In der Seelen eisig Wasser von Simon Borner
Nguyen Hung Duc rannte um sein Leben. Hart schlugen die blanken Füße des J...
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In der Seelen eisig Wasser von Simon Borner
Nguyen Hung Duc rannte um sein Leben. Hart schlugen die blanken Füße des Jungen auf den regennassen vietnamesischen Waldboden. Wurzelsplitter und Disteln trieben sich in seine ungeschützte Haut, zogen Blut. Doch Hung Duc bemerkte es kaum. Auch der gellende Schrei, der aus seinem Mund kam und zum dichten Blätterdach der Bäume hinaufstieg, war ihm fremd. Denn in Hung Ducs Geist gab es nur noch für eine einzige Sache Platz. Und die wollte seinen Tod. Es war Minuten her, dass Hung Duc den Teufel mit seinem Gesicht zuletzt zwischen den Büschen und Bäumen gesehen hatte, aber er wusste instinktiv, dass er noch da war, nur wenige Schritte hinter ihm. Lauernd. Spielend. Wie eine Katze mit der Maus. Er wusste es so sicher, wie er wusste, wer dieses grausame Spiel gewinnen würde …
»Fast jeder Mensch ist imstande, Ungemach zu ertragen. Will man jemandes Charakter auf die Probe stellen, sollte man ihm Macht geben!« – Abraham Lincoln
Kapitel 1 – Vertrauter Teufel Annamitisches Hochland, Vietnam Der Morgen, an dem Nguyen Hung Duc dem Satan begegnete, war regnerisch. Dichte graue Wolken hingen über dem Truong Son, und Nebel waberte zwischen den Bäumen und Büschen. Die extrem dünn besiedelte Berggegend im Landesinneren wirkte heute wie aus einer anderen Welt. Zumindest auf Hung Duc. Er war wie üblich bereits sehr früh in Richtung der Gipfelwiesen aufgebrochen, die ihm anvertraute Rinderherde an seiner Seite. Doch dann … Inzwischen wusste er nicht mehr zu sagen, was aus den Rindern geworden war. Ob sie noch auf der Lichtung grasten? Oder hatte der Satan sie sich bereits geholt, wie er sich auch ihn, Hung Duc, sicher bald holen würde? Das Herz schlug dem achtjährigen Hirtenjungen bis zum Hals. Hung Duc kauerte sich dichter in sein Versteck, den hohlen Baumstumpf, aus Angst, der Teufel könne es ebenfalls pochen hören. Und er hielt den Atem an. Regen prasselte nieder und verschluckte die Geräusche der Natur. Von seinem Versteck aus sah Hung Duc nur einen kurzen Ausschnitt des Waldes. Dicht an dicht standen die Bäume, wuchsen Farne und andere Pflanzen. Hier und da ragte ein moosbewachsener
Stein aus dem Erdreich oder eine dicke Wurzel. Hung Duc war auf seiner wilden Flucht bereits über mehrere solcher Wurzeln gestolpert, und jedes Mal hatte er geglaubt, sein Schicksal damit besiegelt zu haben. Dass sich die kalten, leblosen Hände des Unmöglichen wieder um seinen Hals legen und zudrücken würden, dieses Mal endgültig. Doch der Teufel mit Hung Ducs Körper hatte nicht zugegriffen. Weil er mich leiden lassen will, ahnte Hung Duc. Weil es ihm Spaß macht, mir Hoffnung zu geben, nur um sie mir wieder zu rauben. Minuten verstrichen. Zitternd verharrte der Junge in seinem hohlen Baum, lauschte auf die kleinste Regung seines unheimlichen Verfolgers. Doch der Satan zeigte sich nicht. Hatte Hung Duc ihn etwa doch abgehängt? Wieder ließ er eine Weile ins Land gehen, sicher war sicher. Dann, als sich noch immer nichts tat, wagte er es. Leise und vorsichtig beugte Hung Duc sich vor, steckte den Kopf aus dem Loch im Baum, durch das er hineingekrochen war, und … Der Schlag kam so unerwartet und war derartig hart, dass Hung Duc Sterne sah. Keuchend fiel der Junge zu Boden, rollte zur Seite und glotzte entsetzt nach oben. Der Satan hockte auf dem Baumstumpf wie ein Geier auf seiner Beute. Dann wippte er in den Knien, stieß sich mit den Beinen ab und war über Hung Duc, pinnte den Hirtenjungen mit seinen Händen rücklings in den Dreck. Hung Duc war vor Schreck ganz starr. Dieses Monstrum hatte ihn überlistet, war vermutlich die ganze Zeit über oben auf seinem Baum gewesen! »W…«, stammelte der Junge. »W … was willst du? Was bist du?« Fragen, so unnötig wie sein bevorstehender Tod. Wie alle in seinem Dorf hatte auch Hung Duc schon von Menschen gehört, in deren Leib der Satan fuhr. Diese Menschen waren fortan besessen und nicht mehr Herr ihrer Sinne und Taten. Aber nie hatte ihm jemand gesagt, dass der Satan den Leib seines Opfers dazu verdoppelte!
Hung Duc hatte immer angenommen, der Teufel vertreibe die Seele schlicht aus ihrem Gefäß und nähme selbst darin Platz. Nun aber sah er, dass es ganz anders war. Das Monstrum mit seinen Zügen grinste dämonisch. Es öffnete den Mund – viel weiter, als es einem Menschen möglich sein durfte – und … Hung Duc bäumte sich auf. Er wusste nicht, woher er den Mut und die Energie dazu nahm, aber das Unglaubliche gelang: Binnen eines Sekundenbruchteils hatte er sich unter dem Satan hinweggewälzt und war frei! Sofort rannte er los. Ohne sich umzudrehen. Schlug Haken, tauchte unter den Weg versperrenden, umgestürzten Bäumen hinweg, sprang über Stolpersteine. Äste schienen nach ihm zu greifen, zerkratzten ihm Arme und Wangen. Doch Hung Duc kämpfte sich weiter. Irgendwo dort vorn musste der Waldrand sein. Manchmal lagerten dort die anderen Hirten – ältere, stärkere Männer als er. Falls er es bis da hin schaffte … Tatsächlich! Kaum wurde das Buschwerk lichter, sah der Junge schon eine Gestalt. War das die Rettung? Der Mann stand mit dem Rücken zum Wald an einen Baum gelehnt. Er rauchte, und in seinen Händen hielt er ein langläufiges Maschinengewehr. Ein Soldat!, schoss es Hung Duc verblüfft durch den Kopf. Ein Amerikaner. Er erkannte die Uniform wieder, hatte sie auf unzähligen Fotografien in den Geschichtsbüchern seiner Schule gesehen. Und in den Geschichten der Alten. Neben dem Mann hing ein weißer Fallschirm im Geäst eines Baumes. »Mister!«, rief Hung Duc flehend. Es war das einzige Wort, das er in ihrer Sprache beherrschte. »Mister!« Sofort wirbelte der Fremde herum, die Waffe hoch erhoben. Sein haarloses Haupt glänzte im Licht des Tages. Auf seiner linken Wange prangte eine hässliche Narbe.
»Mister!«, keuchte Hung Duc, lief auf ihn zu, hoffte auf Rettung. Der Narbenmann lächelte. Zielte. Und schoss ihn nieder.
* Paris Das Gebäude hatte etwas von einem Schloss im Kleinformat und sah aus, als wäre es einem besonders atmosphärischen Tim-BurtonFilm entsprungen. Hohe, efeuberankte Mauern verbanden sich mit blinden Fenstern und bröckelndem Putz zu einem Anblick, den man gesehen haben musste, um ihn zu glauben. Die Tatsache, dass das gesamte Grundstück von einem beeindruckenden Eisenzaun umgeben war, tat ihr Übriges, Nicole Duval an der Echtheit des Messingschilds an der Eingangstür zweifeln zu lassen. Petit Prince – Waisenhaus Privatunternehmen. Zum Wohl der Kinder seit 1974 »Kein Wunder, dass der Kleine Albträume hat«, murmelte Nicole. »Die hätte ich auch, müsste ich hier wohnen.« »Sprich wenigstens mit ihm, bevor du die Sache zu den Akten legst«, bat die Stimme am anderen Ende der Verbindung. »Mag ja sein, dass nichts dran ist, aber mein Pariser Kollege klang recht … tja, recht entsetzt.« »Und da hast du gleich an uns gedacht«, seufzte Nicole. Dennoch dankte sie Pierre Robin für die Auskunft. Der Polizeibeamte aus Lyon war ein alter Freund und hatte am Morgen im Château Montagne angerufen, um Zamorra oder sie nach Paris zu bitten. Dort, so Robin, gäbe ein kleiner Junge den Behörden Rätsel auf. Rätsel der Sorte, die Zamorra und sein Team interessieren mochten. Nicole legte auf und verstaute das Handy gerade rechtzeitig. Schon öffnete sich die schwere, dunkle Holztür, und ein kleines
Mädchen erschien auf der Schwelle. Sie sah absolut bezaubernd aus: buntes Kleidchen, rotes Band in den Haaren. Nicole verliebte sich auf den ersten Blick. »Emmeline«, drang eine herrische Stimme aus dem Dunkel im Inneren des Hauses. »Emmeline, weg von der Tür. Ich kümmere mich schon darum.« Das Mädchen zuckte, als habe man es geschlagen, und verschwand sofort. Bevor Nicole etwas sagen konnte, stand der Besitzer der Stimme vor ihr, ein Mann schwer definierbaren Alters. Einerseits wirkte er wie jenseits der Achtzig, andererseits zeugten seine offenkundige Agilität und das energetische Funkeln in seinen Augen von einer Rüstigkeit, die manchem Vierzigjährigen abging. »Sie dürften diese Expertin sein, die die Gendarmerie schicken wollte«, sagte er statt einer Begrüßung. »Na, dann kommen Sie in Gottes Namen, wenn Sie denn müssen.« Nicole trat ein, hob aber die Braue. »Das klingt, als hielten Sie meine Anwesenheit für unnötig.« Der Alte schnaubte. »Das ist noch höflich ausgedrückt. Jean-Michel hat Albträume, nichts weiter. So etwas kommt vor, in dem Alter erst recht. Und es legt sich auch wieder. Kein Grund, extra eine Psychologin zu rufen.« Sie vermied es, ihn zu verbessern. Je weniger Angriffsfläche sie dem Kerl bot, desto schneller kam sie ans Ziel, das ahnte sie. Das Innere des Waisenhauses machte dem äußeren Eindruck alle Ehre. Nicole sah schwere Teppiche, dunkles Holz, dicke Gardinen. Das passte zu dem Alten. Allerdings zeugte nur wenig – etwa die Geräusche in einem der oberen Stockwerke tobender Jungs – davon, dass hier auch Kinder lebten. »Wovon träumt er denn?«, fragte Nicole, obwohl sie es längst wusste. »Erzählt er davon?« Der Mann winkte schroff ab. »Ach, von Unfug eben. Teufeln und so’n Zeugs. Ist bestimmt das Fernsehprogramm schuld.«
Wenige Minuten später standen sie am Bett des Kleinen. Jean-Michel schien nicht älter als sechs zu sein, ein schmächtiger Bursche mit schwarzen, kurzen Haaren und einer Nase, die lief, als gäbe es einen Preis dafür. Er saß auf der Bettdecke und malte. »Na los, versuchen Sie Ihr Glück«, drängte der Alte, der sich ihr inzwischen als Chaineux vorgestellt hatte und somit der Heimleiter sein musste. »Ich hab Besseres zu tun.« Sprach’s, und zog sich aus dem großen Schlafsaal zurück. »Hallo Jean-Michel«, sagte Nicole freundlich. »Zeigst du mir, was du da malst?« Das Bett war mit Zeichnungen übersät, und eine wirkte kruder als die andere. Nicole sah Strichmännchen mit Hörnern, Flammen hinter steinernen Berggipfeln, eine Wand aus Feuer und … Moment mal. Es mochte Zufall sein, aber irgendwie ließ dieses Bild ihren sechsten Sinn anschlagen. »Darf ich?«, fragte sie und ergriff es zögernd. Jean-Michel sagte nichts, sah nicht einmal auf. Tatsächlich – da war eine Gestalt zu erkennen, gleich hinter der Flammenwand. Kaum mehr als ein Schemen. Nicole sah den Jungen neugierig an. »Verrätst du mir, wer das ist?« Jean-Michel schob trotzig die Unterlippe vor. Die Striche seines Holzmalstiftes wurden fester. »Ich würde es wirklich gern wissen«, sagte Nicole sanft. »Hast du das hier geträumt? Wer ist das?« Minutenlang versuchte sie, Jean-Michel zum Sprechen zu bewegen. Minutenlang schwieg er sich aus. Irgendwann gab sie auf. Der Knabe war kein Fall für einen Dämonenjäger, eher für einen Psychologen. Robin musste sich irren. Sie verabschiedete sich freundlich lächelnd, strich Jean-Michel übers Haar und ging. Als sie an der Tür zum Treppenhaus war, erklang Jean-Michels Stimme hinter ihr. »Amos«, sagte der Junge. »Er sagt, sein Name sei Sid Amos.«
Nicole Duval erstarrte.
* Annamitisches Hochland, Vietnam »Yiiiiieeeehaaaaaaah!« Der Schwarze mit dem nackten Oberkörper schrie vor Begeisterung und sprang aus der offenen Tür der Passagierkabine. Dann war er fort. Jenny Moffat klammerte sich fester an die Haltegriffe an der Innenseite des kleinen Jets. Ihr Herz schlug wie wild, und ihr war übel. Der Fahrtwind zerrte an ihrem blonden Haar und ihrer dünnen Kleidung. Was in aller Welt mache ich hier nur? »Sind Sie soweit?« Das war Riddeck, der »Professor«. Vielleicht der Schlimmste der ganzen Truppe. Er hatte die Kiste mit seiner Ausrüstung zur Tür gehievt, sah nun aber auffordernd zu Jenny, als wolle er ihr den Vortritt lassen. Jenny winkte ab und hoffte, es wirkte lässig genug. »Machen Sie nur. Ich komm nach.« Riddecks Augen – braun wie seine Gesinnung – funkelten verschmitzt. »Warten Sie nicht zu lange, sonst landen Sie statt im Camp bei den Charlies.« Dann schob er die Kiste über die Schwelle und sprang gleich hinterher. Du kannst das, Mädchen, redete Jenny sich zu. Dies ist weder dein erster Fallschirmsprung, noch deine erste Außenreportage, also stell dich nicht so an, ja? Das war zweifelsfrei richtig, aber das Problem lag weder an dem Ort, noch an der Aufgabe, die sie hier zu erledigen hatte. Sondern an ihrer Begleitung. Zwei Wochen im vietnamesischen Busch, allein mit acht, gelinde formuliert, höchst exzentrischen US-Amerikanern,
die Krieg spielen wollten. Die Sache schrie regelrecht danach, im Rahmen von Jennys TV-Show Think America thematisiert zu werden. Sie schrie nach Kritik an der Waffenlobby und an einer Kultur des »Erst schießen, dann fragen«, wie sie insbesondere in der Landesmitte der USA bedauerlich weit verbreitet und fest verwurzelt war. Jenny hatte über einen ihrer V-Männer in der Szene erfahren, dass es diesen alles andere als politisch korrekten Ausflug überhaupt gab. Und sie hatte nicht lange gezögert, den Organisator zu kontaktieren und darum zu bitten, ihn mit der Kamera zu begleiten. Auch aus weniger offensichtlichen Gründen. Als die Erlaubnis kam, war sie selbst überrascht gewesen. Inzwischen ahnte sie aber, dass Cronin sie primär ihres Aussehens wegen hier duldete. Nicht wegen der kritisch-journalistischen Berichterstattung, für die Jenny landesweit bekannt war. Will ich wirklich da runter?, dachte sie und schluckte trocken. Die Story ist geil, aber will ich wirklich zwei Wochen lang rechtskonservativen Spinnern und Ewiggestrigen dabei zusehen, wie sie Apocalypse Now nachspielen und sich dabei groß fühlen? Die Truppe ist doch eher ein Fall für den Verfassungsschutz als fürs Fernsehen! Nein, sie wollte es nicht. Aber sie wusste, dass sie es tun würde. Sie musste es, schon allein der klaren Botschaft wegen, die die TVSendung haben würde, wenn sie fertig war. Wegen der Chance hinter all dem. Und außerdem hatte sie wohl kaum eine Ewigkeit im Flieger gesessen, nur um jetzt, da sie endlich am anderen Ende der Welt angekommen war, zu kneifen, oder? »Nur zu, Miss.« Steven Bannister – Silencer Steve, wie er sich ihr vorgestellt hatte – schlug ihr lachend gegen die Fallschirmtasche auf ihrem Rücken. »Sie müssen nur nach draußen treten. Abwärts geht’s dann schon von selbst.« Die wenigen noch in der Kabine verbliebenen Männer gröhlten vor Vergnügen. Jenny Moffat schloss die Augen, dachte an die Quoten – und sprang.
Der Sprung verlief sanfter als erwartet, und das vietnamesische Hochland begrüßte die Besucherin aus den Staaten mit weichem Gras und hoher Luftfeuchtigkeit. Jenny schaltete innerlich auf Autopilot, sowie sie festen Grund unter den Füßen spürte, und überließ Cronin, der sie und die restlichen Teilnehmer des ebenso bizarren wie kostspielig-exklusiven Events am Boden begrüßte, die Führung. Der olle Glatzkopf neigte ohnehin dazu, nur die eigene Meinung als die richtige anzuerkennen. Drei Stunden später stand das kleine Camp – sechs Personen-, zwei Ausrüstungszelte, ein Lagerfeuer und Riddecks »Labor« –, und die Gruppe saß in der Schenke des nur einen einstündigen Marsch entfernten Bauerndorfes, um sich beim Reisschnaps den Staub der langen Reise aus der Kehle zu spülen. »Ich glaub, die Schlitzies sind wenig begeistert über unser Kommen«, raunte LeRoy Kings Jenny zu und nickte grinsend in Richtung des schäbigen Tresens, hinter dem sich das Wirtsehepaar auffällig unauffällig bemühte, nicht zu den lauten Neuankömmlingen hinüberzusehen. »Kannst du’s ihnen verdenken?«, lachte George Willks wiehernd, der Jenny auf der anderen Seite flankierte. »Deren Eltern erinnern sich sicher noch gut, wie Uncle Sam seinerzeit hier einmarschierte und für Ordnung sorgte.« Im wahren Leben war Willks Buchhalter, hatte er Jenny während des Hinflugs verraten, und habe ein Dreivierteljahr gespart, um sich das Ticket für Cronins kriegsverherrlichendes Sommercamp leisten zu können. Seinem Bauchumfang schien das lange Darben aber ebenso wenig genutzt zu haben, wie die vietnamesische Sonne seiner dauerblassen Haut nützen würde. »Und jetzt isser wieder da«, seufzte Kirk Preston genießerisch und breitete die sehnigen Arme aus. »Was einmal gut war, kann gar nicht schlecht werden.« Jenny ignorierte den Drang, mit dem Kopf zu schütteln. Die Männer und Frau – Dotty McGruder, neben ihr das einzige weibliche
Wesen im Reigen der Minderbemittelten –, die Cronins via einiger dubioser Websites und Mailorder-Magazine gestartetem Aufruf gefolgt waren, zeichneten sich nicht nur durch ihr inbrünstiges Pochen auf das verfassungsmäßige Recht auf Waffenbesitz, ihren ziemlich offensichtlichen Rassismus und ihre pervers anmutende Lust am Ballern aus, sondern auch durch eine haarsträubende Verdrehung historischer Wirklichkeiten. Jenny kannte sie noch nicht lange, aber sie spürte, dass diese Menschen weniger an Nixon-Doktrin und Kambodscha dachten, wenn es ums Thema Vietnamkrieg ging, sondern weitaus eher an unter Wagnerklängen erbebende Felder, an Marlon Brando und Videospielästhetik. Entertainment statt Realität. Kein Wunder, waren doch nur Cronin und seine rechte Hand Capt. Frank Gallagher aktiv am damaligen Kriegsgeschehen beteiligt gewesen und echte Veteranen. Die restlichen dieser Gestalten kannten Krieg nur aus den Nachrichten und aus Ballerspielen, und es fiel nicht schwer zu erraten, welcher Quelle sie eher zuneigten. Die meisten von ihnen waren bei der Unterzeichnung des Pariser Abkommens ja noch nicht mal aus der Grundschule, wusste Jenny. »Gentlemen«, riss Jack Cronin sie plötzlich aus ihren Gedanken. Er war aufgestanden und sah sich nun auffordernd in der Runde um. »Ladies. Noch mal offiziell: Willkommen in ‘Nam!« Unter dem Jubel seines Gefolges hob er das Schnapsglas. Sonnenlicht fiel durch die Risse in den aus dünnen Brettern gezimmerten Schenkenwände und ließ den Inhalt funkeln. »In den kommenden Tagen werdet ihr erleben, was es heißt, auf sich gestellt zu sein. Ihr werdet erleben, wie es damals war. Und noch viel wichtiger: Ihr werdet euch selbst erkennen.« Abermals brandete Jubel auf. Jenny sah, wie Preston nahezu liebkosend über den kurzen Lauf des MGs strich, das er, versteckt unter seinem weiten Shirt, in die Bar geschmuggelt hatte. Preston gehörte zu der Sorte Spinner, die sich ohne ihre Spielzeuge nackt vorkam. Zumindest ihrer Einschätzung nach. Vermutlich baute er in seiner Freizeit Splitterbomben oder so. Der Kerl hatte das Zeug zum nächs-
ten Ted »Unabomber« Kaczynski. Jenny hatte sich längst geschworen, nach ihrer Rückkehr in die Staaten einen ihn betreffenden anonymen Warnanruf beim FBI zu tätigen. Sicher war sicher. »Das Camp steht«, fuhr Cronin fort. Er klang wie eine Mischung aus Animateur und Fanatiker. Jenny fragte sich, wie viel von beidem wohl wirklich in ihm steckte. Irgendwie kam ihr der Typ nämlich vor, als spiele er hier nur eine – für ihn äußerst lukrative – Show. »Die Mission ist klar. Und schon morgen früh …« »Camp?«, unterbrach ihn eine heisere Stimme. Der Wirt, ein drahtiger Mittvierziger mit gescheiteltem schwarzen Haar und wachen Augen, war zu ihnen getreten, um Schnaps nachzuschenken. »Misters haben Camp? Draußen in Wald?« »Silencer Steve« Bannister gluckste vor Lachen. »Sieht aus, als hätten Sie einen Fan, Major.« Cronin winkte schroff ab. »Was ist damit?«, fragte er den Vietnamesen dann. »Was kümmert’s Sie, he? Ist schließlich nicht verboten, da draußen zu zelten.« Der Wirt nickte. »Haben gesehen, wie Misters von Flugzeug springen«, sprudelte es aus ihm heraus. »Haben gesehen, wo Misters gelandet.« Jenny, die nach wie vor nur schweigend beobachtete, stutzte. Irgendetwas hatte dieser Mann vor, das ahnte sie genauso wie sie plötzlich wusste, dass sein geradebrechtes Englisch und seine untertänige Art nur gespielt sein mussten. Oder wurde sie langsam paranoid? »Na und?«, brauste Preston auf. »Der Major hat doch gesagt, dass es dich nicht zu kümmern hat.« »Nein, nein«, sagte ihr Wirt freundlich lächelnd. »Nguyen denkt nur, er wissen besseres Platz für Camp. Schöneres Platz. Platz, wo US-Armee gekämpft vor vierzig Jahr.« Und Nguyen bist du, stimmt’s?, vermutete Jenny. Dotty McGruder war hellhörig geworden. »Ein historischer Ort?«, übersetzte sie. »Hier in der Nähe? Das wäre doch ideal, oder,
Leute?« Die Gruppe nickte. Auf einmal lauschte sie dem drahtigen Einheimischen ganz aufmerksam. Die Aussicht darauf, ihr bizarres Rollenspiel auf »heiligem Boden« zu vollziehen, schien sie zu elektrisieren. »In Ordnung«, sagte Cronin und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Wo ist dieser Ort?« Mr. Nguyen eilte sich, ihnen den Weg zu beschreiben.
Kapitel 2 – Schatten der Vergangenheit Das neue Lager war ideal gelegen, das musste selbst Jenny eingestehen. Eine Lichtung, mehrere Hundert Meter weiter höher in den Bergen und ringsum von dichtem Wald umgeben. Etwa eine Viertelstunde Marsch weiter befand sich ein kleiner Süßwassersee, der als Trink- und Waschgelegenheit dienen konnte. Zwar bezweifelte die Journalistin, dass hier wirklich nennenswertes Kriegsgeschehen stattgefunden hatte, wie Nguyen es behauptete, aber für Cronins Trupp der Hobbyfanatiker machte das keinen Unterschied. Willks, Preston, Gallagher, Bannister und Co. zeigten sich hochgradig begeistert und hatten die schwere Ausrüstung gestern ohne Murren hierher geschleppt und das Camp von Neuem aufgebaut. Nun richteten sie sich ein, besahen sich die Umgebung oder kontrollierten ihre Patronenvorräte. Auch Jenny nutzte die Chance, sich ihrem Equipment zu widmen. Normalerweise reiste sie mit Mike, ihrem Partner und Kameramann, doch Letzteres war er momentan nicht, weil Ersteres ein wenig schwierig geworden war. Und überhaupt wollte sie nicht an ihn denken. Nicht jetzt. Sie prüfte die Akkus ihrer zwei mitgebrachten Handkameras und die Mikrofone. Alle schienen die Reise hierher gut überstanden zu
haben. Jenny hatte schon während des Fluges Interviews mit Cronins Truppe geführt und wollte auch die restliche Zeit mit der Kamera begleiten. Aus den Unmengen an Material würde sie einen Achtzigminüter für die TV-Ausstrahlung schneiden, wenn die Zivilisation sie wiederhatte. Vorausgesetzt, ich überlebe das hier. Die Gesellschaft von Cronins Gefolge setzte ihr immer mehr zu, von der vietnamesischen Witterung und der dünnen Bergluft ganz zu schweigen. Und dann dieses Geballere! Vor allem Bannister und Cronins XO schienen keine Gelegenheit auszulassen, ihre Begeisterung über diese Reise mittels lauter Luftschüsse auszudrücken. Letzte Nacht am Lagerfeuer hatte »Silencer Steve« sogar die mitgebrachten Bierdosen mittels Revolverschuss »geöffnet«. Und die Theorien und Halbwahrheiten, die er und einige der anderen am Feuer lauthals vertreten hatten, ließen Jenny noch jetzt, knapp neun Stunden später, innerlich erschaudern. Diese Leute waren keine Einsteins, das hatte sie auch nicht erwartet. Aber dass sie derart verschrobene, mitunter regelrecht gefährliche Ansichten vertraten – sogar vor ihrer Kamera –, überraschte sie zutiefst. Gelinde gesagt. Die haben was von John Roslyn, dachte sie und musste schmunzeln. Roslyn war Bürgermeister New York Citys gewesen, bis er vor einigen Wochen spurlos und aus bislang zumindest nach offizieller Sicht der Dinge unbekannten Gründen verschwand. Seitdem hatte sich Jenny oft gefragt, ob Professor Zamorra etwas damit zu tun hatte. Doch sie wagte es nicht, an der Loire anzurufen und ihn zu fragen. Schlafende Hunde! Genau wie Cronin war auch Roslyn Vietnamveteran gewesen. Doch wo Cronin, zumindest nach Jennys Vermutung, diesen Status heute nutzte, um intellektuell weniger gut aufgestellten Mitmenschen das Geld aus der Tasche zu ziehen, war John Roslyn intellektuell weniger gut aufgestellt gewesen. Was immer er damals erlebt haben musste, es hatte ihn geprägt und sein Handeln und Denken bis zu seinem Verschwinden beeinflusst. Jenny war dem erz-
konservativen Irren mehrfach begegnet und hatte nie viel von ihm gehalten, als Mensch wie als Politiker. Einmal hätte er sie sogar fast erschossen, als sie mit dem Silbermonddruiden Gryf ap Llandrysgryf – und in einigermaßen kompromittierender Pose – in einen begehbaren Schrank seines Hauses materialisiert war. Wilde Zeiten. Was aus Gryf wohl geworden war? Ein lautes Poltern riss Jenny aus ihren Erinnerungen und zurück in die Gegenwart. Es kam aus dem Nebenzelt. »Alles in Ordnung da drüben?« Keine Antwort. Jenny sah sich um. Niemand reagierte auf den Lärm, der inzwischen verklungen war. Dann seh ich eben selbst nach. Sie trat aus dem Schatten des Baumes, unter dem sie gesessen hatte, näherte sich dem betreffenden Zelt – und erstarrte. »Das ist doch wohl nicht …« Franklin Riddeck sah von dem portablen Chemielabor im XXLFormat auf, das das kleine, offen stehende Zelt bis in den hintersten Winkel ausfüllte, und lächelte. »Na klar ist es«, sagte er. »Napalm der allerfeinsten Sorte, Miss Moffat. Genau wie’s draufsteht.« Jenny ließ ihren Blick über die Kisten und anderen Behältnisse schweifen. Sie hatte gewusst, dass Riddeck einiges an Kram dabei hatte. Aber das? Ihr wurde warm. »Was in aller Welt wollen Sie denn hier mit Napalm?« Und wie in aller Welt haben Sie das Zeug durch den Zoll bekommen – noch dazu in der Menge? Riddeck hob die Kiste vom Boden, die ihm runtergefallen war, und zwinkerte Jenny zu. »Och, so genau weiß ich das selbst noch nicht. Ich fand nur, die Chose müsse so authentisch wie möglich werden. Und früher hatten die doch auch Napalm eingesetzt.« Dann lachte er keckernd, wie immer. Völlig entspannt und unbekümmert. Das sind Irre. Absolute Irre. Zum ersten Mal seit Tagen wünschte
sich Jenny Moffat, sie hätte doch Mike an ihrer Seite.
* Dorothy »Hot Dots« McGruder stand allein am Ufer des kleinen Sees, lauschte ihrem wild pochenden Herzen und traute ihren braunen Augen kaum. Sollte es tatsächlich so einfach sein? Das könnte der Ort sein, dachte sie. Die Umgebung entspricht der Beschreibung eins zu eins, wenn man vierzig Jahre wild wuchernder Vegetation dazurechnet. Die Gegend wirkte, als habe kein Mensch sie je betreten. Jenseits des Sees, zu dem Dotty sich unbemerkt von der restlichen Gruppe aufgemacht hatte, befand sich ein meterhohes Felsmassiv aus dunklem Stein, ganz wie es in den Akten stand. Nur der Wasserfall, der den mit ein wenig Fantasie erkennbaren Höhleneingang im Fels vor neugierigen Blicken verbergen sollte, existierte nicht mehr. Die Quelle, die ihn noch Anfang der 1970er speiste, war offenbar längst versiegt. Vorausgesetzt, Dotty irrte sich nicht und war tatsächlich am rechten Ort. Also dann … Es gab nur einen Weg, Gewissheit zu erlangen. Sie musste in die Höhle und sich mit eigenen Augen überzeugen. Irrte sie sich, bestand keine Gefahr. Und irrte sie sich nicht, dürfte eigentlich auch keine mehr bestehen. Alle Regeln der Logik und Wahrscheinlichkeit sprachen dafür. Eigentlich. Dennoch zitterten ihre Finger, als sie sich ein letztes Mal nach unliebsamen Zaungästen umschaute und dann aus ihrer Kleidung schälte. Stück für Stück landeten Shirt, Jeans, Schuhe – ihre komplette Kostümierung – auf dem Waldboden. Dotty ging los. Kurz vor dem Wasser atmete sie noch einmal tief durch, um sich zu beruhigen. Keine Gefahr. Es konnte keine mehr
bestehen. Und überhaupt: War sie nicht hier, um Antworten zu finden? Gewissheit? Du kannst das, Mädchen. Wer Cronin und die anderen Spinner glauben machen kann, einer von ihnen zu sein, kann auch durch einen kleinen See schwimmen. Sogar durch diesen. Sie zwang sich, das flaue Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren, und ging ins Wasser. Es war eisig kalt und roch modrig. Dotty machte einige Schritte, bis der See ihr zur nackten Hüfte reichte, und begann zu schwimmen. Langsam und gleichmäßig waren ihre Stöße, und je näher sie der Felswand kam, desto sicherer wurde sie sich. Tatsächlich: Die dunkle Öffnung im Gestein mochte ein Höhleneingang sein. Und der See blieb ruhig. Dotty entspannte sich ein wenig, und die kindliche Furcht von vorhin wich der Nervosität der geübten Forscherin. Sollten sie wirklich nur noch wenige Dutzend Meter von der größten Entdeckung ihrer Karriere trennen? Der, für die sie seit über zehn Jahren insgeheim arbeitete? Oder ergab diese wahnwitzige Mission nur, dass sie einer Verschwörungstheorie aufgesessen war, wie so viele Kollegen der Agency vor ihr? Noch dreißig Meter. Fünfundzwanzig. Zwanzig. Fünfz… Als es begann, spürte sie es sofort – und sie wusste, was es war! Nein! Großer Gott, nein! Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Magen verkrampfte sich. Es geschah. Es geschah wirklich! Instinktiv wandte sie die antrainierten Mechanismen an. Erste Regel im Ernstfall: Raus aus dem Wasser. Sie hatte vierzig Sekunden, bevor … Nicht denken. Handeln. Fieberhaft sah sie sich um. Zu ihrem großen Leidwesen befand sie sich ziemlich genau in der Mitte des Gewässers, der Abstand zum Ufer war in allen Richtungen gleich groß. Reichten vierzig Sekunden, um …?
Sie musste es versuchen. Alles hing davon ab. Schon brodelte das Wasser. Ein grünliches Leuchten ging vom Boden des Sees aus, und der modrige Geruch wurde sekündlich intensiver. Neblige Dämpfe stiegen von der Oberfläche auf. Dotty hielt den Atem an, wollte, nein, durfte sie nicht einatmen, und wusste doch, dass sie atmen musste, wenn sie die Strecke überhaupt schaffen sollte. Panik wallte in ihr auf. Sie schwamm um ihr Leben, fünf Meter weit, zehn, fünfzehn … Der See war inzwischen kochend heiß geworden. Dotty fühlte sich wie in einem Topf, der auf dem Feuer stand. Ihr ganzer Leib schmerzte. Die nackte, ungeschützte Haut färbte sich rot, schlug erste Bläschen. Dennoch kämpfte sie sich weiter vor. Langsam verschwamm ihr die Sicht. Der Dampf raubte sie ihr, das wusste sie aus den Unterlagen, die sie seit Jahren sammelte und studierte. Aber warum? Warum immer noch? Das alles widersprach jeglicher Theorie. Noch fünf Meter. Dotty stöhnte vor Erleichterung, als ihre Zehen wieder Bodenkontakt fanden – und riss die Beine sogleich wieder zum Körper, denn das da unten war kein Boden mehr sondern nur noch heiß, entsetzlich heiß. Schneller. Du hast noch … Ja, was? Zehn Sekunden? Fünf? Ächzend und wimmernd kämpfte sie sich weiter, streckte schon die Arme nach den rettenden Steinen am Rande des Sees aus. So nah, so nah. Dann, just als sie die Fingerkuppen auf den ersten Stein legen konnte, bekam das Grauen eine ganz neue Dimension! Eine Hand – warm, weich und ganz und gar unmenschlich – ergriff unter Wasser ihr rechtes Fußgelenk. Zog. Dotty schrie auf. Vergessen waren Geheimhaltung und Pflichtgefühl. Einzig und allein die Panik regierte in ihr noch. Und der Wunsch zu überleben. Die unheimliche Hand zog fester.
»Hör auf!«, kreischte Dotty – doch was aus ihrem bibbernden Mund drang, war kaum noch mehr als ein schwaches Wimmern. »Nicht! Bitte!« Noch drei Meter. Zwei, vielleicht. So nah, und doch so fern. Dotty McGruder, deren geschundener Leib wie Höllenfeuer brannte, brüllte vor Entsetzen, als dicht vor ihr ein Arm aus dem See schoss, sie an den Haaren packte und tiefer ins Wasser zerrte. Ein Arm, der aussah wie ihr eigener.
Kapitel 3 – Todesnacht Paris »Sag das noch mal.« Doch der Kleine schwieg wieder. Nicole ließ ihren Blick erneut über seine kruden Zeichnungen gleiten, suchte nach einer Bestätigung für ihren grauenvollen Verdacht und ahnte doch, dass sie gar keine mehr brauchte. Draußen vor den kleinen Fenstern hatte die Dämmerung eingesetzt. Abendsonne tauchte die Dächer der Seine-Metropole in warmen Glanz, doch hier im Schlafsaal des so eigenartigen Waisenhauses schien die Temperatur sekündlich mehr zu sinken. Nicole schlang sich die Arme um den Leib. »Sid Amos«, wiederholte Jean-Michel leise. »Er ist mein Freund.« »Ach ja?« Sie hob eine Braue. Jetzt sei vorsichtig. Wenn du zu sehr drängst, verschließt er sich vielleicht wieder und du bekommst nichts aus ihm heraus. »Woher kennst du ihn denn?« Jean-Michel griff nach einem neuen Malstift. Das Thema der Unterhaltung schien ihn nicht weiter zu bekümmern. »Er besucht mich. Nachts.«
Das hielt sie für äußerst unwahrscheinlich. Andererseits … »Und was ist das hier?«, fragte sie freundlich. Sie deutete dabei auf die Zeichnung der feurigen Gebirgslandschaft. »Wo ist das?« Der kleine Junge lächelte verschwörerisch. »In meinem Versteck. Aber Psssst! Darf niemand wissen.« »Bleibt unser Geheimnis«, sagte Nicole. »Versprochen. Hat er dir das gezeigt? Sid?« Kopfschütteln. »Nee, das kenn’ ich auch so.« Weiter hinter in dem lang gezogenen Raum stand ein Fenster auf Kipp. Das Geräusch spielender Kinder drang von draußen herein. Da die Fenster nach hinten rausgingen, musste sich hinter dem Haus wohl ein Garten oder eine ähnliche Spielfläche befinden. Das Geräusch brachte Nicole auf eine Idee. »Und kommt er nur zu dir oder auch zu den anderen hier?« Jean-Michel sah sie an, als habe sie den Verstand verloren, derart dämliche Fragen zu stellen. »Okay, nur zu dir.« Nicole lächelte. »Ist ja auch dein Freund und nicht der der anderen.« Das schien den Jungen wieder zu versöhnen. Nicole war fast gerührt – aber nur fast; dafür war die Situation dann doch zu bizarr – als er ihr plötzlich ein leeres Blatt und einen blauen Malstift herüber schob. »Ein andermal, okay?«, sagte sie sanft. »Ich muss noch mit Monsieur Chaineux sprechen, bevor ihr Abendbrot bekommt und er keine Zeit mehr für mich hat. Aber wenn ich darf, komme ich dich bald wieder besuchen. Einverstanden?« Jean-Michel sah sie zufrieden an. »Aber du musst kommen, wenn ich nicht in meinem Versteck bin. Sonst findest du mich ja nicht.« »Mach ich«, versprach sie und bemühte sich, den kalten Knoten, der sich in ihren Eingeweiden gebildet zu haben schien, zu ignorieren.
Wenige Minuten und eine umständliche Suche durch das ebenso verwinkelte wie staubige Hausinnere später, saß Nicole Duval in Chaineux’ Büro. Der Raum passte perfekt zum alten Heimleiter, denn beiden schien jeder Hauch fröhlicher Farben abzugehen. Nicole kam sich vor, als sei sie in ein altes Gemälde gefallen, in dem sich nichts regte oder veränderte, und das von der Welt und der Kunstszene vergessen auf irgendjemandes Speicher stand. »Vollkommen ausgeschlossen«, sagte Chaineux fest. »Ich bin überrascht, dass Sie so etwas Absurdes überhaupt ernsthaft fragen.« Nicole seufzte innerlich. Damit hatte sie gerechnet. »Es wäre natürlich nur vorübergehend. Ein, zwei Tage. Und es würde ihm an nichts fehlen, das garantiere ich. Die Tests, von denen ich gerade sprach … Mein Partner Professor Zamorra und ich würden sie äußerst gern an Jean-Michel anwenden, aber das geht bedeutend leichter und schneller, wenn es in unserem Institut geschieht, dem Château Montagne.« Chaineux lehnte sich in seinem knarrenden Holzstuhl zurück und sah sie über seinen schweren, dunklen Schreibtisch hinweg an. »Mademoiselle Duval«, begann er, als spräche er zu einem begriffsstutzigen Kind. »Ich bitte Sie. Kein Waisenhaus dieser Stadt wird Ihnen so mir nichts, dir nichts einen seiner Schützlinge anvertrauen. Und meines, das wie Sie wissen völlig autark ist und auch nicht unter staatlichem Einfluss steht, schon zweimal nicht. Wenn Sie und Ihr Professor Jean-Michel untersuchen wollen, werden Sie sich schon herbemühen müssen und Ihre Instrumente mitbringen, damit ich sie mir vorher gründlich ansehen kann.« Nicole stellte sich vor, wie Zamorra dem weißhaarigen Alten Merlins Stern, einen Dhyarra und andere magische Gegenstände zum Absegnen vorlegte. Der Gedanke ließ sie schmunzeln. »Ein Gegenvorschlag, Monsieur Chaineux: Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich heute Nacht hier bleibe und Jean-Michel beim Schlafen beobachte? Völlig unauffällig; nicht einmal der Junge selbst muss wissen, dass ich da bin.«
»Sie wollen im Schlafsaal sitzen?« Chaineux wirkte skeptisch. »Die ganze Nacht?« »Unsere Untersuchungsmethoden sind ein wenig unkonventionell«, sagte sie entschuldigend. Chaineux schwieg eine Weile. Dann hob er die Hände. »Na, von mir aus. Es ist Ihre Nachtruhe, nicht meine.« Nicole nickte zufrieden. Das war ein Kompromiss, mit dem sie leben konnte. Zumindest fürs Erste.
* Château Montagne »Klingt, als hättest du so richtig Spaß in der Hauptstadt.« Zamorra schmunzelte. Er liebte es, seine langjährige Partnerin zu necken, und frönte diesem Hobby bei jeder sich bietenden Gelegenheit. »Hör mir bloß auf«, drang ihr Protest aus dem Telefonhörer in seiner Rechten. »Dieser Chaineux ist so ein trockener Regelfetischist, dass es mich nicht wundern würde, wenn das Wort Spaßbremse quer über seine Stirn geschrieben wäre. Warum gerade so ein Stoffel mit Kindern arbeitet, ist mir ein Rätsel.« »Na, vielleicht aus biografischen Gründen«, sagte Zamorra und sah auf den Computermonitor vor sich. »William und ich haben in deiner Abwesenheit mal eine Runde recherchiert. Louis Chaineux ist, der Name lässt es nicht vermuten, nämlich gar kein Franzose.« Nicole stutzte hörbar. »Ach ja?« »Ach ja. Wir haben ganz schön graben müssen, um diesen Hintergrundcheck durchführen zu können, aber jetzt liegen die Informationen vor. Chaineux stammt aus Illinois, USA. Jahrgang 34. Muss in seiner Jugend eine ziemlich heiße Nummer in der lokalen Politik ge-
wesen sein, Patriot durch und durch. Ich hab hier einige Redenmitschriften von ihm, da kräuseln sich dir die Ohren vor Pathos. Na, jedenfalls führte er das klassisch amerikanische Leben: Vorstadtwohnung, Vorstadtfrau, Vorstadtkind.« »Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären?«, vermutete Nicole. »Hut ab, Watson«, lachte der Professor. »Genau da sind wir wieder. Anfang der 1970er Jahre verschlägt es Mitch Chaineux, Sohn deines staubigen Herbergsvaters, ins ferne Asien. Konkreter gesagt, nach Vietnam.« »Der Krieg«, murmelte Nicole. »Die Kandidatin erhält hundert Punkte. Mitch war Lieutenant, aber einer der untersten Sorte, und der ganze Stolz seines Herrn Papas.« »Des alten Patrioten.« »Hey, passt du etwa auf?« Zamorra schmunzelte. »Der gute Louis bekam sich gar nicht mehr ein vor Begeisterung. In jeder Rede, die er zu dieser Zeit hielt, kam er auf seinen heroischen Filius zu sprechen. Mitch hier, Mitch da. Louis spielte absolut geschickt auf dem Emotionsklavier seiner Zuhörer und Wähler, und der ›Feldzug‹ seines Sprösslings wurde seine Lieblingskomposition.« »Bis?«, fragte Nicole. Sie schien zu ahnen, was als Nächstes kam, lauschte Zamorra aber geduldig und gebannt. »Bis eines Tages im Herbst ‘71 in einer Vorstadt in Illinois zwei uniformierte Armeeangehörige aus einem schwarzen Wagen stiegen, an eine Haustür traten, klopften und das Leben der dort wohnenden zwei Personen grundlegend veränderten.« »Tot?« Zamorra nickte. »Mitch fiel, als sein Platoon in einen Hinterhalt des Vietcong geriet. Einer von zwanzig toten Amerikanern, die jener Tag forderte. Die überlebenden Kameraden sagten nicht viel über das Geschehen. Nur, dass Chaineux junior sofort tot gewesen sei.« »Kann sein, kann nicht sein«, murmelte Nicole. »Wer weiß schon,
was im Eifer des Gefechts so geschieht.« Zamorra nahm einen Schluck Kaffee. Er war müde, wusste aber aus Erfahrung, dass ihn die Ereignisse der letzten Wochen auch heute um den Großteil seines Schlafes bringen würden. Und bevor er sich abermals frustriert in den Kissen wälzte, hatte er beschlossen, dem Sandmann, der ihn so grausam verschmähte, offensiv entgegenzuwirken. »Ich vermute, du kannst dir den Rest denken?« »Kommt drauf an«, antwortete Nicole. »Besteht der Rest aus dem Zerbrechen von Louis’ Ehe und dem Bruch mit dem Land, das ihm den Sohn geraubt hat? Dann, ja.« »Mademoiselle Duval, Ihr Scharfsinn wird nur noch von Ihrer Schönheit übertroffen. Sie sollten versuchen, Profit daraus zu schlagen.« »Aus dem Scharfsinn oder der Schönheit?«, gab sie amüsiert zurück. »Das heißt also, Louis Chaineux lebt hier im selbst gewählten Exil.« »Und das seit 1974. Kurz nach seinem Aufbruch aus den USA verliert sich seine Spur für einige Monate, aber dann taucht er in Paris auf und nutzt sein nicht zu verachtendes Privatvermögen für den Erwerb und den Betrieb des heimeligen Heims, das du gerade besuchst.« »Womit sich abermals ein Kreis schließt«, sagte Nicole. »Denn genau dem sollte ich mich allmählich wieder widmen. Es ist Schlafenszeit, und ich kann es so langsam wagen, meine Beobachterposition in Jean-Michels Zimmer einzunehmen.« »Nicole Duval«, murmelte Zamorra in gespielter Überraschung, »verzichtet freiwillig auf ihren Schönheitsschlaf, um einem Jungen im Kindergartenalter beim Träumen zuzuschauen. Wenn ich’s nicht besser wüsste – und wäre ich Psychologe –, würde ich dahinter ein unerfülltes Verlangen nach eigenem Nachwuchs vermuten.« »Chéri, du bist Psychologe«, betonte sie lachend. »Studium an der Sorbonne, erinnerst du dich?« Er lachte ebenfalls. »Sollte uns das zu denken geben?«
»Es gibt uns jedenfalls zu arbeiten. Ich muss zu Jean-Michel. Und was machst du?« Er grinste. »Ich glaube, ich frag William mal, ob wir Wandfarbe im Haus haben.« »Wandfarbe?« »Sag, Schatz, soll das Kinderzimmer blau oder doch rosa werden?« Nicole legte auf. Zamorra war dennoch, als könne er sie durch den Hörer hinweg mit den Augen rollen sehen.
* Paris Oh, verflucht. Nicole schlich durch die Finsternis, die Augen weit geöffnet, und dem Licht entgegen. Es fiel durch die Tür des Schlafsaals, die einen Spalt offen stand. Weil er sie geöffnet haben musste. Er, auf den sie eigentlich hatte achten wollen. Wenn Zamorra das wüsste, würde er mich tagelang damit aufziehen, seufzte sie innerlich und mühte sich, nicht aus Versehen gegen eines der in zwei an den Wänden entlangführenden Reihen aufgestellten Betten zu stoßen, in denen die anderen Jungen schliefen. Die Betten waren samt und sonders belegt, bis auf eines. Und wenn Chaineux es wüsste, käme ich in den Bau. Oder so. Nicole hatte auf die Uhr gesehen und war sich ziemlich sicher, nicht viel länger als zehn Minuten eingenickt gewesen zu sein. Doch die kurze Zeit hatte Jean-Michel offensichtlich genügt, aus seinen unruhigen Träumen zu erwachen, aus dem Bett zu steigen und den Schlafsaal zu verlassen. An der Schwelle hielt sie an und lauschte. Auch im Treppenhaus war alles ruhig. Vorsichtig, um die Kinder nicht zu wecken, öffnete
sie die Tür weiter und schlich hinaus. Die hintere Wand des Treppenhauses bestand aus blickdichten Glasbausteinen, durch die das gelbliche Licht der Straßenlampen hineinfiel. Treppab ging es ins Erdgeschoss mit den Gemeinschaftsräumen und Chaineux’ Büro, treppauf musste sich die Privatwohnung des Heimleiters befinden. Nicole entschied sich für den Abstieg – und erblasste, als sie auf halber Treppe an der kleinen Balkontür vorbeikam und diese offen vorfand. Das Wort »Balkon« war zu mächtig für den schwachen Quadratmeter Außenfläche jenseits der Schwelle. Doch auch von einer schmalen Brüstung ließ es sich hervorragend in den Tod springen. »Jean-Michel!«, hauchte Nicole. Der Junge stand auf dem Geländer. Seine nackten Zehen wackelten leicht, und der kühle Nachtwind, der um die Häuser des ziemlich abseits gelegenen Pariser Viertels strich, ließ seinen dünnen Schlafanzug flattern. Seine Augen waren geschlossen. Er schlafwandelt. Nicole begriff, dass sie ihn nicht ansprechen durfte. Wenn er erwachte und sich so wieder fand, fiel er sonst noch vor Schreck! Langsam und betont leise näherte sie sich dem Kleinen. Jean-Michels Lippen bewegten sich. Je näher sie ihm kam, desto deutlicher vernahm sie sein Flüstern. »Flammenwand … JABOTH suchen …« Was in aller Welt …! Nicole erstarrte. Zwar war sie schon lange überzeugt, in Sachen Jean-Michel ihrem Instinkt trauen zu können, hätte aber nie erwartet, es so deutlich bestätigt zu bekommen. »Und Merlin?« Jean-Michel atmete schwer. Seine Flüsterstimme wurde mit jedem Wort tiefer, bis ihr irgendwann gar nichts Kindliches mehr anzuhaften schien. »Merlin ist nicht mehr. Auch die Hölle ist … Wegen ihm!« Es war nicht Asmodis, den sie da hörte. Auch wenn die Vermutung nahe liegen mochte. So klang der ehemalige Fürst der Finsternis keineswegs. Doch der Inhalt dieser Sätze! Wie sollte ein kleiner
Junge von derlei Dingen wissen? Auch wenn die Umstände ganz andere waren, fühlte Nicole sich für einen kurzen Moment an Luc Curdin erinnert. Sie entschloss, es zu wagen. »Wovon sprichst du, Jean-Michel?«, fragte sie sanft. Es tat ihr in der Seele weh, Risiken eingehen zu müssen, aber die Gelegenheit war zu günstig, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen. Und außerdem konnte sie immer noch vorhechten und Jean-Michel am Arm packen, falls er zu stürzen drohte. Der Kleine zuckte, hielt sich aber im Gleichgewicht. Seine Augen blieben geschlossen. »Hörst du? Ich bin’s, Nicole. Wovon sprichst du?« Wieder kam nur Schweigen. Keinerlei Regung. »Ist er bei dir? Sid Amos?« Der Anflug eines Lächelns schlich sich in Jean-Michels ausdruckslos-unschuldige Miene. Eine Windbö ließ den Jungen bedrohlich schwanken, doch Nicole musste nicht eingreifen. Noch nicht. »Was sagt er?«, fragte sie. »Erzählst du’s mir?« Plötzlich geschah alles ganz schnell! Jean-Michel streckte ruckartig die Arme aus, als wolle er fliegen, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein Gebrüll aus, dem nichts Menschliches mehr anzuhaften schien. Sein Gesicht verzog sich zu einer regelrechten Fratze. Wild fuchtelte er mit den Händen durch die Luft, schlug nahezu spastisch um sich. Schaum trat aus seinem Mund und tropfte das Kinn hinab. All das binnen einer einzigen, entsetzlichen Sekunde. Dann war Nicole bei ihm. Sie ergriff den Jungen just als er definitiv zu stürzen drohte, legte ihm den rechten Arm um die Brust und den linken um … Das breite Metzgermesser, das der noch immer schlafende Kleine blitzschnell aus dem Hosenbund zog, registrierte sie erst, als die scharfe Klinge schon halb in ihrem Bauch steckte. Warmes Blut sprudelte aus der Wunde, dampfend in der kalten Pariser Nachtluft. Nicole sah fassungslos an sich hinab. Dann kam der Schmerz – und mit ihm die Dunkelheit. Das Letzte, was sie sah, bevor die
Schwärze sie raubte, waren Jean-Michels sich öffnende, wild funkelnde Augen …
Kapitel 4 – In den Fängen der Angst Annamitisches Hochland, Vietnam Das ist unmöglich, verdammt! Jenny Moffat zog die Knie enger an den Oberkörper und schlang die schmalen Arme um ihre Beine. Abwehrhaltung. Ihr Blick ruhte auf dem kleinen Monitor. Absolut unmöglich. Und warum ging ihr dann die Muffe? Warum fror sie, obwohl sie in einem Zelt saß, in dem die Lufttemperatur gut und gern 28 Grad Celsius betrug? Es war Abend geworden in Vietnam. Draußen saßen Cronins Spinner ums Lagerfeuer versammelt und tranken. Gallagher und Silencer Steve sangen zotige Lieder, und Kings trommelte dazu auf leeren Wasserkanistern. Jenny hatte sich zurückgezogen, um die Filmaufnahmen des Tages zu sichten. Und in diesen etwas gefunden, das … Nein, unterbrach sie ihre eigenen Gedanken. Es ist nicht echt. Das kann nicht sein. Meine Nerven spielen mir nur einen Streich, sonst nichts. Die mentale Stimme hatte etwas Trotziges, doch es war ein Trotz, der von Furcht genährt wurde. Nur von Furcht. Denn da auf dem Bildschirm, im Schatten zwischen den Bäumen dort hinten am Ufer des kleinen Sees … Jenny hatte die Gestalt gar nicht bemerkt, als sie die Einstellung am Nachmittag drehte. Nun aber, bei der Kontrolle, war ihr, als wären die Schatten an dieser einen Stelle fester als sonst. Als stehe dort jemand. Und sehe direkt in die Kamera!
Nicht einfach jemand. Sie schluckte. Sondern John Roslyn! Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil und fiel gar nicht auf, wenn man nicht rechtzeitig das Bild einfror. Aber einen kurzen Moment lang fiel Sonnenlicht durch das dichte Blätterdach und erhellte die Stelle und … Tatsächlich! Das war John Roslyns Gesicht. Oder? So ein Unfug. Jenny tadelte sich selbst. Ihre Fantasie ging mit ihr durch, so einfach war das. Alles, was sie brauchte, war eine Mütze Schlaf. Dann sah die Welt sicher wieder besser aus. Sie schaltete die Geräte aus, kroch in ihren Schlafsack und löschte die batteriebetriebene Lampe. Dann lauschte sie den Geräuschen des Waldes und dachte nach. Es dauerte lange, bis sie in dieser Nacht einschlief, und als der Schlaf endlich kam, brachte er neue Schrecken. Im Traum sah sie sich einmal mehr in Gracie Mansion stehen, Seite an Seite mit Gryf, doch im Gegensatz zum wirklichen Ablauf der damaligen Ereignisse drückte der betrunkene Bürgermeister in ihrem Traum tatsächlich ab! Jenny hörte den Schuss, sah den SilbermondDruiden neben sich zu Boden sinken, sah die Blutlache … und hob zitternd die Hände, als der irrsinnige Roslyn als Nächstes auf sie zielte! Im Traum sah sie sich wieder auf der kanadischen Ice Road, nackt und wund unter dem sternenklaren Nachthimmel. Die Teufelin mit den Riesenschwingen war auch da; majestätisch und grauenvoll zugleich stand die Teufelin auf einer vereisten Anhöhe, und der blutrote Mond leuchtete in ihrem Rücken, als wolle er ihr eine Corona verleihen. Stygia, so hatte sie geheißen. Im Traum sah sie sich in Omar Littles Zelle sitzen und … Jenny erwachte mit einem Schrei! Ihr Herz pochte wie wild. Das dünne Shirt, neben dem Slip ihr einziges Kleidungsstück in dieser Hitze, klebte schweißnass an ihrem Körper. Hektisch sah sie sich um, und obwohl sie doch nur die vertraute Zeltumgebung fand, hing ihr das letzte Traumbild immer noch nach. Es war so real ge-
wesen, so erschreckend echt. Verflucht. Jenny fuhr sich mit der zitternden Hand über die Stirn. Was ist denn los, Mädchen? Du bist doch sonst nicht so schreckhaft. Drei Uhr achtundzwanzig, sagte der Blick auf die Uhr. Das war noch mitten in der Nacht. Doch Jenny ahnte, dass sie keinen Schlaf mehr finden würde. Nicht, bis sie Gewissheit hatte. Albern, rief sie sich zur Ordnung. Ab-so-lut albern. Und kindisch. Die Stimme der Vernunft erwiderte: Kindisch oder nicht, Mädchen. Du weißt genau, dass es sein muss. Um dich zu beruhigen. Widerwillig und resignierend schälte Jenny sich aus dem Schlafsack, schlüpfte schnell in Hose und Schuhe und verließ das Zelt. Die Gruppe schlief. Nur die Glut des einstigen Feuers zeugte noch von ihrem Gelage. Mit der Taschenlampe bewaffnet, machte sich Jenny auf in den Busch. Sie kannte den Weg so gut, als wäre sie ihn hundertfach gegangen, denn im Traum war sie das tatsächlich – und jedes Mal hatte sie sie am Ende erwartet, dort draußen am Ufer des Sees. Stygia. »Weißt du eigentlich, wie lange ich schon auf dich warte?«, hatte die grauenvoll schöne Dämonin in Jennys Traum gesagt und sie tadelnd angesehen. Dann hatte sie den Kopf in den Nacken gelegt, spitze Reißzähne entblößt und die schockstarre Journalistin … Nein. Jenny konnte es nicht einmal denken. Der Traum saß ihr dafür noch zu sehr in den Knochen. Ich hatte einen Albtraum und stakse deswegen mitten in der Nacht durch den vietnamesischen Dschungel, wunderte sie sich. Wer ist hier der Spinner, Cronin oder ich? Trotz des Schreckens in ihren Gliedern musste sie über sich selbst lachen. Bis sie die Bewegung vor sich in den Schatten wahrnahm! Jenny erstarrte. Für einen Moment wagte sie es nicht einmal zu atmen. Da … da stand doch wer, oder? Da starrte sie jemand an. Sie hatte ihr Ziel, das Seeufer, fast erreicht und befand sich wieder
an der Stelle, an der sie am Nachmittag die Landschaft gefilmt hatte. Und in den Büschen und Baumschatten rechts von ihr … Es war wie auf dem Standbild: eine breitschultrige Gestalt, groß und reglos, nur ein dunkler Schemen im fahlen Mondlicht. Bis ein Strahl des Lichts auf sein Gesicht fiel und … »Roslyn?«, hauchte Jenny. Sie wusste nicht, woher sie den Mut dazu nahm – aus Sturheit, aus Entsetzen –, sie wusste nur, dass sie vor Angst sterben würde, wenn sie es – ihn. Es. – nicht ansprach. »John Roslyn? Ich sehe Sie, John. Kommen Sie raus.« Ihre Stimme zitterte. Jenny wollte wegrennen, irgendwohin, doch sie konnte es nicht. Ihre Beine verweigerten ihr den Dienst. Und aus den Schatten trat … »Dotty?« Jenny stutzte. Wie ein Schleier fiel das aus den Träumen geborene Trugbild von ihr ab, und sie erkannte, wer da tatsächlich im Waldesdunkel ausgeharrt hatte. Doch die Erkenntnis brachte nur kurzzeitige Beruhigung mit sich. Denn Dotty McGruder war nackt. Ihre bloßen Schultern glänzten bleich im Mondlicht. Ihre Brüste wogten bei jedem Schritt. Das Haar hing der Enddreißigerin wirr in die Stirn, schien nass zu sein. Und ihr Mund … Weißer Geifer troff von den blauen Lippen wie Eiter aus einer schwärenden Wunde. »Dotty, was … was ist passiert?« Es schien, als wäre ein Damm gebrochen. Immer mehr entsetzliche Details fanden ihren Weg in Jennys Hirn. Die blutverkrusteten Striemen auf Dottys Armen. Das rechte Bein, das sie schlurfend nachzog und aus dessen Unterschenkel etwas Weißes herausragte. Großer Gott, war das ein Knochen? Die Spinner. Für einen kurzen Moment glaubte Jenny zu ahnen, was sich abgespielt haben musste. Einer von Cronins Leuten, Preston vielleicht, hatte die neben Jenny einzige Frau im Team angegriffen und … Doch dann widerlegte die Wirklichkeit jede Theorie grauenvoller als Jenny es sich je ausgemalt hätte. Dotty McGruder streckte die Arme nach Jenny aus und begann zu
schreien. Gierig. Fordernd. Unmenschlich. Erst jetzt sah Jenny die leeren Augenhöhlen unter den Strähnen und begriff, dass das kein Mensch mehr war! Die Reflexe übernahmen. Jenny wirbelte herum, rannte los, zurück in Richtung Camp – doch das Ding mit Dottys Äußeren erwies sich als entsetzlich schnell. Allem Aussehen zum Trotz, hielt es mühelos Schritt. Jenny kreischte, als die leichenkalten Finger des Monstrums nach ihr griffen. Sie bekamen den Kragen ihres Shirts zu fassen, zogen mit gewaltigem Ruck. Stoff riss, und beinahe hätte Jenny das Gleichgewicht verloren. Beinahe. Weiter. Schneller. Jennys Lunge schmerzte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Und sie spürte den röchelnden, modrigen Atem der Unheimlichen an ihrem nun blanken Rücken. Dann verfing sich ihr Stiefel an einer Wurzel, und sie flog der Länge nach in den Dreck. Für einen kurzen Moment sah sie Sterne. Ihr Oberkörper fühlte sich an, als habe jemand einen Amboss darauf fallen lassen. Jenny stieß sich mit den aufgeschürften Handflächen am Boden ab, rollte sich auf den Rücken – und hielt entsetzt inne! Das Dotty-Monster stand direkt neben ihr, sah aus leeren Augenhöhlen auf sie hinab. Kalte, mit Blut und Dreck verkrustete Zombiefinger griffen nach Jennys Haaren, ihren Armen, bohrten sich gierig in ihren Mund. Jenny bäumte sich auf, sie schrie und schlug um sich, doch das Ungeheuer war stärker, unendlich stärker als sie. Schon pinnte es sie mit seinen Armen an den kalten Waldboden, raubte ihr jegliche Fluchtchance und … Jenny sah die Lücke und nutzte sie sofort. Sie winkelte das linke Bein an, drehte den Fuß zur Seite – und trat ihrer Gegnerin mit aller Kraft in die Kniekehle. Der Plan ging auf. Dotty taumelte kurz, knickte ein, und verlor so für einen winzig kleinen Moment die Kontrolle über ihr Opfer. Diesen Moment ließ Jenny nicht verstreichen. Sie rollte sich einmal mehr zur Seite, sprang aus der liegenden Position in die Hocke und
sprintete sofort los. Ohne noch einmal über die Schulter zu schauen. Als sie endlich wieder das Camp erreichte, war von Dotty keine Spur mehr zu sehen.
Kapitel 5 – Gefangen! Paris »Man könnte meinen, Sie hätten den Verstand verloren!« Chaineux zeterte vor Wut und sah auf Nicole hinab. Er stand neben ihrem Bett, wie ein fleischgewordener Racheengel, und seine Augen funkelten entsprechend vor Tadel. »Das Wohlergehen eines Kindes so aufs Spiel zu setzen, das … das … Nein, ich finde keine Worte, Mademoiselle Duval. Einfach keine Worte. Ihr Verhalten ist unbeschreiblich.« Aber offenkundig nicht unbeschreiblich, dachte Nicole amüsiert – und ihr Körper strafte den Anflug von Albernheit sofort mit neuen Schmerzen. Irgendwie hatte er recht. Dies war weder die Zeit noch der Ort für unnützen Humor. Sie konnte froh sein, dass die Sache so glimpflich geendet war. Die Wunde war nicht sonderlich tief und weit weniger spektakulär als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Jean-Michels Messer – das er im Schlaf aus der Küche entwendet haben musste – hatte ihre Haut durchstoßen, die Organe aber zum Glück verfehlt. Es hatte zwar stark geblutet, aber mehr als ein paar Stiche – ausgeführt von Chaineux, der, wie sich herausgestellt hatte, in medizinischen Dingen durchaus versiert war –, ein dicker Verband und ein paar Stunden Bettruhe auf der hauseigenen Krankenstation waren nicht vonnöten, mit der Verletzung umzugehen. Nur schmerzen würde sie noch eine ganze Weile, fürchtete Nicole.
Die Dämonenjägerin lag noch immer in Chaineux’ hauseigenem Kindersanatorium. Vor der fast blinden Fensterscheibe war die Nacht schon vor Stunden zum Tag geworden. Doch bislang hatte Nicole die Kraft gefehlt, sich in Bewegung zu setzen. Die Kraft und Chaineux’ Erlaubnis. Der seltsame Alte hatte alle ihre Diskussionsversuche an sich abprallen lassen. Auch das Argument, dass sie Jean-Michel hatte helfen wollen, vermochte seinen selbstgefälligen Zorn nicht zu vertreiben. Der Junge war wieder munter und fidel, erinnerte sich an absolut nichts aus der vergangenen Nacht. Doch Chaineux schien es Nicole schlicht nicht vergessen zu wollen, dass sie sein Waisenhaus in Unruhe brachte – dabei kam die Unruhe gar nicht von ihr. »Ihretwegen wäre der Kleine fast gestorben«, tobte der Heimleiter weiter. Er trug noch immer den Pyjama und Morgenmantel, in dem er Nicole und Jean-Michel in der Nacht auf dem Balkon gefunden hatte. Und er glaubte offenbar ebenfalls noch immer, dass Nicole den Jungen auf das Balkongeländer gestellt hatte. Anders war sein ignoranter Wutanfall fast nicht mehr zu erklären. »Mr. Chaineux, ich versichere Ihnen …«, wehrte sich Nicole einmal mehr, doch wie so oft fehlte ihr die Kraft, den Anschuldigungen des Alten in der nötigen Vehemenz entgegenzutreten. »Pah! Sparen Sie sich die Mühe, Mademoiselle. Das erklären Sie lieber dem Haftrichter.« Nicole stutzte. Die Schallplatte, die seit Stunden in Chaineux’ Schädel ihre Kreise zog, hatte gerade ein ganz neues Lied präsentiert. Haftrichter? Der wird doch wohl nicht … »Wie bitte?« »Jaha!«, hob ihr Gastgeber triumphal die Stimme. »Die Gendarmerie kommt. Ich rief sie eben an, als Sie wieder einen Ihrer Schwächeanfälle hatten und kurzzeitig das Bewusstsein verloren. Die Beamten werden jeden Moment hier eintreffen, und ab dann sind Sie nicht länger mein Problem – und das meiner Kinder.« Nicole seufzte genervt, öffnete den Mund zum Protest. Sie versuchte, sich in eine sitzende Position zu stemmen, doch ihre Bauch-
decke quittierte die Bewegung durch sofortige, kalte Peinschübe, die sie zum Stöhnen brachten. »Das ist alles … Au! … alles nicht nötig, Chaineux.« Sie kniff die Augen zusammen, bis der ärgste Schmerz verging. »Wenn Sie nur zuhören würden oder mit Monsieur Robin sprächen …« Es klingelte an der Haustür. Chaineux warf Nicole einen triumphierenden, vernichtenden Blick zu, wandte sich ohne ein weiteres Wort um und ging aus dem Raum. Wenige Minuten später – von denen die letzten mit ziemlich unangenehmen stechenden Halbschmerzen einhergingen – saß Nicole Duval auf dem Rücksitz eines Wagens der Pariser Gendarmerie. Ihr war, als könne sie selbst bei geschlossenen Türen und laufendem Motor noch das wütende Gezeter hören, das der auf dem Gehsteig wartende Chaineux ihr hinterher schleuderte.
* »Ich fürchte, die beiden Beamten hatten weder besondere Lust, noch großes Interesse daran, deine Seite zu hören.« Nicole war, als könne sie Pierre Robin durch den Hörer mit den Augen rollen sehen. Der altertümlich anmutende Münzfernsprecher hing an der Wand des Korridors, der vom Empfangsbereich zum Zellentrakt der kleinen Stadtteilwache führte. In Letzterem hatte sie die vergangene Stunde verbracht – durchschmollt traf es eher – und nun, endlich, gestatteten die flics ihr den überfälligen Anruf. Sie hatte Robins Nummer gewählt. »Und das ist noch vorsichtig formuliert«, stimmte sie ihm nun bei. Sie schäumte innerlich. Wenige Kilometer weiter mochte Jean-Michel gerade die Antworten auf all ihre Fragen liefern, und sie war nicht da, sie zu entschlüsseln und dem Mysterium, das der Junge darstellte, endlich auf den Grund zu kommen. »Aber Schwamm drüber. Auch über Chaineux’ Ausraster. Das ist unwichtig. Die ein-
zige Frage, die relevant ist, lautet: Wie schnell kannst du mich hier rausholen?« Und schaffst du es, bevor Zamorra davon erfährt und die Sache wirklich peinlich wird? Robin stieß langsam die Luft aus. »Ich fürchte, das ist diesmal nicht so einfach. Der Dienstleiter deiner Wache da ist ein ziemlicher Knochen und …« Er sagte noch mehr, doch Nicole hörte ihm nicht länger zu, konnte es nicht. Denn eine neue Person hatte die Wache betreten. Eine mit verweinten Augen und sorgenblasser Miene. Eine, die sie kannte. »Julie?«, stieß Nicole erstaunt aus. »Julie, was ist passiert?« Sie ließ den Hörer fallen und trat, den Protest der an ihren klobigen zwei Schreibtischen sitzenden Beamten ignorierend, auf die Haushaltshilfe des Waisenhauses zu, die sie beim gestrigen Abendessen kennen und mögen gelernt hatte. Julie Mitternieu – Ende fünfzig und schon durch und durch großmütterlich in Auftreten und Gebaren – hatte gerade einem Polizisten etwas mitgeteilt und wandte den Kopf nun zu ihr. »Mademoiselle Duval. Ich … Ich …« Dann begann sie zu weinen. Es dauerte nicht lange – nur ein paar warme Worte des Trostes zu Julie und ein paar »Finger weg, oder ich beiße«-Blicke in Richtung der nahenden Polizisten, die sie wieder einbuchten wollten –, und Nicole erfuhr, was die Angestellte auf die Wache geführt hatte: Emmeline. Das Mädchen, das Nicole bei ihrer Ankunft die Tür geöffnet hatte, war spurlos verschwunden. »Das geschieht manchmal«, schluchzte Julie leise. »Ausreißer gibt es in jedem Waisenhaus, und die Beamten hier glauben, sie hätten es mit einem solchen Fall zu tun. Aber Emmeline …« Nicole nickte. Sie war der Kleinen während ihrer Stunden im Waisenhaus nur gelegentlich begegnet, hatte aber auch den Eindruck gewonnen, dass sie viel zu brav und artig – und zu glücklich – war, als dass ein derartiger Schritt vorstellbar wäre. »Es passt nicht ins Bild«, murmelte Nicole. »Emmeline würde
nicht wegrennen. Sie hätte gar keinen Grund dazu. Es sei denn …« Es sei denn, sie hat es mit der Angst zu tun bekommen. Nicole sah Julie in die tränennassen Augen. »Wo ist Jean-Michel, Julie? Sagen Sie’s mir. Ist etwas mit ihm? Ist er auch fort?« Die Angestellte schluckte und vergrub die Hände in den Taschen ihres alten Mantels. »Nein, aber …« »Aber?« »Er … er hatte wieder einen seiner Anfälle. Heute Morgen, kurz nach Ihrem Aufbruch. Die Kinder saßen alle im Unterricht, den wir im Haus anbieten, als er plötzlich wie spastisch zu zucken begann. Er fiel von der Bank, rollte sich auf dem Boden. Der Lehrer, der täglich zu uns kommt, konnte ihn kaum festhalten.« Nicole keuchte. »Hat er etwas gesagt? Einen Namen genannt?« Julie nickte. »Ich glaube«, sagte sie zaghaft. »War es Amos? Sid Amos?« Julie runzelte die Stirn. »N… Nein, ein Landesname. Es … Es klang wie Vietnam.« Nicole blinzelte verwirrt. Wie passte denn ein asiatisches Land in dieses bizarre Puzzle? »Vietnam.« Im Geiste überschlug sie, wann sie und Zamorra zuletzt dort gewesen waren, und suchte nach Hinweisen, die von damals auf heute deuten mochten. Sie fand keine. »Und noch ein Wort. Aber das mag auch einfach Gebrabbel gewesen sein. Zu der Zeit klang der Anfall schon ab, und wenn das geschieht, redet Jean-Michel oft sinnlos daher.« »Welches Wort?« Julie lächelte entschuldigend, als schäme sie sich, den vermeintlichen Unsinn überhaupt angesprochen zu haben. »Es klang Englisch. Irgendwie. Oswin. Boswin. So in der Art.« Nicole war, als habe ihr Herz ein paar Takte übersprungen. Sollte es tatsächlich … »Roslyn? War das Wort etwa Roslyn? John Roslyn?« »Roslyn«, wiederholte die Angestellte begeistert. »Genau, Mademoiselle. So hat es geklungen. Roslyn und Vietnam. Aber fragen Sie
mich nicht, was das bedeuten soll. Wenn Jean-Michel seine Aussetzer hat, dürfen Sie nichts auf das geben, was er macht und redet. Der arme Junge.« Sie zog die Rechte aus der Manteltasche und brachte ein Stück Papier zum Vorschein, legte es auf ihre Oberschenkel und glättete es. Es handelte sich um eine weitere von Jean-Michels kruden Zeichnungen. »Die hat er mir eben noch in die Hand gedrückt, um mich zu trösten«, sagte Julie. »Er sagte, er habe dieses Bild im Traum gesehen. Und weil es ein schöner Traum gewesen sei, schenke er es mir.« Nicole schwieg. Ihr wurde allmählich schwindlig, so dramatisch hatte sich die Situation binnen weniger Minuten verändert. Diese Zeichnung! Man musste kein Globetrotter wie sie sein, um zu erkennen, dass es sich bei dem Motiv um die Küste Vietnams handelte. Und einige Fingerbreit landeinwärts hatte Jean-Michel mit blutrotem Wachsstift ein großes X eingezeichnet. Das X markiert den Fundort, schoss es Nicole durch den Kopf. Ihre Gedanken überschlugen sich. »Mademoiselle.« Ein flic berührte sie am Arm. »Mademoiselle, ich bedaure, aber ich muss darauf bestehen, Sie zurück in die Zelle zu führen. Der Richter …« Nicole schüttelte den Arm ab und sah dem jungen Beamten ins picklige Gesicht. »Vergessen Sie Ihre Zelle. Führen Sie mich lieber zurück zum Telefon. Schnell!«
* Es dauerte eine ganze Weile, bis die Sondererlaubnis, die offenbar von höchster Stelle kommen musste, vorlag. Dann aber ließen Polizisten Nicole tatsächlich noch mal telefonieren – wider Erwarten. Sie brauchte nur wenige Worte, um Zamorra die Ereignisse der vergan-
genen Minuten zu schildern. Der Meister des Übersinnlichen, den seine Rechercheaufgaben noch immer nicht aus dem Anwesen ließen, stieß hörbar die Luft aus. »Roslyn? Und deine Erzieherin hat sich auch bestimmt nicht verhört?« Sie schüttelte den Kopf. »Bedaure. So sicher wie in dieser einen Sache war Julie sich in unserem ganzen Gespräch kein zweites Mal. Roslyn und Vietnam. Meinst du …« Sie brach ab. »Wäre denkbar, oder?«, fragte Zamorra leise. Er klang rechtschaffen bedrückt. »Wir vermuten ja schon seit einiger Zeit, dass Assi hinter LUZIFERs Tränen her ist. Und im Gegensatz zur Weltöffentlichkeit wissen wir, dass John Roslyn aufgrund des Tränensplitters verschwand, der vor der Küste City Islands aus der New Yorker Bucht gefischt wurde.« Nicole erinnerte sich gut an das Abenteuer – ihr erstes mit Zamorras neuen New Yorker Gefährten. Es lag noch nicht lange zurück. Ohne Zamorras dortigen Kontaktmann Sipowicz vom NYPD hätte es vermutlich weitaus mehr Opfer gefordert als den amtierenden Bürgermeister der US-Metropole. Und sie wusste, wie schwer Zamorra am Ausgang des Geschehens von City Island trug. Er zeigte es nie, aber tief drin fragte er sich, ob er Roslyn damals nicht doch hätte retten können, bevor es zu spät gewesen war. Nicole kannte ihn zu gut, als dass sie es ihm nicht angesehen hätte. »Hast du nicht gesagt, Roslyn könne überall und zu jeder Zeit wieder auftauchen? Falls er überhaupt noch mal auftaucht?« »Richtig«, antwortete der Professor. »Als wir ihn zuletzt sahen, fiel er durch eines der Dimensionstore. Bis heute wissen wir nicht sicher, ob er diesen Sturz überlebte und, falls ja, wo und wann er landete.« »Aber wir glauben zu wissen, dass er den Tränensplitter bei sich hat?« Zamorra klang zögernd. »Zumindest war sein Fall durch den Splitter motiviert. Ohne den Splitter wäre Roslyn nie verschwunden.
Da liegt die Vermutung nahe, dass er den Splitter nach wie vor bei sich hat – wo immer er jetzt auch steckt.« Nachdenklich fuhr Nicole sich durch das Haar. »Seit City Island sind mehrere Wochen vergangen. In denen nichts geschah. Und in einem Randbezirk von Paris hat plötzlich – oder vermeintlich plötzlich – ein kleines Waisenkind Träume von Asmodis und der Hölle, von Roslyn und Vietnam.« »Nicht nur das«, warf der Professor ein. »Es zeichnet uns sogar eine Karte.« Nicole hob die Braue. »Du denkst, die Karte führt uns zu Roslyn?« Der Schluss hatte eine gewisse Logik, fußte aber auch auf diversen Fragezeichen. »Ich weiß es nicht. Nach allem, was du mir über den Kleinen erzählst, könnte sie genauso gut völlig sinnlos sein und nichts mit unseren Aufgaben zu tun haben. Aber …« Nicole nickte langsam. »Aber du willst der Sache nachgehen. Wegen Roslyn.« Zamorra seufzte. »Der Mann ist für mich wie ein loser Faden. Eine Baustelle, die ich nicht habe schließen können. Und wenn er wirklich da unten gelandet ist und den Splitter in sich trägt, kann alles Mögliche passieren. Roslyn kann sogar eine Gefahr für die dortige Bevölkerung werden. Du weißt, welches Chaos der Splitter in New York verursachte.« Das wusste sie tatsächlich. Die Bilder der untoten Indianer, die die kleine Touristenhochburg City Island niedermetzelten, gingen ihr bis heute nicht aus dem Sinn. »Also?«, fragte sie leise und ahnte die Antwort bereits. »Wie lautet der Plan? Wir fliegen nach Vietnam?« »Ich fliege«, widersprach er betont. »Du behältst derweil deinen Jungen im Auge. Es spricht einiges dafür, dass er – aus uns bislang unbekannten Gründen – einen besonderen Draht zu den Ereignissen in Vietnam hat. Da schadet es nicht, wenn wir uns ihn als Informationsquelle warm halten. Ich suche nach Roslyn, und du meldest dich,
sowie Jean-Michel weitere Auskünfte über ihn und Sid Amos liefert.« Nicole verzog das Gesicht. Das war leichter gesagt als getan. Zwischen ihr und dem Jungen standen immerhin der Sturkopf Chaineux und ein komplettes Polizeirevier, dessen Beamte auf die üblichen Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Methoden nicht ansprangen. »Alles klar?«, hakte Zamorra nach, als sie nicht gleich reagierte. »Alles klar«, sagte Nicole. »Ich … Ich krieg das hier schon hin, irgendwie. Mach dir keine Gedanken. Melde dich, sobald du angekommen bist, okay?« »Wird gemacht, Chéri.« Er schmunzelte, das hörte sie ihm an. »Dann schick ich dir eine Portion Pho Bo in die Zelle – natürlich mit heimlich drunter gemischter Feile.« Nicole lachte – ein wenig gequält –, und sie legten auf. Wenige Minuten später zeigte sich, dass sie sich um ihre Rettung doch keine Gedanken mehr machen musste. »Pierre? Bist du das?« Der Lyoner Chefinspektor stand im Gang gleich außerhalb ihrer Zelle und grinste sie durch die Gitterstäbe an. »Wen hast du sonst erwartet? Den Grafen von Monte Christo? Obwohl: Angesichts der Umstände wäre der sicher nicht die schlechteste Wahl.« Pierre hatte einen der hiesigen flics im Schlepptau, den pickligen Jungspund von vorhin, und bedeutete diesem mit ebenso lauten wie deutlichen Worten, Nicole sofort frei und alle eventuellen Anklagen fallen zu lassen. Zu Nicoles und Pierres eigener Überraschung gehorchte der Beamte. Alles eine Frage der Sturheit, dachte Nicole. Und der Hierarchie. Kurz darauf standen sie und Pierre auf dem Bürgersteig vor der Wache. Warme Sonnenstrahlen fielen auf Pierres parkenden Dienstwagen und die Pariser Hausdächer. »Danke«, sagte Nicole. »Das wurde langsam anstrengend da
drin.« »Keine Ursache«, erwiderte Pierre. »Du weißt, ich stehe auf Knastbräute.« Dann prustete er los, und Nicole boxte ihn in die Seite.
Kapitel 6 – In Cronins Fadenkreuz Annamitisches Hochland, Vietnam Es kostete Zamorra einige eingeforderte Gefallen und Tricks, wie nur er sie zu leisten vermochte, doch es gelang: Keine Viertelstunde nach Nicoles Anruf aus dem Gefängnis war er unterwegs. Per Regenbogenblumen reiste er von der Loire aus nach Australien. Dort wartete bereits ein von William gebuchter Privatjet auf ihn, um ihn zum Ziel zu bringen: dem X auf Jean-Michels Karte. Nicole hatte sie ihm am Telefon so genau beschrieben, dass er sie mühelos hatte nachzeichnen können und so eine exakte Kopie besaß. Die Gegend erwies sich als zu uneben und dicht bewaldet, als dass der Jet hätte landen können. Der Dämonenjäger, der sich während des Fluges von Sydney aus bereits online informiert hatte, hatte so etwas schon vermutet und stand, als sie das Ziel endlich überflogen, mit dem Fallschirm an der Kabinentür bereit. »Viel Glück, Sir«, rief ihm der Pilot über die Schulter hinweg zu. Dann sprang Zamorra ins Freie. Wenige Minuten und ein paar waghalsige Wendemanöver später gelang es dem Meister des Übersinnlichen tatsächlich, auf dem Erdboden und nicht in den Baumwipfeln zu landen. Schnell schnallte Zamorra den Fallschirm ab und verstaute ihn im Schutz des Waldesdickichts. Er sah sich um, lauschte, doch nirgends regte sich etwas – abgesehen von der Natur. Sein Kommen schien unbemerkt
geblieben zu sein. Zumindest, sofern hier überhaupt jemand ist, der es hätte merken können. Dass dem so war, wurde ihm jedoch schnell – und dramatisch – deutlich. Der Meister des Übersinnlichen war keine Stunde lang durch den vietnamesischen Busch gestreift, da erreichte er eine Lichtung. Auf dieser standen einige verlassen wirkende Zelte, im Halbkreis um die qualmenden Reste eines Lagerfeuers angeordnet. Zamorras geschultem Blick entging nicht, dass die Markennamen, die auf einigen der Zelte aufgedruckt waren, amerikanisch waren. Auch die Ausrüstung der Camper schien nicht aus Vietnam zu stammen. Vorsichtig und leise trat Zamorra näher. Er brauchte sein Bauchgefühl nicht, um zu wissen, dass er beobachtet wurde. Aber er ließ es darauf ankommen. Schließlich war er hier, um Antworten zu erhalten. Und richtig: Kaum hatte er den Eingang eines der Zelte erreicht und deutete an, es betreten zu wollen, erklang in seinem Rücken ein protestierendes Räuspern – und das klackende Geräusch eines Kurzlaufgewehrs, das durchgeladen wurde. »Das würd ich lassen, wenn ich Sie wäre«, knarzte eine Stimme in klarem Amerikanisch. Zamorra schmunzelte, hob artig die Hände und drehte sich ganz langsam um. »Ich will keinen Ärger.« Keine sechs Schritte von ihm entfernt trat ein schmächtiger Geselle aus dem Dickicht. Sein Oberkörper war nackt und mit einer Kriegsbemalung aus Dreck und Rindenkrümel verziert. Sein Haar war extrem kurz und feuerrot. Die Waffe in seiner Rechten glänzte im Sonnenlicht. Wie ein Spaghettiwestern-Held trug er einen breiten Revolvergürtel um die Schulter. »Gut zu wissen«, sagte der Mann. »Aber ich. Zumindest, wenn Fremde hier auftauchen und unaufgefordert spionieren.« »Ich bin auch kein Spion«, sagte Zamorra. Er sah dem Mann direkt in die skeptisch-gehässig blickenden Augen.
»Sondern?« »Auf der Suche. Sind Sie hier der Campleiter, Mister …?« Rotköpfchen betrachtete ihn schweigend. Zamorra sah regelrecht, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Das geschah dort eher selten, vermutete er. »Preston«, antwortete der Mann schließlich. »Der Major ist da hinten bei den anderen.« Er nickte in Richtung des Dickichts, aus dem er gekommen war. »Heute ist Manöver.« Zamorra folgerte, bei diesem Major müsse es sich um den Anführer handeln. Preston schien nur den Zeltplatz zu bewachen. »Kann ich ihn sprechen? Ihren Major?« Preston schnaubte abfällig. »Können? Mister, das werden Sie sogar müssen. Denn ich lass Sie garantiert nicht mehr laufen. Sie können froh sein, dass Sie noch atmen! Major Cronin soll entscheiden, wie wir mit Ihnen verfahren.« Auf einen Wink mit dem Gewehrlauf hin, setzte Zamorra sich in Bewegung. Preston folgte ihm. Mit erhobenen Händen bahnte sich der Dämonenjäger einen Weg durch den Dschungel. Nach etwa zwanzig Minuten des Schweigens erreichten sie eine Gruppe von Männern. Manche von diesen trugen Armeekleidung, manche nicht, aber alle hatten Schuss- oder kleinere Stichwaffen in den Händen. Sie staunten nicht schlecht, als Zamorra aus dem Schatten der Bäume trat. »Major«, richtete sich Preston an einen groß gewachsenen Glatzkopf von vielleicht sechzig Jahren. »Den hier hab ich im Camp gefunden.« Cronin wirkte für sein Alter erstaunlich durchtrainiert und stark. Eine Narbe lief ihm quer übers Gesicht, die er ebenso stolz zu tragen schien wie seine Muskeln. »Amerikaner?«, fragte er knapp. Der kalte, abschätzende Blick seiner Augen wanderte an dem Gefangenen auf und ab. »Franzose«, antwortete Zamorra. Wie erwartet, trug das nicht dazu bei, seinen Stand bei den Männern zu verbessern.
»Soldat?« »Journalist«, log der Dämonenjäger. Er hoffte, mit dieser Masche am ehesten durchzukommen und Antworten zu erhalten. »Ich suche nach einem gewissen John …« »Journalist?«, unterbrach ihn ein stämmiger Mann, der aussah, wie ein – schlecht – als Rambo verkleideter Buchhalter. »Noch einer? Was wird das hier, Cronin, eine Pressekonferenz? Auf der Website stand was von abgelegenem Gelände und Ruhe, Mann. So langsam bekomme ich Lust, mein Geld zurückzufordern.« »Ich seh das wie Willks«, knurrte eine Bohnenstange mit dicker Brille und wildem Flackern im Blick. Der Typ musste mindestens so alt wie Cronin sein, hatte sich aber weniger gut gehalten. »Diese Moffat allein stört schon mehr als genug, aber die sieht wenigstens noch geil aus.« Moffat? Zamorra runzelte erstaunt die Stirn. »Moment mal. Jenny Moffat ist hier?« Er kannte die amerikanische, engagierte TV-Reporterin aus zahlreichen gemeinsam durchlebten Gefahren. Wenn, Jenny hier ist, ist Roslyns Anwesenheit gleich noch wahrscheinlicher. Jenny hat ein Talent dafür, immer dort aufzutauchen, wo das Paranormale besonders stark wütet. Cronin spuckte aus. »Ich hab den Typen nicht bestellt, klar?«, sagte er seinem kriegspielenden Gefolge. »Und er hat sich nicht angekündigt. Mister Franzose, wenn ich Sie wäre, würd ich ganz schnell wieder heim zu Eiffelturm und gebratenen Froschschenkeln fliegen. Sie sind hier nicht erwünscht.« Den Eindruck habe ich auch, dachte Zamorra. Er wollte gerade zu einer besänftigenden Erklärung ansetzen, da drangen laute Hilferufe an sein Ohr. Sie kamen aus einigen Hundert Metern Entfernung, waren aber deutlich zu hören – und stammten unverkennbar von einer alten Bekannten. »Das ist Jenny«, stieß Zamorra aus. Ohne Cronins Trupp eines weiteren Blickes zu würdigen – dieses seltsame Spiel hatte ohnehin lange genug gedauert –, wirbelte er herum und rannte ihr entgegen.
* Das Wiedersehen verlief ebenso überraschend wie spektakulär. Jenny Moffat – halb nackt und schreckensbleich – kam kaum dazu, lange über Zamorras Anwesenheit zu staunen. Mit stockender Stimme und ziemlich atemlos schilderte sie dem Dämonenjäger und Cronins Truppe, was ihr am Ufer des nahegelegenen Sees widerfahren war. »Dotty?« Cronin klang, als wolle er gleich loslachen. »Dotty McGruder hat Sie angegriffen?« Sie vermissten die Frau seit dem Frühstück, hatten sich aber bislang keinerlei Gedanken über ihren Verbleib gemacht. Dotty verschwinde gerne mal, hieß es. »Ja und nein«, antwortete Jenny. Sie hatte sich schnell umgezogen und saß nun, bibbernd vor Grauen, am Feuer des Camps. »Dieses Wesen sah aus wie Dotty, war vielleicht auch mal Dotty – aber es ist sie nicht. Es …« Sie brach ab. Die ungläubigen Blicke und unverhohlene Verachtung der Möchtegern-Soldaten setzte ihr sichtlich zu. »Es?«, hakte Zamorra sanft nach. »Erzählen Sie’s mir, Jenny. Sie wissen, dass mich wenig schocken kann.« Sie lächelte schwach. »Dieses Ding wirkte, als habe es keine Seele mehr. Ergibt das einen Sinn für Sie, Professor? Ich kann’s nicht besser beschreiben. Seelenlos.« Preston, Gallagher und die anderen Männer johlten vor Vergnügen. Ihren spöttischen Kommentaren zufolge rechneten sie damit, Moffat und den Professor alsbald los zu werden. Einzig Cronin schien Jennys Worten zumindest noch Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn er ihnen sichtlich nicht glaubte. Hört sich an, als hätte ich Roslyns Splitter gefunden, vermutete Zamorra. Fragt sich nur, wo Roslyn selbst steckt. »Können Sie mir den See zeigen?« Jenny schien alles andere als glücklich, dorthin zurückkehren zu müssen. Aber sie nickte. »Wenn Sie mitkommen, ja. Aber wir sollten
ein paar von Cronins Mini-MGs mitnehmen. Für alle Fälle.« Die Männer hatten sich inzwischen abgewandt und waren damit beschäftigt, das Mittagessen-BBQ vorzubereiten. Nur der Major stand noch bei seinen zwei Gästen. »Vergessen Sie’s«, sagte Cronin. »Unsere Waffen gehören uns. Die kriegt keiner.« Zamorra sah ihn streng an. »Aber wenn’s sein muss, komm ich mit«, fuhr der Glatzkopf fort. »Bewaffnet. Ist zwar völliger Stuss, was Sie da erzählen, aber bevor Sie mir meine Kundschaft noch unruhiger machen, als sie ohnehin schon ist … von mir aus. Kontrollieren wir die Umgebung.« Zu dritt machten sie sich auf den Weg. Cronin ging voraus, in einigen Metern Abstand, sodass Zamorra die Gelegenheit bekam, ein wenig privater mit Jenny zu sprechen. »Raus mit der Sprache«, raunte er ihr lächelnd zu. »Sie sind doch nicht wegen diesen Spinnern den ganzen weiten Weg nach Vietnam gekommen. Sondern?« Einen Moment lang schwieg die blonde Journalistin. Dann sah sie Zamorra in die Augen. »Ich hätte mir ja denken können, dass man vor Ihnen keine Geheimnisse haben kann«, sagte sie leise und seufzend. »Ich bin auch wegen der Spinner hier. Aber nicht nur, da haben Sie recht.« »Ich höre«, sagte Zamorra. »Ist Ihnen die Mad-Man-Theory ein Begriff, Professor?«, begann Jenny. Zamorra runzelte die Stirn. »Nixon, richtig?« Jenny nickte. »Gegen Ende der 1960er wartete US-Präsident Nixon mit einer neuen Strategie auf. Er wollte dem Rest der Welt den Eindruck vermitteln, geistig nicht mehr auf der Höhe zu sein. Die Ostblockstaaten sollten Angst bekommen, Nixon würde auch vor einem Atomschlag nicht zurückschrecken, um den Vietnamkrieg zu beenden.«
Etwas in der Art hatte Zamorra irgendwo mal gelesen. »Wurde nicht allzu viel draus, oder?« »Unterm Strich nicht«, antwortete Jenny leise und sah zu Cronin. »Es gibt aber die Theorie, dass im Zuge der Mad-Man-Aktion eine weitere geheime US-Base im vietnamesischen Hinterland errichtet wurde. Eine mit hochmoderner Ausstattung und allem Pipapo. Darin soll Uncle Sam angeblich gentechnische Experimente vollzogen haben.« »Theorie«, murmelte Zamorra skeptisch. »Wie in Verschwörungstheorie? Wie in ›Wer das glaubt, glaubt auch an Bigfoot‹?« Jenny hob abwehrend die Hand. »Ich weiß, ich weiß. Es ist weit hergeholt. Aber die Theorie hält sich seit über vierzig Jahren, Professor. Ich bin hier, um sie zu überprüfen. Ich recherchiere dieser Phantom-Base seit Langem hinterher, und ich glaube, endlich den entscheidenden Hinweis über ihre Position gefunden zu haben. Dass Cronins Irre in der Gegend unterwegs sind, ist für mich ein perfekter Zufall – so habe ich eine Tarnung und bekomme, sollte sich mein wahres Ziel tatsächlich als Legende herausstellen, einen Ersatzbericht für meine Sendung quasi frei Haus.« Plötzlich drehte sich Cronin, der die ganze Zeit schweigend und scheinbar ohne auf sie und Zamorra zu achten vorausgegangen war, um. Er wirkte wütend. »Nixon?«, blaffte er die junge Journalistin an. »Verstehe ich das richtig, Miss Moffat? Sie sind hier, um ein Geheimprojekt der US-Regierung auffliegen zu lassen?« »Ein längst aufgegebenes Geheimprojekt«, betonte sie. »Eines, von dem die Öffentlichkeit längst hätte erfahren sollen. Aber Washington streitet seit Jahrzehnten ab, dass es existierte.« Es gefiel dem Major sichtlich nicht, eine Revoluzzerin im Team zu haben. »Ich kenne Ihre Sendung, Miss Moffat. Ich hätte mir denken können, dass Sie Ärger machen. Damit Sie’s wissen: Für unamerikanischen Unfug stehen meine Männer und ich nicht zur Verfügung!« Zamorra wollte gerade beschwichtigend dazwischen gehen, da öffnete sich der Weg vor ihnen weiter – und sein Blick fiel auf eine
Tote! »Ist das da zufällig Ihre Dotty, Cronin?« Der Major wirbelte herum und starrte perplex auf die Frauenleiche, die bäuchlings im Wasser des kleinen Sees trieb. McGruder war mit einem Badeanzug bekleidet – anders als in Jennys Bericht – und wirkte alles andere als zombiehaft. Sondern einfach nur tot. »Eins ist sicher«, murmelte Cronin. »Die hat Sie garantiert nicht durch den Wald gejagt. Verfluchte Scheiße …« Er trat ans Ufer, ging in die Hocke und streckte den Arm nach der Wasserleiche aus. »Warten Sie!«, zischte Zamorra warnend. »Da!« Cronin hielt inne und hob den Kopf. Dann sah auch er die Gestalt. Es war wie in Jennys Geschichte: In den Schatten der den See umgebenden Bäumen stand ein Mensch. Zamorra konnte kaum Details ausmachen, Körperform und Größe gaben ihm aber Grund zu der Annahme, es mit Dotty zu tun zu haben. Wieder. Cronin zog hörbar die gleichen Schlüsse. »Was zum Teufel …« Seine Hand wanderte zur Schusswaffe. »Nicht, Cronin«, bat Zamorra leise. Seine Gedanken überschlugen sich. Eine zombiehafte Doppelgängerin? Eine, die lebte, obwohl das Original tot im See trieb? Eine ohne Seele? »Was immer Sie tun«, raunte er seinen beiden Begleitern zu, »gehen Sie nicht in dieses Wasser. Berühren Sie es nicht einmal. Noch wissen wir nicht, womit wir es hier zu tun haben. Und wir sollten keine unnötigen Risiken eingehen.« Dann machte er einen Schritt auf das Schattenwesen zu. »Dotty? Sind Sie das? Wir möchten mit Ihnen sprechen.« Die Gestalt zuckte zusammen – und rannte fort. Binnen weniger Sekunden war sie im Dickicht verschwunden und unauffindbar. Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht. Zamorra seufzte innerlich. »Dann eben anders.« Er sah zum Major. »Sie rauchen nicht zufällig Zigarre, oder? Ich bräuchte nämlich ein kleines Behältnis für eine Wasserprobe.«
* Lieutenant Franklin Riddeck grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Sehnse?«, fragte er Jenny begeistert. »Hab ihnen doch gesagt, dass wir den Kram noch brauchen können.« Sie standen in seinem Zelt – Zamorra, Jenny und Riddeck selbst –, und der selbst ernannte Chemiker der Truppe war der Ekstase nahe, dass seine mitgeführte Ausrüstung auf derart großes Interesse stieß. Zamorra wischte sich den Schweiß von der Stirn – es war verflucht warm hier – und sah von dem Mikroskop auf, durch das er geblickt hatte. »Aber kein Wort zu den anderen, Frank, okay? Je weniger von dieser Sache Bescheid wissen, desto besser.« Riddeck salutierte. »Aye, Sir.« Sie hatten ihm erzählt, der See sei verunreinigt und Zamorra ein Vertreter irgendeiner Gesundheitsbehörde. Das hatte Riddeck vorbehaltlos geschluckt. Sonderlich helle war er offenkundig nicht. »Wenn Sie die Frage gestatten, Sir: Was genau machen Sie da?« Zamorra sah zu den wilden Aufbauten aus Erlenmeyerkolben, Gasflammen und allerhand anderem Kram, in denen seine Wasserprobe köchelte, und seufzte leise. Wenn ich das wüsste … »Recherchieren. Was macht der Computer?« Riddeck wandte sich den Monitoren in der rechten Zeltecke zu. »Die ersten Analyseergebnisse sind so gut wie da. Soll ich sie gleich an die von Ihnen genannte Adresse senden?« Zamorra nickte. Riddeck hatte eine Internetleitung, weil er irgendeinen Satelliten anzapfte. Das war fraglos ebenso wenig legal wie autorisiert, aber es erwies sich als äußerst praktisch. »Dann rufe ich mal mein … mein Labor an.« Der Professor zog sein TI Alpha aus der Tasche, zwinkerte Jenny wissend zu und trat ins Freie. Helles Sonnenlicht fiel auf die Lichtung. Cronins Mannen saßen um das Feuer verteilt, leerten Bierdosen und sprachen über Dotty.
Sie beachteten den Professor kaum. William meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »William, ich bin’s. Hören Sie, ein Lt. Franklin Riddeck, Veteran der US-Armee, schickt Ihnen gerade einige chemische Daten. Ich möchte Sie bitten …« Mit wenigen, präzisen Worten beschrieb der Meister des Übersinnlichen seinem treuen Butler, was es mit der Wasserprobe auf sich hatte und wer bei der finalen Auswertung der in Riddecks Feldlabor ermittelten Grobdaten helfen mochte. »Sehr wohl, Monsieur«, erwiderte der Butler, als er geendet hatte. »Ich vermute, Sie erwarten die Ergebnisse fernmündlich oder elektronisch zu erhalten?« Zamorra nickte. Williams britischsteife Art war genauso typisch wie seine Bereitschaft, auch den abstrusest erscheinenden Auftrag nicht zu hinterfragen, wenn er für seinen Arbeitgeber wichtig war. »Falls Sie damit durch die Blume erfragen wollen, ob ich bald ins Château zurückkehre: Nein, William. Schicken Sie’s per Mail. Ich glaube, ich brauche hier noch ein Weilchen.« »Verstanden, Monsieur«, kam die nüchterne Bestätigung. »Hat sich Nicole mal wieder gemeldet?« William wirkte, als habe er die Frage erwartet. »Hat sie, Monsieur. Chefinspektor Robin war so nett, ihr aus ihrer kleinen Bredouille zu helfen, und jetzt, so sagte sie mir, säßen sie beide auf Beobachterposten an diesem Pariser Kinderheim.« Zamorra hob eine Braue. »Pierre, ja?«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu William. »Na, was auch immer diesen Jean-Michel antreibt, ich schätze, gemeinsam werden sie es bald herausfinden.« Vermutlich hatte sich der Lyoner Chefinspektor mitschuldig an Nicoles Lage gefühlt. Anders konnte sich Zamorra seinen Einsatz nicht erklären. »Weiterhin viel Erfolg, Professor. Ich melde mich, sowie ich erste Ergebnisse vermelden kann.«
Der Dämonenjäger verabschiedete sich von seinem langjährigen Faktotum und trennte die Verbindung. Dann atmete er tief durch, ließ die warme, frische Luft in seine Lungen und dachte nach. Ein See, in dem eine tote Frau treibt. Eine zombieeske Doppelgängerin dieser Frau, die Jenny angreift. Die Legende eines geheimen US-Stützpunktes, den es Washington zufolge nie gegeben hat, und in dem mit Genen experimentiert wurde – angeblich. Und mittendrin John Roslyn mit dem Tränensplitter? Er neigte den Kopf zur Seite. Wären das alle Puzzleteile, ich wäre überzeugt, sie ergäben früher oder später ein sinniges Bild. Irgendwie. Aber da ist noch der Pariser Waisenknabe zu bedenken, der von Sid Amos erzählt und Vietnamkarten zeichnet. Wie passt sein Puzzleteil in dieses Bild? Passt es überhaupt? Im Laufe der Jahrzehnte, die er bereits gegen das Paranormale antrat, hatte Zamorra gelernt, seinem Instinkt zu vertrauen, und der sagte ihm, dass alles ein großes Ganzes ergab, auch wenn er die Zusammenhänge noch nicht sehen konnte. Dennoch blieben die Zweifel, denn seinem Verstand waren hier entschieden zu viele offene Fragen, als dass er in diesem Gewirr aus Ansätzen ein Muster hätte ausmachen können. Er schüttelte den Kopf. Einen Schritt nach dem anderen, das musste sein Kurs werden. Andernfalls kam er vielleicht nie irgendwo an. Es gibt nur eine Möglichkeit, Antworten zu finden, dachte er. Nämlich, den richtigen Leuten die richtigen Fragen zu stellen. Und wer ist hier der Richtige? »John Roslyn«, beantwortete er sich die Frage sofort. »Vorausgesetzt, der ist tatsächlich in der Gegend.« Zamorra drehte sich um und trat zurück zu Riddecks bizarrem Feldlabor. Der verquere Wissenschaftler stand noch immer eifrig beschäftigt inmitten seiner Utensilien und Geräte. »Sagen Sie, Jenny …«, begann der Professor, brach aber ab. Jenny Moffat war nirgends mehr zu sehen. »Die ist vor wenigen Minuten gegangen«, wusste Riddeck. »Hat gesagt, Sie wolle helfen und ein wenig recherchieren. Da Sie noch in
Ihr Gespräch vertieft waren, hat sie sich schon allein aufgemacht. Sie könnten ja nachkommen, wenn Sie wollen.« Der Dämonenjäger stutzte. »Wohin nachkommen?« Doch tief drin wusste er es längst. Zum Seelensee.
Kapitel 7 – Ein schlimmer Verdacht Paris »Das ist also Polizeiarbeit«, murmelte Nicole und hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Gähnen zu verbergen. Seit drei Stunden saßen sie und Pierre nun schon in dem gegenüber des Waisenhauses geparkten Mietwagen und observierten das Gebäude, und allmählich war ihr, als stürben ihre Hirnzellen und Muskeln vor Inaktivität ab. »Glamourös, oder?« Pierre, der neben ihr auf dem Fahrersitz saß, schmunzelte. »Warte mal, bis es dunkel wird. Dann verschwindet sogar die Aussicht.« »Das wär kein Job für mich.« »Ja, ich bin auch nicht undankbar, den Großteil meiner Tage mit Wichtigerem zu verbringen und die Observierungen den lieben Untergebenen überlassen zu dürfen. Aber hin und wieder …«, er steckte sich ein Bonbon in den Mund, »… schmeckt mir die Abwechslung durchaus.« Sie saßen hier draußen, weil Chaineux sie fraglos in Grund und Boden gezetert hätte, hätte Nicole sich noch einmal auf seiner Schwelle blicken lassen. Stattdessen versuchten sie einen anderen Weg. Julie hatte sie darauf gebracht. Irgendwann am späteren Nachmittag, so die Hausangestellte, würde Chaineux einen Behördengang erledigen und für eine Weile nicht im Heim sein. Diese Gele-
genheit wollte Nicole nutzen und sich wieder zu Jean-Michel begeben. Sie hatte noch ein paar Fragen an den Jungen und glaubte, der Lösung dieses Rätsels dann endlich näher zu kommen. »Und dann geht’s plötzlich ganz schnell«, sagte Pierre und pfiff leise. Nicole folgte seinem Blick und sah, dass der strenge Heimleiter gerade aus der Haustür trat. Chaineux trug Hut und Mantel. »Showtime«, murmelte sie. Als Chaineux um die Ecke verschwunden war, sah Nicole zu Pierre. »Also gut. Du stehst hier Schmiere, ich gehe rein. Wenn ich noch nicht wieder draußen bin und du ihn zurückkommen siehst, schlag zwei Mal auf die Hupe. Dann weiß ich Bescheid. Alles klar?« Pierres Augen wurden groß. »Was? So haben wir aber nicht gewettet!« »Kein Aber, Pierre, bitte. Ich brauche keinen Beschützer, sondern einen Wachmann. Und momentan steht außer dir niemand zur Verfügung.« Es gefiel ihm sichtlich nicht, sie allein ziehen zu lassen. Doch er fügte sich ihren Argumenten. »Nimm wenigstens die hier mit«, sagte er, griff unter sein Jackett und zog seine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter. Nicole hob eine Braue. »Ein Revolver. Um in ein Waisenhaus zu gehen.« »Sicher ist sicher«, beharrte Pierre und drückte ihr das Ding in die Hände. »Tu’s einfach. Für mich.« Nicole rollte mit den Augen, steckte sich die gesicherte Waffe aber hinten in den Hosenbund. Dann verließ sie den Wagen. Wie vereinbart öffnete Julie ihr und führte sie direkt zu Jean-Michel. Der Junge spielte im Garten hinter dem Haus mit einigen anderen Kindern der Einrichtung. Er sah gesund aus – und ganz und gar nicht wie jemand, der unter Visionen litt. Als er Nicole erblickte, verdunkelte sich seine Miene. Und als Julie ihn aus der Gruppe der Kinder zwang, noch mehr.
»Du willst nicht mit mir reden, richtig?«, fragte Nicole ohne Umschweife, als sie neben ihm in die Hocke ging. »Du willst lieber weiter mit deinen Freunden spielen.« Jean-Michel schwieg höflich, aber bestimmt. »Du willst nicht an das denken, was letzte Nacht war, richtig?«, drängte Nicole sanft weiter auf ihn ein. Sie nickte. »Kann ich verstehen. Würd’ ich auch nicht wollen. Hey, will ich auch nicht.« Sie lachte leise und strich sich über den Bauch und die frische Naht. »Aber wir müssen. Wenn wir wollen, dass das endlich aufhört, müssen wir. Und das willst du doch, oder?« Der Junge sah aufs Gras. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, als halte er dort seine Zunge fest. »Ich kann dir helfen, Jean-Michel. Ich kenne mich mit solchen Sachen aus, mit bösen Träumen und so. Ich kenne sogar deinen Freund Sid Amos.« Das entlockte ihm endlich eine Reaktion. Allerdings eine kontraproduktive, denn der Blick, den der Junge ihr nun zuwarf, hätte selbst für Geld nicht abfälliger und ungläubiger sein können. »Doch, echt. Ich kenne ihn schon ganz lange. Er nennt sich auch Asmodis, wusstest du das?« »Ich kenn’ keinen Sid«, sagte Jean-Michel trotzig. »Nie gehört.« Nicole seufzte leise. »Aber er ist doch dein Freund. Das hast du mir erzählt.« »Hab ich gar nicht.« »Du hast mir sogar die Bilder gezeigt, die du von ihm gemalt hast. Gestern.« »Mhm.« Jean-Michel schüttelte den Kopf. Ein unbeugsamer Gallier. »Erinnerst du dich wirklich nicht?«, stutzte Nicole. »Auch nicht an das hier?« Sie hob ihre Bluse ein Stück und präsentierte die bandagierte Stichverletzung. »War ich nich.« Der Junge erblasste.
»Ach ja?« Sie schmunzelte nachsichtig. »Wer denn dann, he?« Die Frage war gar nicht ernst gemeint gewesen. Schließlich wusste Nicole, was sie erlebt hatte, und sie verstand auch Jean-Michels Abwehrhaltung. Entsprechend verblüfft war sie, plötzlich eine alles andere als erwartbare Antwort zu erhalten. »Chaineux«, sagte der Junge. »Chaineux war’s, nicht ich.« »Der alte Heimleiter? Komm schon, Jean-Michel. Das kannst du einem Kindergartenkind erzählen, aber nicht …« Nun schüttelte er richtig vehement den Kopf. »Nicht der Alte. Der Junge!« Nicole runzelte die Stirn. Welcher Junge denn? Ein junger Chaineux? »Wovon redest du? Es gibt keinen jungen …« Dann brach sie ab. Richtig, schoss es ihr durch den Kopf. Es gibt keinen. Aber es gab mal einen. Hatte Zamorra nicht erzählt, Chaineux’ Sohn sei in Vietnam gefallen? »Chaineux’ … Sohn?«, fragte sie verwirrt. »Meinst du seinen …« »Is nich gelogen«, rechtfertigte sich Jean-Michel. »Emmeline kennt ihn auch. Sie ist ihn sogar besuchen.« Was? »Das vermisste Mädchen? Wo ist sie, Jean-Michel? Weißt du, wohin sie gegangen ist?« Jean-Michel hob die Hand und deutete mit ausgestrecktem Finger auf das Waisenhaus. »Na, zu ihm. Zu Mitch. Sie hat gesagt, vielleicht träum’ ich wegen ihm schlecht. Und deshalb wollte sie ihn fragen, ob er mich in Ruhe lassen will.« Nicole folgte seinem Finger mit dem Blick – und zuckte erschrocken zusammen. Spinn ich jetzt auch?, fragte sie sich. Oder stand da gerade eben jemand am Fenster? Es handelte sich um das oberste Fenster des Hauses, gleich unter dem Dach. Dort, wo sich ihrer Vermutung nach Chaineux’ Privatwohnung befand. Nicole wusste nicht, ob es real gewesen oder nur ihrer ob
der eigenartigen Situation vielleicht überreizten Fantasie entsprungen war, aber sie hätte schwören können, eben eine Regung an diesem Fenster wahrgenommen zu haben. Als hätte da jemand gestanden, der, just als sie zu ihm aufsah, in Deckung gegangen war. Handelte es sich um Emmeline? »Du bleibst hier, ja?«, sagte sie zu Jean-Michel und stand auf. »Ich will nur kurz was nachschauen, dann komme ich wieder.« Der Junge brauchte keine zweite Aufforderung. Nur zu gern wandte er sich von Nicole ab und seinen Spielgefährten zu. Nicole sah sich um. Von Julie weit und breit keine Spur. Vermutlich arbeitete sie in der Küche. Andere Bedienstete waren momentan nicht im Haus, das wusste Nicole. Dann mach ich’s eben selbst, dachte sie und setzte sich in Bewegung. Schnell hatte sie das Erdgeschoss betreten und begann, die Stufen der alten Treppe zu erklimmen. Erster Stock, zweiter Stock mit den Jungszimmern … dann kam die letzte Treppe. Die, die sie in der vergangenen Nacht ausgelassen hatte, als sie Jean-Michel suchte. Schon von ihrem Fuß aus sah Nicole, dass die Treppe direkt an einer Tür endete. Die Tür wirkte, als wohne dort oben jemand mit extrem hohem Sicherheitsbedürfnis. Nicole sah Schlösser und Riegel, Bolzen und Ketten – aber auf der Außenseite! Und sie sah … Emmeline! Das rote Band aus dem Haar des Mädchens. Unverkennbar. Es lag auf der obersten Stufe. Nicole zögerte. Ihr Instinkt schrie regelrecht danach, kehrt zu machen und Verstärkung zu holen. Ihr Verstand zögerte allerdings. Und irgendetwas in ihr – und Nicole wäre in diesem Moment bereit gewesen, jeden zu töten, der gewagt hätte, es Muttergefühl zu nennen – trieb sie zum Weitergehen an. Dann hörte sie die Geräusche. Etwas polterte dort oben, fiel lautstark um. Und ein Mädchen begann zu weinen … Vor ihrem geistigen Auge sah Nicole die Kleine unter einem umgestürzten Schrank oder so liegen, beim Spielen in eine missliche
Lage geraten. Nicole ging die Stufen hinauf. »Emmeline?«, rief sie. »Bist du da drin, Liebes?« Keine Antwort. Das Weinen verstummte. Nicole war auf der obersten Stufe angekommen und sah, dass die Tür allen Schlössern zum Trotz einen kleinen Spalt aufstand. Sie schob sie weiter, trat über die Schwelle. Lauschte. »Emmeline?«
* Pierre Robin hatte ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. Er kannte Nicole und Zamorra seit Ewigkeiten und vertraute ihnen mehr als fast jedem anderen Menschen dieser und vieler anderer Welten. Er wusste, dass sie wussten, was sie taten und worauf sie sich einließen. Und es ist auch nicht so, als wären ausgerechnet Waisenhäuser als paranormale oder kriminelle Brennpunkte gefürchtet, n’est-ce pas?, spottete die Stimme der Rationalität in seinem Geist. Dennoch wurde er den Eindruck nicht los, dass Nicole in Gefahr schweben mochte. Oder sind das nur meine Nerven?, fragte er sich. So musste es sein. Er half Nicole ohnehin mehr, wenn er ihre Anweisung befolgte, das stand außer Frage. Doch den einen oder anderen besorgten Blick hinüber zum Heim konnte er sich nicht verkneifen – genauso wenig wie die Hoffnung, dass die Freundin bald zurückkehren möge. Zamorra wirft mich durch ein Dimensionsloch, wenn sie in meiner Gegenwart verloren geht. Eine Bewegung an der Straßenecke riss ihn aus seinen Gedanken und zurück ins Hier und Jetzt. Chaineux kam zurück. Der Alte ging schnellen Schrittes über den schmalen Gehsteig und auf seine Einrichtung zu. Pierre sah erstaunt auf die Digitaluhr im Armaturenbrett. Keine
zwanzig Minuten waren seit Chaineux’ Aufbruch vergangen. »Das hatten wir uns aber deutlich länger vorgestellt«, zischte Pierre, schluckte einen Fluch hinunter und betätigte die Hupe des Mietwagens – einmal, zweimal. Im Haus regte sich nichts. »Komm schon, Mädchen.« Dann stöhnte er auf. Nicht Nicole, sondern Chaineux reagierte offenkundig auf sein Signal. Der Alte war schon auf halber Strecke zu seinem Wagen. Pierre wollte gerade den Motor starten, da rief Chaineux seinen Namen. »Chefinspektor Robin? Ihre hiesigen Kollegen ließen Ihren Namen fallen, als sie bei uns waren. Das sind Sie doch, nicht wahr? Ich erkenne Sie von dem Foto auf der Website der Lyoner Polizei, Monsieur.« In Gedanken schickte Pierre eine Morddrohung in Richtung des Praktikanten, der das unsägliche Ding seinerzeit programmiert hatte, und kurbelte seine Fensterscheibe, die ohnehin zwei Drittel unten war, ganz runter. »Mister Chaineux«, grüßte er offensiv. »So früh schon zurück?« Der Blick des Alten verfinsterte sich. »Was denken Sie und Ihre Duval sich eigentlich dabei? Hab ich mich ihr gegenüber nicht deutlich genug ausgedrückt? Wir brauchen und wollen Sie hier nicht, verstanden? Es war schon ein Fehler, Ihre hiesigen Kollegen dazu zu ziehen, als Jean-Michels Anfälle begannen. Den Schuh muss ich mir leider anziehen. Und glauben Sie mir, ich bedaure auch die Stunde, in der ich Mademoiselle Duval in mein Haus gelassen habe. Und jetzt, wo sie in sicherer Verwahrung ist, kommen Sie persönlich vorbei?« »Ich wüsste nicht, seit wann es strafbar ist, hier zu parken«, blaffte Pierre zurück. »Parken, pah! Dass ich nicht lache. Hören Sie, Chefinspektor. Sagen Sie Ihrer Duval und den Kollegen von der Gendarmerie, dass sie uns in Ruhe lassen sollen. Wir kümmern uns hier nur um unsere Angelegenheiten. Niemandem ist etwas geschehen, niemandem
wird etwas geschehen, klar? Wir wollen einfach nur unseren Frieden.« Pierre atmete tief ein. »Niemandem, ja? Und was ist mit dem vermissten Mädchen, dieser Emmeline?« Chaineux wirkte, als habe ihn der Blitz getroffen. »Woher … Woher wissen Sie …« Dann schloss er die Augen, wirkte gequält. »Julie. Diese unnütze weiche Person! Ich hätte sie schon vor Jahren entlassen sollen.« Ein schriller Schrei, laut genug, dass sich sicher noch drei Straßen weiter die Passanten ratlos umdrehten, hallte plötzlich durch die Stille des Nachmittags. Ein Schrei voller Panik und Entsetzen. Pierre kannte den Klang. So schrien Menschen, wenn sie dem Tode nahe kamen. »Was zum Teufel …« Pierre sprang aus dem Wagen, sah zum Waisenhaus. »Was geht da drin vor sich, Chaineux? Antworten Sie!« Der Schrei war verstummt. Doch Pierre wusste, von wo er gekommen war. Das hatte er zweifelsfrei gehört. Von da oben. Aus der obersten Etage. Auch Chaineux schien die Quelle mühelos geortet zu haben. Der alte Heimleiter wirkte mit einem Mal ganz und gar nicht mehr wütend, sondern regelrecht entsetzt. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. Seine Augen waren schreckensweit. Er zitterte. »Ist … Ist da etwa jemand oben? In der Wohnung?« »Mademoiselle Duval befindet sich im Innern des Hauses«, begann Pierre, brach aber ab, als er in Chaineux panische Augen sah. Sein Herz blieb für einen Moment stehen. »Sie Wahnsinniger«, ächzte Chaineux.
Kapitel 8 – Opfer der Vergangenheit
Annamitisches Hochland, Vietnam Dumme Idee. Richtig, richtig dumme Idee. Jenny Moffat spürte den Griff des Revolvers in ihrer Rechten. Das kühle Metall gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Sie brauchte es dringend. Was genau hatte sie sich nur dabei gedacht, ohne Begleitung zurück zum See aufzubrechen? Hatte sie an diesem Morgen nicht schon genug erlebt und gesehen, um zu wissen, wie gefährlich es hier draußen war? Hinter jeder Hecke mochte Dotty McGruders Ebenbild lauern, um zu beenden, was es in den frühen Morgenstunden begonnen hatte! Sie schüttelte den Kopf. Man musste kein Psychologe sein, um ihre Motive zu erraten. Zum einen wirken Monster bei Tag und aus der Ferne immer weniger bedrohlich als in der Nacht, wusste sie, egal, ob sie es sind oder nicht. Und zum anderen: Ich habe Stygia, Frank-the-Crank und eine New Yorker Untotenepidemie überstanden. Da werde ich auch mit einer wandelnden Wasserleiche fertig. Außerdem war sie als Journalistin nicht so weit gekommen, weil sie feige war und sich davor drückte, in die Gegenden zu gehen, wo es gefährlich war. Wo die Geschichten waren. Im Gegenteil. Und eins ist sicher: Ich kehre jetzt nicht um und bitte Cronins Idioten um Geleitschutz. Die nehmen mich doch ohnehin nicht für voll. Für die bedeuten zwei X-Chromosome doch null Grips. Nein, dann lieber im Alleingang. Außerdem war sie nicht auf Konfrontation aus, sondern wollte Zamorra ein wenig zuarbeiten. Sie kannte und schätzte den Dämonenjäger, auch wenn seine Profession und das ganze Paranormale eine Welt darstellte, mit der sie lieber nichts zu tun hatte. Trotzdem stolperte sie immer wieder in Zamorras Fälle. Trotzdem – oder genau deswegen? Das Schicksal hat einen eigenartigen Sinn für Humor. Oder es mag mich nicht. Der See hatte irgendetwas mit Dotty gemacht, daran bestand ei-
gentlich kein Zweifel mehr. Und wenn die Gerüchte stimmten, musste irgendwo hier in der Gegend Nixons geheimer Stützpunkt aus den frühen Siebzigern sein. Der, dessen Existenz Washington so vehement abstritt. War es denn falsch anzunehmen, dass beide Dinge miteinander verbunden waren? Dass der See – auf eine Art, die Jenny zu erkennen hoffte, sowie sie dort, war – Auskünfte über die Basis geben konnte? Solange ich das Wasser nicht berühre und mir keine Dotty begegnet, ist alles bestens, sagte sie sich. Und gleich kommt Zamorra sowieso nach. Kommt er doch immer. Jenny war nie feige gewesen, und sie war es auch heute nicht. Man kam im Leben nur voran – erst recht, wenn man optisch eher zur Sorte »niedlich« gehörte und in einem Männerberuf steckte –, wenn man selbst aktiv wurde. So einfach war das. Trotzdem ertappte sie sich, als sie durch den stillen Busch streifte, dabei, sich Mike als Begleitung zu wünschen. Wenigstens Mike. Wenige Minuten später erreichte sie das Ufer. Der See lag ruhig da, kein Wind störte seine Oberfläche. Dottys Leichnam trieb noch immer träge in dem algengrünen Wasser; sie hatten es nicht gewagt, ihn zu berühren, bevor Zamorras Wasseranalyse vorlag. Jenny betrachtete die tote Frau. »Das warst nicht du letzte Nacht, oder?«, murmelte sie dabei. »Nicht …« Sie brach ab, als ihr Blick auf einen Stapel Kleider fiel, den jemand sorgsam gefaltet im Buschwerk unterhalb eines großen Baumes versteckt hatte. Jenny erkannte die Sachen sofort. Sie hatten Dotty gehört. Nachdenklich ging sie daneben in die Hocke und ließ die Hand über die Textilien streichen. Bluse, Hose und … Was war das? Jenny runzelte die Stirn. Irgendetwas steckte in der Gesäßtasche von Dottys Hose. Etwas Klobiges, mechanisch Anmutendes. Sie zog es heraus und staunte nicht schlecht, als sie plötzlich ein digitales Aufnahmegerät modernster Bauart in Händen hielt. Jenny hatte vor einigen Wochen einen Bericht über innovative amerikani-
sche Elektrotechnik gemacht und wusste daher, dass dieses Modell zum einen noch lange nicht auf dem Markt sein war und zum anderen ohnehin weitaus teurer sein dürfte, als es sich eine durchgeknallte Waffenfanatikerin wie Dotty würde leisten können. Bevor sie sich der Aktion richtig bewusst war, aktivierte sie schon die Play-Funktion, und eine blechern klingende Stimme drang aus dem kleinen Gerät. Jenny lauschte – und ihr war, als verstummten sogar die Waldtiere vor Grauen!
* Mann 1 (sachlich, nüchtern): »Wir hören Sie, Freedom Eagle. Sprechen Sie.« Mann 2 (leise; zittrige Stimme): »Es … Es pass…iert.« Rauschen. Mann 1: »Wiederholen Sie, Freedom Eagle. Wie ist Ihr Status?« Mann 2: »Sa… Sagen Sie Washington, dass der … der Plan aufgegangen ist. Wir haben … Es …« Rauschen. Mann 1 (hörbar aufgeregt): »Bestätigen Sie das bitte, Freedom Eagle. Sagen Sie mir etwa, Operation Mad-Man ist ein Erfolg?« Rauschen. Mann 1: »Ich wiederhole, Freedom Eagle: War Operation Mad-Man ein Erfolg? Ist es das, was Sie uns mitteilen wollen?« Rauschen. Dann ein Kichern, leise und irr. Mann 2 (mit vor Spott triefender Stimme): »Erfolg? Heh. Ja, so würdet ihr das vermutlich sehen. Ihr mit eurem Abstand. Ihr in euren Büros und mit euren Sicherheiten.« Mann 1: »Ich verstehe nicht, Freedom Eagle. Wie meinen Sie das?« Im Hintergrund von Mann 1 hört man inzwischen den Jubel seiner Kollegen. Sogar ein Korken knallt. Worte wie »Beförderung«, »Kriegswende«
und »Weißes Haus« dringen durch den Äther. Mann 2 (zischendes, zittriges Flüstern): »Ich meine, dass er hier ist! Hier bei uns. Er … Wir hören ihn draußen durch die Flure schlurfen. Oh, wir haben versucht, mit ihm zu reden, doch das kostete Bennett das Leben. Den Kopf hat er Bennett abgerissen, gleich vor meinen Augen!« Rauschen. Mann 1 (entsetzt): »Wie bitte? Soll das heißen, die Testperson läuft bei Ihnen frei in der Basis herum?« Mann 2 (noch zischender): »Als Nächstes haben wir versucht, ihn zu erschießen, doch die Kugeln prallten einfach von ihm ab, verstehen Sie? Keinen Kratzer, nichts. Wurde nicht einmal langsamer.« (Husten) »Dann schlossen wir uns ein. Zumindest glaube ich, dass auch die anderen sich irgendwo eingeigelt haben. Ich höre schon seit gut zwei Stunden niemanden mehr schreien, also sind sie entweder in Sicherheit wie ich, oder er hat sie inzwischen alle erwischt.« Mann 1 (schluckt): »Sie … schreien?« Der Hintergrundjubel ist komplett verstummt. Angespannte, atemlose Stille hat seinen Platz eingenommen. Hörbare Fassungslosigkeit. Mann 2 (atmet jetzt schwer, spricht mit erschreckender Kälte und Teilnahmslosigkeit): »Ich hab ja versucht, den Laden mit Gas zu fluten. Echt, ich hab’s versucht. Irgendwie muss ich dieses Monstrum doch schließlich aufhalten. Aber … Aber ich weiß nicht, ob es genutzt hat! Verstehen Sie? Ich weiß nicht, wo es ist!!« Rauschen. Mann 1 (schockiert): »Wiederholen Sie das, Freedom Eagle. Sie ha…« (Er schluckt hörbar.) »Sie haben Nixon Base mit Gas geflutet?« Rauschen. Mann 1 (laut): »Sind Sie wahnsinnig, Mann? Es befinden sich acht Offiziere in der Base! Sie … Sie werden sie getötet haben, Sie Verrückter!« Mann 2 (flüstert nervös): »Ich … höre … ihn.« (Rauschen) »Er bewegt sich. Gleich vor meiner Tür. Ich …« (Rauschen. Dann viel, viel leiser.) »Meine Türklinke wird heruntergedrückt. Die Tür geht langsam auf.«
Rauschen. Rauschen. Rauschen. Mann 1 (vorsichtig, unsicher): »Freedom Eagle?« Rauschen. Mann 1: »B… Bitte kommen, Freedom Eagle.« Doch die ängstliche Stimme kommt nicht zurück. Stattdessen endet die Aufnahme mit einem unmenschlichen, animalischen, unbändigen Schrei, bei dem Jenny eine Gänsehaut über den Rücken läuft, und dem Geräusch zweier lauter Schüsse.
* Als nichts mehr kam, stand Jenny Moffat auf, das Aufnahmegerät immer noch in Händen. Die Welt war noch immer da, und doch kam sie sich vor, als sei sie in ein Paralleluniversum gefallen, das eigene, ihr fremde Regeln besaß. Ihre Gedanken überschlugen sich. Dotty McGruder. Wusste von Nixon Base? Ob die Aufnahme nun echt war oder nicht – und Jennys Instinkt sagte ihr, dass sie echt sein musste –, die vermeintlich so irre »Hot Dots« McGruder hatte Kenntnis von der Legende gehabt. Genau wie Jenny. Und wenn die Aufnahme echt ist, hatte sie auch die besseren Quellen, dachte Jenny, und das Gerät in ihrer Hand ließ sie nach Langley spekulieren. Zum CIA. Verifiziert wäre dieses Tondokument nichts Geringeres als ein Beweis. Ein definitiver Beweis. Fehlte nur noch die Basis selbst. Hatte Dotty also ebenfalls danach gesucht? Hatte auch sie sich unter falschen Tatsachen nach Vietnam geschlichen, um … Jenny konnte den Gedanken nicht beenden. Sie hatte gerade den Kopf gedreht, um sich nach einem Hinweis auf den Verbleib des Stützpunktes umzusehen, als sie die Gestalt erkannte. Die musste
sich hinter ihr angeschlichen haben, als sie der Tonaufnahme lauschte, und nun … Fratzenhafte Züge. Wirres, schweißnasses Haar über einer blutverkrusteten Stirn. Breite Schultern und Hände, die sich krallenhaft nach ihr ausstreckten. Jenny erkannte ihn sofort. John Roslyn. »W… Wo … Mr. Mayor, ich … habe Sie gar nicht kommen hören«, stammelte sie im vergeblichen Versuch, ihren Schrecken zu überspielen. Roslyns Augen schienen von innen zu brennen. Sein ganzer Körper, soweit sie ihn unter den fetzenhaften Überresten seines einstmals sicher gepflegten Anzugs erkennen konnte, wirkte angespannt. Wie der einer sprungbereiten Raubkatze. Jenny wich zurück – ganz langsam, nur nicht provozieren! – und manövrierte sich unbeabsichtigt rücklings gegen einen breiten Baumstamm. Sie wollte ausweichen, da schossen Roslyns Arme vor, schlugen rechts und links neben ihrem Kopf gegen das Holz. Rindensplitter stoben davon wie Funken in einer Schmiedewerkstatt. Bilder aus ihrem Albtraum drangen sich zurück in Jennys Geist. Bilder aus der Nacht und dem Kampf gegen Dotty 2. Ihr Atem wurde schneller. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, und ihre Knie wurden weich. Wie von einer perversen Faszination getrieben, wanderte ihr Blick immer wieder zu Roslyns Augen, diesen höllenrot flackernden Kugeln in seinem Gesicht. Das war kein Zombie, daran hegte sie keinen Zweifel. Das war ganz eindeutig der Mann, dem sie bereits mehrfach in New York begegnet war. Der, der einst gedroht hatte, sie und Gryf einfach über den Haufen zu schießen. Nur … er hatte seitdem offenkundig eine entsetzliche Verwandlung durchgemacht! Sein ganzer Leib schien klobiger und stärker geworden zu sein. Muskeln, die er zuvor gar nicht gehabt zu haben schien, hatten nun seine Kleidung zum Zerreißen gebracht. Vertrocknete Wunden zierten Gesicht und andere
freiliegende Hautpartien. Und der gesamte Mann bebte regelrecht vor innerer, unbändiger Energie. Er war wie ein Druckkessel kurz vor der Explosion. Und wenn sie geschah, würde Jenny in ihrem Zentrum stehen. »Wa … Warten Sie, Sir«, keuchte sie schwach. Irgendetwas in diesen Augen raubte ihr die Kraft, sich zu rühren. »Ich will nur kurz …« Sie zwang sich, einen Ausfallschritt zu machen. Doch ihre Knie spielten nicht mit, knickten ein, und beinahe wäre sie auf dem Waldboden gelandet. Dann spürte sie Roslyns Hand – dieses vulkanheiße, schwielenübersäte Fleisch – auf ihrem Rücken, und in ihrem Innern brach endlich der Damm! Jenny wirbelte herum, schüttelte die Hand ab und tauchte unter dem Mann weg. Panisch kämpfte sie sich vor, wich dem überall wild wuchernden Grünzeug aus, doch schon war Roslyns Griff an ihrem rechten Fuß. Jenny verlor endgültig die Balance, schlug lang hin – und als sie wieder Luft in der Lunge hatte, war New York Citys Bürgermeister über ihr! Er hielt einen Stein in Händen, der größer als ein Basketball anmutete, schwang das Ding über seinen Kopf und ließ es auf sie niederfahren. Nein! Jenny warf sich zur Seite, scheiterte an Roslyns Knie … und die Welt verging in Schmerz und Schwärze.
* Paris »Emmeline?« Die Tür knarrte, als Nicole sie aufschob. Hinter ihr wartete staubige Stille. Ein schmaler Flur, auf der linken Seite zwei Zimmertüren, geradeaus eine offen stehende dritte, auf der rechten, zur Straße
weisenden Flurseite ein paar kleine Fenster, durch die das Licht der Sonne in den Gang fiel wie das von Howard Carters Lampe ins Grab Tutenchamuns. Ähnlich kam sich auch Nicole vor, als sie über die Schwelle in Chaineux’ Wohnung trat. Wie ein Entdecker, der im Tal der Könige die Geheimnisse der Pharaonen aufdeckte und in Bereiche vordrang, die seit Jahrtausenden verschlossen gewesen waren. Und es vielleicht auch hätten bleiben sollen. Staubflusen tanzten träge im Licht. Der dicke Orientteppich schluckte jeden von Nicoles Schritten. Langsam näherte sie sich der ersten Tür, die links vom Gang abging, und öffnete sie vorsichtig. Sie führte in etwas, das wohl ein Büro sein musste. Aber ein sehr chaotisches. Der klobige Schreibtisch war mit dicken Büchern – überwiegend medizinischer Natur – und abgegriffenen Heftordnern übersät. An den Wänden hingen zahllose Zeitschriften- und Zeitungsartikel, säuberlich ausgeschnitten und mit Reißzwecken fixiert. Nicole überflog sie staunend. Sie mussten aus mindestens acht verschiedenen Sprachregionen stammen. Hier beschrieb ein dubios anmutender indischer Arzt die »verborgenen Kraftreserven des Menschen«, da ließ sich ein Leserbriefschreiber in epischer Länge über animalische Urtriebe aus, die seiner Ansicht nach die Natur des Menschen seien und von der Zivilisation unterdrückt würden. Mal wurde sachlich über irgendwelche Ärzte- und Entwicklerkongresse berichtet, mal las Nicole vom technologischen Fortschritt in so unzusammenhängend anmutenden Fachbereichen wie der Metallurgie, der Sicherheitstechnik und der Altenpflege. Dann stutzte sie. Ein besonders ausgeblichener Zeitungsausschnitt war ihr ins Auge gefallen. »UNCLE SAMS MONSTERSCHMIEDE?«, stand dort zu lesen. »Züchtete Nixon in ‘Nam den neuen Supersoldaten? Wie unser Blatt aus gut unterrichteten Washingtoner Kreisen erfuhr, haftet den Gerüchten über die perversen Seiten der Operation Mad-Man mehr als nur ein Funke Wahrheit an. So soll die sogenannte Nixon Base im Hochland Vietnams
Testgelände des Unterprogramms Freedom Eagle gewesen sein, dessen Ausrichtung nicht nur unser Blatt an Mengele und Konsorten denken lässt, (weiter auf Seite 3)« Bebildert war der Text mit einer Zeichnung des unglaublichen Hulk, einer für ungezügelte Aggression stehende und von Stevensons Jekyll-und-Hyde-Geschichte inspirierten Comicfigur. Nicole überflog den Rest des Artikels und fand noch mehrere ähnlicher Natur. Allesamt hatten den Hauch des Wahnsinns, der besonders hartnäckigen Verschwörungstheorien anhaftete. Theorien, die Lee Harvey Oswald zum Sündenbock einer internationalen Verschwörung und Marilyn Monroe zum Mordopfer des FBI machten. Oder solcher, nach denen die Twin Towers von innen heraus gesprengt worden waren. So etwas konnte man nicht ernst nehmen. Und doch. Vietnam. Roslyn. Chaineux’ Sohn. Die Worte Jean-Michels hallten in ihrem Geist wider, als hätten sie auf ihr Stichwort gewartet. Ratlos zog Nicole weiter. Sie wollte erneut nach der Kleinen rufen, doch ihr Instinkt riet ihr, lieber still zu sein. Irgendetwas an dieser Wohnung war falsch, regelrecht unheimlich. Bedrohlich. Zimmer zwei erwies sich als Chaineux’ Schlafraum. Doch von dem schmalen Bett in der Ecke abgesehen wies nichts auf diese Funktion hin. Auch hier regierte das Chaos. Große Standtafeln und Flipcharts, eindeutig von Chaineux mit allerlei chemischen und physikalischen Formeln bekritzelt, dominierten das Bild. Der Fußboden war mit Reiseführern, Magazinen und historischen Schriften bedeckt, die, so sich Nicole bei ihrem ersten Eindruck nicht irrte, allesamt Vietnam zum Thema hatten. Neben dem Bett lehnte ein knapp armlanger und feuerwehrschlauchdicker Elektroschocker an der Wand, wie ihn professionelle Viehzüchter oder Wildtierjäger verwenden mochten. Nicole bezweifelte nicht, dass er funktionstüchtig war. Vermutlich vermochte sie eine Dosis dieses Dings für Stunden außer Gefecht zu setzen. Ob Chaineux das Folterinstrument bei seinen Heimkindern anwendete?
Der Gedanke war so entsetzlich, wie es bizarr anmutete, dass er das Gerät überhaupt besaß. Also Tür drei, dachte Nicole, kehrte auf den Korridor zurück und widmete sich dem Eingang, der der Haustür direkt gegenüber gelegen war. Und sie betrat die Hölle. Das Blut schien überall zu sein – auf den Wänden, den zerschmetterten Möbeln, der schäbigen Tapete und dem Boden. Unfassbar, dass so viel der roten Lebensflüssigkeit in den kleinen, toten Mädchenkörper gepasst haben sollte, der, die Arme und Beine bizarr verdreht, in der Raumesmitte lag und Nicole aus toten Augen entgegenglotzte. Und doch war es so, ganz zweifelsfrei. Die Gewissheit schnürte Nicole die Kehle zu. Emmeline war tot. Nicht nur das, irgendetwas – irgendjemand? – schien das arme Kind wie wild geschüttelt und durch den Raum geschleudert zu haben. Etwas Großes. Starkes. Etwas wie ein … Monster? Vietnam. Chaineux’ Sohn. »Mitch?«, stieß Nicole zögernd hervor. Leise. »Mitch Chaineux? Sind Sie hier?« Erst dann fiel ihr auf, dass sie bei ihrem kleinen Rundgang offenbar das Badezimmer übersehen hatte – mindestens. Und, dass sich dies als tragischer Fehler erweisen mochte. Etwas knurrte in ihrem Rücken. Nicole erstarrte. Langsam – ganz, ganz langsam – drehte sie sich um. Im Türrahmen stand ein Mann. Er war groß wie ein Bär und mit Sicherheit stark genug für drei. Seine Haut war käsig blass und von einer teigigen, ungesunden Dicke. Dunkle Wundflecke übersäten sie. Doch die Augen in seinem breiten Schädel waren noch viel dunkler. Schwarz wie das Nichts. Seelenlos. Der Mann hatte sorgsam geschnittenes und gescheiteltes Haar und trug gepflegte Kleidung. Er wirkte wie ein Kampfhund, dem jemand
einen Strampelanzug angezogen hatte und dann glaubte, dadurch wäre er kein Kampfhund mehr. »Mitch«, sagte Nicole. Leise wie ein Seufzen. Und Mitch Chaineux – der Riese mit den blutbesudelten Zügen und den Händen wie Omelettepfannen – rannte los! Nicole reagierte prompt. Geschickt wich sie der menschlichen – menschlich? Was war daran bitte sehr noch menschlich? – Dampfwalze aus, und Mitch knallte mit dem Kopf voran in die Überreste der Schrankwand. Glas klirrte. Doch ihr Gegner wurde nicht langsamer. Nicole war erst auf halbem Weg an der Tür, als Mitch ihr schon wieder nachsetzte. Pranken wie Stahlzwingen ergriffen plötzlich ihre Hüfte. Nicole schrie auf – halb vor Schmerz, halb vor Überraschung –, als das Monstrum in ihrem Rücken plötzlich zudrückte. Knochen knackten protestierend, und für einen kurzen Moment verlor sie in Mitchs Griff den Boden unter den Füßen. Nicole nutzte das als Chance! Nicht länger der Schwerkraft verpflichtet, winkelte sie beide Beine an und rammte dem Unheimlichen ihre Fersen ins Gesicht. Der erhoffte Effekt folgte prompt. Mitch ließ von ihr ab. Nicole stürzte auf den blutnassen Boden, stemmte sich sofort auf und eilte weiter. Schon sah sie den Korridor und die offene Wohnungstür, die verloren geglaubte Normalität. Aber dann trat Mitch ihr die Beine unter dem Leib weg. Die Wucht des Trittes war zu viel. Nicole schrie auf, diesmal definitiv vor Schmerz. Die Pein raubte ihr die Sicht. Wo war vorne? Wo war Mitch? Auf einmal zerrte etwas am Kragen ihrer Bluse. Nicole wurde zurückgezogen, wehrte sich mit wild wedelnden Armen, und konnte doch nichts ausrichten. Stoff riss, doch just als sie hoffte, Mitch dadurch zu entkommen, ließ dieser von ihrer nachgiebigen Kleidung ab und ergriff stattdessen ihr Haar! Nicole sah Sterne. Das Knurren in ihren Ohren und der Schmerz schienen alles zu sein, aus dem die Welt noch bestand. Mitch schlug
Nicole in die Magengrube, als sie seinen Körper mit Tritten und Schlägen zu bedecken begann, und dann bekam sie keine Luft mehr. Ein eiskalter Unterarm legte sich um ihren Hals und zog. Nicoles Welt wurde schwarz. Das Letzte, woran die Dämonenjägerin noch dachte, war Merlins Stern …
Kapitel 9 – In der Seelen eisig Wasser Annamitisches Hochland, Vietnam »Das kann unmöglich Ihr Ernst sein, Mann!« Zamorra sah in den Lauf der Waffe, die Cronin auf ihn richtete, und ließ seinen Blick dann zu dem Major selbst wandern. Es lag Gleichgültigkeit in den Zügen des Veteranen. Und Sorge um sein bizarres Geschäftsmodell. »Reden Sie nicht, Zamorra, fügen Sie sich. Sie haben uns gehört.« Die Überlebenden seines Trupps aus Pseudosoldaten hatten sich im Halbkreis hinter ihm gruppiert und sahen den Dämonenjäger zornig an. Hass und übermäßiger Alkoholkonsum brannten in ihren Augen – und Angst, das Schicksal Dottys teilen zu müssen. »Denken Sie nach, Cronin«, sagte Zamorra ruhig. »Ich war noch gar nicht hier, als Ihre Reiseteilnehmerin Jenny Moffat angriff. Ich kann nicht für Dottys Tod verantwortlich sein.« »Ach ja?«, knurrte Kings abfällig. »Sie und die blonde Maus sind doch ein Herz und eine Seele. Wer sagt uns, dass Sie nicht zusammenarbeiten und die Kleine einfach schon mal was vorgelegt hat?« »Ich«, antwortete Zamorra und sah ihm in die Augen. »Ich sage das, LeRoy.« Preston machte zwei Schritte vor, bis sein Gesicht keine vier Fin-
gerbreit vor Zamorras war. »Pech für Sie, Frenchman«, zischte er dann, und eine entsetzliche Alkoholfahne wehte dem Professor entgegen. »Denn gerade Ihnen glaub ich kein Wort.« »Was immer Dotty widerfuhr, stammte meiner Ansicht nach aus dem See«, beharrte der Professor. »Bingo«, meldete sich nun Willks zu Wort. Der stämmige Kerl schwitzte wie blöde und stieß Zamorra den Lauf seines Mini-MGs in die Seite. »Und genau da gehen wir jetzt hin. Sie voraus!« Die Waffen beeindruckten Zamorra nicht besonders. Er hatte Höllenfürsten und außerirdischen Invasoren gegenübergestanden und überlebt, da machten ihm eine Handvoll überreizter und eingeschüchterter Trunkenbolde wenig aus. Aber auch er wollte unbedingt zum See, schon allein Jenny Moffats wegen, und er ahnte, dass Cronins wankelmütige Kumpane ihm nicht folgen würden, wenn er sie um Unterstützung bat. Dann schon eher, wenn sie glaubten, Herr der Lage zu sein. Und er brauchte die Unterstützung. »In Ordnung«, sagte er gespielt zerknirscht und hob die Hände. »Sie haben gewonnen, Willks.« Der Stämmige grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Verdammt richtig, Mister.« Der Marsch durch den vietnamesischen Wald verlief in völligem Schweigen. Zamorra führte die Gruppe, und die anderen Männer folgten mit bösen Blicken und scharfen Schusswaffen. Sanfter Wind rauschte in den Baumwipfeln, und das Zirpen und Zwitschern der Buschtiere unterstrich die scheinbar idyllische Atmosphäre. Plötzlich … Merlins Stern! Zamorra spürte, dass das Amulett sich regte. Irgendwie … Nein, es wurde gerufen! Endlich begriff er. Nicole musste versuchen, das Amulett zu sich zu ordern. Sie würde es nicht versuchen, wenn es nicht dringend wäre. Dann geschah es. Mit einem Mal war Zamorra, als täte sich die Welt unter ihm auf und würde zu einem schwarzen, unendlich tiefen Loch. Er taumelte vor Erschöpfung. Jeder Muskel seines Körpers
brannte, und sein Gehirn war ein einziges Feuerwerk aus Schmerzen. Das Atmen wurde zur Unmöglichkeit. Erst als er mit den Knien hart auf den Waldboden schlug, begriff er, dass der Boden gar nicht wirklich verschwunden war. »Zamorra?« Bannisters Stimme. Hart und unerbittlich. »He, sofort aufstehen, Mann!« Grob packten ihn zwei Hände unter den Schultern, zogen ihn auf die Beine. Die Welt drehte sich vor Zamorras Augen und machte keinerlei Anstalten, wieder zur Ruhe finden zu wollen. »Was spielen Sie hier für Spielchen, Frenchman?«, knurrte Preston ihn an und schlug ihm den Griff seines MGs in den Magen. Hätten ihn Willks und Gallagher nicht noch gehalten, Zamorra wäre abermals zu Boden gegangen. Der Dämonenjäger merkte, dass Merlins Stern nicht länger bei ihm war. Aber das allein begründete den seltsamen Quasi-Zusammenbruch nicht, den er soeben durchlitten hatte. Sondern … der Tränensplitter? Waren das etwa die Auswirkungen des teuflischen Artefaktes? Ihm fehlte die Zeit, nach Gründen für dieses unglaublich scheinende Ereignis zu suchen. Denn als Willks und Gallagher ihn umdrehten, sah er, dass er keine fünf Meter vom Seeufer entfernt stand. »Also los«, knurrte Bannister. »Rein da.« Zamorra blinzelte verwirrt. »Wie bitte?« Blut rauschte in seinen Ohren. Wahnsinnig laut. Ihm war noch immer äußerst schwach zumute. »Na, in den See! Erst erledigen wir Sie, und dann suchen wir ihre Partnerin.« Cronin trat näher – zumindest glaubte Zamorra, dass es Cronin war. Verflucht, was geschah hier mit ihm? »Wir geben Ihnen Ihre eigene Medizin zu spüren, Zamorra.« »Oder haben Sie etwa Angst?«, höhnte Preston. »Nehmen Sie … Vernunft an, Cronin«, redete der Dämonenjäger
auf den ein, der ihm in dieser Gruppe noch am zurechnungsfähigsten erschien. »Sie wissen, dass ich … dass ich das Wasser untersuchen lasse. Sie wissen, dass es gefährlich ist.« Die Hände ließen los. Ein stechender Schmerz im Nacken ließ den Professor verstummen. Zamorra sackte nach vorne weg, keuchte. Willks hatte ihn nun ebenfalls den Griff seiner Waffe spüren lassen. Übelkeit stieg im Meister des Übersinnlichen auf. Geschwächt, begriff er. Was immer da eben geschehen ist, hat mich geschwächt. So sehr, dass ich nun … Es war unmöglich. Und doch entsprach es den Tatsachen. Zamorra begriff, dass er diesen Männern mit einem Mal kaum noch etwas entgegenzusetzen hatte – und mit der Erkenntnis kamen die körperlichen Bestätigungen. Er fühlte sich seltsam leer, verletzlicher als seit langer Zeit. Und als die Hände zurückkehrten, wusste er, was sie vorhatten. »Nein, warten Sie.« Zamorra wehrte sich mit Händen und Füßen, schlug, trat, kratzte. Alles vergebens. Selbst als er es auf magischem Weg versuchte, führten seine Anstrengungen zu nichts. Zu schwach. Ich bin noch zu schwach. Was eben passierte, muss meine Energiereserven auf null gestellt haben. Und es drohte, ihm nun doch noch zum Verhängnis zu werden. Zamorra fühlte sich gepackt, durch die Luft gehoben – und flog dann in hohem Bogen voraus. Einen Sekundenbruchteil später durchbrach er die Wasseroberfläche. Die Kälte des Wassers half. Zamorra war kaum wieder aufgetaucht – prustend und schwimmend –, da spürte er, wie gut ihm die unfreiwillige Erfrischung getan hatte. Der Schwindel, der ihm entsetzlich zugesetzt hatte, war nahezu vollständig verflogen. Nahezu körperlich registrierte der Professor, dass sich die Reserven, die er eben noch so schmerzlich vermisst hatte, in Windeseile selbst ersetzten. Dann hielt er inne. Dort hinten in der Felswand, die den See in nördlicher Richtung begrenzte … War das eine Öffnung? Eine Höh-
le gar? Cronins betrunkene Irre standen am Ufer und glotzten. Ihr Gejohle drang durch die Waldesstille. Erstaunt nahm Zamorra zur Kenntnis, wie weit ins Seeinnere er schon getrieben war. Das musste fast schon die Mitte des nicht gerade kleinen Gewässers sein. Dann begann der See zu glühen!
* Zamorra spürte die Veränderung schon, bevor sie geschah. Doch er konnte nichts gegen sie ausrichten. Binnen einer einzigen Sekunde war aus dem trüben, modrig stinkenden Gewässer ein brodelnder Vulkan geworden. Grünliches Licht strömte von seinem Grund auf, krank und dämonenhaft wirkend. Es heizte das Wasser auf, bis die Temperatur unerträglich wurde, und ließ es verdunsten. Schon jetzt erhob sich nebliger Dampf von der Oberfläche. Zamorra hielt die Luft an, doch die Schmerzen, die das lavaheiße Nass seinem Körper verursachten, waren zu stark, als das er den Mund lange hätte geschlossen halten können. Keine fünf Schwimmzüge Richtung Ufer schaffte er, bevor er gellend aufschrie. Seine Haut schlug Blasen. Seine Sicht verschwamm. Sein Haar schien in Flammen zu stehen, so groß war der Schmerz, dieser entsetzliche Schmerz. Zamorra kämpfte. Er musste sich konzentrieren, wenn er diesen Wahnsinn überstehen wollte, bevor … Doch es war zu spät. Aus dem Chaos der Schwaden vor seinen Augen, wo kaum noch etwas Konturen besaß, bildete sich eine Gestalt heraus. Sie schoss aus dem See wie ein Phönix aus seiner eigenen Asche, wie ein Pfeil des Schicksals. Ein Spiegler!, begriff der Dämonenjäger. Dann klärte sich seine Sicht und er blickte auf … sich selbst! Es war eine entsetzlich pervertierte Kopie. Die groben Proportio-
nen und Fakten stimmten durchaus – Körpergröße, Kleidung, Haarfarbe –, doch in den Details wohnte das Grauen. Statt Augen hatte dieser bizarre Doppelgänger schwarz glühende Löcher im Kopf. Sein Leib war teigig und aufgedunsen, bebte jedoch regelrecht vor nur mühsam gezügelter Energie, und seine Haut war mit eitrigen Wunden übersät. Und das Wesen griff an! Als spüre es die unerträgliche Hitze des Wassers gar nicht, warf sich das Monstrum Zamorra entgegen. Der Dämonenjäger wich ihm gekonnt aus, spürte nach der wiederkehrenden Kraft in sich – und nutzte sie. »Cronin!«, rief er, als sein zweites Ich erneut nach ihm zu greifen trachtete. »Cronin, verflucht, schießen Sie!« Der Gedanke, das Amulett zurückzurufen, kam ihm nur kurz. Nicole brauchte es, das allein zählte. Zamorra sah, wie die Möchtegernhelden um Major Jack Cronin dem Schauspiel fassungslos entgegenglotzten. Sie waren viel zu perplex, um zu reagieren. Zumindest noch. Dann eben anders. Er tauchte unter den zangenartig zupackenden Armen des Seelenlosen hinweg, kämpfte den Schmerz nieder und schwamm unter der Oberfläche in die andere Richtung. Als er wieder auftauchte, hatten die Männer ihre Schockstarre endlich überwunden. Preston war vorgetreten und feuerte, unterstützt durch Bannister, eine Salve auf den zweiten Zamorra ab. Das unheimliche Wesen bäumte sich auf, zuckte unter dem Beschuss. Doch es fiel nicht. Im Gegenteil! »Oooooh Scheiße!«, fluchte Kings, als der Seelenlose vor ihm aus dem Wasser sprang. Mit unmenschlicher, die Naturgesetze brechender Geschwindigkeit. Zamorra reagierte auf die einzige Art, die ihm noch blieb. Hoffend, dass Cronin und die anderen den Seelenlosen eine Weile be-
schäftigt halten würden, kämpfte er sich durch bis zum nördlichen Seeende. Sein ganzer Leib pochte und protestierte. Die Hitze und die modrigen, eigenartig berauschenden Dämpfe setzten ihm stark zu. Doch er musste es schaffen. Andernfalls … Er schaffte es. Ächzend und keuchend zog sich der Meister des Übersinnlichen auf der Nordseite auf die Ufersteine. Nun wusste er aus eigener Erfahrung, was Dotty zugestoßen war. Sie hatte nur weniger Glück gehabt als er. Einen Moment lang blieb er reglos liegen, konzentrierte sich auf seine Atmung und den Schmerz. Tatsächlich gelang es ihm, durch geschulte Konzentrationsübungen den gröbsten Schmerz zu betäuben – die Pein war nicht fort, sein Geist nahm sie nur weitaus weniger wahr, solange er die Konzentration hielt. Das würde genügen müssen. Als er aufblickte, war der See wieder glatt und ruhig. Einzig der Doppelgänger auf der anderen Seite, der sich wie King Kong auf dem Empire State Building den Schüssen seiner Gegner zu erwehren trachtete, erinnerte noch an das grausige Geschehen. Und der Stoffrest, den Zamorra keine zwei Schritte hinter sich auf dem Boden fand, gleich vor der Öffnung im Fels. Es handelte sich um ein Stück eines T-Shirts. Er brauchte den Aufdruck – Think America – nicht zu sehen, um zu wissen, wer es getragen hatte. Jenny befindet sich in dieser Höhle. Und sie ist nicht freiwillig reingegangen. Zamorra dachte an einen Sturm an der Küste City Islands. An eine Jubiläumsfeier, die zur Katastrophe geworden war. Und dann betrat er die Höhle.
Kapitel 10 – Roslyns Schicksal Nixon Base
Jenseits des Felseingangs begann eine andere Welt. Zamorra folgte dem schmalen Pfad zwischen dem dunklen Gestein nur wenige Schritte, bis er sich vor einer mannshohen stählernen Tür wiederfand. Sie stand einen Spalt offen, und aus der Schwärze hinter der Schwelle drang der abgestandene Geruch vergangener Ären. Er brauchte Merlins Stern nicht, um zu spüren, was ihn dort drin erwartete. Einen Moment lang lauschte er den Geräuschen von Cronins kämpfenden Soldaten. Dann schob er leise die Tür weiter auf und schlüpfte durch den Spalt. Nun stand er in einem Gang, der alles andere als felsig war. Glatte Wände, Decken und Böden aus Stahl und Beton, wohin das Auge auch reichte. Der Gang führte schräg nach unten, weit ins Erdinnere hinein. Im Abstand von vielleicht vier Metern strahlten kleine rote Glühbirnen von der Decke, offenkundig eine Art Notbeleuchtung, und tauchten die Szenerie in unwirklich anmutendes Dämmerlicht. Die Luft war kalt und staubig, schmeckte abgestanden. Und es war still hier. Grabesstill. Zamorra sah Fußspuren im Staub auf dem Boden. Die Schritte eines Mannes, und die Spur von etwas, das dieser hinter sich hergeschleift haben musste. Leise setzte er sich in Bewegung. Der Weg führte an sechs weiteren Türen vorbei. Zamorra warf vorsichtige Blicke in jeden der dahinter liegenden Räume. Mal fand er Etagenbetten, mal eine Nasszelle, mal etwas, das vor Jahrzehnten als Computerraum durchgegangen sein musste. Altertümliches medizinisches Gerät überall. Nur von Jenny und Roslyn fand er keine weiteren Spuren. Bis der Gang endete. Vor einer letzten großen Stahltür. NIXON BASE – KEEP OUT stand in ehemals roten, verblassten Lettern darauf geschrieben. Zamorra beschloss, die Anweisung zu ignorieren. In der Türmitte befand sich ein metallenes Rad. Er drehte daran
und öffnete sie so. Dann zog er sie auf. Auch hinter dieser Schwelle herrschte blutrote Dauerdämmerung. Zamorra sah klobige Arbeitsstationen, auf denen blinkende Signallichter und flackernde Monitore prangten. Magnetbänder surrten irgendwo, Computer klackten in ihren schrankähnlichen Gehäusen. So ungefähr mochten sich die Menschen der 1960er Jahre die Zukunft vorgestellt haben. Vor zwei der Konsolen lagen verweste Körper auf dem Boden. Sie trugen noch immer die Uniformen, in denen sie gestorben waren. US-Armee. Und in der Raumesmitte … Jenny! Zamorra sah sich nach allen Seiten um, so gut es die Lichtverhältnisse zuließen. Dann eilte er zu der jungen Journalistin. Jenny Moffat sah furchtbar aus. Eingetrocknetes Blut einer unbehandelten Kopfwunde klebte ihr am Schädel. Ihre Kleidung war kaum mehr als Fetzen. Sie war leichenblass. Zamorra musste erst ihren Puls erfühlen, bis er sich sicher war, dass sie noch lebte. »Jenny«, flüsterte er und versetzte ihrer Wange einen leichten Klaps. »Jenny, hören Sie mich? Kommen Sie, Jenny.« Ihre Lider flatterten. Ein gequältes Stöhnen drang über die blassen Lippen. »Nnnn …« Zamorra sah sich erneut um. Regte sich auch wirklich nichts in den Schatten? Es war so dunkel hier, dass er nicht genau zu sagen vermochte, wo der Raum überhaupt endete. Jenny begann zu husten, röchelnd und schwach. Zamorra sah die Würgemale an ihrem Hals. Dann griff er unter den Leib der Journalistin und hob ihn an. Just als er sie sich über die Schulter werfen wollte, kam wirklich wieder Leben in die junge Frau. »Pro… Professor.« Zamorra ließ von ihr ab. »Können Sie aufstehen?«, fragte er leise. »Es … ist …« »Roslyn, ich weiß. Schnell, Jenny, wir müssen hier weg, solange
…« »Er … Er wollte, dass ich das hier sehe«, krächzte sie und nickte in Richtung der Konsolen. »Er ist … wahnsinnig, aber er hat mich irgendwie wiedererkannt und wollte, dass ich das hier sehe.« Wahnsinnig, dachte Zamorra. So kann man es wohl auch nennen. »Bevor oder nachdem er Sie zu erwürgen versuchte?«, knurrte er. Dann hob er Jenny auf die Beine, stützte sie und wandte sich zum Ausgang um. John Roslyn stand direkt davor. Der ehemalige Bürgermeister New Yorks war kaum noch in ihm zu erkennen. Der Mann, der für schlechte Politik und teuren Fusel gestanden hatte wie kein zweiter. Der Kriegsveteran, der Präsidentschaftsambitionen verfolgt und doch nicht einmal seine eigene Stadt hatte regieren können. Roslyns Leib war breiter geworden, stärker. Seine Züge wirkten noch härter als sie es ohnehin stets gewesen waren. Muskeln, die jedem Bodybuilder zur Ehre gereicht hätten, hatten die Nähte seines verschlissenen Anzugs – zweifelsfrei noch derselbe, den er auf City Island bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte – an manchen Stellen reißen lassen. Zamorra sah in seine Augen und wusste plötzlich, was aus Lyle Jennings’ Tränensplitter geworden war. Er steckte irgendwo in Roslyn. »Ich kenne Sie, Mister«, sagte Roslyn, und es war, als kämen die Worte aus allen vier Himmelsrichtungen gleichzeitig. Zamorra verzog das Gesicht vor Schmerz. Verflucht, das war laut! »Kommen Sie mit uns, Roslyn«, stöhnte der Professor. »Ich kann Ihnen helfen, aber nicht hier. Ich kann Ihnen Ihr altes Leben zurückgeben.« Das war ein mehr als gewagtes Versprechen, aber Zamorra versuchte, was immer in seiner Macht stand. Leider war es keins, auf das Roslyn sonderlich scharf zu sein schien. Der ehemalige Bürgermeister legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Abermals drang das Geräusch – um ein Vielfaches
potenziert – von den Wänden wider. Zamorra spürte, wie sich Jenny in seiner Umklammerung wand, so sehr setzte ihr der Lärm zu. »Mein altes Leben«, wiederholte Roslyn dann. »Sie verstehen gar nichts, oder?« Zamorra wagte es. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, ging er mit Jenny los und versuchte, an Roslyn vorbeizukommen. Doch der so eigenartig mutierte Politiker rammte ihm, kaum dass er in seiner Nähe war, blitzschnell die Hand gegen die Brust. Die Wucht dieses Schlages war so stark, dass Zamorra nach hinten geschleudert wurde. Wie eine Puppe, die ein unartiges Kind von sich warf, flog er mit Jenny im Arm durch den Raum und landete etwa fünf Meter weiter hinten unsanft auf dem Boden. »Das hier«, drang Roslyns Stimme triumphierend aus dem Dämmerdunkel, »ist mein altes Leben!« »Er ist Vietnamveteran«, raunte Jenny. Sie hustete schwer und ihre Kopfwunde hatte wieder zu bluten begonnen. Zamorra nickte. Auch er erinnerte sich an Roslyns Vita. Und er wusste noch, wie glorifizierend New Yorks ehemaliger Oberster stets von jener Zeit gesprochen hatte. Wie politisch unkorrekt und vorurteilsbelastet manche seiner Bemerkungen und Handlungen gewesen waren. »Es gefällt ihm hier«, raunte der Professor zurück. Er deutete Jenny, liegen zu bleiben, und erhob sich. »Was ist das hier?«, fragte er den mutierten Mann. »Waren Sie hier stationiert, John?« Jenny hatte gesagt, er habe ihr die Base zeigen wollen. Hoffentlich war von diesem Mitteilungsdrang noch etwas übrig. Tatsächlich reagierte Roslyn wie erhofft. »Nicht hier, nein«, begann der Wahnsinnige. »Ich wusste nicht einmal, dass dieser Stützpunkt wirklich existiert. Wir sprachen davon, abends am Lagerfeuer, wenn die Offiziere nicht hinhörten. Aber wir nahmen die Gerüchte nie ernst. Eine geheime Station, in der Uncle Sam nach der nächsten Evolutionsstufe des Soldaten forschte? Ein Ort der Genex-
perimente und anderer mehr als fragwürdiger Praktiken? Ich bitte Sie, das war Unterhaltung, nicht mehr. Nur eine Geschichte, ähnlich der von Bigfoot oder dem Loch-Ness-Monster. Niemand nahm das ernst. Auch wenn wir uns diese Supersoldaten bitter gewünscht hätten, wenn die Charlies uns wieder auf die Pelle rückten.« Zamorra trat langsam näher. Roslyn achtete gar nicht auf ihn. Solange er redete, schien er mit der Welt im Reinen zu sein. »Wie haben Sie sie gefunden, John?«, fragte der Professor, um seinen Gegner bei Laune zu halten. Roslyn lachte verächtlich. »Und Sie nennen sich einen Meister? Mann, Ihre Leistung straft ihre Berufsbezeichnung aber Lügen! Ich habe Nixon Base nicht gefunden, klar? Sie hat mich gefunden!«
* Am Anfang ist das Splitterlicht. Es hüllt dich ein, tanzt silberfunkelnd über deinen Körper. Du stehst da, auf diesem Podest an der Küste City Islands, wo du doch eigentlich jetzt eine Rede halten sollst, und siehst mit fassungslosem Staunen, wie die energetischen Elmsfeuer dich ummanteln. »Vorsicht!«, ruft dieser angebliche Dämonenjäger. »Sie dürfen nicht …« Weiter kommt er aber nicht, denn – und das weißt du selbst; dafür brauchst du keinen Meister des Übersinnlichen, vielen Dank auch – es ist bereits zu spät. Bereits geschehen. Es schmerzt, aber nur so wie Kälte schmerzt, kurz bevor sie zu ewigem Vergessen führt. In einem Moment siehst du noch das Historische Museum und die maulaffenfeil haltenden Personen vor dir … »NEIN!!!«, schreit dieser zweite Jennings eigenartigerweise. … im nächsten bist du nichts. Ist gar nichts mehr. Ist Frieden. Bis … Als du erwachst, ist da Feuer. In dir. Es brennt, stärker als du es je zuvor empfunden hast. All der Frust, all der Wahnsinn der vergangenen Jahre, dein wohlbegründeter Hass auf jene, die zu regieren du bestellt bist – er lo-
dert neu in dir auf. Verzehrt dich. Und es fühlt sich gut an, unendlich gut und richtig. Noch bevor du die Augen öffnest, riechst du, wo du bist. Napalm am Morgen, denkst du amüsiert. Es wundert dich nicht, von einem Augenblick (?) zum nächsten die halbe Welt überquert zu haben. Für dich zeigt dieser Geruch, dass du auch dein halbes Leben überquert haben musst – und zwar in rückwärtige Richtung. Du bist wieder hier. Tief einatmen. Napalm. Es ist richtig so. Immer schon hätte es so sein sollen. War dir nicht zeitlebens, als hättest du diesen Ort nie verlassen? War dir nicht stets, als hätte dein Leben nur hier die Struktur und den Sinn besessen, die ihm Relevanz verliehen? Wo sonst hat man dich je wieder behandelt, wie du es verdientest? Du weißt, dass dieses Feuer in dir nicht dein eigenes ist. Etwas Fremdes treibt dich an und legt dir Gedanken in den Sinn, die nicht deine eigenen sind. Doch es fördert – so scheint es dir zumindest – nur, was du ohnehin willst. Es macht dich heil. Endlich heil. Jahrelang warst du jedermanns Hampelmann. Der Knecht vom Hudson River, der Butler aus City Hall. Niemand erwies dir Respekt, nicht an der Wall Street und auch nicht in den hintersten Slumlöchern der Bronx. Du musstest springen, wenn andere riefen. Du warst ein Händeschüttler, ein Kameralächler. Aber kein Mann mehr. Politiker können heutzutage keine Männer mehr sein, das hat sie dich gelehrt: Gotham. Die Stadt raubte dir deine Seele. Auf dem Papier warst du Gothams Herrscher, doch in der Realität herrschte sie über dich. Jetzt nicht mehr. Du siehst dich um. Der Raum, in dem du dich wieder findest, ist Teil einer seit Dekaden aufgegebenen Base, und dir ist, als lenke das fremde Feuer in dir dich zu den Stellen, an denen sie dir ihre Geheimnisse verrät. Es sind beeindruckende Geheimnisse, voller Stärke und Energie, und du erkennst, dass der Krieg, dessen Ende oh so schändlich schien, in Wahrheit
ganz anders hätte ausgehen können. Sollen. Denn die Gerüchte von einst sind wahr. Wäre das Wissen, das in dieser Base lagert, gekonnt in Taten umgesetzt worden, nichts hätte dein Team im Kampf gegen die verdammten Charlies aufgehalten! Du beginnst zu lachen. Wie einfach doch alles ist, wenn man es nur lässt! Endlich bist du da, wohin du gehörst. Endlich hast du Macht. Macht auf Knopfdruck.
* Zamorra brauchte kein Psychologiestudium, um den Irrsinn in Roslyns Worten und Gebaren zu erkennen. Der Tränensplitter, der auf City Island in ihn eingedrungen war, kontrollierte den Politiker und machte ihn unberechenbar. »Das sind nicht Sie, John«, sagte der Professor. Die Hände leicht erhoben, trat er langsam auf den Mutierten zu. »Spüren Sie das? In Ihnen steckt eine Kraft, die nicht die Ihre ist. Sie beherrscht Sie, macht sie zu ihrem …« Roslyn wandte ruckartig den Kopf um und sah Zamorra wütend an. »Niemand beherrscht mich!«, zischte er, und wieder kamen die Worte von überall zugleich. »Ich bin mein eigener Herr. Ich herrsche!« Sein linker Arm zuckte in die Höhe – und Jenny Moffat wurde von einer unsichtbaren Energiewelle erfasst, die sie bis in die Schatten trieb. Zamorra hörte, wie sie rücklings gegen eine Stahlwand schlug und stöhnend liegen blieb. Die Energie des Tränensplitters, so hatte Zamorra bereits in New York gesehen, trieb seltsame Blüten. Hier schien sie John Roslyns Körperkraft zu steigern, seine antisozialen Tendenzen zu fördern … und ihm telekinetische Kräfte zu verleihen. Falls das tatsächlich alles sein sollte. »Ich will Ihnen helfen, John«, sagte der Dämonenjäger. Wochen-
lang hatte er den Mann gesucht, sich verantwortlich, ja sogar schuldig wegen dem gefühlt, was auf City Island geschehen war. Ihn nun derart pervertiert wiederzufinden, traf Zamorra sehr. »Ich bin nicht Ihr Feind.« Irgendwo in John Roslyns schwarz glühenden Augen bewegte sich etwas. Roslyn begann zu grinsen. »Pech für Sie, Mister. Ich aber der Ihre!« Und der Kampf begann.
Kapitel 11 – Der mutierte Mann Paris … dann spürte sie auch schon die vertraute Wärme auf der Haut. Merlins Stern war gekommen – und er griff sofort in den ungleichen Kampf ein! Nicole hörte, wie die Schutzhülle aus magischer Energie um sie herum entstand. Die Luft roch nach Ozon und Hitze. Fadendünne Entladungen brachten die ganze Atmosphäre zum Vibrieren und ließen Nicole die Haare auf den Armen zu Berge stehen. Es kostete Kraft, diesen Schutzwall zu errichten. Mehr Kraft, als sie geglaubt hatte, noch zu besitzen. Dann ließ Mitch von ihr ab. Endlich konnte sie sich wieder bewegen. Ihre Lunge schrie nach Sauerstoff. Nicole rollte sich ein wenig benommen herum, kam auf die Knie und sah keuchend hinter sich. Es dauerte einen Moment, bis auch ihre Augen ihr wieder gehorchten. Durch das Schimmern der Energiewand erkannte sie, was geschehen sein musste. Merlins Stern hatte dem Seelenlosen bereits ganz schön zugesetzt. Mitch kauerte mit dem Rücken zu ihr neben dem
klobigen Beistelltisch des Zimmers, und die Energieblitze des Amuletts sirrten weiter in seine Richtung. Nicole sandte einen Mentalbefehl aus und sorgte dafür, dass sie von ihm abließen. »Mitch«, sagte sie laut, um über das Krachen und Zischen der Entladungen Gehör zu finden. »Mitch, ich will nicht gegen Sie kämpfen. Ich bin hier, um zu helfen.« Sie bezweifelte stark, dass die Worte bei dem Wesen dort vorn Halt fanden. Doch andererseits musste irgendetwas Menschliches in ihm ruhen, oder? Wie sonst sollte es die Jahrzehnte in Chaineux’ Obhut und Dachgeschoss durchstanden haben, ohne der Welt draußen aufzufallen? »Sie hören auf Ihren Vater, oder?«, fuhr sie fort. »Trotz allem, was geschehen ist, hören Sie noch auf ihn. Andernfalls wären Sie nicht hier. Nun, dann hören Sie bitte jetzt auf mich. Ich tue Ihnen nichts.« Mitch wirbelte herum. Erst als die Tischplatte auf sie zugerast kam, begriff Nicole, dass er sie getäuscht hatte. Sie duckte sich mehr aus Reflex, denn aus Notwendigkeit. Krachend polterte die schwere Holzplatte hinter ihr gegen die Wand. Nicole drehte sich nicht nach ihr um, denn der Werfer setzte bereits zum zweiten Angriff nach. Mit hasserfüllter Fratze und klauenartig gebogenen Fingern sprang ihr Mitch entgegen! Abermals schützte das Amulett seine Trägerin. Der Seelenlose schaffte es nicht, die energetische Übermacht der magischen Wand zu durchdringen. Mitch erzitterte unter der Wucht der ihn blockierenden Magie. Sein pervertierter, geschundener Körper bebte wie der eines Verurteilten auf dem elektrischen Stuhl, doch als Nicole in sein Gesicht sah, erkannte sie dort keinerlei Regung. Was das Amulett ihrem Gegner auch antat, es kümmerte Mitch nicht. Weil da niemand mehr drin ist, begriff sie. Das sind nur Wut und Hülle. Die Erkenntnis hatte etwas Trauriges. Und sie sorgte für einen tragischen Fehler. Abgelenkt von ihren eigenen Gedanken merkte Ni-
cole nämlich zu spät, dass Mitch bereits zur nächsten Attacke ansetzte. Der Seelenlose hatte die Arme gesenkt und mit seinen teigigen Pranken den Teppich gepackt, auf dem sie beide standen. Nicole verstand, spannte die Beinmuskeln zum Sprung an – und konnte doch nur noch Schadensbegrenzung versuchen. Mit übermenschlicher Kraft zog Mitch an der Falte, die er im Teppich gebildet hatte. Möbel rutschten von ihren sicher seit Jahrzehnten angestammten Plätzen. Und Nicole verlor tatsächlich das Gleichgewicht! Einen kurzen Moment wirbelte sie rücklings durch die Luft. Dann schlug sie auf dem Wohnzimmerboden auf und sah entsetzt, wie die dunkle Schrankwand, ebenfalls von der Bewegung des Teppichs induziert, auf sie zu stürzen drohte! Nicole wirbelte zur Seite, rollte sich der Länge nach rechts herum. Nur um Haaresbreite entging sie dem fallenden Möbelstück. Glas splitterte. Holzspäne stoben durch den Raum, wurden von energetischen Blitzen pulverisiert, und Unmengen an Staub folgten ihnen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Doch Nicole durfte ihn nicht beachten. Sie spürte, dass die Kraftreserven, die sie bisher durch diese bizarre Konfrontation trugen, rasend schnell zur Neige gingen. Dann hörte sie den Schrei! Im Türrahmen stand Jean-Michel, schockstarr und mit blankem Entsetzen im Gesicht. Seiner Haltung nach schien nahezu jeder einzelne Muskel seines Körpers zu verkrampfen. Seine Augen waren in den Schädel verdreht, sodass fast nur noch das von rötlich blauen Äderchen durchzogene Weiß zu sehen war. Auf seinen im Schrei bebenden Lippen platzten weißliche Spuckebläschen. Und auf einmal geschah alles rasend schnell. Nicole hatte kaum wirklich registriert, dass der Kleine, fraglos angelockt vom Lärm, in die Wohnung gedrungen war und des Monstrums sowie der grauenvoll zugerichteten Emmeline gewahr geworden sein musste, da preschte Mitch auch schon auf ihn zu. Seit dem Teppichangriff stand der Seelenlose näher an der Tür als Nicole.
Dennoch gab sie alles, um ihm zuvor zu kommen. Sie warf sich Mitch in den Weg, und das Unglaubliche gelang: Merlins Stern wehrte den Seelenlosen einmal mehr ab. Diesmal endgültig? Jedenfalls blieb Mitch reglos am Boden liegen, als ihn die Magieblitze entließen. Nicole traute dem Frieden nicht, trat langsam näher … … und Jean-Michel in ihrem Rücken begann zu sprechen.
* Annamitisches Hochland, Vietnam »Heilige Scheiße!« George Willks warf die MG in hohem Bogen von sich und griff sich das Bowiemesser, das an seiner Hüfte baumelte. »Ladehemmung! Ausgerechnet jetzt.« Cronin sah von ihm zurück zu dem Monstrum, das in ihrer Mitte wütete. Das Wesen sah aus wie eine grauenvoll entstellte Version Zamorras, und es schien übermenschliche Kräfte zu besitzen. Etwa die, nicht zu sterben. »Zu miiiiir!«, brüllte Gallagher irgendwo links von Cronin. »Treibt ihn hierher, Männer! In den Busch!« Cronin dachte nicht lange nach, sondern handelte. Dies war nicht der Ort für Grübeleien. Mit sicherem Griff lud er seine Automatik nach, dann mischte er wieder mit. Die Männer standen – nein, tänzelten eher – um den zweiten Zamorra herum, wichen aus, wenn er näher kam, und setzten nach, wenn er ihnen den Rücken zuwandte. Und sie feuerten – bei Gott, sie feuerten! Seit Kriegsende hatte es hier kein Spektakel wie dieses mehr gegeben, das spürte Cronin mit jeder Faser. Kings’ blickte gleichermaßen entsetzt und verzückt, Prestons Gesicht war von ausdrucksloser Kälte geprägt, und auf Bannisters Zügen herrschte ein
vergnügtes Grinsen, das Cronin erschaudern ließ. Diese Kerle waren krank im Kopf – das hatte er immer gewusst. Genau darauf fußte ja sein Geschäftsmodell. Aber es war dennoch etwas ganz anderes, diese Krankheit mit eigenen Augen zu sehen. Mittendrin zu stecken. Der zweite Zamorra tobte wie eine Naturgewalt. Obwohl sie seinen Körper mit Kugeln bedeckten wie weiland die Flieger das Land mit Bombenteppichen, brach er einfach nicht zusammen. Aber die Mühen blieben dennoch nicht vergebens. »Er blutet!«, rief Preston und deutete mit der Linken auf das Ungetüm. Tatsächlich. Rechts am Hals des vermeintlichen Dämonenjägers schienen die Patronenkugeln endlich eine Wunde geschlagen zu haben. Ein dünner roter Flüssigkeitsfaden drang daraus hervor und wuchs rasend schnell. Halsschlagader, ahnte Cronin und wollte innerlich schon jubilieren, als der Seelenlose plötzlich und ruckartig nach rechts zuckte – und mit dem ausgestreckten Arm Riddeck zu fassen bekam! Der Chemiefreak schrie wie am Spieß. Das Monster hatte ihn am Oberschenkel gepackt, und der Druck, den die prankenähnliche Hand auf Riddecks Fleisch auszuüben schien, überstieg ganz klar die Schmerzgrenze des pickligen Brillenträgers. Riddeck schoss, was das Zeug hielt – schoss dem entsetzlichen Zombiewesen aus nächster Nähe direkt ins Gesicht, verflucht noch mal! –, doch die Schüsse verfehlten ihre Wirkung. Oh, sie trafen ihr Ziel, das war es nicht. Kugel um Kugel riss dem Untoten einen Fetzen seiner käsigen Haut und seines modrigen Fleisches aus der Visage! Aber der vermeintliche Zamorra steckte die Verletzungen weg. Sie kümmerten ihn nicht mehr als ein Pferd die Fliegen. »Zu mir, verdammt!«, schrie Gallagher erneut. Dann hörte Cronin das Brodeln. Er ahnte, was geschah, bevor sein Blick darauf fiel – und trotzdem blieb ihm das Herz kurz stehen, als er die Bestätigung seiner Befürchtungen sah. Der See war erneut zur zischenden und dampfen-
den Fritteuse geworden. »Wer von euch Hurensöhnen war am Wasser?«, brüllte Bannister mit tiefster Frustration. Doch es war niemand am Wasser gewesen. Es war noch jemand drin. Dotty … Cronin stöhnte innerlich. So bescheuert es auch war, damit hätte er rechnen können. Aus dem dampfenden Nass erhob sich eine neue Gestalt, kam der anderen zu Hilfe. Es war abermals eine Kopie ihrer Gruppen-Quotenfrau. Eine zweite, nein, dritte Dotty McGruder. Sie war nackt, wie Gott sie schuf – und mutiert, wie der Satan oder wer auch immer hinter diesem unfassbaren See stecken mochte, sie haben wollte. Cronin starrte sie an und wusste plötzlich, dass Moffat am Morgen mit ihrer Panik nicht übertrieben hatte. Bannister ballerte auf sie, Kings schloss sich ihm sofort an. Willks hob sein Messer weit über den Kopf und ließ es in einer einzigen, routinierten Bewegung auf Zamorras Handgelenk niedersausen. Die Klinge trennte die Hand so säuberlich vom Arm, dass Cronin sich entsetzt fragte, wo der eigentlich so unscheinbar wirkende Buchhalter dieses Wunderding her hatte. Egal. Hauptsache, Riddeck war wieder frei. Der Chemiker lag wimmernd am Boden und hielt sich den blutenden Oberschenkel. »Verdammt, zu mir, ihr Idio…« Gallagher kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu brüllen. Denn aus dem Buschdickicht, in das er den zweiten Zamorra hatte locken wollen, preschte auf einmal Jennys Dotty, die erste Kopie! Sie schlang Gallagher die Arme um die Brust, noch bevor dieser ihr Kommen überhaupt begriff, riss ihn von den Beinen – und zerquetschte ihm mit ein, zwei gezielten Muskelzuckungen den Brustkorb! Gallagher ächzte. Knochen knackten so laut, dass es noch über das Dauerfeuer zu hören war. Dann drang eine Springflut dunkelrotem warmen Blutes aus seinem Mund, und Cronin wusste, dass er tot war.
»Major.« Preston war neben Cronin getreten. »Wir müssen diesem Spuk ein Ende machen. Für Dotty und Gallagher.« Nur wie? Cronin war kein Möchtegernheld wie der Rest dieser Truppe. Er war Reiseveranstalter, verflucht noch mal. Er verkaufte Illusionen, kassierte an den Erinnerungen und Fantasien der Trottel, die Militärmagazine kauften und sich in Waffenvereinen organisierten. Den letzten – und einzigen – Kampfeinsatz seines Lebens hatte er 1970 erlebt, und selbst da war er nur Koch gewesen! Die Kriegserfahrung, auf der sein eigensinniges Geschäftsmodell beruhte, war kaum mehr als Illusion, werbewirksam verpackter Schein. »Was schlagen Sie vor?«, fragte er Preston. Dann fiel der Groschen endlich. Die Base. Nixons geheime Station, von der Moffat dem Professor berichtet hatte. Zamorra – der echte – war in einer Felsöffnung auf der anderen Seeseite verschwunden. Mochte dort der Knopf sein, der diesen Doppelgängerirrsin steuerte? Der, mit dem er sich deaktivieren ließ? Cronin sah zum Wasser, dann zurück zu Preston. »Können Sie ein wenig Schmerz vertragen, Soldat?«, fragte er in dem Ton, den er Marlon Brando abgeguckt hatte. Prestons Augen leuchteten begeistert. »Worauf Sie einen lassen können, Sir.« »Dann folgen Sie mir. Bannister, Sie haben das Kommando.« Und unter den fassungslosen Blicken und Rufen der anderen, die alle Hände voll zu tun hatten, die drei Ungeheuer auf Abstand zu halten, stiegen Cronin und Preston in den See.
* Paris Der Junge sprach von Träumen und Visionen. Von gewaltigen Dä-
monenfürsten und einem dunklen König auf dem Knochenthron. Doch er sprach nicht wirklich, nicht wissentlich. Sein Mund bewegte sich zwar, seine Stimme drang durch den Raum, aber Nicole wusste, dass Jean-Michel nichts von alldem selbst wahrnahm. Nur seine Hülle stand dort im Türrahmen. Er war ein Gefäß, das von der Vision getrieben wurde. Nicole deaktivierte den Schutzschirm und trat auf den Jungen zu, der ihre Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis nahm. Du bist wie ein Radio, dachte Nicole. Du empfängst die Sender, aber du machst die Musik nicht selbst. Es gab solche Personen, das wusste sie nur zu gut. Besonders Sensible, die Dinge registrierten, die den menschlichen Sinnen eigentlich verborgen blieben. Seher, Medien, Schamanen und und und. Manche dieser Personen besaßen ihr Talent aufgrund ihrer Ausbildung oder besonderer Ereignisse in ihren Lebensläufen. Andere waren schlicht Launen der Natur. Es wäre interessant, mal deine Akte zu lesen, dachte sie und strich dem Jungen über das Haar, das ihm schweißnass in der Stirn klebte. Herauszufinden, wer deine Eltern waren. Jean-Michels Verhalten ähnelte dem der vergangenen Nacht, war aber um ein Vielfaches intensiver. Und Nicole glaubte, den Grund dafür zu kennen: Mitch. Hatte der Kleine ihr nicht selbst gesagt, dass sogar Emmeline in Chaineux’ heimlichem Sohn die Quelle seiner Aussetzer vermutet hatte? Wahrscheinlich hatten die beiden Kinder den Seelenlosen irgendwann mal am Fenster gesehen, so wie sie selbst vorhin. Und da er ihnen unheimlich vorgekommen war und Jean-Michels Anfälle ebenfalls unheimlich anmuteten, hatten sie – oder zumindest das arme, tote Mädchen – eins und eins zusammengezählt. Eine Verbindung gezogen. Kindermund tat Wahrheit kund. So einfach war das manchmal. Du bist das Radio, wiederholte Nicole. Der Empfänger. Und er ist der Sender.
Ihr Blick wanderte zu Mitch … und sie riss die Augen auf. Der Seelenlose war wieder auf den Beinen und hielt genau auf sie zu! Nicole riss die Arme hoch, warf sich einmal mehr schützend vor den Jungen, doch der Mentalbefehl, den sie aussandte, kam beinahe zu spät. Schon war ihr, als spüre sie Mitchs untote Hände an ihrem Hals, da kehrte die Schutzkuppel zurück und schirmte sie vor der Bedrohung ab. Dann fielen die Schüsse.
* Nixon Base Zamorra duckte sich gerade noch rechtzeitig und sprang zur Seite. Einen Sekundenbruchteil später schlug die Computerkonsole an die Wand, an der er eben noch gestanden hatte. Funken stoben davon, und der Geruch verschmorten Plastiks und Ozons hing beißend in der trockenkalten Luft. John Roslyn tobte. Einem megalomanischen König gleich wirbelte er durch das Operationszentrum der Nixon Base, als wäre es sein Thronsaal, in dem er verfahren konnte, wie immer es seinem wahnsinnigen Geist beliebte. Zamorra brauchte keinen Para-Sinn, um zu wissen, dass der Tränensplitter Roslyn antrieb. Und er glaubte ebenfalls zu wissen, was es mit dem See auf sich hatte. »Waren Sie das?«, rief er aus der Deckung einer der klobigen Schrankcomputer. »Diese Doppelgängergeschichte da draußen?« Roslyn lachte. Ein Drehstuhl flog durch die Luft und krachend neben Zamorra zu Boden. »Sie überschätzen mich, Professor«, antwortete Roslyn mit hörbarem Stolz. »Ich aktivierte nur wieder, was ohnehin hier war.« Eine schwache Stimme drang aus dem Dunkel der hinteren Raumesecke. »Auch das stand in den Akten«, sagte Jenny. »Den Gerüchten zufolge, soll es schon Anfang der 1970er gelungen sein, hier Su-
persoldaten zu züchten. Ich schätze, Uncle Sam hat den Betrieb einfach eingestellt, als er die Gegend verließ.« Warum?, fragte sich Zamorra. Angst vor der eigenen Schöpfung? Und wie hatten die Angehörigen der Operation Freedom Eagle diese ganz eindeutig schwarzmagische Komponente ins Spiel gebracht? Denn was immer den See da draußen befeuerte, war nichts gentechnisches, sondern lupenreine böse Zauberei. Dass der See heute Doppelgänger produzierte, leuchtete ein: Roslyn hatte die Maschinen von einst wieder eingeschaltet. Und Roslyns Splitter war die Energiequelle, die diesen ganzen Wahnsinn hier heute nährte. Aber wie war Uncle Sam in den 1970ern zu ähnlichen Ergebnissen gekommen? War er das überhaupt? Moment mal … Ein Verdacht formte sich in Zamorras Verstand – doch kaum, dass er Form anzunehmen begann, drang ein lautes Poltern aus dem Gang draußen und riss den Dämonenjäger aus seiner Konzentration. Vorsichtig lugte Zamorra um die Ecke des Computers, hinter dem er hockte. Zwei Männer waren auf der Schwelle des Operationszentrums erschienen: Cronin und Preston. Beide waren triefend nass und mit üblen Verbrennungen übersät. Cronin hielt in jeder Hand eine Automatikpistole und richtete sie ins Raumesinnere. Preston stand derweil mit dem Rücken zu ihm und schien beschäftigt, einige Verfolger abzuwehren. Dem Knurren und Stöhnen nach zu urteilen, das in den wenigen, kurzen Pausen zwischen Prestons MG-Salven aus dem Korridor klang, ahnte Zamorra, wer diese Verfolger waren. Ihr Wahnsinnigen! »Die … Die sind hergeschwommen«, keuchte Jenny. Irgendwie hatte sie es geschafft, zu Zamorra zu kriechen, ohne Roslyn in die Finger zu geraten. »Das heißt, sie haben sich verdoppelt. Seelenkopien geschaffen.« Dotty, ich selbst, Preston und Cronin … Allmählich wird’s hier in der
Pampa richtig voll. »Zamorra!«, rief Cronin. »Sind Sie hier irgendw…« Er verstummte, als dicht vor ihm Roslyn aus den Schatten sprang und zum Angriff überging. Cronins Augen weiteten sich vor Schreck. Seine Zeigefinger krümmten sich an den Abzügen. Zamorra zögerte nicht. »Halt!«, rief er und stand auf. »Lassen Sie sie, John. Sie sind doch weit mehr an mir interessiert, richtig? Sie sind ein gebildeter Mann, John. Sie brauchen Menschen um sich, die Ihre Motivation verstehen.« »Sind Sie wahnsinnig?«, flüsterte Jenny. Sie war zu schwach, um aufzustehen und ihn aufzuhalten, und in diesem einen Moment empfand er Dankbarkeit deswegen. Roslyn wirbelte herum. Seine Augen funkelten. »Wie wahr, wie wahr«, summte er zufrieden. »Diese Minderbemittelten mit ihrem Päng Päng sind unter unserem Niveau, Professor, nicht?« Blitzschnell machte er erneut auf dem Absatz kehrt. Seine Hand schnellte hoch und packte den völlig schockstarren Cronin am Kinn. »Wo kommen Sie überhaupt her, Sie Wicht, he?« Cronins Lippen bebten. Seine Knie begannen zu zittern. »N… New York City.« Roslyn ließ von ihm ab, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und lachte so schallend, dass Zamorra und Cronin schmerzhaft das Gesicht verzogen. Nach wie vor kam jeder Laut, der aus dem Mund des Mutierten drang, aus allen Richtungen gleichzeitig – und zwar unglaublich laut! Preston rammte Roslyn den Lauf seines MGs gegen die Schläfe. Sofort brach der ehemalige Politiker zusammen. Das war der Moment, den Zamorra nutzte. Im Nu eilte er zu den Computerstationen, die Roslyns Irrsinn bislang überstanden hatten, und studierte sie hektisch. Der Verdacht von vorhin pochte vehement an die Tür seines Verstandes, und alles in Zamorra drängte danach, ihn einzulassen. Die Seelenlosen hatten die Schwelle erreicht. Cronin und Preston
wichen ins Raumesinnere zurück, als pervertierte Doubletten ihrer selbst im Türrahmen erschienen. Der Originalpreston feuerte, was sein Magazin hergab, und Jenny Moffat schleppte sich, einen Revolver in der zitternden Rechten, zu ihm, gab ihm Feuerschutz. Mit einem Mal wurde es Zamorra warm an der Brust. Verblüfft und mehr als nur ein wenig beruhigt registrierte er, wie Merlins Stern zu ihm zurückkehrte. Nicole musste ihn gesendet haben. Demnach ging es ihr gut und sie hatte ihre Krise überstanden. Das Amulett war kaum materialisiert, da legte es auch schon los. Energie flackerte rings um den Dämonenjäger auf, nährte sich an seiner Kraft … … und just, als sein Geist schon wieder anderen Problemen entgegeneilen wollte, fand Zamorra, was er suchte!
Kapitel 12 – »Den Vorhang zu und alle Fragen offen« Paris »Ein Sender?« Pierre Robin sah Nicole aus weit aufgerissenen Augen an. Der Chefinspektor war genau zur rechten Zeit auf der Schwelle des Wohnzimmers erschienen. Er hatte die Lage sofort überschaut und gehandelt: Die Dienstwaffe, die Nicole beim Teppichangriff aus dem Hosenbund gefallen war, hatte er vom Boden aufgehoben, und dann kurzerhand so lange auf Mitch Chaineux geschossen, bis das Magazin leer gewesen war. Seine Schüsse und die Macht des magischen Amuletts gemeinsam hatten endlich den entscheidenden Unterschied bewirkt. Mitch – oder besser: Die seelenlose, grausam entstellte Kopie des Mitch Chaineux, der vor gut vierzig Jahren in Asi-
en gefallen war – war besiegt und würde nie wieder aufstehen. Nicole nickte. »Ist nur eine Theorie. Wir müssen ihn genauer untersuchen, um alle Detailfragen zu klären – und selbst dann kann es durchaus sein, dass wir auf längst nicht alle eine definitive Antwort bekommen. So ist das Übersinnliche mitunter – frustrierend mehrdeutig.« Ins Petit Prince-Waisenhaus war wieder Ruhe eingekehrt. Chaineux, der Alte, hatte sich Jean-Michels angenommen und brachte ihn gerade zu Julie auf die Krankenstation. Der Junge war erschöpft und verständlicherweise schockiert, schien aber – wie üblich – keine Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Minuten zu haben. Früher, so glaubte Nicole nun zu wissen, hatte er die Bilder, die er während seiner Anfälle sah, in Träumen und Zeichnungen zu verarbeiten versucht. Nun aber, da das Mitch-Ding endlich aus dem Spiel war, bezweifelte Nicole, dass der Kleine weiterhin derartige Träume haben würde. Von Anfällen ganz zu schweigen. »Okay, eine Theorie«, sagte Pierre. »Dann theoretisiere mal los. Ich bin ganz Ohr.« Sie seufzte. Wie erklärte man, was einem der Instinkt suggerierte? Na, wenigstens hatte sie die Rechercheergebnisse, die William ihr eben am Telefon mitgeteilt hatte. »Wir haben Mitch, richtig? Hier oben in der Wohnung. Wir wissen, dass Mitch in Vietnam fiel. Wir wissen von Operation ›Freedom Eagle‹, der Zamorra allem Anschein nach gerade auf den Spuren ist. Ich habe ihm übrigens Merlins Stern zurückgesandt, sicher ist sicher. Jedenfalls: Angenommen, statt Mitch kommt dieser Doppelgänger nach Hause zurück. Angenommen, diesem Doppelgänger haftet noch etwas der schwarzmagischen Energie des Sees an, der ihn erschuf. Angenommen, Chaineux und sein SohnErsatz leben ihr eigenartiges Leben, bis irgendwann ein neues Waisenkind ins Petit Prince einzieht. Eines, das – aus Gründen, die nachvollziehbar oder schlichtweg biologischer Zufall sein mögen, das wird die weitere Analyse hoffentlich zeigen – eine Art siebten Sinn für paranormale Strömungen hat, ganz ohne es zu wissen.«
»Ein Empfänger«, warf Pierre ein. »Bingo. Der Empfänger – Jean-Michel – empfängt die Präsenz des Schwarzmagischen hier im Haus. Das Wesen, das Louis Chaineux, unser trauernder Vater und die tragische Figur dieses bizarren Stücks, seit Jahrzehnten geheim hält.« »Der Empfänger weiß aber nichts mit den Bildern anzufangen, die er empfängt«, griff Pierre den Faden auf. »So etwas hat er noch nie erlebt. Es übersteigt sein Fassungsvermögen und resultiert in spastischen Anfällen und Visionen, die so schnell aus seinem Gedächtnis verschwinden, wie sie auftauchen.« Nicole nickte. »So in der Art, jedenfalls. Chaineux vermutet eine Krankheit und informiert die Behörden. Und die informieren uns.« »Und der Sender?«, hakte Pierre nach. »Sendete der einfach so? Weil er da war?« »Ich vermute es.« Nicole deutete auf den reglos am Boden liegenden Körper. »Du hast dieses Ding gesehen, Pierre. Da drin war nichts, was hätte Pläne schmieden oder mit Konzept handeln können. Wirf mal einen Blick auf die Zeitungsschnipsel in dem Zimmer da hinten, Texte über animalische Triebe und menschliche Urinstinkte.« Sie atmete tief durch. »Jedenfalls würde ich wetten, dass unser Sender gar nicht bewusst sendete. Was Jean-Michel empfing, war einfach die Anwesenheit des Senders. Sozusagen.« »Und die Bilder? Asmodis, JABOTH, Vietnam … dieser Roslyn, von dem du eben erzählt hast. Wie passen die alle ins Puzzle? Angenommen, Roslyn ist tatsächlich bei Zamorra in Vietnam. Woher sollte das Mitch-Ding davon wissen? Es war seit vierzig Jahren nicht da. Woher sollte es von Asmodis und all den anderen Dingen wissen? Mit denen hatte es nie zu tun!« Nicole nickte. Das frag ich mich auch schon die ganze Zeit. Sie wollte gerade zu einer hilflosen Antwort ansetzen, da betrat Louis Chaineux wieder den Raum. Der Heimleiter sah aus, als sei er um zehn Jahre gealtert. Sein Gang war schlurfend, seine Schultern waren gesenkt. Ein Schatten lag auf seinen Zügen, von dem Nicole zweifelte,
dass er sich je wieder heben würde. Und doch lächelte der Mann. »Danke«, sagte er leise und sah ihr und Pierre, die bei seinem Kommen verstummt waren, mit klarem Blick entgegen. »Aufrichtig und ehrlich: Danke. Ihnen beiden. Ich … Sie haben einen Fehler behoben, den ich vor vielen, vielen Jahren beging. Einen, den zu sühnen ich nie die Kraft hatte. Er war doch mein Sohn … Irgendwie. Mein petit prince.« »Sie wussten von Freedom Eagle?«, fragte Pierre. »Wussten ist zu viel gesagt. Als Mitch starb … Irgendetwas in mir zerbrach, wissen Sie? Mein ganzes Leben, meine Ehe, meine innere Ordnung – alles wertlos. Von einem Moment auf den anderen. Ich … Ich gab es auf. Machte einen klaren, endgültigen Schnitt. Ich wollte nichts mehr mit dem Leben und dem Land zu tun haben, aus dem ich kam. Dem, das mir solch großen Schmerz zugefügt hatte. Ich war ein Igel, eingehüllt in seine Stacheln, und ich spießte jeden auf, der mich in meiner Trauer stören wollte. Kein Wunder, dass sich mein Umfeld nach und nach von mir abwandte.« »Und dann hörten Sie von Mitchs Mission«, vermutete Nicole. »Von Operation Mad-Man und der Nixon Base.« »Ich war Politiker, müssen Sie wissen. Ich hatte Beziehungen. Und ich war stur! Oh, so stur. Ich brauchte Wochen, bis ich auf die Informationen stieß. Ich wollte, nein, musste wissen, wie er gestorben war. Nicht das Beileidsgeschwätz, das die Armee in solchen Situationen absondert. Sondern die Wahrheit! Und als ich sie erfuhr …« Er brach ab. »Setzten Sie sich in einen Flieger nach Vietnam«, beendete Nicole den Satz. »Sie suchten die Base und fanden etwas.« Chaineux begann zu weinen, leise und beherrscht. Doch er sprach weiter. »Er saß einfach da, wissen Sie? Ich kam in diese von allen guten Geistern verlassene und von Washington aufgegebene unterirdische Geheimbasis – und er hockte einfach auf dem staubigen Boden. Mein Sohn! Lebendig!« Es dauerte einen Moment, bis der Alte sich wieder gefangen hatte. »Natürlich war er verändert. Er reagier-
te kaum auf äußere Reize, und wenn, dann mit Aggression. Er sah entsetzlich aus. Aber … er lebte. Was hätte ich tun sollen, Mademoiselle Duval? Ihn zurücklassen? Er war doch mein Sohn. Ich bekam doch eine zweite Chance geschenkt!« »Das war nicht Mitch«, widersprach Pierre sanft. Nicole nickte. »Was Sie fanden, war eine Kopie. Ihr Sohn muss kurz vor seinem Tod in dem See vor der Base gewesen sein. Vielleicht ist er dort drin sogar gestorben. Vielleicht sogar durch die Hand seines eigenen Doppelgängers. Hieß es nicht, die genauen Umstände seines Todes seien nie bekannt geworden?« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie nahmen kein Kind mit nach Hause, Chaineux, sondern ein Ding.« Der Alte wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Wangen. »Ich brauchte Monate, um das zu begreifen. Ich igelte mich hier in Paris ein, begann ein neues Leben. Ich dachte, ich könnte Mitch gesund pflegen. Ich war sein Vater, ich hatte ihn schon einmal zur Selbstständigkeit erzogen. Aber mit der Zeit kamen die Zweifel und ich begann, weiterzurecherchieren. Ich erfuhr vom See, von den unheimlichen Gerüchten um Nixon Base. Und ich begriff, welchem Irrglauben ich aufgesessen war.« »Aber Sie konnten die Kopie, die Sie ernährten, nicht töten«, folgerte Pierre. Chaineux sah ihn aus tränennassen Augen an. »Er war mein Sohn«, flüsterte er.
* Annamitisches Hochland, Vietnam Es war schon dunkel, als sie ins Freie kamen. Preston und Cronin trugen den noch immer bewusstlosen John Roslyn, Zamorra stützte Jenny Moffat. Er wusste inzwischen, dass er dem Bürgermeister
nicht mehr würde helfen können – ganz egal, was er versuchte. Am Schluss war alles rasend schnell gegangen. Preston hatte von den Seelenlosen abgelassen und sein MG auf die Computerkonsolen gerichtet. Drei, vier ungezielte Salven später waren die Geräte kaum noch mehr als altertümlicher Elektroschrott gewesen – und die Seelenlosen waren zusammengebrochen, als hätte jemand in ihnen einen Schalter umgelegt. In gewisser Weise, vermutete Zamorra, traf das sogar zu. »Diese Dinger«, fragte Jenny nun an seiner Seite. »Verstehe ich das richtig? Die wurden vom Base-Computer gesteuert?« Der Dämonenjäger schüttelte den schmerzenden Kopf. »Das nicht. Aber sie brauchten den Computer, um zu existieren. Irgendwie scheint eine Verbindung zwischen ihm und dem See zu bestehen, und durch die Zerstörung des Computers ist die dahin. Schade nur, dass ich die Geräte da drin vermutlich nie genauer analysieren kann.« Letzteres war eine Lüge, und er wusste es. Er würde sie analysieren, und das schon bald. Aber er wollte Jenny nicht unnötig Flausen in den Kopf setzen. Andernfalls hätte sie darauf bestanden, ihn dabei zu beobachten. »Und dieser Mitch, von dem Nicole eben am Telefon berichtete?«, fuhr Jenny fort. »Wenn Sie sagen, dass die Computer eingeschaltet sein mussten, damit der See funktioniert und die Zombies am Leben hält, wie kann es dann Mitch geben? Als Uncle Sam Nixon Base aufgab, wird er die Dinger schließlich abgeschaltet haben.« Zamorra schmunzelte. Mitch, Mitch, Mitch … Das einzige Stück dieses Puzzles, das noch nicht an seinem Platz liegt. Sein Blick wanderte zu John Roslyn. Aber das wird es bald, oder, John? Ja, ich glaube schon. »Wer sagt uns denn, dass sie wirklich abgeschaltet waren?«, fragte er dann zurück. »Roslyn behauptete zwar, er habe sie reaktiviert, aber vielleicht liefen die Dinger ohnehin auf Stand-by-Betrieb. Ihre Energie reichte ohne John nicht aus, um neue Seelenlose zu erschaffen, aber sie genügte, um den einen, der von Operation Freedom Eagle übrig geblieben war, in Aktion zu halten.«
»Mitch«, folgerte Jenny. »Ganz genau. Dieser See liegt sehr abgeschieden. Wie viele Menschen werden in den vergangenen vierzig Jahren wohl hier gewesen sein? Zwanzig? Fünfzehn? Noch weniger? Das ist praktisch niemand. Niemand weiß hiervon.« Jenny fluchte leise. »Dieser Wirt, unten im Dorf …Er wird gewusst haben, was der See kann. Er hat Cronins Truppe absichtlich in den Beinahe-Untergang geschickt.« Zamorra neigte den Kopf. »Möglich wär’s. Aber auch das werden wir vermutlich nie sicher wissen.« Sie erreichten das Seeufer. Wie Zamorra vermutet hatte, war auch am eisigen Seelenwasser wieder Ruhe und Normalität eingekehrt. Kings, Willks und die anderen standen auf der entgegengesetzten Uferseite. Die zwei Dottys und Zamorras eigene Kopie lagen reglos am Boden. Cronins Soldaten hatten zwei Bäume gefällt, die langen Stämme mit Pflanzenstricken aneinander gebunden und quer über den See gelegt. »Benutzen Sie die Brücke«, rief Bannister hinüber, sowie Zamorra und Co. am Ufer auftauchten. »Solange ich hier das Sagen habe, steckt niemand auch nur einen dicken Zeh in diese Scheißbrühe!« Cronin lachte. Dann entsprachen sie Bannisters Wunsch. Viel mehr blieb nicht zu tun. Die Männer trugen die besiegten Untoten ins Innere der Base. Riddeck und Kings eilten dann zurück zum Camp, das Napalm holen. Mit dem wollten sie Operation »Freedom Eagle« ein für alle Mal vernichten. Zamorra zweifelte nicht daran, dass es ihnen gelang. Cronin schwieg überwiegend, doch seine Männer konnten sich vor Euphorie und adrenalingesteuerter Begeisterung kaum noch einkriegen. Sie hatten gekämpft und gesiegt, so ihr Tenor. Ihnen war gelungen, was Uncle Sam seinerzeit verwehrt geblieben war. Sie waren Helden – und sei es auch nur in ihren eigenen Augen. Selten hatte Zamorra Männer gesehen, die begeisterter gewirkt hatten als Willks, Bannister und Co. an diesem Abend. Jenny Moffat würde
ihre waffenkritische Reportage bekommen, daran bestand kein Zweifel mehr. Später, als Cronin und sein Trupp am Ufer standen und dem selbst gemachten Feuerwerk aus Sprengsätzen und Benzin zuschauten, das Mitch Chaineux einstigen Einsatzort zu einer Flammenhölle werden ließ, in der selbst die Seelenlosen vergingen, berührte Zamorra die junge Journalistin am Arm. Die Gelegenheit war günstig. Jenny und er waren in einigen Metern Entfernung zurückgeblieben und bewachten den nach wie vor reg- und bewusstlosen Roslyn. Jenny, die inzwischen eingeschlafen war, zuckte kurz und entspannte sich erst wieder, als sie sah, wer sie da berührte. »Was?«, flüsterte sie. »Können Sie aufstehen?«, fragte er leise zurück. »Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen, okay?« Sie runzelte die Stirn, folgte aber seinen Anweisungen. Zamorra musste sie nach wie vor stützen. Nach wenigen Schritten blieb er stehen. Sie hatten ein paar Büsche zwischen sich und Roslyn gebracht. Von hier aus konnten sie ihn immer noch beobachten, hatten aber eine gute Deckung. »Was haben Sie vor?«, wollte Jenny wissen. »Wir sollten besser auf ihn …« Zamorra schüttelte den Kopf. Es wurde Zeit, das letzte Puzzleteil zu legen. »Warten Sie. Ich glaube, wir bekommen Besuch.« Jenny sah ihn an. Ihre Augen wurden groß. Dann nickte sie. Es dauerte noch gut zwanzig Minuten. Schweigend standen sie nebeneinander im Dickicht, den Blick auf Roslyn gerichtet. Sie hörten die Tiere der Nacht und das von gelegentlichem Gejohle unterbrochene Lodern der Flammen in einigen Dutzend Metern Entfernung. Sonst hörten sie nichts. Bis … Dachte ich’s mir doch. Eine Gestalt trat aus dem nachtschwarzen Buschwerk hinter Roslyn. Trotz der Dunkelheit erkannte Zamorra sie sofort. Schließlich hatte er mit ihr gerechnet.
Hallo, Asmodis. Der ehemalige Fürst der Finsternis sah sich kurz um, dann ging er neben John Roslyn in die Hocke. Er breitete die Hände über dem reglosen Körper aus, schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich zu lautlosen, uralten Worten. Dann begann Roslyns Brust zu glühen! Es war, als wäre hinter seinen Rippen eine Sonne aufgegangen. Gleißendes Licht strömte plötzlich aus dem Leib des einstigen Bürgermeisters empor, und Asmodis war da, es aufzufangen. Zamorra spähte durch die Blätter und Äste, beobachtete das grausige Geschehen. Es dauerte wenige Sekunden, dann erlosch Roslyns Licht so schnell wie es gekommen war. Asmodis öffnete die Augen wieder, stand auf und kehrte zurück in die Schatten. Dort, so ahnte der Dämonenjäger, würde er Vietnam auf dem gleichen übernatürlichen Weg verlassen, auf dem er es erreicht hatte. Mit dem Tränensplitter. Damit ist es wohl gewiss, dachte Zamorra. Du sammelst Tränen. Obwohl du es selbst abgestritten hast.* Er und Nicole hegten den Verdacht schon eine ganze Weile. Und jetzt, so schien ihm, war aus ihm eine Tatsache geworden. Blieb die Frage nach dem Warum. »Was war das?«, fragte Jenny leise. »Und kommen Sie mir jetzt nicht mit Ausflüchten, Monsieur. Was. War. Das?« Zamorra sah sie an. »Erinnern Sie sich noch an Stygia?« Jenny erschauderte sichtlich. »Wie könnte ich die vergessen? Die Frau aus der Hölle.« Dann wurden ihre Augen groß. »Sie … Sie meinen … Der auch?« »Sein Name ist Asmodis«, erklärte der Professor geduldig. »Und wenn Sie mich fragen, hat er sich gerade Roslyns Tränensplitter genommen.« Sie traten zurück zu Roslyn. Er war tot. Die Mutationen seines Körpers waren verschwunden, und er sah wieder genauso aus, wie sie ihn aus New York in Erinnerung hatten. Aber es war kein Leben
*siehe PZ 977: »Gefahr für die blaue Stadt«
mehr in ihm. Vermutlich war er schon auf City Island gestorben, irgendwie, und nur der Splitter hatte seine Existenz verlängert. Zamorra seufzte leise, dachte an Andy, Zandt und die anderen aus der Metropole. An vertane Chancen. Aber er wusste, dass er das Richtige getan hatte. »Tränensplitter«, wiederholte Jenny leise. »Sie wussten davon, Professor. Sie wussten, dass dieser Asmodis kommen würde.« Zamorra nickte. »Woher?« Er schmunzelte traurig. »Das letzte Puzzleteil hat es mir gesagt. Mitch.« Verständnislos sah Jenny ihn an. »Sie haben mich selbst gefragt, wie unser Seelenloser in Paris all die Sachen wissen konnte, wo er doch seit vierzig Jahren nicht mehr hier in Vietnam war. Wie er – um Nicoles Bild zu verwenden – die höllischen Eindrücke an Jean-Michel senden konnte, ohne dass er sie selbst kannte.« Die Journalistin nickte. Wie er hatte sie genau zugehört, was Nicole ihnen vorhin am Telefon aus Paris berichtet hatte. »Die Antwort darauf ist so simpel, wie sie erstaunlich ist«, fuhr Zamorra fort. Er griff in die Tasche seines Jacketts und zog das kleine Behältnis heraus, in dem er die Wasserprobe des Sees aufbewahrte, die er am Vortag genommen hatte. »Der See?«, stieß Jenny verblüfft aus. »Er ist das Einzige, was Roslyn und Mitch gemeinsam haben. Die einzige Wild Card in unserem Deck.« Er hob die Finger und zählte der Reihe nach auf. »Mitch war im See. Roslyn hatte den Splitter, hinter dem Asmodis her war. Asmodis besaß das Wissen über JABOTH und all die anderen Dinge, die Jean-Michel in seinen Visionen sah. Und der See steht im Zentrum aller drei. Er ist die Antwort, der missing link.« Jenny wirkte absolut ratlos. Zamorra konnte es ihr nicht verübeln. Es war ein ziemlicher Gedankensprung, aber er ergab Sinn.
»Ich wusste, dass Asmodis kommen würde, weil Mitch es wusste. Weil Mitch es Jean-Michel zeigte. Mitch, der aus dem See stammte. Mitch, der auch von Roslyn wusste. Von der hiesigen Gegenwart.« Jenny schüttelte den Kopf. »Aber wie …« »Sie machen einen großen Fehler, Jenny«, sagte Zamorra. »Einen, der Sie daran hindert, die Wahrheit zu erkennen.« Sie hob eine Braue. »Nämlich?« »Sie denken chronologisch. Sie sagen: ›Mitch kann nicht von Roslyn gewusst haben, weil Mitch vor vierzig Jahren hier war und Roslyn heute. Mitch kann nicht von Asmodis gewusst haben, weil auch Asmodis zu seiner Zeit nicht hier war.‹ Aber dabei übersehen Sie, dass die Chronologie das einzige ist, was das Puzzleteil blockiert.« »Sie meinen, der See … setzt die Zeit außer Kraft?« »So weit würde ich nicht gehen. Aber Sie sind schon recht nah dran. Dieser See hat eine ganz besondere magische Aura. Als mich Cronins Männer hier hinauf zwangen, spürte ich sie zum ersten Mal, doch konnte ich sie da noch nicht einordnen. Sie schwächte mich ziemlich, aber nur für kurze Zeit. Bis sich mein Körper daran gewöhnt hatte. Und unten in der Base …« Er zögerte, suchte nach Worten, die sie begreifen machen würden. »Erinnern Sie sich, was Nicole über Jean-Michel sagte? Dass es Leute gibt, die eine Art sechsten Sinn für Paranormales haben, besonders empfänglich dafür sind? Mit diesem See hat es eine ganz ähnliche Bewandtnis. Seine Aura wird nur von denen bemerkt, die einen Sinn für derlei Dinge haben.« »Etwa von einem Dämonenjäger.« Zamorra lächelte. »Und von den Computern der Operation ›Freedom Eagle‹, versteht sich. Als ich unten an den Konsolen stand, sah ich, dass die Rechner die Aura tatsächlich maßen. Es gab Anzeigen, Messwerte für das, was mich geschwächt hatte.« Endlich sah er Begreifen in Jennys Blick. »Diese Aura ist die Verbindung zwischen Mitch und Asmodis, zwischen Roslyn und Paris. Ich glaube, sie haftet jedem an, der in dem See oder in seiner Nähe war.« »Der See speichert, was hier geschieht. Und er ist … zeitlos?«
»So kann man es vielleicht ausdrücken«, sagte Zamorra. »Genaueres wird aber hoffentlich die Analyse dieser Probe hier ergeben.« Er sah auf das Behältnis in seiner Hand. Klare Flüssigkeit befand sich darin. Ein nasses Mysterium, das in gewissem Sinne John Roslyns Erbe war. Seelenwasser. Und die Gewissheit, die den Meister des Übersinnlichen schon seit dem Aha-Moment in der Base nicht mehr losgelassen hatte, wuchs weiter. Der feste Glaube, dass dieses rätselhafte Abenteuer soeben erst begann. ENDE
Krempeltierchen Leserstory von Dirk Professor Zamorra stand vor dem Eingang des Musée des Beaux-Arts in Lyon. Er blickte Nicole nach, die gerade verschwand, um ihre Einkaufsorgie zu beginnen. Es würde ihr gut tun, nach all dem Stress der letzen Wochen, mal etwas auszuspannen. Er wusste selbst nicht, wo ihm der Kopf stand. Die Hölle war zwar vernichtet, er hatte aber den Eindruck, dass die Arbeit nicht weniger wurde. Das war auch der Grund, weshalb er jetzt vor dem Museum stand. Jedenfalls war er sicher gewesen, alleine hier klarzukommen. Nici sollte ruhig etwas shoppen gehen. Zamorra zögerte nur kurz, dann gab er sich einen Ruck, stieg die Stufen hinauf und betrat das eindrucksvolle Gebäude. Nachdem er das Eintrittsgeld bezahlt hatte, wandte er sich gleich der Sonderausstellung zu. Das war schließlich der Grund, weshalb er überhaupt hierhergekommen war. Pascal Lafitte hatte sie beide heute am frühen Nachmittag angerufen und ihnen gleichzeitig eine E-Mail mit PDF-Anhang zugeschickt. Zamorra war nicht glücklich gewesen, sein Frühstück unterbrechen zu müssen – er kam als Dämonenjäger erst sehr spät ins Bett und ein ausgiebiges Frühstück musste sein. Aber, nachdem er den eingescannten Zeitungsartikel gelesen hatte, war er sofort elektrisiert. Wieder einmal hatte Pascal den richtigen Riecher gehabt. Auch Nicole war dieser Ansicht gewesen. »Puh«, sagte sie. »Sieht so aus, als müssten wir da mal nach dem Rechten sehen.« Wenig später kamen sie dann, dank der Regenbogenblumen, in
Lyon an. Er hatte Nicole überzeugt, die Arbeit alleine erledigen zu können. Sie hatte zögernd zugestimmt, wollte aber später nachkommen, falls er bis dahin den Fall noch nicht gelöst hatte. Er betrat den Ausstellungsraum. Nur wenige andere Besucher hielten sich hier auf. Am gegenüberliegenden Ende hing ein großes Plakat des Künstlers inklusive bibliografischer Informationen. Zamorra trat näher und studierte es. Zwar kannte er den niederländischen Künstler M.C. Escher, der für seine Darstellung des Perspektiven Unmöglichen berühmt geworden war, genauer hatte er sich mit dessen Werk jedoch noch nicht auseinandergesetzt. Zamorra schritt die Drucke ab, die an den Wänden hingen. Diese geometrisch-optischen Täuschungen waren schon sehr beeindruckend. Er blickte sich um und sah, dass er mittlerweile alleine im Ausstellungsraum war. In der Mitte des Raumes stand ein brauner großer Hocker. Zamorra setzte sich und dachte über das nach, was Pascal Lafitte ihm mitgeteilt hatte. Die Escher-Ausstellung hatte erst seit einer Woche geöffnet und gleich für Aufregung gesorgt. Innerhalb dieser Woche waren jeden Tag Menschen verschwunden. Zunächst hatte niemand einen Zusammenhang mit der Ausstellung gesehen. Dann war es doch aufgefallen. Die Polizei hatte den Vorgang untersucht, aber nicht aufklären können. Man hatte sogar Wachpersonal in dem Raum aufgestellt. Seitdem war niemand mehr verschwunden und die Polizei hatte ihre Präsenz aufgegebenen. Dennoch blieben die Menschen verschwunden. Da die Polizei nicht weitergekommen war, musste wohl Zamorra das Rätsel lösen. Er war sich sicher, dass es mit Magie zu tun hatte. Im Moment zeigte Merlins Stern allerdings keine magischen Aktivitäten an. Also blickte sich Zamorra weiter um. Dabei blieb sein Blick bei einem der ausgestellten Bilder hängen. Er trat näher heran. Es zeigte ein Haus voller Treppen, die keinen Anfang und kein Ende hatten. Über diese Treppen krochen seltsame Wesen, die an Würmer erinnerten.
Zamorra las den Text, der neben dem Bild stand. Das Bild trug den Titel: Treppenhaus und die eigenartigen Würmer nannte man Pedalternorotandomovens centroculatus articulosus, übersetzt wurde der lateinische Name als Krempeltierchen. Diese Tiere konnten sich also zusammenrollen. Plötzlich spürte Zamorra, wie sich Merlins Stern erwärmte. Er konnte noch den Kopf heben, dann spürte er den Übergang. Es war, als würde er durch die Dimensionen gezerrt! Kein unbekanntes Gefühl für den Dämonenjäger. Das war ihm schon oft in seiner jahrzehntelangen Karriere passiert. Bevor er sich auf die Ankunft vorbereiten konnte, war der Übergang auch schon vorbei. Zamorra versuchte sich zu orientieren. Er stand auf einer Treppe und blickte in ein Treppenhaus hinab. Es schien kein Ende zu nehmen. Schnell blickte er nach oben, auch da erstreckte es sich ins Unendliche. Schnell trat er einen Schritt zurück. Hinter ihm gab ihm eine Wand immerhin das Gefühl von etwas Sicherheit. Bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, wo er war, hörte er trippelnde Geräusche. Merlins Stern hatte sich so stark erhitzt, dass er es von seinem Anhänger nehmen musste. Jetzt wusste Zamorra, wo er war. Irgendetwas hatte ihn in das Bild von Escher gezogen. Ihm war klar, dass es dämonische Aktivitäten gewesen sein musste, das erwärmte Amulett war ein deutlicher Hinweis darauf. Er wurde auf die Krempeltierchen aufmerksam. Überall in dem Treppenhaus gingen sie auf und ab. Sie hatten sechs Füße, auf denen sie sich fortbewegten; der Körper bestand aus Ringsegmenten, die matt silbern schimmerten. Die Augen bestanden aus großen schwarzen Knopfaugen, die seitlich am räderartigen Kopf angebracht waren. Insgesamt machten die Krempeltierchen aber keinen gefährlichen Eindruck. Zamorra wagte sich auf seinem Vorsprung etwas vor und sah ins Treppenhaus hinab. Jede Treppe endete und begann an einem Absatz wie dem, auf dem erstand. Er suchte die Menschen, die im Mu-
seum verschwunden waren, sie mussten hier irgendwo sein. Und plötzlich sah er sie. Etwa ein Dutzend von ihnen kauerten sich ein paar Treppen abwärts unter ihm zusammen. Sie sahen abgehärmt und verängstigt aus. Einige lagen bewusstlos auf dem nächsten Absatz herum. Im nächsten Augenblick sollte Zamorra erfahren, weshalb das so war. Er hatte nicht auf die Krempeltierchen geachtet, und von oben hatte sich ihm eins genähert. Mitten auf der Treppe, die zu ihm hinunterführte, wickelte sich das Krempeltierchen von vorne beginnend ein und rollte als Ball auf ihn zu. Zamorra sah es noch im letzten Augenblick auf ihn zukommen, da baute Merlins Stern auch schon den grünen Abwehrschild auf. Das zusammengerollte Krempeltierchen prallte dagegen und ging mit einem erbärmlichen Jaulen in Rauch und Asche auf. Noch bevor Zamorra wieder richtig denken konnte, hatte diese Aktion – oder war es das Todesgeschrei des Wesens gewesen? – die anderen Krempeltierchen wild gemacht. Plötzlich änderten alle ihre Richtung und kamen auf Zamorra zugekrochen. Der Professor entschied, dass es nun Zeit war zu handeln. Er begann damit, die Krempeltierchen direkt anzugreifen. Aus Merlins Stern schossen die Strahlen nur so hervor, die die angreifenden Krempeltierchen in kleine Aschehaufen verwandelten. Langsam kämpfte sich Zamorra zu den Entführten vor. Die hatten inzwischen mitbekommen, dass jemand ihnen Hilfe brachte. Nach quälenden Minuten hatte sich Zamorra zu den Menschen durchgekämpft. Inzwischen griffen die Krempeltierchen nicht mehr so entschlossen an; sie hatten begriffen, dass ihnen von Merlins Stern tödliche Gefahr drohte. Dennoch rotteten sie sich zusammen und folgten Zamorra. Als dieser bei den Entführten eintraf, redeten alle wild auf ihn ein. Ein paar klopften ihm anerkennend auf die Schulter. Alle sahen ziemlich erschöpft aus. Zamorra beendete das Durcheinander, indem er denjenigen, der noch am fittesten aussah, mit lauter Stimme
bat, ihm zu erzählen, was vorgefallen war. Dabei behielt er die Krempeltierchen im Auge, die immer mehr wurden, da von unten und oben weitere zu der Rotte dazu stießen. Aber im Moment hielten sie sich zurück. Der überdurchschnittlich große Mann begann zu berichten. So erfuhr Zamorra, dass sich die Menschen beim Betrachten des Bildes plötzlich hier wiedergefunden hatten. Sie konnten sich nicht erklären, wie das passiert war. Die Krempeltierchen nahmen wenig Notiz von ihnen, aber ab und zu kam eins auf sie zugerollt und berührte sie eines, fühlten sie sich plötzlich schwach. »Wir leiden keinen Hunger oder Durst, aber der Entzug der Lebensenergie macht uns schwächer und schwächer, bis wir ihn Ohnmacht fallen. Vermutlich werden wir alle sterben, wenn wir keinen Ausweg finden«, endete der Bericht. Zamorra konnte sich vorstellen, mit was einem Phänomen er es hier zu tun hatte. Vermutlich war ein Dämon dem Untergang der Hölle entkommen und hatte sich das Bild von M.C. Escher ausgesucht, um Menschen in die Falle zu locken und sich ihrer Lebensenergie zu ernähren. Doch der Professor konnte keinen Dämon entdecken. Wo versteckte er sich? War es eines der Krempeltierchen? Er konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn urplötzlich griffen die Krempeltierchen wieder an. Zamorra musste dem Amulett keinen geistigen Befehl geben, es begann sofort von alleine die Krempeltierchen mit magischen Blitzen zu vernichten. Doch Zamorra wusste, dass das keine Lösung war. Er spürte schon, wie er schwächer wurde. Das Amulett bezog seine Energie von ihm selbst. Es rückten einfach zu viele dieser seltsamen Geschöpfe nach. Er musste den Dämon finden! Da hatte er die rettende Idee. Er hörte auf die Krempeltierchen zu bekämpfen und befahl stattdessen dem Amulett, einen Schutzschirm um die Menschen zu errichten. Da wusste er, wer der Dämon war. Ein kurzer Gedankenbefehl genügte und der Spuk war zu Ende.
Während Zamorra und die Entführten durch die Dimensionen geschleudert wurden, hörte er noch schwach den Todesschrei des Schwarzblütigen. Zamorra wartete gegenüber dem Museum auf Nicole. Von dort konnte er die Krankenwagen und Polizeiautos beobachten, die herbeigeeilt waren. »Na, wie war dein Tag im Museum?«, begrüßte ihn seine Partnerin. »Scheint ja ereignisreich gewesen zu sein.« Sie blickte zu den Einsatzkräften hinüber. »Weißt du, Nici«, antwortet er, während er auf das Amulett klopfte, das er sich wieder umgehängt hatte, »ich bin froh, dass Merlins Stern einfach keine Schutzglocke um Dämonen errichten will.« ENDE
Die Rebellin von Avalon von Michael Breuer Nun steht für Zamorra fest: Asmodis ist auf der Suche nach den Tränen LUZIFERs! Dass der ehemalige Teufel sich der Hölle durchaus noch sehr verbunden fühlt, bedeutet für Zamorra aber auch, dass er selbst ein neues Ziel hat – er muss Asmodis daran hindern, das seine zu erreichen, nämlich alle Tränen in seine Hand zu bekommen. Und eine wichtige Verbündete in diesem Kampf könnte sich auf Avalon befinden …