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dtv Napoleon Seyfarth Schweine müssen nackt sein
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»›Schweine müssen nackt sein‹ ist die Geschichte einer Bezwingung: Irgendwann hat das Virus mitten in einem alltäglichen, turbulenten Leben den Napoleon Seyfarth erwischt. Beinahe nebensächlich fand diese fatale Begegnung statt. Ohne großen Kampf, ohne Reue, Klage, Selbsterhöhung oder Selbstmitleid. Napoleon hat das Virus erst einmal verschlungen, verdaut. Irgendwann wird es ihm den Garaus machen. Wenn der Leser, der ihn fröhlich durch die Betten dieser Republik, von Schwanz zu Schwanz, von Bar zu Bar, begleitet, schließlich nach zig Buchseiten endlich auf Aids stößt, geht es ihm wie Napoleon: Das Leben ist zu prall, zu voll, zu ernüchternd kleinlich und dennoch hinterfotzig spannend, als daß nun mit dieser einen Krankheit alles umsonst, weggewischt, untergegangen sein könnte. Die Krankheit kriegt eine schöne, tragende Nebenrolle im absurden Theater, mehr nicht. Wozu hat man so viele Buchseiten grauenhaft komischer altbundesrepublikanischer, homophober Sittengeschichte durchlacht und durchlitten, nur um in Tränen auszubrechen?« (Thomas Kuppinger in ›Zitty‹) Napoleon Seyfarth wurde am 31. August 1953 in Bad Dürkheim bei Ludwigshafen geboren und lebt heute in Berlin.
Napoleon Seyfarth Schweine müssen nackt sein Ein Leben mit dem Tod
Deutscher Taschenbuch Verlag
Für Uwe, Charly, Jessica, Thomas, Alar, Bertram und alle Wohlmeinenden in der ›Berliner Aids-Hilfe‹
Ungekürzte Ausgabe Juni 1995 3. Auflage März 2000 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1991 Edition diá, St. Gallen/Berlin Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: ›Quelle‹ von Andy Warhol © 1994 Andy Warhol Foundation for the Visual Arts/ARS, New York) Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Gesetzt aus der Walbaum 10/12’ Druck und Bindung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Dargestellt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Monitor Printed in Germany • ISBN 3-423-12022-3 dtv im Internet: www.dtv.de
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eute ist der 18. November 1990. Seit fünfundzwanzig Jahren bin ich schwul. Nein, schwul bin ich sicherlich schon vor meinem zwölften Lebensjahr gewesen. Aber gemacht habe ich »es« halt zum ersten Mal – damals vor fünfundzwanzig Jahren. Wie er aussah, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Obwohl es doch immer heißt, daß das erste Erlebnis das wichtigste sei. Nur daß er für mich damals ein uralter Mann war, mit seinen schätzungsweise Mitte Zwanzig, das ist mir noch in guter Erinnerung. Besonders heute, da für mich der Altersunterschied zu Mitte Zwanzigjährigen derselbe ist. Allerdings in die andere Richtung. Den Ort des Geschehens habe ich hingegen ausgezeichnet im Gedächtnis. Es war eine Sackgasse, die beim Tor des Hauptfriedhofes endete, nicht weit von der Stelle, an der heute meine Mutter aus einem Leben voller Reinlichkeit in die ewige Kehrwoche eingezogen ist. Zwölf Jahre zuvor war ich in jenes öde Chemiekaff hineingeboren worden, dessen grüne Lunge eben jener Hauptfriedhof war. Er signalisierte somit, daß die Toten es in dieser Stadt besser haben als die in ihr lebenden Roboter, deren Leben im Schichtwechsel der Chemiefabrik seinen gleichförmigen Rhythmus fand. »Schichtochsen«, so pflegte mein Vater dieses Arbeitsvieh zu bezeichnen, während er selbst als Nachtclub-, später Nightclub-Besitzer ein schlechterer Zuhälter war und von dem Geld eben jener lebte, deren Schichtende er mit ›I1 silencio‹ aus der Musikbox, überteuerten Herrenge7
decken – Bier und Korn – und den Bezirzungskünsten von Tante Nutt die sündige Abrundung gab. Tante Nutt. Diesen Namen hatte ich der »rassigen« Rothaarigen – Rassigkeit war die milde Umschreibung dafür, daß sie behaarte Beine hatte – bereits als Vierjähriger gegeben, nicht wissend, daß Nutte ein Berufsstand und kein Name ist. Sie nahm es mit dem ihr eigenen mütterlichen Humor auf, lachte schallend und schüttelte ihre hochtoupierten Haare, denen sie die Bezeichnung FarahDiba-Frisur gegeben hatte, obwohl sie mehr der gealterten Jovanka Tito glich. »Was für ein süßer kleiner Bub mit seinen großen Augen. Der wird mal genau wie sein Vater.« Eine Prognose, die mir damals noch verlockend schien. Und dann drückte sie mich an ihr großes Dekollete, wohl insgeheim hoffend, daß ich später auch mal andere väterliche Tätigkeiten an ihr auszuüben gedächte. Tätigkeiten, die ich lieber mit den bodygebildeten Zuhälterkollegen meines Vaters hätte ausüben wollen. Später, als sie schon längst im Dienst erblondet war, zwinkerte sie mir, zwischen einem Chemiefachwerker und einem Maurerpolier sitzend, immer aufmunternd zu, wenn ich das Etablissement mit dem sinnigen Namen »Bierstall« betrat. Ein Stall, in dem toupierte Kühe abgearbeitete Ochsen mit Hilfe diverser Reanimationen in Form von »ä Piccolosche und ä Schäschtelsche HB« zu Stierverhaltensweisen zu ermuntern sich bemühten. Verhaltensweisen, die in den heimischen Ställen schon längst von Lockenwicklern und Rücksichtnahme auf Kinder, Kopfweh und Kirche ins statistische Mittel gebracht worden waren. Der »Bierstall« war der letzte Versuch, so etwas wie Lasterhaftigkeit und Aufregung in das Leben zu bringen. Ein Leben, von dessen wohlverdientem Ende 8
meist Grabinschriften wie »Müh und Arbeit war sein Leben, Ruhe hat ihm Gott gegeben« kündeten. Gab es ein Leben vor dem Tod? Für den früh pubertierenden Hans waren diese vierzehntägigen Expeditionen ins Reich der Sündchen, Bierchen, Schnäpschen, Zigarettchen und Betrügerchen immer eine aufregende Sache. Durfte er sich doch bei den Unterhaltungen in den Arbeitspausen – Pfälzer Nutten haben einen ungeschriebenen Tarifvertrag – die neuesten Unterleibsbeschwerden der Damen und die ungewöhnlichsten Wünsche der Kunden mitanhören. Faustfick war schon damals ein Thema. Allerdings mit dem Akzent darauf, die Kunden zu betrügen und mittels Creme und halbgeöffneter Faust dem Freier die Illusion einer heißen Vagina oder vielmehr »Bix«, wie es in der Sprache der Eingeborenen hieß, zu verschaffen. Wie anders waren doch die Unterhaltungen hier als die Unterhaltungen der »richtigen« Tanten im Wohnzimmer meiner Großeltern, bei denen ich nach der Scheidung meiner Eltern ein sogenanntes beschütztes Zuhause gefunden hatte. Meine Mutter hatte nämlich im ›Goldenen Buch der Ehe‹, erschienen 1957, gelesen, was man alles tun müsse, um zur perfekten Haus- und Ehefrau zu werden. Und dies praktizierte sie auf Feudel-komm-raus, um meinen Vater aus den rotlackierten Krallen der »falschen« Tanten zu reißen. Nachdem sie ihn aus der Wohnung und sich um den Verstand geputzt hatte, beschloß der Amtsrichter im Scheidungsprozeß, das Sorgerecht für mich weder der bakteriophoben Mutter noch dem pornophilen Vater, sondern den rechtschaffenen Großeltern väterlicherseits zu erteilen. Ein intelligentes, aufgewecktes Kind, so attestier9
te der psychologische Gutachter im Scheidungsprozeß, bedürfe eines geordneten, geregelten Lebens. Und so bestimmten dann regelmäßige großmütterliche Gewehrsalven wie »Hans, aufstehen! Höchste Eisenbahn für die Schule. Hans, essen kommen! Ich möchte doch auch mal fertig werden mit meiner Küche. Hans, Schulaufgaben!« fürderhin mein gesundes, geordnetes und geschütztes Dasein in der nahen Kurstadt, die sich meine Großeltern zur Residenz erkoren hatten. Haut- oder vielmehr ohrnah durfte ich miterleben, wie mein Großvater die kulturelle Wüste dieser Kleinstadt urbar zu machen suchte. In der Funktion eines Musiklehrers für unmusikalische Bürgersöhne. In der Funktion eines Organisten für die sonntägliche Otto-VersandModenschau in der katholischen Kirche. In der Funktion des Bäckergesangsvereinsdirigenten für stimmgewaltige Bäcker, die den Gesang benutzten, um dem Weib zu entfliehen und den Wein zu finden. Harmoniebedürfnis, Pfälzer Ethos und Rechtschaffenheit waren die Leitmotive in der Fuge dieses Honoratiorenlebens zwischen Kulturarbeit und Stammtisch, deren Generalbaß eine gesunde Familie war. Den Kontrapunkt bildete da mein Vater, der mit den anderen, den »falschen«, Tanten im violetten Mercedes-Benz nach St. Tropez, dem Sündenbabel der bunten Illustrierten, fuhr und die Oggersheimer Antwort auf Gunter Sachs zu werden versuchte. Ein Lebenswandel, der ihm die Verbannung aus dem bürgerlichen Familienleben einbrachte, mir die geballte Fürsorge der Restfamilie – »Das arme Kind, die Mutter im Irrenhaus, der Vater im Bordell!« – und der Restfamilie erwünschten Anlaß zu sittlicher Entrüstung und vor allem Gesprächsstoff, um den uns die Nachbarn beneideten. 10
Denn die einzige Abwechslung in diesem PfälzischSibirien waren die Konzertabende meines Großvaters mit ihren gefälligen Melodien und die Nachmittagskaffees meiner Großmutter. Ein gnädiges Geschick hatte das Anwesen meiner Großeltern genau dorthin bestimmt, wo sich bis zur Sanierung in den fünfziger Jahren die Altstadt befunden hatte, die dann durch ein Einkaufszentrum ersetzt worden war. Von den fünf Kindern, die dem Schoße meiner Oma entsprungen waren, lebten vier – zwei Söhne, zwei Töchter – mit ihren Ehegatten und den Früchten ihrer Schleiflack-Ehebetten in der Stadt. Mein Vater hatte als schwarzes Schaf sehr frühzeitig das Weite beziehungsweise die nahe Metropole gesucht. Ein weiteres gnädiges Schicksal hatte es bestimmt, daß diese vier Ableger der großelterlichen Keimzelle jeweils in einem anderen Viertel wohnten, so daß unsere Familie der Stadt ein vierzackiges Informationsspinnennetz übergestülpt hatte, in dessen Mitte meine Großmutter die Fäden zusammenhielt. Pünktlich 14 Uhr werktags schossen vier einkaufswütige Tanten aus vier Richtungen in das Zentrum dieses Netzes und tätigten ihre Besorgungen, um dann pünktlich 15 Uhr der kaffeekochenden Spinne ihre Aufwartung zu machen. Und so saß da tagtäglich die höchstrichterliche Kommission über Recht und Anstand beisammen, analysierte, vermengte, vermischte und verdichtete die neuesten Nachrichten, um sie dann pünktlich 17 Uhr im jeweiligen Stadtteil zu verbreiten. Die Vorsitzende dieser Kommission war meine Großmutter, die den unterderhand öfter auftauchenden Hinweis auf ihre uneheliche Geburt mit der angeblich adligen Abstammung ihrer Mutter parierte. Sie war unbestrittene Expertin in Geburten, und fast keine dieser Kaffeetafeln 11
verstrich ohne blutrünstige Schilderung mindestens einer Hausgeburt, wobei die Menge des dabei verlorenen Blutes zwischen fünf und zwölf Litern schwankte. Den Vizevorsitz in dieser Runde nahm die älteste Tochter Irene ein, deren Vorname, die Friedliche, im krassen Widerspruch zu ihrem Wesen stand. Sie klagte meist, daß sie als Älteste mütterliche Pflichten bei den anderen Kindern habe mit übernehmen müssen und daß ihr somit ein Großteil ihrer Kindheit und frühen Jugend verlorengegangen sei. Sie hatte beim BDM Strick- und Krankenpflegekurse mitmachen dürfen und galt somit als medizinische Expertin. Daneben war sie als Mitglied des Kirchenchors die kulturelle und als Vorsitzende des katholischen Frauenbundes die höchste moralische Instanz in diesem Damenquintett. Da ihr Mann Abteilungsleiter in einem Elektrowerk war, war sie außerdem überzeugt von ihrem wirtschaftlichen Sachverstand. Die jüngste Tante, die Irenes Mütterlichkeit im Kindesalter am meisten zu erdulden gehabt hatte, war Tante Ute. Sie war mit einem Magersüchtigen verheiratet, den sie mit deftiger Pfälzer Küche zu einem richtigen Mann herausfüttern wollte. Mit dem Erfolg, daß die ehedem hübscheste aller Töchter jetzt sogar für die figürlich »fraulichen« Maßstäbe der Familie zu dick war. Sie wirkte neben ihrem Mann wie Liesl Karlstadt neben Karl Valentin. Ihre monströse Figur pflegte sie mit einem heiteren Wesen und einem aufgesetzten Humor zu überspielen, der in Reimen wie »Der Elefant, das große Tier, braucht hundert Meter Klopapier« seinen peinlichen Höhepunkt hatte. Unter den knausrigen Blicken meiner Großmutter aß sie immer den meisten Kuchen, ohne jedoch zu verabsäumen, ihren hohen Blutzucker zu beklagen.
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Die Gattin des ältesten Sohnes, der als Oberamtsrat der Bezirksregierung seiner Beförderung zum Begierungsrat entgegenverwaltete, saß dagegen klaglos in der Bunde und kniff dafür um so mehr die Augen zusammen, um zu dokumentieren, daß sie unter entsetzlicher Migräne leide. Dieses stumme Leiden wurde dann von meiner Großmutter meist mit einer Gelonidaspende belohnt, die Tante Inge, so der Name der Schmerzensreichen, mit einer Valium, Baldrian und Kaffee zu sich nahm. Mit der Zeit wurde dann das Wundermittel Gelonida mangels Wirksamkeit durch Valoron ersetzt. Außer unter Kopfschmerz litt sie unter ihrer Körpergröße, die sie ihren Mann überragen ließ. Deswegen weigerte sie sich standhaft, Hüte zu tragen, was bei der sonntäglichen Messe als avantgardistisch galt. Die Gattin des jüngsten Sohnes, Tante Gisela, vertrieb sich ihre Ehe mit Onkel Hermann, der als Reisebusfahrer nie zu Hause war, frühmorgens mit Klosterfrau Melissengeist, »wegen des Kreislaufs«, bei der Kaffeerunde bei Oma mit Eierlikör, »weil's so gut zum Kaffee paßt«, und abends mit Weinbrandbohnen und einem kleinen Cognac, »wegen der Einschlafschwierigkeiten«. Sie bildete das proletarische Element in der Damenrunde, was an ihren hausmeisterlichen Eltern lag, schaute meist »unverständnisvoll« aus ihren schmetterlingsförmigen Sechs-Dioptrien-Gläsern und belebte die Konversation allenfalls durch Verständnisfragen, die ihr meist den vorwurfsvollen Blick der anderen eintrugen. Wer vor diesem Tribunal nicht bestand, hatte sein soziales Leben in der Kurstadt verwirkt. Sei es die Familie Alt, die im Urlaub nach Sylt fuhr, um dort nackt zu baden, was Tante Ute, die aufgrund ihrer Leibesfülle nicht mal im Freibad einen Badeanzug trug, sondern ihre Kittelschürze 13
zum Strandkleid umdefinierte, zu der Äußerung verleitete, daß »solche Leute« es dort sicherlich auch öffentlich wie die Hunde trieben. Meine Phantasie war schon so weit entwickelt, daß ich mir Frau Alt dabei bellend vorstellte. Oder sei es der zweite Mann der Tanzlehrerin BeerTrost, die von meiner Großmutter inständig gehaßt wurde, weil Frau Beer-Trost – damals noch bloß Frau Beer – 1949 mit meinem Großvater nicht nur intensiv zu den ›Capri-Fischern‹ getanzt, sondern sich mit ihm auch zwei Stunden außerhalb des Ballsaales im Kurpark unterhalten hatte. »Solange kann sich doch kein Mensch unterhalten« war der allseits nickend aufgenommene Kommentar der Großmutter. Dieser geschlagene Mann hatte als Polizist die Aufgabe, die Bürger der Stadt vor dem Besuch des Skandalfilms ›Das Schweigen‹ auf ihre Volljährigkeit hin zu kontrollieren. Später kam durch eine Indiskretion des Filmvorführers heraus, daß er sich den Film vorher in einer Privatvorführung mit der Kinobesitzerin angeschaut hatte. »Öffentlicher Dienst«, empörte sich die großmütterliche, staatsbürgerliche Gesinnung, »aber bei so einer Frau kein Wunder.« Spannend wurde dieser Intensivkurs an Gemeinheit, Tratsch, Intrigen, Verleumdung und Bigotterie, der mich auf mein späteres Leben im schwulen Klassenkampf bestens vorbereitete, wenn das Gespräch auf den Sohn der Wäschereibesitzerin Steinmetz kam. Dieser verlorene Sohn war dem Terror der Kleinstadtgrabenkämpfe nach Berlin entflohen, um den Beruf des Tänzers zu ergreifen. Oder, wie ich später erfuhr, zu erschlafen. Nach dem Urteil der migränischen Tante Inge waren Tänzer ja schon von vorneherein keine richtigen Männer, da sie alle dürre Beine hätten und nicht so muskulöse wie ihr angetrauter, im Sportverein seine Freizeit verbringender Oberamtsrat. 14
In Anbetracht ihres häuslichen Karl Valentins enthielt sich die gemütliche Tante Ute eines witzigen Kommentares. Dieser Wäschereibesitzerinnensohn hatte nun wirklich die Stirn, nach Bad D. zu kommen und mit einem Mann (!), der einen roten (!) Pullover trug, seine Mutter zu besuchen. »Die arme Frau«, solidarisierte sich meine Großmutter, »erst Kriegerwitwe und dann so etwas.« Tante Gisela schaute noch verständnisloser als sonst durch ihre dicken Gläser und konnte die mitgesprochenen Ausrufezeichen noch immer nicht im Sinne der Anklage interpretieren. Frau Dengler, die unter der Steinmetzschen Wohnung lebte und genau mitbekommen habe, daß der Sohn der Frau Steinmetz mit seinem »Kumpel« in einem (!) Bett geschlafen habe, wurde als Kronzeugin bemüht. Die melissengeistreiche Tante Gisela verstand immer noch nicht die Anführungsstriche und konterte diesen angeblichen Beweis eines ungeheuren Verbrechens mit dem Hinweis, daß die Frau Steinmetz ja nur eine Zweizimmerwohnung habe. Auch die Hinzufügung des Denglerschen Indizes, daß diese nachts so »komische Geräusche« gehört habe, konnte Tante Gisela nicht aus ihrer Arglosigkeit befreien. Meine Oma rang, »mit Rücksicht auf das Kind«, nach einem unverfänglichen Wort. Als Deus ex machina sprang da die hilfreiche Tante Irene ein, die wegen ihres Krankenpflegelehrgangs im Kriege auch als psychologische Sachverständige galt: »Ei, Gisela, merkst du es immer noch nicht. Der Sohn ist ein bißchen DUDUDU.« Der Fuchs war in der Verkleidung des Wortes DUDUDU in den Hühnerstall eingebrochen. Ein aufgeregtes Gegacker vermischte sich mit aufgesetzten Kaffeetassen, Tante Ute nahm sich schnell noch ein Stück Kuchen, und die wissende Großmutter holte eine Gelonida 15
– für Tante Inge – und einen Eierlikör – für Tante Gisela – aus dem Wohnzimmerschrank, auf dem die Verdiensturkunden meines Großvaters – »Er hat sich um das Bäckergesangsvereinswesen verdient gemacht« – aufgereiht standen. Den Enkeln zum Vorbild. Den Gästen des Hauses zum Neid. Verschiedenste Theorien zum »Sosein« des Wäschereibesitzerinnensohnes wurden in der Expertinnenrunde doziert. Mal war es die fehlende väterliche Hand des bei Stalingrad gefallenen Erzeugers. Mal der Lebenswandel der Mutter, die sich zu Schwarzmarktzeiten nicht zu schade gewesen sei und es mit Franzosen getrieben habe. Und daß der Helmut, so hieß der Schandbare, schon als Kind so was Gewisses im Blick gehabt und nie Fußball gespielt habe, erkläre wohl alles. Ich war froh, daß mich während des Geschnatters niemand beachtete und somit auch niemand bemerkte, wie ich knallrot geworden war. Die drei Silben DUDUDU hatten meine Kindheit beendet. DU DU DU. Das stand für anders sein, ausgeschlossen sein, nicht normal sein. Das bedeutete Aufgeregtheit, Empörung, Verachtung der Tantenschar, die für mich die öffentliche Meinung symbolisierte. Daß es 1964 auch für Kriminalität stand, das wußte ich noch nicht. Ich erfuhr es erst später aus ›Stern‹-Berichten über den Knabenmörder Jürgen Bartsch. Daß es auch irgendwie für mich stand, das ahnte ich aber. Sonst wäre ich ja nicht rot geworden. Aber was war es genau? Zum ersten schlafen zwei Männer zusammen im Bett und machen komische Geräusche. Zum zweiten sind es keine richtigen Männer, haben dürre Beine, sind Tänzer und leben in Berlin. Außerdem tragen sie rote Pullover. 16
Ich begann, meine Beine zu betrachten – sie waren Gott sei Dank nicht dünn –, rote Pullover zu hassen und alle Zeitungsartikel, die über Berlin erschienen, eifrig zu lesen. Aber immer war nur von Willy Brandt, der Mauer und irgendwelchen Passierscheinabkommen zu lesen, nie von Ballettänzern. In meiner Not blätterte ich sogar die Otto-VersandKataloge meiner Großmutter durch und betrachtete die Unterwäschereklame. Es war etwas Neues in mein Dasein gekommen. Nicht, daß ich nicht schon früher etwas mit Männern im Sinn gehabt hätte. Mit vier Jahren hatte ich sogar mein erstes Sexualerlebnis, auch wenn es mir als ein solches erst später bewußt wurde. Ich freute mich damals immer auf das samstägliche gemeinsame Baden mit meinem Vater und das Hoppe-Hoppe-Reiter-Spielen mit ihm. Das Pferd war dabei sein Knie und seine Oberschenkel die Rutschbahn. Daß ich dabei einmal, nach vielen Rutschversuchen, ein ganz neues Gefühl bekam und in die Badewanne pinkelte, das interpretierte ich damals noch nicht als Orgasmus. Und daß es mich später mehr anzog, im Schwimmbad auf dem Schoß meiner Onkels zu sitzen als auf den zellulitischen Schenkeln meiner Tanten, hatte mir nie das Gefühl gegeben, anders zu sein. Erst das Verdikt DUDUDU machte mir klar, daß es noch etwas anderes auf der Welt geben mußte als die Lebensweisen, die mir als normal und allgemeingültig vorgelebt wurden. Auf der Welt? Ja. In Berlin? Ja. Aber hier in Bad D.? Ich fieberte Weihnachten entgegen, wo der Wäschereisohn normalerweise seine Mutter besuchte. Ich postierte mich vor seinem Haus in der Hoffnung, mit ihm in Kontakt zu kommen. Er kam aus dem Haus, ging an mir 17
vorbei und beachtete mich nicht. Mein einziger Berührungspunkt zu dieser obskuren Welt nahm mich nicht wahr. Da dieser mich ignorierende Berührungspunkt nicht nur einen Kumpel hatte, der rote Pullover trug, sondern selbst auch rötlich-blonde Haare – genau wie unser früheres Dienstmädchen, das zudem noch weißhäutig war und feuchte Hände hatte –, beschloß ich, in Zukunft rothaarige Männer zu hassen. Ich beschloß überhaupt viel in diesen Weihnachtstagen. Mir war klar, was ich wollte. Ich wollte mit Männern im Bett liegen. Dazu mußte ich nach Berlin. Der einzige Weg, nach Berlin zu kommen, war der des Studiums. Dazu mußte ich Abitur machen. Und deswegen beschloß ich, ein guter Schüler zu werden. Meine schulischen Leistungen verbesserten sich schlagartig. Meinen Lerneifer erklärten meine Großeltern den Nachbarn stolz mit der Wirkung des beschützten Zuhauses, das sie mir böten. Aber bis zum Abitur waren es noch sieben Jahre. Sieben Jahre sind eine lange Zeit, wenn der Otto-Versand-Katalog nur zweimal im Jahr erscheint. Wie so oft gab die allwissende Tante Irene den Anstoß. Da sie im Buchclub war und des öfteren populärwissenschaftliche medizinische Ratgeber zum Einschlafen las, verkündete sie bei einem der Gute-Ruf-Schlachtfeste als Sachverständige, daß solche Kreaturen wie der Wäschereisohn ja, Gott sei Dank, nur im Verhältnis 1:100000 vorkämen. So konnte ich mir leicht ausrechnen, daß ich das einzige Exemplar dieser Spezies im Landkreis um Bad D. war. Aber in der nahen Großstadt, in der mein Vater den guten Ruf der Familie mit Füßen trat und die zusammen mit ihrer Schwesterstadt am anderen Ufer des Rheines
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über vierhunderttausend Einwohner beherbergte, müßten mindestens vier solcher Männer wohnen. Ich widmete die vierzehntägigen Besuche im alkoholischen Reich meines Vaters zu Erkundungszügen durch die Straßen der Stadt. Den ganzen Spätwinter und das Frühjahr hindurch lernte ich bei diesen Streifzügen die Schaufensterauslagen auswendig, ohne allerdings den Artikel zu finden, der mich am meisten interessierte. Im Sommer saß ich stundenlang auf Parkbänken. Leider suchten nur Rentnerinnen das Gespräch mit mir, um mir von ihren Enkeln zu erzählen. Im Herbst, der in jenem Jahr sehr kalt war, erfroren mir beim Spazierengehen fast die Finger, und ich beschloß, wieder einmal, unverrichteter Dinge nach Hause zu fahren. Dank dem Himmel versäumte ich die Rhein-Haardt-Bahn, die um 17 Uhr nach Bad D. fuhr. Die nächste ging erst zwei Stunden später. Ich hatte noch eine Mark und suchte im nahegelegenen Hallenbad eine Wärmestube. Fünfzig Pfennig Leihgebühr für die Badehose, fünfzig Pfennig für den Eintritt in das Paradies, als das es sich später für mich herausstellte. Im Gegensatz zum Hallenbad in Bad D., in dessen beiden Duschkabinen die Badegäste durch einen Vorhang vor unbefugten Blicken abgeschirmt waren und in denen man zudem noch in Badekleidung duschte, kündete hier ein Schild, daß beim Duschen alles abzulegen sei. Als ich die Tür zu dem dampfenden Duschraum öffnete, war ich Hans im Glück. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich nackte Männer. Und zwar nicht einen, nicht zwei, nicht drei – eine ganze Armee bot sich meinen Blicken dar. In der Gesamtheit der Duscher war die Gesamtheit der Jugendbettträume versammelt. Ein Versandhauskatalog ohne Unterhosen. Die Halsschlagader pulsierte.
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Die meisten duschten nur kurz und gingen dann in die Schwimmhalle. Ein Teil jedoch schien sehr reinlich zu sein, seifte sich intensiv ein, spülte den Schaum ab und seifte sich wieder ein. Andere wiederum halfen sich gegenseitig bei der Körperpflege. Sie seiften dem jeweils anderen die schwer zugängliche Rückenpartie ein. Ich bekam Augen wie eine Wildsau in der Duldungsstarre. Ich muß wohl einige Sekunden zu lange geschaut haben. Jene entscheidenden Sekunden, die einen Heterovon einem Homoblick unterscheiden, jenem Insiderblick, bei dem sich zwei Pupillen für den Bruchteil einer Sekunde treffen und dem anderen signalisieren: »Ach, du auch.« Einer löste sich aus der Reinigungsmannschaft, trat auf mich zu und begann, mir den Rücken einzuseifen. In meiner Not mußte ich mich mit der Vorderseite eng an die gekachelte Wand drücken, um eine Reaktion, die mir hier in der Öffentlichkeit unschicklich schien, vor den anderen zu verbergen. Nach ausgiebiger Einseifung des Rückens bewegte sich die pflegende Hand dem Hüftknochen und der Stelle zu, an der damals gerade jene Haare zu sprießen begannen, die man sich Ende der achtziger Jahre aus Modegründen wieder abrasierte. Jetzt wurde aus der duldungsstarren Wildsau eine hysterische Ziege. In panischer Angst zog ich meine Badehose an und floh in die Schwimmhalle. Ich durchlebte eine Achterbahn der Gefühle. Hier die Wollust, da die höchste aller Autoritäten, der Bademeister, der mich zu beobachten schien. Hat er bemerkt, daß ich nicht normal bin? In meinem Kopf die warnende Tante Irene, die immer von Lustmördern erzählt hatte. Im Duschraum die helfende Hand, die das höchste Gut unse-
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rer Familie, die Sauberkeit, auf so angenehme Weise pervertierte. Ich entzog mich den scheinbar bohrenden Blicken des Bademeisters. Ich ging in die Kabine, zog mich an, setzte mich in der Vorhalle neben das Kassiererhäuschen und ließ den Ausgang nicht aus den Augen. Nach einer Ewigkeit kam eine Gestalt heraus, in der ich die helfende Hand des Duschraums wiedererkannte. Das Gesicht ist der Verdrängung anheimgefallen, aber den Rest würde ich heute noch unter Tausenden wiedererkennen. Weißer Popelinmantel, braune spitze Schuhe, Aktentasche, Hut. Heute wäre diese Gestalt für mich der Inbegriff des Kotzbrockens, damals war sie für mich der Inbegriff der Begierde. Er ging an mir, nach einem dieser berühmten Sekundenblicke, die mich knallrot werden ließen, vorbei, drehte den Kopf kaum merklich in meine Richtung und verließ das Hallenbad. Ich lief ihm hinterher wie ein herrenloser Dackelwelpe einem Schäferhund, auf daß er ihn adoptieren möge. Tante Irene hatte mich immer vor Männern gewarnt, die einem Schokolade anböten, um mit einem so »gewisse Sachen« zu machen. Soviel Schokolade gab es nicht auf der Welt, wie ich ihm jetzt angeboten hätte, wenn er bloß stehengeblieben wäre. Er lief etwa hundert Meter vor mir her, drehte seinen Kopf noch einmal kurz herum und bog dann in eine Sackgasse ein, die direkt zum Hauptfriedhof führte. Ich bog auch ein. Er blieb an der Friedhofsmauer stehen. Ich näherte mich ihm auf zehn Meter. Er knüpfte seinen Mantel auf und nestelte an seiner Hose. Ich näherte mich ihm auf drei Meter. Ich sah auf seine Hose. Ein Ding schaute heraus, das keine Ähnlichkeit mit Schokolade, sondern eher mit 21
einer Cabanossiwurst hatte. Er forderte mich auf, näherzukommen. Ich ging bis auf einen Meter zu ihm. Er forderte mich auf, das Ding in meine Hand zu nehmen. Ich tat es. Ich faßte das Ding an, wie meine Großmutter einen Kartoffelstampfer anfassen würde. Er forderte mich auf, das Ding zu bewegen. Ich bewegte es. Ich bewegte es, wie meine Großmutter den Kartoffelstampfer bewegen würde. Er holte meinen Schwanz aus der Hose und zeigte mir, wie man ein solches Ding richtig bewegt. Ich lernte schnell. Unsere Bewegungen wurden immer schneller. Etwas spritzte aus unseren Schwänzen heraus. Vor meinem geistigen Auge erschien die Religionslehrerin, Schwester Leonarda, die uns gelehrt hatte, wie schwer der biblische Onan bestraft wurde, als er seinen Samen auf die Erde geschleudert hatte. Jetzt wurde mir klar, was sie mit Onanie gemeint hatte. Daß so etwas mutuelle Onanie heißt, lernte ich erst später. So standen wir nun, unweit der Stelle, an der meine ewig unruhige Mutter zehn Jahre später ihre ewige Ruhe finden sollte. Mit heruntergelassenen Hosen. Wir zogen uns schnell wieder an. Er schaute in alle Richtungen, ob uns jemand beobachtet hatte, streichelte mir über den Kopf und sagte: »Bubel, jetzt bleiben wir zusammen. Für immer und ewig.« Ich mußte die Straßenbahn noch erreichen. Am 18. November 1965 bin ich also schwul geworden. Oder vielmehr praktizierender Homosexueller. Daß zum Schwulsein mehr gehört, lernte ich erst später. Selbst der Ausdruck »schwul« war mir damals nicht bekannt. Es lag nur ein Jahr zwischen dem Ende meiner Kindheit aufgrund des tantenhaften DUDUDU und dem Beginn des Erwachsenseins mit heruntergelassenen Hosen vor dem Hauptfriedhof. 22
Denn erwachsen werden wollte ich sofort. Ich wollte in die Welt der Männer aufgenommen werden. Deswegen war ich ja auch so wütend über sein onkelhaftes »Bubel«, das mich als ungleichwertig abstempelte. Ich beschloß, jeden Samstag schwimmen zu gehen. In diesem Entschluß wurde ich allerdings nach vier Straßenbahnstationen wankend, als ein uniformierter Polizist einstieg. Mein erster Gedanke bei seinem Anblick war, daß er mich jetzt verhaften würde. Auf unerklärliche Weise war mir die Strafbarkeit des Verbrechens klar, das ich weniger als eine halbe Stunde zuvor begangen hatte. Und das, bevor ich von der Existenz des Paragraphen 175 überhaupt wußte. Ich machte mich ganz klein, stieg an der nächsten Haltestelle aus, um nochmals zwei Stunden auf die nächste Straßenbahn zu warten. Zur Strafe für die Verspätung mußte ich zu Hause sofort ins Bett, wo ich die duschenden Männer noch lange Revue passieren ließ. In der Folgezeit wurde ich ein sehr eifriger Schwimmer. Onkel Arno, der Mann der migränenreichen Inge, der früher Zweiter bei den Hitlerjugendschwimmeisterschaften gewesen war, sah in mir seinen legitimen Nachfolger und schenkte mir eine Jahreskarte für das Ludwigshafener Hallenbad. Dort gab es ja, wegen der Länge des Beckens, bessere Trainingsmöglichkeiten als in Bad D. Es war mein schönstes Weihnachtsgeschenk, und ich war ihm sehr dankbar. Zur Freude meiner Familie führte ich ein sehr geordnetes Leben. Morgens in der Schule. Mittags fleißig Hausaufgaben machen und lernen. Abends nach dem Fernsehen ins Bett, wo ich mich ungestört meinen Phantasien widmen konnte, und samstags zum Schwimmtraining. Man war 23
froh, daß ich mich nicht durch Mädchengeschichten von der Schule und vom Training abhalten ließ. »Unser Hans ist halt ein Spätentwickler«, diagnostizierte meine Großmutter und schaute auf Tante Ute, die als »relativ spätes Mädchen« erst mit Dreißig ihren Karl Valentin geheiratet hatte. Es begann die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, der mit Verzögerung auch die Pfälzer Provinz erreichte. Ludwig Erhard war abgetreten worden, die große Koalition Brandt-Kiesinger war angetreten, und von Berlin schwappten die ersten Meldungen von der Apo herüber. Langhaarige Gammler waren das Gesprächsthema der großmütterlichen Kaffeekränzchen. In den Illustrierten erschienen zum Entsetzen der vereinigten Tantenschar die ersten Fotoberichte von Berliner Kommunen. »Die machen es da alle wild durcheinander«, berichtete Tante Irene aus erster Hand, »so was ist ja auch nur in Berlin möglich.« Berlin bekam bei mir einige Pluspunkte mehr. Meine Großmutter begann, die Illustrierten vor mir zu verstecken. Ich holte sie nachts immer aus dem Küchen-schrank, wo sie im Gänsebräter versteckt waren. Oswalt Kolle klärte darin auf. Die ersten nackten Körper waren in seinen Artikeln abgebildet. Die sexuelle Revolution wurde ausgerufen. Anfänglich hielten die Dämme in Bad D. noch. Aber sie wurden langsam brüchig. Schon gab es die ersten Siebenmonatskinder. Was gestern verboten war, war zwar heute noch nicht erlaubt, aber zumindest geduldet. Wenn auch schweren Herzens. Nur die Damen jenseits des Klimakteriums waren die letzten Bollwerke aus Volkswartsbundzeiten und erklärten jede Peinlichkeit zum Sittenskandal: So als die Tochter 24
des Besitzers der Metzgerei Küchenberger, die eine schweinsförmige Figur hatte, im Karneval 1968 vor den elf versammelten Tollitäten im fleischfarbenen Trikot den sterbenden Schwan tanzte. In einem seltenen Anfall von nicht gereimtem Humor bezeichnete die neidische Tante Ute diese Darbietung als den Tanz des sterbenden Schweines, den Fräulein Küchenberger vor elf Senilitäten getanzt habe. Aber die neue Zeit hielt unaufhaltsam Einzug. Das Mittelalter, also die Männer und Frauen in den sogenannten besten Jahren zwischen Vierzig und Fünfzig, begann, sich als modern und aufgeschlossen zu bezeichnen. Die jungen Leute, das waren die zwischen Fünfundzwanzig und Vierzig, legten sich das Adjektiv »progressiv« zu, und die Jugend war antibürgerlich. Modernität war die Umschreibung für das Bestellen von Beate-Uhse-Katalogen im damals ersten Sexshop der Pfalz in Ludwigshafen und Aufgeschlossenheit das Synonym für das Ausprobieren der in diesen Läden angebotenen exotischen Artikel. Der Höhepunkt der Aufgeschlossenheit war erreicht, als der Winzer Kersten sich hinter seinem Weingut einen Swimmingpool bauen ließ und seine angetraute Erna sich in einem schwarzen Kleidungsstück, das im Reizwäschekatalog als Negligé bezeichnet, von Erna Kersten aber »Nacklischei« ausgesprochen wurde, zur Einweihung in die Fluten stürzte. Der fröhliche Weinberg. »Wo soll das alles enden«, haderte meine Großmutter ob dieser pfälzischen Dolce Vita. Die Progressivität der »jungen Leute« äußerte sich darin, daß man offen zugab oder zumindest vorgab, SPD zu wählen, und sich die Haare bis zum Hemdkragen wachsen ließ. Auf der Seite der Jungmänner jedenfalls. Oder sich 25
den Rocksaum bis über die Fußballerknie kürzte. Auf der Seite der Jungfrauen jedenfalls. Die antiautoritäre Jugend bezog ihre Modeanregungen aus der ›Bravo‹. Doktor Sommer lehrte sie darin, wieviel Arten des Küssens es gibt, was ein Schmetterlingskuß ist und von was man keine Kinder bekommen kann. Antiautoritär, wie man war, besuchte man heimlich Filme wie ›Zur Sache, Schätzchen‹ und imitierte die Sprachgewohnheiten der Hauptdarsteller. »Das wird böse enden.« Es war schick, frustriert zu sein. Der Ausbund der Antibürgerlichkeit war das Tragen von Hosen mit weitem Schlag und von Hemden, denen man die Bezeichnung »Kasatschokhemden« gab und die den Kosakenhemden aus ›Doktor Schiwago‹ nachgeschneidert waren. Wie spießig waren doch die »Alten« mit ihrem Don Kosaken-Chor. Der Kampf gegen das Establishment zeigte sich vor allem darin, daß man sich bei Volksfesten nicht in das Festzelt der Alten setzte, wo die Egerländer und Herb Alpert gespielt wurden, sondern in ein eigenes Jugendzelt, wo Herb Alpert und The Monkeys gespielt wurden. Und natürlich war man auch strikt gegen die bürgerliche Sexualmoral. Man distanzierte sich von den Spießern, die brav verheiratet waren und während der Volksfeste nach dem Genuß einiger Schoppen Wein mit ihren jeweiligen Schunkeldamen in den Weinberg gingen, um sich dort zu unterhalten. Nein, so spießig wollte man nicht sein. Man schunkelte zu den Beatles. Man lernte die Kolle-Artikel auswendig und Doktor Sommer von der ›Bravo‹. Bei jeder Gelegenheit redeten wir über Sex. Im Reden waren wir alle Meister. Ich an vorderster Stelle.
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Da niemand von meinen Schwimmbad-Aktivitäten erfahren durfte und ich damals dachte, außer mir gebe es keinen Gesinnungsgenossen mehr auf der Schule – ich täuschte mich darin mehrfach –, verschlang ich, was mir in die Finger kam und was von weiblicher Sexualität handelte. Ich kannte sämtliche erogenen Zonen der Frau auswendig. Ich wußte genau, was Frauen wünschen. Man beneidete mich. Ich gab vor, in Ludwigshafen eine Freundin zu haben, die ich jeden Samstag besuchen würde. Also zur besten Badezeit. Man beneidete mich noch mehr. Eine Diskothek »La Cave«, todschick in einem Weinkeller, wurde im Herbst 1968 eröffnet. Die Jungen saßen an der Bar und tranken Rotwein mit Cola. Die Mädchen saßen an Tischen und tranken nur Cola. Heiße Rhythmen erklangen. Die Geschlechter blieben unter sich. Man ging getrennt nach Hause. Man entschloß sich, in die Tanzstunde zu gehen. Diese altehrwürdige Institution war zwar alles andere als progressiv, antibürgerlich und antiautoritär. Aber eben die einzige Möglichkeit, an das jeweils andere Geschlecht zu kommen. So wetterte man morgens auf dem Schulhof noch heftig über den »altmodischen Kappes«, traf sich aber abends dennoch in den Räumen der Tanzlehrerin Beer-Trost. Man versicherte sich dort gegenseitig, nur aufgrund des Zwanges der »Alten« gekommen zu sein. Da die halbe Klasse dort angemeldet war, entschloß sich mein Großvater, auch mir die Tanzstunde ans Herz zu legen. Hatte er die traditionelle Verknüpfung mit dem Hause Beer-Trost schon 1949 begonnen, als er sich mit der Tanzlehrerin bei den ›Capri-Fischern‹ unterhalten hatte, so sollte jetzt, 1969, ich, sein Enkel, die Familien27
tradition fortsetzen. Dies stieß auf den erbitterten Widerstand meiner Großmutter. Sie war der Auffassung, daß »Frauen, die anderen Frauen die Männer wegnehmen, pädagogisch völlig ungeeignet« seien. Frau Beer-Trost machte eine kurze Pause bei der Verlesung der Teilnehmerliste, als ich alphabetisch an der Reihe war. Sie blickte mich maulwurfsäugig an, denn sie verabscheute Brillen, und fragte mich: »Sind Sie der Enkel vom Karl, äh, vom Herrn Kantor Seyfarth?« Als ich bejahte, erhob sie sich, stampfte auf mich zu und schüttelte mir die Hand. »Tanzen konnte ihr Großvater, da machen Sie sich keine Vorstellung.« Mit ihren Pumps, in die die stützgestrümpften Beine eingelassen waren, sah sie aus wie die Brokatausgabe von Daisy Duck. Ich war aber baß erstaunt, daß sie uns trotz ihrer Nilpferdfigur die ersten Tanzschritte leichtfüßig beibrachte. Es war Tradition im Hause Beer-Trost, daß die Tanzpaare von der Tanzmeisterin höchstselbst zusammengestellt wurden. Man munkelte sogar in Bad D., daß sich Frau Beer-Trost vor jeder Ballsaison die Grundbuchauszüge hole, um die Paare nach der Anzahl der bewirtschafteten Hektar zusammenzustellen. Sie schien ihre eigene Bodenreform zu betreiben. Mir – als Honoratiorenenkel – wurde die Tochter des Bürgermeisters zugeteilt. Ein anämisches Wesen, das seine Locken zu einer Hochfrisur gesteckt hatte und mir als Angela vorgestellt wurde. »Das heißt Engel, und so ist sie auch«, raunte mir unsere pfälzische Isadora Duncan zu, kupplerisch mit den Augen zwinkernd. Nachdem wir uns eine Doppelstunde lang mühsam übers Parkett geschoben hatten, beendete Frau Beer-Trost die Tanzstunde »für heute«, nicht ohne uns vorher aufge28
fordert zu haben, daß wir als Kavaliere die Damen nach Hause zu begleiten hätten. Die Mehrheit beschloß jedoch, erst dem »La Cave« einen Besuch abzustatten, wo Rotweinschorle und heiße Musik auf uns warteten. Diesmal wagten sich die Damenund die Herrenwelt gemeinsam auf die Tanzfläche. Mein Engelchen versuchte den ganzen Abend den Eindruck zu erwecken, sie sei ein süßes, unschuldiges Ding. Ich versuchte, ihre Unschuld zu respektieren, solange es mir möglich war. Der Stehblues beraubte mich jedoch aller meiner Ausreden. Wir mußten engangeschmiegt tanzen. Ich beobachtete meine Klassenkameraden aus den Augenwinkeln. Sie knutschten alle schon. Ich ergab mich in mein Schicksal. Ich referierte innerlich alle Kußformen, die ich bei Doktor Sommer gelesen hatte. Ich steckte meine Zunge in ihren Mund und versuchte, den Eindruck des Erregtseins zu simulieren. Ich versuchte mich zu zwingen, erregt zu sein. Es gelang mir nicht. Nicht mal die Vorstellung, mit Mark Spitz zu knutschen, ließ bei mir die geringste biologische Reaktion ablaufen. Engelchen bemerkte es offensichtlich nicht. Und, was noch viel wichtiger war, meine Klassenkameraden genausowenig. Seit dem Abend galt ich als der Hecht, der den schärfsten Karpfen abgeschleppt hat. Seit dem Abend hieß es, der Enkel vom Seyfarth und die Tochter vom Streckfuß gehen zusammen. Meine Samstage im Hallenbad fielen bis zum Abschlußball ins Wasser. Ich wurde statt dessen von Familie Streckfuß zum Kaffeetrinken eingeladen. Meine ansonsten sparsame Großmutter gab mir einen extrateuren Blumenstrauß mit für die »sehr vornehme und gebildete Frau Bürgermeister« und 29
ermahnte mich, den Beruf meines Vaters mit Restaurantbesitzer anzugeben. Das war die von der Familie für die Außenwelt bestimmte Sprachregelung. Frau Streckfuß bemühte sich rührend, vornehm zu wirken. Da der Pfälzer Dialekt keinen Unterschied zwischen »sch« und »ch« macht und der Pfälzer nur unter großer Anstrengung fähig ist, »ch« einigermaßen richtig auszusprechen, wirkt er bei dem Versuch, hochdeutsch zu reden, immer ein wenig tolpatschig. Frau Streckfuß empfing mich mit formvollendetem Hochdeutsch: »Naaah, junger Monn, wie geht's donn voran in der Chule? Was für oin wunderschäner Blumenchtrauß.« Sie legte Wert auf »eune gebüldete Konverzation«. Sie fragte mich nach meinen Liebhabereien. »Schwimmen«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Auch ließ sie nicht unerwähnt, daß Goethe ihr Lieblingskomponist sei. »Unsere Familie ist nämlich sehr musikalisch, müssen Sie wissen«, fügte sie hinzu. Und als ich dann großmutterwunschgemäß die Restaurants meines Vaters zum besten gab und ebenso großmutterwunschgemäß meine verrückte Mutter für tot erklärte – »Brustkrebs!« – »Sie Armer, wie tragisch!« –, strahlte Frau Streckfuß vom Doppelkinn bis zur Dauerwelle. Meinen damaligen Berufswunsch, Medizin zu studieren, quittierte Frau Streckfuß mit dem Aufschrei: »Giebts deees, so an Zufall.« Immer wenn sie aufgeregt war, fiel sie in den richtigen Dialekt zurück. Ihr Engelchen, Angela, den Namen habe sie selbst ausgesucht, wo war sie jetzt stehengeblieben, ach so, ja, ihr Engelchen möchte nämlich medizinisch-technische Assistentin werden. Und vor ihrem geistigen Auge erschien eine große Arztpraxis am Stadtplatz, in der ich praktizierte und
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Engelchen als meine anfänglich mithelfende Gattin die Krankenscheine sortierte. Somit war ich verurteilt, zum Abendessen zu bleiben. Es wurde aufgetischt, was die Wurstkammer hergab. Der heimgekehrte Vater gab sich besonders leutselig. Er lud mich zur Besichtigung des Weinkellers ein, während Engelchen mit ihrer Mutter den Abwasch machte. »Das gibt mal eine perfekte Hausfrau«, pries er seine Tochter mir gegenüber an. Und die heutige Jugend sei gar nicht so schlecht wie ihr Ruf Man habe in seiner Jugend ja selbst mal über die Stränge geschlagen. Und Bad D. sei ja nun mal, Gott sei Dank, nicht Berlin. Und so wurde ich nach mehreren Viertel Wein nach Hause entlassen, wo meine Großmutter wartete, um sich detailliert Bericht erstatten zu lassen. Der Abschlußball des Tanzkurses fand im Kurhaus statt. Die antiautoritäre Jugend hatte sich in Smokings geworfen und tanzte mit Pendants, die in Rosa, Bleu oder Chamois gehüllt waren. Rund ums Parkett waren Tischreihen aufgestellt, an denen die gerührten Verwandten saßen. Familie Streckfuß thronte zusammen mit meiner Familie wie bei einem Staatsbankett. Meine Großmutter hatte sogar ihre Feindschaft mit Frau Beer-Trost für einen Abend begraben, sich Uralt-Lavendel hinter die Ohren gesprenkelt und war mit ihrem Pompadour und ihrem Gatten erschienen. Man versicherte sich gegenseitig, wie wohlerzogen die jeweils anderen Kinder seien. Auch wenn sie ein wenig zu lange Haare hätten. Aber das sei ja modern. Man müsse ja mit der Zeit gehen. Und nur für einen kurzen Augenblick gab es für intimere Kenner unserer Familie einen kleinen Mißklang, als mein Großvater die Königinmutter des Abends, Frau Beer-Trost, zum 31
Walzer aufforderte. Meine Großmutter ging während dieser Zeit auf die Toilette. Nach Polonaisen, Walzern und Tangos sollte auch die Jugend zu ihrem Recht kommen, und es durfte Let Kiss, Kasatschock und Rock'n Roll getanzt werden. Der Saal kochte. Die Kellner kamen mit den Bestellungen nicht mehr nach. Einer gefiel mir besonders. »California's dreaming on such a winters day.« The Mamas and the Papas entführten mich aus meinem pfälzischen Zimmer nach Kalifornien. Ich stellte mir Hippies vor, die nachts nackt im Meere badeten, und konzentrierte mich besonders auf die männlichen Exemplare. Mein Zimmer hatte ich mit Ausschnitten aus der ›Bravo‹ dekoriert. Den Mittelpunkt bildete ein Centerfold von Mark Spitz. Zur Tarnung hing, als einziges weibliches Wesen, Emma Peel im Zimmer, eine karatekämpfende Amazone aus einer Krimiserie, die damals sehr berühmt war. Ich hatte nach dem Abschlußball und einer in der darauffolgenden Woche veranstalteten Party wieder meine Hallenbadsamstage aufgenommen, die mir attraktiver schienen als die Streckfußschen Kaffeenachmittage. Zu der Party hatte der Sohn des Chefarztes des »Sanatoriums Sonnenwende« eingeladen, der voller Stolz einen Partykeller sein eigen nannte. Geladen waren zehn Jungen unseres Tanzkurses mit ihren jeweiligen Damen. Alles war mit Rotlicht schummrig ausgeleuchtet, was für erotisch gehalten wurde. Und auch an Cola-Rotwein wurde nicht gespart. Die Dramaturgie des Chefarztsohnes sah vor, anfänglich nur Undergroundmusic zu spielen und dann zum Blues
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überzugehen, damit »man mal mit den Weibern richtig fummeln« könne. Der Clou des Abends war ein Nebenraum, in dem Matratzen lagen, wo sich die Akteure des Abends miteinander zurückziehen konnten. Es wurden Zettel verteilt, auf denen die Zahlen 1 bis 10 standen. Jedes Paar durfte beziehungsweise mußte einen dieser Zettel ziehen. Damit war die Reihenfolge festgelegt, in der sich die Paare für jeweils zehn Minuten zurückziehen durften beziehungsweise mußten. Angela und ich hatten die Nummer 3. Die beiden ersten Paare gingen nach nebenan, während wir im Partyraum rotweintrinkend die Geräusche aus dem Nebenraum verfolgten. Sobald ein Stöhnen zu hören war, johlte der Rest der Mannschaft. Jeweils ein stolzgeschwellter Junge und ein sündig lächelndes Mädchen kamen aus dem Matratzenraum wieder heraus. Das zweite Paar ging hinein. Dieselbe Prozedur. Nun waren wir an der Reihe. Angela schaute mich mit einem Lächeln an, das sie für sündig und gewinnend hielt. Ich versuchte krampfhaft, meine Fluchttendenzen unter einer selbstsicheren Machomaske zu verbergen. Während der vergangenen zwanzig Minuten hatte ich mir Mark Spitz in allen Positionen vorgestellt. Vergebens. Mein Schwanz hatte, statt nach außen zu erigieren, sich schutzbedürftig immer mehr in die Bauchhöhle verzogen. Wir legten uns nebeneinander und knutschten. Ich repetierte alle auswendig gelernten erogenen Zonen der Frau und leckte sie ab. Ich hatte gelernt, daß nach dem Petting der Geschlechtsverkehr zu erfolgen habe. Ich beschwor meinen Schwanz zu erigieren. Er weigerte sich. Sie versuchte meinen Schwanz anzufassen, was einer Bankrotterklärung meiner gespielten Erregung gleichgekommen wäre. Ich entwand mich wie eine 33
Schlange ihren Grapschversuchen. Ich leckte ihr, um den Eindruck des erfahrenen Liebhabers aufrechtzuerhalten, den Bauchnabel und die Oberschenkelinnenseiten – »erogene Zonen zweiter Ordnung«, hatte in der ›Bravo‹ gestanden – und machte in meiner Verzweiflung und unter Aufbietung aller Energien etwas, was im Lexikon als Cunnilingus definiert wird. Sie begann, Gott sei Dank, zu stöhnen, und zwar, Gott sei Dank, so laut, daß es auch im Nebenraum gehört werden konnte. Pflichtgemäß täuschte ich einen Orgasmus vor. Beim Betreten des Partyraumes trafen mich anerkennende Blicke der Jungen, und ich versuchte, besonders selbstsicher zu wirken. Nach einem weiteren RotweinCola brachte ich sie nach Hause. Ich nahm mir vor, wieder häufiger schwimmen zu gehen. Die folgenden beiden Wochen ging ich ihr aus dem Weg, wo ich nur konnte. Auch einen Brief von ihr, in dem sie die Frage stellte, was sie wohl falsch gemacht habe und ob sie mir als Liebhaberin nicht feurig genug gewesen sei, ließ ich unbeantwortet. Einige Zeit später traf ich sie auf dem Bahnhofsplatz, Hand in Hand mit dem Chefarztsohn, der mich triumphierend anblickte. Ich war auf der einen Seite froh, daß sich das Problem auf solche Weise gelöst hatte, andererseits unheimlich sauer, diesem Chefarztarschloch einen Anlaß zum Überlegenheitsgefühl geliefert zu haben. Zwei positive Dinge hatte die Sache aber doch gehabt. Frau Streckfuß konnte jetzt statt auf eine Arztpraxis am Stadtplatz auf ein Sanatorium am Sonnenberg spekulieren. Und mein Ruf als Heterosexueller war seit dieser Party in Bad D. über jeden Zweifel erhaben. Silvester 1969. Mein letztes Silvester im Kreise der Familie. Zum letzten Mal durfte ich geballte Harmonie 34
und geballte Fröhlichkeit erleben. Tante Ute, die Immerfröhliche, hatte das Wohnzimmer festlich ausgeschmückt. Luftschlangen waren von der Wohnzimmerlampe strahlenförmig zu den Wänden gespannt. Die Wände selbst waren mit bunten Luftballons geschmückt, die Möbel mit buntem Kreppapier vor den Folgen ausgelassener Fröhlichkeit geschützt. Mir offenbarte sich das gesamte Kaleidoskop meiner Kindheit. An der einen Seite des Tisches waren die Damen aufgereiht, und zwar in der Reihenfolge ihrer Bedeutung: meine Großmutter; Tante Irene, die Allwissende; Tante Ute, die Fröhliche; Tante Inge, die Migränenreiche; Tante Gisela, die Kurzsichtige. Ihnen gegenüber die zugehörigen Herren: mein Großvater, der an diesem Abend seinen Patriarchenplatz am Kopfende des Tisches zugunsten seiner älteren Schwester geräumt hatte; Franz, der Elektroingenieur von Tante Irene; Friedel, der Maler von Tante Ute; Arno, der Oberamtsrat beziehungsweise inzwischen Regierungsrat von Tante Inge und Hermann, der Reisebusfahrer von Tante Gisela. Ich, als Ältester der Enkelschar, durfte den Vorsitz an einem Nebentisch einnehmen, umgeben von entsetzlich wohlerzogenen Blagen, die Gott sei Dank schon um 22 Uhr ins Bett geschickt wurden, nachdem die Tischfeuerwerke ihre Konfettimassen auf den schwer zu saugenden Teppichboden gefeuert hatten. Den Vorsitz des Erwachsenentisches nahm, wie gesagt, die Schwester meines Großvaters ein, Elisabeth Angstenberger, geborene Köchel, die der ersten Ehe der Mutter meines Großvaters entstammte. Als Älteste der Familie, Jahrgang 1894, fühlte sie sich als Familienoberhaupt und berufen, in allen wichtigen Fragen, und das waren für sie alle Fragen, Mitsprache- und Anhörungsrecht zu haben. Da ihr Vater, der Herr Köchel, angeblich über irgend35
welche Ecken mit dem Köchel des Mozartschen Verzeichnisses verwandt war, führte sie ihre Abstammung direkt auf Mozart zurück und war fest davon überzeugt, für die Musikalität der Familie und insbesondere die meines Großvaters direkte genetische Verantwortung zu tragen. Sie lebte im permanenten künstlerischen Wettstreit mit meinem Großvater. Erzählte dieser von seiner 1929 komponierten Oper, der ›Nonnenusel‹, – »Leider ist die Partitur im Krieg verbrannt«, pflegte er immer zu seufzen – so setzte sie dem immer die Krone auf, indem sie erzählte, wie viele Gedichte sie geschrieben und welche von ihnen sie zusätzlich auch vertont habe. Sie lebte in Frankenthal, war die Witwe eines Mannes, dessen Existenz sie mit keiner Silbe jemals erwähnte, und hatte früher mal in der Kunsthalle Mannheim »als Direktrice«, wie sie es ausdrückte, »als Sekretärin«, wie meine Großmutter nachschob, gearbeitet. Außer über ihren Köchelvater sprach sie am meisten von ihrer Bekanntschaft mit dem Maler Paul Klee, dessen »wunderschöne Hände« sie immerzu erwähnte. Mit einem vielsagenden Lächeln, so daß der Zuhörer nie genau wissen konnte, ob Herr Klee die Frau Angstenberger mit diesen Händen gestreichelt oder gewürgt hatte. Am gefürchtetsten war, wenn sie das Hauptopus ihres künstlerischen Schaffens erwähnte, das ›Frankenthaler Lied‹. Dazu verdammt, in dieser Kleinstadt mit einem Mann zu leben, dessen einzige Eigenschaft gewesen zu sein schien, daß er Zither spielen konnte, und den sie nur genommen habe, weil ihr Verlobter – »Was für ein schöner Mann!« – im Ersten Weltkrieg gefallen sei, hatte es sie immer geärgert, daß über alle bedeutenden Städte der Welt ein Lied existierte. München hatte sein Hofbräuhaus, Berlin seine Berliner Luft, nur Frankenthal war noch mit 36
keinem Ton in das deutsche Liedgut eingegangen. Aber Frankenthal hatte Elisabeth Angstenberger. Und so setzte sie sich in den zwanziger Jahren an ihren Jugendstilschreibtisch und dichtete: »O Frankenthal, du traute Stadt, wie lieb' ich dich so sehr. Wer dich ins Herz geschlossen hat, gibt dich nie wieder her.« Und da über den Herrn Köchel Mozartsches Blut in ihren Adern wallte, faßte sie dieses Schmuckstück deutscher Dichtkunst auch noch in eine gefällige Melodie, die sie in der festen Überzeugung, sie könne Klavier spielen und habe eine Stimme, bei jeder passenden Gelegenheit, und sie fand jede Gelegenheit passend, zum besten gab. O Frankenthal Musik und Text von Elisabeth Angstenberger Alle Rechte vorbehalten
O Frankenthal, du traute Stadt, wie lieb' ich dich so sehr! Wer dich ins Herz geschlossen hat, gibt dich nie wieder her! Die Gässchen klein, der Türme Zier, die Heimat spricht so laut – :Hoch oben auf des Daches First hat gern der Storch gebaut.: Die Kinder spielen Ringelspiel in ewig neuer Kraft, Die Alten kommen auch zum Ziel, sie labt der Rebe Saft. Der Mägdlein Schar so rank und schlank, mit Augen klar und hell, :Die Burschen wissen das fürwahr und sind drum gern zur Stell'!: Die Hände rühren sich mit Fleiß, es werket allerorts, Macht Müh' und Arbeit noch so heiß, die Freud' kommt nicht zu kurz. Drum ist der Frohsinn gern zu Gast in uns'rer trauten Stadt – :Glaubst du es nicht, so geh mit mir und freu dich einmal satt!: Und müßt ich einmal fort von dir, du liebes Frankenthal – Mein Herz gehört in Treue dir, du bist mein Ideal! Mögst blühen du, gedeih'n hinfort in Frieden, Glück und Ruh' – :Behüt dich Gott, du teurer Ort! Dir trink ich freudig zu!: 37
So auch an diesem Abend. Das Bleigießen war vorbei. Die Tischfeuerwerke gezündet. Die lustigen Kopfbedeckungen, die sich die versammelte Familie auf die Dauerwelle beziehungsweise Glatze gesetzt hatte, waren aufgrund des Genusses einiger Gläser Bowle schon ein wenig schief. Die Kinder zu Bett. Mit Ausnahme des Ältesten, der »ja schon fast ein Mann ist«. Da begann das ernsthafte Gespräch über das abgelaufene Jahr. Die Frauen beratschlagten die Zahl der Ehen, die jenes Jahr im Standesamt geschlossen worden waren, und spekulierten darüber, welche wohl auf Dauer gutgehen würden. Die Männer politisierten. Denn welchen Umbruch mußte man im Staat erleben: Die sozial-liberale Koalition war angetreten, mehr Demokratie zu wagen. Die Grundfesten der Bundesrepublik waren ins Wanken geraten. Die Familie, das höchste Gut des Staates, war gefährdet. »Die Sozzen« hatten sogar den Paragraphen 175 revidiert. Der Adenauer würde sich im Grabe rumdrehen. Bei der Erwähnung des Paragraphen 175 hatte Elisabeth Angstenberger aufgehorcht. Sie hatte sich schon während des gesamten Gespräches nicht entscheiden können, welcher Fraktion sie die Ehre ihres Vorsitzes zu geben gedenke, der der Frauen oder der Männer. Jetzt aber war ihre Stunde gekommen, ihren Familienoberhauptsrat den Männern zukommen zu lassen. »Aber Karl«, neigte sie sich meinem Großvater zu, »das ist doch ganz gut so, daß der Paragraph abgeschafft ist. Denk doch mal an den Fritz.« Fritz war der ältere Bruder meines Großvaters, also der Stiefbruder von Frau Angstenberger. Er war Schauspieler geworden und 1934 nach England emigriert. Irgendwann in den fünfziger Jahren war er gestorben und in seiner Familie, die sich ansonsten mit jedem noch so geringen 38
Verdienst brüstete, den einer der ihren sich zu erwerben die Peinlichkeit hatte, mit keinem Wort mehr erwähnt worden. Mein Großvater gab vor, nicht zu verstehen, was Tante Elisabeth wohl mit ihrer Anspielung meine. Triumphierend griff sie zu ihrer Handtasche, die wegen der Unmenge der Dinge, die sie immer mit sich herumschleppte, die Ausmaße einer Einkaufstasche hatte, und wühlte eine Zeitlang darin. Sie nahm einen Umschlag, der eine Unmenge Fotos enthielt, heraus und sortierte. Entgegen ihrer sonstigen Art vermied sie es diesmal sogar, einige der Fotos ihres Verlobten, der im Ersten Weltkrieg gefallen war, vorab herumzureichen. Sie suchte zielstrebig nach dem Corpus delicti. »Da ist er ja, mein Fritzel«, triumphierte sie, das Foto dem betretenen Großvater zeigend. Meine Großmutter versuchte die Situation zu überspielen, indem sie fragte, ob sie noch was zu essen aus der Küche holen solle. Aber sogar bei Tante Ute siegte die Neugier über den sonst allgegenwärtigen Hunger. Das Foto zeigte – eine Frau in einem Charlestonkleid mit Perlenkette und einer Frisur, die in sogenannten Herrenwinkern auslief Allein die festen Beine waren ein Indiz dafür, daß sich hinter der abgebildeten Dame mein Großonkel Fritz verbergen könnte. Meine Großmutter schaute meinen Großvater mit einem Blick an, der besagen sollte: »Da siehst du wieder mal, deine Schwester!« Das Foto wurde herumgereicht, und nur Tante Gisela durchbrach das allgemeine Schweigen mit der Bemerkung: »Wie an Fastnacht.« Und dann wurde in den letzten neunzig Minuten der sechziger Jahre das allgemeine Harmoniebedürfnis von dem Bedürfnis, schmutzige Wäsche zu waschen, verdrängt. Tante Elisabeth vergaß weder zu erwähnen, daß meine Großmutter ein uneheliches Kind sei, noch daß 39
diese meinen Großvater, beziehungsweise er sie, wegen der embryonalen Tante Irene habe heiraten müssen. Noch daß mein Urgroßvater, der Vater meines kantoralen Opas, ein Schürzenjäger war, das Vermögen ihrer Mutter und somit auch ihr Erbteil mit liederlichen Weibern durchgebracht habe und, »Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sicher«, letztendlich an Syphilis gestorben sei. Im Gegenzug warf meine Großmutter der Frau Angstenberger, geborene Köchel, vor, daß diese immer ihren Mann vernachlässigt habe und, statt ihm ein Abendessen zu kochen, mit ihren Chefs in der Kunsthalle »Überstund'« geleistet habe. Auch ihre Freundschaft mit einem Parteisekretär kam bei dieser Gelegenheit auf den Tisch, wobei meine Oma sich eilte zu betonen, daß weder sie noch ihr Mann jemals in der bewußten Partei waren. Tante Irene rettete die Situation mit dem Hinweis, daß es gleich zwölf sei, und öffnete die Sektflaschen. In der allgemeinen Anstoßseligkeit nutzte ich die Gelegenheit, das Foto von Onkel Fritz, das den Eklat verursacht hatte, an mich zu nehmen und für spätere Zeiten aufzubewahren. So begannen die siebziger Jahre. Paragraph 175. Die magische Zahl 175 hatte ich zum ersten Mal gehört, als ein Schüler der Parallelklasse als »175er« bezeichnet worden war. Im Lauf der Zeit lernte ich noch mehr Bezeichnungen dafür: Warmer, Detlev, Spinatrührer, Arschficker, Schwuler. Ich hörte die ersten Schwulenwitze der »Kennste-den?«-Art: Kommt ein Schwuler von der Arbeit nach Haus. Ertappt seinen Freund Detlev, wie er ein Stück Scheiße, das in einem Handtuch liegt, durchs Badewasser zieht. Auf die Frage, was das wohl solle, bekommt er die Antwort: Ich muß doch unser Kind baden. 40
Mir war bei solchen Witzen überhaupt nicht zum Lachen zumute. Die Assoziation von Arschficken und Scheiße mit dem, was ich bei meinen Hallenbadausflügen tat, empfand ich als furchtbar ungerecht. Im Gegenteil war doch alles ganz sauber. Beide waren frisch geduscht und faßten sich an saubere Schwänze. Das einzige, was mich bisher gestört hatte, war, daß die Erlebnisse mit meinen Duschmännern immer an versteckten Orten in aller Schnelle stattgefunden hatten und die Männer nach dem Abspritzen immer sofort abgehauen waren. Nicht wissend, daß sie schon mit einem Bein im Gefängnis standen, wenn sie die Hand an meinem Schwanz hatten, hatte ich dieses Verhalten immer auf meine Person bezogen und fühlte mich abgelehnt. Ich wollte endlich mal von einem dieser Männer mit nach Hause genommen werden und mit ihm in einem Bett liegen. Aber meine diesbezüglichen Wünsche wurden immer mit der Begründung: »Die Leut', die Nachbarn« abgebürstet. Ich begann, die Schwimmbadmänner zu hassen. Zumindest die im Ludwigshafener Schwimmbad. Also verlegte ich mein Jagdrevier in die Nachbarstadt Mannheim. Eine meiner Schwimmbadaffären hatte mir erzählt, daß dort ein Park existiere, in dem sich Männer träfen. Welcher Park, hatte er mir nicht gesagt. So besorgte ich mir einen Stadtplan und durchforstete feldherrengleich alle Grünanlagen der an Grünanlagen nicht armen Stadt. Nach einiger Zeit wurde ich fündig. Die Anlage hatte den sinnigen Namen »Lauergarten«. Ich beobachtete, wie in der Dunkelheit die Herren hineingingen und im Kreis die Wege abschritten. Sie blieben nie stehen, waren fortwährend in Bewegung, immer laufend. Die Bezeichnung
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»läufig« fiel mir erst Jahre später für diese Verhaltensweise ein. Ich fing an mitzulaufen. Am Anfang in meinem normalen Schritt, so daß ich innerhalb von zwei Minuten den Rundweg absolviert hatte. Mit der Zeit lernte ich den schwulen Schritt: so zu laufen, daß man gerade noch den Eindruck erwecken kann, man wolle wirklich Spazierengehen, und trotzdem Zeit genug hat, im Vorübergehen einen zufällig Luftschnappenden genau zu mustern. Ich lernte das Spiel: langsam an einem Mann vorbeigehen, zehn Schritte weiter stehenbleiben, erst geradeaus schauen, den Kopf langsam in seine Richtung drehen und – wenn er zurückschaute – einige Schritte in seine Richtung gehen, stehenbleiben, warten, ob auch er einige Schritte in meine Richtung geht, noch ein paar Schritte in seine Richtung, warten, bis er einen Schritt näher kommt. Und dann? Ja, dann gab es zwei Möglichkeiten: Entweder er berührte einen wie zufällig mit der Hand und ging dann wie zufällig in die Richtung des nächsten Busches, ging in den Busch und wartete, bis man ihm nachfolgte. Meist stand er dann schon mit heruntergelassener Hose da und wichste seinen Schwanz. Solche Typen wollten Sex an Ort und Stelle und verschwanden wortlos nach dem Abspritzen. Oder sie begannen eine Art von Konversation, anhand derer ich mit der Zeit lernte, mit welcher Sorte ich es gerade zu tun hatte. Die Verklemmten erzählten meist, daß sie rein zufällig hier seien, wobei einige von ihnen ihren Hund als Tarnung ihres Parkaufenthalts dabeihatten. Sie fragten einen aus und kamen erst nach langem verbalen Abtasten zum richtigen Abtasten und dann zur Sache im nächsten Busch.
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Andere wiederum versuchten ihren ganzen Seelenmüll auf einmal loszuwerden, erzählten von Gott und der Welt, von ihren Müttern und sich, sagten, daß sie sich eigentlich zu schade für Orte wie diesen hier seien, aber was solle man machen, nach Hause zu ihren Müttern könnten sie niemanden mitbringen, und man hoffe doch, daß das Gesetz bald geändert werde und man dann freier leben könne. Ab und an fuhr eine Polizeistreife mit aufgeblendeten Scheinwerfern in den Park, und alles rannte in die verschiedensten Richtungen um sein bürgerliches Leben. Auch ich. Angst war das beherrschende Moment fast jedes schwulen Lebens jener Zeit. Der Zwang zum Mimikry allgegenwärtig. Dies hörte auch nicht auf, als der Paragraph 175 revidiert wurde, und zwar genau einen Tag nach meinem sechzehnten Geburtstag. Ich hatte mir schon einen Schnurrbart wachsen lassen, um älter zu wirken. Aber für einundzwanzig, das war das »Schutzalter« damals, ging ich noch nicht durch. Höchstens für achtzehn. Das Paradoxe der Situation war, daß ich die Männer vor den Folgen eines Paragraphen zu schützen trachtete, der angeblich dazu ausersehen war, mich zu schützen. Paradox war, daß ich die angesichts meiner Jugend zögerlichen Männer verführen mußte, wo doch alle Welt vor den jugendverführenden Homosexuellen warnte. Ich war zwar nicht mehr wie mit Zwölf der Auffassung, der einzige auf der Welt zu sein, der »auf dem anderen Ufer lebte«. Auch diesen Ausdruck hatte ich inzwischen gelernt. Aber ein Teil des Hanses im schwulen Glück war allein. Gewiß, ich führte ein äußerst geselliges Leben, war immer mit meinen Mitschülern zusammen, war der Klassenunterhalter, war bei 43
meinen Lehrern beliebt und seit meiner heterosexuellen Komödie auch als Platzhirsch anerkannt. Den anderen, den eigentlichen Teil meines Lebens, meine Jagdausflüge nach Mannheim, konnte ich äußerlich gut mit meinem sozialen Leben in Einklang bringen. Ich hatte damals bestens gelernt, auf der Klaviatur der Verhaltensweisen zu spielen, die man Imagebildung nennt und in der die meisten Schwulen Meister sind. Für meine Heterosexualität hätte meine Umwelt in Bad D. die Hand ins Feuer gelegt. Aber ich wollte einen Freund haben. Nicht in dem üblichen Sinne, in dem es die pädophilen Grapscher meinten, die, vom pädagogischen Eros beseelt, mir, dem Gymnasiasten, Fremdwörter meist falsch zu erklären versuchten. In der Art wie: »Kawasaki ist japanisch und heißt Selbstmord.« Ich brauchte so etwas wie einen Zwillingsbruder, der mir zur Seite stehen sollte und mit dem ich die feindliche Umwelt wenn schon nicht bekämpfen, so doch besser bewältigen konnte. Ein solcher potentieller Zwillingsbruder war greifbar nahe. In der Parallelklasse. Sein Name war Dietrich Ritter, er war athletisch gebaut und hatte trotz seines Alters schon gelichtete Stirnhaare. Vom Aussehen war er alles andere als der Prototyp eines Schwulen. Trotzdem wurde aus irgendwelchen Gründen immer gemunkelt, daß er ein »Warmer« sei, und man nannte ihn hinter vorgehaltener Hand »Diethilde«. Mit der Zeit wurde der Klatsch immer frecher, und man machte ihm gegenüber anzügliche Bemerkungen: »Na, Ritterchen, haste heute schon 'ne Lanze im Arsch gehabt?« Er setzte sich nie zur Wehr, obwohl er kräftemäßig den anderen haushoch überlegen gewesen wäre. Ich hatte panische Angst, mit ihm irgendwie in 44
Verbindung gebracht werden zu können, und behandelte ihn, als habe er eine ansteckende Krankheit. Wurde über ihn hergezogen, hielt ich mich zwar zurück, nahm ihn aber auch nicht in Schutz. An seinem Beispiel sah ich, welche Verfolgung ich zu erwarten hätte, käme mein heimliches Leben in die Klassenöffentlichkeit. Er schien mein Verhalten richtig zu interpretieren. Auf der Schultoilette stellte er sich neben mich, holte seinen Schwanz raus, der so beachtlich wie sein Oberkörper entwickelt war, und wartete, bis ich knallrot wurde. »Gib doch zu, daß du genauso bist«, grinste er mich unverschämt an, packte wieder ein und ging. Ich fühlte mich ertappt; war wütend auf ihn; hatte Angst, daß er mich verraten könnte. Und ersetzte nachts Mark Spitz durch Dietrich Ritter. Tagsüber versuchte ich im Pausenhof möglichst nicht in seine Richtung zu schauen, besonders wenn ich das Gefühl hatte, er könnte mich beobachten. Ich fing an, mich an den Witzen zu beteiligen, die über ihn gerissen wurden. Je mehr ich ihm aus dem Weg ging, desto öfter begegnete ich ihm paradoxerweise. Wir spielten Hase und Igel. Stand ich beim Bäcker – er war schon da. Holte ich bei Edeka ein – er war schon da. Er kochte mich langsam weich. Aber wie mit ihm in Verbindung kommen, ohne mit ihm in Verbindung gebracht zu werden? Ich erwähnte im Schulhof lautstark, daß ich am kommenden Wochenende allein zu Hause sei, da meine Sippschaft im Allgäu Verwandte besuche. Ich erwähnte es am Mittwoch. Ich erwähnte es am Donnerstag. Ich erwähnte es am Freitag. Am Samstag nach der Schule eilte ich nach Hause, badete und wartete. Es klingelte nicht. Weder die Haustür noch das Telefon. Ich überlegte mir alle möglichen Strategien. Selbst initiativ zu werden und bei Ritters unter einem 45
Vorwand anzurufen, verbot ich mir. Er hätte ja denken können, ich sei schwul. Ich onanierte die ganze Nacht. Ich stand, entgegen meiner sonstigen Art, sonntags morgens schon um acht Uhr auf. Und wartete. Nachmittags um 14 Uhr klingelte es. Es war Frau Fickeisen aus dem ersten Stock, die mir ein Stück Kuchen brachte. Ich hasse Kuchen. Es gelang mir, sie nach der ausführlichen Schilderung ihrer Schwierigkeiten, die sie tags zuvor bei der Reinigung des Treppenhauses hatte, mit dem Hinweis auf eine bevorstehende Mathematikarbeit, für die ich noch lernen müsse, wieder hinauszukomplimentieren. Leider nicht rechtzeitig genug. Denn während sie mir in der Wohnungstür noch alles Gute in der Schule wünschte, klingelte es erneut. Diesmal war er es. Ausgerechnet in Anwesenheit unseres Hauszerberus mußte er auftauchen. Er kam hoch. Ich wurde knallrot. Bat ihn verstohlen in die Wohnung. Schloß die Tür. Er sah mich stumm an. Griff mir an die Hose. Ich zitterte vor Geilheit. Da klingelte es wieder. Frau Fickeisen wollte nur mal nachfragen, ob der andere junge Mann nicht vielleicht auch ein Stück Kuchen haben wolle. Ich hatte im Geschichtsunterricht schon immer voller Interesse das mittelalterliche Strafrecht verfolgt. Ich konnte jetzt nachvollziehen, was Zweiteilung bedeutete. Zwischen Dietrich Ritter und Frau Fickeisen stehend, redete ich wirres Zeug, das an Aphasie grenzte. Nach weiteren Konversationsinhalten, zum Beispiel daß der Fickeisensche Enkel auch immer so fleißig lerne wie wir beiden jungen Männer, verabschiedete sich Dietrich Ritter. Frau Fickeisen blieb. Jetzt war es an mir, ihm nachzulaufen. Ich behandelte ihn zwar in der Öffentlichkeit immer noch, als hätte ich 46
noch nie mit ihm gesprochen. Hatte ich ja auch nicht, er hatte mir »nur« an die Hose gefaßt. Aber ich rief bei ihm zu Hause an. Ich mußte ein paarmal wieder auflegen, weil seine Mutter sich mit schnarrender Stimme meldete, aber letztendlich erreichte ich ihn doch. Wir verabredeten uns in einem Steinbruch oberhalb von Bad D. Ich wartete etwa eine halbe Stunde über die vereinbarte Zeit hinaus. Er kam, ging mir, ohne ein Wort zu sagen, an die Hose, öffnete sie, zog sie an meinen Beinen herunter, spuckte in die Hand, feuchtete meinen Arsch an, drehte mich um und begann mich zu ficken. Es tat höllisch weh. Er wurde schneller, stöhnte verhalten, zog den Schwanz raus, wischte sich mit einem Tempo ab, zog die Hose hoch und ging. Er hatte sich für meine Feigheiten an mir gerächt. Ich stand mit heruntergelassenen Hosen da und hätte ihn umbringen können. So hatte ich mir meine Entjungferung nicht vorgestellt. Ich wandte mich wieder älteren Männern zu. Das hieß damals für mich Männern so Mitte Zwanzig. Hier konnte wiederum ich mich rächen. Ich erzählte ihnen, ich sei Dachdeckerlehrling, und lachte mich halb schief, wenn sie den Gebildeten raushängen ließen und mir irgendwelche Sachen auf väterliche Art falsch erklärten. Ich ließ mich auch nicht mehr auf irgendwelche Parknummern ein, sondern bestand darauf, mit nach Hause zu kommen. Ich genoß es, wenn bei den Typen die Geilheit über die Angst siegte. Denn gefährlich war es für sie immer noch. Damals, Ende 1969. Auch wenn ich mein Alter jetzt mit Zwanzig angab. Mit der Zeit ging es mir gar nicht mehr um die Typen allein. Ich wollte in verschiedene Wohnungen mitgenommen werden, verschiedene Lebensstile kennenlernen. Ich 47
war darauf aus, die Gesamtheit der Schwulen in mich aufzunehmen. Zu der Zeit behandelten wir im Deutschunterricht gerade Dürrenmatt. Neben den ›Physikern‹ hatte es mir besonders der ›Besuch der alten Dame‹ angetan. Der Satz Claire Zachanassians: »Die Welt machte mich zur Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell« beeindruckte mich tief Ich war der einzige in der Klasse, der die Titelheldin in einem Aufsatz nicht als rachsüchtiges, altes, verkrüppeltes Weib denunzierte, sondern sie als Heilige, als Retterin der Gerechtigkeit darstellte. Meine Deutschlehrerin, eine kettenrauchende, verhärmt aussehende Frau, deren Augen und Lachen jedoch signalisierten, daß auch sie mal bessere Tage gesehen hatte, betrachtete mich fortan mit unverhohlener Sympathie. Bis zu jenem legendären Silvesterabend 1969, an dem durch das Verdienst der Tante Angstenberger die Fassade der Familie zerbröckelt war, war ich nie über Nacht weggeblieben. Ich richtete es immer so ein, daß ich bis zu meinem sechzehnten Geburtstag spätestens um 22 Uhr, danach spätestens um 24 Uhr zu Hause war. Meist hatte ich meine Geschichtchen wohlpräpariert, erzählte von Diskotheken und mit welchen Mädchen ich getanzt hätte und daß ich diese hätte noch nach Hause bringen müssen. Und was immer sonst noch meiner Phantasie entsprang. Großmutter spielte zwar ein wenig besorgt, aber Großvater, stolz, daß seine Potenz bezüglich der Damenwelt in seinem Enkel fröhliche Urständ feierte, nahm mich immer in Schutz, da er ja auch früher, »vor der Ehe natürlich«, über die Stränge geschlagen habe. Meine Großmutter beließ es dann meist mit der Warnung, mir bloß kein Kind 48
an den Hals drehen zu lassen. Und solange ich in der Schule weiterhin so fleißig sei, habe sie nichts dagegen einzuwenden. So konnte ich denn weiterhin unbelästigt nach Mannheim fahren, um dort mit Mädchen zu tanzen. In der Nacht auf den Dreikönigstag 1970 lief mir im Park Peter Seifert zu. Das heißt, sein Hund. Ein riesiger Schäferhund lief auf mich zu, schnupperte an mir und wedelte mit dem Schwanz. Meine Angst vor Hunden ließ mich zur Salzsäule erstarren. »Du brauchscht koine Angscht zu hawwe. Der tut dir nix«, pfälzelte der Herr, den der Hund spazieren führte. »Der mag disch. Du bischt ja auch ein goldischer Bub.« Der zugehörige Herr trug eine Hose, die an den Oberschenkeln hauteng war und unten einen weiten Schlag hatte. Darüber hatte er einen Rollkragenpullover, dessen Farbe sich später, bei Licht besehen, als Rot herausstellen sollte. Über dem Pullover trug er einen breiten Gürtel, was damals todschick war. Und er hatte lange Haare. Zwar nicht so schulterlange wie die meinen, die damals mein ganzer Stolz waren. Eher in der Länge wie die Frisur der Dame im Charlestonkleid auf dem Silvesterfoto, das meinen Großonkel Fritz darstellte. Die Herrenwinker fehlten allerdings. Er setzte sich zu mir auf die Bank und fing an über seinen Hund zu reden. Ich kannte solche Aufwärmgespräche ja zur Genüge und wartete auf die obligatorische Frage, ob ich noch was vorhätte und ob wir noch auf einen Kaffee zu ihm gingen. Die Frage, ob ich noch etwas vorhätte, kam wirklich, und ich verneinte sie – wahrheitswidrig. Denn ich hatte noch was vor, und zwar mit ihm. Aber statt zu sich nach Hause lud er mich in ein Lokal ein, in dem »Leut' von unserer Sort'« verkehrten. Ich hatte zwar schon von einem Lokal dieser Art gehört. Aber man hatte mir immer gesagt, daß dort nur Clubmitglieder mit 49
Mitgliedskarte hineindürften. Und außerdem würden Ausweiskontrollen gemacht, so daß ich mit Sechzehn keine Chance hätte. Aber jetzt, da der Paragraph schon vier Monate revidiert war, wurden die Kontrollen nach Peters Aussage laxer gehandhabt. Das Lokal war keine drei Minuten vom Park entfernt und hieß »Pferdestall«. Ich war schon öfter daran vorbeigelaufen, wäre aber nie auf die Idee gekommen, daß sich dahinter ein schwules Lokal verbergen könnte. Ich dachte bei dem Namen eher an ein Etablissement wie den väterlichen »Bierstall«, in dem die Tante Nutt ihrer Pensionierung entgegenanimierte. Peter klingelte an der Tür. Ich hatte mich vorsichtshalber hinter seinem Rücken postiert und versuchte, besonders alt auszusehen. Eine Türklappe wurde geöffnet, der Türsteher schien Peter zu kennen und öffnete. Wir gingen hinein, der Türsteher musterte mich kurz und zog die Augenbrauen hoch. Ich bemühte mich, besonders altmännlich »Guten Abend« zu sagen, und er ließ uns passieren. Gleich links hinter dem Eingang war eine Garderobe, an der in besseren Tagen wohl eine Garderobenfrau gesessen hatte. Dort wurde »Mäusele«, so hieß der Schäferhund, angebunden. Wir gingen geradeaus. Selbst meine in Geschmacksfragen nicht allzu progressive Großmutter wäre bei dem folgenden Anblick in Ohnmacht gefallen: Die Wände waren mit Gobelintapeten verkleidet, auf denen, umrahmt von Kristallüstern, Schäferszenen aus dem 18. Jahrhundert dargestellt waren. An zwei Seiten des quadratischen Raumes waren Tischchen aufgestellt, an denen jeweils drei Rokokostühlchen standen. Die Tischchen waren mit Deckchen belegt, auf denen Lämpchen standen, deren Stil ich in keinem Kunstunterricht jemals kennengelernt hatte und 50
deren Schirmchen zart bleu leuchteten. Vom Eingang liefen wir geradezu auf eine U-förmige Bar, die im bäuerlich-rustikalen Stil gezimmert war und die von rustikalgedrechselten Barhockern umgeben war. An der Wand über der Bar hingen zwei Pferdehalfter, die dem Lokal wohl den Namen gegeben hatten. Peter und ich setzten uns an die Bar, und er stellte mich als seinen neuen Freund vor. Dem zu widersprechen wäre unhöflich gewesen, denn er lud mich zu einer Cola ein. Da es noch früh am Abend war, waren außer uns und dem Barkeeper nur zwei langhaarige Typen – ungefähr in meinem Alter – uns gegenüber und ein graumelierter Mann, zwei Barhocker rechts von mir, anwesend. Irgendwelche deutschen Schlager, die mir damals ein Graus waren, dudelten aus der Musikbox. Ein Alptraum war wahr geworden. Die beiden gleichaltrigen Typen stierten an uns vorbei an die Wand. Sie warteten, wie mir später zugeflüstert wurde, »auf Kundschaft«. Der Graumelierte winkte, nachdem er Peter und mich eine Zeitlang beobachtet hatte, den Barkeeper zu sich und sagte ihm etwas, den Kopf dabei in unsere Richtung drehend. Der Barkeeper brachte uns daraufhin zwei Gläser, in denen das entsetzlichste Getränk war, das ich kenne und das in Mannheim »Hütchen« genannt wird: ein Gebräu aus Asbach und Cola. Ich machte, wie mir Peter später erzählte, sofort einen in Schwulenlokalen gravierenden Fehler. Ich nahm es an, prostete dem Graumelierten zu und trank es, während Peter seines stehen ließ. Damit war ich für den Abschuß freigegeben, und der Graumelierte setzte sich zu uns. Fred, so stellte er sich vor, hatte mich sofort als Küken erkannt. Er fragte mich nach meinem Namen – »Hans!« –, nach meinem Beruf – »Dachdeckergeselle!« –, nach 51
meinem Alter – »Einundzwanzig!«. Er gab sein Alter, nach unten gerundet, mit Fünfunddreißig an, jener magischen Zahl, der ich später noch öfter begegnete, und als Beruf Substitut; er trage also im Kaufhof die Verantwortung. Und er erzählte von alten Zeiten, wobei er allerdings des öfteren die Jahreszahlen um den Betrag korrigieren mußte, um den er sich jünger gemacht hatte. Er sprach von der Zeit vor 1969, als man noch Angst vor dem Gefängnis haben mußte. Wo der Maler Rudi Bärwind, ein stadtbekannter Säufer, was in der Stadt verziehen wurde, mit dem Sohn eines Polizisten was gehabt hatte. Was nicht verziehen wurde. Der Polizistenvater hatte, nachdem er das Tagebuch seines Sohnes gelesen hatte, als pflichtbewußter Beamter – Offizialdelikt! – nichts Eiligeres zu tun, als seinen eigenen Sohn und dessen Liebhaber anzuzeigen. Worauf der Sohn auf die Anklagebank kam und der Maler sich seiner Verhaftung durch Emigration nach Paris entzog. Aber schön sei es doch gewesen, meinte der graumelierte Fred, und es habe noch einen Zusammenhalt unter den Homophilen damals gegeben, und sie seien nicht so ungepflegt und langhaarig gewesen. Peter war während der Erzählung unruhig geworden und fragte, ob ich hier noch etwas zu trinken gedächte oder bei ihm zu Hause, wo es billiger sei. Das Billigere kam mir gerade recht. Fred schüttelte mir zum Abschied noch die Hand und ermahnte mich, daß ich nicht unter die Räder kommen solle – leicht traurig darüber, daß er an dem Abend nicht das erste Rad sein konnte. »Mäusele« wedelte freudig, als Peter ihn von der Garderobe losband. Wir mußten eine Viertelstunde laufen, bis wir zu Peters Wohnung kamen. Im Wohnzimmer stand die – wie ich im Laufe meiner schwulen Karriere noch oft 52
erlebte – obligatorische Couchgarnitur. In der Schrankwand – »altdeutsch!« – standen die silbergerahmten Fotos von Mäusele als Welpe und mit zwei Jahren und das goldgerahmte Foto von Peters Mutter – »eine herzensgute Frau!« Mitten im Raum stand ein Gummibaum, der, Weihnachten lag ja erst vierzehn Tage zurück, mit einer Lichterkette geschmückt war. Peter ließ mich auf der Couch Platz nehmen, holte zwei Gläser, die meinem Wunsche gemäß hätten mit Cola gefüllt sein müssen, die in Wirklichkeit aber zu mindestens fünfzig Prozent mit Asbach gefüllt waren, legte, wie er sie bezeichnete, romantische Musik auf, kramte aus dem altdeutschen Schrank einige Magazine heraus, die er aus Holland mitgebracht hatte, und setzte sich neben mich. »Gefallen dir die Bilder?« Ich schaute abwechselnd auf die Bilder an der Wand, die feurige Zigeunerinnen und deutsche Schäferhunde darstellten, und auf die von Peter aufgeschlagenen Pornos. Er wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern ging mir gleich an die Hose. Das Angenehme – heute weiß ich gar nicht mehr, ob es wirklich so angenehm ist –, das Angenehme an der Jugend ist, daß man immer kann. Ob man jemanden besonders geil findet oder nicht. Und so zeigte sich auch bei mir die von Peter erwünschte Reaktion. Ohne zu murren, ging ich mit, als er mich bat, ins Schlafzimmer zu kommen, wo es gemütlicher sei. Und wie gemütlich es war! Weißer Schleiflack, ein Doppelbett mit einer Paradedecke und zwei Paradekissen. Auf einem der Kissen hatte eine Jahrmarktspuppe Platz genommen, die davon kündete, daß jedes Los gewonnen hatte. Peter nahm die Puppe weg, setzte sie auf die Frisierkommode, legte die Paradekissen auf einen Stuhl, rollte die Paradedecke weg, machte das große Licht aus, knipste die Nachttischlämpchen an, zog 53
sich aus, legte sich auf den Bauch und sagte: »Fick meine geile Fotze.« Daß ich es zufriedenstellend konnte, spricht entweder für meine damalige Potenz oder für mein schon damals aufkeimendes Faible für skurrile Situationen. Ich schlief auf ihm ein und wurde von ihm um fünf Uhr geweckt. Seine Mutter arbeite nämlich im Krankenhaus in der Nachtwache und werde gegen halb sieben zurückkommen und schlafen wollen, meinte er. Ich hatte also die Nacht in einem Ehebett verbracht, in dem Mutter und Sohn für gewöhnlich nächtigten. Während er auf dem Klo war, stahl ich eines seiner Pornomagazine, versteckte es unter meinem Pullover und verabschiedete mich eilig. Zuhause, wo ich mich mit einer verpaßten Straßenbahn entschuldigte, versteckte ich es unter der Matratze, um es bei Gelegenheit wieder herauszuholen. Als ich nach Ostern von einem Landschulaufenthalt wieder zurückkam, empfing mich meine Großmutter mit versteinertem Gesicht an der Wohnungstür. »Die Schand', die Schand'« war das einzige, was sie über die Lippen brachte. Schlagartig fiel mir ein, daß im Rahmen des Frühjahrsputzes die Matratzen gelüftet wurden. Und somit auch mein Geheimnis gelüftet worden war. Man hatte die peinliche Entdeckung nur der Tante Irene mitgeteilt, die als psychologische Sachverständige eingeweiht worden war. Sie hatte gleich den passenden Spruch parat: »Die Sünden der Väter fallen auf den Stamm zurück« oder so ähnlich. Abends wurde der Patriarch zu Rate gezogen. Er ermahnte mich großväterlich, von solchen Dingen zu lassen. Ich solle ja nicht enden wie sein Bruder Fritz, der »ja genug Unglück über die Familie gebracht« habe. In einem Anfall von Courage weigerte ich mich, angesichts dieser Inquisition abzuschwören. Er bekam einen roten Kopf und schrie: »Sargnagel, solange du die Füße noch 54
unter meinem Tisch hast, parierst du. Ich schlag' dich, biste zur Vernunft kommst.« Mit Ausnahme meiner hysterischen Mutter hatte mir noch niemand Schläge angedroht. Und selbst sie hatte es immer nur bei dem Vorsatz belassen. »Dann schlag' ich halt zurück«, sprach aus mir ein zum Eklat entschlossener Hans. Der Großinquisitor faßte sich mit der Hand an die Brust – wie immer, wenn er einen erpressen und demonstrieren wollte, daß man an seinem frühen Ende die Schuld habe – und versuchte, den biblischen Stammvater zu spielen: »Wer die Hand gegen sein eigen Fleisch und Blut hebt, dem soll sie abfaulen!« Nach mehreren Monaten des gegenseitigen Anschweigens suchte ich mir einen eigenen Tisch, unter den ich meine Füße stellen konnte. Ich gab Nachhilfeunterricht, ließ mir ab und zu von einem der netten Herrn etwas Geld zustecken und kam in den Genuß des neu eingeführten Schülerbafögs. Durch Vermittlung meiner Deutschlehrerin, der ich meine Situation geschildert hatte – auf mein Geständnis, daß ich schwul sei, hatte sie geantwortet: »Hans, machen Sie sich nichts daraus. Loch ist Loch.« –, fand ich ein möbliertes Zimmer, mit separatem Eingang, in einem Dorf, das zwischen Bad D. und Mannheim lag. Meine Hoffnung auf eine sturmfreie Bude wurde enttäuscht. Frau Wiegand, meine Zimmerwirtin, schüttete den ganzen Haufen ungebrauchte Mütterlichkeit über mir aus, den sie auf ihre alten Tage aus ihrer Kittelschürze kramen konnte. Sie servierte morgens das Frühstück, für das ich nicht zu zahlen brauchte, da es ja von Herzen kam. Wann immer sie konnte, und sie konnte fast immer, kam sie zu mir aufs Zimmer, um zu schauen, ob ich noch was brauchte. Daß ich meine Ruhe brauchte, um ungestört meinen Phantasien nachgehen zu können, konnte ich ihr nicht 55
sagen, da sie betonte, wie gut sie es mit mir meine – mit mir, der ja so elternlos lebe und niemanden habe. Es zeigte sich der Fluch meiner Lüge, daß ich bei Anmietung des Zimmers meine Verwandtschaft hatte sterben lassen. Und so kam es, daß ich nur zum Schlafen in meine erste, eigene Bude kam und die Zeit bis zum Müdewerden entweder bei meinen Nachhilfeschülern oder bei meinen Klassenkameraden zubrachte. Seit der Oberstufe wurden wir koedukativ unterrichtet. Das heißt, der Knaben- und der Mädchenzweig des Gymnasiums wurden zusammengelegt und gemischte Klassen gebildet. Durch die Zusammenlegung der beiden Zweige und bedingt durch den Abgang der Schüler, die das Gymnasium mit der mittleren Reife verlassen hatten, wurden fast vollständig neue Klassen gebildet, so daß von meiner alten nur Jürgen Alt und ich übriggeblieben waren. Jürgen Alt war der Sohn jener Alts, die im Urlaub nach Sylt fuhren und dort nackt badeten, weshalb mir früher der Kontakt zu ihm verboten worden war. Als weitere revolutionäre Tat der Schulreform war ab der Oberstufe die Reihenanordnung der Schulbänke abgeschafft worden. Die Tische standen jetzt U-förmig. Allerdings saßen, trotz des Koedukationsprinzips, die Schüler und Schülerinnen nach Geschlechtern getrennt sich gegenüber an den Schenkeln des »U«, während der jeweilige Lehrer die Basis des »U« belegte. Von den neuen Schülern waren nur Peter Brenneisen und Jochen Breitschwerdt bemerkenswert. Peter Brenneisen war der Sohn unseres früheren Mathematiklehrers, langaufgeschossen, hypernervös und galt allgemein als Spinner. Er fühlte sich zu Höherem berufen und wollte unbedingt Mitglied des Jet-set werden. Da er 56
seine Karriere genau plante, war er gleichzeitig Mitglied des Tennis- und des Flugklubs geworden, um so besser Kontakt zur kleinstädtischen Hautevolee zu bekommen. Mich, als Sproß des Kulturlebens in Bad D., zählte er auch irgendwie dazu. Er bemühte sich eifrig, mit mir in Kontakt zu kommen. Da damals gerade die Verfilmung von Simmels Roman ›Liebe ist nur ein Wort‹ der große Renner war, in dem das Verhältnis eines Schülers mit einer Fabrikantengattin, die dessen Mutter hätte sein können, dargestellt war, war er der festen Überzeugung, nur über das Verhältnis mit reichen Gattinnen in die obere Klasse aufsteigen zu können. Ich sollte ihm dabei behilflich sein. Jochen Breitschwerdt war ein athletischer dunkelhaariger Typ, der eine Figur wie mein Andy-Warhol-Idol, Joe Dallesandro, hatte. Er wippte dauernd mit den Beinen, was damit zusammenhing, daß er aufgrund der ihm gegenübersitzenden Martha Kaiser dauernd einen Ständer hatte. Ich beneidete Martha Kaiser darum. Sie war, neben Michaela Sandhofer, die einzig bemerkenswerte Frau in der Klasse. Sie hatte den Körper von Audrey Hepburn und das Gesicht von Sophia Loren. Nicht nur wegen ihres Namens wurde sie »die Kaiserin« genannt. In ihrem grünen Maximantel, wie er damals Mode war, schwebte sie morgens in die Klasse, als käme sie gerade von Regierungsgeschäften. Daß sie die Nacht zuvor meist Jochen Breitschwerdts Zepter bestiegen hatte, war erst später Gegenstand des Klassentratsches. Ihre andere Leidenschaft war Italienisch. In den großen Ferien fuhr sie immer auf Sprachurlaub nach Florenz, wo sie die Männer der dortigen Hochfinanz beglückte, was sich offensichtlich in hohen Garderobenspesen auszahlte. Ich war damals der festen Überzeugung, daß dieses Klasseweib es als einzige der Klassenweiber schaffen würde, 57
sich später zumindest einen gutaussehenden Milliardär zu angeln, und als Martha Kaiser-Flick die Regenbogenpresse füllen würde. Sie angelte sich später einen versoffenen, schmerbäuchigen, verkrachten Studienabbrecher und zieht heute, als Martha Kaiser-Loch, drei Kinder in kleinen Verhältnissen groß. Im Gegensatz dazu die heutige Chefarztgattin Michaela Sandhofer: Sie war Winzerstochter und litt sichtlich unter ihrer zu großen Brust, die sie unter wallenden Gewändern und wallendem Engelshaar zu verbergen trachtete. Sie war kurzsichtig, setzte ihre Brille nur dann auf, wenn es galt, etwas von der Tafel abzuschreiben, und hatte den für Kurzsichtige typischen erotischen Blick. Sie versuchte ihre, wie sie glaubte, »kleine« Herkunft zu überspielen, indem sie sich besonders progressiv gab. Sie pflegte barfuß zu laufen, las die Mao-Bibel und Wilhelm Reich und erzählte allen, die es nicht hören wollten, von ihren Orgasmusschwierigkeiten, und daß sie deswegen ja so frustriert sei. Frustration war überhaupt ihr Lieblingswort. Alles war frustrierend: die Schule, ihr Busen, ihre Gewichts»probläme«, ihr Elternhaus. Sie fand in mir einen geduldigen Zuhörer ihrer Probläme und lud mich häufig in ihr indisch geschmücktes Zimmer bei Räucherstäbchen zu Vanilletee ein. Dort entfloh sie mit mir der Realität, und wir träumten gemeinsam von einem progressiven Leben. Sie war auch die erste meiner Klasse, der ich von meinen schwulen Neigungen erzählte, und sie fand es ungeheuer progressiv. So wurde sie zu meiner, im Wortsinne, größten Busenfreundin. Da sie nicht nur Probläme mit ihrem Busen hatte, sondern auch Schwierigkeiten, den Richtigen zu finden, mit dem sie keine Orgasmusschwierigkeiten hätte, gingen wir des öfteren gemeinsam auf Männerfang. 58
Heidelberg war damals das Eldorado aller progressiv Empfindenden des Kurpfälzer Raumes. Mit der Bahn waren es von Bad D. anderthalb Stunden Fahrt. Michaela und ich wallfahrten in diese Stadt zur Linderung unserer unprogressiven Leiden wie die Katholiken nach Lourdes. Wir liefen die Hauptstraße hoch und runter, schauten unseren Traummännern nach, wie sie in indischen Gewändern, die langen Haare mit einem Stirnband zusammengehalten, und Jesuslatschen ihre Weltanschauung zum Ausdruck brachten. Für unsere Kleinstadtcharaktere war dies hier die Welt schlechthin. Wir setzten uns an den Uniplatz, unterhielten uns mit den dortigen Hippies, die dem bürgerlichen Leben eine schroffe Absage erteilt hatten, und rauchten unsere ersten Joints. Ich verspürte zwar anfänglich nichts, da ich damals noch keine Lungenzüge machen konnte – ich nehme an, Michaela genausowenig –, aber wir hatten frühzeitig gelesen, was man nach Haschischgenuß zu empfinden habe. Und so sahen wir lauter Farben. Und abends ging es ins »Whisky à gogo«, eine Kneipe, die im Ruch stand, daß dort auch viele Schwule verkehrten. Das »Whisky«, in Insiderkreisen »Wichsi« genannt, war eine winzige Kneipe, die unterhalb des Schlosses in einem Altbau das Erdgeschoß einnahm, etwa eine Fläche von fünfundzwanzig Quadratmetern. Die Tresenschlampe, ein ungefähr achtzehnjähriger Ephebe, der sich wahrscheinlich seinen Job erschlafen hatte, wurde Berta gerufen und hatte in seinen kurzen Hosen wahnsinnig schöne Beine. Ich war neidisch auf seinen Afrolook. Wenn ein Gast bestellte, wiederholte er die Bestellung in einem der schauerlichsten Dialekte, die ich jemals gehört hatte. Er verdreifachte die Vokale der Wörter und sprach jeden ein59
zelnen in einer anderen Tonlage, so daß auf die Bestellung einer Cola oder eines Bieres mit der Wiederholung ein »Cohoholaha« oder ein »Biehiehier« geantwortet wurde. Berta war die Treue in Person. Das heißt, sie verschrieb sich ihrem jeweiligen Liebhaber mit Haut und Haaren. War sie aus Liebe zum Besitzer des »Whisky« Barschlampe geworden, so lernte sie später einen Perser kennen, der sie so lange durchknallte, bis sie zum Islam konvertierte. Später verliebte sie sich in einen K-Gruppen-Menschen und wurde der fleischgewordene Marxismus-Leninismus. Bei einem der Heidelberger Krawalle kämpfte sie dann an vorderster Front gegen die herrschende Klasse und war die gefeierte Heldin bei der Erstürmung der Heiliggeistkirche. Diese war aus irgendeinem Grund das begehrte Ziel der Demonstranten. Ein Polizeikordon schützte die Kirche und wich auch nicht, als er mit Farbeiern bombardiert wurde. Von der Erstürmung der Kirche hing offensichtlich der Erfolg der Revolution ab. Da setzte sich Berta Luxemburg an die Spitze der Bewegung. Sie ging auf den Polizistengürtel zu, postierte sich vor einem besonders grimmig dreinschauenden Wachtmeister, rief laut und für die Demonstranten vernehmlich: »Na, wo haben wir denn den Knüppel?« und griff dem Wachtmeister mit an K-Gruppen-Kaderschwänzen geübter Hand an die Hose. Was alle Farbeier nicht vermocht hatten, Bertas Griff schaffte es. Der Polizist wich zurück, um seine Unschuld zu schützen. Eine Bresche war geschlagen, und die Demonstranten konnten die Kirche stürmen. Was sie dort wollten, wußte anschließend allerdings niemand mehr, und so zog man nach diesem revolutionären Akt wieder friedlich ab. Die Heldin der Revolution ging mit ihrem K-Gruppenkaderführer ins »Whisky« und dann nach Hause. Später traf ich Berta wieder mit rasiertem Kopf und wußte sofort, daß sie 60
gerade in einen Hare-Krishna-Menschen verliebt war. Und viel später sah ich sie im Fernsehen, als sie als Abgeordnete der Grünen ihre Jungfernrede hielt. Also gab es zumindest ein Mitglied der Grünen, das mit seinem großen Schwanz für Bertas politische Willensbildung gesorgt hatte. »Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abitur und alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg.« Rektor Frömmel, der sinnigerweise neben Latein auch noch Religion unterrichtete, schüttelte mir die Hand. Es war zur Zeit der Auseinandersetzungen über die Ostverträge 1972 und des gescheiterten Mißtrauensvotums gegen Willy Brandt. Auch ich war gescheitert, und zwar als Nachhilfelehrer von Martha Kaiser. In Mathematik hatte ich ihr durch Hinterlegen der Lösungen auf der Damentoilette noch zu einer passablen Vier verholfen, aber in ihrem Wahlfach Geographie stand sie zwischen Vier und Fünf, so daß sie in die mündliche Prüfung mußte. Mündliche Prüfungen waren öffentlich, so daß ich Zeuge meines Versagens als Nachhilfelehrer werden konnte. Aus dem Kultusministerium war die Staatssekretärin Hanna-Renate L. angereist, um mit ihrer Anwesenheit die Abiturprüfung zu schmücken. Zwar hatte Martha Kaiser noch rechtzeitig mit dem Lehrer für Geographie und Sport diverse Leibesübungen getätigt, aber Herr Sandhoff konnte in Anwesenheit des hohen Besuchs Martha nicht allzu offensichtlich über die Hürde helfen. Und so versuchte er es, nachdem Martha auf einige Fragen nach der Wirtschaftsstruktur der Republik Libanon mit den Schultern und den Augenbrauen gezuckt hatte, mit einer Eselinnenbrücke, um ihr den noch notwendigen Punkt zu verschaffen. Er zeigte ihr die Staatsflagge des Libanon, auf der der Nationalbaum der 61
Republik, die Zeder, abgebildet ist, und fragte verzweifelt: »Fräulein Kaiser«, er mußte sie ja in dieser Situation siezen, »durch welche Baumart ist der Libanon berühmt geworden?« Fräulein Kaiser nestelte an ihren Locken, dachte verzweifelt nach und antwortete, als sie bemerkte, daß die Prüfungskommission langsam unruhig wurde, mit: »Fichten?« Was die Kommissionsvorsitzende, Frau L., die das gekünstelte Gesieze zwischen Lehrer und Schülerin durchaus bemerkt hatte, zu der Äußerung veranlaßte, daß Lidschatten wohl nicht zur Erlangung der Hochschulreife ausreichten. Martha Kaiser machte sich nichts daraus und fuhr nach nichtbestandenem Abitur nach Florenz. Ich meinerseits bewarb mich zusammen mit Michaela Sandhofer um einen Job als Hilfserzieher in einem heilpädagogischen Kinderheim in Oberotterbach. In den darauffolgenden zwei Monaten lernten wir Kinder hassen, verdienten aber genug, um zusammen nach Jugoslawien in Urlaub fahren zu können. Dort hatte Michaela Gelegenheit genug, ihre Orgasmusschwierigkeiten zu überwinden. Und auch ich lernte einige Brocken der Landessprache aus erster Hand kennen. »Boy, 25, 176, 60, sucht Boy bis 25 für Freundschaft.« Die ›Frankfurter Bundschau‹ hatte damals als erste »seriöse« Zeitung begonnen, Kontaktanzeigen abzudrucken, in denen Männer beziehungsweise Boys nach Gleichgesinnten suchten. Ich ging, es war Mai 1975, schon auf die Zwanzig zu, und da macht sich ja, wie Marilyn Monroe es ausdrückte, ein Mädchen Gedanken. In Jugoslawien waren Michaela und ich uns nicht schlüssig geworden, ob und was wir studieren sollten. Da wir beide uns allzugerne mit Problämen befaßten, war eigent62
lich das Studium der Psychologie angebracht. Aber nach dreizehn Jahren Schule gleich wieder in die Tretmühle? Außerdem hatte Michaela gerade einen heißen Typ kennengelernt, dessen dicker Schwanz eine leichte Linkskrümmung hatte. Beim Verkehr stimulierte er genau die Stelle, deren Nichtstimulation sie für ihre bisher aufgetretenen Orgasmusschwierigkeiten verantwortlich gemacht hatte. Außer einem großen Schwanz hatte der Typ ein großes politisches Bewußtsein, und zwar, die Schwanzkrümmung wies in die richtige Richtung, ein linkes. Michaela war wild entschlossen, die Probläme des Proletariats hautnah zu erleben. Sie bewarb sich als Kerzenverkäuferin im Kaufhof und bemühte sich, das Bewußtsein des ausgebeuteten Verkäuferinnenproletariats zu erleuchten. Da ich nach ihrer Meinung auf einmal scheißliberal war, kühlte sich unser Verhältnis merklich ab, zumal sie ja, wegen der Linkskrümmung, keine Probläme mehr hatte. Ich selbst arbeitete in einem »Institut für Privatunterricht« genannten Nachhilfeunternehmen, das nach einem Dreivierteljahr – es war nicht meine Schuld – pleite machte, und mühte mich, neunzehnjährig, mittdreißiger Eltern die damals neueingeführte Mengenlehre beizubringen, von der ich bis dato selbst nichts gehört hatte. Ich hatte mein Zimmer bei Frau Wiegand gekündigt und war nach Mannheim in eine WG gezogen, wo ich zusammen mit Gaby Trunk und Meskalinpeter zusammenwohnte. Gaby Trunk hatte in eben jenem Institut für Privatunterricht als Sekretärin gejobbt und, im Gegensatz zu Michaela, Probleme wegen ihres zu kleinen Busens. Da sie deshalb Heteromännern möglichst aus dem Weg ging, war sie vorwiegend mit Schwulen zusammen. Ihr Ideal war der androgyne Mann, den sie in Meskalinpeter ideal 63
verkörpert sah. Meskalinpeter hatte eine auffällige Ähnlichkeit mit Struwwelpeter und hatte seinen Afrolook mit Henna knallrot gefärbt. Außer vom Strich lebte er vom Dealen, wobei er selbst sein bester Kunde war. Er war der einzige Stricher, den ich bisher kennengelernt habe, der seinen Beruf aus Passion ausübte, für den ihm seine gerontophile Ader sicherlich zupaß kam. Beim Frühstück, also nachmittags um 15 Uhr, tischte er uns immer seine neuesten Stories auf, die er mit seinen Mummelgreisen erlebt hatte. »An Arsch hot der gehabt, do hätten zwee Saladgurke roigepaßt«, berichtete er mit leuchtenden Augen. Seinen Anteil an der Miete beglich er mit Trips und Pieces, so daß ich schon aus diesem Grund zu einer ordentlichen Studienaufnahme nicht in der Lage war. Einer seiner besten Kunden war der Maler Budi Bärwind, der Maler, von dem ich schon bei meinem ersten Lokalbesuch im »Pferdestall« gehört hatte und der inzwischen aus seinem Pariser Exil nach Mannheim zurückgekehrt war. Er war damals Mitte Sechzig, und Meskalinpeter schwärmte davon, daß sein Kunde beim Blasen immer erst das Gebiß herausnehme. Er war durch einen Kunstskandal, der unter der Bezeichnung »Die Nachtwächter vom Hemshof« auch überregional bekannt geworden war, wieder zu Berühmtheit gelangt. Er hatte, auftragsgemäß, eine Ludwigshafener Honoratiorenstammtischrunde porträtiert, und da sein Stil ein tachistischer war, hatten jene sich nicht wiedererkannt und verweigerten das Honorar. Bärwind fühlte sich in der Nachfolge Rembrandts, der ja auch mit seiner ›Nachtwache‹ manchen Kummer gehabt hatte, zog vor Gericht und gewann. Daraufhin versöhnte sich die Mannheimer Gesellschaft wieder mit ihm und verzieh ihm seine Ver64
stöße gegen den Paragraphen 175. Man war ja inzwischen liberal geworden. Die kunstverständige Gesellschaft – oder was sich dafür hielt, denn sie bestand meist aus zu Geld gekommenen Metzgersgattinnen – rechnete es sich als Ehre an, bei seinen Vernissagen zu erscheinen und Sekt zu schlürfen, den die Bärwindsche Muse, Meskalinpeter, im Frack gewandet, auf dem Tablett darbot. Auch den kleinen Eklat, als der Künstler, stockbesoffen, bei einer Vernissage statt einer Eröffnungsrede nur den Reim: »Hule, Hule, Hule. In Mannheim gibt's viel' Schwule« in die versammelte Nerzianerrunde gröhlte, verzieh man ihm mit dem Hinweis auf seine Künstlernatur. Gaby Trunk hatte, um Bildung in unsere WG zu bringen – Meskalinpeter las nur Comics –, die ›Frankfurter Rundschau‹ abonniert. Und so kamen mir also die ersten mannmännlichen Kontaktanzeigen unter die Augen. Fasziniert von dieser Form des Lotteriespiels, schrieb ich den Boy, 25, 176, 60, an. Zehn Tage später kam Antwort. Aus Berlin. Ich hatte den Boy, da er ja in der FR annonciert hatte, eher im Raum Frankfurt vermutet. Und jetzt antwortete er aus Berlin, der Stadt des Wäschereibesitzerinnensohnes, die ich seit meinem zwölften Lebensjahr unbedingt kennenlernen wollte. Von März bis Mai 1973 korrespondierten wir. Ich müsse ihn unbedingt mal besuchen, damit er mir die »wirklich aufregende« Stadt zeigen könne, lockte er mich. Er wohne in einer schwulen WG. Das war das Stichwort. Phantasien von einer Wohnung, in der schwule Männer von morgens bis abends nackt herumliefen, erregten mein Mannheimer Gehirn. Ich setzte alle Hebel in Bewegung, um nach Berlin ziehen zu können. Ich bewarb mich sogar beim Berli65
ner Senat, der damals verzweifelt westdeutsche Abiturienten suchte. Als Beamtenanwärter. Was ich vor meinen Mannheimer Bekannten allerdings verschwieg. Ich hätte die längste Zeit als progressiv gegolten. Der Senat antwortete und bat mich um ein Bewerbungsgespräch. Die Flugkosten würden erstattet. Ich lieh Geld, um die Flugkosten vorzuschießen, schrieb Christian, so hieß der Boy, 25, 176, 60, meinen Ankunftstermin und machte mich auf nach Berlin. Vom Flughafen Tempelhof mußte ich nur einmal mit der U-Bahn umsteigen, um zum U-Bahnhof Eisenacher Straße zu gelangen. Ich hatte mich besonders schick angezogen: Knautschlackclocks mit hohen Absätzen und Plateausohlen, eine enganliegende schwarze Hose und ein azurblaues Hemd mit dackelohrförmigem Kragen, wie es damals in Mannheim der letzte Schrei war. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Berlin in Modefragen der Provinz immer ein gutes Stück voraus ist, und war sehr selbsteingenommen, als ich in der Rosenheimer Straße 55 im ersten Stock stand und an einer Tür läutete, auf der ein Schild mit Christians Namen und ein zweites mit der Aufschrift »Gordon Film« stand. Ein dicklicher Mann öffnete die Tür, schaute mich mit entsetzensgeweiteten Augen von oben bis unten an und schrie dann: »Christian, Besuch für dich.« Christian kam, schaute mir erst erfreut ins Gesicht und dann irritiert auf meinen Dackelohrkragen. Christian, der Boy, 25, 176, 60, sah für seine 55, 170, 65 noch ganz passabel aus. Die schwule WG bestand zwar nur aus dem Dicken und ihm, aber dafür war die Gordon-Film-Gesellschaft eine Pornofilmkaschemme, deren Produktionen ich mir am Abend mit Christian anschauen durfte. Derart angeheizt, ertrug ich es sogar, daß während unseres 66
»Kennenlernens« der dickliche Freund auf die Matratze kroch, um auch sich vorzustellen. Zum Dank für das gelungene Kennenlernen führte mich Christian am nächsten Abend, nachdem ich tagsüber Bewerbungsunterlagen beim Innensenat ausgefüllt hatte – ich mußte ja mein Flugticket abarbeiten –, in die Berliner »Sub« aus. »Sub« stand für Subkultur und wurde mir als die Bezeichnung der Gesamtheit aller Schwulenlokale, von denen es in Berlin an die Hundert geben sollte, erklärt. Das heißeste Lokal sei das »BiBaBo«, eine Kneipe, in der Berlins Studentenschaft verkehrte. So voll, wie das »BiBaBo« an dem Abend war – es war werktags –, hatte ich den heimischen »Pferdestall« nicht einmal samstags erlebt. Ich fühlte mich angesichts der Kleidung der herumstehenden Gäste in meiner Dackelohrverkleidung wie das letzte Landei. Niemand gab mir hier ein »Hütchen« aus. Ja, man schien nicht mal Notiz von mir zu nehmen. Christian sprach mit Tausenden von Leuten, und ich vermutete, daß er mit allen, mit denen er sich unterhielt, was gehabt hatte. Ich beneidete ihn und schrumpfte trotz meiner Plateausohlen auf Zwergengröße. Er schleppte tatsächlich etwas ab. Ich trottete in meinem Hemd wie ein Dackel hinter den beiden her und mußte diese Nacht auf der Couch schlafen, von der ich, mich schlafend stellend, beobachten konnte, wie der dicke Freund nach zehn Minuten in Christians Schlafzimmer eilte. Zurück in Mannheim, teilte der Berliner Senat mir mit, er habe meine Bewerbung angenommen. Ich antwortete nicht darauf. Ich grollte Berlin und war beleidigt. Michaela, die inzwischen von ihrem Dickschwanz getrennt war, das Kaufhausproletariat seinem selbstverschuldeten Unmündigsein 67
überlassen und sich wieder meiner Freundschaft versichert hatte, erzählte ich, mir sei die dauernde Anmache in Berlin auf den Wecker gefallen. Wir fanden, daß es unserer Progressivität nicht widersprechen würde, wenn wir beide nun doch studierten. Ich hatte mich für das schicke Studium der Psychologie entschieden, sie, aus Numerus-claususGründen, für Pädagogik, und zwar Sozialpädagogik – wegen ihres linken Bewußtseins. Die Zeit bis zum Sommersemester 1974 überbrückte ich als Werkstudent in der BASF, sie als Praktikantin in einem Kinderheim. Am Wochenende kam sie immer in unsere WG, beneidete Gaby Trunk, daß diese einen so tollen kleinen Busen habe, was Gaby aschfahl über sich ergehen ließ, und erzählte von ihrem Leben in dem Kinderheim. Ein neuer Praktikant sei aus dem Westerwald ins Heim gekommen. Total süß, erst achtzehn und richtig androgyn. Gabys Gesicht bekam wieder Farbe. Natürlich habe sie ihn sich gleich »gekrallt«, er sei jedoch noch ein wenig schüchtern – »ist das nicht süß?« –, aber sie werde ihn schon bald ins Bett zerren, denn er schaue sie immer so lieb an, was ja ein Zeichen sei, daß er in sie verschossen sei. Das folgende Wochenende brachte sie ihn mit. Er sah affenscharf aus. Wie immer, wenn ich besonders interessiert bin, tat ich besonders desinteressiert. Michaela wich ihm gluckenhaft nicht von der Seite und platzte vor Stolz über ihre neueste Errungenschaft. Gaby Trunk sah ihn die ganze Zeit traumverloren an. Nur Meskalinpeter, der zwischendurch mal trampelhaft durchs Zimmer schlurfte, um nach seinen Comics zu schauen, beachtete ihn nicht, sondern erwähnte nur sein Date, das er an diesem Abend mit einem seiner Rentner hatte.
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Michaela erwähnte ihm gegenüber natürlich gleich mein Schwulsein, und wie toll sie das finde, und daß es in Schwulenlokalen immer so toll sei, weil man da nicht angemacht werde. Er war rot geworden. Ich witterte eine Chance. Ich tat noch desinteressierter. Ich sei eher an so richtigen, älteren Männern interessiert, so zwischen Fünfundzwanzig und Dreißig. Gleichaltrige oder jüngere Männer würden mich überhaupt nicht interessieren. Und ob er schon mal in einem Schwulenlokal gewesen sei. Er verneinte. Dann könnten wir ja zusammen, Michaela, er und ich, am Abend eines besuchen. »Ich werde schon dafür sorgen, daß du nicht blöd angemacht wirst«, erklärte ich. Michaela war Feuer und Flamme für diesen Vorschlag. Konnte sie doch im »Pferdestall« sicher sein, auf keine unliebsame Konkurrentin zu stoßen. In der Schwulenszene Mannheims begann damals langsam die Ära der weißen Hosen. Wir saßen an einem Tisch, laberten Wilhelm, so hieß der Ephebe, mit Stories aus unserer gemeinsamen Schulzeit voll und versuchten, uns gegenseitig mit Anekdoten zu übertrumpfen. Auch Michaela bemerkte jetzt unbewußt unsere Konkurrenzsituation. Die Tür ging auf Herein trat Mark Spitz. Nein, nicht Mark Spitz, sondern jemand, der unter seinem weißen Anzug eine ähnlich unverschämt gute Figur verbarg. Michaela und ich vergaßen für kurze Zeit, unser Opfer weiter zu bearbeiten, bewahrten dann aber wieder Haltung, um mit dem »Weißt du noch?« weiterzumachen. Das Bier zeigte bei Wilhelm Wirkung. Während er auf der Toilette war, waren Michaela und ich besonders liebenswürdig zueinander. Wilhelm kam aus der Toilette wieder heraus, wollte an unseren Tisch zurück, trat dem Mark Spitz »aus Versehen« auf die Füße, entschuldigte sich und begann mit ihm zu plaudern. 69
Die nächsten zwei Stunden versuchten Michaela und ich uns von einer Übersprungshandlung zur nächsten zu hangeln und uns gegenseitig unserer besten Laune zu versichern. Als wir später allein nach Hause gingen, sagte Michaela in unser Schweigen hinein den Satz, den Pfälzer sagen, wenn sie jeglichen Boden unter den Füßen verloren haben: »Holla, die Bach' brennt.« Peter Brenneisen schrieb aus Marburg. Er war auf dem Weg zum Jet-set schon einen Schritt weitergekommen. Nachdem er bei der Bundeswehr leider nicht als Zeitsoldat angenommen worden sei – »wegen meines Bückgrats« –, habe er sich in Jura eingeschrieben und sei jetzt einer schlagenden Verbindung beigetreten. Mir wurde fast so übel wie damals, als er mich für seine Zwecke benutzen wollte, via Fabrikantengattin zu den oberen Zehntausend aufzusteigen. Er hatte in seinem Flugklub, bei dem er den Flugschein gemacht hatte, der ja in gewissen Kreisen dazugehört, eine dralle Blondine kennengelernt: Brigitte Geiersdorfer. Sie hatte von ihrem Mann die Druckerei Geiersdorfer geerbt und verlebte die Zeit bis zu ihrem nahen Klimakterium im Casino des Flugplatzes von Bad D. Peter Brenneisen, der zuviel Simmel gelesen hatte, hatte es sich in den Kopf gesetzt, diese Frau als Sprungbrett in Jet-set-Kreise zu benutzen. Da er ihr Sohn hätte sein können – in Wahrheit war er mit seinen neunzehn Jahren vier Jahre jünger als ihr Sohn –, hatte die ansonsten sehr lebenslustige Witwe von Peter keinerlei Notiz genommen. Und je weniger sie Notiz von ihm nahm, um so fixer wurde Peters Idee, diese Frau zu erobern. Frau Geiersdorfer war übers Wochenende in Straßburg.
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Peter überlegte sich eine spektakuläre Aktion, um bei dieser Matrone Eindruck zu schinden. Er entwendete seiner Mutter Geld, mietete sich eine Cessna und bat mich, als Copilot zu fungieren, da dies wegen der Frische seines Flugscheins Pflicht sei. Ich müsse nur neben ihm sitzen und ihm ab und zu das Funkgerät beziehungsweise das Mikrophon rüberreichen. Und im Kartenlesen sei ich ja sowieso gut. Wir flogen los. In einer solch kleinen Maschine hat man noch ein richtiges Fluggefühl. Im positiven wie im negativen Sinn. Ich betete innerlich Rosenkränze. Die einzige Orientierung, die wir hatten, war der Rhein. Und der sah aus der Luft so total verschieden von dem Rhein aus, der auf der Flugkarte verzeichnet war. Nach einiger Zeit, wir hätten eigentlich schon auf der Höhe Straßburgs sein müssen, schallten irgendwelche Laute aus dem Funkgerät. Ich versuchte, mit meinem Schulenglisch Konversation zu machen, verstand aber das Englisch der anderen Seite mit keinem Wort. Das einzige, was ich verstand, war das französische Wort »Mirage«. Wir hatten uns auf den Mulhousener Militärflughafen verflogen. Die Lotsen holten uns erst auf den Boden und hielten uns dann eine Standpauke. Wir mußten mit dem Zug zurück nach Mannheim fahren, und Frau Brenneisen zahlte aus ihrer Privatschatulle. Der Vater hatte die Kostenübernahme für den Rücktransfer der Maschine verweigert. Der Flugklub krümmte sich vor Lachen. Peter gab nicht auf Er bombardierte Frau Geiersdorfer mit Briefen, bis sie ihn schließlich einlud. Warum ausgerechnet ich mitkommen sollte, ist mir bis heute nicht erfindlich. Die Geiersdorfersche Wohnung lag im Mannheimer Stadtteil Wohlgelegen. Frau Geiersdorfer trug ein knallro71
tes Kleid, aus dem viel weißes Fleisch herausquoll, das die Konsistenz von zu lange gekochtem Bauchfleisch hatte. Da ihr Mann Waffensammler gewesen war, hingen an der Wand neben Schlachtengemälden diverse Gewehre. Peter war ganz aufgeregt und trank einen Cognac nach dem anderen. Frau Geiersdorfer, seit dem dritten Cognac durften wir sie Biggi nennen, schenkte eifrig nach. Mit steigender Betrunkenheit wurde Peter in seinen Reden immer frecher, setzte sich neben Biggi auf die Couch, faßte ihr zwischen die Beine, knüpfte ihr Kleid auf und holte eine ihrer Hängebrüste aus ihrem BH. Sie hatte ein Muttermal neben der Brustwarze, das deren doppelte Größe hatte. Er winkte mich zu sich, während er an ihren Brüsten nuckelte. Um keinen Preis wäre ich mit auf die Couch gekommen. Besoffen, wie er war, hörte er auf zu nuckeln, schaute mich mit grünem Gesicht an, lallte mir etwas Aufforderndes zu, das so klang wie: »Komm rüber, die Alte braucht zwei«, verdrehte die Augen und kotzte auf unsere Venus von Wohlgelegen. Über sie konnte er jedenfalls nicht mehr zum Jet-set aufsteigen. Er begann sich in der Jungen Union zu engagieren und wurde ihr Kreisvorsitzender. Vielleicht wird Silvester 2006 die Neujahrsansprache von Bundeskanzler Dr. Peter Brenneisen hingenuschelt. Die ZVS in Dortmund hatte mich der Uni Mannheim zugeteilt. Da ich sehr viel Freud und Reich gelesen hatte – die damals ein unbedingtes »must« waren, um als gleichberechtigter Intellektueller angesehen zu werden – und, durch jahrelange Übung mit Michaela, mich auch für einen Experten in Gesprächstherapie hielt, war mir die Entscheidung für mein Studienfach nicht schwergefallen. Jura und Betriebswirtschaft waren nicht progressiv. Ger72
manistik hätte nur zum Beruf des Lehrers geführt. Und ich haßte seit meinem Job im Kinderheim ungezogene Kinder. Medizin kam ebenfalls nicht in Frage, da ich kein Blut sehen konnte. So blieb die Psychologie als meine Berufung übrig. Tante Elisabeth Angstenberger, die ich ab und an in Frankenthal besucht hatte, um mir von ihrer jetzt über achtzigjährigen Stimme ihre Hymne vorsingen und mir zum Dank dafür zwanzig Mark zustecken zu lassen, vermutete sofort, daß ich das Fach gewählt hätte, um meiner »armen Mutter im Irrenhaus zu helfen«, was ich nicht dementierte, um mir noch einen weiteren Zwanzigmarkschein zu angeln. Ich holte mir bei der Einschreibung das Vorlesungsverzeichnis und sah mich schon als Inhaber einer Psychologenpraxis, Neurosen verscheuchend und Selbsterfahrungsgruppen anleitend. Wie hatte ich mich auf meine Kommilitonen gefreut. Ich stellte sie mir als coole Typen mit relevantem Bewußtsein vor, die den politischen Durchblick haben. Bei der Einführungsveranstaltung waren von vierzig Erstsemestern fünfundzwanzig Frauen, von denen zwei einen Knoten im Haar hatten und als Berufswunsch angaben, daß sie gerne in einer Beratungsstelle der Caritas arbeiten würden. Die Typen sahen alle aus, als wären sie Mitglieder der Jungen Union. Sie beargwöhnten meinen aufgetragenen Lidschatten und setzten sich, als ich mein Schwulsein demonstrativ vortrug, von meinem Tisch weg. Lidschatten empfand ich damals nicht etwa als ein Zeichen von Tuntigkeit, sondern er war unabdingbare Voraussetzung, um als emanzipiert zu gelten. Und Emanzipation war mir ein paar Monate zuvor in Heidelberg beigebracht worden. 73
Im »Whisky à gogo« hatte ich einen Theologiestudenten kennengelernt, der zu seinen braunen Grobcordhosen braune Cordschuhe trug. Er schimpfte fortwährend über die angepaßten »Schrankschwulen«, ließ auch an den »Szeneschwulen« kein gutes Haar und lud mich in sein Zimmer unter dem Dach eines Hauses in der Hauptstraße ein. Er legte psychedelische Musik auf, bot mir ein Glas Lambrusco – »Zwei Liter für 2,98 Mark« – an, redete sehr viel von unverklemmter Sexualität und Zärtlichkeit und hängte mir die Filzläuse an. Bei der Zigarette danach erzählte er mir von der Gruppe, in der er mit seinen emanzipierten Freunden sei. Ihr Name sei Homo Heidelbergensis, und sie seien angetreten, die homosexuelle Befreiung in Heidelberg zu verwirklichen. Er lud mich für den folgenden Dienstag zu ihrem Treffen im zweiten Stock der evangelischen Studentengemeinde ein. Auf neue Eroberungen hoffend, zog ich mich besonders schick an. Etwa zehn studentische Typen saßen in Schlabberkleidung in einem Kreis, in dem meine Filzlaus, Heiko Höhrle war ihr Name, das große Wort führte. Er sprach von Unterdrückung; Unterdrückung durch den Staat, durch den Kapitalismus, durch das Patriarchat; Unterdrückung, die uns Schwule zu den Wracks mache, die wir seien. Die einzige Möglichkeit, Uns zu befreien, sei, die in uns immer noch existierende Männerrolle zu erkennen und abzulegen. Des weiteren sollten wir Schluß machen mit der Selbstunterdrückung, die uns auf Klappen gehen lasse, um dort anonymen Sex zu praktizieren – »Heraus aus den Toiletten, hinein in die Straßen.« Kurz, wir sollten unser Schwulsein öffentlich machen. Ich war beeindruckt, kaufte mir Kajal und Lidschatten und ging nur noch mit schlechtem Gewissen auf die Klappe. So war ich schon ein emanzipierter Schwuler 74
geworden, als ich Monate später Heiko, meine Filzlaus, auf der Wasserturmklappe in Mannheim wiedertraf. Ich versprach ihm, es niemandem zu erzählen. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung befaßt sich ein Psychologiestudent nur zu dem geringsten Teil seines Studiums mit der menschlichen Psyche. Den weitaus größten Teil seiner Zeit verbringt er mit Statistik und dem mathematischen Validieren von Tests. Ich verbrachte den größten Teil meiner Zeit in der Cafeteria der Uni. Im Gegensatz zu den männlichen Antworten auf die Caritas-Tanten, die in meiner Fakultät optisch zu erdulden waren, gab es bei den Germanisten wahre Prachtexemplare von Männern. Zwar konnte ich anfänglich keinen Schwulen darunter entdecken, aber zumindest die Gespräche über Dürrenmatt, Jean Paul und Morpheme interessierten mich mehr als das Gequatsche meiner Kommilitonen über Korrelationskoeffizienten. Einer der Assistenten, leider der Schlechtestaussehende, stellte sich dann doch als schwul heraus. Er war klein, magersüchtig, hatte Haare, die Novalis nachempfunden waren, hieß Thomas Pütz und lief mit einem Hundemischling durch die Gegend, dem er, nach einer Opernsängerin, den Namen Berganza gegeben hatte. Er wirkte optisch wie das Männlein, das im Walde steht, war aber ungemein belesen, und es war eine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Auch wenn er von der Optik her das krasse Gegenteil dessen war, was mir erotisch erschien, landeten wir eines Nachts doch in der Kiste, beschlossen dann aber, unser lustvolles verbales Verhältnis nicht durch ein lustloses körperliches zu entwürdigen. Mit der Zeit hatten wir einen festen Stammtisch in der Cafeteria, und der Kaffeeumsatz des Kreises, der sich um uns herum gebildet hatte, war geeignet, das Defizit der Stadt Mannheim auszugleichen. 75
»Der Hans könnte ja auch mitmachen«, bestimmte Pütz, als der Kreis plante, anläßlich einer Feier des Germanistischen Seminars die ›Salome‹ von Oscar Wilde auf die Bühne zu bringen. Ich hatte noch nie auf einer solchen gestanden und war deswegen ganz froh, daß mir nur die Pagenrolle zugeteilt wurde, die in der Pützschen Persiflage aus fünf Sätzen bestand. Pütz selbst hatte sich die Titelrolle vorbehalten. Herodes wurde von einem Germanistikstudenten gespielt, der aus dem Hotzenwald kam und seinen Dialekt nicht abgelegt hatte. Die Rolle der Herodias spielte Hans Hauster, ein leptosomer Volkswirtschaftsstudent, der unter seiner hennaroten Pagenfrisur eine randlose Acht-Dioptrien-Brille trug, die seine Augen auf Stecknadelkopfgröße verkleinerte. Mit von der Partie war auch Maria Bettel, eine kleine, dicke Geographiestudentin. Pütz beschrieb ihr Gesicht als einen gelungenen Versuch, einen Vanillepudding an die Wand zu nageln. Sie versuchte ihrerseits, von dieser Gallertmasse mit einer Hornbrille abzulenken. Ihr großes Vorbild war Marilyn Monroe, die Maria auf rührende Art zu imitieren trachtete. Da sie beim besten Willen nicht auf der Bühne einzusetzen war, aber trotzdem bei uns mitmachen sollte, denn ihr Vater hatte ein Textilgeschäft, und wir brauchten ja Kostümstoffe, baten wir sie, für die Tontechnik Verantwortung zu tragen. Das heißt, sie hatte die Aufgabe, eine Tonbandkassette in einen Kassettenrecorder zu legen und auf »Play« zu drücken. Die Aufführung sollte in einer Klosterruine stattfinden und um 21 Uhr beginnen. Wir hatten das Stück so inszeniert, daß sich einige Mitglieder der Professorenschaft in den dargestellten Figuren wiedererkennen konnten. Wir waren geschminkt und spielbereit. Maria Bettel war nicht da. Und mit ihr fehlte die Bühnenmusik. Es wurde 21.30 76
Uhr. Das Publikum unruhig. Wir hysterisch. Da rauschte Miss Piggy in die Garderobe mit hochaufgetürmter Frisur und einem grünen Abendkleid. Sie bat, die Verspätung zu entschuldigen, da sie sich für ihren Auftritt noch habe umziehen müssen. Auf Pützens entnervte Frage, von welchem Auftritt sie spreche, antwortete sie ganz unschuldig: »Ja, wenn ich mich nachher als Tontechnikerin beim Applaus verbeugen muß.« Die Aufführung brachte dann wirklich viel Applaus. Maria Bettel strahlte, als hätte sie den Oscar gewonnen, und gab fortan als ihr Hobby »Theaterspielen« an. Wir beschlossen, eine Theatergruppe zu gründen, der wir den Namen Compagnia Palatina – Studiobühne der Universität Mannheim gaben. Mein eigentliches Studium handhabte ich jetzt nur noch als Scheinstudium, das heißt, ich belegte die Pflichtvorlesungen und Pflichtseminare und legte meine Pflichtscheine ab. Fortan ging ich in meinen Cafeteriadebatten und Theaterproben auf War die ›Salome‹ nur eine Fingerübung gewesen, so wagten wir uns jetzt an Shakespeare, den wir – wir waren ja mit Ausnahme von Pütz, der mal eine Schauspielausbildung abgebrochen hatte, Laien – im Stil der Brownschen Wandertheatergruppen des 17. Jahrhunderts inszenierten. Mit viel Sex and Crime. Wir kramten vor allem die unbekannteren Stücke aus, um dem Vergleich mit professionellen Bühnen aus dem Weg zu gehen, und reüssierten mit einer ›Was-Ihr-Wollt‹-Adaption und ›Titus Andronicus‹. Als gelehriger Schüler von Pütz wagte ich mich mit der Zeit an größere Rollen und war hochbeglückt, als ich meinen Namen, allerdings falsch geschrieben, in einer Zeitungskritik wiederfand. Zwar nicht im Feuilleton, aber
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immerhin im Lokalteil unter der Überschrift »Gelungener Studentenulk«. Später gingen wir mit unseren Stücken sogar auf Tournee. Wir klapperten die Pfarrgemeindesäle, Dorfgemeinschaftshäuser und die Mehrzweckhallen der umliegenden kurpfälzischen Dörfer ab und waren der Mittelpunkt der Premierenfeiern, die künstlersüchtige Dorfbürgermeister mit ihren Gattinnen und ihren Gemeinderäten für uns gaben. »Dackenheim fördert die Kultur« stand dann im ›Dackenheimer Landboten‹. Während der Semesterferien arbeitete ich weiterhin bei BASF. Ich hatte es allerdings inzwischen geschafft, aus dem Lumizillager ins Archiv aufzusteigen. Dort wurden die bearbeiteten Auftragsblätter gesammelt, nach Auftragsnummern sortiert und in Ordnern abgelegt. Man fühlte sich hier als etwas Besseres als die Arbeiter in der Lagerhalle, verdiente zwar weniger, weil man keine Schichtzulage hatte, war aber immerhin Angestellter. Es gab eine strenge Hierarchie. Die Auftragsnummern waren siebenstellig. Erst eine zweistellige Zahl, dann ein Buchstabe und dann eine vierstellige Zahl. Der Chef des Archivs, ein sehr penibler und verantwortungsvoller Mann mit dem Namen Backes, der wegen seiner Schwerhörigkeit von der telefonischen Auftragsannahme ins Archiv versetzt worden war, behielt sich vor, die Unmengen von Auftragsblättern, die jeden Tag hereinkamen, nach den ersten beiden Ziffern von 01 bis 99 zu sortieren. Er gab daraufhin an seinen Vertreter weiter, der die jeweiligen Stapel alphabetisch ordnete, um sie dann an uns Parias, das heißt drei Frauen und mich, weiter zureichen, die die Aufgabe hatten, die Blätter von 0001 bis 9999 zu ordnen, um sie dann abzulegen. Einmal pro Woche machte der 78
Chef Revision und prüfte in akribischen Stichproben, ob etwa das Blatt 69 A 4679 irrtümlich hinter 69 A 4680 abgelegt war statt davor. Er hielt mir immer lange Vorträge über die Wichtigkeit gerade seiner Abteilung, denn ohne Ordnung sei der ganze Chemiekonzern zum Konkurs verurteilt. Aufgrund der Arbeitsüberlastung – die Chemie boomte gerade – bekam unsere Abteilung Verstärkung in Gestalt eines dänischen Werkstudenten, der aus Ǻrhus stammte und Niels Mammen Drews hieß. Er sah aus, wie sich Lieschen Müller einen Dänen vorstellt: lang, blond, blauäugig, schlaksig. Leider war er nicht schwul. Unsere gemeinsame Unterdrückung durch den Archivleiter ließ uns aber bald Freundschaft schließen. Er wohnte in Mannheim in einem konkursgegangenen Hotel, das von der BASF gekauft und zum Arbeitnehmerwohnheim umgestaltet worden war. Da dort nur Männer im besten Alter untergebracht werden durften und die Heimleiterin, eine Exilrumänin, eifersüchtig darüber wachte, daß kein Damenbesuch mitgebracht wurde, hieß das Heim im Volksmund »Bullenkloster«. Niels war begeisterter Motorradfahrer, und so genoß ich es, mit ihm am Wochenende auf seiner Kawasaki 750 durch die Pfalz zu fahren und ihm die Stätten meiner Kindheit zu zeigen. Auf einer dieser Touren machten wir Rast in dem Weingut, das Michaelas Eltern gehörte. Michaela war anwesend, da die Weinlese bevorstand und die Familie auf keine helfende Hand verzichten konnte. Es funkte zwischen Niels und Michaela. Da auch Niels' Körperteil eine Linkskrümmung hatte, die Michaela so schätzte, bewarb sie sich zum Wintersemester 1974/75 an der Pädagogischen Hochschule in Flensburg, das nur zwei Stunden von Ǻrhus entfernt lag. 79
Sie war mir ja sooo dankbar, daß ich zwischen ihr und Niels die Rolle des Amors gespielt hatte, und schrieb mir seitenlange Briefe über ihr Glück. Sie habe niemanden sonst, mit dem sie sich aussprechen könne, da die norddeutsche Mentalität ja eine ganz andere als die pfälzer sei und es vor allem gravierende Unterschiede im Humor gebe. Da ihre Briefe immer sehnsuchtsvoller wurden, fuhr ich Ostern 1975 nach Flensburg. Sie lebte über einer Metzgerei in der Nähe des Nordertors zusammen mit Urte aus Bistensee. Urte hatte ein Gesicht wie die norddeutsche Tiefebene, dessen einzige Erhebung ihre Akne war. Sie beklagte sich sogleich, daß Michaela sie immer unterdrücke und die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindere. Michaela nannte sie eine holsteinische Kuh, die sich gefälligst zu emanzipieren habe. Michaela war inzwischen Frauenrechtlerin geworden. Das zeigte sich insbesondere darin, daß die ganze Wohnung voller gehäkelter Lampenschirme hing, die die Farbe Lila hatten. Abends war eine Fete in der Pädagogischen Hochschule angesagt. Michaelas Frauengruppe hatte dort einen Stand. Wir gingen hin. Vorneweg – Michaela war nicht nur gewichtiger, sondern auch größer als ich – in einem wallenden Gewand die emanzipierte Pfälzerin. Ich in der Mitte, mit Lidschatten und einem Ohrring, was gerade der letzte Schrei war. Zuletzt die unterdrückte Kuh aus Bistensee. In Mannheim war meine Größe eigentlich nie aus dem Rahmen gefallen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich mit meinen hundertsiebzig Zentimetern als klein zu bezeichnen. Aber hier, im hohen Norden, war ich ein Zwerg unter Riesen. Ein Schlaraffenland von 1,90-MeterTypen, mit Figuren, als hätten sie jahrelang Sport getrieben. Ich war hin und weg. Am Frauenstand wurde ich anfangs freudig begrüßt. Die Tatsache, daß ich einen Ohr80
ring trug und Lidschatten aufgelegt hatte, wurde allgemein dahingehend interpretiert, daß ich der Mackerrolle eine barsche Absage erteilt hätte und auf dem Weg zum neuen Mann sei. Als ich aber im Laufe einer Penetrationsdiskussion erwähnte, daß ich angesichts der in der PH versammelten Männlichkeit gegen Penetrierungen überhaupt nichts einzuwenden hätte, schlug mir das geballte neue Frauenbewußtsein entgegen. Auch Michaela konnte den angerichteten Schaden mit dem Hinweis, daß das nun mal Pfälzer Humor und gar nicht ernst gemeint sei, nicht mehr gutmachen. Unter Schimpf und Schande verzog ich mich von dem Fest, um mich zum »Club 69«, dem einzigen Lokal, das ich unter Flensburg im ›Gay-Guide‹ gefunden hatte, zu begeben. Außer dem zahnlückigen Türöffner, der in Personalunion als Barkeeper fungierte, war ein Hüne anwesend, dessen Pranken mir signalisierten, daß er tagsüber auf der Werft harte körperliche Arbeiten zu verrichten hatte. Die Ränder unter seinen Fingernägeln hatte er mit Nagellack überstrichen. Später kam noch ein Mittdreißiger ins Lokal, der mir aus seinem Leben erzählte. Er war verheiratet und Besitzer der Flensburger Freibank. Da wir wegen seiner Frau nicht zu ihm und wegen Urte – und überhaupt – nicht zu Michaela gehen konnten und auch nichts Besseres nachkam, fuhr ich mit ihm ins nahe Glücksburg, wo wir uns im Hotel »Intermar« einmieteten. Geld schien man mit Freibanken zumindest zu verdienen. Der Preis des Zimmers betrug achtzig Mark, ein Viertel meines Bafögs. Das Zimmer selbst erschien mir, damals, als der Inbegriff des Luxus. Oben angekommen, zog ich mich aus. Er verzog sich ins Bad. Ich mich ins Bett. Er kam nackt zurück, und sein gutgebauter Oberkörper kündete von all jenen schweren Schweinehälften, die er tagtäglich zu schleppen hatte. 81
Er stellte sich vor das Bettende, griff sich ins Haar und warf sein Toupet auf mich. Es war mir nicht möglich, seinem Wunsch gemäß auf die Innenseite des Toupets abzuspritzen. Enttäuscht ging er zur heimischen Freibank zurück. Ich hatte tags darauf nicht genug Geld, um den Bus nach Flensburg zu bezahlen, und mußte, beäugt von dem sehr vornehmen Portier, vor dem Luxushotel, in dem ich die Nacht verbracht hatte, stehen, um per Anhalter nach Flensburg zurückzukommen. Für das entgangene Glück sollte ich auf der Heimfahrt nach Mannheim entschädigt werden. In Schleswig hatte ein Bundeswehrsoldat den Zug bestiegen und saß mir schweigend bis Hamburg gegenüber. Hinter Hamburg verbot uns die Dunkelheit, weiter aus dem Fenster zu schauen und so zu tun, als betrachteten wir die Landschaft. Er fixierte mich und meinen Ohrring, fragte mich, warum ich einen Ohrring trüge, und ich antwortete, emanzipiert, wie es mir von der Homo Heidelbergensis befohlen worden war, daß ein Ohrring, links getragen, bedeute, daß man schwul sei. »Bist du schwul?« fragte er, wohl links und rechts verwechselnd. Mein trotziges Emanzipationsbedürfnis kämpfte mit einer knallroten Birne. »Ja, natürlich!« antwortete ich, schon kleinlauter, jetzt irgendwelche diskriminierenden Äußerungen befürchtend. »Wollen wir's treiben?« fragte er mich. So unvermittelt und unverschämt hatte mich seit Dietrich Ritter in meiner Schulzeit noch niemand angemacht. Ich grunzte ein verlegenes: »Tja.« Er zog die Vorhänge des Abteils zu, seinen Reißverschluß runter und seinen Schwanz raus. Ich sollte ihm einen blasen. Ganz so weit hatte ich mich von der Homo Heidelbergensis nun doch noch nicht emanzipieren lassen. Zumal 82
auf dem Gang vor dem Zugabteil eine ältere Frau auf- und abmarschierte. Er schien meine Verlegenheit zu genießen. Ich bot ihm als Kompromiß die Zugtoilette an, was er zögerlich akzeptierte. Wir gingen hin, und er penetrierte mich. Die Flensburger Frauengruppe wäre vor Zorn erbebt oder vor Neid erblaßt. Kurz vor Hannover warfen wir die Tempos in das Zugklo und betätigten die Spülung. Es war das erste Mal, daß mir Penetration Spaß gemacht hatte. Seit dem ersten »Stich« von Dietrich Ritter, der nicht nur höllisch weh getan hatte, sondern auch mit einer für mich erniedrigenden Situation verknüpft gewesen war, »blieb mein Arsch Jungfrau«, wie die schöne Mannheimer Bezeichnung dafür war. Passiv sein war mit für mich so negativen Vorstellungen wie Frau sein, unterlegen sein, tuntig sein, schwach sein, ausgeliefert sein, verknüpft. Ich war stolz darauf, der Aktive zu sein, und verachtete alle »Fotzen«, die sich bumsen ließen. Wer mir seinen Arsch hinstreckte, den betrachtete ich von vornherein als den mir Unterlegenen. Auch in der Emanzengruppe Homo Heidelbergensis wurde das Thema aktiv oder passiv oder aktiv und passiv vollkommen ausgespart. Höchstens hinter vorgehaltener Hand wurden ab und zu Witzchen gerissen über »die«, die sich so gerne den »Arsch pudern« lassen. Man(n) ließ so etwas nicht mit sich machen, und wenn man(n) es trotzdem machen ließ, war man(n) Frau. Ich kannte keinen, der offen und selbstbewußt dazu stand, »es« sich machen zu lassen. Gab es Fälle von Analtripper, so erfuhr ich später, infizierte sich der Betreffende mittels Schmierinfektion erst vorne an der »richtigen« Stelle, bevor er zum Arzt ging, dem er etwas vom Hafenbordell erzählte, in der Hoffnung, daß, was vorne hilft, auch hinten helfe. 83
Überhaupt Geschlechtskrankheiten. Filzläuse waren eine mittlere Katastrophe, und es gab nichts Peinlicheres, als in der Apotheke Jacutin zu besorgen, das auch bei der jährlich auftretenden Krätze von Vorteil war. Bei meinem ersten Tripper, den ich wirklich »vorne« hatte, bin ich extra nach Karlsruhe zu einem Arzt gefahren, da ich mich in Mannheim nicht traute. Im Wartezimmer traf ich übrigens einen anderen Mannheimer, der wahrscheinlich aus den gleichen Gründen da war. Wen die Syphilis traf, der gelobte, zumindest die ersten zehn Tage lang, niemals wieder auf die Klappe zu gehen. Mit der Zeit lernte man dann mit diesen Zipperlein zu leben, ja man begann sogar die Syphilis zu schätzen – konnte man doch während der zehntägigen Spritzenkur unbeschwert genießen, da das Penizillin während dieser Zeit einen Schutz vor Tripper bot. Bis die Hepatitis ins schwule Leben einbrach und wieder, eine Zeitlang zumindest, Furcht, Schrecken und gute Vorsätze verbreitete. 17.5.1975. Ein wegen der Zahlenassoziation magisches Datum. Die Homo Heidelbergensis veranstaltete anläßlich dieses Feiertags eine Filmvorführung in einem Heidelberger Kino. Gezeigt wurde: ›Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt‹. Der Regisseur mit dem damals für mich unverständlichen weiblichen Vornamen Rosa – den Nachnamen »von Praunheim« erkannte ich erst später als Pseudonym – war höchstpersönlich anwesend. Während des Films, von dem mir als bleibende Erinnerung noch die Szene gegenwärtig ist, als mehrere nackte Typen in einem Bett lagen – Gruppensex war für mich damals eine zwar ersehnte, aber außerhalb der realen Möglichkeiten liegende Vorstellung –, während des Filmes liefen bei einer Tuntenszene einige der 84
schlimmsten Tunten Mannheims mit der Bemerkung: »So simmer net« aus dem Kino. Ich traf im Kino zwei Mannheimer, die ich vom Sehen in der Klappe her kannte. Rosa von Praunheim war sehr agitatorisch und für mich, damals noch, vorbildlich. Er rief zur schwulen Befreiung auf. Ich setzte mich mit den beiden Mannheimer Klappenbekanntschaften anschließend auf ein Bier ins »Weiße Lamm«, wir redeten über den Film und das schwule Leben in Mannheim – die einzige Schwulenkneipe, der »Pferdestall«, war im Jahr zuvor eingegangen – und kamen zu dem Entschluß, daß »man was« machen müsse. So entstand die Schwule Aktion Mannheim, kurz SchAM genannt. Ich richtete auf meinen Namen ein Postfach ein, stellte meine Telefonnummer als erste Kontaktmöglichkeit zur Verfügung, entwarf mit Thomas Pütz, der zu unserer Initiative gestoßen war, ein Flugblatt, und wir verteilten es in der Uni. Der wöchentliche Treff sollte in meiner Einzimmerwohnung stattfinden. Diese hatte ich im Wintersemester 1974/75 bezogen, nachdem die WG mit Meskalinpeter und Gaby Trunk aufgelöst worden war. Gaby Trunk war nach Berlin gezogen, um auf dem Berlin-Kolleg das Abitur nachzumachen, und Meskalinpeter war einem Schweizer Freier nach Basel gefolgt. Anfänglich richtete ich mich mit Sperrmüll ein, aber nachdem meine Mutter die Überdosis Schlaftabletten dem überdrüssigen Leben im Irrenhaus vorgezogen hatte, erbte ich die ehemalige Wohnzimmereinrichtung, die ihr als einziges Gut nach zehnjähriger Gütergemeinschaft geblieben war. Die Couchgarnitur zu übernehmen weigerte ich mich allerdings. Meinen antibürgerlichen Stolz hatte ich noch. 85
Unsere Schwulengruppe wuchs allmählich auf zwölf Mitglieder an. Die meisten davon sahen sich jedoch mehr als Freizeitgruppe, die gemeinsam wandern und ausgehen wollte. Ich lernte damals, wie schwer es ist, Schwule zu aktivieren. Nach außen hin gaben zwar alle vor, politisch arbeiten zu wollen, in Wahrheit aber wollten sie nur etwas fürs Bett. Ich genauso. Aber zumindest hatte ich für mich das Feigenblatt, politisch tätig zu sein, da ich Flugblätter in der Uni verteilte. Da ich meine Telefonnummer zur Verfügung gestellt hatte, war mir, ohne es anfangs zu ahnen, eine Machtfunktion erwachsen. Die erste Kontaktaufnahme lief über mich, ich hatte somit das Jus primae noctis bei den Neuzugängen. Was allerdings den Nachteil hatte, daß diejenigen, die mit mir nichts anfangen konnten, der Gruppe fernblieben. Einer der ersten, die anriefen und mit denen ich mich traf, war ein gewisser Michael Geiersdorfer, der sich als der Sohn der Peter Brenneisenschen Kotznummer herausstellte. Ich erzählte ihm nichts von dem Privatleben seiner Mutter, in deren Druckerei er unsere Flugblätter drucken ließ. Nach jedem unserer donnerstäglichen Treffen beschwerte sich Herr Röhrhirsch, mein Etagennachbar, über das dauernde Kommen und Gehen meiner Besucher. Er war Anfang Fünfzig, hatte seine grauwerdenden, nachblondierten Haare mit viel Haarspray über die Stirnglatze gelegt, so daß seine Frisur jenen glich, die als Trümmerfrisuren in den Vierzigern en vogue waren, und hielt viel von Kultur, die er mit einem Theaterabonnement auszuleben pflegte. Meiner Hausmeisterin hatte er erzählt, daß das langhaarige Gesindel, das bei mir ein- und ausgehe, sicher eine terroristische Vereinigung darstelle, die den Umsturz 86
plane. Meine Hausmeisterin, Frau Pauli, die mich ins Herz geschlossen hatte, – weil ich immer so »akkurat« die Treppe putzte – was Herr Röhrhirsch nicht tat –, erzählte mir seine Beschwerden immer brühwarm weiter und auch, daß sie mich Herrn Röhrhirsch gegenüber immer in Schutz nehme. Das einzige, was sie an Herrn Röhrhirsch lobte, war seine »wunderschön eingerichtete« Wohnung. Alles sei »ganz in Barock, voller Kristallüster und sündhaft teurer Messingleuchter«. Das röhrhirschsche Doppelleben trat zutage, als er eines Tages eine sündhaft teure Sünde in Gestalt eines Bahnhofsstrichers mit in sein barockes Zuhause nahm und dieser ihm den Messingleuchter über den Kopf schlug und ihn ausraubte. »Mit Männern, mit Männern hat er es gemacht«, empörte sich Frau Pauli, als ich sie scheinheilig ahnungslos nach dem Grund des – wegen der allgemeinen Schande daraufhin erfolgten – Auszugs von Herrn Röhrhirsch fragte. Und auf meine noch ahnungslosere Frage, was sie wohl damit sagen wolle, japste sie nur »Ja, mit Männern halt!« Daß der nette junge Mann, der immer so schön die Treppe putzte und immer donnerstags mit seinen Studienkollegen lernte, selbst so ein Hirsch war, wäre Frau Pauli nie in den Sinn gekommen. Die Schwule Aktion Mannheim war in den Verteiler der baden-württembergischen Schwulengruppen aufgenommen worden. Außer in Heidelberg existierten noch in Karlsruhe, Freiburg und Stuttgart solche Gruppen. Später kamen Konstanz, Offenburg, Ulm, Tübingen und Ravensburg dazu. Jede dieser Gruppen bestand aus fünf bis zehn Aktivisten – daß auch Passivisten dabei waren, stellte sich dann bei den Treffen heraus – und suchte in ihren Schreiben den Eindruck zu erwecken, daß hinter ihnen die 87
schwulen Massen der jeweiligen Stadt ständen. Da sie alle ihrem Selbstverständnis nach politische Gruppen waren, versuchten sie, verbal möglichst radikal zu sein und die anderen Gruppen als unpolitisch, bürgerlich oder konservativ zu denunzieren. Das Vorbild aller war die Homosexuelle Aktion Westberlin, HAW, deren Flugblätter als Enzykliken in die Provinz verschickt und als unfehlbar betrachtet wurden. Anläßlich eines Treffens in Freiburg, bei dem neben den Baden-Württembergern auch Berliner Vertreter anwesend waren, mußten diese nur ihre Herkunft erwähnen, und jeder eventuell geplante Widerspruch verstummte und wich dem demütigen Beifall. Daß die herbeigereisten Berliner Vertreter ihre Thesen meist mit schwäbischem Akzent verkündeten, weil sie erst zwei Jahre zuvor nach Berlin gezogen waren, tat nichts zur Sache. Die trotzige Provinz gebärdete sich bald noch radikaler als die als radikal verschriene Berliner Mutter. Der »Tuntenstreit« wurde in Heidelberg verbissener ausgefochten als in Berlin. In Karlsruhe flossen literweise Tränen und Nagellack. In Freiburg war man als Faschist verschrien, wenn man eine Lederjacke trug. Wer zugab, an Klappen oder Parks seinen Gefallen zu finden, war in Konstanz schwulenpolitisch nicht mehr tragbar. Wer gerne promiskuitiv lebte, war in Karlsruhe ein Vertreter des schwulen Selbsthasses. Wer Zweierbeziehungen vorzog, war in Heidelberg ein Vertreter der herrschenden Sexualmoral. Wir Mannheimer standen ratlos da, hatten noch keine festgezimmerte Ideologie und wurden deshalb von allen angefeindet. Herumreisen war überhaupt das Lebenselixier der Schwulengruppen. Spötter meinten, das Wort »Schwulen88
bewegung« komme daher, daß sich die Schwulen unentwegt von einem Treffen zum anderen bewegten. Inhaltliche Fragen standen dabei nur vermeintlich im Vordergrund. Ja, sie standen meist oft dem eigentlichen Reisegrund im Wege – dem Erweitern des Jagdreviers auf neue, unbekannte Städte nämlich. Ging man auch innerhalb der jeweiligen Gruppe nicht immer freundlich miteinander um, ja, eskalierten Neid, Eifersüchteleien und die Wut über den ausgespannten Liebhaber oft zu einem wahren Kleinkrieg unter den Gruppenmitgliedern, so demonstrierte man bei solchen Treffen nach außen hin eine wahre Orgie des Wir-Gefühls. Die jeweilige, natürlich äußerst politische Arbeit wurde bei der Vorstellung der Gruppen nach der Anreise in den schillerndsten Farben geschildert. »Wir aus Stuttgart«, »Wir aus Karlsruhe«, »Wir aus Heidelberg« kämpften natürlich an vorderster Front gegen Diskriminierung, wo immer sie in der jeweiligen Stadt ihr schändliches Haupt erhob. Jedes noch so verunglückte Flugblatt wurde zum politischen Manifest hochstilisiert. Sich dadurch gegenseitig der jeweiligen politischen Relevanz versichert habend, konnte man zum gemütlichen Teil des Abends übergehen. Die Gruppendynamik wurde damals als Mittel der politischen Arbeit entdeckt. Und so fanden sich bei Kommunikationsspielen jeweils neue Paarkonstellationen zusammen, die sich nachts im oder auch auf dem Schlafsack für die Arbeitsgruppen am nächsten Tag vorbereiteten. Der nächste Tag war dann der eigentlichen Arbeit gewidmet. In Arbeitsgruppen wie »Frauen, Schwule, Lesben« wurde das Verhältnis der Bündnispartner im gemeinsamen politischen Kampf gegen das Patriarchat diskutiert. Die Diskussionsergebnisse, die meist aus der Erkenntnis bestanden, daß die jeweilige Arbeitsgruppe viele wichtige 89
Fragen aufgeworfen habe, die bei einem Folgetreffen vertieft werden müßten, wurden auf dem Abschlußplenum vorgetragen, dem sich dann eine Fete anschloß. Diejenigen, die am Abend zuvor entweder keinen Partner gefunden hatten oder bei denen sich die zu schnelle Wahl als Mißgriff herausgestellt hatte, suchten noch schnell ihr vermeintliches Glück, um zu Hause berichten zu können, wie erfolgreich das Treffen abgelaufen sei. Nach durchtanzter oder – im Glücksfall – durchfickter Nacht verabschiedete man sich sonntags nach dem Frühstück emotional voneinander. Emotional war die Bezeichnung dafür, daß man als emanzipierter Gruppenschwuler ja nicht wie die unemanzipierten »Subschwulen« mit einem »Tschüs« oder einem »Auf Wiedersehen« voneinander scheiden konnte. Nein, emotional hieß, erst Hinz minutenlang zu umarmen, zu drücken und zu herzen, um sich dann Kunz zuzuwenden, um mit ihm die gleiche Prozedur zu absolvieren. Man gelobte sich gegenseitig, in Kontakt bleiben zu wollen und sich spätestens beim Folgetreffen wieder zu sehen, wo man die noch offenen Fragen vertiefen wollte. Ein solches Folgetreffen auszurichten, hatte im Sommer 1978 die Schwule Aktion Mannheim die Ehre. Im Herbst zuvor war ein dreiundvierzigjähriger Heizungsingenieur zu uns gestoßen, der, nachdem seine Mutter, mit der er bis dato zusammengelebt hatte, gestorben war, einen neuen Lebensinhalt suchte. Er hatte eine Bodybuilding-Figur, was damals noch als Relikt des 50er-Jahre-Schönheitsideals galt; leptosom sein war Trumpf. Aber er hatte ein Auto. Und da die Mannheimer Lokalszene mit dem Hinscheiden des »Pferdestalls« ausgestorben war, gedachte ich, mit seiner Hilfe die Subkultur der umliegenden Großstädte heimzusuchen. Werktags lernten wir die Vielfalt der 90
schwulen Lokale in Karlsruhe, Darmstadt, Frankfurt, Kaiserslautern, Saarbrücken und Mainz kennen, eben alle Städte, die mit dem Auto in neunzig Minuten zu erreichen waren. Am Wochenende fuhren wir in die weitere Umgebung wie Stuttgart, Freiburg, München oder Basel. Heinrich Heller, der Heizungsingenieur, wurde für seine Chauffeurdienste dadurch belohnt, daß er durch mich die Welt – oder was wir dafür hielten – kennenlernte und ab und an ein Mann für ihn abfiel. Paradoxerweise zeigte ein Vierundzwanzigjähriger einem Dreiundvierzigjährigen, der von seiner Mutter unter Kuratel gehalten worden war, das Leben. Heinrich besaß aber nicht nur ein Auto, sondern auch einen ehemaligen Bauernhof in einem im nahen Odenwald gelegenen Zweihundertseelendorf Diesen hatte er ausgebaut, und der Clou des Hofes war ein quadratisches Badezimmer, in dessen Mitte eine runde Badewanne stand, die acht Personen Platz bot. Er hatte aber bisher immer alleine darin gebadet. Sein einziger Lebensinhalt war jetzt die Gruppe geworden. Und so war er Feuer und Flamme, als ich ihn fragte, ob wir das nächste von der Mannheimer Gruppe auszurichtende Treffen nicht in seinem Bauernhof abhalten könnten. Schon um die anderen Gruppen zu ärgern, hatten wir vor, im Emanzipationswettstreit zu siegen und ein Treffen zu veranstalten, von dem man noch in zehn Jahren reden sollte. Heinrich beschloß, bis dahin die angrenzende Scheune als Gruppenschlafhaus auszubauen. Ich meinerseits beherzigte die in der Arbeitsgruppe »Frauen, Schwule, Lesben« aufgeworfenen offenen Fragen und lud neben den baden-württembergischen nicht nur die Schwulengruppen aus dem Saarland, aus Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Frankenland, sondern auch die Heteromänner91
gruppe und die Frauengruppe Mannheims ein. Lesbengruppen kannte ich noch nicht. Es sollte ein Festival der Bündnispartner werden. Auf unsere Einladungsschreiben meldeten sich hundertfünfzig Teilnehmer an, also mehr als das Fünffache der sonstigen Treffen. Jetzt wurde es Heinrich doch etwas mulmig zumute. In Mannheim konnte er als Schwuler relativ anonym und unerkannt leben. Wie aber sollte er in diesem Dorf ein Treffen von über hundert Tucken den anderen zweihundert Einwohnern erklären? Als Freitag nachmittag die ersten Teilnehmer aus Würzburg anfuhren, waren wir noch damit beschäftigt, das Dach der zum Gästehaus umfunktionierten Scheune zu decken. Die Handwerker hatten uns im Stich gelassen. Die Würzburger, unter denen einige besonders reizvolle Exemplare der Gattung Mann anzutreffen waren, konnten es nicht mit ansehen, wie wir uns abschufteten. Sie zogen sich bis auf den Minitanga aus und streckten auf der Wiese hinter der Scheune ihr wohlgeformtes Hinterteil der Junisonne entgegen. Nicht nur die Dorfjugend konnte diese Szenerie begutachten, sondern auch die Mannheimer Frauengruppe, die fünfköpfig in einem VW-Bus die Dorfstraße hochfuhr und hinter der Scheune parkte. »Schlimmer als jeder sandbedeckte Hintern auf einem ›Stern‹-Titelbild«, ereiferte sich die Oberfrau Katja später in einer alternativen Mannheimer Zeitung. Die Würzburger hätten sich zu Sexobjekten degradiert und ihr Hinterteil zu Markte getragen. Katja wollte da auf keinen Fall Kauffrau sein. Und als, nach getaner Dachdeckung, ich mit zwei anderen Mannheimern, einem Darmstädter und einem Schnuckel aus Konstanz in der Rundbadewanne planschte und gerade dabei war, den Konstanzer zu decken, rauschte 92
Katja ins Bad und machte auf dem Absatz kehrt, um ihre Frauengruppe zum Heimfahren zu bewegen. »Die Herren wollten offensichtlich ›Zärtlichkeiten‹ austauschen«, empörte sich Katja vor den Zeitungslesern, »in einer Badewanne mit viel Schaum!« Also doch nicht so offensichtlich. Mit meiner frevelhaften Alemannendeckerei hatte ich die Allianz der Frauen- und Schwulenbewegung auf das Nachhaltigste zerstört. Gott verzeiht, Katja nie. Im Gegensatz zur Mannheimer Frauengruppe war die freiwillige Feuerwehr weniger mißtrauisch. Wie auf dem Land so Sitte, stattete sie unserer Samstagsfete einen kleinen Besuch ab mit der Begründung, sie wollten löschen. Und zwar den Durst, wie der Feuerwehrhauptmann scherzhaft nachschob. Kreischende Tunten rannten im Fummel durch das Haus. Die Feuerwehrmannen schauten betreten unter sich. Heinrich bekam vor Schreck fast einen Herzinfarkt, und ich rettete die Situation mit aller Geistesgegenwart, zu der ich trotz meines Alkohol- und Haschischkonsums fähig war, indem ich die Fummeltrinen kurzerhand zu Mitgliedern des Mannheimer Balletts erklärte. »Ach so, Künstler«, beruhigte sich der Feuerwehrhauptmann. Nach ein paar Begrüßungsschnäpsen durfte ich sogar seine Hauptmannsmütze aufsetzen. Das Schwulengruppentreffen in Heinrichs Bauernhof hatte zwar keine Arbeitsergebnisse gebracht, da wir die Arbeitsgruppen gestrichen und uns gleich den angenehmen Dingen des Lebens gewidmet hatten. Wir galten von .nun an als unpolitisch in der baden-württembergischen Schwulenbewegung. Aber daß wir tolle Feste feiern konnten, das mußte man uns lassen. Bei dem Treffen war ich Müsli wiederbegegnet. Er war die andere Hälfte meiner ersten schwulen Ehe gewesen. Bis zum Karfreitag 1976 hatte ich so etwas wie Leiden93
schaft gepaart mit Emotionalität nicht gekannt. Gewiß, geile Fickerlebnisse trifft man im schwulen Leben hin und wieder. Und auch für das Herz fällt ab und zu was ab. Aber irgendwas fehlte immer. Entweder die Typen waren scharf wie eine Rasierklinge, aber dumm. Oder die Typen waren exzellent im Kopf, aber im Bett eine Null. Oder sie waren geil und klug, sahen aber nicht so aus, als könne man mit ihnen im Bekanntenkreis repräsentieren. Oder sie waren geil, klug und schön – wollten aber mit einem selbst nichts zu tun haben. Und so unterteilte ich die Männerwelt nach meinen Grundbedürfnissen: In Parks, Klappen und Kneipen riß ich die Leute auf, die mir für einen geilen Fick gut zu sein versprachen. Je nach gegenseitigem Gefallen konnten auch mehrere daraus werden. Wenn sie dazu noch repräsentativ aussahen, wurden sie in der Öffentlichkeit gegrüßt. Für das gute Gespräch hatte ich meine Germanisten in der Uni. Für das Herz meine Busenfreundinnen in der Gruppe. Und so schlenderte ich Gründonnerstag 1976 abends durch den Park, mit der Absicht, mein Sexualhaushaltsdefizit auszugleichen. Außer mir war nur ein Mummelgreis anwesend, der sich aber bald, nach einem vergeblichen Anmachversuch, aus dem Staube machte. Ich stellte mich an eine Steinwand und wartete. Vielleicht kam doch noch jemand. An der Mauer. Auf der Lauer. Im »Lauergarten«. Und wirklich. Ein gelber Opel Kadett hielt gegenüber vom Parkeingang. Heraus stieg ein Wesen, dem man in den achtziger Jahren den Spitznamen »Clone« gegeben hätte. Jeanshose, Jeansjacke, circa 1,90 Meter, athletisch gebaut, Schnurrbart, gelockte, für damalige Verhältnisse kurze Haare. Die ganz kurzen Haare sollten erst später Mode 94
werden. Daß die gelockten Haare von einer Dauerwelle herrührten, das hatte ich erst später zu verwinden. Aber wenn ich schon im Park festgestellt hätte, daß dieser Mann zu seinen dunklen Haaren auch noch grüne Augen hatte, ich hätte nicht gewagt, ihn anzusprechen. Denn Typen gegenüber, die für mich die Perfektion darstellen, bin ich heute noch die Schüchternheit in Person. Aber selbst ohne die noch zu entdeckenden grünen Augen schien er mir doch eine Klasse zu hoch. In meinem, wahrscheinlich von der putzwütigen Mutter geerbten Ordnungssinn war ich immer der Auffassung, daß Gleiches zu Gleichem gehöre. Groß zu groß, klein zu klein, schön zu schön, häßlich zu häßlich. Und wenn ich mich selbst auch durchaus oberhalb der Mitte einordnete, so war ich doch nicht hoch genug über dieser Mitte, um mich mit diesem Typ messen zu können. Trotzdem nahm ich meinen Mut zusammen und sagte gekonnt locker, wie ich es zu Hause vor dem Spiegel oft geübt hatte: »Na, suchst du auch Ostereier?« Er schien diese Bemerkung für geistreich zu halten. Also hatte ich einen Punkt gewonnen. Ich wurde selbstbewußter und frecher und verfügte wie ein Westentaschennapoleon, daß wir zu mir gingen. Er widersprach nicht, und wir fuhren mit seinem Kadett, das Karlsruher Kennzeichen merkte ich mir für alle Fälle, zu mir in die Oststadt. Daß sich Männer mit großen Schwänzen gerne anal bearbeiten lassen, je größer, desto tiefer, erschien mir damals noch nicht als eine Faustregel. Mein ganzes Wertesystem wurde durcheinander gebracht, daß sich ein Kerl, der jeder Tom-of-Finland-Zeichnung Ehre gemacht hätte, sich mir, ausgerechnet mir, unterwarf. Sadistische Allmachtsgefühle erhöhten mein
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Ego, obwohl ich damals noch nicht wußte, wie man Lederszene buchstabiert. Es war af-fen-geil. Ein Typ mit dem größten Schwanz, den ich bis dahin gesehen hatte – daß es Typen mit noch größeren gibt, die damit noch weniger anfangen können, diese Erfahrung machte ich erst später –, ließ sich von meinem, eher mittelmäßigen Schwanz durchknallen und stöhnte dabei, als hätte er ein Kanonenrohr im Arsch. Ich war von mir beeindruckt. Er schien es auch zu sein. Am Morgen danach – es gab nur Caro-Kaffee, da ich über Ostern mit Heinrich Heller die Straßburger Szene kennenlernen wollte und nicht eingekauft hatte – verbarg ich nur mit Mühe mein Interesse an einem Wiedersehen unter geheucheltem Desinteresse. Seine Adresse hatte ich zumindest, da ich nachts aufgestanden war und seine Brieftasche nach seinem Ausweis durchwühlt hatte. Er hieß Rolf Schmidt, war am 5. Januar 1948 geboren und wohnte in Karlsruhe, Kaiserallee 48. Derart informiert, tat ich so, als sei ich an einem Adressenaustausch nicht interessiert. »Man trifft sich wieder« war mein cooler Spruch, als er die Treppe hinunter zu seinem Kadett ging. Als er fortgefahren war, hätte ich mir ob meiner Coolheit in den Arsch beißen können. Heinrich Heller kam, um mich für unseren Osteraufenthalt in Straßburg abzuholen. Ab dem Walldorfer Kreuz hatte ich nur noch den Arsch von Rolf Schmidt im Kopf Abfahrt Bruchsal. Noch dreiundzwanzig Kilometer bis Karlsruhe-Durlach. Abfahrt Durlach in zweitausend Metern. Ich bat Heinrich, nach Karlsruhe hineinzufahren, da es sicher malerischer sei, auf der linksrheinischen Landstraße nach Straßburg zu fahren. Wir fuhren am Badenwerk vorbei, von dem mir Rolf erzählt hatte, daß er dort als 96
Elektroingenieur arbeitete. Ich ließ Heinrich anhalten und fragte eine Passantin nach dem Weg zur Kaiserallee. Rolf wohnte in einem jener Hochhausbunker, die Zahnärzten zur Abschreibung und Singles zum Wohnen dienen. Im Aufzug zur fünften Etage – Heinrich wartete geduldig wie eine Kuh unten auf dem Parkplatz – überlegte ich mir, welche Filmrolle ich zu spielen gedächte, wenn Rolf die Tür öffnete. Ich verwarf Mae West – »Hello, dark, tall and handsome« – und schritt die fünf Meter vom Aufzug zu seiner Wohnungstür wie Gary Cooper in seinen besten Tagen. Es war zwar schon 14 Uhr, aber für mich war ›High Noon‹. Mit der männlichsten Betonung, zu der ich fähig war, herrschte ich ihn an: »Wir verbringen das Wochenende in Straßburg!« Er spielte die Rolle der Grace Kelly bis Ostermontag hervorragend. Heinrich mußte die Stadt alleine besichtigen. Wir blieben im Hotel. Vom Eise befreit waren Strom und Bäche. Seit Ostermontag 1976 waren wir »fest befreundet«. Ich führte ihn voller Stolz wie einen Rassehund meiner Schauspielgruppe vor. Da der Vater von Rolf eine Haferflockenmühle hatte, bevor sie von der »EG-Agrarpolitik kaputtgemacht« worden war, gab ihm Thomas Pütz den Spitznamen »Müsli«. Seit den Tagen unter großelterlicher Obhut hatte ich nie mehr so ein geordnetes Leben. Ich zog zu ihm nach Karlsruhe, das mit der Bahn eine Stunde von Mannheim entfernt liegt. Das Einzimmerappartement, das sein Lebensumfeld darstellte, war für damalige Verhältnisse hochmodern eingerichtet. Eine Naßzelle mit Dusche, WC und Waschbecken, eine Einbaukochnische mit Nirostaspüle, ein Balkon, der 97
den Hauptraum zum Parkplatz hin erschloß. Der Hauptraum war mit einem Stahlregal, einer Stereoanlage, einem Fernseher, einer Klappcouch, zwei Klappsesseln, einem Glastisch und vier Stühlen, die halb aus Aluminium, halb aus Plexiglas bestanden, eingerichtet. Die Pornos waren im Stahlregal unter dem Diercke Weltatlas gelagert. Wir führten ein geregeltes Leben, wie es auch meiner Oma zur Genugtuung gereicht hätte. Er stand morgens um 6.30 Uhr auf, rasierte sich, legte die Seesandmandelkleiemaske auf, da er Hautprobleme hatte, duschte sich und die Maske heiß ab, fönte seine Haare mit einem Afrolookkamm, bis sie das richtige Volumen hatten, zog seinen Anzug, vielmehr – als Vor-Yuppie, der er war – seine Kombination an und ging zum Badenwerk, das zehn Minuten zu Fuß entfernt war. Und das alles, ohne mich zu wecken. Ich stand um zwölf Uhr auf, onanierte auf die vorangegangene Nacht, frühstückte und machte mich an mein bisher vernachlässigtes Studium, denn die Diplomvorprüfung drohte Ende Wintersemester 1976/77. Um 17 Uhr kam er nach Haus, bepackt mit den im Wertkauf ergatterten Gütern, zog sich aus, und wir schoben die erste, die »normale« Nummer mit ficken, lecken, blasen. Dann aßen wir zu Abend, er spülte ab, säuberte die Küche und die Nirostaspüle, seinen ganzen Stolz. Ich fand es anfangs süß, wie ein gestandener Mann nackt vor einer Nirostaspüle stand, um von ihr die Wasserflecken zu entfernen. Wir schauten ein wenig fern, und dann begann die »eigentliche« Nummer. Da er so sauber war, daß man bei ihm vom Boden essen konnte, wünschte er sich nichts anderes als eben dies – vom Boden essen zu dürfen oder zu müssen, je nachdem, welchen Standpunkt man einnimmt. Wir gaben dem Gan98
zen den Namen »Hundenummer«. Wenn er ein ungehorsamer Hund war, brauchte er Schläge, wenn er dann auf dem Boden winselte, brauchte er eine Füllung, also einen kurzen Fick, und bevor der Hundehalter kam, mußte der seinen Schwanz herausziehen und der Töle ins Gesicht spritzen. Da dann die Schnauze so vollgespritzt war und so gar nicht von dem sauberen Hundchen kündete, ging es anschließend ins Bad, denn der Teppichboden im Wohnzimmer war ja empfindlich, und es galt, die unerwünschten Spermaspuren abzupissen. Das Hundchen wedelte mit seinem Schweif, spritzte ab, duschte, und wir gingen zu Bett. Es war dann meist 23 Uhr, und morgens um 6.30 Uhr war die Nacht zu Ende. Anfangs genoß ich dieses Leben sehr. Ich hatte meinen geregelten Sexualhaushalt, genoß einen Lebensstandard, der jenseits meiner Bafögmöglichkeiten lag, und konnte mich auf mein Vordiplom vorbereiten. Nach langer Zeit, also vier Wochen nach schwuler Zeitrechnung, waren wir uns selbst nicht mehr genug. Werktags gingen wir zwar wie bisher auf Nummer Sicher, aber am Wochenende trieb es uns hinaus. Ich hatte mir damals vorgenommen – so schnell kam man nicht mehr an einen Typ, der gut aussah, wohlhabend war, im Bett beziehungsweise im Bad geil war, im großen und ganzen eine gute Bildung hatte, so daß er meinen Reden verstehend folgen konnte, und über all das hinaus noch ein Auto –, also ich hatte mir vorgenommen, Deutschland von seiner geographischen Seite her kennenzulernen. Wir fuhren jedes Wochenende woanders hin. Hatte ich Müsli beim Kilometerzählerstand von 10512 kennengelernt, so sollte unsere Freundschaft bis zur Verschrottung seines Kadetts bei Kilometerstand 234.118 und mit seinem neuen Manta bis zum Kilometerstand von 6.243 dauern.
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Eins lernte ich damals: Wenn man Männer behalten will, muß man sie schlecht behandeln. Und ich tat es. Waren wir irgendwo auf unseren Wochenendfahrten in ein Schwulenlokal eingekehrt, so war natürlich er der optische Mittelpunkt des Abends. Ich machte ihm darob Vorwürfe. Er war zerknirscht und gelobte, kein Interesse an den Bewerbern zu haben. Aber die Bewerber waren nun einmal da und umrundeten uns beziehungsweise ihn. Sie luden uns zu sich nach Hause ein. Natürlich waren sie auf ihn scharf. Er sah zu, wenn ich mit ihnen fickte. Ich machte ihm Vorwürfe, daß er nicht mitgemacht hatte. Ich hätte ihn erwürgt, wenn er mitgemacht hätte. Doublebind, so lernte ich im fünften Semester, ist eine Methode, schizophrenieartige Zustände bei Menschen zu erzeugen. Zusammen mit einem positiven Verstärker wird ein negativer Verstärker verabreicht. Zuhälter, Schwule und deutsche Mütter sind darin Meister. Jemandem zu sagen, daß er geil sei, weil er einen kleinen Schwanz habe, ist ein solcher Doublebind. Man signalisiert die positive Botschaft, daß man auf ihn geil sei, und verknüpft sie gleichzeitig mit der negativen, daß er einen kleinen Schwanz habe. Die logischen Sicherungen knallen bei einer solchen Person zwangsläufig durch. Widerspricht er und sagt, er habe keinen kleinen Schwanz, müßte er die Aussage, er sei geil, auch dementieren. Er will aber geil und begehrt sein. Folglich glaubt er, was ihm gesagt wird, und ist fortan der Überzeugung, daß er einen kleinen Schwanz habe, auch wenn das schiere Gegenteil der Fall ist. Das gleiche sagt auch der Zuhälter zur Nutte, wenn er verlangt – als Beweis der Liebe zu ihm –, daß sie für ihn auf den Strich gehen soll. Oder die deutsche Mutter, die auf die Frage, was sie sich zum Geburtstag wünsche, mit: 100
»Ein braves Kind« antwortet. Oder die beste schwule Freundin, die einen nach einer durchlittenen Abmagerungskur mit den Worten begrüßt: »Gut schaust du aus, hast du zugenommen?« Meine Doublebinds waren noch perfider. Ich sagte ihm, daß ich – eigentlich – Brustbehaarung abscheulich fände, aber bei ihm mache sie mir nichts aus. Ich behauptete, wahrheitswidrig, kleine Männer zu mögen, aber daß es mir nichts ausmache, daß er 1,90 Meter sei. Er liebte mich noch mehr. Er fand meine 1,70 Meter größer als seine 1,90 Meter. Er fand meinen Schwanz beachtenswerter als seinen. Wenn jemand im Lokal auf uns zukam, um ihn anzumachen, war er der festen Überzeugung, daß derjenige auf mich scharf sei. Er verhielt sich ihm gegenüber besonders abweisend, so daß der betreffende Typ in seiner Not wirklich auf mich zurückgriff Was wiederum Müsli in seiner Überzeugung bestärkte, daß die Typen immer nur auf mich scharf seien und er eine schlechtaussehende Null sei. Er wurde abhängig, er begann nach mir zu süchteln. Hatte ich anfänglich seine Unterwürfigkeit genossen, so begann sie mir nun lästig zu werden. Ich fing an, ihn zu verachten. Ich hatte alles daran gesetzt, ihn soweit zu kriegen, wo er jetzt war. Und jetzt, da ich ihn soweit hatte, wollte ich es nicht mehr. Wir blieben nur zusammen, weil mich meine Umwelt um ihn beneidete. Ich begann, meine Macht noch mehr auszuloten. Ich behandelte ihn schlecht in der Öffentlichkeit. Es schien ihm nichts auszumachen. Ich kanzelte ihn ab, stellte ihn bloß. Er wehrte sich nicht. Ich trieb es in seiner Wohnung mit anderen Typen – durch die Stärke, die ich mir bei ihm geborgt hatte, war ich im Karlsruher »Kings-Club« inzwischen der King. Er schaute mich nur vorwurfsvoll an. Ich 101
schlug ihn sogar. Er schlug nicht zurück. Der Zwerg schlug den Riesen, und dieser kapitulierte. Was sollte ich noch machen? Das einzige, was ihn zu treffen schien, hing mit seiner Sauberkeit, seiner Mikrobenangst zusammen. Er rannte jeden Monat zum Arzt, um sich auf eventuelle Geschlechtskrankheiten untersuchen zu lassen. Er lebte gesund, trieb Sport und schluckte jeden Morgen eine Unmenge von Vitamintabletten. Später, als Syphilis, Tripper und Hepatitis längst ihre Schrecken verloren hatten und durch das alleslähmende Aids ersetzt worden waren, ging er vierzehntägig zur Blutkontrolle. Er war Ende Juli 1987 noch HIV-negativ, fuhr dann in Urlaub nach New York, fand dort einen geeigneten Hundehalter, wurde Anfang Oktober 1987 positiv getestet, lebte noch gesünder, als er je zuvor gelebt hatte, bekam im Dezember 1987 seine erste Lungenentzündung und war im Februar 1988 schon tot. Lohn der Angst? Als mich sein damaliger Freund anrief, um mir die Nachricht seines Todes zu übermitteln – Müsli hatte mich, nach elf Jahren, noch auf die Liste der nach seinem Tode zu benachrichtigenden Freunde gesetzt, ohne mich allerdings in seinem Testament zu bedenken; seine Mutter war Alleinerbin; was sie wohl mit dem Hundehalsband machte? –, dachte ich lange darüber nach, wie meine erste Scheidung vonstatten gegangen war. Wie gesagt, der einzige Schwachpunkt war seine krankhafte Sauberkeit. Daß männliches Aussehen und deutsches Hausfrauentum bei Schwulen stark miteinander korrelieren, bestätigte sich in meinem späteren Leben immer wieder. Aber gegenüber Müsli hätte selbst meine Mutter wie die letzte Schlampe gewirkt. Er hatte nicht nur ein Vier102
wege-Geschirrspülverfahren entwickelt, Vorspülen, Hauptspülen, Klarspülen, Trocknen. Mit einem nicht fusselnden Geschirrtuch natürlich. Auch seine Nirostaspüle liebte er über alles. Sie war das einzige Wesen, auf das ich in unserer Beziehung hätte eifersüchtig sein müssen. Nach dem Spülen wurde sie liebevoll mit Wasser vorgewischt, mit einem Handtuch getrocknet, mit einem Entkalker hauptgewischt und mit einem zweiten Handtuch, natürlich fusselfrei, nachpoliert. Sie glänzte dann wie seine Augen, wenn er sich anpissen ließ. Hier war sein wunder Punkt, hier war seine Achillesferse, hier konnte ich ihn treffen. Ich kaufte mir im Metzgerladen ein Kilo Schweineklein, also Schweinefüßchen, Schweineschwänzchen, Schweinerippchen, zu fast hundert Prozent aus wabbeligem Fett bestehend. Ich ging nach Hause. Nein, es war inzwischen wieder Müslis Wohnung geworden. Ich tat die widerliche Masse in einen großen Topf, füllte Wasser auf und setzte den Topf auf den Herd, der an die Nirostaspüle grenzte. Ich stellte den Herd auf die höchste Stufe und ging daran, meine Reisetasche zu packen. Als ich fertig war, war der Topf inzwischen übergekocht, der Herd und, was mich mit tiefer Genugtuung erfüllte, die Nirostaspüle mit einer fettigen, schmierigen Masse überzogen. Ich stellte den Herd aus und fuhr nach Mannheim zurück. Ich war sicher, daß Müsli noch so lange an mich denken würde, bis er es geschafft hatte, die Nirostaspüle wieder im alten Glanz erstrahlen zu lassen. Meine erste Ehe war nach einem Jahr, zwei Monaten und fünf Tagen oder 230.000 Kilometern zu Ende. Wie immer nach gescheiterten Ehen entdeckt man sein Herz für seine Busenfreundinnen neu. Ich erlaubte Hein103
rich Heller wieder, mich durch die Gegend zu chauffieren, und ließ mich von nun an häufiger bei meinen Germanisten in der Uni sehen. Ich war wieder eine alleinstehende Frau. Deutschland im Herbst 1977. Allüberall Terroristenhysterie. In der SchAM kreuzte ein Typ auf, der mit Nachnamen Reinders hieß und mit dem steckbrieflich gesuchten Ralf Reinders irgendwie verwandt war. Er sah so schnuckelig aus, daß ich für eine Nacht mit ihm Mitglied der RAF geworden wäre. Wie immer bei einem gutaussehenden Gruppenneuzugang war ich besonders integrativ. Natürlich lud ich ihn sofort ein, mit zum Schwulengruppentreffen nach Freiburg zu kommen, das am Wochenende darauf stattfinden sollte. Dank geschickter Intrigen schaffte ich es, daß wir beide, Reinders und ich, beim Häßlichsten der Freiburger Gruppe unsere Schlafplätze zugeteilt bekamen. Wolf Klotz, so hieß unser Schlafplatzgeber, hatte eine Figur wie ein verbogener Schürhaken, pißblonde, fettige Strähnenhaare, die seine Stirnglatze halbkreisförmig umrundeten, und ein Gesicht voller Akne und Narben, das aussah, als bemühten sich rote Flechten und Moose einen asymmetrischen Felsblock zu überwuchern. Das Unglaubliche wurde Wirklichkeit. Der schnuckelige Reinders verschmähte mich und brachte die Nacht im Klotzschen Bett zu. Mein Ordnungssinn war auf so etwas nicht gefaßt. Wenn ein besser aussehender Mann einen anderen besser aussehenden Mann mir vorzieht, dann paßte dies in mein Weltbild. Aber ausgerechnet der Reinders? Ausgerechnet mit der Kröte? Was hatte der nicht, was ich besaß? fragte ich mich in Umkehrung des norma-
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len Spruchs, den verschmähte Liebhaber ansonsten loslassen. Vielleicht war ich nicht häßlich genug. Ich begann, die RAF mit noch kritischeren Augen zu sehen. Ende 1977 gab es so etwas wie eine schwule Aufbruchstimmung in Mannheim. Zwei Lesben eröffneten das »Ballerina«, ein rotgeplüschtes Lokal in der Nähe des Theaters. Daher der künstlerische Name. Die drei Quadratmeter Tanzfläche gaben den Besitzerinnen die Berechtigung, das Lokal als Diskothek zu bezeichnen. Das Lokal hatte die Form eines großen »L«. Die Innenseiten des »L« waren mit Spiegeln gekachelt, damit die Gäste jederzeit die Möglichkeit hatten, den perfekten Sitz ihrer Frisur zu kontrollieren, wenn sie auf den mit rotem Samt überzogenen Barhockern am Tresen saßen. Die Fensterfront zur Straße hin war mit grüner Farbe überstrichen, um die an der Außenseite des »L« an rechteckigen Tischen sitzenden Gäste vor neugierigen Blicken zu schützen. Wer vor dem prüfenden Blick der Türsteherin nach dem Läuten an der Eingangstür Bestand hatte, gehörte dazu. Das »Ballerina« wurde mein zweiter Wohnsitz. Hier wurde ich Augen- und vor allem Ohrenzeuge all der Dramen, die sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Schwulen und Schwulen oder zwischen Lesben und Lesben abspielen. Hier traf der Frisörmeister den Kaufhof-Substituten und befreundete sich mit ihm »für immer und ewig« und eine Woche. Die Eifersuchtsdramen wurden von den Lesben handgreiflich, von den Schwulen vorwurfsgewaltig ausgetragen. Die beiden Besitzerinnen nahmen jeweils für den jeweiligen Partner dieser Ehekrisen Partei, so daß der jeweils Betrogene zwar 105
die eine Besitzerin haßte, aber der anderen wegen ihres Verständnisses um so dankbarer war. Diese wurde dann vom Betrügenden zwar wegen ihrer Parteilichkeit abgelehnt, er tröstete sich aber mit der Sympathie der anderen, seiner Besitzerin, so daß der Umsatz insgesamt stimmte. Wenn Fellini Regisseur deutscher Heimatfilme wäre, hätte er hier seinen Drehort und seine Darsteller gefunden. Die Dramatik erreichte jeweils samstags ihren Höhepunkt, wenn die Soldaten der amerikanischen Garnison sich tanzenderweise von ihrem wöchentlichen Drill im »Ballerina« erholten. Kurzhaarig und figürlich top, wie sie waren, strahlten sie genau jene Männlichkeit aus, die der Gegenstand der erotischen Träume in den Hertie-Herrenabteilungen war. Die an den Tischen sitzenden Freundespaare waren sichtlich bemüht, nicht hinzuschauen, wenn einer der Marlborotypen sich oberkörperfrei auf der Tanzfläche produzierte. Betont unbeeindruckt, tauschte man mit dem gegenübersitzenden Freundespaar Urlaubserlebnisse aus. Mykonos war damals »in«. Und was war man kulturell interessiert, und welche Theateraufführungen hatte man nicht schon alle gesehen! Ab und zu stand jedoch einer vom Tisch auf, um, die Herrenhandtasche fest zwischen Oberarm und Brustkorb geklemmt, zur Toilette zu schreiten. Beim Passieren der Tanzfläche warf man dann einem der konvulsivisch zuckenden Leiber einen wehmütigen Blick zu, um sich, nach einem Blick in die Spiegelwand, zur Toilette zu beeilen und die Frisur mit etwas Haarspray auf das ideale Niveau zu heben. Die Zeit des Bleibens auf der Toilette wurde von den Zurückgebliebenen mit einer inneren Stoppuhr genau registriert. Zwei Minuten waren der vorgeschriebene Richtwert. Fünf Minuten konnte man gerade 106
noch mit den Schwierigkeiten beim Ordnen der Frisur entschuldigen. Zehn Minuten, das bedeutete den Beweis, daß auf der Toilette einem Ami angesichts beziehungsweise angeruchs der Haarspraywolken wehmütige Erinnerungen an seine zurückgelassene Braut in Minnesota gekommen waren und er den Haarspraybenutzer als Ersatz für sein Minnesotagirl benutzt hatte. »Du Fotz' machst es mit Negern!« war der lautstarke Vorwurf, den der an den Tisch Zurückgekehrte über sich ergehen lassen mußte. Die anderen am Tisch Sitzenden suchten den meist anschließenden Wort- und Vorwurfswechsel zu schlichten, machten jedoch alles nur noch schlimmer. Und alsbald war das gesamte Lokal Zeuge von Szenen, die Liz Taylor in ›Wer hat Angst vor Virginia Woolf‹ als Waisenmädchen hätten erscheinen lassen. So wie man sich einige Tage zuvor für »immer und ewig« befreundet hatte, so trennte man sich jetzt »endgültig«. Für immer. Die einige Tage zuvor ohne ihren Willen zu Trauzeugen bestimmten »Ballerina«-Gäste wurden jetzt schadenfrohe Zeugen der Scheidung. »Pack verschlägt sich, Pack verträgt sich!« war eine der vielen Weisheiten, die mein Großvater tagtäglich von sich gab. Ob er das »Ballerina« gekannt hatte? Denn tags darauf saßen die zankenden Parteien wieder einträchtig, als wäre nie etwas geschehen, am Tresen und erzählten davon, daß ihre Mutter sie zum Kaffee besucht habe. Im »Ballerina« lernte ich Rolf Kiby kennen. Mit einer dauergewellten Frisur versuchte er von seinem spitzmäusigen Gesicht abzulenken, in dem sich eine riesige Nase erhob. Da er auch noch ziemlich klein war, gab ich ihm insgeheim den Spitznamen »Zwerg Nase«. Was sein Körper nicht versprach, machte er mit seinem Gehirn wett. Er war einer der charmantesten, gebildetsten, 107
feinsinnigsten, klügsten Menschen, die ich jemals getroffen habe. Wir freundeten uns platonisch an – alles andere wäre lächerlich gewesen. Bei der Exploration unserer Kindheit hatten sich interessante Parallelen ergeben. Beide hatten wir eine verrückte Mutter und einen zwielichtigen Vater gehabt. Beide waren wir bei den Großeltern aufgewachsen. Der jeweilige Großvater war Musiklehrer gewesen. Er studierte Germanistik in Heidelberg und war praktizierender Masochist. Ich war erstaunt darüber, daß er über eine solche Eigenschaft, die in sogenannten kultivierten Schwulenkreisen, wie sie die Mannheimer Gay-Community – allerdings vergeblich – darzustellen versuchte, peinlichst verschwiegen worden wäre, so offen redete, als spräche er von einer Wanderung im Odenwald. War schon die Tatsache, daß sich jemand ficken ließ, Grund, ihn mit spitzen Fingern, zumindest in der Öffentlichkeit, anzufassen, so war der Folterkatalog, den Rolf mir hier am Tresen vorblätterte, zuviel für Substitutenohren. Man setzte sich zwei Stühle weiter und betrachtete uns scheel von der Seite, als wollte man sagen: »So sind wir Gott sei Dank nicht.« Ich sollte die Scheel-Schauenden fast alle später in den damals für sie unvorstellbarsten Situationen wiedertreffen. Rolf Kiby war kein Masochist von der Sorte wie Müsli, die sich unterwerfen will, um dann der gewohnten Küchenarbeit nachzugehen. Er bezeichnete sich als »Hardcore« und war es auch. Er träumte von Sklavenfarmen, in denen er sich abrichten lassen wollte. Ja, er wollte sogar umgebracht werden. Er fuhr nach New York, lief mutterseelenallein nachts auf den Piers herum, in der Hoffnung, seinen Mörder zu finden. Ihm wurde kein Haar gekrümmt, während ein paar Straßen weiter Messer durch die Gegend 108
flogen, Frauen vergewaltigt und Schwule zusammengeschlagen wurden. Er erzählte mir von einer geheimnisvollen Welt, die Lederszene genannt wurde und in der sich Schwule, die es härter mögen, träfen. Ich war neugierig. Der Zusammenhang von Leiden und Leidenschaft, Schmerz und Lust, körperlicher Gewalt und Sexualität war mir völlig fremd. Ich konnte nicht nachvollziehen, wie man bei so etwas wie Sado-Masochismus Spaß haben konnte. Daß das, was Dietrich Ritter in meiner Schulzeit mit mir und was ich das Jahr zuvor mit Müsli gemacht hatte, S/M gewesen war, wäre mir nicht in den Kopf gekommen. Es war ja nur psychische Gewalt im Spiel gewesen. Ich war lernbegierig. Rolf Kiby lud mich ein, mit ihm in Frankfurt das »Boot« zu besuchen. Ich zitterte wie Espenlaub, als ich die Masse lederbekleideter Leiber sah, durch die mich Rolf lotste. Ich kam mir ganz klein in meinem Lederimitatjäckchen vor, das ich mir für diesen Abend von einem Mitglied der SchAM geliehen hatte. Schon die Einrichtung des Lokals hatte eine einschüchternde Wirkung auf mich. Statt Plüschsitzen gab es Holzbänke, es wirkte alles, als wäre es seit Jahren nicht geputzt worden, die Gäste drückten ihre Zigarettenkippen nicht mit abgespreiztem Finger im Aschenbecher, sondern mit der Stiefelsohle auf dem Fußboden aus. Derbe Stiefel waren die vorherrschende Fußbekleidung. Ungewohnt, wenn man aus dem »Ballerina« den Laufsteg der italienischen Schuhmodeindustrie gewohnt war. Am Rest der Bekleidung konnte man die Gäste in zwei Klassen unterscheiden: Jeanstypen und Ledertypen. Jeanstypen trugen zu ihren Stiefeln Bluejeans und eine Jeans109
jacke oder eine schwarze Lederjacke. Sie hatten meist Schnurrbärte und, für damalige Verhältnisse, kurze Haare. Ledertypen waren ganz in Leder gekleidet, hatten derbere Lederjacken als die Jeanstypen und trugen entweder Vollederhosen oder ein eigenartiges Beinkleid, das vorne und hinten ausgeschnitten war und den Blick auf die darunter getragene Jeans freigab. Rolf klärte mich auf, daß solche Hosen »Chaps« genannt würden. Es war das erste Wort einer neuen Fremdsprache, die ich lernen sollte. Obwohl von Sprache eigentlich hier nicht viel zu hören war. Die meisten Typen schauten grimmig und stumm und gaben sich den Anschein, von niemandem Notiz zu nehmen. Nur ab und zu lösten sie sich von der Holzbank, auf deren Lehne sie, gleich Hühnern auf der Stange, nebeneinander aufgereiht waren, gingen zum Tresen, holten ein Bier und setzten sich an ihren Stammplatz zurück. Mir war die Szenerie unheimlich. Ich kontrollierte mich dahingehend, ja keinen Fehler zu machen und nicht aufzufallen. Denn wenn ich hier negativ auffiele, so befürchtete ich, würde mir einer der stummen Herren sicherlich sofort in die Fresse schlagen. Es dauerte lange bis zu der Erkenntnis, daß die meisten der stummen Herren hier eher stumme Diener waren. Rolf schien sich in der Szenerie bestens auszukennen. Er sprach zwar mit keinem der Herren ein Wort, aber er stellte sich einem von ihnen gegenüber. Mit gesenktem Kopf. »Demutsgeste«, lehrte er mich später das zweite Wort dieser neuen Fremdsprache. Der »Meister«, jenes dritte Wort der Sprache, bei dem ich anfangs eher an schwergewichtige Bäckermeister dachte denn an Männersex, packte ihn nach einer gewissen »Abkochzeit« – vier110
tes Wort – am Kragen, spuckte ihm ins Gesicht und schleppte ihn in den »Darkroom« – fünftes Wort –, der sich hinter einer Tür neben dem Toiletteneingang verbarg. Die Idee des Darkrooms kam, wie fast alles in dieser amerikanophilen Stadt Frankfurt, aus den USA. Was die Imitation des amerikanischen schwulen Lebensstils anging, war »Mainhattan«, dank des Flughafens und der auf ihm landenden schwulen Stewards und Pursers, den anderen deutschen Städten immer weit voraus. Wurde der Hamburger Schwule anerkannt, wenn er aus alter Familie kam und wohlhabend war, der Münchner, wenn er mindestens zwei Leute in den Geiselgasteiger Filmstudios kannte, der Berliner, wenn er einen großen Schwanz hatte und im Bett versaut war, und der Stuttgarter, wenn er in ungekündigter Stellung war und eine saubere Wohnung sein eigen nannte, so war es in Frankfurt Pflicht, zumindest eine Adresse in »El Ä«, also in Los Angeles, oder in San Francisco zu haben, wollte man zur Gay-Society gezählt werden. Hier wurde zuerst Poppers geschnüffelt, hier wurden die neuesten, importierten Sexualpraktiken wie zum Beispiel Fistfucking als erstes an Bockenheimer Ärschen ausprobiert. War es in New York Mode, kurze Haare und Schnurrbart zu tragen, so ließ man sich innerhalb kürzester Zeit in Preungesheim die Haare schneiden und einen Schnauzer wachsen. Frankfurt war das erste »Klonisierungsinstitut« Deutschlands. So kam es, daß auch das »Boot« in Frankfurt einen Dunkelraum – die deutsche Übersetzung zeugte immerhin von einem gewissen Selbstbewußtsein – sein eigen nannte. Eigentlich war er nicht zur Gänze dunkel. Ähnlich jener Ausgeburt von architektonischem Sadismus, die man in 111
Berliner Altbauwohnungen »Berliner Zimmer« nennt, war eine Ecke des als Revier der Lüste dienenden Rechtecks abgeschrägt und mit einem Fenster versehen worden, durch das eine Hinterhoffunzel ihren Schein warf Kenner der Szene stellten sich neben diese Notbeleuchtung, um zumindest einen groben Überblick zu bekommen, wer außer ihnen selbst noch im Raum versammelt war. Von 20 Uhr, der Öffnungszeit des »Boots«, bis 22 Uhr blieb der etwa fünfzehn Quadratmeter große Raum jungfräulich leer. Die Herrenmenschen standen an ihren Hühnerstangen im vorderen Teil des Lokals und wärmten sich mit ein, zwei, vielen Bieren auf. Hier betrachtete man diskret die körperlichen Vorzüge der anderen Herrenmenschen und versuchte sich vorzustellen, wie sie sich wohl anfühlten. Denn der Tastsinn mußte voll aktiviert werden, um zu späterer Stunde unter -zig Männerleibern den richtigen zu erkennen beziehungsweise zu ertasten. Ab etwa 22 Uhr machte sich für den intimeren Kenner der Lokalbesuchergewohnheiten eine gewisse, kaum wahrnehmbare Unruhe breit. Man suchte öfter die Toilette auf, um den Druck von der Blase zu lassen, und drückte, wenn man sich gerade nicht beobachtet glaubte, die Tür zu jenem Raum auf, über der der Spruch aus Dantes ›Inferno‹ hätte stehen können: »Tritt ein, Fremder, und laß alle Hoffnung fahren.« Die Hoffnung nämlich, irgendeinen der in Reih und Glied stehenden Männer optisch identifizieren zu können. Man stellte sich in die Reihe. Der Raum füllte sich immer mehr. Klaustrophobiker begannen langsam zu kapitulieren. Man stand Hosennaht an Hosennaht und wartete, daß ein elektrischer Funke die Zehntelmillimeter Distanz überwinden würde. Zwei machten den Anfang. Gingen sich gegenseitig an die Hosen, öffneten sie, fingen an zu wichsen und zu blasen. 112
Der langersehnte Funke führte zur Explosion. Fünfundzwanzig Hosenschlitze wurden geöffnet, fünfundzwanzig Schwänze herausgeholt, fünfundzwanzig Hosen fielen auf den Boden, fünfundzwanzig Nillen und fünfundzwanzig Ärsche wurden mit Spucke befeuchtet. Poppers verbreitete einen Duft, der Uneingeweihten wie der eingeschlafener Schweißfüße, den Jüngern des Dunkelraumes aber wie Chanel No. 5 vorkam. Hatte man sich zuvor noch einen ausgesucht, den man hier begreifen wollte, so war es jetzt egal, mit wem man es gerade trieb. Das jeweilige Gegenüber, das jeweilige Vorne, das jeweilige Hinten ersetzte den Typ, den zu begreifen man sich vorgenommen hatte. Man fickte mit dem Begriff von ihm. Man fickte mit dem, den man sich gerade vorstellte. Mann fickte mit der Fiktion Mann. Es war Sex total, es war Auflösung, es war Rausch. Es war Religionsausübung, die Anbetung des männlichen Prinzips. Die männliche Putzfrau, die für die Fußbodenpflege des Etablissements verantwortlich war, mußte am nächsten Morgen eine Plastiktüte voller Tempotaschentücher zur Mülltonne bringen. Kondome waren damals noch nicht dabei. Anonymen Sex hatte ich bis dahin nicht praktiziert: Auch wenn ich im Park oder auf der Klappe einen mir bis dahin völlig Unbekannten innerhalb von wenigen Minuten aufriß oder mich aufreißen ließ, so lernte ich den Betreffenden doch kennen. Kennen, indem man einige belanglose Sätze wechselte, bevor man in die Kabine ging, um dem Abend die Abrundung zu geben. Oder indem man sich kurz in die Augen schaute und sich nonverbal das Okay gab. Es fand immer, wenn auch rudimentäre, zwischenmenschliche Kommunikation statt. Höflichkeitshal113
ber bemühte man sich um das jeweilige Gegenüber auch dann noch, wenn man selbst schon abgespritzt hatte, und half ihm, daß auch er in den Genuß eines abgerundeten Abends kommen konnte. Danach ging man auseinander und grüßte sich dann und wann, wenn man sich auf der Klappe begegnete. Zwei Kugeln waren auf dem Billardtisch des Lebens zusammengeprallt, hatten sich kurz berührt, sich gegenseitig Impulse gegeben und waren in verschiedene Richtungen weitergerollt, ohne sich jemals wieder zu treffen. Im Dunkelraum jedoch gab es keine Individuen. Hier war jeder austauschbar. Hier verklumpten sich viele kleine Geilheiten zu einer einzigen großen Masse Geilheit. Man stand im Mittelpunkt seiner eigenen Phantasien. Alle anderen waren nur für einen selbst da. Sie waren angetreten, nur das eine zu wollen, nämlich bei der Erfüllung der eigenen Phantasie zu dienen. Jeder war seines Orgasmus Schmied. Hier war man Sau. Hier sollte man es sein. Hier war man auf einem fernen Planeten. Dem Planeten der absoluten Geilheit. Er war Lichtjahre entfernt von vorwurfsvollen Freunden, tratschenden Tunten, mißtrauischen Müttern, Leistung erwartenden Arbeitgebern. Rolf Kiby war der Pilot des Raumschiffes, das mich jeden Samstag zu diesem Planeten brachte. Den Schnurrbart hatte ich schon gehabt. Nun ließ ich mir noch die Haare kurz schneiden. Zur Lederjacke fehlte mir allerdings das Geld. Bei einem unserer Gruppentreffen war ein Typ, der Fred Schön hieß und sich auch so fühlte. Mit seinen gelockten Haaren hatte er etwas von einem aufgemotzten Pudel. Um seinen Kuhaugen einen Schuß Erotik zu verleihen, hatte er diese mit Kajal umschmiert. Er arbeitete in einer Boutique, 114
die Modeschmuck anbot, und war ihre beste Schaufensterauslage. Der dürre Hals wurde durch viele Kettchen und Ketten in seiner Dürre noch betont. Jeder seiner Finger, die durch lange, teils lackierte Fingernägel seiner Hand das Aussehen einer Vogelspinne gaben, war mit einem Ring geschmückt. Sein asymmetrisches Gesicht wurde dadurch betont, daß er an jedem Ohrläppchen jeweils verschiedene Ohrringe trug. Seine dürren Beine steckten in weiten Pumphosen, da seine Boutique nebenbei eine Abteilung mit indischen Erzeugnissen hatte. Sie stand im krassen Gegensatz zu seiner Fünfziger-Jahre-Motorradlederjacke, die zu seinem schmalen Oberkörper paßte wie die Faust aufs kajalverschmierte Auge. Die Jacke gefiel mir. Ich schien ihm zu gefallen. Während der Gruppensitzung schaute diese Kuh mich an, als wäre ich der letzte Stier auf Erden. Sie fand jede meiner geäußerten Thesen »äußerst richtig«. Sie verpaßte ihre Straßenbahn nach Sandhofen. Ob sie bei mir übernachten könne? Ich sah mir ihre Lederjacke an. Sie machte auf »zärtlichen Liebhaber«. Nuckelte mit ihren vorstehenden Zähnen an meiner Brust herum. Kraulte mit ihren langen Krallen in meinen Brusthaaren und sagte, daß sie mich »süß« finde. Ich fickte meine ganze Verachtung in sie rein. Sie sagte, sie liebe mich. Nach sechs Wochen Martyrium hatte ich Geburtstag. Sie kam mit einem Strauß gelber und roter Rosen, »für jedes Lebensjahr eine gelbe, und für jede Woche, die wir jetzt zusammen sind, eine rote«, und schenkte mir als »Überraschung« die Lederjacke. Ich hatte die Überraschung erwartet, da ich bei der Erwähnung meines baldigen Geburtstages nie vergessen hatte hinzuzufügen, wie sehr mir ihre Lederjacke gefalle. 115
Zwei Tage später hatte es sich für mich ausgezärtlicht. Sie erzählte überall herum, was ich für ein Schwein sei. Sie hatte recht. ›Die Verwandlung‹ hatten wir im Deutschunterricht durchgenommen. Kafka beschrieb darin, wie ein Mann morgens aufwachte und sich in ein Insekt verwandelt sah. Ich verwandelte mich abends. Die Lederjacke verstärkte die Wirkung der enganliegenden Jeans und ließ meinen Oberkörper breiter wirken. Die Stiefel machten meinen Gang schwerer. Ich sah in den Spiegel. Der erwartete James Dean war darin nicht zu entdecken. Ich wirkte eher wie Napoleon zur Zeit des Ägyptenkrieges. Gleich mir standen wohl jeden Abend Tausende Schwule vor dem Spiegel und erlebten die Verwandlung. Der Bankangestellte wurde Cowboy. Der Substitut wurde Rocker. Der Bäcker Feldwebel. Der Hoechst-Manager Rekrut. Als wäre er den ganzen Tag geritten auf seiner Ranch in Rüsselsheim, bewegte sich der Bankangestellte auf den Rocker zu, um sich von ihm zureiten zu lassen. Untertänig bat der Manager den Feldwebel, heute abend für ihn die Entscheidungen zu treffen. In der Lederbar war die Klassengesellschaft auf den Kopf gestellt. Hier diente der Vorgesetzte. Hier erteilte der Lehrling die Befehle. Der Muskelprotz ließ sich vom Leptosomen auspeitschen. Es herrschte die Hierarchie der Zentimeter, in denen die Männlichkeit in eine Rangordnung gebracht wurde, und das Faustrecht für diejenigen, denen jede Faust recht war. Meine rechte Faust war recht begehrt. Sie war kleiner und schmaler als die linke. Im Alter von fünf Jahren hatte ich mir im Hof unseres Hauses, das an einem Baggersee lag, aus einer großen Kühlkiste eine Flasche Limonade zu holen versucht. Der schwere Isolie116
rungsdeckel der Kiste war an den Maschendrahtzaun gelehnt, der unser Anwesen vom allgemeinen Badebetrieb abgrenzte. Während ich mich in die Kühlkiste beugte, lehnte ein Mann sein Motorrad an den Zaun. Der Zaun gab nach. Der Kistendeckel fiel auf meine rechte Schulter. Meiner hysterisch heulenden Mutter erklärten die Ärzte, daß Bizeps, Trizeps und Deltamuskel in meinem rechten Arm wohl für immer gelähmt blieben. Im Krankenhaus versteifte man, Gipfel der ärztlichen Kunstfehler, das Ellbogengelenk künstlich, um den Arm in eine »Gebrauchsstellung« zu bringen. Die Doktoren wußten ja nicht, zu welchen Stellungen ich den Arm später gebrauchen sollte. Ich setzte den Arm als Kind für meine Zwecke ein. In Metzgereien schenkten mir mitleidige Verkäuferinnen immer das größte Stück Wurst. Bäckersgattinnen bedachten »das arme Kind« mit einer Brezel. War ich zu irgendwelchen Arbeiten zu faul, der Arm befreite mich von der Arbeitspflicht. Als einziger meines Jahrgangs zitterte ich nicht der bevorstehenden Musterung entgegen. Niemand konnte verstehen, daß ich nicht unter dieser Behinderung, die ich ja als Wettbewerbsvorteil verstand, litt. Ich hatte den gelähmten Arm derart in meine Persönlichkeit integriert, ging so selbstverständlich damit um, daß er im normalen gesellschaftlichen Umgang niemandem auffiel. Nur was man zu verbergen sucht, wird offenbar. Bemerkte der Bettpartner dann nach dem Orgasmus, daß mein rechter Arm gegenüber dem linken doch reichlich atrophiert sei, so erzählte ich wahrheitsgemäß die Geschichte mit der Kühlkiste. Seit ich Mitglied der Lederszene geworden war, verkürzte ich den Hergang auf das Wort »Motorradunfall«. Er gab mir den Mythos von männlicher Tragik und öffnete dem Zuhörer nicht nur das Herz, sondern später auch den 117
Arsch. Ich hatte nicht gelogen. Es war ja ein Unfall, der von einem Motorrad verursacht worden war. Meine optische Veränderung wurde in den Mannheimer »Ballerina«-Kreisen sehr zwiespältig aufgenommen. Man schloß mich aus der Gemeinschaft der Fönfrisuren aus. Man vermutete schlimmste Perversionen, die an mir ausgeübt würden oder die ich an anderen ausüben würde. Man schnitt mich und nahm höchstens auf der Klappe mit mir Kontakt auf, wenn man sich von den »Normalen« nicht beobachtet fühlte. Man war enttäuscht, wenn ich dann nur »normalen« Sex machte. Die schwer erfickte Lederjacke war meine zweite Haut geworden. Ja, sie begann mit meiner ersten Haut zu verwachsen. Ich trug sie immer. Ich trug sie in der Uni-Cafeteria. Ich trug sie bei Examina. Ich trug sie in der Kneipe. Ja, ich trug sie, wenn es gewünscht war, sogar im Bett. Sie war ein Teil von mir geworden. Als ich einmal, es war am Ende meiner Mannheimer Zeit, auf der Straße überfallen wurde und der Täter mich zur Herausgabe der Jacke mit Faustschlägen zwingen wollte, weigerte ich mich so lange, die Jacke auszuziehen, bis er das Stilettmesser an meine Hose setzte und zustach. Gott sei Dank wurde das Messer von meinem Schwanzring abgeleitet, so daß meine Hoden nicht verletzt wurden und ich nur einen kleinen Schnitt am Oberschenkel hatte. Der Täter wurde aufgegriffen. Die Jacke als Beweismittel konfisziert. Ich klagte gegen die Staatsanwaltschaft Mannheim auf Herausgabe der Jacke und gewann. »Stützen, stützen«, donnerte Frau Luft. Als ehemalige Opernsängerin, die ihr Alter – fünf Jahre zu niedrig – mit Fünfundsechzig angab, war sie von Thomas Pütz gebeten worden, den Mitgliedern unserer Theatergruppe Atem118
und Sprechunterricht zu erteilen. Frau Luft war bestimmt in ihrer aktiven Zeit die ideale Wagnersängerin gewesen, die Rolle der Walküre hatte sie über ihre Pensionierung hinaus beibehalten. Ihre Tochter Sylvia, die ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Hörspielen bestritt, hatte Pütz kennengelernt, als er sich in einem Lokal aufhielt, in dem »Er« »Ihn« und »Sie« »Sie« sucht und manchmal auch findet. Sylvia hatte Ingeborg gefunden. Sie war Sekretärin bei BASF und das krasse Gegenteil von Sylvia. War Sylvia überlegt, zurückhaltend, gebildet, so war ihr Pendant dumm, laut und schrecklich ordinär. Sie sprach das schlimmste Pfälzisch, das Ludwigshafen bieten konnte. Bei der Premierenfeier zu Hildesheimers ›Verspätung‹ – unsere Gruppe hatte sich inzwischen an Absurdes Theater gewagt – waren neben einigen Professoren der Uni auch Sylvia und ihre lumpenproletarische Freundin anwesend. Wie immer, wenn irgend jemand einen Scherz gemacht hatte, den Ingeborg nicht verstand, lachte sie sehr laut, um den Eindruck zu erwecken, sie verstünde feinsinnige Ironie. Thomas Pütz und ich versuchten gerade, mit einem der Germanistikprofessoren über Absurdes Theater zu plaudern, als wir zum wiederholten Mal vom lauten Ingeborgschen Lachen, das sich wie eine Kreissäge anhörte, unterbrochen wurden. Auf des Germanistikprofessors Frage, um wen es sich bei jener obskuren Dame wohl handele, antwortete Pütz, diesen Abend in Stimmung fürs Absurde, daß die laute Dame Gräfin Geschwitz sei. Gräfin Geschwitz ist die lesbische Gräfin in der Oper ›Lulu‹ von Alban Berg, und ein Germanistikprofessor hätte eigentlich stutzig werden müssen. Unserer allerdings arbeitete sich im Laufe des Stehempfangs langsam in Richtung der lesbischen Sekretärin, um ihr die Hand zu küssen und sie zu fragen, wie er Hoheit wohl anreden dürfe. »Aaaach, 119
nenne Se misch äfach Ingeborsch« war die krakeelende Antwort. Mein Respekt vor deutschen Professoren war seit diesem Abend ein geschmälerter. Das »Pumuckl« war eine Kneipe in der Amerikanerstraße in der Nähe des Güterbahnhofs Mannheim. Es war die Stammkneipe jener Szene Mannheims, die sich für alternativ hielt. Alternativ hieß, daß sich Leute basisdemokratisch zu Kollektiven zusammenschlossen und mit alternativen Buchläden, Vollkornbäckereien und Boutiquen, in denen hundertprozentige Wollpullover von glücklichen Schafen verkauft wurden, den Kapitalismus bekämpften. Waren diese Projekte dann in die rentable Phase gekommen und hatten erste Gewinne ausgeworfen, so zerstritten sich die Mitglieder des Kollektivs meist über die Verteilung der Gewinne und gründeten ihren eigenen Laden. Irgendwie hatte die Schwule Aktion Mannheim es geschafft, den Eindruck zu erwecken, daß Schwulsein etwas mit alternativem, unbürgerlichem Leben zu tun habe. Das »Pumuckl«-Kollektiv gestattete uns, daß wir die Kneipe an einem der Ruhetage als Alternative Schwulenkneipe benutzen dürften. Wir benannten das »Pumuckl« an diesen Dienstagen zum »Schwumuckl« um. Das »Schwumuckl« schien eine Marktlücke geschlossen zu haben. Die alternativen Schwulen oder zumindest jene, die sich dafür hielten, strömten dienstags aus dem kurpfälzischen Raum in die Amerikanerstraße. An unseren Dienstagen war mehr los als an den anderen »Pumuckl«-Tagen. Unser Umsatz stieg. Das Mißtrauen des »Pumuckl«-Kollektivs auch. Sie warfen uns kapitalistische Denkweisen vor und uns raus. Sie versuchten, das schwule Publikum, das ja im Alkoholkonsum dem alternativen Publikum weit überlegen war, zu halten. Vergeblich, denn sie hatten den 120
Generalfehler gemacht und versäumt, gutaussehende Tresenkeeper zu engagieren, die dem Gast die Erotik versprechen, die er selbst nicht halten kann. Das Kollektiv konnte den Laden letztendlich nicht halten, weil jetzt auch das alternative Publikum an den anderen Tagen sich weigerte, in homosexuell verseuchten Räumen über Makrobiotik und indische Philosophie beim Bier zu diskutieren. Wir interessierten Wilma für die leerstehenden Räumlichkeiten, in denen sich das »Pumuckl« befunden hatte. Wilma hieß eigentlich Willy, wurde aber, seit er schwul denken konnte, und das war seit den vierziger Jahren, Wilma gerufen. Sie, die Bezeichnung »er« verbat sie sich energisch, hatte mal eine Ballettausbildung genossen. Nach einem Umweg über eine Verkäufer- und Kellnerexistenz hatte sie ihre eigentliche Berufung entdeckt und war Kneipenwirtin geworden. Ihre erste Kneipe, die »Kommode« im Mannheimer Vorort Feudenheim, war bereits in den frühen sechziger Jahren ein Geheimtip der homophil empfindenden kurpfälzischen Menschen. Anfang der siebziger Jahre war sie dann der Treffpunkt der Homosexuellen, die in Wilma einen Mutterersatz suchten und fanden. Sie fungierte bei ihnen in ihrer Lieblingsrolle, nämlich als böse Stiefmutter. Böse, alte Frauen konnte sie überhaupt am besten spielen. Im Gegensatz zu den sonstigen Fummeltrinen, die mangelnde Persönlichkeit und mangelnde schauspielerische Begabung mit einer Orgie von Tüll, Straß und Pailletten zu übertünchen suchen, war Wilma gekleidet wie ein Buchhalter in seiner Freizeit. Ihm genügte ein winzigkleines Requisit, und er verwandelte sich innerhalb von Sekunden in jede vom Publikum gewünschte Frau. Ein Geschirrhandtuch mit einer Haarnadel ins lichte Kopfhaar 121
geklemmt, ließ Queen Victoria wieder auferstehen. Ein Topfreiniger als Haarnetzersatz genügte, und Wilma war Golda Meir. Legendär war ihre Hutnummer. Sie nahm einen alten schwarzen Filzhut und formte ihn mit geschickten Fingern so um, daß sie innerhalb von drei Minuten mit Hilfe der gefertigten Hutmodelle und ihrer Mimik acht verschiedene Frauentypen darstellen konnte, von der Rentnerin über die Oberlehrerin bis hin zu Queen Elizabeth. Sie behandelte ihre Gäste auf so unnachahmliche Art und Weise schlecht, zog sie derart charmant auf, daß diese ihr verfielen. Als ich das erste Mal Anfang der siebziger Jahre bei ihr war und mir voller Stolz ein rotes Tuch um den Hals gebunden hatte, was damals noch keine Bedeutung hatte, fragte sie mich, nach kurzem Mustern: »Na junge Frau, haben Sie einen Kropf, oder kommen Sie aus Bayern?« Ich wurde verlegen. Später lehrte sie mich Schlagfertigkeit. Die Anzahl meiner heutigen Feinde beweist, daß sie eine gute Lehrmeisterin der bösen Zunge war. Diese böse Zunge und die Sperrstunde wurden der »Kommode« zum Verhängnis. Die Sperrstunde ist eine sadistische Erfindung, die das Ordnungsamt eingeführt hat, um die Bürger mitten aus einer fröhlichen Stimmung heraus zu gemahnen, daß sie am nächsten Tag zu arbeiten haben. Wilma überzog die Sperrstunde, die in Mannheim auf die unmenschlich frühe Stunde der Mitternacht festgelegt war, gewohnheitsmäßig. Böswillige Nachbarn der »Kommode«, die dem schwulen Treiben ein Ende machen wollten, zeigten die Sperrstundenübertretung beim Polizeirevier an. Die Beamten kamen und versuchten, Wilma zu belehren. Als der Wachtmeister mit »Herr Wingerle, ich muß Sie darauf aufmerksam machen ...« die Rechtshilfebelehrung begann, fiel ihm 122
Wilma ins Wort: »Und ich, Herr Wachtmeister, muß Sie«, sie zog das »Sie« verächtlich in die Länge, »darauf aufmerksam machen, daß ich für Sie«, sie betonte es noch verächtlicher, »immer noch die Frau Wingerle bin.« Das Verfahren wegen versuchter Beamtenbeleidigung wurde zwar eingestellt, aber die Konzession für die »Kommode« war Wilma wegen fortgesetzten Überschreitens der Sperrstunde los. Nachdem wir lange selbst hatten kellnern müssen, waren wir froh, daß Wilma unseren Tip annahm und Anfang 1979 das ehemalige »Pumuckl« in »Wilmas Stehlampe« umtaufte. Wir hatten wieder eine Mutter. Neben Ordnung und Sauberkeit lieben viele Deutsche am meisten die Hunde. »Daß mir der Hund am liebsten sei, sagst du, oh Mensch, sei Sünde. Der Hund blieb mir im Sturme treu. Der Mensch nicht mal im Winde.« Solche Sinnsprüche, in Kupferschilder mit goldener gotischer Schrift eingraviert, erfreuten schon damals mein kitschophiles Herz. Und so verfolgte ich den ersten Mannheimer Hundekrieg, der damals die Leserbriefspalten einer Mannheimer Zeitung erschütterte, voller Interesse. Irgend jemand hatte sich in einem Leserbrief beschwert, daß der allgegenwärtige Hundekot auf den Straßen widerlich sei. Ein Sturm der Entrüstung wühlte die Seelen der Mannheimer Hundebesitzer auf Eine Frau Groß schrieb sich ihren Zorn vom Leibe: »Unsere Hunde schlagen keine wehrlosen Frauen und Kinder nieder und vergewaltigen sie, wie das in Mannheimer Parks so Mode geworden ist. Wenn ich dabei an manche Zweibeiner denke. Ich frage die Verantwortlichen: Was haben denn Plastiktüten, Zigarettenschachteln und gebrauchte und ungebrauchte Pariser in unseren Parkan123
lagen verloren? Unsere Hunde sind dafür nicht verantwortlich zu machen! Auch zeigen unsere Hunde keinerlei Interesse für Homosexualität, die ja im Schloßpark so eifrig gepflegt wird. Vielleicht sollte man diesen Strichmännern mal die Polizeiverordnung vorlesen und es ihnen klipp und klar sagen, daß derlei Gewerbe in öffentlichen Anlagen verboten ist. Hilfspolizisten wären hier zur Kontrolle ordnungswidrigen Verhaltens bestens eingesetzt. Anstatt sich mit unseren Hunden zu beschäftigen. Auch wäre eine Bürgeraktion ins Leben zu rufen, um die Liebesspiele hinter den Büschen – und manchmal auch nicht hinter den Büschen – zu stoppen.« Die Hundefrage war somit an die Schwulenfrage gekoppelt. Mit Hermann, einem Mitglied unserer Schwulengruppe, schrieb ich einen Sketch, dessen Grundlage eben jener Leserbrief war und in dem sich zwei Rentnerinnen, denen wir die Namen von Hermanns Nachbarinnen, Frau Emmendörfer und Frau Karbach, gaben, über Schwule unterhalten. Dieser Sketch bot den äußeren Rahmen und Aufhängepunkt für viele weitere Sketche, mit denen wir dilettierten und uns mit dem gesunden Volksempfinden auseinandersetzten. Hermann war der erste Filmfreak, den ich kennenlernte. Er war praktizierender Kinomane und kannte fast jeden Film, der seit der Erfindung durch die Gebrüder Lumière jemals gedreht worden war. Er hat meiner latent vorhandenen Leidenschaft für Filmkomödien zum Ausbruch verholfen und war mitverantwortlich für mein cineastisches Coming-out. Er lehrte mich sehen. Sein eigentlicher Beruf, er war Beamter bei der Bundeswehr, war ihm lästig geworden, da er ihn von seiner Passion für alles, was bewegte Bilder erzeugt, also Kino und 124
Fernsehen, abhielt. Zum Entsetzen seiner Mutter hatte er die gesicherte Lebensstellung gekündigt, um sich voll und ganz dem Vorabendprogramm widmen zu können. Ich glaube, er ist später nur aus dem Grund nach Berlin gezogen, da es dort mit DDR 1 und DDR 2 zwei Programme mehr gab. Die Hundeaffäre hatte sich insofern positiv auf das Mannheimer Schwulenleben ausgewirkt, als sich das Mann-heimer Nationaltheater der Schwulenfrage zuzuwenden begann. ›Bent‹, das Stück von Martin Sherman, das später unter dem Titel ›Rosa Winke‹ bekannt wurde, fand hier in Mannheim seine deutschsprachige Uraufführung. Parallel dazu sollte in der Studiobühne des Theaters ein Abend gestaltet werden, der sich mit Homosexualität befaßte. Ein Regisseur bat uns, diesen Infoabend vorzubereiten. Ich schrieb ein kleines Theaterstück, das ich mit Mitgliedern der Schwulengruppe inszenierte. Die Diskussion leitete Martin Dannecker, der in schwulen Fragen – wenn schon nicht als Papst, so doch zumindest – als Kardinal angesehen war. Es war ein schönes Gefühl, Erfolg zu haben. Noch dazu, da es danach ein kleines Theaterskandälchen gab. Dr. Merkert, ein christdemokratischer Stadtrat, der sich in Kulturfragen für zuständig hielt, schäumte angesichts solch brühwarmer Gastspiele und schrieb in einem Leserbrief von dem »Tanz auf der Nadelspitze der Sekunde«. Ich war ihm dankbar für diese PR-Arbeit. Konnte ich doch mit einem Gegenleserbrief einen Flächenbrand von solidarischen Stellungnahmen entfachen, die die Leserbriefspalte der Mannheimer Zeitung für geraume Zeit am Köcheln hielt.
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Als dann noch ein Heidelberger Stadtmagazin uns bat, einen Artikel zu schreiben, der sechs Seiten der folgenden Ausgabe mit Wort und Bild füllte, und auf dem Titel nicht nur der Satz »Schwul in Mannheim«, sondern auch mein Bild erschienen war, triumphierte die Claire Zachanassian, die seit dem ›Besuch der alten Dame‹ in mir schlummerte. Die Heidelberger Gruppe hatte uns Mannheimer zu »bürgerlichen Rumbumsschwulen mit Lederjacken« gemacht. Jetzt machten wir die Heidelberger zur Gruppe »Homo Neidelbergensis«. Neid entsteht aus dem Bewußtsein heraus, daß ein anderer etwas besitzt, was man selbst nicht hat. Aber statt sich anzustrengen, dieses fehlende Etwas selbst zu erwerben, setzt man alle Anstrengungen ein, dem anderen den Besitz wegzunehmen oder ihn zu zerstören. Einer meiner Cousins zerstörte einmal einen Turm, den ich aus Legobausteinen gebaut hatte, weil mein Turm höher gewesen war. Ich war fassungs- und hilflos. Ich wollte mir niemals wieder von irgend jemand etwas zerstören lassen, was ich aufgebaut hatte und worauf ich stolz war. Und ein wenig stolz konnte ich damals, Ende der Siebziger, auf das Erreichte schon sein. Ich hatte eine Wohnung, hatte eine soziale Relevanz, hatte, was ich mir als Kind nie zugetraut hätte, mit leidlichem Erfolg auf der Bühne gestanden, war auf dem Titel einer – wenn auch nicht bundesweit verbreiteten – Zeitung gewesen. Die von mir federführend aufgebaute Schwule Aktion Mannheim war geachtet. Ich hatte die Vordiplomprüfung in Psychologie erfolgreich abgelegt und strebte dem Hauptdiplom entgegen. Ich hatte einen großen Freundes- und Bekanntenkreis und war recht beliebt. Ich hatte mir eine sogenannte schwule Persönlichkeit zugelegt, die mich im Krieg 126
der Tunten vor Verletzungen schützte. Ich kannte die Tricks im Bett, mit denen man Typen geil macht. Ich kannte die Psychotricks, mit denen man Typen verliebt macht. Ich hatte die Tricks gelernt, wie man in einer Gruppenhierarchie aufsteigt. Ich hatte mich sogar in meiner Fakultät auf einer Hiwi-Stelle unentbehrlich gemacht. Hätte ich die Punkte meines bisherigen Lebens durch eine Kurve miteinander verbunden und diese Kurve asymptotisch in die Zukunft fortgesetzt, hätte diese Kurve eine Reihe weiterer Punkte erreicht. Hauptdiplom, Assistentenstelle der Universität Mannheim, vielleicht sogar eine Professur. Ich hätte mehrere feste Beziehungen gehabt, wäre mit ihnen in Urlaub gefahren, hätte mich von ihnen getrennt und eine weitere Beziehung aufgenommen. Wäre immer der Stärkere gewesen. Die Kurve weiter bis ins hohe Alter fortzusetzen, weigerte sich meine Phantasie. Ich stellte mir ein Leben vor, das ich rundum zufrieden gelebt hätte. Welcher Teufel hat mich bloß geritten, mich zu verlieben und dadurch den Legoturm meiner Planungen zum Einstürzen bringen zu lassen? Er sagte, sein Name sei Alar. Ich hatte »Allah« verstanden und hielt dies für einen schlechten Witz. Nein, wirklich Alar. Seine Eltern würden aus Estland stammen, und Alar sei dort ein gebräuchlicher Name. Und er sei heute abend zum ersten Mal im »Ballerina«, da er sich erst kürzlich in der Fachhochschule für Sozialarbeit eingeschrieben habe. Seit meinem ersten Semester waren mir Psychologen und die artverwandten Sozialarbeiter ein Graus. Ich empfand Sozialarbeiter als sich alternativ gebärdende 127
Wesen, die sich ungefragt in fremde Angelegenheiten mischen und einem ihre unerwünschte Hilfe überstülpen. Sozialarbeit war für mich das berufgewordene mütterliche Prinzip. Die Metamorphose des Psychologiestudenten vom ersten Semester bis kurz vor der Diplomprüfung hatte ich an meinen Kommilitonen erfahren. Waren sie am Anfang normale, wenn auch langweilige Wesen, mit denen man einen halbwegs normalen, wenn auch langweiligen Dialog führen konnte, so verbreiteten sie im Laufe des Studiums eine immer penetrantere Atmosphäre der Ich-Botschaften. Sie sagten einem nicht mehr, wie im ersten Semester, man sei ein schwules Arschloch, das sich auf Klappen herumtreibe, sondern hatten ab dem Vordiplom das Gefühl, man sei ein extrovertierter Mensch, dessen Verhalten von der Desintegration der homosexuellen Tendenzen in die Gesamtpersönlichkeit zeuge. Der statistische Mittelwert wurde zur idealen Persönlichkeitsnorm fetischisiert. Ihr varianzanalytisches Denken duldete nur Standardabweichungen von diesem Idealpunkt. Überschritt man diese Norm um mehr als eine Standardabweichung, machte sich allseits tiefe »Betroffenheit« breit. Therapie hieß, diejenigen, die in der Gaußschen Normalverteilung zu weit vom Durchschnitt entfernt lagen, wieder auf das »gesunde« Maß zurückzuschrauben. Mein anarchistischer therapeutischer Ansatz, die Verrückten in ihrer Verrücktheit zu bestärken, stieß auf großes Unverständnis und löste noch größere Betroffenheit aus. Diejenigen, die mir rhetorisch nicht gewachsen waren, hatten ein undefinierbares Gefühl im Bauch, das sich dann in Ich-Botschaften auflöste. Man hielt mich – nein, man hatte das Gefühl, daß ich nicht der Idealnorm entspräche, die ein gesunder Psychologe zu erfüllen habe. Das Gefühl hatte ich langsam auch. 128
Alar war dagegen von der Sinnhaftigkeit seines Studiums überzeugt. Er sah auch so aus, wie ein Bilderbuchmaler einen Sozialarbeiter dargestellt hätte. Ein viel zu weiter Grobstrickpullover aus hundert Prozent reiner Wolle, weite Schlabberhosen, lange Haare, Nickelbrille, so saß er mir im »Ballerina« gegenüber. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß daraus mal der schönste Mann meines Lebens werden würde, ich hätte ihn ausgelacht. Da das sonstige Angebot an diesem Abend sehr mager war und es wegen des Schneefalls draußen zu kalt für die Klappe war, lud ich Alar ein, mit zu mir nach Hause zu kommen. »Wenn ich so eine Figur hätte, würde ich nur die knallengsten Sachen anziehen«, schoß es mir durch den Kopf, als sich Alar zu Hause aus seinen Schlabbersachen pellte. Ich versuchte, meine Stielaugen wieder auf das normale Maß zurückzunehmen, als er mich verlegen fragte, ob er zu pummelig sei. Er finde seinen Oberkörper zu breit und seine Beine zu muskulös. Ich antwortete, es mache mir nichts aus. Ich war außerdem nachsichtig gegenüber dem körperlichen Makel, daß er den schönsten Arsch hatte, den ich jemals wieder in meinem Leben zu Gesicht bekommen sollte. Ich fickte wie ein Weltmeister. Als fleißiger Student wollte er am nächsten Morgen unbedingt zur Vorlesung. Ich ging mit ihm die Treppe runter, um Brötchen zu besorgen. Wir verabschiedeten uns an der Haustür. In über zweihundert solcher Situationen hatte ich gelernt, wie man sich als Schwuler möglichst cool zu verabschieden hat. Die hohe Kunst, sein Interesse an einem Wiedersehen möglichst zu verbergen, ohne abweisend und 129
unhöflich zu erscheinen – »Man trifft sich« zu sagen oder »Ruf mich mal an«. Um dann zu warten, daß der andere den ersten Schritt tut oder den ersten Anruf tätigt. Selbst initiativ zu werden hieße ja, daß man sich etwas vergäbe. Je mehr man an einem Wiedersehen interessiert war, um so cooler gab man sich. Er rief eine halbe Stunde später an. Er hatte einen Kloß im Hals. Ich sei vorhin so abweisend gewesen. Er wolle nicht nur als Mann für eine Nacht behandelt werden. Ich sagte, er solle kommen. Er kam. Wir verließen die nächsten beiden Tage das Bett nur, um auf das Klo und zum Kühlschrank zu gehen. Wir gaben uns gegenseitig das, was wir bisher vermißt hatten, ohne daß es uns bewußt gewesen wäre. Er war gnadenlos schwach. Ich fickte in seine Seele. Ich stieß bis zu der Stelle vor, in der das kleine Kind verborgen war. Ich stieß durch die Schichten der Ängste, Demütigungen und schlechten Erfahrungen, die er in seinem Leben erlitten hatte. Er öffnete sich immer weiter. Er löste sich auf. Er stöhnte. Und fing an, hemmungslos Rotz und Wasser zu heulen. Ich heulte mit. Seit meiner Kindheit hatte ich nicht mehr geheult. Es wäre ja auch unmännlich gewesen. Ich war unduldsam nicht nur gegenüber meinen eigenen Tränen geworden, sondern auch gegenüber den Tränen der anderen. Heulte jemand, so erstarrte ich für gewöhnlich zur Salzsäule. Tränen empfand ich immer als Erpressung, als den Versuch, den anderen zu einem Gefühl zu zwingen. Dieses Heulen war ein anderes Heulen. Es war das Heulen eines Kindes, dem Unrecht getan worden war. Es war das Heulen von zwei Menschen, die vom Leben gezwungen worden waren, Versteck zu spielen. Die gezwungen worden waren, Rollen zu spielen, um den Beifall des 130
Publikums zu bekommen, und die sich doch insgeheim wünschten, daß dieser Beifall ihrer eigenen Person und nicht der Rolle gelte. Wir waren absolut wehrlos. Absolut schutzlos. Absolut nackt. Wir erkannten unsere Nacktheit und schämten uns nicht. Wir verliebten uns ineinander. Außer mich selbst hatte ich bisher noch niemanden geliebt. Gemocht? Ja. Verliebt war ich öfter. Eine »Ehe« hatte ich auch schon hinter mir. Mit einem repräsentativen Mann, um den mich die anderen beneideten und der somit meinen Marktwert erhöhte. Ich hatte Beziehungen immer benutzt, um meiner Person den Glanz zu geben, den ich ihr insgeheim als den angemessenen und verdienten zusprach. Schon als Kind hatte ich mich bei manchem Kummer, den mir meine Eltern bereiteten, in die Phantasie geflüchtet, eigentlich ein Prinz zu sein, der von seinen königlichen Eltern dem Mann und der Frau zur Pflege gegeben worden war, die sich als meine Eltern ausgaben. Irgendwann würde man meine königliche Herkunft schon herausbekommen. Ich hatte auch später unter der Tatsache gelitten, daß meine Umwelt diesen verwunschenen Königssohn immer noch mit Hans anredete und in ihm immer noch den Sohn des Heinz Seyfarth und seiner Gattin Gretel, der geborenen Diehl, sahen. Ich wollte für das geliebt werden, wofür ich mich hielt, und war sauer darüber, daß die Leute das liebten, wofür sie mich hielten. Jetzt lagen zwei verwunschene Königskinder im Bett, kuschelten sich aneinander und bewunderten gegenseitig ihre Nacktheit. Was hatten die Königssöhne schöne Kleider an. Old Shatterhand hatte seinen Winnetou gefunden, Narziß seinen Goldmund. Ich empfand Glück bei der Vorstellung, daß ich jetzt nicht mehr allein den Kampf in der feind131
lichen Umwelt bestreiten mußte, sondern einen Mitstreiter hatte, der mit mir ins Feld zog und den ich beschützen konnte, wenn er in Gefahr war. Denn der ein wenig Stärkere wollte ich auch in Zukunft bleiben. Das Kapital der Stärke, das wir in den beiden Tagen im Bett angehäuft hatten, sollte verzinst werden. Ich wollte den Untertanen, die sich in der Mannheimer Subkultur tummelten, zeigen: »Seht her, wir beiden Königskinder regieren jetzt gemeinsam. Huldigt uns gefälligst!« Das »Ballerina«, in dem unser Hofstaat versammelt war, erkannte aber nur dem einen Regierenden eine gewisse Autorität zu. Und das war derjenige, der als Aktivist der Schwulengruppe und als Mitglied eines Schauspielensembles eine gewisse soziale Relevanz hatte. In Alar sahen sie nur den Studenten der Sozialarbeit. Erstes Semester. Mit seinen Klamotten, die er immer noch anhatte, verbarg er ja das königliche Gewand seiner Nacktheit. Seine Brille war wie eine Froschmaske über seine prinzlichen Augen gestülpt. Ich bat ihn, sich Kontaktlinsen zuzulegen. So wie ich, der ich mich immer geweigert hatte, meine Kurzsichtigkeit mit Brille zu korrigieren, es getan hatte, seit das ewige Zukneifen der Augen die Bildung von Krähenfüßen förderte. Er ließ sich die Haare kurz schneiden. Und als wir, beide in Leder gekleidet, eines Abends unserem Hofstaat die Ehre unseres Erscheinens gaben, erkannte ein jeder der Höflinge: Aus dem schönsten Frosch der Welt war der schönste Prinz der Welt geworden. Und ich hatte den Prinzen wachgefickt. Ich nahm gerne hin, daß ein kleiner Rest der Dornenhecke, die Psychologen einen Minderwertigkeitskomplex nennen würden, übriggeblieben war. Dieser Dornenheckenrest gab meiner prinzlichen Würde die Exi132
stenzberechtigung und mir die Gewißheit, daß Dornröschen keinen Putschversuch unternehmen würde. Dornröschen verlieh mir die Insignien der Macht. Ich hatte das Zepter, sie den Reichsapfel. Und dieser Reichsapfel war ungemein schön. Dornröschen ließ mich regieren. Das Märchen von den beiden Königskindern dauerte sechs Monate. Weitere drei Monate wurden von dem Märchen Rotkäppchen und Virginia Woolf in Anspruch genommen. Ich weiß nicht, welches Märchen mir besser gefiel. Der verwunschene Prinz in mir wuchs zum Sonnenkönig heran, der nach einer Mätresse suchte, die mit ihm und der Königin, zu der sich Dornröschen gemausert hatte, in einem goldenen Bettchen zu liegen bereit war. Die Königin wollte jedoch lieber weiterhin nur zu zweit im Thronbett liegen. Die Mätresse hatte den Namen Wolfgang. Wolfgang schaute uns im »Ballerina« mit strahlenden Kinderaugen an. Mit Augen, die Unschuld und Reinheit vorspielten und gleichzeitig signalisierten, daß sich hinter den Augenhöhlen eine Pottsau verbarg. Der Sonnenkönig verfügte eine ménage à trois. Die Königin ging widerstrebend mit. Das Schäferspiel begann noch harmonisch. Als sich die Mätresse aber zu intensiv dem Sonnenkönig widmete und zur Sklavin degradiert werden wollte, zog sich Königin Alar zurück und an. Sie wolle zurück auf ihren Landsitz in Neckarau. Sie machte einen großen Abgang, von dem der Sonnenkönig in seinem Machtrausch keine Notiz nahm. Eine halbe Stunde später, König und Mätresse hatten die Herrschaftsverhältnisse gerade erfolgreich geklärt, rief die Königin an. Sie habe den Haustürschlüssel vergessen, 133
schluchzte sie. Der König, auf dem Höhepunkt seiner Macht, herrschte sie an, sie möge zurückkommen. Königin Alar war aufgelöst wie Marie Antoinette nach der Revolution. Eifersucht mischte sich mit Wut und Haß. Dieses explosive Gemisch physischer Erregung drohte sich in einem Attentat auf den König zu entladen. In Notwehr wies ihr der König den Weg zum Schafott. »Ich bin noch nie so erniedrigt worden«, schluchzte Alar nach dem Orgasmus. Eine neue Erfahrung, die Verknüpfung von größtem seelischen Schmerz mit größter sexueller Geilheit, hatte ihn eine neue Religion entdecken lassen. Er betete jetzt die Macht der Hiebe an. Ich fand Geschmack an der Rolle des Hohenpriesters. Waren die S/M-Spielchen mit Müsli noch Exerzitien gewesen, so feierten wir jetzt Hochämter. Tiefer, fester, härter. Macht macht süchtig. Ich verliebte mich in meine Macht. Alar war zum bloßen Liebestrank geworden. Ich wollte ihn ganz unten haben. Ich wollte ihn ganz abhängig machen. Er sollte mir lebenslänglich dienen. Er tat es nur eine Zeitlang. Ein Typ war in die Schwulengruppe gekommen, der wegen seines Aussehens den Spitznamen »Kanadischer Holzfäller« hatte. Meine inneren Alarmglocken feierten ein Silvestergeläut, als ich seine begehrlichen Blicke auf Alar gerichtet sah. In vielen Vorträgen, die ich gehalten hatte, wenn Alar geeifersüchtelt hatte, war immer von emanzipierter Zweierbeziehung die Rede gewesen. Ich klagte darin das Recht ein fremdzugehen, solange ich derjenige war, der es wahrnahm. Alar war mir ja sicher gewesen. Jetzt war es Alar, der sich auf meine Vorträge berief. Jetzt war ich es, der jenes Gefühl verspürte, das ich vorher als »kleinbürger134
liche Besitzansprüche« verspottet hatte. Ich war eifersüchtig. Und zwar rasend. Ich versuchte, dieses Gefühl zu verbergen, so gut es ging. Es ging nicht gut. Wir spielten ›Virginia Woolf‹. Und konnten uns nicht einigen, wer Liz Taylor und wer Richard Burton war. Winnetou und Old Shatterhand kämpften nicht mehr gemeinsam, sondern gegeneinander. Schleppte er einen Mann aus dem »Ballerina« ab, so nahm ich all meine Kraft zusammen, um zwei aufzureißen. Wir erzählten uns am nächsten Tag die Erlebnisse, immer in der Hoffnung, den anderen möglichst zu verletzen und in die gerissenen Wunden Salz zu streuen. Ich hatte Angst vor der Niederlage in diesem Kampf und legte mir ein Riesenarsenal an Verteidigungswaffen zu. Ich siegte unsere Beziehung zu Tode. Wenn er mir damals gesagt hätte, was er später in einem Buch, das verschiedene Schwulenbeziehungen darstellte, als Interviewpartner sagen würde, nämlich daß er eine ebensolche Angst vor der Niederlage gehabt hatte – ich hätte bedingungslos kapituliert. Ich wäre sogar bereit gewesen zum Rollentausch. Ich hätte ihn als Meister betrachtet, wäre sein Sklave geworden. Der Sonnenkönig war bereit zur Abdankung. Wenn schon Niederlage, dann sollte sie wenigstens lustvoll sein. Durch seine Flucht nach Hamburg hat er mich um diese Erfahrung betrogen. »Alar ist unauffindbar«, rief mich sein Bruder an. Ob er sich etwas angetan haben könnte? Die Vorstellung, er könnte sich unserem Krieg durch Selbstmord entzogen haben, erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung. Sie hätte dem Ganzen etwas Tragisches verliehen, und ich hätte die umsorgte Witwe spielen können, die überall erzählen würde, daß ihretwegen ein Mann den Freitod gesucht habe. 135
Aber statt der Todesnachricht kam eine Postkarte aus Hamburg. Er wohne jetzt in einer WG zusammen mit Mitgliedern der Theatergruppe »Brühwarm«. Er habe einen Job als Barschlampe in einem Schwulenlokal. Es gehe ihm gut. Er komme nächste Woche, um seine Sachen zu holen. Ob ich ihn sehen wolle. Natürlich wollte ich. Ich freute mich wie ein Schloßhund, als er die Treppe hochkam. Wir spielten ›Casablanca‹. Wir schauten uns in die Augen, nahmen uns in die Arme, sagten kein Wort. Der Konkurrenzdruck war weg. Wir waren beide entspannt. Wir legten uns ins Bett. Ich ließ mich von ihm durchficken. Zum ersten Mal. Wir wollten in Freundschaft zusammenbleiben. Er in Hamburg, ich in Mannheim. Nach meinem Examen sollte auch ich nach Hamburg ziehen, stellten wir uns vor. Wir waren für fünf Tage Harmonie und Verständnis. Er wollte mit seinen Eltern reinen Tisch machen, ihnen seinen Wegzug erklären. Er kam abends aufgewühlt aus Heidelberg zurück. Er hatte seinen Eltern gestanden, daß er schwul ist. Hatte ihnen von mir erzählt. Nach einer Phase des Schocks hätten sie ihm erklärt, daß er trotzdem ihr Sohn bleibe, daß man ihn so akzeptiere, wie er sei. Um dann die Frage nachzuschieben, ob Homosexualität heilbar sei. Am nächsten Abend randalierte sein Vater vor der Tür: Er wolle die Sau abstechen, die seinen Sohn schwul gemacht habe, brüllte er. Die Hausmeisterin war außer sich über den Skandal im Treppenhaus. Wir konnten den Vater abwimmeln. Wir spielten noch einmal ›Casablanca‹. Die Flughafenszene fand im Hauptbahnhof Mannheim statt. Wir wollten uns wiedersehen. Sechs Wochen lang überbrückten wir siebenhundert Kilometer mit Hilfe des Telefons. 136
Das Haus lag im Hamburger Norden. Außer Alar wohnten noch vier Mitglieder von »Brühwarm« in dem Haus. Auf der Terrasse, auf der sich die Bewohner nackt sonnten, spendete ein riesiger Marihuanastrauch Schatten. Ich war neidisch. Was ich mir in Kindheitstagen erträumt hatte, für ihn war es wahr geworden. Er wohnte in einer schwulen Familie. Ich stellte mir Massenorgien vor, in denen Alar der Mittelpunkt war, und haßte ihn dafür. Ich, der Erfahrenere und ehemals Überlegenere, war jetzt die Provinzmaus, die in der Großstadt zu Besuch war. Ich war der fleischgewordene stumme Vorwurf Ich wollte alte Rechte einfordern, die inzwischen gegenstandslos geworden waren. Ich wollte mit ihm ficken. Er verweigerte sich. Ich war wütend. Spielte alte Machtspielchen, die wir überwunden geglaubt hatten. Ich wollte es ihm mal wieder beweisen. Ich fuhr in eine Lederbar und war bereit, mit dem Nächstbesten ins Bett zu gehen, nur um das Scheiß-Unterlegenheitsgefühl loszuwerden. Der Nächstbeste war ungefähr 1,70 Meter groß, eher dünn und hatte, wie neunzig Prozent der anderen Gäste, Schnurrbart und kurze Haare. In Jeans und Karohemd stand er breitbeinig da. Er wohne am U-Bahnhof Schlump. Seine Wohnung lag im ersten Stock und war nach Hamburger Art wohlhabend eingerichtet. Ich wartete im Wohnzimmer, in dem die Reste eines kalten Buffets davon kündeten, daß am gleichen Abend sich hier eine Abendgesellschaft vergnügt hatte. Er blieb lange im Bad. Ich vermutete, daß er eine Spülung machen würde. Ich hatte Hunger. Ich kaute auf beiden Backen, als er aus dem Bad zurückkam. Er war voll in Leder gekleidet.
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Lederhose, Lederhemd, Lederjacke. Sogar die Maske, die seinen Kopf überzog und aus deren Augenschlitzen er mich herrisch und dominant anschaute, war aus Leder. An die linke Hosenseite hatte er Handschellen gehängt. In der rechten Hand trug er eine Lederpeitsche. Er herrschte mich an: »Zieh dich aus! Schweine müssen nackt sein.« Ich mußte prustend lachen. Da ich den Mund voll hatte, landeten die Kekskrümel auf dem Teppichboden. Er war unwillig ob dieser Verunreinigung. Er holte ein kleines Elektrogerät von der Wand, das sich als Tischstaubsauger entpuppte, und entfernte die Krümel vom Teppichboden. Das war das Ende einer nichtstattgefundenen Nacht, in der ich meine masochistische Entjungferung hatte erleben wollen. Als ich Alar am nächsten Morgen von irgendwelchen geilen Erlebnissen vorphantasierte, die ich in der vorausgegangenen Nacht gehabt hätte, zeigte er sich nicht die Spur beeindruckt. Ich fuhr nach Mannheim zurück. Ich schrieb ihm von dort einen siebenundzwanzigseitigen Brief Er antwortete nicht. Ich stellte mir vor, was er alles in Hamburg machen würde. Stellte mir das bewegte Leben vor, das er dort führen mußte. Daß er mit bedeutenden, interessanten Leuten ficken würde, die dem Mannheimer Durchschnitt so haushoch überlegen wären. Ich war neidisch. Ich begann, Mannheim zu verachten. Ich wollte weg. Bloß wohin? Nach Hamburg zu ziehen kam nicht in Frage. Die Stadt war zu klein für Alar und mich. Ich fürchtete, ihm dort immer wieder zu begegnen und somit an eine Niederlage erinnert zu werden, die mein Selbstwertgefühl auf Null gebracht hatte. Ich nahm mir vor, wieder stark und unangreifbar zu werden. Ich wollte es ihm zeigen. Ich würde auch in einer 138
Künstlerwohngemeinschaft wohnen. Ich würde ein noch interessanteres Leben haben, als er es in meiner Phantasie lebte. Ich zog nach Berlin.
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eute ist der 31. Dezember 1990. Seit zehn Jahren lebe ich in Berlin. Auch Berliner bin ich seit zehn Jahren. Berlin ist wie Zigarettenrauchen. Bei der ersten Zigarette hustet man noch. Man raucht die zweite. Entweder man hustet immer noch und läßt das Rauchen bleiben, oder man inhaliert und wird abhängig. Ich war seit meinem zwanzigsten Lebensjahr ein starker Raucher. Ich hatte mir das Husten abgewöhnt. Ich wurde gleich abhängig von Berlin. Es war damals in der guten alten Zeit. Berlin war noch von einer Mauer umgeben, als ich früh am Silvestermorgen 1980 um 6.30 Uhr am Bahnhof Zoo dem Nachtzug aus Mannheim entstieg. Ich inhalierte tief. Ich war angekommen auf jener Insel der schwulen Glückseligkeit. Auf jenem paradiesischen Eiland in der Mitte eines grauen Meeres, das ein Bollwerk gegen jene Vergangenheit bildete, die sich selbst Bundesrepublik nannte. Die Einheimischen der Insel, und einheimisch fühlte sich jeder, der gerade das rettende Eiland erreicht hatte, verachteten von ihrer Insel aus jenes Festland, dem sie den Namen Westdeutschland gaben. »Es gibt keine deutsche Stadt«, sagte später mal eine gute Freundin, die hier Asyl vor niedersächsischer Verfolgung gefunden hatte, »die für westdeutsche Mütter so weit entfernt ist wie Berlin«. In dem Sinne lag Berlin weiter entfernt von Flensburg als Flensburg von Berchtesgaden.
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Hier war man sicher vor der Vergangenheit. Die alten Bekannten, denen man versprochen hatte, daß man mit ihnen in Kontakt bleiben wolle, verschwanden immer weiter im Nebel des Vergessens. Gegenüber der Verwandtschaft, deren Einladungen zu Geburtstagsfeiern und Hochzeiten, den ägyptischen Plagen gleich, die heimatlichen Briefkästen heimgesucht hatten, konnte man sich hier mit dem weiten Anfahrtsweg zu den Örtlichkeiten der Familienfestivitäten entschuldigen. Die Verwandtschaft selbst scheute die Passage durch die kommunistisch verseuchte See. Sie hatte Angst vor den Kontrollen beim Ein- und beim Ausschiffen und fürchtete die Piraten der Volkspolizei, die bei Geschwindigkeitsübertretungen von den Passagieren die Beute forderten. Wer hier, in einer Stadt ohne Zukunft, auf der Flucht vor der Vergangenheit gestrandet war, ging in der Gegenwart auf. Man hatte keine Zeit mehr, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Man war zu beschäftigt mit der Gegenwart, um an die Zukunft zu denken. Man lebte intensiver und schneller als in jener zähen, intoleranten Masse, die man früher mal als seine Heimat bezeichnet hatte. Die Berliner Toleranz ist nur ein Mythos. Die Berliner sind viel zu schlampig und zu faul, um intolerant zu sein. Zur Intoleranz gehört sehr viel Energie – Energie, um Verfolgungsarbeit leisten zu können. Die Schwaben haben diese Energie. Die Berliner haben keine Zeit. Hermann, der mich am Bahnhof abholte, lehrte mich sofort, daß ich auf der Rolltreppe rechts zu stehen habe, damit die Leute an mir vorbeieilen könnten, um dann eben eine Minute länger auf dem Bahnsteig auf die U-Bahn zu warten.
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Es war eben jener Hermann, dessen Leidenschaft für Film und Fernsehen ihn nach Berlin getrieben hatte. Er wohnte zusammen mit der altbekannten Gaby Trunk, die es nach dem Berlin-Kolleg zur Journalistin gebracht hatte, im Wedding in der Pankstraße 79. Hier fand ich meinen ersten Unterschlupf. Die Wohnung lag im Erdgeschoß. Das erste Zimmer war mit einer Matratze, einem Bücherregal und einem großen Fernseher eingerichtet. Hier wohnte offensichtlich Hermann. Als ich ins nächste Zimmer kam, wurde ich von einer Hausbar optisch und von zwei Papageien akustisch fast erschlagen. Veritable fünftausend Mark Abstand habe sie dem Vormieter, der offensichtlich ein Faible für das Rustikale gehabt haben mußte, für diese Hausbar zahlen müssen, berichtete Gaby voller Stolz. Und die Papageien seien ganz liebe Tiere, die Lupo und Bonewike hießen. Nur der eine sei ab und zu mal etwas laut, umschrieb Gaby die Tatsache, daß das Vieh in viertelstündlichen Abständen wie am Spieß schrie. Dafür könne der andere ganz lieb ›Du bist verrückt, mein Kind‹ pfeifen. Sie forderte zum Beweis das grüne Monster dazu auf. Lupo schien jedoch in Streikstimmung zu sein. Mir war das Berliner Zimmer, das als Durchgangszimmer zur Küche diente, als Domizil zugedacht. Es hatte nur ein einziges Fenster, das obendrein zum Hof führte. Es war so dunkel, daß man auch tagsüber das Licht anschalten mußte. Im Hof selbst waren viele Holzbretter gestapelt. Denn wir wohnten neben einer Sargtischlerei und konnten beim Frühstück mittags den Transporteuren beim Verladen der Särge, die für das nahe Krematorium Wedding bestimmt
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waren, zuschauen. Das einzig Schöne an der Wohnung war das Bad, das ich sofort benutzte. Für den Abend war eine Silvesterfete in der AHA geplant. AHA stand für Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft Berlin und war, wie Hermann mir erklärte, von Abtrünnigen der HAW gegründet worden. HAW wiederum stand für Homosexuelle Aktion Westberlin und war mir aus der Zeit des Freiburger Tuntenstreits ein Begriff Aufgrund der Namen schloß ich, daß die HAW-Leute sich von den AHA-Leuten darin unterschieden, daß die einen arbeiten wollten, während die anderen Aktionen planten. Als wir die Räume der AHA in der Friedrichstraße betraten, standen mehrere Typen an der Bar, die nicht wußten, was sie wollten, aber dies mit aller Entschiedenheit. So sah also die Berliner Schwulenbewegung aus, vor der wir in der Provinz immer so viel Respekt gehabt hatten. Ich wurde den Versammelten von Hermann vorgestellt. Die Keiler beschnupperten den Frischling. Wir langweilten uns Mitternacht entgegen. Zum Jahreswechsel 1980/81 wurde sehr viel geherzt und geküßt. Für fünf Minuten herrschte allgemeine homosexuelle Eintracht. Diejenigen, die sich im abgelaufenen Jahr mit Niedertracht verfolgt hatten, herzten sich, um dann die zu küssen, die sie als Konkurrenten um den Vorstandsposten betrachteten und denen sie im kommenden Jahr das Messer in den Rücken zu stoßen die Absicht hatten. Ich knutschte mit einem langen, dürren Psychologiestudenten. Als ich am nächsten Morgen neben ihm in einem Reinickendorfer Bett aufwachte, hatte ich meinen ersten Mißgriff in Berlin getan. Es sollten noch einige folgen.
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Tags darauf nahm ich meine Arbeit bei der Berliner Telefonauskunft auf. Die korrekte Postbezeichnung dafür war Fernsprechauskunft. Denn Korrektheit gehört nun mal zu einem Postbediensteten. Das hatte ich schon in Mannheim gelernt als ich den Postlehrgang absolvierte. Nach dem Vordiplom pflegte ich während der Semesterferien bei der Auskunft zu jobben. Meine damalige Fähigkeit, mir unwichtige Dinge merken und Unsinniges schnell auswendig lernen zu können, machte mich alsbald zum Liebling von Frau Bräzel, der Lehrgangsleiterin. Ich war der erste, der statt von einer Telefonnummer korrekt von einer Beschalteinheit sprach. Ich kannte den Unterschied zwischen Hauptvermittlungsstellen und Knotenvermittlungsstellen, sprach statt von Telefonzellen von öffentlichen Münzfernsprechstellen. Als einziger hatte ich alle Fernsprechbuchbereiche im Kopf und mußte nicht im ›Amtlichen Verzeichnis der Ortsnetzkennzahlen‹, kurz AVON, wie das Vorwahlnummernbuch bei Postlern heißt, nachschauen. Frau Bräzel legte mich dem Berliner Fernmeldeamt ans postalische Herz. Da die Telefonauskunft, Pardon Fernsprechauskunft, rund um die Uhr besetzt sein mußte, gab es keine geregelten Arbeitszeiten. Gott sei Dank. Denn geregelte Arbeitszeiten und ein geregeltes Berliner Schwulenleben schließen sich aus wie Feuer und Wasser. So tauschte ich immer mit den dort arbeitenden Hausfrauen, die Frühdienste vorzogen, um mittags den Haushalt versorgen zu können, die Spätdienste ein. Ich beauskunftete von 15 bis 23 Uhr, was mir die Möglichkeit gab, immer bis 13 Uhr schlafen zu können und nach dem Dienst um die Häuser zu ziehen. Denn vor Mitternacht lohnte es sich in der Berliner Lederszene nicht auszugehen. Man traf dann höchstens 144
einige verirrte Touristen, die an feste Sperrstunden gewohnt waren und schon um 21 Uhr ihr Glück zu suchen trachteten. Jene verschwindend geringe Minderheit der SubkulturSchwulen, die einer geregelten Arbeit nachging und früh aufstehen mußte, versuchte entweder, möglichst häufig krank zu feiern, oder sie beherrschte die Vorschlaftechnik. Das heißt, man schlief nach der Arbeit von 16 bis 23 Uhr, frühstückte oder vielmehr spätstückte und zog dann los, um morgens um sieben, direkt aus der Subkultur kommend, den Arbeitsplatz aufzusuchen. Das Lokal, wo die Bierströme rund um die Uhr zu fließen schienen, war »Andreas Kneipe«. Hier traf sich die Gesamtheit der mir anfangs nur vom Sehen bekannten Berliner Schwulen. Es wurde im Schichtbetrieb gesoffen. Nachmittags saßen diejenigen im AK, wie es von Kennern genannt wurde, die hier immer saßen und die hier immer tranken. Sie wankten dann um 18 Uhr nach Hause, um den nachströmenden KaDeWe-Verkäufern Platz zu machen, die nach getaner After-Shave-Beratung hier ihr AfterArbeit-Bier tranken. Sie erzählten sich dann gegenseitig die Tragödien, die sie im Laufe des Tages wieder einmal hatten erleben müssen. Gegen 22 Uhr kamen die eigentlichen Nachtschwärmer, um sich und ihre Laune hier aufzuwärmen. Es wurden die ersten Augenblicke und die ersten Lästerlichkeiten ausgetauscht. Man vermied es jedoch peinlich, schon hier den Bund für die Nacht zu schließen, denn man wußte ja nicht, ob im Laufe des Abends oder der Nacht nicht noch was Besseres nachkäme. Nach einigen Bieren verteilten sich dann, in bester Aufrißlaune, die Schwulen in ihren jeweiligen Subsub-
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kulturbereich. Lederjacken zur »Knolle«, weiße Hosen ins »WuWu«, Seidenhemden in den »Vagabund«. Wie ein ruhender Fels saß inmitten dieser Männerwogen eine alte Frau, die man eher im »Cafe Kranzler« vermutet hätte. Ria, so hieß die Mutter der hier versammelten Königinnen der Nacht, thronte an einem etwas erhöhten Tisch und erinnerte in ihren meist bleuen Kostümen an die Queenmother. Man erzählte sich, daß sie schon 1948 an gleicher Stelle im Vorgängerlokal gesessen und ihre Biere damals mit Briketts beglichen habe. Ihre Hutmodelle wechselten turnusgemäß, wurden jedoch nie abgelegt, wenn sie täglich von 19 bis 23 Uhr, immer am gleichen Platz, ihren Verzehrdienst leistete. Ohne daß sie sich zu einer Bestellung hätte geruhen müssen, brachte ihr der Kellner das Bier und einen Kübel mit Eiswürfeln. Denn sie pflegte ihr Bier mit Eis zu trinken. So saß sie da, wie sie es schon Dekaden getan hatte, und beobachtete und lauschte. Wieviel Liebesschwüre sie wohl schon gehört hatte, die gebrochen wurden? Wieviel ewige Ehen sie wohl hatte verfolgen können, die dann wieder im Lokal geschieden wurden? Nur ab und zu lieh sie einem der Untertanen das Ohr, wenn er von seinen gerade aktuellen Liebesproblemen sprach, und gewährte ihm die Gunst ihres Ratschlags. Sie war so mit dem Lokal verwachsen, daß der Wirt später, es war kurz vor ihrem Tod, ihren Stammplatz mit dem Schild »Ehrenplatz für unsere Ria« schmückte. Sie sei immer hier, grollte sie irgendwann einmal, weil ihr Mann immer zu Hause vor dem Fernseher einschlafe. Und was solle sie mit einem Mann, der immer schlafe? Den Neulingen in der Berliner Szene gilt, wenn man nicht gerade aussieht wie Quasimodo, die besondere Für146
sorgepflicht der Altvorderen. Sie erteilen einem gute Ratschläge, warnen einen vor den Gefahren des Berliner Lebens und ermahnen einen, nicht unter die Räder zu kommen, in der Hoffnung, am gleichen Abend das erste Rad zu sein. Ich sammelte Räder. »Auf einem alten Rad lernt man fahren«, lautet ein Pfälzer Sprichwort. Helmut war schon einundvierzig. Mit »alt« bezeichnete ich damals, ich ging ja mit meinen siebenundzwanzig Jahren schon auf die Dreißig zu, wohlweislich erst Männer über Vierzig. Er war schon seit über zwanzig Jahren mit der Berliner Szene vertraut, und ich ließ mich von ihm in die schwule Gesellschaft einführen. Er nannte mir die Lokale, in denen nach seiner Meinung etwas geboten wurde und die des Besuches würdig waren. Er sagte mir, ab wann und bis wann in dem betreffenden Lokal etwas los sei und ab wann man das Lokal zu wechseln habe. Er klärte mich über die Reihenfolge auf, in der die Schwulen die Lokale nacheinander abhakten, um den allabendlichen Prinzen zu suchen und manchmal sogar zu finden. Er gab diesem Zug durch die Gemeinde den Namen »Golfstrom«, der ja bekanntlich ein warmer Strom ist. Er zeigte mir »Elli's Bierbar«. Er hatte mir gesagt, daß dieses Lokal seit den zwanziger Jahren existiere und schon von Marlene Dietrich und Ernst Röhm besucht worden sei. Ob das stimmte, konnte ich nicht beurteilen, als wir das Lokal betraten. Zumindest schien es mir sehr glaubwürdig, daß »Elli's Bierbar« seit 1949 nicht mehr renoviert worden war. Hinter der Theke stand eine alte Frau in Motorradjacke, die mit Sicherheit schon in den zwanziger Jahren aktive Lesbe gewesen war. An einem Tisch links neben dem Eingang saß, völlig unpassend zur sonstigen Einrichtung, eine schmuckbehängte Frau in einem Nerzmantel. 147
Zwei devote Herren boten der ungefähr Sechzigjährigen, deren Versuch, wie Vierzig zu wirken, offensichtlich gescheitert war, Zigaretten an. Sie ließ sich huldvoll Feuer geben. Helmut raunte mir zu, daß es sich bei dieser Dame um die ehemals berühmte Loni H. handele. Im Gang zwischen Tresen und Tischen tanzten engumschlungen zwei Frauen. Sie wirkten wie Rentnerinnen, die versucht hatten, sich der damaligen Punkmode anzupassen: Rote Strumpfhosen waren über die Krampfadern gezogen und schauten unter einem lila Rock hervor, über den sich ein grüner Pullover spannte. Die eine von ihnen hielt während des Tanzens eine Plastiktüte mit der Aufschrift Bolle fest in der Hand. Ich vermutete in ihr eine Wodkaflasche. Ein Zahnloser erzählte uns am Tisch von seinen Erlebnissen, die er damals, in den sechziger Jahren, erlebt habe. Nach seinem Aussehen zu urteilen war ich sicher, daß er in den sechziger Jahren bereits die Funktion eines zahlenden Freiers gehabt haben mußte und seine Erlebnisse als Stricher wohl eher aus der Zeit der vierziger Jahre herrührten. Nein, das war nicht Punk. Das war Urpunk. »Elli's Bierbar« war mein erstes Berliner Punklokal. Das »Buddies« war mein erstes Berliner Lederlokal. Obwohl es ganz anders aussah als die Lederbars, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Statt nach Leder roch es nach poliertem Chrom. Alles war sauber und glänzte. Wahrscheinlich hatte der Inhaber sich am Namen der in der Nähe liegenden Düsseldorfer Straße orientiert. Die Düsseldorfer Lederszene ist dafür bekannt, daß in ihr die Ledermonturen sehr sorgfältig gepflegt sind, so daß die Lederkerle in ihnen eher wie verkleidete Hertie-Verkäufer wirken. Was sie in der Regel auch sind. Die Einrichtung des »Buddies« schien mir hauptverantwortlich dafür zu sein, daß das Lokal sich nicht allzulange 148
als Konkurrenz zur »Knolle« halten konnte. Es war indes nicht die Einrichtung, die mich das »Buddies« jeden Abend besuchen ließ. Es war der Kellner. Ein kleiner, gutgebauter amerikanischer Schnuckel, der mich mit leuchtend blauen Augen anstrahlte, wenn er in meine Richtung blickte. Ich war unsicher, ob er das tat, weil ich ihm gefiel oder weil er den Umsatz zu steigern versuchte. Eines Abends wollte ich es wissen. Ich saß an der Bar und wartete, bis alle Gäste, mit Ausnahme eines Schwerstalkoholikers, zur »Knolle« desertiert waren. Bill, so war sein Name, strahlte mich an und fragte mich, nachdem er mein geleertes Bierglas gesehen hatte: »Anything I can do for you?« In diesem Fall hatte ich wirklich nicht für die Schule, sondern fürs Leben gelernt und erinnerte mich, daß Bill auch mit Rechnung übersetzt werden kann. Mit allem Charme, zu dem ich fähig war, antwortete ich: »The Bill, please« und war froh, daß er seinerseits Bill nicht als Rechnung verstand. »You will get it«, versprach er mir, schmiß den Alki raus und schloß die Tür. Und wirklich, ich bekam es. Auf dem Billardtisch, auf dem er mich bumste. Seit der Sache mit Alar hatte ich nicht mehr aktiv gefickt. Sein Arsch war für mich als Ideal besetzt gewesen. Er hatte sich mir unterworfen und mir damit Macht verliehen. Seit er mir diese Macht wieder entzogen hatte, hatte ich Potenzschwierigkeiten: Ich konnte nicht mehr aktiv ficken. Mein Schwanz verweigerte die Machtausübung. Ich hatte gelernt, daß nach der Herrschaft die Revolution, der Putsch kommt. Daß sich die vormals Schwächeren gnadenlos an den ehemals Stärkeren rächen.
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Und da ich der Stärkere bleiben wollte, nahm ich jetzt – vorerst – die Rolle des vermeintlich Schwächeren ein. Mein dichotomes Denken, das gelernt hatte, zweizuteilen in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Oben und Unten, Mann und Frau, Aktiv und Passiv, konnte noch keine Differenzierungen vornehmen. Passiv zu sein war nur unter logischen Verrenkungen mit meiner Rolle als Mann vereinbar. Mein schwules Coming-out hatte ich geschafft. Ich erzählte jedem, der es wissen oder auch nicht wissen wollte, von meinem Schwulsein. Mein passives Comingout hatte ich noch vor mir. Zumindest war der Keim dazu gelegt. In »Andreas Kneipe« lernte ich eine Transe kennen. Sie überragte mich um eine Kopflänge, hatte ein Kreuz wie ein Bergarbeiter und sagte, daß sie auch sonst so herumlaufe und nicht nur, weil gerade Faschingszeit sei. Nach einer langen Unterhaltung und sechs Bier ging ich mit ihr aus irgendwelchen Gründen nach Hause. War es Neugier, war es mein Faible für skurrile Situationen? Geilheit war es bestimmt nicht. Sie wohnte in der Bundesallee, in der Nähe der Freien Volksbühne, über einem Feinkostgeschäft. Gerhard Müller stand auf dem Türschild zu Gerdas Wohnung. Ein Name, der den Eindruck von Schrankwänden und Couchgarnituren vermittelte und so gar nicht zu ihr und ihrer Wohnung passen wollte. Diese Wohnung nahm den New Wave vorweg. Alles war weiß, hell, groß. Auch der Leistungsdruck, den ich jetzt verspürte. Ob ich schon mal Koks genommen hätte, verhörte mich Gerda. Ich verneinte. Koks hatte ich wirklich noch nicht genommen. Andere Drogen wie Haschisch, LSD, Meskalin hatte ich schon probiert. Alkohol und Zigaretten waren mir sowieso nicht fremd. Wie es 150
so Berliner Lebensart ist, wenn Frischlingen aus der Provinz etwas noch unvertraut ist – ich sollte diese Eigenschaft noch später ausnützen lernen –, lockte mich Gerda auf den Pfad der Untugend. Ich ließ es willig mit mir geschehen. Sie streute aus einer kleinen Glasflasche ein weißes Pulver auf den Glastisch, zerhackte es mit einer Rasierklinge, zog das zerhackte Pulver in vier Linien auf den Tisch und ein Röhrchen aus der Handtasche und hieß mich, zwei der Linien zu Schnupfen. Für jedes Nasenloch eine. Ich tat wie geheißen. Ich nahm anfangs überhaupt keine Wirkung wahr. Glaubte, daß das Gefühl von Wachheit und Klarheit mit dem zurückgehenden Alkoholspiegel zusammenhänge. Gerda zog sich aus. Hatte plötzlich nur noch ein Korsett, Strapse und Nylons an. Ich dachte, daß ich jetzt die Charakterrolle zu spielen hätte, wie es meine – Hulda genannte – Freundin Reinhold auszudrücken pflegte. Gerda öffnete etwas unter ihrem Korsett und holte einen der unverschämtesten Prügel heraus, die ich bis dahin gesehen hatte. Ich sollte ihm einen blasen. Ich sollte mich ausziehen. Gerda war ganz Domina. Gerda vergewaltigte mich. Das heißt, sie vergewaltigte mich nur am Anfang. Mit der Zeit stieg die Geilheit in mir hoch. Sie stieß die Geilheit immer höher, so daß diese schon die Schädeldecke zu durchstoßen drohte. Das Poppers auf dem Wattebausch, den sie mir unter die Nase preßte, machte mich offen für alles. Ich ließ die Lust zu. Ich wurde zu einem gefüllten Luftballon, der zur Decke schwebte. Es kam, was kommen mußte. Ich kam. Gerda sah und siegte. In der U-Bahn zur Amrumer Straße war ich die personifizierte Verwirrtheit. Meine Dichotomie war in Frage 151
gestellt. Ein Transvestit, also eine Tunte, die man allgemein zu verachten hatte, hatte mich, einen Ledertyp, durch die Wohnung gefickt. Mein Weltbild war erschüttert. Was unten zu sein hatte, war oben gewesen und umgekehrt. Ich schämte mich für ein Verhalten, das ich genossen hatte. Ich nahm mir vor, es niemandem zu erzählen, und betete, daß auch Gerda einen Funken Diskretion haben möge. Sie hatte nicht. Als ich ihr in »Andreas Kneipe« wiederbegegnete, erzählte sie dem neben ihr stehenden Muskeltypen, daß sie sich das Püppi, damit meinte sie mich, auch mal vorgenommen habe. Ich hätte vor Scham sterben mögen. Ich hatte Angst um mein Image. Ein gutes Image zu haben ist eine der wichtigsten Waffen, um im schwulen Milieu überleben zu können. Image, so hatte ich im Englischunterricht gelernt, kommt vom lateinischen »imago«. Was wiederum für »Bild« steht. Das Bild, das man sich von einem Menschen macht. Man macht sich ein Bild und verlangt, daß der Mensch dann mit diesem Bild identisch ist. Mir war der Vorwurf: »Du hast mich enttäuscht!« unverständlich. Nicht die Tatsache, daß ein Gefühl der Enttäuschung da ist. Nicht, daß jemand die Erwartungen, die man in ihn gesetzt hatte, nicht erfüllen konnte oder wollte. Sondern, daß man dem anderen einen Vorwurf daraus machte. Denn man hatte ja sich selbst getäuscht. Den Vorwurf hätte man eigentlich sich machen sollen. Und wenn man jetzt enttäuscht war, war das eigentlich eine ganz gute Sache. Denn man sah ja jetzt klarer. Mir war klar, daß die Umwelt von mir Stärke, gute Laune, »Gut-druff-sein« forderte. Diese Stärke war mir zum Schutzschild geworden. Zur Rüstung, die mich vor Stiche152
leien, Anzüglichkeiten und Gemeinheiten schützte. Ich wollte niemandem Gelegenheit geben, hinter diese Rüstung zu sehen. Um ihm keine Gelegenheit zu geben, sich entrüsten zu können. Ich war eine Schildkröte, die ihren Kopf nur zur Beobachtung der Umwelt herausstreckte, und fühlte mich wie eine Auster, die ihr köstliches Fleisch nur dem darbot, der ihre Schalen zu knacken verstand. Die Schalen bestanden aus: Unnahbarkeit, Distanz, Haltung und Fassung. Das Fleisch war das kleine, naive, ehrliche Kind, das ich innerlich immer geblieben war. Mit Naivität und Ehrlichkeit hatte ich schon als Kind schlechte Erfahrungen gemacht. Naiv, wie man als Kind ist, hatte ich das Gebot der Ehrlichkeit sehr wörtlich genommen. Mit vier Jahren war ich fest entschlossen, mein ganzes Leben lang immer ehrlich zu bleiben. Diese Eigenschaft paßte sehr gut zu dem Bild des verwunschenen Prinzen, das ich von mir hatte. Als ich mit den beiden Leuten, denen das Schicksal mich zur Aufzucht gegeben hatte, vom Urlaub aus Frankreich zurückkam, mußten die beiden an der Grenze die mitgeführten Waren deklarieren. Als sie dem uniformierten Onkel, der sie fragte, ob sie etwas zu verzollen hätten, mit »Nein« antworteten, dachte ich, sie hätten die Rotweinund Parfümflaschen, die sich im Kofferraum stapelten, vergessen. Das edle, hilfreiche und gute Kind in mir sprang sofort in die Bresche und klärte den Onkel über die vergessenen Gegenstände auf Ich konnte nicht verstehen, warum ich für diese gute Tat später ausgeschimpft wurde. Ich lernte aber, daß man mit Ehrlichkeit vorsichtig zu haushalten hat, wenn man nicht ausgeschimpft werden will. Ab und zu drang die Lust des 153
Kindes, ehrlich zu sein, jedoch durch und verschaffte mir auch fürderhin viele böse Blicke. Das »Stellwerk« hatte aufgemacht. Es lag in Tiergarten in einem unterbauten S-Bahnbogen und fungierte als vibrierende Lederbar. Die Vibrationen konnte man physisch spüren. Denn in zehnminütigen Abständen fuhr die S-Bahn über das »Stellwerk« hinweg und erzeugte Erschütterungen. Ich wurde von einem der Besucher erschüttert. Er sah aus wie ein in Leder gewandetes Walroß. Ich war erst kurz in Berlin, und er erkannte in mir den Neuling. Er nahm die Witterung auf. Hier glaubte er, eine Chance zu haben. Die Chance, daß ich ihm seine Rolle, aus der er schon so oft gefallen war, noch abnahm. Daß er dem »gutaussehenden Schwaben«, für den er mich hielt, noch etwas vormachen könne. Er konnte nicht. Dazu hatte ich Rollenspiele zu oft durchschauen gelernt. War schon zu oft auf Mimikry hereingefallen. Er postierte sich mir gegenüber in einer Pose, die er für »herrisch« hielt. Er schaute mir mit einem Blick in die Augen, von dem er überzeugt war, er sei eiskalt und stählern. Er kam breitbeinig auf mich zu. Ein John Wayne aus Wilmersdorf Mit dem tiefsten Timbre, zu dem seine Fistelstimme fähig war, verfügte er: »Ich fick' dich, bis du schreist.« Ich schaute in sein gerötetes, an Grütze erinnerndes Gesicht und antwortete: »Wenn ich dir so ins Gesicht schaue, dann schreie ich schon vorher.« Der aufgeblasene Luftballon platzte. Innerhalb von Sekunden war aus dem herrischen Ledermann eine beleidigte Lederwurst geworden. Ich hatte meinen ersten Feind in Berlin. 154
Doch der zweite folgte sogleich. Er folgte mir in der »Knolle« von der Bar zum Billardraum. Die »Knolle« war das Mutterhaus des Berliner Ordens, der sich als schwuler Motorradklub gerierte und sich mit der Lederszene identisch glaubte. Hierher wallten die Jünger der Religion, der sie den Namen Sado-Masochismus gegeben hatten. Hier war Mann noch ein richtiger Mann. Oder versuchte zumindest, den Eindruck zu erwecken. Die »Knolle« befand sich in Wilmersdorf an der Ecke Bundesallee/Wilhelmsaue. Die Bundesallee war eine autobahnähnliche Straße. In unmittelbarer Nähe der »Knolle« hatte der Berliner Senat ein Altenheim gebaut. Ich machte mir häufig Gedanken darüber, warum in Berlin Altenheime direkt an vielspurige Straßen gebaut werden und poetische Namen wie »Ruhesitz Lietzenburg« oder »Haus Waldfrieden« bekommen. Ich kam zu dem Schluß, daß der Senat mit der Rentenversicherung ein Geheimabkommen haben muß und für jeden Rentner eine Prämienzahlung bekommt, der auf dem Weg zum Bäcker gegenüber vom Altenheim überfahren wird. Die »Knolle« bestand aus zwei Räumen. Man betrat als erstes einen auf Straßenniveau liegenden kleinen Raum, in dem ein Tresen stand, über den Fred, der Barkeeper, herrschte. Fred kam, wie an seinem Akzent unschwer zu hören war, aus dem Niederrheinischen. Er trug ein rotes Tuch rechts. Was dem Kenner signalisierte, daß er von innen gestreichelt werden wollte. Er hatte einige der damals szeneüblichen Vorteile. Er trug eine Lederhose zu seinem karierten Hemd, hatte Schnurrbart und kurze Haare. Man hatte ihm den Spitznamen »Pfannenfrieda« gegeben, da er tagsüber als Propagandist vor Kaufhäusern tätig war und 155
dort Kannen, Kochtöpfe und Pfannen an den Mann beziehungsweise die Hausfrau brachte. Die übervollen Kannen der ledrigen Herzensbildung ergossen sich dann abends über den Tresen. Fred hörte sich alle Probleme, die über ihn gekübelt wurden, geduldig an. Die untere Bar war dem Gespräch und der Emotion vorbehalten. Hier war man noch Mensch. In der oberen Bar, die von der unteren über einige Stufen, die den im Laufe des Abends immer Betrunkeneren manche Probleme bereiteten, erreichbar war, diente dagegen als Cruising-Area. Hier war man schon Herrenmensch. Dieser obere Raum war außer mit einem Tresen mit einem Billardtisch möbliert, auf dem sogar ab und zu Billard gespielt wurde. Meist wurde er jedoch dazu benutzt, »Sklavensäue« öffentlich zu erniedrigen. Auf dem Möbelstück, das dazu bestimmt war, daß auf ihm Kugeln gestoßen werden, wurden dann Ärsche gestoßen. Für empfindlichere Gemüter, die das Licht der Öffentlichkeit scheuten, war der Keller bestimmt. Der dort befindliche Dunkelraum lag direkt neben der Toilette, so daß man nie genau wußte, ob der Orpheus, der gerade der Unterwelt zustrebte, seiner Eurydike folgte oder die Toilette aufsuchte. Ich stand vor dem Pißbecken und versuchte, meinen Strahl abzulassen. Im Lauf der Zeit hatte ich mühsam gelernt, pissen zu können, wenn jemand neben mir stand. Allerdings mußte ich immer noch vor dem ersten Strahl die Augen schließen, um mir vorzugaukeln, ich sei allein. Ein dickes Wesen kauerte sich neben mich. Sein Kopf war in der Höhe des Urinals. Aus seinem offenen Mund grunzte er: »Pisse. Pisse.« Er wollte offensichtlich die Funktion des Keramikbeckens ersetzen. Seine grunzenden 156
Laute korrespondierten mit seinen Gesichtszügen. Er sah aus wie ein Schwein, das in seiner Jugend Windpocken gehabt hatte, die schlecht verheilt waren. Ich konnte seinem Wunsch nicht Folge leisten. Ich wollte auch nicht. Er solle sich verpissen, bedeutete ich ihm. Der Typ insistierte. Er wurde aufdringlich. Ich sollte mit ihm in die Klokabine gehen. »Häßlich bin ich selbst« war mein abwehrender Kommentar, als ich ihm mein halbgefülltes Bierglas über den Kopf schüttete. Er hat es mir bis heute nicht verziehen. Legendär waren die »Knolle«-Bälle. Sie fanden einmal jährlich während der Faschingssaison statt und waren wahrscheinlich erfunden worden, um der Lederszene wenigstens einmal im Jahr die Möglichkeit zu geben, sich nicht zu verkleiden. Sadisten liefen im Fummel herum. Masochisten als Cowboys. Unten im Keller fickte dann jemand mit Rock-hoch jemanden mit Hose runter. Ansonsten dominant versteinerte Mienen hellten sich an diesem Abend auf. Einmal im Jahr durfte gelacht werden. Bei meinem ersten »Knolle«-Ball lernte ich einen Typ kennen, der mich zu einer Party einlud. Meine erste Party in Berlin. Kreuzbergstraße stand auf der Visitenkarte. In seiner ofenbeheizten Altbauwohnung waren schon fünfzehn Typen versammelt, als ich eintrudelte. Helmut, mein Lehrmeister, der mir »Elli's Bierbar« gezeigt hatte, hatte mich auf die Usance der Berliner Partygänger hingewiesen, frühestens zwei Stunden nach offiziellem Partybeginn zu kommen. So kam ich zum richtigen Zeitpunkt, als die Stimmung schon ein wenig aufgewärmt war. Eine Gestalt, die mich 157
an den Zwergen Alberich aus der ›Nibelungensage‹ erinnerte, schoß in der Küche auf mich zu. Er wolle mir den Kopf rasieren. Der sei ideal für eine solche Prozedur geeignet. Alberich war, wie mir zugeflüstert wurde, von Beruf Psychiater. Er entsprach ganz und gar nicht der Vorstellung, die ich mir von einem Professor Sauerbruch der Psychiatrie gemacht hatte. Seine Frisur, die nur aus einem Haarbüschel auf dem Scheitel und sonst nichts bestand, erinnerte eher an die Frisur eines Bonzen aus der chinesischen Ming-Dynastie. Jedes seiner leicht abstehenden Ohren war von kleinen Ohrringen übersät. Er trug Ringe nicht nur durch die Nase, sondern, wie ich unter seinem Netzhemd entdecken konnte, auch durch die Brustwarzen. Diese auf mich leicht surrealistisch wirkende Gestalt war mit dem Wohnungsinhaber platonisch, wie er mir versicherte, befreundet. Diese Aussage sollte wohl dazu dienen, mir eine Chance zu geben, doch noch in den Genuß der Rasurprozeduren zu kommen. Der Wohnungsinhaber, ein leptosomer Typ mit Schweizer Akzent, zog sich kurz nach Mitternacht im Wohnzimmer vollständig aus und eröffnete den Gruppensex, so wie man in vornehmeren Kreisen das Buffet eröffnet hätte. Die Küche leerte sich daraufhin schlagartig, so daß ich mich ungestört den Buletten widmen konnte. Kulturvoller ging es da auf meiner zweiten Berliner Party zu, auf die mich ein angehender Musiklehrer mitgenommen hatte. Er war aus irgendwelchen Gründen nach einer Nacht voller Hiebe verliebt in mich. Er wollte mich beeindrucken und erzählte mir von einem Mitglied der
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Berliner Philharmoniker, mit dem er sehr gut – platonisch natürlich, wie er nachschob – befreundet sei. Und dieser habe in der Osterwoche Geburtstag und veranstalte eine Party. Die Wohnung lag in der Kantstraße. Was heißt Wohnung. Es war ein kleiner Palast, der sich über acht Zimmer erstreckte. Und sie hatte Stil. Keinen bemühten Stil, sondern echten Stil. Und echte Stilmöbel. Daß man als Musiker so viel Geld verdient! Der Wohnungsbesitzer war mit einem Drucker vom Springer Verlag befreundet, der ziemlich wenig sprach. Wahrscheinlich wollte er angehörs der sehr stilvollen Kommunikation nicht unangenehm auffallen. Es war sehr viel von ges-Moll die Rede und sehr viel von Cis-Dur. Der Opernsänger Soundso habe in der Oper Soundso die Rolle des Soundso verpatzt, weil er den Ton eine Vierteloktave zu tief gesungen habe. Man war entsetzt ob dieser Katastrophe und stocherte mit abgespreizten Fingern in dem thailändischen Krabben-, Pardon, Langustensalat, herum. Der geduckte Drucker war auf mich aufmerksam geworden, da ich – in Gedanken schon in der »Knolle« weilend – der Konversation kaum folgte. Er vermutete wahrscheinlich, daß ich von dem Thema genausowenig verstünde wie er. Er glaubte, einen Bündnispartner gefunden zu haben. Als ich nach dem Weg zum Klo, Pardon, zum Kabinett fragte, ergriff er freudig die Gelegenheit, mich zu begleiten. In dem ansonsten sehr geschmackvoll und sehr teuer eingerichteten Bad – Carrara Marmor – fiel mir sofort der Gummischlauch auf, der zwischen den beiden vergoldeten Löwen, welche als Armaturen dienten, integriert war.
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Auf der anschließenden Führung, mit der wir uns der Debatte um Christa Ludwigs Stimmprobleme entzogen, erklärte mir der Drucker, daß diese Vorrichtung zum Spülen und Säubern des Darmes vor gewissen Faustprozeduren gedacht sei. Ich behauptete, ebenso gelogen wie unfachkundig, daß ich persönlich Champagnerspülungen vorzöge, da dabei der Alkohol des moussierenden Getränkes von der Darmschleimhaut absorbiert würde und dem Ganzen die Krönung verliehe. Der Drucker war so beeindruckt, daß er mir das Schlafzimmer zeigen wollte. In eine der Wände des Schlafzimmers, dessen Stil natürlich Empire war, war eine Tapetentür eingelassen, hinter der sich die ehemalige Dienstmädchenkammer verbarg. Am Fenster stand eine Büste, die den grimmig dreinschauenden Beethoven darstellte. Als der Drucker die Tapetentür aufdrückte, konnte ich den grimmigen Beethoven verstehen. Die ehemalige Dienstmädchenkammer war jetzt eine Dienstburschenkammer. Weniger kultivierte Leute hätten sie als Folterkammer bezeichnet. Der ungefähr fünf Quadratmeter kleine Raum war mit Leder tapeziert. Der Fußboden war genoppt und aus Gummi. Er spiegelte sich in den Spiegelkacheln, die an der Decke angebracht waren. Von der Decke hing eine Vorrichtung an silbrigen Stahlketten, die aus Leder gefertigt war und die der Drucker als »Sling« bezeichnete. An der Wand kündeten aufgehängte Polaroidfotos davon, zu was dieser Sling nützlich war. An die fünfzig Herren, so viele Fotos waren ungefähr in einem Biedermeierholzbildrahmen zu entdecken, waren in diesem Sling bewegt worden. In einer Stellung, wie man sie von gynäkologischen Stühlen her gewohnt war. Einige der Ärsche und einige der Gesichter, die zwischen den Knien hervorlugten, kamen mir bekannt vor. Der Drucker 160
erzählte voller Stolz, wer wann wieviel was auf und in den Arsch bekommen habe. Ich war beeindruckt von der Vielzahl der Dildos, die auf einem rechteckigen Ledertischchen aufgereiht lagen. Das Tischchen war nicht Louis-seize. Das Tischchen war Horst-primeur. Es war nicht in einem Antiquitätenladen in der Motzstraße, sondern in Horst's Lederladen in der Rankestraße erworben worden. Die Unterseiten der Dildos schlossen exakt mit der Kante des Tischchens ab. Sie waren der Größe nach aufgereiht. Vom säuglingspimmelgroßen bis zur Größe eines Bauarbeiterunterarmes. Daneben befand sich ein Silberschälchen, das außer Toys, wie der Drucker es ausdrückte, also Spielsachen wie Brustwarzenklammern, auch ein Sortiment von Schwanzringen in allen vorstellbaren Größen enthielt. Schwanzringe sind runde Gegenstände aus Metall, Leder oder Gummi, die über Hodensack und Penis gestreift werden, um das vorwärtspulsierende Blut am Rückfluß zu hindern, so daß Schwachgeschwelltes stolz anschwillt oder stark angeschwollen bleibt. Neben dem Schälchen aus Silber stand ein viereckiges Glasgefäß. Das heißt, daß es ein Glasgefäß war, erfuhr ich erst später. Denn es war mit etwas überzogen, das mich an die brokatenen Telefonüberzüge meiner Großmutter erinnerte. In der Hülle verbarg sich eine Familienflasche mit Poppers, jener Chemikalie, die bei intensivem Schnüffeln die Herzen beschleunigt und die Ärsche entspannt. Wie Küken um die Henne waren rund um diese Flasche kleine Silberfläschchen verteilt, die darauf harrten, aus der großen Flasche nachgefüllt zu werden. An der Wand gegenüber den Polaroidfotos hingen Peitschen. Exakt im 60-Grad-Winkel und der Größe nach 161
geordnet. Angesichts der Ordnung, die diese Kammer ausströmte, wäre meine Mutter vor Neid erblaßt. Ich erblaßte am nächsten Morgen, als wir beim Frühstück saßen. Eine grauhaarige Frau, deren Kleidung den Schluß nahelegte, daß es sich dabei um die Person der Zugehfrau handeln müsse, setzte sich mit an den Frühstückstisch. Also hatte man in diesem Palast doch demokratische Gepflogenheiten. »Was war denn heute nacht wieder los?« fragte sie. »Ich mußte heute morgen zwei Stunden lang die Kammer putzen.« Als der Hausherr die Frau mit »Mutti« ansprach, wußte ich sofort, woher die Ordnung der ehemaligen Dienstmädchenkammer rührte, die jetzt zur Knechtskammer umfunktioniert war. Ich verliebte mich in eine Stadt, wo solches möglich ist. Gaby Trunk liebte es, mich mittags beim Frühstück über das in der vorangegangenen Nacht Erlebte auszufragen. Sie lebte dadurch aus zweiter Hand und konnte an der Frauen verschlossenen Lederszene teilhaben. Lag ich mit jemandem im Bett oder vielmehr auf der Matratze – Gaby mußte ausgerechnet in dem Moment in der Küche, mein Zimmer war ja das Durchgangszimmer zur Küche, Salz, Milch, Butter oder was ihr gerade einfiel holen. Sie pflegte sich dann dazuzusetzen und ließ sich selbst von im Abschwellen begriffenen Erektionen nicht davon abhalten, sich mit »Hallo, ich bin die Gaby« vorzustellen. Saß ich mit Hermann in seinem Zimmer und schaute mir gerade einen Jahrhundertfilm im Fernsehen an – in der jeweiligen Schlüsselszene klopfte es, und Gaby hatte ein Problem, von dem sie dringend erzählen mußte.
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Just bei der Flughafenszene in ›Casablanca‹ schneite Gaby einmal herein und beklagte sich bitter, daß die Stromrechnung wieder zu hoch ausgefallen sei. Das war der Beginn einer langen Feindschaft. Der Grund für die Auflösung der Wohngemeinschaft waren die sündhaft teuren Gasrechnungen. Die zugige Wohnung wurde mit Gas beheizt. Die Gasrechnungen betrugen ungefähr die Hälfte der Miete und wurden nur noch von den Stromrechnungen übertroffen. Diese wurden hauptsächlich dadurch verursacht, daß Gaby ihre Papageien zweimal die Woche badete – sie sahen dann aus wie gerupfte Hühner – und die Wohnung anschließend mit einem Elektroheizstrahler auf 25 Grad hochheizte, auf daß sich diese Monster nicht verkühlten. Anlaß für mich auszuziehen war, daß einer dieser Geier, sei es nun Lupo gewesen oder Bonewike, einen Herrn verletzte, als dieser gerade im Begriff war, sich auf mir liegend in mir zu vergnügen. Lupo, oder war es Bonewike?, hatte mit seinem Schnabel in den Körperteil des Herrn gepickt, den dieser gerade bei mir bearbeitete. Ein Coitus interruptus war die Folge. Währenddessen entwendete die andere Elster, Bonewike, oder war es Lupo?, dem dominanten Herren ein Silberkettchen, dessen Verlust ihn am nächsten Morgen gar sehr traurig stimmte, so daß er mir, darob völlig aufgelöst, bittere Vorwürfe machte. Wir lösten die Wohngemeinschaft auf. Hermann zog in eine Einzimmerwohnung nach Schöneberg, wo er jetzt völlig ungestört fernsehen konnte. Gaby schmollte mit ihren Papageien in der Charlottenburger Leibnizstraße. Ich hatte – wie meist in Wohnungsfragen – Glück. Ich bekam eine Wohnung angeboten in der Wilhelmsaue in
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Wilmersdorf Einige Häuser von der »Knolle« entfernt. Natürlich nahm ich sie sofort. Die größte Zerstörung Berlins, heißt es, habe nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden. Wenn man sich Berlin so anschaut, kann man das nur bestätigen. Beispiele entmenschter Architektenphantasien und sadistischer Städteplaner gibt es zuhauf. Sei es die »Sozialpalast« genannte Anhäufung von Wohneinheiten an der Stelle des ehemaligen Sportpalastes, der dafür abgerissen wurde. Sei es die Lietzenburger Straße, an deren Zug im Zuge des Weges von Berlin zur autogerechten Stadt viele Altbauten zum Opfer fielen. Am schlimmsten jedoch sind die »Neubau« genannten Silos der sechziger Jahre. In ein solches Silo zog ich. Nur die Nähe der »Knolle« und die allgemeine Wohnungsnot konnten das, was mir als Wohnung für die nächsten dreieinhalb Jahre angeboten wurde, entschuldigen. Das quadratische Allzweckzimmer buchtete sich auf der dem Balkon gegenüberliegenden Seite in einer achtzig Zentimeter tiefen und zwei Meter breiten sogenannten Schlafnische aus. Der Balkon selbst schaute auf die reizvolle Landschaft eines Hinterhofes, der mit Gerümpel übersät war. Die »Einbauküche« genannte Kochnische war genauso groß oder vielmehr genauso klein wie das Badezimmer, bei dessen Anblick mir sofort der korrekte Wohnungsbaubegriff »Naßzelle« einfiel. Am schlimmsten war jedoch die Bausubstanz. Die Wände schienen aus Japanpapier gefertigt zu sein. Man konnte akustisch unterscheiden, ob der Nachbar gerade Gläser, Löffel oder Teller spülte. Mir hätte diese Hellhörigkeit nichts ausgemacht. Meinen Nachbarn schon. 164
Ließ ich mir um 21 Uhr ein Bad ein, klopfte die Nachbarin von links. Und zwar sehr heftig und energisch. Trotz des Rheumas in den Handgelenken, über das sie sich sonst so lautstark im Treppenhaus beklagte. Ihr Tod nach einem Jahr war eine Erlösung. Für mich. Rechts von mir wohnte ein Ehepaar. Der Mann war bei den Berliner Verkehrs-Betrieben beschäftigt und hatte oft Frühdienst, wie mir der um vier Uhr rasselnde Wecker zu verstehen gab. Seine Gattin klopfte nicht. Sie klingelte immer gleich an meiner Tür, wenn sie sich belästigt fühlte. Was sehr oft der Fall war. Als ich einmal jemand fistete und gerade alle Hände voll zu tun hatte, klingelte es wieder. »Mein Mann kann nicht schlafen«, begründete Frau Nachbar ihre Beschwerde. Entnervt schloß ich die Tür mit der Bemerkung: »Was meinen sie denn, wie es meinem Mann geht.« Sie hat sich daraufhin nie wieder bei mir beschwert, sondern setzte jetzt ihre Energie darauf, Briefe an die Hausverwaltung zu schreiben. Am meisten verfolgt wurde ich jedoch von Frau Günther, die unter mir wohnte. Auch sie beschwerte sich oft bei mir. Aber nicht über mich, sondern über die vielen Beschwerden, die ihr das Leben so beschwerlich machen würden. Sie suchte offensichtlich Anschluß und Kontakt nach einem über siebzigjährigen, ehelos geführten und jetzt sehr einsamen Leben. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mir ihr Martyrium, das nach ihrer Schilderung jesusgleich gewesen sein mußte, anzuhören, wenn es nicht gerade morgens um acht Uhr hätte sein müssen, als ich mit verquollenem Gesicht die Tür öffnete.
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Frau Günther war über diese Ungezogenheit sehr ungehalten und beschloß, sich der Gemeinschaft der Beschwerdeführer anzuschließen. Nach einem Jahr war sie die lautstärkste Beschwerdeführerin bei der Hausverwaltung, obwohl sie sich wegen ihrer Schwerhörigkeit am wenigsten in ihrer Ruhe gestört hätte fühlen müssen. An der ersten Weihnacht, die ich in meinem neuen Heim zubringen durfte – die Weihnachtslieder erschallten quadrophonisch, also von der oberen und der unteren, der rechten und der linken Wohnung auf mich ein –, kam Roland zu Besuch. Roland war 1979 in die Mannheimer Schwulengruppe gekommen. Er beklagte sich bitter darüber, daß ihm die Türsteherin des »Ballerina« den Einlaß verwehrt hatte. So wie er damals aussah, konnte ich die Türsteherin gut verstehen. Von seinem Kopf hingen die Haare wie zu lange gekochtes Sauerkraut herunter. Seine Augen waren hinter der dicken Hornbrille kaum zu erkennen. Unter seinem Mantel im Pfeffer- und Salzmuster schauten braune Grobcordhosen hervor, die viel zu weit für seine Storchenbeine waren. Als Mitglied des KBW, also des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, der damals noch rührend rührig die Fahne der Revolution hochzuhalten versuchte, wolle er sich nicht dem herrschenden Modediktat der bürgerlichen schwulen Gesellschaft unterwerfen. Wir diskutierten lange über Anpassung. Ich stellte die These auf, daß äußere Anpassung nicht unbedingt zur inneren Anpassung führen müsse. Daß man im Herzen links bleiben könne, auch wenn man statt eines Pfefferund Salzmantels eine Lederjacke trage. Daß Fortschrittlichkeit im politischen Denken nicht unbedingt vom Tra166
gen einer dicken Hornbrille abhängig sei. Daß man auch mit Kontaktlinsen klar sehen könne. Als ich dann das Ganze noch mit einem aus meiner progressiven Zeit erinnerlichen Mao-Zitat von dem Fisch, der im Wasser des Volkes schwimme, garnierte, war mir ein gutes Stück ästhetischer Agitationsarbeit gelungen. Steter Tropfen höhlte den Stein vollends, und so sah ich Roland nach einer gewissen Zeit im »Ballerina« in Lederjacke mit gekürzten Haaren aus seinen Kontaktlinsen strahlen. Der KBW möge mir verzeihen. Aber es war nicht meine Schuld, daß sich Roland nach einer gewissen Zeit von den Kaderabenden zurückzog, sich von der politischen Agitation abwandte und der schwulen Aktion, nämlich der Schwulen Aktion Mannheim, zuwandte. Wir waren in der Folgezeit viel zusammen, und ich war so etwas wie ein Lotse für ihn, der den Fisch sicher durch das Aquarium der schwulen Subkultur leitete. Als er mich zum Zug begleitete, der mich nach Berlin, für immer, wie ich mir sicher war, bringen sollte, sagte er, ›Casablanca‹ im Kopf, die Worte: »Ich bin mir sicher, daß unsere Wege wieder zusammenführen werden.« Ich war gerührt. In Mannheim hatte Roland in der telefonischen Bestellannahme des Otto Versands gearbeitet. Hier war er dem Proletariat noch nahe gewesen. Als er mich Weihnachten in Berlin besuchte, kam er aus Stuttgart, wo er inzwischen eine Führungsposition als Schulungsleiter bekleidete. Seine rhetorischen Fähigkeiten, die er sich in langen Diskussionsabenden des KBW über die Verelendung des Proletariats erworben hatte, ließen seine Vorgesetzten auf ihn aufmerksam werden, so daß sie ihn bei seinem Aufstieg die Karriereleiter hochge167
schubst hatten. In seinem innersten Herzen sei er aber noch ein Linker geblieben, entschuldigte er diesen Verrat an der Arbeiterklasse. Ich nahm die Entschuldigung gerne an und zeigte ihm die Berliner Subkultur. Die »Gigolo-Bar« führte ich ihm als meinen neuen Geheimtip vor. Es war eine ganz kleine Kneipe in der Kleiststraße, die durch eine Personaltür mit der »Studiobar« verbunden war. Die »Studiobar« war die größere Schwester der »Gigolobar«, in die man sich verzog, wenn man in der »Gigolobar« genug gesehen hatte. Und zu sehen gab es dort viel. Die »Gigolobar« firmierte im ›Gay Guide‹ nämlich als »Gigolos Filmbar«. Die Filme, die es dort zu sehen gab, waren alles andere als jugendfrei – was die Tatsache erklärte, daß sie besonders bei Minderjährigen beliebt war, die sich dort die AchtMillimeter-Pornofilme mit glühenden Augen und roten Ohren anschauten. Der Kellner fungierte in Personalunion als Filmvorführer und hatte die Aufgabe, die Filmrollen einzulegen. War der Film zu Ende, ließ er ihn zurücklaufen. Was geraume Zeit in Anspruch nahm, in der die Gäste die Getränke bestellen und sie auch trinken konnten. Denn während der Filmvorführung hatten sie ja keine Hand frei. Mit der einen Hand mußten sie an der Hose des jeweiligen Nachbarn, mit der anderen Hand an ihrer eigenen nesteln. Oft riß der Film vor dem Höhepunkt – sei es dem der Dramaturgie oder dem der Zuschauer –, so daß man wieder freie Hand hatte, um an seinem Bier zu nippen. Mit Pornofilmen bin ich erstmalig 1976 in Mannheim in Berührung gekommen. Ich hatte auf der Klappe einen 168
Korrepetitor des Mannheimer Nationaltheaters kennengelernt, der aus Wien stammte und auch so sprach. Er nahm mich mit auf sein schrecklich möbliertes Zimmer und hatte schreckliche Angst, von den anderen Hausbewohnern dabei gesehen zu werden. Auf dem Nierentisch stand ein kleines Gerät. Es hatte einen Bildschirm von ungefähr zwanzig Zentimeter Durchmesser und an der linken Seite eine Kurbel. Normalerweise diente es als Hobbyfilmschnittgerät. An dem Abend diente es dem Erwecken von Fleischeslust. Peter, so hieß mein Korrepetitor, legte einen Film ein mit dem beziehungsreichen Titel ›Der Klempner kommt‹. Mit der linken Hand kurbelte er das Gerät. Mit der rechten griff er an meine Hose, holte meinen Schwanz heraus und kurbelte an diesem herum. Dann brachte er seinen »Lustschwengel«, als den er seinen Schwanz bezeichnete, ins Freie und war fürderhin beschäftigt, mit der linken Hand die richtige Drehgeschwindigkeit einzuhalten und mit der rechten Hand abwechselnd seinen Schwanz und den meinen zu manipulieren. Die dabei erwiesene Fingerfertigkeit hatte er sich wohl beim Klavierspielen erworben. Jahre später habe ich dann den Klempner in »Gigolos Filmbar« wieder kommen sehen. Hier konnte ich ihn mir erstmals in voller Länge anschauen. Denn die Länge des Korrepetitor-Schwanzes hatte mich 1976 mehr fasziniert als die Handlung des Filmes, in dem der Handwerker erst am Rohr des Spülenabflusses werkelte und dann an dem des Wohnungsinhabers. Diesmal hielt der Projektionsapparat durch, so daß ich noch sehen konnte, wie der dankbare Hausherr dem Klempner zum Abschied die Hand schüttelte, die vorher sein Rohr bearbeitet hatte.
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Später hat das »Gigolo« dann die 8-Millimeter-Filme ab und sich ein Videogerät angeschafft. Da konnte ja auch kein Film reißen oder Filmsalat erzeugt werden. Ich fragte mich allerdings, ob wegen der fehlenden Rückrollzeiten auch der Getränkeumsatz zurückgegangen war. In einem waren Roland und ich uns sehr ähnlich. Wir konnten nicht mit Geld umgehen. Wir lebten permanent über unsere Verhältnisse, so daß schon kurz nach dem Gehaltseingang das Konto geplündert war. Wir entwickelten ein Finanzierungssystem, das uns halbwegs vor dem Bankrott bewahrte. Da er am Monatsende sein Gehalt bekam und ich am Fünfzehnten des Monats, überwiesen wir uns gegenseitig immer dann Geld, wenn wir gerade flüssig waren. Das erweckte bei der Bank den Eindruck regelmäßiger Zahlungseingänge und erhöhte somit unseren Dispokredit. Trotzdem waren wir fast immer pleite. Je mehr wir verdienten, um so höher wurden die Ansprüche, und um so weniger kamen wir mit dem Geld aus. Ich empfand deshalb nicht die Spur von Trauer, als mich Tante Irene, die Allwissende, anrief, um mir mitzuteilen, daß Tante Sophie gestorben sei. Dieser Drachen war als Tante meiner Mutter meine Großtante gewesen. Sie hatte in ihrem Testament meine Mutter bedacht, und da diese schon sieben Jahre in den ewigen Putzgründen weilte, war ich als ihr Sohn der Ersatzerbe. Tante Sophie war mir aus meiner Kindheit nur als ewig nörgelnde Person in Erinnerung. Da sie mit einem hohen Tier bei der Esso AG verheiratet war, war sie relativ wohlhabend und wurde, da sie sich bemühte, vornehm zu wirken, von meiner Großmutter mütterlicherseits nur »die Madame« genannt. 170
Nach dem Tode ihres Mannes, den sie mit ihren ewigen Vorwürfen in den Herzinfarkt getrieben hatte, war sie in ein Seniorenstift nach Stuttgart gezogen, wo sie sich noch vornehmer gebärdete als die anderen vornehmen Damen. Zum Schluß war sie schon ziemlich klapprig und nicht mehr fähig, das Augustinum zu verlassen. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich einen Ozelotmantel für zwanzigtausend Mark zuzulegen, mit dem sie die im Nachbarappartement wohnende Kapitänswitwe auszustechen suchte, die auf dem Weg von ihrem Appartement zum Speisesaal einen Nerzmantel trug. Um diesen Ozelotmantel gab es eine Erbauseinandersetzung im wahrsten Sinne des Wortes. Die Cousine meiner Mutter, die mir in der Erbfolge gleichrangig war, beanspruchte nämlich den Ozelotmantel ganz für sich. Die Tante habe ihr den Mantel auf dem Totenbett versprochen, behauptete sie. Leider, für sie, gab es über diese angebliche Absprache kein Schriftstück, so daß sie mir tränenblind die Hälfte des Mantelwertes bar auszahlen mußte. Zusammen mit den anderen Werten war jetzt, zum ersten Mal seit langer Zeit, der Saldo meines Kontos auf der Habenseite bedruckt. Und zwar mit vierzigtausend Mark. Die Hälfte davon legte ich in Sachwerten wie Einrichtungsgegenständen an. Die andere Hälfte verpulverte ich. Ich entwickelte eine Leidenschaft für Kokain und puderte mir eineinhalb Jahre lang die Nase von innen. So hab' ich meine Tante nicht geschlachtet, ich hab' meine Tante verschnupft. Vorschriften sind bei der Deutschen Bundespost das halbe Leben. Die andere Hälfte ist formale Unlogik. Ich hatte, rechnete man meine Semesterferienzeit dazu, insgesamt zwei Jahre in der Auskunft gearbeitet, aber formell 171
fehlte mir ein Grundlehrgang im Postwesen. Und so wurde ich zu diesem Grundlehrgang in eine Fernmeldeschule delegiert – ausgerechnet nach Stuttgart. Stuttgart ist eine in einem Talkessel gelegene Stadt, der den Horizont der Einwohner nach drei Seiten begrenzt. Die vierte Seite wird vom Neckar abgeschnitten. Es herrscht das Vorurteil, daß die Schwaben fleißig, sparsam und sauber seien. Das Vorurteil entspricht der Realität. Die »KC-Stuben« wurden mir in Stuttgart als Lederlokal vorgestellt. Das Lokal war so sauber geputzt wie die Lederstiefel, die an der Wand hingen. Die darüber gehängten Metallketten waren so drapiert wie die Volants meiner Großmutter. Wahrscheinlich aufgrund ihrer Sparsamkeit konnten sich die Gäste der »KC-Stuben« die teuersten Ledermonturen leisten. Diese waren natürlich sehr gepflegt. Es ging das Gerücht um, daß einige der Gäste nicht wagten, in dieser Aufmachung ihr Zuhause zu verlassen, sondern sich im Auto umzögen, bevor sie in die »KC-Stuben« gingen. Und nach dem Besuch des Lokals ihre Lederkluft wieder mit zivilisierter Bekleidung vertauschten. Daß das Gerücht stimmte, konnte ich augenscheinlich erfahren, als ich mit einem der Herren abzog. Zu Hause angekommen, zog er als erstes die Stiefel aus und forderte mich auf, es ihm gleichzutun, da das Geräusch der Stiefel im Treppenhaus die Nachbarn störe. In dem sehr gepflegten Schlafzimmer erzählte er mir dann seine geheimen Wünsche. Das Schöne am Schwulsein ist, daß man mit verschiedensten Leuten und Lebensstilen zusammenkommt. Ein heterosexuelles Lehrerehepaar lernt für gewöhnlich andere
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heterosexuelle Lehrerehepaare kennen. Es lebt also sein ganzes Leben lang nur in einer Lehrerwelt. Das gemeinsame Interesse an Schwänzen und Ärschen verbindet bei Schwulen jedoch alle möglichen Schichten miteinander. Man lernt neben den diversen Wohnungseinrichtungen und Gehaltsklassen auch verschiedenste Sexualpraktiken und -wünsche kennen. Ich hatte bis dahin gedacht, mich könne nichts mehr erschüttern. Was hatte ich nicht schon alles, zumindest theoretisch, kennengelernt. Einmal fragte mich sogar ein Typ, der aus Wolfenbüttel stammte, ob ich tierlieb sei. Ich antwortete mit einem entschiedenen Jein, und er erzählte mir von seinem Bedürfnis, gebumst zu werden, während der aktive Part der Nummer einen Hamster erwürgt. Ich fragte ihn, an die Trunkschen Papageien denkend, ob er auch mit Vögeln vorlieb nehmen würde. Er bestand auf einem Hamster. Ich lehnte dankend ab. Dieser Mensch, bei dem ich jetzt war, hatte mit Wirbeltieren nichts im Sinn. Er verlangte nach Wespen, die, zuvor in einem umgedrehten Glas wildgemacht, auf seine Eichel gesetzt werden sollten, um dann das Zentrum seiner Lust mit dem Toxin ihres Stachels zu füllen. Meine Tierliebe war stärker als meine Lust am Experimentieren. Ich weigerte mich schlichtweg. Da er außerhalb Stuttgarts wohnte, mußte ich jedoch die Nacht bei ihm verbringen. Er bat mich, ihn wenigstens auszupeitschen. Er legte sich auf den Bauch, ich hatte die Peitsche in der Hand und nicht die Absicht, mich in der Nacht noch übermäßig anzustrengen. Ich legte die Peitsche in die Spalte zwischen seinen beiden Arschbacken, drehte mich um und entschlummerte selig.
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Am nächsten Morgen erzählte er mir, daß das eine seiner geilsten Nummern gewesen sei. Überhaupt erlebte ich Stuttgart als Stadt der schwarzen Tücher. Sich Tücher in die Gesäßtaschen zu stecken war Ende der siebziger Jahre in Mode gekommen. Sie signalisierten dem Betrachter die jeweilige sexuelle Präferenz des Trägers. Die Seite, an der das Tuch getragen wurde, bedeutete die Richtung, die Farbe die Axt der sexuellen Vorliebe. Rot stand zum Beispiel für Faustfick. Rot rechts getragen bedeutete, daß der so betuchte Typ gefistet werden wollte. Rot links getragen bedeutete, daß der Betreffende fisten wollte. Manchmal bedeuteten die Tücher aber auch, daß der Träger farbenblind, Linkshänder oder unwissend war. Das Positive dieser Tüchermode war, daß man die Leute je nach sexueller Präferenz vorsortieren konnte. Das Negative, daß die Kommunikation noch reduzierter wurde, als sie es eh schon war. Schwarze Tücher, die in Stuttgart häufiger zu sehen waren als in Berlin, bedeuteten Peitschen. Ob es einen Zusammenhang zwischen Putzwut und Schlagwut gibt? Das Stuttgarter Nachtleben fand damals am Wochenende in München statt. Freitags abends zogen die Karawanen mit Auto oder Intercity in die Metropole der Filmstars und der Chefärzte. Denn eines von beiden mußte man schon sein, um in der bayerischen schwulen Welt anerkannt zu werden. Ich logierte am Wochenende meist, Tante Sophie sei Dank, in der »Deutschen Eiche«. Die Zimmer in diesem Hotel waren billig und einfach. Das Essen in der angegliederten Wirtschaft war reichlich
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und billig. Hier konnte man neben Frisören sitzen, die sich den Anschein gaben, Chirurgen zu sein. Das angenehmste mentale Souvenir, das ich von Stuttgart nach Berlin mitnehmen durfte, war Laura. Sie war eine aus Rumänien stammende Frau, die sich selbst, ob zu Recht oder Unrecht, weiß ich nicht, als Hexe bezeichnete. Sie zapfte Bier im »Kings Club«, einer Diskothek, in der die ansonsten sparsamen schwäbischen Besitzer mit Plüsch nicht gegeizt hatten. Wir beide mochten uns auf Anhieb, was nicht zuletzt daran lag, daß ich einer ihrer besten Kunden war und den Bierumsatz in Stuttgart während meines Aufenthaltes kräftig gesteigert hatte. Angehörs der Art und Weise, wie sie das »R« rollte, wäre selbst Carolin Reiber vor Neid erblaßt. Sie verabschiedete mich am Tag oder vielmehr in der Nacht vor meiner Heimreise mit dem Spruch: »Ich mag Lädärr«, was ich nicht nur als Kompliment für meine Lederkleidung auffaßte. Leder. Lederszene. Ledermänner. Was verband mich mit der gegerbten Tierhaut? Ausgezogen sahen die Typen nicht anders aus als die von ihnen so bezeichneten Textiltrinen. Sie waren weder dicker noch dünner, weder klüger noch dümmer als der Rest der schwulen Masse. Was mich faszinierte, war das Schauspiel, in dem sie dilettierten. Das Rollenverhalten, das sie an den Tag legten. Die Lederszene war für mich ein riesiges Kreuzworträtsel, das zu lösen ich versuchte. Ich fand die Lösungen, Übung macht den Meister, immer schneller. Die Fragen, die es zu lösen gab, die Rollen, die es zu entlarven gab, waren oft die gleichen oder einander ähnlich. Italienischer Fluß mit zwei Buchstaben? Po! Sibirischer Fluß mit zwei Buchstaben? Ob! Ob der Typ, der mir 175
gegenüberstand, Schläge auf den Po haben oder sie austeilen wollte, dazu bedurfte es mit der Zeit nicht mal mehr der Kenntnis der Farbenlehre. Ein Blick in die Augen, ein Blick auf die Haltung, ein kurzes Beobachten seines Verhaltens genügte. Auch wenn immer wieder die gleichen Fragen auftauchen. Man löst die Rätsel doch gern. Eine Zeitlang zumindest. Dann sucht man sich Rätsel, die schwerer zu lösen sind. Die größere Anforderungen stellen. Die mehr reizen. Mehr Empfindungen auslösen. Die Lust an der Steigerung war bei mir geweckt. Aber wohin sollte ich mich entwickeln? Zum Sadisten war ich zu stark. Zum Masochisten zu schwach. Der allgegenwärtige Masochismus der ledrigen Umwelt, die sofort, wenn ein kerniger Neuling die Bar betrat, die Tücher von links nach rechts umsteckten, war zu durchschaubar, zu leicht lösbar, als daß es noch Spaß gemacht hätte. Umgekehrt hatte ich nicht die Stärke, mich zu unterwerfen, mich fallenzulassen. Macht an mir ausüben zu lassen. Kurz, Vertrauen zu haben. Die Nacht vor dem Heiligen Abend, da liegen die Kinder im Traum. Heiligabend 1982. Fünf Uhr früh »Studiobar«. Ungefähr 1,85 Meter. Ungefähr gleichaltrig. Graue Augen, die mich fixierten. Kurzentschlossen. Bei dir? Bei mir? Bei mir sollte es sein! In der Wilhelmsaue. Nimmst du Trips? Ja. Wollen wir einen werfen? Ja. Haste Poppers? Ich hol's. Ausziehen. Eincremen. Zustoßen. Die Wirkung von LSD besteht in der veränderten Wahrnehmung. Akustisch. Optisch. Sensitiv. Ich hatte eine veränderte Zeitwahrnehmung. Reell betrug die Zeitspanne zwischen dem Herausziehen seines Schwanzes und dem Wiedereinführen vielleicht Zehntel176
sekunden. Mir kamen sie vor wie eine Ewigkeit. Ich bat, die Ewigkeit zu verkürzen. Ich bat um mehr. Ich hatte das Gefühl, daß sein Schwanz immer größer wurde. Mein Arsch immer enger. Er cremte ihn noch mehr ein. Er verbrauchte fast die ganze Ramaschachtel. Er cremte mich auch von innen ein. Wie damals. Die helfende Hand im Schwimmbad. Damals bei meinem ersten Mal. Die helfende Hand cremte bereits mit vier Fingern. Bis alles ganz weich und feucht war. Halt! Der Daumen will auch noch mit hinein, um die Prostata zu streicheln. Muß ich jetzt auch aufs Schafott? Wie Alar damals? Will ich mich schaffen lassen? Ich war bereit. Bereit, darauf zu steigen, was mir hingehalten wurde. Ich stieg auf den hingehaltenen Sattel. Wie damals auf das Knie meines Vaters. Ich rutschte langsam herunter. Ich empfand das gleiche wohlige Gefühl. Wie damals in der Badewanne. Das ganze Zimmer war mit angenehm warmem Wasser gefüllt. Ich holte tief Luft durch den Wattebausch, der mir vor die Nase gehalten wurde. Ich tauchte tiefer. Und je tiefer ich tauchte, um so schwereloser wurde ich. Ich schwebte. Ich empfand Glück. Mit Bertram, der Krankenpfleger war, unterhielt ich mich anschließend über Endorphine. Endorphine sind eine körpereigene Substanz, die eine euphorisierende Wirkung haben. Wird etwas Fremdes in den Körper eingeführt, wie zum Beispiel eine Faust in den Darm, reagiert dieser mit Panik und versucht, den Fremdkörper auszustoßen. Wird dieser Reaktion entgegengewirkt, bittet der Darm das Gehirn um Hilfe, das dann gnädig die Endorphintruppen schickt und das unvermeidlich Gewordene mit einer Prise Glück versüßt. In der palliativen Medizin, also in der Sterbehilfe, wird diese Reaktion mit synthetischem Morphium erzeugt. Ich 177
freute mich auf den noch fern geglaubten Tod, wo diese Glücksbomben auf mich abgeworfen würden. Es war mir etwas angetan worden, was ich mir bei anderen bisher als Faustrecht der Freiheit genommen hatte. Und mir war diese Faust recht gewesen. Bertrams Stärke war, daß er nur das Notwendigste über sich sprach. Name, Beruf, Alter. Er sprach nie von persönlichen Problemen. Ich konnte nicht das tun, was ich gewöhnlich bei meinen Bettmäusen tat. Zuhören, analysieren, in eine Schublade stecken. Ich konnte mir kein Bild machen. Er war für mich wie eine große, weiße Leinwand, auf die ich meinen persönlichen Film projizieren konnte. Der Film hieß wieder Old Shatterhand und Winnetou. Ich war, anders als bei Alar damals, diesmal der edle Winnetou. Da wir beide im Wechseldienst tätig waren und am liebsten nachts arbeiteten, kam er meist morgens nach sechs zum Frühstück. Kaffee, Mumm-Sekt, ein Pfeifchen, eine Prise Koks und/oder eines der Glückspillchen. Wir probierten mal das und mal jenes aus. Wollten sehen, wie wir ohne Schamhaare oder ohne Körperhaare aussehen, und halfen uns gegenseitig bei deren Entfernung. Wir experimentierten mit den Spielsachen, die Bertram mitgebracht hatte, und waren fröhliche kleine Lederkinder. Wir spielten zusammen. War Old Shatterhand dank seines Kolbens auch ein wenig gleichberechtigter als Winnetou, so waren wir doch ebenbürtige Blutsbrüder. Warum sollten wir nicht auch noch einen dritten Spielkameraden haben? Der Spielkamerad lief mir in der »Knolle« zu. Bertram hatte Nachtdienst. Ich hatte frei und schaute zu Hause in den Kühlschrank. Ich hatte vergessen, bei Bolle Sekt fürs Frühstück einzukaufen. Aber die »Knolle« war ja nah. 178
Und von Tante Sophies Geld noch was übrig. Also nichts wie hin zur »Knolle«. Wenn man schon mal da ist, kann man in dem Supermarkt ja auch schauen, was so im Angebot ist. Eine der Auslagen lacht mich an. Wir schauen uns in die Augen. Ich gehe auf ihn zu, um die Ware näher zu beschauen und zu betasten. Er grinst mich unverschämt an. Old Shatterhand, der mein Blutsbruder ist und den ich morgen erwarte, macht mich stark, unverletzbar und mutig. Ich spucke ihm ins Gesicht. Plötzliche Unsicherheit meinerseits. Wie wird er reagieren? Bin ich zu frech, zu mutig gewesen? Spuckt er gar zurück? Ich verberge meine Unsicherheit hinter einem starren Blick. Er hebt die Hand. Schlägt er jetzt zu? Er führt die Hand zur Wange, auf der die Spucke ist. Er nimmt sie auf die Finger. Er betrachtet seine Finger mit der Spucke. Er führt die Finger in den Mund. Er leckt sie ab. Ich habe gewonnen. Er trägt die Sektflaschen, die ich gekauft habe, nach Hause. Ich öffne die Tür. Er tritt ein. »Man könnte sich eigentlich ausziehen«, sage ich in der dritten Person, die ich jetzt spielen werde. Ich bin stolz auf mich. Wie gewöhnlich war doch der Hamburger Idiot mit seinem »Schweine müssen nackt sein«. Er ist ausgezogen. Er hat einen schönen Körper. Ich bleibe besser angezogen, um die Illusion wahren zu können. Ich setze mich auf den Schreibtischstuhl. Die dritte Person in mir ist plötzlich Herrenmensch. Ich befinde meine Stiefel als zu schmutzig. Er möge mir bei der Säuberung behilflich sein. Er diene wohl gerne, frage ich scheinheilig. Ich kann es nicht deutlich genug verstehen, was er, seine Zunge zur Säuberung gebrauchend, sagt. Lauter, fordere ich ihn mit gespielter Höflichkeit auf. Ja, er diene gerne. Er spielt während der 179
Säuberung zu intensiv mit seinem Schwanz. Das hat man gar nicht gerne. Die Hände sind viel zu nervös. Man muß sie ruhigstellen. Es klickt metallisch. Jetzt sind die Hände ruhig. Ich frage, ob ihm kalt sei. Er verneint. Ich frage noch mal, ob ich einheizen solle. Er versteht und bejaht. Schläge auf den Hintern fördern die Durchblutung. Er errötet. Er ist warm. Er kommt hoch. Höher sage ich. Er streckt sich mir entgegen. Er muß befeuchtet werden. Ein 57 Grad warmer Strahl läuft seinen Rücken hinunter. Spült ihn. Jetzt ist Winnetou Old Shatterhand. Er rollt sich danach wie ein Embryo zusammen. Er zittert. Aber nicht vor Kälte. Er sieht aus wie ein kleines Paket. Das wäre doch ein tolles Geschenk des edlen Winnetou für Old Shatterhand. Man müßte es nur noch schnüren. Es gibt in der Wohnung keine Stricke. Eine Wäscheleine tut es auch. Die dritte Person sagt zu dem Paket, daß es bis zum Morgen so verschnürt zu bleiben habe. Es sei als Morgengabe für Bertram gedacht. »Was für eine nette Überraschung«, sagte Bertram, als er das Paket aufschnürte. Er schien mir dankbar zu sein. Wir hatten uns mit dem Aufschnüren Zeit gelassen. Frühstückten erst noch ausgiebig. Die gewohnten Zutaten. Was für ein nettes kleines Hundchen hatte ich meinem Spielkameraden doch geschenkt. Das Hundchen durfte an der Wurst lecken. Es bekam zum Dank dafür ein kleines Häppchen, das es gierig verschlang. Dankbar leckte das Hundchen jetzt beide Würste. Es durfte die Würste sogar in den Mund nehmen. Aber nicht hineinbeißen. Vom An-derWurst-lecken wurde das Hundchen nicht satt. Es wurde immer hungriger. Die aufkommende Gier und die Wirkung des Häppchens, das das Hundchen genommen hatte, verwandelte das Hundchen in ein Schweinchen. Winnetou 180
fragte Old Shatterhand, ob er nicht auch finde, daß das Schweinchen zu viele Borsten habe. Er fand es auch. Also mußte man die Sau schaben. Aber erst brühen, befand Bertram. Die Wanne war leer. Die Sau wurde in die Wanne gelegt. Sie wurde erst tüchtig naß gemacht. Dann sachkundig geschäumt und geschabt. Sie grunzte dabei. Sie war bereit zum Ausnehmen. Bertram war als erster Metzger. Ich der Gehilfe. Der Gehilfe machte sich auch ans Werk. Es gab viel auszunehmen. Der Metzger packte mit an. Gehilfe und Metzger arbeiteten Hand in Hand. Sie bewegten ihre Hände synchron. Sie verschränkten ihre Finger zu einer einzigen Faust. Die Sau grunzte laut. Wir hatten sie gemeinsam geschafft. Winnetou und Old Shatterhand hatten gemeinsam gesiegt. Und sich die Hand zum Bruderschwur gegeben. Wir hatten jetzt einen Butler, der uns in Zukunft das Frühstück servieren durfte, wenn sein Beruf bei der Barmer Ersatzkasse ihm dazu Zeit ließ. Mit der Zeit begann er, hauptberuflich Butler zu werden. Er süchtelte geradezu nach dieser Arbeit. Aber mein Blutsbruder Old Shatterhand hatte ein Problem. Er trank zuviel Feuerwasser. Winnetou hatte das bisher gar nicht wahrgenommen. Aber jetzt versank Old Shatterhand so tief im Feuerwasser, daß Winnetou ihn nur noch ganz verschwommen wahrnehmen konnte. Er verschwand immer mehr. Winnetou schaute ins Wasser. Er sah sein eigenes Bild auf der Wasseroberfläche und erschrak. Er wollte nicht selbst versinken. Er durchstreifte jetzt wieder allein die Jagdgründe. Der »Knast« hatte fast zeitgleich mit »Tom's Bar« aufgemacht. Diese beiden Lokale bildeten zusammen mit
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»Andreas Kneipe« das schwule Bermuda-Dreieck, das vom Golfstrom durchströmt wurde. Der »Knast« erinnerte mich an die Knäste in amerikanischen Kriminalfilmen. Nach der Eingangstür durchschritt man ein Gittertor. Auch der Tresen war durch Gitter vom Baum abgetrennt, so daß man nicht wußte, wer die Gefangenen waren. Die Tresenmannschaft oder die Besucher. Hier war wie im »Tom's« Lederkleidung nicht nur erwünscht, sondern geradezu Pflicht. Hier war man einen Zacken schärfer, härter, ledriger als im »Tom's«. Zumindest gab man sich so. Wer sich nicht so ganz dazugehörig glaubte, war angesichts der Vielzahl der Gefangenen äußerst befangen und wechselte gleich über zu »Tom's«. Die Spielsachen, die in Form von Handschellen und Gummiknüppeln am Tresen hingen, wurden von den hier versammelten Kindern anfänglich noch freudig benutzt. Und so schauten die schwäbischen Touristen manchmal sehr irritiert, wenn sie nichtsahnend das Lokal betraten, an dessen Tresen ein nackter Mann mit Handschellen befestigt war, um von einem anderen ausgepeitscht zu werden. Das würde ihnen zu Hause in Reutlingen niemand glauben. Es gab dann ein fröhliches Gejohle von einem Teil der versammelten Spielplatzbesucher, während der andere Teil so tat, als würde er nichts mitbekommen, und einen besonders coolen und nicht voyeuristischen Ausdruck an den Tag zu legen versuchte. Das »Tom's« war ein wenig heller als der düstere »Knast«. Dagegen war der Keller um so düsterer. Kam man in dieses längsgestreckte Lokal hinein, das aus insgesamt vier Räumen bestand, so durchschritt man mehrere Vorhöfe, die den Weg zum Paradies bildeten. In den ersten beiden Räumen konnte man an der Bar die Wegzeh182
rung käuflich erwerben. An der ersten Bar wirkte Schweinebacke. Viele schwärmten von ihm als einem Meister. Auf mich wirkte er immer wie eine überzogene Darstellung von Deutschen aus der Nazizeit, wie sie manchmal in amerikanischen Fernsehserien zu sehen sind. Im zweiten Raum war man mit dem Betrachten der Pornos und der sie betrachtenden Zuschauer beschäftigt. Hier wurde schon mal vorsortiert. Den dritten Raum, in dem es auch eine Bar gab, die allerdings nur an Wochenenden ausschenkte, erkor ich mir zum Stammraum. Er erschien mir als der eigentliche Kontakthof und war mit Benzintonnen möbliert, auf die man seine Gläser abstellen konnte, wenn man einen Typ in Richtung Keller gehen sah, der einem besonders gut gefiel. Von hier aus hatte man den besten Überblick auf den Toilettenbereich und den Kellereingang. Vom dritten Raum konnte man nahtlos in den vierten Raum gehen, der als Sackgasse mündete und an dessen Kopfende sich eine Guillotine befand. Der Keller hatte die Gesamtfläche von Guillotinenraum und Sanitärbereich. Im linken Teilbereich war eine Badewanne aufgestellt, über der ein Sling aufgehängt war. Der rechte Teilbereich war wiederum halbiert durch eine Wand, in der in Schwanzhöhe Löcher eingelassen waren, die einem ermöglichten, sich einen blasen zu lassen, ohne vom Aussehen oder der Konsistenz des Bläsers seiner Illusionen beraubt zu werden. Hier ging die Post ab, für die ich immer noch arbeitete. Die Struktur der Besucher änderte sich allmählich, als das »Querelle« aufmachte, das nur fünf Minuten von »Tom's Bar« und vorn »Knast« entfernt war. Gingen vorher ausschließlich Leute hin, die sich der Lederszene zugehörig fühlten und denen es nicht allzuviel ausmachte, 183
wenn Schweinebacke zwischen zwei Bestellungen einen Typ auf der Guillotine fistete, so kamen jetzt mehr und mehr Leute ins »Tom's«, die im Westler-Look den New Wave in die Leder- und Westernbar brachten. Im »Querelle« gaben sich die Leute noch kultiviert und einen leichten Tick unnahbar, um sich dann zu späterer Stunde im »Tom's« in enthemmte Kellerbesucher zu verwandeln. Nachdem ich in der Motzstraße wohnte, war ich oft Besucher im »Querelle«. Schon in meiner Anfangszeit in Berlin war das Areal zwischen Nollendorfplatz, VictoriaLuise-Platz und Wittenbergplatz meine Traumgegend gewesen. Da, wo ich jetzt noch wohnte, in der Wilhelmsaue, war es zwar immer noch besser als im Wedding, wo ich anfangs hauste, aber die Taxifahrten zwischen »Tom's« und »Knolle«, in die ich vor dem Nachhausegehen für gewöhnlich einkehrte, verschlangen so viel Geld, daß ich mir dafür eine größere Wohnung hätte leisten können, wo ich vor der Verfolgung der Frau Günther sicher gewesen wäre. Stefan Weiß war nach Berlin gezogen. Ich hatte ihn in der Endphase meiner Mannheimer Zeit kennengelernt. Er war damals noch ein Kind mit langen Haaren gewesen. Jetzt war ihm Mannheim zu eng geworden, und er hatte sich als Biologiestudent an der Freien Universität eingeschrieben. Er wohnte in der Winterfeldtstraße in einer Einraumwohnung, die gerade genug Platz für einen Tisch, eine Matratze und seine vielen Musikinstrumente und Keyboards bot. Er fühlte sich zum Rockmusiker berufen. Kurz, wir beschlossen zusammenzuziehen.
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Wer den Berliner Wohnungsmarkt heute und auch damals kennt, weiß das Glück zu schätzen, das wir letztendlich hatten. Fünf Monate lang gaben wir Anzeigen auf oder schrieben auf Inserate. Ich inserierte teils als Postbeamter, teils als Psychologe. Stefan teils als Mediziner, teils als Biologe. Keine Reaktion. Mitte November 1985 hatte ich die Schnauze voll. Ich sah fast keine Hoffnung mehr und inserierte in der ›Zweiten Hand‹, einem Berliner Kleinanzeigenblatt: Zwei schwule Männer suchen eine Wohnung. Zwei Tage später kam ein Anruf. Eine Woche später zahlten wir fünftausend Mark Abstand und unterzeichneten den Mietvertrag für eine hundert Quadratmeter große Wohnung in der Motzstraße – neben »Tom's Bar«. Das Leben ist manchmal ein Märchen. Der Vormieter war ein Mensch, der das Rustikale geliebt zu haben schien. Die Wohnung sah aus wie ein Wienerwald-Restaurant. Im Bad grüne Kacheln und eine Holzdecke. Im Flur eine Holzdecke, über der sich der Zwischenboden verbarg, und grüne Tapeten, die den Waldesfrust verbreiteten. Das vordere, zur Straßenseite liegende Zimmer war mit Holzimitat getäfelt. Dem – natürlich grünen – Teppichboden war eine Styropordecke als Kontrapunkt entgegengesetzt. Das zum Hinterhof gehende Berliner Zimmer war zwar genauso groß wie das vordere, aber durch eine eingezogene Wand in zwei Hälften unterteilt. Stefan hätte in diesem Teil der Wohnung klaustrophobische Ängste bekommen. Mir dagegen machten diese beiden Höhlen nichts aus. Ja, ich verstärkte sogar den Höhlencharakter. Die Lage der Wohnung, die Größe, alles war so ideal. Ich glaubte sogar, daß ich mir genau diese Wohnung vorgestellt hatte, als ich damals in Bad D. mit elf Jahren von einem Leben mit Männern träumte, die komische Geräusche machen und zusammen in einem Bett 185
liegen. Hier wollte ich nur tot heraus. Ich sollte recht behalten. Wir renovierten die Wohnung so lange, bis sie endlich unrenoviert aussah. Ich war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Zur Einweihung veranstalteten wir eine rauschende Party, bei der tout Berlin sich den Mumm-Sekt hinter die Binde goß. Die Wohnung sah anschließend noch unrenovierter aus. Ich war noch zufriedener. Ich beschloß, einen Salon einzurichten. In der Berlingeschichte von Kiaulehn, die ich damals gerade verschlang, hatte ich von Rahel Varnhagen gelesen. Sie veranstaltete in ihrem Haus regelmäßige Jour fixes. Also Treffen an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Zeit, an dem die Gäste auch ohne definitive Einladung kommen können. Ich beschloß, daß in unserer Wohnung ein ebensolcher Salon schwule Geschichte machen sollte. Die schwule Subkultur hat den Vorteil, daß man leicht und unkompliziert jemanden anmachen und aufreißen kann. Man kann sich miteinander bei Rollenspielen vergnügen, kann wohlfrisiert und heiter plaudern. Man kann auch wunderbar allein sein. Wenn ich einen wichtigen Brief schreiben oder etwas durchdenken mußte, bin ich immer in »Andreas Kneipe« gegangen, setzte mich möglichst auf den Platz, wo Ria bis zu ihrem Tode gesessen hatte, und ließ die Gedanken fließen. Inmitten von kreischenden Leuten empfand ich eine Waldesstille, die mir ermöglichte, einigermaßen klare Gedanken zu fassen. Hier, bei lauter Musik, konnte ich mich am besten konzentrieren. Ich beobachtete die Leute und schaute doch durch sie hindurch, was mir den Vorwurf einbrachte, arrogant und schwierig zu sein. 186
Arrogant war man, wenn man auf das Jahrhundertproblem, daß jemand bei der Vorstandswahl des schwulen Motorradsport- und Contactvereins, MSC, durchgefallen sei, nicht eingehen konnte, da man gerade über Camus nachdachte. Schwierig war man, wenn man zu verstehen gab, daß man im Moment lieber seinen Gedanken nachgehen und ungestört sein wollte, wo andere doch gerade ihre berstend gute Laune über einen zu schütten beabsichtigten. Ich schaute mir die Leute an. Dachte nach: Eigentlich kannst du doch ganz zufrieden sein. Eine Traumwohnung haste. Bekannte haste. Zu ficken haste. Zu kiffen haste. Zu trinken haste. Einigermaßen Geld, um das Ganze zu finanzieren, haste. Den Durchblick haste. Wo der Hase hinläuft, weißte. In Berlin biste. Mehr erlebt als deine ganze Familie haste. Zweiunddreißig Jahre hinter dir haste. Noch gute Jahre vor dir haste. Was willste also mehr? dachte ich damals. Ich verglich mein Leben jetzt mit dem meiner Familie. Ich hatte in meinen zweiunddreißig Jahren mehr erlebt als die ganze Tantenschar in ihren kumulierten Lebensjahren. Ich verglich mein Leben mit dem der hier in »Andreas Kneipe« Anwesenden. Ich hatte auf der Bühne gestanden. Hatte eine Schwulengruppe aufgebaut. Hatte studiert. Empfand mich als klüger als der große Rest der hier versammelten Durchschnittlichkeit. Hatte zwei existentielle Liebeserfahrungen gemacht, die mich weit über diesen Morast der Schwänzesammler hoben, die sich jeden Abend gegenseitig die Alben vorhielten und diese billige Briefmarkensammlung als ihren ganzen Reichtum betrachteten. Diese Wüste an Banalität. Ich begann mit zweiunddreißig Jahren erwachsen zu werden.
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Ich hatte Stefan in Mannheim als Kind wahrgenommen. Vielmehr, ich hatte ihn nicht wahrgenommen. Ich hatte ihn nur kurz gesehen. Da mir pädophile Neigungen fremd waren – ein heranwachsendes Kind war ich ja selbst –, hatte ich mich lieber auf die in der Diskothek versammelten Männer konzentriert. Ich wußte nicht, welche Funktion ich bei Stefan hatte. Die der Mutter oder die des Vaters? Aber Elternfunktion hatte ich bei dem zehn Jahre jüngeren Sohn schon. Und so klappte das Zusammenleben auch wunderbar, solange er ein braves Kind war. Er war freundlich, gutgelaunt, hatte Humor. Ich nahm ihn gerne an der Hand, um mit ihm durch die Unterwelt zu ziehen. Wir waren oft zusammen in der Lederszene. Ich ganz in Leder. Er in Lederjacke und Jeans, mit einer roten Kappe. Ich nahm ihn in Schutz. Griff jemand Rotkäppchen an, wurde ich zum bösen Wolf. Ich hatte die Rolle des Beschützers der Unschuld, die gerne schuldig werden wollte. Und ich gab ihr gerne Rat, wie sie am besten ihre Unschuld verlieren könnte. Ich wußte ja aus eigener Erfahrung, wieviel Spaß es macht, sie zu verlieren. Welche Lust es bereitet, die Angst vorm Schuldigwerden abzustreifen. Ins Schlammbad zu steigen und sich wie eine Wildsau darin zu suhlen. Und anschließend beim reinigenden Frühstücksgespräch den Schlamm der Nacht wieder abzuwaschen und wie ein Orpheus aus der Matratzenwelt dem sonnigen Tag mit von zuviel Poppers entzündeten Augen ins Antlitz zu schauen. Ich schaute mit entzündeten Augen in den Spiegel, als ich mir den Schlamm der Seesandmandelkleiemaske aus dem Gesicht wusch. Begann ich alt zu werden? Im Radio ertönten Oldies. Als die Rolling Stones angesagt wurden, 188
erschrak ich. Rolling Stones sind doch keine Oldies. Es ist doch die Musik meiner Kindheit oder zumindest die Musik meiner Jugendzeit. In meiner Selbstwahrnehmung war ich immer Mitte Zwanzig geblieben. Ja, ich glaubte schon Mitte Zwanzig zu sein, als ich noch ein Teenager war. Waren doch meine ersten Männer, und erste Männer gab es viele in der Zeit vom zwölften bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr, fast alle Mitte Zwanzig gewesen. Ich war immer der jüngere Freund, mit dem sie sich wie mit Gleichaltrigen unterhalten konnten. Auch nach meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag blieb ich Mitte Zwanzig. Und zwar nicht aus der Eitelkeit heraus, die so manche Schwule ihr Alter nach unten korrigieren läßt, sondern aus tiefster innerer Überzeugung. Das Geburtsdatum in meinem Ausweis setzte mich in Erstaunen: Ich zog das Geburtsjahr von dem gerade aktuellen Jahr ab und blickte verwundert auf das Ergebnis der Subtraktion. Was, schon Dreiunddreißig? Was, schon Vierunddreißig? Das kann doch gar nicht sein! Ich reagierte immer schizophren, wenn ich die Leute mein Alter schätzen ließ. Ich war erfreut und beleidigt, wenn sie mich für jünger hielten. Ich war erfreut und beleidigt, wenn sie mich für so alt hielten, wie ich war. Ich wäre erfreut und beleidigt gewesen, wenn sie mich für älter gehalten hätten. Aber das tat, Gott sei Dank, niemand. Jetzt war ich plötzlich Mutter und Vater eines zehn Jahre jüngeren Sohnes, den ich für gleichaltrig hielt. Und der Sohn hatte einen furchtbar altmodischen Musikgeschmack. Er liebte Abba. Und das nicht nur lautstark, sondern von morgens bis abends. Ich hätte wahnsinnig werden können bei der Musik, vor der mir schon gegraust hatte, als ich in seinem Alter war. 189
Außerdem brachte der Sohn ungezogene Freunde mit nach Hause. Einen dicken, widerlichen haßte ich ganz besonders. Er stammte aus Weinheim und hatte die enervierendste Stimme, die ich jemals gehört hatte. Sie durchdrang alle Wände. Nicht weil sie so laut gewesen wäre, sondern weil sie so aufdringlich, durchdringlich war. Auch wenn er flüsterte, ging mir die Stimme auf den Senkel. Ja, ich begann schon seinen bloßen Anblick zu hassen. Dieses widerliche, feiste Gesicht, aus denen Schweinsaugen unverschämt blickten. Dieses aufgedunsene Schwein, dessen Kopfbehaarung nahtlos in die Rückenbehaarung überging. Ich hatte mich schon als Kind vor Haaren auf dem Rücken geekelt, als mich ein Onkel mütterlicherseits, der behaart war wie ein Orang-Utan, zwang, auf seinen Schultern zu sitzen. Der zweijährige Hans hatte furchtbare Angst vor Orang-Utans. Allein die Vorstellung, den schweinischen Besucher nackt zu sehen, ekelte mich. Dieses Schwein sollte nicht nackt sein. Schweine müssen weg sein. Die Freundschaft des Sohnes mit diesem nicht standesgemäßen Wesen begann die Mutter zur Stiefmutter werden zu lassen. Die Stiefmutter wurde vollends zur bösen Stiefmutter, als der Sohn noch andere ungezogene Kinder mit ins Haus brachte. Stiefmutter strafte. Hatte die Mutter bisher mit warmherzigen Worten den Lebensweg des Sohnes wohlwollend kommentiert, so schwieg sie fortan. Sie sagte kein Wort mehr. Es gibt verschiedene Formen der Bestrafung. Die Humanpsychologie befaßt sich, zumindest sollte sie es, mit dem Verhalten von Menschen. Die Lernpsychologie befaßt sich mit Verhaltensänderungen des neurologischen Netzwerks im Schädel des Menschen, das man gemeinhin 190
Gehirn nennt und das in Wahrheit den Menschen selbst ausmacht. Verstärker fördern das Auftreten einer gewünschten Reaktion, Nicht-Verstärker vermindern diese Wahrscheinlichkeit. Positive Reize wirken verstärkend und werden gemeinhin Belohnung genannt. Auch das Ausbleiben einer Bestrafung kann verstärkend wirken. Es sei denn, man verkehrt im »Knast« und ist Masochist. Bestrafen kann man auf zweierlei Art. Zum Beispiel durch Anwendung eines negativen Reizes, indem man jemanden anschreit oder schlägt. Mit obiger Ausnahme. Man kann aber auch bestrafen, indem man einen positiven Reiz nicht anwendet. Indem man die Belohnung entzieht. Zum Beispiel Kindern den Nachtisch verweigert, dem Sklaven die Strafe, dem Arbeiter die Zulage. Die schlimmste Form der Bestrafung ist der totale Reizentzug. Alles ist dem Opfer lieber als das. Er würde sogar gerne Folter in Kauf nehmen, nur um irgend etwas zu spüren. Die Hausfrau, die sich als meine Mutter bezeichnete, hatte, als ich vier Jahre alt war, die Majestät meiner prinzlichen Würde auf das Unverschämteste beleidigt, so daß die Acht über sie zu verhängen ich mich gezwungen sah. Im Kindergarten hatten wir von der Kindergärtnerin aufgetragen bekommen, am bevorstehenden Muttertag den Wesen, die für gemeinhin das Gute verkörpern sollen, eine Freude zu bereiten. Jedes der Kinder sollte am Montag nach Muttertag erzählen, womit es seine Mutter überrascht hatte. Der edle Prinz in mir wollte natürlich eine ganz besondere Überraschung bereiten. Er wollte Frühstück machen und es den Eltern ans Bett bringen. Und als er gerade den Tisch gedeckt hatte und das Wasser kochte, fügte er in die 191
Kaffeemühle braune Bohnen, gab den Deckel darauf und drückte auf den Knopf, auf daß die Kaffeebohnen zu Kaffeemehl würden. Da die prinzlichen Hände zu klein waren, sowohl den Knopf, der den Elektromotor in Gang setzte, als auch die Lasche, die den Deckel der Maschine mit dem Gehäuse verband, gleichzeitig zu halten, löste sich der Deckel von der Kaffeemühle, und feinkörniges, braunes Mehl explodierte wie ein Vulkan, so daß die braune LavaAsche nicht nur die fein gesäuberten Küchenmöbel übersäte und das weiße Tischlinnen beschmutzte, sondern auch den Fußboden überzog, dessen Eigenschaft, daß man von ihm essen konnte, der Stolz besagter Hausfrau war. Diese Entweihung des Tempels, in dem die Hohepriesterin der Religion, die sie Haushalt nannte, ihrer Göttin, die sie Sauberkeit nannte, huldigte, erfüllte die Priesterin mit biblischem Zorn. Sie schalt gar sehr. Auf das prinzliche Wort, daß er ihr mit der Frühstückszubereitung doch eine Freude habe machen wollen, erfrechte sich diese Person zu antworten: »Das glaube ich dir nicht. Du bist immer böse.« Und dann wagte sie, ihre Hand zu heben und in das prinzliche Gesicht zu schlagen. Der Prinz entzog ihr seine Huld und geruhte, fortan nicht mehr ein einziges Wort an sie zu richten. »Ich weiß gar nicht, was Sie haben, Frau Seyfarth«, sagte der Psychologe, zu dem mich meine Mutter geschleppt hatte, nachdem ich vier Wochen kein Wort mehr mit ihr gesprochen hatte. »Sie sollten froh sein, so ein aufgewecktes, intelligentes Kind zu haben. In meiner Sprechstunde habe ich keinerlei Anzeichen von Autismus entdecken können.« Und dann klärte er sie über die Wirkung auf, die es haben kann, wenn man einem Kind Unrecht tut. Sie gelobte dem Psychologen Besserung. Worauf 192
ich zwar wieder mit ihr sprach, aber zum Ausgleich für das wiedererteilte gesprochene Wort ihr den Blick entzog. Sie war viel zu sehr mit dem Entdecken von Staubkörnern beschäftigt, als daß sie bemerkte, daß ich von nun an durch sie hindurchsah. Ich hatte die Mutter sterben lassen und sah nur noch die Hausfrau. So hatte ich eine wirkungsvolle Methode gelernt. Nicht mit jemandem zu reden, verwirrt diesen so sehr, daß er anfängt, Fehler zu begehen. Talleyrand hatte einmal, als man ihm von der Erschießung des Herzogs von Enghien berichtete, die Napoleon befohlen hatte, in seiner zynischen Art gesagt: »Das war kein Verbrechen. Das war schlimmer als ein Verbrechen. Es war ein Fehler.« Und wirklich. Es war der Anfang des Niedergangs des französischen Kaisers. Es gibt Dinge, die man mir besser nicht antun sollte: mich anzulügen oder mir Unrecht zu tun. Mich anzulügen ist ein Verbrechen, das ich mit Wortentzug, mir Unrecht zu tun ist ein Fehler, den ich mit der Todesstrafe ahnde. Und da ich nicht die Energie habe, jemanden umzubringen, lasse ich die betreffenden Täter sterben. Sie sind dann für mich nicht mehr existent. Ich sehe sie zwar physisch, aber ich mache mir nicht mal die Mühe des Übersehens. Sie sind für mich gestorben, im wahrsten Sinn des Wortes. Sie existieren nur noch als Zombies fort, die für mich keinerlei Bedeutung mehr haben. Gott verzeiht, die böse Stiefmutter nie. »Ich ziehe aus!« zu sagen, war ein solcher Fehler. Wie es überhaupt ein Fehler ist, Drohungen auszusprechen. Der Grundsatz der englischen Außenpolitik war immer, nur mit dem zu drohen, was man von vornherein auch wild entschlossen ist auszuführen. Es ist ein Fehler, mit 193
etwas zu drohen, was man gar nicht beabsichtigt. Ein noch größerer Fehler ist es, mit etwas zu drohen, was den eigenen Interessen entgegensteht. Jedesmal, wenn in meinem Leben irgend jemand den berühmten Satz aussprach: »Ich trenne mich von dir«, gab mir das ein Gefühl der Überlegenheit. Ich war dann genauso überlegen wie damals mein Vater, als meine Mutter ihm sagte, daß sie sich von ihm scheiden lassen wolle. Sie wollte ja gar nicht. Sie hätte sagen müssen, daß sie von ihm geliebt werden wolle. Mein Vater fragte damals nur voller Verachtung über das hysterische Vorspiel: »Wann?« Und wartete cool das Endspiel vor dem Amtsgericht ab. Wenn sich jemand wirklich trennen will, sagt er es nicht. Heinrich Heine hat mal gedichtet: Der Brief, den du geschrieben. Er macht mich gar nicht bang. Du willst mich nicht mehr lieben. Doch dieser Brief war lang. Zehn Seiten. Eng und zierlich. Ein feines Manuskript. Man schreibt nicht so ausführlich, wenn man den Abschied gibt.
Wenn man sich wirklich trennen will, macht man es einfach. Man gibt sich mit der Bekanntgabe seiner Absicht nicht aller Waffen preis, die man für den unvermeidlichen Beziehungsendkampf noch braucht. Ich wollte die Wohnung auf jeden Fall behalten. Nach einiger Zeit war Stefans »fester Wille« auszuziehen, einer zu späten »Absicht« gewichen. Ich enthielt mich eines Kommentares und sprach ein letztes Wort: »Wann?« Worauf-hin er sich in der ganzen Szene über mein schweinisches Verhalten beklagte. Die Szene nahm, wie es so üblich ist, wenn kleine Skandälchen die Tristesse des Alltags beleben, regen Anteil an unserer weiteren Entwicklung. 194
Der Trojanische Krieg fand statt. Die Schlacht wurde nicht im Saale, die Schlacht wurde im »Tom's« geführt. Ich hatte keine Verbündeten, da mein Stolz einer bitteren Anklageerhebung beim Gericht des Volkes im Wege stand. Das Volk war voll des Mitleids um die sich verfolgt glaubende Unschuld. Es scharte sich um sie. Ein pockennarbiger Ritter, ein kühner, etwas dicker Recke, der vom Helden des Stückes mal beleidigt worden war, wollte die verfolgte Unschuld rächen. Diese wurde zu Leda, die es mit einem Schwein trieb, das sich selbst für Lohengrin hielt. Sendboten und Kundschafter liefen durch das Lederreich, um ihre Botschaften zu verbreiten und Neuigkeiten zu erfahren. Das zuschauende Volk nahm regen Anteil. Applaudierte mal dieser, mal jener Seite. Hob den Daumen. Oder drehte ihn nach unten. Der Held des Stückes hatte nur einen Mitstreiter, dem er jedoch verbot, sich einzumischen. Er wollte allein siegen. Der Held des Stückes spielte auf Zeit. Er trotzte der Belagerung, verteidigte die Burg. Als ich im April 1987 bei der Meldestelle meinen neuen Personalausweis abholte, war als Adresse Motzstraße 15 angegeben. In der Zeit, als Stefan noch bei mir gewohnt hatte, war Kai vorübergehend zu uns gezogen. Ich hatte ihn im August 1985 kennengelernt und mit ihm eine Nacht verbracht, die ich am nächsten Tag mit drei Kreuzen in meinen Kalender eintrug. Diesen von mir ›Tripperbuch‹ bezeichneten Kalender hatte ich anzulegen begonnen, als ich 1973 meinen ersten Tripper hatte, »vorne«. Ich schrieb nach jedem sexuellen Erlebnis unter dem jeweiligen Tag den Namen des jeweili195
gen Liebhabers, so daß ich denjenigen im Notfall benachrichtigen konnte oder zumindest wußte, wer mir das Malheur eingebrockt hatte. Später brach dann das Erbteil meiner pedantischen Mutter durch, und ich notierte die jeweilige Sexualpraktik und die Bewertung der Qualität der Empfindung, die ich verspürt hatte. Dafür ließ ich mit der Zeit die Namen der Herren weg, die für mich ja immer anonymer wurden, und ersetzte sie durch Assoziationen und Spitznamen, die ich ihnen, wohlweislich insgeheim, gegeben hatte. Am Jahresende machte ich dann Inventur und zählte die Tage des Jahres, an denen ich Sex gehabt hatte. Ich gewichtete die Tage mit den Kreuzen, die die Herren auf einer Skala von einem Kreuz (»ungenügend«) bis zu fünf Kreuzen (»sehr gut«) von mir zu erhalten die Ehre hatten. Die gewichtete Punktzahl beziehungsweise Kreuzzahl war dann das Kriterium für die Beurteilung des jeweiligen Jahres. 1985 war ein gutes Jahr. Im Kalender dieses Jahres steht unter dem 5. August: »kleiner Alemanne«, Kai kam aus Weil am Rhein, »p.a.«, er hatte mich gefickt, »xxx«, es war keine Jahrhundertnummer, aber sehr ordentlich. Kai schrieb in der Zwischenzeit öfter, weil er im badischen Weil oft Langeweile hatte, und so war es für mich klar, daß er in der Zeit seines Praktikums, das er in Berlin ableisten wollte, bei uns im Zwischenboden schlafen konnte. Der Zwischenboden über dem Flur war als Gästezimmer gedacht und wurde bei unseren Parties von Leuten, die diskreter veranlagt waren, auch als Fickraum benutzt. Kai hatte sich bei einer Berliner Schwulenberatungsstelle beworben. Da er nicht nur schnuckelig aussah und jung war, sondern auch kleine Hände hatte, wurde er vom einstellenden Psychologen auf Anhieb angenommen. 196
Der Psychologe führte Kai nicht nur in die Arbeit der Beratungsstelle ein, sondern auch Kais Faust in sich. Was auf Anhieb geklappt hatte, wie mir Kai später aufgeregt berichtete. Er hatte ja so etwas nicht gekannt und war mit den Berliner Interna nicht sehr vertraut. Kai wurde Zeuge im Endkampf des Motzstraßenkrieges, wo es nach einem Abspülstreik und Hausarbeitsverweigerung aussah wie im Libanon zu seinen besten Bürgerkriegszeiten. Wir erwarteten stündlich den Einmarsch einer Rattenarmee. Die Fliegenpartisanen waren schon da. Ich stellte ein Ultimatum. Kai war der Notar. Die andere Partei zog sich zurück. Roland zog ein. Roland, der Exkommunist, hatte sich auf der Karriereleiter allzusehr als Frosch gefühlt, der Schmeißfliegen unterrichten mußte, ihr Lieblingsmenü marktgerecht anzupreisen. Sein Chef legte ihm nahe, die Leiter zu verlassen, und Roland akzeptierte. Er wollte Berliner Boden unter den Füßen haben. Er zog nach Berlin. »Besser arbeitslos in Berlin als lustlos in Stuttgart«, meinte er einmal. War er in Mannheim noch ein gekaderter Volksschüler gewesen, dem schwule Manieren beizubringen ich geschafft hatte, so entwickelte er sich im Laufe unserer Bekanntschaft zu einem gelehrigen Gymnasiasten, der das schwule Abitur hervorragend bestanden hatte. In Stuttgart hatte er es selbst zu Lehrermeriten gebracht und einige Schüler im schwulen Fach unterrichtet. Unser ehemaliges Lehrer-Schüler-Verhältnis war jetzt ein kollegiales geworden, und wir beschlossen, ein Lehrerkollegium zu gründen. Zwar erteilten wir unseren Unterricht noch in getrennten Klassenzimmern. Er in Kreuzberg, ich 197
in Schöneberg. Aber wir hatten im Winterhalbjahr 1986/87 schon die Absicht, unsere Klassenzimmer zusammenzulegen und eine gemeinsame Schule zu gründen. Ich wollte mich dann um die älteren, er um die jüngeren Schüler kümmern. Und genügend Räume waren ja vorhanden in den Klasse-Zimmern in der Motzstraße. Im Mai 1987 war es dann soweit. Der Umzug sollte stattfinden. »Der Hund bleibt dir im Sturme treu ...« Es soll sogar Menschen geben, die einem im Sturme treu bleiben. Aber nicht bei einem Umzug. »Man kann sich auf niemand verlassen«, haderte Roland, auf einer Umzugskiste sitzend, mit dem Schicksal. Außer mir und Gerhard Weiner, einem Menschen, der sich ansonsten erfolgreich vor Arbeit drückte, war niemand in Rolands Kreuzberger Wohnung erschienen. Es war ja auch Sonntag, elf Uhr morgens. Und die Berliner Nächte sind lang. Die meisten der Leute, die am Abend zuvor hoch und heilig versprochen hatten, beim Umzug mitzuhelfen, griffen wahrscheinlich gerade zur Aspirinschachtel oder an den Schwanz neben sich. Sie blieben sich treu in Sünde. Um 15 Uhr hatte ich Dienst. Roland wollte das Ganze schon abblasen. Der edle Ritter in mir erwachte. Jetzt galt es, dem Freunde im Sturme beizustehen. Um 14.45 Uhr war das Unmögliche geschafft. Zu dritt hatten wir eine komplette Wohnungseinrichtung vom dritten Stock eines Kreuzberger Hauses in den vierten Stock eines Schöneberger Hauses geschafft. »Woher hat der Hans nur seine Energie?« fragte sich Gerhard laut, als er das Stehlämpchen in der Motzstraße abstellte. 198
Ich fragte mich das auch oft. Denn ich war von Natur aus bequem. Die Bequemlichkeit hatte ich wohl von meinem Vater, der lieber andere für sich arbeiten ließ und für den es schon eine Anstrengung bedeutete, der Tante Nutt etwas von dem Lohn, den sie sich mühsam zusammenanimiert hatte, für Spesen zurückzugeben. Höchstens bei Gefahr im Verzuge, wenn es zum Beispiel darum ging, seine Zuhälterkameraden zu schützen und für sie vor Gericht falsch auszusagen, wurde aus dieser bequemen Masse ein Energiebündel, das Berge versetzen konnte. Er hatte dann eine Kraft, die man seinem kleinen Körper, er war 1,70 Meter groß, gar nicht zugetraut hätte. Er hatte mich nach meiner Geburt, nachdem meine Mutter wegen einer Brustdrüsenentzündung noch im Krankenhaus zu bleiben hatte, mit nach Hause genommen, mich gewindelt und gefüttert. Später erzählte er mir, daß er mich, wenn ich schrie, auf seine Brust gelegt hatte, wo ich mit kleinen Fingern seine Haare kraulte und einschlief. Ich hatte das Gefühl, mich erinnern zu können. Freunde, »auf die Mann sich verlassen« könne, seien das Wichtigste auf der Welt, erläuterte er mir manchmal sein Zuhälterethos. Man müsse ihnen die Treue halten, auch wenn man die ganze Welt betrügen müsse. Für Freunde dürfe man lügen und stehlen. Aber untereinander sollte man zusammenhalten und die Wahrheit sagen. Als Kind hatte ich diese Nibelungenideologie völlig verinnerlicht und träumte davon, später auch mal einen Freund zu haben, für den ich in die Bresche spränge, wenn er bedroht wäre. Ich kam mir dann immer als großer Held vor, dem nach geschlagener Schlacht der Lorbeerkranz aufs Haupt gesetzt wird. Aber nur bei Gefahr wollte ich in den Krieg ziehen. Nach gewonnener Schlacht sollte Friede, Harmonie und 199
Ordnung herrschen. Jeder der Helden hätte eine Königin zur Seite. Aber die Bindung zwischen den Helden sollte stärker sein als die Bindung zu den jeweiligen Königinnen. Sie würden sich beratschlagen, wie sie die zankenden Weiber zufriedenstellen könnten, und hätten ein tiefes Verständnis füreinander, das keiner Worte bedürfte. Und der ganze Hofstaat lebte in Eintracht und feierte rauschende Feste. Bis daß der Tod sie scheide. Und wenn sie noch nicht gestorben sind – dann haben sie nicht mehr lange zu leben.
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E
s war der 27. September 1988. Seit 1.15 Uhr bin ich positiv. Nein, positiv bin ich wahrscheinlich schon länger. Aber erfahren hatte ich es eine halbe Stunde zuvor. In »Tom's Bar« kam mein Hausarzt auf mich zu und bat mich, doch mal wieder in seine Sprechstunde zu kommen. Mir war sofort klar, was er meinte. Ich schaute ihn an und fragte: »Ich bin's?!« Das Ausrufezeichen in meinem Tonfall hatte das Fragezeichen so stark übertönt, daß der Arzt sich gezwungen sah zu antworten: »Ja.« Er schaute mich so mitleidig an wie der Dackel von Tante Sophie in meiner Kindheit. Ich mußte lachen. Ich tröstete den Arzt: »Ich habe es schon gewußt.« Ich nahm ihm die Angst, indem ich ihm sagte, er möge sich nichts daraus machen. Er war völlig verwirrt, der Arme. Gewußt hatte ich es natürlich nicht. Vorher. Aber geahnt. Und jetzt hatte ich die Gewißheit. Ich war, trotz der Biere, die ich schon getrunken hatte, absolut klar. So klar wie damals, als ich den Unfall mit meinem Arm hatte. Und wie toll hatte ich gelernt, damit zu leben. Oder der Schock, als Alar weg war und ich ihn tot glaubte. Diese absolut klare Sicht, der klare Blick, der so klar ist, daß man glaubt, die Atome sehen zu können, die die Welt aufbauen. Ob das die Endorphine sind, die der Kopf dem Körper bei Schock, Streß und Faustfick spendet? Ich fühlte mich, als hätte ich gerade einen Orgasmus gehabt. Ich war völlig entspannt. Absolut angstfrei. Die Angst vor der Angst war weg. 201
Ich hatte immer nur Angst vor Ereignissen gehabt, die noch nicht eingetroffen waren. Der Verlust eines Freundes zum Beispiel. Eines Menschen, den man geliebt hat. Die Trennungsphase, die Phase, in der man sich löst, war die schwerste. So schwer, wie es ist, ein festgeklebtes Kaugummi von einer Tischplatte zu lösen. Hat man das Kaugummi dann in der Hand, so ist es ganz leicht. Die Angst vor der Trennung ist schlimmer als die Trennung selbst. Während der Trennung spielt man alle möglichen Situationen durch. Die Vorstellungen werden immer paranoider. Man glaubt, daß nach der Trennung, nach der Auflösung Katastrophen über einen hereinbrechen würden. Daß das Leben zu Ende sei. Daß man nicht mehr weiterleben könne. Tritt dann das Befürchtete ein, braucht man keine Angst mehr davor zu haben, denn es ist ja schon da. Wie der Igel im Märchen steht es da, zeigt seine Stacheln und lacht. Ich hatte als Kind mal einen Igel, den ich gestreichelt hatte. Ich streichelte die Stacheln in die richtige Richtung, so daß ich mich nicht verletzen konnte. Hätte ich den Igel verkehrt herum gestreichelt, hätte ich mich ins eigene Fleisch gestochen und es hätte weh getan. Als ich von Dietrich Ritter zum ersten Mal gefickt wurde, hatte es ja auch höllisch geschmerzt. Ich wollte ihn nicht reinlassen. Ich war verspannt. Ich wehrte mich innerlich gegen das, was da kommen mußte. Wie hatte Tante Nutt, die mal vergewaltigt worden war, noch gesagt? Ach ja: »Wenn man sich nicht mehr wehren kann, sollte man es genießen.« Damals, als Bertram mich zum ersten Mal fistete, hatte ich mir vorgenommen, es zu schaffen. Ich half mit, öffnete mich ganz, ließ ihn zu. Es klappte, und ich wurde mit vie-
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len Endorphinen belohnt, die mich des Glücks teilhaftig werden ließen. Und jetzt begann mein letzter, der ganz große Faustfick, und ich nahm mir vor, den ganzen Arm in mich aufzunehmen. Mich ganz zu öffnen, um des ganzen Glückes teilhaftig zu werden und nicht nur des fein dosierten, das in gewissen Abständen verabreicht wird. Jetzt wollte ich alles haben. Ich betrachtete die Welt um mich herum. Die Ledermänner tranken ihr Bier und glotzten Pornos. »Ich bin positiv«, wollte ich ihnen sagen. Und ich werde euch vorleben, wie man mit diesem Todesurteil umgehen kann. Ich werde euch zeigen, daß man mit hocherhobenem Haupt das Schafott betreten kann. Nach meinem letzten Wunsch gefragt, würde ich antworten: »Champagner.« Ich würde mir wie Marlene Dietrich vor der Erschießung die Lippen schminken und mich weigern, mir eine Augenbinde anlegen zu lassen. Ohne mit der Wimper zu zucken, würde ich dem Meister Tod in die Augen schauen. Ich würde ihm signalisieren, daß ich nicht gedächte, mich versklaven zu lassen. Daß ich der Meister sein wolle. Daß ich den Tod besser zu meistern verstünde, als die meisten andern ihr Leben zu meistern verstanden. Aber sie hätten nicht nachvollziehen können, was in mir vorging. Sie hätten mir auf die Schulter geklopft. Hätten mir ein Bier ausgegeben und gesagt, es würde schon werden. Ich fühlte mich ihnen haushoch überlegen. Und diese Überlegenheit erzeugte in mir eine große Gelassenheit. Ich hatte Verständnis für sie – denn das Leben mußte ja weitergehen. Meine Großmutter war an Gebärmutterkrebs erkrankt. Sie hatte lange Zeit unter großen Schmerzen im Rücken 203
gelitten und wurde wegen ihres »Ischias« behandelt, bis der Tumor die Größe eines der Siebenmonatskinder erreicht hatte, von denen sie immer so genüßlich gesprochen hatte. Sie mußte zur Operation ins Krankenhaus. Sie sagte, sie habe das Gefühl, daß sie nie mehr nach Hause zurückkäme. Ich war der einzige in der Familie, der sie ernst nahm. Alle anderen versuchten, sie zu beruhigen. »Das wird schon wieder werden«, versuchte die immerlustige Tante Ute zu trösten. »Die Medizin ist ja heute schon so weit, daß sie das in den Griff kriegen wird«, dozierte Tante Irene. Tante Inge schielte auf die Valoronflasche, die noch halbgefüllt auf dem Nachttisch stand. Und Tante Gisela schaute wie immer voller Unverständnis. Niemand bemerkte diesen existentiellen Satz, der aus der Seele meiner Großmutter geflossen war. Niemand nahm ihn ernst. Sie ging in die Küche, wo auf der Spüle noch das Mittagsgeschirr stand. Sie spülte es und sang dazu: »So nimm denn meine Hände.« Der Krankenwagen sollte bald kommen, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Aber sie mußte erst noch fertig werden – mit ihrer Küche. Vier Wochen später war sie tot. Und alle weinten hysterisch und überboten sich gegenseitig in ihrem Leid. Sie waren unfähig zum Mitleid gewesen. Das Leben ging weiter. Ich inszenierte meinen Abgang. Wann hatte ich von Aids zum ersten Mal gehört? Als es für Aids noch gar keinen Namen gab. In den Berichten im ›Spiegel‹ war 1982/83 von einer Schwulenseuche in Amerika die Rede gewesen. Amerika war weit weg, und ich war dort nie gewesen. Später bekam die Krankheit einen Namen, den ich wiederum im ›Spiegel‹ las. 204
In »Andreas Kneipe« bekam die Krankheit ein Gesicht. Es war Dieters Gesicht oder zumindest das, was von ihm noch übrig war. Er war stark abgemagert, und sein immer schon schlankes Gesicht war in Richtung Totenkopf eingefallen. Er saß an einem der Tische, die zur Straßenseite standen, und beobachtete das Kneipenleben. Sein Gesicht war ein Ge-Sicht im wahrsten Sinn des Wortes. Es bestand nur noch aus Augen. Er betrachtete sich die Tunten im Laden, als betrachte er das Leben. Es war ja auch sein Leben gewesen. Ich hatte mit ihm zwei Jahre vorher im Flur meiner Wohnung in der Wilhelmsaue gefickt. Frau Günther mußte lange klopfen, bis bei uns Ruhe eingekehrt war. Ich erinnerte mich an seinen großen Schwanz. Er wird eine schmerzliche Lücke hinterlassen, dachte das makabre Kind in mir. Aber wir hatten ja gefickt, bevor ich darüber im ›Spiegel‹ gelesen hatte. Das zweite Gesicht, das ich gehabt hatte, war Michael Breuer. Mit ihm hatte ich vor Jahren mal eine wunderschöne Nacht verbracht. Er hatte eine Katze und einen ausgeprägten Gesundheitssinn besessen. Ich hatte ihm nie verziehen, daß er mir Kaffeesüchtigem morgens zum Frühstück Karottensaft und Gesundheitstee servierte. Sein Gesicht war voller violetter Flecken. Und es war mumpsähnlich aufgequollen. Ein Gesicht, dessen feine Züge mir immer so gefallen hatten, sah nun aus wie aufgegangener Blaubeerkuchen. Ich überspielte mein Erschrecken durch Direktheit. Ich sprach ihn direkt auf seine Veränderung an; so wie es mir selbst immer lieber war, wenn die Leute mich direkt auf den Grund der Lähmung meines Armes angesprochen hatten, statt den Arm betont zu übersehen. Das Thema wurde 205
dann kurz abgehakt und störte nicht mehr weiter, so daß man in die vollen gehen konnte. Wir sprachen lange über den Umgang mit Krankheit und Tod. Wie die meisten die Existenz der Krankheit zu verdrängen suchten. Daß es ihnen lieber sei, die sichtbar Kranken in das Ghetto der Krankenhäuser abzuschieben, damit das Gesicht der Krankheit sie nicht beobachten könne. Das Leben sollte seinen gewohnten schwulen Gang gehen. Bloß nicht hinschauen auf die Flecken, die die Haut des schwulen Gesamtkörpers immer sichtbarer durchbrachen. Am besten die Flecken ignorieren. Sie überschminken. Bloß nicht auf die Flecken schauen. Bloß nicht dem Tod in die Augen schauen. Michael Breuer schaute dem Tod in die Pupillen. Er hatte keine Angst. Ich lud ihn zu einer unserer Parties ein. Es war Rolands Einstandsparty. Wir wollten die Party, die Stefan und ich anläßlich unseres Einzugs gegeben hatten, bei weitem übertreffen. Die Zahl der Gäste, die unsere Wohnung füllten, hätte an dem Abend jeden Schwulenbarbesitzer vor Neid erblassen lassen. Wir ließen uns von unseren Untertanen huldigen. Wir fühlten als die Könige von Berlin. Die Küche glich einem mit Sekt gefüllten Whirlpool, in der unzählige Badende eine Massenorgie feierten. Michael schaute den Badenden zu. Er beobachtete, wie Dieter damals in »Andreas Kneipe«, die Szenerie. Er lächelte von der Wolke herunter, auf der er bald zu sein glaubte. Er schwebte über den Dingen. Er war überlegt und überlegen. Vier Monate später war er tot. Wir Irdischen vergnügten uns derweil mit Sigrid. Sigrid war eine monströse Frau, die so dick war, daß im Ver206
gleich zu ihr die elefantöse Tante Ute wie eine Gazelle gewirkt hätte. Da sie tiefstinnerlich davon überzeugt war, ein Klasseund Rasseweib zu sein, hatte ich sie zur Belebung der Party eingeladen. Sie fühlte sich als Königin der Nacht und erzählte allen Leuten von den Affären, die sie nicht gehabt hatte. Sie habe einem englischen Lord, der sie habe heiraten wollen, den Laufpaß gegeben. Vermutlich war ihm das Leben im Schloß an der Ansbacher Straße, wo sie ihre Sozialhilfe verzehrte, zu üppig gewesen. Und so stand eine Elefantenkuh, die sich für Marlene Dietrich hielt und die Zigaretten inhalierte, als würde sie tagtäglich den Duft der großen, weiten Welt einatmen, in unserem Flur und war umringt von jungen, hübschen Pagen, die die Kuh zur Königin erkoren hatten, um desto besser ihre Prinzenrolle spielen zu können. Jeder der Beteiligten benutzte den anderen als Komparsen, der seiner eigenen Hauptrolle zum Schmuck dienen sollte. Was treibt unglückliche Frauen in die Gesellschaft von verunglückten Frauen, als die manche Schwule sich darzustellen versuchen? Warum begeben sich »Schwulenmuttis« unter die Fittiche ihrer Kinder? Warum versteckt sich die Glucke inmitten einer Kükenschar? Sucht sie dort Schutz vor dem Fuchs? Oder versucht sie, den Umgang mit Füchsen zu lernen, indem sie sich die Probleme, die ihre Küken mit kleinen Füchsen haben, in egoistischer Selbstlosigkeit anhört? Liegt es daran, daß sie beim Anhören der sexuellen Pickereien der Küken ihre ungelebte Sexualität zumindest second hand wieder mal aufwärmen kann? Ich fand nie eine Antwort darauf
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In der »Knolle« traf ich Reinhold. Ich machte ihm das Kompliment, daß er abgenommen habe, worauf er die Augen ein wenig weitete. Ich war erstaunt darüber, daß er sich über mein Kompliment nicht freute. Ich hatte ihn ein paar Jahre zuvor mal in der »Gay Bar« kennengelernt. In der »Gay Bar« konnte man rund um die Uhr der Fröhlichkeit und dem Alkohol frönen. Hier war man Säufer. Hier durfte man es sein. Hier liebte ich es, mein Feierabendbier zu trinken. Um sechs Uhr. Und zwar morgens, nach dem Nachtdienst. Hier wurde Fellini live gespielt. Hier wurde der Absturz zur Komödie. Und der Aufstieg zur Tragödie. Denn die Toiletten lagen im oberen Stockwerk, was einigen der Zecher im Laufe des Morgens Probleme bereitete. Bis acht Uhr war man in dem Lokal, das in einer Ladenpassage versteckt war, noch bemüht, sich hinter einer Fassade zu verstecken, die man ab acht Uhr fallen lassen konnte. Manchmal fielen auch die Hüllen, so daß der dunkelhäutige Hintermann den vor ihm stehenden Weißbierkellner durch den heruntergezogenen Reißverschluß, der praktischerweise in die rückwärtige Seite der Hose eingenäht war, ficken konnte, während dieser, leicht auf die Theke gestützt, sein Bier trank. Hier leckte der Bodybuilder, der Stunden zuvor im »Knast« den Hardcore-Sadisten gespielt hatte, dem Waschmaschinenverkäufer demütig die Stiefel. Hier kochte der Wirt selbst – vor Geilheit. Hier fickte der Wirt selbst – zwischen zwei Bestellungen. Auf der Toilette. Hier ließ sich die Bedienung bedienen – von den Gästen. Nacht wurde zum Tag, und Tag wurde zur Nacht. Aktiv wurde, nach dem zweiten Apfelkorn, zu passiv. Nachdem er ihm nur auf die Schulter gepißt hatte, mutierte Sado zu Maso. Mir war manches schon passiert. Aber so etwas 208
noch nicht. Hier suchten die Illusionen vor dem Tageslicht Schutz. Hier fanden die Selbstlügen Asyl. »Wenn du Reinhold suchst«, wurde mir gesagt, »findest du ihn im Klinikum.« Als wohlerzogenes Kind geht man natürlich zu Besuch, wenn jemand im Krankenhaus liegt. Als ich aus dem Bus steige, sehe ich einen riesigen weißen Tanker, der mit Krankheit und Tod gefüllt ist, vor Anker liegen. Ich werde seekrank. Ich gehe durch lange Gänge vom Heck bis zum Bug. Ich werde sehkrank. Die Isolierstation liegt Backbord. Ich klopfe an die Kabinentür. Auch sie ist isoliert. Virendicht. Ich scheine wasserdicht. Kein Tropfen läuft über mein Gesicht. Obwohl der Anblick zum Heulen ist. Wo ist Reinhold? Ich sehe nur ein Wesen, das Reinhold ein wenig ähnlich sieht. Es ist ganz dünn. Es hat ganz weiße Haut. Es sieht aus wie ein weißer Wurm mit violetten Flecken. Es ist ein armer Wurm. Es ist Reinhold. Es ist der Reinhold, der in Pornovideos der Star war. Der einen Schwanz hatte wie die Fleischwürste, von denen mir die Metzgersgattinnen in meiner Kindheit zur Belohnung für meinen versehrten Arm immer ein Stück abgeschnitten hatten. Es ist der Reinhold, der sich so gerne fisten ließ. Es ist der Reinhold, auf den ich mal gewichst hatte. Es ist Reinhold, der hier liegt. Und es ist der Tod, der mir hier entgegensieht. Er streckt mir die Hand entgegen. Ich fasse sie gerne an. Ich will ihm zeigen, daß ich keine Angst vor ihm habe. Daß ich mich nicht vor ihm ekle. Daß er für mich noch genauso schön ist wie damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Ich küsse ihn. Es ist mir egal, ob ich mich infiziere. Ich schaue ihm in die Augen. Wir erkennen uns. Ich erkenne 209
seine Nacktheit und lege auch meine Kleidung ab. Die Kleidung heißt Betroffenheit. Jene Verkleidung, hinter der sich Feigheit und Verlogenheit verbergen. Jenes verlogene Kostüm, das vorgibt, den armen Kranken schonen zu wollen, und das doch nur die Feigheit verbirgt, sich gegenseitig die Wahrheit einzugestehen. Angesichts des Todes ist Lüge eine Kardinalsünde. Eine Todsünde. »Ich weiß, daß du sterben mußt. Du weißt es. Laß uns was daraus machen!« war das einzige, was ich sagte. Wir erkannten unsere Nacktheit und schämten uns nicht unserer Tränen. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Sie dauerte zwei Wochen. So wie ich zusammen mit Alar lieben zu können gelernt hatte, lernte ich zusammen mit Reinhold sterben können. Ich drückte seine Hand, als der Kapitän mit der weißen Uniform die Injektionsnadel in seine Vene stach. Der Kapitän gab das Zeichen zum Loslegen. Es tropfte. Das Boot wurde zu Wasser gelassen. Wir stachen in See. Ich hielt das Steuer fest in der Hand. Reinhold ruderte mit seinen Händen. Es tropfte immer mehr. Ich sah Reinhold hinter einer Wasserwand verschwimmen. Ich wischte die Wasserwand mit zwei Fingern weg. Jetzt konnte ich ihn klarer sehen. Seine Augen strahlten. Also schien ihm die Reise zu gefallen. Er lag in dem weißen Schlauchboot, auf dessen Rand ich saß. Er hielt meine Hand fest. Wir glitten gemeinsam mit unserem Boot über eine leicht schwankende Wasseroberfläche. Die Sonne schien durch steinerne Wolken hindurch auf seinen Bauch, von dem die Zudecke abgeglitten war. Er ließ meine Hand los. Er streichelte seinen Bauch, als wollte er Sperma verreiben.
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Alle Anspannung war von ihm gewichen. Er war wunderschön in seiner Entspanntheit. »Er ist schon tot«, sagte Schwester Angelika, nachdem sie einen kurzen Blick auf Reinhold geworfen hatte. »Wir müssen jetzt die Formalitäten erledigen. Sind Sie mit ihm verwandt?« – »Nein, nur befreundet.« Das »nur« war kein Verwandtschaftsgrad. Ich ging in seine Wohnung. Ich nahm mir zwei Flaschen Poppers aus seinem Kühlschrank und den Tischstaubsauger von der Wand. Ich packte beide Gegenstände in eine Tasche und schloß die Wohnungstür. Am nächsten Tag kam seine Mutter als Verwandtschaft ersten Grades und regelte die Formalitäten. Ordnung muß sein. Ich brachte meine Gefühle in Ordnung. Ordnung ist das halbe Leben. Ich verabschiedete mich von ihm ordnungsgemäß. Ich schrieb ihm einen Abschiedsbrief: Tja Reinhold, jetzt biste also tot. Allzulang war Dein Sterben, und daß es zum Schluß so schnell gegangen ist, darüber waren wir beide doch ganz froh, gell. Larmoyant waren wir ja noch nie gewesen, und so waren die letzten gemeinsamen Tage doch eigentlich eine ganz schöne Zeit. Waren wir immer schon hoffnungslos makaber, so blieben wir makaber. Auch und gerade in der Hoffnungslosigkeit. Weißt Du noch, wie wir uns Dein Totenbett vorstellten? Du ganz in Leder, in einem Meer von weißen Chrysanthemen badend, den MSC Berlin zur letzten Vollversammlung ladend. Tut mit leid, daß daraus nichts geworden ist. Ich 211
bin ja nun mal nicht im MSC, und meine finanzielle Lage verbot mir, Dir mehr als eine Chrysantheme auf dem Weg in die Pathologie mitzugeben. Apropos Pathologie. Daß Du obduziert werden würdest, erfuhr ich auf dem Flur vor Deinem Sterbezimmer. Von einer barmherzigen Schwester. Als der Arzt Dir drinnen gerade den Morphiumtropf anlegte. Eine der wenigen Drogen, die Du noch nie genommen hast, war Morphium gewesen. Aber Du wolltest ja immer schon alles mal ausprobiert haben. Und so sah ich Dich beim letzten Mal, wie ich Dich beim ersten Mal in der Gay Bar kennengelernt habe. Im Rausch. Und Deine Augen leuchteten. Wie früher, in gewissen Situationen. Tags darauf gaben wir für Dich die versprochene Abschiedsparty. Mit viel Champagner. Pommery. Deiner Lieblingsmarke. In der Ecke stand ein kitschiges Totenlämpchen Wie Du damals in der Gay Bar. Leicht flackernd und doch ein 24-Stunden-Dauerbrenner. Die Reaktion der Gäste war, als wäre sie unserer marbiden Phantasie entsprungen. Die Nachricht Deines Todes löste die übliche in Selbsterfahrungsgruppen erworbene Betroffenheit aus. Als aber die Nachricht der Verhaftung des Haus- und Hofhaschischdealers die Runde machte, genierten sich die Schwestern gleich indischen Witwen, die ihrem Geliebten ins Nirwana nachzufolgen trachten. Du hättest es genauso komisch gefunden wie ich. Nimm es also nicht so krumm, wie ich es tue, wenn die Zahl der Besucher auf der Isolierstation so groß war wie die Zahl der offen Schwulen in Gelnhausen, von wo aus Du vor zehn Jahren nach Berlin emigriert bist. Es ist ja auch nicht leicht, einen Mann wiederzusehen, dessen Körper man im Toms oder im Knast mit gierigen Blicken ver212
schlungen hat und der nun einem Biafrakind gleicht. Der immer schon beachtliche Schwanz jetzt dicker als die Oberschenkel. Was, außer den Obduktionsresten, wird von Dir übrigbleiben? Machen wir uns nichts vor. Die Scham Deiner Eltern über Deine Todesursache, zumindest solange noch die Nachbarn leben. Ein paar Anekdoten von Dir und über Dich. Zumindest solange die Gehirne, die sie gespeichert haben, noch reproduktionsfähig sind. Eine gewisse Zeit die beiden Flaschen Poppers. Danke übrigens für den Gag mit dem Aufkleber: »Denk an mich beim Schnüffeln.« Ich werde es tun. Bestimmt der Tischstaubsauger, den Du mir als Dein skurrilstes Haushaltsgeschenk vermacht hast. Einer Deiner Wünsche wird wohl an der Friedhofsverwaltung scheitern. Denn diese Grabinschrift hätte Dich gewiß lange überdauert. Hier ruht Reinhold. Viele Fäuste und kein Hallelujah. Bis demnächst, Dein Hans »Wie hatte doch Heinrich Heine geschrieben?« dachte ich mir, als ich den Brief dem Posthalter an der Wand anvertraute: »Man schreibt nicht so ausführlich, wenn man den Abschied gibt.« Also war es eher ein Liebesbrief gewesen. Ich hatte vorher noch nie jemandem brieflich eine Liebeserklärung gemacht. »So kann man mit Tod nicht umgehen«, sagte mir der Redakteur einer Schwulenzeitschrift am Telefon, als er mir mitteilte, daß das eingeschickte Manuskript nicht abgedruckt werde.
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Ich hatte den Brief an Reinhold als Nachruf auf ihn an die Redaktion geschickt. Außerdem sei Reinhold ja keine wichtige Persönlichkeit gewesen, und es würden nur Nachrufe auf schwulenpolitisch wichtige Persönlichkeiten oder Funktionäre abgedruckt. Er hatte recht. Für den Redakteur hatte Reinhold wirklich keine wichtige Funktion ausgeübt. Reinhold hatte ja Geschmack gehabt. Ich hatte mich bei Reinhold infiziert. Mit einem Virus, das die Angst vor dem Tod reduziert und die Wut aufbaut. Die Wut auf Schwulenmütter zum Beispiel. Reinholds gute Mutter hatte sich geweigert, ihren Sohn im Krankenhaus zu besuchen. Sie habe Angst, sich anzustecken, hatte sie mir am Telefon erklärt. Als Reinhold Freitag mittag um 14.45 Uhr »heimgegangen« war, ein Ausdruck, der bei einer solchen Mutter mit Sicherheit bedeutete, daß es eine Hölle gibt, wurde sie vom Stationsarzt benachrichtigt. Am Tag darauf ging sie in Reinholds Wohnung, um mit seinem Leben aufzuräumen. Sonntags war die Wohnung besen- und Reinhold stubenrein. Er sei »plötzlich und unerwartet« gestorben, stand dann in der Gelnhausener Zeitung, in der die Eltern »in tiefer Trauer« über den »schmerzlichen Verlust unseres innigst geliebten Sohnes« inseriert hatten. Den Nachbarn hatten sie erzählt, er sei einem Herzinfarkt erlegen. Reinhold war verscharrt worden. So sollte es mir nicht ergehen. Ich nahm mir ein DINA4-Blatt und schrieb mir auf, was man in solch unsicheren Zeiten für Vorkehrungen treffen muß, wollte man nicht wie Reinhold enden. Ich schrieb die Maßregeln auf, die im Falle eines positiven Testergebnisses anzuwenden wären: 1. Testament aufsetzen, um die Verwandtschaft zu enterben. 2. Beamter werden, um finanzielle Sicherheit im Krankheitsfalle zu haben. 3. Heiraten, und zwar eine 214
Lesbe, der ich dann den Genuß meiner Witwenrente zugedächte, um die Hohlheit der staatlichen Ehenorm deutlich zu machen. Das Testament schrieb ich sofort. Die zweite Maßregel nahm ich in Angriff, und die dritte verschob ich auf den Fall des Falles. Die Postler sind ein Volk für sich. Es gibt nicht nur Postämter und Postbeamte, es gibt auch Postsportvereine, Postbeamtenkrankenkassen, Postgesangsvereine und Posten. Und zwar Dienstposten, wie die korrekte Bezeichnung dafür ist. Und Korrektheit ist ja das halbe Leben. Als ich während meines Studiums bei der Post anfing, merkte ich schnell, daß ich dort nicht etwa arbeitete. Nein, ich besetzte einen Arbeitsposten. Die Frau, die neben mir saß, suchte zwar auch nur Rufnummern heraus, korrekt gesagt, sie erteilte Auskünfte, aber sie war eine Dienstposteninhaberin, denn sie war verbeamtet. Sie arbeitete zwar nicht mehr als ich, eher weniger, aber sie wurde als Hoheitsträgerin besser bezahlt. Im öffentlichen Dienst wird die Absurdität, die jedem System innewohnt, auf die Spitze getrieben. Als ich nach Berlin zog, hatte ich vor, nur vorübergehend bei der Post zu bleiben. Mein ungeliebtes Studium sollte sich ja irgendwie auszahlen. Ich hatte meine Vordiplomprüfung bestanden, die mündliche Hauptdiplomprüfung abgelegt. Es fehlte noch die Diplomarbeit. Mein Faible für exotische und entlegene Dinge hatten mich im Hauptstudium die Graphometrie als Studienschwerpunktfach aussuchen lassen. Graphometrie ist nicht zu verwechseln mit der Graphologie, der Schwester der Astrologie. Graphometrie befaßt sich mit der Handschrift und ihrer von äußeren Bedingun215
gen bewirkten Veränderung. Im Studium wurden wir darüber aufgeklärt, daß die graphometrische Methode im Gegensatz zu der graphologischen eine wissenschaftliche sei. Diese Wissenschaftlichkeit lernte ich aus erster Hand kennen. Forschungsaufträge werden an Professoren vergeben, die dafür Geld bekommen und sich einen Namen verschaffen. Das Geld behalten die Professoren und geben den Auftrag an ihren jeweiligen Assistenten, der dafür einen Karrierebonus erhält. Diesen Bonus behält er und gibt den Auftrag an die Studenten weiter, die die Arbeit damit haben, aber sich zumindest eine gute Zensur bei der Diplomarbeit ausrechnen können. Unser Forschungsauftrag befaßte sich mit dem Einfluß von Alkohol auf die Schrift und wurde an mehrere Studenten vergeben. Der Auftrag. Und auch der Alkohol. 120 Versuchspersonen, gleichmäßig verteilt nach Alter, Geschlecht und Beruf, waren gehalten, jeweils Unterschriften im Sitzen, im Stehen, auf harter oder weicher Unterlage, auf horizontaler oder vertikaler Schreibfläche, mit und ohne Alkoholeinfluß zu leisten. Den für den Forschungsauftrag zur Verfügung gestellten Sekt hatten wir selbst ausgetrunken, so daß die Versuchspersonen Orangensaft, in den wir reinen Alkohol gegossen hatten, serviert bekamen. Streng wissenschaftlich hatten wir natürlich die Alkoholmenge dem Körpergewicht der Versuchspersonen angepaßt. Weniger streng wissenschaftlich hatten wir das Gesöff als »Gin Fizz« deklariert. Die Versuchspersonen tranken im Dienste der Wissenschaft und murrten nicht. Erste streng wissenschaftliche Analysen ergaben, daß sich die Handschrift des Menschen unter Alkoholeinfluß 216
verändert. Die naturwissenschaftliche Methodik hatte herausgefunden, daß die Schrift eines stockbesoffenen Menschen, der stehend beziehungsweise schwankend an der Wand schreibt, nicht mehr so feinstrichig ist wie die Schrift eines nüchternen, konzentriert an einem Schreibtisch sitzenden Menschen. Wir waren über diese Jahrhunderterkenntnis erschüttert. Das Licht der freien Forschung und Lehre leuchtete in uns. Und so gab es einen Folgeauftrag, der dem Professor erteilt wurde mit der Bitte, die Untersuchung auf noch subtileren Gebieten voranzutreiben. Der Professor hörte den Ruf sichtlich erfreut und leitete den Auftrag an den Assistenten weiter. Dieser sah in dem Auftrag die ideale Möglichkeit, uns Themen für die Diplomarbeit anzubieten. Bei einer Diplomarbeit mußten die Studenten unentgeltlich forschen, während sie vorher mit einer Hiwi-Stelle abgefunden worden waren. Mein Thema war: »Die Veränderungen der Unterlängenschleifenbreiten unter Alkoholeinfluß.« Ich spezialisierte mich auf die Unterlängenschleifenbreite des Buchstaben »g«. Man unterscheidet in der Graphometrie drei verschiedene Schreiblängen: Unter-, Mittel- und Oberlänge. Manche Buchstaben erstrecken sich nur über eine Länge wie zum Beispiel »a«. Manche über zwei Längen wie zum Beispiel die Buchstaben »b« und »g«. »b« besteht aus einer Mittel- und einer Oberlänge, »g« aus einer Mittelund Unterlänge. Und beim »g« werden handschriftlich die Unterlängen oft schleifenförmig geschrieben. Um diese Schleife ging es bei meiner Arbeit, die einen so eminent wichtigen Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft geleistet hätte. Es galt, die Breite der Fläche, die der Schreiber beim Schreiben einer Unterlängenschleifenbreite erst mit einem 217
Abstrich und dann mit einem Aufstrich umschließt, auszumessen. Und zwar mit einer Meßlupe. Die Zehntelmillimeterangaben wurden dann in eine Meßliste eingetragen, um dort ihrer Varianzanalyse zu harren, die die Veränderung der Schleifenbreite streng wissenschaftlich an den Tag gebracht hätte. Ich hätte zwar schon vor der Varianzanalyse schwören können, daß ein stockbesoffener Maurermeister, der ein »g« an die Wand schreibt, mit seinen fahrigen Bewegungen eine größere Schleife macht, Pardon, Unterlängenschleifenbreite hat als ein feinsinniger, nüchterner Pianist, der an einem Sekretär sitzt. Aber dieser Schwur wäre keine streng wissenschaftliche Aussage gewesen. Und so hatte ich schon zwei Monate mit Unterlängenschleifen zugebracht, als ich nach Berlin zog. Ich widmete mich dort zwar auch den Unterlängen, aber anderen. Und bei diesen maß ich eher die Unterlängenlänge. Als ich meine Diplomarbeit nach zweimaliger Verlängerung der Abgabefrist nicht fertig hatte, wurde ich exmatrikuliert. Als Strafe dafür, daß ich die Alma Mater und ihre Unterlängenschleifenbreiten mit anderen Unterlängen betrogen hatte. Was blieb mir anderes übrig, als bei der Post zu bleiben, die mir immerhin ein geregeltes ungeregeltes Leben ermöglichte. Und war ich nicht hier in der Auskunft in meinem eigentlichen Metier tätig? Ich übte ja auch eine beratende Tätigkeit aus. Die Leute riefen mit einem Problem an, und ich konnte ihr Problem lösen. Und zwar mit hundertprozentigem Beratungserfolg. Was ja bei einer psychologischen Tätigkeit fast nie der Fall ist. Entweder gab es unter den vom Teilnehmer gemachten Angaben einen Eintrag, und man konnte die Auskunft erteilen, oder 218
es gab keinen Eintrag. Dann tat es einem außerordentlich leid. Die Dienststelle Fernsprechauskunft war ein Mikrokosmos für sich. Ganz vorne thronten die Aufsichten und schauten auf ihre Untertanen herab. In regelmäßigen Abständen durchschritten sie ihr Reich und überwachten die Einhaltung der Gesetze, die da lauteten: erstens die Platznummer ansagen und zweitens die Pausen auf die Minute genau einhalten. Das Gesetz des Mitdenkens war nirgendwo aufgeschrieben. Und so wurden meine anfänglichen Vorschläge, die die Arbeitsorganisation verbessert hätten, als unruhestiftend angesehen. Man habe schließlich schon immer so gearbeitet. Und außerdem: Wo komme man denn hin, wenn jeder Mitarbeiter auch ein Mitdenker sei. Das Denken sei den Aufsichten vorbehalten. Dazu seien sie ja da. Der Psychologe in mir unterwarf sich der Fernmeldeobersekretärin vor mir. Denn sonst hätte diese sich gezwungen gesehen, eine Meldung zu machen. Diese Meldungen wurden auf kleine Zettel geschrieben und dem Abteilungsleiter zum Sammeln gegeben. Hatte sich eine genügend große Anzahl von Meldungen angesammelt, wurde der betreffende Mitarbeiter wie ein Schuljunge zum Rapport gerufen. Sodann wurde dem Mitarbeiter die Liste der ungeheuren Verbrechen, die er der deutschen Bundespost angetan hatte, vorgelesen, und er hatte dazu Stellung zu nehmen. In meiner Anfangszeit hatte ich mal ein solches Verbrechen begangen. Ich hatte am Platz gegessen, und zwar eine Brezel. Es war ein Fehler, wie ich gleich einsah. Denn damit hatte ich Frau Hühnerfuß Gelegenheit gegeben, Macht über mich auszuüben.
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Frau Hühnerfuß hatte mir nie verzeihen können, daß ich während der Pausen den ›Mannheimer Morgen‹ statt der ›BZ‹ las. Da es in Berlin für mich keine lesenswerten Zeitungen gab, hatte ich mir den ›Mannheimer Morgen‹ nachschicken lassen. Auch die Tatsache, daß ich den ›Spiegel‹ und Camus las, machte mich in ihren Augen gleich verdächtig, einen Terroranschlag an dem hehrsten Gut der Postler verüben zu wollen, der Uniformität. Sie beobachtete mich fortan auf Schritt und Tritt. Sie wollte mir einen Fehler nachweisen. Ich hingegen war zu ihr immer äußerst freundlich und korrekt. Meine niedersächsische Kollegin aus Lüchow, die in einem Krämerladen groß geworden war, ohne sich eine Krämerseele erworben zu haben, hat mir die drei Formen des Lächelns gegenüber Kunden erläutert: Das herzliche Lächeln signalisiert Sympathie, das äußerst freundliche Lächeln Verachtung. Das Leck-mich-am-Arsch-Lächeln bringt man nur Intimfeinden entgegen. Der Mund bleibt bei all diesen Formen des Lächelns der gleiche. Für die Unterschiede sind die Augen verantwortlich zu machen, die Wärme, Kühle oder Kälte ausstrahlen. So lächelte ich also äußerst freundlich, als mich Frau Hühnerfuß belehrte, daß Essen am Platz gegen die Vorschrift sei und sie einen Termin bei Herrn Müller, dem Abteilungsleiter anberaumt habe. Er fragte mich – ganz Patriarch –, was mich denn dazu getrieben habe, am Platz zu essen. »Ich hatte Hunger« war meine ebenso einfache wie vorschriftswidrige Erklärung. Ich erhielt »für diesmal« nur einen Verweis. Als ich wieder in den Saal zurückkam, triumphierte Frau Hühnerfuß. Ich lächelte sie kalt an und nahm mir vor, fortan keinen Fehler mehr zu machen.
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Die Dienststelle Fernsprechauskunft glich einer Krankenabteilung, in der die Patienten die verschiedensten Symptome jener unheilbaren Krankheit zeigten, die die menschliche Dummheit nun einmal ist. Hier wurde stundenlang über den Skandal diskutiert, daß ein Mitarbeiter sich eine Minute zu lange auf der Toilette aufgehalten habe. Oder daß Frau Windeck heimlich trinke. Oder Frau Koch heimlich ein Verhältnis mit Herrn Müller habe. Ich hatte in meiner schwulen Lebensschule gelernt, daß es unmöglich ist, ein Geheimnis zu bewahren, wenn man es irgendeinem erzählt hat. Das Geheimnis wird unter dem Siegel der Verschwiegenheit sofort weitererzählt, bis die ganze Gemeinde es weiß. Nur derjenige, der das Geheimnis erzählt hat, weiß nicht, daß die anderen es wissen, und steht als der Belämmerte und allseits Belächelte allein auf weiter Flur. Wissen ist Macht. Also erzählte ich gleich nach meiner Einstellung, daß ich schwul sei. Und zwar laut und so selbstverständlich, daß niemand es wagen konnte, etwas dagegen zu sagen. Nur der Kollege Kurt Schneider, der immer von seiner Freundin erzählte und sich von ihr oft anrufen ließ, stellte fortan den gesellschaftlichen Kontakt zu mir ein. Ich konnte mir denken, warum. Mit seinen dauergewellten Haaren und seiner engen weißen Hose sah er aus wie die letzte »WuWu-Bar«-Trine. Drei Wochen lang gab es in den Pausenräumen kein anderes Thema als mein Schwulsein. Dann gewöhnte man sich daran und fand es mit der Zeit sogar so gut, daß die Frauen manchmal zu mir kamen und mich um Rat bei ihren sexuellen Eheproblemen fragten. Denn ich sei ja Psychologe und würde mich außerdem mit Männern auskennen.
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Als dagegen Kurt Schneiders Homosexualität an den Tag kam, wurde er so lange verfolgt, bis die gehetzte Hirschkuh aufgab und selbst kündigte. Das Volk will zwar belogen sein, aber es nimmt Lügen, die herauskommen, äußerst übel. Und als sich meine Verfolgerin Frau Hühnerfuß mit den anderen Aufsichten verkracht hatte und in eine andere Dienststelle versetzt wurde, freundeten sich die anderen Aufsichten mit mir an, und es begann eine paradiesische Zeit. Ich erkannte ihre Dummheit und schämte mich nicht, ihnen Komplimente für ihre Frisuren oder ihr gerade neu bei Bilka erworbenes Kleid zu machen. Ich genoß die paradiesische Ruhe, die mich umgab, und konnte zusehen, wie sie ihre Energien auf andere Opfer lenkten. Da ich Exstudent und beliebt war und sehr gute Arbeitsergebnisse vorweisen konnte, wurde ich hochgerufen in den Postolymp, wo man mir nahelegte, doch Beamter zu werden. Beamter zu werden, das wäre Hochverrat an meiner progressiven Ideologie gewesen, die ich seit 1970 immer noch im Inneren mit mir herumschleppte. Aber die herrschende Klasse korrumpierte mich, indem sie mir darlegte, wieviel mehr Geld für die gleiche Tätigkeit in meine Kasse fließen würde. Es begann eine Zeit des langen Leidens. Der Beamtenlehrgang. Sechs Monate lang wurde ich von Leuten unterrichtet, denen ich ab und zu die Grundsätze des Verfassungsrechts beibringen mußte. Ich lernte während der langen Stunden des Unterrichts, mit offenen Augen zu schlafen. Ich träumte von den Unterrichtsbeamten und stellte mir vor, wie sie mit Hundehalsband von einer Domina gefoltert würden. Auch hier kam mir die göttliche Gnade zupaß, unwichtige Dinge wunderbar auswendig lernen zu können. Ich bin heute noch meinem ersten Deutschlehrer 222
dankbar, der uns in der Sexta gezwungen hatte, endlose Gedichte auswendig zu lernen, nur damit er in Ruhe Zeitung lesen konnte. Bei der Beamtenprüfung mußte ich den Prüfer nur einmal korrigieren, als er Schwierigkeiten mit der Unterscheidung von Exekutive und Legislative hatte. Nach Reinholds Tod bewarb ich mich um eine Stelle. Korrekt gesagt, wie man es ab jetzt von mir erwartete, stellte ich vorschriftsmäßig das Gesuch, auf einem Dienstposten eingesetzt zu werden. Das Gesuch wurde angenommen, so daß ich ab 1. Februar 1988 kein Gehalt mehr bekam, sondern Bezüge. Und zwar nicht mehr am Fünfzehnten des Monats, sondern im voraus am Ersten. Ich war noch Beamter auf Widerruf Ich nahm mir vor, ein korrekter Beamter zu sein. Auf Lebenszeit. Oder zumindest so lange, bis ich Beamter auf Lebenszeit würde.
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eute ist der 18. Januar 1991. Ich bin heute ins Krankenhaus eingewiesen worden. Unwohl gefühlt habe ich mich bereits seit dem 18. November des letzten Jahres, als ich in der Talk-Show des Berliner Schwulen-Zentrums, SchwuZ, auf dem Podium saß und über mich und mein Leben berichtete. Es war zwar ein ganz guter Auftritt, und ich konnte dem Publikum Vergnügen bereiten. Aber ich konnte nur kurze Stories und Ausschnitte darstellen. Damals begann meine Stimme bereits heiser zu werden. Ich führte es noch auf meinen Nikotinabusus zurück. Meine Stimme wurde immer heiserer, und am Heiligen Abend 1990, ich saß in der Aids-Hilfe, bemerkte ich plötzlich, daß ich nicht mehr sprechen konnte. Ich war stumm geworden. Die Sprache aber hatte ich behalten. Und so begann ich am Computer zu schreiben, um mich meiner Umwelt verständlich zu machen. Vielleicht schaffte ich schriftlich, was ich mündlich bisher nicht geschafft hatte. Ich fühlte mich nicht verstanden. Lag es daran, daß ich nicht reden konnte, oder lag es daran, daß die anderen taub waren? Ich hatte immer geglaubt, ganz einfach zu reden. Redete ich zu kompliziert, oder waren die anderen zu dumm? Ich war meiner Meinung nach immer offen gewesen. Hatte immer mit sichtbaren Waffen für ein Ziel gekämpft, das ich auch für das Ziel der anderen hielt. Unterlag ich einer Selbsttäuschung, oder wollten die anderen mich böswillig in die falsche Schublade stecken?
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Was war meine Rolle im Leben gewesen? Die des ›Guten Menschen von Sezuan‹, dessen Güte ausgenutzt wird und der sich deshalb sein böses Alter ego erfindet? Die der Claire Zachanassian, die die Wunden, die man ihr zugefügt hat, mit kühler Berechnung zu heilen sucht? Mein physischer und psychischer Verfall ließ mich an die ›Physiker‹ von Dürrenmatt denken. Ein Stück, das in einem Tollhaus spielt, wo man nicht weiß, wer die wirklich Irren sind. Die Patienten oder die Psychiater. Welche Rolle spielte ich in diesem Stück? Ich stellte diese Fragen dem Computer, der für die nächsten drei Wochen zu meinem besten Freund werden sollte. Ich diskutierte mit ihm, erklärte ihm, analysierte mit ihm. Er hörte geduldig zu. Er ließ mich einfach tippen. Ohne Widerworte. Ich schrieb ohne Unterlaß. »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht« war die gereimte Reaktion meiner Eltern gewesen, als die Nachbarn gepetzt hatten. Ich hatte den Nachbarn mit drei Jahren erzählt, daß ich eigentlich gar nicht der Sohn meiner Eltern sei. Diese hätten mich nur zur Pflege aufgenommen, bis mich meine wahren Eltern, die königlichen Geblüts seien, wieder zu sich nähmen. Die Nachbarn hatten diese Geschichte, die sie für köstlich hielten und die für mich der reinen Wahrheit entsprach, sofort brühwarm weitererzählt. Meine Untertanen, die sich für meine Eltern hielten, reagierten darauf sehr vorwurfsvoll. Man dürfe nicht lügen, was sollten denn die Nachbarn davon halten und überhaupt. Ich schaute sie mit meinen großen, braunen Augen an und verstand nicht, daß sie mich nicht verstehen konnten. Ich hatte ihre Lügen nach außen immer gedeckt. Ich hatte
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immer so getan, als wären sie meine Eltern, obwohl ich doch wußte, daß ich insgeheim ein Prinz war. Und jetzt hatte ich den Fehler begangen und den Nachbarn die reine Wahrheit erzählt. Und sie schalten mich dafür und erklärten die Wahrheit zur Lüge. Sie hätten mich doch besser kennen müssen. Sie hätten mich doch erkennen können. Ich entzog ihnen mein prinzliches Vertrauen. Die Woche, nachdem ich mein Testergebnis erfahren hatte, nutzte ich zu vielerlei Aktivität. Ich ordnete mein Leben. Ich setzte mich an den Schreibtisch und zog Bilanz. Hatte es ein Leben vor dem Tod gegeben? Ich machte eine Liste, auf der ich alles Positive und Negative, was mir in Erinnerung geblieben war, aufschrieb. Ich zog meinen ›Tripperkalender‹ als Tagebuchersatz zu Rate und notierte alle Aktiva und Passiva. Ich addierte, subtrahierte, gewichtete. Ich betrachtete das Ergebnis. Es war insgesamt zufriedenstellend. Insgeheim dachte ich, daß es sogar relativ gut war. In der Pflicht hatte ich also ganz gut abgeschnitten. Jetzt sollte die Kür kommen. Jetzt wollte ich noch zeigen, was wirklich in mir steckt. Ich hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen, mit der ich Roland bedenken wollte. Ich fragte ihn, ob er bereit sei, die monatlichen Raten dafür zur Hälfte zu tragen. Er reagierte mit der Bemerkung, daß das Ganze ja noch so lange hin sei, daß er sich darüber im Moment keine Gedanken machen könne. Ich notierte am 29. September 1988 in meinem Kalender ein großes »R« und dahinter einen Pfeil, der nach unten zeigte.
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Die beiden Fürsten saßen beim Bankett. So wie sie es schon seit Jahren gewohnt waren. Der eine Fürst vertraute dem anderen Fürsten gerade an, daß eine Seherin ihm den nahen Tod vorausgesagt habe. Daß er, der Mitregierende, die Bürde und die Last der Regentschaft bald alleine zu tragen habe. Der andere Fürst lachte. Er glaube nicht an Seherinnen. Der Hofnarr Nora lachte mit. Er stichelte sogar noch, daß der Fürst seine Ängste übertreibe. Daß er nicht glaube, daß es dem Fürsten ernst sei mit der baldigen Abdankung. Der Fürst nahm übel, daß man wagte, sich über ein solch ernstes Thema lustig zu machen. Er schwor Rache. Der Brunnen war vergiftet. Die Fürsten bezichtigten den jeweils anderen, an der Brunnenvergiftung schuld zu sein. Man verkehrte nur noch mit schriftlichen Edikten und Boten im Palast. Der Hofnarr stichelte. Der falsch verstandene Fürst ließ den Narren sagen, was er wollte. Er war aber ungehalten, daß der andere Fürst dem Narren Glauben schenkte. Er entzog sein fürstliches Wort. Er schaute nur voller Verachtung auf einen Fürsten, der sich mit Narren umgab. Ob dieser Verachtung wuchs in dem anderen Fürsten eine große Wut. Er schlug wild um sich, ohne den schweigenden Fürsten treffen zu können. Das steigerte seine Wut immer mehr, bis er diese Wut gegen sich selbst richten mußte. Er wolle den Palast verlassen, schrieb er. Der schweigende Fürst nahm das Schreiben zur Kenntnis. Hatte er doch inzwischen schon einem edlen Ritter, der ins Reich ziehen wollte, die Mitregentschaft versprochen. Es begann ein Bürgerkrieg, in dem die Parteien der Fürsten einander bekämpften. Der todkranke Fürst schaute schweigend zu.
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Daß Wohngemeinschaften wegen nicht richtig ausgedrückter Zahnpastatuben und gemeinsamer Liebhaber auseinanderbrechen, war mir schon bekannt. Aber daß ein verstopfter Abfluß zum Anlaß für die Beendigung einer fast zehnjährigen Freundschaft genommen wird, das war nur uns vorbehalten. Er brauche eine Wohnung, wo die Abwasserentsorgung geregelt sei, schrieb Roland auf einen Zettel, den ich für spätere Dokumentationen in einem Ordner archivierte. Und da das hier in der Motzstraße nicht der Fall sei, wolle er sich eine eigene Wohnung suchen. Ich akzeptierte, indem ich meine Paraphe auf den Zettel setzte. Der zehnjährige gemeinsame Weg mußte zwangsläufig auseinanderdriften. Ich lebte auf meinen Abgang zu, was er nicht verstehen konnte. Er ging auf in dem Planen von Karrieren, Geschäften und Unternehmen, was ich nicht verstehen konnte. Er ging in einer ihm unbekannten Zukunft auf, ich in einer mir bekannten. Für ihn war die Zukunft ungewiß, für mich war sie gewiß. Zehn Jahre seien genug, sagte er Gerhard, der als Informant zwischen beiden Seiten pendelte. Wo Roland recht hatte, hatte er recht. Der Amtsvorsteher hielt hinter seinem Amtstisch eine Ansprache. Der Raum war mit der Berliner und der Bundesfahne geschmückt. Er beglückwünsche uns zu unserer Ernennung zu Beamten auf Lebenszeit. Und dann ließ er uns schwören. Als ich an der Reihe war und er gerade vorlas, was in der Präambel zum Schwurtext geschrieben stand, nämlich, daß Herr Seyfarth die rechte Hand hob, um den Schwur zu leisten, erhob ich einen Einwand. Er schaute mich ein wenig verwirrt über die Lesebrille an. Die Korrektheit, die mir im Beamtenlehrgang 228
eingepflanzt worden war, ließ mich einwenden, daß ich, da ja mein rechter Arm gelähmt sei, mit dem linken schwören müsse und insofern der vorgeschriebene Text nicht ganz korrekt sei. Das sah der Amtsvorsteher ein. Er nahm ein Amtslineal und strich mit einem Amtskugelschreiber das in der Urkunde geschriebene Wort »rechte« durch und verbesserte es durch das Wort »linke«, so daß ich korrekt auf das Grundgesetz schwören konnte. Ich war jetzt Beamter auf Lebenszeit. Ich war es leider nur für drei Tage. Am Tag der Ernennung hatten wir zur Feier des Tages frei bekommen. Am Tage darauf wurde mir während der Arbeit schon übel. Die Amtsluft schnürte meine Brust ein. Ich hatte Atemnot. Ich rang nach Luft. Tags darauf mußte ich mich krankmelden. Ich sollte das Amt für den Rest meines Lebens nur noch von außen sehen. Mein Hausarzt meinte, daß ihm meine Lunge gar nicht gefalle. Daß ich zur Beobachtung vielleicht einige Tage ins Krankenhaus gehen solle. Ich bat ihn, bis zwei Tage nach der monatlichen Party damit zu warten. Sie sollte Rolands Abschiedsparty werden. Ich war zu der Überzeugung gelangt, daß man nicht nur Hochzeiten, sondern auch Scheidungen feiern sollte. Roland floh an diesem Abend aus der Wohnung. Es war zuviel für ihn. Er hatte für mich seine Größe verloren. Er war nur noch ein langer Mann. Während der Party, die dem Bruch unserer Beziehung den uns angemessenen Abschluß geben sollte, ging die Badezimmertür zu Bruch. Bei vielen – bei weitem nicht den meisten – der monatlichen Jour fixes wurden die Gäste von der Lust übermannt. Gerüchte in der Szene sprachen zwar statt von 229
Jour-fixe-Parties von Jour-Fick-Parties, und ich dementierte auch nicht, weil es unserem Salon den ihm angemessenen Glanz verlieh. Aber Gruppensexorgien hatte es insgesamt nur dreimal gegeben. Gewiß, ab und zu vergnügten sich zwei oder drei Leute zusammen im als Gästezimmer deklarierten Zwischenboden. Es kam auch schon mal vor, daß zwei Typen es in der Küche neben der Kaffeemaschine trieben. Aber diesmal waren schon vier Leute auf meiner Lustwiese zugange. Und wie wir da lagen und alle Hände voll zu tun hatten, hörte ich ein fernes Klopfen. Einer der übriggebliebenen Zuschauer war derart angetörnt worden, daß er sich ins Bad verzogen hatte, um sich zu spülen. Er schloß die Tür, drehte den Schlüssel herum und ging ans Werk. Als er nach getaner Arbeit wieder zur Stätte der Lust zurückkehren wollte, drehte er wieder den Schlüssel herum. Allerdings so heftig, daß der Schlüssel abbrach. Wahrscheinlich hatten seine Hände vor Geilheit zu stark gezittert. Nur hatte er das Pech, taubstumm zu sein. Ihn ergriff panische Angst, und er klopfte so stark, daß er die in der Badezimmertür befindliche Scheibe durchschlug und sich am Handgelenk verletzte. Zum Glück war einer der im Bett Anwesenden schwindelfrei. Er stieg, nur mit Schuhen und einem Schraubenzieher bekleidet, aus dem Küchenfenster unserer im dritten Obergeschoß liegenden Wohnung und kletterte, wie Gott ihn schuf, zum Badezimmerfenster, durch das er stieg, um den Blutenden, der inzwischen vor Aufregung auch den Rest der Spülung verloren hatte und jetzt inmitten von Blut, Scheiße und Scherben stand, zu befreien und zu verbinden. Er war dann wieder genug hergestellt, um in unsere Runde zurückzukehren.
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Tage später kam dann in der Szene das Gerücht auf, wir hätten jemanden mit Messerstichen zum Sex gezwungen. Es wurde von den sogenannten gut unterrichteten Kreisen verbreitet und von den üblichen Leuten geglaubt. Ich glaubte mich auf den ›Zauberberg‹ von Thomas Mann versetzt, als ich im Krankenhaus im Patientenaufenthaltsraum saß und eine vom Arzt streng untersagte Zigarette rauchte. Fast der ganze »Knast« war versammelt. Nur trugen die Ledermänner jetzt kein Leder, sondern Frottee. In ihren Bademänteln schauten sie gar nicht mehr so grimmig drein, wie sie es für gewöhnlich in der Lederbar taten. Einige erkannte ich sofort wieder: den früheren Barkeeper aus der »Knolle«. Der trotz oder wegen seiner Bronchitis rauchte wie ein hustender Schlot. Michael, den ich mal auf der Bühne im Slip hatte tanzen sehen und dessen einst wunderschöner Körper faltig zerfallen war. Sein Gesicht aber war kaum verändert. Bei einigen hatte ich Mühe, sie wiederzuerkennen. Ihr Gesicht war jetzt blau verfärbt und aufgedunsen. KaposiSarkom. Andere wiederum saßen gelähmt im Rollstuhl. Toxoplasmose, eine Krankheit, die das Gehirn befällt. Als ich in der Krankenakte die Ergebnisse der Computertomographie meines Gehirns sah, erschrak ich. Hirnatrophie lautete die Diagnose. Vergrößerte Ventrikel. Mit allem hätte ich gerechnet. Mit dem gnädigen Tod nach einer Lungenentzündung. Ja sogar die KaposiFlecken hätte ich herumgetragen wie Jesus seine Wundmale. Aber dement werden? Verrückt werden? Den Rest meiner Tage wie ein Alzheimerpatient zubringen? Ich nahm mir damals vor, bei dem ersten Zeichen von Verrücktheit, das ich an mir diagnostizieren würde, Schluß zu 231
machen. Aber wie konnte man feststellen, wann es soweit war? Auf der Bank im Aufenthaltsraum saß Kalli. Er antwortete nicht. Er sprach kein Wort. Er schaute mich nur an, als ich ihn ansprach. Er verzog nur das Gesicht zu einer Grimasse. Ich war ein wenig beleidigt, daß er nicht reagierte. »Die Toxoplasmose hat sein Sprachzentrum im Gehirn angegriffen«, klärte mich ein Mitpatient, der schon länger auf Station war, später auf »Er kann nicht sprechen.« Ob er wohl denken konnte? Ich stellte es mir grausam vor, denken zu können, aber nicht mehr in der Lage zu sein, seine Gedanken zu äußern. Sich der Umwelt nicht mehr mitteilen zu können. Die schlimmste Isolationsfolter, die ich mir bis dahin vorstellen konnte, war, in einer Einzelzelle sein Leben zubringen zu müssen. Aber das hier war schlimmer. Man konnte seine Umwelt sehen, man wollte ihr etwas mitteilen. Aber es kamen nur grunzende Laute heraus. Die Umwelt verstand nicht. Sie reagierte nicht. Sie hielt Kalli für einen Idioten, obwohl er innerlich vielleicht ein Genie war. Nein, das war schlimmer als Isolation. Das war Tantalus. Das war Isolation in gefüllten Räumen. Das war Einsamkeit im Kreise von Freunden. Das war die Hölle. Ob er wohl innerlich mit sich selbst sprach? Ob er insgeheim verbale Onanie betrieb? Ich fühlte mich sofort heimisch in diesem Grand Hotel, in dem die Reisenden in immer kürzeren Abständen Aufenthalt nahmen, bis sie auf Nimmerwiederkehr abreisten. Einige verließen ihr Zimmer kaum noch. Sie waren wohl mit sich selbst beschäftigt. Andere kamen so oft wie möglich in den »Salon«, dem die Hotelleitung den Namen »Aufenthaltsraum« gegeben hatte. Der Aufenthaltsraum war vorher als Fäkalienraum benutzt worden. Man hatte 232
beim Umbau vergessen, das Schild abzunehmen. Die Verdauungsprodukte einer unheilbaren Krankheit schienen dem Schild nicht die ungewollte Ironie des seelenlosen Krankenhausverwaltungsapparates entnehmen zu können. Im »Salon« war immer etwas los. Hier wurde geraucht, gegessen und getrunken. Tagsüber floß der Kaffee in Strömen, nachts der Champagner. Man vertrieb Zeit und Krankheit mit Kartenspielen. Man pflegte gebildete Konversation. Der Frisör, der das Blatt gab, wußte in innerer Medizin besser Bescheid als so mancher Hausarzt in einer westdeutschen Mittelstadt. Der Buchhalter, der die Karten aufnahm, dozierte über Pharmakologie besser als so mancher Apotheker in Spandau. In diesem »weißen Knast« wurde der Wert der Persönlichkeit nach der Zahl der jeweiligen Helferzellen bemessen, die noch in einem Milliliter Blut waren, und nicht wie im »schwarzen Knast« nach der Zahl der Zentimeter, die sich in der Hose verbargen. Hier war man schwach, hier durfte man es sein. Ab und zu kamen die Bedienungen, die die Speisen brachten. Man legte sich gegenseitig vor. Man half dem anderen. Hier gab es die schwule Solidarität, von der die angebliche schwule Bewegung seit Jahren faselte, um einen Grund zum Reisen und zum Ficken zu haben. Die Aids-Hilfen füllten die Lücken, die die schwule Bewegung zu schließen sich vergeblich gemüht hatte. Ich stützte einen Typ, der im »Knast« immer als Hardcore-Sadist aufgetreten war, auf dem Weg zurück in sein Zimmer. Ich half ihm ins Bett. Der Herrenmensch war hilflos. Jetzt war das Virus der Meister. Er die Sklavensau. Der Meister hatte ihn gefesselt, so daß er kein Glied bewegen konnte. Er hatte ihm mit Chemotherapie alle Haare entfernt. Er hatte dem Sklaven einen Knebel in den Mund gesteckt. Was wohl jetzt unter der Glatze des Sklaven 233
vorging? Genoß er es? Der Meister nahm darauf keine Rücksicht. Er schlug immer fester. Der Körper war schon ganz blau von Striemen. Der Meister ging immer weiter. Er ließ keine Ruhe, ließ sich auch vom Wimmern des Sklaven nicht abhalten, bis der Sklave leblos in der Ecke lag. Ob er es wohl genossen hatte? Der Meister kümmerte sich nicht darum und nahm sich den anderen Sklaven vor. So lange, bis er alle Sklaven geschafft hatte. Das Hotel war zur Folterkammer geworden. Ich fühlte mich zum Prinzen und nicht zum Sklaven geboren. Ich verließ das Hotel. Ich rief Horst in Tuttlingen an. Horst war der Freund von Kai gewesen, dem Praktikanten, der vom Psychologen der Schwulenberatung so handfest in die Arbeit eingeführt worden war. Er war mit Kai im Mai 1988 in Berlin zu Besuch gewesen, und ich schätzte sein offenes Wesen sehr. Er war ein Mensch, der nichts darstellte. Der keine Erwartungen an einen stellte. Der selbst keine Erwartungen erfüllte. Er war einfach da. Zur Anerkennung dafür vermachte ich ihm testamentarisch den Palast, als der sich meine Wohnung für mich darstellte. Er absolvierte gerade eine Krankenpflegerausbildung in Tuttlingen und wollte anschließend nach Berlin ziehen. Die Ausbildung sollte bis zum März 1990 dauern. Was aber, wenn der Sensenmann mich schon vorher in die Kiste zerren würde? Ich mußte heiraten. Denn das bürgerliche Recht, oder was sich dafür hält, gesteht nur der Gattin das Recht zu, die Wohnung über den Tod hinaus zu behalten. Ich begab mich auf Brautschau. Sie hieß Monika, war die lesbische Schwester eines schwulen Freundes und studierte Jura. Ich hatte mich 234
inzwischen ins Eherecht und ins Testamentsrecht eingearbeitet. Wir feierten unsere Verlobung in der Küche. Ich hielt mit dem Erbrecht in der Hand um die ihre an. Während sie in der ihren das Eherecht hatte. Es sollte ja keine Liebesheirat werden. Ein Schwuler und eine Lesbe schlossen eine Zweckehe. Wir bestellten das Aufgebot. Der Trauungstermin wurde für den 17. März 1989 anberaumt. Der standesamtliche zumindest. Denn der Prinz mußte natürlich eine richtige Trauung haben. Und dazu gehörte in der königlichen Familie eine kirchliche Heirat. Was ein Glück, daß ich immer zu faul gewesen war, um zum Amtsgericht zu gehen und aus der Kirche auszutreten. »Katholik bleibt man sein Leben lang«, hatte der Pfarrer beim Brautunterricht, dem wir uns vorschriftsgemäß zu unterwerfen hatten, gesagt, als meine Verlobte ihm mitteilte, daß sie aus der Kirche ausgetreten sei wegen der eigenartigen Behandlung, die die Mutter Kirche der Frau angedeihen läßt. Meine Frau war Feministin. Der Pfarrer hatte recht. Religiöse Erziehung formt oder vielmehr verformt den Menschen sein Leben lang. Mit meiner katholischen Erziehung hatte ich noch Glück gehabt. Erstens wurde sie sehr lax gehandhabt und erstreckte sich auf Äußerlichkeiten wie den Besuch der Messe. Und zweitens waren mir schon als Kind der Glanz und die Farbigkeit, die in der katholischen Kirche zu finden sind, lieber als die düstere Farblosigkeit der evangelischen, in der man während des Gottesdienstes keine Bilder betrachten konnte. Die katholische Kirche paßte besser zu meinem prinzlichen Gemüt.
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Und so war ich denn wild entschlossen, besonders fromm zu werden, als ich im Fernsehen sah, wie Papst Johannes XXIII. auf seinem Thronsessel durch den Petersdom getragen wurde. Ich mußte ja fromm werden, denn ich glaubte – als Kind – daß nur sehr fromme Leute Papst werden können. Und Papst wollte ich unbedingt werden. Ich wäre dann von sechs jungen Männern auf einer Sänfte durch den Petersdom getragen worden. Ich wäre auf den Thron gestiegen. Ich hätte ihnen befohlen, sich nackt auszuziehen. Sie wären dem Befehl demütig gefolgt. Sie hätten niedergekniet. Hätten meine Füße geküßt. Hätten dann meine Füße abgeleckt. Wären jeweils paarweise unter mein Gewand gekrochen und hätten meine Beine abgeleckt. Immer höher. Bis sie zum Hodensack gekommen wären, den sie von beiden Seiten geleckt hätten. Und dann hätte der eine von ihnen an meinem Schwanz gesaugt, während der andere mir den Arsch geleckt hätte. Und dann wären meine Eltern gekommen, die nicht sehen konnten, was unter dem Gewand vorging. Sie hätten vor mir niedergekniet. Sie hätten die Ringe geküßt, die ich an jeder Hand trug. Sie hätten geweint. Mich um Verzeihung gebeten für das, was sie in Verkennung meiner prinzlichen Herkunft mir angetan hätten. Ich hätte sie milde angelächelt und ihnen gesagt, daß ich ihnen verziehe. Ich hätte ihnen gesagt, daß ich aber jetzt nicht gestört werden wolle. Denn ich wollte ja mit den beiden Männern, die mir unter meinem Gewand dienten, allein sein. Und mit einer leichten Handbewegung, einem huldvollen Winken, das die Luft, die zwischen mir und meinen Eltern war, zum Portal hinfächerte, hätte ich ihnen die Tür gewiesen. Bei dieser Vorstellung hatte ich mich bereits als Sechsjähriger unkeusch angefaßt, wie die Bezeichnung dafür im ›Beichtspiegel‹ lautete, den ich nach meiner ersten Heili236
gen Kommunion mit acht Jahren jeden Samstag las. Ich hatte den Ehrgeiz, jede Woche zu beichten. Und um nicht so ganz ohne Sünden im Beichtstuhl zu sitzen und mich vor dem Pfarrer zu blamieren, faßte ich mich während der Woche ziemlich häufig unkeusch an. Samstags wurde es ja nach einem ›Vater unser‹ und zwei › Gegrüßet seist du, Maria‹ immer vergeben. Es machte richtig Spaß zu sündigen, da es ja entschuldbar war. Ich betrachtete auch später, als ich mit der Kirche nichts mehr im Sinn hatte, den Katholizismus immer als die humanere Beligion. Nicht umsonst ist die Schizophrenie-Rate in katholischen Gebieten geringer als in evangelischen. Zum Ausgleich dafür ist die Rate des manisch-depressiven Irreseins höher. Aber wahrscheinlich sind die Manisch-Depressiven nicht oft genug zur Beichte gegangen. Ich ging daran, meine Beerdigung zu inszenieren, die meine Hochzeit für mich darstellen sollte. Ich hatte es immer bedauert, daß man seine eigene Beerdigung nicht erleben kann. Daß man nur spekulieren kann, wer von den Hinterbliebenen trauert, wer weint und wer froh über den Tod des Verstorbenen ist. Ich annoncierte meine Hochzeitsanzeige in der Schwulenzeitschrift ›Siegessäule‹, schwarz umrandet wie eine Traueranzeige. »Bis daß der Tod uns scheide« stand da über dem Namen meiner Verlobten und mir. Nie war dieser Spruch so ernst gemeint gewesen. Der Pfarrer hatte Gott sei Dank Verständnis dafür gehabt, daß wir zu unüblicher Abendstunde um 19 Uhr heiraten wollten. Mein Trauzeuge komme erst nachmittags aus Amerika zurück, hatte ich den Pfarrer angelogen, in der Absicht, nach über fünfundzwanzig Jahren in der Woche wieder einmal zur Beichte zu gehen, um mir von ihm die Absolution erteilen zu lassen. Aber nur für diese 237
Sünde. Denn nur die Lüge betrachtete ich als die eigentliche Todsünde. In meinem Falle war es aber eine läßliche Sünde. Denn es war eine Notlüge. Wir mußten ja abends heiraten, da man morgens in Berlin kein Schwein aus den Betten bekommt. Ich hatte im kanonischen Recht nachgeblättert, um zu erfahren, ob es irgendwelche Regeln gibt, die vorschreiben, in welcher Bekleidung man das Ehegelübde abzulegen habe. Es gab keine. Und so schritten denn zu den Orgelklängen von ›Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn‹ – Maria war der zweite Name meiner Gattin – meine Frau als verschleierte Witwe und ich, ganz in Leder, zum Traualtar. Auch die Mehrzahl der Gäste, die die Kirchenbänke so füllten, wie es die Kirche seit langem nicht mehr gesehen hatte, war meinem Wunsche gemäß in Leder gekleidet. Mit Ausnahme von vier Typen, die als Brautjungfern kostümiert waren und die bei dem Fürbittgebet, daß der Herr uns gesunde Kinder schenken möge, besonders laut und besonders schrill beteten. Ich bin dem Pfarrer heute noch dankbar, daß er dabei die Fassung behielt, und nahm mir vor, nicht gleich nach der Hochzeit, sondern erst ein Jahr später aus der Kirche auszutreten. Quasi als mir selbst auferlegte Buße. Denn blasphemisch wollte ich auf keinen Fall sein. Dazu hatte ich nun doch zuviel Respekt vor den Gefühlen von Gläubigen. Als Thomas, der Opernsänger, mit dem ich so manch schönen gemeinsamen Trip erlebt hatte, von der Empore herunter das ›Erbarme Dich‹ aus der Matthäuspassion von Bach sang, quoll so manche Träne aus den Hochzeitsgästen. Einige weinten aus Rührung. Einige weinten, weil sie wußten oder spürten, daß mit diesem Lied der Teil meiner Trauung begann, den ich als meine eigene Beerdigungsze-
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remonie gedacht hatte. Ab jetzt begann die Passion des Johannes, das Leiden des Hans'. »So nimm denn meine Hände«, sang mein Opernsänger nach der eigentlichen Trauungszeremonie, und ich mußte bei dem Gedanken lächeln, daß er ganz unchristlich Gleiches mit Gleichem vergolten und mich gefistet hatte. Es war schön gewesen. Der Gesang – und das andere. »Wenn ich dereinst soll scheiden, so scheide nicht von mir. Wenn ich den Tod soll leiden, so sei du dann bei mir«, sang Thomas kurz vor dem Auszug aus der Kirche. Die Betschwestern, die das Spektakel voll bigotten Entsetzens mitverfolgt und nur das Spektakel, nicht aber die Bedeutung gesehen hatten, machten unserem Zug Platz, den wir frisch Getrauten und die Trauzeugen anführten. Sie schauten unserem Hochzeitsauto vorwurfsvoll hinterher, das von acht »Sklaven« zu meiner nahen Wohnung gezogen und geschoben wurde. Die Hochzeitstorte, die ich aus zehn Kilo Hackepeter modelliert hatte, war zu unserem Leidwesen zum Teil schon von meinen beiden Katern Schopenhauer und Nietzsche gefressen worden. Es war die fröhlichste Beerdigung aller Zeiten. Am Morgen nach meiner Hochzeitsnacht, die ich mit einem der Gäste verbracht hatte – meine Gattin hatte aus verständlichen Gründen ihre Freundin für das Beilager vorgezogen –, klingelte das Telefon. Eine erbitterte Tante Ute rief mich aus Bad D. an. »Wie kannst denn du in Leder heiraten?« lautete der fernmündliche Vorwurf. »Die Familie kann sich ja in der Stadt nicht mehr sehen lassen.« Bei dem guten Ruf der Familie hörte für Tante Ute der Humor auf. Sie habe mich im Trailer des ZDF-›Länderspiegels‹ gesehen, als unsere ungewöhnliche Hochzeits-
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gesellschaft nach der standesamtlichen Trauung auf den Stufen des Schöneberger Rathauses stand. Als wir nach der Trauungsfarce aus dem Rathaus kamen, war die Weltpresse vor dem Portal aufgereiht. Ich war realistisch genug, ihre Anwesenheit nicht mit meiner Hochzeit in Verbindung zu bringen. Als ein glatzköpfiger Mann hinter uns aus dem Rathaus kam, medienwirksam auf uns zuging und uns zu unserer Eheschließung Glück wünschte, konnte ich mir die Medienpräsenz erklären. SPD und Alternative Liste hatten gerade ihren Koalitionsvertrag geschlossen, und der Glatzkopf war der designierte Regierende Bürgermeister Momper. »Heute beginnt unser rot-grünes Chaos« war der von mir geäußerte Kommentar, der elektronisch übermittelt auch in den Wohnzimmern von Bad D. zu hören war. Mit diesem Fernsehtrailer hatte ich mein Plansoll übererfüllt. Das Testament war aufgesetzt, ich selbst krankgeschrieben mit der Aussicht, meine Postkarriere in Bälde als Fernmeldesekretär außer Dienst ihrer eigentlichen Bestimmung zuzuführen, und ich lebte in ungetrübtem Eheglück. Denn meine angetraute Gattin und ich sollten uns nur zur Abgabe der gemeinsamen Steuererklärung treffen und hatten somit keinerlei Anlaß, uns über den Ehealltag zu zerstreiten. Wie meine Großmutter war auch ich fertig geworden mit »meiner Küch'«. Hätte mich also beruhigt zurücklehnen und auf den Tod warten können. Hatte ich doch für mich mein Todesurteil verarbeitet und der Umwelt mit meiner Hochzeitsinszenierung demonstriert, daß ich mich als Aids-Kranker nicht zu verstecken gedachte, sondern mein Kranksein öffentlich machen wollte. Mein positives Coming-out lag hinter mir. Ich war herausgekommen aus dem Ghetto, das sich die meisten Aids-Kranken damals 240
selbst errichtet hatten. Hatte ich schon geraume Zeit selbstbewußt und selbstverständlich schwul gelebt, so wollte ich jetzt genauso selbstbewußt und selbstverständlich als Positiver leben. Ich wollte weiter so leben, wie ich bisher gelebt hatte. Andere zogen sich in ihre Krankheit zurück, ich zog um die Häuser. Ich glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod. Ich wußte, daß es, zumindest für mich, ein Leben vor dem Tod gegeben hatte. Jetzt wollte ich beweisen: Es gibt ein Leben mit dem Tod. Ich suchte Leute, die ähnlich dachten. Leute, die positiv waren und genauso mit ihrem Serostatus umgingen wie ich. Keine Leidensgenossen, die jammern, klagen und mit ihrem Schicksal hadern, sondern Lebensgefährten. Gefährten, mit denen man das Leben genießen konnte. Mit denen man gemeinsam den Diskriminierungstendenzen der Umwelt widerstehen konnte. Die das positive Testergebnis in ein positives Lebensgefühl umsetzten. Ich setzte mich mit der Arbeitsgemeinschaft Berliner Positive in Verbindung. Diese mit AG B+ abgekürzte Gruppe war ein lockerer Zusammenschluß von HIVPositiven und Aids-Kranken, die der Aids-Hilfe genauso locker assoziiert war. Seit die Krankheit Aids damals aus der Schmuddelecke der Schwulen und Fixer auf die sogenannte Normalbevölkerung überzugreifen drohte, hatten die Politiker ihr Herz sogar für Schmuddelkinder entdeckt und den Geldhahn reichlich geöffnet. Und wie immer, wenn ein warmer Geldregen die Landschaft befeuchtet, sprossen die Organisationen, die sich des Themas und des Etats bemächtigen wollten, wie Pilze aus dem Boden. »Gib Aids keine Chance«-Plakate wurden gedruckt, die der Bevölkerung die Botschaften des »Safer Sex« beizu241
bringen versuchten. In Therapiegruppen, Beratungsstellen und Selbsthilfeorganisationen wurde arbeitslosen Sozialarbeitern und Psychologen die Chance gegeben, wieder zu Brot und Lohn zu kommen. Böse Zungen kamen gar zu dem Schluß, daß von der Krankheit Aids mehr Menschen lebten, als daran erkrankt seien. Planstellen wurden beantragt und bewilligt. Verwaltungsapparate bis zur Kenntlichkeit aufgebläht. Zum Wohle der Kranken und ihrer Therapeuten wurden Workshops und Kongresse abgehalten. Aus der Schwulenbewegung war eine Aids-Bewegung geworden, die sehr viel reiste, um bei Treffen den »Faktor Psyche bei Menschen mit HIV und Aids« zu erörtern und dann bei einem internationalen Folgetreffen die noch offenen Fragen zu vertiefen. Die AG B+ versuchte, sich in die akuten Probleme der Aids-Kranken zu vertiefen. Und das gelang ihr manchmal auch. Doch vor die Lösung der Probleme haben die Deutschen die Gremienarbeit gesetzt. In stundenlangen Sitzungen wurde über aktuelle Themen palavert, diskutiert, gestritten. Ich merkte schnell, daß Strukturen, die mir aus den Schwulengruppen der siebziger Jahre wohl erinnerlich waren, sich auch in Positivengruppen durchgesetzt hatten. Der Gruppenguru versuchte sich Profil zu geben, indem er bei den Sitzungen sehr viel mit sehr vielen Fremdwörtern »fokussierte«, statt die Sache auf den Punkt zu bringen. Ich wurde von Begriffen wie Primär-, Sekundär-, Tertiärprävention anfänglich fast erschlagen. »Schlag nach im Handbuch. Im ›Handbuch der Soziologie‹« hieß es. Ich weigerte mich auf meine alten Tage, solch lustfeindliche Gruppenstrukturen anzuerkennen. Ich war immer ein schlechter Haushälter gewesen. Ich ging verschwenderisch um mit meinem Geld und meiner Gesundheit. Ich war 242
weiterhin verschwenderisch. Aber in einem wurde ich sparsam, knausrig und geizig. Mit meiner Zeit. Von der wir alle nicht mehr allzuviel hatten. Ich hatte es satt, weiterhin zu fokussieren, während der obere Teil meiner inneren Sanduhr sich immer mehr leerte. Ich suchte Bündnispartner und fand sie in Thomas und Frank. Frank war in einem Hotel großgeworden und beherbergte den Virus schon seit über vier Jahren in sich. Thomas besaß ein Klempnergeschäft und hatte ein frisches Testergebnis in der Tasche. Er war voller Elan und Tatendrang in die Gruppe gekommen. Wir setzten uns nach einer zähflüssigen Gruppensitzung bei ein paar Bieren zusammen und wurden uns handelseinig. Wir wollten handeln, statt zu »fokussieren«. Wir wollten aus einem langweiligen Haufen, der seine Helferzellen in langen Diskussionen einschläferte, eine lustvolle Aktionsgruppe machen, die andere, noch ängstlich lebende Positive aktivieren sollte. Wenn wir schon sterben müssen, so wollten wir wenigstens die Zeit bis dahin einigermaßen glücklich verbringen. Wir schlossen ein Triumvirat. Drei Positive reichten sich die Hand zum Bunde. Ich fühlte mich sauwohl. Ich war kein Einzelkämpfer mehr. Ich hatte sie wieder. Die Heilige Familie. Die Heilige Dreifaltigkeit. Die Heilige Gewaltenteilung. Exekutive war Thomas. Legislative war ich. Und Frank die Jurisdiktion. Die drei Musketiere waren angetreten, die Welt zu erobern. Sie wollten dem applaudierenden Publikum zeigen, daß sie im Endspurt den anderen Mitläufern überlegen waren. Wir rannten gegen die Zeit an. Und gegen die Bürokratie, die sich in die Aids-Hilfe eingeschlichen hatte.
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Die Aids-Hilfe hatte als schwules Selbsthilfeprojekt begonnen. Mit wachsenden Krankenzahlen war sie immer größer geworden. Ihr Geldgeber hatte sie reichlich mit Mitteln ausgestattet, über deren Verwendung die Organisation Rechenschaft ablegen mußte. Und dazu bedurfte es der Rechenschaftsberichte. Mit der Zeit drohten die Berichte wichtiger zu werden als die Arbeit, über die man zu berichten hatte. Die dem öffentlichen Dienst innewohnende Absurdität hatte auch dieses Projekt ergriffen. Anfänglich hochmotivierte Mitarbeiter kapitulierten vor dem Elend, zu dessen Verwaltung sie sich gezwungen sahen. Man stumpfte ab. Man verschanzte sich vor neuen Ideen. Man resignierte. Die AG B+ war von Resignation weit entfernt. Wir sahen nicht das Ende der Selbsthilfearbeit. Wir wollten erst richtig anfangen. Wir verbündeten uns mit dem dreiköpfigen Vorstand der Aids-Hilfe, um dem Apparat entgegenzuwirken. Wir wollten die von Aids Betroffenen zur Revolte gegen Ablehnung, Ignoranz, Diskriminierung und Stupidität führen. Wir wollten, daß auch Aids-Kranke aktiv, informiert, dynamisch und selbstbewußt auftreten können. Der Wert eines Menschen sollte sich nicht vom Blutbild ableiten lassen. Muckt auf, Verseuchte dieser Erde! Auf zum allerletzten Gefecht. Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal. Es hatte den Anschein, als befänden wir drei Arbeiterinnen uns in einer bienenkorbgleichen Organisation: An der Spitze dieses Staates produzierten drei Königinnen unbefruchtete Eier, die emsige Arbeiterinnen den Drohnen zur Befruchtung überbrachten. Aber in diesem Staat erwiesen sich die Drohnen als impotent, so daß die Arbeiterinnen sich gezwungen sahen, bei der Befruchtung mit Hand anzulegen. Die Arbeiterinnen konnten die Drohnen nicht 244
hinauswerfen, da diese auf Lebenszeit in ihren Waben festgeklebt waren. Die Arbeiterinnen sammelten ohne Lohn den Honig, versorgten und fütterten die Puppen, säuberten den Bienenkorb und dienten den Drohnen zur Legitimation ihrer Nichtarbeit. Drei Arbeiterinnen waren besonders emsig. Sie wurden deshalb von einer besonders faulen und neidischen Drohne gehaßt. Die Drohne versuchte sogar, sie bei den Königinnen madig zu machen. Sie bezichtigte die Arbeiterinnen radikaler, gegen den Staat gerichteter Umtriebe. Da verbündeten sich die drei Arbeiterinnen mit den drei Königinnen und mauerten die unnützen Drohnen in ihren Waben ein. Die neugeschmiedete Allianz wollte, daß die Puppen optimal versorgt würden, auf daß sie zu Arbeiterinnen heranwüchsen und andere Puppen versorgen könnten. Manfred fand zu uns. Er liebte es, Fummel zu tragen. Ich liebte es, mit ihm darüber zu reden. Er war im ländlichen Raum aufgewachsen, und wir sprachen oft über seine Kindheit. Die erste Assoziation, die wir mit »Dorf« verbanden, waren Frauen in Kittelschürzen, die Hefekuchen belegten. Ich stellte sie mir vor wie Frau Fickeisen, unsere Nachbarin in Bad D., aus deren Kittelschürze zwei zellulitische Arme quollen, die wie Engerlinge aussahen. Im Sommer pflegte sie nichts unter ihrer Kittelschürze zu tragen, so daß man ein behaartes Etwas zwischen ihren Oberschenkeln, die wie zu stark aufgegangene Hefezöpfe aussahen, genötigt war anzusehen, wenn sie sich auf das Wohnzimmersofa meiner Oma setzte. Dicke Frauen in Kittelschürzen hatte ich auf meiner nach unten geschlossenen Erotikskala ganz unten eingereiht. Manfred reihte sich in unsere Gruppe ein. Er hatte AidsVollbild, war also im Endstadium der Krankheit. Wie nah 245
das Ende jedoch war, hätte keiner von uns für möglich gehalten, die wir Manfred so witzig parlierend am Tisch sitzen sahen. Wir alle hatten die positive Zeiteinheit verinnerlicht. Rechneten also eher in Monaten als in Jahren. Keiner von uns machte Pläne, die über sechs Monate hinausgingen. Alle versuchten wir, unsere Pläne in Halbjahresfrist in die Tat umzusetzen. Daß uns die Krankheit jedoch zwingt, im Tagesrhythmus zu leben, das lernten wir vierzehn Tage später, als Manfreds Todesnachricht uns erreichte. »Ist es nicht herrlich, zu lachen und zu singen, während die Glocken des Todes erklingen« war Manfreds Wahlspruch gewesen. Wir ergänzten ihn noch mit: »Manfred. Wir kreischen Dir ein letztes Huuuch« und ließen das Ganze als Todesanzeige in die ›Siegessäule‹ setzen. Ich setzte mich eine Woche später in den Zug, der mich in meine Vergangenheit bringen sollte. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, die Städte und Stätten meiner Kindheit und Jugend wiederzusehen. Ich wollte sehen, was ich als Kind gesehen hatte. Wollte meine Wahrnehmung jetzt mit der Wahrnehmung des Kindes vergleichen. Wo kam ich her? Was ist aus den früheren Freunden, den Verwandten geworden? Ich wollte einen Blick zurückwerfen. Ohne Zorn. Zurückgekommen nach Berlin küßte ich innerlich – wie der Papst – den Boden des Bahnhof Zoo. Ich war einem Schicksal dankbar, das mich hatte schwul werden lassen. Denn das, was ich gesehen hatte, war die Hölle gewesen. Eine Hölle, in der die Menschen mit Langeweile gepeinigt werden. In der die einzige Veränderung die Zunahme des Körpergewichts und die Anzahl der Falten ist. In der das einzig Berichtenswerte nach achtzehnjährigem Wiederse246
hen ist, daß Tante Inge, die Migränenreiche, neulich einen Hut getragen habe. In der die ehemaligen Klassenkameraden ihr Leben mit der Zahl der Urlaubsreisen, der Kinder und der Quadratmeter ihres Einfamilienhauses beschreiben. Ich war erschrocken, als ich sie wiedersah. Sie sahen aus wie ihre Eltern, vor denen sie immer gewarnt hatten. Der Revolutionär, der nie ohne Mao-Bibel zu Bett gegangen war, fungierte jetzt als Stadtrat für die CDU. Das Klassennuttchen von früher, das über Wilhelm Reich und befreite Sexualität doziert hatte, war zum und im Hausmuttchen aufgegangen. Der immerscharfe Jochen, dessen Zepter Martha so gerne geritten hatte, wirkte jetzt wie ein impotenter Buchhalter, der den Monat über Hormone anspart, um sich im Bordell das leisten zu können, was er seiner Frau nicht mehr bieten kann. Es ging mir wie Orpheus, der sich nach Eurydike umgedreht hatte. Ich hatte mich nach meiner Vergangenheit umgedreht und die schönen Erinnerungen verloren. Jedesmal wenn ich in Zukunft den Namen »Jochen« hören würde, würde ich nicht mehr an den schönen, geilen Jüngling, sondern an den dicken, alten Mann denken, den ich dort, in jener Stadt, in der ich nie zu Hause war, wiedergetroffen hatte. Ich fühlte mich wie ein Achtzehnjähriger, als ich in die Stadt zurückkam, die schon mein Zuhause gewesen war, noch bevor ich in sie zog. In den siebzehn Tagen Aufenthalt in Westdeutschland war ich siebzehn Jahre jünger geworden. Siebzehn Tage zuvor hatte ich noch Träume gehabt, die zu Alpträumen geworden waren. Lieber jetzt mit der Gewißheit des nahen Todes leben, als mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zu sterben, ohne vorher gelebt zu haben. Mich dürstete.
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Julian, der Engländer, der während meiner Abwesenheit die Wohnung gehütet und die Kater versorgt hatte, setzte Kaffee auf, als ich in meinen Palast kam. Er war mir von einem Gruppenmitglied als Dichter vorgestellt worden. Und da er eine Wohnung suchte, suchte ich das mir Nützliche mit dem ihm Angenehmen zu verbinden und bot ihm an, daß er in der Zeit, bis mein eigentlicher Mitbewohner seine Krankenpflegerausbildung in Westdeutschland beendet hatte, bei mir Zuflucht vor den Verfolgungen seiner Vergangenheit finden könne. Er selbst sah sich in der Nachfolge von Christopher Isherwood, der in den zwanziger Jahren »because of the boys« vor dem englischen Puritanismus emigriert war, bevor er in den dreißiger Jahren vor dem deutschen Nationalsozialismus remigrieren mußte. Julian hatte sich vorgenommen, ein Buch über das schwule Berlin zu schreiben, und da er sich jetzt durch mich im Kreise von Aids-Kranken bewegte, gab er dem Buch den Arbeitstitel: ›To see Berlin and die‹. Neben dem Schreiben hatte er sich den Haushalt zum Hobby erkoren. Er wirbelte durch die Wohnung, kaufte ein, spülte ab, versorgte die Kater. Plötzlich und unerwartet war ich zu einem englischen Butler gekommen, der mich mit englischer Küche traktierte. Diese Fürsorge machte sich mit der Zeit leider sehr unangenehm auf der Waage bemerkbar. Ich hatte nach einigen Monaten zehn Kilo über meinem Limit, das ich mir als oberste Gewichtsmarke gesetzt hatte. Ich wurde schlicht und ergreifend fett. Eines der wenigen angenehmen Dinge an Aids, so hatte ich mich immer getröstet, ist, neben der Tatsache, nicht mehr arbeiten zu müssen, daß man essen kann, soviel man will, ohne Angst haben zu müssen zuzunehmen. In meinen 248
Vorstellungen hatte ich mir ausgemalt, wie ich, mich durch einen Berg von Hackepeter hindurchessend, meinem Idealgewicht immer näherkomme. Welch ein Schlaraffenland! Endlich einmal unbeschwert genießen können. Essen zu können, ohne den Bauch im Hinterkopf zu haben. Eingedenk der familiären Erbeigenschaft zu gesunden oder fraulichen Figuren, wie die diesbezügliche Sprachregelung für dicke Wänste und fette Hüften war, hatte ich immer Angst gehabt zuzunehmen. Jedes Kilo zuviel kam einer Katastrophe gleich. In der Sauna hängte ich das Handtuch so um, daß zwar der Unterleib und der rechte, gelähmte Arm zu sehen, der Bauchansatz aber verdeckt war. Ich schämte mich für diese genetische Familienerrungenschaft. Und ausgerechnet jetzt, wo alles um mich herum abnahm und sich dieser Abnahme schämte, nahm ich zu. Es war, als hätte das Virus mich geschwängert. Als hätte es einen Keim in mir gelegt, der täglich größer wurde. Der mich immer unförmiger werden ließ, so daß ich mit der Zeit eine immer größere Ähnlichkeit mit einer Spätgebärenden hatte. Ich wußte nur nicht, was da für ein Kind herauskommen sollte. Wollte mir mein Bauch signalisieren, daß ich scheinschwanger war? Führten Julian und ich eine absurde Ehe, in der die putzende Ehefrau ganz schlank und der nach außen agierende Ehemann schwanger war? Die Tante kam durch meine Tür. »Ei«, sprach sie, »es ist garstig hier.« Ich mußte an Hans Huckebein, den Unglücksraben von Wilhelm Busch, denken, als Tante Irene sich mit zwei Damen des Kirchenchores von Bad D. die vier Stockwerke in unsere Wohnung hochwälzte. Tags zuvor hatte sie angerufen, daß sie mit ihrem Kirchenchor 249
übers Wochenende in Berlin weile und mich »noch äämol« sehen wolle. Über irgendwelche Kanäle mußte sie also von meiner Aids-Erkrankung erfahren haben. Und da ihre katholischen Freundinnen noch nie dem Virus ins Gesicht geschaut hatten, verfügte die gute Tante, daß auch jene mir ihre karitative Aufwartung machen durften. »Du hoscht doch sischer nix dogegge, Hans!« bestimmte sie. Julian spielte die Rolle des Butlers perfekt. Er öffnete die Tür, half den Damen aus den Pelzmänteln und geleitete sie in mein Zimmer. Es war, als würde die Kaiserin Witwe mit ihren Hofdamen einem Siechenhaus die Ehre ihres Besuches erteilen. Tante Irene schritt vorneweg, gefolgt von Frau Niederburger, der Lehrerwitwe, und Frau Küchenberger, der Fleischereibesitzergattin. Tante Irene nahm von allen Einrichtungsgegenständen genaueste Notiz. Ihr prüfender Blick wischte über den Küchenboden, zuckte ein wenig, als sie den Riesenpenis, der aus Marzipan modelliert an der Wand hing, gewahrte, fixierte ein Emaille-Kruzifix, an dem anstelle des Erlösers ein erigierter Schwanz angenagelt war, und verweilte eine Zeitlang auf meinem Fenster, das gegenüber dem Bett geöffnet war, jeglicher Stores und Gardinen entblößt. »Soo konn mon also aach lewe« war der Seufzerhauch, mit dem sich eine gequälte Pfälzer Hausfrauenseele Luft zu verschaffen suchte. Der Staatsbesuch setzte sich dicht nebeneinandergereiht auf das einer Récamier ähnliche Sofa und mußte so während der folgenden Konversation die ganze Zeit auf die gegenüberliegende Wand schauen, an der ich die Fotos meiner Liebhaber geheftet hatte. Es gab viel zu betrachten. »Hans, wie gäht der's donn«, war die besorgt-interessierte Tantenfrage, als Julian den Kaffee serviert hatte. Meine Großmutter in mir schilderte meinen Gesundheits250
zustand in den blutrünstigsten Farben. Ich schwelgte in Lungenentzündungen, Kaposi-Sarkomen, Toxoplasmosen und allen Symptomen, die die Leser des ›Goldenen Blattes‹ interessieren könnten. Es schien, daß Gevatter Tod mich stündlich zu sich nehmen wollte. Die Kaiserinwitwe schaute ihre Begleitung triumphierend an. So etwas konnte nur ihre Familie bieten. Da konnten die Lehrerwitwe und die Metzgergattin nicht mithalten. Und dann hob sie ihre Stimme, um von ihrem schweren Leid zu erzählen. Sie sei wegen ihres Ischias neulich beim Arzt gewesen, und dieser unverschämte Lümmel habe sie gar nicht ernst genommen, sondern frecherweise konstatiert, daß sie fünf Kilo Übergewicht habe. Ich überlegte, ob der Arzt höflicherweise oder Tante Irene geschickterweise das wahre Übergewicht um zehn Kilo nach unten gerundet hatte. Die anderen Damen konnten das nicht auf sich sitzen lassen und begannen nun ihrerseits den Ischias von Tante Irene mit ihrem hohen Blutdruck – auf seiten der Fleischerin – oder den Embolien – auf Seiten der Lehrerwitwe – zu übertrumpfen. Sie konnten sich in den nächsten beiden Stunden nicht einig werden, wer die Leidensfähigste war. Aber man einigte sich dahingehend, daß man noch einen Ku'damm-Bummel zu absolvieren habe. Und so verabschiedeten sich die Damen, nicht ohne zuvor noch ein Foto von mir, Julian und den beiden Katern gemacht zu haben. »Zur Erinnerung.« So kann man also auch leben. Ich lebte fortan für meine eigentliche Familie: die Positivengruppe. Wir hatten es inzwischen geschafft, innerhalb der Aids-Hilfe auf unsere Qualitäten aufmerksam zu machen und unsere Fähigkeiten und Ideen in den Apparat 251
einzubringen. Ich war in Gedanken schon mit der Gestaltung und Organisation des bevorstehenden Welt-AidsTages am 1. Dezember beschäftigt, als ich am 10. November 1989 zur Aids-Hilfe ging. Ich war irritiert, die Straßen mit kleinen, vierrädrigen Gebilden überfüllt zu sehen, die den Namen »Trabi« hatten. Ich erfuhr von meiner Zeitungsfrau, daß in der Nacht zuvor die Berliner Mauer geöffnet worden war. An jeder Bank, die ich passierte, standen Warteschlangen von eigenartig gekleideten Menschen, die sich ihr Begrüßungsgeld abholen wollten. Sie verhielten sich wie Verdurstende, die nach langer Durchquerung einer Wüste eine rettende Oase erreicht hatten. Sie tranken gierig aus den Quellen, die den Namen Bilka, Aldi oder Woolworth hatten. Manche der DDR-Besucher, die schwulen oder vielmehr homosexuellen unter ihnen, labten sich abends an den Bierquellen der schwulen Sub-Kneipen und schauten mit rotumränderten Augen auf etwas, das sie in der Wüste, aus der sie kamen, für eine Fata Morgana gehalten hätten. Nämlich Videos, die die Wüstenbewohner mit ungläubigem Staunen erfüllten und ihre ungelebten Träume wiedergaben. Am darauffolgenden Wochenende waren die Kneipen überfüllt mit Menschen, die man an ihrer Kleidung und dem gekauften Gut, das sie mit sich herumschleppten, als Ostbewohner ausmachen konnte. An ihren Tüten sollt ihr sie erkennen! Diese Tüten waren das Erkennungszeichen dafür, mit wem man sich im Fickraum gerade mal wieder vereinigte. Diese Wiedervereinigungsorgie sollte einige Wochen anhalten. Die West-Schwulen zeigten am Anfang eine Generosität, die sogar herzlich gemeint war. So manches Konto 252
wurde noch mehr überzogen, um die Ost-Schwulen am westlichen Wohlstand teilhaben zu lassen. Man führte die Ostkinder in die schöne neue Welt ein. In der Hoffnung, daß diese das, was sie zu bieten hatten, ebenfalls einführen würden. In die Gastgeber. Schweinigkeit und Sex und Geilheit. Aufgerichtet zum Bedienen. Deutschland, einig Schwulenland. Es begab sich gerade zu der Zeit, daß ein schwuler Filmemacher aus Amerika kam, um hienieden in Berlin einen Film über den Umgang der deutschen Schwulen mit Aids zu drehen. Er hatte bereits einen Film über die amerikanischen Aids-Verhältnisse im Kasten und die Vorstellung, daß in Deutschland alles mies sei, im Kopf. Amerika, du hast es besser. Als er mich, als Vertreter der Positivengruppe, für seinen Film interviewte, war es über vierzehn Jahre her gewesen, daß ich ihn von ferne und zehn Jahre, daß ich ihn näher kennengelernt hatte. Zehn Jahre zuvor hatte er in Mannheim den Film ›Armee der Liebenden‹ vorgestellt, in dem er schon einmal die amerikanische Schwulenbewegung als das Absolute des Absoluten dargestellt hatte. Er hatte damals viel von Lust, Bausch und freier Sexualität doziert. Nach der Mannheimer Premiere war er angesichts eines Mitglieds unserer Schwulengruppe entschlossen, die Nacht in Mannheim zu verbringen. Das Mitglied, der vielversprechend aussehende »Kanadische Holzfäller«, fürchtete, realistischerweise, die Ansprüche, die der Filmemacher in Anbetracht seines dominanten Aussehens nonverbal gestellt hatte, nicht erfüllen zu können. Er zog die Holzfällerjacke an und sich zurück. So mußte ich für den schwulen Filmemacher in der folgenden Nacht die Herbergsmutter spielen. 253
Zu Hause entkleidete er sich bis auf die Boxershorts, die damals als avantgardistisch galten, und erzählte mir viel von seiner Mutter, die er am nächsten Tag, dem Tag der schwulen Demo in Frankfurt mit dem aufwärmenden Namen »Homolulu«, in seiner Heimatstadt bevorzugt zu besuchen gedenke. Und so kam es, daß der Vorkämpfer der schwulen Befreiung auf der Demo nicht vorneweg schritt, sondern im Kreise der Familie Kaffee trank. Der schwule Filmemacher war in einer aufregenden Zeit nach Berlin gekommen. Wir waren vollauf damit beschäftigt, die Ostmenschen über Aids und Safer Sex aufzuklären. Für grenzenlose Lust. Wider Vereinigung ohne Kondom. Einer der ersten Brüder und Schwestern, mit denen ich mich wiedervereinigt hatte, schenkte mir zum Dank zwei blaue Hemden der FDJ, die Julian und ich anzogen, um am Wittenbergplatz Kondome, die wir ostvolksnah »Elaste« nannten, an den Mann und die Frau zu bringen. Ernst Reuter mahnte in unserem Geist: »Ihr Schwulen der Welt. Ihr Schwulen aus Ost und West. Schaut auf diesen Stand!« Sie schauten nicht nur auf unseren Stand. Sie kamen auch. Denn wir hatten ja etwas Kostenloses anzubieten. Wir waren ganz stolz auf den Erfolg unserer Präventionsbemühungen. Bis ein Wagen der Zigarettenfirma Camel sich uns gegenüberstellte und kostenlos Probepackungen Zigaretten verteilt wurden. Der Stand war dazu gedacht, die Keimzelle eines neuen Marktes zu werden. Die sozialistischen Menschen rannten wie um ihr Leben, um in den Genuß des kapitalistischen Paradetieres zu kommen. Wir packten unseren Präventionsstand ein.
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Der schwule Filmemacher verdrehte sehr viel Filmmaterial, aus dem er dann später einen Film schnitt, in dem er sich fast eine Stunde darüber beklagte, daß in Berlin, im Gegensatz zu Amerika, kaum Aids-Arbeit stattfinde. Durch unsere Ostleraktivität und die Aktionen zum bald darauf stattfindenden Welt-Aids-Tag war unsere Gruppe auf das Interesse einiger Medien gestoßen. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten über Aids im Zeichen der Maueröffnung. Ohne mein besonderes Zutun stand ich plötzlich im Rampenlicht. Der Vorzeige-AidsKranke. Aus Hans war nun endgültig Napoleon geworden. Es war 1978 in Köln bei einer Schwulendemo gewesen, daß mir jemand diesen Namen gegeben hatte. Ich hatte damals ganz enge, weiße Jeans an, um die Vorzüge meiner Beine ins rechte Licht zu rücken. Über den Jeans trug ich kniehohe, schwarze Stiefel. Meinen Oberkörper verbreiterte eine Motorradlederjacke. »Napoleon«, hatte mich Gerd, der schwule Stadtrat, gerufen, gegen dessen Diskriminierung wir demonstriert hatten. Um welche Diskriminierung es ging, weiß ich nicht mehr. Es war sowieso egal. Demonstrieren macht auch ohne Grund Spaß. Mit der Bemerkung, daß ich immerhin sechzehn Zentimeter größer sei als der Franzosenkaiser, hatte ich mich damals gegen diesen Spitznamen strengstens verwahrt. Ab und zu wurde mir dann auch in Berlin dieser Spitzname gegeben. Aber es war schon lange nicht mehr der Fall gewesen, bis zu jenem Abend bei Wanda. Wanda war die Wirtin der »Kleinen Philharmonie«, einer Kneipe in der Nähe unserer Aids-Hilfe, die wir nach unseren Positivengruppenabenden aufsuchten, um bei eins, zwei, vielen, »definitiv letzten« Bieren die noch offe255
nen Fragen zu beantworten, die zu beantworten wir bei den Gruppensitzungen nicht in der Lage waren. Die normative Kraft des Bieres. Die Einrichtung der Kneipe war eine Stilmischung aus dem Wohnzimmer meiner künstlerischen Tante Elisabeth Angstenberger und den Schaufensterauslagen der Schöneberger Trödelhändler. Umgedrehte, an der Decke hängende Regenschirme kündeten davon, daß Wanda die Schirmherrin der HIV-Positiven und Aids-Kranken war. Ihr Lokal war zur Wallfahrtskapelle geworden, wo die Kranken bei Ihrer Lieben Frau Wanda Linderung von ihren Leiden suchten und nach einigen Bieren auch fanden. Die Gnadenreiche zapfte viel Liebfrauenmilch und erwies ihnen die Gnade der gütigen Ansprache. Sie tat viel Gutes für ihre kranken und sterbenden Kinder, indem sie einige bis zuletzt besuchte und anrief und ihnen Kuschelkissen übergab, auf die ein rotes Herz gestickt war. Mir gab sie nach langer Zeit wieder den Spitznamen »Napoleon«, und ich beschloß, den Namen beizubehalten. Jedenfalls für das äußere Leben. Gute Freunde, mit denen ich intimeren Umgang hatte, durften mich jedoch immer noch Hans nennen. Mai 1990. Der Frühling hatte sein blaues Band schon geraume Zeit flattern lassen, da entsprang im ›Spiegel‹ ein Röslein, dessen Dornen wir beim ersten Hinsehen betrachten konnten. Der schwule Filmemacher geruhte in einem Artikel sinngemäß zu verlautbaren, daß die westdeutschen Schwulen alle Selbstmörder seien, die ahnungslose Bewohner der Noch-DDR in den Sumpf der Fickräume zu ziehen trachteten. Die verbeamteten Aids-Hilfen, die hochsubventioniert in Palästen residierten, würden dem bösen Treiben 256
untätig zuschauen. Die Enzyklika hatte einen hochmoralischen Anspruch, den der Autor ansonsten geschickt zu verbergen gewußt hatte. Wir hemmungslosen Virenschleudern, als die wir Positive uns dargestellt sahen, hatten zwar bisher mit Kritik an den Aids-Organisationen nicht gespart; aber das hatten diese nun wirklich nicht verdient. Dem selbsternannten Führer der Aids-Bewegung mußte Einhalt geboten werden. Nichts schweißt die Menschen so sehr zusammen wie ein gemeinsamer Feind. Gingen die Organisationen, die sich mit Aids befaßten, die ganze Zeit zuvor nicht gerade freundlich miteinander um, ja gehörten Eitelkeiten, Eifersüchteleien und Gemeinheiten geradezu zum Tagesgeschäft, so hieß es jetzt zusammenzuhalten. Die gelebte Solidarität in den Aids-Gruppen erlebte ihren Höhepunkt. Eine feste Front wurde geschmiedet. Die Initiative zum Boykott der Filmveranstaltungen des schwulen Filmemachers ging von der Dachorganisation aus, in der die deutschen Aids-Organisationen zusammengeschlossen waren. Vorstreiter der Boykottbewegung wurde ein dort mit dem Pressewesen betrauter Mitarbeiter, der in seiner Beschäftigung voll aufgegangen war. Was ihn für diese Tätigkeit qualifizierte, ging einer niedersächsischen Freundin und mir in voller Gänze auf, nachdem wir ihn in einer Talk-Show erlebt hatten, in der er die Aids-Organisationen vor den Attacken des Filmemachers in Schutz nahm. Er parierte den Vorwurf, daß die Aids-Hilfen keinen Beitrag zur Bekämpfung der Seuche leisteten, publikumswirksam äußerst geschickt, indem er darstellte, wie mühsam es sei, vierzig Stunden pro Woche in der Einrichtung 257
sitzen zu müssen. Der Beifall von der rechten Seite war ihm so gewiß. Derart gestärkt, wurde er kompetenter Führer der Bewegung. Ihm zur Seite ballten die Mitarbeiter einer Schwulenberatungsstelle die Faust, die sie so oft im eigenen Leibe verspürt hatten. Auch der schwule Infoladen schloß sich der Mehrheit an und versprach mitzuboykottieren. Nach mehreren Kinoveranstaltungen, bei denen einige der Boykotteure ihren Durchhaltewillen durch äußerst kühles Mitwirken bei der Aktion gezeigt hatten, entbrannte bei uns ein Volkssturm der Entrüstung. Wir besetzten die Bühne, vertrieben den dort auf einem Sofa sitzenden Leiter eines Aids-Projektes und verlasen einen Text, um dem Filmemacher die verdiente Referenz zukommen zu lassen. Wie Karl Kraus zu einem anderen Führer fiel uns darin zu dem Filmemacher mit dem Pseudonym nichts mehr ein. Aber sehr viel zu seiner Person und zu seiner Rampengeilheit, mit der er uns Aids-Kranke vor den Karren seiner Marketingstrategie zu spannen versuchte. Den bei der Bühnenbesetzung auf der Bühne sitzenden Projektleiter hatten wir bereits bei einer anderen Besetzung kennengelernt. Er bezeichnete sich selbst als Wissenschaftler. In seinem sozialwissenschaftlichen Studium schien er jedoch die Seminare über Gruppendynamik geschwänzt zu haben. Sein cholerisches Wesen verbarg er unter wissenschaftlicher Leidenschaftslosigkeit, die hochaktive Gruppen innerhalb einer halben Stunde in tiefste Passivität stürzen konnte. Julian, der Butler, charakterisierte ihn einmal als Vampir, der den anderen das Blut des Engagements und des Esprits bis auf den letzten Tropfen aussauge, ohne jedoch selbst von der Nahrung in irgendeiner Art und Weise zu profitieren. 258
Er beklagte sich oft in Gruppen, daß er sich den Arsch aufreißen müsse. Vielleicht wäre es für ihn und die Gruppe besser gewesen, er hätte sich von anderen den Arsch aufreißen lassen. Vielleicht wären dann lustvollere und humorvollere Aktionen dabei herausgekommen. Seine wissenschaftliche Logik bewies er insbesondere, als einmal eine Hausbesetzung geplant war, um auf die Wohnungsnot der Aids-Kranken aufmerksam zu machen. Er trug zum Gelingen dieser Aktion maßgeblich bei, indem er den Planungsstand der Besetzung fünf Tage vor ihrer Ausführung in einem Artikel in einer Tageszeitung veröffentlichte. Derweil der Filmemacher die Adresse des zu besetzenden Hauses anläßlich eines Besuchs bei einem schwulen Männerchor ausplauderte. Bei der sprichwörtlichen Verschwiegenheit der Schwulen war es für die Polizei natürlich ein leichtes, zur rechten Zeit am rechten Ort für den Schutz des zu besetzenden Objektes zu sorgen. Somit als erster Aids-Aktivist der neunziger Jahre qualifiziert, setzte »Ihre Leidenschaftslosigkeit«, wie er von einigen genannt wurde, alle Energie darauf, die monotone Stimme der Aids-Bewegung zu werden. Der bevorstehende schwule Rosenmontag, der in Berlin am letzten Samstag im Juni stattfindet, sollte der große Tag seiner Rede werden. Es galt, die versammelten Narrhalesen und Narren mit ernster Miene und leidenschaftslosen Worten ihrer selbstverschuldeten Fröhlichkeit zu entreißen. Der Christopher Street Day, CSD, der in Erinnerung an New Yorker Tunten zelebriert wird, die sich 1969 in eben jener Christopher Street nach einer Razzia in einem Schwulenlokal eine Schlägerei mit den Cops geliefert hatten, war der Berliner Ersatz für Karneval. Karneval ist in Berlin nie richtig heimisch geworden. Einige Versuche, 259
Mainz und Köln nach Britz und Neukölln zu exportieren, sind Gott sei Dank alle kläglich gescheitert. Und so müßte der Berliner Senat den Schwulen dankbar sein, daß diese mit dem als schwulem Großkampftag gedachten CSD Berlin zu karnevalistischem Weltniveau verhelfen. Dieser Tag der schwulen Einheit, an dem die ansonsten heftig zerstrittenen Parteien vorübergehend das Kriegsbeil begraben und im einträchtigen Aufzug den Kurfürstendamm herunterziehen, sollte eigentlich schwulenpolitischen Forderungen gewidmet sein. Aber da niemand so ganz genau wußte, was Schwulenpolitik überhaupt ist, und die Schwulenbewegung sich immer mehr auf die Bildung von Klüngelklübchen reduziert hatte, die sich gegenseitig Lösungsmittel in die Nagellackfläschchen kippten und Tabascosauce in das Gleitmittel, war es jedes Jahr eine schwere Geburt, ein Motto zu finden, um dem Karneval einen schwulenpolitischen Namen zu geben. Der närrische Elferrat, der in Berlin CSD-Komitee genannt wurde und über die Einhaltung der karnevalistischen Regeln wachte, zeigte sich wieder einmal einfallsreich und gab als Motto: »Selbstbewußt andersrum« aus. Es war das Ergebnis eines langen kreativen Schaffensprozesses. Wie in Mainz und Köln wurde auch in Berlin das Fest der Fröhlichkeit mit großem Ernst vorbereitet. Bereits im Februar war mit den Vorbereitungen begonnen worden. Das Komitee trat zusammen und unterteilte sich erst einmal in Arbeitsgruppen, deren jeweilige Sprecher die mühsam ausdiskutierten Ergebnisse dann in einem Sprecherrat vortrugen. Die Arbeitsgruppe »Demoroute« hatte die Aufgabe, die optimale Marschroute zu bestimmen. In wochenlangen, 260
leidenschaftlichen Diskussionen wurden verschiedene Alternativen gegeneinander abgewogen, bevor man sich dann letztendlich auf die bewährte, traditionelle Route einigte. Zur karnevalistischen Ordnung gehörte auch, daß nicht etwa jeder reden konnte, der glaubte, etwas zu sagen zu haben. Nein, man mußte einen Antrag stellen, in dem man um die Erlaubnis bat, in die Bütt steigen zu dürfen. Unsere Gruppe hatte sich dem närrischen Elferrat schon gleich verdächtig gemacht. Hatten wir doch gewagt, den Karneval sektiererisch ohne den nötigen Ernst zu betrachten. Die Brüder und Schwestern des Ordens wider den tierischen Humor belegten uns in einer Sitzung deshalb mit einer harten Buße: dem Redeverbot. Der dem Komitee wesensverwandtere Projektleiter hatte hinter den Kulissen schon eifrig gewirbelt und vom Komitee huldvollst den Zuschlag erhalten. Auf den Protest der anderen Aids-Gruppen hin wurde uns anheimgestellt, untertänigst ein Gesuch zu stellen, damit auch wir das Wort ergreifen dürften. Meine niedersächsische Freundin und ich machten uns einen Spaß daraus, dieses Mensch-lach-dich-kaputt-Spiel mitzuspielen. Schon der Anblick des hohen Komitees war reine Realsatire. Der Vorsitzende lugte schweinsäugig hinter seinen großen Brillengläsern auf eventuelle Indizien des »Komitee-nicht-ernst-nehmens«, die er als Beweis unseres karnevalistischen Hochverrats hätte verwerten können. Ihm zur Seite, gleich Robespierre neben Danton, wie eine hysterische Ente neben einer phlegmatischen Gans, saß ein Franzose, der die Tagesordnung handhabte, als stellte sie den einzigen Grundwert der französischen Revolution dar. Hier waren Kleinbürger an ein Zipfelchen Macht gekommen. Diese vermutete Macht stärkte wäh261
rend der Sitzung ein ansonsten schwach entwickeltes Rückgrat. Die Würde des Amtes ließ sie mit verkniffenen Gesichtern die Kardinalsünde der Banalität begehen. Zum ersten Mal im Leben hatten sie etwas zu vergeben. Und sei es auch nur das usurpierte Recht, den Aids-Gruppen das Wort zu erteilen. Meine niedersächsische Freundin, die vom elterlichen Kramladen her gewohnt war, sich mit solchen Humankarikaturen abzugeben, verlas ein untertäniges Gesuch, in dem sie um Milde bat. Wer sich bewußt erniedrigt, ist schon erhöht. Von der vermeintlichen Höhe einer vermeintlichen Macht ist es schwer, die verborgene Ironie zu erkennen. Während wir draußen vor der verschlossenen Tür auf den weißen Rauch warteten, der der Hauptbestandteil dieser Persönlichkeiten zu sein schien, beriet man drinnen wie in einem Konklave. Man gab huldvollst unserem Gesuch statt, daß auch wir reden durften. Wir gaben die Hoffnung nicht auf, daß dieser stumpfe Keil, der sich als die Speerspitze der Schwulenbewegung der neunziger Jahre ausgab, auch weiterhin für realsatirische Kabinettstückchen sorgen würde. Unsere Hoffnung wurde erfüllt. Mich erfüllte es mit Genugtuung, daß wir unser erheucheltes Rederecht gar nicht nutzten. Als karnevalistischen Beitrag der Aids-Kranken zu diesem Rosenmontagszug hatten wir einen Beerdigungszug beigesteuert. Hinter einem rosafarbenen Sarg, der mit Sektflaschen gefüllt war, fuhren wir in einem angemieteten weißen Cadillac-Cabriolet als Staatswitwen verkleidet. Der fröhliche Zug der Totgeweihten drückte mehr aus, als wir in Reden hätten ausdrücken können. Wir wollten den 262
Passanten vermitteln: Fürchtet Euch nicht! Unsere Leichen leben noch. Es gibt ein Leben mit der Krankheit. Es gibt ein Lieben mit dem Virus. Es gibt ein Lachen mit dem Tod. Der Tod holte viele aus unseren Reihen. Es war wie im Krieg, von dem mir mein Großvater erzählt hatte. »Neben dir fallen die Kameraden, und du mußt weiter. Jedes Stillstehen, jedes Innehalten würde den eigenen Tod bedeuten«, hatte er mir gesagt. »Wir müssen immer weiter vorwärts, niemals mehr zurück«, wie es in einem schwulen Kampflied heißt. Wir kämpften an vorderster Front. Wir arbeiteten mit an der Umstrukturierung der Aids-Organisation. Wir machten Aktionen gegen homophobe Chefärzte, die ihren schwulen Patienten verweigerten, sich in ein Zimmer zusammenlegen zu lassen, weil sie Orgien im Sterbebett befürchteten. Wir demonstrierten gegen Bademeister, die HIV-Infizierten den Einlaß ins Schwimmbad verwehrten, weil sie die Ansteckung über das gechlorte Badewasser befürchteten. Wir gaben Interviews für Zeitungen, machten Infoveranstaltungen in westdeutschen Städten. Wir informierten, klärten auf, machten Mut. Wir hofften auf Veränderung. Krankheit und Gesundheit sollten nicht länger nur als Aufgabengebiet der Mediziner angesehen werden. Die Kranken, und zwar nicht nur die Aids-Kranken, sollten mündige Patienten werden. Aber wer waren »wir«. Wir, das waren ungefähr ein Dutzend Leute, die anstelle von fünfundzwanzigtausend
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Positiven in der Stadt das Maul aufmachten. Einer von uns war Alex. Ich hatte ihn 1978 auf einer Party in Frankfurt kennengelernt. Es war meine erste Punkparty. Die Wohngemeinschaft hatte eingeladen, um den Auszug aus der Wohnung zu feiern. Sie war fast vollständig ausgeräumt. Mit Ausnahme der Matratzen im Gemeinschaftsschlafzimmer. In der Küche türmten sich Unmengen von Bierdosen, und der einzige Schmuck des Hauptraumes bestand aus einem Sarg, in dem ein Tonbandgerät installiert war, das tibetanische Totengesänge von sich gab. Nekrophilie war damals der letzte Schrei. Ich traf ihn elf Jahre später wieder. Alex hatte gerade sein positives Testergebnis bekommen und stieß zu unserer Gruppe. Er wurde eine der Säulen unserer Positivenarbeit. Trotz voranschreitender Krankheit jammerte und klagte er nie. Wenn ich ihn mit einem Satz bezeichnen soll, so fällt mir ein, daß er von angenehmer Unaufdringlichkeit war. Er behielt nicht nur die Fassung, er bewahrte auch bis zuletzt sein gutes Aussehen. Mit seinen fast einunddreißig Jahren ging er immer noch als Anfang Zwanzig durch. Anders als bei Franz Schubert hatte sich der Tod diesmal einen Jungen herausgesucht. Der wilde Knochenmann ging nicht vorüber, sondern packte das schön und zart' Gebild' mit aller Ungeduld und Eile: 12 Uhr mittags Das Telefonklingeln reißt mich aus dem Schlaf. Das Krankenhaus habe angerufen. Das Befürchtete, Erwartete, Unvermeidliche nehme jetzt seinen Lauf. Es gehe zu 264
Ende. Man habe nicht die Möglichkeit, sich mit der notwendigen Intensität um Alex zu kümmern. Ob wir bereit seien. Natürlich. Keine Frage. Thomas holt mich mit dem Wagen ab. Wir fahren ins Krankenhaus. Im Flur empfängt uns die Patientenkaffeerunde. Wir gehen an der emsigen Fröhlichkeit vorbei. Im zweiten Zimmer links liegt Alex. Die versagende Leber hat ihn gelb eingefärbt. Thomas ist bleich. Es ist seine erste Leiche, wie wir bei uns in der Gruppe unsere sterbenden Freunde makaberliebevoll bezeichnen. Er muß sich an Alexens Anblick gewöhnen. Ich lasse die beiden allein. Gehe in der AidsHilfe den gewohnten Tagesgeschäften nach. Es scheint mir alles so banal. Die Telefonate, die Presseerklärungen, die Gruppensitzungen. Ich denke an ein Gespräch mit Alex, das wir mal auf einer Urlaubsfahrt nach Bornholm geführt hatten. Unser jeweiliger Tod sollte mit Champagner und Lachs begangen werden. Ich hatte damals gedacht, daß ich vorangehen würde, und mir vorgenommen, Alex zuzuwinken, wenn er mir an meinem Sterbebett mit der perlenden Blase der Witwe Clicquot zuprostete. Nun soll der Sektkelch nicht an mir vorübergehen. Ich gehe in den Supermarkt. Für Alex darf es schon eine teurere Marke sein. Das ist er mir wert. 20 Uhr Ich fahre zurück ins Krankenhaus. Ich stelle im Patientenaufenthaltsraum den Sekt und den Lachs kalt. Ich löse Peter ab, der zusammen mit Thomas den Nachmittag über bei Alex war.
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Alex hat sich freigestrampelt. Die Bettdecke war ihm zur Last geworden. Er liegt nackt im Bett. Die einzige Bekleidung, die er hat, sind die Kaposi-Flecken, die in der schummrigen Beleuchtung schwarz aussehen, und der Blasenkatheter, der mittels eines Plastikschlauches mit dem Urinbeutel verbunden ist. Nein Alex, keine Angst, wir halten dich nicht für häßlich oder entstellt. Im Gegenteil Mir fällt das Bild einer Pietà ein. Jesus nach der Kreuzabnahme. Ihm zur Seite Maria und Maria Magdalena, die heilige Nutte. Maria Magdalena schaut mich durch ihre Brille an. Wenn Thomas Berührungsängste hatte, so hat er sie jetzt überwunden. Er hält die Hand von Alex. Wir haben uns bewußt unbewußt auf niedrige Sessel gesetzt, so daß Alex zu uns herabschauen kann. Es soll nicht der leiseste Eindruck entstehen, daß wir die überlegenen Helfer sind. Wir wollen Begleiter sein in dieser »schweren Stunde«, die noch zweimal acht Stunden dauern soll. Tja, Alex, Du hast eine Geburt vor Dir, und daß es keine allzu schwere Geburt wird, dafür sind zwei Hebammen anwesend. Mir fällt der altmodische Ausdruck für Hebammen ein. Er heißt Wehmutter. Die Wehen von Alex werden gelindert durch ein Mittel, das mit der Geschwindigkeit von einundvierzig Millilitern pro Stunde den Infusomat durcheilt, um in die Blutbahn von Alex zu gelangen.
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In zehnminütigen Abständen macht sich sein dennoch empfundener Schmerz in einem Stöhnen Luft. Alex, Kind, ich will nicht, daß Du leidest. Ich möchte, daß Deine Geburt leicht verläuft. Daß Du nach durchstandener Geburt mit viel Glück in Form von Endorphinen belohnt wirst. Ich drücke Dir die Daumen und Deine Hand, daß alles gut verläuft. 24 Uhr Die Luft im Zimmer ist stickig. Thomas öffnet das Fenster. Ich signalisiere ihm, das Fenster wieder zu schließen. Halte gerade noch die Aussage zurück, Alex könne sich ja bei der kalten Außenluft den Tod holen. Ich muß innerlich lachen über die Gedankenlosigkeit, die sich manchmal in Sprache ausdrücken kann. Wir brauchen keine frische Luft. Die Stickigkeit im Zimmer macht uns nichts aus. Wir atmen alle drei dieselbe Luft. Und es ist gut so. Das Atmen von Alex hat sich in den letzten drei Stunden verändert. Es erinnert mich an das Atmen von Reinhold, damals, eine Stunde vor seinem Tode. Ist es jetzt schon soweit? Ich gehe in den Aufenthaltsraum. Rauche eine Zigarette. Ich darf jetzt nicht müde werden. Ich muß voll konzentriert sein. Ich öffne die Flasche. Gieße den Schampus in zwei Gläser. Gehe wieder zurück ins Zimmer. Thomas und ich trinken das den Sektkelch symbolisierende Senfglas bis zur Neige aus. Die Schwester kommt.
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Bringt Zellstofftücher. Ich wische die Schweißperlen von Alexens Stirn. Ist es so anstrengend, Mädel? Er öffnet die Augen. Schaut zu dem Haltegriff, der über seinem Bett befestigt ist. Er streckt die linke Hand aus. Erreicht den Griff. Die rechte Hand will folgen. Sie fällt kraftlos runter. Schlägt auf seinem Hodensack auf. Er schreit auf vor Schmerz. Tut mir leid, daß ich eine hundertstel Sekunde zu spät reagiert habe, Alex. Er sagt etwas, das wie: »Helft mir« klingt. Thomas und ich stützen seine Arme auf dem Weg zum Haltegriff. Er scheint sich aufrichten zu wollen. Sein linkes Bein sucht den Kontakt zum Boden. Er will aufstehen. Wir würden ihm gerne dabei helfen. Aber er ist ja mit dem Katheterschlauch an das Bett gefesselt. Die Anstrengung ist zuviel für seine Lunge. Er hustet. Thomas reicht ihm den Spucknapf. Er sagt: »Scheiße.« Es sollten seine letzten Worte sein. Er fällt zurück auf das Kopfende des Bettes. Einige Tränchen kullern über mein Gesicht. Thomas wischt seine Brillengläser ab. Er streichelt das Bein von Alex, das immer noch Bodenkontakt hat. Alex beginnt, ruhig zu schlafen.
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6 Uhr Thomas muß in seine Firma. Um Bescheid zu sagen, daß er heute nicht arbeiten wird. Ob er wohl ein Schild anbringt: »Aus familiären Gründen geschlossen?« Ich setze mich an den Platz von Thomas. Die Hand von Alex gleitet in die meine. Für einige Sekunden wird der Morphiumvorhang, der seinen Blick verschleiert hat, zur Seite geschoben. Aus seinen Augen schaut der Alex, den ich gekannt habe. Ich lächle ihn an. Ich möchte, daß Du Dich wohlfühlst. Daß Du die Reise, die Du jetzt antrittst, genießt. Weißt du noch, wie wir uns den Namen für den Positivenladen ausdachten? Du fandest meinen Vorschlag »Happy-End« damals auf Anhieb gut. Wenn es schon kein Happy-End gibt, so soll zumindest das Ende happy sein. Zumindest den Umständen entsprechend. Oder wie wir zwei damals in Köln nach durchfeierter Nacht in einem gräßlich eingerichteten Hotelzimmer aufgewacht sind. Die Etagendame war doch ein wenig irritiert, als sie uns so engumschlungen liegen sah. Daß wir in keuscher Brüderlichkeit so lagen, konnte ihre verderbte Phantasie damals nicht erkennen. Oder wie wir uns kennenlernten. Damals vor zwölf Jahren in eurer Frankfurter WG. Zur Feier der WG-Auflösung war der Hauptraum mit einem Sarg geschmückt gewesen. War das ein gutes oder schlechtes Omen gewesen? Die Bettschwestern kommen ins Zimmer. Sie können nicht dulden, daß du entblößt im Bett liegst. Die Routine ordnet an, daß Sterbende ordentlich gebettet zu sein haben.
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Ich muß deine Hand los- und den Baum verlassen. Ich komme zurück und sehe dich ordentlich aufgebahrt. Die Bettdecke schließt züchtig mit deinem Kinn ab. Hoffentlich hast du bei dieser Bettung keine Schmerzen gehabt. Der Krankenhausalltag hat dich deines Bodenkontaktes beraubt. Dein linkes Bein liegt wieder ordnungsgemäß im Bett. Es ist zum Heulen. 9 Uhr Thomas ist wieder da. Jetzt fließen hundert Milliliter der Dröhnung in deine Adern. Deine Atmung kann man jetzt, medizinisch korrekt, als Schnappatmung bezeichnen. Unter deinen Lidern sind nur noch das eingegilbte Weiße und die untere Iris erkennbar. Ich hoffe, Du siehst jetzt etwas sehr Schönes. Und ich hoffe, daß Du die Geräusche des Krankenhausalltags nicht ebenso störend empfindest wie Thomas und ich. Die Spülfrau kommt und läßt sich auch von deinem Anblick und unseren wütenden Blicken nicht davon abhalten, klirrend die Gläser einzusammeln. Über die Rufanlage werden irgendwelche Namen zu irgendwelchen Zimmern gerufen. Vor der Tür unterhalten sich zwei Patienten über ihre Haarprobleme. Es ist zum Kotzen. Nicht mal beim Sterben ist man vor der Banalität des Alltags sicher.
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10 Uhr Dein Freund und Mitbewohner kommt. Thomas und ich lassen dich mit ihm allein. Wir vertreiben im Aufenthaltsraum unsere Müdigkeit mit Kaffee und unseren Hunger mit Lachsbrötchen. Jetzt haben wir Gelegenheit, miteinander zu reden. Zu reden über das, was wir in der vorangegangenen Nacht gedacht und gefühlt haben. Und was wir, um dich nicht zu stören, nicht bereden konnten. Thomas geht nach Hause, um gegen 16 Uhr nach etwas Schlaf wiederkehren zu können. 12 Uhr mittags Du atmest jetzt im Viersekundentakt. Ich drücke dir die Daumen, daß du es bald geschafft haben mögest. Laß los, Alex. Bald hast Du es geschafft. Ich wünsche Dir ein wohliges Gefühl dabei. Alles Gute. Die Intimität dieser Situation wird durchbrochen von einem jähen Türklinkendrücken. Zwei Arbeitskollegen kommen betroffen herein. Der Raum ist überfüllt. Dein Freund und ich gehen hinaus. Ich bete innerlich, daß die beiden einen Funken Takt haben mögen und ihre Visite auf das für sie Notwendige beschränken mögen. Nach einer Zigarettenlänge gehen dein Freund und ich wieder zu dir. Der eine Arbeitskollege sitzt jetzt auf dem Stuhl deines Freundes. Der andere, zu dem du nicht gerade die freundschaftlichsten Kontakte gehabt hast, steht am Fußende des Bettes und starrt dir ins Gesicht.
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Alex, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Sie haben kein Gefühl dafür, daß sie aus dem Tempel deines Loslassenkönnens ein Leichenschauhaus machen. Sie glauben, sie täten dir etwas Gutes, wenn sie zu eigenem Nutz und Frommen hier versammelt sind. Ich unterdrücke meine Wut. Bloß jetzt nicht eine ungute Energie in diesem Raum aufkommen lassen. Nicht das Happy- in ein Angry-End mutieren lassen. 13.15 Uhr Die letzten zehn Minuten hast du im Sechssekundentakt geatmet. Noch ein klein wenig, und es ist vollbracht. Nur einige Sekunden trennen dich vom Paradies, das wir nie religiös interpretiert hatten. Jetzt. Dein letztes Einatmen. Sekundenlange Stille. Der Atem dringt in einem Stöhnen nach außen. Ich schaue zum Krankenpfleger. Er weiß, daß du noch nicht tot bist. Daß dein Gehirn, das dich ja letztendlich ausgemacht hat, noch für etwa vier Minuten lebt. Er tritt zu dir und massiert dir sanft die Schultern und den Hals. Ich bin glücklich darüber, daß dein Ende doch noch happy geworden ist. Ach Alex. Schön, daß Du es geschafft hast. Ich freue mich mit Dir. »Er ist jetzt tot«, sagt der Krankenpfleger nach einigen Minuten. Die Arbeitskollegen trauern, wie sie es gelernt 272
haben, und verlassen den Raum, um dein Ende Urbi et Orbi telefonisch zu verkünden. Dein Freund geht nach draußen. Er war zum ersten Mal mit Sterben konfrontiert. Wie er diese Erfahrung wohl verarbeitet? Ich sitze noch eine halbe Stunde bei dir. Oder vielmehr bei deinem leblosen Körper. Ich entwerfe deine Todesanzeige. Sie besteht nur aus deinem Namen und dem Wort: »Schade«. Das Pflegepersonal kommt in den Raum, um dich fertig zu machen. Ich gehe während der Prozedur nach draußen. Rauche eine Zigarette. Gehe wieder hinein. Jetzt ist Zeit zum Abschiednehmen. Zwei Tränchen kullern. Ich streichle dir über dein Gesicht, dessen Kinn durch eine Mullbinde hochgebunden ist. Tschüs, Alex. Bis bald. Die Trauerfeier für Alex fand in seiner Arbeitsstätte statt. Mittels Kerzenlicht war dem Raum Stimmung verordnet worden. Der Chef hielt eine Traueransprache. Die fernsten Arbeitskollegen verhielten sich wie die engsten Angehörigen. Die beiden, die in Alexens Todesstunde ihre voyeuristischen Bedürfnisse ausgelebt hatten, standen herum, als wären sie Witwen, die auf die Kondolenzen warteten. Thomas und ich saßen in der hintersten Reihe. Wir beobachteten die Ansammlung von geballter Betroffenheit. Mit steigendem Rotweinpegel wurde die Stimmung dann aufgelockerter, so daß man sich den eigentlich wichtigen Dingen des Lebens zuwenden konnte. Der Frage nämlich, wie sich wohl ein Rotweinfleck aus dem Teppichboden entfernen lasse. Das Leben muß ja weitergehen. Warum sollen sich die Menschen auch ändern? Erwarte ich zuviel von ihnen? 273
Kann ich verlangen, daß sie sich angesichts einer tödlichen Krankheit verändern? Daß sie angesichts des Todes ihre Banalität ablegen? Ungeschützte Analität führt zur HIV-Infektion. Das kann man in Broschüren lesen. Gibt es auch eine Broschüre, die vor den Gefahren ungehemmter Banalität warnt, die ja letztendlich tödlicher ist?
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H
eute ist der 14. Februar 1991. Heute bin ich in ein Einzelzimmer verlegt worden. Also hat man jetzt endlich zur Kenntnis genommen, daß ich ein großer Dichter bin. Wahrscheinlich haben sie in dem Manuskript gelesen, das ich in meinem Nachttischschrank verwahrt habe. Das Manuskript, an dem ich siebenunddreißig Tage gearbeitet habe und das mein ganzer Stolz ist. Siebenunddreißig Tage, die wie im Fluge vergangen sind. Wann hatte ich zu schreiben begonnen? Ach ja, Heiligabend. Als meine Stimme weggeblieben war. Ich hatte mich völlig hilflos gefühlt. Ich sah die Weihnachtsfeierer um mich herum, wie sie Sekt tranken und das kalte Büffet verschlangen. Hier wurde gefeiert, und daheim im Krankenhaus starben die Leut'. Ich hatte den ganzen Tag gearbeitet, und jetzt war ich zu kaputt, um mitfeiern zu können. Eine ungeheure Wut kam in mir hoch. Ich wäre am liebsten auf das Fensterbrett gestiegen, hätte in die Runde gerufen: »Leckt mich doch alle am Arsch« und wäre aus dem vierten Stock gesprungen. Aber was hätte das geändert? Die Leute wären für zwanzig Minuten tief betroffen gewesen und hätten danach ein wenig stiller und besinnlicher weiter dort gesessen, wo sie saßen. Ich konnte ihnen ja auch nicht ihre Fröhlichkeit vorwerfen. Ja, ich konnte ihnen nicht mal vorwerfen, daß sie stumpf waren. Daß sie sich alle auf der Ebene der wüsten Banalität bewegten. So wie ich anfangs an der schwulen Ur-Einsamkeit gelitten hatte, die mich glauben ließ, das einzige Exemplar der Gattung Homo homosexua275
lis zu sein, so hatte ich später geglaubt, das einzige Exemplar der Gattung Homo metacognitans zu sein. Und ich hätte doch gerne jemanden gehabt, der die Welt von der gleichen Warte sieht wie ich, der mir zur Seite steht, wenn ich die Welt von oben betrachte. Ein Bruder, der mit mir zusammen die Welt verachtet. Einen solchen Bruder hatte ich geglaubt, in Thomas gefunden zu haben. Es hatte ihn mir liebenswert gemacht, daß ich mich mit ihm über Camus unterhalten konnte. Er müßte mich doch als einziger verstehen, hatte ich an dem Weihnachtsabend geglaubt. Ich versuchte, mich ihm mitzuteilen. Ihn an meinen Gedanken teilhaben zu lassen. Er verstand mich nicht. Meine Stimme war zu heiser. Ich ahnte, daß ich nie mehr würde sprechen können. Die schlimmste Folter, die ich mir hatte vorstellen können. War doch mein Mund mein Zentralorgan gewesen, mein Leben eine einzige orale Phase. Die Sprachlosigkeit war eine Behinderung, die ich mir schlimmer als die Blindheit vorgestellt hatte. Denn Blindheit stärkt die Phantasie. Man kann sich die Welt so zurechtsehen, wie man sie haben möchte. Aber Sprachlosigkeit? Sich nicht mehr mitteilen können? Da hätte ich ja gleich Schluß machen können, gleich aus dem Fenster springen können. Aber halt, ich war ja nicht sprachlos. Ich konnte nur nicht sprechen. Die Sprache hatte ich behalten. Nur mein Sprechzentrum war zerstört, nicht mein Sprachzentrum. So begann ich am nächsten Tag in der Aids-Hilfe zu schreiben. Ich schrieb zehn Stunden täglich. Ich schrieb wie ein Wahnsinniger. Ich wusch mich nicht mehr. Ich rasierte mich nicht mehr. Ich aß nicht mehr. Ich lebte nur noch von Kaffee und Zigaretten. Ich inhalierte mein ganzes Leben. Ich ließ den Rauch auf mein Gehirn wirken, 276
das den Teer und das Nikotin aufnahm und das Kohlenmonoxyd wieder ausstieß. Je stummer ich wurde, um so besessener schrieb ich. Ich wurde von einer inneren Peitsche angetrieben, die mich immer weiter trieb. Ich war mein eigener Meister. Ich schlug auf mich selbst ein, indem ich meine Erinnerungen in die Tastatur des Computers schlug. Ich schrieb immer schneller im Wettlauf mit meiner Zeit. Ich ging immer stärker mit mir selbst ins Gericht. Ich drang immer tiefer in mich ein. Ich nahm die Außenwelt nicht mehr wahr. Ich fürchtete die Banalität der Bürogespräche um mich herum. Ich wollte mich von der Banalität nicht umbringen lassen. Merkt ihr denn nicht, daß ich, indem ich von meinem Leben schreibe, um mein Leben schreibe? Warum seid ihr bloß so stumpf? Warum sind euch die Zahlen des letzten Jahresberichts, die ihr ausgerechnet jetzt in den Computer eingeben wollt, wichtiger als mein Lebensbericht? Was regt ihr euch über meine schlampige Kleidung auf? Seht ihr denn nicht, daß sich hinter dem Penner ein Prinz verbirgt, ein Dichter, ein schwuler Goethe? Goethe schrieb den ›Faust‹. Ich schreibe mit der Faust. Mein Leben bestand fortan nur noch aus Schreiben und Schwulenszene. Ich schaute die Brüder und Schwestern im Herrn, der den Namen Alkohol hatte, mit anderen Augen an. Sie waren doch alle Kinder. Sie spielten ihre Spielchen und schlossen die Augen vor der Gefahr. Ab und zu brach der große Wolf zwar in die Herde der spielenden Geißlein ein und riß eines von ihnen. Das Spiel ging weiter. Die fehlenden Geißlein wurden durch andere ersetzt. Wer gab mir das Recht, wie eine böse Ziege in dieses Spiel einzugreifen? Den Wolf zu töten, hätte ich ja ohnehin nicht vermocht. Ich hätte die Geißlein nur geängstigt, und sie 277
wären vom Wolf gerissen worden, ohne vorher gespielt zu haben. Wenn man sich nicht mehr wehren kann, sollte man es genießen. Ich war entschlossen, stellvertretend für sie in den Tod zu gehen. Ich wollte die Sünden ihrer Banalität auf meine Schultern nehmen. Ich vergab ihnen, denn sie wußten nicht, was sie taten. Ich wollte ihnen Gelassenheit vorleben. Wollte vorangehen im Tod, um ihnen zu zeigen, daß sie keine Angst davor zu haben brauchten. Ich, der heimliche Prinz des Lebens, wollte mich vom Meister Tod rannehmen lassen. Wollte erster Sklave sein, um die anderen Sklaven, die unweigerlich zu folgen hatten, durchs Zuschauen aufzugeilen, so daß auch sie bereitwillig und froh den Ewigen Sling bestiegen. Im Loslassenkönnen und in der Öffnung liegt die Lust. Im Tod liegt das Leben. In der Niederlage der Sieg. Am 16. Januar hatte ich fast zwei Drittel des Buches fertig. Ich ging ins »Tom's«. Es war wie immer. Das Bier floß. Die Schwulen standen herum und schauten Pornos an. Um zwei Uhr früh wurden die Filme gestoppt, und Sabine Christiansen nahm den Platz von Pornostar Al Parker ein. Die S/M-Nummer, die vorher zu sehen gewesen war, wurde durch etwas Aufregenderes ersetzt. Die ›Tagesschau‹-Sprecherin meldete, daß der Krieg begonnen habe. Ein Krieg irgendwo am Golf, ganz weit weg. So weit weg wie New York von Berlin war, als dort die ersten AidsFälle auftraten. Während der zehnminütigen Nachrichtensendung war die Atmosphäre schockgefroren. Niemand sprach. Die Stimmung war vereist. Wie würden sie jetzt reagieren, wenn die Nachricht käme, daß der Diktator eine Atomrakete nach Berlin gestartet hätte? Die Flugzeit würde noch 278
eine halbe Stunde dauern. Dann wäre Berlin zerstört und alles Leben vergangen. Einige würden wohl heulen und beten. Die Mehrheit würde jedoch Sekt bestellen, eine Linie Kokain nehmen und das Lokal zu einem einzigen hellen Darkroom machen. Alle Kleider würden abgelegt, und jeder würde nochmal versuchen, mit jedem zu ficken. Und alles würde enden in einem einzigen großen Orgasmus, der ewig dauerte, weil er ja der letzte war. Wie hatten doch Tunten des Berliner Schwulen-Zentrums gesagt: »Wenn morgen die Welt unterginge, würden wir uns heute dafür ein neues Kleid nähen.« Die SchwuZTunten als Brautjungfern bei der Vermählung mit dem Meister Tod. Nach der Sonder-›Tagesschau‹ wurden wieder die Pornos und die Musikanlage angestellt. Das Leben und der Umsatz mußten ja weitergehen. Ich begann die Kinder, die meine Spielgefährten gewesen waren, zu lieben. Ich trank mit einem von ihnen ein Abschiedsbier und nahm ihn mit nach Hause. Farewell, Tom's Saloon, wo ich so oft Cowboy und Indianer gespielt hatte. Er sollte mein letzter Mann in diesem Leben werden. Ich gedachte, ihm in dieser letzten Nacht alles zu geben, was ich hatte, und ihm alles zu nehmen, was er hatte. Auf der Treppe zu meiner Wohnung sagte er mir, er sei von Beruf Frisör. Ich mußte innerlich lachen. Ausgerechnet ich sollte meine letzte Nummer ausgerechnet mit einem Frisör machen. Die erhabenste all meiner Sexualnummern, meine letzte Nummer also, sollte mit einem Vertreter des banalsten Berufs stattfinden, den man sich für Schwule denken kann? Wir gaben uns alles, was wir besaßen. Wir gaben uns sechs Sekunden Glück. Sechs Sekunden, die mehr Wert hatten als sechzig Jahre Ehe. 279
Am nächsten Tag sollte der Ernst des Lebens beginnen. Oder vielmehr der Ernst des Todes. Ich konnte meinen Arm nicht mehr bewegen. Und zwar meinen linken. Beide Arme waren plötzlich gelähmt. Horst brachte mich ins Krankenhaus. Toxoplasmose hatte der Arzt diagnostiziert. Wahrscheinlich übertragen von Schopenhauer und Nietzsche, meinen beiden Katern. Mein linker Arm war jetzt vollkommen gefühllos. Der rechte, vorher schon teilgelähmte, war jetzt der stärkere. Er mußte dem vorher stärkeren helfen, ihn unterstützen. Tags darauf waren auch die Beine betroffen. Ich konnte nicht mehr gehen. Jetzt war ich sowohl sprach- als auch hilflos. Der Krankenpfleger fuhr mich mit dem Rollstuhl in den Patientenaufenthaltsraum. Ich hatte jetzt einen Leibdiener, der für mich sorgte. Ich traf dort alle meine Untertanen wieder. Einigen von ihnen hatte ich früher die Gunst gewährt, mich für eine Stunde untertänigst als Untertan behandeln zu dürfen. Sie waren manchmal übermütig und keck gewesen, so daß ich ihnen meine Gunst wieder entziehen mußte. Der Bodybuilder mir gegenüber schaute mich demütig an. Er, der immer so stolz auf seine Muskeln gewesen war, der sich im »Knast« als Fürst der Finsternis geriert hatte, war jetzt seiner Muskeln beraubt. Wo sich früher seine Brustmuskulatur befunden hatte, hingen jetzt nur noch Hautfalten wie ein schlaffer Hodensack. Sein einst so herrischer Blick war durch Schmerzmittel gedämpft und weich. Er schaute mich an. Ich, den er mal als »Dickerchen« zu beleidigen versucht hatte, war jetzt schlank wie nie zuvor. Er sah in meine Augen und erkannte die »Mehrschaun-geborene« Venus, die sich aus der Fettschicht befreit hatte. Jetzt war ich die Königin und er der Diener. 280
Salome schaute Jochanaan an. Du hast mich deinen Mund nicht küssen lassen. Jetzt will ich ihn nicht mehr küssen. Dein Schwanz war eine große giftspritzende Schlange. Und jetzt bewegt sie sich nicht mehr. Sie ist, leblos geringelt zwischen den beiden Baumwurzeln, die unter deinem Nachthemd verborgen sind, zu erkennen. Ich war eine Fürstin, und du hast mich gedemütigt. Ich war eine Königin, und du hast mich verachtet. Wohlan, so werde ich dir meine Verachtung jetzt zeigen. Ich geruhe, dich nicht zu verachten. Ich werde meinen Blick auf dich richten, wenn du zur Bronchoskopie gefahren wirst, und werde dir zulächeln. Ein ganz klein wenig. Ich werde stumm lächeln. Denn jetzt, wo es zu spät ist, werde ich kein Wort mehr an dich vergeuden. Ich werde dich huldvollst dafür bestrafen, daß du mich schon wieder verkennst. Nein, nicht Claire Zachanassian sitzt hier im Rollstuhl mit ihren Prothesen. Ich bin nicht gekommen, um zu rächen. Feinde, die man besiegt hat, sind keine Feinde mehr. Ich bin Salome, die Tochter der Herodias, Prinzessin von Judäa. Und du bist mein fast toter Jochanaan. Ich werde dich auf die härteste Weise bestrafen, die mir möglich ist. Ich werde dir verzeihen. Ich werde dir die Todsünde des Mich-Verkennens vergeben. Denn du wußtest damals nicht, was du tatest. Ich schon. Vor die Wahl zwischen Schafott und Einfamilienhaus gestellt, würde ich mich auch heute wieder hocherhobenen Hauptes für das Schafott entscheiden. Das Schafott ist der angemessene Platz für eine Königin, das Einfamilienhaus ist die erdiente und verdiente Heimstatt für einen Bankangestellten.
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Ich gab meinem Leibdiener zu verstehen, daß er mich wieder zurück in meine Suite bringen möge, da ich allein zu sein gedachte. Ich wollte mein Buch zu Ende bringen. Und da hier kein Schreibcomputer aufzutreiben war, schrieb ich mühsam mit meinem teilgelähmten rechten Arm auf ein Blatt Papier. Was hatte mein Leben letztendlich zum Gesamtkunstwerk gemacht? Es schien mir gelungen, die Dichotomie des Banalen zu überwinden. Jene schlichte Trennung zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Oben und Unten, Mann und Frau, Aktiv und Passiv. Ich hatte entdeckt, daß es noch etwas Übergeordnetes gab, das diese lächerliche, platonische Unterscheidung überwinden half Liebe, Lust und Leiden bildeten jene Heilige Dreifaltigkeit, die mich meinem Ziel immer näher hatte kommen lassen. Es war nicht jene banale Liebe, von der in Lore-Romanen die Rede ist. Es war die loslassende Liebe. Jene Liebe der Hauptdarstellerin in ›Harold and Maude‹, die auf Harolds Bekenntnis, daß er Maude liebe, sagte: »Das ist wunderschön. Geh hin, und lieb noch viele andere.« Nicht die besitzergreifende Liebe, sondern die loslassende. War ich in meinem Leiden zum Messias geworden? Auch die Lust war eine andere, als sie in Pornofilmen den Voyeuren vorgegaukelt wird. Al Parker als Gundel Gaukelei. Ich begann, Lust nicht mehr mit dem Olympia entlehnten Motto des »schneller, höher, kräftiger« zu definieren, sondern in Begriffen wie »langsamer, tiefer, intensiver«. Die Rolle von Mann und Frau wurde abgelegt. Indem ich mich öffnete, drang ich ein. Indem ich eindrang, öffnete ich mich. Schwuler Sex als Überwindung der männlichen und weiblichen Prinzipien? Liegt im Haschisch 282
Wahrheit? Im Fickenlassen die Klarheit? Das Leben ein einziger Faustfick? Leiden zu lernen war am schwersten gewesen. Ich hatte vor Schmerzen immer Angst gehabt. Hatte mich mit einer dicken Schicht der Schmerzabwehr umgeben. Jetzt, da ich ganz dünn war, drangen die Infusionsnadeln ganz leicht in die Haut. Sie taten nicht mehr weh. Ja, im Gegenteil, sie taten gut. Der befürchtete Schmerz war zur Lust geworden. Ich fühlte mich glücklich. Warum hatte ich mich denn so lange dagegen gewehrt? Warum hatte ich denn immer der Stärkere sein wollen? Warum hatte ich mich vor Schwäche gefürchtet? Jetzt, wo ich hilflos im Bett lag, war ich stark. Ich hatte genug Stärke, um davon abgeben zu können. Ich wollte sie meinen Erben, die um mein Bett versammelt waren, als Vermächtnis geben. Ich hatte ja mein Buch im Nachttisch. Oder jedenfalls das letzte Drittel, das ich mit meinem halbgelähmten Arm geschrieben hatte. Das war mein Testament, in dem ich meine Erben mit meinen wertvollsten Gütern, die ich besaß, meiner Stärke und meinem Glauben an mich, bedachte. Hoffentlich würden sie das Erbe gut anlegen und nicht verschleudern. Uwe, Charly und Jessica aus der Aids-Hilfe waren um mein Bett versammelt. Uwe und ich hatten während meiner Zeit in der Aids-Hilfe die gleiche Mätresse beschlafen. Wir hatten sie beide geliebt, ohne aufeinander eifersüchtig zu sein. Die Sprache war unsere gemeinsame Geliebte gewesen, die wir voller Lust gebrauchten, ohne sie zu mißbrauchen. Mit der wir ein Verhältnis gehabt hatten, ohne sie vollkommen zu beherrschen. Jetzt schaute er seinen Nebenbuhler, dem er ohne Konkurrenzdenken die 283
Geliebte an seinen freien Tagen zur Verfügung gestellt hatte, verständnisvoll an. Wir waren uns über die gemeinsame Geliebte nähergekommen. Charly hatte ich in meiner Endphase als ein Kind erlebt, das meine kindlichen – nicht kindischen – Spiele am besten nachvollziehen konnte. Er schaute mich jetzt mit feuchten Augen an, und ich hätte ihn so gerne mit einem Stück Fleischwurst getröstet. Jessica, die mitgelitten hatte während der Zeit, in der ich meinem Freund, dem Computer, von meinem Leben erzählte, und die mir während meiner Schwangerschaft als gute Freundin zur Seite gestanden hatte, hielt meine Hand. Wollte sie bei der bevorstehenden Geburt die Rolle der Hebamme, der Wehmutter, einnehmen? Es war ein Bild der Idylle. Der Meister kam in den Raum. Er hatte Ähnlichkeit mit Reinhold. Ich wunderte mich, daß er kein schwarzes Leder trug. In seinem weißen Kittel sah er eher aus wie ein Schlachtermeister. Welches Schwein er jetzt wohl schlachten wollte? Er fragte mich, ob er mir eine Droge geben könne. Sie werde mir bei dem, was mir bevorstehe, so manches erleichtern. Ich konnte nicht mehr sprechen. Mein Mund war wie geknebelt. Ich konnte nur grunzende Laute der Zustimmung geben. Schweine müssen stumm sein. Nackt war ich schon. Er befeuchtete die Stelle, in die er jetzt gleich stechen wollte. Bloß nicht verkrampfen, sagte ich mir. Sonst tut es weh. Er führte einen Finger ein. Es tat nicht weh. Er nickte seinem Assistenten zu. Er gab ihm das Zeichen, daß jetzt die größte Nummer aller Zeiten beginnen könne. 284
Der Assistent füllte die Droge aus einer kleinen Flasche um. Was für eine Droge das wohl war? Ein Betäubungsmittel, das man Schweinen vor dem Schlachten verabreicht, damit sie gelassener werden? Die Heiligen Drei Könige verließen den Raum. Sie wollten mich bei der bevorstehenden Nummer mit dem Meister nicht stören. Der Meister legte mir allerlei Spielzeuge an. Es tropfte. Es tropfte immer mehr. Aus dem Tropfen wurde ein Strahl, der sich wohlig warm in meinen Körper ergoß. Ich trank ihn wie Muttermilch. Ich saugte an der Kanüle. Ich wurde gieriger. Ich wollte immer mehr. Der Meister gab es mir, nachdem er sich vorher insgeheim mit seinem Assistenten verabredet hatte. Wollten sie mich jetzt fertigmachen? Das Schwein sollte geschlachtet werden. Die Droge hatte das Schwein willfährig gemacht. Der Assistent machte sich daran, es auszunehmen. Das Schwein war noch lebendig, aber es fühlte keinen Schmerz. Es grunzte zufrieden. Schweine müssen geschlachtet werden. Dazu sind sie geboren. Das Schwein ergab sich willig in sein Schicksal. Das Schwein war mit Ketten an die Gitter seines Pferches gekettet. Damit es seine Gliedmaßen nicht mehr bewegen konnte. Es genoß die Betäubung immer mehr. Der Meister peitschte auf das Schwein ein. Die Schläge ließen das Blut pulsieren. Sie wärmten den Körper innerlich. Die Schläge prasselten wie Regentropfen auf ein Blechdach. Mein Gott, ist das schön. Mit jedem Peitschenhieb komme ich meinem Ziel näher. Ich habe den Schmerz überwunden. Ich bin der Herr des Schmerzes geworden. Ich denke an Alar. Ich denke an Bertram. Ich denke an den Meister. Alle drei Personen sind jetzt zu einer einzigen geworden. Sie sind für mich zu 285
Gott vereint. Ein Gott, der mir zur Lust geschaffen wurde. In der Vereinigung dieser drei Prinzipien liegt die Lösung. Ich lasse los. Ich entspanne mich. Nur die Verkrampfung hatte mir Schmerz bereitet. Das Nichtloslassenkönnen. Es war, als wäre ich auf dem Gipfel eines Berges gestolpert und hätte mich mit einer Hand verzweifelt an einen spitzen Felsbrocken geklammert. Der Stein schnitt schmerzhaft in meine Handfläche. Unter mir waren fünfhundert Meter Abgrund. Über mir ein halber Meter zum Gipfel. Auf dem Gipfel stand der Meister. Sein Assistent spendete mir noch eine Zusatzportion Glück. Das Sakrament der letzten Dröhnung. Ich ließ los. Ich ließ mich ganz fallen. Ich schwebte. Millionen kleiner Sendboten flogen zu den Gehirnzellen, um sie zu streicheln. Ich wurde millionenfach gestreichelt. Die Summe der Gefühle, die ich beim Streicheln empfand, vereinigten sich zu einer Gesamtheit des Gefühls, ich zu sein. Ich hatte mein Ich entdeckt – in diesem Netzwerk von Milliarden Neuronen. Ich hatte das Glück geschaut, ja, ich hatte es gefunden. Ich, der Messias der Aids-Kranken, das Licht der Schwulen, der Prinz der Eltern, ich hatte diese drei Bestandteile miteinander verknüpft. Ich ward Ich. Ich ward Gott. Gott ward ich. Ich bin Gott! Gott ist tot. »Er ist jetzt tot«, sagte Schwester Anita zu den drei bleichen Besuchern. »Sie können noch einmal hineingehen, bevor wir die Formalitäten erledigen müssen.« Die drei Besucher betrachteten das im Bett liegende Insekt. Napoleon sah aus wie eine ausgesaugte Biene. Der übergroße Kopf hing an einem ausgemergelten Körperchen, der voller violetter Streifen war. Er wirkte insgesamt wie ein 286
umgedrehtes Ausrufezeichen. Das Gesicht war eingefallen und bläulich eingefärbt. Eines der Augen war geschlossen. Das andere war halbgeöffnet in der Augenhöhle vergraben. Die Pupille starrte zur Decke. Die drei Besucher wandten sich ab, um wieder ihrer Arbeit in der Aids-Hilfe nachzugehen. Schwester Anita räumte den Nachttisch auf Inmitten des vielen Gerümpels entdeckte sie fünf Blatt Papier im DinA5-Format, die in zittriger, fast unleserlicher Schrift beschrieben waren. Sie entzifferte mühsam: Berlin, den 31. August 1953 Schon die Datumsangabe, die Schwester Anita als das Geburtsdatum Napoleons wiedererkannte, machte sie stutzig. Sie entzifferte weiter: Meine fünf tugendreichen Tanten, Ihr habt Euch immer große Mühe gegeben, mich, der ich als Linkshänder zur Welt gekommen bin, umzuerziehen. Die Tatsache, daß ich heimlich mit der »verkehrten« Hand schrieb, hatte für mich jedoch den Vorteil, daß ich auch von hinten zu lesen gelernt habe. Wo Ihr zum Beispiel »Nebel« lest, vermag ich »Leben« zu lesen. Zum Dank für Eure mißglückte Umerziehungsarbeit vermache ich Euch meinen Onkel Otto. Denn bei Otto ist es egal, ob man ihn von vorne oder von hinten liest. Euer ungetreuer Neffe Beim Lesen des Namens »Onkel Otto« mußte Schwester Anita, die ihre Kindheit in Darmstadt verlebt hatte, ein wenig schmunzeln. Assoziierte sie doch dabei das Werbefernsehmaskottchen des Hessischen Rundfunks, das sie 287
früher mit großer Freude gesehen hatte. Sie las auf dem zweiten Blatt weiter: Heilige katholische Mutter, ich habe fast alle Deine Gebote nußachtet. Vor allem Dein zehntes. Du sollst nicht begehren deinen Nächsten. Darb ungut! Nur Dein achtes Gebot war mir heilig: Du sollst nicht lügen. Du sollst zu dir selbst stehen in guten wie in schlechten Lagen. Ich war ein losgelassener Erlöser und werde bald ein loslassender Erlöster sein. Ich werde angesichts des Todes von Dir loslassen. Denn Gott ist keine Sterbeversicherungsgesellschaft, bei der man auf die pünktliche Bezahlung der Policen achten muß. Dein verlorener Sohn Schwester Anita, die wußte, daß Napoleons Mutter schon über fünfzehn Jahre tot war, erklärte sich das wirre Geschreibsel mit der zum Schluß immer manifester gewordenen Aids-Demenz des Patienten. Sie machte sich daran, das dritte Blatt zu entziffern: Vater meiner, der Du warst im Pimmel. Geheiligt werde Dein Same. Mein Streich kam über Dich. Mein Wille geschah, so auf Pimmeln wie in Ärschen. Mein tägliches Glück nahm ich mir hier und heute. Und ich nahm mir die Geduld und huldigte meinen Duldigern. Und ich führte mich in Versuchung und erlöste mich so von dem Übel. Denn mein war das Fleisch durch meine Kraft und meine Ehrlichkeit. Für eine kleine Ewigkeit. 288
Samen. Dein ich-gewordener Sohn »Das ist ja der Gipfel der Blasphemie«, dachte sich Schwester Anita, die trotz ihres Kirchenaustritts im innersten katholisch geblieben war. Sie mußte an ihren Vater denken, der einem solchen Sohn das Kreuz durchgeprügelt hätte. Aber ihre anerzogene Sanftmut besiegte den in ihr aufkeimenden Zorn über den toten Napoleon, so daß sie schon ruhiger den vierten Zettel lesen konnte: Meine lieben Schweine, bedenket eines: Im Schwan ist die Kloake verborgen, die er dem Schwein vorwirft. Seid stolz, Schweine zu sein, denn sie sind liebenswerte Tiere, die zu Unrecht als unrein gelten. Ich segne Euch im Namen der Kater, der Mohne und des geilen Geistes. Freut Euch in den Herren, freut Euch alle Wege, aber freut Euch. Habt an Nacktsein Spaß. Hinter dem letzten Satz entzifferte Schwester Anita noch: »Ich hatte Spaß mit vier mal vier Philippern.« Napoleon wollte damit wohl die Anzahl seiner Liebhaber, die er gehabt hatte, dokumentieren, diagnostizierte sie. Sie griff zum fünften Zettel, der in fast mikroskopisch kleiner Schrift beschrieben war: Mein lieber kleiner Hans, wir sind jetzt seit siebenunddreißig Jahren zusammen. Du hast mich überallhin begleitet und bist mir immer treu geblieben. Ich habe Dich oft verleugnet. Ich weiß, ich habe mich Deiner geschämt, weil Du so klein, naiv und ehrlich warst. Ich wollte mich in der Öffentlichkeit nicht gerne mit Dir zeigen. Ich umgab mich lieber mit starken 289
Männern und edlen Prinzen, die dann immer wieder aus der Rolle gefallen sind. Dabei warst Du, im richtigen Licht betrachtet, stärker als alle Männer und schöner als alle Prinzen. Und ungemein liebenswert. Jetzt am Ende, erkenne ich Dich, wie Du wirklich bist. Ich erkenne Dich und schäme mich Deiner nicht mehr. Im Gegenteil: Ich bin stolz auf Dich, da Du so bist wie Du wirklich bist. Es ist schön, daß ich Dich wiedergetroffen habe, bevor es zu spät war. Ich danke Dir dafür. Ich vermache Dir das wertvollste Gut, das ich besitze, und drei Worte. Ich schenke Dir mein Vertrauen und: Ich liebe Dich. Ich habe Dich immer geliebt. Ja, ich glaube, Dich schon geliebt zu haben, bevor ich Dich kannte. Und ich habe mir fest vorgenommen, alles zu tun, um Dich glücklich zu machen. Selbst wenn ich dafür auf Dich verzichten müßte. Ich danke Dir für die gemeinsam verbrachte Zeit. Und ich danke Dir für die kurze Zeit, die wir noch gemeinsam verbringen werden. Bis in den Tod werde ich Dir ein guter Vater sein und Dich nie mehr allein lassen. Ich streichle Dir in Gedanken den Kopf und küsse Dich auf Deine Nasenspitze. Leb wohl, mein kleiner Hans, sei unbeschwert im Glück, und vermisse mich nicht allzusehr. Dein Dich liebender Ich-Vater Schwester Anita, die während ihrer Ausbildung einen psychiatrischen Lehrgang absolviert hatte, erkannte den bei Aids-Dementen häufig zu beobachtenden Infantilismus. Lange Zeit hatte sie gebraucht, um die zum Schluß immer krakeliger werdende Schrift zu entziffern. Da sie auf der Volkshochschule einmal einen Grundkurs in Jura besucht hatte, wußte sie, daß diese Schmierzettel kein gültiges Testament darstellten. Sie verstießen wegen der ungültigen Unterschrift und der offensichtlich falschen 290
Datierung gegen jede Form. Sie erkannte jedoch in dem Geschreibsel ein pathologisches Dokument, das sie ihrem Freund, der Psychologie studierte, zeigen wollte. Sie nahm es deshalb an sich und warf das andere Gerümpel, mit dem der Nachttisch gefüllt war, in den Abfallkorb. Der Oberarzt kam. Er untersuchte den Leichnam noch einmal gründlich und trug in das Krankenblatt als Todesursache »Herz-Kreislauf-Versagen« ein. In die Spalte »Medikamentöse Versorgung« notierte er: Morphium. Die Anamnese ergänzte er mit: Sprachstörungen, Cholurie, Hepatisation, Wahnvorstellungen, Exhaustion, Inkontinenz, Nekrosen. Unter »Physische Auffälligkeiten« notierte er: Komplette Paresen der oberen und unteren Extremitäten, Lähmungserscheinungen bildeten sich interessanterweise in der präfinalen Phase zurück. Patient schlug wild um sich, so daß er zu seinem eigenen Schutz fixiert werden mußte. Die morphiumbedingte präfinale Darmverstopfung wurde von Pfleger Michael manuell beseitigt. Kaposi-Sar-om hatte Gesicht ganzflächig, den Körper striemenweise befallen. Unter »Psychiatrische Auffälligkeiten« schrieb er: Verwirrtheitszustände und Wahnvorstellungen. Patient schrieb ungelenk auf Zettel, er sei ein Schriftsteller oder gar Dichter. Eine Obduktion wird wegen der interessanten hirnorganischen Veränderungen befürwortet. Schwester Anita schob den Leichnam zum Aufzug. Auf dem Weg in die Pathologie rief sie ihren Freund an, der es mit der Pünktlichkeit sehr genau nahm. Sie teilte ihm kurz mit, daß sie den Kinotermin heute doch noch einhalten
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könne, da die Toxoplasmose von Zimmer 118 rechtzeitig vor Dienstschluß gestorben sei. »Napoleon ist gestorben«, stand auf der Tagesordnung des Leitertreffens der Aids-Hilfe unter Top 4. Ein Referatsleiter war der Auffassung, daß man zumindest in die hausinterne Zeitung eine Todesanzeige setzen müsse. Die Pressereferentin wurde mit dem Verfassen der Todesanzeige beauftragt. Sie schaute in ihr Privatarchiv. Unter Napoleon stand da zu lesen: als Mitglied der AG B+ ehrenamtlicher Mitarbeiter der Aids-Hilfe seit 1988. Sie las die Zeitungsausschnitte durch, in denen von den Aktivitäten der AG B+ berichtet wurde. Sie fand sogar noch einige Flugblätter, die Napoleon geschrieben hatte. Sie räumte danach ihren Schreibtisch wieder auf, setzte sich an den Computer und schrieb: »Die Aids-Hilfe hat die traurige Pflicht, das Ableben von H. J. Seyfarth zu vermelden.« In Klammern setzte sie hinter den bürgerlichen Namen noch den Namen »Napoleon«. »Napoleon hat sich immer aktiv für die Belange der Betroffenen eingesetzt. Die Aids-Hilfe wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Der Vorstand.« Ihre Assistentin las sich den Anzeigenentwurf durch und erinnerte die Pressereferentin daran, daß Napoleon einmal bei einer Podiumsdiskussion einen mit einem Messer Amoklaufenden zur Raison gebracht hatte. Napoleon hatte den Täter damals entwaffnet, indem er auf ihn zugegangen war, während sich die anderen Diskussionsteilnehmer unter dem Tisch verbargen. Er hatte den Attentäter dadurch entwaffnet, daß er ihn einfach in die Arme genommen hatte. Die amoklaufende Wut des Täters verwandelte 292
sich in ein Schluchzen. Seine Tränen vermischten sich mit dem Blut, das aus einer Wunde tropfte, die der Täter sich selbst beigebracht hatte. Die Emulsion aus Blut und Tränen hatte sich mit Napoleons Angstschweiß vermischt und drohte den neuen Teppichboden zu verunreinigen. Da kam ein hauptamtlicher professioneller Helfer der Aids-Hilfe Napoleon zu Hilfe, indem er ihm ein Tempotaschentuch übergab, um so Napoleon und den neuen Teppichboden vor Verunreinigungen zu schützen. Die Pressereferentin hörte zum ersten Mal von dieser Geschichte. Sie änderte noch einmal die Anzeige und schrieb: »Napoleon hat sich immer aktiv und mutig für die Belange der Betroffenen eingesetzt.« Sie las die Anzeige noch einmal durch und war mit dem Text sehr zufrieden. Sie speicherte das Ganze unter dem Speichernamen »Napoleon« und betätigte die Drucktaste. Statt des erwarteten einen Blattes spuckte der Druckautomat zweihundertvierundvierzig Seiten aus. Napoleon hatte sein Buch ebenfalls unter »Napoleon« gespeichert. Die Pressereferentin nahm das erste Blatt, auf dem die Todesanzeige ausgedruckt war, und legte sie in das Postausgangskästchen, damit die Anzeige dem Vorstand zur Unterschrift vorgelegt werden konnte. In ihrer Mittagspause las sie ein wenig in Napoleons Manuskript. Bei einigen Stellen mußte sie schmunzeln. Andere Stellen wiederum verstand sie nicht, da sie zu wirr geschrieben waren. Bei einigen Stellen schüttelte sie den Kopf. Sie warf die ausgedruckten Manuskriptseiten in den Papierkorb und setzte sich noch einmal an den Computer, um ihren Jahresbericht zu schreiben. Um genügend Platz
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zu haben, löschte sie die jetzt überflüssig gewordene Datei mit dem Namen »Napoleon«. Denn sie hatte es gerne sauber und ordentlich.
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Literatur in der Edition diá
Reinaldo Arenas
Rosa Roman in zwei Erzählungen Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs ISBN 3 86034 146 4 Reinaldo Arenas
Reise nach Havanna Roman in drei Reisen Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs ISBN 3 86034 315 7 Georg Kreisler
Der Schattenspringer Roman ISBN 3 86034 145 6 Christoph Vormweg
Der Antreiber Erzählung ISBN 3 86034 142 1
█ Edition diá
Charles Bukowski im dtv »Seine Sauf- und Liebesgeschichten enthalten mehr Zärtlichkeit als alle glanzpolierten Liebesfilme zusammen.« Frankfurter Rundschau Ein Profi Stories vom verschütteten Leben dtv 10188 Gedichte vom südlichen Ende der Couch dtv 10581
Faktotum Roman • dtv 12387 Der Mann mit der Ledertasche Roman dtv 12388
Flinke Killer Gedichte • dtv 10759
Das Liebesleben der Hyäne Roman dtv 12389
Hot Water Music Erzählungen • dtv 11462
Hollywood Roman dtv 12390
Western Avenue Gedichte • dtv 11541
Pittsburgh Phil & Co. Stories vom verschütteten Leben dtv 12391
Roter Mercedes Gedichte • dtv 11780 Jeder zahlt drauf Stories • dtv 11991 Ausgeträumt Roman • dtv 12342 Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend Roman • dtv 12386
Kamikaze-Träume Gedichte dtv 12510 Gedichte die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang dtv 12578
Botho Strauß im dtv »...ein Erzähler, der für Empfindungen der Liebe Bilder von einer Eindringlichkeit findet, wie sie in der zeitgenössischen Literatur ungewöhnlich sind.« Rolf Michaelis Die Widmung dtv 10248 Paare, Passanten dtv 10250 Kalldewey Farce • dtv 10346 Der Park Schauspiel • dtv 10396 Trilogie des Wiedersehens Groß und klein dtv 10469 Rumor Roman • dtv 10488 Die Hypochonder Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle dtv 10549 Der junge Mann Roman • dtv 10774 Die Fremdenführerin dtv 10943 Niemand anderes dtv 11236 Besucher Komödie • dtv 11307
Kongreß Die Kette der Demütigungen dtv 11634 Die Zeit und das Zimmer Sieben Türen/Bagatellen Theaterstücke dtv 12119 Wohnen Dämmern Lügen dtv 12274 Schlußchor dtv 12279 Beginnlosigkeit Reflexionen über Fleck und Linie dtv 12358 Angelas Kleider Nachtstück in zwei Teilen dtv 12437 Ithaka dtv 12595 Die Fehler des Kopisten dtv 12656 Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war Gedicht • dtv 19007
Aleksandar Tišma im dtv »Tisma sieht, zeigt, und erzählt wie einer, der alles über den Menschen zu wissen scheint.« Ursula März in der frankfurter Rundschau‹ Der Gebrauch des Menschen Roman • dtv 11958 Bis zum Zweiten Weltkrieg kommen die Menschen in Novi Sad relativ friedlich miteinander aus - Serben, Ungarn, die deutschspra chigen »Schwaben« und Juden. Erst durch die »neue Zeit« wird die aufstrebende Provinzstadt aus ihren Träumen gerissen, durch Krieg, Terror und Unmenschlichkeit. Die Schule der Gottlosigkeit Erzählungen • dtv 12138 In Extremsituationen zeigt sich die Natur des Men schen unverhüllt: In den vier vorliegenden Geschich ten aus dem Krieg geht es um Menschen am Rande des Abgrunds. Das Buch Blam Roman • dtv 12340 Dieses Psychogramm eines Überlebenden spielt in No vi Sad nach dem Zweiten Weltkrieg. Blam durchwan dert die bekannten Wege und Straßen seiner Heimat
stadt als aufmerksamer, melancholischer Betrachter. Die wir lieben dtv 12623 Ein Buch über die Prosti tuierten in Tišmas Heimat stadt und das Geschäft mit der Liebe. »Im Grenzbe reich zwischen Eros und Thanatos, dort, wo sich der Sinnzusammenhang von Motiv und Tat, Schuld und Sühne aufzulösen beginnt, ist Tišma unterwegs.« (Andreas Breitenstein in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹) Kapo Roman • dtv 12706 »Aleksandar Tišmas Roman ›Kapo‹ ist ein ebenso großartiges wie irritieren des Psychogramm eines älteren Juden, der als junger Todeskandidat ins KZ gekommen war und als Handlanger der Mörder überlebte ... ein meisterhaf tes Stück Literatur.« (Thomas Grob im ›TagesAnzeiger‹)
»Es war damals in der guten alten Zeit. Berlin war noch von einer Mauer umgeben, als ich früh am Silvestermorgen 1980 um 6.30 Uhr am Bahnhof Zoo dem Nachtzug aus Mannheim entstieg. Ich war angekommen auf jener Insel der schwulen Glückseligkeit.« Dieser Roman für Schwule und Nicht-Schwule »ist zunächst nur eine Autobiographie. So flott, obszön, grell bunt und bisweilen hemmungslos trivial und böse hingeworfen, daß er schon in den ersten Wochen nach Erscheinen ein Geheimtip wurde.« Thomas Kuppinger in ›Zitty‹
Deutscher Taschenbuch Verlag