Sickelka hat eine Sitzung gemacht“, sagte er mit festerer Stimme. „Er hat es von seiner Mutter gelernt. Wir haben ihn zitiert.“ Mein verächtliches Lachen machte den Jungen sicherer. Seine Scheu ließ nach. Es war mir bekannt, daß Sickelkas Mutter sich nach dem Tode ihres Mannes dem Spiritismus verschrieben hatte. Die Eltern von Internatsschülern fallen häufig etwas aus dem Rahmen des Üblichen, entweder durch ihre Vermögensverhältnisse oder durch persönliche Extravaganzen. Sickelka war sozusagen unter rückenden Tischen, Seelenplasma und Rotlicht aufgewachsen. Dies hatte seinen Geist derartig verwirrt, daß ein weiterer Aufenthalt zu Hause nicht mehr zu verantworten war. Mit fünfzehn Jahren kam er an unsere Anstalt. Er war ein langaufgeschossener, rothaariger Junge und renommierte seinen Altersgenossen gegenüber mit seinen Beziehungen zu einem siebzehnjährigen Medium. Von Frau Sickelka erfuhr ich, daß dieses Mädchen, wohl angeregt durch Rotlicht, Samtvorhänge und Diwane, versucht hatte, ihren Sohn zu verführen. Dies war ausschlaggebend für seine Unterbringung im Internat gewesen. Wir hatten viel Mühe darauf verwandt, dem Jungen seine spiritistischen Ambitionen auszutreiben, aber scheinbar hatte er einen Rückfall erlitten. „Los, erzähl!“ sagte ich. „Es ist telekinetisch“, begann Rehbein; „es materialisiert sich, was in einem Medium vorgeht. Ich hab’s zuerst nicht geglaubt, aber … Man erkennt es deutlich; es ist etwas durchsichtig.“ „Nun mal der Reihe nach“, unterbrach ich ihn. „Ort, Zeit und Personen der Handlung zuerst!“ „Gestern abend nach zehn in Sickelkas Zimmer. Er hat schon öfter erzählt, daß er es kann. Er hat sich einen Tisch besorgt, mit dem es geht. Er muß rund sein, mit drei Beinen und ganz geleimt, das heißt, es dürfen keine 100
Nägel darin sein. Eisen wirkt abstoßend. Es muß auch dunkel sein, bis auf eine rote Lampe, sonst funktioniert es nicht … Wir haben uns mit fünf Mann um den Tisch gesetzt und unsere Hände auf die Platte gelegt. Es muß eine Kette entstehen. Dann muß man sich konzentrieren. Sickelka wollte mit Kurrat Kontakt aufnehmen, weil wir Kurrat doch alle kennen und an ihn denken können. Es hat einige Zeit gedauert. Ich dachte schon, es kommt nichts, aber auf einmal fing der Tisch an zu wackeln. Es war ganz komisch und kam auch nicht von uns. Es kam ganz unregelmäßig, mehrere Stöße hintereinander, ganz hastig und dann wieder sachte. Wir haben nichts dazu getan. Dann haben wir Fragen gestellt. Einer fragte, ob da jemand ist, und der Tisch schaukelte wie wild. Dann sagte einer: Zweimal klopfen heißt ‚nein‘, einmal klopfen ‚ ja‘. Und dann hat jeder Namen von Leuten genannt, die tot sind, und gefragt, ob sie es waren. Der Tisch hat immer zweimal geklopft, bis einer fragte, ob es Kurrat ist. Da hat der Tisch einmal stark aufgeschlagen. Und dann haben wir gefragt, was es war – Selbstmord, Unfall oder Mord. Bei Mord hat er einmal geklopft. Und dann fragte einer, ob Kurrat uns erscheinen wollte. Erst klopfte der Tisch zweimal, aber wir haben wieder gefragt, und da klopfte er einmal – nur ganz schwach. Es kam eine lange Zeit nichts. Sickelka fing an zu stöhnen und schwenkte den Kopf hin und her. Ich hatte es erst gar nicht gesehen, aber ich merkte, daß die anderen in die Ecke am Fenster guckten … Man konnte erst nichts erkennen, aber dann wurde es deutlicher, und es war Kurrat. Da bin ich rausgelaufen. Die anderen haben mich zurückgeholt, aber es war nichts mehr zu sehen …“ Rehbein war bei seiner Erzählung öfter ins Stocken geraten, und ich mußte ihn durch Zwischenfragen bis ans Ende bringen. An die Möglichkeit eines Schwindels schien er gar 101
nicht zu denken. Aber schließlich war er erst zwölf Jahre alt, und die anderen vier Teilnehmer der Sitzung hatten sich vorher abgesprochen. Rehbein galt als etwas furchtsam, besaß eine rege Phantasie und schlief gerade allein in seinem Zimmer. Die vier hatten dies ausgenutzt, um ihr Spiel mit ihm zu treiben. Es kam jetzt für mich darauf an, Rehbein wirklich davon zu überzeugen, daß er beschwindelt worden war. Mir war klar, daß Worte hierzu nicht ausreichten. Was er erlebt und gesehen hatte, mußte immer die stärkere Wirkung haben. Befremdlich war, daß Rehbein fest dabei blieb, Kurrat gesehen zu haben. Es mußte sich wohl um eine Halluzination handeln, hervorgerufen durch die intensive seelische Anspannung Rehbeins, die auf Kurrat gerichtet war. So sind sicherlich viele angebliche Geistererscheinungen zu erklären, auch bestimmte Erscheinungen frommer Natur. Es wäre voreilig, Spiritismus schlechthin als Humbug abzutun. Auch Glaubensinhalte sind, von der Warte menschlicher Erfahrung aus betrachtet, im Grunde absurd. Fortleben der Seele nach dem Tode, Seligkeit und Verdammnis, Engel und Teufel gehören einer für uns nicht faßbaren und damit absurd erscheinenden Welt an. Man sollte zumindest nicht das eine als unbezweifelbar ansehen und über das andere spötteln. Ich bin da mit meinem Urteil vorsichtig, aber daß es sich bei der Veranstaltung Sickelkas um Humbug gehandelt hatte, stand ja wohl fest. Sickelka hatte seiner Mutter einiges abgeguckt, das Tischrücken zum Beispiel, die traditionelle Form der Kontaktaufnahme mit dem Jenseits. Man hat mir versichert, daß ein Tisch in Bewegung zu bringen sei, ohne daß man es darauf anlege. Dies mag durch unwillkürlichen Druck der Hände geschehen, vielleicht auch durch physische Kräfte, die uns unbekannt sind. Aber daß sich im Rücken des Tisches die Seele eines Toten kundtut, scheint mir doch allzu läppisch. 102
Dem armen Rehbein hatte man nun sogar eine Erscheinung vorgegaukelt. Spiritisten sehen in solchen Materialisationen das Höchsterreichbare. Sie erscheinen auf der Grenze zwischen Hell und Dunkel, scheuen das Licht und haben befremdlicherweise eine Art Körperlichkeit, die dem Unterbewußtsein des Mediums entstammt und sich auf telekinetischem Wege in einer geeigneten Zimmerecke lokalisiert. Derartige Erscheinungen können allerlei Unfug treiben, Lichtschalter ausknipsen, Püffe verteilen, Abdrücke in Mehl hinterlassen … sagen die Spiritisten. Ich nahm mir vor, den Schwindel, den man mit Rehbein getrieben hatte, zu entlarven. Die vier „Spiritisten“ sollten ihre Vorstellung am kommenden Abend in meiner und in Rehbeins Gegenwart wiederholen. Für den heutigen Abend mußte ich mich noch um Rehbeins Nachtruhe bemühen. Ich weckte im Nachbarraum einen Tertianer, ließ ihn mit seinem Bettzeug in Rehbeins Zimmer umziehen, gab vor, Rehbein fühle sich nicht wohl und müsse jemanden bei sich haben, der ihm notfalls helfen könne. Damit war für ihn gesorgt. Ich muß gestehen, daß der Gedanke, in der dunkelsten Ecke meines Zimmers einen toten Kurrat erscheinen zu sehen, auch mich mit Unbehagen erfüllte. Einige Augenblicke lang hatte ich für Rehbein nicht nur ein pädagogisches, sondern ein sehr persönliches Verständnis. Das Gespräch mit den vier Spiritisten am nächsten Morgen war kurz und hart. Eine empfindliche Strafe sei fällig; einzige Möglichkeit, ihr zu entgehen: eine Wiederholung der Vorstellung mit allen Details. Ich ließ die vier in größer Bestürzung zurück und freute mich insgeheim auf den Abend. Im Laufe des Vormittags fand sich eine neue Spur: Kurrat hatte am Abend seines Verschwindens einen ge103
streiften Schal getragen. Dieser gewann plötzlich eine schwerwiegende Bedeutung, brachte mich allerdings in die schmählichste Situation meines bisherigen Lebens. Der Schüler Genschke meldete mir, er habe den Schal gesehen. Ein Bauernjunge, etwa siebzehn oder achtzehn Jahre alt, habe ihn getragen. Er sei auf dem Fahrrad vorbeigefahren, aber der Schal sei mit Sicherheit zu erkennen gewesen. Kurrat hatte sich den Schal nach seinen Angaben stricken lassen: grün-weiß-rot, quergestreift. Während ich diese Zeilen schreibe, liegt der Schal vor mir auf dem Tisch. Ich habe ihn aus einer Schublade meines Kleiderschrankes hervorgeholt. Wir haben Kurrats Kleider damals dem Roten Kreuz übergeben; nur den Schal behielt ich als ein persönliches Erinnerungsstück. Genschke hatte beobachtet, daß der Junge von der am Deich entlangführenden Straße in eine Allee eingebogen war, die zu einem Bauernhof führte. Dieser gehörte dem Bauern Harbs, wie Genschke in Erfahrung gebracht hatte. Er war sichtlich stolz, eine Spur entdeckt zu haben. Gegen Abend setzte ich mich in den Wagen, um dem Bauern Harbs einen Besuch abzustatten. Die Hauptstraße des Ortes war, wie immer zu dieser Tageszeit, belebt, und ich fühlte mich ganz wohl in dem dichteren Verkehr. Aber ich war schnell aus dem Ort heraus, bog in die Straße ein, die am Deich entlangführte, erkundigte mich nach dem Hof des Bauern Harbs und fuhr die mir bezeichnete Allee hinauf. Der Weg war schmal, die Bäume zu beiden Seiten wirkten unverhältnismäßig hoch. Ich mußte an ein gotisches Kirchenschiff denken, aber der Vergleich wollte mir nicht gefallen; Weg und Bäume standen in einem unglücklichen Verhältnis zueinander. Eher wirkten die vorbeiziehenden Bäume wie überdimensionale Gitterstäbe. Vor dem Wohntrakt des Hauses war ein Rondell an104
gelegt. Ich stieg aus und warf einen Blick auf das Haus. Es war sicher hundert Jahre alt und hätte nicht schlecht ausgesehen, wenn es noch mit Reet gedeckt gewesen wäre. Statt dessen trug es ein Blechdach mit einem stumpfen braunen Anstrich, der stellenweise abblätterte. Der Scheunenteil des Hauses lag zur Rechten. Der Wind trug den Geruch des Misthaufens bis zu mir her. Ich klopfte. Nichts rührte sich. Ich klopfte nochmals und drückte schließlich die Klinke herunter. Die Tür gab nach, und ich trat in die Diele. Geruch nach Milch und Kuhstall; steinerne Fliesen; geschlossene Türen an allen Seiten … Ich mußte mich bemerkbar machen und klopfte wahllos an eine der Türen. Nichts. Ich versuchte es an der nächsten. Wieder nichts. Da ich nicht als Eindringling gelten wollte, ging ich wieder nach draußen, um die Bewohner des Hauses in den Ställen zu suchen. Als ich um die Ecke des Hauses bog, prallte ich gegen eine grobschlächtig aussehende Frau, die mit zwei Eimern aus einem Türloch herauskam. Sie stieß einen kehligen Laut aus, offenbar erschreckt, auf einen Fremden zu treffen. Ich entschuldigte mich und fragte, ob der Bauer zu Hause sei. Die Frau gab keine Antwort, verschwand in einer anderen Türöffnung, kam aber kurz darauf wieder heraus, jetzt ohne Schürze, mit feuchten, roten Armen. „Wollen Sie was verkaufen?“ fragte sie sehr breit und strich sich mit dem Unterarm die Haare zurück – eine Bewegung, die typisch ist für Frauen, die oft nasse Hände haben. Ich erklärte ihr, daß ich Lehrer sei und nach einem entlaufenen Schüler suchte. „Hier ist keiner“, sagte sie in klagendem Tonfall, „aber mein Mann kommt gleich vom Feld.“ Ich hätte meine Fragen natürlich auch an die Frau richten können, aber sie machte einen ausgesprochenen stumpfen Eindruck. Ihre Augen waren auf mich gerich105
tet, schienen aber gar nichts zu fassen. „Kommen Sie nach vorne“, sagte sie. Ich ging wieder um das Haus herum zur Eingangstür, wartete und hörte bald ihren klappernden Schritt auf den Fliesen. Als sie öffnete, sah ich gleich, daß sie inzwischen ihre dicken Gummistiefel gegen hochhackige Stadtschuhe ausgetauscht hatte, die an ihrer Person und dieser Umgebung recht sonderbar wirkten. Sie ließ mich ins Wohnzimmer, wies auf einen Stuhl und schien nicht zu wissen, ob sie bleiben oder gehen sollte. „Der Bauer kommt jeden Augenblick“, sagte sie. Ich versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, machte eine Bemerkung über das Wetter, aber sie ging nicht darauf ein. Unbewegt und schweigend sah sie mich an. Ich atmete auf, als irgendwo in der Tiefe des Hauses eine Kinderstimme zu quäken begann. Die Frau wandte sich zur, Tür und erschien kurz darauf mit einem etwa dreijährigen Jungen, der ihren leeren Blick hatte. Belustigt stellte ich fest, daß sie inzwischen auch ihre Bluse gewechselt hatte. Der Junge ließ sich auf den Teppich fallen, und sie stellte einen Baukasten neben ihn. Dann sagte sie noch einmal: „Der Bauer kommt jeden Augenblick“ und ließ mich mit dem Kind allein. Der Junge versuchte, einige Bauklötze aufeinanderzustellen, was ihm immerhin gelang. Es kam ein kunstloses, unproportioniertes Gebilde zustande, das schließlich in sich zusammenfiel. Das Kind begann erneut, wählte größere Klötze, stapelte sie, bis sie wieder zusammenfielen. Ich sah mich in der Stube um. Einige alte, schwere Möbel bezeugten bäuerliche Tradition. Am Fenster standen jedoch zwei moderne Sessel billigster Machart in Gelb und Rot. Was die Möbel an waagerechten Flächen boten, war mit allerlei Kram bestellt: Nippes aus früheren Zeiten, moderner Kitsch im Reiseandenkenstil, Familienbilder im Standrahmen. 106
Ich schreckte aus meinen Betrachtungen auf, als das Kind unvermittelt einen wütenden Schrei ausstieß, die Bauklötze auseinanderwarf und seinen Kopf mit Wucht auf den Boden stieß. Die Schreie wiederholten sich, die Stöße mit dem Kopf wurden heftiger. Das Kind schrie jetzt vor Schmerz, stieß aber den Kopf nur noch härter auf den Boden. Ich sprang auf und faßte das wild schreiende Kind an den Schultern. Da kam die Mutter hereingestürzt, riß den Jungen an sich, würdigte mich keines Blickes und verschwand. Trotz meiner Bestürzung hatte ich noch festgestellt, daß sie jetzt auch einen anderen Rock trug. Im Hause hörte ich Stimmen, und kurze Zeit darauf trat der Bauer ins Zimmer. Seine kleinen, flinken Augen blickten pfiffig und wach. Das Haar war militärisch straff gescheitelt und mit Wasser an den Kopf geklebt. Es ist auf dem Lande üblich, nicht gleich das eigentliche Anliegen vorzubringen. Ich lobte also den schönen Hof, die Allee, die Auffahrt. Auch seine Frau und seinen Jüngsten hätte ich kennengelernt. Ich bedauerte schon, das Kind erwähnt zu haben, aber der Bauer machte sich nichts daraus. „Ja, der ist nicht ganz so, wie er sein soll“, gab er bereitwillig zu, „Hat noch nichts gesprochen; aber kräftig ist er. Wird ’n guter Arbeiter.“ Ob er noch mehr Kinder habe? „Ja, der Älteste. Achtzehn ist er jetzt. Auch kräftig; guter Arbeiter, mit allem zufrieden. Ißt für drei – gar nicht satt zu kriegen ist der.“ Es machte dem Bauern sichtlich Spaß, über seine Kinder zu sprechen. „Dann ist da noch der zweite“, fuhr er fort, „der gefällt Ihnen gewiß besser, wo Sie Lehrer sind. Ostern auf die Mittelschule gekommen. Aber für den Hof ist er nicht viel wert. Mag nicht arbeiten, ist bange, daß er sich die Hände schmutzig macht, und kost unnütz Geld.“ 107
Der Bauer betrachtete offensichtlich seinen Nachwuchs unter dem Gesichtspunkt der Rentabilität. Ich erfuhr später, daß auch der älteste Sohn schwachsinnig war. Aber er ersparte dem Bauern einen Knecht. Er war völlig anspruchslos, dachte nicht an Urlaub, nicht an Kündigung, forderte keinen Lohn und brachte dem Bauern damit rund fünftausend Mark im Jahr ein. Der zweite Sohn war intelligent und als kostenlose Arbeitskraft für die Dauer nicht geeignet. In diesem Sinne war der Jüngste wieder ein vielversprechender Nachwuchs. Das Kalkül des Bauern hatte sich auch hinsichtlich der Frau bewährt: Wie ich später hörte, war sie die Erbin des Hofes; der Bauer hatte sich den Hof erheiratet und die Frau genommen, wie sie war. Unser Gespräch hatte inzwischen den Punkt erreicht, wo ich mein Anliegen vorbringen mußte. Ich setzte sehr vorsichtig dazu an, berichtete kurz über das Verschwinden Kurrats und über den Schal, den ein Schüler bei seinem ältesten Sohn gesehen hatte. „Der Vermißte kann ihn irgendwo verloren haben“, sagte ich; „wenn Ihr Sohn ihn gefunden hat, könnten wir vielleicht eine Spur finden.“ Tatsächlich bestand diese Möglichkeit; wenn der Schal irgendwo im Ort gefunden worden war, hatten wir den Beweis, daß Kurrat nicht am Steg verschwunden war. Einen einwandfreien Beweis aber auch wieder nicht, denn der – hypothetische – Mörder hätte den Schal auch absichtlich an einen Platz weit entfernt vom Steg legen können, um vorzutäuschen, Kurrat sei in den Ort gegangen. Der Bauer wurde auf meine Frage hin sehr abweisend. Sein Sohn würde nie einen gefundenen Schal umbinden, meinte er gekränkt, aber er könne ihn ja auf jeden Fall befragen. Er erhob sich und forderte mich auf mitzukommen. Wir verließen das Haus und gingen über das Rondell 108
in Richtung auf die Straße zu. Ob denn der Sohn außerhalb des Hauses wohne, fragte ich. „Ja“, sagte der Bauer, „er ist gern für sich. Mag kein unnützes Reden. Er schläft im Altenteilerhaus. Das grenzt gleich an den Hof.“ Hinter den hohen Bäumen der Allee entdeckte ich, hinter Büschen versteckt, eine zusammengesunkene Kate mit grünbemoostem Reetdach und kleinen, schiefen Fenstern. Die Läden waren geschlossen. „Da wohnt eigentlich keiner mehr drin“, sagte der Bauer; „das sieht alles ziemlich aus. Die Eltern von meiner Frau haben hier früher gewohnt. Meine Frau wollte nichts verändert haben. Sollte alles so bleiben wie zu ihren Lebzeiten.“ Er bedeutete mir, daß ich warten solle, schob die Tür auf und verschwand für eine kurze Weile. Als er wieder herauskam, machte er einen noch abweisenderen Eindruck. „Das kann nicht angehen“, sagte er, „er hat nie so einen Schal gehabt, er hat bloß einen grauen, sonst nichts.“ Ich war nicht recht zufrieden; ich hätte gern mit dem Sohn selber gesprochen – aber was sollte ich machen? Der Bauer wandte sich zum Gehen und meinte, ich sei nun wohl zufrieden. Wir gingen noch nebeneinander zum Rondell zurück; er sagte nichts mehr, reichte mir die Hand, und ich mußte wohl oder übel ins Auto steigen und abfahren. Während ich die Allee hinunterfuhr, überkam mich plötzlich das Gefühl, die alte Kate müsse mit Kurrats Verschwinden in Zusammenhang stehen. Der Schal, den der Sohn getragen hatte und dessen Besitz er bestritt, das leere, unbenutzte Haus – alles wies darauf hin, daß Kurrat hier einen Unterschlupf gefunden haben konnte. Unklar blieb, warum er sich hier versteckt hielt. Aber wenn er noch lebte, mußte er sich irgendwo aufhalten; weshalb also nicht hier … Kurz bevor ich die Straße er109
reichte, fuhr ich den Wagen rechts heran, stieg aus und ging zurück. Ich nahm nicht an, daß man mich vom Hauptgebäude aus sehen konnte. Das Altenteilerhaus lag auf der anderen Seite der Allee hinter hohem Gebüsch; außerdem regnete es, und es war schon ziemlich dunkel. Da es mir peinlich gewesen wäre, dem Bauern noch einmal zu begegnen, benutzte ich nicht den Weg, der zum Altenteilerhaus führte, sondern ging quer durch das Gebüsch. Das nasse Gras reichte mir bis zum Knie, und meine Hosenbeine waren mit dunklen Wasserflecken bedeckt, als ich vor der windschiefen Tür anlangte. Sollte mir der Bauer über den Weg laufen, würde mir schon irgendeine Ausrede einfallen – mir sei noch eine Einzelheit eingefallen, nach der ich seinen Sohn fragen wolle, oder etwas Ähnliches. Ich klopfte. Alles blieb still. Ich hatte auch nicht mit einer Antwort gerechnet; ich stieß die Tür auf, die schief in den Angeln hing und am Boden entlangschrappte. Ich stand in einer engen Diele. Es roch nach Staub und toten Mäusen. Ich erinnerte mich an die vitalen Gerüche des anderen Hauses, Mist und Milch, und wußte nicht, was ich vorziehen sollte. Zwei Wagenräder standen an die Wand gelehnt, dazwischen lag allerlei Gerät, wahllos zusammengeworfen, aber trotzdem wie verwachsen. Ich rief: „Hallo, ist hier jemand?“ und dabei beschlich mich das Gefühl, daß ich im Begriff war, eine Dummheit zu begehen. Ich klopfte an eine Tür, öffnete sie und blickte in eine enge, düstere Stube, deren Atmosphäre mich faszinierte. Niemals habe ich den Begriff „Verfall“ deutlicher veranschaulicht gesehen. Die Stube war offenbar seit vielen Jahren nicht benutzt worden. Trotzdem war sie vollständig eingerichtet mit einer Decke auf dem Tisch, Schondeckchen auf dem Sofa davor, Nippesfiguren auf der Kommode. Alles war mit einer dicken, flaumigen Staubschicht bedeckt, die sich in langen Zeit110
räumen ungestört abgelagert hatte. Spinnengewebe reichten von der Lampe zum Tisch herunter, hafteten in den Ecken an der Decke. Die Gardinen hingen in Streifen herab. Schwaches Licht fiel durch die geschlossenen Läden. Plötzlich glaubte ich in der Diele leise Schritte zu hören. Als ich mich umwandte, um die Stube wieder zu verlassen, hörte ich, wie die Eingangstür, die ich offengelassen hatte, über den Zementboden schleifte und zuschlug. Die Diele war jetzt nahezu dunkel. Nur aus der Stube fiel ein matter Lichtschein auf die gegenüberliegende Wand und auf etwas, das da hing. Ich meinte rot und grün zu unterscheiden … Der gesuchte Schal vielleicht? Ich machte ein paar tastende Schritte in die Diele hinein. Alles blieb still. Sollte die Außentür von selber ins Schloß gefallen sein? Mit einigen schnellen Schritten war ich an der gegenüberliegenden Wand. An einem Haken hing eine Jacke und darüber, tatsächlich, der grün, weiß und rot gestreifte Schal. Ich riß ihn hastig herunter, stopfte ihn in meine Jackentasche und wollte mich zur Außentür wenden. Da fiel hinter mir auch die Stubentür zu. Ich fuhr herum und stand nun völlig im Dunkeln. Ich begann: „Entschuldigen Sie, daß ich hier so einfach eingedrungen bin, aber …“ Dann wurde mir klar, daß solche Höflichkeiten fehl am Platze waren. Da ich reglos stand, konnte ich ein leises Atmen wahrnehmen und hatte das sichere Gefühl, daß jemand auf Strümpfen näher an mich heranschlich. Ich wagte nicht, die Arme auszustrecken, aus Furcht, ihn unvermittelt zu berühren. „Nun melden Sie sich doch!“ sagte ich. „Ich war eben mit Ihrem Vater hier, ich will doch nichts von Ihnen.“ Keine Antwort. Mir wurde unheimlich. Es half nichts, daß ich mich 111
einen Narren schalt, daß ich mir sagte, du lebst im zwanzigsten Jahrhundert und dies ist kein Kriminalroman … Ich stand stocksteif und lauschte auf die Stille. Noch immer glaubte ich das Atmen zu hören, aber es schien jetzt im gleichen Rhythmus mit meinem eigenen Atem zu sein … Du redest dir das alles nur ein! Mit einem Satz stürzte ich auf die Tür zu, erhielt einen heftigen Schlag an den Kopf und verlor das Bewußtsein. Später wußte ich nicht, ob es tatsächlich ein Schlag gewesen war oder ob ich in der völligen Dunkelheit mit dem Kopf gegen einen Balken oder einen Mauervorsprung gestoßen war. Jedenfalls mußte es ein sehr heftiger Stoß gewesen sein, denn ich war eine Zeitlang ohne Besinnung. Als sich mein Bewußtsein wieder regte, spürte ich zuerst einen faden Blutgeschmack auf der Zunge. Ich tastete mit der Hand mein Gesicht ab und merkte, daß es feucht und wahrscheinlich blutverschmiert war. Ich lag auf schmierigem Stroh. Es roch durchdringend. Ich versuchte mich zu sammeln, streckte die Hand aus und fuhr zurück, als ich an etwas Haariges, Lebendiges stieß. Es stöhnte auf und wälzte sich hoch. Ich versuchte, es mit dem Ellenbogen abzuwehren, und geriet mit der Hand an eine große feucht-klebrige Schnauze. Trotz meiner Benommenheit kam ich schnell auf die Beine. Um mich herum war die Dunkelheit von Bewegung erfüllt; Stroh raschelte, ein Körper schrammte an rauhem Verputz entlang, ein Grunzlaut … Ich war noch immer benommen. Zitternd tastete ich nach den Streichhölzern, die ich immer einstecke, obschon ich fast nie rauche … Das erste Streichholz brach ab. Dann endlich hatte ich Licht, und … Ich befand mich im Schweinestall. Man möge das bitte nicht komisch fin112
den; über den Zustand meiner Kleidung und den Geruch, der ihr anhaftete, will ich hinweggehen, aber es ist in unserer Gegend einmal vorgekommen, daß einem Bauern, der betrunken im Schweinestall lag, von einem Eber ein Ohr abgefressen wurde. Der Schal, auf den mein Mißgeschick zurückging, steckte nicht mehr in der Jackentasche. Frisch gebadet, mit einem Pflaster auf der Stirn, holte ich Rehbein zur festgesetzten Stunde aus seinem Zimmer ab. Ich hatte mir zwar, während ich mein Äußeres restaurierte, vorgenommen, in der Sache Kurrat keinerlei Recherchen auf eigene Faust mehr anzustellen; am liebsten hätte ich auch auf die „Seance“ bei Sickelka verzichtet. Aber dabei ging es ja um Rehbein und nicht um Kurrat. Vor allem ging es – mochte auch die Form meines Eingreifens unorthodox sein – um die Schulordnung. Die Sitzung sollte um 23 Uhr stattfinden, zu einer Zeit also, in der im Internat schon Bettruhe herrschte. Als ich mit Rehbein erschien, war schon alles vorbereitet: das Fenster verhängt, das Zimmer schwach rötlich erhellt. Man hatte den Lampenschirm abgenommen und die Birne in ein rotes Tuch gehüllt. In der Mitte stand der runde Tisch mit sechs Stühlen darum. Langsam gewöhnten sich die Augen an das rötliche Dunkel, aber bis an die Wände reichte das Licht nicht, und besonders am Fenster, wo Rehbein die Gestalt Kurrats gesehen haben wollte, war es stockdunkel. Niemand sagte etwas, und ich hielt ebenfalls die ironischen Worte zurück, die mir auf der Zunge lagen, um die Veranstaltung nicht schon jetzt zu stören. Erst auf dem Höhepunkt wollte ich mit dem Schwindel aufräumen, um Rehbein davon gänzlich frei zu machen. Ich muß allerdings zugeben, daß mich das Unternehmen auch amüsierte. Wir setzten uns um den Tisch, legten die Hände auf 113
die runde Platte, so daß sich die Spitzen der äußeren Finger berührten, und bildeten damit die Kette. Der neben mir sitzende Rehbein zuckte von Zeit zu Zeit vor Erregung zusammen. Ich merkte es an seinem kleinen Finger, der den meinen berührte. Eine ganze Weile geschah nichts. Sickelka hatte die Augen geschlossen und wiegte den Kopf leise hin und her. Ich mußte an Kurrat denken. Wenn er wirklich nicht mehr am Leben war, hatte ich mich zu einem makabren Spiel hergegeben … Ich bekam einen Schreck, als sich ganz unvermittelt die Tischkante an der mir gegenüberliegenden Seite hob. Gleich darauf ging sie an meiner Seite hoch, ohne daß ich einen Anlaß erkennen konnte. Eine Stimme flüsterte: „Ist eine Intelligenz anwesend?“ Der Tisch rückte einige Male hin und her. Die Abmachung der Ja- und Nein-Signale wurde darauf getroffen, obgleich der Geist sich daran eigentlich noch hätte erinnern müssen. Dann folgte die Nennung einiger Namen mit der Anfrage, ob der ehemaliger Träger die anwesende Intelligenz sei. Zweimaliges Klopfen: Nein. Einmal kam sogar ein doppeltes Nein, nein. Währenddessen versuchte ich, die Ursache der Tischbewegungen herauszubekommen. Wenn es Schwindel war, was ich doch annehmen wollte, war er sehr geschickt aufgezogen. Jetzt die Frage: „Kurrat, bist du es?“ Darauf ein einmaliges Klopfen und ein erschrecktes Aufstöhnen Rehbeins. Aber Kurrats Geist war an diesem Abend mißgelaunt. Auf die Frage nach seiner Todesart – Mord, Selbstmord, Unfall – antwortete er jedesmal kurz und akzentuiert mit zwei Klopftönen. Wahrscheinlich war er durch meine Gegenwart verärgert, und es widerstrebte ihm, einem Lehrer intime Auskünfte zu geben. Auch die Frage, ob er uns erscheinen wolle, verneinte Kurrats Geist, und er blieb selbst nach wiederholter Anfrage dabei. 114
Ich widmete meine Aufmerksamkeit immer noch den Tischbewegungen, als Rehbein einen unterdrückten Schreckenslaut ausstieß. Es war deutlich zu erkennen: Am Fenster bildete sich etwas schwach Schimmerndes heraus. Kurrat war eine widersprüchliche Persönlichkeit gewesen; sollte er trotz seines Neins nun doch erscheinen wollen? Ich muß gestehen, daß mich die allgemeine Atmosphäre trotz des Schwindels, der getrieben wurde, gefangennahm. Gespannt verfolgte ich, was aus dem Gebilde in der Ecke wurde. Es entstanden allmählich die Umrisse eines Menschen, man erkannte ein Gesicht, sehr schwach, mit tiefen Schatten in den Augenhöhlen, aber unverkennbar … Kurrat! Um den Hals geschlungen, die Enden nach unten sich verlierend, der gestreifte Schal … grün-weiß-rot. Es war zu erkennen. Jetzt kam es darauf an. Ich faßte Rehbein fest am Arm, sprang auf, stürzte auf die Erscheinung zu, verfing mich in einem schleierartigen Gebilde, bekam einen eisigen Schreck, bewahrte aber meine Fassung, da ich des Rätsels Lösung schon gefunden hatte: Am Fußende eines der oberen Betten stand ein Dia-Projektor, unter der Bettdecke versteckt. Ich riß die rote Umhüllung von der Lampe, und im kalkigen Licht der Glühbirne war alles zu erkennen: In der Ecke am Fenster hing von der Decke ein Stück Gaze oder Gardine herab, auf das der Projektor ein Farbdia Kurrats geworfen hatte. Der Projektor war an einen Schiebewiderstand angeschlossen, den Sickelka neben sich stehen hatte. Den Schieber hatte er mit dem Fuß betätigt und dadurch das allmähliche Aufleuchten des projizierten Bildes bewirkt. Rehbein tat sehr erleichtert, lachte krampfig, sagte immer wieder: „Gleich gedacht!“, schien aber doch enttäuscht und gekränkt. Sickelka und die anderen standen mit betretenen Gesichtern da. Sickelka raffte sich schließlich auf und sagte: „Wir möchten uns entschuldigen.“ 115
Ich hatte trotz meines Erfolges ein schales Gefühl und hätte fast vergessen, nach den Bewegungen des Tisches zu fragen. „Man kann es beeinflussen“, sagte Sickelka, „wenn mehrere sich einig sind.“ Ich wandte mich zum Gehen und ermahnte die vier noch einmal dringend, derartige Späße künftig zu unterlassen. Sickelka öffnete mir die Tür, und als ich schon draußen war, sagte er sehr leise: „Ganz können wir es uns mit dem Tisch auch nicht erklären. Es muß irgend etwas dran sein.“ Dann zog er schnell die Tür zu. Ich brachte Rehbein auf sein Zimmer, wo er diese Nacht nicht allein zu verbringen brauchte, weil seine Schlafgenossen zurück waren. Trotz der Aufdeckung des Schwindels schlief ich mit dem unguten Gefühl ein, mich möglicherweise auf Kosten eines Toten amüsiert zu haben. Am folgenden Sonnabend, zwei Tage danach, saß ich abends in meinem Zimmer am Schreibtisch und korrigierte Hefte. Auf dem Korridor war es still. Die Schüler halten sich nur während der Unterrichtszeit in dem Teil des Gebäudes auf, in dem mein Zimmer liegt. Ich rechnete nicht damit, an diesem Abend noch Besuch zu bekommen, und hätte das leise Klopfen fast überhört. So klopften Schüler, die ein schlechtes Gewissen haben oder sehr schüchtern sind. Aber das Klopfen wiederholte sich, und diesmal klang es übertrieben laut, als wenn sich jemand überwinden müßte. Ich stand auf, öffnete die Tür, konnte aber meinen Besucher nicht gleich erkennen, da es auf dem Korridor dunkel war und die Schreibtischlampe nur einen schwachen Schein bis hierher warf. Ich trat dichter an mein Gegenüber heran, das merkwürdigerweise stumm blieb, und blickte unmittelbar in das Gesicht Kurrats.
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Der fünfte Tag Schramms Gegenwart wird zu einem Skandal. Es haben sich innerhalb des Kollegiums zwei Parteien gebildet, und plötzlich reißen Gegensätze auf, die jahrelang sorgsam verdeckt waren. Schramm tut so, als bemerke er nichts. Vorhin sah ich vom Fenster her, wie er über den Hof ging, sehr aufrecht, hoch erhobenen Hauptes, mit festem Schritt – kurz, in einer Haltung, die seiner Situation keineswegs angemessen ist. Heute wundert es mich nicht mehr, daß ich den Verdächtigungen gegen ihn im Grunde von vornherein Glauben geschenkt habe, auch wenn ich es vor mir selbst nicht zugeben mochte. Es gibt Menschen, die existentiell Verdacht erregen, gleich, ob sie etwas begangen haben oder nicht. Auf keinen Fall werde ich mich damit einverstanden erklären, daß Schramm womöglich auch in der nächsten Woche noch in der Bibliothek arbeitet. Diese Arbeit kommt mir ohnehin verdächtig vor. Er scheint mir die Bibliothek zu durchstöbern. Sobald jemand kommt, gibt er sich den Anschein, an seinen Manuskripten zu arbeiten, aber man erkennt deutlich die Spuren seines Suchens. Offenbar durchforscht er die Buchreihen systematisch und nimmt die Bücher einzeln heraus. Bei dem Umfang unserer Bibliothek braucht er dann allerdings Tage, um durchzukommen. Heute morgen fragte er mich nach dem alten Entleihbuch, das vor etwa zwei Jahren durch ein neues ersetzt wurde. Es fehle ein Buch in der Bibliothek, das im gegenwärtigen Entleihbuch nicht als entliehen vermerkt sei. Er wolle feststellen, wer das Buch zuletzt entliehen habe und ob es zurückgegeben worden sei. Ich hielt eine solche Feststellung für unnötig, da die nicht zurückgegebenen Bücher bei Anlage des neuen Entleihbuches übertragen worden waren. Ich erbot mich, mit in die Bibliothek hinaufzugehen, um nach 117
dem Buch zu sehen. Schramm schien darauf aber gar keinen Wert zu legen und bat noch einmal um das alte Entleihbuch. Ich wußte im Augenblick nicht, wo ich es suchen sollte und hielt, wie gesagt, auch das Nachschlagen für überflüssig. Schramm konnte nichts dagegen einwenden, daß ich mit ihm nach oben ging. Ich nahm mir den Katalog vor, stellte den Standort des Buches fest und schickte mich an, dort nachzusehen, obwohl Schramm mir versicherte, er habe dies bereits ohne Ergebnis getan. Ich muß gestehen, daß mir sein Eifer befremdlich vorkam. Es war schon verwunderlich, daß er sich überhaupt derartig für dieses Buch interessierte; er hätte es in jeder anderen Bibliothek bekommen können. Das Buch mußte in einem der oberen Regale stehen, die man nur mittels einer Leiter erreichen kann. Jemand konnte es verstellt haben, oder es war versehentlich hinter die Front der Bücher geraten. Ich bemerkte gleich die schmale Lücke am vorgesehenen Standort des Buches, stieg noch eine Sprosse höher, so daß ich auf das Regel hinaufsehen konnte. Vor der Buchreihe lag eine sehr alte Staubschicht. Zog man einen Band heraus, zeichnete sich die Standfläche deutlich ab. Die Spuren wiesen darauf hin, daß das von Schramm gesuchte Buch hier bis vor kurzem gestanden hatte. Ich behielt diese Entdeckung für mich und werde nun feststellen, ob ein Kollege das Buch herausgenommen hat, ohne es im Entleihbuch zu vermerken. Für wahrscheinlich halte ich es nicht. Vorerst aber zurück zu meinem Bericht. Als ich Kurrat an jenem Abend so plötzlich vor mir sah, fiel es mir nicht leicht, meine Selbstbeherrschung zu bewahren. Er war es wirklich, Kurrat in Person – kein Gespenst, kein Trugbild meiner Phantasie … Ich zog ihn in mein Zimmer, drückte ihn auf einen 118
Stuhl, sank selber in den Schreibtischsessel und brachte vor Überraschung kein Wort heraus. Dann wollte ich zehn Fragen auf einmal stellen und wußte nicht, wo ich anfangen sollte. „Wo bist du gewesen?“ fragte ich. „Woher kommst du jetzt? Weshalb bist du weggelaufen? Weiß dein Vater Bescheid? Wußtest du, was hier inzwischen los gewesen ist?“ Kurrat sah mich stumm an. Endlich sagte er: „Ich würde gern heute nacht im Krankenzimmer schlafen. Ich möchte heute keinen mehr treffen.“ Plötzlich kam mir der Gedanke, daß Kurrat unversehens wieder verschwinden könnte und daß ich dann keinen Beweis für seine Rückkehr hätte. Sollte ich Zeugen rufen? Sollte ich ihn in den Aufenthaltsraum der Schüler schleppen, damit ihn seine Kameraden sahen? – Dies ist kein Kriminalroman, rief ich mich zur Ordnung. Im gleichen Augenblick fiel mir ein, wann ich das vor kurzem auch gedacht hatte: Ich roch fauliges Stroh und den scharfen Gestank von Silofutter … Kurrat blickte mich gequält an. Ich nahm ihn am Arm und brachte ihn ins Krankenzimmer, wo ein frischbezogenes Bett bereitstand. Es widerstrebte mir, ihn allein zu lassen, aber er schien so endgültig entschlossen, an diesem Abend nichts mehr zu sagen, daß jeder Versuch, sein Schweigen zu brechen, erfolglos bleiben mußte. Er machte den Eindruck eines Menschen, dem nichts mehr widerfahren kann, weil ihm schon alles widerfahren ist. Der Direktor machte einen Besuch im Ort. Ich malte mir genüßlich seine Reaktion auf die Neuigkeit aus. Und Schramm – was würde Schramm empfinden! Ich fragte Kurrat, ob er noch etwas essen wolle, aber er lehnte ab. Er hatte sich auf den Bettrand gesetzt und sah unbewegt vor sich hin. Seine Mundwinkel waren ironisch-verächtlich heruntergezogen. Die zusammengekniffenen Lippen erweckten fast den Eindruck eines 119
Lächelns. Ich sagte abschließend noch etwas Pädagogisches und ließ ihn allein. Ich wollte zu Schramm. „Schramm“, sagte ich, „Sie sitzen zwar, aber halten Sie sich trotzdem fest: Kurrat ist wieder da!“ Schramm sah mich an. Diese Nachricht mußte ihn doch treffen, aus dem Sessel hochjagen … Aber er hatte sich in der Gewalt. „So“, sagte er nur, „na sehen Sie … Hoffentlich glauben Sie mir jetzt.“ Ich dachte zuerst, er nehme meine Worte nicht ernst, so ruhig blieb er. „Wo ist er denn gewesen?“ fragte er mit der Miene höflichen Interesses. Er lächelte herablassend, als ich zugeben mußte, noch nichts aus Kurrat herausbekommen zu haben. In diesem Augenblick hörte ich Schritte auf dem Korridor; der Direktor mußte zurückgekommen sein. „Es gibt hier manchen, der Ihnen etwas abzubitten hat, Schramm“, sagte ich noch. Schramm antwortete nicht, sah mich aber beziehungsvoll an, was ich sehr ungerecht fand, denn schließlich hatte ich mich vor allen anderen um die Aufklärung des Falles bemüht. Es war noch vieles zu besprechen, aber zuerst wollte ich dem Direktor die Neuigkeit mitteilen. Dabei kam ich auf meine Kosten. Es wirkt immer wie das Aufbrechen einer Schale, wenn beherrschte Menschen ihre Fassung verlieren. Der Direktor war so vollkommen perplex und dann so zutiefst froh und erleichtert, daß ich mich ihm eine Zeitlang sehr überlegen fühlte. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, beratschlagten wir, was zu unternehmen sei. Wir hielten es für richtig, gleich die Kriminalpolizei anzurufen, und man leitete das Gespräch in die Privatwohnung des Inspektors. Dieser sagte so etwas wie: Na also – großes Theater und nichts dahinter! und konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. Wir wählten auch die Nummer des alten Herrn Kurrat, aber dort meldete sich noch immer niemand. 120
Für Montag mußte gleich eine Gesamtkonferenz einberufen werden. Es war damit zu rechnen, daß Kurrat von der Schule verwiesen wurde. Es taten sich so viele neue Aspekte auf, daß wir erst einmal Ordnung hineinbringen mußten. Unsere Einstellung gegenüber Schramm mußte gründlich revidiert werden, das war vor allem wichtig. Trotz der späten Stunde gingen der Direktor und ich noch zu ihm hinauf, denn Schramm war entlastet. Was gegen ihn gesprochen hatte, war falsch gewesen. Nichts sollte unbereinigt bleiben. Wir hatten Schramm unrecht getan. Wie kläglich nahmen sich jetzt die Indizien aus! Danach wäre Schramm an jenem Abend allein zum Steg hinausgegangen; Kurrat, vom Fährhaus kommend, wäre mit ihm zusammengetroffen; es hätte Streit gegeben; Schramm, jähzornig, hatte Kurrat erwürgt und die Leiche ins seewärts fließende Wasser geworfen … Der Sack mit den alten Heften, der gemeinsame Gang mit Kurrat an den Fluß, Kurrats Bitte, in den Ort gehen zu dürfen – Erfindungen Schramms! In Wahrheit hatte sich alles so abgespielt, wie Schramm es dargestellt hatte. Das heißt, Kurrats Darstellung blieb noch abzuwarten; aber ich war sicher, daß er Schramms Version bestätigen würde. Alles war klar, bis auf die Aussage des Ehepaares Sievert. Kurrat war danach erst vom Fährhaus aus zum Steg gegangen und hatte gesagt, daß er vorher noch nicht dort gewesen sei und nicht mit Schramm zusammentreffen wolle. Frau Sievert wollte kurz darauf das Handgemenge am Steg und den Fall ins Wasser gehört haben … Die Eheleute Sievert konnten nicht beabsichtigt haben, Schramm in Verdacht zu bringen. Die Vernehmung Kurrats am nächsten Tag mußte hier eine Klärung bringen. Es hatten sich doch einige sonderbare Widersprüche ergeben, und manches war sehr unglücklich zusammen121
getroffen. Auf meine spaßhaft gemeinte Bemerkung, es sehe fast so aus, als habe Kurrat beabsichtigt, Schramm in Mordverdacht zu bringen, ging niemand ein; Schramm meinte nur wegwerfend, das sei doch ein ziemlich abwegiger Gedanke. Es war absurd: Ein Rest des Verdachtes gegen Schramm blieb, obwohl Kurrat unversehrt zurückgekommen war. Auch unter den Kollegen schwand die Aversion gegen Schramm nicht. Sie waren zwar über die einzelnen Verdachtsmomente nicht orientiert worden, aber es war doch manches durchgesickert. Ich selber mied Schramms Gesellschaft mehr als vorher. Dabei war Schramm zu Unrecht in Verdacht geraten! Ich war von seiner Schuld fast überzeugt gewesen, hatte es ihm also zugetraut, daß er einen sechzehnjährigen Jungen ermordete und die Leiche in den Fluß warf … Ich hatte allen Grund, mich Schramm gegenüber zu schämen und mein Verhalten gutzumachen. Einem Menschen, vor dem man sich schämen muß, geht man aus dem Wege. Das ist wahr, aber genügte es als Erklärung für meine Einstellung Schramm gegenüber? Hinzu kam wohl noch ein unterbewußtes Gefühl der Enttäuschung. Destruktive Kräfte in uns wünschen das Unheil herbei, auch wenn es jemanden trifft, der uns nahesteht. Vielleicht spielte auch noch ein anderer Grund mit: Ich könnte empfunden haben, daß Schramm ein mit Schuld beladener Mensch war. Am nächsten Morgen wachte ich schon früh auf, und die Ungeduld, mit der ich dem Gespräch mit Kurrat entgegensah, erinnerte mich an die Empfindungen, die ich als Kind am ersten Weihnachtstag morgens beim Erwachen hatte: Ich konnte mich nicht früh genug der Geschenke des Vorabends bemächtigen. Wie damals zwang ich mich, noch eine kleine Weile im Bett liegenzubleiben; aber um sieben Uhr hielt es mich nicht mehr länger. Ich 122
wollte mit Kurrat allein sprechen, bevor er zum Direktor heruntergerufen wurde. Von einem Gespräch unter vier Augen versprach ich mir mehr als von einem offiziellen Verhör im Amtszimmer des Direktors. Gegen halb acht klopfte ich an die Tür des Krankenzimmers. Kurrat war schon wach; er putzte sich gerade die Zähne. Als er mich sah, spie er kräftig ins Waschbecken, wischte sich mit dem Handtuch über den Mund und sagte: „Bitte, Herr Doktor, treten Sie doch ruhig näher. Ich bin gleich soweit.“ Ich wunderte mich über seine Sicherheit, die aber wohl nur gespielt war, setzte mich auf einen Stuhl und musterte ihn. Er sah frisch aus, und seine Haut war braungebrannt, als hätte er in den letzten Tagen häufig in der Sonne gelegen. Er war wieder dabei, seine Zähne zu putzen, tat es sehr ausgiebig, wohl um noch eine kleine Frist bis zum Beginn unseres Gesprächs zu haben und um sich innerlich auf mich einzustellen. Ich beschloß, ihn gleich zu Anfang hart zu treffen, um ihm seine Sicherheit zu nehmen. Nur dann bestand Aussicht, daß ich die Wahrheit erfuhr. „Du hast unseren Hausmeister auf dem Gewissen“, sagte ich lapidar. Kurrat fuhr herum, ließ die Zahnbürste sinken und achtete nicht darauf, daß ihm der weiße Schaum über das Kinn lief. „Ist ihm was passiert?“ fragte er tonlos. „Er ist verschwunden. Vielleicht hat er sich das Leben genommen.“ Kurrat drehte sich langsam wieder um und fuhr mit mechanischen Bewegungen fort, seine Zähne zu putzen. „Es interessiert dich doch sicher, daß du daran schuld bist!“ „Hat er was gesagt?“ Kurrat legte die Bürste hin und sah starr vor sich in das Waschbecken. „Es ist uns manches bekannt geworden“, sagte ich unbestimmt. 123
„Aber ich bin daran nicht schuld … Wie sollte ich?“ Ich dachte an die Mahnung des Direktors und verzichtete darauf, in dieser Angelegenheit in Kurrat zu dringen. „Unter deinen Kameraden wurde sehr viel geredet“, sagte ich. „Es hieß sogar, Herr Muhl habe dich umgebracht, und es kursierten einige sonderbare Geschichten über dein Verhältnis zu ihm. Du sollst dir ihm gegenüber ziemlich viel herausgenommen haben.“ „Es tut mir jetzt verdammt leid.“ Kurrat schien die Wahrheit zu sagen. „Muhl mochte mich, glaube ich, im Grunde ganz gern, und ich habe das etwas ausgenutzt. Aber warum sollte er sich deshalb das Leben genommen haben?“ Ich lenkte ein. „Er kann ebensogut auch noch am Leben sein. Aber auf jeden Fall ist ihm das Gerede unter den Schülern so nahegegangen, daß er seinen Posten hier einfach verlassen hat. Wir glaubten ihn neulich in Bilsdorf schon als Wasserleiche vor uns zu sehen; dabei waren wir hingefahren, weil wir fürchteten, du seist es … Der Tote war nicht ohne weiteres zu erkennen. Der Schädel war von einer Schiffsschraube zerschmettert.“ „Ich habe Ihnen viele Ungelegenheiten gemacht“, murmelte Kurrat und setzte sich auf die Bettkante. Unwillkürlich tastete ich nach dem Pflaster, das ich seit meinem Besuch bei dem Bauern Harbs an der Stirn trug. „Du hast nicht bedacht, welche Folgen dein Verhalten auch für andere haben konnte. Hast du denn gar nicht an deinen Vater gedacht?“ „Der ist verreist. Er kommt erst in diesen Tagen zurück.“ „Aber du hattest doch wahrscheinlich nicht von vornherein vor, nach vierzehn Tagen zurückzukommen?“ Kurrat schwieg. „Weißt du, daß noch jemand durch dein Verschwinden in ein sehr unglückliches Licht geraten ist? Es war 124
natürlich kein echter Verdacht, aber es gab doch einige sehr unglückliche Momente, über die wir noch reden werden, wenn wir gleich zum Direktor gehen.“ „Ich war zuletzt mit Herrn Schramm zusammen“, sagte Kurrat. „Eben!“ Ich verkniff es mir weiterzufragen, da ich das Verhör vor dem Direktor nicht vorwegnehmen durfte. Kurrat stellte jetzt seinerseits eine Frage: „Sie haben doch sicher meinen Schrank durchgesehen, als ich weg war. Haben Sie den Brief nicht gefunden, den ich an einen Freund geschrieben hatte?“ „Ich habe ihn sogar persönlich überbracht.“ „Sie haben ihn persön… Oh. Aber gelesen haben Sie ihn nicht? Ich meine, wo er doch gar nicht zugeklebt war.“ „Wir haben ihn gelesen, weil wir natürlich nach einem Anhaltspunkt suchten.“ „Und da wollen Sie mich doch vielleicht etwas fragen?“ Kurrat dachte anscheinend an die Äußerung, mit der der Text abgebrochen war: Auch sonst ist hier einiges faul. Wenn in nächster Zeit jemand, der mich schon jetzt zum Teufel wünscht … „Ich möchte ganz gern wissen“, sagte ich, „was an unserer Schule faul ist und wer dich zum Teufel wünscht … Herr Muhl etwa?“ – Kurrat sah mich betroffen an. „Herr Muhl? Nein. Aber ich habe doch …“ – „Du hast den Brief leider nicht zu Ende geschrieben.“ – „Haben Sie ihn selber aus dem Umschlag genommen?“ – „Zumindest habe ich ihn selber gelesen. Herr Schramm hat ihn herausgenommen, soweit ich mich entsinne … Wer wünscht dich also zum Teufel?“ – „Ach …“, Kurrat zögerte, „das war nur so dahingeredet. Ich meinte einen Klassenkameraden, aber … Darüber möchte ich nichts sagen. Es ist auch nicht weiter wichtig.“ Ich hatte den Eindruck, einen Fehler begangen zu ha125
ben. Anscheinend wich mir Kurrat jetzt aus, und bei etwas größerem Geschick hätte ich mehr erfahren können. Ich wechselte das Thema. „Willst du mir nicht sagen, wo du dich aufgehalten hast? Vielleicht fällt es dir jetzt leichter, als nachher vor dem Direktor.“ „Nein, ich möchte …“ Kurrat schüttelte widerstrebend den Kopf. „Es ist doch alles sinnlos. Genügt es nicht, daß ich wieder da bin? Ich werde hier wohl doch meine Sachen packen müssen.“ „Aber vorher bist du uns noch einige Erklärungen schuldig, mein Lieber; anscheinend bist du dir nicht ganz darüber klar, was du durch dein Verschwinden alles ausgelöst hast. Die Kriminalpolizei ist zum Beispiel sehr aktiv geworden. Wenn wir für dich eintreten sollen, mußt du uns zumindest die Wahrheit sagen.“ „Ich erzähle es dann besser nachher vor dem Direktor“, sagte Kurrat. Sollte ich darin einen Mangel an Vertrauen mir gegenüber erblicken? Ich neigte später zu der Ansicht, daß es Kurrat im offiziellen Verhör leichter erschien, die Unwahrheit zu sagen, als in dem persönlichen Gespräch mit mir. Denn im ganzen hatte ich den Eindruck, als ob Kurrat an mir einen Halt suchte. Immerhin hatte er sich gestern abend auch zuerst bei mir gemeldet, und auf wessen Unterstützung konnte er sonst schon rechnen! Er hatte uns große Schwierigkeiten bereitet, nicht zuletzt mir selber; aber ich muß sagen, daß mir der Junge immer besser gefiel. Bisher hatte ich ihn nur oberflächlich gekannt, weil ich in seiner Klasse nicht unterrichtet hatte. Inzwischen war er fertig angezogen, und ich schickte ihn zum Frühstücken in die Küche. Er sollte nicht mit den anderen Schülern zusammen sein, bevor das Gespräch mit dem Direktor stattgefunden hatte. Der Direktor teilte mir mit, daß er Kurrats Vernehmung für neun Uhr angesetzt habe. Ich solle daran teil126
nehmen und außerdem Kurrats Klassenleiter, der gleichzeitig Protokoll führen könne. Letzterer, der junge Referendar, war nicht zu unseren Nachforschungen herangezogen worden, wie ich anfangs erwähnte, und es wäre mir lieber gewesen, wenn er auch an dem Verhör Kurrats nicht teilgenommen hätte. Aber andererseits war er der Klassenleiter und konnte bei einem offiziellen Akt, der einen seiner Schüler betraf, nicht ausgeschlossen werden. Der Direktor tat übrigens alles, um die Vernehmung Kurrats so amtlich zu gestalten wie möglich. Er selber saß hinter seinem Schreibtisch, ich etwas seitwärts, der Referendar an der anderen Seite des Schreibtisches mit gespitztem Bleistift und wichtiger Miene. Kurrat sollte vor dem Schreibtisch auf einem Stuhl sitzen, der eigens aus einem Klassenraum herbeigeschafft war. Wahrscheinlich legte der Direktor Wert darauf, daß es ein ungepolsterter Stuhl war. Ich rechnete nicht damit, daß wir bei all diesen Anstalten sehr viel aus Kurrat herausbekommen würden, sagte aber nichts, da ich sicher war, in späteren persönlichen Gesprächen mit Kurrat zu erfahren, was ich erfahren wollte. Kurrat wurde hereingerufen. Der Direktor wies mit strenger Miene auf den Armesünderstuhl. Kurrat war bleich; man merkte es trotz seiner braunen Hautfarbe. Er zeigte einen verschlossenen, fast trotzigen Gesichtsausdruck. Der Direktor begann: „Es ist dir klar, daß du mit einer empfindlichen Strafe zu rechnen hast. Bevor das Kollegium darüber berät, muß der Sachverhalt geklärt sein. Wenn du von unserer Seite Nachsicht und Verständnis erwartest, setzen wir bei dir Offenheit und Vertrauen voraus.“ Er blickte den Jungen eine Weile an, als erwarte er eine Antwort. Dann fuhr er fort: „Es interessiert uns zunächst, was dich veranlaßt hat, einfach durchzubrennen.“ 127
Kurrat lächelte gequält und zuckte die Achseln. „Ich konnte es nicht mehr aushalten.“ „Den Unterricht? Die Lehrer? Die Verhältnisse im Internat?“ „Alles. Ich hatte keinen besonderen Grund. Aber man ist hier doch eingesperrt; jeder Schritt wird bewacht, nach allem muß man um Erlaubnis fragen … Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten.“ „Meintest du, daß du es draußen sehr viel besser treffen würdest?“ „Ich habe mir wohl falsche Vorstellungen gemacht, aber ich dachte, ich bin alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen.“ Aus der Sicht der Jugendpsychologie mochten Kurrats Erklärungen glaubhaft sein, und der Direktor gab sich auch damit zufrieden; mir schienen sie nicht zu der realistischen, zielbewußten Denkweise Kurrats zu passen. Auch die Art, in der er seine Antworten vorbrachte, wirkte auf mich komödiantisch. Kurrat war ein guter Schauspieler, er hatte es einmal bei einer Schüleraufführung bewiesen, und mir kam es vor, als spielte er jetzt die Rolle des, von unbestimmten Sehnsüchten getriebenen Jünglings. „Ich verstehe mich jetzt selber nicht mehr“, sagte er mit unsicherer Stimme, aber der harte Blick seiner braunen Augen paßte nicht dazu. „Mit mir war irgendwas los, aber ich glaube, ich bin jetzt zur Vernunft gekommen. Sonst säße ich ja auch nicht hier.“ Über sein Ergehen während der Zeit seiner Abwesenheit erfuhren wir nur Bruchstückhaftes: Er war angeblich mit der Bahn nach Hamburg gefahren, um als Küchenjunge auf einem ausländischen Schiff anzuheuern. Er glaubte, daß er einen Kapitän finden würde, der ihn ohne die erforderlichen Papiere nahm. Meine Zwischenfrage, ob er denn überhaupt wisse, was für Papiere er gebraucht hätte, verneinte er. Mir kam es daraufhin noch unwahr128
scheinlicher vor, daß ein intelligenter Junge wie Kurrat auf irgendwelche vagen Hoffnungen hin durchbrannte. In den ersten Tagen hatte er sich, wie er weiter angab, keine feste Unterkunft besorgt, weil er damit rechnen mußte, daß nach ihm gesucht wurde. Später hatte ein Hafenarbeiter ihn bei sich untergebracht. Als er sein Geld verbraucht hatte und die Suche nach einem Schiff vergebens blieb, war er zurückgekehrt. „Ich glaube, in den letzten beiden Wochen habe ich viel gelernt“, sagte Kurrat abschließend und setzte eine altkluge Miene auf. „Jetzt sehe ich ein, daß ich einen großen Fehler gemacht habe.“ Ich hatte mich bisher an der Vernehmung kaum beteiligt. Mich interessierte aber Kurrats Stellungnahme zu einigen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Verdacht gegen Schramm unbeantwortet geblieben waren. „Weshalb hast du die dreiundfünfzig Mark aus deinem Schrank nicht mitgenommen?“ fragte ich ohne Überleitung. „Weil … Ich habe sie vergessen.“ „Wieviel Geld hattest du in Hamburg zur Verfügung?“ „Ungefähr hundertfünfzig Mark.“ „Und da kam es auf das Geld in deinem Schrank so wenig an, daß du es einfach vergessen hast?“ Kurrat schwieg und warf mir einen wütenden Blick zu. „Weshalb hast du deine Sachen nicht mitgenommen? Weder Mantel noch Wäsche?“ „Ich wollte durch das Zusammenpacken keinen Verdacht erregen. Ich hatte mir von zu Hause was mitgebracht und es im Koffer auf dem Bahnhof gelassen, bei der Gepäckaufbewahrung.“ „Deinen Trenchcoat und einige andere Sachen hättest du auch an dich nehmen können, ohne Aufsehen zu erregen!“ Wieder wußte Kurrat keine Antwort. „Wie ist der Sohn des Bauern Harbs zu deinem Schal gekommen?“ 129
„Ach, der Schal … Ich habe ihn verloren, bevor ich nach Hamburg abgereist bin. Wer ihn gefunden hat, weiß ich nicht.“ Diese Antwort kam sehr schnell, als hätte er sich darauf vorbereitet. „Du hast Herrn Schramm am Dienstagabend unten am Steg gesagt, du wolltest ins Fotogeschäft, bist aber in Wahrheit schon am Tage vorher dort gewesen.“ „Ich brauchte doch eine Ausrede, um wegzukommen. Herr Schramm hat es geglaubt, obwohl es schon nach Geschäftsschluß war.“ „Und wenn er daran gedacht hätte?“ „Dann hätte ich gesagt, ich gehe in Herrn Schönles Privatwohnung über dem Laden.“ „Warum bist du überhaupt noch mit Herrn Schramm an den Steg gegangen und hast dich bei ihm abgemeldet? Du hättest doch vorher einfach verschwinden können. Oder nach der Rückkehr ins Internat.“ „Vorher hab’ ich doch für Herrn Schramm die alten Hefte zusammenpacken müssen. Und hinterher hätte er vielleicht noch mit mir reden wollen. Ich wollte aber an dem Abend noch weg. Außerdem liegt der Steg auf dem Weg zum Bahnhof.“ „Hast du denn gar nicht daran gedacht, daß du Herrn Schramm dadurch in Ungelegenheiten bringen könntest? Schließlich war er …“ Der Direktor unterbrach mich: „Aber ich möchte doch bitten, daß wir diese Angelegenheit jetzt ruhen lassen. Die Widerlegung all jener Unsinnigkeiten sitzt hier doch leibhaftig vor uns.“ Und zu dem Referendar gewandt: „Ich bitte, diese Bemerkung nicht zu protokollieren.“ Unter diesen Umständen verzichtete ich natürlich auf weitere Fragen, beschloß aber, mir Kurrat später noch allein vorzunehmen. Der Direktor schloß das Verhör ab, indem er Kurrat noch einmal auf die bevorstehende Konferenz und die zu erwartende Bestrafung hinwies. Kurz nach Mittag kamen Lünzmann und Hensen zu 130
mir und baten mich, gemeinsam mit Kurrat in den Ort gehen zu dürfen. Man merkte ihnen an, daß Kurrat der Held des Tages war. Wahrscheinlich sollte er zur Feier seiner Rückkehr in irgendeinem Lokal „einen ausgeben“, und ich hielt es deshalb für besser, ihn nicht gehen zu lassen. Selbstverständlich ist unseren Schülern jeglicher Alkoholgenuß verboten. „Für heute nachmittag habe ich die Absicht, mich um Kurrat zu kümmern“, sagte ich, „da werdet ihr leider auf ihn verzichten müssen.“ Ich ließ Kurrat zu mir kommen und sagte: „Ich möchte noch ein wenig privat mit dir sprechen. Wir können in den Ort fahren und dort eine Tasse Kaffee trinken.“ „Ich habe gar nicht gewußt, daß Übeltäter hier so gut behandelt werden“, entgegnete er erstaunt. Tatsächlich hatte ich bei meiner Einladung einen Hintergedanken. Aber zunächst fuhr ich mit ihm in den Ort, wo wir uns in ein Café setzten, das zu dieser Tageszeit, am frühen Nachmittag, noch ganz leer war. „Es hat mit dir eigentlich nichts zu tun“, begann ich, „deshalb haben wir auch heute morgen beim Direktor nicht darüber gesprochen … Du bist an dem bewußten Dienstagabend noch bei den Sieverts gewesen. Wohin bist du daran anschließend gegangen?“ „Noch einmal zum Steg zurück. Aber Herr Schramm war nicht mehr da.“ „Weshalb bist du noch einmal zurückgegangen?“ „Bis zur Abfahrt des Zuges war noch Zeit. Ich wollte mich nicht unnötig lange im Ort aufhalten. Deshalb hab’ ich mich noch einen Augenblick an den Steg gesetzt.“ „Nach Herrn Sieverts Angabe warst du aber noch gar nicht mit Herrn Schramm zusammen gewesen, als du von ihm aus zum Steg gingst.“ „Das stimmt nicht“, sagte Kurrat mit Überzeugung. „Ich hatte mich doch schon vorher von Herrn Schramm getrennt, nachdem wir den Sack mit den Heften ins 131
Wasser geworfen hatten … Da muß mich Herr Sievert falsch verstanden haben.“ Dagegen konnte ich nichts einwenden. „Wie kommt es aber“, fragte ich weiter, „daß die Sieverts dich später nicht an ihrem Haus vorbei in den Ort haben gehen sehen? Sie sind die ganze Zeit draußen gewesen.“ „Ich bin auf einem Umweg zum Bahnhof gegangen, nicht am Deich längs. Weil ich noch viel Zeit hatte.“ „Noch eine letzte Frage: Frau Sievert will ungewöhnliche Geräusche am Steg gehört haben, nachdem du dorthin zurückgegangen bist. Es soll zum Beispiel ein schwerer Gegenstand ins Wasser gefallen sein.“ „Nein, da muß sie sich … Oder doch – ich habe einen dicken Stein ins Wasser geworfen … Aber das hätte sie doch kaum hören können. Vielleicht hat sie vorher den Sack mit den Heften ins Wasser fallen hören und dann später den Zeitpunkt verwechselt.“ Die Angaben des Ehepaars Sievert waren also nicht zuverlässig gewesen, obwohl sie mit großer Sicherheit vorgebracht wurden. Auch wenn meine Zweifel nicht beseitigt waren, ich mußte mich zufriedengeben, denn niemand hatte Kurrat schließlich etwas angetan. Als wir wieder im Auto saßen, schlug ich nicht den Weg zum Internat ein, sondern fuhr in die entgegengesetzte Richtung zum Ortsausgang. „Wollen wir noch nicht zurück?“ fragte Kurrat erstaunt. „Du hast doch deinen Schal verloren. Ich weiß, wo du ihn dir abholen kannst.“ Kurrat bekam offensichtlich einen Schreck. „Aber ich brauche ihn doch gar nicht. Ich … ich mochte ihn sowieso nicht mehr. Bitte lassen Sie das!“ Kurrats Reaktion bestärkte mich nur in meiner Absicht. Er und der junge Harbs sollten sich gegenübertreten. Vielleicht erwies sich dann Kurrats Bericht über seine Erlebnisse in Hamburg als erlogen. 132
Als wir in die Allee einbogen, sagte Kurrat noch einmal: „Mir liegt nicht das geringste an dem Schal. Ich will ihn gar nicht mehr … Hören Sie, es wirkt doch kleinlich, wenn wir extra deswegen hierher …“ Er brach resigniert ab. Während ich die Allee hinauffuhr, dachte ich an den kläglichen Zustand, in dem ich sie vor drei Tagen herabgekommen war. Dieser junge Bauernlümmel sollte nicht ganz ungeschoren bleiben. Und wenn Kurrat sich hier tatsächlich versteckt hatte, war er an meinem Mißgeschick beteiligt gewesen. Ich warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, aber er reagierte nicht darauf. Ich bog in das Rondell ein und hielt. Der Bauer Harbs saß auf der weißgestrichenen Bank neben dem Eingang und bot mit seiner Pfeife, der offenen Weste und den grünen Filzpantoffeln den Anblick eines friedlichen Landmannes am Sonntagnachmittag. Er stand erst auf, als wir unmittelbar vor ihn traten, nahm nur eben die Pfeife aus dem Mund, grüßte kaum und sagte: „Na, suchen Sie Ihren Schüler immer noch, oder ist er das?“ Er wies mit der Pfeife auf Kurrat, der sich etwas im Hintergrund hielt. „Das ist er. Ich habe noch wegen Ihres ältesten Sohnes mit Ihnen zu sprechen. Er wird Ihnen kaum erzählt haben, was Donnerstag abend hier vorgefallen ist.“ „Was soll hier vorgefallen sein? Den Schal hat er nicht, wenn Sie das immer noch nicht glauben.“ „O doch – er hat ihn. Ich habe ihn selber auf der Diele Ihres Altenteilerhauses hängen sehen. Ich war nämlich noch mal drin, nachdem wir uns getrennt hatten.“ „Da hatten Sie nichts zu suchen. Und den Schal hab’ ich da nicht gesehen.“ „Sie können es mir nicht verwehren, an die Tür eines Hauses zu klopfen, in dem jemand wohnt, den ich sprechen möchte. Als Ihr Sohn auf das Klopfen nicht antwortete, bin ich in die Diele gegangen, und es wird Sie interessieren, was mir dort passiert ist.“ 133
Harbs merkte mir meine Empörung an und begann mich etwas besorgt anzusehen. Möglich, daß er mit seinem Ältesten schon einige unangenehme Erfahrungen gemacht hatte. „Ihr Sohn hat auf mein Rufen nicht geantwortet, mich in der Diele eingesperrt und mich im Dunkeln niedergeschlagen, ohne daß ich die Möglichkeit hatte, den Grund meines Besuches zu erklären.“ „Das kann ich mir nicht denken … Nee, nee! Der Junge tut keiner Seele was; er ist mehr ’n stiller Schlag Mensch, mit allem zufrieden.“ „Anschließend hat er mich bewußtlos in den Schweinestall geworfen.“ Harbs grinste. „Da paßten Sie natürlich nicht hin.“ Ich wurde jetzt ernstlich wütend. „Wenn Sie meinen, daß Ihr Sohn mich ungestraft überfallen und in dieser Form beleidigen kann, irren Sie sich sehr! Ich werde Anzeige erstatten, und Sie werden erleben, daß solche Gepflogenheiten in zivilisierten Kreisen nicht als selbstverständlich gelten!“ Harbs sagte in versöhnlichem Ton: „Nun regen Sie sich man nicht auf. Der Junge ist an sich ganz vernünftig, bloß manchmal überkommt es ihn so’n bißchen. Dann weiß er nicht recht, was er tut.“ „Wenn er nicht zurechnungsfähig und dazu noch gemeingefährlich ist, kann man dafür sorgen, daß er in eine Anstalt eingewiesen wird“, entgegnete ich wütend. „Holen Sie ihn gefälligst her, damit er sich zu dem Vorfall äußern kann!“ Mir lag ja hauptsächlich daran, ihn Kurrat gegenüberzustellen. Ich dachte nicht im Ernst daran, etwas gegen ihn zu unternehmen, denn schließlich hatte ich ihn durch mein Eindringen in das Haus provoziert. Harbs war nicht so ruhig, wie er sich gab. Ich sah es an seinem Gang, als er sich in Richtung auf das Altenteilerhaus entfernte. 134
Kurrat hatte sich inzwischen noch weiter zurückgezogen und betrachtete interessiert die Reifen meines Wagens. „Komm ruhig zu mir her“, rief ich, „immerhin bist du nicht ganz unbeteiligt an dem, was mir hier passiert ist!“ „Ich?“ fragte Kurrat zaghaft. „Na, wegen deines Schals bin ich doch hierhergeraten, und weil ich dich suchte!“ Harbs kam mit seinem Sohn heran. Der folgte ihm nur widerwillig, aber Harbs hatte ihn am Arm gepackt. „Entschuldige dich bei dem Herrn“, fuhr er ihn an, „sonst wirst du abgeholt!“ Der Junge war breit und knochig gebaut; er überragte seinen Vater fast um Kopfeslänge. Sein Gesicht zeigte einen stumpfen, verschlossenen Ausdruck. „Entschuldigen sollst du dich!“ schrie der Vater und schüttelte ihn. Der Junge schwieg und sah Kurrat unverwandt an. „Willst du wohl gehorchen!“ brüllte der Vater und schlug ihn mit der freien Hand kräftig ins Gesicht. Der Junge duckte sich ein wenig, machte aber keine Abwehrbewegung. „Wird’s bald!“ Wieder ein Schlag ins Gesicht. Der Junge bewegte kaum die Lippen: „Er wollte klauen.“ „Darfst du ihm einfach eins über den Kopf hauen?“ Wieder ein Schlag. „Wenn er im Dustern wo anstößt!“ murmelte der Junge vorwurfsvoll und mußte gleich zwei Schläge einstecken. Es wunderte mich, daß er keinerlei Gegenwehr leistete; er war viel kräftiger als sein Vater. „Und gehört er in’n Schweinestall?“ Wieder ein Schlag. Der Junge antwortete nicht mehr. Er sah unverwandt auf Kurrat. „Wird’s bald?“ Der Alte schlug zweimal zu. 135
Da sprang Kurrat plötzlich auf die beiden zu und packte den Bauern am Handgelenk. „Er kann doch nichts dafür! Nun lassen Sie ihn doch in Ruhe!“ rief er mit zornerstickter Stimme. Der Bauer war überrascht, wandte sich von seinem Sohn ab und schob Kurrat zurück. Und in diesem Augenblick duckte sich der junge Harbs und stürzte sich auf Kurrat. Der entschlüpfte ihm mit einer gewandten Drehung und lief weg. Der Junge folgte ihm. Kurrat war schneller, schlug einige Haken, sah sich aber zwischen Wohnhaus und einer rechtwinklig daranstoßenden Scheune eingeschlossen. „Halten Sie ihren Sohn doch fest, verdammt noch mal!“ rief ich. Harbs bemühte sich vergeblich, seinen Sohn zu packen. Der war im Augenblick nicht zu bändigen, und ich sah mich schon nach einem geeigneten Werkzeug um, um ihm zu Leibe zu gehen. Kurrat war es gelungen, in die Scheune zu entwischen. Für einen kurzen Augenblick konnte Harbs seinen Sohn festhalten, dann riß sich der Junge los und verschwand ebenfalls in dem dunklen Türloch. Harbs und ich rannten hinterher. Drinnen war es dämmerig, und ich stieß mit dem Schienbein heftig gegen kantiges Metall. „Nehmen Sie sich in acht“, keuchte Harbs, „hier steht alles voll Maschinen.“ Der freie Teil der Scheune war mit lauter abenteuerlich geformten Gebilden verstellt. Räder mit scharfen Kanten, stählerne Arme mit messerartigen Zinken, gefährlich gerillte Walzen. Links führte eine Leiter zum Heuboden, die der junge Harbs gerade hinaufhastete. Kurrat war bereits auf dem Heuboden verschwunden. Der Bauer stieg ihnen nach. Gerade über mir, soweit sich der Stellplatz der Maschinen erstreckte, war eine weite Öffnung in der Decke ausgespart, durch die man in das Gebälk des Dachstuhls blicken konnte. Mir stockte der Atem, als ich auf einem 136
der dicken waagerechten Balken Kurrat entlanglaufen sah, mit einer Heugabel balancierend. „Halt dich fest!“ rief ich hinauf und sah auf die Maschinen, die unterhalb des Balkens standen. „Hier kommt er nicht ’rauf!“ rief Kurrat, gänzlich außer Atem. Er war nicht mehr in unmittelbarer Gefahr, weil er einen senkrechten Balken erreicht hatte und sich daran festhielt. Die Heugabel in der Hand, wandte er sich halb um und sagte eindringlich: „Sei doch friedlich! Es ist doch gar nichts los! Ich hab’ doch gar nichts gesagt!“ Der junge Harbs erschien jetzt ebenfalls auf dem Balken. Ich begann das Schlimmste zu fürchten und versuchte, die scharfkantigen Maschinen unterhalb des Balkens beiseite zu schieben. Aber sie waren blockiert, auch viel zu sperrig, als daß ich sie hätte allein bewegen können. Ich machte mir heftige Vorwürfe. In was für eine Situation hatte ich Kurrat gebracht! Und das letztlich nur, um meine Neugierde zu befriedigen … Zu meinem Schrecken kletterte der Bauer die Leiter wieder herab. „Ich komme da nicht ’rauf“, sagte er atemlos. „Wir müssen sehn, daß wir ihn von hier unten beruhigen …“ Dann rief er drohend nach oben: „Ich sorg’ dafür, daß sie dich abholen! Komm da sofort ’runter! Du gehst mir nicht an ihn ’ran!“ Kurrat stand an seinen Balken gelehnt, bereit, den Verfolger mit der Heugabel abzuwehren. Dieser konnte es nicht riskieren, sich ihm zu nähern. Ich hörte, daß Kurrat leise zu ihm sprach, konnte ihn aber nicht verstehen. Der Junge blieb in gebückter Haltung stehen. „Hinlegen! Halt dich fest!“ rief sein Vater. Der Junge bückte sich noch tiefer, und plötzlich – wir alle schrien auf – rutschte er ab und hing an einem Arm unterhalb des Balkens. Der Körper pendelte hin und her. „Die Maschine muß da weg“, stieß der Alte hastig hervor, „helfen Sie mir!“ Er fingerte daran herum und warf 137
sich dagegen, daß die Räder sich quietschend in Bewegung setzten. Ich half, so gut ich konnte. Gerade über uns baumelte der Junge, der sich jetzt mit beiden Händen festhielt, aber anscheinend nicht mehr die Kraft hatte, sich hochzuziehen. Vielleicht hatte er sich beim Fallen eine Zerrung zugezogen. Die Maschine ließ sich nicht ohne weiteres wegschieben, andere waren im Wege. Der Bauer hatte vor, den Zementboden frei zu machen und einen Haufen Heu darauf zu werfen. „Steigen Sie auf den Boden, und werfen Sie Heu ’runter!“ rief er mir zu. Aber ich sah gebannt nach oben. Kurrat hatte sich auf einen Balken gelegt und kroch an die Stelle heran, wo der Junge hing. Dann zog er seinen Gürtel aus, schnallte ihn zusammen, wickelte ihn fest um seine rechte Hand und hielt ihn nach unten. Der Junge fuhr sofort mit dem Arm hinein, Kurrat umklammerte den Balken mit Armen und Beinen, der Junge gewann festen Halt – vorher hafte er ja nur an den Fingerspitzen gehangen – und versuchte, ein Bein über den Balken zu bringen. Kurrat zog ihn mit aller Kraft höher; es gelang dem jungen, ein Bein über den Balken zu schlagen … Jetzt faßte er mit der einen Hand nach, und nach einer letzten Anstrengung glückte es ihm, mit dem ganzen Körper auf den Balken hinaufzukommen. In diesem Augenblick nahm ich mir vor, Kurrat nicht mehr nachzuspüren. Es sollte mir genügen, daß er wieder da war und ich wollte mich morgen auf der Konferenz mit aller Energie dafür einsetzen, daß er auf der Schule blieb. Die beiden Jungen kletterten friedlich hintereinander die Leiter herunter. „Ihr Junge braucht sich nicht mehr zu entschuldigen“, sagte ich. „Bitte bestrafen Sie ihn auch nicht. Von mir aus werde ich nichts gegen ihn unternehmen. Die Sache ist erledigt.“ 138
Harbs ergriff seinen Sohn wieder am Arm und führte ihn beiseite. „Ich weiß nicht, was er gegen Ihren Jungen hatte“, sagte er über die Schulter; „er muß wohl geglaubt haben, daß er auf mich los wollte … Das war ja auch keine Art und Weise.“ Ich hielt Kurrats Arm ebenfalls umfaßt, obwohl dies natürlich unnötig war. Wir gingen gemeinsam zu meinem Wagen. „Sie haben kein Glück bei mir auf’m Hof“, rief mir Harbs noch zu. „Ich werde es nicht mehr darauf ankommen lassen“, rief ich zurück, „verlassen Sie sich darauf!“ Kurrat und ich fuhren die Allee hinunter. Ich war zufrieden in dem Gefühl, etwas endgültig hinter mich gebracht zu haben. Es war offenkundig, daß Kurrat den jungen Harbs kannte, und ich war ziemlich sicher, daß dieser ihn verborgen und vorhin angenommen hatte, Kurrat habe ihn verraten. Ich wollte Kurrat nicht mehr danach fragen, ihn nicht zu einer neuen Lüge nötigen. Schließlich war es nicht wichtig, ob er sich in Hamburg herumgetrieben oder sich hier versteckt gehalten hatte. „Das mit dem Schweinestall tut mir sehr leid“, sagte Kurrat plötzlich. „Auf so einen Gedanken wäre ich nie gekommen – ich meine, wenn ich der Harbs gewesen wäre.“ Ich muß sagen, daß ich mich über diese Bemerkung sehr freute. Es war ja wirklich nicht gesagt, daß Kurrat dabeigewesen war, als mir mein Mißgeschick widerfuhr. Oder er hatte nicht bemerkt, was der junge Harbs mit mir anstellte. „Noch etwas: Sie müssen in der dunklen Diele gegen einen Balken gerannt sein“, fügte Kurrat hinzu. „Er sagt, geschlagen hat er Sie nicht.“ Ich lächelte und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. „Du hast dich heute tadellos gehalten“, sagte ich. Am Abend desselben Tages klopfte Frau Muhl an meine Zimmertür, weigerte sich einzutreten und sah mich hil139
fesuchend an. „Ich habe ihn gefunden“, sagte sie, „bitte helfen Sie mir!“ „Ist ihm etwas zugestoßen?“ „Er sitzt in einer Wirtschaft im Ort. Es ist nichts mit ihm anzufangen. Er glaubt nicht, daß Kurrat wieder zurück ist, und will nicht mit nach Haus.“ Ich fühlte mich verpflichtet, mit ihr zu gehen. Nachdem Kurrat zurück war, Schramm völlig entlastet, sollten nun auch Muhls Angelegenheiten ins reine gebracht werden. Es lag mir daran, daß er nicht zu lange in einer Wirtschaft hier im Ort herumsaß und womöglich in betrunkenem Zustand Geschichten über die Schule verbreitete. „Wo hat er sich denn während der vergangenen Woche aufgehalten?“ fragte ich, während ich mit Frau Muhl in den Ort fuhr. „Erst bei einem Bekannten von früher, dann ist er in verschiedenen Dörfern der Nachbarschaft gewesen und hat dort in den Kneipen gesessen …“ Ihr kamen die Tränen. „Man erkennt ihn gar nicht wieder“, schluchzte sie; „er ist vollständig aus der Bahn geworfen. Er hat nun schon so lange ein ordentliches Leben geführt.“ Sie wies mich in eine dunkle Nebenstraße am Ortsrand, wo ich vor einer Wirtschaft mit einer trüben Bierreklame hielt. Ich spürte wenig Neigung hineinzugehen. Womöglich hatte ich mich schon wieder auf etwas eingelassen, was mir Unannehmlichkeiten bereiten konnte. Aber es blieb mir keine Wahl. Es war ein ärmlich ausgestattetes Lokal, schlecht beleuchtet, säuerlich nach abgestandenem Bier riechend. An den Tischen saßen einzelne, wie mir schien, recht fragwürdige Gestalten; nur an einem Tisch wurde Karten gespielt, so daß etwas Leben in den Raum kam. Muhl hockte allein an einem Tisch und war offensichtlich ziemlich betrunken. Als seine Frau ihn anstieß, glitt sein wässeriger Blick langsam an mir herauf. Er sah 140
mich eine Weile an und murmelte dann fast unverständlich: „Mit mir können sie’s ja machen, die Herren … Mit mir können sie’s ja machen.“ „Stehen Sie auf, und kommen Sie mit“, sagte ich leise, aber bestimmt. „Es passiert Ihnen nichts. Kurrat ist wieder da. Es ist alles in Ordnung.“ Er sah mich stumpf an. Seine Frau hatte inzwischen an der Theke die Rechnung bezahlt, faßte ihn am Arm und zog ihn hoch. Als ich ihr behilflich sein wollte und ihn am anderen Arm packte, stieß er mich heftig mit dem Ellenbogen zurück. Einige von den übrigen Gästen wurden aufmerksam und begannen mich mit Mißfallen zu mustern. „Ich warte draußen am Wagen; vielleicht hilft Ihnen einer der Herren“, sagte ich und zog mich eilig zurück. Ich kenne mich in solchen Lokalen nicht aus und kann nicht beurteilen, wie leicht es zu Tätlichkeiten oder gar zu einer Schlägerei kommt. Ich brauchte nur kurze Zeit zu warten. Muhl schob sich aus der Tür heraus, gestützt von seiner Frau und einem jüngeren Mann, der sich sehr zuvorkommend gebärdete. „Auf’s Maul schlag ich ihm, dem Kurrat … Die Knochen brech’ ich dem …“, lallte Muhl vor sich hin. Ich ließ ihn auf dem Rücksitz unterbringen und nötigte seine Frau, sich neben ihn zu setzen und darauf zu achten, daß er die Polster nicht beschmutzte. Frau Muhl bedankte sich bei ihrem Helfer. Der nickte ihr aufmunternd zu und sagte besorgt: „Nu sehn Se man zu, dat Se ihn heil nach Haus kriegen, dat besoffne Schwein dat.“ Wir fuhren heimwärts. Ich mußte lächeln. Muhl war nicht ertrunken – er war betrunken. Schon am nächsten Morgen bat Frau Muhl den Direktor, die Kündigung ihres Mannes entgegenzunehmen. Sie erklärte sich bereit, die Wohnung sofort zu räumen, wenn wir für kurze Zeit einen Raum zum Lagern der 141
Möbel zur Verfügung stellten. Fürs erste wollte sie mit ihrem Mann zu ihrer unverheirateten Schwester ziehen. Ich darf hier einfügen, daß Muhl bald darauf eine Stellung als Pförtner in einer Fabrik bekommen hat. Für uns war sein Fortgang kein Verlust; sein Nachfolger, unser jetziger Hausmeister, ist ein außerordentlich tüchtiger Mann, der aus unserer Schule nicht mehr wegzudenken ist. In der Gesamtkonferenz am Montagnachmittag gab es eine lange Debatte über Kurrats Bestrafung. Ich will das engherzige Argumentieren mancher Kollegen nicht wiedergeben. Fast schien mir daraus pädagogisch getarnte Rachsucht zu sprechen. Wenn es um Bestrafung geht, sind manche Kollegen geneigt, in dem einen Schuldigen die Schüler überhaupt zu treffen, die vielköpfige Hydra, die den Lehrer bedroht … Ich zitiere aus dem Protokollbuch: Der Direktor bittet das Kollegium um Äußerungen zur Person Kurrats. Herr Meinke hält Kurrat für einen durchtriebenen Jungen, vor dem Lehrer und Schüler sich in acht nehmen müßten. Auch Herr Fischer ist der Meinung, daß Kurrat ein schwer durchschaubarer Junge sei, äußert sich aber positiv über seinen Charakter. In der folgenden Diskussion ergibt sich, daß die Mehrheit des Kollegiums Kurrat für einen im Grunde wertvollen, wenn auch verschlossenen und gelegentlich etwas rücksichtslosen Jungen hält. Herr Meinke teilt darauf dem Kollegium ein Vorkommnis mit, das sich vor einigen Monaten zugetragen hat: Kurrat hat einen Schüler seiner Quinta durch Zahlung eines Geldbetrages veranlaßt, einen lebenden Regenwurm hinunterzuschlucken. Herr Fischer, der ebenfalls von diesem Vorfall erfahren hat, 142
wendet ein, daß der Quintaner sich erboten habe, den Regenwurm gegen Zahlung von DM 1,– hinunterzuschlucken, und dies dem Vernehmen nach schon öfter getan habe. Man könne Kurrat hierfür also nur bedingt verantwortlich machen. Der Quintaner sei den Genuß von Regenwürmern gewohnt, so daß eine Brutalität darin nicht gesehen werden könne, höchstens dem Wurm gegenüber. Nachdem das Kollegium durch diese Worte in eine heitere Stimmung versetzt worden war, schien mir der Zeitpunkt günstig, über Kurrats gestriges Verhalten bei dem Bauern Harbs zu berichten. Ich hob seinen Einsatz bei der Rettung des Jungen gebührend hervor, und dies verfehlte seine Wirkung nicht. – Ich zitiere weiter aus dem Protokoll: Der Direktor gibt zu bedenken, daß die Flucht Kurrats als Kurzschlußreaktion zu werten sei. Gerade aus der Vitalität des Jungen heraus sei zu verstehen, daß er in einem plötzlichen Drang nach Freiheit alles habe hinter sich lassen wollen. Vom Standpunkt der Schulordnung sei das ein unqualifizierbares Verhalten, aber es spreche daraus keine charakterliche Minderwertigkeit. Zu prüfen sei, ob Kurrats Verbleiben auf der Schule im Hinblick auf andere Schüler tragbar sei und ob Gewähr bestehe, daß er sich zukünftig der Schulordnung einfüge. Das Kollegium habe eine pädagogische Entscheidung zu treffen und erst in zweiter Hinsicht einen Verstoß gegen die Schulordnung zu ahnden. Herr Schramm erklärte darauf, es müsse auch unbedingt positiv bewertet werden, daß der Junge den Mut zur Rückkehr gefunden habe. Fast jeder vitale Junge habe sich irgendwann einmal mit Fluchtgedanken getragen, nur fehle es den meisten an Mut, 143
sie in die Tat umzusetzen. Das Bedürfnis auszubrechen sei kein bedenkliches Zeichen unserer Zeit, sondern von jeher ein bezeichnender Wesenszug Jugendlicher gewesen. Der Direktor verwies auf das großzügige Verhalten des alten Herrn Kurrat anläßlich der Schwierigkeiten mit Herrn Kollegen Schramm. Dem Jungen sei zweifellos übel mitgespielt worden, ohne daß der Vater hieraus Folgerungen gezogen habe. Wahrscheinlich sei auch die oppositionelle Haltung des Jungen der Schule gegenüber durch diesen Vorfall entscheidend beeinflußt worden. Herr Schramm betonte darauf, daß sich sein Verhältnis zu Kurrat völlig normalisiert habe, und bat nochmals um Verständnis für das Verhalten des Jungen. Da keine weiteren Wortmeldungen vorlagen, bat der Direktor den Klassenleiter, einen Antrag für die Bestrafung Kurrats zu stellen. Dieser beantragte, Kurrat mit der Androhung der Verweisung von der Schule zu bestrafen. In der folgenden Abstimmung wurde dieser Antrag mit Mehrheit angenommen. Hiermit war der Fall zugunsten Kurrats entschieden. Die Androhung der Verweisung erlangt praktisch nur Bedeutung, wenn der Betroffene sich innerhalb des folgendes Jahres weitere Verstöße gegen die Schulordnung zuschulden kommen läßt. Mir fiel auf, daß Schramm in der Konferenz fast leidenschaftlich für Kurrat Partei ergriff. Aber eigentlich war es die alte Erfahrung: Wenn Schramm einen Schüler überführt sah, ließ er ihn straffrei ausgehen. Außerdem fühlte er sich wohl auch verpflichtet, die ihm erwiesene Großzügigkeit des alten Herrn Kurrat zu entgelten. Der Direktor war über den Ausgang der Konferenz sehr zufrieden und verkündete Kurrat das Urteil mit so 144
viel Wärme und Wohlgefallen in der Stimme, daß man fast hätte glauben können, es handle sich um ein Lob. Zwei Tage später suchte uns Herr Kurrat auf. Er war gerade von seiner Reise zurückgekehrt, entschuldigte sich für das Verhalten seines Sohnes und dankte uns für unser Verständnis. Er war sehr froh darüber, daß wir auf eine Verweisung von der Schule verzichtet hatten, zumal er sich schon in den nächsten Tagen einer Nierenoperation unterziehen müßte und den Jungen währenddessen nicht gern allein in seiner Wohnung gelassen hätte. Ich erklärte mich darauf bereit, seinen Sohn auch noch nach Beginn der Sommerferien hierzubehalten und mich seiner besonders anzunehmen. Während der ersten Hälfte der Ferien mußte ich ohnehin im Internat bleiben, da der Direktor für drei Wochen verreiste und sonst kein Kollege zur Verfügung stand. Die Gesellschaft Kurrats war mir ganz lieb, da ich sonst völlig allein gewesen wäre. Wir vereinbarten, daß er bis zur Entlassung des Vaters aus dem Krankenhaus unter meiner persönlichen Obhut bleiben sollte. Der alte Herr Kurrat schien diesmal zufrieden mit uns. Er suchte auch Schramm noch auf und sprach längere Zeit mit ihm. Schließlich hatte auch dieser durch das Verhalten seines Sohnes die größten Unannehmlichkeiten gehabt. Bis zum Beginn der Sommerferien lag noch eine Woche Unterricht vor uns. Schramm und Kurrat sah man wieder öfter zusammen, ähnlich wie vor Kurrats Verschwinden. Sie machten Spaziergänge an den Fluß hinunter, und Kurrat besuchte Schramm auch in seinem Zimmer. Es kam mir nicht zu, die beiden zu beobachten, aber ganz konnte ich es nicht lassen, denn ihre Beziehungen entwickelten sich recht eigenartig. Auf alle Fälle schienen sie sich jetzt gut zu verstehen oder wenigstens be145
müht zu sein, Kontakt zueinander zu finden. Ihre Gespräche waren jedesmal sehr ausgedehnt. Ohne es zu wollen, wurde ich einmal Zeuge, wie Kurrat das Zimmer Schramms verließ. Ich achtete nicht auf ihre Worte, aber es klang auf beiden Seiten Erbitterung heraus. Als sich Kurrat gleich darauf umdrehte, konnte ich sein Gesicht sehen: Haß und Verachtung lagen darin. Er war so mit sich beschäftigt, daß er mich erst im letzten Augenblick bemerkte. Schramm hatte mich kommen sehen und stand noch in der Tür. Ich spürte, wie er sich zusammennahm, aber auch er war offensichtlich noch beeindruckt von dem Gespräch. Auf meine Frage, wie sich denn sein Verhältnis zu Kurrat entwickle, sagte er leichthin, alles habe sich wieder eingerenkt. Als Schramm und Kurrat an einem der nächsten Abende zum Fluß hinuntergingen, folgte ich ihnen nach einiger Zeit in der Absicht, ihnen zu begegnen, wenn sie zurückkamen. Man möge mir das nicht als Schnüffelei auslegen; ich hatte das Gefühl, daß der Fall Kurrat noch nicht abgeschlossen war … Die späteren Ereignisse haben mir recht gegeben. Ich sah die beiden schon von weitem. Sie schienen erregt miteinander zu sprechen. Als sie mich herankommen sahen, verstummten sie, und ich bemerkte wieder diesen Zug von Haß und Verachtung in Kurrats Miene. Schramm war bleich und diesmal nicht imstande, sich ein Lächeln abzuzwingen. „Na“, fragte ich, „kleine Meinungsverschiedenheit gehabt?“ „Nicht persönlicher Art“, sagte Schramm kurz. Wir trennten uns. Als ich mich noch einmal umwandte, sah ich Schramm allein den Weg entlanggehen. Kurrat mußte vorausgelaufen sein. Indessen kamen unaufhaltsam die Ferien heran. Schramm gab seine Reisepläne wieder auf, um seine 146
Paracelsus-Arbeit voranzutreiben. Vielleicht gelingt es mir in den kommenden ruhigen Tagen, dachte ich, das alte Verhältnis zu ihm wiederherzustellen. Er verübelte es mir anscheinend, daß ich an seine Schuld geglaubt, sie zumindest in Betracht gezogen hatte. Natürlich sagte er nichts dergleichen, aber sein Verhalten war anders als früher. Er wich mir aus; er machte einen gereizten Eindruck, obwohl er doch jetzt aufatmen konnte, und zog sich immer öfter in sein Zimmer zurück. Um seine Ferien wird ein Lehrer oft beneidet, und auch ich weiß sie natürlich zu schätzen. Aber ich muß zugeben, daß ich vor den großen Sommerferien fast etwas Angst habe. Ich bin es gewohnt, viele Menschen um mich zu haben, eine Funktion auszuüben, unentbehrlich zu sein. Das verlassene Schulgebäude mit den leeren Klassenzimmern und Schlafräumen bedrückt mich. Wenn die großen Ferien beginnen, ist es für mich fast wie ein endgültiger Abschied. Der Schulalltag ist vorbei, aber dieser Alltag ist unser Leben. Der letzte Schultag kam, die Abschlußfeier, das allgemeine große Händeschütteln, die strahlenden Gesichter, die Auffahrt der Autos, teils mit Chauffeuren am Steuer, teils mit bewegten Vätern. In den Schlafräumen der Schüler das große Packen; Fahrpläne, Abfahrtszeiten, Ferienziele … Ich ging etwas fremd durch all diese Unruhe und suchte Kurrat, den dies alles, gleich mir, nichts anging. Ich fand ihn in seinem Zimmer, still in einer Ecke sitzend. Es gab für ihn keine andere Möglichkeit, als im Internat zu bleiben, bis sein Vater aus dem Krankenhaus entlassen war. Verwandte hatte er nicht und auch sonst niemanden, zu dem er fahren konnte. Ich muß sagen, daß mir der Junge sehr leid tat, ich empfand sogar ein Bedauern für ihn, das größer war, als es der Anlaß rechtfertigte. Während der kommenden stillen Tage wollte ich mich ganz besonders um ihn kümmern, das nahm 147
ich mir vor. Ich war ganz froh, daß ich mich nicht auf die Gesellschaft Schramms zu beschränken brauchte. In den ersten Tagen blieb auch noch ein Quintaner im Internat, der dann von seinen Eltern zu einer Ferienfahrt abgeholt werden sollte. Am Spätnachmittag waren alle Schüler fort, bis auf die beiden Zurückbleibenden, und auch die Kollegen hatten sich verabschiedet. Das Gebäude wirkte wie ausgeblutet. Während der kürzeren Ferien ist es nicht so schlimm; da ist es nur ein Atemholen, eine fruchtbare Pause. Jetzt lag alles wie tot. Die Sonne brannte auf den verlassenen Schulhof, fiel in die leeren Klassenzimmer und offenbarte ihre bedrückende Kahlheit. Einige Tage lang würden noch die Putzfrauen Unruhe in die Räume bringen und mit dem Geruch von Bohnerwachs und Seifenpulver den dumpfsäuerlichen, aber doch wenigstens lebendigen Schulmief vertreiben, um eine sterile Reinlichkeit zurückzulassen; leblos und fade … Dann waren die Ferien endgültig da. Ich stellte mich auf die Ruhe der kommenden Tage ein. In meinem Zimmer lag ein Stapel Bücher, der durchgearbeitet werden sollte; Verwaltungsangelegenheiten waren zu erledigen – ich hatte sie sorgsam aufgeschoben, um mir auch während der Ferien den Schein der Arbeit zu vermitteln. Daneben blieb meine Schallplattensammlung, blieben Fahrten mit dem Wagen in die Umgebung oder in den Ort. Schramm zog sich ganz in sein Zimmer zurück und widmete sich seiner Paracelsus-Arbeit. Mit Kurrat sprach er kaum noch. Ich ließ Schramm in Ruhe, soweit es ging. Unsere Mahlzeiten nahmen wir gemeinsam ein. Auch das Küchenpersonal war in Urlaub; nur eine ältere Kochfrau wirtschaftete während der Morgenstunden in der Küche und besorgte das Essen. Die Abendmahlzeiten richtete sie an und stellte sie in den Kühlschrank. Ich hatte die beiden Schüler, Kurrat und den Quintaner, aufgefordert, mit 148
uns gemeinsam zu essen. So trafen wir uns dreimal am Tag. Kurrat hielt sich sonst meistens außerhalb des Internats auf. Häufig suchte er mit meiner Erlaubnis die Badeanstalt des Ortes auf; manchmal saß er mit seiner Angel am Steg. Wir schienen friedlichen Tagen entgegenzugehen. Natürlich wechselte ich manches Wort mit ihm. Er war nicht dumm, man konnte mit ihm über vieles sprechen, aber über persönliche Angelegenheiten äußerte er sich nicht. Sobald das Gespräch Persönliches berührte, bekam sein Gesicht den Ausdruck eisiger Ablehnung. Einmal kamen wir in irgendeinem Zusammenhang auf die Frage Rache oder Vergebung zu sprechen. Sie schien Kurrat zu bewegen. Er wollte die Einstellung der verschiedenen Religionen dazu erfahren und tat den christlichen Standpunkt der unbedingten Vergebung als Heuchelei ab. Es wäre sicher meine Aufgabe als Pädagoge gewesen, den Gedanken der Vergebung rückhaltlos zu vertreten. Ich tat es auch anfangs, aber Kurrat wies mich darauf hin, daß auch ein Lehrer häufig strafe. Meinen Einwand, eine solche Strafe diene nicht der Rache, sondern der Erziehung, ließ er nur mit Einschränkung gelten. „Also gut – man vergilt, um zu erziehen“, sagte er schließlich. „Auch einem Volk darf man nicht alles vergeben. Es muß durch Strafe erzogen werden.“ Ich war erstaunt, aus dem Munde eines Sechzehnjährigen solche Gedanken zu hören. Kurrat interessierte sich allerdings sehr für unsere jüngste geschichtliche Vergangenheit und hatte sich schon mehrfach Literatur darüber geben lassen. „Hier sind doch Verbrechen begangen worden“, meinte er, „und ein ganzes Volk hat sie geduldet … Jetzt reden sie von Befehlsnotstand und vom Glauben an Ideale – oder sie können sich an nichts erinnern.“ 149
Ich erzählte Schramm von dem Gespräch. Er schien davon berührt und erwähnte, daß er einen älteren Bruder gehabt habe, der bei der SS gewesen sei. In den letzten Wochen des Krieges sei er gefallen. Schramm schien an diesem Bruder gehangen zu haben, und ich unterließ es deshalb, mit ihm über die Frage der persönlichen Schuld des einzelnen zu sprechen. Schramm zeigte auch keine Neigung, sich noch weiter über seinen Bruder zu äußern. An einem der nächsten Abende, es war der 3. Juli, ging ich wie gewöhnlich noch etwas in der Umgebung des Internats spazieren. Es war schon dunkel, als ich zurückkam. Langsam schritt ich auf das stille Gebäude zu, das wie ein schwarzer Schatten hinter den Bäumen lag. Nur hinter Schramms Fenster brannte die rote Leselampe. Kurrat mußte bereits schlafen; der Quintaner war inzwischen von seinen Eltern abgeholt worden. Als ich durch den Hofeingang eingetreten war und die schwere Tür abschloß, hörte ich ein fernes Zischen. Zuerst kam ich nicht auf die Idee, daß es aus dem leeren Schulgebäude kommen könnte; ich war schon dabei, mich die dunkle Treppe emporzutasten, die in den Vorraum führt, wo der Lichtschalter ist, da fiel mir ein, daß Kurrat vielleicht vergessen hatte, die Brausen abzustellen. Ich ging also die Stufen wieder hinab, schaltete das Licht im Kellergang an und stieg hinunter. Das Zischen kam tatsächlich aus dem Waschraum. Ich öffnete die Tür und stellte fest, daß sogar das Licht noch brannte. Die Tür zum Duschraum war geschlossen. Die Brausen schienen voll aufgedreht worden zu sein, und … Ja, es roch nach Gas! Dabei war der Gasboiler schon vor längerer Zeit entfernt worden, damals, als wir die Ölheizung bekamen … Ich riß die Tür zum Duschraum auf und fuhr zurück. Eine Wolke von heißem Wasserdampf quoll mir entge150
gen. Meine Brille beschlug sofort; ich wischte mit den Fingern darüber, nahm mir nicht die Zeit, sie zu putzen, denn mit dem Dampf kam ein intensiver Gasgeruch. Ich stürzte mich in das weiße Gewoge, Böses ahnend, sprang aber mit einem Aufschrei zurück. Das Wasser schoß aus allen Brausen, und es war kochend heiß. Die Temperatur war anscheinend nicht mehr geregelt worden. Ich holte Atem, tastete mich zum Bedienungshebel für die Brausen, der neben der Tür zu suchen war, sah nichts durch die beschlagene Brille und den weißen Dampf, hielt den Atem an, drehte angestrengt an den Hähnen, verbrannte mir die Finger und konnte endlich die peitschenden Strahlen abstellen. Der heiße Strom versiegte; Wasserreste klatschten auf die Fliesen. Ich mußte schnellstens hinaus; der Dampf, die Hitze, das Gas machten das Atmen unmöglich. Ich trat auf den Gang, putzte meine Brille. Da durchzuckte mich auf einmal ein entsetzlicher Gedanke: Wenn jemand dort drinnen gewesen war … Ich stürzte an die Tür des Duschraumes. Der Dampf begann sich zu verziehen; man konnte wieder etwas erkennen. Auf den nassen weißen Fliesen lag jemand, völlig zusammengekrümmt … Es war Kurrat. Einen Augenblick war ich starr. Dann packte ich ihn unter den Armen, wollte ihn herausziehen, aber die Haut war brennend heiß; sie wirkte wie gekocht – ich fürchtete, sie könne an meinen Fingern klebenbleiben, während der Körper enthäutet auf die Fliesen glitt … er rutschte mir aus den Händen und schlug hart auf die Fliesen, wie eine Gliederpuppe. Das Gesicht lag nach oben gekehrt, Wasser aus einer Brause tropfte darauf. Die Augen waren weit aufgerissen und unbewegt; ein hartnäckiger Tropfen traf mitten in die Pupille … immer wieder. Ich stürzte auf den Gang, die Treppe hinauf in den 151
ersten Stock, in Schramms Zimmer. Ich hatte nur das Bedürfnis: einen Menschen zu sehen, nicht allein zu sein … Schramm saß unter der Leselampe; wie er auf meine Nachricht reagierte, weiß ich nicht. Das Zimmer war dunkel, es brannte nur die kleine rote Lampe, und ich war nicht fähig, noch irgend etwas aufzunehmen. Schramm ergriff meinen Arm. Als ich neben ihm die Stufen zum Keller hinunterstolperte, wurde mir schlagartig bewußt, daß ich wahrscheinlich neben Kurrats Mörder ging. Ich will nicht beschreiben, wie wir den Leichnam nach oben trugen. Das Fleisch eines Toten anzufassen, die leblosen, schweren Glieder! Wir wußten nicht, wo wir ihn lassen sollten; wir hätten ihn unten liegenlassen sollen, bis die Polizei kam. Das Krankenzimmer war verschlossen, ein Schlüssel nicht zur Hand; wir schleppten die Leiche ins Elternsprechzimmer und mußten sie dort auf den Boden legen. Ich zog die Decke vom Tisch und breitete sie über den Körper. Dann wankte ich in mein Zimmer und ließ mich kraftlos in den Sessel fallen. Schramm, beherrscht wie immer, ging ans Telefon, rief die Polizei an, bat um einen Arzt. Ging dann unerschrocken wieder in den Keller, um nach dem ausströmenden Gas zu sehen. Ich brachte inzwischen Ordnung in meine Gedanken. Vor allem machte ich mir klar, daß es unsinnig war, Schramm erneut zu verdächtigen. Schon einmal hatte ich es bereuen müssen. Schramm hatte nach wie vor nicht den geringsten Grund, Kurrat etwas anzutun. Schramm ließ lange auf sich warten. Dann sah er herein und fragte kurz nach dem Schlüssel für das Krankenzimmer. Ich hörte, wie er sich im Elternsprechzimmer und auf dem Flur zu schaffen machte. Kurrat konnte nicht auf dem Fußboden liegenbleiben. Aber ich fühlte mich außerstande, Schramm behilflich zu sein. Schließlich raffte ich mich auf. Die Tür zum Kranken152
zimmer war angelehnt. Ich sah hinein. Schramm stand am Waschbecken und wusch sich die Hände. Er schien mich gar nicht zu bemerken. Er wusch sich sehr sorgfältig die Hände, und um seinen Mund spielte ein seltsames Lächeln. Ich blickte nach rechts. Auf dieser Bettkante hatte Kurrat noch vor kaum drei Wochen gesessen, für mich wie vom Tode erstanden. Jetzt lag er unter einem weißen Laken, lang ausgestreckt, steif, wirklich und unwiderruflich tot.
Der sechste Tag Ich bin Schramm auf der Spur! Heute drängte er mich erneut, ihm das alte Entleihbuch herauszusuchen, und das machte mich nur noch mißtrauischer. Eine Umfrage bei den Kollegen hat ergeben, daß niemand das, von Schramm angeblich gesuchte Buch benutzt hat. Also kann nur Schramm selber es herausgenommen haben. Sein Interesse für das alte Entleihbuch dient dann nicht der Auffindung des Buches, sondern es muß dem letzten Entleiher gelten. Glücklicherweise ist es an unserer Schule üblich, Schriftstücke, Protokollbücher und derlei aufzubewahren, auch wenn es sinnlos erscheint. Das alte Entleihbuch mußte im Archiv oder auf dem Boden sein. Ich fand es nach langem Suchen in einem verstaubten Aktenschrank auf dem Boden. Es war vor zwei Jahren abgeschlossen worden und reichte mit seinen Eintragungen mehr als zehn Jahre zurück. Das von Schramm angeblich gesuchte Buch fand ich dreimal darin verzeichnet; von Interesse waren die letzten beiden Eintragungen. Vor sechs Jahren hatte Schramm das Buch entliehen. Die Rückgabe war nicht 153
von seiner Hand vermerkt, außerdem fiel das Datum schon in die Zeit nach seiner Verhaftung. Das Buch war also in seinem Zimmer stehengeblieben und später von einem Kollegen zurückgestellt worden. Zum letztenmal war das Buch etwa drei Jahre später eingetragen. Der Entleiher, ein Herr Wiegmann, war für ein halbes Jahr als Referendar bei uns tätig gewesen und hatte während dieser Zeit seine Examensarbeit angefertigt, wie ich mich erinnerte. Aus den Eintragungen entnahm ich, daß er noch fünf andere Bücher für ein halbes Jahr entliehen hatte. Weshalb sucht Schramm zu erfahren, wer das Buch nach ihm benutzt hat? Es gibt nur eine Möglichkeit: Er muß etwas Wichtiges hineingelegt haben, irgendein Schriftstück, das er nicht mehr darin vorgefunden hat. Vielleicht hat der Referendar es fortgeworfen, vielleicht ist es während seiner Arbeit mit den sechs Büchern in ein anderes hineingeraten. Meine Hoffnung hierauf war anfangs nicht sehr groß, aber ich glaube jetzt eine Spur gefunden zu haben. Ich schrieb mir die Signaturen der sechs Bücher auf, die der Referendar benutzt hatte, und stieg in die Bibliothek hinauf, als Schramm zum Mittagessen fortgegangen war. Von den sechs Büchern waren nur drei vorhanden. Zwei sind von Kollegen entliehen worden, und das dritte hat ja wahrscheinlich Schramm. Ein Schriftstück befand sich in keinem der Bücher, nur einige Lesezeichen lagen darin. Sie waren unbeschrieben, nur auf dem einen standen einige zusammenhanglose Worte, größtenteils nur Bruchstücke. Das Lesezeichen war von einem größeren Blatt abgetrennt worden. Ich sah mir die Worte an; ein Sinn war nicht hineinzubringen. Es war anscheinend eine Schülerschrift, und als mir dies klar wurde, durchschoß mich der Gedanke, daß es sich um Kurrats Schrift handeln konnte. 154
Ich hatte mir seine Schrift einmal genau angesehen und sie zu analysieren versucht, als er verschwunden war. Es lagen jetzt zwar schon sechs Jahre dazwischen, aber ich glaubte mich zu erinnern, daß die Schrift so ausgesehen hatte. Ich brauchte eine Schriftprobe Kurrats. Es mußte sich noch ein altes Heft finden oder ein Brief, den Kurrat vielleicht an einen Kameraden geschrieben hatte. Es war immerhin möglich, daß man Heft oder Brief aufbewahrt hatte, da Kurrats Schicksal ja nicht alltäglich gewesen war. Wenn Schramm das Blatt, von dem dieser Streifen abgetrennt ist, seit Tagen gesucht hat, muß es für ihn sehr wichtig sein. Ich muß gestehen, daß mich das Jagdfieber ergriffen hat. Denkbar ist, daß Schramm bereits einen anderen Teil des Blattes in dem Buch gefunden hat, das angeblich nicht auffindbar ist. Der Streifen, den ich gefunden habe, ist knapp 5 cm breit und 21 cm lang. Das gesamte Blatt hat anscheinend das Format einer halben Briefbogenseite gehabt – DIN A 5. Wenn der Bogen in gleichmäßig breite Streifen zerschnitten worden ist, müssen drei Streifen entstanden sein. Mein Streifen ist der erste von links gewesen. Es ist ein schmaler Rand gelassen, dann beginnen die einzelnen Zeilen, die aber immer nur etwa fünf Buchstaben bis zum Schnittrand aufweisen. Das Blatt ist gefaltet und dann mit einem Messer in Streifen geschnitten worden. Mein Streifen enthält zwölf Zeilenanfänge. Es handelt sich anscheinend um einen Brief. Bitte bleib unser erfah seine Deine Er we 155
habe für m nicht etwas Hol m Kennzeichnend für Kurrats Schrift war vor allem die Unterlänge beim „g“, eine verschlungene, manchmal geradezu verknotet wirkende Schleife. Leider enthalten die zwölf Zeilenanfänge kein „g“. Ich kann mich aber auch an Kurrats Eigenart erinnern, das kleine „l“ nur aus einem Aufstrich bestehen zu lassen, der plötzlich abbrach, ohne eine Schleife zu bilden und wieder zur Grundlinie zurückzukehren. Dieses eigenartige „l“ ist auf dem Streifen zweimal zu finden. Der Referendar hat während seiner Arbeit Lesezeichen benötigt, um verschiedene Textstellen festzuhalten. Offenbar hat er deshalb den Briefbogen, der in einem der Bücher lag, zerschnitten. Wie konnte er aber einen wichtigen Brief einfach zerschneiden? Möglich, daß er ihn gar nicht gelesen hatte, allerdings nicht wahrscheinlich. Oder der Brief enthielt keine Namen, nur als Unterschrift den Vornamen Kurrats. Vielleicht war auch der Inhalt für einen Außenstehenden belanglos, und außerdem war der Brief schon fast drei Jahre alt, als der Referendar ihn in die Hände bekam. Über Schramm und Kurrat wurde an der Schule nicht gesprochen, und wahrscheinlich wußte der Referendar gar nicht, was sich drei Jahre vorher bei uns zugetragen hatte. Gleich heute nachmittag ging ich daran, die beiden fehlenden Bücher zu beschaffen. Vielleicht lagen darin weitere Teile des Blattes als Lesezeichen. Auch ein späterer Benutzer wirft Lesezeichen selten weg. Das eine Buch kann ich erst morgen bekommen. Ein Kollege hat es aus der Bibliothek entnommen, um es dem Primaner Knesebeck für die Vorbereitung eines 156
Referats zu überlassen. Dieser ist leider heute mittag fürs Wochenende nach Haus gefahren und hat das Buch mitgenommen. Glücklicherweise liegt das Gut seines Vaters in der Nähe. Ich habe die Eltern angerufen, und sie erklärten sich bereit, ihren morgigen Sonntagsausflug mit dem Wagen zu benutzen, um mir das Buch hereinzureichen. Mir ist daran sehr gelegen, weil morgen Schramms letzter Tag ist. Er hat eigens darum gebeten, auch am Sonntag noch in der Bibliothek arbeiten zu dürfen. Das zweite Buch hat der Kollege Adamski entliehen. Ich suchte ihn heute nachmittag in seiner Wohnung auf und deutete an, daß mein Interesse für das Buch mit Schramm zusammenhänge. Adamski, etwas verwundert, brachte es mir und bemühte sich um Kognakflasche und Gläser. Währenddessen blätterte ich das Buch eilig durch. Einen Streifen konnte Schramm bereits gefunden haben, einen weiteren hatte ich. Es mußte Schramm also noch mindestens ein Streifen fehlen, denn sonst hätte er kaum danach geforscht. Zu meiner Enttäuschung fand ich weder ein Lesezeichen noch ein loses Blatt Papier. „Sie haben nicht zufällig etwas herausgenommen, ein Lesezeichen vielleicht?“ Adamski verneinte meine Frage und sah mich erstaunt an. Was denn das Buch mit Schramm zu tun habe, fragte er. Ich gab eine ausweichende Antwort, aber von dem Thema Schramm kamen wir nicht mehr los. Ich glaube wohl, daß in dieser Woche immer über Schramm gesprochen wurde, wenn irgendwo zwei Kollegen zusammensaßen. Adamski gehört zu den Kollegen, die Schramm verurteilen, und ist ihm in den vergangen fünf Tagen aus dem Weg gegangen. „Schließlich hat er für das, was er getan hat, gebüßt“, sagte Adamski, „aber es ist für mich nicht erwiesen, daß Kurrat einem Unfall zum Opfer gefallen ist.“ Er blickte 157
mich vielsagend an. „Ich will nichts behaupten, aber ein Verdacht bleibt.“ „Vielleicht läßt sich die Angelegenheit noch klären“, sagte ich. „Der Kurrat war ein merkwürdiger Junge“, fuhr Adamski fort, „Sie erinnern sich, ich hatte ihn im Deutschen … Intelligent war er, das muß man sagen, und kritisch. Sehr weit für seine jungen Jahre, sehr weit. Ich habe gestern sein Arbeitsheft herausgesucht und seine Aufsätze noch einmal durchgelesen … Wenn man bedenkt, daß er nun schon so lange ausgelöscht ist!“ Adamski schien bewegt und sah mich mißbilligend an, als er meine plötzliche Freude bemerkte. „Sein Aufsatzheft!“ rief ich. „Herr Adamski, können Sie mir das Heft für einige Zeit überlassen? Es kann ungeheuer wichtig sein. Vielleicht ist es das einzige Handschriftliche, das überhaupt noch von Kurrat existiert.“ Adamski war zwar gekränkt, daß ich ihm nichts Näheres sagen wollte, aber er war doch sichtlich zufrieden, mich so in Bewegung gebracht zu haben. „Ich bewahre alle guten Aufsätze auf“, sagte er, „es ist schon ein ganzer Stapel. Man hat einen Vergleichsmaßstab für die einzelnen Jahrgänge und kann verfolgen, ob man seine Ansprüche heraufgesetzt oder vermindert hat … Ich kann eigentlich feststellen, daß ich meine Ansprüche anfangs sehr hochgeschraubt habe und dann etwas heruntergegangen bin, jetzt aber von Jahr zu Jahr mehr verlange.“ Das interessierte mich wenig, aber während Adamski sprach, hatte er aus einem alten, schweren Bücherschrank einen Stapel Hefte hervorgeholt. Das gesuchte Heft lag ganz oben, ich riß es Adamski fast aus der Hand. Da waren sie, die verschlungenen Schleifen der „g“ und die verkümmerten „l“, die nur aus einem Aufstrich bestanden, der plötzlich abbrach. Der Beweis war erbracht: Das Lesezeichen war von einem Brief Kurrats abgeschnitten worden. 158
Adamski ließ mich ungern ohne nähere Erklärungen gehen, aber ich habe es mir zur Regel gemacht, erst dann über eine Angelegenheit zu sprechen, wenn sie abgeschlossen ist. Ich hatte Adamski schon zuviel gesagt. Etwas später überflog ich die einzelnen Aufsätze. Es waren die üblichen Untersekundathemen: Welche Voraussetzungen muß ein guter Klassensprecher erfüllen? Wie ließe sich die Zahl der Verkehrsunfälle vermindern? Geht Götz durch eigene Schuld zugrunde? Die Aufsätze waren flott geschrieben und fast alle mit gut bewertet worden. Einige Passagen erinnerten mich an das Gespräch, das ich mit Kurrat geführt hatte, kurz bevor er ums Leben kam. In dem Götz-Aufsatz hieß es: So geht Götz auch deshalb zugrunde, weil er sich seiner Zeit nicht anpassen kann. Aber hierin sehe ich keine Schuld, eher ein Verdienst, denn Götz lebte in einer Zeit, in der Recht und Anstand nichts mehr galten. Und einer solchen Zeit darf man sich nicht anpassen. Der Deutsche paßt sich nur allzugern an, er hat sich auch Hitler angepaßt und sieht keine Schuld darin. Eher gilt es als Schuld, sich nicht angepaßt zu haben. Götz widersetzt sich einer Zeit, die er verurteilt, und das finde ich richtig. Aufschlußreich war vor allem der letzte Aufsatz. Das Thema lautete: Wie beurteilst du das Verhalten des Schloßherrn in C. F. Meyers Ballade „Die Füße im Feuer“? Man erinnere sich: Während der Hugenottenverfolgung ist die Frau des Schloßherrn zu Tode gefoltert worden, weil sie das Versteck ihres Mannes nicht verraten wollte. Jahre später gerät der Folterer unbeabsichtigt als 159
Bote des Königs bei Nacht und Nebel in das Schloß und wird von den Kindern erkannt. Der Vater könnte Rache nehmen, verzichtet aber aus religiösen Gründen darauf. Kurrat hatte dazu geschrieben: Die Entscheidung des Schloßherrn halte ich nicht für richtig. Vielleicht war er durch seinen Glauben dazu gezwungen, aber trotzdem wäre eine gerechte Vergeltung nötig gewesen. Wenn wir nicht das Recht haben, ein Verbrechen zu bestrafen, und auf das Jüngste Gericht warten wollen, dann darf es auch keine weltlichen Gerichte geben. Die Gerechtigkeit verlangt, daß ein Verbrechen bestraft wird, und wenn es der Staat nicht tut, dann muß der einzelne dafür sorgen. Rache ist ein Wort, das nicht schön klingt, aber ich sehe darin nichts Unmenschliches. Eher im Gegenteil. Die Menschlichkeit verlangt es, daß diejenigen ausgemerzt werden, die sich gegen die Gesetze der Menschlichkeit vergangen haben. Das Jüngste Gericht ist ein frommer Wunsch, und die irdischen Gerichte haben oft zuviel Verständnis, wenn es darum geht, ein Verbrechen zu bestrafen, das aus weltanschaulichen Gründen begangen wurde, wie hier in dieser Ballade. Dann redet man gern von Vergeben und Verzeihen und verurteilt einen tausendfachen Mörder zu einigen Jährchen Gefängnis: Er hat ja aus Überzeugung gehandelt. Beim Lesen dieser Zeilen glaubte ich Kurrat sprechen zu hören. Was hätte aus diesem Jungen werden können, wenn er nicht auf so schändliche Art ums Leben gekommen wäre! Über die näheren Umstände seines Todes habe ich noch zu berichten. Es stellte sich heraus, daß eine aufgeweichte Abdich160
tung Kurrats Tod verursacht hatte. Wie ich schon erwähnte, war ursprünglich im Duschraum ein Gasboiler installiert gewesen. Als wir mit der Ölheizung eine moderne Warmwasserversorgung bekamen, war er abmontiert worden. Unglücklicherweise hatte man die überflüssig gewordene Gaszuleitung nicht entfernt, wohl weil sie nicht frei lag und die gekachelte Wand hätte aufgeschlagen werden müssen. Man hatte sie mit einer Verschraubung abgedichtet und den ganzen Leitungsarm mittels eines Haupthahnes zugesperrt, der im Kellergang angebracht war. Dieser Hahn mußte nicht dicht gewesen sein. Oder er war versehentlich irgendwann geöffnet worden. Niemand hatte dies bemerkt, solange der Verschluß am Ende der Leitung gehalten hatte. Dann war die Abdichtung herausgefallen, und Gas war ausgeströmt. Die Entlüftungseinrichtung an der Decke erwies sich als völlig verstopft. Ein Unfall also das Ganze, für den niemand verantwortlich gemacht werden konnte; höchstens der Installateur, wenn nicht Muhl diesen Teil der Arbeiten ausgeführt hatte. Normalerweise hätte ausströmendes Gas auch nicht zu einem tödlichen Unfall führen können. Kurrat hätte den Gasgeruch bemerken müssen. Weshalb hatte er den Duschraum nicht rechtzeitig verlassen? Es bestand nur die Möglichkeit, daß anfangs nur wenig Gas ausgeströmt war und Kurrat unversehens das Bewußtsein verloren hatte. Dann hatten Gas und heißer Wasserdampf ihn erstickt. Die Polizeibeamten hielten diese Umstände schriftlich fest. Der eine bestand darauf, auch über meine Vernehmung ein Protokoll zu verfertigen, das ich unterschreiben sollte. Es kam zu einer kleinen Auseinandersetzung, als ich es ablehnte, eine Aussage als die meine anzuerkennen, die in einem so schlechten Deutsch abgefaßt war. Ich weigerte mich trotz meines seelischen Zustandes hartnäckig, das Protokoll zu unterzeichnen, so 161
daß der Beamte mich schließlich aufforderte, meine Aussage selber zu formulieren. Ich setzte mich an die Maschine und verfertigte eine Durchschrift, die jetzt vor mir liegt: Als ich am heutigen Abend gegen 22 Uhr 30 von einem Spaziergang zurückkehrte und das Gebäude vom Hof her betrat, hörte ich, daß die Brausen im Keller nicht abgestellt waren. Ich ging in den Waschraum, in dem noch Licht brannte, und bemerkte Gasgeruch. Darauf öffnete ich die Tür zum Duschraum, konnte aber zunächst nichts wahrnehmen, weil mir heißer Wasserdampf entgegenquoll. Es herrschte ein intensiver Gasgeruch. Erst als ich die Brausen abgestellt hatte, denen fast kochendes Wasser entströmte, und der Dampf sich etwas verzog, nahm ich die Leiche des Schülers Kurrat wahr, die zusammengekrümmt in der Nähe der Tür lag. Ich benachrichtigte sofort Herrn Studienrat Schramm, den ich in seinem Zimmer antraf. Wir trugen die Leiche gemeinsam nach oben, und Herr Schramm ging auf meine Bitte noch einmal in den Keller, um nach dem ausströmenden Gas zu sehen. Für die Beamten bestand offenbar kein Zweifel, daß es sich um einen Unfall handelte. Der Hergang war klar; an ein Verbrechen zu denken war abwegig. Aber mich ließ der Gedanke nicht los: Theoretisch bestand die Möglichkeit eines Mordes. Es war bekannt, daß ich meine abendlichen Spaziergänge auf mehr als eine halbe Stunde ausdehnte. Schramm und Kurrat waren allein im Haus gewesen. Kurrat pflegte jeden Abend kurz vor zehn Uhr zu duschen. Die Abdichtung konnte vorher entfernt worden sein. Dann brauchte nur noch der Haupthahn geöffnet zu werden, während Kurrat sich im 162
Duschraum aufhielt. Das Gasrohr trat ganz oben an der Kachelwand ein. Kurrat hätte es nicht mit der Hand erreichen können. Die Tür konnte von außen abgeschlossen worden sein … Meine Phantasie sträubte sich vor der Vorstellung einer so satanischen Handlungsweise. Heute muß ich der Wahrheit halber sagen, was ich damals für mich behalten habe: Ich hatte mich am Nachmittag desselben Tages im Heizraum aufgehalten, um den Ölvorrat zu kontrollieren. Da hörte ich Schritte auf dem Gang, warf durch den Spalt der angelehnten Tür einen flüchtigen Blick hinaus und sah Schramm in den Schülerwaschraum gehen. Etwas später hörte ich, wie er wieder herauskam und sich seine Schritte entfernten. Selbstverständlich maß ich dieser Angelegenheit keinerlei Bedeutung bei. Schramm konnte sich die Hände gewaschen oder eine tropfende Brause abgestellt haben. Wenn ich damals jemandem meine Beobachtung mitgeteilt hätte, wäre der Eindruck entstanden, daß ich Schramm in Verdacht bringen wollte. Unser Verhältnis wäre dann endgültig zerstört gewesen. Außerdem lag mir im Interesse der Schule ganz und gar nicht daran, daß schon wieder kriminalpolizeiliche Ermittlungen angestellt wurden. Und Schramm konnte mühelos eine Erklärung finden. Er brauchte nur zu sagen, er habe eine Brause tropfen hören und sie abgestellt. Man muß auch verstehen, daß ich noch unter dem Eindruck der scheinbar fast lückenlosen Indizienkette stand, an der ich – hauptsächlich ich – nach Kurrats Verschwinden so eifrig gebastelt hatte. Mein Schweigen war eine Art Wiedergutmachung für das Unrecht, das ich Schramm innerlich zugefügt hatte. Im übrigen, weshalb sollte Schramm Kurrat umgebracht haben? Es blieb ein abwegiger Gedanke. Als die Beamten ihre Arbeit abgeschlossen hatten, setzte ich mich zu Schramm. „In welcher Form wollen wir den Vater benachrichtigen?“ fragte ich. 163
Schramm erinnerte mich daran, daß der alte Herr Kurrat noch im Krankenhaus lag und daß wir Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand nehmen müßten. „Vielleicht ist es am besten“, meinte er, „im Krankenhaus anzurufen. Dann bleibt es dem Arzt überlassen, wie er Herrn Kurrat die Nachricht beibringen will.“ Ich ging in mein Amtszimmer, um die Nummer des Krankenhauses herauszusuchen. Auf meinem Schreibtisch lag ein ungeöffneter Brief, der mit der Nachmittagspost gekommen sein mußte. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Absender: das Krankenhaus, in dem Herr Kurrat lag! Ich riß den Brief auf. Er war an mich persönlich gerichtet und lautete: Wir sind von unserem Patienten, Herrn Kurrat, angewiesen worden, Ihnen Nachricht zu geben, falls sich sein Zustand verschlechtert. Leider ist dies nunmehr nach einem Eingriff, dessen Ergebnis zunächst positiv schien, eingetreten. Herr Kurrat ist seit heute ohne Bewußtsein, und es muß mit dem Schlimmsten gerechnet werden. Wir empfehlen Ihnen, seinen Sohn in geeigneter Form darauf vorzubereiten. Der Zustand des Patienten ist so, daß es uns nicht angebracht erscheint, seinen Sohn an das Krankenbett kommen zu lassen. Wir rechnen nicht damit, daß der Patient das Bewußtsein noch wiedererlangt. Sobald eine Veränderung in seinem Zustand eintritt, werden wir Sie telefonisch benachrichtigen. Wir haben uns heute vergeblich bemüht, Sie telefonisch zu erreichen. Hochachtungsvoll Dr. … (unleserlich) Meine Gefühle nach dem Lesen dieses Schreibens waren zwiespältig. Wir waren zwar der traurigen Pflicht enthoben, dem alten Herrn Kurrat die furchtbare Nach164
richt zu übermitteln; andererseits war es aber höchst sonderbar, daß der Sohn gerade zu der Zeit einen tödlichen Unfall erlitt, da sein Vater im Sterben lag, praktisch schon tot war … Wir rechnen nicht damit, daß der Patient das Bewußtsein noch wiedererlangt … Ein schicksalhaftes Zusammentreffen? Ich halte nicht viel vom Schicksal, mehr vom Zufall, und derartige Zufälle sind selten. Aber mit den Fakten mußte ich mich abfinden. „Haben Sie den Brief auf meinen Schreibtisch gelegt?“ fragte ich Schramm. „Wenn er heute nachmittag mit der Post gekommen ist, hätten Sie ihn mir doch längst geben können.“ „Ach, der Brief …“ Er zuckte die Achseln. „Entschuldigen Sie, ich habe ihn versehentlich irgendwo liegengelassen. Später fiel es mir ein, und ich habe ihn auf Ihren Schreibtisch gelegt … So eilig wird er ja wohl nicht sein.“ „Haben Sie den Absender gelesen?“ fragte ich. Schramm sah mich ungehalten an. „In Anbetracht dessen, was hier eben geschehen ist“, sagte er, „würde ich diesen Brief nicht so wichtig nehmen.“ Ich antwortete nicht und gab ihm das Schreiben. Schramm las es, sprang überrascht auf und schien bewegt; ich hatte aber den Eindruck, daß diese Bewegtheit nicht wirklich aus seinem Inneren kam. Sie erschien gerade deshalb als bloße Gebärde, weil Schramm von Natur aus beherrscht ist und seinen Emotionen nicht durch Gebärden Ausdruck verleiht. Aber schließlich waren wir beide an diesem Abend überreizt, und ich hatte es mir schon geradezu angewöhnt, Schramm zu verdächtigen. „Kurrat hatte meines Wissens nur noch seinen Vater“, sagte ich; „wir werden uns unter diesen Umständen um seine Beerdigung kümmern müssen …“ Aber ich dachte gar nicht an die Beerdigung, sondern ertappte mich bei dem Gedanken, daß Schramm den Brief 165
vielleicht geöffnet und wieder zugeklebt hatte. Mit zwei Stricknadeln kann man einen Brief auch aufrollen und herausziehen … Ich betrachtete unauffällig den Umschlag. Es war ihm nichts anzusehen; nachdem ich ihn aufgerissen hatte, schon mal gar nicht. Noch in der Nacht gab ich telefonisch ein Telegramm an den Direktor auf, dessen Urlaub ich wohl oder übel stören mußte. Ich nahm an, daß er sofort zurückkommen würde. Der Text des Telegramms lautete: SCHÜLER KURRAT DURCH UNFALL UMS LEBEN GEKOMMEN STOP ERWARTEN IHREN ANRUF. Es wunderte mich sehr, daß an den nächsten beiden Tagen keine Reaktion erfolgte. Dann jedoch wurde ein Ferngespräch aus Italien gemeldet, und unter Krachen und Pfeifen hörte ich die gepreßte Stimme unseres Direktors, über die große Entfernung eher ein Stimmchen, verstümmelt, in immer neue Stromstöße zerlegt, über Relais mit neuen Impulsen versehen, aber im ganzen doch nicht die Stimme eines Chefs. Es waren nur Bruchstücke zu verstehen. Er sei auf einem Ausflug gewesen, habe mein Telegramm soeben erst erhalten, werde auf dem schnellsten Wege zurückkommen. Mein Versuch, ihm den Hergang des Unglücks zu berichten, scheiterte. Er verstand anscheinend nur „Duschraum“. Dann wurden wir unterbrochen. Eine Wiederherstellung der Verbindung war unnötig, wenn auch ein unterbrochenes Telefongespräch ein unbefriedigendes Gefühl hinterläßt. Zwei Tage mußte es dauern, bis der Direktor hier eintraf. Zur Beerdigung kam er wenigstens noch rechtzeitig. Diese Beerdigung war problematisch. Kurrat hatte keiner Religionsgemeinschaft angehört, so daß wir der Hilfe derer entbehrten, die derlei Dinge feierlich zu gestalten wissen. Inzwischen war ein Anruf aus dem Krankenhaus gekommen, der mich über das erwartete Ableben des 166
alten Herrn Kurrat in Kenntnis setzte. Da mich die Schwierigkeiten der Beerdigung sehr bewegten, erkundigte ich mich, welche Pläne hinsichtlich des verstorbenen Herrn Kurrat bestanden, und erfuhr, daß er den Wunsch geäußert habe, im Falle seines Todes eingeäschert zu werden. Ich hatte vorher schon in Erfahrung gebracht, daß die Kurrats keine Grabstelle in Hamburg besaßen, und auch von Familienangehörigen war niemandem etwas bekannt. Ich hatte deshalb auf unserem Friedhof eine Grabstelle erworben und vereinbarte jetzt mit dem Herrn vom Krankenhaus, daß die Urne mit den Überresten des alten Herrn Kurrat nach hier übergeführt werden sollte. Ich besprach die Angelegenheit mit Schramm, und er pflichtete mir darin bei, daß unter diesen Umständen auch für unseren Kurrat eine Feuerbestattung angebracht sei. Ich beauftragte einen Möbeltischler im Ort, der nebenbei Beerdigungen ausrichtete, das Nötige zu veranlassen. Kurrats Leiche wurde bald vom Amtsgericht freigegeben, nachdem noch eine Obduktion stattgefunden hatte. Das Ergebnis hatte keine Überraschungen gebracht: Kurrat war erstickt. Ich muß zugeben, daß mir der Gedanke an diese Obduktion einiges Unbehagen, ja fast Schuldgefühle verursachte. Man hatte ihn aufgeschnitten und sein Inneres in Unordnung gebracht. Diese Vorstellung belastete mich, und der Gedanke seiner Umwandlung in säuberliche Asche wirkte fast erleichternd. Auch die Bestattung selber schien mir einfacher, wenn es um eine handliche Urne ging und nicht um einen ungefügen Sarg mit trotz aller Ehrfurcht vor dem Tode doch ganz und gar unästhetischem Inhalt. Der Tischlermeister und eine seiner Töchter, die als Leichenfrau arbeitete, regelten alles zur Zufriedenheit. Kurrat erhielt einen teuren Eichensarg, der es verdient hätte, seine Haltbarkeit längere Zeit zu beweisen. Eine 167
Trauerfeier im Krematorium in Hamburg mußte entfallen, weil nur Schramm und ich daran hätten teilnehmen können. Alsbald erhielten wir von der hiesigen Friedhofsverwaltung die Nachricht, daß Kurrats Asche eingetroffen sei und der Beisetzung der Urne nichts im Wege stehe. Die Urne mit den Überresten des alten Herrn Kurrat war erst in einigen Tagen zu erwarten. Wir beschlossen, nicht darauf zu warten, da sich die Beerdigung unseres Kurrat ohnehin schon ziemlich verzögert hatte. Inzwischen war auch unser Direktor zurückgekehrt. Er war mit allen meinen Maßnahmen einverstanden, äußerte nur immer wieder sein Entsetzen über das Geschehene und bangte sehr um den Ruf unserer Schule. Aber schließlich brauchten die näheren Umstände des tödlichen Unfalls nicht ausführlicher als nötig bekannt zu werden. Wir kamen überein, möglichst noch während der Ferien, den alten Duschraum abzureißen und den geplanten Umbau vorzunehmen, von dem ich anfangs schon sprach. Wir wollten der Phantasie unserer Schüler nicht unnötig Nahrung geben, wenn sie den Duschraum benutzen. Ein Ereignis haftet an dem Ort, wo es sich abgespielt hat. Will man die Erinnerung tilgen, muß man mit dem Ort des Geschehens beginnen. Der Direktor war auch sehr darum besorgt, daß den Überresten Kurrats die gebührende Ehre erwiesen wurde. Er bestellte einen Kranz mit vierzig weißen Nelken und ließ ihn in die Friedhofskapelle schicken. „Wie schrecklich ist es, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen“, sagte er. „Müssen wir nicht vor einem solchen Geschehen an dieses Wort Kierkegaards denken?“ „Es gibt Kollegen, die ihre Prügelknaben haben“, entgegnete ich. „Das Schicksal schätzt es auch, immer wieder in die gleiche Richtung zu schlagen, aber wohl eher aus Gleichgültigkeit als aus Berechnung.“ 168
„Sollten wir uns nicht den Glauben an eine höhere Gerechtigkeit bewahren? Vater und Sohn Kurrat sind fast gleichzeitig gestorben. So hat keiner mehr den Tod des anderen erfahren. Können wir darin nicht eine besondere Gnade sehen?“ „Mir scheint vielmehr, das Schicksal hat uns zum besten gehalten. Erst hat es uns den Tod Kurrats vorgespiegelt und dann den Schlag wirklich geführt. Ich weiß nicht, weshalb wir uns da verneigen sollten.“ „Was bleibt uns anderes als Gehorsam und Mäßigung?“ „Verachtung“, sagte ich. „Sie halten es mit Camus, wie ich höre.“ „Ich glaube nicht an ein transzendent begründetes Schicksal. Das ist die beste Rechtfertigung Gottes, die man sich wünschen kann.“ „Aber Sie räumten doch ein, daß anscheinend eine Absicht hinter dem Schicksal Kurrats stecke, und sei es die, uns zu narren.“ „Nicht anscheinend, nur scheinbar“, sagte ich. „Es erscheint uns wie Absicht. In Wahrheit hat das Leben sich nur ganz plötzlich konzentriert.“ „Stellt es Sie denn zufrieden, das ganze Geschehen nur als Spiel des Zufalls zu erklären? Kurrats vermeintlichen Tod, dann seinen wirklichen, fast gleichzeitig mit dem des Vaters?“ Ich sah an dem Direktor vorbei aus dem Fenster. Er hatte es ganz anders gemeint, aber … „Vielleicht haben Sie recht“, sagte ich langsam. „Ja.. Es sieht nach Absicht aus.“ Am Tage der Beerdigung fanden der Direktor, Schramm und ich uns etwas vor der festgesetzten Zeit in der Kapelle ein. Eine Urne war hier nicht aufgestellt. Schramm ging suchend durch eine angelehnte Tür und erschien bald wieder, uns mit einem ernsten Nicken andeutend, daß er gefunden hatte, was wir suchten. 169
Wir traten ein. Unser Blick fiel auf einen geschlossenen Sarg. Der Direktor sah mich fragend an. An der Wand zur Linken lehnte ein großer Kranz mit weißen Nelken, wohl an die vierzig. Unser Kranz. Auf eine Schleife hatten wir aus Gründen des Geschmacks verzichtet. Darüber auf einem Bord standen Leuchter und halb aufgerissene Kartons mit Kerzen. Der Direktor sah mich an. Schramm wies auf einen Karton, etwas seitwärts, und wir sahen auf einen blechern wirkenden Metallbehälter mit einer eingestanzten Aufschrift. „Kurrat“, murmelte der Direktor tonlos, und ich glaube sagen zu können, daß wir uns etwas schämten. In diesem Augenblick kam der Friedhofswärter herein, und wir merkten deutlich, wie ärgerlich er darüber war, daß wir hier eingedrungen waren. Er forderte uns auf, im Hauptraum Platz zu nehmen. Wir setzten uns, und der Wärter ließ uns sehr lange warten. Dann tat sich endlich die Tür auf, er erschien mit ernster Miene, die Urne feierlich in beiden Händen tragend. Mit würdiger Gebärde zeigte er uns die eingestanzte Aufschrift, die wir schon gelesen hatten, und schritt gemessen durch den Mittelgang dem Portal zu. Wir folgten ihm. Kurz vor der Tür hielt der Direktor plötzlich inne, wandte sich um und eilte zurück. Der Friedhofswärter blieb stehen, blickte sich ungehalten um und wartete, bis uns der Direktor mit dem Kranz eingeholt hatte. Wir faßten ihn zu zweien an und folgten der Urne. Es ging aus der Kapelle hinaus, auf den knirschenden Sandwegen ein ganzes Stück durch die Gräberreihen. Ich muß zugeben, daß mir der Aufzug etwas peinlich war. Man möge mich nicht mißverstehen. Mir war der Tod Kurrats sehr nahegegangen, aber ich konnte mich ganz und gar nicht an den Gedanken gewöhnen, daß dieses Blechgefäß etwas mit unserem Kurrat zu tun haben sollte. Wir hatten es auch versäumt, eine würdige 170
Urne für das Blechgefäß zu kaufen. Dieses galt eigentlich gar nicht als Urne, aber das hatten wir nicht gewußt. Hinzu kam der würdelose Pappkarton, der möglicherweise gar als normales Postpaket verschickt worden war. Da konnte auch das feierliche Gebaren des Friedhofswärters nichts mehr retten. Hinter uns ging Schramm, und ich war sicher, daß er sich amüsierte. Ich konnte es mir nicht verkneifen, mich ganz plötzlich nach ihm umzusehen. Zu meinem Erstaunen war sein Gesicht sehr ernst, bleich und gespannt, und er wich meinem Blick hastig aus. Wir erreichten die Grabstelle, und die Peinlichkeit nahm ihren Fortgang. Statt einer wirklichen Grube war nur ein kleines rundes, aber recht tiefes Loch ausgehoben. Der Wärter kniete nieder, nachdem niemand von uns Anstalten machte, etwas zu sagen, und setzte die Urne mit einem Arm tief in das Loch. Dann erhob er sich und sah uns erwartungsvoll an. Wir lehnten den Kranz gegen den kleinen Hügel aufgeworfenen Sandes und stellten uns um das Loch. Der Direktor räusperte sich und wollte zu einigen Worten des Gedenkens ansetzen. Ich sah ihn an, er verstand und sagte nur: „Wir gedenken unseres lieben Verstorbenen und wollen dies in feierlicher Form im Rahmen der Schulgemeinde tun, sobald sie sich wieder zusammengefunden hat.“ Dann standen wir noch eine kurze Weile und blickten in das Loch. Der Wärter erhielt ein Trinkgeld, was vielleicht nicht angebracht war, aber schließlich, wer hat in diesen Dingen Erfahrung? Wenn nicht gerade Ferien gewesen wären, hätten wir der Beerdigung einen ganz anderen Rahmen zu geben gewußt. Und ich muß sagen, daß es der Gedenkfeier, die wir zum Schulbeginn für Kurrat veranstalteten, nicht an Ernst und Würde fehlte. Als ich an einem der nächsten Tage den Friedhof auf171
suchte, um mir die Grabstelle anzusehen, bemerkte ich neben dem Kranz mit den vierzig Nelken, der einsam auf der ebenen Sandfläche lag, einen Strauß Feldblumen, ungeschickt zusammengebunden und schon verwelkt. Ich fragte den Friedhofswärter, der in der Nähe an einer Grabstelle arbeitete, ob er nicht zufällig gesehen habe, wer die Blumen gebracht hatte. „Ja“, sagte er, „das war ein Junge, so um die Achtzehn … Er hat sich bei mir erkundigt. Nachher hat er einen Schal an der Grabstelle liegenlassen.“ „Einen Schal? Grün, weiß und rot gestreift vielleicht?“ „Ja, so sieht er aus … Wenn Sie den Jungen kennen, dann nehmen Sie doch den Schal mit. Ich weiß sonst gar nicht, wo ich damit hin soll.“ Er langte nach seiner Aktentasche, die an einem Grabstein lehnte, und zog den Schal heraus. „Es sah gar nicht so aus, als ob er ihn da verloren hatte“, sagte er. „Er lag zusammengelegt neben den Blumen …“ Ich gab dem Mann ein Trinkgeld und nahm den Schal an mich. Die Geste des Jungen, ihn auf das Grab zu legen, war sicher ungeschickt und gänzlich ungewöhnlich, hatte aber etwas Rührendes. Zu Hause legte ich den Schal sorgfältig zusammen und verwahrte ihn. Etwa vierzehn Tage später, gegen Ende der Ferien, fuhr um die Mittagszeit ein Wagen vor. Der Direktor, Schramm und ich hatten gerade unsere Mahlzeit beendet, als die Tür zum Speisesaal sehr energisch aufgestoßen wurde und zwei Männer mit langen Mänteln, die Hüte auf dem Kopf, hereinmarschierten: der Inspektor von der Kriminalpolizei und ein Begleiter. Diesmal ließen sie jegliche Höflichkeit außer acht, nickten dem Direktor kaum zu, traten an Schramm heran und erklärten ihn für verhaftet. Wegen Verdachts auf Mord oder Beihilfe zum Mord. Schramm hatte kaum Zeit, ein paar Sachen zusam172
menzupacken. Der Direktor mühte sich vergeblich um eine Erklärung. „Aber es war doch ein Unfall!“ erklärte er immer wieder hilflos. „Es war doch selbstverständlich ein Unfall … Was für einen Grund sollte denn Herr Schramm gehabt haben? Ich bitte Sie, meine Herren – in welches Licht bringen Sie unsere Schule!“ „Es hat mit dem Unfall nichts zu tun“, sagte der Inspektor kurz. „Es betrifft die Zeit vor neunzehnhundertfünfundvierzig. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“ Schramm war mit dem Packen fertig. Wir warteten im Vorraum. Flankiert von den beiden Polizisten, kam er die Treppe herunter, blieb vor uns stehen und sagte: „Bitte kümmern Sie sich um den Hund.“ Dann wurde er hinausgeleitet. Die Untersuchung gegen Schramm ergab folgendes: Er war während des Krieges eine Zeitlang Lagerarzt in einem KZ gewesen und hatte den Rang eines SS-Obersturmführers bekleidet. Ich habe erwähnt, daß er im Gespräch mit mir einmal auf seinen Bruder zu sprechen kam, der bei der SS gewesen und im Kriege gefallen sei. Es stellte sich nun heraus, daß Schramm tatsächlich einen Bruder gehabt hatte, der kurz vor Kriegsende gefallen war. Aber dieser Bruder war der Studienassessor Schramm gewesen. In seine Heimatstadt war keine Nachricht mehr von seinem Tode gelangt, da sie längst von den heranrückenden Russen überrollt war. Unser Schramm hatte den Tod seines Bruders noch erfahren; vielleicht hatte der seinen Kompaniechef gebeten, Schramm im Falle seines Todes gesondert zu benachrichtigen – dieser Punkt wird nie zu klären sein und ist auch unwichtig. Im Mai 1945 war es Schramm gelungen, im allgemeinen Durcheinander des Zusammenbruchs unterzutauchen. Später hatte er sich einfach unter dem Namen seines Bruders polizei173
lich gemeldet und einen entsprechenden Ausweis erhalten. Nach einiger Zeit hatte er hier im Westen seine Mutter wiedergefunden. Der Vater war auf der Flucht umgekommen. Die Mutter hatte eine Mappe mit Dokumenten gerettet, die auch die Ernennungsurkunde ihres jüngeren Sohnes zum Assessor enthielt. Mittels dieser Urkunde und seines ordnungsgemäß ausgestellten Ausweises war es für Schramm leicht, in den Schuldienst übernommen zu werden. Er brauchte eigentlich nur zu befürchten, daß ihn jemand als SS-Arzt Schramm wiedererkennen würde oder daß jemand auftauchte, der den Bruder gekannt hatte. Aber selbst wenn dies geschah – wer denunziert schon gern einen Menschen! Als Schramm im Zusammenhang mit dem Verschwinden Kurrats in immer stärkeren Verdacht geriet, waren anscheinend seitens der Polizei Nachforschungen über ihn angestellt worden. Dabei war man auf den SSArzt Schramm gestoßen, der den gleichen Geburtsort hatte und auf einer Fahndungsliste geführt wurde. Die alte SS-Personalakte des Arztes enthielt Angaben über die nächsten Angehörigen, darunter den Vermerk, daß sein einziger Bruder gefallen sei, der Studienassessor Schramm. So war Schramm wohl ein spätes Opfer seiner Ordnungsliebe geworden: Er hatte jene zweifellos inoffizielle Benachrichtigung vom Tod seines Bruders noch aktenkundig gemacht – anders kann ich es mir nicht erklären; es wäre auch typisch für Schramm. Die alten SS-Akten mochten zuerst von den Alliierten beschlagnahmt worden sein, so daß Schramms Verwandlungsakt zunächst unbemerkt blieb, als der deutsche Behördenapparat wieder in Gang kam und ihm anstands- und ahnungslos neue Papiere ausstellte. Und später? Mein Gott – wer wühlt schon in alten Akten! Die Nachforschungen hatten einige Zeit in Anspruch genommen. Die Fotografie, die der hiesigen Kriminalpolizei zuge174
stellt wurde, gab die letzte Sicherheit. So wenigstens konnte man es der Presse entnehmen. Man wird verstehen, daß die Verhaftung Schramms und die Aufdeckung seiner Identität für unsere Schule sehr unangenehm waren. Glücklicherweise verhielt sich die Presse im allgemeinen fair und erhob keine Vorwürfe gegen uns. Diese wären auch nicht berechtigt gewesen, denn Schramm war ordnungsgemäß in den Schuldienst übernommen und an unsere Schule versetzt worden. Zweifel an seiner Lehrbefähigung waren niemals aufgetaucht. Er besaß gute Geschichtskenntnisse und sprach ein ausgezeichnetes Englisch. Auch die Eltern unserer Schüler zeigten mehr Verständnis, als wir erwartet hatten. Wir versandten gleichlautende Schreiben, in denen wir die Sachlage darlegten, und erhielten von den meisten Eltern Antworten, die uns zuversichtlich stimmten. Als etwa ein Jahr später der Prozeß gegen Schramm begann, war es schon fast vergessen, daß er bei uns als Lehrer tätig gewesen war, zumal die, gegen ihn erhobene Anklage wegen Mordes den verübten Betrug in den Hintergrund treten ließ. Während der Zeit seiner Untersuchungshaft hatte ich mehrfach vor, ihn zu besuchen. Seine Verhaftung war so plötzlich gekommen, die Aufdeckung seiner Identität war so unvermittelt über uns hereingebrochen, daß ich ein starkes Bedürfnis empfand, ihm noch einmal gegenüberzutreten. Es fiel mir nicht leicht, mich daran zu gewöhnen, daß jemand, den ich seit zehn Jahren gekannt hatte, in Wahrheit ein ganz anderer war, obwohl er doch auch wieder derselbe blieb – Schramm hatte sich sozusagen offenbart, er war zu seiner eigentlichen Existenz zurückgelangt … Ich hätte mich gern mit ihm darüber unterhalten, aber der Direktor legte Wert darauf, daß niemand aus dem Kollegium Schramm aufsuch175
te. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, als sympathisierten wir mit ihm. Als es dann zur Verhandlung kam, hörte ich einen Vormittag lang zu. Ich setzte mich ganz nach hinten, damit Schramm mich nicht sah. Er wirkte auf der Anklagebank wie am Lehrertisch vor der Klasse: korrekt, kalt und überlegen. Nichts schien seine Kraft brechen zu können. Es ging an diesem Vormittag um Selektionen, die Schramm durchgeführt haben sollte. Die Anklage warf ihm vor, er habe Opfer für die Gaskammern ausgewählt, während die Verteidigung sich auf den Standpunkt stellte, er habe nur pflichtgemäß über die Arbeitsfähigkeit der Häftlinge entschieden und könne für das, was danach geschehen sei, nicht verantwortlich gemacht werden. Schramm selber griff von Zeit zu Zeit maßvoll und geschickt in die Verhandlung ein oder beantwortete die an ihn gerichteten Fragen. Etwa zwei Stunden nach Beginn der Verhandlung stand plötzlich mein Vordermann auf und drängte sich durch die enggefüllten Sitzreihen dem Ausgang zu. Es entstand einige Unruhe, Schramm blickte in den Saal, ich saß einen Augenblick ungedeckt da, und er bemerkte mich. Natürlich war ihm gleich klar, daß ich nicht gesehen werden wollte. Ich erkannte deutlich, wie sich sein Gesicht zu einem spöttischen Lächeln verzog. Er winkte mir sogar unauffällig zu. Ich fühlte mich ertappt und benutzte die erste Gelegenheit, als Schramm wieder durch die Verhandlung in Anspruch genommen war, den Saal zu verlassen. Den Verlauf des Prozesses möchte ich hier im einzelnen nicht darstellen. Es erwies sich, daß Schramm Selektionen durchgeführt hatte und an Experimenten mit Häftlingen beteiligt gewesen war. Ein direkter Mord war ihm nicht nachzuweisen. So wurde er wegen „Beihilfe zum Mord in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen“ verurteilt. Es war außerdem noch Anklage wegen Betruges und 176
Gebrauches falscher Beurkundungen gegen ihn erhoben worden. Auch unser Direktor wurde als Zeuge vorgeladen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Schramms pädagogische Leistungen möglichst hervorzuheben. So konnte es uns nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß wir jahrelang einen falschen Lehrer beschäftigt hatten, ohne es zu merken. Schramm erhielt schließlich eine Gesamtstrafe von fünf Jahren Zuchthaus. Die Untersuchungshaft wurde nicht angerechnet. Dies sind die Ereignisse um Schramm und Kurrat, wie sie sich vor sechs Jahren abspielten. Meine Aufzeichnung müßte hier beendet sein, wenn sich nicht durch das Auftauchen Schramms in dieser Woche und durch seine Nachforschungen in der Bibliothek eine neue Spur ergeben hätte. Ich will nicht verschweigen, daß mir schon damals der Gedanke kam, das Schicksal Kurrats in Zusammenhang mit Schramms Vergangenheit zu sehen. Aber ein Beweis, daß Kurrat von diesen Dingen gewußt hatte, war nicht zu erbringen. Ich vergegenwärtige mir das grausige Ende Kurrats. Wenn es sich um einen Mord gehandelt hat, darf er nicht ungesühnt bleiben! Schramm hat vor Gericht beteuert, er habe nichts mit der Vergasung von Häftlingen zu tun gehabt. Ich muß immer wieder daran denken, daß die Gaskammern in den Lagern wie Duschräume hergerichtet waren.
Der siebente Tag Einen neuen Fall Schramm wird es nicht geben! Wir können aufatmen. Es war kein glimpflicher Ausgang, aber wir 177
sind davongekommen. Ich vor allem kann meinem Geschick dankbar sein, daß dieser Tag für mich kein schlimmeres Ende nahm. Ich stehe noch ganz unter dem Eindruck der Geschehnisse. Was jahrelang unklar war, hat heute seine Lösung gefunden. Wir können einen großen Schlußstrich ziehen. An unserer Schule hat es zwei Unfälle gegeben, tödliche Unfälle, aber der eine liegt Jahre zurück und ist schon fast vergessen. Nicht von einem Mord, nicht von einem Mörder wird die Rede sein, und die Gerechtigkeit hat trotzdem ihren Lauf genommen. Man kann nicht sagen, daß sich die heutigen Ereignisse überstürzten. Drei Gespräche haben alles entschieden: meine Gespräche mit Schramm und dem Direktor und das Gespräch des Direktors mit Schramm. Schramm hat dann den Schlußpunkt gesetzt. Heute war sein letzter Arbeitstag. Für sieben Tage war ihm die Benutzung der Bibliothek gestattet worden. Bei der Kritik, die sein Auftauchen im Kollegium ausgelöst hatte, war nicht damit zu rechnen, daß diese Frist noch verlängert wurde. Schramm hätte auch kaum den Wunsch geäußert, denn seine Arbeit war zwecklos geworden. Was er suchte, konnte er nicht mehr finden. Ich war ihm zuvorgekommen. Heute gegen Mittag fuhren die Knesebecks vor und brachten mir das gewünschte Buch. Ich fand darin zwei Lesezeichen, darunter einen Streifen des gesuchten Briefes. Jetzt hatte ich zwei Streifen, und zwar die beiden ersten. Den dritten hatte vermutlich Schramm. Aber der Inhalt des Briefes ergab sich auch aus dem, was mir jetzt vorlag. Ich legte die beiden Streifen nebeneinander: Bitte bleib unser erfah seine
laß mich hie en. Ich habe en Englischle ren. Kommt e Stellung kost 178
Deine Er we Habe für m nicht etwas Hol m
Vermutung wa iß, daß ich es und will err ich behalte länger hier Angst vor ih ich hier bit
Eine Ergänzung fällt nicht schwer. Der zweite Streifen enthält auch den größten Teil der Anrede Lieber Vater!, nicht aber die Unterschrift. Durch einen Schriftvergleich läßt sich beweisen, daß dieser Brief von Kurrats Hand ist. Sein Inhalt muß vollständig lauten: Lieber Vater! Bitte laß mich hie bleiben. Ich habe unseren Englischle erfahren. Kommt e seine Stellung kost Deine Vermutung wa Er weiß, daß ich es habe, und will err für mich behalte nicht länger hier etwas Angst vor ih Hol mich hier bit
(r nicht mehr länger) (über) (hrer etwas) (s heraus, kann es ihn) (en.) (r richtig.) (herausbekommen) (eichen, daß ich es) (. Ich möchte deshalb) (bleiben. Ich habe) (m.) (te heraus!) (Dein …)
Ich nahm die Ergänzung des Briefes gleich nach dem Mittagessen vor. Der Beweis war praktisch erbracht, daß Kurrat über Schramms Vergangenheit Bescheid gewußt hatte. Das fehlende Motiv für einen Mord an Kurrat war gefunden. Unklar blieb, wie der Brief in die Bibliothek gelangt war und ob Kurrat ihn vor oder nach seinem vorüberge179
henden Verschwinden geschrieben hatte. Orts- und Datumsangabe mußte der fehlende Streifen enthalten. Aber das war von zweitrangiger Bedeutung. Nahm man zu diesem Brief noch meine Beobachtung hinzu, daß Schramm sich am Mordtag – so muß ich jetzt wohl sagen – im Schülerwaschraum zu schaffen gemacht hatte, so dürfte die Indizienkette geschlossen sein. Wenn dieser Brief entdeckt worden wäre, als Kurrat verschwunden war, hätte er zur Verhaftung Schramms führen können. Dieser Brief wäre auch damals das letzte Glied in der Beweiskette gewesen – in einer irreführenden allerdings … Sollte er vielleicht damals in unsere Hände gelangen? Ich hatte schon immer an die Möglichkeit gedacht, daß Kurrat durch sein Verschwinden Schramm absichtlich in Mordverdacht hatte bringen wollen. Aber welchen Grund sollte Kurrat hierfür gehabt haben? Wollte er ihn der Angst des Verfolgtseins aussetzen? Oder ging es ihm um das Mißverhältnis zwischen der Bestrafung eines Mordes vor und nach Kriegsende? Auch diese Erklärung befriedigte nicht, obwohl eine solche Überlegung Kurrat zuzutrauen war. Ich erinnerte mich an die entsprechenden Stellen in seinen Aufsätzen. Wie sollte ich jetzt vorgehen? Auf keinen Fall wollte ich etwas ohne Einverständnis des Direktors unternehmen. Da ich wenig Neigung hatte, Schramm allein gegenüberzutreten, und ihm das Ergebnis meiner Nachforschungen vorzulegen, beschloß ich, in Gegenwart des Direktors mit ihm zu sprechen. Es war dann ein Zeuge dabei, und außerdem … Nun ja, Schramm war immerhin ein Mörder, so ungeheuerlich es mir auch erschien – und wer steht schon gern allein einem Mörder gegenüber? Ich bereitete den Direktor auf ein entscheidendes Gespräch mit Herrn Schramm vor, den ich jetzt aus der 180
Bibliothek herunterholen wollte. Der Direktor war sehr ungehalten über meine Absicht. „Aber ist denn das nötig?“ fragte er vorwurfsvoll. „Herr Schramm ist doch heute zum letztenmal hier … Ich gebe zu, daß es übereilt war, ihn hier arbeiten zu lassen, aber heute ist sein letzter Tag.“ Unser Direktor tat mir fast leid, wenn ich an das dachte, was ihm bevorstand! Während ich die beiden Treppen zum zweiten Stock hinaufstieg, mußte ich trotz des Ernstes der Situation lächeln. Die Tür zur Bibliothek war nur angelehnt. Ich öffnete sie und sah hinein. Schramm war nicht zu sehen. Ich rief seinen Namen und trat einige Schritte vor. Der Raum ist unübersichtlich; viele Regale stoßen hinein und teilen ihn auf in schmale Gänge. Ein Fenster war weit geöffnet. Im Sonnenlicht tanzte der Staub. Ich rief noch einmal. Schramm hätte mich hören müssen, wenn er hier … „Sie kommen wie gerufen!“ Ich fuhr herum. Schramm stand unmittelbar vor der Tür; er hatte sich anscheinend hinter einem Regal versteckt gehalten. „Ich habe mit Ihnen zu reden“, sagte er, schloß die Tür ab und wies mit energischer Gebärde auf einen der beiden Stühle am Arbeitstisch. Diese eckigen Bewegungen … und die Kinnpartie – wie versteinert … Ein verwandelter Schramm! Oder erschien er mir nur anders, weil ich jetzt wußte, was für ein Mensch er war? Ich hatte einen Schreck bekommen, aber eigentlich brauchte ich nichts zu fürchten, denn Schramm konnte von meinen Nachforschungen hinsichtlich des Briefes nichts wissen. „Weshalb haben Sie sich die Bücher besorgt, die dieser Wiegmann entliehen hatte?“ 181
Schramms Frage hing im Raum. Er hatte mir also nachspioniert oder dieselben Nachforschungen angestellt wie ich. Ich sagte mit betonter Würde: „Ich weiß nicht, was Sie zu dieser Frage berechtigt.“ Er sah mich herablassend an. „Lassen wir das. Wir brauchen einander doch nichts vorzumachen.“ „Sie haben mir also nachspioniert?“ Ich tat empört. „Nehmen Sie ruhig an“, sagte er, „daß mir jemand das alte Entleihbuch aus Ihrem Zimmer herausgereicht hat. Und Adamski ist ein Schwätzer.“ „Ich wüßte nicht, was er Ihnen hätte erzählen können.“ Das klang sicher nicht überzeugend. „Geben Sie den Streifen heraus“, verlangte Schramm ohne weitere Umschweife, „und Kurrats Aufsatzheft und das, was Sie sonst noch gefunden haben!“ Ich stand auf und sagte scheinbar erleichtert: „Von mir aus können Sie es haben. Es ist bei meinen Nachforschungen ohnehin nichts herausgekommen.“ „So, nichts?“ fragte Schramm trocken, stellte sich dicht vor mich hin und drückte mich wieder auf meinen Stuhl. „Sie werden mir sagen, wo Sie das Zeug haben, und ich werde dafür sorgen, daß Sie sich hier nicht bemerkbar machen können, während ich es heraufhole.“ Er blickte beziehungsvoll auf eine Rolle mit starkem Bindfaden, der zum Bündeln von Akten und Heften dient. Auf keinen Fall durfte ich Unsicherheit zeigen. „Ich muß Ihnen einen Strich durch die Rechnung machen“, sagte ich; es klang wieder nicht sicher genug. „Der Direktor wartet unten auf uns. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Wenn ich nicht gleich zurück bin, wird er nach mir sehen. Ich bin nur heraufgekommen, um Sie zu einer Unterredung mit dem Direktor zu bitten.“ Darauf wurde Schramm verbindlicher. „Ich weiß nicht, was Sie aus dem Streifen herausgelesen haben … Oder haben Sie noch mehr gefunden?“ 182
„Ich habe nur den einen Streifen“, log ich, „und mit dem ist nichts anzufangen.“ „Davon bin ich nicht überzeugt … Wissen Sie überhaupt, was es mit dem Brief auf sich hat? Soll ich Ihnen die Gemeinheit erzählen?“ Ich war froh, wenigstens zu einem normalen Gespräch mit Schramm zu kommen. Er schien mir jetzt auch wieder fast der alte. „Hören Sie zu“, begann er. „Keiner von uns beiden hat doch wohl damals die fadenscheinige Begründung geglaubt, die Kurrat seinerzeit für sein Verschwinden gegeben hat. Sie sind der Wahrheit einmal sehr nahegekommen, als Sie meinten, er habe mich in Verdacht bringen wollen. Der Knabe hatte sich das raffiniert ausgedacht. In einem hatte er sich aber verkalkuliert.“ Es berührte mich unangenehm, Schramm so burschikos über Kurrat reden zu hören. Er mußte es mir angemerkt haben. „Ich habe ihn nicht umgebracht“, sagte er, „das nur mal vorweg … Hören Sie weiter: Der Brief sollte das letzte Indiz gegen mich sein. Er war angeblich an den Vater gerichtet. Kurrat hatte ihn aber nicht abgeschickt, sondern in eines der Bücher geschmuggelt, die damals auf meinem Schreibtisch standen – wahrscheinlich, als er mir half, die alten Hefte zusammenzupacken, die wir in den Fluß werfen wollten. Wenn es zu einer Durchsuchung meines Zimmers gekommen wäre, hätte man den Brief gefunden und mich wahrscheinlich festgenommen. Es mußte so aussehen, als hätte ich den Brief auf irgendeine Art in meinen Besitz gebracht. Der Bursche war aber ganz gerissen; er wollte sichergehen. Deshalb legte er in seinen Schrank einen zweiten Brief an seinen Freund, den wir auch programmgemäß gefunden haben. Sie haben sich damals gewundert, daß er nicht beendet war. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich das zweite Blatt eingesteckt habe. Keiner von den beiden Briefen 183
hat also seinen Zweck erfüllt. Das heißt, der andere war sozusagen ein Spätzünder, den wir aber in unser aller Interesse entschärfen werden.“ Schramms Versicherung, daß er Kurrat nicht umgebracht habe, beruhigte mich, obwohl sie eigentlich nicht sehr glaubhaft war. Aber man glaubt immer gern, was man glauben will. „Aber weshalb wollte Kurrat Sie in einen fingierten Verdacht bringen?“ fragte ich. „Er hatte doch die Möglichkeit, Sie wegen Ihrer Vergangenheit anzuzeigen. Hier finde ich noch keine befriedigende Antwort.“ „Die bekommen Sie gleich“, fuhr Schramm fort. „Der alte Kurrat ist seinerzeit nach dem deutschen Einmarsch in Jugoslawien verhaftet worden und war unter anderem eine Zeitlang in dem Lager, in dem ich als Medizinmann tätig war, wie nun ja sattsam bekannt ist. Als er hier in der Schule mit mir zusammentraf, hat er mich wiedererkannt, war sich aber seiner Sache nicht sicher. Er fragte mich, ob ich einen Verwandten bei der SS gehabt hätte, und ich erzählte ihm die Geschichte von meinem Bruder. Er nahm mir das ab, hat aber seinem Sohn noch einiges über seinen Verdacht erzählt. Dieser Knabe hatte nun einen kriminalistischen Instinkt. Außerdem: Nachdem ich ihn damals wegen des Hundes verprügelt hatte, hat er mich gehaßt – mit einer Kraft, zu der ein Erwachsener gar nicht mehr fähig ist … Sie kennen das ja; Sie sind ja ein richtiger Pädagoge, im Gegensatz zu mir.“ „Ihre zehn Lehrerjahre sind sicher auch nicht spurlos an Ihnen vorbeigegangen“, entgegnete ich höflich. „Fast spurlos“, entgegnete er; „ich habe den rüden Bengels nie etwas abgewinnen können … Nun ja, Kurrat hat nach dem Gespräch mit seinem Vater einmal ein aufgeschlagenes medizinisches Fachbuch mit entsprechenden Schaubildern auf meinem Schreibtisch liegen sehen – das hat ihm genügt. Obwohl er ganz falsch ge184
tippt hat: Ich brauchte das Buch für meine ParacelsusArbeit. Außerdem hatte ihm sein Vater noch erzählt, daß der Lagerarzt die Angewohnheit gehabt habe, halb angerauchte Zigaretten wegzuwerfen, um die sich die Häftlinge geschlagen hätten …“ Ich sah auf den Aschenbecher, der zwischen uns stand. Mehrere halb gerauchte, zusammengedrückte Zigaretten lagen darin. „Ganz recht.“ Schramm lächelte. „Dem Jungen ist es auch nicht entgangen, obwohl ich eigentlich nur auf meinem Zimmer rauchte. Solche Kleinigkeiten sind manchmal entscheidend – als Amateurkriminalist werden Sie das wissen.“ Ich konterte: „Sie als Vertreter der Gegenseite, wenn ich mich einmal so ausdrücken darf, haben vor allem einen Fehler gemacht: Sie haben den Brief nicht vernichtet, der in einem Ihrer Bücher steckte.“ „Ja, nicht wahr?“ Er schien ganz begeistert. „Sie haben es erkannt! Aber von dem Brief habe ich überhaupt nichts geahnt. Den Schmöker, in dem er steckte, habe ich die ganze Zeit nicht gebraucht, weil ich damals andere Sorgen hatte. Der Brief ist nach meiner Verhaftung mit dem Buch in die Bibliothek gekommen. Erst als ich mir in dieser Woche die Bücher wieder zusammensuchte, die ich damals benutzt habe, fiel mir das fatale Lesezeichen in die Hand.“ „Sie haben noch nicht erklärt, was Kurrat sich von dem ganzen Täuschungsmanöver versprochen hat“, sagte ich. „Sein Vater war gerade auf Reisen, als der Junge dahinterkam, wer ich war. Er brauchte seinen Vater, um mich ans Messer zu liefern, konnte ihn aber nicht erreichen. Da hat er es auf seine Art versucht. Er war ein phantasiebegabter Knabe. Hatte vielleicht auch Angst vor mir, konnte sich jedenfalls keine Zeit lassen, wollte selber derjenige sein, der den Schramm hinter Schloß 185
und Riegel brachte. Der Alte wäre zurückgekommen, hätte seine Aussage gemacht, meine Identität wäre überprüft worden … Das wollte er erreichen. Als ich dann nicht einmal verhaftet wurde, ist er zurückgekommen. Ich sprach mit dem Alten, als er anschließend hier war. Er wollte mich nicht hereinreißen. Hat niemandem etwas gesagt. Wir sind alle in uns gegangen. Große Sündenvergebung. Und dann hat es die Polizei von sich aus herausbekommen. Kurrat hat zuletzt doch noch erreicht, was er wollte … Aber ich glaube nicht, daß es noch in seinem Sinne gewesen wäre. Wir haben uns zuletzt blendend verstanden. Von mir aus hätte er noch lange leben können.“ Er verstummte und sah zum offenen Fenster hinüber. Dann plötzlich wandte er sich mir wieder zu: „Seien Sie ehrlich: Trauen Sie mir zu, daß ich Kurrat auf dem Gewissen haben könnte?“ Ich gab keine Antwort. „Die Tracht Prügel wegen des Hundes hat der Junge lange Zeit nicht verwinden können“, setzte Schramm noch hinzu. „Das war sein Hauptmotiv. Den Hund können Sie übrigens behalten. Ich wollte Sie nur ärgern, als ich ihn zurückverlangte.“ Es entstand eine Pause. „Ich kann ihn ohnehin nicht mitnehmen – ins Zuchthaus … Es ist Ihnen doch klar, daß ich geliefert bin, wenn Sie den Brief der Polizei übergeben? Ein klassischer Indizienbeweis. Nebst Justizmord. Und denken Sie an die Schlagzeilen in der Zeitung: ‚Falscher Studienrat ermordet Schüler!‘ In was für ein Licht gerät die Schule! Aber unser verehrter Direktor ist so korrekt, daß er sich und die Schule zugrunde richtet, um nur der Justiz ihren Lauf zu lassen … Hätten Sie doch vorher mit mir gesprochen!“ Er schüttelte resigniert den Kopf und sah mich an. „Den Direktor können wir doch heraushalten“, sagte ich langsam. 186
Seine Züge hellten sich auf. „Sie haben noch nichts gesagt?“ Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Schramm stand plötzlich unmittelbar vor mir. Ich wich erschreckt zurück. „Was …“, begann ich und erhielt einen Stoß, der mich auf den Stuhl zurückwarf. „Sie haben einen Fehler gemacht“, sagte Schramm. Er lächelte kühl. „Meinen Sie wirklich, daß ich mich Ihnen in die Hand gebe? Meinen Sie, daß ich mich überhaupt in irgend jemandes Hand gebe?“ „Schramm“, rief ich, „nehmen Sie Vernunft an! Der Direktor wird jeden Augenblick …“ „Der Herr wartet unten“, sagte Schramm. „Er wird es Ihnen übelnehmen, daß Sie ihn warten lassen, aber er wird Ihnen nicht nachlaufen.“ Ich bekam Angst. Die Bibliothek liegt im zweiten Stock, ganz am Ende des Ganges. Niemand hielt sich jetzt am Sonntagnachmittag in diesem Teil des Gebäudes auf. Der Schulhof tief unten war leer. Es hatte keinen Zweck, zu schreien. Körperlich war ich Schramm nicht gewachsen. Er hatte viel Sport getrieben und war jünger als ich. Das unwürdige Schauspiel eines für mich aussichtslosen Handgemenges wollte ich ihm nicht bieten. „Was wollen Sie von mir?“ fragte ich so ruhig, wie ich es vermochte. „Für unsere Fehler müssen wir büßen.“ Schramm zuckte die Achseln. „Ich habe bereits gebüßt, und jetzt büßen Sie … Mein Lieber, wie konnte Ihnen das passieren! ‚Den Direktor können wir noch heraushalten‘ haben Sie eben gesagt. Wir können die Sache also unter uns abmachen. Das werden wir auch tun – aber anders, als Sie es sich vorstellen.“ Er sprach hart, wie ein Mensch, der sich anschickt, Gewalt anzuwenden. Eigentlich wurde mir erst jetzt klar, daß dieser Mann morden konnte. So muß er auf 187
Kurrat zugekommen sein, damals auf dem Steg. So muß er ausgesehen haben, als … Meine Vorstellungskraft versagte. Ich stand schwerfällig auf. Er ließ es geschehen. „Haben Sie nie bedacht, Sie Pädagoge“, hörte ich ihn sagen, „daß die Fensterbänke hier im zweiten Stock sehr niedrig sind? Hier oben sind doch auch Klassenräume. Haben Sie nie bedacht, daß Ihre Kinderchen mal das Gleichgewicht verlieren könnten, wenn sie sich unvorsichtig hinauslehnen?“ Erschreckt sah ich mich um. Unter uns lag der Schulhof, zwei Stockwerke tief, leer. „Gehen Sie doch ans Fenster“, sagte Schramm, „schreien Sie doch!“ Er kam auf mich zu, so daß ich in die Richtung auf das offene Fenster zurückweichen mußte. Im selben Augenblick, in dem ich schrie, hätte er mir einen Stoß versetzen können. Selbst wenn jemand den Schrei gehört hätte, wäre er später als Schreckensschrei gedeutet worden … Später! Schramm brachte es über sich, mich unentwegt anzusehen. Ich, versuchte seinem Blick standzuhalten, aber die kalten Augen waren stärker als ich. Ich habe nie gesehen, daß er so kalte Augen … Ich rang nach Worten, aber jedes Wort schien hier ohne Sinn. Dieser Blick … Ich sah zur Seite, zwei Stockwerke tief in den staubigen Hof. Und in diesem Augenblick rollte ein Ball quer über den Hof, prallte gegen einen Baum, hüpfte zurück, und bevor er zur Ruhe kam, hatte einer unserer Schüler, der hinterhergejagt kam, ihn gepackt. Ich klammerte mich mit aller Kraft an die Fensterbank und rief hinunter: „Hallo, du da unten!“ Noch niemals habe ich sehnsüchtiger auf eine Antwort gewartet. Mein Ruf hallte über den leeren Schulhof, aber er kam mir viel zu dünn und kraftlos vor. Es schien mir undenkbar, daß der Junge mich gehört haben könnte. Ich rief noch einmal, der Junge reagierte. Er blieb stehen und sah zu mir herauf. 188
„Wie heißt du doch gleich?“ rief ich. „Aus welcher Klasse bist du überhaupt?“ Ich muß ihn festhalten … Mein Fragen von hier oben mußte töricht wirken, aber das war jetzt unwichtig. „Bist du allein?“ fragte ich, und nie hat mich eine Antwort so erleichtert. „Da kommen gleich noch ein paar andere“, rief er, „wir möchten hier Fußball spielen!“ „Wer kommt denn noch?“ Ich ließ mir die Namen nennen. „Fragen Sie ihn doch nach den Geburtstagen seiner Großeltern!“ hörte ich Schramm hinter mir sagen. Er hatte sich etwas zurückgezogen, und nach der Stimme zu urteilen, war er wieder der alte Schramm. „Da kommen sie!“ rief der Junge und schickte sich an, ihnen entgegenzulaufen. „Bleib stehen!“ schrie ich. „Ich habe einen Auf trag für dich – einen sehr wichtigen Auftrag!“ „Soll ich raufkommen?“ Ich wehrte ab. Er durfte sich nicht vom Fleck rühren. In diesem Augenblick – o unsagbare Erleichterung! – tauchten drei weitere Jungen auf. Ich hatte gewonnen. „Zwei von euch kommen sofort zu mir herauf!“ befahl ich. „Die anderen sagen mir, was sie gestern morgen für Unterricht gehabt haben!“ Die Jungen mußten mich für irre halten. Glücklicherweise waren es erst Tertianer. In diesem Alter findet man manches am Verhalten von Lehrern komisch und wundert sich kaum noch. Als ich die Schritte der beiden Schüler draußen auf dem Korridor hörte, hätte ich fast einen Schwächeanfall bekommen. „Haben Sie sich auch einen schönen Auftrag für die Kleinen ausgedacht?“ fragte Schramm höhnisch. „Im übrigen haben Sie doch wohl nicht im Ernst geglaubt, daß ich Sie aus dem Fenster stoßen würde … Sie haben sich ziemlich lächerlich aufgeführt, Sie Held!“ 189
Da war er wieder, der alte Schramm, der Überlegene, der es verstand, sich über andere zu erheben, sich lustig zu machen über sie. Ich schloß die Tür auf und behielt den Schlüssel in der Hand. „Ihr kommt gleich mit mir nach unten“, sagte ich zu den beiden Schülern. Ich hielt den Schlüssel bereit, schob ihn beim Schließen der Tür ins Schloß, drehte ihn zweimal um und ließ ihn stecken. Schramm war gefangen. Als ich die Treppe hinunterstieg, die beiden Schüler hinter mir, befiel mich ein plötzliches Herzklopfen; Hände und Knie begannen zu zittern, und ich mußte mich einen Augenblick lang am Geländer festhalten. Die beiden Schüler sahen mich betreten an. Ich nahm mich zusammen, und wir gelangten glücklich nach unten. Ich ging zunächst in mein Dienstzimmer und sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Mein Gesicht sah eigentlich aus wie immer. Ich war etwas verwundert, daß ein solches Erlebnis, das Erlebnis einer Grenzsituation immerhin, sich nicht stärker abzeichnete. Ich kämmte meine Haare, atmete einige Male tief durch und schickte die beiden Jungen zum Spielen auf den Schulhof. Der Auftrag habe sich erledigt, sagte ich. Dann klopfte ich an die Tür des Direktors. Schon an seinem Herein erkannte ich, daß er gekränkt war. Schramm hatte schon recht gehabt: Niemals wäre er mir nachgegangen; er hatte auf mich gewartet und mir mein Ausbleiben verübelt. Seine Laune besserte sich nicht, als ich jetzt zu erzählen begann. Für ihn war der Fall Schramm erledigt. „Lassen Sie den Mann in Ruhe“, sagte er; „er hat gebüßt für das, was er getan hat. Wer ist frei von Schuld geblieben in dieser Zeit!“ Ich machte den Fehler, gleich zu Anfang meines Be190
richtes zu erwähnen, daß ich eben durch einen reinen Glücksfall einem Mordanschlag Schramms entgangen sei. Der Direktor zog nur verwundert die Brauen hoch und hielt mich offensichtlich für überspannt. Ich erklärte ihm die Bedeutung des zerschnittenen Briefes. „Wenn ich Sie recht verstanden habe“, sagte er, „hat dieser Brief mit dem Verschwinden Kurrats zu tun, damals kurz bevor er … bevor das Schicksal ihn ereilte. Daß eine Verbindung bestanden hat zwischen diesem Verschwinden und der Vergangenheit von Herrn Schramm, ist vielleicht ganz interessant, aber … Ich bitte Sie – die Angelegenheit hat sich doch erledigt! Kurrat ist zurückgekommen; es ist ihm nicht einmal gelungen, Herrn Schramm in Verdacht zu bringen, wenn dies denn wirklich seine Absicht war … Wer von uns hat jemals geglaubt, daß Herr Schramm fähig wäre, einen Schüler umzubringen!“ Als ich auf den Tod Kurrats zu sprechen kam, auf meine Beobachtung, daß Schramm am Nachmittag im Waschraum gewesen war, auf die Tatsache, daß die beiden Kurrats Schramm in der Hand hatten, da nur sie seine Vergangenheit kannten, wurde die Miene des Direktors immer eisiger. Ich sprach über die näheren Umstände des Todes von Kurrat und legte dar, wie ein Mord vonstatten gegangen sein könnte. Wichtig war, daß an dem entscheidenden Abend der alte Herr Kurrat, der einzige, der noch über Schramm Bescheid wußte, im Sterben lag, schon ohne Bewußtsein war; daß der Sohn dies noch nicht erfahren hatte – kurz, es war der geeignete Zeitpunkt für Schramm, sich Kurrats zu entledigen. „Sie meinen, daß der alte Herr Kurrat auf Schramm einen Druck ausgeübt hat?“ fragte der Direktor. Ich erklärte ihm, daß Schramm es mir gegenüber zwar eben bestritten habe, daß es aber wahrscheinlich doch so gewesen sei. Vielleicht habe er Schramm eine 191
Frist gegeben, sich selber zu stellen oder aus dem Schuldienst auszuscheiden. „Wie konnte dann aber der Herr Kurrat seinen Sohn mit Schramm und Ihnen allein lassen?“ fragte der Direktor. Ich wußte zwar noch, daß ich Herrn Kurrat damals gesagt hatte, ich würde während der Ferien in der Schule bleiben und wollte mich besonders um seinen Sohn kümmern; ob aber Schramms Entschluß, gleichfalls zu bleiben, damals schon bekannt gewesen war, daran konnte ich mich nicht erinnern. Doch kam es darauf an? Fast schien es mir, als wollte der Direktor nicht begreifen. „Schramm hat von dem bevorstehenden Tod des alten Herrn Kurrat und von seinem Zustand nichts wissen können“, wandte er ein; „oder trauen Sie es ihm zu, daß er den Brief aus dem Krankenhaus widerrechtlich geöffnet und wieder verschlossen hat?“ Ich wurde jetzt ärgerlich und sagte dem Direktor sehr deutlich, daß ich Schramm noch ganz andere Dinge zutraute. Dann wiederholte ich noch einmal: „Wenn damals hätte nachgewiesen werden können, daß die beiden Kurrats Schramms Vergangenheit kannten, wäre Schramm unter Mordanklage gestellt worden. Das fehlende Beweisstück ist der Brief, dessen eine Hälfte ich Ihnen hier zeigen kann – der Rest läßt sich ergänzen. Der Beweis, daß der Brief von Kurrats Hand ist, kann einwandfrei geführt werden, da hinreichend Schriftproben zum Vergleich vorliegen.“ Der Direktor schwieg eine ganze Weile, sah sich den Brief an und sagte schließlich: „Wir werden diese beiden Streifen der Staatsanwaltschaft übergeben müssen, aber … Haben Sie sich überlegt, was dies für unsere Schule bedeuten wird?“ Ich verstand den Direktor nur zu gut, wenn er im Grunde meine Nachforschungen verurteilte. Vielleicht war das Ansehen unserer Schule für uns tatsächlich 192
wichtiger als die Bestrafung eines Verbrechens, das nicht mehr rückgängig zu machen war? „Schon die Aufdeckung der Identität Schramms“, begann der Direktor wieder, „und der tödliche Unfall eines Schülers haben dem Ruf unserer Schule schweren Schaden zugefügt. Jetzt sind Jahre darüber hingegangen, und alles soll noch einmal aufgerührt werden! Und die Sachlage ist noch ungleich schlimmer: Aus dem Unfall ist ein Mord geworden, aus dem falschen Studienrat ein Mörder … Ob die Indizien für eine Verurteilung ausreichen, vermag ich nicht zu sagen, aber ein Urteil wird in jedem Fall gesprochen: das über unsere Schule. Die Presse wird anklagen, die Elternschaft richten … Unsere Zukunft hängt an diesen beiden Papierstreifen.“ Ich schwieg. Dann sagte ich zögernd: „Würden Sie es für vertretbar halten … Ich meine, würden wir es verantworten können, im Interesse letztlich unserer Schule …“ Er fiel mir ins Wort: „Das Ergebnis Ihrer Nachforschungen, dieses Papier da, muß an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden. Was geschehen ist, läßt sich nicht rückgängig machen. Wenn Ihnen eine solche Möglichkeit vorgeschwebt hat, wäre es besser gewesen, Sie hätten mich nicht hineingezogen. Dann hätten Sie die Sache allein mit Schramm abmachen können, wenn Sie es hätten verantworten wollen.“ Ich verschwieg dem Direktor, daß ich mich vor wenigen Augenblicken im Gespräch mit Schramm schon dazu bereit erklären wollte und daß mich gerade dieses Entgegenkommen fast das Leben gekostet hätte. „Ist Schramm sich über seine Situation im klaren?“ fragte der Direktor. „Ich habe ihm noch nicht gesagt, daß ich ihn am Todestage Kurrats in den Waschraum gehen sah.“ „Man wird Ihnen vorwerfen, daß Sie diese Aussage damals nicht gleich gemacht haben.“ 193
Ich zuckte die Achseln. „Mir lag daran, keinen neuen Verdacht zu erregen. Es hatte sich gerade erst ein Verdacht gegen Schramm als unbegründet erwiesen, und mir war zu dem Zeitpunkt weder Schramms Vergangenheit bekannt noch Kurrats Kenntnis davon.“ „Ihre Aussage dürfte ein sehr wesentliches Glied in der Indizienkette sein. Schramm wird erkennen müssen, daß er keine Aussichten hat davonzukommen …“ Er hielt inne; dann fuhr er fort: „Man wird es ihm sagen müssen.“ Wieder eine Pause. Ich begann ohne große Begeisterung: „Soll ich …“ „Nein.“ Er stand auf. „Ich werde hinaufgehen und mit ihm sprechen.“ Manchmal setzt mich unser Direktor in Erstaunen. Seine Korrektheit kann rührend wirken, fast unbeholfen und weltfremd. Aber dann zeigt er ganz plötzlich Energie und Härte, und man fragt sich, wie man gerade vorher Empfindungen liebend-herablassender Rührung für ihn hegen konnte, wie für ein großes, ungeschicktes Kind … Aufrecht und entschlossen stieg der Direktor die Treppe hinauf, um den vielleicht entscheidendsten Kampf seines Lebens aufzunehmen, für seine Schule, für uns alle. Ich war ihm auf den Korridor gefolgt und blickte ihm nach; dann ging ich noch einmal zurück in sein Zimmer, um den halben Brief wieder einzustecken – das entscheidende Indiz, meine teuer bezahlte und schwer errungene Jagdbeute. Ich stand mitten im Zimmer und rührte mich nicht. Da lagen die beiden Streifen auf der Schreibtischplatte, unter den vielen Papieren; zwei nichtige Lesezeichen … Vom Fenster her zog es durch die offene Tür. Die beiden Fetzen flatterten und mußten gleich auf den Boden wehen, sich irgendwo verlieren … 194
Ich ging in mein Zimmer, stellte mich ans Fenster, sah den spielenden Tertianern zu und überließ mich meinen Gedanken. Hatten die Jungen da unten mir tatsächlich vorhin das Leben gerettet? Wäre Schramm wirklich fähig gewesen, mich aus dem Fenster zu stoßen? Zehn Jahre gemeinsamer Arbeit, die vielen Stunden des Zusammenseins … Aber wer weiß, wozu wir, in die Enge getrieben, fähig sind? Wer weiß das! Einem anderen ausgeliefert zu sein, der mit uns spielen kann, den wir umschmeicheln müssen, gnädig stimmen … Welcher Sklave haßt nicht seinen Herrn! Ein leerer, sonnenbeschienener Schulhof an einem Sonntag; spielende Halbwüchsige, ein belangloser Ball, der für mich heute eine kurze Zeitspanne hindurch die Welt bedeutete. Zwei Mannschaften, die um ihn kämpfen, als bedeutete er für sie die Welt. Wie jeder seinen Vorteil wahrnimmt, wie sie sich rempeln, stoßen, froh sind, wenn sie den Ball ergattert haben … Ein Hin und Her, Vor und Zurück, Jubel bei den einen, Ärger bei den anderen, ständiger Wechsel, Sieg oder Niederlage. Jeder tut sein Bestes. Man kämpft und gebraucht seine Ellenbogen. Schramm hat verloren. Er hatte schon verloren, als er sich zum Handlanger von Verbrechern machte. Beihilfe zum Mord in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen. Experimente an Menschen. Gaskammern. Aber waren sie Handlanger, waren sie Mörder? Welche Motive beherrschten sie – Haß? Lust? Oder einfach Gehorsam und Ehrgeiz? Mord setzt niedrige Motive voraus, Schramms Motive, waren sie niedrig gewesen? Falsch begründet eher, irreführend. Aber ist Rassenhaß kein niedriges Motiv? Oder waren sie nichts als Henker, selber ohne Verantwortung, Totschläger auf Befehl? Verbrecher dennoch, willige Werkzeuge der Gemeinheit – zugleich aber auch Verführte, Mißbrauchte, Geschändete? 195
Läge ich jetzt dort zerschmettert auf dem Pflaster, einige Schritte weit nur nach links, wäre Schramm mein Mörder … Oder mein Richter? Darf ein Mensch einen anderen so in die Enge treiben, daß er um sein Leben kämpfen muß? Habe ich die Grenze überschritten, indem ich Schramm verfolgte? Ich denke an Kurrat. Kurrat hätte nein gesagt. Nein. Keine Vergebung. Aber Kurrat wäre heute erwachsen. Was würde Kurrat heute sagen? Ich höre Schritte die Treppe herabkommen, stehe in der Tür, der Direktor geht an mir vorbei; ich will etwas sagen, er winkt ab, geht in sein Zimmer. Etwas schiebt sich gegen mein rechtes Bein: Schramms Hund. Er winselt, springt an mir empor. Plötzlich überkommt mich ein unsägliches Mitleid; ich streichle den Hund, hebe ihn hoch, lehne meinen Kopf an seinen, trete mit ihm ans Fenster. Immer noch das gleiche Bild. Glasklarer Himmel, ungetrübtes Sonnenlicht, der weite Platz, die Spielenden. Wie lange nun schon das wilde Hin und Her, quälend und ohne Erbarmen. Was liegt über uns allen … Da! Einer der Spieler bleibt mit einem Ruck stehen, den Blick auf die Fassade des Hauses gerichtet. Ein Schrei. Jetzt erstarren die anderen auch. Hat der Schrei sie gebannt – oder das Geräusch? Es ist schwer zu beschreiben – ein Schlag, dumpf zerplatzend, wie ein Sack Kartoffeln. Und danach Stille … Die Spieler starren gebannt auf einen Punkt. Dann setzt sich einer in Bewegung, läuft auf den Punkt zu, ein anderer folgt, zögernd fast … Ich weiß nicht, wie lange ich so gestanden habe. Endlich löse ich mich aus meiner Erstarrung, setze den Hund ab. Eine Decke muß her – weshalb denke ich erst jetzt daran? Eine Decke, die das Gräßliche zudeckt, das niemand sehen sollte, am allerwenigsten diese Kinder. 196
In meinem Zimmer steht der Schreibtisch, dann der niedrige Tisch zwischen den Sesseln – nirgends eine Decke … In den oberen Räumen? Plötzlich packt mich eine Erinnerung: das Elternsprechzimmer, die Decke, Kurrat … Ich renne los, reiße die Tür auf, ziehe die Decke mit einem großen Schwung vom Tisch, der Hund mißversteht mich, meint, ich wollte mit ihm spielen, faßt hinein, ich schüttle ihn ab, er springt mir kläffend voraus, ich bin schon auf dem Hof, die Decke schleift hinter mir her. „Macht Platz!“ rufe ich. „Auseinander!“ Aber sie sind schon ganz von selbst zur Seite getreten. Er liegt mit dem Gesicht nach oben … die Augen weit aufgerissen, der Schädel zerschmettert, zurückgestaucht, in einer Lache von Blut. Blut rinnt aus dem offenen Mund; die Zähne liegen frei, und das Blut rinnt über das Gesicht, in die Augen … Ich werfe die Decke darüber. Nur der linke Arm streckt sich heraus; er ist verdreht, die Finger sind gespreizt, als wollten sie etwas greifen. „Ein Unfall“, sage ich. Meine Stimme klingt heiser. „Die niedrigen Fensterbänke oben … Er hat sich hinausgelehnt. Er hat das Gleichgewicht verloren.“ Die Schüler stehen starr, der Hund beschnuppert die Decke. „Ein ehemaliger Lehrer an unserer Schule“, höre ich mich sagen, „ein alter Freund von mir.“
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1. Auflage Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1979 Lizenz-Nr.: 409-160/115/79 • LSV 7304 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 421 0 DDR 2,– M