Zarvora Cybeline, oberste Drachenbibliothekarin von Rochester, hat das Unmögliche wahr gemacht: In einer Welt, in der j...
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Zarvora Cybeline, oberste Drachenbibliothekarin von Rochester, hat das Unmögliche wahr gemacht: In einer Welt, in der jede höhere Technologie von den großen Religionen geächtet ist, entwickelt sie eine Rechenmaschine, die ganz aus Menschen besteht Denn sie weiß, daß der Menschheit vom Himmel eine schreckliche Gefahr droht, die sie nur abwenden kann, wenn es ihr gelingt, die Geheimnisse der Vergangenheit zu ergründen. Aber nicht alle begreifen den Ernst der Lage. Der ewige Student Johnny Glasken möchte am liebsten weiter Jagd auf schöne Frauen machen und seine Zeit in den Tavernen verbringen. Da verliebt sich die junge Lemorel Milderellen in ihn, eine Frau, die zu seinem Erstaunen besser mit der Waffe umzugehen weiß als er. Noch ahnt Johnny nicht, daß es ihm bestimmt ist, im Kampf gegen die geheimnisvollen Mächte am Himmel eine entscheidende Rolle zu spielen... »Übermütige Unterhaltung, wunderbar komplex -eine Mischung aus Seifenoper und Shakespeare...« DENVER POST
Sean McMullen
Seelen in der Grossen Maschine Greatwinter 1 Für Jack Dann, der in Australien so vieles möglich gemacht hat. Dank an: Jack Dann ■ John de la Lande Peter McNamara ■ Trish Smyth INHALT Prolog ............................................. 9 1 Kämpen............................................ 11 2 Kapitale............................................ 45 3 Knospende Liebe..................................... 75 4 Gefangen........................................... 117 5 Kode .............................................. 151 6 Der Ruf............................................ 187 7 Coup .............................................. 218 8 Kampf .'............................................ 262 9 Katastrophe......................................... 295 10 Chrysalis ........................................... 327 11 Zauberei............................................ 377 12 Uhrmacher ......................................... 427 13 Chaos.............................................. 473 14 Gefallene........................................... 527 15 Konversion ......................................... 587 -2PROLOG Das Mädchen bewegte sich mit der ruhigen Selbstsicherheit einer Diebin, die wußte, daß sie ungestört bleiben würde. Die Besatzung des hundert Meter hohen Turms hatte die Signalfeuerplattform an seinem Gipfel verlassen, und das Riesenauge ihres Empfangsteleskops starrte mit leerem Blick zu einem Turm am östlichen Horizont hinüber. Das Fernmeldeteleskop war zwar so angebracht, daß es unentwegt ostwärts Ausschau nach Signalen vom Numurkaher Turm her hielt, ließ sich aber zu Justierungs- und Wartungszwecken um ein paar Grad schwenken. Das Mädchen löste die Feststellschrauben des großen Fernrohrs und richtete das Objektiv dann
langsam dorthin aus, wo gerade der Mond aufging. Eine Kolbenuhr an der Wand schlug Viertel vor zehn. Die Kalenderrollen daneben zeigten den 26. September des Jahres 1684 nach dem Großen Winter an. Die Mondoberfläche war das gewohnte Wirrwarr von Kratern und Gebirgen, dazu das zarte Filigranmuster vorzeitlichen Tagebaus. Mit einigen geschickten Drehungen löste das Mädchen das Standard-Okular. Ihre eigene Anordnung von Linsen und Meßschrauben anzubringen und einzustellen dauerte jedoch länger. Die Uhr schlug die zehnte Stunde nach Mittag. Der Mond stand fünf Grad über dem Horizont, als das Mädchen schließlich fertig war. Die stärkere Vergrößerung lieferte ein verwaschenes, in den Luftströmungen waberndes Bild. Da der Mond nicht mehr ganz voll war, bildeten sich Schatten an den Rändern, genau dort, wo sie sie brauchte. Sie richtete die Fadenkreuze in ihrem Okular aus, sah auf die Uhr und maß die Länge eines Schattens, den eine Tagebaugrube warf. Ihr stockte der Atem, und sie mußte ihre Aufregung unterdrücken. Sie wiederholte die Messung und nahm sie dann noch einmal mit dem anderen Auge vor. Die Ergebnisse stimmten überein. Die Uhr schlug Viertel nach zehn. Das Mädchen notierte flugs die Werte, wählte einen anderen Schatten und stellte weitere Messungen an. Um halb elf stand der Mond schon fast zehn Grad über dem Horizont. Die Zeit schien schneller zu vergehen, als sie einen dritten Grubenschatten maß - und -3dann hatte eine der Drehscheiben, die das Teleskop trugen, ihre Maximalhöhe erreicht und ließ sich nicht weiterdrehen. Der Blick auf den lunaren Tagebau glitt aus dem Sichtfeld des Okulars. Das Mädchen senkte das Fernrohr wieder, brachte das Standard-Okular wieder an, richtete das Objektiv wieder auf die Signalfeuerplattform des Numurkaher Turms und brannte die ganze Zeit darauf, sich die Meßwerte noch einmal anzusehen. Ein paar überschlägige Berechnungen bestätigten, was sie bereits vermutet hatte: Die erste der drei Tagebaugruben, die sie vermessen hatte, war signifikant tiefer als ein Jahr zuvor. Sie sah sich noch ein letztes Mal auf der Signalfeuerplattform um, ging dann zum Treppenhaus und begann den langen Abstieg. Den ganzen Weg hinab überlegte sie hektisch hin und her, was die fünfprozentige Vertiefung eines Kratzers auf der Mondoberfläche bedeuten mochte. Als sie hinaustrat auf die stillen Straßen der Binnenhafenstadt, blieb sie kurz stehen und sah zum Mond hinauf. Es war eine ausgesprochen bedeutsame Entdeckung, aber dennoch durfte sie niemandem davon erzählen. Ihr ganzes Leben glich zusehends einem Katalog von Geheimnissen, die sie mit keiner Menschenseele teilen durfte. »Fantastisch. Auch nach zweitausend Jahren funktionieren ihre Maschinen immer noch«, sagte Zarvora Cybeline. Dann wandte sie sich dem mondbeschienenen Gebäudekomplex zu, in dem die Bibliothek der Technischen Hochschule von Echuca untergebracht war. »Es wird Zeit, daß ich mir selber auch eine Maschine baue.« - io -
I Kämpfen Bis zum siebten Zug hatte Fergen bei den Figuren auf dem Brett kein verdächtiges Muster entdeckt. Er war ein vorzüglicher Kämpen- Spieler und hatte sich auch noch die ausgefallensten Strategien und Szenarien eingeprägt. Die Hoheliber zog einen Bauern vor, um Fergens Bogenschützen zu bedrohen. Der Zug war die reine Dreistigkeit, eine billige Finte, die ihn dazu verleiten sollte, den Schuß des Bogenschützen zu vergeuden. Er schob den Schützen beiseite, so daß die Flanke seines Springers gedeckt war. Die Hoheliber lehnte sich zurück und betätigte die stummen Tasten eines alten Cembalos, das man entzweigesägt und mit Bolzen an der Wand ihres Arbeitszimmers befestigt hatte. Fergen rieb sich Putzstaub von den Fingern. Die Spielfiguren waren ebenso damit bedeckt wie das Brett, die Möbel und der Fußboden. Hier sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Drähte hingen aus Löchern in der Decke, durch Lücken in der Wandverkleidung sah man halb fertiggestellte Apparaturen aus Stan-
gen, Rollen, Hebeln, Klinken, Zahnrädern und Achsen, und weitere mechanische Vorrichtungen aus Messing und Stahl ragten aus Löchern im Boden. Hin und wieder regte sich einer der Mechanismen. Fergen widmete dem Spiel seine ungeteilte Aufmerksamkeit, Hoheliber Zarvora aber klimperte gedankenverloren auf den Cembalotasten und blickte nur selten einmal aufs Brett. Ein Gefüge aus Dutzenden markierten Zahnrädern richtete sich leise ratternd neu aus. Diese ganzen Vorrichtungen seien Bestandteile eines Fernmeldesystems, hatte die Hoheliber erklärt. Libris, die Staatsbibliothek, sei mittlerweile so groß, daß sie sich nicht mehr allein mit Hilfe von Schreibern und Boten verwalten ließe. Die Hoheliber beugte sich vor und nahm einen Springer zur Hand. Mit dem Sockel der Figur stieß sie erst einen, dann einen zweiten eigenen Bauern um. Fergen hatte nie bemerkt, was für kleine, blasse Hände die Hoheliber hatte. Ihr Springer schlug noch einen weiteren eigenen Bauern, ehe er kehrtmachte und endlich auf eine gegnerische Spielfigur losging. So eine große, achtunggebietende Frau, und dann hat sie so kleine Hände, dachte Fergen wie gebannt. Der Springer stieß noch einen weiteren eigenen Bauern beiseite; dann fiel sein König. Einen Moment lang starrte er das Gemetzel auf dem Spielbrett an, der Schock angesichts der Niederlage setzte erst mit leichter Verzögerung ein. Vor Wut, Erstaunen, Argwohn, Unverständnis und Furcht wußte er nicht, wo ihm der Sinn stand. Schließlich sah er zur Hoheliber auf. »Ich muß mich noch einmal dafür entschuldigen, wie es hier aussieht«, sagte sie in dem unnahbaren, dabei aber zwanglosen Ton, den sie selbst dem Bürgermeister gegenüber anschlug. »Hat das Chaos hier drinnen Eure Konzentration beeinträchtigt/« »Ganz und gar nicht«, erwiderte Fergen und rieb sich die Augen, hinter denen sich erste Anzeichen einer Migräne bemerkbar machten. »Ich könnte auch in einem Kuhstall spielen und würde doch jeden beliebigen Gegner aus der uns bekannten Welt in unter fünfzig Zügen schlagen. Wißt Ihr, wann ich das letzte Mal eine Partie Kämpen verloren habe?« Die Frage war rhetorisch gemeint, aber die Hoheliber kannte die Antwort. »1671 GW« Sie klimperte weiter auf der stummen Klaviatur. Die mit weißen Punkten markierten Zahnräder klickten und ratterten in ihrem Gestell aus poliertem Holz. »Und jetzt ist es 1696«, sagte er wehmütig. »Und ich habe schon einige Male gegen Euch gespielt, aber solche Züge kenne ich überhaupt nicht von Euch.« »Ich habe geübt«, sagte die Hoheliber leichthin. »Ihr laßt Euch bei jedem Zug viel Zeit, aber was sind das dann auch für Züge! Ich habe in dieser Partie mehr gelernt als in den hundert zuvor. Ihr könnt meinen Titel haben, Hoheliber Zarvora. Ich weiß wahre Meisterschaft zu würdigen, wenn ich sie sehe.« Die Hoheliber betätigte immer noch die stummen Tasten und sah zu den Zahnrädern hinüber. Die selben schlanken, selbstsicher zupackenden Finger, die seinen König mit solcher Leichtigkeit zu Fall gebracht hatten, huschten nun in Mustern, die Fergen nichts sagten, über die leise klappernde Klaviatur. »Ich bin bereits Hoheliber, Bibliothekarin des Bürgermeisters«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Libris, meine Bibliothek, ist die größte der Welt und das Zentrum eines Bibliotheksverbunds, der sich über zahlreiche Stadtstaaten erstreckt. Zu meinem Stab gehören mehr als halb so -4viele Personen wie zu dem des Staatspalastes. Was sollte mich also an Eurem Posten reizen?« »Aber ... aber ein Brettspiel-Staatsmeister steht doch rangmäßig über einer bloßen Bibliothekarin«, stotterte Fergen. »Nur der heraldischen Konvention nach, Fras Staatsmeister. Ich spiele gerne Kämpen, aber meine Bibliothek bedeutet mir mehr. Ich werde niemandem von Eurer Niederlage erzählen.« Fergens Gesicht war rot angelaufen. Sie hätte sein Amt übernehmen können, wollte es aber nicht! Sollte das eine Beleidigung sein? Gab es Gründe für ein Duell? Die Hoheliber galt als
ausgezeichnete Schützin mit der Steinschloßpistole und hatte bei Duellen im Rahmen der Modernisierung der riesigen Bibliothek bereits etliche ihrer Untergebenen getötet. »Mögt Ihr noch eine Partie spielen?« fragte die Hoheliber, die ihn nun ansah, aber immer noch die Tasten anschlug. »Mein Kopf ... fühlt sich an, als hätte man ihn als Amboß benutzt, Frelle Hoheliber.« »Nun, dann kommt doch später wieder«, sagte sie, tippte die Kurzform des Befehls / KÄMPEN: GESAMTVERARBEITUNGSZEIT? / ein und betätigte dann mit dem Fuß einen Hebel. Fergen hörte innerhalb des Mauerwerks gespannte Drähte sirren und Hebel und Zahnräder klappern. »Von mir könnt Ihr nichts mehr lernen«, sagte er resigniert. »Ihr seid der beste Gegner, den ich habe«, entgegnete die Hoheliber. »Ich glaube -« Sie verstummte mitten im Satz und starrte die Reihe der Zahnräder an. »Entschuldigt mich bitte, da ist etwas, um das ich mich kümmern muß«, sagte sie mit plötzlich angespannter Stimme. »Haben die Punkte da auf den Zahnrädern gerade etwas gemeldet?« »Ja, ja, das ist ein einfacher Kode«, sagte sie, erhob sich schnell und nahm ihn beim Arm. »Einen angenehmen Nachmittag noch, Fras Staatsmeister, und mögen Eure Kopfschmerzen schnell vergehen.« Fergen rieb sich den Arm, als ihn der Diener der Hoheliber hinausgeleitete. Die Frau hätte ihn ja fast emporgehoben! Erstaunliche Kräfte, für Fergen aber nicht verblüffender als ihr Sieg auf dem Kämpenbrett. Zarvora riß ein kleines Brett in der Täfelung beiseite und zog an einem der Drähte, die vom Dach herabhingen. Wenig später ertönte aus -5den Messingplatten in der Wandvertiefung ein metallisches Zwitschern und Klappern. »Hier Systemsteuerung, Hoheliber«, meldete sich aus der Ferne eine hohl klingende Stimme. »In welchem Status ist der Kalkulor?« fragte die Hoheliber barsch. »Status HALTEMODUS«, antwortete das ferne Gegenüber. »Was ist jetzt gerade im Anforderungsregister?« »MODUS: KÄMPEN; BEFEHL: GESAMTVERARBEITUNGS-ZEIT?« »Und im Antwortregister?« »46:30,4, Hoheliber.« »Sechsundvierzig Stunden für eine zwanzigminütige Partie Kämpen, Fras Steuerer?« brüllte Zarvora, die für einen seltenen Moment die Beherrschung verlor. »Erklärt mir das!« Es entstand eine Pause, nur unterbrochen vom Rattern der Zahnräder. Zarvora trommelte mit den Fingern an die Wand und starrte auf eine Schiefertafel, auf der sie »46:30,4« notiert hatte. »Systemsteuerung, Hoheliber. Die Register des linken wie auch des rechten Prozessors bestätigen diesen Wert.« »Wie kann es sein, daß beide Prozessoren auf die gleiche absurde Zeitangabe kommen?« »Nun ... ja, das ist schon seltsam, aber das ist so ein Fehler, wie er selbst erfahrenen Schreibern einmal unterläuft.« »Der Kalkulor ist aber kein erfahrener Schreiber, Fras Lewrick. Im Rechnen ist er hundertmal leistungsfähiger, und mit den eingebauten Überprüfungen müßte er eigentlich absolut fehlerfrei arbeiten. Ich will, daß er genau in dem Zustand angehalten wird, in dem er sich bei der letzten Berechnung befand.« »Das ist nicht möglich, Hoheliber. Viele Komponenten des Korrektors waren bei Spielende erschöpft. Sie wurden von Reservekomponenten abgelöst.« Zu spät, dachte Zarvora. »Dann lassen wir jetzt eine Stunde lang Diagnoseberechnungen laufen«, sagte sie. »Und Ihr wechselt keine erschöpften Komponenten mehr aus. Wenn welche an ihrem Pult zusammenbrechen, soll man sie markieren, ehe sie ausgetauscht werden.« »Hoheliber, der Kalkulor ist müde. Das wäre nicht klug.« »Der Kalkulor besteht aus Menschen, Fras Lewrick. Menschen werden müde, der Kalkulor aber wird lediglich langsamer.«
-6»Ich bin doch ständig da unten drin. Er hat Stimmungen, hat Gefühle -« »Ich habe den Kalkulor konstruiert, Lewrick! Ich weiß besser als irgendwer sonst, wie er funktioniert.« »Wie Ihr wünscht, Hoheliber.« Zarvora rieb sich die Schläfen. Jetzt hatte sie auch Kopfschmerzen, aber dank des langen, vibrierenden Drahts unter der Messingplatte bemerkte niemand etwas von ihren Beschwerden. »Ihr wollt mir damit doch irgendwas sagen, Fras Lewrick. Was ist es? Und seid bitte aufrichtig.« »Der Kalkulor gleicht einer Flußgaleere oder einer Armee, Frelle Hoheliber. Er hat einen gewissen ... Geist, eine Seele. Damit meine ich, äh: Genau wie eine Flußgaleere mehr ist als nur ein Haufen Planken und Ruderer, ist der Kalkulor auch mehr als nur eine leistungsfähige Rechenmaschine. Wenn er müde wird, läßt er vielleicht hin und wieder eine fehlerhafte Berechnung passieren, statt sich die Mühe zu machen, sie noch einmal von vorne zu beginnen.« »Er ist nicht lebendig«, entgegnete die Hoheliber eindringlich. »Er ist weiter nichts als eine simple, leistungsfähige Maschine. Das Problem ist menschlichen Ursprungs.« »Sehr wohl, Hoheliber«, sagte Lewrick förmlich. »Soll ich die Korrelator-Komponenten auspeitschen lassen?« »Nein! Tut nichts Ungewöhnliches. Überprüft nur jedes einzelne Funktionsregister auf beiden Seiten der Maschine, während Ihr die Diagnoseberechnungen laufen laßt. Wir müssen ihn dazu bringen, daß er den Fehler wiederholt, und dann die schuldige Abteilung isolieren. Ach ja, und laßt einen Krug Turnierbier in jede Zelle bringen, wenn die Komponenten wegtreten dürfen. Der Kalkulor hat bis zu diesem Fehler gut gespielt.« »Das würde den Missetäter nur ermuntern, Hoheliber.« »Mag sein, aber harte Arbeit soll belohnt werden. Das Problem ist eine Lücke in meiner Konstruktion, Fras Lewrick, nicht die Komponente, die aufgrund dieser Lücke Schwierigkeiten macht. Wir könnten sämtliche Komponenten auf den Hof führen und standrechtlich erschießen lassen, aber die Lücke bliebe dennoch bestehen und würde nur darauf warten, daß irgendeine neue, frischausgebildete Komponente hineinschlüpft.« -6Libris war die Staatsbibliothek von Rochester. Ihr steinerner Signalfeuer-Leuchtturm ragte über zweihundert Meter in den Himmel und beherrschte die Silhouette der Stadt. Inoffiziell wurde die Macht der Hoheliber von Libris nur noch von der des Bürgermeisters übertroffen, und sie kontrollierte einen Verbund von Bibliotheken und Bibliothekaren, der sich über Dutzende Stadtstaaten und Tausende Kilometer erstreckte. In vieler Hinsicht aber war die Hoheliber mächtiger als der Bürgermeister. In den Stadtstaaten des Südostens gab es keine vorherrschende Religion, und der Bibliotheksverbund hatte in vielem die Rolle einer einflußreichen Geistlichkeit eingenommen. Das Bildungs-, Fernmelde- und Verkehrswesen der Stadtstaaten der Südostallianz unterstand der diskreten, aber zupackenden Koordination der Hoheliber von Rochester. Rochester selbst war kein mächtiger Staat; und die übrigen Stadtstaaten der Südostallianz beließen es bewußt dabei, daß es nicht viel mehr war als ein Versammlungsort, eine politische Zweckmäßigkeit. Benachbarte Stadtstaaten wie Tandara, Deniliquin und Wangaratta hatten die wahre Macht inne und übten sie in den Kammern des Konziliums von Rochester auch schamlos aus. Der Verfassung nach war Rochesters Bürgermeister Jefton der Oberbürgermeister des Konziliums, in der Praxis jedoch war er für seine Amtskollegen fast ebenso unbedeutend wie das Gesinde, das den Boden schrubbte, die Wandteppiche abstaubte und den mächtigen Tisch aus rotem Flußeukalyptus polierte, an dem die Versammlungen abgehalten wurden. Libris war der Grund dafür, daß Rochester schwach gehalten wurde. Ein mächtiger Stadtstaat, der den ausgedehnten und einflußreichen Bibliotheksverbund kontrollierte, wäre bald stark genug geworden, um die ganze Allianz zu beherrschen. Eben das wollte das Konzilium verhindern. Zarvora war erst kürzlich in ihr Amt eingesetzt worden, als Nachfolgerin eines Mannes, der achtzig Jahre älter war als sie. Mit vierundzwanzig Jahren war sie Silberdrache geworden und hatte zwei Jahre später den Golddrachenrang übersprungen, um direkt zum Schwarzdrachen ernannt zu werden - dem Rang eines Hohelibers. Dabei hatte auch Glück eine Rolle gespielt:
Bürgermeister Jefton war ebenfalls jung und ehrgeizig, und er war es leid, sich von alten Frauen und Männern sagen zu lassen, was er zu tun hatte und was nicht. Zarvora bot ihm die Chance, Rochesters Macht zu mehren, und lieferte dazu auch einige radikale, aber durchaus praktikable Vorschläge. Er empfahl sie dem Konzilium und ermöglichte ihr, im Kreis der Bürgermeister vorzusprechen. -7Sie kündigte an, sowohl Libris als auch das Signalfeuernetzwerk binnen dreier Jahre in die finanzielle Unabhängigkeit zu führen oder aber zurückzutreten. Die Bürgermeister waren beeindruckt und beriefen sie auf den Posten. Zarvora wurde im Jahre 1696 nach dem Großen Winter zur Hoheliber ernannt, und tiefgreifende Veränderungen folgten. Die Tigerdrachen, die interne Wachmannschaft von Libris, wurde auf die dreifache Personalstärke aufgestockt, und eine ihrer Abteilungen, die sogenannten Schwarzen, bildeten nun eine Geheimpolizei. Libris wurde teilweise um- und ausgebaut, und Personal und Bücher wurden in andere Bereiche verlegt. In den Werkstätten der erweiterten Bibliothek schufteten die Handwerker Tag um Tag und Monat um Monat in Zwölfstundenschichten, bauten seltsame mechanische Vorrichtungen und Möbelstücke. Tischler, Schmiede und Uhrmacher wurden von weither angeworben, und die Edutoren der Hochschule wurden beauftragt, entlegene Probleme der Symbolischen Logik zu lösen. Weite Bereiche von Libris wurden von der Außenwelt abgeschottet. Zarvora erklärte, Libris sei zu groß geworden, als daß man es noch manuell verwalten könne, und deshalb habe man eine große, aus Schreibern, Dienern und Bibliothekaren bestehende Fernmeldeund Koordinationsabteilung aufgebaut, welche die Buchbestände verwalten und die Aktivitäten der Bibliothek aufeinander abstimmen solle. Und tatsächlich arbeitete Libris binnen weniger Monate schon sehr viel effizienter, und die Bürgermeister vermochten Ende 1696 schon erhebliche Einsparungen bei den Betriebskosten zu erkennen. Auch beim Personal gab es in Libris durchgreifende Änderungen. Bei den Rot- und Gründrachenprüfungen wurden nun Kandidaten mit Kenntnissen in Mathematik und Mechanik bevorzugt, nicht mehr nur solche, die sich in Bibliothekswissenschaft und den Klassikern auskannten. Kein neuer Mitarbeiter war älter als 35 Jahre, und viele nutzten die Möglichkeit, sich an der Universität von Rochester fortzubilden. Diese Veränderungen trafen bei weitem nicht auf einhellige Zustimmung, aber die Hoheliber trieb sie entschlossen und rücksichtslos voran. Sie nutzte ihren Einfluß, wo sie nur konnte, focht Duelle aus, ließ Beamte ermorden ... und sorgte sogar dafür, daß die Rechenkundigeren unter ihren Gegnern in eine ganz neue Form der Zwangsarbeit verschleppt wurden. Wenn diejenigen, die ihr im Wege standen, Libris nicht angehörten, mußte sie andere Mittel und Wege finden, sie kaltzustellen. Im Falle von -7Fertokli Fergen, dem Brettspielstaatsmeister von Rochester, hatte sie zu einer Demütigung gegriffen. Der Ruf zog im Schrittempo übers Land, sichtbar nur anhand der Lebewesen, die er mit sich fortriß. Er zog nach Südosten, und in seinem Einflußbereich von zehn Kilometern folgten ihm Hunde, Schafe, hin und wieder Pferde und ab und zu auch ein Mensch. Obwohl er in weiter Ferne, in den Trockengebieten von Willandra, seinen Ausgang genommen hatte, wanderte keins der Tiere, die ihm zunächst gefolgt waren, nun immer noch unter seinem Bann, und es war auch keines von ihnen mehr am Leben. Nur wenige Wesen, die der Ruf mit sich fortzog, trafen je an seinem Ursprung ein. Ettenbar war ein Hirte aus dem Südmaurenreich und führte nahe des Grenzflusses zwischen den Ländereien des Emirs und dem Stadtstaat Rutherglen ein riskantes Leben. Seine Schafe weideten friedlich in einem Rund, an den Pflock geleint, den er an diesem Morgen eingeschlagen hatte. Seine Emus aber gingen mit weitausgreifenden, tänzelnden Schritten ungehindert zwischen den Schafen einher, ganz Hals, Beine und zottiges Federkleid. Zu ihren Füßen trippelten Hühner. Eine Regung in der Ferne ließ Ettenbar aufmerken: ein streunender Schafbock ohne Haltestrick. Auf Schafe ohne Haltestrick war eine Belohnung ausgesetzt, und streunende Schafe, die kein
Brandzeichen trugen, durfte behalten, wer sie einfing. Ettenbar machte sich von dem Pflock los und begann sich an den Merinobock mit dem gewundenen Gehörn heranzupirschen. Der Schafbock war wachsam. Als Ettenbar näherkam, trabte er in sichere Entfernung davon. Nun näherte sich Ettenbar über die Flanke und löste dabei seine Bolas. Das streunende Schaf hielt weiterhin Abstand. Ettenbar schlich näher, trieb es zu einer Stelle, an der ein paar Sträucher ihm Deckung boten. Der Trick funktionierte. Als er noch fünfzig Meter entfernt war, wirbelte er seine Bolas, warf - und fing den streunenden Schafbock an den Hinterläufen. Als er hinging, um seine strampelnde und blökende Beute einzusammeln, brandete der Ruf über ihn hinweg. Einen flüchtigen Moment lang blieb Ettenbar noch eine Wahl, wenn auch eine Wahl mit nur einem möglichen Ergebnis. Doch er verriet sich selbst, nahm seine Schwäche hin und schwelgte darin und das alles in Gedankenschnelle. Seine Disziplin und Selbstbeherrschung waren wie -8weggefegt, seine Schritte verlangsamten sich, und er wandte sich um und ging gen Südosten davon. Der Schafbock beeilte sich ebenfalls zu folgen, kam aber mit den um seine Hinterläufe geschlungenen Bolas dem Ruf nicht so schnell hinterher. Ettenbars Schafe lockte der Ruf ebenfalls fort, aber sie kamen nur so weit, wie ihre Haltestricke reichten. Seine Emus sahen ihnen dabei fragend zu, die Köpfe mit vogelhafter Neugier zur Seite geneigt. Sie waren zwar viel größer als die Schafe, als Vögel aber immun gegen den Ruf. Sämtliche Säugetiere, die größer waren als eine große Katze, wurden fortgezogen, nie aber Vögel oder Reptilien. Hindernisse nur schemenhaft wahrnehmend, ging Ettenbar weiter. Er durchwatete Wasserläufe, purzelte Abhänge hinab, erklomm Felswände und stolperte über gepflügte Äcker. Er kam an einem Bauern vorbei, der sich dagegen sträubte, vom Ruf nach Südosten fortgezogen zu werden. Den Mann hielt ein Leibanker, der von einem Zeitschalter aus Rohleder zehn Minuten nachdem ihn der Ruf erfaßt hatte, ausgeworfen worden war. Der Bauer würde überleben, Ettenbar dagegen war der Welt bereits verloren gegangen, war, weil er sich frei bewegen konnte, praktisch schon ein toter Mann. Vor ihm lag der breite, braune Fluß, der die Grenze markierte. Ettenbar watete hinein und schwamm dann los. Nicht einmal ein Viertel der Lebewesen, die der Ruf mit sich gezogen hatte, überlebte die Durchquerung dieses Stroms, Ettenbar aber ging am Südufer wieder an Land und wankte weiter. Als er fünf Kilometer auf das Gebiet des christlichen Stadtstaats Rutherglen vorgedrungen war, lief er blindlings in ein dichtes Brombeergestrüpp. Die dicke Lederkleidung und die Hirtenstiefel, derentwegen er im Fluß fast ertrunken war, schützten ihn nun vor dem Schlimmsten, das ihm die Dornen antun konnten, aber jetzt konnte er nicht einmal mehr mit dem langsamen Schrittempo des Rufs mithalten. Der Ruf lockte ihn weiterhin, und der Hirte mühte sich zu folgen, und die Dornen rissen ihm derweil Gesicht und Hände auf. Schließlich hatte er sich mit den Beinen so im Gestrüpp verheddert, daß er nicht mehr weiterkam. Drei Stunden später zog der Ruf schließlich vorüber und gab ihn frei. Ettenbar kam zu sich. Er war durchnäßt, er fror, er blutete und war vollkommen erschöpft. Die Sonne stand tief, fast von aufziehenden Wolken verborgen. In dem einen Moment war er noch auf den Schafbock zugegangen, den er gefangen hatte, und dann ... der Ruf hatte ihn verschont! Mit blutenden Fingern zog er sein Messer und schnitt seine Beine aus den Dornenranken frei. Er strauchelte aus dem Gestrüpp, warf sich -8zu Boden und dankte Allah, daß er ihm das Leben wiedergegeben hatte. An der untergehenden Sonne orientierte er sich, wo Nordosten war, und machte sich dann auf den Heimweg. Er schämte sich zwar, daß der Ruf ihn ohne sein Halteseil erwischt hatte, schritt ansonsten aber stolz einher. Der Ruf hatte ihn freigegeben, in den Augen Allahs war er gesegnet. Erst als er am Fluß ankam, wurde ihm klar, wo er war. »Hey, Rufdreck!« schrie jemand hinter ihm. Er zögerte kurz und lief dann in Richtung Flußufer los. Ein Schuß knallte, und vor ihm stob Erdreich auf. Ettenbar blieb stehen und drehte sich mit erhobenen Händen um.
Drei bärtige, blutverkrustete Schreckgespenster kamen auf ihn zu. Es waren keine Grenzsoldaten, sondern menschliche Aasgeier, die nach Vieh suchten, das bei dem Versuch, dem Ruf zu folgen, im Fluß ersoffen war. Ettenbar sah, daß nur einer von ihnen eine Schußwaffe bei sich trug, und zu spät wurde ihm klar, daß er hätte fliehen können, während die Muskete nachgeladen wurde. Die Männer trugen fleckiges Ölzeug und Kniebundhosen aus dickem Wollflanell und stanken nach Hammelfett und Blut. Durch ausgefranste Löcher zeigten sich drei grindige Kniepaare. Sie waren gerade dabei gewesen, ersoffene Schafe an Land zu ziehen und für die Märkte von Rutherglen zu schlachten, als Ettenbar in Sicht gekommen war. Prakdor lud seine Waffe nach, und Mikmis und Allendean beäugten derweil ihre Beute. Prakdor war zwar ihr Anführer, überließ das Reden aber meistens Mikmis. Er hatte früher einmal in der Armee seines Bürgermeisters gedient und wußte daher, was denen blühte, die sich allzu lautstark zu Wort meldeten. »Ein Schafficker aus dem Südmaurenreich«, bemerkte Mikmis, als sie Ettenbar an Händen und Füßen fesselten. »Gefangenhalten? Lösegeld?« fragte Allendean. »Lösegeld? Für einen Schafficker? Da würden wir ja nicht mal die Kosten für die Fesseln reinkriegen. Nein, laßt ihn uns lieber nach Wahgunyah bringen und als Ruderer an einen Kahnbesitzer verticken.« »Wahgunyah. Das ist weit«, murrte Allendean. »Er ist kräftig. Für den kriegen wir fünfundzwanzig Silbernobel.« Ettenbar sah währenddessen über den Fluß zu den Feldern und Weiden seiner Heimat hinüber. Bis zu diesem Tag hatte er sich nie weiter als dreißig Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, und jetzt erschien es eher unwahrscheinlich, daß er dieses Land je wiedersehen würde. »Jorah«, murmelte er. »Was sagt er?« fragte Allendean. »Jorah - so nennen die Südmauren den Ruf«, sagte Prakdor. »Das bedeutet > Veränderer des Lebens. besondere Aktualisierung< zurückgezogen.« »Diese Aktualisierung betrifft Werke, die nach veralteten Regeln katalogisiert wurden«, sagte Tarrin mißtrauisch. »Ich weiß. Für gewöhnlich sind solche Werke seit über zweihundert Jahren in Libris. Das bedeutet entweder, daß Ihr seit April neue Katalogisierungsregeln eingeführt habt, oder daß die Katalogabteilung nur ein Siebtel dessen leistet, was es den Anschein hat.« »Dann sind sie also wieder in ihre alten Unsitten verfallen«, sagte Tarrin und seufzte. »Hoheliber, wenn Ihr einem Golddrachen zwei Ämter übertragt, muß ja so etwas dabei herauskommen. Es gibt auch noch andere, die die Katalogabteilung leiten könnten.« »Ich vertraue aber niemandem außer Euch.« »Nun, dann müßt Ihr es lernen, Frelle Hoheliber. Denn schließlich: Habt Ihr mir vertraut, bevor Lewrick getötet wurde?« »Er fehlt mir, Fras Tarrin«, sagte Zarvora wehmütig und sah hinab auf die Cembalotasten. »Niemand auf der ganzen Welt hat meine Konstruktion so gut verstanden. Dieser komische kleine Mann hat den Kalkulor tatsächlich abgöttisch geliebt, wie ein Vater. Für mich ist es nur eine Maschine.« Tarrin wußte nicht, was er sagen sollte. »Ich habe mich ganz dieser Arbeit verschrieben«, sagte er schließlich unsicher. »Ist das gut genug?« »Gut genug? Fras Tarrin, das ist sogar besser. Lewrick war ein Gefühlsmensch, Ihr aber gleicht eher mir. Ja, ich weiß, viele von Lewricks Lösungen waren wirklich brillant, aber Ihr denkt eher wie ich. Das ist ein ganz anders gearteter Vorteil.« »Bedeutet das, daß ich nicht vom Kalkulor abgezogen werde?«
Zarvora sah zu ihm hoch und nickte. »Ihr werdet von Euren Pflichten als Leiter der Katalogabteilung entbunden, wenn es das ist, was Ihr meint. Ihr werdet neuer, ständiger Systemsteuerer.« »Danke, Frelle Hoheliber«, sagte er strahlend und versuchte gar nicht erst, seine Erleichterung zu verhehlen. »Ihr scheint schon viel aufrechter zu stehen.« »Eine Last ist mir von den Schultern genommen, zumindest teilweise. Und wer wird nun die Katalogabteilung leiten?« »Oh, das kann ich unmöglich entscheiden«, sagte Zarvora verschmitzt. »Dafür bin ich viel zu paranoid, das habt Ihr selber gesagt. Entscheidet Ihr das. Ihr habt von heute an einen Monat Zeit dafür.« Tarrin dachte nach. »Eine schwierige Entscheidung, Fras Systemsteuerer?« fragte Zarvora. »Ich überlege, ob mir jemand einfällt, der mir hinreichend unsympathisch ist, Frelle Hoheliber.« Musik hallte aus den fernen Straßen der Stadt herüber, wo das Wintersonnenwendenfest auf seinem Höhepunkt angelangt war. Zarvora sah auf die Uhr, ging dann zu der Bleiglastür mit den südmaurischen Motiven, schloß auf und trat hinaus aufs Dach. Mit einer Handbewegung forderte sie Tarrin auf, ihr zu folgen. Sie gingen auf einem schmalen Laufsteg an zwei Wachen vorbei und gelangten dann auf eine Dachterrasse aus Sandstein neben der Sternwarte von Libris. Zu ihren Füßen näherte sich die Spitze eines Steinkeilschattens dem Sonnenwendenpunkt auf einem Messing-Analemma. Ganz in der Nähe, auf der Außenmauer der Sternwarte, näherte sich der Schatten einer Sonnenuhr dem Meridian. Zarvora blieb stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. »Es ist soweit, der Sommer beginnt«, sagte sie. Wie auf ihr Stichwort ertönten in der Ferne Glockengeläut, Jubelrufe und Pistolenschüsse. »Ich muß weiter am Kalkulor arbeiten, Fras, und Ihr müßt nicht mit zurück in mein Arbeitszimmer kommen. Ihr könnt die Leiter am Lichtschacht nehmen. Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?« »Hoheliber, ich könnte Euch bessere Dienste leisten, wenn ich wüßte, was der Kalkulor leisten soll - außer Betrüger zu überführen, geheime Botschaften zu verschlüsseln und Libris und den Signalfeuerverkehr zu verwalten.« »Er kümmert sich um die statistische Auswertung der Arbeit der Katalogabteilung.« »Hoheliber!« - 56 »Also gut: Zum Vergnügen des Bürgermeisters und zum Ruhme Rochesters soll er die Wiederkehr des Großen Winters vorhersagen und das Rätsel des Rufs lösen.« Tarrin kratzte sich so vehement die zerzausten Haare, das sich ganze Strähnen lösten. Resigniert rieb er sich die Hände und zuckte die Achseln. »Wenn Ihr Eure Geheimnisse für Euch behalten wollt, Hoheliber, dann ist das Eure Sache. Ich bitte Euch nur darum, mich genauso zu behandeln, wie Ihr Lewrick behandelt hättet. Damit ich meine Arbeit gut verrichten kann, muß ich ausreichend informiert sein.« Zarvora blickte hinaus über die Stadt. »Das war kein Scherz, Tarrin«, sagte sie leise. Er wandte sich zu ihr um. »Ich habe in einigen unserer ältesten Archive recherchiert und bin dabei auf Hinweise auf gewaltige Projekte aus der Zeit vor dem Großen Winter gestoßen. Mehr kann ich dazu vorläufig nicht sagen.« Tarrin schwieg einen Moment lang. »Wer weiß sonst noch davon?« »Nur Ihr.« »Nicht einmal der Bürgermeister?« »Nein. Der glaubt, ich hätte den Kalkulor dazu entworfen, das Signalfeuer-Netzwerk zu regeln, und dabei hätte ich einige interessante zusätzliche Verwendungsmöglichkeiten entdeckt, die ebenfalls von Nutzen für ihn sind. In Wahrheit aber wurde der Kalkulor gebaut, um die Wiederkehr des Großen Winters vorhersagen zu können - zumindest mit einer tausendfach größeren Genauigkeit, als ich das selber könnte. Und wie ich Lewrick einmal erklärt habe, kann es von immensem Vorteil sein zu wissen, wann genau der Große Winter wiederkehren wird.«
Für Tarrin klang das wie das irre Gerede eines Gassenpropheten, und er konnte kaum glauben, daß hier die überaus kluge und vernünftige Hoheliber zu ihm sprach. Er behielt eine höfliche, aufmerksame Miene bei und sagte nichts. »Der Große Winter war für Milliarden von Menschen das Ende der Welt, und seine Wiederkehr könnte auch für uns das Ende der Welt bedeuten«, fuhr Zarvora fort und betrachtete ihn dabei mit dem Blick eines Raubvogels, der einem Hühnchen Vorträge hält. »Stellt Euch das bloß einmal vor: Wenn eine große Kältewelle kommt, wird die Ernte mißraten, und das Vieh wird eingehen. Stellt Euch Eiskristalle vor, die Euch bis zu den Knien reichen, die den ganzen Tag nicht tauen und sich - 57 bis zum nächsten Morgen abermals vergrößert haben. Das Vieh könnte nicht weiden, und der Boden wäre zu hart, um gepflügt zu werden. Was würde passieren, wenn Regen nur noch als Hagel fiele? Das Obst würde noch an den Bäumen zermalmt, ehe es reifen könnte, und das Getreide würde niedergewalzt und nicht bewässert. Auch die Winde würden anders wehen: Werden sie so stark sein, daß man die Windzüge von Grund auf umbauen muß? Fragen über Fragen - und nur der Kalkulor kann mir dabei helfen, sie zu lösen.« »Hoheliber, das könnte unser aller Tod bedeuten«, sagte Tarrin, dem nun sehr beklommen zumute war. Zarvora schritt über den Schatten hinweg, den die Sonnenuhr warf, so als läge die Zukunft aller kosmischen Angelegenheiten ab heute in ihrer Hand. »Ich habe bereits Maßnahmen eingeleitet. Rochester legt Vorräte an: Getreide, Trockenfrüchte, Nüsse, Öl und alle möglichen Saaten. Auch Stoffe und Felle.« »Dann ... glaubt Ihr also, daß der Große Winter so bald wiederkehrt? Kommt er schon im nächsten Jahr? Fängt es damit an, daß Eis vom Himmel fällt?« »Nein, ich war nicht ganz ehrlich zu Euch, Fras Tarrin. Die Zahlen, die ich habe, deuten darauf hin, daß er in etwa fünf Jahren beginnt, und nach weiteren fünf Jahren wird die Abkühlung dann vorüber sein. Die Vorräte sollen dabei helfen, das Land in Zeiten der Anarchie zusammenzuhalten, wenn die Vorzeichen des zweiten Großen Winters am Himmel auftauchen, und uns helfen, die Übergangsphase zu überstehen, während wir uns landwirtschaftliche Methoden für kälteres Wetter aneignen. Der stellvertretende Oberliber Kenlee wurde mit zwei Gehilfen entsandt, die Landwirtschaft im Stadtstaat Talangatta zu studieren, im Hochland an der Grenze. Dort herrscht ein kälteres Klima, aber man baut dennoch Getreide an und hält Vieh.« Tarrin fuhr sich wieder mit den Fingern durch das zerzauste Haar. Er sah Zarvora schweigend an und versuchte derweil, seine Gedanken wenigstens ansatzweise diplomatisch zu formulieren. Doch das gelang ihm nicht. »Hoheliber, was Ihr da macht, ist ungeheuerlich!« zwang er sich mit lauter, tonloser Stimme zu sagen. »Man hat mich als Ungeheuer bezeichnet, so lange ich zurückdenken kann.« - 57 — »Aber, Hoheliber -« »Da habt Ihr es, Fras Tarrin: Hoheliber. Ich bin die Hoheliber. Geht hinaus auf die Straße, und ehe Ihr auch nur bei der Buttermilk Terrace angelangt seid, werdet Ihr ein Dutzend haarige, hysterische Niemande gefunden haben, die die Wiederkehr des Großen Winters vorhersagen. Und was ist der Unterschied zwischen denen und mir?« »Ich ... nun ja, Eure große Macht - und Eure Gelehrsamkeit.« »Nein, Fras, nur die Macht. Einige dieser Weltuntergangspropheten sind ebenfalls sehr belesen und gebildet. Mir ist klar geworden, daß der Große Winter wiederkehren wird, als ich vierzehn war. Ich habe mich den Farbdrachen von Libris angeschlossen, weil das hier, von Nonnenklöstern und vorteilhaften Eheschließungen einmal abgesehen, der einzige Ort in unserer Gesellschaft ist, an der eine Frau es zu etwas bringen kann. Ich habe mich bis zu dem Punkt hochgearbeitet, an dem ich heute bin, und habe dabei die ganze Zeit über den Leuten große Vorteile dafür verschafft, daß sie mich die Dinge auf meine Art haben angehen lassen. Und jetzt schaut mich an. Rochester und etliche weitere Stadtstaaten habe ich bereits teilweise auf den Großen Winter vorbereitet, ohne
daß sie es überhaupt mitbekommen haben. Wenn ich meine wahren Motive offenlegen würde, würden mich alle meine Rivalen und Feinde als wahnsinnig brandmarken, und nur Wochen später wäre ich auch so ein machtloser Straßenprophet. Die Mächtigen fallen immer gern über Visionäre her, um dadurch noch mehr Macht zu erlangen, Fras Tarrin. Und ich werde nicht zulassen, daß man über mich herfällt.« Tarrin vermochte nichts von dem zu bestreiten, was sie gesagt hatte. Dazu hatte er selbst schon zuviel Zeit in den Amtszimmern und auf den Korridoren der Macht verbracht. »Dann ist also der Tod von Millionen unvermeidlich?« fragte er, begann auf und ab zu gehen und rang dabei hinter dem Rücken die Hände. »Vielleicht war ich unfair Euch gegenüber, Fras. Ihr seid ein Verwalter, nicht ein bloßer Herrscher. Euch liegen die Systeme, denen Ihr dient, wirklich am Herzen. Seht es einmal so: Wenn der Große Winter wiederkehrt und die Zivilisation zusammenbricht, werden Millionen Menschen sterben. Wenn es aber einigen Stadtstaaten gelingt, ihre Farmen, Gleitbahnen, Steinbrüche, Handwerksgilden und Armeen zu erhalten, werden Millionen Menschen weniger sterben. Ein kleines Rettungsfloß kann auf einem Fluß zwei Dutzend Menschen an der Oberfläche halten, wenn sie - 58 sich auch nur am Rand festklammern. Mir liegt die Zivilisation ebenfalls am Herzen, Fras, aber in einem weiteren Sinne als Euch.« Tarrin blieb stehen und lehnte sich an eine Sandsteinmauer. Ihm schlotterten die Knie, als wäre er eine Gliederpuppe, aber dennoch blieb er stehen. Zarvora stand mit verschränkten Armen da, wie ein Offizier, der nach einem Gewaltmarsch die Moral eines Musketier-Rekruten in Augenschein nimmt. »Gestützt auf Libris, wie alles andere auch«, sagte Tanin und betastete die Ohren eines verwitterten, steinernen Wasserspeiers. »Und was kann ich tun, um dabei zu helfen? An der Spitze einer Allianz-Armee das Südmaurenreich erobern? Den ganzen Kontinent mit Signalfeuer-Leuchttürmen überziehen? Eine Methode ersinnen, mit der man sich dem Ruf widersetzen kann?« »Das wäre alles hilfreich, Tarrin, aber nichts auf der Welt ist wichtiger, als den Kalkulor in Betrieb zu halten und ihn so schnell wie möglich zu erweitern. Nichts! Nicht der Bürgermeister, nicht der Oberbischof, nicht Rochester, nicht Libris und schon gar nicht die Mitarbeiter der Katalogabteilung. Fras Systemsteuerer, mit Hilfe des Kalkulors werde ich Blitz und Donner gen Himmel schleudern, um damit die vorzeitliche Großwintermaschine zu zerschmettern!« Schon als sie das aussprach, wußte Zarvora, daß sie zuviel gesagt hatte. Ohne ein weiteres Wort kehrte sie in ihr Arbeitszimmer zurück. Tarrin stand angesichts dieses verblüffenden Ausbruchs schierer Hybris wie benommen da. Die Hoheliber war vielleicht genial, aber geistig gesund war sie nicht. Wie nicht anders zu erwarten, stieß Tarrin mit der Wahl eines Außenseiters zu seinem Nachfolger als Leiter der Katalogabteilung bei seinen leitenden Mitarbeitern auf wenig Gegenliebe. Dem Beispiel der Hoheliber folgend, entschied er, daß er keine abweichenden Meinungen gelten lassen würde, und begann dann die Amtsübergabe vorzubereiten. Eine Petition wurde in Umlauf gebracht, und eine Protestversammlung wurde einberufen, an der die gesamte Katalogabteilung teilnehmen sollte. Tarrin beschloß, ebenfalls daran teilzunehmen. Das würde eine gute Gelegenheit sein, um sich von der Abteilung zu verabschieden. John Glasken bekam es nicht mit der Angst zu tun, als er in der Dunkelheit vor sich einen verblüfften Aufschrei und dann einen Schmerzensschrei hörte. Das sind nur Betrunkene, die sich prügeln, sagte er - 58 sich, griff aber dennoch seinen Offiziersstock fester und ging selbstsicher weiter die Gasse hinab. Ein Schuß setzte seiner Selbstgefälligkeit ein Ende, und als er unvermittelt stehenblieb, sah er vor sich jemanden aufspringen. Die Gasse war schmal, und Glasken sah das Schimmern einer Dolchklinge, die zum Niederstechen erhoben war. Seine Reflexe übernahmen die Kontrolle. Er
parierte den Hieb, wobei er den Stock wie einen Spieß einsetzte, und rammte dem anderen dann den Knauf mit voller Wucht vor die Stirn. Doch noch ehe der Südmaure auf dem Kopfsteinpflaster gelandet war, stürmte eine zweite Gestalt auf die Gasse. »Halt!« Eine auf ihn gerichtete Steinschloßpistole verlieh der Aufforderung Nachdruck. Glasken ließ den Stock fallen und hob die Hände. Auch in dieser dunklen Gasse erkannte er am Schnitt des Gewands, daß er eine Drachenbibliothekarin vor sich hatte. »Er hat mich angegriffen, Frelle, ich habe mich nur gewehrt.« Sie warf einen Blick auf die Gestalt am Boden und sah dann wieder Glasken an. »Verzeihung, Fras«, sagte sie und ließ die Waffe sinken. »Wärt Ihr bitte so freundlich und zieht ihn hinaus auf die Straße?« Um die Ecke lag ein weiterer Südmaure im Rinnstein, der in der Mitte der Straßen der Stadt verlief. In der Nähe, bei einigen leeren Fässern, befanden sich zwei weitere Drachenbibliothekare. Einer lag bewußtlos auf dem Kopfsteinpflaster, und das goldene Band an seinem zerrissenen Ärmel war im Laternenlicht gut zu erkennen. Vor dem Hintergrundgestank aus Weinresten, Urin und Ponymist roch es deutlich nach Blut. »Ich heiße Lemorel Mil- äh, ich bin ein Gründrache - aus Libris«, sagte die junge Frau und sah sich dabei den Dolch an. »Glasken, Johnny Glasken, Student der Chemie an der Universität von Rochester, stets zu Diensten.« Sie sah sich den Mann an, den er niedergestreckt hatte, und schien Glasken dabei gar nicht zu beachten. »Noch ein Südmaure, das sind beides Südmauren.« Lemorel wandte sich an ihre Kollegin. »Wie geht es Tarrin, Dar?« Darien antwortete, indem sie im schummrigen Laternenlicht mit blutbefleckten Finger etwas gestikulierte. Dann riß sie von ihrem Cape einen Stoffstreifen ab, um Tarrins Arm damit zu verbinden. »Gebt Ihr mir bitte mal den Weinkrug, den Ihr am Gürtel tragt, Fras Glasken?« - 59 Glasken reichte ihr den Krug, und sie sprenkelte daraus etwas Wein auf das Gesicht des Golddrachen. »Könnt Ihr mich hören, Fras Tarrin? Ihr seid in Sicherheit. Wir sind's - Lemorel und Darien.« Tarrin stöhnte auf, kam aber nicht zu Bewußtsein. »Er hat sich wohl beim Sturz den Kopf geschlagen. Ich habe gesehen, wie einer der Männer ihm ein Bein gestellt hat.« »Euer Schuß wird die Schutzleute anlocken«, mahnte Glasken, der dringend fortwollte. Lemorel sah zu den am Boden liegenden Südmauren hinüber und erhob sich dann, Glaskens Weinkrug noch in der Hand. »Dann laßt uns mal soviel wie möglich herausfinden, ehe uns Recht und Gesetz dabei in die Quere kommen«, sagte sie und kippte dem überlebenden Südmauren den restlichen Wein ins Gesicht. Er ächzte, und als er die Augen aufschlug, drückte sie ihm den Doppellauf ihrer Morelac auf die Nasenlöcher. »Wer hat dich bezahlt?« fragte sie in eindringlichem Ton. »Bin ein armer Mann, bin ein armer Mann«, stammelte er. »Muß stehlen, um meine Familie zu ernähren. Drei Frauen und neun Kinder -« Lemorel betätigte einen Abzug. Es klickte, und Funken flogen, aber es fiel kein Schuß. Der Südmaure schrie. »Gnade! Habt Gnade, schöne Frelle!« »Der andere Lauf ist geladen«, warnte sie ihn. »Der Hegemeister, Frelle. Die haben mich geschlagen und meine Familie bedroht. Böse Männer, böse Frauen. Haben mir gesagt, ich soll den Golddrachen töten.« »Wer hat dir das gesagt?« »Verschleierte Frau. Böse Frau. Ihr Gesicht habe ich nicht gesehen.« Ein Schutzmann kam, angelockt durch den Schuß. Er pfiff, und vier weitere erschienen. Der überlebende Südmaure wurde auf die Wache gebracht, sein toter Kamerad auf den Karren des Leichenbeschauers geladen. Glasken trug den verletzten Golddrachen zur nahegelegenen Kran-
kenstation der Universität, wo man die Schnittwunden an seinem Arm säuberte und nähte. Der behandelnde Mediziner sagte ihnen, Tarrin solle bis zum Morgen dort bleiben. Lemorel war immer noch ganz aufgeregt, als sie schließlich mit Darien und Glasken auf der Eingangstreppe der Krankenstation stand. Sie - 60 betrachtete den Studenten verstohlen und suchte nach Worten. Die meisten finsteren Gesellen, die Offiziersstöcke trugen, legten sie sich, wenn sie standen, über die Schultern und ließen die Hände über die Enden baumeln. Glasken hingegen streckte den Stock zur Seite weg und ließ die Spitze auf seinem Schuh ruhen. Es war die Haltung eines Gentlemans, eines Studenten aus gutem Hause. Lemorel wollte etwas sagen, aber ihr fehlten die Worte. Glasken drehte den Schuh auf dem Absatz hin und her, so als wollte er aufbrechen. »Das ist Frelle Darien, sie hat keine Stimme«, schrie Lemorel förmlich, und hielt sich so an der bis dahin unterlassenen Vorstellung fest. Glasken lächelte und verbeugte sich vor dem Blaudrachen. »Es ist mir eine Ehre, Frelle, und ich bin überdies entzückt. Ich sollte Euch eigentlich auf einen Kaffee auf mein Zimmer im Villiers College einladen, aber es ist leider in einem Zustand, daß man so hochrangige Drachenbibliothekarinnen nicht dorthin bitten kann.« »Oh nein, Fras Glasken, wir stehen in Eurer Schuld. Ist hier in der Nähe ein Kaffeehaus, Dar?« Darien antwortete in Gebärdensprache, und Lemorel strahlte übers ganze Gesicht. »Das >Goldene FaßGoldene Faß< überstieg die Mittel der meisten Studenten. Und während sie dorthin gingen, fand Lemorel ihre Sprache wieder. »Das war ausgezeichnete Stockfechterei gegen diesen Südmauren, Fras Glasken. Hattet Ihr Fechtunterricht?« »Meine Freunde nennen mich Johnny, Frelle Lemorel, und nein, hatte ich nicht.« »Oh. Aber das war, wißt Ihr ... wirklich gute Stockfechterei.« »Danke.« Wieder fehlten ihr die Worte. Sie gingen schweigend ein paar Schritte, und dann kam Glasken ihr erneut zur Hilfe. »Und Ihr habt Euer Studium schon abgeschlossen, Frelle Lemorel?« »Nur das an der Technischen Hochschule Rutherglen, Fras, äh, Johnny. Jetzt promoviere ich hier in Rochester. Mathematik, Vektormodellierung.« »Vektormodellierung? Oh, so viele langweilige Berechnungen. Ihr müßt ein sehr geduldiger Mensch sein.« »Oh, ich habe dabei, äh, eine Menge Hilfe, Fras Johnny.« Darien zupfte Lemorel am Ärmel und machte dann in dem schumm- 60 rigen Licht ein paar schnelle Gesten. »Er weiß, was ein Vektormodell ist. Beeindruckend.« »Dann versteht Ihr also auch die Gebärdensprache?« fragte Glasken. »Ah, ja. Darien fragte gerade, ob Ihr Vollzeitstudent seid.« »Leider nicht. Ich studiere, wann immer ich kann, Frelle. Ich muß selbst für meinen Lebensunterhalt aufkommen, versteht Ihr. Ich arbeite in den Wirtshäusern der Stadt, verdiene ein paar Silbernobel damit, daß ich da für Ordnung sorge.« »Also daher könnt Ihr so gut mit dem Stock umgehen«, sagte Lemorel, als hätte sie sich von etwas überzeugt. Im >Goldenen Faß< spendierten sie Glasken ein Abendessen, das aus Emubraten in Orangensauce, Kartoffeln mit Frischkäsefüllung und gemahlenen Nüssen auf einem Bett aus köstlichem braunem Reis bestand. Lemorel ersetzte ihm seinen Weinkrug durch einen, der ein wenig mehr kostete als der ursprüngliche. Anschließend saßen sie dort, tranken Kaffee und aßen kandierte Heuschrecken und Honignußgebäck, bis es vom Glockenturm der Universität neun Uhr schlug. Mittlerweile prasselte ein heftiger Winterregen draußen auf die verwaisten Straßen hernieder.
»Frelle Darien hat für den Verband ihr Cape zerschnitten«, sagte Glasken, als er zu seinem Umhang griff. »Nehmt bitte meines, liebe Frelle.« »Aber Fras Glasken, was wird mit Euch?« erwiderte Lemorel. »Nach Libris sind es fast drei Kilometer, und mein College ist nur ein paar hundert Meter entfernt.« »Nein, wartet, wir begleiten Euch und gehen dann unter Eurem Umhang nach Libris zurück.« »Zwei Drachenbibliothekarinnen, die einen gemeinen Studenten auf sein Zimmer begleiten? Das wäre sofort Stadtgespräch, und davor müssen wir Euren guten Ruf bewahren.« Er eilte hinaus in den Regen und war schon etliche federnde Schritte dem Sturm entgegengelaufen, als er noch einmal stehenblieb und sich umsah. »Gebt den Umhang einfach irgendwann mal beim Villiers College ab, Frelle Lemorel«, rief er, und dann war er fort. Darien lachte lautlos. »Was ist denn so lustig?« »Du magst ihn, willst es aber nicht wahrhaben«, sagte Darien mit flatternden Fingern. »Ihn mögen? Quatsch. Er ist schließlich ...» Ihr fiel kein Grund ein. Dariens Finger regten sich wieder. »Er ist groß, sieht gut aus, ist gebildet und benimmt sich wie ein Gentleman. Und wenn er auch arm ist - was soll's?« Lemorel betastete einen sorgfältig geflickten Säbelschnitt in Glaskens Umhang. »Der hat schon einiges mitgemacht«, sagte sie. Darien hielt die Finger so hoch, daß Lemorel nicht übersehen konnte, was sie sagten. »Er verbindet das Beste an Semidor und Brunthorp, nicht wahr? Er ist groß und sieht gut aus, ist aber auch gebildet. Außerdem scheint er ein echter Gentleman zu sein, der unseretwegen tapfer Unannehmlichkeiten auf sich nimmt.« Lemorel sah hinaus in den im Laternenlicht herniederprasselnden Regen, seufzte aber durch zusammengebissene Zähne. »Er war tapfer genug, einem bewaffneten Südmauren entgegenzutreten, und fähig genug, ihn zu Boden zu schicken. Weiter nichts.« Sie wandte sich wieder zu Darien um. »Die Alpträume liegen lange hinter dir, Lern. Es gibt Gründe, ihn wiederzusehen. Bring ihm den Umhang persönlich zurück.« »Wieso interessiert dich das so?« fragte Lemorel ungeduldig, als sie den Umhang hob, damit Darien und sie darunterschlüpfen konnten. »Ich habe gesehen, wie du auf ihn reagiert hast. Ich sage dir nur das, was du dir selber nicht eingestehen magst.« An dem Morgen, an dem die Protestversammlung stattfand, war Tarrin so weit wiederhergestellt, daß er daran teilnehmen konnte, auch wenn er den Arm immer noch in einer Schlinge trug und sein Kopf bandagiert war. Er humpelte, weil er sich bei seinem Sturz den Fuß verdreht hatte, und seine Golddrachen-Armbinde zeigte immer noch die Schmutzflecken vom Kopfsteinpflaster. Die Mitarbeiter der Katalogabteilung versammelten sich im sogenannten Millenniumsaal, wo, seit der Kalkulor in dem einzigen noch größeren Saal von Libris aufgebaut worden war, Ordensverleihungen und andere Feierlichkeiten stattfanden. Die Uhr hinter dem Rednerpult klapperte, während ihre Kolben hin und her schwangen. Um neun Uhr war noch kaum jemand da. Um halb zehn musterte Peribridge die Reihen der Gesichter und runzelte die Stirn. Die leitenden Mitarbeiter der Abteilung waren immer noch nicht da, und viele andere, die ihre Unterstützung zugesagt hatten, fehlten ebenfalls. Die Uhr klapperte mit unerbittlicher Regelmäßigkeit. Schließlich, um 9.40 Uhr, kam Tarrin herein, gefolgt von Lemorel, die an ihrer Kleidung als sein Kämpe zu erkennen war. Er blieb an der Tür stehen, ohne die anderen auf sich aufmerksam zu machen, aber mittlerweile war den Anwesenden so mulmig zumute, daß ihre Gespräche schnell verstummten. Tarrin schlurfte zum Rednerpult, das Haar zerzaust und dunkle Ringe unter den Augen. »Wer leitet denn diese Versammlung?« fragte er mit leiser, heiserer Stimme und wirkte dabei ein wenig verwirrt.
Peribridge sprang auf, wie von unsichtbaren Marionettenschnüren emporgerissen. »Der stellvertretende Oberliber Wissant, die Leitende Klassifikatorin Cobbaray und der Oberkoordinator Nugen-Katr sollten eigentlich diese Versammlung leiten, Fras Oberliber.« »Fras Wissant, Frelle Cobbaray und Fras Nugen-Katr stehen von nun an nicht mehr zur Verfügung, um auf irgendwelchen Versammlungen zu sprechen.« Tarrin schien sich für diese Neuigkeit fast entschuldigen zu wollen. Peribridge setzte sich wieder. Tarrin räusperte sich, ehe er fortfuhr. »Es freut mich, daß Ihr alle hier versammelt seid, denn die Hoheliber hat mich gebeten, etwas bekanntzugeben. Aufgrund des Drucks, der durch ihr Sonderprojekt auf den Mitarbeitern von Libris lastet, wurden einige Mitarbeiter der Katalogabteilung, nun ja, auf andere Arbeitsfelder versetzt.« Er gestattete sich eine recht lange Pause und fügte dann hinzu: »Irgendwelche Fragen?« Es wurde mit den Füßen gescharrt. Ein Gelbdrache hob die Hand. »Bitte, Fras Systemsteuerer, wieviele aus der Katalogabteilung sind denn versetzt worden?« »Einhundertsechsundzwanzig.« Atemloses Schweigen. Tarrin wartete. Mittlerweile war auch dem Dümmsten seiner Zuhörer klar, daß sich hinter seiner Fassade aus Erschöpfung und Niedergeschlagenheit ein äußerst gefährlicher Mangel an Geduld verbarg. Schließlich erhob sich jemand am anderen Ende des Saals. »Ah ja, Ihr habt eine Frage?« erkundigte sich Tarrin ganz freundlich, so wie man einen ängstlichen Prüfungskandidaten ermuntert. »Bitte, Fras Systemsteuerer, ich wollte nur gerade gehen, weil wichtige Arbeit auf mich wartet«, antwortete der Orangedrache. Daraufhin erhob sich ein ganzes Dutzend, und weitere strömten mit ihnen zu den Türen. Die Türen waren verschlossen. Tarrin hob Ruhe gebietend die Hand. »Bedauerlicherweise mußte ich feststellen, daß Frelle Costerliber, die für Neuerwerbungen zuständige stellvertretende Oberliber, in einer Petition, die von 279 Mitarbeitern der Katalogabteilung unterzeichnet wurde, als inakzeptable Kandidatin bezeichnet wurde. Das ist sehr beeindruk-kend. Jeder hat unterschrieben: von Fras Wissant, dem stellvertretenden Leiter, bis zu Fras O'Donlan, der rangniedersten Reinigungskraft. Angesichts einer solchen Opposition und da es sonst niemanden gibt, der fähig wäre, die Katalogabteilung zu leiten, werde ich die Katalogabteilung als solche mit Billigung der Hoheliber auflösen. Die Katalogabteilung ist ab dem heutigen Morgen eine Unterabteilung der Abteilung für Neuerwerbungen.« Allen verschlug es vor Entsetzen den Atem. »Aber die Katalogabteilung ist schon seit dem Jahre 1192 eigenständig!« rief jemand. »Fünfhundertfünf Jahre ohne Umgestaltung ist viel zu lange. Gibt es noch weitere Fragen? Keine Fragen?« Es herrschte Schweigen. »Ausgezeichnet. Und nun möchte Frelle Vardel Griss, Chefin der Tigerdrachen, auch noch ein paar Worte an Euch richten.« Lemorel klopfte in einem vorher abgesprochenen Kode an die Tür. Von draußen erklang ein lautes Klappern, als ein Riegel beiseite gezogen wurde, und dann kam Griss hereinstolziert und baute sich, die Hände auf dem Rücken verschränkt, vor der Zuhörerschaft auf. Sie zeigte die wachsame, dabei aber entspannte Körperhaltung einer erfahrenen Duellantin, und ihrem Gesicht war nur ein Hauch von Mißbilligung anzusehen. Ein aus zwölf Tigerdrachen bestehendes Kommando kam hereinmarschiert und stellte sich hinter ihr in einer Reihe auf, die Musketen geschultert, die Luntenschlösser qualmend. Lemorel zog ihre Morelac und stellte sich zu Tarrin. »Legt an!« bellte Griss, und die Tigerdrachen richteten ihre Waffen auf eine Stelle knapp über den Köpfen der Mitarbeiter der Katalogabteilung. »Ich werde mich ganz klar ausdrücken«, sagte Griss in einem Ton, der hart war wie Waffenstahl. »Die Katalogabteilung gibt es nicht mehr. Und hinzu kommt: Ihr habt keine Rechte! Keine! Verstanden? Wenn Ihr gute Arbeit leistet, geschieht Euch nichts. Wenn Ihr aber versuchen solltet, zu fliehen oder auf Eure Vorgesetzten zu schießen, werdet Ihr augenblick - 62 lich aus dem Verkehr gezogen. Ich scheue mich nicht, zehn unschuldige Katalogbearbeiter zu bestrafen, um einen schuldigen zur Strecke zu bringen. Wenn Ihr von irgendwelchen
Verschwörungen erfahrt, dann denkt daran, daß Ihr Eure eigene Freiheit aufs Spiel setzt, wenn Ihr darüber schweigt. Meldet meinen Tigerdrachen auf der Stelle jedes verdächtige Wort.« Sie ging zu Tarrin, der am Rednerpult lehnte. »Habt Ihr noch irgendwelche Namen für mich?« fragte sie leise, aber vernehmlich. Tarrin schnallte einen Lederbeutel auf, den er am Gürtel trug, und zog eine Liste hervor. »Noch fünfundzwanzig weitere wegen Indolenz«, sagte er und reichte Griss den zusammengefalteten Mangelpapier-bogen. »Ach ja, und nehmt als ganz besonderen Fall noch Peribridge hinzu. Sie hat ein verdächtiges Maß an Führungsambitionen an den Tag gelegt.« Peribridge war sehr erfahren darin, fernen Gesprächen zu lauschen. Sie blieb ganz ruhig sitzen, während die Mitarbeiter der Katalogabteilung auf Griss' Befehl hin einer nach dem anderen zwischen den an der Tür postierten Wachen hindurch hinausmarschieren mußten. Lemorel blieb bei Tarrin vorn am Pult. »Das bedeutet Krieg«, flüsterte sie in das widerhallende Fußgetrappel auf dem Dielenboden aus Mountain-Ash-Eukalyptus. »Und wenn? Ich habe den ersten Schlag abgewehrt«, sagte Tarrin und rieb sich mit der freien Hand den bandagierten Arm. »Und mit der Zeit wird man auch die Schlimmsten unter den Verbliebenen noch aussondern.« Peribridge durchschaute nur allzu gut, was geschah. Es gab nicht einmal mehr den äußeren Anschein von Rechtmäßigkeit. Die Schlacht war schon geschlagen, ehe sie auch nur bemerkt hatte, daß sie begonnen hatte, und nun wurden Gefangene gemacht. Sie zählte zu jenen, denen es bestimmt war, in den Sperrgebieten von Libris zu verschwinden, in einem Höllenschlund, aus dem es keine Wiederkehr gab. Ihre Hand ruhte auf dem Griff ihrer Toufel-Steinschloßpistole. Tanin war noch fünf Sitzreihen und fünfzehn weitere Schritte entfernt. Zu weit. Vor drei Jahren war sie zum letzten Mal auf dem Schießstand gewesen und hatte damals lediglich festgestellt, daß ihre kurzläufige Toufel schlecht justiert und für alles, was über ein paar Meter hinausging, jämmerlich ungenau war. Lemorel stand neben Tarrin, mit der Waffe in der Hand, so wachsam und tödlich wie eine Buschkatze. Peribridge wußte, daß sie auf den hage - 63 ren Golddrachen schießen mußte, ohne auch nur auf ihn zielen zu können. Das war aussichtslos. Lemorel würde sie töten und dafür belobigt werden, und Tarrin würde es überleben. Wenn ich jetzt nichts unternehme, werde ich zum Sklaven der Hoheliber, schloß Peribridge grimmig. Und niemand hat etwas von meinem Fall. Sie streckte die Hand aus und kratzte sich am Bein. Als sie die Hand wieder hob, spannte sie dabei den Schlagbolzen ihrer Pistole. »Ihr solltet nicht zu streng sein«, sagte Lemorel, und ließ den Blick dabei durch den Saal schweifen, ohne allerdings Scherereien zu erwarten. »Wer soll denn jetzt die ganze Katalogarbeit erledigen?« »Ein Fünftel derjenigen, die jetzt noch übrig sind, könnten sämtliche Neuerwerbungen katalogisieren, wenn sie nur fleißig arbeiten würden.« »Dann wandern die übrigen also in den Kalkulor?« »Falls sich einige als überhaupt nicht ausbildungsfähig erweisen, können sie immer noch auf der neuen Umgehungsstrecke in Loxton Gleitbahngleise verlegen.« »Man sagt, ein Krieg sei -« Peribridge erhob sich, um zu gehen, und zog im gleichen Moment ihre Waffe. Lemorel riß ihre Morelac hoch und stieß Tarrin mit der Geschmeidigkeit einer gentheistischen Tempeltänzerin beiseite. In diesem Augenblick hob Peribridge ihre Toufel-Steinschloßpistole und hielt sich die Mündung an die Schläfe. Ihre Waffe blies ihr in eben dem Moment die obere Schädelhälfte weg, als Lemorel ihr in die Kehle schoß. Peribridge stürzte inmitten umkippender Stühle zu Boden, und ihre Kollegen gingen in Deckung. Als sich der Rauch lichtete, hatten Lemorel, Griss und die Tigerdrachen an der Tür ihre Waffen in den Saal gerichtet. »Ihr übrigen hebt jetzt die Hände und marschiert weiter hinaus«, befahl Griss. »Langsam gehen, keine hastigen Bewegungen.«
Tarrin richtete sich wieder auf und hielt sich dabei den Verband. Blut sickerte ihm zwischen den Fingern hindurch. »Und jeder, der versucht sich umzubringen, wird ebenfalls erschossen«, murmelte er vor sich hin. Tarrins Wunde war durch den Sturz wieder aufgeplatzt, aber dennoch stand er neben den anderen, und Blut tropfte ihm vom Arm, während die letzten Mitarbeiter der Katalogabteilung den Saal verließen. Viele hatten Hirn- oder Blutspritzer abbekommen, und alle guckten sie entgeistert und waren aschfahl im Gesicht. Als der letzte gegangen war, brach Tarrin auf einem Stuhl zusammen. Griss ging einen Arzt holen, und - 64 Lemorel fertigte aus ihrem Pistolenlauf und Tarrins Schlinge eine Aderpresse für seinen Arm. »Was wolltet Ihr gerade über einen Krieg sagen?« fragte Tarrin und sah zu Peribridges Leichnam hinüber. Lemorel mußte innehalten und einen Moment lang überlegen. »Lameroo und Billiatt drohen mit Krieg wegen der Gleitbahn-Umgehungsstrecke von Loxton.« »Krieg in Loxton, ach so. Einen Moment lang dachte ich, Ihr meintet hier.« - 64 4 Gefangen Als die Sprachkundlerin, die sie war, mußte Darien feststellen, daß sich ihre Laufbahn in Libris mehr und mehr in Richtung Inspektionsdienst bewegte. Da im westlichsten Stadtstaat der Allianz nun Krieg drohte, willigte sie schließlich ein, als Inspektorin tätig zu werden. Ihr erster Auftrag bestand darin, bei den Einweihungsfeierlichkeiten der neuen Gleitbahn-Umgehungsstrecke zwischen den Städten Morkalla und Maggea behilflich zu sein. Diese neue Strecke brachte es mit sich, daß die westliche Gleitbahn nun bis zur Grenze nach Woomera über das Staatsgebiet der Südostallianz verlief. Den unabhängigen Burgvogteien südlich davon entgingen dadurch erhebliche Zolleinkünfte, und daher kam es dort, wo die neue Gleitbahnstrecke an der Grenze entlang verlief, zu großen Truppenmassierungen. Die einzige Warnung, die Darien erhielt, daß die Kämpfe bereits begonnen hatten, war der heftige Ruck, mit dem der Windzug, in dem sie saß, aus den Gleisen sprang. Die leicht gebaute Lokomotive und die Waggons kippten neben die Gleitbahn und zerbarsten. Als Darien sich benommen und unter Schmerzen wieder aufrichtete, stützte sie sich auf die Überreste einer Waggonwand. Ihr erster Impuls war, aus dem Wrack zu klettern, aber Morkundar, der zu der Tigerdracheneskorte gehörte, versperrte ihr den Weg. Blut lief ihm aus dem Haarschopf das dunkle Gesicht hinab. »Bleibt in Deckung, Frelle Darien, das war kein Unfall«, sagte er eindringlich und wischte sich Blut aus den Augen. »Der Zug wird angegriffen.« Er führte sie dorthin, wo sich die anderen Tigerdrachen sammelten, und als sie dort eintrafen, fielen die ersten Schüsse. Überlebende, die das Zugwrack verlassen hatten, schrien auf, als sie getroffen wurden, und Kugeln durchschlugen die zerbrechliche Holzhülle des zertrümmerten Waggons. Die Tigerdrachen duckten sich und überprüften ihre Waffen. »Sie werden jeden Augenblick angreifen«, warnte Morkundars Stimme hinter einem Haufen Sitze und Gepäck hervor. »Ostlich der - 64 Gleitbahn gibt es keine Deckung, also müssen sie von Westen kommen. Geht alle entlang der Lücke im Dach in Stellung.« Noch als er das sagte, brachen neun Dutzend Soldaten aus der Burgvogtei Billiatt säbelschwingend und mit Geschrei aus ihrer Deckung hervor. Morkundar sah es durch ein geborstenes Brett hindurch. »Ganz ruhig, ganz ruhig ... Anlegen, zielen, Feuer! Zweiter Lauf ... Feuer!« Wie Darien hatte jeder Tigerdrache ein doppelläufiges Steinschloßgewehr, und so prasselten vierzig Schüsse auf die Männer aus Billiatt ein, als sie das Wrack erreichten. Darien schoß beim ersten Mal blindlings in die Menge, zielte beim zweiten Schuß aber auf einen Offizier. Er wirbelte
herum, der Säbel fiel ihm aus der Hand, und er stürzte zu Boden. Sie ließ das Gewehr fallen, zog ihren Dolch und stand dann wie versteinert da. Jemand zerrte sie zurück in Deckung, und sie kam wieder zur Besinnung, als der Gesandte der Burgvogtei Brookfield in Renmark sie ohrfeigte und anbrüllte, sie solle nachladen. Der Schock angesichts des plötzlichen und geordneten Feuers wurde für die Männer aus Billiatt dadurch noch verschlimmert, daß unter ihren siebzehn Gefallenen auch ihre fünf hochrangigsten Offiziere waren. »Eine Falle! Ein Hinterhalt! Rückzug!« rief jemand, und sie flohen wild durcheinander zurück in ihre Deckung. Seit dem Entgleisen des Zugs war erst eine Minute vergangen. »Rufanker abgleichen!« befahl Morkundar, als sie nachzuladen begannen. »Laufzeit eine Viertelstunde, und Rücksetzen auf meinen Befehl oder bei Ablauf. Ich zähle: Drei, zwo, eins, Rücksetzen.« Die Truppen aus Billiatt brauchten einige Zeit, bis sie sich neu geordnet hatten und das Feuer erwidern konnten. In der Zwischenzeit hatten die drei ausgebildeten Scharfschützen der Tigerdrachen ihre langläufigen Musketen ausgepackt und erschossen jeden einzelnen Billiattianer, der versuchte, näher heranzukommen. Darien lud ihr Gewehr nach und hielt sich für den nächsten Befehl bereit. Zwei weitere überlebende Fahrgäste waren mittlerweile zu ihnen gestoßen, beide aber waren verwundet. Darien berührte den Gesandten am Arm. Als er sich zu ihr umdrehte, zuckte sie mit den Achseln und verbeugte sich. »Ist schon gut«, sagte er. »Das erste Mal unter Feuer?« Sie nickte. Er war ein stämmiger Mann um die fünfzig mit schütterem Haar und glich ein wenig einem ihrer Onkel. »Ich habe auch Angst«, sagte er, wandte sich wieder um und spähte weiter durch ein Loch in der zerborstenen Holzverkleidung des Waggons. Nun schlich sich Wut in seine Stimme. »Die müssen über das Territorium von Brookfield vorgedrungen sein, sonst hätten sie nicht so schnell hier sein können. Oh, da kommen sie wieder.« Die Scharfschützen knallten gleich zu Beginn des Angriffs zwei Offiziere ab. Darien erhob sich, feuerte, spürte, wie eine Kugel das Schulterpolster ihres Gewands durchschlug, feuerte noch einmal und ging wieder in Deckung. Sie hatte keine Ahnung, worauf sie geschossen und ob sie jemanden getroffen hatte. Ihre rechte Brust fühlte sich feucht an. Blut aus einer Wunde an der Schulter lief ihr in die Uniform. Die Salve aus dem Zug durchbrach die wankenden Reihen der Angreifer, ehe sie auch nur einige Meter vorgerückt waren, und das obwohl ihre eigenen Scharfschützen ihnen Feuerschutz gaben. Die feindlichen Musketiere begannen nun aus ihrer Deckung heraus blindlings auf das Zugwrack zu feuern. Ein Tigerdrache wurde getroffen, als er sich aufsetzte, um sein Gewehr nachzuladen. Morkundar gab Darien einen mit Eukalyptusöl getränkten Lappen und wies sie an, diesen auf ihre Wunde zu drücken. Es brannte, und sie zuckte zusammen. »Der Schmerz hilft dabei, die Blutgefäße zu verschließen und die Blutung zu lindern«, sagte er. »Haltet Euch jetzt unten. Der Zug ist zu dünn gebaut, um uns weiter Deckung zu bieten.« »Sitze«, sagte der Gesandte. »Nehmt Sitze und Gepäckstücke als Barrikaden.« Das Feuer der Musketiere aus Billiatt beharkte auch weiterhin ihren umgestürzten Waggon. »Die Anker bereitmachen! Drei, zwo, eins, Rücksetzen!« befahl Morkundar. »Ich verstehe das nicht«, sagte der Gesandte. »Wieso greifen die diesen Zug an? Wieso dringen die auf das Gebiet von Brookfield vor? Zwischen Billiatt und Brookfield herrschte doch Frieden. Mein Burgvogt wird Reparationen verlangen, wenn er hiervon erfährt.« »Die Signalfeuerverbindung«, erwiderte Morkundar. »Ich vermute, daß der Burgvogt von Billiatt die Bahnstation von Maggea belagert, und zwar ebenfalls mit Truppen, die er über die Grenze nach Brookfield geschickt hat. Diese Truppe hier wurde nach Norden geschickt, um die Signalfeuerverbindung zu kappen. Vielleicht haben sie Bombarden dabei, um einen Turm einzureißen, oder sie entfachen Buschbrände, damit die - 65 -
Rauchwolken das Signalfeuer verbergen. Indem er sowohl die Signalfeuerverbindung als auch die Gleitbahn unterbricht, will uns der Burgvogt seine absolute Machtposition gegenüber allem demonstrieren, was die Allianz unternehmen könnte. Und um so mehr eingeschüchterte Bürgermeister werden bereit sein, wieder Zollabgaben an ihn zu entrichten.« »Aber das da draußen sind kaum mehr als hundert Musketiere.« »Die Hauptstreitmacht ist wahrscheinlich irgendwo voraus und von der Gleitbahn aus sichtbar. Wir wurden bombardiert, damit wir sie nicht überholen und Alarm schlagen.« Morkundar kippte ein wenig Schießpulver auf einen Fetzen Mangelpapier und zog den Schlagbolzen eines ungeladenen Laufs zurück. Der Funkenregen entzündete das Pulver und setzte das Papier in Brand. Darien sah beunruhigt zu und schüttelte schweigend den Kopf. »Vorsicht, dieser Waggon brennt bestimmt wie Zunder«, warnte der Gesandte. »Deshalb stecke ich ihn ja in Brand.« »Was? Aber das ist unser einziger Schutz.« »Die Windlokomotive liegt ganz in der Nähe und ist viel solider gebaut. Wir müssen dorthin laufen und uns dahinter verschanzen. Und der Rauch aus diesem Waggon wird die Wachen auf den Signalfeuer-Leuchttürmen auf uns aufmerksam machen. Sie werden Patrouillen losschicken, und die werden dann die Hauptstreitmacht der Banditen aus Billiatt entdecken.« »Diese Hauptstreitmacht könnte auch kehrtmachen, um denen da drüben zu helfen, dieses Feuer zu löschen.« »Dann müssen wir angreifen, statt nur hier auszuhalten.« Darien weinte, so sehr setzte ihr ihre Sprachlosigkeit zu. Ihre Karten waren weg, und keiner der anderen verstand Gebärdensprache. In der Windlokomotive gab es wahrscheinlich irgendwelche Leuchtkugeln, aber - aber Morkundar war ein guter Anführer, und sie hatte keine Stimme. »Wenn wir einfach nur hierbleiben, werden die Musketiere abziehen und sich der Hauptstreitmacht anschließen«, sagte der Gesandte in flehentlichem Ton. »Wir können sie nicht angreifen. Das sind fünfmal mehr als wir.« »Dann werden wir dabei sterben, wie wir einen brennenden Waggon verteidigen.« - 66 Sterben. Darien spürte, wie sich ihr bei diesem Gedanken alles krampfhaft zusammenzog. Der Gesandte wandte sich an sie. »Frelle, Ihr seid hier die ranghöchste Drachenbibliothekarin, und der Fras Tigerdrache braucht Eure Zustimmung. Was sagt Ihr dazu?« Sagen? Darien hielt sich die Hände vor die Augen und lachte lautlos, der Hysterie und den Tränen nah. Der kahlwerdende Kopf des Gesandten färbte sich puterrot, und er stotterte eine Entschuldigung. Morkundar blickte weiterhin streng. »Also, Frelle Darien?« fragte er. Sie zeigte auf Morkundar und nickte. Lemorel hatte einen guten Anwalt engagiert, als sie erfahren hatte, daß Glasken in Schwierigkeiten steckte. Das zahlte sich aus. Vor einem Wirtshaus war es zu einer Schlägerei unter Betrunkenen gekommen, und als die Polizei eintraf, war Glasken unter jenen, die bewußtlos auf dem Kopfsteinpflaster lagen. Der Staatsanwalt verwies auf Glaskens Vorstrafenregister, die Verteidigung aber führte seine Rolle bei der Rettung Tarrins als Beweis für seinen guten Charakter an. Nach seiner Freilassung kehrte Glasken mit Lemorel an seiner Seite in sein College an der Universität zurück. Er trug einen Kopfverband mit einem roten Fleck an einer Stelle, an der Blut hindurchgedrungen war. »Ich dachte, die Justiz in meinem hinterwäldlerischen Heimatstaat wäre rückständig, aber das ist ja nichts hiergegen«, schnaubte Lemorel. »Der Richter hat ja alles Mögliche angestellt, um die Beweise zu deinen Ungunsten auszulegen.« »Mit der Gerechtigkeit ist es wie mit den Muskeln«, sagte Glasken ohne Groll. »Manche Leute haben eben einfach mehr davon, und daran läßt sich nichts ändern. Ich arbeite als Rausschmeißer, und deshalb gerate ich oft in Schlägereien. Und weil ich oft in Schlägereien gerate, stehe ich oft vor dem Richter.«
»Aber bald hast du ja dein Diplom, Johnny, und dann arbeitest du irgendwo, wo es weniger gefährlich zugeht«, sagte Lemorel zuversichtlich. »Ich studiere unter anderem Sprengmeisterei, Lern. Klingt das ungefährlicher als Besoffene, die Stunk machen?« »Was auch immer du tun wirst - ich werde alles unternehmen, um dir das Leben leichter zu machen.« Mittlerweile waren sie beim Villiers College angelangt. Es war ein solider, behaglicher Altbau aus ockerfarbenem Altstein. Um den Haupteingang rankten sich Kletterpflanzen, und ihre Schritte hallten auf dem Dielenboden der Eingangshalle wider, die jahrhundertealte Tradition atmete. Glasken bewohnte ein Zimmer im Obergeschoß. Lemorel sah sich anerkennend um. Es war ordentlich und sauber hier, die Bücher standen im Regal, und das Bett war gemacht. »Nicht sehr einladend, fürchte ich«, sagte er. »Das ist doch wunderbar«, erwiderte sie. »Ich hatte erwartet, daß du in so schmutzigen und verwahrlosten Verhältnissen lebst wie die meisten jungen Männer, die gerade erst zu Hause ausgezogen sind.« »Dann hattest du also schon Gelegenheit, dir deren Schlafzimmer anzusehen?« fragte er prompt, wenn auch neckisch. »Nur nachts.« »Aha, erzähl bitte weiter.« »Und nur nachdem die Tigerdrachen ihnen die Tür aufgebrochen und sie zum Verhör abgeführt hatten.« Glasken schluckte vernehmlich, bis ihm klar wurde, daß es wahrscheinlich ein Scherz war. »Es gibt bessere Methoden, jemandem Antworten zu entlocken«, sagte er und ließ sich auf seiner Bettkante nieder. »Nämlich?« »Du klopfst sacht an die Tür, und wenn du ins Zimmer kommst, achte darauf, daß die oberen ein oder zwei Knöpfe deines Gewands offenstehen. Und du solltest auf alle Fälle einen Krug Zwetschgengeist dabeihaben.« »Warum Zwetschgengeist?« »Weil der über dich kommt, ehe du weißt, wie dir geschieht«, sagte er und hob die Hände, als wären es Klauen. »Er löst die Schnüre der Kleider ebenso, wie er die Zunge löst.« Lemorel wandte sich ab, von seinen Worten ein wenig irritiert. Sie betrachtete die Bücher in seinem Regal und entdeckte eine kleine Lemonwood-Schachtel mit einem Siegel des Diakons darauf, das auf den 14. April 1696 datiert war. Sie nahm die Schachtel vorsichtig zur Hand. Ein Filigranmuster aus von Amors Pfeilen durchbohrten Herzen war darauf eingebrannt. »Was ist denn da drin, daß diese Schachtel seit anderthalb Jahren versiegelt ist?« fragte sie und runzelte leicht die Stirn. »Liebesbriefe etwa?« - 67 Insgeheim hoffte sie flehentlich, daß dem nicht so war. »Präservative«, antwortete Glasken. Lemorel ließ die Schachtel mit einem Laut des Erstaunens fallen. Als sie auf dem Dielenboden landete, brach das Siegel. »Fras Glasken, ich dachte nicht, daß Ihr - das heißt, ich dachte, Ihr wäret viel zu sehr Gentleman, um ...« »Das bin ich auch, schöne Frelle. Man beachte das Datum.« »Aber -« »Lemorel, süße Lemorel, stell dir doch bloß mal vor, was passieren würde, wenn ich mich in den Armen eines schönen Mädchens wiederfände, und unser beider Leidenschaft würde mit uns durchgehen. Schnell wäre es geschehen, doch der Inhalt dieser Schachtel könnte den Ausschlag geben, ob daraus eine harmlose Herumtollerei oder eine alles andere als harmlose Schwangerschaft resultiert.« Er hob die Schachtel auf.
»Hm, das Siegel des Diakons ist gebrochen«, bemerkte er. Lemorel überlegte kurz und schnippte dann den obersten Knopf ihres Gewands auf. »Von wie vielen Knöpfen spracht Ihr vorhin noch einmal, Fras Glasken?« fragte sie. Er streckte sich auf seinem Bett aus wie eine große, träge Katze. »Um mein Herz zu gewinnen, Frelle, wäre gar keiner nötig. Um meinen Leib zu gewinnen ... so viele ihr nur mögt.« Glasken wurde als Liebhaber allem gerecht, was Lemorel sich erhofft hatte, und das trotz des schmalen Betts und obwohl er in der Nacht zuvor einen Schlag auf den Kopf abbekommen hatte. So sollte man seine Unschuld verlieren, dachte sie, als eine nahe Turmuhr ein Uhr mittags schlug. Drunten auf dem Rasen hörten sie die Studenten, die von Vorlesungen und Tutorien kamen, munter plaudernd zur Mensa strömen. Lemorel hatte eine Vorlesung zur Infmitesimalrechung versäumt, aber das focht sie nicht an. Ihr neuer Geliebter lag mit dem Kopf auf ihrer Schulter und hatte ein Bein über ihre Schenkel gelegt. Sie streichelte das Haar über seinem Verband und war mit einem Mal betrübt seinetwegen. Er sah gut aus, war aufmerksam und rücksichtsvoll, klug, stark und sensibel ... aber doch auch ein wenig langweilig. Es kam ihr schrecklich vor, sich das einzugestehen, denn er machte alles richtig: nichts war beeinträchtigt von Dummheit oder irgendwelchen Macken. Wie tolerant würde er sein? - 68 Lemorel schauderte bei dem Gedanken an ihre toten Liebhaber. Wie würde John Glasken auf ihre Vergangenheit reagieren, falls er je davon erfuhr? Sie machte sich womöglich anfällig für Erpressungsversuche, es sei denn, ihre Liaison blieb ein Geheimnis. Nun wurde ihr klar, warum ein Prachtkerl wie er keine Partnerin hatte: Wenn man einfach zu gut war, konnten nur sehr wenige andere Menschen den eigenen Maßstäben gerecht werden. Sacht rüttelte sie ihn wach. »Johnny, ich muß los.« »Hm? Jetzt schon?« »Ich habe in Libris zu tun. Die Arbeit da nimmt einfach kein Ende.« Er ergötzte sich vom Bett aus an ihrem Anblick, während sie ihre Hose anzog und sich dann, auf seinem Besucherstuhl sitzend, die Stiefel schnürte. »Fras Johnny, es ist nicht so, daß ich nicht stolz auf Euch wäre«, begann sie, wußte dann aber nicht weiter. Sie sah zu Boden, kniff die Lippen zusammen. »Eine Gründrachen-Bibliothekarin sollte sich nicht dabei ertappen lassen, wie sie sich mit einem Studenten einläßt«, sagte Glasken in freundlichem Ton. »Nein, das ist es nicht -« »Aber natürlich ist es das, Frelle. Denkt an Euren Ruf. Das ist nur vernünftig.« »Das stört Euch nicht?« »Wenn Libris davon erführe, würde Libris Leute schicken, die mir bei jedem Schritt hinterherspionieren. Und in den Schenken, in denen ich für Ordnung sorge, würden sie bald glauben, daß diese Spione mit mir zusammenarbeiten. Und das würde ich nicht lange überleben.« Lemorel war immer noch sehr empfindlich, was das Thema tote Liebhaber anging. Von der Taille aufwärts immer noch nackt, warf sie sich Glasken in die Arme und bat ihn inständig, seine Arbeit in den Schenken aufzugeben, bot sogar an, ihm die Unkosten zu ersetzen. »Großherzige Frelle, ich kann doch fürs Nichtstun kein Geld annehmen«, sagte er und zog sie fester an sich. »Aber mir wird schon nichts geschehen, wenn unsere Liebe ein Geheimnis bleibt. Es ist in unser beider Interesse, daß wir uns diskret verhalten.« »Dann verstehst du also, daß ich mich nicht für dich schäme?« - 68 »Natürlich. Und jetzt hinfort mit dir - nach Libris und in den Dienst des Bürgermeisters.« Lemorel stand auf, legte ihren Waffengurt und ihren Dolch an. Glasken applaudierte anerkennend, als sie sich mit vorgereckten Brüsten in Positur warf. Dann stand auch er auf und schulterte seinen Offiziersstock wie eine Muskete.
»Wenn du in dieser Aufmachung bei Duellen erscheinen würdest, würden die Männer dich fordern, nur um kurz vor dem Tod noch einmal solche Brüste erblicken zu dürfen«, sagte er, ließ den Stock sinken und kniete nieder, die Hand vor dem Herzen. »Komm, Johnny, zurück ins Bett mit dir - nein, laß das.« Aber er ließ es nicht, und Lemorel verließ sein Bett an diesem Nachmittag erst wieder gegen fünf Uhr. Diesmal zog sie sich das Hemd über, ehe sie sich ihren Waffengurt umschnallte. »Was wirst du denen in Libris sagen?« fragte Glasken und unterdrückte ein Gähnen. »Daß ich in der Uni beim Studieren eingeschlafen bin.« »Und damit geben die sich zufrieden?« »Ich habe gute Noten, da kann ich mir schon mal ein paar kleinere Vergehen leisten.« »Und Ex-Liebhaber in hoher Position?« Lemorel schüttelte den Kopf. »Ich hatte bisher erst eine Liebesaffäre, seit ich in Libris bin, und das war nichts Besonderes. Für mich muß Zuneigung mit dabei sein, und deshalb halte ich mich aus den Liebeleien aus Karrieregründen heraus, die man da so geboten bekommt. Und was ist mit deinen Exfreundinnen? Erzähl mir bitte nicht, heute nachmittag wäre dein erstes Mal gewesen.« Glasken streckte sich auf dem Bett aus und verschränkte die Hände vor der Brust. »Ja, ich hatte schon einige Frauen. Aber das waren dumme Hühner, die nur einen leidlich verlockenden Körper in mir sahen. Lust ohne Zuneigung ist, wie etwas zu schmecken, ohne zu essen: Es fühlt sich gut an, aber man verhungert dabei. Eine von denen hat mir kurz vor einer wichtigen Prüfung ganz bewußt wehgetan. Da bin ich zum Diakon gegangen und habe die Schachtel versiegeln lassen.« »Na was für ein Glück für mich«, sagte Lemorel und küßte ihn zum Abschied. Rochester war mit einem Mal wunderschön, als Lemorel durch von Laternen erhellte Straßen, auf denen sich der Abendverkehr drängte, - 69 nach Libris zurückging. Glasken war vielleicht immer noch ein wenig biederer als ihr lieb war, aber sie würde ihn schon dazu bringen, mehr aus sich herauszugehen. Marktschreier und Ausrufer waren unterwegs, die einen mit ihren Werkzeugen und Waren, die anderen mit Flugzetteln. »Prächtige Pferde zu versteigern! Prächtige Pferde!« »Mehl! Säckeweise feines Mehl!« »Tonwaren! Kauft einen schönen Krug oder eine Lampe!« Lemorel blieb stehen und sah sich den Stand an. Die Symbolik, eine Lampe zu kaufen, um Glaskens hartes Leben damit ein wenig zu erhellen, gefiel ihr. »Krieg gegen Billiatt! Kämpfe an der Loxton-Gleitbahn!« Lemorel wurde aus ihren Träumereien gerissen, und sie lief zu der jungen Ausruferin. Der Flugzettel, den sie kaufte, berichtete, was an diesem Nachmittag geschehen und per Signalfeuer gemeldet worden war. Es war nur eine Reihe von Schlagzeilen, weiter nichts. »Signalfeuerverbindung dank der Tapferkeit von Gründrache Justin Morkundar vor Angriff gerettet.« Das war der Tigerdrache gewesen, der Dariens Eskorte befehligte, einer von etlichen Koorie, die in Libris tätig waren. Und was war mit ihrer Freundin? Während Lemorel in Glaskens Armen lag, war Darien vielleicht auf dem Schlachtfeld gefallen. »Ich kann machen, was ich will, mein Gewissen holt mich immer wieder ein«, murmelte sie und überflog dann den restlichen Papierbogen. »Brookfield tritt auf Seiten der Allianz in den Krieg ein. Gesandter aus Brookfield bei Angriff auf Windzug von Blaudrache Darien vis Babessa gerettet.« Lemorel stieß einen Freudenschrei aus, packte die Flugzettel-Verkäuferin und wirbelte sie herum, wobei die Blätter in alle Windrichtungen davonflogen. Sie gab dem erschrockenen Mädchen drei Silbernobel und einen Kuß und rannte das ganze Stück bis nach Libris. Nach einigen Tagen verbissener Gefechte ging der Krieg um die Gleitbahnumleitung in eine Pattsituation über, die sich wochenlang hinzog. Wie stets bei Kriegen forderte der Ruf im Durcheinander des Schlachtfelds einen hohen Blutzoll, forderte mehr Menschenleben als die Kämpfe und die Krankheiten. Die Burgvogtei Billiatt war zu klein, um einen ausgedehnten Krieg ausfechten zu können, und nachdem der erste Angriff fehlgeschlagen war, hatten die
Bürgermeister der Allianz Zeit, sich auf eine gemeinsame Antwort zu einigen und Renmark und Rochester den Rücken zu stärken. Die westliche Gleitbahn wurde bereits vierzehn Tage - 70 später wiedereröffnet, und nachdem seine Armee nach dem erneuten Versuch, die Verbindung zu zerstören, fünftausend Gefallene zu beklagen hatte, bat der Burgvogt von Billiatt um einen Friedensschluß. Die Bedingungen des Friedensvertrages waren demütigend, aber er unterzeichnete ihn dennoch. Wäre seine Armee noch weiter geschwächt worden, so wäre auch sein Thron in Gefahr geraten. Als Puffer dienende Landstriche wurden an Renmark und Brookfield abgetreten, um die Sicherheit der Gleitbahn-Umleitungsstrecke zu gewährleisten. Für Rochester war es ein knapper, aber wichtiger Sieg. Der erste Angriff war mehr durch Glück und Tapferkeit zurückgeschlagen worden als durch schiere Stärke, und daher sahen die übrigen Bürgermeister der Allianz in Bürgermeister Jefton keinen ernstzunehmenden neuen Rivalen. Rochester führte die Geschäftsbücher der Allianz, und damit hatte es sich. In der ganzen Südostallianz folgte allgemeiner Wohlstand auf diesen Krieg. Die Einwohner von Rochester waren viel zu sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen, um die kleinen Veränderungen zu bemerken, die in der Staatsbibliothek vor sich gingen, und selbst innerhalb von Libris bildete sich eine gewisse Beständigkeit heraus, während sich der Kalkulor als seltsamer aber nützlicher Mitarbeiter etablierte. Nur einigen wenigen auf der Führungsebene war bewußt, daß sein Einfluß weit über Rochester hinaus und in weite Teile der bekannten Welt reichte. Auch auf den Zentralbund hatte der Kalkulor einen zunächst unmerklichen, dabei aber tiefgreifenden Einfluß. Ganz allmählich übernahm er die Leitung des Gleitbahnnetzes, koordinierte den Zugverkehr und optimierte mit neuen, unglaublich effizienten Fahrplänen die Ladekapazitäten. Er machte sich auch für das Signalfeuer-Netzwerk unentbehrlich, erzeugte viel schneller und zuverlässiger Kodes und Konvertierungen, als es der Signalfeuerakademie von Griffith je gelungen war, und brachte die Signalfeuerverbindungen in Teilen des Netzes unter die direkte Kontrolle von Rochester. Als den übrigen Bürgermeistern dann bewußt wurde, welche politischen Auswirkungen es hatte, daß Rochester so hochwichtige Ressourcen kontrollierte, war es wirtschaftlich längst unmöglich geworden, zu den alten Gegebenheiten zurückzukehren. Alle verdienten mehr Geld als je zuvor, und die gesamte Infrastruktur funktionierte viel zuverlässiger als früher. Und wenn es zum Schlimmsten kam und Bürgermeister Jefton versuchen sollte, die anderen Staaten mit Hilfe der Gleitbahn und des Signal - 70 feuernetzes zu erpressen, konnte sein Stadtstaat schließlich leicht von einer gemeinsamen Armee der anderen Staaten überwältigt werden. Sämtliche Bibliothekare, die mit dem Kalkulor arbeiteten, mußten Überwachungsmaßnahmen der Schwarzen über sich ergehen lassen, und als der Kalkulor dann endgültig in Betrieb genommen wurde, durften sie nur noch in der Herberge von Libris übernachten und nirgends sonst. Lemorel kam das sehr gelegen. Libris schirmte sie vor Erkundigungen von außerhalb ab, und die einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit waren die Briefe, die sie sich mit ihrem Vater schrieb. Er hatte nur gute Neuigkeiten zu berichten: Die Geschäfte liefen ausgezeichnet, und Jemli hatte geheiratet und war aus dem Haus. Lemorel verbrachte viel Zeit in den Räumen des Kalkulors, studierte fleißig an der Universität und hielt ihr Verhältnis mit Glasken geheim. Sie trafen einander so selten, daß die Schwarzen keinen Vermerk über Glasken in Lemorels Personalakte hatten. Beide arbeiteten sie für ihren Lebensunterhalt, Lemorel tagsüber mit dem Kalkulor und Glasken nachts in den Schenken der Stadt. Wenn sie sich trafen, dann zwischen den Vorlesungen. Ende 1697 fiel Glasken bei einer Prüfung durch und mußte ein Studienjahr wiederholen. Lemorel war erleichtert. Das Arrangement ihrer Liebschaft kam ihr sehr zupaß. Und es kam ihr auch zupaß, daß Darien fort war. Sie wußte, daß es nun, da John Glasken in ihr Leben getreten war, schwierig gewesen wäre, weiterhin so eng mit ihr befreundet zu sein. Während Libris mehr und mehr die Verkehrsplanung der Gleitbahn übernahm, beschäftigten sich die Drachenbibliothekare ausführlich mit fernen Strecken und Ländern. Darien hatte zwar keine
Stimme, war ansonsten aber ausgesprochen sprachkundig, und solange jemand zur Stelle war, der in der Lage war, ihre Karten zu lesen, konnte sie sich in vielen Sprachen verständlich machen. Zwei Monate nach dem Sieg über Billiatt kehrte Darien nach Rochester zurück und wurde zur stellvertretenden Oberliber ernannt, und Bürgermeister Jefton verlieh Morkundar und ihr eine Tapferkeitsauszeichnung. Da er sowohl Kriegsheld als auch Koorie war, wurde Morkundar zum Botschafter Rochesters in jenen Stadtstaaten von Woomera ernannt, in denen ein Koorie regierte. Darien hatte den Gesandten aus Brookfield in Sicherheit gezerrt, als er bei der Flucht zur Windlok angeschossen worden war, und die Hoheliber wollte so viel öffentliche Aufmerksamkeit wie nur möglich auf die Helden aus ihrem Stab lenken. Darien blieb nur - 71 ein paar Wochen lang in Rochester und wurde dann als Inspektorin erneut nach Westen entsandt. Diesmal sollte sie an einem noch größeren Projekt mitwirken: den Endpunkt des Signalfeuernetzwerks in Peterborough mit dem Signalfeuernetzwerk von Woomera zu verbinden. Drei riesige Repetiertürme aus Stein und Holz mußten errichtet werden, und Dariens Aufgabe bestand darin, die Übertragungsprotokolle der beiden Systeme zu vereinheitlichen und sich um die Sprachschwierigkeiten zu kümmern. Bei der Einweihung der Verbindung zur Sommersonnenwende 1699 stand Darien neben der Hoheliber auf der Signalfeuerplattform des Turms von Rochester, während Bürgermeister Jefton mit dem Bürgermeister von Woomera Nettigkeiten austauschte. Die Verbindung zwischen den beiden wurde über elf Repetiertürme und eine Entfernung von über tausend Kilometer hergestellt. Rochester wurde in einem ganz realen Sinne der Mittelpunkt der Welt. Man ließ Darien nur einen Monat Zeit, ihren Bericht über das Projekt zu verfassen, und beauftragte sie dann mit einem noch entlegeneren und ehrgeizigeren Projekt: mit der Verbindung der Bahnhofstürme der immens langen Nullarbor-Gleitbahn, um damit eine Signalfeuerverbindung zu den Staaten des fernen Westens zu schaffen. Weite Teile der Strecke waren bereits miteinander verbunden, aber die Anzahl der Türme mußte verringert werden, damit die Übertragungsgeschwindigkeit erhöht werden konnte. Als Standort für einen von Grund auf renovierten Turm hatte man die Bahnstation Maralinga ausgewählt, rund fünfhundert Kilometer westlich von Woomera. Der Ruf war in Maralinga sehr stark und kam manchmal alle fünf Tage. Maralinga war der größte, entlegenste und schönste Außenposten an der Nullarbor-Gleitbahn. Von den sich nähernden Windzügen aus war es ein herrlicher Anblick, wenn es sich hoch und hell wie eine schimmernde Anhäufung rötlicher Salzkristalle aus der flachen, nur mit Strauchwerk bewachsenen Nullarborebene erhob. Es war aus Kalksteinquadern errichtet, und ein Turm dort war doppelt so hoch wie die anderen, um das Herannahen der Windzüge überwachen zu können. Darien traf dort ebenfalls mit dem Windzug ein. Eine Folge des Großen Winters war es, daß auf der Nullarborebene fast ständig ein Wind wehte, und die Rotorantriebe mußten so gut wie nie durch kostspielige Muskelkraft verstärkt werden. Die Rotoren drehten sich, ganz egal, aus welcher Richtung der Wind kam, und die Züge fuhren zwar manchmal - 71 recht langsam, blieben aber nie wegen einer Windstille stehen. Beiderseits waren Balance-Ausleger angebracht, und acht gestaffelt angeordnete Rotoren drehten sich im steten Südwestwind. Der Führerstand der Lok befand sich ein gutes Stück hinter den Puffern, und der Lokführer las seine Instrumente ab, während rechts von ihm die Meilensteine vorüberzogen. Er rief die Werte dem Maschinisten zu, der wiederum den Bremsern an den einzelnen Rotoren Befehle zubrüllte. Der Zug schlingerte und bebte, wenn die in Sonnenblumenöl getauchten Getriebe auf kleinere Übersetzungen umschalteten und das Tempo gedrosselt wurde. Ein winziger Lichtpunkt flackerte an der Spitze des höchsten Turms auf, und oben auf der Führerkabine des Zugs knüpfte der Wächter eine Heliostatverbindung. / WEICHEN GESTELLT FÜR EINFAHRT VON WESTZUG HI09 / meldete der Turm. / BESTÄTIGE - SCHALTEN RUNTER / antwortete der Wächter.
/ ANKUNFT DER STELLVERTRETENDEN OBERLIBER DARIEN VIS BABESSA ERWARTET / erkundigte sich der Turm. / BESTÄTIGE / versicherte der Wächter den Fernmeldern in Maralinga. Darien war die rangniederste und dienstjüngste stellvertretende Oberliber der bekannten Welt, aber dennoch eine nicht ganz unwichtige Frau. Die Bahnhöfe an der Nullarbor-Gleitbahn waren nicht schwer befestigt, obwohl man von einer fernen, kriegerischen Zivilisation jenseits der nördlichen Wüste wußte. Der Ruf reichte bis dort hinaus, doch die Wüste entriß ihm die meisten seiner Opfer, und es verging kaum eine Woche, ohne daß die Wächter auf dem Turm von Maralinga neue Leichname und Kadaver entdeckten. Dort lagen tote Kamele mit Geschirren aus grüner Seide und Goldfäden, und festgeschnallt auf ihren reich mit schwarzen Opalplättchen verzierten Satteln trugen sie tote Reiter. Einige tote Krieger hielten Säbel in Händen, die aus einem Stahl gefertigt waren, den selbst die fortschrittlichsten Schmiede von Rochester nicht nachzuschaffen vermochten, und die Sandanker ihrer Kamele enthielten äußerst präzise Uhrwerke. In den Satteltaschen fand man Messingfernrohre, Seidentücher mit den Bildern befestigter Städte, die in rote Felswände gehauen waren, und Bücher. Eine mächtige, fremde Zivilisation, aber zu fern, als daß sie eine Bedrohung darstellen oder man Handel mit ihr treiben konnte. - 72 Der Zug ratterte über die Weichen und bog auf die Nebenstrecke nach Maralinga ab; und dann drehten die Bremser an ihren Kurbeln, um die Bremsklötze an die Räder zu pressen. Der Zug kam mit kreischenden Rädern, aber sanft zum Stillstand, die Puffer der Windlok nur eine Handbreit vom Prellbock entfernt. Im steten Wind drehten sich die Rotoren weiter im Leerlauf, warteten darauf, wieder eingekuppelt zu werden. Der Schaffner pfiff und signalisierte damit, daß die Türen gefahrlos geöffnet werden konnten. Darien stieg als erste hinaus auf den Bahnsteig. In ihrer Inspektorenuniform, die aus einem schwarzen Gewand und einer Kniebundhose bestand, schwitzte sie. Ihr Silberdrachenarmband schimmerte im Sonnenschein, und sie hielt ihre Ernennungsurkunde zur Oberliber in der Hand, um sich beim Stationsvorsteher auszuweisen. Begrüßt wurde sie von sechs Aufsichtsbeamten, dem halben Dienststab von Maralinga. Sie fühlten sich geehrt, einen so wichtigen Gast empfangen zu dürfen; ja, im Grunde fühlten sie sich geehrt, überhaupt einen Gast empfangen zu dürfen. Da Darien keine Stimme hatte, plapperten sie nervös durcheinander. »Da kommt die Rangierlok«, sagte der Stationsvorsteher und zeigte auf eine kurze, rote Windlokomotive mit zwei weißen Rotorenaufbauten, die sich vom Rangierbahnhof her näherte. »Sie wird Euren Privatwaggon vom Zugende auf ein Nebengleis umleiten.« Die Rangierlok wurde an den Waggon angekuppelt, den die Crew daraufhin vom Zug abkoppelte. Mit lautem Knall wurde das Getriebe der beiden Rotoren in den Rückwärtsgang geschaltet, und dann wurde der Waggon fortgezogen. Jetzt blieb Darien nichts anderes übrig als hierzubleiben, und empfangen wurde sie von der Hitze, den Fliegen, den feinen Sandkörnern, die der unaufhörliche Wind mit sich trug, dem Gestank von ranzigem Schmierfett und dem nervösen Geplapper sechs fremder Männer. Weitere Fahrgäste begannen auszusteigen, um sich auf festem Boden kurz die Beine zu vertreten, ehe der Zug dann weiterfuhr. Der Gepäckträger öffnete einen kleinen Kiosk, der Andenken, kandiertes Obst und auf Flaschen gezogenes Zisternenwasser feilbot. Schnell sammelte sich davor eine kleine Menschenmenge. »Ihr könnt Euren Leibanker jetzt ablegen, Frelle Oberliber«, sagte der Wasserhändler, als sie vom Bahnsteig zu den Stationsgebäuden gingen. »Wir haben im Süden eine Schutzmauer, und der nächste Ruf steht erst in einigen Tagen bevor.« - 72 Darien wandte sich um. Eine hohe, kreisrunde Mauer faßte die Bahnstation ein, und an ihren ineinandergreifenden Enden konnten die Windzüge passieren. Am südlichsten Punkt befand sich ein mit Ziegeln gedeckter Unterstand. Der Ruf kam hier immer aus dem Süden. Wenn er in diesem Moment gekommen wäre, wären sie alle blindlings nach Süden gegangen, bis sie an der Mauer
angelangt und von dort aus in den Unterstand weitergeleitet worden wären. Darien löste ihren Leibanker, und der Wasserhändler trug ihr stolz die tickende Apparatur hinterher. Auf dem Stationsgelände war es erstaunlich kühl. Blendend weiße Kalksteinwände reflektierten die schlimmste Sonnenhitze, und in jedes Gebäude waren Konvektionsgebläse eingebaut. Sie stiegen zwei Treppen zur Aussichtsterrasse hinauf, wo an einem Tisch mit Blick auf den Rangierbahnhof Kaffee serviert wurde. Während sich der Stationsvorsteher den Formalitäten der Kaffeezeremonie widmete, sah Darien zu, wie der Windzug zur Weiterfahrt bereitgemacht wurde. Die Rangierlok kam zurück, und die wenigen Fahrgäste wurden gebeten, wieder einzusteigen. Mit lautem Knall rammte die kleine Lok die Kupplung des hintersten Waggons, der Schaffner pfiff, und die sich drehenden Rotoren der Schnelllok verlangsamten mit einem Mal, als der erste Gang eingelegt wurde. Langsam löste sich die Reihe der grüngelb gestreiften Waggons von dem Prellbock, und der Zug ratterte zurück auf die Hauptstrecke, ratterte über die Weichen und kam dann mit bebenden Bremsen zum Stehen. Die Rangierlok wurde abgekuppelt, der Rangiermeister pfiff zweimal, und dann begann der Zug seine Weiterfahrt nach Westen. Die Rangierlok schob ihn noch ein paar Meter an, blieb dann zurück und fuhr schließlich wieder auf den Rangierbahnhof. »... aber kommen wir doch zum Geschäftlichen, Frelle Oberliber. Womit können wir Euch bei Eurem Besuch behilflich sein?« Darien hatte eine Mappe voller Karten vorbereitet. Sie zog die passende Karte hervor und reichte sie dem Stationsvorsteher. BITTE ENTSCHULDIGT, DASS ICH KEINE STIMME HABE. DANKE FÜR EURE MÜHE. ICH BRAUCHE LEDIGLICH EINEN ARBEITSPLATZ IN EURER BIBLIOTHEK UND ZUGANG ZUM GESAMTEN STATIONSGELÄNDE. ICH SOLL EINE UNTERSUCHUNG VORNEHMEN. DIE BÜRGERMEISTER VON ROCHESTER UND WOOMERA WOLLEN, DASS DIESE STATION AUSGEBAUT WIRD. Der Stationsvorsteher gab die Karte an den Wasserhändler weiter, und dann machte sie die Runde, während sie ihr Gespräch fortsetzten. - i73 »Frelle stellvertretende Oberliber, es freut mich sehr, daß meinem Ersuchen, die Bahnhöfe, Zisternen und Lagerhäuser auszubauen, von Seiner Hoheit, dem Bürgermeister, und auch Eurem Herrscher entsprochen wurde. Ich werde unverzüglich ein Dankesschreiben ausfertigen lassen, das Ihr mit zum Hofe zurücknehmen könnt.« Darien wußte nichts von diesem Ersuchen, und daher mußte sie nun dieses Mißverständnis richtigstellen. Sie schrieb mit einem Kohlenstift etwas auf eine leere Karte. Die Mithörenden warteten gespannt, aber sie ließ sich nicht dazu hinreißen, unwürdig etwas hinzukrakeln. Schließlich reichte sie die Karte weiter. OER AUSBAU HAT MIT EUREM ERSUCHEN NICHTS ZU TUM, UMFASST ABER EURE VORSCHLÄGE. Während der Stationsvorsteher noch verdutzt die Worte betrachtete, zog Darien schon eine andere Karte hervor. OER HAUPTFERN ME LVETURM WIRV AUF Vit VREIFACHE HÖHE AUFGESTOCKT. VAS PERSONAL WIRV EBENFALLS VERSTÄRKT. WEITERE EINRICHTUNGEN WERVEN ENTSPRECHENV AUSGEBAUT. »Aber das ist ja wunderbar!« rief der Stationsvorsteher. Ehe er noch etwas dazu sagen konnte, reichte ihm Darien eine weitere vorbereitete Karte. OIE STATION MARALINGA WIRV ZUM AUSSENPOSTEN ERSTER KLASSE HOCHGESTUFT. WENN GEGENWARTIGE MITARBEITER IHREN RANG BEIZUBEHALTEN WÜNSCHEN, MÜSSEN SIE SICH EINER PRÜFUNG UNTERZIEHEN. Die Stimmung schlug abrupt um, als diese Karte die Runde machte, fast so, als hätten sich die Beamten zu Ehren ihres stummen, berühmten Gastes selbst der Sprache beraubt. Darien richtete sich für die nächsten vier Tage in der Bibliothek ein, inspizierte den Hauptturm ausführlich und verglich ihn mit den ursprünglichen Plänen. Ihr Befund bestätigte, was der Planungsstab in Libris bereits vermutet hatte: Das Fundament würde keinen Neubau tragen, und
einen Großteil des bestehenden Mauerwerks würde man dazu ebenfalls abreißen müssen. Es wäre einfacher und ginge schneller, ein neues Fundament zu legen und darauf einen neuen Steinturm zu errichten. Andererseits ließ sich ein Holzaufbau hinzufügen, ohne das Fundament über Gebühr zu belasten. Es würde sich auch in nur einem Zehntel der Zeit errichten lassen, den der Neubau eines Steinturms kosten würde. - 74 Wer schlechte Nachrichten überbringt, ist nie beliebt bei denjenigen, die die Folgen zu tragen haben. Von den Mahlzeiten und den Kaffeezeremonien abgesehen, wurde Darien von den eingeschnappten Beamten gemieden, und ihre Abende verbrachte sie damit, sich die Sammlung der Bücher anzusehen, die man bei den Leichen in der Wüste gefunden hatte. Diese geheimnisvollen Bände waren in einer Sprache abgefaßt, die sie als nordmaurischen Dialekt erkannte. Es war die Sprache der nomadischen Ghaner. Die Bücher zeichneten das exotische, aber herbe Bild einer fernen Gesellschaft. Ehre, Dienst, Loyalität und rücksichtslose Disziplin unter den Kriegern hielt die verschiedenen Völker in dem rauhen, trockenen Land zusammen. Frauen und Kinder wurden zu ihrem Schutz regelrecht weggesperrt. Die Liebeslyrik handelte größtenteils von Sehnsucht und Verlangen, von unerfüllter Liebe und geheimen Botschaften, die an wachsamen Eltern vorbeigeschmuggelt wurden. Frauen durften sich außer Haus nur in einem Wagen oder einer Sänfte fortbewegen. Auf Darien wirkte es faszinierend, aber auch abstoßend. Schließlich war sie eine einflußreiche Frau, die, wenn sie ihre Empfehlungen und Berichte verfaßte, über die weitere Karriere von einem Dutzend Männern entschied. Am Morgen des vierten Tages hatte sie sich gerade angekleidet und machte sich bereit, ihr Tagwerk zu beginnen, als der Ruf über die Station hinwegbrandete. Es war ein schönes, vertrautes Gefühl, sich seiner Verlockung zu ergeben, und dann kam man irgendwann mit Hautabschürfungen und abgerissenen Fingernägeln wieder zu sich. Der Ruf hatte sie auf dem Korridor erwischt, aber sie war mit ihrem Taillengurt an einem Geländer angebunden gewesen. Gebäude waren gefährlich. Ohne den Gurt wäre sie womöglich zu dem am südlichsten gelegenen Fenster gegangen und etliche Stockwerke hinabgestürzt. Doch dann erwachte Darien auf dem dicken Teppich in der Bibliothek, an Händen und Füßen gefesselt! Das konnte doch nicht wahr sein. Niemand hatte ungehindert umhergehen können, während der Ruf über die Bahnstation hinwegzog. Die anderen waren jetzt ebenfalls bei Bewußtsein und machten lauthals auf sich aufmerksam. Der Stationsvorsteher, der Wasserhändler, die Mechaniker - alle riefen sie, sie seien während des Rufs gefesselt worden. Dann hörte Darien draußen, auf den Kreuzgängen, langsame, schlurfende Schritte. Ein Wesen wie aus einem Alptraum blieb in der offenen Tür stehen und spähte zu ihr herein, über Spiegel, die eine Handbreit von - 74 einander entfernt vor seinem Gesicht angebracht waren, und seine Augen funkelten in den Tiefen ihrer Spiegelungen. »Eine Frau also unter zwölf Männern«, sagte es mit tiefer, gedämpfter Stimme. Vom Klang her ähnelte es dem Nordmulgarischen, aber es war eindeutig die Sprache der Ghaner. »Ich verstehe die Sprache deines Volkes nicht«, fuhr das Wesen fort, aber selbst wenn Darien eine Stimme gehabt hätte, hätte sie zur Antwort darauf nur zu starren vermocht. Ein Mann, der von Kopf bis Fuß in lebende Ranken verstrickt war, in Ranken, die so gewachsen und miteinander verwoben waren, daß sie ihn wie ein Anzug umhüllten, ein Mann, der eine Jacke aus olivgrünem Laub und klobige Kniestiefel trug, die nach feuchtem Erdreich und Mulch rochen. Seine Arme liefen in Fäustlinge aus fein miteinander versponnenen dünnen Ranken aus. Dem Ruf erlagen alle Säugetiere, die größer waren als eine Katze, und daher war ein Mann, der während des Rufs ungehindert umherging, für Darien nicht minder erstaunlich als eine Levitation. Von den schwarzen Koorie-Nomaden der nördlichen Wüsten wußte man, daß sie in Trance verfielen, wenn der Ruf sie ergriff, und zwei Stunden lang reglos am Boden liegend verharrten. So entkamen sie dem Ruf, aber sie widerstanden ihm nicht. Darien starrte den Mann verblüfft an. Er trug ein lebendiges Gewand: War es das, was ihn gegen die Verlockungen des Rufs immun machte? Sie war während des Rufs gefesselt worden - wie anders war das zu erklären? Die
Folgerung daraus drängte sich förmlich auf: Sein Anzug war eine Waffe, gegen die es keinen Widerstand gab. Sehr bald schon liefen weitere Ghaner auf dem Stationsgelände umher. Sie waren gekleidet wie die Leichen draußen in der Wüste und stanken nach Schweiß und Kamel. Darien wurde mit der Stationsbesatzung hinaus auf den Kreuzgang getragen. Keiner der Ghaner beherrschte ihre Sprache, und keiner aus der Station verstand die Sprache der Ghaner. Das stellte sich nach einer Stunde heraus, in der geschlagen, getreten und herumgebrüllt wurde. Ihnen wurde auch klar, daß Darien stumm war, nicht aber, daß sie jedes Wort verstand, das sie sagten. »Das ist also der Ursprung des Rufs«, erklärte Kharec, ihr Anführer. »Er kommt von den Eisenbändern in der Wüste.« »Nein, das stimmt nicht, Hauptmann«, sagte der umrankte Mann. Man hörte ein Zischen, als die anderen abrupt Luft durch die Zähne sogen, und Kharec wandte sich zu ihm um. »Ihr bezweifelt meine Worte, Rankenmann?« schnauzte er. - 75 »Eure kundigen Worte würde ich nie bezweifeln, Hauptmann. Aber ich weiß etwas, das Ihr nicht wißt. Ich habe eine Wildziege gesehen, die vom Ruf beherrscht diese Metallschienen überquerte und dann weiter nach Süden ging. Ihr konntet das nicht sehen, da Ihr zu diesem Zeitpunkt selbst in der Gewalt des Rufes wart.« Kharec wandte sich von dem Mann mit dem Rankenanzug und den verspiegelten Augen ab, und die Anspannung verpuffte. Er hatte sein Gesicht gewahrt, und damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. Kharec war mächtig und gefährlich, doch der andere verfügte über das Selbstvertrauen eines Mannes, der wußte, daß er unentbehrlich war. »Frelle Oberliber, versteht Ihr, was die sagen?« flüsterte der Stationsvorsteher, der neben Darien lag. Sie schüttelte den Kopf, und Kharec schlenderte herbei und trat ihm ins Gesicht. »Ihr sprecht also kein Alspring, ja?« brüllte er sie alle an. »Na, dann war das jetzt Gebärdensprache: Hier wird nicht geflüstert!« Darien brachte man in die Unterkunft des Stationsvorstehers und kettete sie dort an den Ringbolzen neben dem Bett. Kharec schlenderte durchs Zimmer, sah sich verwirrt die Bücher und Landkarten und das Mobiliar an; dann blieb er stehen und starrte sie an. »Eine Frau ohne Stimme, eine Frau, die keine Widerworte geben kann. Was für ein Luxus.« Er sagte das zu einem anderen Mann, der nie von seiner Seite wich, einem kleinen, gelassenen, aufmerksamen Mann, der eher wie ein Spion als wie ein Leibwächter wirkte. Darien hatte erwartet, daß man sie auf der Stelle vergewaltigen würde, aber die beiden gingen, ohne noch ein Wort zu sagen. Die Ghaner befestigten die Station in aller Eile, stellten Beobachtungsposten auf und verbarrikadierten Fenster und Türen. Mit dem Rankenmann waren es insgesamt vierzig Mann. Darien wurde gezwungen, für sie zu kochen und sie zu bedienen, und daher bekam sie die meisten Gespräche mit. Sie stritten über das Wesen der Gleitbahn, über die Herkunft des Dörrfleischs und Dörrobsts aus dem Lagerhaus, sogar über die Kalksteinquader, aus denen die Station errichtet war. Der Rankenmann blieb draußen im Sonnenschein, während die anderen die Vorräte verschlangen und sich an dem Wasser gütlich taten. Sie hatten drei Monate bis zu dieser Station gebraucht und auf dem Weg nach Süden eine ausgedehnte Wüste durchquert, in der es nur Sand, Gestrüpp und Salzpfannen gab. Es hatte unterwegs nur wenig Wasser gegeben und fast keine jagdbaren Tiere. Einige Nomadenstämme der - 75 Koorie hatten die Ghaner angegriffen und mindestens ein Dutzend von ihnen getötet. Nach dem Abendessen des ersten Tages saß Kharec mit seinen Offizieren zu Rate. Darien kredenzte ihnen Wasser aus der tiefsten, kältesten Zisterne ... und Kaffee. Sie kannten Kaffee, aber in ihrer Gesellschaft wurde er offenbar mit Gold aufgewogen. Sie erfuhr, daß Kharec auf der Suche nach neuen Ländern war, die er erobern konnte. Das Königreich der Ghaner lebte seit achtzehn Jahren im Frieden, und ihre Herscher wollten diesen Frieden bewahren. Daher konnten sich ehrgeizige Edelleute nicht durch Eroberungen hervortun, und da Kharec der jüngste Sproß eines
Adelsgeschlechts war, konnte er auch auf kein großes Erbe hoffen. Wenn es ihm jedoch gelang, eine Stadt zu finden, die keine Verbündete hatte, konnte er sie erobern, ohne dadurch irgendeinen Waffenstillstand zu gefährden. Seltsamerweise waren die Ghaner offiziell auf einer wissenschaftlichen Expedition, finanziert von einer Frau, die sie »die Äbtissin« nannten. Sowohl der Mann, der nie von Kharecs Seite wich, als auch der Rankenmann waren ihre persönlichen Abgesandten, Kharec aber war der Anführer. Sie wurden nicht recht schlau aus der Gleitbahn und der Bahnstation. Die Windloks und Waggons waren dazu bestimmt, auf den Schienen zu fahren, aber es gab keine Kamele, die sie hätten ziehen können! »Das ist hier so solide gebaut wie eine Festung, aber dennoch sind die Türen und Tore breit und ungeschützt«, erklärte Kharec mit finsterem Blick. »Wenn ihre Städte auch so schlecht bewacht sind, könnten wir schnell zuschlagen und genug Gold erbeuten, um eine Streitmacht von fünfhundert Reitern aufzustellen. Dann könnten wir wiederkommen, diese Schwächlinge unterwerfen und ein neues Königreich begründen. Mir erscheint das zu einfach. Warum haben andere das nicht längst getan?« »Aber wo sind denn die Städte?« fragte Calderan, der älteste Offizier. »Es gibt hier keine Straßen, nur diese beiden Eisenschienen, die vom Horizont bis zum Horizont verlaufen.« »Ich habe Landkarten gefunden. Darauf sind Punkte und Linien eingezeichnet, die nichts anderes als Städte und Straßen sein können.« »Aber wir können diese Landkarten nicht lesen, und keiner von den Leuten hier spricht Alspring. Wir wissen nicht mal, welcher Punkt auf den Karten diesem Ort hier entspricht.« »Es gibt da eine Möglichkeit. Yuragii hat etwas entdeckt.« Kharec ließ die Worte in der Schwebe. Die Offiziere sahen einander - 76 an und richteten den Blick dann wieder auf ihren Anführer. Ehe der kleinwüchsige, magere Offizier etwas erklären konnte, klatschte Kharec zweimal in die Hände, um Darien auf sich aufmerksam zu machen, zeigte dann auf ein Tablett mit Speisen und wies auf die Aussichtsterrasse, auf der der Rankenmann saß und sich in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne aalte. Sie ging hinaus, machte ihren Haltegurt draußen am Geländer fest und ging die Steintreppe zur Terrasse hinauf. »Ah, da hat jemand an mich gedacht«, sagte der Rankenmann, als sie mit dem Tablett vor ihm stand. Er machte irgend etwas mit den Ranken, die seinen Mund bedeckten und löste dann eine Lasche, die seine Lippen freigab. »Ein gutes und einfaches System«, sagte er und nahm ein Kelchglas Wasser vom Tablett. »Wenn ein Ruf kommt, während ich die Lasche offenhalte, lasse ich sie in dem Moment los, in dem ich dem Ruf nachgebe, und dann beschützt mich der Anzug wieder. Hmm, so ein ernstes kleines Gesicht. Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, nicht wahr?« Etwas an seiner Art wirkte beruhigend auf Darien, und sie lächelte ihn an. »Ein Lächeln nur für mich. Wie schön. Nicht viele Leute lächeln mich an, wenn ich meine Ranken trage. Die letzte, die mir ein Lächeln schenkte, war eine Dame aus Glenellen, eine sehr wichtige Dame. Sie ist die Äbtissin eines großen Klosters, eines unserer Zentren der Gelehrsamkeit. Ach ja, sie hat mir ein Lächeln geschenkt, aber sie ist selbst auch sehr seltsam. Sie ißt gegrillte Mäuse auf Toastbrot und wäscht sich die Haare mit Tollkirschenöl. Sehr langes Haar, das ihr in schwarzen Locken bis über die Taille fällt.« Eine Frau, die in seiner Gesellschaft bis zu einer derartigen Machtposition aufsteigen konnte, mußte wirklich bemerkenswert sein, dachte Darien. Er begann zu essen, nahm sich Datteln und geröstete Nüsse vom Tablett und kaute sie unter seiner Maske aus miteinander verwobenen Ranken. Die Sonne setzte noch ein paar hochrote Glanzlichter auf die Spiegel und Röhren, die zu seinen Augen führten, und verschwand dann hinter dem Horizont. In der aufziehenden Dunkelheit war seine menschliche Gestalt noch weniger erkennbar, und er wurde zu einem
Pflanzenwesen, das sich mit bedachtsamen, raschelnden Bewegungen über die Datteln und Nüsse hermachte. - 77 »Hat Kharec dich vergewaltigt? Ich denke doch nicht, Makkigi läßt ihn nicht aus den Augen. Unsere Herrin ist die Äbtissin des Klosters von Scalattera in Glenellen, sie hat diese Expedition finanziert. Sie sagte, eine Expedition, die von einer Frau bezahlt wird, solle nicht dazu führen, daß andere Frauen vergewaltigt werden. Makkigi wurde mitgeschickt, um dafür zu sorgen, daß sich Kharec daran hält. Und ich passe auch auf ihn auf.« Darien entflammte eine kleine Olivenöllampe und hielt sie ihm hin, damit er Licht beim Essen hatte. Er kam näher, und dann spähten ihr seine Spiegel ins Gesicht. Einen Moment lang sah sie im Licht der qualmenden Lampe zwei Augen am Grund der dunklen Röhren aufleuchten; dann richtete er sich wieder auf. Auf den Korridoren hallten Flüche und ungehobelte Gesänge wider. »Ist das nicht eine witzige Geschichte? Wirklich schade, daß du mich nicht verstehen kannst, es würde dich ein wenig beruhigen. Du bist so um die dreiunddreißig, das sehe ich: Dein Gesicht ist schön, eher vor Erfahrung als vor Unschuld. Haßt du mich? Ja, das mußt du wohl, aber ich bin nicht wie die anderen. Ich bin ein Gelehrter, hättest du das gedacht? Und meine Lehrerin ist die große Äbtissin Theresia von Glenellen höchstpersönlich.« Das einseitige Gespräch nahm seinen Lauf, bis er ihr schließlich das Tablett zurückgab und sich mit einer raschelnden Bewegung verbeugte. Als sie dann ihre Öllampe nahm, hielt er sie am Handgelenk zurück und hob die Lampe an einen seiner Spiegel. Mit einem Mal leuchtete Licht unter den miteinander verwobenen Ranken auf seinem Gesicht auf, zurückgeworfen von den Spiegeln direkt unter seinen Augen. Seine Augen und der obere Teil seines Gesichts wurde sichtbar, wie durch einen von hinten beleuchteten Schleier. Sein Griff war sanft; er wollte ihr zeigen, daß unter den Ranken ein Mensch lebte. »Die Flamme blendet mich«, sagte er, als er die Lampe sinken ließ und seinen Griff löste. »Was für eine Ironie. Ich muß geblendet werden, damit du mein Gesicht sehen kannst.« Der Rankenmann sollte recht behalten, was Kharec anging. Die ganze Zeit über, die sich die Ghaner in der Bahnstation von Maralinga aufhielten, ging er nicht weiter, als Darien hin und her zu schubsen und zu niedrigen Diensten zu zwingen. Eine stellvertretende Oberliber, die unter dem Schutz einer Hunderte von Kilometern entfernt weilenden Äbtissin - 77 stand: diese Ironie entging ihr nicht. Erst in der Nacht vor dem Ruf hatte Darien geschaudert, als sie in den Büchern der Ghaner gelesen hatte, welche Stellung Flauen in ihrer Gesellschaft innehatten. Das Schleien hatte an dem Morgen begonnen, nachdem die Bahnstation überfallen worden war. Erst war es die Stimme des Gastwirtes gewesen, dann war die des Stationsvorstehers hinzugekommen, und schließlich hatte die gesamte Besatzung vor Schmerzen geschrien. Und während die Stunden vergingen, ließen sich die Stimmen immer weniger auseinanderhalten. Es waren flehende, dabei aber hoffnungslose Schreie, die Schreie derer, die sinnlos gefoltert wurden. Und Darien war gar nicht bewußt, daß man die Männer folterte, um zu erfahren, wer in der Bibliothek Passagen aus Ghan-Büchern übersetzt hatte. Am Ende des zweiten Tages berief Kharec die Offiziere der Ghaner zu sich, um zu besprechen, was sie erfahren hatten - nichts. Zwei Besatzungsmitglieder waren bereits tot, und drei weitete würden den nächsten Tag nicht überstehen, aber dennoch antwortete ihnen niemand in ihrer Sprache. Darien wartete ihnen auf, machte sich möglichst unscheinbar und wurde nicht beachtet. Die Tage gingen ins Land, und obschon sie für das Vortäuschen von Geistesarmut und Unverständnis mit Tritten und Ohrfeigen entgolten wurde, wurde sie immerhin nicht gefoltert. Wenn sie gerade nicht kochte oder auftrug, sperrte man sie in ein Zimmer der Herberge mit Blick auf die Aussichtsterrasse, auf der der Rankenmann saß und sich sonnte. Zu den Mahlzeiten brachte sie dem Rankenmann stets etwas zu essen hinaus. Er saß dort in der Sonne, las Bücher aus seinen Satteltaschen und machte sich mit einem Kohlestift Notizen auf
Schilfpapier. Und er sprach immer ein paar Worte zu ihr. Am Abend des dritten Tages war seine Geduld mit Kharec am Ende. »Es ist nur gut, daß du nichts von dem verstehst«, sagte et zu Darien, als sie ihm sein Tablett mit Dörrobst und Wasser reichte. Er sprach so leise, daß er durch seine Rankenmaske kaum zu verstehen war. »Kharec foltert deine Leute, weil er weiß, daß irgend jemand hier unsere Sprache beherrscht. Sie haben eins unserer heiligen Bücher hier in der Bibliothek gefunden, und daneben lag eine auszugsweise Übersetzung in deine Sprache. Deine Leute sind tapfer, keiner will zugeben, der Übersetzer zu sein.« Entsetzen kroch ihr den Rücken hinunter. Dann war sie also der Grund für all das, was die Beamten durchmachen mußten. Sie konnte - 78 dem ein Ende bereiten, indem sie einfach nur etwas aufschrieb und es Kharec zeigte, aber sie wußte auch, was er wollte. Er wollte, daß die Landkarten übersetzt und ausgewertet wurden, damit er Siedlungen fand, die er angreifen konnte. Schuld daran sein, daß die Folterungen fortgesetzt wurden, oder ihr eigenes Volk verraten - sie rang einen Moment lang mit diesen beiden entsetzlichen Alternativen, ehe der Rankenmann ihr dann zu Hilfe kam. »Ich habe sie getötet, gerade eben«, sagte er und sah nach Süden. »Ich habe jedem von ihnen Wasser zu trinken gegeben, in dem so viele Giftgoldkristalle aufgelöst waren, daß selbst ein Kamel das nicht überlebt hätte. Deine Leute waren draußen in der Sonne angepflockt, und sie hatten ihnen die Finger- und Zehennägel ausgerissen. Ich habe ihrem Leid ein Ende bereitet.« Als er sich nun zu Darien umwandte, sah er die Tränen auf ihren Wangen. »Du weinst ja«, sagte er sanft und leise. »Hältst du mich für ein Ungeheuer? Aber du verstehst ja nicht, was ich sage, also ... warum weinst du? Fürchtest du dich vor diesem Mann mit den raschelnden Blättern und Ranken? Ein Ungeheuer!« Sie saß ganz still da. »Ungeheuer. Kennst du Ungeheuer?« Er zeigte erst auf sich, dann auf ihren Kopf und beugte sich dann mit erhobenen Armen über sie. ER - ICH DENKE - UNGEHEUER, mutmaßte Darien, und sie rang sich ein Lächeln ab und schüttelte den Kopf. »Du hältst mich nicht für ein Ungeheuer?« rief er. Sie zeigte auf die Stelle, an der sein Mund war, dann auf seine Ohren und streichelte dann mit der einen Hand die andere. »Ah, du findest, daß ich eine freundliche Stimme habe. Vielen Dank.« Er verbeugte sich, und seine Blätter und Ranken raschelten. »Aber wie trügerisch so eine Stimme doch sein kann. Ich gestehe dir eine Mordtat, aber weil ich es mit freundlicher Stimme und in einer fremden Sprache gestehe, hältst du mich nicht für ein Ungeheuer. Wenn du wüßtet, daß ich deine Leute vergiftet habe, würdest du da anders empfinden. Sie haben immer nur in eurer Sprache geschrien und gefleht, ganz egal, was die Folterer ihnen auch angetan haben ... und deshalb habe ich ihnen den Gefallen getan, sie zu töten. Ich wünschte sehr, daß die Wahrheit nicht weiterginge als bis hierher, aber größere Fragen ließen mich zum Giftkelch greifen. Wäre euer unbekannter Sprachkundiger zum Vorschein gekommen, dann hätte das diese ganze Expedition gefährdet. Kharec hätte erfahren, wo eure Städte sind, und hätte sich abgewandt, um sie zu plündern. Das hätte ich nicht zulassen können, also hätte ich ihn töten müssen. Die Äbtissin Theresia will, daß wir herausfinden, woher der Ruf kommt, also müssen wir weiter nach Süden ziehen. Ich bin die rechte Hand der Äbtissin, und ich kann in ihrem Namen hinausgreifen über die kärgsten Wüsten und bis in den Schlund der Hölle. Ein Werkzeug ihres Willens zu sein - ah, das erfüllt mich mit Leben. Und wenn sie über den Rand der Welt hinaus zwischen die Lippen, aus denen der Ruf dringt, sehen wird, wird sie es mit meinen Augen tun. Was für ein Glück, daß sie als weibliches Wesen geboren wurde und ich für sie sehen, hören, kämpfen, dursten, hungern und töten muß.« Er schüttelte einen Knäuel saftiges Grün, bei dem es sich um seine Faust handeln mochte, und seine Spiegel wandten sich nach Süden, als wollte er der Quelle des Rufs die Stirn bieten. Darien
sah die Kraft und den Stolz, der darin ruhte, sah dahinter aber auch eine Frau von immenser Macht und großem Charisma. Der Rankenmann wandte sich wieder ihr zu. »Willst du wissen, wie ich sie getötet habe? Ah, ich war sehr clever. Ich sagte zu Kharec, deine Leute würden, wenn man sie weiter so behandelt, nicht mehr so lange leben, daß man ihren Willen brechen könnte. Ich habe ihnen Wasser aus meinem Wasserschlauch angeboten, aber Kharec ließ mich ergreifen, löste die Ranken, die meinen Mund bedecken, und zwang mich, die Hälfte meines eigenen Wassers zu trinken. Den ganzen Morgen ließ er mich bewachen, aber ich trank keine Phiole Gegengift und starb auch nicht. Mittags beschimpfte er mich dann als einen Haufen Kamelscheiße und ging im kühlen Wasser einer eurer Zisternen baden. Die Wachen ließen deine Leute aus meinem Wasserschlauch trinken und gaben ihn mir dann wieder. Hier ist er.« Er hob den beinahe leeren Wasserschlauch und trank, was noch darin war. »Nur ein paar Tropfen, aber doch genug, um dich gleich zwei oder drei Mal zu töten, meine schöne Schmeichlerin. Ha, aber ich habe seit Jahren meinem Wasser immer eine Prise Giftgold beigemengt, und daher ist es für mich weiter nichts als ein exotisches Gewürz. Wie lange sind wir jetzt schon hier? Drei Tage? Bald wird Kharec die Geduld ausgehen, und dann wird er beschließen weiterzuziehen. Du wirst getötet, ehe wir aufbrechen, das hat er bereits befohlen. Welch ironische Fügung: Unter - 79 der Herrschaft der Äbtissin darf man dich töten, aber nicht vergewaltigen.« Darien wurde bang ums Herz, als er das sagte. Man würde sie töten, und er kündigte ihr das mit ganz ruhiger Stimme an. Jahrzehnte des Lebens, Lernens, Kämpfens, Liebens und Leistens würden mit einem Säbelhieb zunichte gemacht, und ihn kümmerte das gar nicht! Er erhob sich, ein ganzes Stück größer als sie, und als er die Furcht auf ihrem Gesicht sah, mißverstand er ihr Entsetzen und glaubte, sie fürchtete sich vor ihm. »Du hast Angst vor mir, schöne, namenlose Küchenmagd«, sagte er sanft und leise und trat dann einen Schritt zurück. »Aber das ist sehr dumm von dir. Ich werde dir nicht nur nichts tun, nein, ich werde auch dafür sorgen, daß niemand sonst dir etwas tut. Ich bin kein Mensch, verstehst du, ich bin vielmehr die Hand der großen Äbtissin, und sie würde dich in jedem Fall beschützen.« Er hatte so beiläufig von ihrem Tod gesprochen, weil er sie retten würde! Das Durcheinander der Gefühle in ihrem Herzen ließ Darien die Selbstbeherrschung verlieren. Im Licht ihrer kleinen Lampe hinterließen Tränen schimmernde Spuren auf ihren Wangen. Sie ließ den Kopf hängen und begann zu schluchzen. Der Rankenmann kam ihr wieder näher, und seine Blätter raschelten, als er ihr die Schulter tätschelte. Sie sah zu ihm hoch. »Du mußt dir allerdings selber helfen. Ich werde dafür sorgen, daß Kharec als erster dieses seltsame Fort verläßt. Wenn du dann frei bist, mußt du weglaufen und dich verstecken. Verstehst du?« Er machte an ihrem Halteseil eine schneidende Geste und lief dann schwerfällig auf der Stelle. Sie nickte, um zu zeigen, daß sie verstand. »Es ist sehr angenehm, wieder Steinmauern um sich zu haben«, sagte er mit einem Blick hinaus in die Wüste. »In Glenellen haben wir eine schöne Stadt, ganz aus rotem Stein gemeißelt. Tiefrote Sandsteinmauern, so rot wie das Blut aus der Schlagader eines Feindes, die sich in den kobaltblauen Wassern der Schlucht spiegeln. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön es da ist. Die Koorie-Nomaden nennen es Jupla, sie sagen, von dort stammen die ersten Menschen, die es auf der Erde gegeben hat. Die Straße zum Fürstenpalast ist mit Macrozamiapalmen gesäumt, was unseren Herrschern langes Leben bescheren möge, und Livistonapalmen und Eisenbäume spenden den Höfen und Terrassen des Klosters Schatten. Unterirdische, gemauerte Bewässerungskanäle wässern - 79 Dattelpalmenplantagen, und Wein wächst in Terrassengärten die ganze Schlucht hinauf. Der Anzug, den ich trage, stammt von einer Weinrebe. Die Äbtissin Theresia hat ihn gemacht. Ich bin ihre Hände, ihre Beine, ihr Gehör und ihr Augenlicht. Aufgrund unserer heiligen Gesetze darf sie nirgends hingehen, und ich darf überallhin. Ich bin ein frommer Mensch, meine Schöne,
ich lese jeden Tag in unseren heiligen Schriften und befolge sie Wort für Wort. Aber ... ich bin auch gern ein Beschützet, ich mache das nicht nur, um die heiligen Schriften zu befolgen. Du bist hilflos, und daher werde ich dir helfen. Ich bin die rechte Hand der Äbtissin, und diese Hand wird dich beschützen.« Der Tod der anderen Beamten verschaffte Darien eine kurze Gnadenfrist. Kharec ließ die beiden Reiter, die zu ihrer Bewachung abgestellt waren, festnehmen und foltern. Sie gestanden die Tötungen, vermochten aber nicht zu sagen, wobei sie das Giftgold gehabt hatten. Sie wurden die ganze Nacht hindurch und auch noch am nächsten Tag weitergefoltert. Der Rankenmann stand ebenfalls unter Verdacht, war aber zu wertvoll, als daß man ihm hätte etwas antun können. Kharec war außer sich vor Wut und ließ ihn schließlich festnehmen. Man fädelte einen Rufgurt durch die Rebenstämme auf seinem Rücken und befestigte den Gurt mit einem Vorhängeschloß an einem Ringbolzen unten auf dem Hof, wo er nun die Stunden damit verbrachte, sich zu sonnen. Darien sah vom Fenster ihres Herbergszimmers aus zu, wie sie miteinander stritten und lauschte ganz genau auf die fernen Stimmen. »Es gefällt mir nicht, wenn Ihr während des Rufs frei seid«, sagte Khatec, während er auf dem leuchtend weißen Pflaster auf und ab ging. »Aber während eines Rufs bin ich der einzige, der sich frei bewegen kann. Wer soll sich denn jetzt in feindliche Festungen einschleichen und sie Euch öffnen? Wer soll denn nun Eure Männer retten, wenn die Sandankei ihrer Kamele bei einem Ruf versagen?« »Ihr vertraut zu sehr auf Euren Wert, Rankenmann. Diese Leute hier sind ängstlich wie die Hasen und werden sich leicht unterwerfen lassen. Und was die Rettungsaktionen bei einem Ruf angeht: Ich glaube, die Männer verlassen sich längst viel zu sehr auf Euch. Daß Ihr eingesperrt seid, wird sie dazu bringen, ihre Sandanker und Zeitschalter besser instand zu halten.« Er sagte das mit lauter Stimme: Seine Worte waren ebenso für die Ohren seiner Reiter bestimmt wie für die des Rankenmannes. - 80 Nun konnte der Rankenmann den Hof nur verlassen, wenn er entweder die Ranken seines Anzugs zerrissen oder ihn aufgeschnürt und ausgezogen hätte. Tat er eins von beidem bei einem Ruf, war er ebenso anfällig wie jeder andere Sterbliche. Darien trat vom Fenster zurück und legte sich aufs Bett, aber auch dort klangen die Stimmen über das leise Brausen des Wüstenwinds zu ihr hinauf. »Wenn ich für Euch wertlos bin, warum behaltet Ihr mich dann?« fragte die gedämpfte Stimme des Rankenmanns ganz ruhig. »Soll ich Euch töten, auch wenn Ihr womöglich unschuldig seid? Jetzt bin ich aber tief gekränkt, Rankenmann. Ihr steht unter Verdacht, nicht mehr und nicht weniger. Ich bin ein anständiger und gerechter Führer.« »Und außerdem könnt Ihr, wenn Ihr Euch meiner bedient, jede beliebige Festung einnehmen, ohne dabei auch nur einen einzigen Mann zu verlieren oder Euer eigenes -« »Strapaziert meine Geduld nicht zu sehr, Rankenmann. Wir werden Euch nicht foltern, aber wir werden Euer Gepäck durchsuchen. Und wenn wir dabei unter Euren Bücherbündeln, Instrumenten und Düngemitteln auch Giftgold finden, dann -« Ein Ruf brach über die Bahnstation von Maralinga herein. Darien entkam dem Grauen ihrer Gefangenschaft, indem sie die Besinnung verlor, und kam wieder zu sich, die Hüftgegend wundgescheuert, weil sie sich gegen den angeschnallten Gurt gesträubt hatte. Draußen regten sich die Reiter und fluchten. Es war der erste Ruf gewesen, seit die Ghaner die Bahnstation überfallen hatten. »Hauptmann Kharec!« rief jemand. Dann riefen andere: »Er ist weg!« und »Sein Gurt muß gerissen sein!« Die gedämpfte Stimme des Rankenmanns bat um ihre Aufmerksamkeit. »Hört mir zu, hört mir genau zu! Der Hauptmann hatte sich nur nachlässig angeschnallt. Ich habe gesehen, wie sich sein Gurt gelöst hat, und dann ist er mit dem Ruf nach Süden gegangen.« »Aber Ihr hättet ihn aufhalten müssen!« schrie jemand.
»Er hat mich hier an eben den Ranken festschnallen lassen, die mich immun gegen den Ruf machen. Was hätte ich denn tun sollen?« Jetzt meldete sich Calderan zu Wort. »Geht zur Schutzmauer im Süden. Er wird in dem Unterstand stehengeblieben sein.« Drei Reiter liefen los, um Kharec zu holen. Sie kamen tief betrübt zurück. - 81 »Ein Kamel hat sich im Stall losgerissen und wurde dann in den Unterstand an der Schutzmauer geleitet«, wehklagte einer von ihnen. »Hauptmann Kharec muß auf den Rücken des Kamels gestiegen sein und von da aus aufs Dach des Unterstands. An det Stelle, wo er aufs Dach gestiegen und übet die Mauer gesprungen ist, sind die Ziegeln zerbrochen.« Nun übernahm Calderan das Kommando, der Rankenmann aber war der eigentliche Anführer. Er befahl, seinen Gurt zu kappen, und ließ dann die beiden gefolterten Wachen frei. Calderan war ein loyaler Mann und mit Leib und Seele Soldat, und in einer Frage blieb er eisern bei seiner Meinung: Kharec mußte gerettet werden. Und seltsamerweise schien der Rankenmann gern bereit, ihm dabei zu helfen. »Der Ruf hat eine Reichweite von zehn Kilometern, und sobald man in diesen Bereich hineingerät, erliegt man ihm. Ich bin der einzige, der Kharec retten kann.« »Ihr müßt sofort aufbrechen - nehmt einen Trupp von zehn Reitern und beeilt Euch -« »Nein! Wir sind hier in einem vollkommen fremden Land, und deshalb müssen wir unsere volle Stärke erhalten, wenn wir hier wieder aufbrechen. Heute nacht wird der Ruf innehalten. Wir werden auch nach Einbruch der Dunkelheit weiterreiten, bis wir den Rand der Rufzone erreichen, und dann werde ich alleine weitergehen.« »Aber vielleicht findet Ihr ihn in der Dunkelheit nicht in diesem großen Gebiet.« »Genau. Und deshalb müssen wir gemeinsam aufbrechen. Die Suche kann möglicherweise viele Tage und Nächte dauern und könnte auch gefährlich sein. Vielleicht werden wir nicht hierher zurückkehren können.« »Und was ist mit der stummen Frau?« »Was soll mit der sein?« »Die könnte für ihre Leute einen Bericht darüber schreiben, was hier passiert ist. Schickt jemanden zu ihr, der sie töten soll.« Seine Worte drangen Darien wie ein Messer durch die Brust, scharf wie die Klinge, die ihnen in wenigen Minuten folgen würde. Sie setzte sich auf, dachte nur noch daran, am Leben zu bleiben. Bald würde jemand kommen, und sie mußte fliehen, sich verstecken oder kämpfen. Sie konnte das Bett vor die Tür schieben und so ein wenig Zeit gewinnen. Sie würde sich nicht kampflos ergeben! Sie drehte sich zum Bett um - und da lagen ein Schlüssel und eine doppelläufige Steinschloßpistole! - 81 Schon als Darien nach der Waffe griff, wurde draußen der Riegel beiseitegezogen, und dann kam Offizier Yuragii herein. Er grinste anzüglich und raffte vorne schon sein Gewand. Darien verbarg die Waffe hinter ihrem Rücken und spannte nach einigem Gefummel beide Schlagbolzen. »Hab keine Angst, du weißt ja gar nicht, was für ein Glück du hast«, schmachtete er ihr entgegen. Das einzige, wovor ich Angst habe, ist der Rückstoß, entgegnete sie in Gedanken. Die Pistole hatte ein Kaliber von über einem Zentimeter, viel größer als jene, mit denen sie vor ihrer Ernennung zur Oberliber trainiert hatte. Mit einem Mal blickte der Offizier aufs Bett, wo immer noch der Schlüssel zu ihrem Haltegurt lag. In diesem Moment richtete sie mit beiden Händen die Waffe auf ihn und drückte ab. Nur ein Lauf ging los, aber Yuragii sank in einer Wolke von Pulverdampf langsam in sich zusammen. Die anderen hatten es nicht eilig heraufzukommen, dachten sie doch, es sei sein Schuß gewesen. Als Yuragii zu Boden sank, schnappte Darien sich den Schlüssel und war bald in einem sicheren Versteck irgendwo auf dem weitläufigen Gelände der Bahnstation. Von ihrem Versteck aus beobachtete Darien den Abzug der Reiter. Calderan ritt voran. Er hatte schreckliche Angst davor, die Verantwortung zu übernehmen, nachdem er sein ganzes Leben lang nur Befehle empfangen hatte. Makkigi wirkte verwirrt, seit er Kharec nicht mehr hatte, dem er
nachspionieren konnte. Sie zählte die Reiter: Es waren siebenunddreißig, und drei Kamele wurden geführt. Ein Blick durch ein Fernrohr zeigte ihr, daß zwei der Reiter unsicher ritten, offenbar die Wachen, die man gefoltert hatte ... und ein Reiter war natürlich nur eine Strohpuppe, die ein Gewand trug. Irgendwo auf dem Gelände der Bahnstation hatte sich ein Reiter versteckt, in dem Bewußtsein, daß sie gefährlich war. Er mußte ein erfahrener und rücksichtsloser Krieger sein, und er würde sie auf der Stelle erschießen, wenn er sie sah. Darien begann auf einem Bogen Pergamentpapier zu schreiben, und sie wählte ihre Worte mit Bedacht. Die ersten Zeilen waren an den möglichen Finder dieses Briefs gerichtet: »Im Auftrag der stellvertretenden Oberliber Darien vis Babessa, Libris in Rochester, soll diese Nachricht mit größter Dringlichkeit über Signalfeuer nach Rochester gesandt werden.« Darauf folgten einige Absätze mit verschlüsselten Weiterleitungsin - 82 formationen, dann eine gültige Autorisierungsnummer für den Signalfeuerverkehr. Danach tausend Worte in einem fein säuberlich niedergeschriebenen Kode, der jedem, der Zugriff auf den Kalkulor hatte, verständlich sein würde. In dieser Nacht schlich Darien hinaus zum Windlokomotivenschuppen. Die Bremsen der Rangierlok waren arretiert, und die Rotoren waren zusammengeklappt und drehten sich daher nicht in dem Wind, der durch den an beiden Enden offenstehenden Lokschuppen wehte. In völliger Finsternis arbeitend, richtete Darien zunächst ganz langsam die röhrenförmigen Rotoren zu voller Höhe auf und entriegelte sie. Der Wind brachte die Rotoren auf ein gutes Betriebstempo. Damit die Lok sicher auf den Gleisen blieb, band Darien ein dünnes Seil an einen Puffer und verband den Zeitschalter ihres Leibankers mit dem Schalthebel eines Rotors. Sie stellte den Zeitschalter auf kurz nach Sonnenaufgang und löste dann die Bremsen. Ehe sie von der Lokomotive herabstieg, band Darien noch mit knallrotem Band ihren Brief an den Hauptschalthebel. Wer als nächster das Führerhaus betrat, konnte ihn nicht übersehen. Dann legte sie sich in dem Bahnsteigkiosk auf die Lauer. Irgendwo auf der Bahnstation wartete ein versteckter Reitet darauf, daß sie sich blicken ließ. Sämtliche Lebensmittel waren fortgeräumt worden, wahrscheinlich in die diversen Küchen. Irgendwann würde sie etwas essen müssen, und der Soldat versteckte sich an irgendeinem Ort mit guter Aussicht und wartete. Der Himmel wurde heller. Neben Darien auf dem Boden lagen die Bahnsteigglocke und zwei langläufige Scharfschützenmusketen. Sonnenschein ergoß sich über den Horizont. Er würde jedem in die Augen scheinen, der der Rangierlok hinterherlief. Mit einem dumpfen, metallischen Laut gab der Zeitschalter den Schalthebel frei, der wiederum den vorderen Rotor in Betrieb setzte. Die Windlok riß das Seil durch, als der röhrenförmige Rotor die Räder antrieb und sich die Lok mit dumpfem Rattern in Bewegung setzte. Darien begann die Bahnsteigglocke zu läuten, hörte aber wieder damit auf, als die Rangierlok über die Weiche und dann in Richtung Osten auf das Hauptgleis ratterte. In der Ferne sah sie den Reiter aus dem Eingang der Station hasten und dann quer über den Rangierbahnhof laufen, mit flatterndem Gewand und die Muskete hoch erhoben, wenn er über die Gleise sprang. Für den Ghaner war alles ganz einfach. Die Lok fuhr davon, also versuchte Darien offenbar, darauf zu fliehen. Glücklicherweise fuhr sie so - 82 langsam, daß ein Mann sie zu Fuß einholen konnte. Frauen waren so einfache Gegner, sagte er keuchend und voller Genugtuung zu sich selbst; sie hatten keine Ahnung von Taktik und waren leicht zu durchschauen. Darien wartete, bis er noch zehn Meter entfernt war, und drückte ab. Als der Wind den Rauch vertrieben hatte, lag er ausgestreckt auf dem rötlichen Sand. Sie nahm die zweite Muskete und zielte damit auf seinen Kopf, vor Abscheu bebend bei dem Gedanken, auf einen Toten zu schießen, aber dennoch ... Klick-Bumm! Darien trat aus dem Kiosk, die doppelläufige rote Steinschloßmuskete des Rankenmannes in Händen, und näherte sich der Leiche. Die rechte Seite seines Kopfes war eine einzige blutige Wunde; er war auf jeden Fall tot. Sie drehte die Leiche um. Da war keine weitere Wunde, ihr erster
Schuß hatte ihn verfehlt! Laute Schluchzer raubten Dariens Selbstbeherrschung, und sie sank auf Hände und Knie. Ihre Tränen hinterließen dunkle Krater in einer puderfeinen rötlichen Sandwehe. Die Windlok rumpelte in der Ferne davon, und Darien unternahm keinen Versuch, sie aufzuhalten. Bei sehr günstigen Winden und ohne Waggons nahm sie schnell Fahrt auf und brauste schon drei Stunden später durch Irmana. Der diensthabende Weichensteller bemerkte erst als es schon zu spät war, daß niemand auf der Lok fuhr, und sie ließ sich nicht aufhalten. Der Weichensteller in Jumel wurde ebenfalls überrumpelt, aber von dort bestand eine Signalfeuerverbindung zur nächsten Bahnstation. In Warrion standen sie bereit, als die Ausreißerin eintraf. Der Weichensteller schob eine Eisenstange in eine Nut neben dem Gleis, und gut einen Kilometer weiter die Strecke hinab stand ein Lokführer bereit. Die Lok raste aus dem Westen heran, und der Notbremshebel rammte die neben dem Gleis aufragende Eisenstange. Hartholzklötze wurden herabgeklappt, um die hinteren Räder zu blockieren, aber die Lok fuhr so schnell, daß die Holzklötze durch die Reibung zu rauchen begannen und in Brand gerieten. Einen Kilometer später hatte sich die Lok auf Schrittgeschwindigkeit verlangsamt, während sich die Rotoren immer noch rasend schnell drehten und Rauch von ihren Rädern aufstieg. Der Lokführer lief neben dem Gleis her und schwang sich dann mühelos an Bord. Als er die Rotoren abkuppelte, bemerkte er den Brief, der dort mit rotem Band festgebunden war, und während er dann mit der Lok auf ein Nebengleis des Bahnhofs fuhr, las er Dariens Anweisungen. Da Warrion an das eben erst ausgebaute Signalfeuer-Netzwerk ange - 83 schlossen war, dauerte es nur Minuten, bis die ersten Sätze von Dariens Nachricht an die Zentrale in Woomera weitergeleitet wurden. Die Nachricht ging über die Signalfeuerplattformen der Türme, bei deren Bau Darien mitgeholfen hatte, dann überquerte ihre Kopfzeile in Renmark die Grenze zur Südostallianz und blitzte weiter ostwärts über das Weideland und die Eukalyptuswälder bis zum Turm von Rochestet. Hier sorgte einer von Dariens Kodes dafür, daß die Nachricht sofort in den Kalkulor eingespeist wurde. Die Nachricht wurde entschlüsselt, und schon bald schickte ein erstaunter Operator einen Alarm ins Arbeitszimmer der Hoheliber. Als Zarvora die ersten entschlüsselten Worte las, befand sich gerade der ostwärts verkehrende Schnellzug in der Anfahrt auf Maralinga, und Darien machte sich bereit, ihn durch Winken anzuhalten. Unter den Fahrgästen waren auch zehn Musketiere der Reserve, und sie blieben mit ihr dort, um die Bahnstation zu sichern, während der Schnellzug weiterfuhr, um Hilfe zu holen. Drei Tage später traf diese Hilfe in Form eines Windzugs aus Woomera ein, der zwölf Dutzend weitere Musketiere und zwanzig Reiter brachte. Und vor allem brachte er auch sechs Halbterrier, die so klein waren, daß der Ruf ihnen nichts anhaben konnte. Die Hunde waren darauf dressiert, alles anzugreifen, was sich nicht blindlings mühte, dem Ruf zu folgen, wie beispielsweise Ratten, die gelernt hatten, wann Menschen hilflos waren. Nun hatte der Rankenmann während eines Rufs die Welt nicht mehr für sich ganz allein, und wenn es auch nur einem der Hunde gelang, ein Loch in seinen Anzug zu reißen, wäre das sein Ende. Die Halbterrier wurden zu der Stelle geführt, an der der Rankenmann immer in der Sonne gesessen hatte, und prägten sich schnell seinen Geruch ein. - 83 5 KODE Während Dariens Nachricht nach Osten weitergeleitet wurde, begann im Südwesten, in dem zum Zentralbund gehörenden Marktflecken Canowindra, eine andere Nachricht ihre Reise auf den Strahlen des Signalfeuernetzes. Ursprünglich war es nur eine Zahlentabelle, ein Protokoll des Signalfeuerverkehrs am Endturm von Canowindra. Ein Schreiber verschlüsselte mit Hilfe eines Kodebuchs die Angaben und reichte die entsprechende Schiefertafel an den Übertragungschef weiter, der sie auf die Signalfeuerplattform an der Spitze des Turms brachte. Dort überprüfte er die Verschlüsselung, teilte die Nachricht in zehn Datenpakete auf, berechnete für jedes Paket eine Prüfsumme und gab die Schiefertafel dann an den Überträger weiter.
Der Überträger sah durch ein großes Fernrohr, das nach Osten, auf den hundert Kilometer entfernten Repetierturm von Wirrinya gerichtet war. Er betätigte eine Taste: zwei lange Blitze, dann zwei kurze. Ein Hohlspiegel auf dem Dach leitete das Sonnenlicht durch eine Reihe von Linsen zu den Klappen, die mit der Taste verbunden waren. Der aufblitzende Lichtstrahl schoß über die Märkte der Stadt hinweg, über die befestigten Stadtmauern, über einige verstreute Gemüsegärten und über die sanften, mit dichtem, olivgrünem Eukalyptuswald bewachsenen Hügel - hin zu dem 180 Meter hohen Turm von Wirrinya. Der Empfänger in Wirrinya bemerkte das ABFRAGE-Signal aus Canowindra und wies den nach Osten gewandten Überträger an, den BEREIT-Kode zu senden. Der Überträger in Canowindra sah den schwachen, fokussierten Blitz im blauen Dunst am Horizont, und erst jetzt begann er die verschlüsselte Tabelle mit Hilfe von Lichtblitzen zu senden. Einige hundert Kilometer weiter südlich saß Lemorel Milderellen mit John Glasken im Kreuzgang der Universität von Rochester. Lemorel war blaß im Gesicht und hielt beklommen Glaskens große, kräftige Hände. Hätte Lemorel zweitausend Jahre früher gelebt, so wäre sie Doktoran - 84 din der Informatik gewesen, doch im Jahre 1699 nach dem Großen Winter befaßte sich ihre Dissertation mit empirischer Philosophie. Ihr Thema war die Gestalt und die Bewegungen des immateriellen Lockmittels, das als Ruf bezeichnet wurde. Und diese Bewegungen wurden vom Netzwerk der Signalfeuer-Leuchttürme gemessen und gemeldet. »Die statistische Auswertung des Signalfeuerverkehrs müßte ungefähr jetzt eintreffen«, sagte sie mit leiser, entschuldigender Stimme. »Und wenn die Zahlen von den Mittelwerten abweichen, muß ich den Oberdrachen persönlich sprechen.« »Und wovor fürchtest du dich?« fragte Glasken teilnahmslos. »Die Diener der Hoheliber haben jeden Tag mit ihr zu tun.« »Aber nicht aus Gründen, die mich womöglich dazu bringen werden, sie um etwas zu ersuchen. Ich bin nur eine Studentin, die etwas erforscht, aber meine Forschungen führen mich in die internationale Politik. Wie ich das hasse! Ich wünschte, ich hätte deine Entschlossenheit und dein Selbstverttauen, Johnny. Du bist es, der zu ihr gehen sollte.« »Lern, wenn du so viele Gerichtsverfahren auf dem Buckel hättest wie ich, wärst du auch selbstbewußter. Komm, ich begleite dich noch ein Stück.« Lemorel kam es so vor, als ob er immer das Richtige sagte, und sie fühlte sich schon viel stärker, wenn sie nur mit ihm zusammen war. Sie standen auf und schlenderten den Kreuzgang hinab. Glasken gab eine bemerkenswerte Figur ab, groß, stark und nach der neusten Mode gekleidet - mit einer blauen Hemdbluse, einem Hosenbeutel aus Opossumfell und einem schwarzen Umhang. Er war eine begehrenswerte Beute für jede Frau, und Lemorel konnte ihr Glück kaum fassen, daß sie ihn erobert hatte. »Jetzt werde ich deine Abschlußfeier verpassen«, sagte sie traurig. »Es tut mir leid. Ich muß um zehn dort sein, und vielleicht läßt Hoheliber Zarvora mich bis zum Abend warten. Wo geht ihr hin?« »Ach, Lern, meine Freunde wollen mir nicht verraten, wohin wir gehen. Ich kann's dir nicht sagen, ich weiß es selber nicht.« »Na, wenigstens konnte ich an deiner Verleihungsfeier teilnehmen. Jetzt bist du also schon seit einer Stunde John Glasken, Magister der Chemie. Wie fühlt sich das an?« »Längst nicht so gut wie mit dir zusammen zu sein.« Sie küßten einander inniglich, und dann schlenderte sie durch die Gärten der Universität davon, vorbei an Gittern, die mit blühendem - 84 Geißblatt und Jasmin bewachsen waren, eine kleine Gestalt in der neuen schwarzen Uniform von Libris. Ein blaues Band oben an ihrem Ärmel zeigte an, daß ihre provisorische Beförderung bestätigt worden war.
Der Repetierturm von Wirrinya sandte die Nachricht über 84 Kilometer in südöstliche Richtung an den Repetierturm von Tallimba weiter. Unter dem Pfad, den das Signal nahm, liefen die sanften Hügel in eine Ebene aus, und die Eukalyptuswälder wurden spärlicher, während allmählich trockenes, mit Strauchwerk bewachsenes Grasland begann. Weitere 85 Kilometer über ein immer stärker besiedeltes und bewässertes Gebiet hinweg, und die Lichtblitze erreichten den großen Signalfeuerknoten von Griffith. Das Netzwerk der Fernmeldetürme spielte für den Wohlstand des Zentralbunds eine entscheidende Rolle. Die 35 Staaten dieses Bundes waren über ein riesiges, trockenes Gebiet verstreut, und daher war alles, was die Notwendigkeit von Reisen verringerte, ein Segen. Warum sollte man Vieh, Gold, Dönobst oder Reis zwischen weit auseinanderliegenden Zentren hin und her transportieren, wenn sich über Lichtstrahlen mit Soll und Haben jonglieren ließ? Außerdem erschwerte der Ruf sehr das Überlandtreiben von Viehherden. Seine rätselhafte Verlockung zog in halbwegs regelmäßigen Abständen übers Land und riß Herden und Hirten mit sich fort. Da war es doch besser, Vieh und Waren nur dann auf die Reise zu bringen, wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ. Die Signalfeuertürme halfen auch bei der Rufvorhersage. Wenn ein Überträger aufhörte, regelmäßige Abfrageblitze zu senden, wußte der Empfänger des nächstgelegenen Turms, daß ein Ruf im Anzug war. Eine Glocke wurde geläutet, und alle, die es hörten, schnallten sich an. Acht große Signalfeuerlinien liefen auf der Plattform des Turms von Griffith zusammen. Für jede Linie gab es einen diensthabenden Aufsichtsbeamten, und der für die Canowindra-Linie zuständige betrachtete nun die verschlüsselte Botschaft auf der Schiefertafel des Empfängers, während dieser sie abschrieb. »Zur Abwechslung passen die Prüfsummen mal zu den Nachrichtenpaketen«, bemerkte er mit gespieltem Erstaunen. »Seid nicht unfair, die kriegen das meistens schon hin«, entgegnete der Empfänger. »Dennoch ist die Fehlerquote auf der Canowindra-Linie immer noch viermal so hoch wie im Durchschnitt der Türme des Zentralbunds. Da - 85 sollte es mal Ermittlungen geben. Einige Leute verdienen da einen Tritt in den Arsch.« »Und? Wird das je passieren?« »Wartet meinen Jahresbericht ab. Es wird drastische Veränderungen geben.« Er vermerkte die Nachricht in seinem Logbuch und gab die Schiefertafel dann an den Überträger der Rochester-Linie weiter. Von Griffith aus wanderte das Signal weiter nach Süden, über die mit gelben Kacheln gedeckten Dächer der wohlhabenden Stadt, über flaches Weideland und angeleinte Schafherden in der Obhut angeleinter Schafhirten, hin zum Fluß, der die Grenze zu einem südmaurischen Emirat markierte. Es überquerte die mit Gras bewachsenen Ebenen, auf denen verstreut die Zelte, Schafe, Esel und Kamele von südmaurischen Nomaden zu sehen waren, bis es dann eine kleine, abgelegene Enklave Rochesters erreichte. Der Repetierturm von Darlington stand 82 Kilometer von Griffith entfernt auf einem Grundstück von knapp zweieinhalb Quadratkilometer Größe. Die Südmauren gehörten einer islamischen Religionsgemeinschaft an, die - unter anderem - den Gebrauch der Signalfeuertechnik verbot. Ein solches Lichtsignal konnte die Zone eines Rufs durchdringen, ohne davon beeinflußt zu werden, und da man annahm, daß der Ruf gottgesandt war, handelte es sich dabei womöglich um eine Blasphemie. Der Emir von Cowra hatte aber dennoch ein kleines Grundstück auf seinem Staatsgebiet an Rochester verpachtet, damit dort, in Darlington, ein Repetierturm errichtet werden konnte, und zog einem reinen Gewissen das Gold des Bürgermeisters von Rochester vor. In Darlington notierte der Empfänger die Nachricht auf seiner Schiefertafel und entschlüsselte sie dabei bereits im Kopf. Mit einem Lächeln bemerkte er die korrekten Prüfsummen, entrollte dann eine eigene Tabelle und überprüfte die Zahlenangaben. Er schüttelte den Kopf. Das war auf keinen Fall für die Augen von Rochester bestimmt, beschloß er. Für seine Änderungen brauchte er nicht lange, und bald darauf wurde die abgeänderte Nachricht über weitere neunzig Kilometer trockenes und flaches südmaurisches Grasland hinweg zum Grenzturm von Deniliquin gesandt.
In der Zeit, die das Signal von Wirrinya nach Deniliquin brauchte, ging Lemorel über die unebenen Kopfsteinpflasterstraßen von Rochester von - 86 der Universität nach Libris. Deniliquin befand sich an der Grenze des Stadtstaates Rochester, und ein letzter Sprung von 93 Kilometern trug das Signal über ausgedehnte Eukalyptuswälder hinweg zum Signalfeuerturm von Rochester City. Auf der Plattform des Turms von Rochester speiste ein Sender-Empfänger Sonnenlichtimpulse in ein Spiegelsystem im Turminnern und sandte sie damit in den Signalfeuerempfangsraum. Dort notierte ein Schreiber die verschlüsselte Nachricht auf Schiefertafeln, schrieb auch die Weiterleitungsinformationen auf und reichte die Tafeln dann an einen Rotdrachenbibliothekar weiter. Dieser Rotdrache tippte die Nachricht ein, es ertönte das leise Klappern filzgedämpfter Coachwoodtasten, und jenseits dieser Klaviatur entschlüsselte und speicherte der Kalkulor die Tabelle, die keine Stunde zuvor fast 530 Kilometer entfernt ihre Reise begonnen hatte. Einige weitere Minuten vergingen; dann begann eine Batterie mechanischer Hennen Lochmuster in einen Papierstreifen zu picken, der unter ihren Schnäbeln hindurchgezogen wurde. Lemorel stand daneben und las aus den Lochmustern die Werte ab. Wie sie vermutet hatte, konnten diese Daten unmöglich stimmen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie mußte die Hoheliber darauf ansprechen. »Die statistischen Daten über den Signalfeuerverkehr sind manipuliert worden«, beharrte Lemorel ängstlich, aber dennoch tapfer, und sagte sich, daß John Glasken genauso gehandelt hätte. Sie reichte Hoheliber Zarvora ein Bündel Papiere. »Ich muß nach Griffith reisen, um die dortigen Signalfeuerverkehrsregister einzusehen. Unterwegs könnte ich auch den Turm von Darlington überprüfen.« »Eine Reise nach Darlington werde ich nicht genehmigen«, entgegnete die Hoheliber. »Unsere Stellung dort ist schon prekär genug. Und was Ihr zum Thema Griffith vorschlagt, ist fast ebenso abwegig. Es hat uns Jahre gekostet, die Überträgergilde davon zu überzeugen, daß das Netzwerk von Rochester ausschließlich von Drachenbibliothekaren geleitet werden kann. Wenn Ihr nun dort aufkreuzt und denen unterstellt, daß sie keine Ahnung haben, wie man ein Signalfeuernetzwerk betreibt, werden sie wahrscheinlich die Verbindung von Griffith nach Rochester kurz entschlossen kappen.« Es war ein gewagter Versuch gewesen. Die Hoheliber würde keine religiös motivierten Ausschreitungen oder diplomatischen Zwischenfälle - 86 riskieren, indem sie einer Studentin gestattete, Elefant im Porzellanladen zu spielen. Das Gespräch fand in Zarvoras Arbeitszimmer statt, wo die Hoheliber über ein persönliches Terminal zum Kalkulor verfügte. Dutzende kleine Metallgesichter schienen Lemorel von den Regalen herab anzugrinsen, während sie dort saß und ihr Anliegen vertrat. »Hoheliber, da draußen manipuliert irgend jemand Signalfeuerverkehrsdaten - Daten, die ich für meine Dissertation über den Ruf brauche. Wie kann ich Euch bloß überzeugen?« »Ihr braucht mich nicht zu überzeugen, Frelle Lemorel, ich bin ganz Eurer Meinung«, sagte Zarvora, und Lemorel sah sie nun zum allerersten Mal lächeln. »Als ich Eure schriftliche Eingabe bekommen habe, habe ich selbst mit Hilfe des Kalkulors einige Nachforschungen angestellt. Und ich bin ebenfalls auf Anomalien gestoßen.« »Mit Hilfe des Kalkulors?« »Ja. Wozu Ihr Monate gebraucht habt, das habe ich an einem Vormittag festgestellt - Moment mal.« Ein Kaninchen hatte ein rotes Fähnchen gehoben, und der Fuchs daneben hatte eine Glocke geläutet. Die Hoheliber begann auf ihrer Klaviatur zu klimpern. Lemorel hatte noch nie unbeschränkten Zugriff auf die Riesenmaschine gehabt. Was für eine Rechenleistung! dachte Lemorel sehnsüchtig. Wenn sie die Zugriffsrechte der Hoheliber gehabt hätte, hätte sie die Rätsel rund um die Netzwerkdaten lösen können, ohne Rochester zu verlassen.
Ganz unvermittelt spuckte der Kalkulor etliche Zeilen einer unverschlüsselten Nachricht auf die über den Tasten angebrachten Binärwalzen. Ein Teil der Nachricht entging Lemorel, aber nicht das Wichtigste: / BAHNSTATION MARALINGA WÄHREND - WIEDERHOLE WÄHREND - EINES RUFS EROBERT. BAHNSTATION ZURÜCKEROBERT. ERBITTE ANWEISUNGEN. / Der Hoheliber verschlug es den Atem, und dann betätigte sie schnell den RESET-Hebel, um die Anzeigewalzen wieder auf Null zu stellen. »Ich muß sofort zu einer Reise aufbrechen«, sagte sie, drückte auf den BEENDEN-Schalter und wandte sich dann an Lemorel. »Schreibt den Rest Eurer Aussage zum Signalfeuerproblem nieder. Ihr findet dann ja auch alleine hinaus. Ich werde der Wache sagen, daß Ihr so lange wie nötig hier drin bleiben dürft.« - i87 Dann war sie in einem Aufwirbeln schwarzer Gewänder verschwunden, knallte die Tür hinter sich zu und rief auf dem Korridor nach ihrem Diener. Lemorel ging die kurze Nachricht auf den Anzeigewalzen nicht aus dem Sinn. Ein Bahnvorposten war während eines Rufs erobert worden. Das war unmöglich ... und wenn auch nicht unmöglich, so doch kaum zu glauben. Menschen, die sich während eines Rufs ungehindert bewegen konnten, waren in der Lage, die ganze Welt zu erobern. Kein Wunder, daß die Hoheliber sofort losgestürzt war, um sich persönlich um die Sache zu kümmern. Lemorel stand auf, ging einen Schritt auf den Schreibtisch zu und blieb dann unvermittelt stehen. Der mechanische Bär über dem BEENDEN-Schalter hatte immer noch sein Fähnchen erhoben. Die Hoheliber hatte nicht fest genug auf den Schalter gedrückt, und ihre Verbindung zum Kalkulor stand nach wie vor. Lemorel spürte, wie die Gier sie packte. Das hier war ein Glas kühles Bier, das einem dürstenden Säufer hingehalten wurde - ein unbewachter Goldroyalhaufen, der sich einem Dieb darbot. Indem sie den Kalkulor nutzte, hatte die Hoheliber Lemorels Arbeit von Monaten binnen Stunden nachvollzogen. Das war nicht fair. Langsam ging Lemorel zu der Klaviatur hinüber und fuhr mit den Fingern über die mit Intarsien und Aufschriften versehenen Tasten. Sich am Kalkulor zu schaffen zu machen, darauf stand die Todesstrafe, und niemand wußte das besser als Lemorel. Ein Zucken freudiger Erregung durchlief ihren ganzen Leib, als sie dort stand und den kleinen mechanischen Bären anstaunte, der immer noch das mit AKTIV beschriftete Fähnchen emporhielt. Die Hoheliber würde einige Tage lang fortbleiben - mindestens. Es war wie damals, als Brunthorp sie verführt hatte: eine überwältigende Versuchung mit fatalen Folgen, falls irgend jemand davon erfuhr, doch dann zog ein kleiner Schritt den nächsten nach sich, und ehe sie sich versah, war es geschehen. Die Verbindung der Hoheliber zum Kalkulor war immer noch aktiv, und die Hoheliber hatte beim Kalkulor höchste Priorität. Lemorel ließ sich auf dem Stuhl vor der Konsole nieder, bebend vor Begeisterung darüber, daß sie den Drachen beim Schwanz gepackt hielt. Es wäre ihre Pflicht gewesen, die Verbindung der Hoheliber zu beenden, aber ... Dann tippte sie - zunächst nur mit einem Finger: / INHALT REGISTER / - 87 Die Anzeigewalzen der Konsole fragten ratternd nach einer Adresse. / DENILIQUIN / TEXT / ANFORDERUNG PRÜFSUMMENFEHLERLOGDATEI DER VERGANGENEN WOCHE / Ihr Finger hielt einen Moment lang über der EINGABE-Taste inne; dann betätigte sie sie mit leisem Klacken. Der Kalkulor begann, ihren Befehl in verschlüsselten Kode umzusetzen und schickte ihn dann den Signalfeuerturm hinauf. Nur Augenblicke später griff der Empfänger auf dem Turm von Deniliquin nach seinem Kodebuch. Das reicht bereits, damit ich hingerichtet werde, dachte Lemorel grimmig. Aber was konnten sie ihr schon mehr antun, als sie zu erschießen? Sie betrachtete eine Karte des Signalfeuernetzwerks, bis mit einem Rattern der binären Anzeigewalzen die Antwort aus Deniliquin eintraf. Sie verglich die Zahlen mit ihren Aufzeichnungen. Sie stimmten überein.
Nun machten sich allmählich doch ihre Nerven bemerkbar. Sie riskierte hier ihr Leben, um Nachforschungen anzustellen, die sie etwas langsamer auch über offizielle Kanäle anstellen konnte. Was sollte das? Wenn mein Johnny sein Leben aufs Spiel setzen würde, dann nur aus einem vernünftigen Grund heraus, sagte sie sich. Sie rang aufwallende Panik nieder, während sie eine Klartextanforderung an den Knoten von Griffith eintippte. Wiederum legte man ihr Statistiken vor, über die sie bereits verfügte. Noch ein Versuch, dann würde sie es aufgeben. Sie wiederholte ihre Anforderung an Griffith, diesmal aber in einem selten verwandten Kode und mit der Aufforderung, die Antwort im gleichen Kode zu verschlüsseln. Als der Kalkulor die Antwort entschlüsselt hatte, tauchten diesmal ganz andere Zahlen auf dem Lochstreifen auf. Lemorel sah sich die Prüfsummenfehlerquoten an und verglich sie dann mit ihrer Hochrechnung. Die Werte entsprachen einander: Die Anomalie löste sich in Wohlgefallen auf. Sie schaute noch einmal auf die Landkarte. Zwischen Griffith und dem sicheren Teil des Netzwerks stand nur der Repetiettuim von Darlington. Irgend jemand dort machte sich an den Statistiken zu schaffen. Was manipulierte er darüber hinaus noch? Er. Die Besatzung des Turms von Darlington bestand ausschließlich aus Männern: Das war im Vertrag mit dem Südmaurenreich so festgelegt. Und noch während sie sich den Kopf kratzte, sprang die Lochstreifenstanze wieder an. Es war ein Zusatz zu der eben empfangenen Nachricht, - 88 der ihr mitteilte, daß es einen Übertragungsfehler gegeben habe, und ihr als Korrektur die alten, anormalen Werte lieferte. »Netter Versuch«, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen und ächzte dann. Die hatten in Darlington kein Kodebuch, denn es war ja nur ein Repetierturm! Die verschlüsselte Nachricht mußte innerhalb von vier bis fünf Minuten entschlüsselt und aufs Neue verschlüsselt werden. Dazu war kein Mensch in der Lage, das konnte nur der Kalkulor ... nein, nur ein Kalkulor konnte das. Ein weiterer Kalkulor, und das an einem Ort, an dem man nur zweimal pro Jahr Inspektionen durchführen konnte! Sie hatte kaum eine Stunde lang daran gearbeitet - und was war das für eine Entdeckung! 183 Kilometer weiter nördlich gab es einen zweiten Kalkulor, und er wurde dazu genutzt, Nachrichten zu filtern, die nach Rochester weitergeleitet wurden. Aber warum? Sie überflog die Werte der sieben Linien, die in Griffith aufeinandertrafen, und entdeckte sofort die Anomalie. Auf der nach Osten verlaufenden Linie war die Quote der Prüfsummenfehler erstaunlich hoch. Der Operator von Darlington war jetzt auf sie aufmerksam geworden, und sie würde keine weitere Nachricht mehr an ihm vorbeischmuggeln können. Jedenfalls nicht auf die bisherige Weise. Lemorel stellte eine Anforderung zusammen, in der jeder dritte Buchstabe fehlte, ließ den Kalkulor diese Anforderung als Köder verschlüsseln und schickte dann einen Zusatz mit höherer Priorität hinterher. Die Anforderung betraf einen Auszug aus der Nachrichtenlogdatei der Endstation von Canowindra. Diesmal mußte sie viel länger auf Antwort warten. Sie konnte die Verbindung zwischendurch nicht beenden, da sie das Kennwort der Hoheliber nicht kannte. Eine halbe Stunde verging, dann eine Stunde. Lemorel las in den Kalkulor-Bedienungsanleitungen der Hoheliber. Als anderthalb Stunden vergangen waren, bediente sie sich bei dem Gebäck und dem kalten Kaffee in der kleinen Teeküche des Arbeitszimmers und stellte mit dem Kalkulor dann ein paar Datenverschlüsselungsübungen an. Nachdem zwei Stunden vergangen waren, wurde Lemorel allmählich unruhig und sah in der Logdatei des nachmittäglichen Datenverkehrs nach. Alles wirkte normal. Der Operator des Kalkulors von Darlington würde die dortige Maschine dazu nutzen, den Kode von Lemorels Nachrichtenzusatz zu knacken, ohne zu bemerken, daß es sich dabei nur um nutzlose Korrek - 88 turen handelte. Die große Uhr des Signalfeuerturms schlug halb fünf. Der abendliche Signalfeuerverkehr würde nun seinen Höhepunkt erreichen, während die Nutzer versuchten, vor Sonnenuntergang noch möglichst viel zu erledigen. Lemorel verfaßte noch eine weitere
zweigeteilte Nachricht, diesmal an Griffith gerichtet, und schickte sie hinaus in den spätnachmittäglichen Datenstrom. In Griffith würde man die Nachricht mit ihrem Zusatz vergleichen und feststellen, daß es sich um einen Zusatz handelte, der nach Canowindra gesandt werden sollte. Bei dem großen Datenaufkommen würde sich ihr Gegenspieler in Darlington vielleicht nicht die Mühe machen, alles bis ins kleinste Detail zu überprüfen. Die Antwort kam nach vierzig Minuten. Die Zahlen in ihrer rohen Form bedeuteten nichts, aber nachdem Lemorel ein paar Tasten betätigt hatte, begann der Kalkulor, sie mit seinen eigenen Aufzeichnungen zu vergleichen. Und das war eine aufschlußreiche Lektüre: Jede Nachricht der vergangenen fünf Wochen, die etwas mit Truppenbewegungen oder dem Transport strategisch wichtiger Güter zu tun gehabt hatte, war zur Überprüfung nach Canowindra zurückgesandt worden. Und nicht nur das: Es hatte auch die Anweisung gegeben, daß alle Zusätze im Köderkode versandt werden sollten. Und diese Rücksendungen hatte man Rochester natürlich nicht gemeldet. Lemorel überflog ihre Notizen und aß dabei ein Stück Shortbread. Sämtliche Berichte über Truppenbewegungen waren abgeändert worden. Sie sah sich die Liste der Hoheliber mit den Befehlen für den Kalkulor an und kämpfte sich dann bis zu den Optionen vor, die mit dem Vermerk MILITÄRISCH versehen waren. Es gab etliche Programme, die Schätzungen von Truppenbewegungen durchführten, indem sie andere Faktoren korrelierten, etwa die Requisition von Vorräten, Reisebeschränkungen und fehlende Marktdaten von bestimmten Orten. Lemorel ließ drei derartige Programme ablaufen, aber es wurden keine Warnungen oder Alarme ausgelöst. Es war klar, was daraus zu schließen war. Truppenbewegungen im Südmaurenreich wurden von irgend jemanden in Darlington verschleiert. Warum? Vielleicht zog der Emir von Cowra eine Armee zusammen, um die Grenzforts der Allianz von Süden aus überraschend anzugreifen. Vielleicht waren die Armeen des Südmaurenreichs bereits an der Grenze aufmarschiert, um die Streitkräfte der Allianz zu überwältigen, während die Hoheliber fort war. Hatte man die Hoheliber mit einem Trick dazu gebracht abzureisen? — 89 Lemorel konnte vor der drohenden Kriegsgefahr nur warnen, indem sie offenlegte, wie sie davon erfahren hatte — und dann würde man sie hinrichten lassen. Aber dennoch schien diese Sache bedeutsamer als das Leben eines einzelnen Menschen, dachte sie, während sie direkt aus der Tasse der Hoheliber kalten Kaffee trank. Krieg. Dann mußte ihr Liebster fort in die Schlacht. Was würde Johnny an meiner Stelle tun? fragte sie sich. Und dann erinnerte sie sich an einen Ratschlag, den er ihr einmal gegeben hatte: Gib dich niemals einem Problem geschlagen, auch wenn du die ganze Nacht daran arbeiten mußt. Nun, was für ihn galt, konnte auch für sie gelten. Die Aufzeichnungen wurden in Darlington abgeändert. Und Darlington forderte aus Canowindra doppelt verschlüsselte Nachsendungen von Aufzeichnungen an. Das paßte nicht zueinander. Warum korrekte Informationen anfordern, wenn man sie ja doch abänderte? Lemorel betrachtete noch einmal die Landkarte. Die Linie nach Osten war ganz simpel: Vom Knoten in Griffith verlief sie über die Repetiertürme in Tallimba und Wirrinya bis zur Endstation in Canowindra. Von dem Turm von Canowindra wußte man, daß es dort ein Überwachungskorps gab, das im Sold des Bürgermeisters stand, ein Korps, das Daten über Truppenbewegungen im Südmaurenreich lieferte. Und der Operator des Kalkulors von Darlington achtete sehr darauf, daß er korrekte Daten an diesen beiden Repetiertürmen vorbeibekam. Warum? Die Bleiglasfenster erglühten rot im Sonnenuntergang. Das bedeutete das Ende der Heliostatübertragungen mittels der Signalfeuereinrichtungen. Von nun an waren kostspielige Fackeln vonnöten, und die Inanspruchnahme von Fackeln wurde vermerkt. Sie konnte nicht mehr weitermachen, obwohl sie ihrem Ziel so nahe war. Wenn der Mond fast voll war, konnte man die Signalfeuer jedoch weiterhin nutzen, ohne auf Fackeln zurückgreifen zu müssen, wenn auch mit geringerer Übertragungsgeschwindigkeit. Lemorel sah im Kalender nach. Es war ein Tag vor Vollmond! Sie zog sich auf die Privattoilette der Hoheliber zurück und nahm den Kalender mit. In einer halben Stunde würde der Mond hoch genug stehen, um mit den Übertragungen wieder beginnen zu können.
Als sie an die Konsole zurückkehrte, war es im Zimmer so dunkel, daß sie eine Lampe anzünden mußte. Heute war der Tag von John Glaskens Abschlußfeier. Seine Freunde feierten nun mit ihm an einem Ort, den sie ihm zuvor nicht verraten hatten. Lemorel fühlte sich mit einem Mal - 90 einsam, wäre sehr gern bei ihm gewesen. Ausgerechnet an diesem Tag hätte sie unbedingt bei ihm sein sollen! Sie starrte auf die weißen und schwarzen Tasten ... Tasten der Macht! Tasten, mit denen sie den Schwarzen befehlen konnte, einen Studenten namens John Glasken zu finden. Mit einem Kribbeln der Aufregung rief sie die Funktion POLIZEI auf. / LOKALISIERUNG: JOHN GLASKEN / STUDENT DER CHEMIE / UNIVERSITÄT ROCHESTER / NUR STATUSBERICHT / Sie würden ihn wahrscheinlich binnen einer Stunde finden; und dann würde sie ihm einen verschlossenen Umschlag mit einer Grußkarte überbringen lassen. Sie zappelte vor Freude, als sie sich sein Erstaunen ausmalte. Während sie weiter wartete, sah sich Lemorel die Privatbibliothek der Hoheliber etwas genauer an. Hier gab es Aufzeichnungen über alles, was auf den Netzwerken der Allianz und des Zentralbundes geschah, bis hin zu den Dienstplänen der einzelnen Türme. Die Dienstpläne der Ostlinie, der Türme von Griffith und Darlington, wiesen im vergangenen Monat keinerlei Besonderheiten auf. Lemorel ging zwei Monate zurück, und mit einem Mal fiel ihr der Turm von Wirrinya auf. Acht der achtzehn Überträger hatten binnen zweier Wochen dort neu angefangen. Der Dienstplan zeigte auch, daß sechs der Neuankömmlinge die Tagesschicht zur Gänze übernommen hatten, während in der Früh- und der Nachtschicht nur jeweils ein neuer Überträger seinen Dienst versah! Infiltration! Niemand hatte je im Traum daran gedacht, daß ein Turm systematisch von qualifizierten Überträgern und Empfängern unterwandert werden könnte. Einem direkten Angriff konnte ein Turm nicht zum Opfer fallen, ohne daß die Welt davon erfuhr: Da gab es eine Reihe von Alarmkodes, die jeder Überträger auswendig kannte und die sich in Sekundenschnelle senden ließen. Und binnen eines Tages wäre dann aus der nächsten befestigten Stadt ein Kavallerietrupp zur Verstärkung unterwegs. Die Überträgergilde war ein nicht zu unterschätzender Faktor. In den Dutzenden von großen und den Hunderten von kleineren Städten gab es im Schnitt jeweils zehn Überträger, und für jeden aktiven Überträger kam ein weiterer hinzu, der in der Lehre, der Forschung oder der Verwaltung tätig war. Überträger taten mehr, als nur von Turm zu Turm Nachrichten zu übertragen: Sie waren auch Bibliothekare, Lehrer, Mediziner und Händler, sie waren die Stützen vieler Gemeinden und Verbindungsleute zur Außenwelt. In anderen Gesellschaften hätten vielleicht Priester ihre Rolle eingenommen. Die neuen Überträger deckten sämtliche Schichten des Turms von Wirrinya ab und hatten die Tagschicht vollkommen unter ihre Kontrolle gebracht. In der Tagesschicht gab es den meisten Fernmelde verkehr, und normalerweise mieden Überträger diese Schicht. Das war ideal für eine Gruppe, die die Kontrolle übernehmen und dabei alle anderen ausschließen wollte. In den beiden anderen Schichten hatten sie jeweils einen Spion, für den Fall, daß dort irgend etwas wichtiges geschah. Wie aber konnten sie die Kodes entschlüsseln? Repetiertürme verfügten über keine Kodebücher. Ein Kalkulor hätte die Kodes knacken können. Hatte etwa auch Wirrinya einen Kalkulor? Irgend jemand auf dem Turm von Darlington überprüfte sorgfältig sämtliche aus Canowindra gesandten Daten und schmuggelte verschlüsselte Korrekturen an Wirrinya vorbei weiter nach Rochester. War er ein Verbündeter? Und wenn ja, warum zeigte er Wininya dann nicht einfach an, statt die von dort versandten Daten zu korrigieren? Wininya befand sich in Forbes, einem unabhängigen Kleinstaat. Jeder Alarm, der zur Festnahme der Verschwörer auf dem Turm auffordern würde, müßte über das Signalfeuernetzwerk eintreffen, und mindestens einer von ihnen war immer im Dienst. Ihnen würde Zeit bleiben zu fliehen ... Aber es war doch sicherlich wichtiger, die Verschwörung aufzudecken, als die Verschwörer zu fassen.
Die Kolbenuhr machte Klack-Klick, Klack-Klick. In einer Viertelstunde würden Übertragungen mit Mondlicht möglich sein. Lemorel öffnete die Hausbar der Hoheliber und schenkte sich ein Glas Apfelschnaps ein. Zarvora trank keinen Alkohol, die Krüge waren nur für ihre Gäste bestimmt. Was sollte Lemorel tun? Wenn sie der Hoheliber irgendwas von dem erzählte, was sie erfahren hatte, mußte sie ihr auch erzählen, wie sie davon erfahren hatte. Allein schon dafür würde man sie - und zwar schneller, als eine Signalfeuerbotschaft nach Canowindra gelangte - an eine Wand ketten und zwei Dutzend Musketen auf sie richten. Wenn sie den korrekten Dienstweg einhielt, würde es Monate dauern ... Sie konnte aber auch gar nichts unternehmen. Vielleicht war das das Beste. Sie war nur ein Rädchen im großen Getriebe, und dann auch noch ein Rädchen an der falschen Stelle. Sie nippte an dem starken, süßen Schnaps und - 91 betrachtete den Mondschein auf den Dächern von Libris. Schließlich beschloß sie zu warten, bis ihr die Schwarzen meldeten, wo sich ihr geliebter Johnny aufhielt, dann zu ihm zu eilen und den ganzen Schlamassel zu vergessen. Wie auf Stichwort hob ein mechanischer Glockenvogel einen Flügel und zwitscherte kurz, und dann begann die Batterie der silbernen Hennen auf den Lochstreifen einzupicken. Es war eine Klartextnachricht von den Schwarzen. Lemorel sprang von ihrem Stuhl auf, und iht Herz pochte vor Freude. / OBJEKT: JOHN GLASKEN, STUDENT AUFENTHALTSORT: EIN HINTERZIMMER DER BIERSCHENKE KRUG UND KRÖTE BEGLEITER: SCHANKMAGD NAMENS JOAN JIGLESSAR, AUCH JIGGLE GENANNT. AKTIVITÄT: GESCHLECHTSVERKEHR. EINZELHEITEN: ER LIESS SIE SICH ÜBER EINEN TISCH BEUGEN UND BESTIEG SIE IN EINER STELLUNG, DIE IN EROTISCHEN KOMPENDIEN ALS „STIER UND KUH" BEZEICHNET WIRD. UNGEWÖHNLICHE ODER VERDÄCHTIGE TÄTIGKEITEN: WÄHREND DES GESCHLECHTSVERKEHRS WURDE GLASKEN GESEHEN, WIE ER SCHWARZBIER TRANK, UND ER SOLL GEBRÜLLT HABEN WIE EIN STIER. Mittlerweile zitterten Lemorel so stark die Hände, daß sie den Lochstreifen nicht mehr ruhig halten konnte. Sie eilte zum Fenster und sah hinaus auf die Lichter von Rochestet, und ihre Augen glühten vor Zorn und Demütigung. Das tat er also bei seiner unschuldigen kleinen Feier - und das erklärte wahrscheinlich auch, warum er spätabends oft angeblich zum Studieren außer Haus war! Sie war drauf und dran, ihn auf der Stelle von den Schwarzen umbringen zu lassen - aber nein, diese Tat würde man zweifellos zu ihr zurückverfolgen können. Sie schloß die Augen und lehnte sich an den Fensterrahmen, glühend vor Schmach. Während sie sich danach gesehnt hatte, einfach nur seine Hand zu halten, hielt dieser Scheißkerl Brüste und Pobacken gepackt. Eine Minute verging, und Lemorel war wie betäubt. Es war, als wäre alles Weiche aus ihr weggebrannt. Sie ging zurück zu der Lochstreifenstanze, nahm das Papierband wieder zur Hand und las weiter. - 91 AKTIVITÄTEN NACH DER AUFFINDUNG: NACHDEM ER DEN GESCHLECHTSAKT BEENDET HATTE, GING GLASKEN, OHNE SICH DEN HOSENBEUTEL WIEDER ZUZUSCHNALLEN, ZURÜCK IN DEN SCHANKRAUM UND PINKELTE INS FEUER. DARAUFHIN BESCHWERTEN SICH EINIGE GÄSTE. ALS IHM DER WIRT SAGTE, ER SOLLE SICH „VERPISSEN", FIELEN GLASKEN UND ZWEI SEINER FREUNDE MIT IHREN STÖCKEN ÜBER DEN MANN HER. DIE SCHUTZLEUTE WURDEN GERUFEN, UND GLASKEN UND SEINE FREUNDE VERSUCHTEN, DURCH DEN HINTERAUSGANG ZU FLIEHEN. DIESE TÜR WAR ABER VERRIEGELT WORDEN - VON JOAN JIGLESSAR, DIE SICH IMMER NOCH ANZOG. DIE DREI STUDENTEN WURDEN IN GEWAHRSAM GENOMMEN. GEGENWÄRTIGER AUFENTHALTSORT: GLASKEN SCHLÄFT IN ZELLE 15 DER HAUPTWACHE. IHM WIRD ZUR LAST GELEGT: UNRUHESTIFTUNG, KÖRPERVERLETZUNG, DIEBSTAHL EINES KRUGS BRANDY, ERREGUNG
ÖFFENTLICHEN ÄRGERNISSES DURCH UNSITTLICHES ENTBLÖSSEN UND URINIEREN IN EINEM KONZESSIONIERTEN AUSSCHANK FÜR SPEISEN UND GETRÄNKE. / / ÜBERWACHUNG FORTSETZEN? / Lemorel überlegte kurz und tippte dann ABBRECHEN. Offenbar hatte es jemandem großen Spaß gemacht, diesen Bericht zusammenzustellen, dachte sie. Sie dachte auch an Glaskens frühere Auftritte vor Gericht. Als er sie damals gebeten hatte, ihm mit einer Kaution oder einer Aussage zu seinem Charakter aus der Patsche zu helfen, war es ganz bestimmt nicht darum gegangen, daß man ihn verwechselt hatte, während er unschuldige Bürger vor irgendwelchen finsteren Gesellen rettete. Blinde Wut wallte wieder in Lemorel hoch. »Dieses fiese, versoffene Betrügerschwein«, murmelte sie in Richtung des Regals voller mechanischer Tiere, und ihre sorgsam gepflegte Fassade der Freundlichkeit und Höflichkeit brach in sich zusammen. »Alles Lügen! Das wird er mir büßen!« Eine Marionette. Sie war die perfekte Entlastungszeugin, wenn es um seinen Charakter ging, konnte ihn aus Scherereien herausholen wie aus denen, in denen er gerade steckte. Sie stampfte im Zimmer auf und ab, schäumend vor ohnmächtiger Wut. Sie konnte es Glasken heimzahlen, indem sie ihn diesmal der Gnade des Gerichts überließ, aber das reichte - 92 ihr nicht. Sie wollte jetzt jemanden schlagen! Ihr Blick richtete sich auf den Dienstplan des Repetierturms von Wirrinya. »Ein ganzer Turm voller Glaskens«, sagte sie. »Die hole ich mir! Die werden vor Angst quieken wie die Schweine!« Acht Überträger, die ein Komplott geschmiedet hatten, die seit fünf Wochen ein Doppelleben führten und einander ihr Leben anvertrauten: Wenn man dieses Vertrauen störte oder auch nur in Frage stellte, brach vielleicht wenigstens einer von ihnen einen Streit vom Zaun. Auf so einem Turm gab es nicht viel Privatsphäre, und der Turmmarschall würde diesen Streit schnell bemerken. Lemorel hackte auf die Kalkulortastatur ein, fragte schnell sämtliche Bankkonten von Rochester ab. Keiner der Überträger von Wirrinya hatte eines. Sie zuckte die Achseln, dachte sich eine Kontonummer aus, schrieb diesem Konto siebenhundett Goldroyal gut, fügte dann den Namen des Schichtleiters der Tagesschicht von Wirrinya hinzu und sandte das an den Ausgabe-Zwischenspeicher. Nachdem sie sich noch einmal die Aufzeichnungen der Hoheliber über den Dienstplan von Wirrinya angesehen hatte, verschlüsselte Lemorel die Namen der Verschwörer aus der Früh-und Nachtschicht und fügte hinzu: TERMINIEREN. Dieser Begriff hatte im Befehlsregister der Hoheliber keine Funktion, klang aber hinreichend beängstigend. Womit ließe sich in Wirrinya noch Angst und Argwohn schüren? Die Verschwörer waren wahrscheinlich ebensowenig mit der Wahrheit im Bunde wie Glasken, und daher beschloß Lemorel, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Sie griff auf willkürlich ausgewählte Aufzeichnungen über Truppenbewegungen im Südmaurenreich zurück, die von der Endstation in Canowindra stammten, Aufzeichnungen, die abgeändert und dann von demjenigen, der den Kalkulor von Darlington betrieb, an Wirrinya vorbeigeschmuggelt worden waren. Lemorel wies den Kalkulor an, die Aufzeichnungen standatdgemäß zu verschlüsseln und dann nach Canowindra zu senden. Für die Augen von Wirrinya genügte das - aber es fragte sich immer noch, wie man das alles an Darlington vorbeibekommen sollte. Eine halbe Stunde verging, eine halbe Stunde, in der sie vor Wut schäumte wegen eines Chemiestudenten, der betrunken in einer Zelle der Polizeistation lag. Am nächsten Morgen würde er ihr eine Nachricht senden, die Polizei habe ihn zu Unrecht festgenommen, als er eine kleine - 92 alte Dame gegen eine Bande von Finsterlingen verteidigt habe, aber Lemorel würde ihn ignorieren. Das Gericht würde ihm, nachdem er zuvor schon so oft der Gerechtigkeit entronnen war, die Höchststrafe aufbrummen, und er würde mindestens eine Woche lang am Pranger verfaultes Obst, faule Eier und stinkenden Fisch zu kosten bekommen.
Und dann wäre sie an der Reihe. Was sollte sie mit ihm tun, was seinetwegen unternehmen? Wie sollte sie ihm das heimzahlen? Sie würde warten, bis er vom Pranger entlassen wurde, und dann würde sie ihm eine derartige Tracht Prügel verabreichen, daß er es nie wieder wagen würde, eine Drachenbibliothekarin auf diese Art und Weise zu mißbrauchen. Lemorel zwang sich, nicht mehr an Glasken zu denken. Mittlerweile mußten die Augen des Turms von Darlington ihre Nachricht lesen. Ob sie dort wohl für Aufregung sorgte? An ein paar Daten, die lediglich als Platzhalter dienten, hatte sie einen Vermerk für den Betreiber des dortigen Kalkulors angehängt: / AN DAS GENIE AUF DEM REPETIERTURM VON DARLINGTON: SEID MIR GEGRÜSST. DANK EUCH HABE ICH VON DER SICHERHEITSLÜCKE IN WIRRINYA ERFAHREN. IHR WERDET AUCH WISSEN, DASS DEREN GEBIETER IHNEN ÜBER IRGENDEINEN GEHEIMKODE BEFEHLE ÜBERMITTELN. WAS IST DAS FÜR EIN KODE? GELDIVA. / Über einhundertfünfzig Kilometer weiter die Signalfeuerverbindung hinab lächelte Nikalan Vittasner und schüttelte den Kopf. »Geldiva, die Göttin der Pantheisten von Brewarrina«, murmelte er vor sich hin. »Geldiva, Weberin der Illusionen. Kluges Mädchen.« Schnell, aber gewissenhaft verfaßte er eine Antwort. / WARUM SOLLTE ICH EUCH DAS VERRATEN? SCHIVA, ZERSTÖRER DER ILLUSIONEN UND GOTT DER ALTEN HINDUS. / Eine halbe Stunde später bekam er eine Antwort. / SCHIVA, ICH SCHLIESSE DARAUS, DASS IHR AUF EUREM TURM KEIN HAUPTKODEBUCH HABT. WENN IHR DIESES BUCH HÄTTET, WÜSSTET IHR, WELCHEN KODE SIE BENUTZEN, UM MIT IHREM GEBIETER ZU KOMMUNIZIEREN. WENN IHR DIESEN KODE KENNEN WÜRDET, HÄTTET IHR DIE FOLGENDE NACHRICHT LÄNGST NACH WIRRINYA GESANDT. GELDIVA / Fast hätte Nikalan laut losgelacht, als er die Nachricht las. Sie bestand - 93 aus nicht abgeänderten militärischen Daten, die hätten abgeändert werden müssen, und einem Auszug eines Bankkontos mit einem Vermögen in Goldroyal darauf, ausgestellt auf den Namen des Verschwörers, der Schichtleiter der Tagesschicht war. Das Konto wurde bei einer Bank in Rochester geführt. Er verfaßte eine weitere Antwort. / BOTSCHAFT VERSTANDEN UND AKZEPTIERT, GELDIVA. ICH HABE DEN KODE NICHT, HABE ABER EINE MUSTERNACHRICHT, DIE MIT DIESEM KODE VERSCHLÜSSELT WURDE. NACHFOLGEND DIESES MUSTER UND DAZU MEINE BISHERIGEN VERSUCHE, ES ZU DECHIFFRIEREN. VIEL GLÜCK. WENN ES EUCH GELINGT, DEN KODE ZU KNACKEN, UND IHR DANN DIE NACHRICHT AN DIE ENDSTATION SENDET, MARKIERT SIE MIT „GELDIVA", UND ICH WERDE SIE UNVERZÜGLICH WEITERLEITEN. IN DANKBARKEIT, SCHIVA. / Rochester verfügte über ein Verzeichnis sämtlicher Hauptkodes, aber dieser war nicht darunter. Ein Mensch hätte Monate dafür gebraucht, ihn zu knacken, nicht aber der Kalkulor. Lemorel sah im Handbuch nach und stieß auf einen Befehl namens KODEKNACKER. Sie gab das Muster ein und dazu dann auch das, was Schivas Kalkulor bereits herausbekommen hatte. Dieser verfügte nur etwa über ein Zehntel der Rechenkraft der Maschine der Hoheliber, das war offensichtlich. Die Aufgabe würde in ein paar Stunden erledigt sein, denn Schiva hatte gute Vorarbeit geleistet. Was sollte sie mit Glasken tun - das fragte sie sich, als sie die Nachricht zum Dekodieren abgesandt hatte. Ihn zu verprügeln war eine plumpe, allzu gewöhnliche Vergeltung und wäre für sie selbst eine ebensolche öffentliche Demütigung wie für ihn. Sie war auf ihn hereingefallen, und sie wollte nicht, daß alle Welt davon erfuhr. Sie sah auf die Tastatur, und ihr kamen die Schwarzen in den Sinn. Angst? Lemorel verfügte nun über die Macht der Hoheliber. Abgesehen davon, daß er die Nacht auf der Wache verbringen mußte, konnte Glasken doch alles einerlei sein, schließlich stand ihm die ganze Welt offen ... doch das ließ sich ändern.
Eine weitere Nachricht, diesmal, um eine Durchsuchung von Glaskens Zimmer im College zu veranlassen. Wahrscheinlich würden sie nicht viel mehr dort finden als schweinische Zeichnungen und gestohlene Brandykrüge, aber er würde sehen, daß sein Zimmer durchsucht - 94 worden war. Es gab ein Zeichen aus Libris, das jedermann in Rochester kannte: ein roter Stempel, der ein Buch zeigte, das über einem Dolch zugeschlagen war. Dieser Stempel bedeutete, daß man irgendeinen Verstoß begangen hatte und soundso viele Tage Zeit bekam, das wiedergutzumachen. Lemorel schlug im Handbuch nach und fand den Befehl für diesen Stempel. Man konnte ihn dazu nutzen, jemanden im Ernst vor einem bevorstehenden Mordanschlag zu warnen, oder man konnte damit jemandem auch einfach nur Angst einjagen. Sie gab den Befehl ein. Der Kalkulor reagierte nur langsam darauf, da er immer noch damit beschäftigt war, den Kode zu knacken. Während die Schwarzen Glaskens Zimmer durchsuchten und ihm den roten Stempel aufs Kopfkissen drückten, lehnte sich Lemorel auf dem Lesesessel der Hoheliber zurück und trank Apfelschnaps. Ihre Gedanken kehrten zu dem Wirrinya-Problem zurück und zu ihrer eigenen prekären Situation. Es würde Aufzeichnungen über die Arbeit des Kalkulors geben, und einen anderen Hauptnutzer als die Hoheliber gab es nicht - oder doch! Der Mann auf dem Turm von Darlington, der sich Schiva nannte. Einige von Lemorels früheren Arbeiten hatten gezeigt, daß sich der Kalkulor über das Signalfeuernetz steuern ließ, und die Hoheliber nutzte seither diese Möglichkeit, wenn sie die Provinzen bereiste. Vielleicht war es möglich, es so aussehen zu lassen, als hätte Schiva auf irgendeinem Wege die Kontrolle über den Kalkulor von Libris erlangt. Es war vier Uhr früh, als der Kalkulor den Kode endlich geknackt hatte, und Lemorel wurde abrupt geweckt, als eine mechanische Eule ein Glöckchen läutete. Mit Hilfe des Kodes der Verschwörer von Wirrinya stellte sie eine Nachricht zusammen, die sich wie ein Fehler ihrer Gebieter las, Worte, die nur für ihren Anführer bestimmt waren, die aber gesandt wurden, als irgendein Scherge gerade Dienst hatte. Schließlich gab sie den Text in den Output-Puffer und hängte in Klartext den Vermerk »GELDIVA: BITTE DAS HIER ENTFERNEN« an. Dann drückte sie auf den SENDEN-Knopf. Lemorel streckte sich und sah sich um. Durch das Fenster waren Sterne zu erkennen. Diese Nachricht würde die Verschwörung auf dem Turm von Wirrinya platzen lassen, aber sie war nicht die Hoheliber. Und so sehr die Hoheliber es auch begrüßen mochte, daß Lemorel einen kostspieligen Krieg abgewandt hatte, würde ihre Dankbarkeit doch wahrscheinlich nicht so weit gehen, daß sie einen ganz offensichtlich illegalen - 94 Gebrauch ihres Kalkulors dulden würde. Selbst wenn Lemorel dem Exekutionskommando entkam, nähme ihre Laufbahn in Libris doch ein vorzeitiges Ende. Eine Stunde lang kämpfte sich Lemorel durch die internen Aufzeichnungen des Kalkulors und änderte Einträge dahingehend, daß Aktionen, die vom Arbeitszimmer der Hoheliber ausgegangen waren, zu Nachrichten aus Darlington zu passen schienen. Schließlich entfernte sie die Krümel und spülte die Gläser ab, aus denen sie getrunken hatte, und verwischte ihre Spuren so gut, daß der Diener der Hoheliber keinen Verdacht schöpfen würde. Als sie damit fertig war, pickten die mechanischen Hennen eine kurze Nachricht der Schwarzen in den Lochstreifen: / AUFGABE: DURCHSUCHUNG DES COLLEGEZIMMERS VON JOHN GLASKEN UND HINTERLASSEN DES STEMPELS DER FURCHT AUF SEINEM KOPFKISSEN. ERWÄHNENSWERTE FUNDE: *EINE STEINSCHLOSSPISTOLE, LAUT POLIZEILICHEM SCHUSSWAFFENREGISTER ZUR TAG- UND NACHTGLEICHE GESTOHLEN GEMELDET VOM WIRT DER BIERSCHENKE „ZUM RÖHRENDEN EBER" * 2 GOLDROYAL * 19 SILBERROYAL * EIN STEMPELSET MODELL „DIAKON", DATIERT AUF DEN 14. APRIL 1696 GW * 1 STANGE SIEGELWACHS * 11 PRÄSERVATIVE, FRISCH GEWASCHEN, EINGEFETTET UND ZUM TROCKNEN AUSGELEGT * EINE AKTZEICHNUNG VON BLAUDRACHE LEMOREL MILDERELLEN, MIT IHREM NAMEN VERSEHEN * FÜNF GEZINKTE SPIELKARTENPÄCKCHEN * ZWEI
PRÄPARIERTE WÜRFEL * 87 BLÄTTER LIEBESGEDICHTE IN KNITTELVERSEN AN 37 UNTERSCHIEDLICHE FRAUEN * 327 LIEBESBRIEFE VON 52 FRAUEN / Lemorel kämpfte die aufwallende Übelkeit nieder und riß dann den Lochstreifen aus der Maschine. Ihre ganze wunderbare Romanze war nichts weiter gewesen als eine schäbige Gemeinheit. Er besaß einen Stempel, mit dem er diese verfluchte Kondomschachtel jedesmal neu versiegeln konnte, wenn er eine potentielle Eroberung mit seiner Tugendhaftigkeit und Vernunft beeindrucken wollte. Wieviele waren ihr auf dem Pfad zu seinem Bett vorangegangen - und wieviele gefolgt? Sie setzte sich wieder an die Tastatur und schrieb: - 95 / ANWEISUNGEN BEZÜGLICH JOHN GLASKEN, STUDENT * KONFISZIEREN: SEINE PISTOLE, DAS GELD, KLEIDUNG, DIPLOM, STEMPELSET UND ALLES, WAS ER ALS STUDENT NICHT UNBEDINGT BENÖTIGT * VERBRENNEN: SÄMTLICHE ZEICHNUNGEN, GEDICHTE UND BRIEFE SOWIE AUCH DIE LISTE DESSEN, WAS IN SEINEM ZIMMER GEFUNDEN WURDE * ABSCHNEIDEN: DIE SPITZEN ALLER PRÄSERVATIVE / Lemorel riß sich von der Tastatur det Hoheliber los, als die Morgendämmerung begann. Sie verließ das Arbeitszimmer und setzte sich draußen auf dem Korridor auf eine Bank. Sie versuchte ein Nickerchen zu machen, mußte aber immer wieder an Glasken denken. War Joan Jiglessar seine neue Freundin, oder war das nur eine flüchtige Liebelei? Was hatte diese joan, was Lemorel nicht hatte? Es kam ihr fast so vor, als gäbe es zwei Glaskens: der eine klug, sensibel und aufrichtig, der andere mit einer Neigung zum Saufen, zu Schlägereien und den ordinärsten und geschmacklosesten Ausschweifungen, die man sich nur vorstellen konnte. Im Moment ergriff die schiere Erschöpfung nach dieser Nacht von ihr Besitz. Sie schlief im Sitzen ein, der Kopf sackte ihr zur Seite, und die Hände hatte sie im Schoß gefaltet. »Ein großartiger Schauspieler«, murmelte sie im Schlaf, »und Liebe ist immer Schauspielerei.« Als der Diener der Hoheliber sein Tagewerk antrat, fand er Lemorel geduldig vor seiner Tür wartend vor. Er nahm an, daß sie aufgrund irgendeines Mißverständnisses seitens der Wachen vorgelassen worden war, und erklärte ihr schnell, daß die Hoheliber nicht anwesend sei. In Wirrinya begannen die Verschwörer, mit Messern aufeinander loszugehen, kurz nachdem um sieben Uhr die Tagschicht begonnen hatte. Während Lemorel in den nach Geißblatt und Jasmin duftenden Gärten der Universität saß und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, lieferten sich die Verschwörer eine Schießerei mit dem Turmmarschall von Wirrinya und seiner Wache - die gekommen waren, um nachzusehen, was das ganze Spektakel zu bedeuten hatte. Zwei Verschwörer überlebten und gestanden nach maßvoller Folter, im Sold einer religiösen Splittergruppe aus dem Südmaurenreich zu stehen, die etwas dagegen hatte, daß die - 95 Signalfeuerstrahlen des Turms von Darlington über südmaurisches Territorium hinweg gesandt wurden. Die abgeänderten Daten hatten beim Bürgermeister von Deniliquin den Eindruck erwecken sollen, der Emir von Cowra ziehe für einen Überraschungsangriff Truppen zusammen. Wäre Schiva in Darlington nicht gewesen, der Bürgermeister hätte darauf mit einem Präventivschlag reagiert und damit einen Krieg ausgelöst, dem gleich zu Beginn der Darlingtoner Turm zum Opfer gefallen wäre. Diplomatische Noten gingen hin und her, und der Scharfrichter des Emirs hatte einige Tage lang ordentlich zu tun. Währenddessen wurde, fern im Süden, John Glasken zu zwei Wochen am Pranger verurteilt. Hoheliber Zarvora mußte ihre Reise in den Westen unterbrechen und nach Rochester zurückkehren. Sie rief Lemorel zu sich, um die Frage zu klären, ob sich der Kalkulor über das Signalfeuernetz von jemandem steuern ließe, der das Hauptkennwort kannte, und Lemorel versicherte ihrer Vorgesetzten, daß dies durchaus möglich sei. Zarvora murmelte eine obszöne Bemerkung auf Altanglaisch. Einen Tag später wurde Lemorel in den Silberdrachenrang befördert und leitete von nun an ein Projekt, das die Sicherheit des Kalkulors verbessern sollte. In diesem Jahrhundert war sie die jüngste Bibliothekarin, die diesen Rang bekleidete oder bekleidet hatte.
Frisch vom Pranger entlassen, kehrte Glasken recht gedämpfter Stimmung in sein College zurück. Zwar hatte er sich an einem Springbrunnen Gesicht und Haare gewaschen, aber er stank trotzdem immer noch so schlimm, daß sich die Leute auf der Straße Taschentücher vor die Nase hielten, wenn er vorüberging. Im Villiers College angelangt, ging er schnurstracks in den Anbau, der die Wäscherei barg. »Schmutzige Wäsche, Fras Glasken/« erkundigte sich der ältliche Beamte an seinem Pult. »Ich möchte bitteschön baden«, erwiderte Glasken leise. »Aber Ihr habt doch diesen Monat schon gebadet.« »Na und? Dann bade ich halt nochmal!« schnauzte Glasken. Nun verzog der Beamte mit einem Mal die Nase und spähte über seine Brille hinweg zu den Hautabschürfungen an Glaskens Hals hinüber. Dann schenkte er ihm ein zahnloses Lächeln. »Ach, es gibt doch wirklich nichts Schlimmeres als ein paar Tage - 96 am Pranger, nicht wahr, Fras? In ein Holzgestell eingesperrt zu sein, tagsüber mit faulem Obst und Unrat beworfen zu werden und dann die Nacht über angekettet zu sein und sich den ganzen Dreck nicht vom Leib kratzen zu können. Ich hab das selber mal durchgemacht, damals, '47, oje ...« »Gibt es warmes Wasser?« »Ja, Ihr könnt fünf Eimer warmes und neun Eimer kaltes Wasser haben ... Aber mehr nicht! Ich hatte mich in den Kleidern des Revisors herausgeputzt, die er in meiner Wäscherei hatte liegenlassen.« »Ich habe kein Geld dabei, schreibt es bitte auf meine Collegerechnung.« »Man hat mich in neun Wirtshäusern zu Bier und Kuchen eingeladen, bis mir dann der richtige Revisor über den Weg gelaufen ist.« »Badesalz und Handtuch bitte.« »Warum haben die Euch denn das Halseisen angelegt, junger Fras?« Glasken richtete sich auf und streckte die Brust heraus. »Ich habe mich eines Verbrechens schuldig bekannt, um die Ehre einer Dame zu retten«, antwortete er in wehmütigem Ton. Der Beamte kratzte sich am Kopf. »Das klingt aber gar nicht nach Eurem Typ Frau, Fras Glasken.« Eine Dreiviertelstunde des Einweichens und Abschrubbens munterten Glasken doch erheblich auf, und er beschloß, von nun an mindestens alle zwei Wochen ein Bad zu nehmen. Er wickelte sich in ein fadenscheiniges Collegehandtuch, ließ seine Kleider gleich in der Wäscherei und taperte dann, die Stiefel in Händen, nach oben auf sein Zimmer. Der Schlüssel ließ sich sonderbar schwer umdrehen, und als Glasken die Tür aufschob, spürte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Einige Dinge lagen oder standen andere, als er sie zurückgelassen hatte. Wie lasterhaft Glasken auch leben mochte, in häuslichen Dingen hielt er Ordnung. Er warf seine Stiefel hin und zog eine Schublade auf. Sein Geld, sein Reisepaß, seine präparierten Würfel und gezinkten Karten waren fort! Er riß die Schranktür auf: Reitzeug, Offlziersstock, Steinschloßpistole, Säbel und Kleider - alles futsch! Auch die Bilder vom Kaminsims waren verschwunden, sogar das eben erst erworbene Diplom. Er sah sich bestürzt um, ebenso beklommen wie wütend. Normale Diebe hätten ein Bild der Verwüstung hintetlassen und nur das mitgenommen, was sich auf dem Nachtmarkt leicht zu Geld machen ließ. Die hier aber waren methodisch, böswillig, gar rachsüchtig vorgegangen. Seine Schafdarmkondome lagen - 96 zwar immer noch auf dem Fensterbrett zum Trocknen aus, aber bei allen war die Spitze abgeschnitten. Da bekam es Glasken mit der Angst. Er setzte sich aufs Bett und beschloß, sich erst einmal hinzulegen und sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn er den Einbruch anzeigte, wurde der Dieb vielleicht gefaßt. Aber wie sollte Glasken dann die präparierten Würfel, gezinkten Karten und eine Pistole erklären, für die er keinen Waffenschein besaß und die sowieso gestohlen war? Was sollte er tun? Er mußte in aller Ruhe darüber nachdenken. Er schlug die Decke zurück und wollte seinen Kopf eben zur wohlverdienten Rast aufs Kissen betten, als er etwas erblickte, das wie ein frischer Blutfleck aussah. Mitten auf dem Kissen prangte das Zeichen von Libris! Um Glasken her blieb die Welt stehen, und sein gesamtes Bewußtsein konzentrierte sich auf den Stempelabdruck eines über einem Dolch
zugeschlagenen Buchs. Das Zeichen war recht bekannt, wurde aber nur selten genutzt - es war wie etwas aus einem billigen Abenteuerroman ... aber dennoch war es da, die legendäre Warnung vor baldigem Verhängnis. Sie würden ihn töten, es sei denn, er beachtete diese Warnung und machte es wieder gut - aber was? Er hatte Wein gestohlen, hatte sich geprügelt und Unzucht getrieben, aber weder er noch seine Missetaten waren bedeutsam genug, um das Zeichen zu verdienen. Vielleicht war es ein Versehen, ja, das war es bestimmt. Man hatte ihn mit jemand anderem verwechselt. Er brauchte dringend einen hochrangigen Drachenbibliothekar, der ein Wort für ihn einlegte. Mit einem Mal tat sich in seinem Innern ein Abgrund auf. Er fühlte sich ganz leicht und hohl, so als könnte ein Windhauch ihn fortwehen. Lemorel! Sie hatte mit der Hoheliber zu tun. Er versuchte sich an ihre letzten Worte ihm gegenüber zu erinnern. Sie hatte der Hoheliber von irgendeinem Problem mit den Signalfeuertürmen berichten wollen. Was hatte die Hoheliber ihr daraufhin erzählt? Ja, das mußte es sein. Lemorel hatte sonst stets zu seinen Gunsten ausgesagt, wenn man ihn vor Gericht gezerrt hatte, diesmal aber hatte sie nicht auf sein Schreiben reagiert. Glasken erschauderte. Das war das Dumme, wenn man eine einflußreiche Geliebte hatte. Ihre Gönnerschaft war fabelhaft gewesen, aber ihre Rache schlug nun wie eine Bombe ein. »Über wen hat sie etwas erfahren?« fragte er die Reihe der geköpften Kondome auf dem Fensterbrett. »Über Joan Jiglessar, Carol Mhoreg, diese Magd da aus der Mensa oder vielleicht gar irgendein Mädchen aus der Woche davor?« - 97 Glasken griff unter sein Bett, tastete dort herum und zog schließlich ein kurzes Drahtstück hervor. »Ha! Meinen größten Schatz haben sie übersehen!« sagte er, kicherte und gab dem Draht dann mit schwungvoller Gebärde einen Kuß. Immer noch nur in ein Handtuch gewandet, suchte er sein Zimmer systematisch nach weiteren Wertsachen ab. Alles, was für eine Reise nützlich gewesen wäre, war fort; irgend jemand wollte unbedingt, daß er in Rochester blieb. Sie würden erwarten, daß er vor lauter Hilflosigkeit in Panik geriet - oder vor Wut außer sich war. Er stampfte aus dem Zimmer und ging zurück in die Wäscherei. »Ich sage Euch, Palfors, in mein Zimmer wurde eingebrochen!« verkündete er lautstark, als er eintrat. »Schockschwerenot!« rief der Beamte. »Fehlt viel?« »Kleider, Geld und Papiere. Und dann auch noch mutwillige Beschädigungen: Rote Tintenflecken auf meinem Bett und so etwas.« »Hört sich eher nach Studenten an als nach Einbrechern von außerhalb. Ihr geht am besten gleich zum Rektor.« »Aber nicht in einem Handtuch, das geht nicht. Wann sind denn meine Kleider wieder trocken?« »Die habe ich gerade erst eingeweicht, Fras, aber ich könnte sie durch das Tretrührwerk jagen und dann vor dem Ofen trocknen. Dauert allerhöchstens zwei Stunden.« »Nun, dann warte ich halt noch zwei Stunden. Ich gehe wieder auf mein Zimmer. Ihr habt in den letzten beiden Wochen nicht zufällig jemand Verdächtiges gesehen, der sich hier im College herumgetrieben hat, Fras Palfors?« »Äh ... nur ein paar Rotdrachenbibliothekare.« »Spätabends?« »Ja.« »Nun, wir wissen ja alle, was man mit gestohlener Kleidung anstellen kann, nicht wahr?« Der Mann nickte, mit großen Augen und offenstehendem Mund; dann schlurfte er fort, um Glaskens Kleider zu waschen. Glasken beugte sich über den Tresen und las die Beschriftung auf einigen Wäschebündeln. »Matheran, Chanye, MacLal, Orondego, Lorgi - ach ja, Fras Lorgi, ein Mann von genau meiner exzellenten Statur.« Glasken verließ die Wäscherei in Lorgis Kleidern, das Gesicht des
J75 ~ ungewöhnlich kalten Oktoberabends wegen weitgehend unter einem Strickschal verborgen. Er hatte sich zu einer so schnellen Flucht entschlossen, daß selbst Libris mit all seinen Mitteln erst die Verfolgung aufnehmen konnte, wenn er längst auf und davon war. Er war schon sehr viel zuversichtlicher, da er nun wieder bekleidet war, aber Geld war der Schlüssel zu allem anderen und an Geld kam man auch heran, wenn man nur kühn genug war. Mit dem Dietrich in der Hand machte er sich auf den Weg zum Büro des College-Zahlmeisters. Die Essensglocke erklang gerade, als er anklopfte, um sicherzustellen, daß niemand da war. Glasken brauchte nur wenige Augenblicke, das simple Türschloß zu knacken. Er ließ die Tür hinter sich einen Spalt breit offenstehen und schlich durch den dunklen Raum zur Geldkassette. Deren Schloß war schon schwieriger zu knacken, doch schließlich öffnete sich die Zuhaltung, und Glasken hob einen Beutel aus der Kassette und wog ihn in der Hand. Ungefähr fünfzig Münzen, mehr als genug für seine Flucht. Bloß wohin? Mit so viel Geld konnte er einen ahnungslosen Lockvogel engagieren, der in den Süden reiste, während er selbst einen Windzug nach Westen nahm, in Länder, die jenseits der Reichweite von Libris lagen. Doch mit einem Mal wurde die Tür aufgeschoben, und Licht flutete in den Raum. »Stoneford, seid Ihr da? He, wer -?« Glasken knüppelte ihn mit dem Münzbeutel nieder. Als er die Tür hinter sich zuzog und auf den Korridor stürzte, prallte er blindlings mit der Ptozession der Edutoren zusammen, die in vollem Ornat zum großen erhöhten Dozententisch der Mensa unterwegs waten. Der Beutel rutschte ihm aus der Hand, und Gold- und Silbermünzen fielen vor seinen Augen in einer klimpernden Kaskade zu Boden. Zur zehnten Stunde saß Glasken in einer Zelle der Hauptwache. Die Edutoren des Villiers College beschuldigten ihn, in das Büro des Zahlmeisters eingebrochen, 51 Silbernobel und sechs Goldroyal gestohlen und den Rektor bewußtlos geschlagen zu haben. Man übergab ihn der Polizei, die ihn einem Richtet vorführte, der formell Anklage gegen ihn erhob. Da er sich offenbar mit Schlössern gut auskannte, legte man ihm, nachdem man ihn entkleidet und mit einer gestreiften Hose und einet Decke ausgestattet hatte, eine Kugel- und Kettenfessel an, die mit einer massiven Niete verschlossen wurde. Einige Tage später erwachte er davon, daß die Zellentür aufgeschlos - 98 sen wurde, und als er hochsah, führte man Lemorel herein. Er stand sofort auf und streckte die Arme nach ihr aus. Sie lächelte nicht. Das war ein schlechtes Zeichen. Er machte eine flehende Geste. »Ach, Lern, Liebste, man hat mich zu Unrecht -« »Man sagt, die Tugend sei ihr eigener Lohn«, unterbrach sie ihn. »Wie ich sehe, ist der Lohn des Lasters aber weit angemessener.« Verachtung troff aus ihren Worten wie vergifteter Honig. »Wie meinst du das?« fragte Glasken ängstlich. »Ich bin zur Silberdrachenbibliothekarin befördert worden, Glasken, und ich will nicht, daß Gerüchte über unsere Liaison meine Laufbahn überschatten. Ich bin nicht ohne Einfluß, und es gibt viel, was ich unternehmen könnte, um dir das Leben schwer zu machen. Ich könnte sogar dafür sorgen, daß die letzten vier Sekunden dieses Lebens darin bestehen, daß du das Innere eines Signalfeuerturms hinabstürzt. Der Gedanke, daß ich mich von dir habe übertölpeln lassen, erfüllt mich mit Abscheu, und wenn ich daran denke, daß eine Nacktzeichnung von mir über deinem Bett hing, während du mit Joan Jiglessar darin lagst, könnte ich kotzen.« Glasken dachte darüber nach. Er hatte Joan an vielen Orten beschlafen, und viele andere Mädchen in seinem Collegebett, nie aber dieses Mädchen in diesem Bett. Woher auch immer Lemorel ihre Informationen hatte, die Quelle war nicht unfehlbar, schloß er erleichtert. »Lern, bitte, du mußt nur noch ein einziges Mal zu meinen Gunsten aussagen. Man wirft mir vor, einen Edelmann gewaltsam angegriffen zu haben. Kannst du dir vorstellen, was der Richter dazu sagen wird? Darauf steht der Tod, entweder durch den Strang oder durch ein Exeku-
tionskommando, je nach dem, wie er gerade gelaunt ist. Und wenn ich Pech habe, wird man mich vorher auch noch in aller Öffentlichkeit foltern.« Diesmal war Glasken aufrichtig. Er konnte die Riemen an seinen Handgelenken förmlich spüren und hörte die Sperräder buchstäblich klacken. Lemorel kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und lächelte. »Wenn du irgend jemandem erzählst, daß zwischen uns jemals mehr bestand als eine flüchtige Bekanntschaft, bringe ich dich eigenhändig um. Wenn du schweigst, werde ich dafür sorgen, daß du weder getötet noch gefoltert wirst - zumindest nicht für diese Vergehen.« »Das ist alles?« »Das ist alles.« - 99 Glasken stieß einen unfein lauten Erleichterungsseufzer aus und willigte ein. Am nächsten Morgen wurde Glasken vor Gericht gestellt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Der Richter ließ die Worte noch ein wenig wirken, und Glasken stand schlotternd in det Anklagebank, und Schweißtropfen liefen ihm aus den Achselhöhlen die Rippen hinab. Det Richter räusperte sich und richtete seine Perücke. »John Glasken, als ich Euch vor nicht einmal drei Wochen zum Pranger verurteilte, war ich anschließend der glücklichste Mann von ganz Rochester«, sagte er und sah sich im Gerichtssaal um. »Es war eine bescheidene kleine Genugtuung, nach dem, wie Ihr die Ehre meiner Enkeltochter besudelt hattet -« »Das stimmt nicht, Euer Ehren«, unterbrach ihn Glasken. »Sie war neunzehn Jahre alt, und ich habe sie im Krug und Kröte kennengelernt -« »Ruhe im Saal!« Glasken verstummte sofort. »Also, wie gesagt: Stellt Euch meine Freude vor, als ich so bald darauf die Gelegenheit bekam, Euch wegen eines weiteren Vergehens zum Tode zu verurteilen. Leider werdet Ihr jedoch keine Gelegenheit erhalten, an einem Galgen zu baumeln. Man läßt Euch gegenüber Milde walten, weil wir heute den Geburtstag des Bürgermeisteis feiern.« Glasken wollte schon jubeln, besann sich dann aber doch eines Besseren. Der Polizeichef und seine beiden anwesenden Beamten grinsten, aber die saßen ja auch nicht mit dem Gesicht zum Richter. Der Gerichtsschreiber hielt mit dem Gänsekiel inne, um das neue Strafmaß zu protokollieren. »Fras John Glasken, gemäß der vom Bürgermeister von Rochester mir übertragenen Vollmacht wandele ich Eure Verurteilung zum Tode hiermit um in ein Jahr in den glühend heißen Wüsten des Westens...« Glasken guckte ungläubig und konnte sich gerade noch davon abhalten loszujubeln. »... ein Jahr für jede einzelne Münze in dem Beutel, mit dem Iht den Rektot geschlagen habt.« Glasken wankte und wäre zusammengebrochen, wenn er sich nicht am Geländer der Anklagebank festgehalten hätte. Der Richtet grinste unverhohlen und fuhr fort: »Ich komme da auf siebenundfünfzig Jahre. Ist das korrekt?« »Ja, Euer Ehren«, erwiderte der Gerichtsschreiber. »Habt Ihr noch etwas zu sagen, Fras Glasken?« - 99 »Ich möchte Bürgermeister Jefton gerne alles Gute zum Geburtstag wünschen und mich bei ihm für sein Geschenk bedanken«, sagte Glasken in einem eher sarkastischen als trotzigen Tonfall. Das Gesicht des Richters lief vor Wut hochrot an, aber Glasken war durchaus vertraut mit den Verfahrensweisen vor Gericht. Das Urteil war gefällt und ließ sich nun nicht mehr abwandeln. Dem Bürgermeister zum Geburtstag zu gratulieren stellte keine Mißachtung des Gerichts dar, selbst wenn es bewußt geschah, um den Richter vor den Kopf zu stoßen. »Möget Ihr noch weitere siebenundfünfzig Jahre leben, Glasken«, sagte der Richter und reichte dem Polizeichef seinen silbernen Amtsstab, um die Verhandlung zu beenden. Glasken wurde von zwei Polizeibeamten aus dem Gerichtsgebäude geführt und in einem gepanzerten Wagen angekettet. Die Fahrt zum Gleitbahnhof dauerte fast eine Stunde, und dort führte man den Gefangenen, der immer noch seine Kugel- und Kettenfessel trug, zum Büro des Zollinspektors. Der Beamte quittierte den Empfang, und Glasken wurde bewacht, bis man ihn dann dem Zugchef übergeben konnte.
Er saß schweigend da, ängstlich und schwach. Er war zwar nur knapp dem Tod entronnen, aber nun stand ihm ein äußerst unangenehmes Leben bevor. Ein Mann, von dem er annahm, er sei mit dem Zug gekommen, kam herein, eine Schriftrolle in der Hand. Er ließ die Wachen abtreten, und zwei bewaffnete Uniformierte traten an ihre Stelle. »Gefangener Glasken, ich muß noch ein paar Einzelheiten überprüfen«, sagte der Mann freundlich. »Wie ich hier sehe, habt Ihr studiert.« »Ja, ich werde der gebildetste aller Kettensträflinge sein«, seufzte Glasken. »Vielleicht auch nicht. Ihr habt ein technisches Diplom mit guten Noten in Arithmetik.« »Ja, aber Chemie ist -« »Ausgezeichnet«, sagte der Mann, lächelte breit und rollte das Schriftstück wieder zusammen. Dann wandte er sich an die beiden Uniformierten. »Knebelt und fesselt ihn, und fahrt dann mit dem Wagen rückwärts hier vor.« Noch während sie sich diebisch über den eben erst unterzeichneten Befehl freute, Glasken als Komponente in den Kalkulordienst einzuberufen, wurde Lemorel aufgefordert, an einer speziellen Expertenkommission teilzunehmen. Die Angelegenheit war so dringend, daß man sie von zwei bewaffneten Rotdrachen holen ließ. Ein junger Mann ungefähr in - 100 Lemorels Alter saß in Ketten in einem der Seminarräume, und der Anlaß der Untersuchung war so heikel, daß keine Wachen anwesend waren. Der Blick des jungen Mannes war angespannt und durchdringend, zeugte aber eher von großer Neugier als von Aggressivität. Zarvora ging rastlos auf und ab, während sie sich an ihre vier Berater und an den Gefangenen wandte. »Vor ein paar Tagen hat sich dieser Überträger, Nikalan Vittasner, verkleidet aus dem Turm von Darlington fortgeschlichen und ist dann zur Grenze nach Deniliquin geritten. Mit gefälschten Papieren überquerte er die Grenze und fuhr dann mit einem Tretzug weiter nach Rochester. Und heute morgen hat er bei mir um eine Audienz gebeten.« Mit ausdrucksloser Miene bemühte sich Lemorel, ihr Erstaunen und Entsetzen im Griff zu behalten. »Er behauptet, er habe dabei geholfen, die Verschwörer von Wirrinya zu enttarnen, und er hat mir Dokumente vorgelegt, die das belegen sollen. Er behauptet außerdem, jemand in Libris namens Geldiva habe ihm dabei geholfen und eine schwierige Entschlüsselung für ihn durchgeführt.« Die Hoheliber hielt inne. Sie wollte eine Stellungnahme. »Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß er den Kalkulor von Libris benutzt haben könnte«, sagte Lemorel mit ausdrucksloser Stimme. »Wir haben Belege dafür, daß es in Darlington einen eigenen, kleinen Kalkulor gibt, und dort könnte er die Befehlsstruktur Eures Kalkulors gelernt haben.« Zarvora nickte. »Die Indizien haben diese These bis vor ein paar Stunden gestützt, aber das ist nun vorbei. Meine Proben haben ergeben, daß dieser Nikalan hier über die erstaunlichsten Kopfrechenfähigkeiten verfügt, die mir jemals begegnet sind. Sie entsprechen einem signifikanten Bruchteil des Kalkulors von Libris. Und er bestreitet, von irgendeinem Kalkulor auch nur zu wissen.« »Wenn Ihr gestattet!« schaltete sich Nikalan ein. Er erhob sich. Er war so groß wie Glasken, dabei aber schlank und muskulös, ohne irgendwelche der Trägheit und dem Biergenuß geschuldeten Pölsterchen ... und er war sehr, sehr klug. Er ist wie Glasken, bloß ohne all die Fehler, dachte Lemorel anerkennend. »Ich scheine Euch zu verwirren, Hoheliber. Wenn Ihr gestattet - können wir ganz offen miteinander reden?« - 100 Zarvora nickte. Lemorel erzitterte. »Vor zwei Jahren wurde der Turmaußenposten Ballerie Vale von Räubern aus dem Nordmaurenreich überfallen und niedergebrannt. Der Posten war weniger als ein Knoten und doch mehr als eine Repetieranlage, gerade wichtig genug, um über ein Hauptkodebuch zu verfügen. Die Überträger und die Turmbesatzung wurden niedergemetzelt.«
»Ich habe den Bericht gelesen«, sagte Zarvora. »Die Überträger konnten noch einige Nachrichten absetzen, daß sie angegriffen wurden, ehe ihre Turmplattform mit brennenden Armbrustpfeilen beschossen wurde. Es wurde schnell reagiert, und der Marschall von Walgett traf mit zweihundert Reitern ein, während die Feuer noch brannten, aber die Räuber waren schon wieder fort. Es war ein grausamer, sinnloser Überfall.« Nikalan erbebte, preßte die Lippen aufeinander und runzelte die Stirn. Als er sich wieder gefangen hatte, wai sein Tonfall milder, neutraler. »Nein, keineswegs. Ich habe sehr ausführlich nach einem bestimmten Leichnam gesucht, einem Leichnam mit einem Kupferarmreif am linken Handgelenk. Die Leichen derjenigen, die im Freien umgekommen waren, waren erst seit einigen Stunden tot, aber die verkohlten Leichen in den ausgebrannten Gebäuden waren es schon seit mindestens einer Woche. Ich habe Mikkis sterbliche Überreste persönlich in das Leichentuch eingenäht. In ihr wimmelte es nur so von verkohlten Maden, und sie war schon seit vielen Tagen tot. Und bei zwei Dutzend weiteren war es genauso.« Er hielt einen Moment lang inne, damit alle begriffen, was das bedeutete. Der Turm hatte etwa eine Woche lang der Kontrolle der Räuber unterstanden. Männer mit Übetttägerkenntnissen hatten den Turm überfallen, das Hauptkodebuch in ihre Gewalt gebracht und eine Woche lang den Signalfeuerverkehr geübt. Dann waren sie wieder verschwunden, hatten noch diejenigen getötet, die Ihren ursprünglichen Überfall überlebt hatten, und die Beweise verbrannt. »Der Marschall hat diese Maden bewußt übersehen. Vielleicht wurde er bestochen.« Nun verlor er die Fassung. »Sie haben meine wunderschöne Mikki umgebracht!« schrie er. Verblüfftes Schweigen. Der letzte, der in Gegenwart der Hoheliber geschrien hatte, war der Leitet der Katalogabteilung gewesen, und der war nun Multiplikatot. - 101 »Fahrt bitte fort«, sagte Zarvora ganz ruhig. »Meine unvergleichliche Mikki«, stöhnte Nikalan, ohne sich zu entschuldigen. »Und wenn Ihr mich für einen fähigen Kalkulor haltet, o Hoheliber, dann glaubt mir - meine Fähigkeiten sind nichts verglichen mit den Ihrigen. Mir war klar, daß sie wieder zuschlagen würden, und daß sie diesmal versuchen würden, einen Turm monate- oder gar jahrelang unter ihrer Kontrolle zu behalten. Dazu würden sie sich wahrscheinlich als Jungüberträger ausgeben und die Besatzung irgendeines abgelegenen Repetierturms unterwandern. Mit dem gestohlenen Kodebuch würden sie sich die Macht der Bürgermeister zunutze machen können, indem sie sicher wirkende Nachrichten manipulierten. Damit konnten sie Vermögen verdienen, Karrieren vernichten, Kriege auslösen ... aber sie wußten ja nicht, daß ich ihnen auf den Fersen war. Ich hatte in der Woche, in der Ballerie Vale in ihren Händen war, Dienst auf dem Turm von Walgett, und ich erinnerte mich an einige Merkwürdigkeiten im Datenverkehr, während diese Mörder dort die Kontrolle hatten. Daraufhin habe ich mich nach Darlington versetzen lassen, auf einen Turm mit einem hohen Verkehrsaufkommen.« »Und wieso nicht zu dem großen Knoten in Griffith?« fragte Lemorel. »Nein, Darlington war so unbeliebt und abgelegen, daß ich dort schnell zum Schichtleiter aufsteigen konnte. Und ich mußte Schichtleiter werden, damit ich die Einträge in den Datenverkehrslogdateien fälschen konnte. Und von da an lag ich förmlich auf der Lauer.« Lemorel verschlug es angesichts seiner Tapferkeit und Entschlossenheit die Sprache. Nikalans Streben nach Rache für seine Liebste hatte ihm soviel Macht eingetragen, daß er das Netz ebenso hatte manipulieren können wie die Verschwörer von Wirrinya, und dennoch war er nicht von seinem Ziel abgewichen: sich für den Tod seiner Geliebten zu rächen. Er hätte sich selbst zum Kastellan ernennen und ein Vermögen anhäufen können, aber er war seiner geliebten Mikki treu geblieben. Wieso nur konnte keiner ihrer Liebhaber so treu sein, fragte sich Lemorel, und es versetzte ihr einen Stich, so daß sie fast zusammenzuckte. »Meinungen?« fragte die Hoheliber. Lemorel atmete zweimal tief durch, um ihre Stimme zu festigen. »Das ist durchaus möglich«, sagte sie. »Man hat in Wirrinya Abschriften aus einem Hauptkodebuch gefunden. Ich schlage vor, Griffith davon
- 102 in Kenntnis zu setzen. Das Hauptkodebuch des Zentralbundes muß komplett ausgetauscht werden.« »Das wird geschehen«, sagte Zarvora. »Aber ein wichtiger Punkt gibt mir doch noch Rätsel auf, Nikalan. Warum habt Ihr die Nachrichten aus Wirrinya nur bereinigt? Warum habt Ihr nicht den Marschall von Griffith alarmiert, damit er mit einem Kavalleriekommando eingreift?« »Ich soll einem Marschall vertrauen, Hoheliber? Spione hätten die Verschwörer gewarnt, ehe die Kavallerie des Marschalls auch nur die Stadt verlassen hätte. Die Scheißkeile hätten sich in null Komma nichts über die Weddinberge ins Südmaurenreich abgesetzt. Ich wollte Rache, und ich hätte nur noch eine Woche gebraucht, um den Kode ihres Gebieters zu knacken, als mir jemand von hier aus zuvorkam und dafür sorgte, daß sie sich gegenseitig umbrachten.« »Euch zuvorkam?« sagte Lemotel. »Aber Ihr wart es doch, die ihr -dem Kalkulor, meine ich befohlen habt, den Kode zu knacken.« »Nein, nein ... sie hat mir geholfen ... Mikki zu rächen.« Er setzte sich und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Nachdem er den Verschwörern jahrelang nachgestellt hatte, war der Dämon, der ihn getrieben hatte, nun endlich fort und ließ ihn erschöpft und ziellos zurück. Das einzige, woran er nun noch zu denken vermochte, war die phantastische Möglichkeit, daß es noch jemanden gab, der so war wie Mikki. Und nur Lemorel wußte, daß seine Verbündete eine Ausgeburt ihrer Phantasie in Kombination mit einer fantastischen Maschine war. »Wenn das, was Ihr sagt, wahr ist ...«, begann Zarvora und verstummte dann. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« »Hoheliber, bitte laßt mich zu ihr. Ich habe mir nie träumen lassen, daß es noch jemanden wie Mikki geben könnte, und dann ist sie mit einem Mal am anderen Ende der Signalfeuerverbindung aufgetaucht.« »Aber Ihr habt doch die Befehle gegeben -« »Nein! Sie kam mir zur Hilfe. Hoheliber, ich hätte in den Zentralbund fliehen können, doch statt dessen habe ich alles aufgegeben, nur um diese Dame kennenzulernen. Bitte laßt mich zu ihr, zu Geldiva, der Weberin der Illusionen.« »Euch zu ihr lassen? Unmöglich!« »Das seid Ihr mir schuldig!« Es war offenkundig, daß er einem Nervenzusammenbruch nahe war und Drohungen bei ihm nichts bewirkten. Lemorel zog ihre Hände in die - 102 Ärmel zurück, damit niemand sah, daß sie zitterten. Tarrin räusperte sich. »Ich schlage vor, daß wir sie, äh, einander vorstellen, Hoheliber. Das dürfte ihn wieder zur Besinnung bringen.« »Ja, ja, führt mich auf der Stelle zu ihr!« »Er soll dem Kalkulor vorgestellt werden?« rief Zarvora und schüttelte verärgert den Kopf. »Ihr hört Euch schon an wie Lewrick.« »Nein, nein, wir führen ihn nur auf die Systemsteuerungsplattform, und dann kann er es sich mit eigenen Augen anschauen.« Zarvora sah sich zu ihren übrigen Beratern um, aber nur Lemorel schüttelte den Kopf. »Hoheliber, nur ein Blick auf den Kalkulor und -nun, es ist doch offensichtlich, was das in seiner gegenwärtigen Verfassung bei ihm auslösen wird. Gönnt ihm erst einmal ein paar Tage Ruhe.« »Nein! Hört nicht auf sie, Hoheliber! Ich will sie sofort sehen!« Zarvora überlegte einen Moment lang, zuckte die Achseln und forderte die anderen dann mit einem Wink auf, ihr zu folgen. Sie legten die kurze Entfernung langsam zurück, begleitet vom rhythmischen Rasseln von Nikalans Ketten. Zwei Wachen entriegelten eine eisenbeschlagene Holztür, und als sie aufgeschlossen und geöffnet wurde, drang aus der Ferne die Kakophonie des Geschwirrs und Geklickes und der surrenden Drähte heraus, die den Herzschlag des Kalkulors bildete. Fast außer sich vor Anspannung und Gewissensbissen, packte Lemorel Nikalans Arm, während die anderen schon hineingingen.
»Ich habe versucht, Euch zu warnen«, flüsterte sie, aber er blickte sie nur finster an und riß sich los. Sie betraten die Empore und sahen über das Geländer hinab. »Das ist Geldiva«, sagte Zarvora. »Tausend Menschen, an Pulte gekettet, aufgeteilt auf zwei einander gegenseitig überprüfende arithmetische Prozessoren. Achthundert Abakuseinheiten, zweihundert höhere Funktionen und etliche Kilometer über Rollen laufende Übertragungsdrähte für den Datenverkehr. Geht es Euch nicht gut?« Nikalan sank langsam zu Boden. Sein Mund stand offen, die Augen waren weit aufgerissen, und Tränen liefen ihm die Wangen hinab. Zarvora kniete sich neben ihn. »Das ist es, was Ihr Geldiva nennt. Eine Maschine, die aus tausend Menschen besteht. Viele davon verurteilte Straftäter. Könnte das die wunderbare Dame sein, die Euch geholfen hat?« - 103 »Nein«, sagte Nikalan sehr leise. »Also, wie habt Ihr denn nun die Befehlsstruktur meiner Maschine gelernt? Habt Ihr etwa während meines Besuchs in Griffith im vergangenen Jahr meine Fernzugriffe überwacht?« »Nein, nein, nein! Mikki - Geldiva! Wo seid Ihr? Geldiva!« Die geistige Gesundheit war bereits aus Nikalans Stimme gewichen, als sich sein Geist in einen Abgrund stürzte, um diesem zweiten schrecklichen Verlust zu entgehen. Bei seinen Schreien sahen sich alle im Saal um. Einen Moment lang unterbrach der gesamte Kalkulor die Arbeit und sah zu der Plattform hoch. Die Wachen zerrten Nikalan fort, aber er hörte nicht auf zu schreien. Lemorel atmete tief durch. »Hoheliber -« »Ja, Ihr hattet Recht, das wai schrecklich - aber was genau ist denn da vorgefallen? Kommt mit mir.« Nikalans Schreie hallten Lemorel immer noch in den Ohren, während sie langsam die Korridore entlanggingen. Zarvora war besorgt und verwirrt. »Mathematik, Liebe, Rache«, murmelte sie mit gesenktem Kopf. »Was für eine unglaubliche Liebesgeschichte.« Lemorel hatte ganz nah am Abgrund gestanden und es überlebt -allerdings auf Nikalans Kosten. Zwar hatte sie in Mathematik und Optik Preise eingeheimst, aber ihre Rechenfähigkeit konnte mit der Nikalans oder Mikkis längst nicht mithalten. Sie hatte seine Liebe gewonnen, während sie die größte Rechenmaschine der Welt lenkte, aber ohne diese Maschine konnte sie nicht Geldiva sein. Glasken hatte sie betrogen, und nun hatte sie Nikalan betrogen. Sie saß im selben moralischen Saustall wie Glasken, und es gab für sie nur eine Möglichkeit, da wieder herauszukommen: Sie mußte Geldiva werden. »Seine Hingabe hat mich berührt«, sagte Zarvora. »Mich auch, Hoheliber.« »Ich hätte nicht gedacht, daß es solche Männer tatsächlich gibt. Wieso kann ich nicht mal einen solchen Mann kennenlernen?« »Das habt Ihr doch gerade, Hoheliber.« »Habt Ihr schon einmal eine solche Liebesgeschichte erlebt?« »Meine Liebesaffären waren samt und sonders Fehlschläge, Hoheliber.« »Es muß doch auch anders gehen. Sollte man an der Universität einen Aushang aufhängen? MANN GESUCHT - ER MUSS JUNG - 103 SEIN, GUTAUSSEHEND, TAPFER, SEHR ROMANTISCH, GUT IM BETT UND EIN BRILLANTER MATHEMATIKER, SPEZIALIST FÜR ANGEWANDTE NUMERISCHE VEKTOREN UND LOGIK.« »Ihr könntet doch mal im Kalkulor nachsehen, Hoheliber.« »Sehr witzig. Ihr dürft jetzt wieder zurück an Eure Arbeit. Schreibt bitte eine verständliche Zusammenfassung der vergangenen Stunde. Ich will das heute nachmittag auf meinem Schreibtisch haben.«
Wieder allein in ihrem Arbeitszimmer, aktivierte Zarvora ihre Kalku-lorkonsole, rieb die Fingerkuppen aneinander, sah aus dem Fenster, deaktivierte ihre Konsole wieder und schritt dann um ihr mechanisches Modell des Sonnensystems herum. Mit einem Mal warf sie Mantel und Bluse von sich und betrachtete sich im Spiegel, mit freiem Oberkörper, die Hände auf den Hüften. Von ihren nur mittelgroßen, aber schön geformten Brüsten verengte sich ihr Leib zu einer regelrechten Wespentaille. Sie blätterte in einem Kunstbildband und hielt zum Vergleich etliche Frauenakte hoch, wobei sie jeden mit einer Note von eins bis zehn bewertete. Dann sah sie sich selber wieder an. »Realistisch gesehen - acht!« schloß sie erleichtert. Nachdem sie sich wieder angekleidet hatte, läutete sie nach ihrem Diener. »Ich brauche die Personalakten sämtlicher FUNKTIONS-Komponenten des Kalkulors - die aller Schichten und auch die der Reserveleute«, befahl sie. »Das sind 620 Akten«, ächzte der Diener. »Ja, genau. Und ich will sie in einer Viertelstunde in meinem Arbeitszimmer haben, und dann will ich für den Rest des Tages auf keinen Fall mehr gestört werden.« - 104 6 Der Ruf Maralinga wurde binnen einer Woche nach dem Überfall der Ghaner von einer Bahnstation in eine Garnison verwandelt. Nie standen weniger als vier Windzüge auf Abstellgleisen bereit, prächtig anzusehen mit ihren hohen weißen Rotortürmen, die mit roten und goldenen Spiralmustern lackiert waren, und sie hatten Musketiere gebracht, Techniker, eine neue Besatzung für die Bahnstation und sogar den stellvertretenden Leiter der Gleitbahnbehörde persönlich. Maralinga gehörte zum Woomera-Bund. Woomera gebot zwar über weit mehr Territorium als die Südostallianz, verfügte aber nur über ein Zwanzigstel ihrer Einwohnerzahl. Seine Verteidigungsstrategie gründete sich größtenteils auf seine Abgelegenheit. Es hatte die Wüste als Schutzschild seiner Nordgrenze genutzt, doch nun war dieses Schild mit einem Mal zerbrochen. Sollten Staaten jenseits der roten Wüste die Fähigkeit erlangen, über immense Entfernungen hinweg zuzuschlagen, würde Woomera Verbündete benötigen. Rochester war so ein praktischer, wenn auch ferner Verbündeter. Die Hoheliber schickte einen Galeerenzug mit Truppen und Signalfeuerspezialisten, die zwischen den Bahnstationen Tarcoola und Maralinga eine Behelfsverbindung aufhauten. Militärbeobachter der übrigen Stadtstaaten der Allianz waren angesichts dieser Operation beunruhigt. Wie war es Bürgermeister Jefton gelungen, insgeheim die vorgefertigten hölzernen Signalfeuer-Leuchttürme herzustellen und die neuen, gegliederten und mit einem Eigenantrieb versehenen militärischen Galeerenzüge, die Mannschaften und Material binnen eines Tages über fünfzehnhundert Kilometer weit befördern konnten? Drei Wochen nachdem der Überfall gemeldet worden war, wurde Maralinga offizieller Bestandteil des Signalfeuernetzwerks. Die strategischen Auswirkungen dieser Bravourleistung verursachten so manchem Bürgermeister und Staatsrat schlaflose Nächte. Zarvora hatte gezögert, die Türme aufstellen zu lassen, da diese Operation zeigen würde, über welch erstaunliche neue Stärken das kleine Rochester ver - 104 fügte. Die Züge und Türme waren als zerlegte Ausrüstungsgüter bereitgehalten worden, und in den Bestandslisten hatte man sie als nicht miteinander in Zusammenhang stehende zivile Güter geführt. Der Kalkulor koordinierte die Montage und Beladung der Züge in einem bis dahin nicht für möglich gehaltenen Tempo. Da die Türme aus miteinander verzahnten Teilen bestanden und zu ihrem Aufbau keine spezialisierten Handwerker benötigt wurden, konnten Pioniertrupps diese Arbeit anhand von Bauanleitungen erledigen, die sie auf der Fahrt nach Westen studierten. Jeder Galeerenzug wurde von drei Galeerenloks gezogen, angetrieben jeweils von hundert Mann. Die Maschinen stammten von kleineren, zivilen Zügen und Rangiergaleeren. Die Züge waren windunabhängig, führten eigene Mittel zur Gleisreparatur mit und konnten binnen weniger Tage eine kleine Armee an den entlegensten Endbahnhof befördern. Als diese schnellen
Militärmaschinen zum ersten Mal übet ihr Staatsgebiet gerattert waten, erließen viele Bürgermeister hastig Gesetze, die die Bewegungsfreiheit solcher Züge künftig einschränkten. Gleichzeitig begannen sie mit der Entwicklung eigener Galeerenloks. Der Marschall von Maralinga gehörte der Gleitbahnwache von Woomera an, erhielt seine Befehle aber aus Rochester. Begierig, alles darüber zu erfahren, wie die Räuber dem Ruf widerstanden hatten, schickte Zarvora auch ein Edutorenteam nach Maralinga. Darien leitete die Ermittlungen. Der Überfall selbst war in den anderen Stadtstaaten ein offenes Geheimnis; daß er aber während eines Rufs stattgefunden hatte, wußten nur Zarvora und einige wenige ihrer Berater. Die ganze Bahnstation wurde eingehend untersucht. Rankenfetzen, abgefallenes Laub und Haare wurden eingesammelt und schwer bewacht an die Hoheliber gesandt. Der von den Räubern hinterlassene Müll wurde untersucht und skizziert, und die Waffen und der Zeitschalter des Reiters, den Darien erschossen hatte, gingen zur Auswertung an den Obermarschall von Woomera. Spurenleser verfolgten die Spur der Ghaner bis weit nach Norden zurück, bis zu der Stelle, an der sie aus Sanddünen auftauchte, was bestätigte, daß sie schnurstracks nach Süden geritten waren, als sie die Bahnstation gesehen hatten. Die Spurenleser wurden dreihundert Kilometer weit in beide Richtungen die Gleitbahn entlanggeschickt, um sicherzustellen, daß die verbliebenen Reiter die Strecke nicht wieder in Richtung Norden überquert hatten. Späher hielten auf dem transportablen Leuchtturm im südlichen Abschnitt der - 105 Ebene Ausschau nach zurückkehrenden Ghanern, konnten aber nichts entdecken. Wachtposten wurden anderthalb Kilometer außerhalb von Maralinga in allen vier Himmelsrichtungen aufgestellt. Es waren weiter nichts als hölzerne Barrikaden unter einer Plane, besetzt jeweils mit fünf Musketieren aus Woomera und einem Unteroffizier aus Rochester. Jedem Posten wurden zwei Terrier zugeteilt, und der nördlichste Posten diente zugleich als Rufwarnstation. Der westliche Posten befand sich an der Gleitbahnstrecke, und die Wachen waren nicht überrascht, als aus dem Westen ein Einsiedler die Strecke entlanggewandert kam. Einige Dutzend Einsiedler lebten an der Gleitbahnstrecke verstreut, und sie alle verdienten sich ihren Lebensunterhalt, indem sie gelegentlich bei der Gleiswartung halfen. Diesen Einsiedler verbellten die Halbterrier. Es war der Morgen des fünfzehnten Oktober 1699, einen Monat nach dem Überfall der Ghaner. »Die wittern irgendwas«, sagte der Unteroffizier aus Rochester. »Dir-bok, Ihr haltet die Hunde an der kurzen Leine. Jaysek, richtet Eure Muskete zwischen seine Augen.« »Aber Fras, er trägt doch gar keine Ranken.« »Er hat einen Leibanker und trägt Kleider wie die des Reiters, den die stellvertretende Oberliber erschossen hat«, sagte der Unteroffizier. Der Einsiedler blieb stehen, lächelte nervös und verbeugte sich. »Fras, die Einsiedler plündern Leichen in der Wüste«, sagte Jaysek. »Es gibt auf diesem Gleitbahnabschnitt ein paar verlauste Leichenfledderer, die so prunkvoll gekleidet sind wie ein Bürgermeister.« Der Offizier strich sich den Bart. Dann trat er ein paar Schritte vor, ließ Jaysek aber freie Schußlinie. »Ein Gleitbahn-Einsiedler müßte doch eigentlich unsere Sprache beherrschen. He, du! Sprichst du AustarischZ« Der Einsiedler lächelte und verbeugte sich noch einmal, sagte aber nichts. Die Hunde bellten immer noch. »Die Hunde halten ihn für den Rankenmann, Fras«, schloß sich Jaysek der Meinung des Offiziers an. »Vielleicht bellen die Hunde auch, weil er wie ein Ghaner riecht«, sagte Dirbok. Der Offizier hob ein Stück Seil hoch und hielt dann die Handgelenke aneinander. Der Einsiedler zögerte noch ein wenig, verstand dann aber die Geste, streckte die Hände hin und ließ sich bereitwillig fesseln. - 105 -
»O Mann, stinkt der nach Kamel!« sagte der Offizier. »Aber er ist tatsächlich so grindig wie ein Einsiedler.« Jaysek brachte den Eremiten nach Maralinga. Der Marschall wurde informiert, und nachdem er sich den geheimnisvollen Neuankömmling angesehen hatte, beschloß er, ihn der stellvertretenden Oberliber vorzuführen. Der Eremit wurde seiner Kleider entledigt, bekam eine Hose und ein Hemd angezogen und wurde dann an eine Bank in der Bibliothek gekettet, während man Darien holen ließ. »Sein Gesicht und seine Hände sind ganz verbrannt, und dort pellt sich die Haut ab, als wate et die Sonne nicht gewöhnt«, berichtete der Marschall Darien, als sie durch den Säulengang aus rötlichem Kalkstein zur Bibliothek gingen. »Und er hat sich auch seltsam verhalten. Er hat den Mund vor Staunen gar nicht mehr zubekommen, als er hereingeführt wurde und die Windzüge sah. Die Gleitbahn-Einsiedler kennen diese Züge so gut wie ihre eigenen Flöhe. Einige gehören sogar der Trainspotting-Bruderschaft von Peterborough an.« Darien nickte und bedankte sich dann mit einer Verbeugung, als sie am Eingang der Bibliothek ankamen. Während der Marschall die Tür aufschloß, notierte sie mit einem Kohlenstift schnell eine Frage. HAT ER ZU ESSEN UND ZU TRINKEN BEKOMMEN? »Frelle, er ist doch nur ein Einsiedler. Er stinkt wie ein Kamelfurz.« IN DER GESELLSCHAFT VON ROCHESTER EMPFÄNGT EIN HÖFLICHER GASTGEBER GANZ GLEICH WELCHEN RANGS EINEN REISENDEN STETS MIT SPEIS UND TRANK. »Wie Ihr wünscht, Frelle.« Der Marschall stampfte davon und murmelte dabei etwas in den Bart. Einen Augenblick später kam er mit einem Tablett wieder. Darauf standen ein Krug Wasser, ein kleines Glas Limonensaft und ein Teller Kümmelkekse und Datteln. Darien nahm das Tablett und die Schlüssel und bedeutete dem Marschall, er solle draußen bleiben. »Aber Frelle, er könnte gefährlich sein.« Darien zuckte mit den Achseln und stellte sich vor der Tür auf. Der Marschall öffnete sie, funkelte, als Darien hineinging, den angeketteten Eremiten an und schloß dann die Tür hinter ihr. Im Land der Ghaner wurde das Essen ausschließlich von Dienern aufgetragen. Da er Ghaner war, hielt der Eremit Darien sofort für eine Dienerin, und zwar für eine Dienerin, die er bereits kannte. Sein sonnenver - 106 branntes, ausgemergeltes, aber nicht unschönes Gesicht kam ihr nicht bekannt vor, und seine Stimme war nun nicht mehr gedämpft, aber dennoch erkannte sie ihn auf Anhieb und lächelte. Er guckte besorgt, bis sie sich einen Finger vor den Mund legte, erneut lächelte und den Kopf schüttelte. Sie löste seine Ketten und bemerkte, wie sich sein Kiefer und seine Schultern vor Erleichterung entspannten. »Dann wirst du mich also nicht verraten«, sagte er und nahm das Getränk, das sie ihm darbot. »Danke. Es freut mich, daß du überlebt hast. Wußtest du, daß Kharecs Offiziere tatsächlich darüber gestritten haben, wer das Recht hätte, dich zu töten? Du hast keine Stimme, und niemand hätte deinen Leichnam gefunden. Ach ja, demjenigen, der dich töten durfte, wurde auch versprochen, daß er dich vergewaltigen dürfte, aber dein Tod war der eigentliche Lohn. Was habe ich gelächelt unter meiner Rankenmaske. Jetzt bin ich ein Gefangener deiner Leute, und keiner versteht, was ich sage. Was wird mit mir geschehen? Wie soll ich um Erbarmen bitten, wenn mir dazu die Worte fehlen, meine Schöne? Du würdest das verstehen ... aber du verstehst meine Sprache nicht.« Er aß einen Kümmelkeks und sah aus dem Fenster zu den Windzügen hinüber. Einer davon wurde gerade für die Rückfahrt nach Woomera bereitgemacht, und die Lok stellte langsam Waggons zusammen, angetrieben von den schimmernden Rotortürmen, die sich im steten Wind drehten. Die Besatzungsmitglieder wirkten winzig auf dem riesigen Fahrzeug, und wenn die Waggons angekuppelt wurden, donnerte es wie von einem fernen Bombardement. Auf einem
Abstellgleis daneben stand ein dunkler, schnittiger Galeerenzug. Leichte Bombarden ragten aus flachen Geschütztürmen auf dem Dach. Der Rankenmann schüttelte den Kopf. »Diese ganzen riesigen Maschinen, die auf Eisenschienen fahren und ganz ohne Kamele Hunderte Krieger mit sich tragen. Kharec hatte ja keine Ahnung von der wahren Stärke deines Volkes.« Darien stand hinter ihm, sah, was er sah. Er drehte sich mit einer geschmeidigen Bewegung um, betrachtete sie aufmerksam, zeigte auf sich und zuckte dann mit den Achseln. Sie nickte und trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich sehe anders aus ohne meine Ranken, nicht wahr?« sagte er, und Darien strich ihm mit den Fingerspitzen über die Wangen. »Oh, du findest also auch, daß ich ein hübsches Gesicht habe. Wie schade, daß du meine Worte nicht verstehst. Kharec und seine Räuber sind allesamt - 107 tot - ich wünschte, ich könnte dir das irgendwie mitteilen. Die Hand der Äbtissin Theresia hat sie niedergestreckt.« Darien nahm den Krug und schenkte ihm kühles Wasser und Limonensaft ein. Bei dem Geschmack hob er die Augenbrauen. »Oh, du weißt, daß Limonen vor Skorbut schützen können, den man auf langen Reisen von schlechtem Essen bekommt. Wie ausgesprochen zivilisiert. Und du gibst mir diesen Saft, hast ihn aber vor Kharec verborgen. Wie ausgesprochen schmeichelhaft. Wo befindet sich deine Zivilisation, das frage ich mich. Am Ende der Eisenschienen, die hinausführen in die Wüste?« Et trank noch einen Schluck aus der Steinguttasse. »Ach, ich wünschte, ich hätte noch etwas von dem Giftgold. Das würde gut hierzu passen. Der Geschmack fehlt mir.« Ein Floh, der sein Blut saugen würde, würde wahrscheinlich auf der Stelle daran verenden, dachte Darien. Jede Bewegung, die er machte, schien ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Das war verständlich, nachdem er sich endlich der Ranken entledigt hatte. »Fragst du dich, wie ich Kharec und die anderen getötet habe? Ha, du weißt ja noch nicht einmal, daß sie tot sind. Schau mal her.« Er streckte alle zehn Finger aus, viermal hintereinander, und tat dann, als würde er auf einem Kamel reiten. Schließlich fuhr er sich mit einem Finger über die Kehle. Darien war so achtsam, ihn mit großen Augen und entsetztem Blick anzustarren. »Alle tot.« Sie zeigte auf ihn, streichelte dann ihren Handrücken. »Dann hältst du mich also immer noch für einen freundlichen Menschen, auch ohne eine Erklärung. Nun denn, ich werde dir alles erzählen. Irgend jemandem muß ich es erzählen, und der einzige andere Mensch auf der Welt, dem ich vertrauen kann, ist weit weg, in einem Kloster in Glenellen. Du würdest sie nicht mögen. Sie ißt am Spieß gebratene Spatzen und schickt mir Briefe per Fledermauspost. Aber sie ist dennoch eine große Gelehrte. Oder vielleicht gerade deswegen. Damit hält sie sich natürlich die Freier vom Hals, denn ihre Hand zu erringen wäre ein großer Gewinn. Ich habe selbst fünf ihrer Freier getötet. Ich bin ihre rechte Hand.« Et hatte gerade erst eine unaussprechliche Tortur hinter sich gebracht, und die Haut auf seinem Gesicht und seinen Händen war ganz vernarbt vor Brandblasen, aber dennoch sprühte er nur so vor Vitalität. Wenn et die rechte Hand der Äbtissin von Glenellen war, wie sah dann erst die ganze Frau aus? fragte sich Darien. »Aber du willst ja wissen, wie ich Kharec und seine Elitekrieger getö - 107 tet habe - beziehungsweise: Du würdest es wissen wollen, wenn du mich verstehen könntest. Der Ruf reicht so weit wie ein Zweistundenmarsch, und nachts hält er inne, damit seine Opfer sich ausruhen und etwas essen können. Sie bleiben dabei in Trance, die Pflanzenesser essen Pflanzen, die Fleischesser hungern. Ich habe die Reiter an den Rand des Rufs geführt, sie dort zurückgelassen und bin allein hineingegangen. Dort habe ich Kharec gefunden. Er kaute gerade an den Blättern eines Strauchs, genau wie ein Kamel. Ich habe ihn an den Händen gefesselt und aus dem Ruf hinausgeführt, zu der Stelle, an der seine Männer warteten. Er kam sofort wieder zur Besinnung, aber statt mir dankbar zu sein, ließ mich der Wicht festnehmen. Er beschuldigte mich der Falschheit und Meuterei, und das ohne auch nur den geringsten Beweis dafür zu haben. Dennoch hatte er recht damit. Er ließ mich von seinen Männern
aus meinem Rankenanzug schälen und dann seinen eigenen nichtswürdigen Leib hineinschnallen. Er hatte vor, hierher zurückzukehren und auf den Kamelzug zu warten, der Euch mit Proviant versorgt. Kamelzug - ha! Ein Blick auf Eure mächtigen Reisemaschinen, und er wäre bis nach Glenellen geflohen! Kharec zwang mich, zur Strafe zu Fuß zu gehen, aber das hielt sie auf dem Ritt nach Norden mächtig auf. Wenn du nur verstehen könntest, was ich sage, meine Schöne, wüßtest du, daß, als wir uns wieder auf den Weg hierher machten, schon vier Tage vergangen waren und ein Ruf unmittelbar bevorstand. Darauf zählte ich zu meiner Rettung. Dann ging es allerdings ganz schnell. Am nächsten Nachmittag fiel Kharecs Männern auf, daß der Rankenanzug allmählich einging. Die Blätter welkten, die Ranken hingen schlaff herab. Sein Leutnant, Calderan, sagte es ihm. Man zerrte mich vor Kharecs Kamel und befahl mir zu sprechen - indem man mir eine Klinge an die Kehle hielt. Ich erklärte ihm, daß der Anzug nur lebendig erhalten werden könnte, wenn ich ihn trüge. Ich habe jahrelang immer eine kleine Prise Giftgold eingenommen und vertrage mittlerweile eine ordentliche Dosis davon. Und nun sind auch meine Ranken davon abhängig - sie nehmen es aus dem Schweiß auf meiner Haut auf - nicht aus dem Wasser aus ihren Wurzeln. Wenn Kharec genug Gift trank, um die Ranken am Leben zu erhalten, würde er sterben. Wenn er es nicht tat, würde der Anzug sterben. Und dann habe ich noch einen drauf gesetzt. Ich sagte ihnen, sie sollten die Zeitschalter an ihren Leibankern und an den Sandankern der - 108 Kamele überprüfen: Ich hätte nämlich, als der Ruf das letzte Mal über diesen Außenposten hin weggezogen war, noch mehr getan als nur Kharec loszumachen und dir einen Schlüssel und eine Pistole hinzulegen. Ich hätte außerdem aus sämtlichen Sandankern der ganzen Schwadron die goldenen Auslöserzapfen ausgebaut und versteckt. Ihre Sandanker würden ihnen daher keinen Schutz mehr vor dem Ruf bieten, und nur wenn ich den Rankenanzug trug, blieb er am Leben. Da hatte ich Khatec bei den Eiern, meine Schöne. Keine sehr appetitliche Vorstellung, nicht wahr? Ihm blieb nichts anderes übrig, als mir den Rankenanzug wiederzugeben, denn ich war der einzige, der sie alle beim nächsten Ruf fetten konnte. Aber glaubst du, sein Stolz hätte ihm das gestattet? O nein. Er versuchte mich mit seinem Schwert zu erschlagen, aber seine Männer sprangen mir bei, aus Furcht, den einzigen Mann zu verlieren, der ihnen bei einem Ruf das Leben retten könnte. Er tötete fünf von ihnen, denn sie konnten nicht nach ihm schlagen, weil sie fürchteten, die Ranken zu beschädigen, die et trug. Als er schließlich das Weite suchte und nach Norden davonritt, folgten sie ihm. Und sobald sie außer Sicht waten, nahm ich mit ein Kamel, das einem getöteten Reiter gehört hatte, und ritt nach Süden. Ja, tatsächlich, ich ritt nach Süden. Kein Zeitschalter für den Sandanker, kein Rankenanzug, und dennoch ritt ich nach Süden. Denn ich bin schließlich das Augenlicht der Äbtissin Theresia, und sie wünschte etwas über den Ursprung des Rufs zu erfahren. Nach einem weiteren Tag fiel mir auf, daß sich der Horizont zu verändern begann. Er wurde zu einer zerklüfteten Kante unter einer ebenen Grenze zwischen Himmel und Erde. Ein leichter Salznebel lag in der Luft, und irgendwo in der Ferne hörte ich ein dumpfes Donnern. Ich war noch etwa hundert Schritte vom Rand des Kliffs entfernt, als mir klar wurde, was das war und ich den Sandanker meines Kamels auslöste. An diesem Ort bestand ein schwächet Ruf, der niemals nachzulassen schien, aber er reichte nur wenige hundert Schritte weit. Ich stieg ab und kroch auf allen Vieren weiter.« Darien schenkte ihm noch etwas zu trinken ein. Sie mußte sich alle Mühe geben, einen neutralen, allenfalls verwirrten Gesichtsausdruck beizubehalten. Er hatte den Ursprung des Rufs gesehen! Es war unglaublich, fantastisch. Es war bekannt, daß man, wenn man dem Ruf nur lange genug folgte, irgendwann in eine Region kam, in der seine Verlockung nie nachließ - das Ruftodesland. Man hatte Beobachter am Rande dieser - 108 Regionen in angeleinten Heißluftballonen aufsteigen lassen, und sie hatten nur von Wäldern, Bergen und Ruinen berichtet, so weit ihre Fernrohre reichten. In Peterborough führt eine
Gleitbahnstrecke an einem dieser Ruftodesländer vorbei, und dort hatte man erst im vergangenen Jahr bei einer Ballonfahrt in der Ferne einen riesigen See entdeckt. In den ältesten erhaltenen Büchern wurden unermeßlich große Gewässer erwähnt, Ozeane genannt, aber diese Ozeane waren nun schon so lange nicht mehr gesehen worden, daß sie nur noch bei wissenschaftlichen Debatten zur Sprache kamen. Die geläufigste Theorie war die, daß sie, da sie in der Richtung des Rufs lagen, irgend etwas damit zu tun haben mußten. Viele Religionen vermuteten in diesen legendären Ozeanen die Hölle, doch nun war dieser Mann mitten in diesen Alptraum hineinmarschiert und hatte in aller Ruhe ... ja, was hatte er gesehen? Darien stand kurz davor, der zweite Mensch auf Erden zu werden, der vom wahren Ursprung des Rufs erfuhr. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, und wußte, daß man ihr die Aufregung ansah. Der Rankenmann würde es bestimmt bald bemerken - aber dann wandte er sich zum Fenster, um dabei zuzuschauen, wie ein weiterer Windzug mit lautem Gepolter zusammengestellt wurde, und fuhr mit seiner Geschichte fort. »Die Ebene endete an einem Abhang, und darunter befand sich ein riesiger See, der sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Große Wellen brandeten an den Fuß dieser Felswand, und dabei sprühte Gischt auf. Kannst du dir das vorstellen? Die Wellen auf den Gewässern in den Schluchten von Alspring sind nie höher als eine Handspanne, die hier aber waren wer weiß wie hoch. Das Wasser war blaugrün, und zwischen den Wellen sah ich stromlinienförmige Wesen gleiten, und Rückenflossen durchschnitten die Wasseroberfläche. Größere, dunklere Wesen hüteten sie, schwammen mit ihnen ordentlich aufgereiht unten an dem Abhang entlang. Stell dir einen Fisch aus einem Fluß oder See vor, der so groß ist wie eine eurer Reisemaschinen. Weiter draußen waren noch mehr von diesen größeren Wesen, sie platschten und spritzten Wasser hoch in die Luft. Ist das das Ende der Welt, fragte ich mich, und ist das das Angesicht der Gottheit? An einigen Stellen lagen Felsen am Fuße des Kliffs, und auf diesen Felsen lagen haufenweise weiße, gebleichte Knochen. Ich zog ein kleines Fernrohr aus meinem Umhang und betrachtete die geschmeidigen Gestalten dort im Wasser. Es waren Hirten und Herden, da gab es keinen Zweifel. Waren dort auch Engel und Menschensee - 109 len? Wenn die Hölle Feuer war, war Wasser dann das Paradies? Ich sah mir das lange an, und währenddessen kam ein richtiger Ruf und brandete über den kleinen, dauerhaften Ruf hinweg, der die Luft um mich her durchströmte. Ich verspürte diese kribbelnde Verlockung, aber ich konnte ihr widerstehen.« Nun wandte er sich vom Fenster ab, die Augen geschlossen, ein glückseliges Lächeln auf den Lippen. Der Rachen des Todes hatte sich um ihn geschlossen, aber er war flink zwischen den Zähnen hindurch entwischt. Er war zu Recht stolz auf das, was er getan hatte - und doch hatte er dabei keine Ranken getragen! Und er beantwortete Dariens unausgesprochene Frage prompt so ausführlich, daß es ihr fast den Atem verschlug. »Ach ja, den Rankenanzug brauchte ich gar nicht, das war nur eine List, die dazu diente, mein wahres Geheimnis zu verbergen. Erinnerst du dich noch, als sie mich hier in diesem Außenposten an meinen Ranken festgebunden hatten? Als der Ruf kam, schlüpfte ich schnell aus meinem Anzug und machte mich nackt ans Werk. O ja, ich stand nackt vot dir, als ich den Schlüssel und die Pistole auf dein Bett legte. Ob mein Leib dir wohl gefallen hätte?« Et sah Darien direkt ins Gesicht, als er das sagte, und sie wurde so rot wie der Sonnenaufgang. Sein Lächeln wurde breiter, aber es war ein neckisches Lächeln, keineswegs bösartig. »Du wirst rot. Du weißt, daß ich gerade etwas Unanständiges gesagt habe, aber du weißt nicht, was. Sei unbesorgt, namenlose Dame. Ich bin die Hände der Äbtissin Theresia, und diese Hände würden dich niemals unsittlich berühren. Ach, aber hier spreche ich über meine Nacktheit, während ich davon erzählen könnte, was sich hinter dem Rand der Welt abspielt. Welches dieser beiden Themen würde dich mehr interessieren - das frage ich mich. Nachdem ich mir das eine ganze Weile angesehen hatte, hörte ich hinter mir Kamele, und als ich mich umdrehte, sah ich vier reiterlose Tiere ein Stück rechts von mir schnurstracks auf den
Abgrund zutraben. Und während ich zusah, verfielen sie mit einem Mal in Galopp, und dann sprangen sie alle in den Abgrund, und noch in der Luft galoppierten ihre Beine weiter. Sie trafen ein gutes Stück abseits der Felsen auf dem Wasser auf, wirbelten Gischt auf, die sich in blutigen Schaum verwandelte, als die Riesenfische sie in Stücke rissen. Nun kam ein Känguruh angehüpft, das gerade groß genug war, um vom Ruf fortgelockt zu werden. Es sprang - 110 ebenfalls in sein Verderben und wurde im Handumdrehen verschlungen. Bald kamen auch die dreißig überlebenden Reiter und stürzten hinab in den Rachen dieses lebendigen Fleischwolfs. Dann kamen zwei Ziegen, ein Dingo, noch ein Känguruh und sogar ein ganz ausgemergelter Esel. Dann näherte sich noch ein letzter Reiter der Klippe, ein Reiter, der in welkes Laub gewandet war. Tier, Krieger, Ältester - das ist alles nur Fleisch für die großen Schafe in dem tiefen, grünen Wasser. Auf dem letzten Stück verfiel Kharecs Kamel in vollen Galopp. Denn natürlich mußten sie bei den letzten Schritten Anlauf nehmen: Die Körper mußten auf dem Wasser auftreffen, nicht auf den Felsen landen, wo man nicht an sie herankam. Die Ernte war eingebracht, Häcksel für die Schafe oder vielleicht auch Fischmehl für die Schweine. Wie die Fischernetze durch die Gewässer in den Schluchten der Roten Berge von Alspring streifen, so streift der Ruf über das Land. Während der Ruf vorüberzog, sah ich, wie sich dieser Sturzbach aus Fleisch in den Abgrund ergoß und die Hirten ihre Schützlinge in Reih und Glied zur Fütterung vorüberführten. Als das vorbei war, fiel mir auf, daß sich die Gruppe der größeren Gestalten weiter draußen als erste auflöste, und dann erst zogen sich die Fresser zurück. Und noch gräßlicher als der Anblick dieses Gemetzels war der Gedanke, was für eine gigantische Verschwendung das war: Für jedes Tier, das an den Klippen ankam, waren wahrscheinlich tausend andere in der Wüste zugrunde gegangen. Ich kroch zurück zu meinem Kamel, und nachdem ich mich ein wenig ausgeruht hatte, machte ich mir Notizen und Skizzen. Kharec war mir dabei eine Hilfe. Der Fisch, der ihn entzweigebissen hatte, war viermal so lang gewesen wie er, so daß ich eine Vorstellung von seiner Größe gewinnen konnte. Ich führte mein Kamel aus dem permanenten Ruf hinaus und band es an, damit es grasen konnte. Gleich außerhalb des permanenten Rufs entdeckte ich eine Höhle, ein tiefes Loch in der Ebene. Dort lebte ich zwei Wochen lang und sah noch einige weitere Rufe den Abgrund erreichen. Zwischen den Rufen seilte ich mich an der Felswand ab und nahm Wasserproben. Es ist Salzwasser, so salzig, daß es ungenießbar ist. Auf den Felsen am Fuße der Klippen, inmitten der Gebeine der Tiere, die nicht im Wasser gelandet waren, fand ich verstreut einige Kleider und Schmuckstücke und haufenweise Menschenknochen in Hüllen aus rotem Rost, die früher einmal Rüstungen gewesen sein mußten. Überall an den Klippen das gleiche Bild. - 110 Bald glich meine Höhle einer Schatzkammer, und dann stieß ich auf meinen schönsten Fund überhaupt. Ein Totenschädel trug ein goldenes Stirnband, auf dem acht Klauen einen wunderschönen grünen Smaragd hielten. Der Schädel war sehr klein, und obwohl er weiter nichts war als gebleichtet Knochen, sah ich doch die Schönheit, die ihn früher einmal umhüllt hatte. Ich wußte, das mußte der Leichnam der legendären Ervelle sein, die vor vielen Jahren in den Ruf verbannt worden war ... ein äußerst tragisches Verbrechen. Das schöne Mädchen mußte schon nach ein oder zwei Tagen im Ruf verdurstet oder an Sonnenstich gestorben sein, aber ihr Kamel folgte dem Ruf quer durch die rote Wüste bis zu den Klippen und sprang dann über den Rand. Ich sammelte ihre Gebeine ein und ihre Ringe und den sonstigen Schmuck und vergrub das alles in meiner Höhle unter den anderen Schätzen, die ich gefunden hatte. Und am Eingang der Höhle meißelte ich den Namen ERVELLE ganz tief in den Kalkstein. Stell dir das vor, meine Schöne, ich habe Ervelle höchstselbst aus dem Ruf gerettet, habe sie mit Reichtümern überhäuft, habe ihr einen Palast erbaut und an Ihrer Seite geschlafen. Ich bin tatsächlich zu einem Teil dieser traurigen Legende geworden.« Tränen glitzerten in den Augen des Rankenmannes, und er tupfte sie mit einem Taschentuch fort. »Aber was soll's, sie wird ja ohnehin nie davon erfahren«, fügte er wehmütig grinsend hinzu. »Ich habe auch noch andere Wunder am Fuße dieser Klippen gefunden, aber warum dich mit Worten langweilen, die du sowieso nicht verstehst? Nach fünfzehn Tagen packte ich meine
Sachen, wickelte meine Notizen in Wachstuch ein, versiegelte sie, bestieg dann mein Kamel und ritt zurück nach Norden. Das Tier ist ein gutes Stück von hier entfernt angeleint - ich konnte ja schlecht den bettelnden Einsiedler spielen und dabei ein Kamel besitzen, nicht wahr? Und warum bin ich zurückgekehrt? Ja, du würdest es erraten, wenn du mich verstehen könntest. Ich bin zurückgekehrt, um dich mit nach Glenellen zu nehmen, um dich einzuschließen und für immer zu beschützen. Schöne Namenlose, ich habe mich dem Dienste der Äbtissin verschrieben, aber sie ist keine Frau, die man liebkosen und innig lieben könnte. Du bist so gänzlich schutzlos, und ich sehne mich so sehr danach, dir mein Schutzversprechen zu geben. Aber ach, ich bin kein Krieger, und selbst wenn ich wählend eines Rufs heimkehren würde, würde mich das Rudel kleiner Hunde mit den vorgeschnallten, metallenen Giftzähnen doch zur Strecke bringen.« - 111 Er machte ihr gewissermaßen einen Heiratsantrag oder zumindest das, was in seiner Gesellschaft dem entsprach. Für ihn grenzte der Gedanke, sie zu beschützen, an eine erotische Phantasie, und Darien war nicht nur eine Frau, sondern auch noch stumm. Er schien tatsächlich sehr betrübt, daß seine Pläne nun durchkreuzt worden waren. Nachdem er eine Zeitlang die Hände gerungen hatte, wechselte er das Thema. »Wie habe ich dem Ruf widerstanden? Das ist sehr schwer zu erklären. Man muß das schon selber können, sonst... kann man es nicht verstehen. Meine Techniken hat mir die Äbtissin Theresia beigebracht, und ihre wiederum beruhen auf den Techniken der Koorie-Nomaden. Diese Menschen haben ein anderes Zeitempfinden als wir, sie können ganz nach Belieben andere Zeitformen erträumen. Das ist ein Teil des Geheimnisses. Und wie konnte sie sich unter ihnen bewegen, wenn es ihr nicht gestattet ist, das Kloster in Glenellen zu verlassen? Ah-hah, ich bin ihr scharfes Ohr und ihr wachsames Auge. Ich habe bei den Koorie-Nomaden gelebt und mir ihr Wissen angeeignet. Es erfordert eine immense Konzentration und Selbstdisziplin und jahrelange Übung. Männer wie Kharec hätten das nicht auf sich genommen, die würden mich foltern, um mein Geheimnis zu erfahren, aber das Geheimnis läßt sich nicht in Worte fassen. Der Ruf ist immateriell, verstehst du, er verführt den Geist. Ich bin sehr stolz darauf, daß ich die Sinne der Äbtissin Theresia bin. Wenn man für die Götter arbeitet, lebt man auch selbst wie ein Gott -sagen jedenfalls die Diarec. Als sie also gelernt hatte, dem Ruf zu widerstehen, wollte sie erfahren, wodurch er ausgelöst wird. Ich bin ihre Hände, bin ihr Gehör und ihr Augenlicht, und deshalb mußte ich nach Süden reisen, durch die heiße rote Wüste. Ich brauchte eine schlagkräftige Eskorte. Die Koorie hätten einen einzelnen Reiter, der ihr Land erkundet, getötet, aber mit einer Schwadron war ich außer Gefahr. Deshalb wurde Kharec angeheuert, und deshalb ließen wir uns die Täuschung mit dem Rankenanzug einfallen. Der Anzug war viel zu umständlich und würdelos, als daß sich ein Krieger damit abgegeben hätte - es sei denn, unter den extremsten Umständen. Meine Herrin ist clever, nicht wahr? Werde ich sie je wiedersehen? Jetzt werde ich ganz allein das Land der Koorie durchqueren müssen, und auf der Reise nach Norden ohne den Schutz des Rufs. So etwas hat noch niemand vollbracht, aber andererseits habe ich schon so vieles als allererster getan, also wer weiß?« Da er nun seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, lehnte sich der - 111 Rankenmann auf der Bank zurück, dem ersten Möbelstück, mit dem sein Rücken seit Monaten in Berührung gekommen war. Darien reichte ihm Datteln und Kümmelkekse. Eine kühle Brise wehte zum Fenster herein, und die flüssigen Landschaften der Sandbilder arrangierten sich neu, während ihre Rahmen an Messinghalterungen im Wind schaukelten. In der Ferne hörten sie ein gedämpftes Rattern, als der Windzug schließlich die Rückfahrt nach Woometa antrat. Durchs Fenster konnte Darien die rotierenden Aufbauten erkennen, die mit Spiralmustern lackiert waten, die sich fortwährend aufwärts bewegten. »Jetzt verstehe ich«, flüsterte er. »Diese Reisemaschinen fahren die Straßen aus Stahlschienen entlang, ohne daß man sie lenken muß. Wenn ein Ruf über die Maschine hereinbricht, fährt sie
einfach weiter, und die Menschen innen drin sind sicher angeleint. An beiden Enden dieser Eisenschienen muß es Städte geben. Große, wunderbare Städte.« Sie wandte sich um. Er legte ihr seine Hände auf die Schultern und streichelte ihr Gesicht. »Du ... bist wunderschön. Ich würde dich gerne einschließen und vor den Schrecken dieser Welt beschützen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Aber das geht nicht. Es wäre zu gefährlich, dich zu entführen, und noch gefährlicher wäre die Rückreise durch die rote Wüste, vorbei an feindseligen Koorie-Nomaden. Du wirst nie die Äbtissin kennenlernen, die gegrillte Mäuse mit Giftgold-Chutney ißt und sich das Haar mit Tollkirschöl wäscht. Sie hat so manchen ihrer Freier umgebracht, indem sie ihre Haare in sein Getränk tunkte. Ich heiße Ilyire, schöne Dame. Das bedeutet Weinbauer, Mann des Weines. Mein adliger Vater hat einmal die Tochter eines armen Bauern verführt. Ja, und die Alimente haben aus ihm einen reichen Bauern gemacht. Hättest du gedacht, daß ich der Halbbruder der Äbtissin Theresia bin? Das ist allgemein bekannt, und deshalb darf ich in diesem Nonnenkloster auch ungestraft ein und aus gehen. Nimm das hier zum Andenken an mich. Das ist der goldene Zapfen aus dem Sandanker von Kharecs Kamel. Wenn deine Leute mich freilassen, werde ich zu meinem Kamel zurückgehen und für immer aus deinem Leben verschwinden. In meinem Gepäck habe ich eine versiegelte Rolle mit Notizen und Skizzen, die ich der Äbtissin Theresia vorlegen muß.« Darien hielt den Zapfen ins Licht, so als verstünde sie nicht, worum es sich dabei handelte, und schob ihn sich dann, einet plötzlichen Eingebung folgend, in ihre Haarflechte. Ilyire lachte und applaudierte. Nach - 112 ein paar Minuten, die mit weiteren Gesten und Lächeln vergingen, klopfte es eindringlich an der Tür. »Frelle stellvertretende Oberliber, ist alles in Ordnung mit Euch?« rief der Marschall. »Wenn Ihr nicht in fünfzig Herzschlägen draußen seid, komme ich herein.« Darien wies auf die Ketten, und Ilyire ließ sich wieder fesseln. Ehe sie das Tablett aufhob, tunkte sie noch den Saum ihres Kopftuchs ins Wasser, wischte damit über Ilyires Stirn und küßte ihn. Ilyire schrie verblüfft auf. »Nicht, meine Dame, nein!« schrie er. »Die Stärke eines Mannes zu verspotten ist eine Sünde, heißt es in der heiligen Schrift!« Der Marschall stemmte gerade noch rechtzeitig mit der Schulter die Tür auf, um zu sehen, wie Darien dem Gefangenen den Wasserkrug über den Kopf goß und dabei lautlos lachte. »Frelle, Frelle, was hat er gesagt, was -« Sie hielt sich einen Finger vor die Lippen und wies mit Gesten an, daß man Ilyire waschen und ihm etwas zu essen geben sollte. Der Marschall lächelte hämisch und grüßte zackig. »Ich werde die fünf kräftigsten Lokschrubber der ganzen Station eine Wanne mit eiskaltem Wasser füllen lassen«, sagte er zu Ilyire, der kein Wort von dem verstand, und marschierte dann hinaus. Der Ghaner starrte Darien an. »Du scheinst mehr zu sein als nur eine Dienstmagd«, flüsterte er so leise, daß Darien ihn kaum verstand. Mit einem letzten Kuß auf seine Stirn überließ sie ihn seinem Schicksal. Ilyires Kleider und seine Gepäckrolle behielt man zur Untersuchung in einem der Herbergszimmer, während er in seinem Bad auf der Terrasse schrie und fluchte. Sein Gepäck enthielt nichts Ungewöhnliches, einmal abgesehen von der in schützendes Wachstuch eingeschlagenen Schilfpapierrolle. Es war ein Bericht darüber, was er am Ursprung des Rufs entdeckt hatte, geschrieben mit einem Kohlestift. Der Text entsprach dem, was er ihr in der Bibliothek erzählt hatte, allerdings mit einigen bemerkenswerten Auslassungen. Darien hinterließ die Anweisung, man solle den Einsiedler bis zum Morgen in eine Zelle sperren und ihn dann freilassen - mit seiner gesamten Habe und soviel Proviant und Wasser, wie er wünschte. Die Plattform des Signalfeuerturms mußte ganz über Leitern erklommen werden. Die vorgefertigten Turmaufbauten verfügten über keinerlei Annehmlichkeiten wie etwa Flaschenzug-Fahrstühle, und Dariens Nach
- 113 rieht war so geheim, daß sie sie persönlich eingeben mußte. Der Himmel war wolkenlos, und es war kurz vor Mittag. Der Signalfeuer-Heliostat würde ein kräftiges Signal gen Osten werfen, auf der ersten Etappe nach Rochester. Was als aufblitzende Lichtpunkte einen halben Kontinent überquert hatte, wurde von der Silberhennenbatterie der Hoheliber in einen Papierstreifen gepickt. Als die Nachricht in Sicht gespult wurde, wandte Zarvora dem Gerät gerade den Rücken zu und sprach mit Vellum Drusas. »Die Bibliotheken des Südostens sind gänzlich ausgepreßt, Hoheliber«, sagte Drusas und breitete dabei demonstrativ die leeren Hände. »In den Stadtstaaten der Allianz gibt es mehr Drachenbibliothekare als in Libris«, entgegnete sie teilnahmslos. »Ich spreche hier von noch einmal einhundert Blauen und Grünen von insgesamt über tausend.« »Aber Hoheliber, die haben alle ihre Pflichten zu erfüllen. Sie müssen Leuchtfeuertütme betreiben, Klassen unterrichten, Bücher ausgeben und einsammeln und Zeremonien abhalten. Die Bürgermeister beschweren sich schon, daß Ihr ihnen die besten Leute wegnehmt. Mir liegen förmliche Beschwerden von den Bürgermeistern von Hopetoun, Warracknabeal, Litcfmeld und Tandara vor. Libris macht sich allmählich unbeliebt.« Zarvora griff hinter sich und riß den Lochstreifen ab, ohne ihn sich jedoch anzusehen. »Der Hegemeister hat Kontakte in den Zentralbund«, sagte sie, so als ziehe sie eine ganz vernünftige Option in Betracht. Drusas war entgeistert. »Ich wollt Drachenbibliothekare entführen lassen, Hoheliber?« »Wäre das machbar?« Drusas zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit übers Gesicht. Die Hoheliber hatte sich seine Meinung über das Anwerbungsproblem geduldig angehört, und diese Alternative, Leute zu verschleppen, war von ihr ganz offenkundig als vernünftiger Vorschlag gemeint. »Ja, vielleicht, in begrenztem Maße ... ja«, antwortete er zögernd, sich bewußt, daß allzu heftige Widerrede in dieser Situation gefährlich gewesen wäre. »Man müßte es so aussehen lassen, als wären es Entführungen, die nichts miteinander zu tun haben, und man müßte ein großes Gebiet einbeziehen, sonst würden sie uns schnell auf die Schliche kommen.« - 113 »Wieviele würde uns das einbringen?« »Ich könnte Euch etwa dreißig aus unterschiedlichen Rängen zusagen. Nicht mehr.« »Das ist nicht einmal ein Drittel dessen, was ich brauche.« »Bitte, Hoheliber! Der Zentralbund ist unser Verbündeter und Handelspartner, und alle Gefangenen müßten über südmaurisches Gebiet hierhergebracht werden. Wenn der Emir herausfände, daß wir Staatsbürger des Zentralbundes verschleppen, würde er es sofort im ganzen Südosten herumposaunen. Bei dieser Geschichte mit dem gekaperten Signalfeuerturm mußte er viele Zugeständnisse machen, und das hier würde ihm dabei helfen, sein Gesicht zu wahren.« Während Drusas sprach, hatte Zarvora begonnen, die Nachricht zu lesen. / MARALINGA DARIEN VIS BABESSA CODE CY900 RANKENMANN HAT REISE ÜBERLEBT UND URSPRUNG DES RUFS GESEHEN. ALLE ANDEREN REITER DER GHANER SIND TOT. ES BESTEHT DIE MÖGLICHKEIT, DIE ÄBTISSIN PERSÖNLICH ANZUWERBEN. DARF ICH IHR EINEN DRACHENRANG IN LIBRIS VERSPRECHEN? / Zarvora sah von dem Papierstreifen hoch. Drusas schlug gerade einen Korrespondenzordner auf, der das Bischofswappen trug. »Hoheliber, Entführungen aus dem Zentralbund sind derart riskant, daß sie der Mühe nicht wert sind. Ich bitte Euch inständig: Zieht noch einmal die Mönchskloster in Betracht. Mönche sind fleißig, gut ausgebildet und diszipliniert, und der Erzbischof ist bereit, sie uns zu sehr großzügigen Konditionen anzubieten.« »Und was ist mit dem Bann, der ihnen verbietet, in Rochester zu leben?« fragte sie mit geistesabwesender Stimme und las dabei immer wieder den Lochstreifen ab. »Gegen eine entsprechende Vergütung je Seele könnte er das eventuell vor seinen Amtskollegen rechtfertigen.«
»Arrangiert ein Treffen mit ihm.« »Er kann nicht nach Rochester kommen.« »Dann reise ich zu ihm.« Drusas lehnte sich auf seinem Sitz zurück. Er hatte sie noch nie so freundlich erlebt. »Bringt der Lochstreifen gute Nachrichten, Hoheliber?« - 114 »Ja, Fras Inspektor. Ich bin ein großes Wagnis eingegangen, und ich habe gewonnen.« Während Drusas mit dem Diener der Hoheliber die Einzelheiten ihres Besuchs beim Bischof besprach, gab Zarvora eine Nachricht an die Signalfeueradresse Maralinga ein und verschlüsselte sie mit CY900. Der Text lautete: / HANDELT IN MEINEM SINNE / und war an Darien vis Babessa persönlich adressiert. Darien kehrte am späten Nachmittag auf die Signalfeuerplattform zurück - die Antwort der Hoheliber wurde erwartet. Wie von Darien vorhergesehen, hatte Zarvora unverzüglich geantwortet. Es war eine kurze Nachricht, nur vier Worte, aber diese Worte ließen ihr freie Hand. Wieder zurück auf ihrem Zimmer, begann sie mit det Niederschrift ihres Berichts über den Überfall auf die Bahnstation Maralinga. Erst um Mitteinacht war sie damit fertig. Als sie die Seiten in Ilyires Aufzeichnungen hineinwickelte, hielt sie inne, las noch einmal die letzte Seite und lachte lautlos übet das, was da stand. John Glasken war ebenfalls in den Dienst der Hoheliber getreten, wenn auch unter gänzlich anderen Umständen. Mit verbundenen Augen, gefesselt und geknebelt hatte man ihn in einen Wagen verfrachtet und vom Gleitbahnhof fort durch die Straßen von Rochester gefahren. Anhand der Rufe auf den Straßen, der Arbeitsgeräusche der Handwerker und der Anrufe der diversen Wachtposten vermochte er zu erkennen, daß man ihn in die Gegend des Staatspalastes und nach Libris brachte, dann hinein. Die Luft um ihn her wurde kälter, als die Tore hinter dem Wagen polternd ins Schloß fielen, und dann hob ihn jemand sehr Kräftiges aus dem Wagen und hielt ihn aufrecht. Seine Hand- und Beinschellen wurden mit einem Meißel aufgestemmt, und dann trug man ihn noch ein gutes Stück, durch etliche offenstehende Türen und vorbei an den Anrufen diverser weiterer Wachtposten. Man stieg mit ihm zwei Treppen hoch und setzte ihn dann auf eine hatte Bank. Die Fesseln an seinen Händen und Füßen wurden gelöst, und schließlich befreite man ihn auch von dem Knebel und der Augenbinde. Vor ihm stand ein stämmiger Rotdrache, nur mit einem großen Schlagstock bewaffnet. Der Mann war offensichtlich das, was Glasken hier als erstes erblicken sollte, ein Anreiz, sich gut zu benehmen. Das Zimmer war klein und verfügte nur über ein vergittertes Oberlicht. An einet Wand hing eine Tafel mit einem Kreidefach. Nun ging rechts eine Tür auf, und ein - 114 schlanker Rotdrache mittleren Alters kam herein, mit einer gestreiften Uniform über dem Arm. »Ich bin dein Ausbilder«, sagte er, warf die Uniform auf die Bank und baute sich dann mit verschränkten Armen vor ihm auf. »Zieh das an.« Glasken mußte sich nur seiner Hose entledigen. Die neue Uniform war sauber und trug sich angenehm. »Gefangener John Glasken, man hat dich deiner Arithmetikausbildung wegen von einer Verurteilung zu sechzig Jahren Zwangsarbeit begnadigt und statt dessen hierher verlegt«, sagte der Bibliothekar und nahm sich ein Stück Kreide. »Man wird dich hier gut ernähren und kleiden, und die Arbeit hier ist körperlich nicht sehr anstrengend. Du wirst allerdings hart arbeiten müssen. Der Bürgermeister braucht Berechnungen, und du wirst sie ihm liefern.« Er drehte sich zur Tafel um und zeichnete fünf kleine Kreise in einer Reihe, dann noch einen Kreis darüber. »Dieser obere Kreis, das bin ich«, sagte er und wies mit der Kreide darauf. »Die untendrunter, das sind Leute wie du. Also, mir wurde eine umfangreiche Berechnung aufgegeben, die mich zehn Tage schwierigste Arithmetik kosten würde. Statt dessen aber nehme ich mir einen halben Tag lang Zeit, um die Aufgabe in fünf Teile aufzuteilen und gebe diese an meine fünf Gehilfen weiter. Diese arbeiten jeweils zwei Tage lang daran. Es kostet mich noch einmal einen halben Tag, die
Ergebnisse zusammenzufügen, und so habe ich die Aufgabe mehr als dreimal schneller erledigt. Kannst du mir folgen?« »Ah, ja, Fras Rotdrache.« »Gut. Ich kann aber nicht mehr als zwölf Stunden pro Tag arbeiten, und du kannst das auch nicht. Wenn mir nun zehn Mann zur Verfügung stehen, könnte ich eine zweite Schicht einsetzen, während du schläfst, und die Aufgabe wäre in nur zwei Tagen gelöst. Was würdest du tun, um die Aufgabe noch schneller zu lösen?« »Zwanzig Menschen einsetzen?« »Trottel!« spie der Ausbilder und schleuderte Glasken die Kreide ins Gesicht. »Es kostet mich doch immer noch Zeit, die Aufgabe aufzuteilen. Nein, ich muß die Aufgabe von einem weiteren Team von Rechnern aufteilen lassen, nur dann werde ich schneller. Wenn ich zwei Leute habe, die die Aufgabe in zwanzig Teile aufteilen, kann ich das Tempo steigern. Was hätte ich davon, wenn die Berechnungen in Minutenschnelle erledigt wären, wenn ich doch einen kompletten Tag dafür brauchte, sie vorzubereiten.« - 115 Man bot Glasken hier ganz offensichtlich etwas Angenehmeres als sechzig Jahre in der Wüste, und er wollte unbedingt einen guten Eindruck machen. »Was für Aufgaben sind das denn, die da berechnet werden?« fragte er und hoffte, intelligent zu klingen. »Fragt ein Ruderer, wohin die Schlachtgaleere auf dem Fluß gesteuert wird? Würde es ihm, wenn er es wüßte, dabei helfen, besser zu rudern? Was wir hier haben, ist einer Flußgaleere oder einem Galeerenzug tatsächlich sehr ähnlich, Fras Glasken. Es ist eine Maschine, die aus tausend Menschen besteht, die die Arbeit in drei Schichten untereinander aufteilen. Diese Maschine hat Hunderte mal mehr Rechenkraft als ein einzelner Mensch. Und sie schläft nie, wird nie krank und stirbt nicht.« »Und was ist, wenn jemand mitten in so einer großen Gemeinschaftsberechnung einen Fehler macht? Woher weiß man dann, daß die Lösung falsch ist?« »Die Maschine besteht aus zwei identischen Hälften, die parallel arbeiten. Wenn die Lösungen voneinander abweichen, werden die Berechnungen wiederholt, bis die beiden Hälften übereinstimmen. Ich werde dich nun für deine Tätigkeit als allereinfachste Komponente ausbilden, als ADDIERER. Du bist ab jetzt nicht mehr John Glasken. Du bist jetzt ADDIERER 3084-T« Und so ging es weiter, Stunde um Stunde. Glasken erfuhr, mit welchen Strafen Fehler und schlechte Führung geahndet wurden, die Tagesabläufe, die Dienstgrade der Wachen und Drachenbibliothekare, und man skizzierte ihm die Aufgaben seiner Mitgefangenen. Man versuchte es mit ihm an einem Pult mit einem großen Abakus und drei Hebelbänken darauf und brachte ihm bei, aus einer Reihe von Metallfähnchen, die aufrecht standen oder gesenkt wurden, eine Zahl zu erkennen. Dann mußte er diese Zahl aus der oberen Hebelbank in den Abakus eingeben. Anschließend mußte er ein Pedal betätigen, woraufhin eine weitere Zahl auf der Bank auftauchte, die er zu der ersten auf dem Abakus addieren mußte. Wenn die Liste abgearbeitet war, sprangen alle Fähnchen der Hebelbank wieder in die obere Ausgangsposition, und er gab seine Lösung in die untere Hebelbank ein und betätigte dann ein Pedal. Wenn die nächste Liste anstand, klappten sämtliche Hebel der oberen Bank in die untere Position, und wenn er das Pedal betätigte, erschien die erste Zahl. Das mit den anderen Hebeln lernte er später. Zwar zeigte das Oberlicht den Verlauf von Tag und Nacht, aber dennoch verlor er bald jegliches Zeitgefühl. Man sagte ihm, die Wachen, die - 115 auf den Korridoren patrouillierten, würden als Regulatoren bezeichnet. Sie ahndeten Vergehen, hielten Ordnung und kümmerten sich darum, wenn es Probleme mit Gerätschaften oder Komponenten gab. Während seiner Ausbildung sah Glasken niemanden außer seinem Instrukteur und ein paar schweigsamen Gefangenen, die etwas zu essen brachten. Von den Mahlzeiten bekam et Verstopfung, und vom Feierabend abgesehen, bekam er nur selten etwas zu trinken. Pinkelpausen während der jeweils vierstündigen Ausbildungsblöcke wurden nur sehr ungern gesehen. Am Ende des Tages sperrte man ihn in ein kleines Zimmer mit vier Etagenbetten, und er
brach auf einem der unteren Betten zusammen, als hätte er den ganzen Tag lang in einem Steinbruch geschuftet. Eines Tages schickte man ihn ohne Vorwarnung einen ihm bis dato unbekannten Korridor hinab in einen großen, hell erleuchteten Saal. Das war nun der Kalkulor selbst, kein Schulungsmodell. Glasken war von Ehrfurcht ergriffen. Da waren Dutzende Pultreihen, und darüber verliefen Drähte hin und her. Einige Drähte beförderten kleine Nachrichtenbehälter hin und her, andere wurden sirrend gespannt. Was ihm aber ein beklommenes Gefühl einflößte, war, daß, obwohl hier so viele Menschen waren, niemand etwas sagte. Man hörte einzig und allein das unaufhörliche Sausen der Abakuskugeln über die Drähte und das Klicken der Hebel, wie eine Wiese voller Grillen am Abend. Nachdem er sich über den mitten durch den Saal verlaufenden Trennvorhang gewundert hatte, wurde Glasken klar, daß er hier nur einen Prozessor der riesigen Rechenmaschine sah. Man führte ihn zu einem Platz hinten im Saal und kettete ihn mit ledergepolsterten Eisen an eine Bank. Die Ketten waren leicht und in Filz gehüllt, um ihr Klirren zu dämpfen. Man hatte an alles gedacht, damit sich die Komponenten wohl fühlten und nicht abgelenkt wurden. Glaskens Ausbilder stand hinter ihm und legte einen Hebel von LEERLAUF auf BEREIT um. »In den ersten beiden Stunden wirst du nur wenig zu tun bekommen und dich währenddessen an die Arbeitsabläufe gewöhnen«, sagte det Ausbilder sehr leise. »Wenn du so gut arbeitest wie während der Ausbildung, bekommst du dann bis zur Schichtpause dein volles Pensum. In der Pause bekommst du Kaffee, und wir werden unterdessen deine Arbeit auswerten, und anschließend wirst du möglicherweise als installierte Komponente klassifiziert.« »Und was passiert, wenn meine Leistungen nicht ausreichend sind?« - 116 fragte Glasken, wie stets besorgt, was die Konsequenzen waren, wenn er versagte. »Dann wirst du noch eine Woche lang geschult. Und wenn auch das nichts hilft, wirst du ausrangiert.« »Bedeutet das, ich muß dann in die Wüste, Gleise verlegen?« »Nein, das leider nicht«, sagte der Ausbilder mit ernster Stimme und schüttelte den Kopf. Glasken erbebte. Der Ausbilder legte den Hebel auf IN BETRIEB um. Glaskens Hemd war schweißgetränkt, als er mit der Arbeit begann, aber bald wurde ihm klar, daß das hier viel einfacher war als das, was er während der Schulung getan hatte. Als die Arbeitslast stieg, wurde er problemlos damit fertig. In der Schichtpause kamen drei Rotdrachen zu ihm. Sie lächelten und nickten und lösten das »T« von seiner Armbinde. Nach Ablauf der acht Stunden war Glasken erschöpft und hungrig und mußte dringend auf die Toilette, war sich aber auch sicher, daß man ihn nicht ausrangieren würde. Sein Ausbilder gratulierte ihm und führte ihn zu einet anderen Zelle als der bisherigen. Die sollte er sich mit drei anderen Männern teilen, alle aus seiner Schicht. Zwei von ihnen waren Mitte dreißig, der dritte schon alt und grau. Das Essen bekamen sie in Blechnäpfen. »Du bist also neu hier, hm?« fragte MULTIPLIKATOR 901. »Meine erste Schicht heute«, sagte Glasken zwischen zwei Löffeln Eintopf. »Glückwunsch«, sagte der alte Mann, KONVERTER 15. »Nicht alle neuen Komponenten bestehen die Prüfungen beim ersten Mal. Und ein paar bestehen sie offenbar nie.« »Bedeutet ausrangiert werden das, was ich vermute?« fragte Glasken. KONVERTER 15 nickte. »Hast du draußen jemals von dem Kalkulot gehört, ADD?« fragte PORT 72. »Nein. Das habe ich mit gedacht. Kein Neuer hat je davon gehört. Das bedeutet, daß hier niemand lebend rauskommt, sonst gäbe es wenigstens Gerüchte.« Glasken hielt zwischen zwei Löffeln inne und rülpste ungehemmt. »Ich nehme an, das bedeutet, daß wir lebenslänglich hier drinbleiben.« »Nee, hier drin bleibst du nur so lange, wie du wenigstens noch als einfachste Komponente arbeiten kannst«, sagte KONVERTER 15. »Aber mach dir keine Sorgen, Junge. Sie lassen einem genug Instandsetzungszeit, wenn man mal krank wird, und es gibt ein Kontingent Reser
- 117 vekomponenten, die an unserem Ruhetag alle zwei Wochen oder wenn wir krank sind für uns einspringen. Paß auf deine Gesundheit auf, dann kannst du hier ziemlich alt werden und im Bett sterben, ehe dein Anteil an Instandsetzungstagen aufgebraucht ist.« Glasken wußte nicht recht, ob er nun erleichtert sein sollte oder nicht. KONVERTER 15 ging in eine Ecke und benutzte seinen Pißpott. »Hat schon mal jemand versucht zu fliehen?« fragte die neuste Kalkulorkomponente den MULTIPLIKATOR. »Ja. Hin und wieder mal schlägt einer einen Wächter nieder und rennt dann den Korridor runter, aber die kriegen sie jedesmal und dreschen dann mit Stöcken auf sie ein. Und die hinter denen mit den Stöcken haben Pistolen. Hast du schon mal gehört, daß es einer bis zu den Pistolen geschafft hat, KON ?« »Das letzte Mal '97, kurz nachdem der Kalkulor in Betrieb genommen wurde«, sagte der über die Schulter hinweg. »Aber das war vor meiner Zeit. Ich würde sagen, daß schon ungefähr zwanzig ausrangiert wurden, weil sie ein Doppel hingelegt hatten.« »Ein Doppel?« »Weil sie zum zweiten Mal versucht hatten abzuhauen, ADD. Jede Komponente, die das macht, wird automatisch ausrangiert.« Schade, dachte Glasken. Sonst hätte man nach der Methode »Versuch und Irrtum« lernen können zu entfliehen. »Nur eine Frage noch«, sagte Glasken und schabte die letzten Reste seines Eintopfs zusammen. »Wer seid ihr überhaupt - du zum Beispiel, PORT?« »Ich war früher mal Geldwechsler«, sagte PORT. »Dann haben sie mich bei kleinen Unregelmäßigkeiten erwischt. Ich bin seit vier Jahren hier. Wir sind alle Kleinkriminelle, ADD, so wie du. Kein Mensch vermißt uns.« Darüber dachte Glasken lange nach. Es tat weh, aber er mußte sich eingestehen, daß das stimmte. Ilyires Reise nach Norden war noch weit mühseliger als sein Ritt mit den Lanzenreitern in den Süden. Immun gegen den Ruf zu sein, bot einem nur wenig Schutz, wenn man sich entgegen der Richtung des Rufs fortbewegte. Er machte einen großen Umweg nach Osten, um den Koorie-Völkern aus dem Weg zu gehen, gegen die Kharec gekämpft hatte. Die - 117 Reise dauerte ein ganzes Jahr, und in der ausgedörrten Wildnis verendete sein Kamel - er mußte zu Fuß weitergehen. Er jagte, verbarg sich, und wenn man ihn in die Enge trieb, kämpfte er. Endlich erreichte er Fostoria, das für ihn einmal am Ende der Welt gelegen hatte. Ganz allmählich erholte er sich wieder, und während er Arbeit als Treiber bei einer Karawane suchte, mit der er nach Glenellen zurückkehren konnte, bemerkte er, daß sich in der Oase mindestens zwei Männer aufhielten, die eine Sprache sprachen, die der der Menschen jenseits der südlichen Wüsten sehr ähnelte. Ilyire schloß daraus, daß es womöglich ungefährlichere Routen in den Süden gab als die, die er eingeschlagen hatte. Zwei weitere Monate vergingen, ehe er dann schließlich vor seiner Halbschwester stand und ihr die versiegelte Schriftrolle überreichte, in det der Ursprung des Rufs beschrieben wurde. Seine Halbschwester hatte sich überhaupt nicht verändert, Ilyire aber war nach der langwierigen und aufreibenden Expedition von Narben übersät und sonnengereift. Sie umarmten einander kurz und förmlich, wie in der heiligen Schrift vorgeschrieben, aber Ilyire bebte vor Eifer, ihr zu berichten, mit welch fabelhaftem Erfolg er ihre Befehle ausgeführt hatte. »Es freut mich zu sehen, daß Ihr am Leben seid, Ilyire«, sagte Theresia und mokierte sich so über die förmlichen, prüden Manieren von Alspring. »Ich habe überlebt, um wieder vor Euch zu treten, o Halbschwester«, erwiderte er mit einer geschmeidigen Handbewegung und spielte das Spiel mit. »Wäret Ihr gestorben, ich hätte meinen rechten Arm verloren.« »Euer rechter Arm ist so stark wie eh und je«, sagte Ilyire stolz, schob den Ärmel hoch und ließ seine sehnigen Muskeln spielen.
Theresia erbrach das auf dem Wachstuch angebrachte Siegel und wickelte die Seiten auseinander. Der ferne Gesang ihrer Ordensschwestern wurde hin und wieder von Vogelgeträller begleitet, und Ilyire lehnte sich zurück, um sich in ihrem Lob zu aalen. Sie las schnell, aber es war ein langer Bericht. Irgendwo außer Sicht plätscherte Wasser in einem Springbrunnen, und ein Gebläse mit Solarantrieb spendete dem von Weinstöcken, Farnen und Sandsteinsäulen eingefaßten Garten eine sanfte Brise. Ilyire kannte die Wüste gut und konnte dort bestens überleben, aber er liebte sie nicht. Der kühle Schatten und das Grün hier im Kloster waren weit mehr nach seinem Geschmack. Ein Sprühnebel aus einem nahen Springbrunnen netzte ihm das Gesicht, und er schloß die - 118 Augen. Nun war Theresia draußen in der sengend heißen Wüste, die er sechzehn Monate lang erduldet hatte, aber sie war vor der Hitze und den Gefahren in Sicherheit und würde sofort zurückkehren, wenn sie seine Worte gelesen hatte. Mit einem Mal begann sie laut zu lesen. »>Äbtissin Theresia, wo lest Ihr diese Worte? Sicherlich in den schattigen Kreuzgängen aus rotem Sandstein in Glenellen ...Ilyire muß mittlerweile heimgekehrt sein, als einziger Überlebender der von Kharec angeführten Schwadron. Er hat Euch eine Wachstuchrolle mit Papieren vorgelegt, aber darin befinden sich zwölf zusätzliche, engbeschriebene Seiten, und dies hier ist die erste dieser Seiten. Ja, ich habe den Befehl gegeben, Ilyire über Nacht gefangenzuhalten, während ich all dies niederschrieb. Äbtissin Theresia, herzliche Grüße von der stellvertretenden Oberliber Darien. Schütze deine Frauen vor dem Tier in der Seele des Mannes. Schließe deine Frauen und Kinder ein, auf daß ihnen kein Leid geschehe. Verehre deine Frauen als Gefäße des Schicksals. Schütze -- deine Frauen vor ihren eigenen Narreteien.< Ja, Ilyire, ich kenne die heilige Schrift so gut wie du, wenn nicht besser. Und dieses dritte Gebot ist der Grund dafür, daß ich fortmuß. Das hier ist eine Frage des Schicksals. Entweder reise ich mit dir nach Maralinga, oder unser ganzes Volk wird ausgelöscht.« »Es wäre eine Zuwiderhandlung gegen die heilige Schrift.« »Der Untergang des Volks von Alspring wäre die größtmögliche Zuwiderhandlung gegen die heilige Schrift. Du würdest damit Tausende Frauen und Kinder töten, Ilyire. Könntest du vor die Gottheit treten und erklären, warum du das nicht verhindert hast?« Er kniff die Augen zu und erbebte. »Du hast es mir beigebracht. Ich kann es anderen beibringen«, sagte er verzweifelt. Theresia lächelte, schlug dann neckisch mit ihren schwarzen Haarsträngen nach ihm. »Ausgezeichnet. Ich rufe jetzt eine Novizin, und wenn du ihr binnen einer Woche beibringen kannst, dem Ruf zu widerstehen, lasse ich dich alleine ziehen.« Ilyire stand mit gesenktem Kopf da, während Theresia auf eine Antwort wartete. Schließlich schüttelte er den Kopf. Sie tätschelte ihm den Rücken. »Und außerdem habe ich dir gar nichts beigebracht.« »Wie bitte?« »Laß gut sein. Beeil dich, wir brauchen zwei Reitkamele, vier Lastkamele und Proviant für drei Monate ... ach ja, und entsprechende Gewänder, damit ich mich als Söldner verkleiden kann. Wir brechen heute nacht auf.« »Es wäre klüger, während eines Rufs aufzubrechen.«
»Aber der Ruf dringt nur zwei- oder dreimal pro Jahr so weit ins Landesinnere, und wir können es uns nicht erlauben zu warten. Wenn Gott gefällt, was wir tun, schickt er uns vielleicht einen Ruf.« Ilyire ging Kamele und Proviant kaufen, und Theresia ging in ihre Zelle, um zu packen. Ein Ruf würde ihre Abreise decken, da gab es gar - 121 keinen Zweifel. Sie hatte in Ilyires Abwesenheit ihr Wissen über den Ruf vertieft und nahm sein Nahen nun bereits zwölf Stunden im voraus wahr. Bald würde sie das Ilyire erzählen - und auch noch mehr. Bald, aber jetzt noch nicht. Im Lichtschein einer qualmenden Olivenöllampe entfaltete Theresia die letzte Seite von Dariens Brief. Es war eine verschlüsselte Botschaft, die sie schnell im Kopf enträtselt hatte, als sie noch im Garten gewesen waren. Jetzt schrieb sie den Text sorgfältig ab, um ganz sicherzugehen. »Eine von einem ganzen Dutzend, Frelle Theresia, ein ganz einfacher Kode, aber ich bezweifle, daß Ilyire ihn zu entschlüsseln vermag. Aus den Seiten, die Ihr gelesen habt, habt Ihr entnommen, daß begabte Frauen in unserem Land sehr einflußreiche Positionen erlangen können, dabei aber auch ein großes Maß an Freiheit genießen. Das ist der eine Grund, warum ich Euch diese Geschichte erzähle. Der andere Grund ist der, Ilyire eine solche Angst einzujagen, daß er Euch dabei hilft, zu uns zu kommen, falls Ihr das wünscht. Seid Ihr denn glücklich mit einem so klösterlichen, eingeschränkten Leben, und sei es auch als Äbtissin? Wollt Ihr denn weiterhin nur durch Ilyire leben und forschen? Wenn nicht, kann ich Euch einen Ausweg anbieten, Frelle Theresia. Es gibt keine Wunderwaffe, das mit dem vergifteten Fleisch und dem Ruf habe ich mir ausgedacht. Bevor Ilyire in diesen Abgrund blickte, hatten wir nicht die geringste Ahnung, was hinter dem Ruf steckt. Wenn Ihr mit Eurem Los als Äbtissin zufrieden seid, dann entschlüsselt das hier bitte für Ilyire, lacht über meine Finten und lebt weiter wie zuvor. Wenn Ihr aber Euren Äbtissinnenrang gegen den einer Silberdrachen-Oberliber eintauschen mögt, so hat mich die Hoheliber Cybeline persönlich ermächtigt, Euch willkommen zu heißen. Woher weiß ich das so schnell, wo Libris doch mehrere Tagesreisen entfernt liegt, selbst mit einem Windzug? Kommt zu uns und findet es heraus. Wenn wir unsere Beherrschung physikalischer Gerätschaften und Eure Beherrschung des Geistes vereinen, Theresia, könnten wir vielleicht gar selbst den Fluch des Rufes bannen. Denkt darüber nach, und dann kommt zur Bahnstation Maralinga und fragt nach Eurer Freundin und Dienerin, Frelle Darien vis Babessa, stellvertretende Oberliber.« - 121 Theresia lächelte angesichts dieser Worte. »Auf der ganzen Welt gibt es nur zwei Frauen und einen Mann, die den Ursprung des Rufs kennen«, sprach sie zu dem Schilfpapierbogen und hielt den Rand dann an die Flamme der Olivenöllampe. Das Material verbrannte nur langsam, widerstrebend, so als mißbilligte es ihren Entschluß. - 121 7 COUP en älteren Mitarbeitern von Libris schien es, als käme mit dem Ende des Jahrhunderts auch das Ende ihrer Welt. Unter Hoheliber Zarvora wurden Bücher nicht mehr als Symbole der ehemaligen Größe der Zivilisation und Zeichen einet unerreichbaren Machtfülle verehrt, sondern waten nur mehr Werkzeuge, die dazu dienten, Fragen zu beantworten. Es gab keine ausgedehnten, gemächlichen Kommissionssitzungen über die Feinheiten der Katalogisierung mehr, keine Feierstunden in den Kreuzgängen, wenn verschollen geglaubte wichtige Werke wieder aufgetaucht waren, und auch keine Exkursionen der Leitungsebene während des alljährlichen Weinfests durch die Bibliotheken von Ruthetglen. Das Leben im neuen Libris war geprägt von Fertigungsplänen, Zeitplänen, Versetzungen und Lochstreifennachrichten. Die Personalstärke hatte sich in nur drei Jahren verdoppelt, und doch hatten alle mehr zu tun als früher. Der schnellste Mitarbeiter der Katalogabteilung leistete nun pro Woche das Zweihundertfache wie
fünf Jahre zuvor, aber dennoch würde auch dieser Rekord wahrscheinlich nur einen Monat Bestand haben. Die Frage, was genau das zusätzliche Personal eigentlich tat, blieb ungeklärt. Der Bibliotheksverbund leitete nun effektiv das Signalfeuer-wie auch das Gleitbahnnetz und stellte der Regierung des Bürgermeisters auch noch eine Reihe weiterer Dienste zur Verfügung. Während eines kurzen, aber erbittert ausgefochtenen Grenzkrieges gegen die Südmauren in Talangatta wurde wieder einmal offenbar, daß Libris für die kleine, aber bestens ausgestattete Armee von Rutherglen eine wichtige Rolle spielte. Scharfsinnigen Beobachtern entging nicht, daß das wahre militärische Potential des kleinen Stadtstaats womöglich im Verborgenen schlummerte. Als die Südmauren das durchführten, was sie für einen Überraschungsangriff hielten, hatten sich wiederum binnen nicht einmal eines Tages irgendwelche uninteressanten Ersatzteilhaufen in militärische Galeerenzüge und transportable Signalfeuer-Leuchttürme verwandelt. Was lag in Rochester denn noch alles zur Montage bereit? Spione anderer Stadtstaaten entdeckten, daß weit mehr Lebensmittel - 122 in den Fernmeldeanbau von Libris geliefert wurden, als die dort als tätig verzeichneten Mitarbeiter überhaupt verbrauchen konnten, und Gerüchte über eine große Arbeitsgruppe von Rechendienern sprachen sich sogar bis zum einfachen Volk der Stadt herum. Und diese Gruppe, hieß es, brauche dringend Verstärkung. Männer und Frauen aus allen Schichten beteuerten, keinen blassen Schimmer von Mathematik zu haben, aus Furcht, man werde sie womöglich in einer mondlosen Nacht mit einem Schlag auf den Hinterkopf für diese Gruppe anwerben. An den Universitäten der Südostallianz sanken die Einschreibezahlen für mathematische Fächer auf ein Zehntel der Vorjahreswerte, und man mußte den Studenten den Rang eines Weißdrachenbibliothekars zuerkennen, sonst hätten sie keinen Fuß in eine Mathematikvorlesung oder -übung gesetzt. Viele Mathematikedutoren flohen in den Zentralbund oder gar ins Südmaurenreich. Sie ließen sich erst zur Rückkehr bewegen, nachdem Bürgermeister Jefton sie pauschal zu Rotdrachen ernannte und seinem persönlichen Schutz unterstellte. Doch der Kalkulor verlangte nach immer noch mehr Komponenten. Die militärischen Galeerenzüge der Hoheliber hatten in einem bis dahin nicht gekannten Tempo Verstärkungstruppen aufs Schlachtfeld geworfen, um die Südmauren bei Talangatta vernichtend zu schlagen, und das hatte Libris großes Wohlwollen eingetragen. Man hatte Zarvoras Inspektoren gestattet, das Heer der islamischen Kriegsgefangenen auf Rechenkundige hin zu durchkämmen. Von den fünftausend Gefangenen wurden siebenhundert eingezogen, neunzig weitere als zweisprachige Übersetzer und Dolmetscher. Um diese zusätzlichen Komponenten unterbringen zu können, verlegte man fast ein Fünftel des Buchbestands von Libris in ein Außenlager im Staatspalast, zusammen mit einem Bataillon Drachenbibliothekare und Diener. Lemorel erfuhr von Tarrin, das man aus den gefangenen Südmauren ein kleines Doppelprozessorsystem gebildet hatte, das dort untergebracht war, wo sich früher das Klassikermagazin befunden hatte. Es waren einhundertundfünfzig Komponenten, die in zwei Schichten arbeiteten, aber die Hoheliber verhandelte bereits über weitere rechenkundige Südmauren aus den gelegentlichen Gefechten an der Grenze nach Deniliquin. Dieser Kalkulor, die »Islamische Maschine«, wie die Bibliothekare ihn nannten, war besonders schnell bei Kontrollund Dechiffrierungsberechnungen und sorgte dafür, daß auf dem Hauptkalkulor mehr Rechenzeit für das Werk der Hoheliber frei wurde. - 122 Worum es bei diesem Werk ging, blieb ein Geheimnis. Unter anderem gehörte dazu, daß sämtliche Mond- und Sonnenfinsternisse der vergangenen Jahrhunderte berechnet wurden, und für weitere Berechnungen mußten Weißdrachen und Diener in Kartotheken und Büchern nach Erwähnungen astronomischer Ereignisse suchen. Dann waren da noch die Arbeiten zur Orbitalmechanik. Berechnungen über die Herstellung winziger, in einer Umlaufbahn befindlicher Blöcke und Berechnungen über die Geometrie von Partikeln mit seltsamen Vektoren, die auf sie einwirkten.
Und weder die Komponenten noch die Bibliothekare verstanden, was hinter diesen Berechnungen steckte. Lemorels Forschungen zu den Rufvektoren, den historischen Strömungen und Pfadabweichungen des Rufs hatten auch weiterhin eine niedrige Priorität, aber sie hatte nun immerhin bessere Zugriffsrechte auf den islamischen Kalkulor. Sie war Silberdrache, und ihre Forschungsarbeiten brachten nachprüfbare Ergebnisse hervor, und das hatte Gewicht. Wie Tarrin immer sagte: Die Hoheliber wollte kein leeres Geschwätz, sie wollte Resultate. Eines Tages, als Glasken gerade seine Schicht beendete, verkündigte der Systemherold ein ausgesprochen seltsames Dekret. Von nun an sollten sämtliche Regulatoten, Verwalter und Wachen Augenmasken tragen, während sie mit Komponenten des Kalkulors zu tun hatten, und sollten statt ihres Namens nur noch einen Kode und eine Nummer tragen. Lemorel war nun VERWALTER 37, wie Glasken feststellte, als eine entsprechende Liste zum ersten und gleichzeitig letzten Mal verlesen wurde. Vellum Drusas war sehr darauf bedacht, mit jedermann in Verbindung zu bleiben, dem er einmal geholfen hatte, aber er hielt es auch mit dem alten Sprichwort, wonach Fisch und Gäste nach drei Tagen ungenießbar werden. Zahlreiche Bibliothekare in der ganzen Allianz sahen ihn nur gelegentlich und dann kurz, schätzten ihn aber sehr. Lemorel war ein gutes Beispiel für Drusas' Freundschaften; ja, er hielt seinen Entschluß, sie nach Libris zu schicken, für einen der klügsten Schachzüge seiner ganzen Laufbahn. »Lemorel Milderellen, Verfasserin von neun Abhandlungen zum Thema Ruf und bald Lemorel Milderellen, Edutorin der empirischen Philosophie«, sagte Drusas, als sie auf dem Balkon des Silberdrachenrefektoriums beieinandersaßen. »Wer hätte das vor gerade einmal drei Jahren geahnt?« - 123 Lemorel verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Seine ihr nur allzu vertrauten Gespreiztheiten machten sie immer noch ein wenig nervös. »Ich dachte, Ihr hättet bei mir eine gewisse Begabung vermutet, als wir uns in Rutherglen kennenlernten, Fras Vellum. Warum sonst hättet Ihr mich für die Rotdrachenprüfung empfehlen sollen?« »Begabung ist etwas sehr Zartes, Frelle, das nur allzuleicht verkümmern kann. Gibt man ihr aber eine Chance, so schwingt sie sich womöglich zu den Sternen hinauf. Das gefällt mir so an meiner Arbeit als Inspektor. Ich selber mag ja ein wenig schwergewichtig und lahm wie ein Lastkahn sein, aber ich kann anderen die Chance geben, sich in die Lüfte emporzuschwingen. Wann legt Ihr denn Eure Dissertation vor?« »Im Juni 1700 GW. Mein Vater wird aus Rutherglen zu meiner Verleihungsfeier anreisen.« Drusas lachte leutselig und bestellte sich mit einem Fingerschnippen noch etwas zu trinken. »Das freut mich, das tut meinem Herzen wohl. Vom Gelbdrachen einmal abgesehen, hatten alle Eure Beförderungen ja einen eher improvisierten Charakter. Wohingegen bei mir jedesmal alles in aller Form stattfand: Prozessionen, Eide, Festessen, Talare, das ganze Drum und Dran.« »Manchmal muß die Tradition der Not weichen.« »Mag sein, mag sein«, gestand Drusas zu, hob dabei die Brauen und strich sich über sein Mehrfachkinn. »Aber wenn die Not so groß und die Arbeit so hart ist, sollte man am härtesten daran arbeiten, ein klein wenig Tradition und Festlichkeit zu bewahren. Denkt doch einmal zurück: Was waren die drei schönsten Augenblicke Eures Lebens, Frelle?« Er ließ sie einen Moment lang nachdenken und betrachtete währenddessen die Blütenblätter, die sich in der leichten Brise nacheinander von einem Zierapfelbaum lösten. »Nun, einer dieser Augenblicke war doch wohl Eure Beförderung zum Gelbdrachen, nicht wahr?« »Ja, Fras, aber -« »Ihr wurdet aber noch häufiger befördert. An den Gelbdrachen erinnert Ihr Euch wegen der Verleihungszeremonie.« »Worauf wollt Ihr hinaus, Fras Vellum?« »Auf nichts Bestimmtes. Ich möchte Euch nur daran erinnern, daß - 123 -
Hoheliber Zarvora in hundert Jahren nicht mehr hier sein wird, Libris aber sicherlich auch dann noch Bestand hat. Nehmt Euch ein wenig Zeit für die Traditionen, schenkt den guten alten Bräuchen ein wenig mehr Beachtung. Ich habe in Libris gearbeitet, als die alten Traditionen noch in voller Blüte standen, und es war wirklich wunderbar.« REGULATOR 45 stupste REGULATOR 317 an, als fünf Schwarze auf einer Sicherheitsinspektion durch die Korridore des rechten Prozessors schlenderten. »THETA und EPSILON kenne ich, aber wer sind die anderen?« flüsterte sie. »PI und OMEGA sind Besucherabzeichen«, flüsterte er zurück. »Und ALPHA-SCHWARZ?« »Von der heißt es: Nicht mal fragen. Ein ganz hohes Tier.« Nach dem Ende der Inspektion ließ Zarvora die vier Schwarzen wegtreten und machte sich auf den Weg zu den Zellen der Komponenten. Mit ihrer Augenmaske, dem Make-up, dem indigoblauen Lippenstift und das Haar streng geflochten und mit Perlen verziert, hoffte sie, unerkannt zu bleiben, fühlte sich aber, als wäre sie splitterfasernackt. Sie schlug einen Ordner auf und überflog noch einmal die persönlichen Einschätzungen. FUNKTION 5: zu alt; FUNKTION 26: wäscht sich nur selten; FUNKTION 214, 646, 614 und 620: notorische Langeweiler; FUNKTION 587: hat Pickel; FUNKTION 79, 450, 333, 390, 471, 569, 598, 606: haben die Syph; FUNKTION 247: arbeitet gut, wenn man ihn wie eine gefangene Ratte in die Enge treibt; FUNKTION 9: erhebliches Sicherheitsrisiko; FUNKTION 490: sollte es nicht gestattet sein, sich fortzupflanzen; FUNKTION 34: das Silber wegschließen; FUNKTION 92: ist mit allem, was nicht Arithmetik betrifft, vollkommen überfordert. Zarvora hatte sich von den zwanzig besten männlichen FUNKTIONEN des Kalkulors mehr erhofft. Sie alle erschienen ihr unangenehm oder unpassend, ganz und gar nicht die Art von Mann, mit dem sie gern ein romantisches Täßchen Kaffee getrunken und dabei über numerische Methodologie und Optimierungstheorie geplaudert hätte. Und FUNKTION 9 war doch tatsächlich gefährlich! Warum hatte man ihn noch nicht hingerichtet? fragte sie sich. Sie zog den Bericht über ihn hervor. Seine jüngste Heldentat hatte zehn Tage zuvor darin bestanden, - 124 die Registerdrähte so zu konfigurieren, daß sie »Happy Birthday« spielten. Wieso kam ihr das Datum, der 17. Oktober, so vertraut vor ...? »Mein Geburtstag!« stieß Zarvora hervor. Dann war FUNKTION 9 also gefährlich clever, aber vielleicht nicht gefährlich im allgemeinen Sinne. Sie beschloß, sich ihn als ersten anzusehen. Sie richtete ihr Gewand, überprüfte mit einem kleinen Spiegel, was von ihrem Gesicht zu sehen war, schluckte, kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. »Ich befehlige elftausend Untergebene und versorge vierzehn Millionen Menschen mit Dienstleistungen«, flüsterte sie. »Warum ist ausgerechnet das hier so ein Problem für mich?« FUNKTION 9 und seine Zellengenossen sahen hoch, als der Wärter ihre Tür aufschloß; dann erschien ALPHA-SCHWARZ. Sie zeigte schweigend auf FUNKTION 9 und winkte ihn herbei. Er folgte ihr zu den Einzelzellen. REGULATOREN nahmen Komponenten oft für heimliche Schäferstündchen dorthin mit, aber ALPHA hatte eine Personalakte dabei und keinen Krug Wein und kein Konfekt. »Man hat mich auf deine Streiche aufmerksam gemacht«, sagte ALPHA mit ungewöhnlich hoher Stimme. »Sie haben zu Störungen geführt.« »Das tut mir leid«, sagte FUNKTION 9 und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. »Die Hoheliber war außer sich vor Wut -« Zarvora fing sich wieder. »Fühlte sich aber auch geschmeichelt durch den Geburtstagsgruß.« FUNKTION 9 seufzte vor Erleichterung. »Wie hast du das gemacht?« »Das war ganz einfach.« Zarvora schluckte und rang um Geduld. »Warum hast du etwas so ... so Unverfrorenes getan?«
»Um die Aufmerksamkeit der Hoheliber zu erregen. Um ihr zu zeigen, daß in ihren Sicherheitsmaßnahmen so große Lücken klaffen, daß man mit einem Windzug hindurchfahren könnte.« Mittlerweile hatte Zarvora fast schon vergessen, weshalb sie hier war. »Aber - aber du bist ein Gefangener!« »Das ist doch kein Grund, den Kalkulor nicht zu beschützen. Er ist eine wunderbare Maschine.« Mit einem Mal ging Zarvora ein Licht auf, so hell wie eine Magnesi - 125 umfackel: Dieser Mann war mindestens so außergewöhnlich wie Nikalan, wenn auch auf ganz andere Weise. Das waren auf jeden Fall gute Aussichten - aber was nun? »Deine Loyalität und dein Eifer sind beeindruckend, FUNKTION 9. Ich - wir wollen, daß du künftig enger mit uns zusammenarbeitest.« »Äh, danke.« »Ich habe mir deine Akte angesehen. Du bist einer der fünf Liebhaber von REGULATOR 42.« »Was - fünf!« rief er aus, lehnte sich dann zurück, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Zarvora freute sich über seine Reaktion. Dann wußte sie doch wenigstens etwas, das er nicht wußte. »Ein Wort von mir, und deine Geheimhaltungsstufe könnte auf die eines VERWALTERS heraufgesetzt werden und du könntest ein Kennwort für den Reservekomponentenpool bekommen. Man könnte dich auch bestrafen, aber ich, äh, hege ein persönliches Interesse an dir, und, äh, falls du, nun ja, dich zu mir hingezogen fühlen solltest, will sagen, zu meinem Vorschlag, könnte ich dir, äh, diese Befugnisse verleihen, und auch noch mehr. Mehr von so manchem anderen.« FUNKTION 9 vermochte weder ihrer Argumentation zu folgen, noch ihre wahren Absichten zu ergründen. Er glaubte, verhört zu werden, weil er Kennwörter geknackt hatte. »Das Pool-Kennwort lautete 999POOL, das des Sytemsteuerers lautet XX99XX, aber das der Hoheliber ist ein schwieriger Fall. Wollt Ihr wissen, wie ich das herausbekommen habe?« In Zarvora zerbrach etwas. Er kannte die Kennwörter. Er kannte sich mit dem Kalkulor besser aus als sie selbst. Ich habe ihm nichts anzubieten, dachte sie. Was für eine Demütigung. »Äh, ja. Schreib bitte einen Bericht und adressiere ihn an ALPHASCHWARZ.« Sie stand auf, ihre Bewegungen waren fahrig und unkoordiniert. »Ich sollte jetzt gehen. Ich danke dir. Du hast mir eine öffentliche Demütigung erspart. Ich bin dir dankbar. Mehr als nur dankbar ... das mußt du verstehen - oder vielleicht auch nicht.« Jetzt erst verstand FUNKTION 9, was sich hier zwischen ihnen abspielte. Sie war, was Sicherheitsfragen anging, eine Meisterin, er aber hatte sie aussehen lassen wie eine blutige Anfängerin. Jetzt war sie so gnädig, es einzugestehen, statt ihn hinrichten zu lassen und zu versuchen, die ganze Sache zu vertuschen. Und womöglich versuchte sie auch aus - 125 Dankbarkeit, ihn zu verführen. Na ja, ich hatte ein kurzes, aber wenigstens interessantes Leben, dachte er, als er aufstand und ihre Hand ergriff. »ALPHA-SCHWARZ, ich danke Euch, daß Ihr mich vor der Hoheliber schützt«, sagte er und sah dabei in die Augen hinter der Maske. »Eure Nachsicht ist fast so attraktiv wie Eure Figur.« Er hatte vorgehabt, ihr die Hand zu küssen und dann das Beste zu hoffen, aber sie umarmte ihn so schnell, daß er gar nichts unternehmen konnte, und klammerte sich dann eher aus Erleichterung denn aus Verlangen an ihn. »Du bist ein lieber, guter Mann«, sagte sie nach einer ganzen Weile. »Ich habe dich beobachtet. Du kannst einen zur Weißglut treiben ... aber du bist auch unheimlich süß.« Vier Stunden später lag Zarvora in ihrem Arbeitszimmer auf der Couch, hatte sich gerade die Haare ausgekämmt und sich ein feuchtes Tuch über die Augen gelegt. Ihr Diener klopfte an. »Ich bin es, Vorion, Hoheliber.« »Herein.« »Hoheliber, geht es Euch nicht gut?« fragte er, als er sie erblickte.
»Das war heute der entsetzlichste Nachmittag seit ich bei den Bürgermeistern wegen der Stelle als Hoheliber vorgesprochen habe«, murmelte sie. »Doch nicht etwa schon wieder die Katalogabteilung?« fragte der Diener. »Nein. Es gibt da einen Mann, den ich sehr schätze. Ich dachte, daß er mich vielleicht verachtet, aber er hat mich sehr liebenswürdig behandelt.« »Möge die Gottheit ihn segnen, Hoheliber.« »Und darum habe ich ihn verführt.« »Was habt Ihr?« rief Vorion aus, der in ihr nie etwas anderes gesehen hatte als ein Neutrum und jemanden, der so gefährlich war wie ein Blitzstrahl. »Ich habe ihn verführt, Vorion. Was sagst du dazu?« »Gratuliere?« »Bring mir eine Decke, und dann weck mich in vierzehn Stunden. Warum hast du denn überhaupt geklopft?« »Heute ist der 27. Oktober. Bürgermeister Jefton ist hier wegen der Lagebesprechung in Sachen Tandara.« - 126 »Sag dem Bürgermeister, er soll sich seine Lagebesprechung ganz eng zusammenrollen und dann in den -« »Hoheliber!« »Dann sag ihm, er soll sich auf einen Krieg vorbereiten. Und jetzt geh und laß mich in Ruhe.« Der Staatsrat von Rochester wurde von Brettspielmeister Feigen geleitet. In dieser Funktion achtete ei stets auf die Launen des Bürgermeisters, und bei dieser Sitzung gab ihm dessen Stimmung Anlaß zur Sorge. Im Laufe seiner kurzen Regentschaft hatte Bürgermeister Jefton immer mal wieder vage davon gesprochen, Kriege zu führen, um dem Staate Rochester einen gewissen Respekt zu verschaffen, und daher war es keine Überraschung, daß dieses Thema wieder einmal auf der Tagesordnung stand. Doch statt übersättigt und süchtig nach Aufregungen wirkte der junge Bürgermeister an diesem Tag nervös, unsicher, ängstlich gar. »Wie stünden unsere Chancen bei einem Krieg mit Tandara?« fragte Jefton. Ein Diener, der neben einer großen Gobelin-Landkarte des Südostens stand, zeigte mit einem weißen Stab auf die mächtige Hauptstadt Tandaras. »Tandara grenzt an Rochester«, erwiderte Feigen. »Was auch immer Ihr unternehmt, ist für den dortigen Bürgermeister von Interesse. Wenn Ihr Euch beispielsweise in dem Grenzstreit um Finley auf die Seite Deniliquins und gegen den Emir von Cowra stellt, würde Euch Bürgermeister Calgain von Tandara möglicherweise gestatten, gewisse Kriegsgüter über sein Staatsgebiet zu befördern, als Gegenleistung für eine Abgabe auf die Sanktionen der Cowraner gegen die Gleitbahn von Balranald.« Der Diener wies pflichtbewußt auf die einzelnen Fürstentümer, Hauptstädte und Gleitbahnstrecken. Bürgermeister Jefton antwortete nicht sofort, und wählend ei dort saß und zu der Karte hochsah, zuckten ihm die Hände. »Ich meinte: Rochestei gegen Tandaia«, gestand er schließlich. Feigen schnaubte unwillkürlich. Die übrigen Berater setzten sich auf, als wären sie Marionetten, an deren Schnüren gezogen wurde. »Das wäre Selbstmord - bei allem Respekt, Bürgermeister. Tandaia hat ein zwanzigmal größeres Staatsgebiet als wir und eine um das Dreißigfache größte Bevölkerung.« Jefton sah weiter auf die Landkarte. »Tandara kontrolliert alle unseie - 126 wichtigen Handelswege, Gleitbahnstrecken und Signalfeuerverbindungen. Rochester muß für das Privileg bezahlen, daß es die Allianz regiert -zum Wohle Tandaras und der übrigen dreißig Stadtstaaten des Südostens. Das ist wohl kaum fair oder gerecht.« Nun schaltete sich erstmals Erzbischof James ein. »Wenn ein christlicher Staat ohne triftigen Grund gegen einen anderen christlichen Staat in den Krieg ziehen sollte, wäre das aus der Sicht Gottes äußerst verwerflich«, mahnte er. »Tandara verfügt über die größte Armee«, sagte General Guire in einem jedoch nicht gänzlich abweisenden Tonfall. »Bürgermeister Calgain ist bei den Seinen äußerst unbeliebt. Im Stadtrat von
Tandara gibt es Fraktionen, die mit uns sympathisieren. Sollte seine Armee eine Niederlage erleiden - nun, dann wäre er in ernsten Schwierigkeiten. Seine Armee ist seine Machtbasis.« Der Brettspielmeister erhob sich flink und nahm dem Diener den Stab ab. »Bürgermeister, schaut doch einmal auf die Landkarte. Deniliquin und Wangaratta sind sehr mächtig, haben beide aber auch eine lange gemeinsame Grenze mit dem Südmaurenreich. Um diese Grenze gibt es ständig Streit, und das bindet einen Großteil ihrer regulären Truppen. Wenn Ihr ihnen Hilfe anbietet, werden sie Euch mit offenen Armen empfangen. Wenn Ihr sie um Hilfe bittet, werdet Ihr Schweigen ernten. Nathalia und Kyabram sind sehr klein und werden von Feiglingen regiert. Wenn Ihr denen ein Bündnis anbietet, werden sie Euch so schnell an Tandara verraten, wie ein Diener es schafft, zum nächsten Signalfeuerturm zu laufen. Shepparton mag Tandara nicht sonderlich und hätte gerne seine annektierte Provinz Kyneton zurück, aber der dortige Bürgermeister ist nicht dumm: Er will sich auf die Seite des klaren Siegers schlagen. Wenn es soweit käme, würde Deniliquin es gerne sehen, daß Tandara in seine Schranken verwiesen wird, ehe Bürgermeister Calgain schon wieder die Gleitbahn-Zollgebühren erhöht und weitere Burgvogteien im Grenzgebiet erobert. Das Problem ist bloß, daß sie für den Kampf eher keine Unterstützung liefern werden.« »Dann ist die Einschätzung des Generals also zutreffend? Tandara hat durchaus Schwächen?« »Nein, nein, Bürgermeister, Ihr überseht das Wichtigste. Also, ja, im allgemeinen Sinne hat der General recht. Wenn sich der Emir von Cowra mit Bürgermeister Gregory von Deniliquin verbünden und Tandara nie - 127 derwerfen würde, gäbe es wenige Hauptstädte, in denen nicht auf der Straße getanzt würde. Aber mit Verlaub: Ihr seid weder der Emir noch Bürgermeister Gregory.« »Auf indirekte Weise kontrollierte ich aber ein Gebiet, das genauso groß ist wie das des Emits.« »Zugegeben. Aber wenigstens einige seiner Staaten stehen geschlossen hinter ihm, Bürgermeister. Rochestet ist weitet nichts als ein Verwaltungssitz. Es ist eine neutrale Zone, von der aus die Südostallianz ohne Störungen durch den Ruf regiert werden kann. Wir verfügen über das größte Bibliothekssystem der Welt, und unsere Bibliothekare leisten auch sonst noch eine Reihe wertvoller Dienste, aber damit hat es sich dann auch. Die Stadtstaaten des Südostens bezahlen Rochester dafür, daß es bestimmte Dienste leistet. Solltet Ihr versuchen, darüber hinauszugehen, würden sie Euch im Handumdrehen durch einen anderen ersetzen.« »Unsere Bibliothekare haben die Galeerenzüge geliefert, mit denen die Truppen zu den Kämpfen in Talangatta befördert wurden«, sagte General Guire. Fergen legte den Stab nieder, verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte den General mit einem unverhohlen höhnischen Blick. »Und wieviele Bürgermeister würden diese Galeerenzüge bei einem Krieg gegen Tandara mit Truppen bestücken?« Bürgermeister Jefton warf das Protokoll der Ratssitzung vor Zarvora auf den Tisch und baute sich dann mit den Händen auf den Hüften vor ihr auf. Sie wiederum sah ihn unverwandt an, bis er wegsah und den Blick zum Fenster wandte. Sie brauchte nicht lange dafür, das Protokoll zu überfliegen. »Da steht nichts Neues drin«, bemerkte sie. »Das haben wir alles längst besprochen.« »Die Tatsachen sind immer noch die gleichen, aber die Meinung hat sich geändert. Ein Krieg würde Rochester zerstören.« »Eine Niederlage würde Rochester zerstören, Bürgermeister. Ein Krieg aber -« »Ein Krieg gegen Tandara und eine Niederlage - das ist doch ein und dasselbe.« »Tandara bietet uns eine Gelegenheit, unsere Stärke unter Beweis zu stellen. Wir sollten uns nicht mehr mit kleinen Streitereien zwischen irgendwelchen Kleinstaaten abgeben. Wenn Ihr Tandara im Namen des - 127 wirtschaftlichen Aufschwungs und der Stabilität unterwerfen würdet, würde sich die ganze Allianz um Euch scharen.«
»Nein! Hoheliber, Ihr habt dem Staat gute Dienste geleistet, aber das hier geht zu weit. Das wäre der Untergang von Rochester. Bürgermeister Calgain würde sich unser Land als Provinz einverleiben und die Allianz beherrschen.« »Calgain könnte ich allein mit meinen Tigerdrachen besiegen.« »Nein! Es reicht! Noch ein Wort, und ich fasse das als Forderung zum Duell auf.« Zarvora richtete sich in ihrem Sitz auf und legte dann langsam beide Hände auf den Schreibtisch. Die Kolbenuhr hinter ihr schlug siebenmal. Jefton stand bebend da und starrte die Reihe der mechanischen Tiere an, die für den Kalkulor sprachen. Er hatte ganz offenkundig Angst, wich aber nicht von der Stelle. Zarvora nickte gemessen, ohne ihn direkt anzusehen, erstaunt über seine Tapferkeit. »Bürgermeister Jefton, Ihr habt keine Wahl.« Jefton wandte sich zu ihr um und sah ihr lange in die Augen. Für ihn stand nun zur Entscheidung, ob er gegen die Hoheliber kämpfen oder seinen Staat verlieren sollte. »Ich nehme Eure Forderung an«, sagte er beinahe keuchend. »Werdet Ihr persönlich antreten oder einen Kämpen benennen?« fragte Zarvora in neutralem Tonfall. Jefton empfand die Demütigung wie einen Peitschenhieb. »Der Kämpe des Bürgermeisters wird tun, wofür er bezahlt wird«, sagte er und fühlte sich, als würde ihm von Geisterhand die Kehle zugedrückt. Wie Libris verfügte auch der Staatspalast über einen eigenen Duellsaal. Ein blauer Sandsteinboden erstreckte sich hundert Meter weit beiderseits einer schmalen weißen Linie aus Marmor. Rechts und links von dieser Mittellinie gab es gepanzerte Emporen mit Spiegelglasfenstern für das Kampfgericht. Diener polierten die Spiegel, während die Richter ihre Position einnahmen und ihre Sicht überprüften. Stevel Coz machte neben dem Pistolenständer einige Lockerungsübungen, und der Schiedsrichter sah zu. Als Kämpe des Bürgermeisters und Geforderter hatte Coz die Wahl der Waffen und wollte dieses Vorrecht voll für sich nutzen. Die aufgereihten Duellpistolen schimmerten in dem Licht, das zwischen den geriffelten Marmorbögen hereinschien, - 128 die den blauen Sandsteinboden umrahmten. Auf der anderen Seite des Saals, neben der zweiten Empore, standen Zarvora und Vardel Griss und warteten. Zarvora hatte die Chefin der Tigerdrachen ebenso ihrer Loyalität wie ihres Ranges wegen zu ihrer Sekundantin erkoren. Griss war nicht nur eine außergewöhnlich große Frau, sondern auch sehr schlank, streng und gepflegt. Ihr Haar war an diesem Morgen frisch geschnitten, sie trug ihre neun Orden und roch ein wenig nach Kernseife. Einige Jahre zuvor hatte ihr bei einem Schuß in den Mund eine Musketenkugel zwei Zähne zerschlagen und war dann durch die rechte Wange wieder ausgetreten. Zarvora bemerkte, daß Griss sich die schartige Narbe geblieben hatte, damit sie noch deutlicher hervorstach. Ohne etwas zu sagen, sprach sie für die Hoheliber: Dies ist meine Sekundantin - nun fürchte dich um so mehr. Draußen erklang ein Fanfarenstoß, und schwere Türen wurden donnernd aufgestoßen. »Seine Eminente Spektabilität, der Bürgermeister« tief ein Herold, und Jeftons Mannschaft schritt herein, zu den Klängen einer Kapelle, die die Hymne von Rochestet spielte. »Ein Verstoß gegen das Protokoll. Das müßte seine eigene Hymne sein«, flüsterte Griss. »Ihr fordert den Bürgermeister, nicht den Staat. Ich werde mir das notierten.« Das Kampfgericht stellte sich gemeinsam mit dem Schiedsrichter an der Mittellinie auf. Erzbischof James und General Guite standen auf einet Seite, Brettspielmeister Fergen und der Stadtmarschall auf der anderen. Als Schiedsrichter fungierte der Oberrichter Rochesters persönlich. Zarvora und Coz blieben auf ihrer jeweiligen Saalseite, während ihre Sekundanten zum Oberrichter gingen. »Im Namen Gottes, des Volkes von Rochester und meines eigenen Amtes als Oberrichter bitte ich Euch inständig, eine Schlichtung in Betracht zu ziehen. Ich stelle Euch hier und jetzt meine Dienste zur Verfügung.«
Jefton, der neben dem Sekundanten seines Kämpen stand, bellte: »Niemals!« und mußte dann sofort husten. Griss erwiderte: »Nein danke.« »Als Kämpe der geforderten Partei obliegt Stevel Coz die Wahl der Waffen«, teilte der Schiedsrichter Coz' Sekundanten förmlich mit. Zwei Luntenschloßpistolen wurden aus dem Ständer genommen und dem Schiedsrichter auf einem Tablett präsentiert. »Wählt eine Pistole für den - 129 Herausforderer«, wurde Griss angewiesen. Sie inspizierte beide Waffen und suchte dann eine aus. »Kehrt nun auf Eure Positionen zurück.« »Eine kurzläufige Flintenschloßpistole von Dussendal«, flüsterte Griss eindringlich, als sie wieder bei Zarvora angelangt war. »Schwer, großer Griff, gezogener Lauf, aber kein Visier. Man zielt damit, indem man das Gewicht der Waffe ausbalanciert.« Wenn man damit Erfahrung hat - das unterließ Griss zu sagen. Zarvora hatte kleine Hände und war dafür bekannt, daß sie mittelschwere Waffen bevorzugte. Griss lud die Waffe, entflammte die Lunte und reichte Zarvora dann die Pistole. Der Schiedsrichter rief sie an die Mittellinie, und zwei Diener schoben eine Zielscheibe herein, die an einem mit Heuballen versehenen Gestell angebracht war. »Stevel Coz, schießt nun auf die Zielscheibe, und möge das Glück Eure Hand leiten.« Coz hob die Dussendal über seine Schulter, ließ sie dann wieder sinken und feuerte dabei in einer flüssigen Bewegung. Der Schuß hallte dröhnend wider, und als sich der Rauch lichtete, konnte man in der oberen Mitte des äußeren Rings ein dunkles Loch erkennen. »Schlechter Stil«, flüsterte Griss vor sich hin. Coz protzte damit, daß er der Hoheliber jede nur erdenkliche Möglichkeit gab zu kämpfen. »Zarvora Cybeline, falls es Euch nicht gelingt, diesen Schuß zu übertreffen, müßt Ihr das Duell verloren geben. Ihr seid am Zug.« Zarvora kniete sich hin, richtete die Waffe mit beiden Händen aus, schloß abwechselnd die Augen und drückte dann ab. Ihre Kugel traf den Mittelkreis. Der Schiedsrichter beriet sich kurz mit dem Kampfgericht. »Gemäß den Gesetzen dieses Staates und der mir verliehenen Vollmachten erkläre ich dieses Duell hiermit für rechtmäßig«, verkündete er. »Kampfrichter, nehmt jetzt Eure Plätze ein. Saalwärter, räumt den Duellplatz. Sekundanten, ladet die Waffen nach und tretet dann beiseite.« Griss überreichte Zarvora die nachgeladene Pistole und flüsterte: »Kurze Distanz, schnell umdrehen, aber mit beiden Händen an der Waffe schießen.« Zarvora wog die Dussendal umständlich in der Hand, und Coz mußte bei seinen Atemübungen kurz innehalten, um sich ein Lächeln zu verkneifen. Das Gewicht der Waffe gefiel ihr nicht, und es gab auch keinerlei Visiervorrichtung. Wenn sie sich nicht dazu entschloß, ihr Gesicht zu wahren, indem sie eine Entfernung verlangte, die über die Reichweite einer Flintenschloßpistole hinausging, würde sie das hier nicht überle - 129 ben. Neunzig Schritte würden ihr Gesicht wahren. Wenn sie zwanzig Schritte verlangte, bedeutete das, daß sie sich dem Kampf stellen wollte, der Erfahrung ihres Gegners wegen aber im Nachteil war Unter zwanzig Schritten wurde es für sie beide gefährlich, denn dann entschied die Schnelligkeit der Drehung das Duell. Zarvora war schnell, aber die Waffe war schwer und würde in unerfahrenen Händen womöglich übers Ziel hinausschwingen. Zarvora stellte sich Rücken an Rücken mit dem Kämpen des Bürgermeisters auf, die dünne Linie aus Marmor zwischen ihren Absätzen. Der Schiedsrichter zog sein Metronom auf. »Hört mir zu. Bei jedem Schlag des Metronoms geht Ihr einen Schritt vorwärts. Die Anzahl der Schritte wird von der Herausforderin bestimmt, von Hoheliber Cybeline, und auf ihr Wort hin wird begonnen zu zählen. Wenn ich Euch auffordere >Nennt die Entfernung Dieser Mensch interessiert sich nur für die Funktion, nicht für Stil.