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Theodore Sturgeon ist einer der ganz großen Namen auf dem Gebiet der Science Fiction und ein Autor, der die Welt der phantastischen Abenteuer und die Welt humaner Gefühle in einzigartiger Weise zu verbinden vermag. Der hier enthaltene Kurzroman ›Slow Sculpture‹ (›Die langsamste Skulptur der Welt‹) wurde mit dem Nebula Award ausgezeichnet!
THEODORE STURGEON
Sein Name war Mensch STURGEON IS ALIVE AND WELL …
Utopisch-technische Erzählungen
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
Made in Germany • I • 1112 © 1971 by Theodore Sturgeon. Aus dem Amerikanischen übertragen von Tony Westermayr. Ungekürzte Ausgabe. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages, Umschlag: F. Jürgen Rogner. (Hardbook:) Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: Presse-Druck Augsburg. SF 0184 • Sch/No ISBN 3-442-23184-1
Inhalt Sein Name war Mensch ............................................................ 7 BROWNSHOES
Unterwegs nach Nirgends ....................................................... 22 TO HERE AND THE EASEL
Das Mädchen, das wußte, was sie meinten ............................ 95 THE GIRL WHO KNEW WHAT THEY MEANT
So kam Jorry auf diesen Weg ................................................ 107 JORRY’S GAP
Es war Nichts – wirklich ....................................................... 121 IT WAS NOTHING – REALLY!
Onkel Fremmis ...................................................................... 141 UNCLE FREMMIS
Unerwünscht ......................................................................... 159 GRATE
Kümmere dich um Joey ........................................................ 174 TAKE CARE OF JOEY
Die Verhaltensmuster von Dorne ......................................... 186 THE PATTERNS OF DORNE
Selbstmord ............................................................................ 208 SUICIDE
Die langsamste Skulptur der Welt ....................................... 216 SLOW SCULPTURE
Sein Name war Mensch Sein Name war Mensch; es war früher einmal ein kleiner Witz zwischen ihnen gewesen, und dann wurde Bitterkeit daraus. »Ich wünsche mir bei Gott, daß ich dich so haben könnte, wie du gewesen bist«, sagte sie, »nachts mit dem Stöhnen und Aufspringen und im Dunkeln herumlaufen, aber nie ein Wort über den Grund, und uns hungern lassen und dich nie darum kümmern, wie wir lebten oder wie wir aussahen. Ich habe deswegen an dir herumgenörgelt, aber es hat mir gar nichts ausgemacht, im Grunde nicht. Ich hielt still. Ich hätte immer stillgehalten, weil du bei allem das getan hast, was für dich richtig war, weil du eine ungebundene Seele gewesen bist.« »Ich habe immer getan, was für mich richtig war«, sagte Mensch, »und ich habe dir auch den Grund gesagt.« Sie gab einen angewiderten Laut von sich. »Wer konnte denn das alles begreifen?« Es war ein Abwinken, wie gehabt; etwas, was sie sich zurückgerufen und überdacht und nicht begriffen hatte, seit Jahren, etwas, was Müdigkeit erzeugte. »Und du hast die Leute geliebt – wirklich geliebt. Wie damals, als der Junge den Hydranten und die Straßenlaterne vor dem Haus umgefahren hat und du die Bullen und den Winkeladvokaten und die Sanitäter und alle abgewehrt und ihn ins Krankenhaus gebracht und verhindert hast, daß er die Papiere unterschrieb, weil er ganz betäubt war. Und als du das schäbige Hotel auf den Kopf gestellt hast, um Victors falsches Gebiß zu finden und es ihm zu bringen, nachdem man ihn eingesperrt hatte. Und als du den ganzen Tag im Wartezimmer gesessen hast, als Mrs. Soundso ihre erste Behandlung wegen dem Kehlkopfkrebs bekam, damit du sie heimfahren konntest, du hast sie nicht einmal gekannt. Es gab nichts, was du für die Leute nicht getan hättest.« 7
»Ich habe immer getan, was ich konnte. Ich habe nicht aufgehört damit.« Verachtung. »Henry Ford auch nicht. Oder Andrew Carngie. Oder die Krupps. Tausende von Arbeitsstellen, Milliarden Steuern für jedermann. Ich kenne die Geschichten.« »Meine Geschichte ist nicht ganz die gleiche«, sagte er ruhig. Dann sagte sie es ganz ohne Haß oder Leidenschaft, nicht einmal nur mit besonderem Nachdruck; sie sagte mit ausgebrannter Stimme: »Wir haben einander geliebt, und du bist wegegangen.« Sie liebten einander. Sie hieß Fauna; es war früher einmal ein kleiner Witz zwischen ihnen gewesen. Fauna, das Tier, und Mensch, der Mann, und das, was sie füreinander empfanden. »Sodom is akumen in«, zitierte er Chaucer falsch, »sing du mit den Hörnern.« Dies, weil sie einen Ehemann hatte, irgendwo zwischen den Cembalostunden und den unfertigen Knüpfteppichen und dem Gerüst eines Theaterstücks und all den anderen aufgegebenen Projekten im Speicher ihres Lebens. Mensch war der erste, den sie hätte durchhalten können, den ganzen Weg. Sie gehörte zu den Leuten, die warten, bis das Richtige kommt, und alles andere fallenlassen, sobald sie merken, daß sie nicht die Hauptsache sind. Wenn so jemand das Richtige findet, gilt es für immer, und alle sagen, na, hast du dich aber verändert. Sie hat sich nicht verändert. Aber wenn das Richtige kommt und es wird nichts daraus, dann bringt eine solche Person nie mehr etwas zu Ende. Niemals. Sie waren beide sehr jung, als sie sich kennenlernten, und sie hatte ein kleines Haus im Wald bei einem dieser Ferienorte, die den Ruf genießen, Kunst und Kunsthandwerk für Touristen zu 8
bieten, und in denen es wirklich ein paar echte Künstler in und um den Ort herum gibt. Schrullige Leute finden in solchen Gegenden mehr als nur Duldung, immer vorausgesetzt, daß sie a) die Touristen anziehen oder wenigstens nicht abstoßen und b) niemals wirklich großes Geld verdienen. Nichts stört die Leute, die eine solche Stadt in Wahrheit lenken, mehr als ein Kauz, der reich wird; die Leute fangen an, ihm zuzuhören, und das könnte das System verändern. Fauna war nicht im Begriff, das zu tun. Sie war ein schlankes, hübsches Mädchen, lief gern nackt unter weiten, bodenlangen Kitteln herum und pflegte kranke Wesen, solange sie nicht reden konnten – Vögel mit gebrochenen Schwingen, Philodendren und dergleichen –, und sie liebte die Musik – jede Art von Musik; und sie begann geschickt alles mögliche, das sie nicht beendete, bis das Richtige kam. Sie hatte einen klaren Besitztitel auf das kleine Haus und eine Halbtagsbeschäftigung im Bilderrahmengeschäft; sie war pittoresk und anspruchslos und beteiligte sich nie an Demonstrationen und Petitionen und dergleichen. Sie hielt nur viel davon, freundlich zu allen zu sein, und dachte … aber das stimmt nicht ganz. Sie hatte es nie so ganz durchdacht, aber sie fühlte, daß sich die Güte, wenn man zu allen freundlich ist, auf irgendeine Weise wie ein heilender Fleck über die ganze Welt ausbreitet und daß man Kriege und Habgier und Ungerechtigkeit so bekämpfen mußte. Sie war also ein annehmbares, beinahe anerkanntes Inventarstück im Ort, selbst als man ihre Straße teerte und die Laterne und den Hydranten vor ihr Haus setzte. Mensch kam daher mit langen Haaren und einer Gitarre auf dem Rücken, den Kopf voll guter Bücher und sehr ernsthafter Unruhe. Er zog zu Fauna, am Tag, nachdem sie entdeckt hatte, daß seine Gitarre wie eine Laute gestimmt war. Er hatte auch geschäftige Hände und eine Art zu beenden, was er anfing, ja, 9
und noch ein Dutzend mehr davon zu machen – wunderbare Küchenblöcke für Einkaufsnotizen aus handgeschliffenem Holz, mit Papierrollen aus Addiermaschinen und unten einem Stück Eisensäge, damit man sauber ein kleines oder auch ein ganz großes Stück abreißen konnte, und authentische Nachbildungen von Kaminblasebälgen und Apfelschäler und dergleichen, Sachen, die man in den Läden am Platz zeigen konnte und die ihm seinen Anteil einbrachten. Auch verstand er etwas von Transistoren und Schneckengetrieben und Exzenterreglern und von Sachen wie Wankelmotoren und Antriebszellen. Er bastelte im Hinterzimmer viel mit Magneten und Achsen und farbigen Flüssigkeiten verschiedener Art herum, und eines Tages hatte er eine Idee und beschäftigte sich mit Scheren und Pappe und einigen Teilen aus Metall. Es war in der Hauptsache Rahmen und ein Rotor, aber es bestand aus gewissen Dingen in einer gewissen Anordnung. Als er es zusammensetzte, begann sich der Rotor zu drehen, und er begriff das Ding plötzlich. Er justierte etwas, und der Rotor, der zum großen Teil aus Pappe bestand, erzeugte ein schrilles, anschwellendes Geräusch und rotierte so schnell, daß die Achse, ein Nagel, die Lager aus Pappe durchfraß, und der Rotor flog durch das Zimmer und verstreute kleine Metallstückchen. Er machte sich nicht die Mühe, die Teile einzusammeln, sondern stand auf wie ein Blinder und ging in das andere Zimmer. Fauna warf einen Blick auf ihn, lief zu ihm und hielt ihn fest: Was ist? Was ist passiert?, aber er stand nur da und wirkte fassungslos, bis ihm die Tränen über das Gesicht zu laufen begannen. Er schien es nicht zu bemerken. Das war die Zeit, als er mitten in der Nacht plötzlich zu stöhnen anfing, aufsprang und im Dunkeln herumlief. Als sie Jahre später sagte, daß er ihr nie den Grund verraten wollte, war das 10
wahr und auch wieder nicht, denn was er ihr sagte, war, daß er etwas im Kopf herumtrug, was so wichtig war, daß gewisse Leute ihn töten würden, um es in die Hand zu bekommen, und gewisse andere Leute würden ihn töten, um es zu unterdrücken, und er werde ihr nicht sagen was es sei, weil er sie liebte und sie nicht in Gefahr bringen wollte. Sie weinte viel und sagte, er vertraue ihr nicht, und er sagte doch, aber er wolle für sie sorgen, sie nicht den Wölfen vorwerfen. Er sagte auch – und darum ging es bei dem Stöhnen und den nächtlichen Wanderungen eigentlich –, daß das Ding in seinem Kopf die Wüsten zum Erblühen bringen und die Hungrigen in der ganzen Welt ernähren konnte, aber wenn er es losließ, dann konnte es auch wie eine Seuche wirken, nicht aufgrund dessen was es war, sondern was die Leute mit ihm machen würden; und die allererste Person, die deshalb starb, würde seinetwegen sterben und diesen Gedanken könne er nicht ertragen. Er würde eine Wahl treffen müssen, aber bevor er sie treffen könne, müsse er entscheiden, ob der Tod einer einzigen Person ein zu hoher Preis für das Glück und die Sicherheit von Millionen sei, und dann, ob der Tod von einem Tausend gerechtfertigt sei, wenn er das Ende der Armut für alle bedeute. Er kannte die Geschichte und die Psychologie und er hatte zu den Handwerkerhänden den Kopf eines Mathematikers, und er wußte verdammt genau was geschehen würde, wenn er diesen oder jenen Weg wählte. Er wußte zum Beispiel, wo er die Idee und die ganze Verantwortung dafür gegen so viel Geld abladen konnte, daß er und Fauna – und ein paar hundert enge Freunde dazu – für den Rest ihres Lebens in schrankenlosem Luxus leben konnten; alles, was er zu tun hatte war, den Gedanken durch seine Unterschrift zu übertragen und zuzusehen, wie er für immer in einem Konzerntresor begraben wurde, denn es gab mindestens drei In11
dustriegiganten, die gegeneinander bieten würden, um dieses Vorrecht zu erwerben. Oder um ihn umzubringen. Er dachte auch daran, technische Zeichnungen herzustellen und Millionen von Kopien in Großstädten auf der ganzen Welt zu verteilen und daran, gute, anständige Wissenschaftler und Techniker zu finden und mit ihnen eine Firma zu gründen, die das Gerät herstellen und die Lizenzen vergeben und dafür sorgen konnte, daß es nur für gute Zwecke Verwendung fand. Nun, das kann man mit einem neuen Rattengift oder einer Nähmaschine machen, aber nicht mit etwas so Potentem, daß es das Antlitz der Erde verändert, den Hunger, den Smog und den Raubbau an Rohstoffen beseitigt – nicht, wenn es auch die petrochemische Industrie beseitigt (abgesehen von Farben und Kunststoffen), die Elektroenergieunternehmen, den Verbrennungsmotor und alles, was mit der Herstellung und seinem Antrieb zusammenhängt, und sogar die Atomenergie in den meisten ihrer Anwendungsbereiche. Mensch versuchte alles, um zu dem Entschluß zu kommen, gar nichts zu unternehmen, was das Stöhn- und Nachtwandelintervall war, aber so war es nicht zu bewältigen – die Sache ließ ihn einfach nicht los. Dann traf er seine Entscheidung und war sich klar darüber, was er tun mußte, um sie durchzusetzen. Als erstes besuchte er den Friseur. Fauna hielt still, auch als er sich eine Stellung bei ›Flextronics‹ besorgte, dem Industrieunternehmen der Stadt, das Staatsaufträge für die Fertigung kleiner Computerteile besaß und vom Kunst–, Literatur- und Bibliothekssektor der Stadt verachtet wurde. Die festen Bürostunden entsetzten Fauna, und obwohl er sich benahm wie früher – ganz gewiß sah er nicht mehr aus wie früher – wurde sie immer verstörter. Sie hatte 12
noch nie soviel Geld gesehen, wie er jeden Monat heimbrachte, und sie wollte es auch nicht und mußte zum erstenmal in ihrem Leben störrisch sein, wenn es darum ging zu improvisieren und mit wenigem auszukommen, anstatt die Armut dafür verantwortlich machen zu können. Die Gründe, die sie jetzt für diese Lebensweise fand, erschienen sogar ihr trügerisch, wodurch sie nur noch halsstarriger und schrulliger wurde. Dann kaufte er ein Auto, was ihr geradezu unmoralisch erschien. Was dem Faß den Boden ausschlug, war, daß ihr jemand erzählte, er sei zu einer Sitzung des Stadtbeirats gegangen, was sie nie getan hatte und habe vorgeschlagen, daß die Stadt Vorschriften gegen das Herumsitzen im Gras des Stadtparks, gegen das Spielen von Instrumenten in Durchfahrtsstraßen, gegen das Schwimmen im Teich nach Sonnenuntergang erlasse und mehr Polizisten einstelle. Als sie eine Erklärung verlangte, sah er sie lange Zeit traurig an, bestritt es nicht, ließ sich auf keine Diskussion darüber ein und zog aus. Er besorgte sich ein sauberes Zimmer in einer sehr ordentlichen Pension bei der Fabrik, arbeitete unerhört fleißig, bis er die Lücken in seinen Collegeunterlagen ausgefüllt hatte, besuchte Abendlehrgänge, bis er noch ein Examen bestanden hatte. Er saß Samstagabends bei der Amerikanischen Legion herum, trank ein bißchen Bier und bezahlte anderen Leuten den Whisky. Er lernte ein ganzes Buch voll schmutziger Witze und verbreitete sie sorgfältig, zwei Drittel Sex, ein Drittel Latrine. Schließlich ließ er sich beurlauben und zog flußabwärts in eine Collegestadt, wo er tagsüber lernte, um ein Ingenieurdiplom zu erwerben, während er abends Rechtswissenschaft studierte. Es ging ihm damals nicht besonders gut, weil er jeden Cent sparen mußte, um es zu schaffen und trotzdem dafür zu sorgen, daß seine Hosen scharf gebügelt und seine braunen Schuhe geputzt 13
waren. Er fand trotzdem Zeit, in die örtliche Kirchengemeinschaft einzutreten und Mitglied des Kirchenpflegeausschusses und Laienprediger zu werden, wobei er als Text die Predigten aus dem ›Almanach des Armen Richard‹ wählte und sie so vortrug, als glaube er an jedes Wort. Als es Zeit wurde, konstruierte er sein Gerät um, nicht mit Pappe und Leim, sondern mit genormten Teilen, die zu siebzig Prozent unnötig waren – mechanische Bewegungen, die einander aufhoben, und Verkabelungen mit unter Spannung stehenden Spulen, die einander kurzschlossen. Er ließ sich Teile und gewisse Montagen von Teilen patentieren, schließlich auch das ganze Gerät. Dann nahm er seine Diplome, seine veröffentlichten Arbeiten, seine Patente und den kurzen Haarschnitt, trug alles zusammen mit einem Empfehlungsbrief seines Pastors, zu einer Bank und nahm so viel Kredit auf, daß er sich an einem notleidenden Unternehmen beteiligen konnte, das tragbare Förderbänder herstellte. Sein Gerät wurde in den Antrieb eingebaut und er ging in den Außendienst, um das Ding zu verkaufen. Es verkaufte sich sehr gut. Das mußte es auch. Eine 6Volt-Autobatterie konnte mit dem Band ein Jahr lang Kohle verladen, ohne daß sie ersetzt oder aufgeladen werden mußte, und das war kein Wunder, denn der Antrieb stammte von dem kleinen schwarzen Klumpen, der, obwohl nicht größer als ein Brotkasten und ohne Treibstoff zu brauchen, stumm und kraftvoll eine Welle drehte, bis die Lager ausgeleiert waren. Es dauerte nicht lange, bis die Konkurrenz Menschs Förderbänder kaufte und sie zerlegte, um festzustellen, woher diese obszöne Leistung stammte. Das an sich überflüssige mechanische Gewirr genügte schon, um die meisten vor unlösbare Probleme zu stellen, aber ein oder zwei begabte junge Männer und ein grauhaariger alter Mann waren imstande zu begreifen, daß 14
sie etwas vor sich hatten, was nicht größer war als ein Brotkasten und ohne Treibstoff eine Welle ohne zeitliche Begrenzung anzutreiben vermochte, und sie fragten sich, wie es sein würde, wenn dieses Ding unter der Motorhaube eines Autos oder in den Motorgondeln von Flugzeugen steckte oder Wasser in die Wüste pumpte oder Licht und Energie weit hinten in den Bergen und Urwäldern erzeugte, ohne daß man zuerst Straßen oder Eisenbahnen bauen oder Stromleitungen legen mußte. Einige von diesen Leuten fanden zu Mensch. Er stellte sie entweder an und fesselte sie mit Stricken aus Gold und zusätzlichen Vergütungen oder ließ sie beobachten und von ihren Absichten abbringen oder in Verruf bringen oder notfalls ruinieren. Es war unausweichlich, daß jemand den Mensch-Effekt nachvollziehen würde, aber inzwischen besaß Mensch ein ganzes Bürogebäude voller Rechtsanwälte mit scharf gespitzten Bleistiften und bereitliegenden Anweisungen. Der clevere Mann, der das Gerät nachgebaut und alles, was er besaß und zu borgen vermochte, in eine Fabrik gesteckt hatte, die er umzubauen beabsichtigte, sah sich in ein solches Durcheinander von Verfügungen, Ansprüchen, Forderungen und Androhungen verwickelt, daß er seine Fabrik an Mensch verkaufte und sich dankbar mit einem Geschäftsführerposten abfinden ließ. Und er war nur der erste. Das Militär mischte sich etwa zu dieser Zeit ein, aber Mensch war vorbereitet auf alle Pläne, wie man seine Patente und Besitztümer im nationalen Interesse übernehmen wollte. Er ließ sich in der Führungshierarchie immer höher und höher stoßen, während er immer heftiger ablehnte, während die Drohungen größer und größer wurden, bis er ganz oben bei dem Zivilisten landete, der sie alle befehligte. Dieses Zusammentreffen wurde von einem Bischof herbeigeführt, denn in all den arbeits15
überlasteten Jahren vergaß Mensch weder seine wöchentliche Pflicht in der Kirche seiner Wahl noch seine Abgaben, und er nahm sich immer die Zeit für eine gelegentliche Bibelstunde, ein Picknick oder einen Basar. Und als Mensch diesen Gipfel von Reichtum, Macht und Achtbarkeit erreicht hatte, konnte er dem Präsidenten ein Doppel der Dokumente zeigen, die er in einer Schweizer Bank hinterlegt hatte, wonach er an dem Tag, an dem das Militär seine Patente zu übernehmen versuchte, diese an Forschungsinstitute in Albanien und in Ländern nördlich und östlich davon übertragen würde. Damit war die Sache erledigt. Im folgenden Jahr siegte ein Auto mit Mensch-Antrieb in Indianapolis. Es war nicht so schnell wie der am Start befindliche Granatelli, es surrte einfach um die Bahn, ohne auch nur ein einziges Mal anhalten zu müssen. Eine Weile gab es natürlich nicht wenig Unruhe, aber das unausweichliche Ende war, daß die Automobilindustrie kapitulierte und mit ihr alles, was mit fossilem Treibstoff zu tun hatte. Elektrisches Licht und Elektroenergie mußten denselben Weg gehen, und während die Gas–, Dampf- und Dieselenergiequellen durch Mensch-Effekt-Geräte ersetzt werden, warten die Atomenergie-Kraftwerke auf das gleiche Schicksal. Es war kurz nach dem Sieg in Indianapolis, daß Mensch seine Unterlagen nun doch Albanien schenkte – er hatte schließlich nie erklärt, daß er es nicht tun würde –, und gleichzeitig tauchten sie in Hongkong auf und erreichten schnell das chinesische Festtand. Von der Sowjetunion wurde schrill behauptet, der Mensch-Effekt sei im neunzehnten Jahrhundert von Siolkowsky entdeckt worden, der ihn beiseite gelegt hatte, weil ihn Raketen mehr interessierten, aber selbst die Russen konnten das nicht lange aufrechterhalten, ohne in das Gelächter der 16
Zuhörer einzustimmen, und sie machten sich daran, alle anderen Nationen bei der weiteren Entwicklung zu überholen. Kein mechanisches Zusatzgewirr auf der Erde kann solchen Bemühungen auf die Dauer widerstehen – dazu braucht man Patentgesetzdschungel –, und es dauerte nicht lange, bis die Russen behaupten konnten, daß sie das Gerät verbessert und verfeinert hatten zu einem schlichten Rahmen, der ein bewegliches Teil trug, den Rotor. Es war natürlich derselbe Rahmen und derselbe Rotor, mit dem Mensch, in Trauer und Tränen, seine lange Laufbahn begonnen hatte, und die sowjetische ›Verbesserung‹ war, wie alles andere, genau das, was er vorhergesagt und worauf er abgezielt hatte. Denn nun gab es auf der Welt kein Technikermagazin mehr, kaum noch eine Werkstätte, wo nicht Menschs Rotor vorgestellt oder gebaut worden wäre. Die Patentverletzungen wurden so zahlreich, daß nicht einmal Menschs Wolkenkratzer voll Advokaten gegen die Flut noch hätte ankämpfen können. Und sie versuchten es auch gar nicht erst, denn – zum zweitenmal in der menschlichen Geschichte (der erste Fall war ein außergewöhnlicher Mann namens Kemal Atatürk) – stellte ein Mann von wahrem Diktatorformat sein Ziel auf, erreichte es und trat ab. Es spielte für Mensch nicht die geringste Rolle, daß die weiseren Leitartikler, mit ihren wissenden Zeigefingern an den Nasen darauf hinwiesen, er habe sich selbst besiegt und sein Reich durch die Ausweitung der Grenzen zerschmettert, er wolle, indem er seine Patente der Öffentlichkeit überließ, nur eine leere Geste dem Unvermeidlichen gegenüber machen. Mensch wußte, was er getan hatte, und warum, und was andere Leute darüber dachten, fiel einfach nicht ins Gewicht. »Was ins Gewicht fällt«, sagte er zu Fauna in ihrem kleinen Haus hinter dem alten Hydranten und der malerischen Later17
ne, »ist, daß es in Afrika keinen Kral, in Asien kein Dorf gibt, das nicht Wasser pumpen und das Land bearbeiten und seine Häuser mit Wärme und Licht versorgen kann, indem es einen Energieerzeuger benutzt, der so einfach ist, daß ihn jeder halbwegs tüchtige Mechaniker überall bauen kann. Es gibt kleine Geräte zum Schaukeln von Wiegen, zum Antrieb von Spielzeug und große, um ganze Großstädte zu beleuchten. Sie ziehen Züge und schärfen Bleistifte, und sie brauchen keinen Brennstoff. Schon jetzt fließt entsalztes Mittelmeerwasser in die nördliche Sahara; dort werden große Städte entstehen, wie es sie vor fünftausend Jahren gegeben hat. In zehn Jahren wird die Luft überall auf der Welt merklich sauberer geworden sein, und der Bedarf an Erdöl ist so zurückgegangen, daß praktisch keine Bohrungen mehr am Meeresboden stattfinden. Haben und Nichthaben bedeutet nicht mehr dasselbe wie früher, weil jedermann Zugang zu billiger Energie hat. Und deshalb habe ich es gemacht, verstehst du?« Er wollte es ihr wirklich begreiflich machen. »Du hast dir die Haare abschneiden lassen«, sagte sie bitter. »Du hast diese schrecklichen Schuhe getragen, bist zur Kirche gegangen, hast ein Examen nach dem anderen gemacht und zu – zu einem Taifun geworden.« »Taikun«, verbesserte er zerstreut. »Ah, aber Fauna, hör doch: Erinnere dich, als wir jung waren, wie stand es da mit den Protesten und Rebellionen in den Universitäten? Denk nur einmal an einen ganz kleinen Ausschnitt. Nimm an, ein Haufen von Studenten wollte das Verwaltungsgebäude besetzen – wie haben sie das gemacht? Sie stürmten die Straßen und Gehsteige, nicht wahr? Und – ach, hör mich doch an!«, denn sie begann den Kopf zu schütteln und den Mund zu öffnen, um zu protestieren. »Die Straßen und Gehsteige. Als man diese Stra18
ßen und Gehsteige baute, haben die Planer und Architekten sie nicht hingestellt damit man sie zu diesem Zweck benutzte, oder? Aber darauf kommt es nicht an – wenn der Mob zum Verwaltungsgebäude will, dann nimmt er die Straße, die da ist. Und das ist alles, was ich gemacht habe. Der Weg, um das zu erreichen was ich wollte, war kurzes Haar, war braune Schuhe, war veröffentlichte Dissertationen, war die Banken und Wirtschaftszweige und Regierung und alle die Dinge, die schon vorhanden waren und die ich gebrauchen konnte.« »Das hättest du alles nicht gebraucht. Ich glaube, du wolltest nur etwas bewegen und aufrütteln und in den Zeitungen und Geschichtsbüchern stehen. Du hättest deinen alten Motor hier im Haus bauen und den Leuten zeigen und ihn verkaufen und hierbleiben und die Laute spielen können, und alles wäre genauso verlaufen.« »Nein, da irrst du dich«, sagte Mensch. »Weißt du, in was für einer Welt wir leben? Wir leben in einer Welt, wo die Nachbarn einem Mann das Haus und seine ganzen Unterlagen verbrennen würden, wenn dieser Mann ein sicheres Heilmittel für den Krebs fände und man dahinterkäme, daß er mit seiner eigenen Schwester verheiratet ist. Wenn ein Mann den schönsten Turm im ganzen Land bauen und später in den Glauben verfallen würde, d.iß man Satan verehren solle, würde man seinen Turm in die Luft sprengen. Ich kenne ein großartiges und bewegendes Buch, geschrieben von einer Frau, die später verrückt wurde und verrückte Bücher schrieb, und niemand will mehr ihr großes Werk lesen. Ich kann drei Arten von Seelentherapie nennen, die imstande gewesen wären, das Antlitz der Erde zu verändern, und in jedem Fall gelangten die Männer, die sie gefunden hatten, später zu unsinnigen Grundsätzen und sogenannten Religionen und machten sich zu Narren – zu gefährlichen Nar19
ren sogar –, und jetzt will niemand auch nur noch einen Blick auf ihre wirklich großen, frühen Entdeckungen werfen. Große Politiker sind daran gehindert worden, große Staatsmänner zu werden, weil sie geschieden waren. Und ich wollte nicht zulassen, daß die Mensch-Maschine gestohlen oder vergraben oder verlacht und vergessen wird, nur weil ich lange Haare hatte und die Laute spielte. Weißt du, es ist einfach, lange Haare zu haben und die Laute zu spielen und gut zu den Leuten zu sein, wenn alle anderen um dich herum es auch tun. Es ist viel schwerer, derjenige zu sein, der es als erster tut, weil man dann einen Preis dafür bezahlen muß, man wird verhöhnt, man wirft mit Steinen auf dich und man schließt dich aus.« »Also bist du zu ihnen übergewechselt«, beschuldigte sie ihn. »Ich habe sie benutzt«, sagte er tonlos. »Ich habe alle Straßen und Wege benutzt, die dort hinführten, wohin ich wollte, egal, wer sie gebaut hat und wofür.« »Und du hast deinen Preis bezahlt«, fauchte sie beinahe. »Millionen auf der Bank, Tausende von Leuten, die auf die Knie fallen, wenn du mit den Fingern schnippst. Schöner Preis. Du hättest Liebe haben können.« Er stand auf und sah sie an. Ihr Haar war viel dünner geworden, aber es war noch immer lang und seidig. Er griff danach und hob eine Strähne. Das Haar war weiß. Er ließ es los. Er dachte an dicke Säuglinge in Biafra, an frische Luft und un-verschmutzte Strände, an billigeres Essen, billigeren Verkehr, billigere Herstellung und Wartung, an mehr Land, um den Druck und die Hysterie während des langen, langsamen Prozesses der Bevölkerungssteuerung zu mindern. Was hatte ihn dazu bewogen, sich selbst soviel zu versagen, zu rebellieren, zu bewegen und aufzurütteln und den Status quo zu zer20
schmettern, wie er es getan hatte, statt sich langem Haar und einer Laute anzupassen – anzupassen? Du hättest Liebe haben können. »Aber die hatte ich doch«, sagte er, und dann stieg er, weil er wußte, daß sie das nie, nie verstehen konnte, in seinen lautlosen, treibstofflosen Wagen und fuhr davon.
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Unterwegs nach Nirgends Ich muß hier oben in der Tretmühle aus der Klemme kommen. Das sagt so ungefähr alles. Ich mische die Farben wie die Metaphern, und wieso auch nicht? Ist hier einer Schriftsteller? Das Dumme ist, vielleicht bin ich auch kein Maler. Ich war ein Maler, ich werde ein Maler sein, aber zur Zeit bin ich kein Maler. ›Marmelade jeden zweiten Tag‹, sagte man zu Alice im Wunderland, wie durch ein Aug’ aus Glas, dunkel; ›Marmelade gestern und Marmelade morgen, aber niemals Marmelade heute.‹ Ich weiß, was ich mache: ich male für den Kalender; ist jetzt nicht Mode, was vor zehn Jahren nichts galt? Ich schenke mir die Kunst und schlage die ewigen Saltos auf der menschlichen Brust. Also schnell; pack den Pinsel, klatsch die Farben auf; en garde, Leinwand, mir bist du nichts als ein quadratisch, weißes Fenster; ich schleudre einen Packen Farbe durch dich, damit wir alle einen langen Blick ins Innere werfen können. Genau hier fange ich an, mit dem Magenta, oder vielleicht dort drüben, und – Und nichts. Und so sink’ ich auf den Stuhl, ich sehe die Leinwand an, sie sieht mich an, und wir sind genau da, wo wir angefangen haben. Nicht angefangen haben. Ich muß hier oben in der Tretmühle aus der Klemme kommen, wie ich erklären wollte. Die Tretmühle ist mein Atelier, Atelier der Name für ein möbliertes Zimmer mit einer Palette drinnen. Die Klemme ist in meinem Kopf. Woran liegt es, daß ich nicht arbeiten kann, nur weil sich mein Gehirn verknotet hat? ›Giles‹, pflegte der Maestro, der alte Tölpel von Maestro, zu mir zu sagen, ›Giles, mal nicht mit dem Hirn. Mal mit den 22
Drüsen‹, pflegte er zu sagen, ›mit deinem Blut. Schweiß ist ein Farbstoff. Tauch deinen Pinsel in – ‹ Bah, Maestro! Besorg’ mir Arbeit in einem Schilderladen. Alles andere verkauf ich. Anzeige in der Zeitung: Billig zu verkaufen, ein Satz zobelbesetzte Bläschen. Ein Herz: Ventrikel, sinister; Aurikel, delphisch. Neun Meter Röhren mit laufendem Kommentar, heiß und kalt, und ein Eimer Karmesin, gebraucht. War ein Maler, werd’ ein Maler sein, bin kein Maler. Mach’ ein Lied draus, Giles, und sterben kannst du verrückt, es schreien wie Ravel den Bolero, Ravel in der Havel. Giles’ letzte Sangtse. Bin kein Maler, bin kein Maler, bin kein Maler, mau! Bin kein Maler, bin kein Maler, bin kein Maler, schau! Hör lieber auf, Giles, du hast wieder einen von diesen Träumen. Na, den habe ich doch auf jeden Fall, oder? … die Träume, die sind es bei mir. Meine Drüsen hab’ ich, aber mein Hirn, das rennt mit mir davon, samt Drüsen und allem. Nein, nicht rennt; eher wie ein Gefängnis. Ich bin mal etwas gewesen, aber ich bin in meinem Gehirn eingesperrt, bis ich ein Nichts werde. Alles, was ich finden muß, ist ein Ausweg. Oder vielleicht kommt jemand und läßt mich heraus. Menschenskind, was würde ich nicht für jemand tun, der kommt und mich herausläßt. Alles. So, wie ich es sehe, ist der andere, der im Traum, nicht eingesperrt. Ich sollte einen Ausweg für ihn suchen. Vielleicht strengt er sich dann an und sucht einen für mich. Er war ein Ritter in schimmernder Rüstung, er wird ein Ritter in schimmernder Rüstung sein, aber jetzt ist er nichts als ein Nichts. Es soll keinen Ritter geben. Er hat ein Gefängnis, das Nacht in ewigen Nachmittag verwandelt, mit Tänzerinnen dazu. 23
Ich soll ihm aus einer solchen Patsche helfen? Was kann man gegen ein Schloß auf einem Berg mit tanzenden Mädchen sagen? Andererseits ist ein Ritter, der ein Ritter war und ein Ritter sein will, einfach ein Nichts, samt seinen Tänzerinnen, wenn man ihn in ein Zauberschloß auf einem Zauberberg einsperrt. Ich frage mich, ob sein Gehirn klar arbeitet, weil es in meinem schlimm durcheinandergeht. Ahil und da rollen die Echos durch die Gewölbe und Gratbogen dieses verzauberten Orts. Kein Wort habe ich, keinen Schild, kein Pferd, noch Amulett. Er hat wenigstens die Dinge, mit denen er kleckst, eingesperrt mit sich. Und doch, wenn er malen wollte und könnte es nicht, ist er nicht entwaffnet? Ay, ay … ahi! wir beide sind gefesselt und jeder von uns verzaubert; zusammengefesselt auch, auf seltsame Weise, und unterwegs nach Nirgends. Und wer ist am ärmsten? Er hat einen Pinsel; ich habe kein Schwert, und so scheint seine Haft geringer. Trotzdem darf ich meinen Wärter bei einem Namen nennen und ein Gesicht sehen und die Hände kennen, die den eisernen Schlüssel halten. Aber er, der eingesperrte Maler, schmachtet in sich selbst, sein Skalp als Fessel, sein Schädel die Zelle. Und wer soll seinen Schließer nennen? Den meinen kann ich nennen; da kommt er, weiches Leder, flüsternd auf Marmor, sein bloßer Schritt abscheulicher Zauber, der Druck des Unlebenden gegen das Nie-Lebende. Atlantes, verhaßter Atlantes, mit den weichen Augen und dem steinernen Mund, Atlantes, der, mich lenkend, das Schicksal selbst verändern wollte. »Rogero, steht alles wohl mit Euch? Ein solcher Schrei … wie ein großer Wind, der den Fels zerreißt.« Sein Bart ist voll, er ist zu weise, er hat keine Seele. »Ja, alles ist wohl!« sage ich verächtlich. »Wollt’, ich wär’ ein 24
solcher Wind, den Fels zu zerreißen und zerrissen zu werden, und fröhlich, unter offnem Himmel, und niemals mehr von einem trägen Tod zu wissen, aus Seide, Süßigkeit und Langeweile, wie diesem … gebt mir mein Schwert.« »Ja, das will ich. Und einen verzauberten Schild, um Eure Feinde zu blenden, und ein Roß, um Erd’ und Luft zu meistern; dieses Schloß, um Euch und alles in ihm für Euch zu schützen, und meine Macht zu Eurem Willen – und all das für ein Wort.« Atlantes ist groß, doch wenn ich mich erhebe, hebt er den Bart, will er mich sehen. Geh’ ich zu ihm, voll Donnerzorn, mag nah’ ich treten, doch zuckt er nicht, wie andere Männer. Ich darf ihn nicht schlagen, noch andre hier noch irgend etwas, so sorglich ist er bezaubert. »Für ein Wort!« Meine Stimme erregt die Wandbehänge und läßt die großen, steinernen Hallen vibrieren. »Du nennst meinen Glauben ein Wort, meine Treue, jedweden Tropfen Bluts und alle meine Tage. Ich werde nie dein Ritter sein, Atlantes.« Und über allem hasse ich sein Lächeln. »Ihr werdet, Rogero, es sei denn, Ihr wollt hier für ewig schmachten. Mein Plan für Euch ist besser als der vom Schicksal vorgeseh’ne«, sagt er und lacht mich an. Seine Stimme dröhnt in meinem Schädel, wie meine Stimme vor einem Augenblick im Schloß gedröhnt hat. »Dies ist Eure Bestimmung, Ritter: daß eine Jungfrau Euch errettet und daß durch sie Ihr einen neuen Glauben von Nüchternheit und Demut annehmt und Eure Tage mit erdgebund’ner Langsamkeit verbringt, wie eine Schildkröte, gekleidet wie ein Zaunkönig; schwertlos und düster und in Ketten.« Ich denke darüber nach und betrachte die Schnitzereien, die Seidenstoffe, die duftenden Berge fabelhafter Früchte. Endlich frage ich: »Jungfrau?« 25
»Genau die richtige für solche Abenteuer«, sagt er, wieder lachend, denn er hat mich zur Antwort verlockt. »Und ein gerechter Ausgleich für Eure Art von Starrsinn. Sie soll ihren Glauben über Euer Fleisch stellen; sie soll es vorziehen, wie eine Bäurin einherzugehen, statt getragen zu werden wie eine Edeldame; sie soll Seide und Spitzen verachten und sich wie ein Baum im Winter bedecken, erdfarben und mit harter Rinde. Und was das Schlimmste ist, sie soll mehr Hirn haben als Ihr.« »Du sprichst sicher von einem später’n Leben, von Buße für eine große Sünde!« »Nein, Freund! Euer späteres Leben ist in andern Händen als den meinen, ’s ist all Euer Schicksal, Freund. Ihr könnt nicht einfach nehmen, was Euch davon gefällt, und so den Rest Euch stutzen, wie er Euch behagt. Die Jungfrau wird nicht hierherkommen, aber sollte sie hierherkommen, soll sie Euch nicht befreien; aber sollte sie Euch befreien, dann werdet Ihr Euer Leben wahrhaftig wie ein Falke mit beschnittnen Flügeln enden, zwischen den schwitzenden Sklaven humpeln und sie Euresgleichen nennen.« Er folgert richtig, und die Wut in mir hämmert an meine Haarwurzeln. Und wie der Zorn sich steigert, verwirrt sich wieder mein Verstand; ich scheine hier in dieser Halle mit dem Zauberer zu stehn, und doch dort, in dem Traum, in jenem staub’gen Kasten von Armut und Wundern, bewohnt von jenem Maler, der nicht malen darf. Ich kämpfe an dagegen, ich klammre mich gar an den verhaßten Saal, halt’ fest vertrauten Zauber wie Atlantes’ Hippogryph und unerträglich’ Schild, sein Schloß im ew’gen Nachmittag und jene stummen und unsichtbaren Ketten, an denen er mich hält; sie sind, für mich, die Wirklichkeit, auch wenn sie Zauber sind, und nicht unbegreiflich wie die Kammer des Malers mit ihrem Fenster, dem Blick 26
auf schnelle Wagen ohne Pferde, ihrer gedrungenen, schwarzen Dämonenskulptur, die erst schrillt, dann mit den Stimmen spricht von Leuten, die nicht im Zimmer sind; ihrem Musikgehäuse, nicht größer als meine beiden Fäuste, mit dem glühend-goldnen Auge und der Musik von, manchmal, hundert Musikanten; und all den Wundern, die seiner Armut zugehören. Wieder bin ich er, ich selbst, und wieder er, der andre, dann beide, dann keiner, und wieder wirbelt mein Gehirn im Übergang. Mein Mund birgt den Nachgeschmack von Trauben und Met, dann von dem blauen Rauch, den er stets aus seinen kleinen, glimmenden weißen Stengeln saugt; ich schmecke eines, das andere, beides, keines. Ich wende mich von Atlantes und seinem verhaßten Lächeln und werfe mich über die nachgebenden Berge von Seide und Pelzen. Und weit entfernt höre ich den goldenen Trompetenton einer Glocke, den großen Gong am Zaubertor des Schlosses. Ich höre Atlantes’ seltsames Aufstöhnen, halb Überraschung, halb Freude; ich höre seine weichen Füße auf dem harten Marmor. Wer kommt, wer kommt da läutend, fordernd und unerwünscht – und ohne Angst vor diesem Schloß und seinen vielen Teufeln? Wenn ich der Ritter bin, Rogero, will ich vom Fenster aus zusehen, wenn ich Giles bin, der Maler, und ich glaube, daß ich es bin, lass’ ich die verdammte Klingel läuten. Wer hörte je von einer Türklingel in einem Zauberschloß? Was für ein Zauberschloß? Da ist ein schmutziges Bett und dort ein schmutziges Fenster und dort drüben die makelloseste Leinwand; jetzt warte, warte – Giles ist mein Name, die Malerei mein Gewerb’, wenn ich ein Ritter wäre, braucht’ ich ein Schwert. Gebt mir mein Schwert! Was für ein Schwert? Kannst du endlich die Klingel in Ruhe lassen, damit ich mich denken höre? Da hatte ich es beinahe, 27
das mit dem Ritter, wer er auch sein mag – oder ist er ich? – und seinem Zauberberg, oder ist das wirklich ein möbliertes Zimmer? Ah, so laß doch die Klingel in Ruh! »WaswollnSedenn?« Was macht sie, sie läutet. »Wer ist da?« Rrrrr, rrrrr. Na schön, du willst es nicht anders, ich reiße jetzt die Tür auf, hole aus, keine langen Fragen, und schlag’ auf die Nase, die meine Klingel läutet. Den Knopf drehen, die Tür aufreißen, den Läuter zu Boden schlagen. Peng, ein stiller Läuter. Nun ist manchmal eine Zehntelsekunde so lang wie ein Paragraph oder dein Arm. Die Tür ist offen, und ich stehe still und stumm wie ein Kind, das durch ein Astloch starrt, beim Match und vom Match, aber still, starrend. Ich sehe meine Hand durch die Tür fliegen, unterwegs eine Faust machen, ich sehe, wie sie ihren Backenknochen erreicht und sich schließt und dort landet, knollig und hart. Zurück geht sie, nicht stürzend, sondern aufrecht, durch den engen hellen Flur und an die Wand, wumm-bumm! Sie ist ein kleines, braunes Ding mit Haar, nicht wunderbar, wunderschönen Wimpern, die sich jetzt öffnen und ihre Augen rund und trüb erscheinen lassen, und das ist so ungefähr alles, was an ihr dran ist. »Mmmmmm«, sagt sie und sinkt langsam an der Wand herab, beugt langsam den Kopf auf die Seite wie einen gebrochenen Flügel. »Ich hab’ Ihnen doch gesagt, aufhören mit dem Geklingel!« »Mmmmm«, haucht sie. Ich hebe sie also hoch, und herauf kommt sie, leicht wie ein Lamm und gewöhnlich wie Gemüse, und ich stoße die Tür zu, und ich werfe sie auf das schmutzige Bett, da liegt sie, schlaff 28
und unschicklich wie eine hingeschleuderte Puppe, und wen stört das? – nicht den Künstler, der Besseres gesehen hat und keine Zeit für dergleichen vergeudet; nicht den Mann, denn er ist, wie man so sagt, jetzt nicht ganz er selbst. Hier ist ein trockener Lappen, um am Wasserhahn befeuchtet und ausgewrungen und auf die glatte beigebraune Stirn über den glatten Lidern mit der zarten Federnreihe gedrückt zu werden – Wimpern, das will ich zugeben, Wimpern hat sie. Sie hat sonst fast gar nichts, aber mein Gott, diese Wimpern. Und der Lappen, entfernt, hinterläßt einen Flecken auf der Stirn, Grünspan. Man kann vorgeben, sie sei ein Bronzekopf, umhüllt mit alter Seide, und die Bronze schlägt durch. Aber nur, bis ihre Augen aufgehen; dann gibt es keinen Schein, sondern nur ein schlampiges Mädchen auf meinem Bett, Blässe auf meinem bescheidenen Bett. Sie blickt vorbei an dem grünbraunen Fleck und dem Zorn ihrer mißhandelten Wange, und sie hat keine Angst, sondern Trauer. »Immer noch nichts?« murmelt sie, und ich drehe mich um und schaue mit ihr, und es ist meine leere Leinwand, der ihre Traurigkeit gilt und das ›Immer noch nichts‹, halb geflüstert. »Ich haue Ihnen noch eine herunter.« Es ist ein ehrliches Versprechen. »Gut, wenn Sie dann malen.« »Ich male oder male nicht, wie es mir paßt«, sage ich auf eine Weise, bei der meine Kehle schmerzt. »Giles ist mein Name und die Malerei mein Beruf, und Sie halten Ihre Nase da raus. Ihre Nase«, sage ich, »sieht aus wie ein Stück Schlauch, und Sie haben soviel Seitenprofil wie eine Kolaflasche. Wieso läuten Sie überhaupt bei mir?« »Kann ich mich aufsetzen?« 29
Wodurch ich entdecke, daß ich nah über sie gebeugt bin, platzend und spukend, wie ich fauche und schreie. »Stehn Sie auf, stehn Sie auf!« Ich berühre meinen Hals und die blutrote Schwellung einer Arterie dort, ich fahre herum, um auf die Staffelei einzuschlagen, aber ich kann sie nicht berühren, deshalb gehe ich zur Wand und knalle die Faust dagegen. Das ist besser als ein Backenknochen, hinterläßt kaum eine Spur. »Oh, bitte, tun Sie sich nicht weh. Nicht«, sagt sie. Ihre Stimme ist hoch und weich an den Rändern, wie Licht, das durch ein Loch in getragenem Samt fällt. »Nicht!«, ganz Mitleid, ganz Sorge, »nicht zornig sein …« »Zornig bin ich nicht«, sage ich und schlage wieder an die Wand, »zornig; ich bin ein Teufel, und gefährlich dazu. Sie«, sage ich, den Finger auf sie gerichtet, und an meiner Hand ist Blut, »sind eine Schlampe. Schlechte Umrisse, falscher Farbton, Vordergrund beunruhigend«, das wäre meine Staffelei, »Hintergrund unappetitlich.« Das wäre mein Bett. »Das Ganze ist nicht geformt, es ist – es ist – verformt. Wo haben Sie das schreckliche Kleid her?« Sie zupft daran, betrachtet ihre zupfende Hand, runzelt kurz die Stirn, versucht sich zu erinnern. Sie kann sich nicht erinnern, und sie fürchtet sich nicht, sie versucht nur, meine Frage zu beantworten. »Lassen Sie nur, es ist mir egal, woher Sie das Kleid haben. Was wollen Sie?« Herauf die Wimpern. »Ich möchte, daß Sie wieder malen.« »Warum?« »Nicht, nicht«, flüstert sie. »Sie schaden Ihrer Kehle. Ich kenne alles, was Sie gemalt haben. Sie werden gut, Sie werden großartig. Aber Sie malen nicht mehr.« 30
»Ich habe Sie gefragt, warum. Sie haben nicht gesagt, warum, Sie haben nur gesagt, was geschehen ist.« Sie sieht mich an, noch immer ohne Angst. Dieses Mädchen, denke ich, ist nicht nur reizlos, sie ist auch dumm. »Ich habe Sie gefragt, warum – warum? Was geht das Sie an?« »Aber das sagte ich doch!« ruft sie. »Sie waren dabei, ein großer Maler zu werden, und Sie haben aufgehört. Ist das nicht genug?« »Nein, nicht für die Menschen. Die Menschen wollen dergleichen nicht, Größe, Güte.« Ich fange an, zorniger auf die Menschen zu werden als auf mich. Viel besser, Giles – viel besser. »Die Leute wollen keine Mühe bei ihrer Arbeit. Die Leute wollen Küsse und sich wichtig vorkommen. Die Leute wollen amüsiert und ungefährlich erregt sein. Die Leute wollen Geld. Wollen Sie Geld? Hier ist ein Vierteldollar. Hier sind sogar vierzig Cent. Raus hier, Leute.« »Ich will kein Geld. Ich möchte nur, daß Sie wieder malen.« »Warum?« Herunter die Wimpern, fort die Stimme wie ein ferner Wind. »Ich habe gesehen, wie sie sich um Ihr spanisches Bild drängten, ›Kerzenlicht Malaga‹ – zwei junge Leute, die sich ganz fest, ganz still an den Händen hielten; und einen alten Mann, lächelnd; und ein kleiner Junge zupfte am Ärmel einer Frau: ›Ma? Ma?‹, und als sie sagte: ›Ja, Schatz‹, hielt sie den Blick auf das Bild gerichtet, und da weinte er. Ich habe einen Mann bei Garret herauskommen sehen, wo Ihr ›Rauch‹ hängt, und er lachte und sagte zu wildfremden Menschen: ›Ich brauche es ihr nur noch zu sagen; sie wird mich lieben, das ist genau in dem Bild.‹« Sie breitet ihre eckigen, unweiblichen Hände aus und sagt: »Das habe ich gemeint, es ist bewiesen.« 31
Mich gehen die Leute nichts an, weder das weinende Kind, noch der Mann, der mit fremden Menschen spricht, oder die anderen. Ich habe nie für sie gemalt, ich malte für – für – aber nicht für sie. Sie sind also alle Eindringlinge, und für sie habe ich genug getan, zuviel schon. Wenn, was sie genommen, wirklich in den Bildern war, haben sie mich beraubt. Wenn, was sie genommen, nicht vorhanden war, sind sie Narren. Muß ich für Diebe und Narren malen? Das alles ist mir ganz klar, aber es gibt keinen Weg, es dem Mädchen zu sagen. »Es ist wegen dieser Dinge«, sagt sie, als bedeutet mein Schweigen, daß ich ihr zustimme. »Also, malen Sie wieder.« »Malen, wie kann ich malen?« »Warum nicht? Was ist los?« »Es ist mein Kopf.« Ich halte ihn fest, mit aller Kraft. Meine Ellenbogen stoßen zusammen; ich rede mit ihr, gucke durch den Spalt. »Ich will es Ihnen sagen, weil es keine Rolle spielt. Ich erzähle es Ihnen«, sage ich qualvoll, »weil Sie keine Rolle spielen.« Und oh, nein, sie zuckt nicht zusammen. »Als ich malte, war ich Giles, Giles gestern und Giles heute, so daß ich weitermachen konnte, wo ich aufgehört hatte, und morgen sogar die Stelle finden konnte. Und morgen war ich auch Giles und wußte es so gut, daß ich nie darüber nachdachte. Und jetzt … jetzt bin ich Giles. Vorher war ich – ein anderer, und davor war ich wieder Giles. Und Giles zu sein, spielt keine Rolle mehr, weil ich bald wieder ein anderer sein werde und danach wieder Giles. Das verstehen Sie nicht.« »Nein«, sagte sie. »Sie aber auch nicht.« »Richtig, sehr richtig. Das erste, was Sie richtig gesagt haben, ganz ohne Komplimente, wie Sie auch heißen mögen.« »Brandt.« 32
»Brandt. Miss Brandt sicherlich, da es Grenzen gibt, die selbst die närrischsten Männer nicht überschreiten. Malen, Miss Brandt, ist eine Sache, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat; und der Anfang ist Teil vom Ende des Malens vorher, und das Ende ist Teil des Anfangs vom nächsten Bild. Ich bin Giles, und als Giles könnte ich wohl malen, aber vorher, vor einer Stunde oder so – sagen wir, als Sie geläutet haben, Nerv, den Sie haben –, war ich ein anderer. Und bald wird mein Gehirn durcheinandergeraten, und Wörter werden zwei oder drei Dinge bedeuten, und da drüben ist entweder eine nackte Leinwand oder eine ferne Granitmauer und unter mir ein schmutziges Bett oder ein Berg von Seidenstoffen und Pelzen, und was ich werde tun wollen, ist entweder malen oder mein Schwert zurückerlangen; ich werde Rogero und Giles sein, einer, der andere, beide, keiner von beiden, bis plötzlich Giles verschwunden ist, die Staffelei, das Gemälde – nein, nicht verschwunden, aber wie ein Traum, an den man sich nicht wirklich erinnert, weil nicht wirklich real.« »Lassen Sie Rogero malen«, sagt das dumme Ding, so als glaube sie mir. Da ist ein Laut wie ein Drittel Schrei, eine Hälfte Geheul, und er stammt von mir. »Rogero malen? Er kann nicht malen! Er könnte nicht daran glauben, nicht daran denken, nicht eine Tönung von einer Reißschiene unterscheiden. Hören Sie, hören Sie mir zu: Können Sie sich vorstellen, daß ich ein Ritter bin, gefangen auf einem Zauberberg, umgeben von Zaubersprüchen, an die ich nicht nur glaube – ich muß es, weil sie wirklich sind –, gefangengehalten von einem Zauberer, der einen Hippogryph reitet? Einen Hippogryph, Miss Unwichtig, hören Sie? Einen schimmernden Hippogryph, dessen Mutter eine Zuchtstute und 33
dessen Vater ein Greif war – ein Greif, dessen Mutter eine Löwin, dessen Vater ein Adler war. Dieser Hippogryph ist real, so wirklich wie die Zaubersprüche, wirklich wie der Zauberberg, wirklich wie der Ritter, als den Sie, Miss Naseweis, sich mich nicht vorstellen können.« Bin ich geklettert, gelaufen? Ich bin außer Atem. »Für diesen Ritter«, sage ich, als ich wieder sprechen kann, »sind mein Telefon und mein Radio belachenswerte Wunderdinge ohne Bestand im Faktischen, meine Unfähigkeit zu malen ist ohne Bedeutung, außer daß ich sein Mitgefühl ernte; auch er ist gefangen und gefesselt. Er kann mit meinen Pinseln so wenig anfangen wie ich mit seinem Schwert. Und Sie, Miss Häßlich, könnten nur die winzigste der kleinen Scheußlichkeiten sein, die sich in dieses unfaßbare Phantasiegebilde drängen. Jetzt wissen Sie Bescheid; jetzt habe ich es Ihnen gesagt. Es gibt nichts, was Sie tun können, nichts, was Sie glauben können, und Ihr Kommen oder Nichtkommen bedeutet nichts. Wenn Sie hergekommen sind, um zu helfen, haben Sie versagt. Wenn Sie hergekommen sind, um etwas zu bekämpfen, sind Sie unterlegen.« Es gibt eine Zeit, zu überlegen, zu fragen, was jemand sagen wird, und jetzt ist sie da, und sie ist gut. So gut, wie jetzt nur irgend etwas sein kann, wo das wirklich ist oder dies wirklich ist, niemals beides. Denn ich liege unter einer Last und kann sie nicht bewegen, und wenn sie verschwindet, bin ich nicht mehr ich selbst, und es ist gut, jemanden zu besiegen, irgend etwas, selbst ein unwichtiges, reizloses Mädchen; selbst wenn es in der Niederlage für mich keinen Sieg geben kann, kein Nachlassen der Last. Und so warte ich und frage mich, auf welche der verschiedenen möglichen Arten sie ihre Niederlage anerkennen wird, und da kommt es, aus den gewöhnlichen Lippen und den Augen hinter den ungewöhnlichen Wimpern, da: 34
»Darf ich Ihr Telefon benutzen?« Weil ich gesagt habe, daß sie keine Rolle spielt, darf ich auch das nicht wichtig nehmen; ich entferne mich vom Telefon und drehe ihm den Rücken zu, und sanfte Schritte gehen an mir vorbei, und weiche Finger ergreifen das harte Telefon; es rattert im Chor, synkopenhaft, sieben Maße lang. Und ein Läuten und ein Läuten. Welche Portale öffnen sich dem Läuten dieser Dame, diesem Brandt für das Feuer? Was weitet sich diesem Wählen, diesem brünnen, braven Mondlichtblinzeln? Mein Gott, mein Gott, da kommt es wieder, die Worte gleich Lügen in ihren Lagern, und ich bin er, und er ist – entweder oder, beide, keiner. »Hallo«, sagt das Telefon dünn, denn es kann zwei Silben sprechen, ohne den offenen Mund zu bewegen. »Giles«, sagt Miss Brandt, »einfach Giles«, und das Telefon lacht und sagt: »Okay.« Weiche Schritte auf dem hölzernen, oder ist es marmorner?, Boden, und das Läuten ist vom Gelächter beantwortet worden; und weiche, schnelle Atlantes-Schritte zum Fenster, und die Wolkenvorhänge verlassen den Innenhof, der Nebel schmilzt unten von der Wiese, das große, goldene Tor glänzt in der Sonne, und verschwunden ist das Zwielicht. »Rogero!« ruft er – aber bin ich nicht Giles, gefangen in einem Traum, der sagt, er sei da, wo ein Schurke einen Freund braucht? Ahi! Schärfer als ein Drachenspan ist ein Giles in seinem Wahn. »Rogero, kommt und seht Euer Schicksal!«, und in Atlantes’ Lachen liegt solcher Triumph, solche Verachtung, daß ich nur hingehen und schauen kann. Ich trete neben ihn. Auf beiden Seiten Bastionen wetterumtoster Stellen; vor mir die Zinnenmauer wie ein Kliff, wie ein erstarrtes Meer, aul den Rand gestellt, in den Hof abfallend. Fort und hinab und fort 35
rollt die magische Wiese zu ihrem untersten Rand, mächtige Mauern, bewacht von vergifteten Zwergen. Und als ich das Tor sehe, bin ich wieder ich selbst: Rogero, gefang’ner Ritter, hungernd nach dem schroffen Pfad jenseits des Tors. »Euer Schicksal, Ritter – seht Ihr es?« Ich blicke wieder hin, und dort, wie ein Maulwurf unter einem Monument, steht eine kleine, braune Person, grau und gram. In einer Hand liegt ein krummer Stab, wenig verändert von seinem erdenhaften Ursprung, und er ist es, der nun wieder die goldene Glocke anschlägt und das Klingen und Summen hinausschickt, damit es die leuchtende Luft erzittern lasse. »Mein Schicksal?« Er lacht wieder; es ist Kampf in einem solchen Lachen. »Schaut noch einmal hin!« Mit Daumen und Zeigefinger macht er einen Kreis und schiebt die Hand vor mein Gesicht, und durch den Kreis sehe ich das Tor – aber nicht vom Berggipfel aus, sondern so, als stünde ich nur zwanzig Schritte davor. Und obgleich mir seine Zauberei ekelhaft ist, muß ich doch hinsehen. Stumm sehe ich lange hin. Endlich sage ich: »Von allem, was du mir von meinem Schicksal erzählt hast, Zauberer, sehe ich nur ein Ding, das dich bestätigt, und zwar, daß jener Lehmklumpen eine Jungfrau ist, denn es ist undenkbar, daß eine solche etwas anderes sein könnte. Was den Rest angeht, so ist es nicht möglich, daß das Schicksal für mich etwas derart – Schmuckloses bereithalten könnte.« »Ah, dann braucht Ihr mir nur Treue zu schwören, und wir zerquetschen diesen Käfer gemeinsam.« Die Glocke klingt wieder. »Wenn nicht, muß ich es allein tun und Euch gefesselt halten. Aber das eine oder andere muß geschehen, denn dieses grobe Klirren ist wahrhaftig die Stimme Eures Schicksals, und 36
jenes barfüßige Fräulein ist erschienen, wie das Schicksal es diktiert, um mich herauszufordern und Euch zu erretten.« »Sie fordert dich heraus!« »Ja, Freund, mit nichts als diesem krummen Stab und dem handgewebten Gewand, unter dem sie großzügig ihre uninteressanten Glieder verbirgt. Ach, und mit dem armseligen Glauben an irgendein unwichtiges System von Göttern.« »Der Stab ist also verzaubert.« »Nein.« »Sie ist wahnsinnig!« »Das ist sie.« Er lacht. »Nun sagt mir, guter Narr: Möchtet Ihr zu ihr gehen und Eure Tage mit ihr verbringen, schwertlos, pferdelos, um die widerlichen Kinder von Bauern und Sklaven zu hüten? Oder wollt Ihr mit mir reiten und sie zu einem feuchten Fleck im Gras verwandeln und danach die Erde besitzen?« »Ich wähle, Zauberer, aber ich treffe meine Wahl unter eigenen Wünschen. Ich gehe nicht zu ihr, noch reite ich mit dir. Ich werde hierbleiben und Eure Tapferkeit beobachten, Euren historischen Sieg über die kleine, braune Mönchin mit ihrem dürren Ast, die nur Euer Zauberroß, Eure mächtige Rüstung und Eure Armee von Gnomen gegen sich hat. Und wenn sie besiegt ist – « »Ihr möchtet sie besiegt sehen?« spottet er. »Eure letzte Gelegenheit, frei zu sein? Euer Schicksal birgt keinen anderen Retter.« »Wenn sie besiegt ist, kommt zu mir zurück, damit ich Euch ins Gesicht spucken und Euch sagen kann, daß ich von meinen drei möglichen Höllen jene wähle, die Euch kein Vergnügen schaffen kann.« Er wendet sich achselzuckend ab. An der Tür zeigt er mir sein böses Lächeln. 37
»Ich wußte, daß Ihr mich eines Tages ›Ihr‹ nennen würdet, Rogero.« Ich ergreife ein schweres Weihrauchfaß und schleudere es. Krachend bleibt es in der Luft vor ihm stehen und fällt zerbrochen vor seine Füße. Sein Lächeln ist ein Lachen geworden. »Seid gewiß, Zauberer, daß ich nicht das ›Ihr‹ für einen Vertrauten, sondern das für ein Tier benutze«, schreie ich, und er lacht wieder; und eines Tages, wenn ich einen Weg finde, werde ich dieses kluge Wesen gewiß töten. Ich gehe zum Fenster. Tief unten kann ich noch immer das Tor und die schimmernde Wand sehen. Die Gnomen marschieren davon und verschwinden, und da, eine dünne Hand an den goldenen Gitterstäben, in der anderen den Stab, hängt das Mädchen und starrt hinein. Ihr Mut ist zu närrisch, um bewundert zu werden, ihre Kraft zu gering, um auch nur bedacht zu werden; sicherlich braucht Atlantes nur einmal zu lachen oder seine Brauen zu heben, um diesen tollkühnen Spatzen zu vernichten. Dort am Rand der Bastion steht Atlantes, der Wind peitscht seinen verzierten Mantel, die Sonne wird von seinen Juwelen beschämt. Er hebt die Hand und dreht sie, und das Tor, so tief unten, so weit entfernt, steht offen. Nichts so Massives wie diese goldenen Stäbe sollte sich so schnell und lautlos bewegen; die winzige Gestalt am Eingang stürzt beinahe. Das Mädchen steht in der Leere, das Tor überragt sie, hinter ihr erhebt sich der felsige Berg, und hoch und massiv über ihr steht Atlantes’ Schloß, gekrönt von dem glitzernden Magier selbst. Sie ist sehr klein und sehr allein, als sie den Hang hinaufzusteigen beginnt. Atlantes klatscht zweimal lachend in die Hände … Und aus einem Wäldchen auf der Bergwiese dringt ein donnernder Flügelschlag. Dort, mit dem grausamen Schädel ei38
nes Adlers und den Vorderpfoten des mächtigsten der Löwen, mit den herrlichen Flanken eines Hengstes und goldenen Hufen – dort erhebt sich, dort schwebt, dort rast der Hippogryph. Sein Schrei läßt das Gras erbeben; es ist ein Trompetenstoß, ein Brüllen und ein Kreischen, und durch und durch ist es ein Ding, das mein Herz schmelzen läßt, wie eine Frau es niemals könnte, und meine Augen brennen vor Mitleid und Mitgefühl. Denn er, auch er, der Hippogryph ist verzaubert, und mit seiner ganzen Seele haßt er seinen Meister! Ich bin froh, daß niemand in der Nähe ist, denn ich weine wie ein Kind. Ich bin ein Ritter und kenne meine Vorzüge, doch alles Glänzende liegt hinter mir. Meine Fesseln sind nicht zu zerreißen, und mein Schicksal ist ohne Schönheit. Und doch hier vor mir ist kristallisierte Schönheit und erschüttert die Welt mit ihrem mitleiderregenden, mächtigen Protest … kristallisiert? Nein, lebendig, so lebendig, wie ein Mensch es niemals sein könnte. Seht die Sonne auf seinem goldenen Federkleid, oh, seht seine purpurnen Flanken ... er ist mehr, als ich zu sehen ertragen kann, denken kann … ich werde ihn besitzen, ihn besteigen! Aber ob er mich sieht, mein Herz kennt, weiß ich nicht, denn er fegt vorbei und schwebt, und die Bastion nimmt ihn auf wie eine gewölbte Hand. Von der Brüstung nimmt Atlantes einen seltsamen Schild mit der Hülle aus weichen Fledermaushäuten. Er befestigt ihn am Zaumzeug des Hippogryph, dann steigt er, eine Hand an der Brüstung, die andere am Schild, auf den Rücken des gewaltigen Tieres; und, oh! Wie bin ich stolz, daß es nicht für ihn niederkniet. Atlantes beugt sich vor und spricht, und was er sagt, kann ich nicht hören, aber die herrlichen Schwingen des Tieres greifen nur einmal in den Fels, und himmelwärts fliegen sie. 39
Der Hippogryph beschreibt einen weiten Kreis, während Atlantes sich aus dem Sattel beugt. Seine durchdringenden Augen und all seine Zauberkraft müssen jede unsichtbare Rüstung entdecken, die sie tragen mag; und sie kann keine besitzen, denn ich höre sein fernes Lachen, als er sich über die Kruppe seines Reittiers beugt, um ihm wieder einen geheimen Befehl zu erteilen. Die Flügel falten sich oben zusammen, und hinab stürzen sie bis zur Höhe ihres Kopfes, und mit einem einzigen Stoß und dem Geräusch sanften Donners wird ihr Sturz aufgehalten, und der Wiesengrund trägt sie. Fünfzig Schritte entfernt läßt das Mädchen den Stab fallen und wartet, waffenlos. Winzig und böse dringt Atlantes’ Heiterkeit mit dem Wind zu mir. Er schwingt sich vom breiten Rücken des Tieres, löst seinen Schild und zieht mit einer Bewegung die Hülle herunter. Jetzt steht er zwischen mir und dem Mädchen, so daß der Schild von mir abgewandt ist. Wäre es anders gewesen, ich hätte nichts gesehen; das wußte ich, als ich die Lichtflut sah, die hinab- und hinausfächerte; als ich Vögel taumeln und stürzen, ein Reh sich abwenden und an einen Baum prallen sah. Ich hatte von diesem Schild gehört, aber ihn bis jetzt noch nicht gesehen. Auf unaussprechliche Weise war seine vergoldete Oberfläche poliert worden, bis er jeden blendete, der ihn erblickte. Dies also und den Hippogryph führt Atlantes gegen den zerbrechlichen Wahnsinn eines einzigen Mädchens ins Feld. Ah, ein mächtiger Magier, er, und zuversichtlich. Geschlagen und geblendet steht sie erstarrt und wartet auf – nein, nicht Gnade; die hat sie nicht zu erwarten. Sie wartet also auf ihn. Die Arbeit des Schildes ist getan. Er bedeckt ihn und schreitet selbstbewußt den Hang zu ihr hinab. Wenn er spricht, kann ich es nicht hören; ich bezweifle, daß er es tut, denn er weiß, daß 40
ich zusehe, und er wird wollen, daß ich verstehe. Er bückt sich, um den nutzlosen Stab aufzuheben, den sie hat fallen lassen, und drückt ihn ihr in die Hand; er nimmt sie bei den Schultern und dreht sie herum, so daß sie das Tor vor sich hat; er tritt zurück, wirft den Mähnenkopf zurück und brüllt vor Lachen. Ein solches Entlassen des blinden Wesens wäre vorauszusagen gewesen; der augenblickliche Tod wäre bei ihm etwas zu Mildes gewesen. Und so steht er da, lachend, unverwundbar selbst durch eine Kraft wie die meine, mit der unsichtbaren Mauer, die seine Zaubersprüche rings um ihn errichtet haben; grausam und siegreich – oh, wirklich ein mächtiger Magier! Und so bewegt sie sich, besiegt, auf die Tür zu ... Tür? Auf das goldene Tor … aber nein, es ist keine Bergwiese mehr, sondern ein Zimmer, in dem ich meine Staffelei habe, und mein … und jetzt sehe ich sie beide, das Zimmer und die Wiese, so als sei das eine auf Glas gemalt und ich sähe das andere durch das Glas; und welches? Und welches ist das Gemälde? Ahi! Mein Gehirn ist durcheinandergeschüttelt und wieder verwirrt, ich bin einer, der andere, beide, keiner. Ich sehe einen Vorhang aus Himmel mit Bergen als gezacktem Rand … eine schmutzige Wand, mit einem kleinen Blutspritzer, wo ich die Faust hinschlug, und die betäubte graue Jungfrau hebt ihren Stab, der ein kleines, blaues Buch mit goldenen Lettern ist. »Aber Sie sind blind!« Miss Brandt lächelt schief. Ihre Zähne sind nicht besser und nicht schlimmer als alles andere an ihr und mit ihren Wimpern nicht zu vergleichen. »Das hat man mir schon öfter gesagt, aber ich glaube es nicht. Das ist für Sie – hier!«, und sie gibt mir das Buch. Vor oder hinter meinen Augen erstrahlt ein Blitz, zu grell; ich glaube, es ist ein Hippogryph. Hier oben in der Tretmühle stehe 41
ich und schaudre, bis das verrückte Ding verschwindet; ich öffne meine Augen langsam und insgeheim, damit ich eine Wirklichkeit an mich reißen und sie wirklich machen kann. Und Miss Brandt ist hier – oder noch hier, ich weiß nicht mehr, was –, und die Bergwiese und der Hippogryph werden wieder zu einer Erinnerung – oder vielleicht zu einem Traum. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« Ihre Stimme und ihre Hand berühren mich gemeinsam. »Bleiben Sie weg von mir! Ich bin verrückt, wissen Sie das nicht?« Ihre Wimpern haben sich gehoben. »Verschwinden Sie lieber. Ich bin praktisch zu allem fähig. Hören Sie, Sie bekommen ja schon ein blaues Auge.« Ich schreie wieder. »Haben Sie keine Angst? Verdammt noch mal, Sie sollen sich fürchten!« »Nein.« Es ist sehr verwirrend, daß sie wie ein Mönch gekleidet sein und einen krummen Stab getragen haben soll; aber das hier war ein kleines, blaues Buch – richtig. Ich schüttle meinen Kopf, oder es ist ein Schaudern; das Mädchen und die Wand und die Tür schießen an mir vorbei, und meine Zähne rutschen weg. Das läßt sich aufhalten, wenn ich die Handballen fest an den Kopf presse … und langsam wird Speichel geschluckt… Libation, Libration, Liberation, und endlich Stille. In diesem Augenblick der Stille, wenn ich endlich ganz hier bin, weiß ich, daß mein … Traum, die Rogero-Sache, was es auch sein mag … überhaupt keine Zeit in Anspruch nimmt. Denn sie war am Telefon, als es anfing, dieses letztemal, und alle diese Dinge waren mit Rogero geschehen, während sie aufgelegt hatte und zwei Schritte hinter mich getreten war ... ja, und ich hörte die Schritte. Wenn ich wieder zu Rogero werde, gleichgültig, was hier geschieht, wie viele Stunden es dauert, werde ich Atlantes und die besiegte Jungfrau sehen, tief, tief unter mir, während 42
sie mit dem dürren Stock herumtastet, blind, mein besiegtes Schicksal. Dann öffne die Augen dem Hier und der Staffelei und Miss Brandt, die sich nicht fürchtet. Streck die Hand mit dem Buch aus. »Was ist das?« »Geld.« Es ist ein Scheckbuch, himmelgrün und sehr diszipliniert und spurenlos im Innern und stabil und blau außen. »Blankoschecks.« »Cartes blanches.« Sie lächelt, und das ist kein Ort für das Lächeln. Dann warte nur, und das Lächeln wird vergehen. Ah. Ohne Lächeln sagt sie: »Es ist Geld. Soviel Sie wollen. Füllen Sie einfach einen Scheck aus und unterschreiben Sie ihn.« »Sie sind verrückt.« Aber sie schüttelt ernsthaft den Kopf. »Weshalb bringen Sie mir Geld?« »Sie können jetzt tun, was immer Sie wollen.« »Ich kann nicht malen. Glauben Sie, Sie können mich zum Malen bringen, wenn Sie mir Geld geben?« Wenn ihre Zunge ihre Lippen berührt, haben sie dieselbe Farbe. Niemand, keine Frau, sollte so sein. Ein solcher Mund könnte nichts schmecken, nichts nehmen. Er sagt: »Nicht, wenn Sie nicht wollen. Aber Sie können all die anderen Dinge tun, die Sie tun wollten – die Sie schon immer tun wollten.« Was habe ich jemals anderes tun wollen als malen? Es muß etwas geben. Ah, da ist es, da ist es; ich hatte nie Gelegenheit, zu – zu -und dann zerdrückt meine Hand das Buch, das Buch von hervorragender Qualität, das nur wenig nachgibt, und als ich meine Hand öffne, ist es wieder normal. »Es ist nur Papier.« »Es ist Geld. Glauben Sie mir nicht? Kommen Sie mit. Kommen Sie mit zur Bank. Schreiben Sie einen Scheck aus, und sehen Sie selbst.« 43
»Geld. Wieviel Geld?« Wieder: »Soviel Sie wollen.« Sie ist ihrer Sache so sicher. »Wofür?« Wofür Sie wollen. Für alles.« »Das habe ich nicht gemeint.« Die Dinge werden so real wie real. »Wenn man Geld nimmt, gibt man etwas dafür, man gibt immer etwas, ein Bild oder ein Versprechen oder – « Ihr Kopf dreht sich kurz, ein wenig, rechts, links, rechts, die Augen bleiben auf mich gerichtet, so zwischen den Wimpern gleitend. »Nicht für dieses Geld.« »Weshalb geben Sie mir Geld?« Weißt du, Giles, hast du Angst? »Was ich für Geld tun kann, ist in erster Linie malen. Aber nicht jetzt. Nicht jetzt.« »Sie brauchen nicht zu malen. Nur wenn Sie wollen, und auch dann nicht für mich. Giles, vielleicht können Sie nicht malen, weil Sie etwas anderes tun wollen. Nun, tun Sie es. Tun Sie alles, was Ihnen einfällt. Bringen Sie sie hinter sich, diese Dinge, bis nur noch eines bleibt. Vielleicht können Sie dann wieder arbeiten.« »Dann ist das Geld fürs Malen!« Oh, sie ist so geduldig; oh, wie ich jemand hasse, der so geduldig ist. »Nein. Es ist einfach für Sie. Tun Sie damit, was Sie wollen. Ich will das Geld nicht, und ich will es nie zurückhaben. Es gehört mir gar nicht. Was schert es mich?« »Aber es würde Sie bekümmern, wenn ich nicht wieder male.« Die Wimpern verdecken die gewöhnlichen Augen. »Das ist mir wichtig. Es ist mir immer wichtig.« Und jetzt hat sie die Tür geöffnet. »Kommen Sie mit zur Bank. Holen Sie Ihr Geld. Dann werden Sie mir glauben.« 44
»Zur Bank, ja, und dann? Mit Ihnen gehen, nehme ich an, und Sie sagen mir, was ich kaufen und wohin ich gehen soll und wie ich – « »Sie können damit tun, was Sie wollen. Kommen Sie jetzt? Ich lasse Sie in der Bank allein, wenn Sie wollen.« »Das will ich.« Aber nein, das tut ihr nicht weh, und nein, sie ist nicht zornig; es gibt nur eines, was sie berührt, und dieses eine greift durch die geschlossene Tür, als wir durch den Flur gehen, es streckt sich die Treppe hinunter, vorbei an den Fenstern und Türen und Randsteinen und Taxis, den ganzen Weg bis zur Bank; und dieses eine ist mein weißes, sauberes, blindes Leinwandauge. Ich frage mich, ob sie es weiß; ich frage mich. Frage mich unter den polyglotten Säulen um die Bank – dorisch sind sie, mit korinthischen Kapitellen, ja aber die Tür ist nicht dorisch, sondern gewölbt und byzantinisch, mit einem Ventilator; aus Virginia, würde ich sagen. »Ich frage mich, ob Sie es wissen.« »Ob ich was weiß?« sagt sie, noch immer geduldig. »Weshalb ich nicht malen kann.« »O ja«, sagt sie. »Das weiß ich.« »Nun, ich nicht, Miss Brandt. Ich weiß es wirklich nicht.« »Es liegt daran, weil Sie nicht wissen, weshalb Sie malen können«, sagt sie, und ihre Augen sehen nicht mehr geduldig aus, sondern wartend. Es ist völlig anders. Und als ich meinen Kopf schüttle, weil das keine Antwort ist, werden ihre Augen wieder geduldig. »Kommen Sie«, sagt sie, und wir gehen hinein, und hätte man es sich nicht denken können, die Decke ist rot, mit Seilen aus vergoldetem Putz, ganz auf maurische Art. Und hier, in einer niedrigen Mauer aus glasiertem Marmor mit einer Krone aus marmorisiertem Glas, befindet sich eine 45
kleine, schwarze Schwingtür. Auf der anderen Seite steht ein polierter Schreibtisch, und dahinter sitzt ein polierter Glatzenträger mit polierter Brille. »Mr. Saffron«, sagt Miss Brandt. ›Mr. Saffron‹, steht auf dem Schild an seinem Schreibtisch, Gold auf Schwarz. Mr. Saffrons funkelnde Brille hebt sich, dann steht er langsam auf. Als er steht, hört die Brille auf zu funkeln, und ich kann seine Augen sehen. Sie sind blau und glänzen – nicht poliert, sondern feucht; Miss Brandt zugewandt, sind sie so rund, daß sie blaß werden; mir zugewandt sind sie ganz dunkle Schlitze, mit einer kleinen, rosigen Hautkante darüber. Und hier ist ein Mann, der von Miss Brandt erstaunt und von mir abgestoßen ist; was für eine wunderbare Art er hat, das zu zeigen, immer und immer wieder: rund-blaß, schlitz-dunkel, die ganze Zeit. »Das ist Giles.« Mr. Saffron richtet seine Schlitze auf meine mit Farbklecksen übersäte Khakihose und auf mein gelbes Hemd mit rostroten Aufschlägen, eigentlich das Oberteil meines Skipyjamas, und auf mein Gesicht. »Sind Sie ganz sicher, Miss Brandt?« »Natürlich!« »Wenn Sie meinen«, sagt Mr. Saffron und setzt sich. »Wir sind bereit. Würden Sie das unterschreiben, Mr. Ahhh?« Ich höre eine Schublade, aber ich bin sicher, daß er die weiße Karte aus seinem makellosen Bauch zieht. Mit der schimmernden Füllfeder von seinem Schreibtisch schreibe ich ›Giles‹. »Vorname?« sagt Mr. Saffron zur Karte, eine andere schimmernde Füllfeder in der Hand. »Ja.« »Nachname?« 46
»Ja«, sage ich wieder, und die Brille hebt sich. »Das ist sein Name, einfach Giles«, sagt Miss Brandt schnell. Und dann nennt sie meine Adresse. Mr. Saffron schreibt sie auf und legt nicht mehr Finger auf die Karte, als er muß. »Wollen Sie jetzt einen Scheck einlösen?« sagt Miss Brandt. »Oh, sicher.« Ich krame herum und ziehe das Scheckbuch heraus. Miss Brandt kommt mir mit einem Finger nah. »Sie schreiben das Datum hier und den – « Aber ich sitze nur da und schaue zu ihr hinauf, bis sie weggeht. Was soll das, glaubt sie, daß ich nicht weiß, wie man einen Scheck ausstellt? Ich schreibe den Scheck. Mr. Saffron ergreift den Scheck an beiden Enden und läßt ihn wie ein kleines Trampolin wippen. Er dreht ihn herum und kritzelt etwas auf die Rückseite. »Achtundsechzig Dollar. Gut, der Kassier gibt Ihnen das Geld.« Er zieht einen gelben, linierten Block aus der Schublade und beugt sich darüber, als sei seine Uhrentasche plötzlich in Flammen aufgegangen. Wir gehen durch die kleine, schwarze Tür hinaus, und als ich mich umsehe, beschäftigt er sich gar nicht mit seinem Block, sondern starrt uns mit runden, blassen Augen nach. »Ist das alles, was Sie wollen – achtundsechzig Dollar?« Ich sehe sie an. »Was soll ich mit mehr als achtundsechzig Dollar anfangen?« Geduldig, geduldig sagt sie: »Alles, Giles. Alles.« Wir gehen zu einem Käfig, und ein grimmiges Gesicht sagt mit lieber Stimme: »Wie wollen Sie es?« »Bar.« »Ganz egal«, sagt Miss Brandt. Er gibt mir das Geld, und wir gehen zu einem Marmortisch in der Mitte der Bank, während ich es betrachte. »Ist es so richtig?« sagt Miss Brandt. 47
»Was?« »Ist alles da? Haben Sie es nicht nachgezählt?« »O nein. Ich habe es mir nur angesehen. Es ist wirklich richtiges Geld.« »Das habe ich Ihnen doch gesagt.« »Gibt es noch mehr davon?« Wieder sagt sie: »Soviel Sie wollen.« »Okay, gut. Also, Miss Brandt, Sie können hierbleiben oder weggehen und tun, was Sie wollen.« »In Ordnung.« Ich gehe, und an der großen Tür mit dem Ventilator drehe ich mich um. Miss Brandt steht am Tisch, ohne direkt in meine Richtung zu blicken. Ich kehre um. Ich habe ein Gefühl in mir, bei dem es mir innen an der Nase weh tut. Ich bleibe vor ihr stehen und sehe sie an, während ich meine Lippen befeuchte. Sie hat inzwischen ein tolles Ding von einem blauen Auge, aber die Wimpern sind in Ordnung. Ich sage also: »Ihnen ist ja egal, was jetzt aus mir wird.« »Sie wissen, daß das nicht stimmt.« »Warum haben Sie denn dann nicht versucht, mich aufzuhalten, wenn es Ihnen schon soviel ausmacht?« Sie sagt: »Sie sind nicht im Begriff, jetzt etwas Wichtiges zu tun.« »Mit dem vielen Geld? Woher wissen Sie das?« Sie sagt es nicht. »Ich nehme an, Sie möchten, daß ich zu Ihnen zurückgerannt komme, damit Sie sich um mich kümmern können.« »Nein, Giles, im Ernst«, sagt sie auf ihre ganz überzeugte Weise. »Sie verstehen nicht. Ich bin nicht wichtig. Ich versuche nicht, wichtig zu sein. Ich falle bei der ganzen Sache gar nicht ins Gewicht.« 48
»Für mich nicht.« Warum macht sie mich eigentlich so wütend? »Was ist denn dann wichtig?« »Warum Sie malen könnten. Warum Sie nicht malen können. Das ist alles.« »Na, erst mal zum Teufel damit. Also – vielleicht sehn wir uns mal.« Sie antwortet mit einer Art Achselzucken. Ich gehe einfach. Vielleicht möchte ich mich umdrehen, aber ich tu’s nicht. In meinem Kopf ist etwas darüber, wie ich sie erreiche, wenn ich Lust dazu haben sollte, aber auch damit zum Teufel. Bei allen Farbtöpfen der Verdammnis, niemand wird Giles je so weit bringen, daß er zugibt, zu dem Ganzen zu gehören, wie sie es versucht. Leute wie sie tun nichts anderes, als herumzulaufen und an etwas zu glauben, und sie wollen die anderen Leute dazu bringen, daß sie es auch glauben. ›Ich falle bei der ganzen Sache gar nicht ins Gewicht.‹ Was für eine Art, sich durchzuschlagen, soll das sein? So ein dummes Ding. Ich gehe über die Straße und bleibe in einem Durchgang stehen, damit ich sie beobachten kann, wenn sie herauskommt. Von jetzt an ist meine Sache meine Sache, bei Gott. Was glaubt sie eigentlich, wen sie abwimmelt? Es wird kühl, aber wen schert das? Ich habe jede Menge Zeit. Jede Menge Geld. Jede Menge Geduld. Miss Brandt, ja, die hat wirklich Geduld. Andererseits haben alle Kinners von Gott Geduld. Schau dir bloß die Bank an; die großen, dicken Säulen machen was? Sie tragen einen Pseudoparthenonfries, das machen sie. Das ist wirklich Geduld. Jahrein, jahraus stehen sie da und tragen ihn, und keiner weiß, daß er da ist, außer den Spatzen. Geduld – schau dir die Arbeit an, die das Meißeln von den Figuren gekostet hat, von der fetten, schlappen Nackten in der Mitte bis hinunter zu den Chow-Chows oder Löwen oder was 49
sie sonst sein sollen. Stiacciato, nennt man das, die niedrigste Form von Reliefarbeit, und die Dicke in der Mitte ist es auch. Sie sind also der Reihe nach alle geduldig, das Durcheinander von Hermes und Demeters und blinden Richtern, die für die Spatzen stillhalten. Und wenn es kalt ist, frieren die Spatzen an den Marmorstuhl, und wenn es warm ist, suhlen sie auf den Marmorfries, und die Sanftmütigen werden das Erdenreich besitzen. Ach, du lieber Himmel, was ist bloß mit meinem Kopf … hör zu, Giles, halt dich an dem Geländer da fest und die Schielaugen auf die Bank gerichtet und hau nicht ab, auf keinen Zauberberg nicht. Schau auf die Uhr über der Tür. Schauen? Ich kann sie hören! Na, dann hör drauf und behalt den Kopf im Hier und Jetzt und komm nicht mit einem gespaltenen Definitiv daher. Das da ist eine kranke Uhr, sie muß drei Stunden nachgehen, und hör dir an, wie sie stöhnt. Oh, ich kenne eine Bank, wo die Zeit so wild vergeht … Nimm dich zusammen, Giles; denk an was anderes, an San Francisco, wo die Einbrecher von der anderen Seite der Bucht Berkeler heißen, und an das Golden G- nein! Denk an die Statue unten an der Straße, an den Vater des Bürgermeisters auf einem Pferd, in den Zeitungen steht jeden zweiten Tag, ob sie sie anderswo aufstellen sollen oder nicht … meines Vaters Gaul hat viele Klammern … und in der Bank, jetzt. Miss Brandt kommt heraus, sieh, das Tor steht offen und schimmert in der Sonne, während sie auf Steinen stolpert; es ist, als presse Atlantes’ Spott allein sie nieder, damit sie zerquetscht werde wie ein Baum im Donnerwind. Und auf der anderen Seite der Straße – Bergwiese, Bergwiese ist das Wort – zeigen sich die blauschwarzen Helme der bösen Gnome, die das beobachten … könnte man das eine Herausforderung nennen? Ja; aber eine Schlacht, nein; nur eine Niederlage. 50
All das in einem Aufblitzen strengen Zorns, und dann – ja, sie sinkt, dreht sich herum, als falle sie vor seine Füße … dann wirbelt sie hoch, ihr primitiver Stab unsichtbar, verloren in der Geschwindigkeit, und mit einem Peitschenknall, der Stab … Ahi! Einen Augenblick lang klammere ich mich an die Fensterbrüstung, scharre wie eine Katze, die halb von einer Wand gestürzt ist; in diesem unfaßbaren Augenblick habe ich mich vorgebeugt, um zu schreien, und bin fast durch das Fenster gekippt; und was dann mit meinem Schicksal? Zurück endlich und hinausblicken: Und das Tor ist Blei und geschrumpft, und die Gnomen sind nur eine Herde Ziegen; ich stehe nicht auf einer mächtigen Brustwehr, sondern auf dem Dach eines Kuhstalls. Fort sind die Schwanenteiche, die großen, grauen Hallen, die leichtfüßigen Tänzer und die Traubenmädchen. Atlantes, der mächtige Atlantes, liegt auf dem Rücken, die Augen glasig, und das helle Blut fließt aus seinem gebrochenen Schädel … liegt, ahi! wie ein Ziegenhirt nach einem Kampf mit Flaschen am Markttag. Und sein Roß – aber welch Schrecken! hat sie denn den Hippogryph in eine Milchkuh verwandelt? Möge der Alraun ihre Gedärme erstarren lassen, wenn sie meinem Hippogryph etwas angetan hat! Ah, aber nein; da steht er, in gleißender Schönheit, und wirft seinen Adlerkopf zurück und schleudert seine Freude hinaus zu den fernsten Bergen. Ich mische meine Schreie mit den seinen, springe von der Mauer und laufe und falle den Hang hinunter. In Verzückung recke ich mich im verzauberten Gras und drehe und winde mich darin, bis ich sein süßes, grünes Götterblut riechen kann; und bei einer solchen Drehung fällt mein Blick auf sie, die sanftmütig dabeisteht, die beiden Hände um 51
das Stück ihres zerbrochenen Stabs gefaltet, die Augen gesenkt – aber nicht so weit, daß sie mich nicht sehen. »Aber Ihr seid es, meine Kämpfermaid!« dröhne ich. »Her zu mir, o Weib, und ich will Euch wohl küssen für Eure Mühe!« Aber sie bleibt stehen, wo sie ist, so daß ich zu ihr gehen muß. Das wenigstens kann ich tun; hat sie mich nicht befreit? Oder ist sie hier, um mich wieder gefangenzusetzen? Das Schicksal ist jetzt nicht fragil; da hinten liegt ein zerbrochener Zauberer als Beweis. Doch – »Wie nennt man Euch, Maid?« »Bradamante«, sagte sie; die Araber züchten ein langmähniges Pferd, und in der Ferne sieht das seid’ne Banner an seinem Kamm so aus wie die Wimpern dieser Jungfrau aus der Nähe. »Nun, Bradamante, ich verdank’ Euch meine Freiheit, wenn nicht mein Leben. Und sollt’ die Zeche ich bezahlen, was wolltet Ihr tun damit?« Auf sieht sie zu mir, mit tiefer Ruhe, die mein unbekümmert’ Lächeln gleich zerstört; und weiter auf an mir vorbei blickt sie; und sie sagt sanft: »Ich würde den Willen des Herrn damit erfüllen.« »Nenn mich nicht Herr!« schreie ich; dieses Wesen macht mich verlegen. »Das hab’ ich nicht getan.« Still wie je, ihre Stimme, doch irgendwie scheint sie mich zu rügen. »Ich meinte den Herrn, dem ich diene und der König der Könige ist.« »Ist ER das? Und was hätte ER gewollt, daß Ihr mit einem hungrigen, gefängnisschwachen Kerl von schwertlosem Ritter macht?« »Wenn Ihr IHM dienen wollt – « »Halt, Weib. Jener Zauberer erzählte mir eine Mär von Euch und mir vermählt, vom Kriechen im Schlamm wie Würmer 52
unter Würmern, und niemals ein Juwel an unsrem Kleid. Er sagt, es sei mein Schicksal, von Euch befreit zu sein, und Ihr habt mich befreit. Doch kann ich gar nicht sagen, wie.« »Ich hab’ ihn nur mit meinem Stab getroffen.« »Nein, Weib. Das konnte ich nicht einmal tun, er war nicht zu berühren.« Sie gibt mir ihre Hand; ich nehme sie und folge ihrem Blick auf ihre Hand. Sie trägt einen schlichten, goldnen Ring. Sanft macht Bradamante sich los und zieht den Ring herunter. »Der Herr hat dies zu mir geschickt; wer ihn trägt, ist gefeit gegen allen Zauber. Ich brauche ihn nicht mehr.« Der Ring blitzt in der Sonne, als sie ihn wegwirft; mit schnellem Daumen und Zeigefinger fange ich ihn aus der Luft. »Doch behalt ihn, Bradamante! Einen Schatz wie den könnt Ihr nicht wegwerfen!« »Ich bekam ihn, um Euch zu befreien, und Ihr seid frei. Was die Zukunft angeht – der Herr wird dafür sorgen.« Ich schiebe den Ring auf meinen kleinsten Finger, und obwohl der so dick ist wie ihr Daumen, umfaßt der Ring mich wie mein eigen. Selbst ohne ihn, Mädchen, hättet mehr Glück Ihr mit zorn’gem Basilisken als mit mir, wenn Ihr mich überreden wolltet, Euch bei der mühevollen Pilgerfahrt zu folgen. Aber nun – »Soviel von meinem Schicksal ist vollendet dann, Bradamante, und ich bin in Eurer Schuld. Aber sicherlich hat der Zauberer sich beim Rest getäuscht.« »Es liegt in den Händen des Herrn.« »Ihr erwartet nicht, daß ich meinen Brokat für ein kratzend’ Kleid wie Eures hingeb’ und mit Euch bei den Bauern wandle!« »Wir tun, wie der Herr befiehlt. Wir tun es frei und von ganzem Herzen und sind erlöst, oder wir tun es blind, bis wir im Dunkeln enden; aber dienen werden wir IHM.« 53
Solche Gewißheit ist entnervender als jeder Zauber. »Das kann ich nicht glauben.« »Will nicht«, verbessert sie mich ruhig. »Aber ich habe die Wahl! Hier stehen wir, Bradamante, und mit dem nächsten Herzschlag kann ich Euch töten oder lieben oder beißen oder auf die Erde fallen und Gras verschlingen – und was davon ich tue, entscheide ich allein!« Langsam und so überzeugt schüttelt sie den Kopf. »Es ist in Euch, dem Herrn zu dienen, sonst war ich nicht zu Euch entsandt. Die Wahl habt Ihr: Ihr mögt IHM willig dienen oder blind, und keiner kann ein Drittes.« »Ihr könnt nicht zwingen – « Sie erhebt die Hände. »Wir zwingen nicht. Wir töten nicht. Wir brauchen es nicht. Der Herr –« »Euer Herr ließ Euch Atlantes töten!« »Nein, Rogero. Er ist nicht tot.« Ich springe zu dem schlaffen Magier, und wahrhaftig ist er nur betäubt. Ich reiße seinen eigenen Dolch heraus, und augenblicklich schiebt Bradamante ihren festen, braunen Arm dazwischen, vor die Spitze. »Der Herr wird ihn zu seiner Zeit nehmen, Rogero. Laßt ihn.« »Laßt ihn! Er hätte Euch getötet!« »Aber er hat es nicht getan. Auch er ist Diener Gottes, wenn auch unwillig. Laßt ihn.« Ich schleudere den Dolch so heftig von mir, daß nichts als der juwelenbesetzte Knauf noch aus der Erde ragt. »Dann lass’ ich ihn und nenne meine Schuld beglichen, nachdem ich Euch den einen Dienst geleistet. Seid Ihr’s zufrieden, Maid?« 54
Sie verwirrt mir meinen Kopf, diese stille Kreatur; und ich erinnere mich an Atlantes’ höhnische Worte, daß dieser entschlossene Käfer von einer Bradamante mehr von ihrem Glauben als von meinem Fleisch halten werde und daß sie mehr Hirn besitze als ich. Ihre Wimpern sinken, und »Soseies«, sagt sie und kein weitres Wort. Ich brauche mein Schwert, und um es zu holen, muß ich ihr den Rücken zudrehn – ein gutes Muß. So gehe ich den Hang mit leichtem Fuß hinauf, als wäre ihre bloße Gegenwart nicht wie Hitze an meinen Schulterblättern. Ich schließe meine Augen, während ich den glatten Grasweg hinaufspringe, und das schließt sie nicht aus. Geduld, Rogero! Den Berg hinab, über die Höhe, und sie wird vergessen sein! Und überdies kann man zurückgehn, wenn man muß … Ich lasse meine Augen sich wieder öffnen und stocke; denn da steht der Hippogryph, und nie zuvor ließ er mich so nahe kommen. Wenn ich weiter hinauf will, muß ich um ihn herum oder ihn von der Stelle bewegen. Für den Bruchteil einer Sekunde zögere ich, und sein großer Kopf wendet sich mir zu; oh, ich habe in die Brunnen von Kasipon geblickt, die ohne Boden sind, ich bin dem Licht meiner Fackel in den endlosen Höhlen von Qual gefolgt, und ich habe eine Nacht gekannt, als die Sterne erloschen; und nie zuvor habe ich in solche Tiefen und Weiten geblickt wie in den Augen seines Adlerkopfs. Wahre Vogelaugen sind es, wild in ihrem Grundgefüge, und unlesbar. Durch sie sieht das Tier – was? Einen weichen Sack aus Blut und Knochen, als Scheide für den goldnen Schnabel … oder einen Freund … oder ein huschendes Insekt… Ich sollte fliehen. Ich sollte stehen. Ich sollte um ihn herumgehen und vorsichtig sein. Ich sollte, ich sollte – 55
Aber ich werde ihn reiten! Ich beende meinen Schritt und gehe direkt auf ihn zu, und als meine Hände auf seinen purpurnen Bug fallen, schwingt er den Kopf nach vorn und hoch und zittert so, daß von seinen Schwingen ein Geräusch wie leiser Regen auf einem seidnen Zelt ertönt. Mein Herz hüpft so, daß ich mit ihm springen oder es verlieren muß, und mit einer einzigen Bewegung bin ich auf seinem Rücken, und meine Knie haben ihn. Ahi! ein solcher Schrei entreißt sich mir, Rivale für den seinen; voll des herrlichen Geschmacks des Schreckens. Dabei versetze ich ihm einen Schlag zum Widerrist, der mich ins Mark erschüttert, und bevor ich den Schlag als mehr denn einen Schock empfinden kann, sind seine Schwingen aufgefaltet, und der bäumt sich auf und springt … Es ist ein Sprung, der niemals endet; schnell fliegt er und noch schneller, empor im Winkel seines Sprungs, und das Schnellen seines Körpers ist für einen Reiter mehr als seltsam. Nur das Glänzen des goldenen Rings überzeugt mich davon, daß wir nicht einem Zauber unterliegen; denn das Fliegen in die Sonne wärmt nicht, so eigen das auch scheint, und die klare Luft wird kalt, den eisigen Angeln gleich, die an der Türe der Verdammnis sind. Ich denke an die arme, erdgebund’ne Bradamante und schaue zurück und hinunter: aber jetzt ist sie schon verloren in dem Unbestimmten zwischen Dunst und Horizont, und dort mag sie auch bleiben. Ich zucke die Achseln und entdecke, daß ich nicht das Bild ihres Gesichts hinweggezuckt habe, was seltsam ist, da es sich kaum lohnt, daß man sich daran erinnert. Gewißlich seid Ihr doch nicht verliebt, Rogero? In sie? In – das? Ah, nein, das kann nicht sein. Es muß noch etwas anderes ge56
ben, verborgen in dem ganzen Mosaik unserer Begegnung. In unserem Abschied … ah, da war es! Atlantes ist nicht tot. Das ist, an sich, noch nichts; Atlantes fern ist für mich ebenso wie Atlantes tot. Aber Atlantes, langsam auf der Bergwiese erwachend, sein Zauber zerstört, Schild und Roß dahin – während der friedliche Ursprung seines Untergangs ihm mit kräftigen, unweiblichen Händen ohne Zweifel auf die Beine hilft … das ist eine andere Sache. Aber vergiß es! Der schlauzüngige Zankteufel könnte, bis Atlantes ganz bei Bewußtsein ist, ihn so im Sumpf der Debatte haben, daß er seinen Zorn vergißt. Bradamante besitzt eine überaus mächtige Hilflosigkeit; sie greift mit der unwiderstehlichen Waffe an, unbewaffnet zu sein, fesselt den Feind durch Kapitulation und sitzt endlich auf seiner geschwächten Gestalt, mit ihrer schweren Last aus Passivität. Um Bradamante brauche ich nicht zu bangen. Aber der Ring schnellt mir einen Funken Licht ins Auge, und ich weiß, daß ich ihr ihre letzte Abwehr genommen und sie der Gnade des Gnadenlosen ausgeliefert habe, und das ist schwacher Dank fürwahr für das, was sie für mich gewagt hat. Aber was sonst würde ein Ritter, ein wahrer Ritter, tun? Was ein Ritter tun würde, sage ich mir bitter, ist, sein Schwert zu holen, wenn er es verloren hat, und nicht zu vergnügen sich mit einem Hippogryph, so schön er sein mag. Ihr seid kein Ritter, Rogero; noch nicht, nicht wieder. Holt Euch zurück die heil’ge Klinge, den Knauf mit heil’gen Versprechungen bestückt, bevor erneut Ihr Ritter wollt Euch nennen. Zurück also, um das Schwert zu holen, und dann entscheiden, was mit der Maid geschehen soll; und haltet euch bewaffnet mit dem Gedanken an Euer Schicksal – es liegt bei ihr und 57
heißt, in Sanftmut tauchen, bis ich so weich bin wie Brot in einer Schale Milch … nein! beim Kern des Feuers im untersten Höllenschlund, ich hole meine Klinge und haue mir heraus ein neues Schicksal! Es gibt keine Zügel, und mir fällt ein, daß der Zauberer das Tier mit Worten steuerte. »Genug, mein Schöner!« rufe ich. »Zurück jetzt – bring mich zurück!« Und irgendwo im Innern kichert eine Stimme: Ihr täuscht Euch mit dem Schwert selbst; es ist die Not des Mädchens, die Euch treibt. »Nein!« rufe ich. »Sie soll mich nicht haben! Ihr König der Könige soll sie retten, sie ist SEIN Mündel, nicht das meine!« Und ich stoße die Hacken in den Hippogryph. »Zurück, mein Herrlicher, bring mich zurück!« Und der Hippogryph legt sich in den Wind und segelt weiter wie vorher, denn dies sind nicht die Magierworte. »Umkehren! Umkehren!« brülle ich und treib’ ihn an. Ich balle meine Faust und stoß’ sie bis zur Hälfte in die gefedert’ Wurzel seines Nackens; denn so bringt man ein Pferd zum Wanken, geschieht es richtig. »Esel!« kreische ich. »Dreh deinen lahmen Leib, sonst verknot’ ich dir den Hals!« Darauf dreht sich der Adlerkopf wie der Schädel einer Eule, und die unmeßbaren Augen leuchten über mir. Langsam öffnet sich der Schnabel, daß ich die Speeresspitze und die Scherenklingen dieser schrecklichen Waffe sehe. Wie ein blindes Tier tastet und sucht und sinkt die grau-rosige Zunge; die Zunge ganz allein ist Gegner genug für jeden Soldaten. Die Angst jedoch ist nur bis zu einem Punkt ein Helfer für die Sicherheit, und darüber bin ich schon lange Zeit hinaus. »Zurück, schändliches Ungeheuer, bevor ich dir das häßlich Horn ausreiße und deine Augäpfel zusammenschlage! Beim trüben Blute deiner Eltern – « So weit bin ich im Toben, und 58
dann stößt er zu. Und hätte lieber mit dem einen Stoß er mich getötet; denn statt dessen schiebt er die Spitze seines Schnabels zwischen Sattel mir und Schenkel, und ich werde, unverletzt und schlimm gedemütigt, hoch in die Luft gewirbelt, über ihn. Ich wirble um mich wie eine zerbroch’ne Lanze, oder die Erde jagt mich Kopf über Ferse, gehetzt von einem grellen Sonnenband. Ich sehe die strahlenden Schwingen unter mir, zu klein und weit entfernt; herum geht es, und ich sehe sie näher; und wieder, und diesmal muß ich berühren, fassen; ich kralle meine Hände und beuge meine Beine und dreh’ mich wieder – und der Hippogryph gleitet zur Seite und läßt mich an sich vorbeistürzen. Ich bedecke meine Augen, und ich schreie; ich schreie, bis meine Sehnen es nicht mehr ertragen können, schluchze und schrei’ wieder, um die Sperlinge von allen Ufern aufzuschrecken, von hier bis Brooklin, Massachusetts. Ich widerrufe, ich akzeptiere mein Schicksal und heirate ehrlich die kleine, braune Nonne, wenn sie mich haben will; ja, und tu’ für ihren Herrn, was er an kleinen Hundetricks verlangt; nur macht, daß dieser Hippogryph, daß dieses herrliche, legitime, ehrenhafte Tier von einem Hippogryph mich rettet. Ahi! und ich liege auf dem Rücken auf einem Gerüst und male Dir Fresken, o Herr, und ich schwöre, daß ich Miss Brandt nie mehr eins aufs Auge oder sonst wohin mehr geben will, aber schickt mir eine Wolke oder einen Adler oder einen Fallschirm oder einen Hubschrauber … oh, du lieber Himmel, was für ein Augenblick für ihn, sich zu verlieren und wieder ich zu sein. Ich frage mich, ob er weiß, daß das in Wahrheit keine Zeit erfordert, wo er ist. Und dort unter mir verfolgt die gefleckte Erde eine zur Sonn’ gewordene Rakete … puh. Giles, alter Knabe, mach du deine Augen nicht mehr zu, bis du mußt … »Hallo!« 59
Dort am Geländer steht ein Bengel mit schmutzigem Gesicht, daneben eine kleinere, aber weibliche Ausgabe von sich, ganz Augäpfel und rußige Backen. »Hoi, Mister, fehlt Ihnen was? Sin’se krank?« – und die Kleinere: »Siehstenich, er geht drauf!« »Laßt mich nur, Kinder«, lalle ich. »Ich bin eben von einem Hippogryph gefallen.« Ich merke, daß ich halb knie, und versuche aufzustehen, und meine Hände scheinen am Geländer festgewachsen zu sein. Ich bleibe gebückt und komme mir sehr dumm vor, während sie mich beobachten, und ich konzentriere mich von meinem steinkalten Mark aus hoch, bis sich endlich meine linken Finger bewegen. Mit ein wenig Anstrengung dazu löst sich die Hand, und mit ihr ziehe ich die rechte ab, einen Finger nach dem anderen. Ich richte mich ganz auf und starre eine Weile meine Hände an und rühre sie. »Er geht nicht drauf«, sagte der Junge enttäuscht, und seine Gesellin meint, sich verteidigend: »Er wär’ aber draufgegangen«, weil ihre inbrünstigen Hoffnungen das zu ihrem Werk gemacht hatten. Kurz blitzt eine Sonne vorbei, aber ich ignoriere sie; jetzt kann mir nichts mehr passieren. Man lernt die Anzeichen kennen. »Da«, sage ich, »beim nächstenmal gebe ich mir mehr Mühe«, und ich gebe ihnen Geld, ich weiß nicht, wieviel, aber es muß genug sein; sie verschwinden. Ich lege die Ellenbogen auf das Geländer, halte die spastischen Hände von ihm fern und schaue über die Straße. Die Uhrzeiger haben sich nicht bewegt, soweit ich sehen kann, und Miss Brandt, die eben aus der Tür trat, als mein verschrobenes Gehirn mich überfiel, steht unter den Säulen, und die Tür schließt sich gerade hinter ihr. Zwei Sekunden, vielleicht drei. Mein Gott, was für eine Art zu leben! 60
Miss Brandt schaut die Straße hinauf und hinunter, steigt die Stufen hinunter und wendet sich nach rechts, zur Statue des alten Bürgermeisters. Als sie fort ist, gehe ich zur Bank und trete ein. Am Inseltisch schreibe ich einen Scheck und trage ihn zu dem Käfig, wo der Mann mit dem grimmigen Gesicht sitzt. Er nimmt das Papier und dreht es mit der gleichen Bewegung um wie Mr. Saffron, den Trick muß ich auch lernen. »Sie müssen ihn abzeichnen lassen«, sagt er. Ich gehe also zu Mr. Saffron und bleibe vor seinem polierten Schreibtisch stehen, bis er zu mir aufsieht. Der Mann mißbilligt mich bis zur Ekstase, und das fasse ich als Freundlichkeit auf, denn dadurch kommen wir uns beide wichtig vor. Ich lasse den Scheck fallen, er schaut, dreht, schaut und brummt. »Gut, Mr. Ahh«, sagt er und kritzelt mit seiner persönlichen Füllfeder. Ich nehme den Scheck und bleibe stehen. »Nun?« »Ich möchte wissen, wessen Geld das ist.« »Ihres.« Er hat eine Art, seine Worte abzuknappen, als wolle er einem kein ganzes gönnen. »Ja, aber – « »Das Konto lautet auf Ihren Namen, das genügt doch wohl!« Ich betrachte den Scheck. »Ist noch etwas übrig?« Das Ganze beleidigt ihn, aber er sitzt fest. »Ja«, sagt er. »Viel?« »Mehr, als Sie heute ausgeben können«, sagt er. »Oder diese Woche.« »Ja, verdammt, wieviel?« Er breitet seine blaß-rosa Hände aus, was bedeuten soll, daß 61
das kein Konto wie andere Konten ist, und er wünscht sich, daß er dagegen etwas tun könnte, aber er kann nicht. »Das ist das erste und letzte Scheckbuch, das Sie bekommen«, sagt er. »Abgesehen davon scheint es keine – äh – obere Grenze zu geben. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe viel zu tun, guten Tag, Mr. Mmmm.« Und hinab taucht er auf seine Papiere. Ich habe genug Fragen gestellt, um zu wissen, daß es keine Antworten geben wird. Ich gehe zur Schwingtür und zum Käfig und reiche dem Grimmigen den Scheck. »Die Hälfte Hunderter, den Rest klein.« Er gibt ein langes Schnauben oder kurzes Seufzen von sich, läßt das Gitter herunter, verläßt den Käfig mit einem Schlüssel und ist viel zu lange weg, aber das stört mich jetzt nicht. Ziemlich bald kommt er mit einem Sack zurück. Er öffnet den Käfig und nimmt Bündel aus dem Sack, die er mir zuschiebt. Die sechzig Hunderter kommen in meine Socken; sie sind oben elastisch, und man kann sie weit genug hinaufziehen. Die sechzig Fünfziger lassen sich so flach verteilen, daß sie zwischen meinen Bauch und die kurze Unterhose passen, auch wenn das ein bißchen beult. Dann verbringe ich einige Zeit mit den hundertachtzig Zwanzigern und Zehnern, die ich in zwei Seiten-und eine Hüfttasche stecke. Ich bin so klumpig wie ein Sofakissen, das eben aus der Waschmaschine kommt, und es haben sich allerhand Leute angesammelt. Das grimmige Gesicht flötet: »Sie kommen in Schwierigkeiten, wenn Sie das viele Geld so herumschleppen«, so als sei es ein Wunsch, und ich sage: »Nein, bestimmt nicht. Die denken alle, ich bin verrückt, und keiner weiß, was ein Verrückter alles macht.« Ich sage es ganz offen und laut, und die ganzen Leute, die zusehen, hören auf zu summen und weichen ein bißchen zurück. Sie öffnen mir eine breite Gasse, als ich mich in Bewegung setze. 62
»Warten Sie!« schreit der Kassier und drückt ein paar Tasten an seiner Maschine. Münzen gleiten die halbe Spirale herunter und landen klirrend in der Schale. »Warten Sie! Hier sind Ihre achtundzwanzig Cent!« »Können Sie behalten!« brülle ich von der Tür aus und gehe hinaus, viel glücklicher, als ich mich in letzter Zeit gefühlt habe. Mein ganzes Leben lang wollte ich achtundzwanzig Cent für einen Bankkassier dalassen, der sie nicht in die Tasche stecken kann, und wenn sein Seelenheil davon abhinge, und der auch in seinen Büchern keinen Platz dafür hat. Unten an der Straße gibt es ein großes Bekleidungsgeschäft für Herren, mit kleinen Lettern über der Tür und einem Schaufenster voll ernster Anzüge ohne Falten in den Ärmeln. Ich schaue sie mir an, bis ich den mit den meisten Taschen finde, dann gehe ich hinein. Es ist da wie in einer Kirche, aber mit Teppichboden von Wand zu Wand, und die einzigen Schaukästen, die ich sehe, sind zwei ganz kleine, in Mahagonisäulen eingelassene, einer mit Krawattenhaltern und Kragennadeln, einer mit vier handbemalten Seidenkrawatten. Ich sehe mir den ersten an. Jede Samtschatulle hat ein bescheidenes Kärtchen mit ›die‹ oder ›das‹ darauf: ›$ 200 die Garnitur‹, ›$ 850 das Paar‹. Ich bin unterwegs zu den Krawatten, als ein Mann mit Papiernelke aus einer Topfpalme tritt und dort steht, wo ich ihn niederrennen muß, falls ich nicht stehenbleibe. »Was«, sagt er, »wollen Sie?« Das ›Sie‹ ist ein bißchen größer als die anderen Worte, und das Ganze hört sich so an, als wäre er ziemlich angeekelt. Ich erzähle ihm vom Anzug im Schaufenster. Er lacht mit dem Mund. »Das ist ein Anzug für dreihundert Dollar.« 63
»Na, dann schleppen Sie ihn her.« »Ich bin ziemlich sicher, daß wir Ihre Größe nicht führen«, sagt er und sieht sich meine Malhose an. »Dann schnipseln wir herum, bis er paßt«, sage ich. »Los, Freund, nicht gefackelt.« »Ich fürchte, daß – « Ich fange also an, ein bißchen zu schreien, und er weicht zurück und blökt: »Mr. Triggle, Mr. Triggle«, und von irgendwo – ich vermute, aus einer zweiten Topfpalme, es gibt ja genug hier – taucht ein zweiter hochgewachsener Mann im gleichen Traueranzug auf, der aber mit einer echten Nelke. »Na«, sagt er, »na, na-na-na. Was ist denn, was?« »Sie verkaufen. Ich kaufe. Bloß er glaubt das nicht«, erkläre ich der echten Nelke und deute auf die papierne. Die papierne sagt: »Der Herr – «, das schmutzigste Wort, das ich je gehört habe, so wie er es ausspricht, »der Herr erkundigt sich nach dem von Horstmann-Kammgarn im Schaufenster.« Die echte Nelke kichert. »Mein guter Mann, ich fürchte, Sie sind im falschen – «, und dann drücke ich ihm zwanzig Dollar in die Hand. Er starrt sie an, der andere starrt sie an, also gebe ich dem auch einen Schein. Sie starren einander an, und ich verteile noch zwei Scheine. »Her mit dem Anzug.« »Wollen Sie nicht in den Anproberaum treten?« sagt die echte Nelke, und man möchte nicht glauben, daß das derselbe Mensch ist. Dieselbe Stimme ist es jedenfalls nicht. »Wir haben ein beachtliches Sortiment an – « »Ich will kein Sortiment, ich will den Anzug aus dem Fenster. Genau diesen gottverdammten Anzug und keinen ähnlichen.« »Oh, aber wir können keinen Anzug aus dem – « 64
Ich gebe also jedem zwanzig Dollar. »Jawohl, Sir!« sagt der mit der Papierblume und hechtet nach vorn. »Jetzt wollen wir einmal sehen«, sagt die echte Nelke, zupft an ihrem Kinn und versucht sich vorzustellen, wie ich mit gewaschenem Gesicht aussehe. »Sobald wir den Anzug hinter uns haben, sehen wir uns einige Binder an und vielleicht einen englischen Wollpullover, hmmmm? Handgefertigt? Rollkragen? Sicher doch.« »Sicher doch nicht. Ich hab’ ein Hemd.« Ich zupfe am gelben Skipyjama-Oberteil. Das schließt ihm den Mund, ohne daß Geld den Besitzer wechselt. Der andere hochgewachsene Mann kommt mit dem Anzug zurück, und wir marschieren in den Anproberaum, der noch deutlicher zu einem Bestattungsunternehmen zu gehören scheint, nur daß er größer ist. Die beiden stehen mitten im Saal und ringen oder reiben die Hände, während ich in eine Zelle mit Vorhang trete und den Anzug anziehe. Die Hose hat noch keine Aufschläge, und das Sakko ist zu eng. Ich komme heraus, und sie springen auf mir herum wie Hansel und Gretel auf dem Pfefferkuchenhaus. Als sie die Hose messen, kommen sie dahinter, daß ich darunter noch meine alte trage. Vierzig Dollar wirken auch hier, bevor sie etwas sagen können. Als sie mit dem Stecken und Ankreiden fertig sind, wollen sie wissen, wann ich den Anzug haben möchte. »Sofort!« schreie ich, und bevor einer auch nur soviel sagen kann wie: »Aber wir – «, gebe ich ihnen wieder Geld. »Wie viele Leute sitzen hinten für die Änderungen?« »Acht, Sir.« »Na, hier.« Ich gebe ihm acht Zwanziger. »Geben Sie ihnen das, und lassen Sie sie alle an dem einen Anzug arbeiten. Sie haben neun Minuten Zeit.« 65
»Jawohl, Sir«, und fort geht die Papiernelke, schnaufend. Der andere sagt: »Sie sagten, Sie sind beim Film?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Ahh«, sagt er. »Erdöl!« »Nein. Damenunterwäsche. Unterröcke mit aufgedruckten Schirmen und Telefonen. Sie kennen sie.« »Ich – ähh – glaube eigentlich nicht.« »Was?« schreie ich. »Sie haben noch nichts von Freudschen Fernsprechern gehört?« »Hm, ich – «, und danach hält er den Mund. Er sieht mich unentwegt an. Sie bekommen den Anzug nicht in neun Minuten fertig, aber sie schaffen es in elf. Als der Mann mit dem Anzug über dem Arm auftaucht, sage ich: »He, mir ist etwas entfallen. Der linke Ärmel muß neun Millimeter kürzer sein als der rechte.« Sein Unterkiefer klappt herunter, aber die echte Nelke sagt: »Tun Sie’s, Hopkinson.« Und der andere geht mit dem Anzug hinaus, ich sofort hinterher. Wir erreichen etwa gleichzeitig eine Tür. Dahinter ein richtig alter Saal mit grellen Leuchtstoffröhren und langen Anzugreihen, zwei alte Frauen und sechs alte Männer. »Aber, Sir, Sie können doch nicht – « »Halten Sie den Mund, und geben Sie mir das«, sage ich und nehme ihm den Anzug weg. »Ich wollte nicht den Ärmel ändern lassen, ich wollte nur diese Leute sehen. Hören Sie«, sage ich zu dem ganzen Saal, »hat er Ihnen eben Geld gegeben, der da mit der Papierblume?« Die alten Leute stehen alle auf und blinzeln, bis einer sagt: »Geld?«, und dann zucken sie alle die Achseln und wackeln mit den Köpfen. Die Papiernelke tritt vor, ganz Nicken und Lächeln, und sagt: »Tja, ich wollte es ihnen gerade geben, sobald 66
der Anzug Ihren Wünschen entsprach«, und er zieht die acht Zwanziger aus der Tasche. Ich reiße sie ihm aus der Hand und stecke sie in die Hosentasche. »Das wollten Sie freilich, Sie Wurm.« Ich krame in meiner Socke und hole das Paket Hunderter heraus, gehe im Saal herum und verteile an jeden von den alten Leuten einen. Die echte Nelke steckt in diesem Augenblick den Kopf herein, und ich sage zu ihm: »Sorgen Sie lieber dafür, daß mir der Kerl aus den Augen geht, bevor hier etwas passiert, was nicht mal mit meinem Geld gutzumachen ist.« Die Papiernelke verschwindet. Ich gehe zurück in die Zelle, und diesmal ziehe ich die alte Hose aus. Ich verteile das Geld auf alle Taschen des Anzugs – er hat vierzehn – und ziehe mich an. Ich gebe der Nelke dreihundert Dollar und meine alte Hose. »Behalten Sie sie. Sie müßte genau passen.« Ich muß ihn bewundern; ich kann erkennen, daß er innerlich bibbert, aber er bewegt sich trotzdem wie ein Bischof bei einer Krönung, als wir zur Tür gehen, und unterwegs faltet er meine alte Hose zusammen, was nicht mehr vorgekommen ist, seitdem ich sie vor zwei Jahren im Kaufhaus Kresge gekauft habe, bis sie flach wie ein Sofaschoner über seinem Unterarm hängt. Er öffnet mir die Tür, und bei Gott, er verbeugt sich. »Recht vielen Dank, und beehren Sie uns bald wieder, Mr. Freud.« Es ist bald Abend, Essenszeit. Um die Ecke und die Straße hinauf gibt es ein Restaurant, von dem ich gehört habe, daß es früher eine Stallung gewesen sein soll. Ich will eben durch die Tür, als vor mir eine weiche Wand aus kastanienbraunem Wollstoff und Messingknöpfen und einer gigantischen goldenen Fangschnur auftaucht. Ich trete zurück und schaue hinauf, und es ist keine Wand, sondern der Bug eines Portiers vom Typ 67
Kommodore; und ich schwöre, daß er zweieinhalb Meter groß ist, bevor die Mütze anfängt. »Tut mir leid, Sir, so können Sie nicht hinein.« Der Anzug, scheint es, bringt mir ein ›Sir‹ ein, aber keine Höflichkeit in der Stimme. »Wie – so?« Er hebt seine Hand wie einen Boxersandsack und klopft sich auf den Adamsapfel. Ich hebe meine Hand und berühre nur mein gelbes Skipyjama-Oberteil. »Ach, die Krawatte«, sage ich. »Ach«, sagt er, »die Krawatte.« Jemanden so nachzuäffen, das führt zu Mord; das ist schlimmer als das, was Rogero zum Hippogryph gesagt hat. »Nun, Sie haben zufällig nicht bemerkt, daß ich keine Krawatte habe.« Er bläst seinen Brustkorb auf. Er ragt über mir empor wie eine hydraulische Schmiedepresse. »Ich habe zufällig bemerkt, daß Sie keine Krawatte haben«, sagt er und äfft immer noch meine Stimme nach, und wissen Sie was? Er kann das recht gut. »Wirklich?« frage ich und gebe ihm zwanzig Dollar. »Na ja, so mit einem Auge«, sagt er mit einer neuen Stimme, die nicht meine und auch nicht die ›Sir‹-Stimme von vorher war, sondern eine, die ihm am leichtesten zu fallen scheint. Ich gebe ihm noch zwanzig Dollar, und er läßt mich hinein. Ein Mann empfängt mich an der Innentür – was für ein Mann, Frackhemd, Frack und der großartige Schädel, den man in manchen Colleges in der Eingangshalle sieht, das Ölgemälde des vorigen Rektors. Mit einer Augenbewegung – und wohlgemerkt, die Beleuchtung dort ist nicht gerade hell – tut er mit mir, was Mr. Saffron mit einem Scheck macht; er liest mich, 68
dreht mich herum, daß es schnippt, bekritzelt mich, damit der innere Mensch tut, was richtig ist. Es muß ein Problem sein, mit dem neuen Anzug und den abgewetzten Schuhen und dem schmutzigen Gesicht und der Tatsache, daß der Portier mich hereingelassen hat; aber wenn ihn das stört, läßt er sich nichts anmerken. »Guten Abend, Sir«, sagt er. Seine Stimme klingt so tief wie eine von den Musiktruhen aus den dreißiger Jahren, wo man um so mehr Bässe liebte, je mehr Geld man hatte. »Bitte, hierher.« Aber ich stoße ihn am Ellenbogen. »Es stört Sie, daß ich keine Krawatte habe.« »Ich – nein, Sir.« »Doch tut es das.« Ich ziehe einen Hundertdollarschein heraus, falte ihn der Länge nach zusammen, nehme einen Fünfziger, falte ihn flach und schmal und wickle ihn einmal um die Mitte des Hunderters. Dann nehme ich die beiden Enden und spreize sie, so daß ich eine Schleife habe, in der Mitte verknotet. Er steht da und wartet, als geschehe so etwas jeden Tag. »Borgen Sie mir die Stecknadel von Ihrer Blume.« Er gibt sie mir und begleitet sie auf dem letzten Zentimeter mit einer feinen, höflichen Verbeugung aus den Hüften heraus. Ich stecke mir die Schleife vorne an das gelbe Skipyjama-Oberteil. »Ein Binder. Zufrieden?« »Durchaus, Sir.« »Ich dachte mir, daß er Ihnen gefällt.« Ich nehme das Ding ab und gebe es ihm. »Ich möchte einen Tisch für acht Personen an der Tanzfläche.« »Gern, Sir. Ich habe genau den richtigen.« Er geht los, ich folge ihm, und tatsächlich, da ist ein großer, runder Tisch. Er entfernt ein Schild aus Elfenbein ›Reserviert‹ und bringt mich am Tisch unter. 69
»Und wann erwarten Sie den Rest Ihrer Gesellschaft?« »Ich bin der Rest der Gesellschaft.« »Sehr wohl, Sir. Und Sie trinken – « »Kognak. Doppelt. Die Sorte, von der niemand außer Ihnen weiß, daß sie die beste im Lokal ist.« »Ich habe genau den richtigen Jahrgang. Wasser? Soda?« »Joghurt«, sage ich. »Etwa halb und halb.« »Sofort, Sir.« Ich trinke das also und esse ein Sandwich mit Leber und Haferflocken und Crepes Suzettes mit flambierter Sauce – gemacht von vier Männern mit drei funkelnden Wagen – aus den kleinen, wilden französischen Erdbeeren, und wissen Sie was? Es kostet vierundachtzig Dollar, in dem Lokal zu essen. Ich sitze und verfolge die Vorführung und beobachte die Zuschauer. Und ich plane, was ich mit mehr Geld mache, als ich ausgeben kann. Ich gehe hier weg, wenn es zu spät ist, noch etwas zu mieten, und ich lasse mein Geld ein Motorboot mieten. Ich hinterlasse den doppelten Kaufpreis beim Besitzer und versenke es und lasse mich nie mehr bei ihm blicken, damit er sich den Kopf zerbricht. Ich kaufe zwei Inseln mit zwei Villen, und auf der einen spiele ich den Prüden, während ich durch einen Makler alles bis auf mein Haus an Nudisten vermiete; und die andere Insel bevölkere ich mit Prüden, während ich nackt herumlaufe. Ich bilde einen Mann aus, der so viele hungrige Leute in seinen Bann ziehen kann wie Huey Long aus Louisiana und so viele ängstliche wie Joe McCarthy, beides gleichzeitig, und wenn er an die Macht kommt, täuscht er sie alle und wird so sanft und so arm und so stark sein wie Jesus von Nazareth. Und ich versorge alle männlichen Teenager mit einem handgebundenen Maler und jeden weiblichen mit einem völlig neuen orgiastischen Ausdruck für Eisbecher, Kabrios, Popsänger 70
und Schuhbänder. Bradamante schenke ich einen durchsichtigen Lippenstift, damit sie sich wie eine Frau fühlen kann, auch wenn sie es nicht zeigen will, und Atlantes – armer, kleiner, reicher Mann – die volle Erkenntnis des unzerstörbaren Schicksals. Schau dort hinüber: Schau! Dort, ganz allein, eine Kerze auf dem Tisch, sitzt die schönste Frau, die je gelebt hat. Ihr Haar ist weicher Zobel, lang, glatt, fein und dicht; ihre Augen und Backenknochen bilden die delikate, kräftige, aufeinanderwirkende eurasische Bogenfolge. Ihre Nasenlöcher sind blütenblattartig, bewegen sich so unmerklich wie der Übergang von einer Auroratönung zur nächsten, aber doch feinnervig durch ihr flaches Atmen, wie sie still sitzt, so still … und sicherlich ist sie die traurigste Frau, die je gelebt hat, oder ein Mund wie der ihre könnte nicht so schlummern, noch könnte der Kopf so gedreht, so gehalten sein, noch könnten die Schultern so gleichgültig und die Hände so vergessen sein. Trauert sie aus Einsamkeit, in dem Wissen, daß nie im Leben sie ihresgleichen begegnen kann? Oder ist sie von einem kleinen Jemand verletzt worden und kann es nicht begreifen? Ich hebe eine Hand, und die altmodische Truhe mit dem Rektorkopf schwebt heran. »Wer ist sie?« »Ich stelle das sofort für Sie fest, Sir.« »Nein, nicht!« Es fährt aus mir heraus. »Bitte nicht.« Warum eigentlich nicht? »Das dürfen Sie nicht tun.« »Sehr wohl, Sir«, und so, als spüre er meine Qual, »ich mache es bestimmt nicht.« »Weshalb ist sie so traurig?« Und ich weiß nicht, daß ich gesprochen habe, bis er antwortet: »Ich glaube, sie ist enttäuscht worden, Sir. Sie sitzt dort schon lange allein.« Er beugt sich et71
was tiefer, als wollte er, was er zu sagen hatte, betonen: »Ich glaube, Sir, daß sie sehr jung ist.« Und auf irgendeine Weise verstehe ich genau, was er meint; er meint, daß sie verängstigt ist, aber die Angst in der polierten Sicherheit dieses vom Geld berührten Ortes, zu dem er gehört, will er nicht erwähnen. Angst ... es gibt Ängste und Ängste, je nach Ursprung und Wertgefühl eines Menschen. Seimel, der Tiger mit dem Speer jagt, sieht dem Tod ohne Angst ins Gesicht, und ich kenne einen Mann, der beim Geräusch eines Schlüssels in einem Yaleschloß erstarrt; wer will sagen, welcher Schrecken groß oder klein ist, oder daß es eine Kleinigkeit sei, ein Mädchen zu sein, das einen Tisch nicht zu verlassen wagt, weil es kein Geld hat? »Gut, lassen Sie sie gehen. Ich übernehme ihre Rechnung.« »Ja, Sir.« Seine schimmernde Politur gibt einen Lichtblitz von Anerkennung von sich. »Soll ich ihr Ihre Karte bringen?« »O Gott, nein!« Wieder schreckt mich der Gedanke, sie zu kennen. »Sagen Sie nur, ein Hippogryph sei vorbeigeflogen.« Ungerührt sagt er: »Sehr wohl, Sir«, und er rollt, wie ein gutes Möbelstück es soll, lautlos und ungebeugt davon. Ich warte, und ich warte; und da kommt herein ein Chinchillamantel, der irgendwo unter einer Lampe über einen Stuhl geworfen wird, und drüben lacht ein Gesicht zu laut; die Posaune, Teil eines Akkords, gibt mir noch immer zwei Töne, die für die unaussprechliche Einsamkeit eines Mädchens und für meine Gefühle dafür genau richtig sind, und der Mann mit dem glitzernden Wagen bewegt einen silbernen Löffel geschickt durch die reine, durchsichtige Hitze, die bläulich aus dem brodelnden Blut der flambierten Sauce springt … und wie durch Zufall beugt sich der feine Rektorkopf über den Tisch des Mädchens, und er spricht mit ihr. 72
Ihr Gesicht, als sie aufsieht, blendet mich einen Augenblick. Oder vielleicht sind es meine Tränen. Sie strahlt kein Glück aus – irgendeine große Trauer sitzt zu tief in den zarten Gebeinen dieses Mädchens –, aber da ist eine Veränderung, die zuläßt, daß Hände erinnert werden und ein Mund wieder leben kann. Es könnte Angst und ihre Entfernung gewesen sein, eine Exzision, die Wunder wirkt bei Hunden und Menschen, vielleicht auch, bilde ich mir ein, bei Nationen. Und so darf sie ihren Kopf vom Leid abwenden, und als sie es tut, stockt der Atem in meiner Kehle; im Nachtdunkel ihres Haars liegt eine einzelne Strähne aus Silber, ein Hauch von eben der Leblosigkeit, eben der Ferne eines Wintermondes. Keine andere Farbe könnte mit solcher Genauigkeit von innerer Trauer handeln, und kein anderes Wesen ist so genau gekennzeichnet wie dieses Mädchen. Ich habe einen Film von einer blühenden Lilie gesehen, im Zeitraffer aufgenommen, und wie die Blüte aufging und barst, so erhebt sich dieses Mädchen und wirft ihr Haar zurück. Ich habe einen Faden aus einem Spinnennetz vorbeischweben sehen, und so geht sie vorbei. Ich habe einen Vogel in meiner hohlen Hand sterben sehen, die offenen, kristallenen Augen unverwandelt; und so sitze ich jetzt unverwandelt, nur ist etwas in mir gestorben. Ich werde Rogero anrufen und aus diesem Grabmal entsetzt fliehen; ich werde nicht auf seinen Ruf in seine Welt warten. Besser, durch einen schimmernden Himmel stürzen, zornige Schwingen über mir und plötzliche Stille unter mir, als hier in den Netzen meines mehrfachen Wahnsinns zu sitzen. Wahnsinn ist in einer Hinsicht nichts als Weisheit, zu tief hinabgetrieben, als daß die Schließmuskeln des Verstandes sie erfassen könnten; und das ist das Rätsel der Sphinx. Pinselloser Giles, 73
der Exmaler, ist, wenn man es genau nimmt, eine viel weisere Person als der schwertlose Rogero, Exritter. Setz mich ohne Führerschein auf einen Hippogryph, und ich werde nicht dasitzen und brüllen: »Zurück, Sir!«; ich werde die Knöpfe drücken und die Hebel ziehen und beobachten, was geschieht, bis ich in irgendeine Einfahrt zurückstoßen kann. Und wenn Worte die Zügel sind, das Gaspedal und der Schaltknüppel, dann versuche ich es mit Worten, bis ich endlich ein ›Hü‹ und ein ›Hott‹ für ihn habe und vor allem ein großes, kräftiges ›Brr!‹. Rogero ist ein Narr und viel gesünder als ich und damit lebendiger; seine Ungewißheiten sind etwas weniger auf Tatsachen begründet als die meinen. Ffffft! und ist dies das heiße, sanfte Sichentzünden von Kognak, dort drüben, oder die Sonne, die unter meinen Füßen vorbeischießt? Ist dieses höfliche Klatschen gleichgültiger Applaus für die Kapelle, oder ist es der Wind in den Schwingen des fliegenden Tiers über mir? Fang mich, fang mich, guter Ritter, und ich will gerne mit Euch sterben, frei von diesen beiden unerträglichen Welten. Aber ich stürze nicht; ich hänge hier im Zwielicht, getragen von einem rauschenden Wind, ein Mittelpunkt für die rasende Erde und die dahinfegende Sonne, die um mich rotieren. Und wenn Ihr hängt, weshalb sind die Gipfel der Erde immer größer, sooft Ihr daran vorbeikommt? Ahi, könnte ich nur an Narrheit sterben, wie eine Bradamante, die die Mächte des Bösen herausfordert, und nicht so als Buße für die unsinnigen Dämpfe meines Mundes hinausgeschleudert sein, nicht gedemütigt und kreischend wie ein gepeitschter Sklave. Kellner, bringen Sie mir ein Orchester, das ›Rampart Street‹ spielt, ich bin aus der Gnade gefallen, und die ist ein Hippogryph. Glänzender, kannst du nicht meinen Zorn und meine Zunge vergessen? Ist nichts in dir, was sich des schnellen Laufs über 74
Atlantes’ Berg erinnert, was noch weiß, wie du vor mir zu tanzen anfingst? Das ist Rogero, guter Hippogryph, und nicht der wütend’ Wurm, der dich beleidigt… Ich fleh’ dich nicht mehr an, ich bete nur, daß deinem Gewissen du entkommst, wie mir es nicht gelang, als Schwert und Schicksal ich bei Bradamante ließ. Und er kommt, er kommt, die Schwingen fast gefaltet, zurückgeschlagen, schneller im Flug hinab, als ich selbst fallen kann. Und schneller ist er; er ragt schon auf, er schnellt sich so zur Seite, daß ich wieder wirble, so daß die Sonne wieder über mir und doch die Berge unten wie Lehm sich auf der Töpferscheibe drehn. Die Flügel jetzt des Hippogryphs sind weit und schlagen stark, und wieder wächst er groß in meinem Blick; und jetzt kann ich ihn hören; ja, er schreit, er schreit – o Götter! Was für ein Schreckensschrei! Dann hört das Schreien auf, und seine Löwenstimme dröhnt vor Lachen – ah, er verspottet mich, er verspottet mich, der Sohn von … einem mächt’gen Greif und einer Vollblutstute, herrlichstes der Wesen. Da, Hippogryph, verspotte mich; es ist dein Recht; laß sterben mich, es ist dein Recht. Und wieder kommt der Donner seines Lachens; er wendet die Schwingen, hinauf die eine, tief die andre, dreht sich gleich einer Sommerschwalbe; und wie ich stürze und begegne ihm, liegt auf dem Rücken er, dem Schwimmer gleich, und gnäd’ger Engel eines Hippogryphs, er nimmt mich auf! Ich hänge wie ein Molch an seinen Klauen, die Augen quellend von dem Druck und Schwellen seines Aufstiegs, und steigen muß er, denn er hat in einem Tale mich erfangen, nicht höher doch als an dem Wipfel einer hohen Tanne. Er hätte nicht das Zehntel eines Herzschlags warten 75
können, um doch zu retten mich. So schön ist er und sicher, und sein Humor ist grausam. Jetzt hebt er mich zu seinem Schnabel, ich blick’ in seine Augen, und von dem offnen Schlund dröhnt Lachen, wie ich, ein Hündchen, hingesetzt will sein. Und wirklich würd’ ich mit dem Schwanz ihm wedeln, würd’ winseln, wenn ihn das erreicht. Er senkt den Kopf und dreht ihn und hat den Schnabel rund um meine Hüften. Er hebt mich, dreht den Kopf nach vorn, läßt sinken mich – und schon sitz’ ich auf ihm, nicht weit von seinem Sattel. Er schiebt mich hin, und so hüpf ich auf meinen Platz. Erst als ganz fest ich sitze, gibt er mich frei. Ich beiße mir die Lippe und senke tief den Blick, denn wieder lacht er über mich. Die Berge sind jetzt hinter mir, das Meer ein Dunst, der Himmel meeresfarben, und wo sie treffen sich, ist keine Linie mehr. Es ist, als sei nur Himmel rings um uns in einem erdenlosen All, und wieder rund, und überall das Meer, hinauf, hinab, mein Hippogryph und ich allein in einem Universum nur aus Wasser. Und da begreif ich, wie in einem Licht – die Worte, fremd und klein, wie ›Hü‹ und ›Hott‹ und ›Brr!‹, ich murmle sie, und schon gehorcht das Tier. Jetzt kann ich reiten, fliegen ihn! Mein ist er, er ist mein! Aber mein ist auch die Schande und die Lehre seines Lachens, wie ein Gewissen kichernd. Vor mir die See, dahinter Abenteuer auch und Freiheit. Dahinter sind die Berge, ist mein Schwert, ist meine Pflicht, die Schuld und eine Frau, die ohne Waffe. Mein Roß steht still. Dann: »Los, du!« schrei’ ich, und er wendet, trägt mich zurück zu dürftigem Geschick. 76
Tief unter mir seh’ Weißes ich auf einem Fels, und ›Brr!‹ ruf ich mit aller Macht, und Lachen setzt den Wellen beinah’ Kronen auf. Hinab und tief hinab, umtost vom Wind. Ich schäme mich, ich fühle Zorn und dann gemeinsam beides lange Zeit. Ich brauche nur den Sporn zu setzen, und schon geht es zum Magierberg, zu Bradamante, zu dem Schwert. Die Muskeln zucken, ich will demütig sein und hinnehmen, daß das Tier mich höhnt, doch einmal noch schau’ ich hinunter und bin verloren; denn angekettet an dem Fels ist eine nackte Frau von solch unirdisch schönem Aussehn, daß man sie nur mit meinem Schild vergleichen kann … mit diesem Unterschied: Wer immer auf den Schild blickt, ist geblendet, doch wer die Frau erblickt, der sieht so klar, daß er nicht leben kann. Hinab nun stürzt mein Roß und schwebt, sucht schnell nach Halt mir auf dem Felsen und findet ihn und steht. Bevor er ganz zum Stillstand kommt, bin ich schon fort und hör’ verklingen nun sein Lachen. Ich stürze zu den Eisenringen, ich kaure neben ihr, bedecke meine Augen vor dem Glanz der Schönheit, und als ich kann, starr’ ich durch die Finger und trink’ in kleinen Schlucken den Anblick angstvoll in mich ein. Ihre Knöchel sind grausam gefesselt, mit einem Ring, mit einer Doppelkette. Ähnlich die Hände, und so liegt sie da, ausgestreckt am nackten Stein, naß vom Gischt, den Wind im Haar. Ich berühre die Ketten, die Fesseln. Verankert, wie sie sind, scheint es, muß man den Felsen heben, bevor sich Eisen löst. Ich drehe hoffnungslos mich um, begegne ihrem Blick, ich falle auf die Knie und beug’ den Kopf. »Wer seid Ihr?« flüstert sie in den heulenden Wind. »Rogero, ein Ritter, der Euch retten will. Wer hat Euch das getan, Prinzessin? … Prinzessin seid Ihr doch?« 77
»Ja«, haucht sie. »Angelica von Kathay, schiffbrüchig hier an jenem Tag, als das Orakel in Ebuda die Schönste aus Ebuda als Opfer für einen zorn’gen Gott verlangte. Da nun sie aber mich besaßen – « »Ebuda ist der Ort dort drüben?« »Ja.« Oh, sie ist müde, ihre Stimme hört man kaum. »Aber geht nicht zum Ort, guter Ritter. Es sind Barbaren, sie werden eher Euch zerreißen, als durch ein eigen Mädchen mich ersetzen. Am besten geht Ihr hin, woher Ihr kommt, und seid gesegnet.« »Und Ihr sollt durch Kälte und Seeadler sterben? Lieber sterbe ich mit Euch!« »Nein, es wird schneller gehn«, murmelt sie. »Kennt Ihr das Monster Orc?« Ihr Blick ist ruhig jetzt, auf das Meer gerichtet. Ich sehe, daß ein Streifen Silber sich durch ihr Haar hinzieht. »Orc? O ja, eine Legende, eine Mär, mit der man Kinder schreckt. Groß wie eine Insel, mit Schuppen aus Eisen und dem Stoßzahn eines Ebers. Und Ihr seid hier gefesselt für den Orc? Die Adler werden Euch getötet haben, bevor dies Fabeltier erscheint.« »Aber schaut, da kommt er«, sagt sie ruhig, und mit mir geschieht etwas, was mich für immer zeichnet. Ihre Tränen fließen, und ich sehe eine Kraft, so herrlich wie ihre Schönheit, und ich wende mich ab und sehe das Ungeheuer Orc. Mit einem Schrei bin ich herum, ergreife eine Hand Angelicas und schieb’ den goldnen Ring ihr an den Finger. »Das wird Euch schützen, Prinzessin!« rufe ich, und mit mir schreit mein Herz: ›Nur vor dem Schild‹, und dann lauf ’ wankend ich zu meinem Hippogryph. Er ist bereit, er will hinweg, ich habe einen Fuß im Bügel erst, als er schon fliegt. Das Monster kommt, wir fliegen ihm entge78
gen; und als wir schon genug geflogen sind, bleibt eine Meile immer noch. Das Monster ragt über uns auf wie ein Gewitter, empor und immer weiter steigt es aus dem Wasser, und es wird mehr und mehr, nicht Form, nicht Maß und blind. Blind! Schwertlos, ohne Pike oder Hellebarde, Streitaxt oder Keule, kann ich nur Blindheit um mich senden. Das Monster ist gewappnet. »Blind, es ist blind!« schreie ich, und mein Roß schreit mit, verzweifelt, aber auch voll Mut, und steigt empor, Gewißheit zu erlangen. Und weiter fliegt es, bis wie eine Wespe an des Stieres Schulter wir erscheinen, bis schwarzer Fels tief unten nichts als die Stufe zu dem Ungeheuer ist. Und der Hippogryph schlägt nun zusammen seine Schwingen, hinab die Fahrt, hinab, vorbei am üblen, nassen Eisen. Das Denken ist vorbei in mir, ich will nur eines, jetzt im Sattel bleiben. Dann breiten sich die Flügel, und der Druck zerquetscht mir schier das Herz. Hinab wir fliegen, weiter, doch endlich ist’s vorbei. Wir tauchen in den eklen Strom von Wasser, zwischen Orc und schwarzem Fels. Hinüber und zurück, hinüber und zurück, ein zweites Mal an diesem Tag seh’ ich dem Tod mich gegenüber … Ich sehe wieder sein Gesicht, ich denk’ zum letztenmal. Und hätt’ ich Jahre Leben dafür, daß ich in diesen hellen Augen lesen kann, ich würd’ sie geben, und zwar gerne, doch bleiben nur Minuten mir. Ich blicke hilflos auf, er neigt den glänzend’ Schädel tiefer, berührt mich sanft am Kopf. Ich höre einen leisen Laut, dann geht es wieder fort. Ich sehe, daß die Schwingen nun schon naß sind, daß er nicht lange sich mehr halten kann. Was wollte er mir sagen, mein wunderbarer Hip79
pogryph? Wer weiß es? Giles? Ah, wie ich hasse, was ich war und was ich bin … Wir schreien miteinander Trotz, der Hippogryph, er findet noch die Kraft, hinaufzujagen, steil, herab, und Wasser spritzt von seinen Schwingen. Er fliegt vorbei am Riesenmaul, stürzt sich zum Kiefer, als er auftaucht. Was zuerst als Knochensporn erscheint, ist plötzlich schleimiger Opal, voll Glanz und lebend – Orcs Auge, starr wie bei einem Wal. Der Hippogryph, er mußt’ es wissen, wissen mußte er’s! Sein Flug nach unten gibt uns Schwung – beinah’ zuviel. Als sei lebendig jetzt der Schild, erzittert er in meiner Hand, wendet zur Sonne sich, holt grellen Glanz und schleudert fort ihn, in das Auge. Dann sind wir schon vorbei und kippen ab; erneut spritzt mir der Hippogryph die Wassermassen ab und will empor, und wieder fliegen wir nun an dem Maul vorbei, das Auge auf der andren Seite. Erst jetzt muß wohl die mächt’ge Masse Fleisch den Schmerz vom Auge spüren. Ein riesig’ Wasserstrom faucht in die Luft, versetzt mit Blut. Ich sehe ihn, ich sehe auch, daß das die Schwingen nicht ertragen, ich schrei ›Hü‹, aus Schrecken wie aus Selbsthaß, aus Liebe zu dem Hippogryph und für den Zauber von Angelica, aus Zorn, Bedauern und aus Reue. Er reagiert sofort, doch ohne Kraft, er taumelt uferwärts, wie ich im Sattel stehe, dem Monster nun entgegenfalle und mit den Beinen stoße in den Leib. Schon als ich stürze, sehe ich den Hippogryph ins Wasser fallen. Ein nasser Flügelbogen hebt sich wie ein Segel und sinkt so langsam; der Hals, so rührend dünn mit nassem Federkleid, er reckt sich zu dem Fels, doch niemals weit genug; so stirbt er nun für mich, und mit ihm stirbt sein Lachen; wißt Ihr nun, Ihr Narr von einem Ritter, was er Euch sagte, als mit dem Schnabel er Euch hat berührt? Nur, daß er, bei allem Spott 80
und Hohn, bereit gewesen ist, mit Euch zu sterben … und sterbend, Rogero, konnte dein Roß nicht wissen, daß Ihr es hörtet oder nur verstehen konntet! Mein Schild nun klatscht zuerst ins Wasser, mein Leib darunter, der Schild rutscht wie ein flacher Stein, und meine Stirn trifft ihn wie einen Gong. Erneut versucht er wegzugleiten, doch nun fällt flach hinein mein Körper, und er ist still. Ich hocke endlich in der Ecke jenes gräßlichen Grinsens, und all mein Haß fließt aus den wirbelnden Armen in den Schild. Kante, Kante, flach und Kante, so hau’ ich auf das Ungeheuer ein. Nur langsam gibt es nach, ich muß mich hüten, schon spüre ich, wie es mich sengt, dann liege ich im flachen Wasser vor dem Fels, die Beine um den schlanken Hals des Hippogryphs. Der Anker an den Fesseln der Prinzessin streift die Rippen; ich halte ihn ganz fest und schling’ die Beine um den Hals des Hippogryphs, damit er nicht ins Meer hinausgetragen werde. Wasser fließt und strömt vom Fels, und lange Zeit seh’ ich den Himmel voller dunkler Flecken. Ich lasse doch nicht los. Als nun das Zerren aufhört, hebe ich den Kopf. Das Wasser ist normal. Die Hälfte fast des Hippogryphs ist schon an Land. Draußen auf dem Meer, da steht ein neuer Berg; ich glaube, daß er jetzt tot ist. Er sinkt, ganz langsam, oder gleitet eine alte Rinne hinab, die er am Meeresboden hat gefurcht. »Rogero – « Ich befreie mich vom Hippogryph und krieche zu ihr. »Prinzessin!« »Ihr seid der tapferste der Ritter.« »Nein, Angelica«, murmle ich. »Ich bin weder tapfer noch ein Ritter. Ich muß Euch befreien.« »Das ist einfach.« »Ja, hätt’ ich seine Kraft«, sage ich und nicke dem Toten zu. 81
»Trauert nicht um ihn, Rogero«, sagt die Prinzessin. »Ihr seid bei ihm geblieben, als er starb, und dafür wird Euch Lohn.« »Wir müssen warten, bis ein zweiter Hippogryph die Ketten löst?« »Nein. Der Ring, Rogero, nehmt den Ring ab.« Ich wanke schnell zu ihr hinauf und nehme ihr den Ring. »Es ist ein größres Amulett vielleicht, als Ihr gewußt«, sagt sie. »Ich suchte ihn, als ich hier strandete. Ich hätte nie gedacht, daß ich ihn wiedersehe. Ihr seid Teil eines Wunders, daß Ihr ihn mir gebracht habt.« »Wiedersehen? Er gehört Euch?« »Er ist vor langer Zeit aus meinem Schatz gestohlen worden, und er war in vielen Händen. Zuletzt, wie ich erfuhr, in denen eines Mädchens, das einen Tölpel hat befreien wollen, der einem Zauberer unterlegen und zu dumm war, sich zu befreien. Wie seid Ihr an ihn gekommen?« »Er wurde – als wertlos weggeworfen.« Meine Ohren glühen. »Prinzessin, ich muß Euch befreien.« Sie streckt sich ruhig in ihren Ketten. »Sobald wir wollen, diese Fesseln bedeuten nichts. Rogero, ich bin in Eurer Schuld.« »Nein, Prinzessin, denn ich habe Euch gesehen, und das ist genug.« »Schön gesagt, und ich glaube Euch.« Sie scheint belustigt zu sein. »Dann tut, was ich erbitte, und Ihr seht eine neue Kraft in dem Ring. Legt ihn in meinen Mund.« Ich halte ihn an ihre geöffneten Lippen. »Ihr seid ein guter und ein etwas begriffsstutziger Mann«, flüstert sie. »Lebt wohl, Rogero.« Sie nimmt den Ring. Die Fesseln liegen leer, und ich kau’re an dem schwarzen Fels, 82
wo sie gelegen, mit einer ausgestreckten Hand, ganz wirr von ihrer Nähe… Nähe? Sie ist fort! Ah, sie hätte mir von diesem Zauber sagen können, bevor sie ihn bewies. Ist alle Welt, sind alle Wunder gegen mich verschworen? Will nun das ganze All zum Narren mich hier machen? ›Ihr seid ein guter und ein etwas begriffsstutziger Mann.‹ Ahi! Das muß auf meinem Grabstein stehen! Ich steige langsam auf den Fels und sehe den schroffen Pfad zum Festland, zu den Barbaren und durch sie hindurch; durch Berge, Hunger, Armut und Leiden; helfen und Hilfe finden, unterwegs, bis endlich ich gewonnen, was man mir gab, und was, verdient nicht, weggeworfen; zu Fuß, gekrochen, hin – zu meinem Schicksal. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Sir?« Das ist wahrhaftig eine Frage, alter Rektorkopf. Die Musik ist Brandung und Gefieder bei jedem ersten Takt, strikt nur Gesellschaft bei jedem zweiten: Scherzophrenie. Eine heiße, durchsichtige, blaue Flamme erlischt fauchend, und plötzlich ist das von ungeheurer Wichtigkeit, obwohl ich mir nicht denken kann, weshalb. Langsam sehe ich zu ihm auf. »Ich?« »Sie schienen ein, zwei Sekunden lang nicht da zu sein, Sir.« »Ein, zwei Sekunden«, sage ich, »mehr braucht es nicht.« Jetzt erinnere ich mich: Die blaue Flamme am Flambiergerät ist es, die ich gesehen habe, als ich untertauchte oder hinauf – oder eben dort hingelangte, wo Rogero seine Welt bewahrt. Gewiß weiß ich doch, wo das ist! Ich hebe wieder den Kopf. Rektoren lesen Bücher. 83
»Hören Sie, was wissen Sie über Atlantes?« »Atlantis, Sir?« Den Mann kann man mit nichts aus der Ruhe bringen. »Soviel ich weiß, versank es im Meer.« »Nein, Atlantes – ein Zauberer.« »Ah. Ich glaube, es gibt irgendwo im Ariost einen Nekromanten dieses Namens.« Ich tippe mit dem akkuraten Zeigefinger auf seinen zweiten Knopf und drücke triumphierend. »›Der rasende Roland‹! Das ist es also! Hören Sie, erinnern Sie sich zufällig daran, was aus Bradamante geworden ist?« Er legt die Hände hinter den Rücken und blickt an die Wand. Guter Kopf, das; großartig. »Wenn ich mich recht entsinne, Sir, heiratete sie einen Ritter – « »Exritter«, sage ich, und es tut weh. »Und gute Nacht.« Ich gebe ihm eine ganze Menge Geld und gehe hinaus. »Gute Nacht, Sir«, sagt der Portier. »Ah«, sage ich, »Sie. Hören Sie, ein Mädchen, etwa so groß und so breit, mit silberner Strähne im Haar, sie ist hier weggegangen. Wie lange ist das her?« Er sagt, er erinnert sich nicht, also gebe ich ihm Geld. »Etwa vier Minuten«, sagt er. »Da entlang.« »Nur vier?« Ich habe etwas in mir wie Schmerz. »Diese Richtung, sind Sie sicher?« »Sie müßten Sie noch einholen«, meint er. Er schließt die Augen und lächelt. »Hübsch.« »Der Grand Canyon«, sage ich, »ist auch niedlich.« Ich laufe in die Richtung. Sie führt zum Fluß. Es war also die ganze Zeit ›Der rasende Roland‹, denke ich, und irgend etwas hat mich daran gehindert, es zu erkennen. Atlantes und Bradamante, Angelica, Prinzessin aus Kathay, der 84
Hippogryph und der Orc, alle da. Und was fällt mir ein, das alles nachzuspielen? Atlantes hinderte Rogero, ein Ritter zu sein; irgendein Zauber hindert mich, ein Maler zu sein. Nur nennt man das heutzutage eine Neurose. Weshalb bin ich so eilig unterwegs? Ich muß die Prinzessin vor dem Orc retten. Ein scheußliches Untier. Am besten gehe ich in mein Atelier zurück und kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten. Ja, das hat Rogero sich auch dauernd gesagt. Und er landete trotzdem bei der Prinzessin, sosehr sein Hippogryph auch lachte. Na, dann lach doch, Hippogryph. Du bist ohnehin nicht lange für diese Welt. Da ist sie! Jetzt gehen. Atem holen. Warte ab, was mit ihr geschieht. Noch ist sie nicht nackt an einen Felsen gekettet. Oder vielleicht doch … wenn man bedenkt, wie Analogien so sind … Jetzt hör aber auf, Giles! Du bist wieder im Lot. Das Ganze war eine Geschichte, die du gelesen hast, nein, verschlungen, als du ein Kind warst. Es gab andere, aber hast du wirklich beim ›Lahmen kleinen Prinzen‹ mitgelebt, hast du den Kampf zwischen Feuerdrachen und Schildfisch mit pochendem Herzen verfolgt oder den Eiszapfen im Herzen gespürt, der in ›Hinter dem Nordwind‹ vorkommt? Vielleicht will dir dein Unbewußtes mit Ariosto etwas sagen? Aber was? Daß du gläubig werden sollst? Oder – und das ist der Gedanke, der wie ein Schmerz wirkt – daß du, genau betrachtet, ebensowenig ein Maler bist, wie Rogero ein Ritter war … trotz gewisser Anfangserfolge? Geh heim, geh heim, und male so, wie Miss Brandt es von dir wünscht. Geh jetzt heim, und dein Hippogryph wird dich dafür lieben; ja, und leben, was immer das bedeuten mag. Aber warte; Miss Brandt will, daß du ein Maler bist, und Bra85
damante wollte nicht, daß Rogero ein Ritter war. Meine Geschichte deckt sich nicht mit der seinen; sie schwingt nur sozusagen mit. Um so mehr Grund, hier zu verschwinden, Giles; geh nach Hause. Du hast alles Geld auf der Welt; alle Freiheit, alle Zeit, um überall hinzugehen und alles zu tun. Mal, was du willst. Du weißt, was mit Rogero, seinem Gryphon und seinem Zauberring geschehen ist – ja, und auch mit seinem Schild, als er seiner tölpelhaften Ritterlichkeit die Vorhand über das spöttische Gewissen ließ. Gewissen? Seit wann kann ein Gewissen so schön sein wie ein Hippogryph? Also geh nach Hause. Aber schau, da, schau, sie ist an der Uferstraße stehengeblieben und steht unter einer Lampe, die graue Seide ganz Silber, während der Rand ihres Haars ein wenig über ihre schlanken Schultern sinkt, als sie das Gesicht zum Himmel hebt. Was ist in diesem Gesicht? Ich kann nicht sehen, kann nicht sehen ... ein Appell, eher Ergebung; eine Trauer wie die ihre kennt keine Hoffnung mehr und wendet sich deshalb auch an niemand. Prinzessin, was ist dein Fels, dein Orc? Was kommt, und du bist hilflos; was zeigt sich ohne Form, füllt den Himmel aus; was ist unangreifbar, eisern und schmutzig, unaussprechlich? Was erfüllt deine Welt und deine kurze Zukunft und beweist gleichzeitig, daß es nur seinen schleimigen Schädel zeigt und daß unermeßlich mehr darunter liegt? Du schreist nicht, Prinzessin? Du bist nur ruhig; aber ich habe deine Tränen gesehen. Sie überquert die Straße zu den Bäumen und geht auf einem Weg zum Wasser; dann lach, Hippogryph. Ich gehe ihr nach. Aber sie ist untergetaucht in den Schatten; schnell, schnell – Und da, an einem stillen Ort, stoße ich auf sie, und wie Rogero auf dem schwarzen Felsen schlürfe ich den Anblick langsam, 86
denn ihn zu verschlingen wäre mehr, als ich ertragen könnte. Da ist ein Loch im Gehölz, eine leere Stelle am Wasser, um die Nacht hereinzulassen. Ein Stück Mond zieht einen Zug über das Wasser zu ihr, als sie auf eine Bank sinkt. Ihr Kopf dreht und neigt sich ein wenig, wie zu einem Schritt – hört sie mich? Weiß sie, daß mehr als Traurigkeit in der Welt ist? –, und sie ist ganz Silhouette, bis auf den einen Lichtstrahl, der einen Backenknochen umfaßt, und den silbernen Streifen im Haar; mit dieser kleinen Scherbe aus kaltem Weiß hat der Weg auf dem Wasser an jedem Ende ein Stück Mond! Und noch ein wenig mehr, nur ganz wenig, dreht sich ihr Kopf, so daß ihr vollkommenes Profil im flüssigen Mond liegt, und jetzt, wenn sie nur die Augen dreht, kann sie mich sehen. Sie tut es. »Ich wußte, daß Sie da sein würden.« Ihre Stimme … eine Glocke, ein Vogel, ein Laut wie kein Laut … nein. Eine Stimme, einfach eine Stimme. Denk darüber nach, Giles, aber nicht jetzt. »Darf ich … ich meine …« »Gewiß«, sagt sie und weist auf die Bank. »Warum nicht?« Ich sitze schüchtern auf dem anderen Ende der Bank und beobachte sie, wie sie auf das Wasser hinausstarrt. Ihre Augen sind verhüllt, ihr Gesicht ist ein Gefäß der Trauer, überfließend. Und plötzlich kenne ich ihren Orc. Armut kann der Orc sein. Armut kann das sichtbare, nahende Ungeheuer sein, das schleimig und stinkend aus der Grube fährt, um den Himmel auszufüllen und doch nur seinen kleinsten Teil zu zeigen. Armut kann zu einem in Ketten kommen, Stellung und Tugenden mißachten und einen nach Belieben ergreifen. Dann könnte ich doch Rogero sein, denn es steckt Geld in meiner Tasche, sauberes, gehorsames, allmächtiges Geld. Soll 87
ich ihr Ungeheuer herausfordern? Sie könnte zornig werden. Angelica? Zornig? Nein, sie bat den Ritter, sie zu verlassen und sich zu retten. Ich sehe sie an, und die Traurigkeit in ihr ist größer als das Geld in meiner Tasche. Ich sehe plötzlich, daß meine Geste sie gar nicht erzürnen würde. Sie würde mich einfach bemitleiden. Mein Bemühen würde in ihrem großen Bedürfnis untergehen. Dann werde ich teilen, was ich habe. Die Hälfte dessen, was ich habe, ist praktisch immer noch alles Geld, das es gibt. Sie blickt auf den Mond, so fern und so tot; sie trägt das Zeichen der Ferne und des Todes. Rogero hat keinen Teil von sich der Prinzessin geboten; er bot alles. Alles? Ich berühre den Aufschlag des teuersten Anzugs, den ich je getragen habe; gutes, neues Geld flüstert unter meiner Hand von Meilen und Jahren von Farbe und Staunen, Geschmack und Stoff und Spiel; alle die Dinge, die Freuden, die ich niemals hatte, weil es soviel Zeit erforderte, nur Giles zu sein. »Wenn Sie mich nicht so anstarren würden.« »Verzeihen Sie«, flüstere ich. »Verzeihung.« »Woran denken Sie?« Nur daran, daß du morgen der Sonne, wenn sie für dich aufgeht, soviel Freude zurückgeben könntest wie eine Tulpe. Nur daran, daß du, wenn ich dir alles gebe, was ich je besessen, so neu, daß meine eigenen Hände es nicht berührt haben, nie mehr Angst zu haben brauchtest. »Nur, daß ich gerne – Ihre Füllfeder borgen möchte.« »Meine – nun, meinetwegen.« Sie hat sie in der Handtasche, findet sie und gibt sie mir. Ich nehme mein elegantes, erstes und letztes blaues Buch, beuge mich im Mondlicht vor und schreibe ›Giles‹, schreibe 88
ich, ›Giles‹, und ›Giles‹, und ›Giles‹, bis ich jede untere Linie auf jedem perforierten Blatt beschrieben habe. Ich halte ihr das Buch mit der Feder hin. Hier – wollte ich sagen, aber ich kann nicht sprechen –, hier ist aller Zauber, den ich besitze, weil ich meinen Schild verloren habe. Hier sind meine Hufe und meine Krallen. Hier sind meine Schwingen. »Was ist das?« »Für Sie«, krächze ich. »Ich will es nicht. Gar nichts davon.« »Gott«, sagt sie. Sie erhebt sich wie die Lilie – aber jetzt, im Mondlicht, mehr wie eine Fackeldistel – und sieht mich an. »Sie sind jetzt sicher.« »Nie sicherer.« »Ich dachte, daß Sie mehr Spaß machen würden, viel mehr Spaß.« Und sie wirft das Buch in den Fluß. Ich sitze in einem Traum an der Leiche eines Traums. Es wird kalt. Einsamkeit wohnt in meinen Poren, wie Traurigkeit in ihrem Gesicht. Sie ist fort, der Mond ist fort, und noch etwas anderes ist verschwunden. Ich kenne seinen Namen nicht, aber früher hat es mich einmal warmgehalten. Als sie ging – ihr Gehen eine Vollendung der abwesenden Geste –, das Buch fortzuwerfen, sagte ich nichts und bewegte mich nicht; ich bin nicht sicher, ob ich sie wirklich gehen sah. Rogero, denke ich, ich brauche dich. Ich hätte gern ein Wort mit dir gesprochen. Denn wenn man nackt und allein war, irgendwo in sich fand man einen Weg zu reisen, durch wilde Länder, durch Armut und Krankheit und Mühsal, gewiß, daß sie dich für dein Schicksal vorbereiten würden. Siehst du, liebes Doppel, der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts hat keine Bestimmung: Jedenfalls hat er keine Zauberer, die sie ihm vorlesen können, 89
also weiß er es nie genau. Aber nimm ihm seine Amulette, seine Zaubersprüche und Zauberformeln mit den eingeätzten Gesichtern toter Präsidenten – und er wird über keine Berge zu einem unerschütterlichen Glauben blicken. Er wird auf nichts starren als auf sein eigenes Entsetzen. Rogero, das Universum hat sich wirklich verbündet, um Narren aus uns zu machen. Ich verlasse die Bank und den Fluß, nicht, um ein Pilger zu sein, sondern einfach, um mein Elend in eine vertraute Umgebung zu tragen und sie in Müdigkeit zu wickeln. Und morgen werde ich mit dem Trost – wenn es denn einer ist – erwachen, daß ich Giles bin und weiter Giles sein werde, ohne die Belästigung von Signor Ariostos Parabeln. Es sollte lieber ein Trost sein; ich drehe vielleicht nicht einmal meine starrende weiße Leinwand zur Wand, weil ich eben daran denke; ich wäre nicht fähig, mich zu überwinden, daß ich sie berühre. Und so gehe ich und gehe ich. Und dann die lange Treppe hinauf und den langen Flur hinunter, reiße die Tür auf, die entschleiert das schmutzige – Aber es ist kein schmutziges Bett, und ich erlebe einen schlimmen Augenblick kindlicher Panik; ich bin in die falsche Wohnung geplatzt; und dann sehe ich die Staffelei, die saubere, frische Staffelei, und ich weiß, daß ich zu Hause bin. »Hoffentlich stört es Sie nicht. Die Tür war offen, und ich dachte … um mich zu beschäftigen, während ich wartete, ich – « Sie zeigt ein Lächeln, gibt sich mehr Mühe und zeigt ein zweites, aber Lächeln über Händen, die sich schnell fassen und wieder lösen, überzeugen nicht. »Ich gehe«, sagt Miss Brandt, »aber ich wollte Ihnen sagen, ich finde, daß Sie wunderbar gehandelt haben.« Ich betrachte die sauberen, aufgeräumten Teller und das frischgemachte Bett und meine Farben und Pinsel, vernünf90
tigerweise unberührt. Aber was mich beeindruckt, ist die unglaubliche Erklärung, daß ich wunderbar gehandelt habe. Ich setze mich auf das Bett und sehe sie an. »Wie sind Sie nur dahintergekommen?« fragt sie. »Sie sollten es niemals erfahren.« »Ich weiß jetzt viel«, sage ich. »Was meinen Sie genau?« »Das Geld. Daß Sie es zurückgegeben haben.« »Ich habe es hergegeben«, räume ich ein. Und weil es die Wahrheit ist. »Ich finde das nicht so wunderbar.« »Das war es, wenn – « Und dann, so als habe sie die Frage heftig unterdrückt und könne sie nicht länger zurückhalten, wirft sie einen Blick auf die Staffelei und fragt: »Heißt das, daß Sie wieder malen werden?« Mein Blick folgt ihr, und ich schaudere. Sie wird blaß wie das Morgenlicht am Fenster. »Oh«, sagt sie ganz leise. »Ich – ich glaube, ich habe das Falsche getan.« Sie reißt eine glänzende, schwarze Handtasche an sich und läuft zur Tür. Aber dort steht als erster ein Giles, der sie so hart zurückstößt, daß sie – plumps! – auf dem Bett sitzt. Ich bin müde und verletzt und enttäuscht, und ich will nicht mehr staunen. »Sie erzählen mir alles, was Sie getan haben, falsch oder nicht, von Anfang an.« »Ach, wie es anfing. Nun, ich bin ihre Sekretärin, wissen Sie, und wir hatten Ihretwegen Streit. Sie ist eine gemeine, kleine dumme Person, Giles, trotz ihrem Geld und ihrem Aussehen – sie ist wunderschön, nicht wahr? Falls es Sie interessiert – es interessiert alle –, die silberne Strähne ist echt. Jedenfalls habe ich – « »Sie sind ihre Sekretärin?« »Ja. Tja, ich regte mich so furchtbar auf über«, sie deutet wieder auf die Leinwand, und die wunderbaren Wimpern weisen 91
von mir fort, »Sie, wissen Sie, daß ich ihr wohl auf die Nerven gegangen bin. Sie sagte gemeine Dinge über Sie, und ich ging in die Luft. Ich sagte, wenn ich ihr Geld hätte, würde ich dafür sorgen, daß Sie wieder zu malen anfangen.« »Ganz einfach so.« »Es tut mir leid. Es war – so wichtig. Ich konnte es nicht ertragen, Sie so – « »Weiter.« »Sie sagte, wenn ich ihr Geld hätte und es so gebrauchen wollte, würde ich mich lächerlich machen. Nun, vielleicht hatte sie recht, aber – so ging es nicht weiter, bis sie wütend wurde und sagte, wenn ich meiner Sache so sicher sei, dann nur zu. Ich solle Geld nehmen, soviel ich wolle, und selbst sehen, wie weit ich damit kommen würde.« Die ganze Zeit, während sie spricht, fleht sie, dahinter. Darauf höre ich nicht. »Also kam ich gestern her, und ich sollte ihr telefonisch sagen, wie Sie unterschreiben, und sie wollte die Bank anrufen und das regeln.« »Nett von ihr.« »Nein. Sie tat es, weil sie glaubte, es würde amüsant sein. Sie hat so viel Geld, daß sie das nichts gekostet hätte. Nichts, was ihr aufgefallen wäre. Und dann kamen Sie dahinter, wie, weiß ich nicht, und gaben ihr das Scheckbuch. Als sie gestern abend zurückkam, war sie wild. Es war nicht halb soviel Spaß, wie sie geglaubt hatte. Alles, was Sie taten, war, ein paar Stunden in einem Restaurant komisch zu sein. Bitte, sehen Sie mich nicht so an. Ich habe nur getan, was ich konnte. Ich – mußte einfach. Bitte – ich mußte es tun.« Ich sehe sie immer an und denke nach. Schließlich: »Miss Brandt, Sie haben gestern etwas gesagt – mein Gott, war das erst gestern? –, daß ich jetzt nicht malen könnte, weil ich nicht 92
weiß, weshalb ich vorher gemalt habe. Wissen Sie, wovon Sie geredet haben?« »Ich«, und die Wimpern sinken, die Hände beschäftigen sich miteinander, »— ich weiß es nur ganz allgemein. Ich meine, wenn man etwas kann und weiß, wie man es macht, und – und vor allem, warum, und es hört plötzlich auf, dann, glaube ich, ist es einfach zu erkennen, was einen aufhält.« Ich lehne mich an die Tür und sehe sie so an, daß sie sich windet – es tut mir leid, aber so sehe ich drein, wenn ich nachdenke – und ich denke: Fragt jemand einen Maler – und fragt auch nur der Maler sich selbst –, weshalb er malt? Ich, zum Beispiel, ich malte … habe gemalt … was immer ich sah, was schön war. Es mußte durch und durch schön für mich sein, bevor ich es malte. Und ich bin ein ziemlich schlichtes Gemüt und fand viele gänzlich schöne Dinge, die ich malen konnte. Aber je älter man wird, desto weniger ganz und gar schöne Dinge sieht man. Jede Blume hat irgendwo einen braunen Fleck und ein Hippogryph ein böses Lachen. An irgendeinem Punkt in seiner Entwicklung muß ein Künstler deshalb malen, nicht, was er sieht – was ich immer getan hatte –, sondern die Schönheit in dem, was er sieht. Die meisten Maler, glaube ich, überschreiten diese Grenze früh; ich überschreite sie spät. Und der simple – kindliche? – Künstler malt für sich selbst… Aber wenn er erwachsen wird, sieht er mit den Augen des Betrachters und spürt mit den Fingerspitzen und hilft ihm, zu sehen, was der Künstler durch seine Begabung sehen kann. Diejenigen, die bis jetzt vor meinen Arbeiten geweint hatten, pflegte ich zu sagen, hatten einen Sinn daraus gestohlen, gegen meinen Willen. Wenn ich erwachsen bin, werden sie vielleicht nehmen, was ich ihnen willig gebe. Und weil Miss Brandt fühlt, daß sich 93
das zu geben lohnt, hat sie versucht, mehr davon für die Menschen zu erreichen. Ich hatte also aufgehört zu malen, weil ich zu scharfsichtig geworden war, weil ich nichts mehr zu malen gefunden hatte, was vollkommen genug gewesen wäre. Aber jetzt kommt mir der Gedanke, daß das Mädchen mit dem Silber im Haar für die Schönheit gemalt werden kann, die sie hat, ohne Rücksicht auf ihre andere Häßlichkeit. Atlantes besaß einen Zauber, und darin schritt man an der Brüstung einer Bastion – die in Wahrheit nur ein Kuhstall war. Miss Brandt kann mich, in ihrem Innersten, als einen Mann malen, der alles Geld auf der Welt abgelehnt hat, und für sie ist das wahrer Edelmut. Der einzige Schlüssel zur Vielschichtigkeit des Lebens ist zu begreifen, daß diese Welt zweieinhalb Milliarden Welten enthält, jede in den Augen einer Person, alle verschieden, und alle für Schönheit empfänglich und danach hungernd. Ich fand nichts mehr zu malen … und jetzt, jetzt wird es nie genug Zeit geben, die Schönheit zu malen! Rogero hat auf dem schwarzen Felsen etwas Ritterliches getan, weil er kein guter Ritter war. Ich tat etwas Männliches mit dem Geld, weil ich ein Narr war. Alle Erfolge sind in der Welt irgendeines Menschen Zufälle … also: »Sagen Sie ihr, daß es gewirkt hat, Miss Brandt. Ich werde malen, Miss Brandt; ich werde Sie malen, Miss Brandt, weil Sie schön sind.« Und ich male, und sie ist es, weil ich male, weil sie es ist.
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Das Mädchen, das wußte, was sie meinten Ich kam aus dem Motelbüro mit dem Gefühl – nun, was man eben so fühlt, wenn man eben einen Anruf von jemandem bekommen hat, der sagt: »Sie haben noch eine Woche, Sam«, und der noch einmal anrufen wird: »Sie haben noch einen Tag, Sam«, und dann bist du tot. Das einzige, was mein Denken auch nur für eine Sekunde davon hätte ablenken können, war wohl ein Mädchen. Das hier schaffte es, für eine Sekunde oder auch für drei. Es lag wohl zuerst am Hund. Ein Afghane. Ich habe Afghanen immer gemocht. An der Ostküste habe ich einen Freund, der das weiß und der mir einmal ein ganzes Buch über Afghanen geschickt hat – Geschichte, Pflege und Futter, Besonderheiten, Aufnahmen von früheren Champions. Das hier war eine honigfarbene Hündin, ganz schmale, lange Knochen und Seide, und das war auch schon alles, was ich wahrnahm, des Mädchens wegen. Sie führte den Hund an einer geflochtenen Leine. Sie trug ausgebeulte Jeans und ein zu großes, weißes Herrenhemd, das am Bund heraushing; so könnte sich Miss Universum jn einem Männergefängnis anziehen und nicht auffallen. Aber die Sonne war auf ihrem Gesicht und ihrem Haar, und ihr Haar war genau von der Farbe wie das Fell des Afghanen, und noch seidiger. Außerdem standen ihre Augen weit auseinander und paßten zu ihrem Haar und dem Hund und dem Sonnenlicht, und sie trug keinen Büstenhalter, was unter solchen Bedingungen nicht leicht festzustellen ist, aber ich kann das. Ich habe Drüsen, die mich auf so etwas aufmerksam machen. Das Ganze ließ mich wie angewurzelt stehenbleiben, und ich begegnete ihrem Blick, und ich sagte (das müssen Sie mir jetzt glauben – von allem in der großen, weiten Welt, was ich hät95
te sagen können, mußte ich mit dem herausrücken), ich sagte: »Ein herrlicher Tag.« Und sie sagte: »Oh, vielen Dank.« Und lächelte. Dann waren meine zwei oder drei Sekunden vorbei, und die Wirklichkeit rasselte rings um mich wieder herab, mit noch einer Woche und noch einem Anruf und peng! du bist tot, und ich ging zurück zu meinem Zimmer, um zu schwitzen. Man kann aber nicht ständig in einer bestimmten Gefühlslage bleiben, jedenfalls nicht am Gipfelpunkt – wie in der Angst nach einem solchen Anruf –, außer man wird verrückt, und nach ein paar Stunden war die Angst wieder zu dumpfem Pochen verblaßt, ähnlich wie bei einem verrenkten Knöchel. Der Schmerz füllt die Welt nicht mehr aus; er begleitet einen bei jedem Schritt, aber man kann wenigstens auch noch an andere Dinge denken. Und woran ich dachte, das war dieses Mädchen, und es lag nicht nur an ihrem Aussehen. Ich ließ das Gespräch mehrmals vor mir ablaufen. ›Ein herrlicher Tag.‹ – ›Oh, vielen Dank.‹ Ist das nun ›eine aufschlußreiche Antworte wie es bei Gerichtsszenen im Fernsehen heißt? Nicht, wenn man die Worte betrachtet. Wenn man die Worte betrachtet, ergeben sie überhaupt keinen Sinn. Aber man betrachtet die Worte nicht. Man betrachtet die Frage, weshalb ich Verbindung aufnehmen wollte und was mich dazu brachte, von allen Dummheiten ausgerechnet die auszusprechen, und wie sie darauf antwortete, statt auf die Worte. Sie wußte ganz genau, was ich meinte. In meinem Hirn tat sich plötzlich etwas, und ich kramte hinten im Schrank herum, wo ich die Zeitschriften und alte Sonntagszeitungen hineingeworfen hatte, und da war es, das Buch. Ich zog es heraus und schlug den Staub weg und ging zum Büro vom Motel. Es war ein richtig billiges Motel, einundzwanzig 96
Zimmer und nur ein Telefon, und das ging beides in Ordnung. Man kann sich gut verstecken, wenn man so eine Unterkunft hat. Ich fand Mrs. Walker, die aus ihrer Wohnung kam und ein besorgtes Gesicht machte. Sie war die Geschäftsführerin, und es hatte nichts zu bedeuten, wie sie aussah, sie hatte einfach eines von diesen sorgenvollen Gesichtern. »Wo ist die Kleine mit dem Hund?« sagte ich. »Also, Sam«, sagte sie. Ist das aufschlußreich? »Na los«, sagte ich. Sie sagte: »Nummer fünf, aber sie ist ein nettes Mädchen, Sam.« Wenn man sich die Worte ganz genau ansieht, die man so hört, kann es ziemlich seltsam werden, finde ich. Ich meine, sie drücken gar nicht aus, was sie ausdrücken, oder? Ich ging durch den Hof zu Nummer 5 und klopfte. Nach kurzer Zeit ging die Tür einen Spalt auf. Das weiße Hemd war nur mit drei Knöpfen zugeknöpft, und sie beschäftigte sich gleich mit dem vierten, als ihre Hand den Türknopf losließ. »Hier ist ein Buch, das Sie von mir ausleihen wollen.« »Buch?« Sie sah es an, als ich es hochhielt, und lächelte. Ich versuche gar nicht zu schildern, wie das erste Lächeln war. Beim zweiten versuche ich es auch nicht. Sie kannte das Buch. »Oh, ich wollte schon immer ein Exemplar, aber es ist zu teuer.« »Sie können sich ruhig Zeit lassen. Als ich Ihren Hund sah, wußte ich gleich, daß Sie es sich ansehen wollen, und da hab’ ich es herausgesucht.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Dieses Lächeln. »Schon gut.« Ich trat einen Schritt zurück und streckte den Daumen der freien Hand hoch. »Auf bald.« Ich wollte davongehen und hörte, wie die Tür hinter mir leise geschlossen wurde. Man setzt nicht gleich nach. Später setzt man nach. 97
Dann drehte ich mich um und klopfte noch einmal. Sie öffnete, und ich sagte: »Sie haben vergessen, das Buch zu nehmen.« Sie lachte nicht. »Sie haben vergessen, es mir zu geben.« Dann machte sie die Tür ganz auf und zeigte mit der Hand ›Herein‹. Ich ging hinein und legte das Buch auf die Kommode. Es war ein Zimmer wie alle anderen Zimmer hier – klein, ein Doppelbett, Plastikvorhänge, staubig, Wände mit Smogspuren, koffergroßer Kühlschrank, oben zwei elektrische Kochplatten angeschraubt, und das Geschirr konnte man im Badezimmerwaschbecken spülen. Vier Dollar die Nacht oder neunzig im Monat, mit Bettwäsche und Strom, wen kümmert’s? Sie hatte ein Stück grünes Glas, wie man es aus der Gußform bricht, so groß wie meine zwei Fäuste, auf dem Nachttisch stehen und Bücher, keine, die ich jemals lese, und natürlich den Hund. Ich kraulte den Hund in der Vertiefung unter und hinter dem Ohr, und es gefiel ihm. Ich setzte mich auf den einen plumpen, schmutzigen Stuhl, sie setzte sich auf das Bett, einen Fußknöchel unter sich. Wir sprachen über ihre Arbeit beim Tierarzt zwei Straßen weiter und davon, daß sie nirgends etwas fand, wo sie mit dem Hund billig leben konnte. Tiere. Kalifornien, vor allem Südkalifornien, Los Angeles ist ganz anders als alle Großstädte mit einem gewissen Etwas, wie dem San-Francisco-Etwas, einem ChicagoEtwas; New York, New Orleans, sie haben alle etwas Bestimmtes, was man mit geschlossenen Augen nach fünfzehn Sekunden kennt, aber es gibt kein Los-Angeles-Etwas. Wenn man die Stadt gut kennenlernt, stellt man fest, daß es ein Pasadena-Etwas gibt, das nicht dasselbe ist wie Beverly Hills, und Encino schmeckt sozusagen anders als Pacoima oder Glendale, aber es 98
gibt keinen richtigen großstadtweiten Geschmack in Los Angeles. Und ich habe eine Theorie, daß die Leute keine Wurzeln haben, solange sie auch in LA leben. Sie kommen meist anderswo her, und da hatten sie auch keine Wurzeln, sie schnitten sie ab, bevor sie herkamen, oder hatten überhaupt keine, und so scheint es, als treibe das Ganze dahin. Und sie sagte: »Was ist los?« Ich sagte: »Nichts.« Ich hatte auch viel gelacht. Sie kochte Kaffee, und ich hörte von dem Burschen, den sie heiraten wollte, aber er wurde eingezogen und bekam im Grundausbildungslager Hirnhautentzündung und starb, und wie ihre Familie es ihr so schwergemacht hatte, weil sie zusammengelebt hatten, bevor er fortgekommen war, und seitdem gaben seine Angehörigen ihr gewissermaßen die Schuld. »Nicht, daß sie es je ausgesprochen hätten, aber was sie auch gesagt haben, das meinten sie.« Dann aßen wir zu Abend, sie kochte, sie hatte nichts als Eier, also aßen wir die, und auf einmal war es zehn Uhr, und wir unterhielten uns über Schnappschildkröten, daß es ihnen nicht weh tut, wenn man auf ihnen steht, sie ziehen die Köpfe ein, und man kann ein Loch in den Schild bohren und eine Kette anbringen, und sie spüren nichts, wenn man eine als Haustier halten will, und ganz plötzlich streckte sie die Arme aus, und das war’s. Sie hatte den schönsten Körper, der mir je begegnet war. Sie trug aus drei Gründen keine Büstenhalter. Zum einen kam sie sich damit gefesselt vor, und sie wollte auf keine Weise gefesselt sein. Die anderen beiden Gründe, der eine rechts, der andere links, groß und fest und vollkommen, standen von selbst, ohne irgendeine Stütze. Sie trug überhaupt nicht gerne etwas am Leib, das war es. Ich habe das schon gesehen, aber immer 99
bei Puppen, die eine Vorliebe für durchsichtige und tief ausgeschnittene Sachen haben, Astlochguckerei für alle. Bei ihr war es etwas Privates, Persönliches. Einmal sagte sie: »Wenn man nackt ist, kann man eine andere nackte Person belügen, aber es fällt nicht leicht.« Sie war phantastisch im Bett und kannte oder gebrauchte keine Tricks. Sie war einfach. Nun, drei Tage lang war sie entweder in der Arbeit, oder wir waren jede wache oder schlafende Minute zusammen. Einmal weckte sie mich nachts, und im ganzen Zimmer schien es zu hallen. Sie sagte, ich fluchte im Schlaf, ich schrie. Sie hatte Angst. Sie fragte mich, was los sei, und ich sagte, nichts. Ich versuchte wieder einzuschlafen, und sie hielt mich fest, und ich glaube, ich habe geweint. Ich erzählte ihr dann von Millikein, er hatte sich ausgerechnet, daß ich verantwortlich war für das, was seinem Bruder zugestoßen war, er war zu dem festen Entschluß gekommen, daß ich auch sterben müßte. Millikein hatte mehr Geld als der liebe Gott, aber ich glaube nicht, daß das ins Gewicht gefallen wäre; er war ein Mensch, der seine Entscheidung traf, und dabei blieb er. Er entschied, daß ich am Geburtstag seines kleinen Bruders sterben müßte, und das sagte er mir schon ein Jahr vorher. Ich flüchtete und versteckte mich immer wieder, aber er fand mich stets und rief mich an oder schrieb mir einen Brief, sobald ich Pause machte, oder ich begegnete ihm auf der Straße. Er kaufte sogar eine Bierbar, ›Bash West‹ genannt. Er sprach immer ganz freundlich mit mir, und ich konnte ihn besuchen, sooft ich wollte; das einzige dabei war, daß ich in vier Tagen umgebracht werden würde. Wenn es Erpressung oder irgend etwas mit Geld gewesen wäre, das ich hätte abzahlen können, na fein, aber so war es nicht. Und ich erklärte ihr, daß es keinen Zweck hatte, zur Polizei zu gehen, denn wer würde sich eine solche Ge100
schichte anhören? Ich erwähnte aber nicht, daß es noch schlimmer werden konnte, wenn die Polizei die Nase in meine Angelegenheit mit Millikeins Bruder hineinsteckte. Nun, am nächsten Nachmittag lag ich auf meinem Bett, das ich herumgedreht hatte, damit ich über den Hof zu Nummer 5 hinübersehen konnte, damit ich wußte, wann sie von der Arbeit heimkam, und ich sah die Puppe, und trotz der Sache zwischen mir und dem Mädchen mit dem Afghanen fuhr ich beim ersten Blick auf das, was in den Motelhof trat, sofort hoch. Ich meine, der Rock bis da oben, und eine durchsichtige Bluse mit nur zwei kleinen Taschen hier und dort, und die Frisur genauso, Mann, und lange Beine und ein Vorbau, wie ich ihn in meinem ganzen Leben nur einmal gesehen hatte, nämlich in Nummer 5. Na, klar war es in Nummer 5. Erst als die Puppe ihren Schlüssel herausnahm, begriff ich, daß es dasselbe Mädchen war. Nur weil sie nicht gern angezogen war, hieß das noch lange nicht, daß sie nichts hatte oder nicht gewußt hätte, wie man sich anzog. Ich war so schnell drüben, daß ich noch nicht weiß, ob ich zur Tür hinaus- oder hindurchgerannt bin. Sie war im Badezimmer, in einer Netzstrumpfhose, und wusch sich Schminke vom Gesicht. Schminke. Sie. Ich sagte: »Wo bist du gewesen?« und sie sagte, bei Millikein. Sie sagte, sie habe ihn besuchen müssen, sie habe wissen müssen, ob das alles wahr sei. Ich sagte, sie halte mich wohl für einen Lügner, und sie warf mir einen Blick zu, so – müde, glaube ich, ist das richtige Wort, einen so langen, müden Blick, daß sich in mir etwas verkrampfte. Sie sagte, das sei es nicht, sie sagte, sie habe mit ihm reden müssen, um zu sehen, ob er es ernst meinte. Sie sagte, wenn die 101
Leute mit ihr sprächen, wisse sie, was sie meinten. Inzwischen war ich so weit, daß ich das glaubte, ich hatte es oft genug bei ihr erlebt. Ich fragte sie also, was er gesagt habe. Sie trocknete sich das Gesicht und schüttelte das Haar aus und ging ins Zimmer. Sie zog die Strumpfhose aus und warf sie in die Ecke. So etwas hatte ich sie noch nie tun sehen. Sie fiel auf das Bett und erzählte, er habe sehr freundlich von mir gesprochen. Er sagte, er wolle mir nur einen Schrecken einjagen. Er sagte, er habe für nichts Beweise. Er sagte, er halte mich wirklich für einen netten, jungen Burschen, nur manchmal unverantwortlich und nicht schlecht. Er sagte zu ihr, sie solle mir nichts sagen, denn wegen der Sache, die passiert sei, müßte ich einen tüchtigen Schrecken eingejagt bekommen, verderben Sie es nicht, denn auf lange Sicht tue mir das ganz gut. Ich ging in die Luft, weil sie sich eingemischt hatte, und ich nannte sie ein paar Dinge, die wohl weh taten, der ganze, lange Körper zuckte, als ich sie hinausbrüllte. Und ich sagte, sie werde dafür zahlen müssen, daß sie sich eingemischt hatte, weil Millikein sie jetzt auch beseitigen müsse, was werde er sich ausrechnen, wenn er mich umbringen wollte und es ein Mädchen gab, das genau Bescheid wußte? Und ich sagte, selbst wenn er es sich anders überlegen wollte, habe sie ihn veranlaßt, seine Meinung noch einmal zu ändern, mit diesem Geschwätz. Als ich außer Atem geriet, drehte sie sich herum, setzte sich auf und strich die Haare aus dem Gesicht. Ich glaube, ich werde sie immer so im Gedächtnis behalten, egal, was sonst geschieht. So gottverdammt schön, nicht nur eine nackte Frau, das ist herrlich, sondern sie hatte so eine Art, nackt zu sein, als sei sie angezogen, wenn Sie mich verstehen, als trage sie gute Kleider, sie trug sie, als seien sie für sie gemacht und so gut geschnitten, daß sie nicht mehr daran zu denken brauchte, weil 102
sie wußte, daß sie vollkommen war. Ach, zum Teufel mit den Wörtern, darum geht es bei der ganzen Sache überhaupt, um verdammte Wörter. Ich beruhigte mich wieder und setzte mich zu ihr und sagte ihr, das sei keine Art, eine so gute Nachricht aufzunehmen, ich hätte zum erstenmal seit einem ganzen Jahr oder noch länger wieder Hoffnung, und ich wüßte, daß sie das für mich getan hätte. Und wir gingen zu Bett. Am nächsten Tag kam sie gar nicht von der Arbeit heim. Ich wartete über eine Stunde und war plötzlich von der schlimmsten wilden Panik erfüllt, die ich in meinem ganzen Leben kennengelernt hatte. Ich rannte die Straße hinauf zum ›Bash West‹, und schon eine Straße vorher sah ich die blinkenden roten Lampen und die Menschen. Drei Polizeiautos, zwei schwere Motorräder und ein Krankenwagen. Bis ich hinkam, schob man sie in den Krankenwagen, ich sah für Sekundenbruchteile, wer es war, dann wurden die Türen zugemacht, und er fuhr heulend davon. Es hieß, jemand habe ein Mädchen überfallen, und sie habe ihn in Notwehr umgebracht. Dann kam noch ein Sanitätsfahrzeug, und was man da hineinhob, war zugedeckt. Wer kann sich an alles erinnern, was dann geschah, wie es geschah? Laufen und Brüllen, alles um Geld, weshalb braucht man in einem solchen Augenblick Geld? Mrs. Walker, die Geschäftsführerin, anbrüllen, sie soll mir zwanzig Dollar geben, damit ich mit dem Taxi ins Krankenhaus fahren kann, irgendwie, nicht, daß es eine Rolle spielt, wissend, als sie nachgab, daß es für mich war, nicht für das Mädchen in 5, sie war meinetwegen kein nettes Mädchen mehr, aber ich, ich war noch in Ordnung, was für einen Sinn ergibt das? Und dann das Taxi, das nicht kam, und als es kam, stillstand oder rückwärtsrollte, die ganze Strecke zum Krankenhaus, oh, ewig, und dann nach dem 103
ganzen Geschrei und Gerenne warten und warten und warten, Zeitschriften, die ich nicht sehen konnte, Kaffee aus dem Automaten im Flur, den ich nicht schmeckte. Dann der Arzt, sie mußten ihn aus einem Fernsehspiel geholt haben, graue Schläfen, müde Augen, Stethoskop um den Hals: Sie möchte Sie unbedingt sehen, nur ein paar Minuten, weiß nicht, wie es gehen wird, es hängt eigentlich alles von ihr ab, sie kann durchkommen, wenn sie es will. Und an der Ecke der WS, Wachstation, falls Sie das nicht wissen, alle möglichen Maschinen, drei Schwestern, die zwischen den Betten hin und her rannten, ein verbranntes Kind, eine alte Dame mit beiden Beinen an Streckapparaten in der Luft, Atmung wie eine Motorsäge, und in der Ecke, da war sie. Die Schwestern stellten einen Wandschirm um das Bett und sagten ›Rufen Sie mich‹, und ›Nur ein paar Minuten‹, und dergleichen. Ich dachte, sie wäre bewußtlos, aber nein, sie wartete nur, mit geschlossenen Augen. Auge. Das andere lag unter dem Verband, der ihren ganzen Kopf und das halbe Gesicht bedeckte. Zugedeckt war sie mit einem Laken. Sie sagte zu mir: »Alles in Ordnung?« Das sagte sie. Ich sagte: »Mir geht es gut.« »Er ist tot.« Sie schloß das Auge. »Das habe ich gehört.« »Nun, dann kann dir nichts mehr passieren.« »Weshalb hast du das getan?« »Er wollte dich umbringen.« »Du hast aber etwas anderes gesagt.« »Er auch.« Sie konnte noch ein wenig lächeln. Es war nicht dasselbe, mit dem einen Auge. »Aber er hat es gemeint.« Dann sagte sie, ich sollte das Laken aufheben. 104
Ich wollte nicht, aber sie verlangte es. Ich tat es und sagte: »O mein Gott«, und begann zu weinen. Sie sagte, ich solle aufhören. »Hör zu«, sagte ich, »es ist mir egal, wie es aussieht, ich kümmere mich um dich.« Sie sagte: »Aus einer ist ein ganzes Stück herausgeschnitten. Und das Auge bekomme ich auch nicht wieder.« Ich sagte: »O mein Gott.« Sie sah mich lange Zeit mit dem einen Auge an. Es hatte den müden Blick. Nach einer Weile sagte sie, ganz ohne Zorn: »Mein ganzes Leben habe ich gewußt, was die Leute meinten, egal, was sie auch sagten, und ich bin noch keinem begegnet, der gesagt hat, was er meinte. Ich glaube, das kann keiner.« »Das ist verrückt«, sagte ich. Ich sagte ihr, daß ich sie liebte. Ich sagte ihr, daß ich sie immer lieben würde, egal, was auch sei. Sie sah mich wieder lange an, dann sagte sie: »Wenn ich nicht durchkomme, kümmerst du dich um meinen Hund? Er ist so schön, und er braucht jemanden, der sich wirklich um ihn kümmert.« Ich sagte, natürlich werde sie durchkommen. »Aber nur für den Fall«, sagte sie. »Ich schwöre es.« Sie schloß das Auge. Die Schwester schob den Schirm weg, schaute herein und schickte mich fort. Sie kam nicht durch, aus irgendeinem Grund. Ein paar Tage später verkaufte ich den Hund und verließ die Stadt. Wie gesagt, Los Angeles hat keinen Charakter.
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So kam Jorry auf diesen Weg »Jorry!« Verdammt verdammt! Jorry sagte verdammt verdammt nie laut; es geschah in seinem Kopf, wenn er begriff, daß er auf keinen Fall mit etwas durchkommen würde, oder wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorstellte. »Ja, Ma.« Wieso konnte sie ihn hören, wenn Pa den Kopf im Fernseher hatte, wenn Pferde galoppierten und Schüsse fielen, und das jedesmal? Ma stand auf und kam zur Wohnzimmertür und sah ihn an, wie er unten an der Treppe stand, wo er eben über die dritte Stufe gestiegen war, die knarrte, genau abgestimmt auf den großen Lärm im Fernseher. »Du gehst fort«, sagte sie. »Hn, ja.« »Du gehst nicht fort.« »Es ist früh.« »Dauernd unterwegs, bis in die Nacht, und wo und mit wem, das möchte ich wissen.« »Es ist Freitag.« »Sprich mit deinem Sohn.« Ohne den Blick vom Fernsehbild abzuwenden, sagte Pa: »Was.« Keine Frage, keine Antwort, eine tonlose Feststellung: »Was.« Ma sagte zu Jorry: »Du gehst nicht fort.« Bis jetzt war es wie eine Automatik mit Relais, so wie bei einer Verkehrsampel, was auch sein mochte, von Rot zu Gelb, von Gelb zu Grün, von Grün wieder zu Rot. Wenn er wollte, konnte er das Ganze noch einmal von vorn beginnen lassen: Es ist früh, dauernd unterwegs, bis in die Nacht, und wo und mit wem, es 106
ist Freitag, sprich mit deinem Sohn, was. Also versuchte er das Keine-Sorge. »Keine Sorge, Ma. Ich bin früh zurück.« »Früh, am Morgen früh, fünf Uhr früh«, sagte Ma. »Mit diesem Hascher Chatz.« »Chazz«, verbesserte er. Chazz hatte etwas ganz Neues mit besonderen Ausdrücken: Joint, Kiffen, Gras. »Paffst du?« bedeutete etwas Nagelneues. Chazz log viel, und Jorry hatte ihn noch nie mit etwas gesehen, und wenn er sich ein-, zweimal komisch aufführte, na ja, man brauchte keinen Joint zu rauchen, um das zu lernen, das konnte man im Kino lernen. Und gestern hatte Chazz gesagt: »Ich hab’ eine Ladung. Willst du?«, und vielleicht war es eine Lüge gewesen, aber Jorry erschrak furchtbar; er war aber ganz kühl: »Später, Mann.« Jetzt sagte er zu seiner Mutter: »Nichts auszusetzen an Chazz.« »Mit den Augen, so eng beieinander, runde Schultern«, sagte Ma. »Ich kenn’ das. Was er jetzt auch nimmt, selbst wenn nicht, dann wird er es, und das führt zu Schlimmerem. Oder diese Jane.« »Joan.« Verdammtverdammt. In dem Augenblick, als er sie korrigierte, wußte er, daß sie wußte, daß er an blasse, geöffnete Lippen und helles, wissendes Lachen mit einem anderen Kerl gedacht hatte. »Die wird dir eine Krankheit anhängen«, sagte Ma. »Sprich mit deinem Sohn.« »Wa-as. Wa-as.« Pa löste den Blick noch immer nicht von den Cowboys, aber jedes ›was‹ hatte jetzt zwei Silben, und das hieß, daß er eingreifen würde, wenn sie ihn noch einmal anstachelte. »Du treibst dich in diesem Stub herum.« »Strobe«, verbesserte er, bevor er sich zurückhalten konnte. 107
»Die haben dort gar nichts, nicht mal Bier, nur Eis und Fruchtsaft.« »Du kommst ums Leben, in diesem billigen Schrotthaufen«, der ein Mustang war mit Shelby-Spoilern, Mann, »den kein Mensch mit Verstand einem schwachsinnigen Drückeberger wie diesem Highball geben würde – « »Highboy«, sagte Jorry schwach. »– egal, wieviel Geld er hat. Sprich mit deinem Sohn.« Verdammtverdammt. Jetzt hing alles davon ab, wie es mit den Cowboys war. Wenn Pa sich in den Film vertieft hatte, würde es kurz sein. Wenn nicht, konnte es Stunden dauern, und keiner würde hier weggehen. »Was.« Wieder eine Silbe, aber er schrie sie, und er sprang hoch aus dem dicken Stuhl, beide Hände auf die Armlehnen klatschend, und trat aus dem Wohnzimmer, Hängebacken, schmale Lippen, Augen verkniffen. »Na was.« Ma sagte: »Er geht fort.« Pa sagte: »Er geht fort?« Ma sagte: »Er geht nicht fort.« Pa sagte: »Na, geh, geh doch, ein Mann hat das Recht, den ganzen Tag zu arbeiten und heimzukommen und sich eine Sendung ganz anzusehen.« Gut, gut, die Sendung war gut, das würde kurz abgehen. »Geh, geh«, schrie Ma. »Geh zu deinen seltsamen Freunden, ist ja egal, wo du versorgt wirst, das beste Essen, gesund, ich arbeite mir die Finger bis auf die Knochen ab. Geh.« Jorry ging und kam sich seltsam vor, wie immer, wenn es so ging, wenn er sich durchsetzte, wenn er gewann, aber trotzdem auf die Straße hinausgeworfen wurde, niemand kümmerte es wirklich. Es gibt kein Wort für ein solches Gefühl. Er ging schnell, warf die Tür aber nicht zu, weil dann Pa manchmal auf 108
die Veranda nachkam und ihn zurückholte. Hinter sich konnte er hören, wie Ma auf Pa losging: Wie kann ich Mutter und Vater gleichzeitig für ihn sein, er hat keinen Vater, der sich richtig um ihn kümmert, daß er im Haus bleibt, die ganze Zeit mit den eigenartigen Kerlen unterwegs, und Pa schrie: »Nachher! Nachher!«, was hieß: Halt den Mund, während ich mir das ansehe. Jorry kam bis zur 3. Straße, ohne jemanden zu sehen, und dann kam aus dem Nichts plötzlich Specs, vor der Ampel. Specs hatte wirklich schlechte Haut und kürzere Haare als die anderen, aber er war immer da, wo sich etwas tat, und er kannte alles. »Highboy hat Libby«, war seine Begrüßung. Libby war ein ganz unerreichbares Ding; man sieht sie bei Schulveranstaltungen die Fahne tragen, sie sind im Vorstand des Studentenrats und so, sie sind sauber und gut und hübsch und spießig, Mann, vergiß es. Aber mit vierhundert PS und Drehzahlmesser am Armaturenbrett bekommt Highboy Libby, rast durch dunkle Straßen, wohin er will, wie er will, und rechtzeitig zurück. »Was sonst?« sagte er und wußte, daß Specs ihn genau verstand. Die Ampel schaltete um, und sie gingen hinüber. Jorry blieb stehen. »Strobe«, sagte Specs, Ankündigung und Frage. »Jetzt nicht.« Jorry war nicht sicher, warum jetzt nicht. Vielleicht wollte er dort nicht mit Specs ankommen; man ging mit Specs nirgends hin, man fand ihn dort. Und vielleicht wollte er eine Weile in einer dunklen Straße allein sein, um über Libby nachzudenken, auf echtem Leder neben dir, und der Drehzahlmesser bis sechs oder sieben, irgendwohin unterwegs, weit außerhalb der Stadt, wo einen keiner kannte, und dort viel Zeit und früh zurück. Specs sagte: »Später, Mann«, und ging. Jorry stand neben einer hohen Hecke und dachte an den Mustang. Vielleicht dauerte es eine Weile, vielleicht nicht; da gibt es keine Zeit, aber was ihn zurückholte, war Peng auf dem Geh109
steig mit einer kleinen Plastikhandtasche, die Lippenstift und Tampax und eine gesprungene Puderdose und Kleingeld überall verstreute. Es war Joanie mit dem langen, hellen Haar. Sie sah ihn nicht, und sie sagte: »Ist mir doch egal.« Dann stand sie ganz lange ruhig da, die Augen geschlossen, aber dann sah er unter der Straßenlaterne, daß sie nicht fest genug geschlossen waren, um Tränen zurückzuhalten, und die Streifen auf ihrem Gesicht waren wie Sprünge in einer Puppe, wenn man sie von innen beleuchtet. Er hob die Handtasche auf und berührte sie damit und sagte ihren Namen. Sie erschrak und schlug sich mit dem Handrücken auf die Nase und sah ihn an. Nach einer Weile sagte sie: »Jorry«, und nahm die Handtasche. »Ich habe einfach dagestanden«, war alles, was er sagen konnte, und er bückte sich, um Puderdose und Tampax aufzuheben. Er fand einen Vierteldollar und einen Zehner und richtete sich auf. Sie hielt ihm die offene Tasche hin, und er stopfte das Zeug hinein und ließ die Puderdose wieder fallen. »Ist was mit dir?« Sie begann auf eine Art zu lachen, die ihm gar nicht gefiel, aber inzwischen war er wieder hinabgetaucht nach der Puderdose, und als er sich wieder aufrichtete, begriff er, daß sie nicht über ihn lachte. Es war gar kein Lachen. Was es auch war, es hörte schlagartig auf, und sie tat etwas, was noch kein Mädchen, von dem er gehört hatte, je getan hatte; sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brust. In seinem ganzen Leben hatte er noch nichts so Weiches und Lebendiges und Wunderbares gespürt. Sie fragte ihn mit leiser, kehliger Stimme: »Stimmt damit etwas nicht?« »Hn, nein«, war alles, was er sagen konnte. Sie nahm ihre Hand von der seinen; es hing von ihm ab, ob 110
er sie an ihr ließ oder nicht. Er ließ sie fallen. Seine Hand spürte sie noch immer; er hatte den verrückten Gedanken, daß das immer so bleiben würde. Sie sagte ganz langsam: »Ich war so gottverdammt einsam.« Er schüttelte nur den Kopf ein bißchen. Er hatte sie einige Zeit nicht gesehen, konnte sich aber nicht erinnern, sie jemals einsam gesehen zu haben. Nie. »Jorry – « »Was?« Sie befeuchtete die Lippen. »Du weißt, wo ich wohne.« »Hn, ja.« »Schau, ich habe etwas zu erledigen, aber gegen elf bin ich zu Hause. Es ist heute abend keiner da. Du kommst.« »Hn, ich weiß nicht —« Sein Mund war plötzlich so trocken, daß er kein Wort mehr herausbrachte. »Ich meine«, sagte sie, »es ist mir einfach egal.« Er hing an ihren Augen wie ein Mantel an einem Nagel. »Bitte, Jorry. Bitte.« »Hn, meinetwegen«, sagte er, und sie hielt ihn einen Augenblick lang fest, dann wandte sie sich ab; er glaubte, seine Knie wollten einknicken. Er sah sie davongehen, lange Beine, langer Rücken, langes Haar, alles gepeitscht von den Schatten der Baumstämme. »O Mann«, flüsterte er. Nach einer Weile ging er langsam die Straße hinunter, nahm auf irgendeine Weise klarer als je zuvor wahr, wie die Absätze den Boden berührten, die Zehen, roch einen gemähten Rasen, eine Spur von Katzenharn, sah, wie scharfe blaue Sternpunkte das Himmels glühen über einer Kleinstadt durchbohren konnten. In diesem Augenblick fühlte er sich nicht mehr wie Ichmuß-Ma-fragen-Jorry oder Die-lassen-mich-nicht-Jorry oder 111
Jorry, der immer draußen stand und hineinschauen mußte oder drinnen und zusehen mußte. »Mann«, sagte er leise zur Nachtzeit, »man muß das Seine machen.« Er zitierte irgend jemand, aber er meinte es ernst. Dann war er im Licht, und wer kam aus dem Süßwarenladen, wenn nicht Chazz. Chazz hatte lange grüne Augen und eine Adlernase und kein Kinn und eine merkwürdige Art, auf einen zuzugehen, wie von der Seite. Jorry rief ihn. Das schien Chazz zu freuen. »He, Mann.« Jorry winkte mit dem Kopf und entfernte sich vom Licht und den Leuten und ließ sich von Chazz einholen. Sie gingen nebeneinander, und Jorry fiel Joanies ›Ist mir doch egal!‹ ein. Er mußte ein wenig grinsen, und in seiner Magengrube entstand ein angenehmes, kaltes Vakuum: Freudenangst. Er sagte, in der Art wie Chazz: »Ist’n mit der Ladung?« Erfreutes Staunen. Chazz schlug die Hände zusammen und lächelte im Kreis, wie vor einer unsichtbaren Zuhörerschaft im dunkeln, zu der er sagte: »Er mischt mit, er mischt mit.« Er gab Jorry einen Stoß. »Ich hatte dich schon fast abgeschrieben.« »Mich.« Jorry wußte, wie man ein Fragewort als Feststellung gebrauchte. Es gefiel ihm, wie das klang. »Wo ist das Gras?« Chazz lachte brüllend los und verstummte. Voller Fröhlichkeit schaute er sich überall um, kam von der Seite nah heran und sagte halb flüsternd: »Mann, ich habe dich gesucht. Bis jetzt wußte ich nur nicht, daß du es bist.« Er schritt aus, und Jorry schritt mit ihm, bereitwillig genug, aber ein wenig verwirrt. Sei erreichten die nächste Laterne, und Chazz schaute sich wieder im Kreis um. »Roll den Ärmel hoch.« »Was?« »Roll ihn hoch. Ich möchte etwas sehen.« 112
Jorry fing an, etwas zu denken, und wollte es nicht denken. Er krempelte den Ärmel hoch. Chazz umfaßte den Bizeps mit beiden Händen und drückte und drückte. Jorry wehrte sich ein bißchen, aber Chazz hielt fest, großen Eifer im Gesicht. »Was soll denn das?« »Sei mal ruhig«, sagte Chazz und drückte. Er starrte in Jorrys Ellenbeuge. Plötzlich ließ er den Arm los. »Herrlich. Oh, Mann, ist das herrlich.« »Herrlich was.« »Die Vene da, wie ein Schlauch, Mann.« »Chazz, was quatschst du denn?« »Du bist wie ich, Mann. Bei manchen findest du sie nicht mit Röntgenstrahlen, aber du und ich, bei uns sind die Tore weit offen.« Jorry versuchte es mit den Worten. »Chazz, wenn du was hast, rauchen wir. Wenn nicht, auch gut.« Chazz lachte wieder sein brüllendes Lachen, das zu stummer Heiterkeit wurde. Als er konnte, sagte er: »Rauchen! Das hat Zeit, Mann. Ich hab’ einen Trip für uns. So vier, sechs Stunden ganz oben, den Wind im Rücken.« Er kam nah heran. »Ich hab’ – Speed.« »Speed.« Eine lange Pause. Jorry hatte die schmerzhafte Erkenntnis, daß Ich-Ma-fragen-muß. Die-lassen-mich-nicht. Jorry stand vielleicht auf einer höheren Stufe, aber er war noch da. Andererseits war es undenkbar, daß er so knapp vor dem Ziel, anerkannt zu sein, wieder zum Spießer werden sollte. Und außerdem – hatte er Angst. Venen – Speed – Gott. Sein Mund war plötzlich völlig trocken, was die seltsame Wirkung hatte, ihn an etwas zu erinnern. Er erzeugte mühsam Speichel und schluck113
te krampfhaft, bevor er ganz bedächtig sagen konnte: »Ach was, Mann, sechs Stunden. Ich bin um elf verabredet. Ich brauch’ alles, was ich hab’.« »Du brauchst den Treff nicht.« »Oh, hn.« »Wer ist es denn?« »Eine Brumme.« »Du nimmst mich auf den Arm.« »Ganz ehrlich. Jederzeit, Chazz, aber nicht heute abend.« Anscheinend hatte er auch das genau richtig gesagt, denn Chazz schien wirklich traurig, als er sagte: »O Mann«, und hoffnungslos, als er sagte: »Hat die eine Freundin?«, und Jorry wußte für eine Sekunde – später vergaß er es – weshalb runde Schultern und eine große Nase und kein Kinn einen Schuß Speed wollten. Chazz biß sich eine Weile auf die Lippe, dann sagte er offen: »Hör mal, ich warte auf dich. Ich hab’ das Zeug, ich hab’ es mir angesehen, und ich kenn’ mich aus, aber beim erstenmal mach’ ich kein Solo, Mann, nicht beim erstenmal.« »Kapiert«, sagte Jorry. Was Jorry vor allem kapierte, war, wieviel Angst Chazz hatte. Er brauchte nicht zu prüfen, ob er selbst Angst hatte oder nicht und wieviel; das kam zuerst, und er fühlte sich dankbar. Er gab Chazz einen Stoß und sagte: »Dann später«, und er konnte sehen, daß auch Chazz dankbar war. Dann brauste der Mustang an den Randstein, wamm! und stand. Highboy: gekräuselte Haare von der Farbe französischer Vanille, weißes Hemd, weißer Pullover, weiße, kräftige Zähne, und neben ihm, oh, Libby. Oh. Highboy sagte: »He, wer kommt mit nach Little Gate?« Little Gate war fünfundsechzig Kilometer entfernt. Chazz sagte: »Jorry hat eine, er ist dran.« Jorry hatte den Eindruck, daß Highboy das gefiel und Libby nicht, aber kam es 114
darauf an? Chazz sagte gerade: »Aber ihr könnt mich am Strobe absetzen, ja?« Highboy deutete auf den Türgriff: Erlaubnis, aber Chazz konnte sich die Tür selbst aufmachen, und sagte zu Jorry: »Halt dich ran, Baby«, was ›Auf bald‹ hieß und auch ein Kompliment war, und er fühlte sich recht gut, aber trotzdem verdammtverdammt, da verschwinden die Heckleuchten. Und das Komische war, er mußte auch am ›Strobe‹ vorbei, um zu Joanies Haus zu kommen. Man weiß nie, warum man so handelt, wie man handelt. Nachts – bei Tag ist es gar nicht vorhanden – ist das ›Strobe‹ eine breite, helle Ladenfassade in einer Reihe von dunklen; Licht ist ein See davor, mit Blitzen; Autos wälzen sich hindurch, Leute gleiten dazwischen, und nicht weit davon, ab und zu, die Landpolizei, auf der Suche. Specs war da, und als er Jorrys Gesicht sah, sagte er: »Du hast eine.« Drei Worte, ein Glückwunsch, du hast doch nicht gedacht, daß du das vor mir verbergen kannst, wer ist es, wenn du es mir nicht sagst, komm’ ich doch dahinter, du wirst vielleicht einer, auf den man hier aufpassen muß, ich passe auf. Und das alles bestätigte Jorry: »Du weißt, wie es ist.« Er sah den Mustang mitten in dem Lichtsee, geduckt zum Sprung, einen halben Meter vom Randstein; Highboys brauchen nicht korrekt zu parken. Chazz war nicht da. Specs sagte: »Drei Kerle sind von derselben Ziege angesengt worden. Die Familien haben sich zusammengetan und sind in die Schule gegangen.« Angesengt. Jorry konnte das nicht verstehen, außer – »Wer?« Specs sagte, wer; drei Mann, die er kannte, zwei von ihnen hatten mit ihm Geschichte. Aber das war es nicht, was er wissen wollte. Er wollte wissen, wer das Mädchen war. Er wollte nicht 115
fragen, und er brauchte es auch nicht; Specs sagte, es sei Joanie. Verdammtverdammt. In diesem Augenblick kamen Highboy und Libby aus dem ›Strobe‹ und gingen zum Mustang. Highboy öffnete die Tür für sie, und der funkelnde Wagen nahm sie auf wie ein Baseballfanghandschuh. Highboy lief vorne herum und stieg ein, und die Chromauspuffrohre grollten. Aus dem ›Strobe‹ kam eine mit hüftlangen schwarzen Haaren und hautenger Hose, weiß, vorn so tief ausgeschnitten, daß »man Rasiercreme dazu bekommt, wenn man die kauft«, sagte ihm Specs ins Ohr, und Highboy machte eine Geste, an die Jorry sich sein ganzes Leben erinnern würde, so groß war sie, die noch länger in seinem Kopf haften würde als selbst das, was danach kam. Highboy warf ihr eine Kußhand zu. Highboy warf ihr vor und neben Libby eine Kußhand zu, und Libby hatte dazu zu lächeln. Highboy warf der eine Kußhand zu, während er den Gang einlegte, und der Auspuff fauchte, er warf ihr eine Kußhand zu, während er sich im ledernen Schalensitz drehte; er warf ihr die Kußhand zu und lächelte und strahlte durch das große Heckfenster, während die Reifen pfiffen und er und Libby an die Lehnen gepreßt wurden. So groß. Außerdem paßte er nicht auf. Am Ende der Reihe dunkler Läden und über eine kleine Straße gab es keinen Randstein oder Gehsteig, sondern eine nackte Böschung, zuerst niedrig und steil, und den Ingenieur gibt es nicht, der sie besser dafür konstruieren könnte, daß sie die rechte Seite eines Autos hochhebt und es kippt, in die Höhe schleudert. Es waren keine siebzig, fünfundsiebzig Meter nach dem ›Strobe‹, daß der Mustang in die Luft flog und umkippte und auf das Dach fiel und an einen Baum prallte und in Flammen aufging. Die Polizei weiß immer, was sie zu tun hat, und sie war zur Stelle, aber das Wissen genügt manchmal nicht. 116
Jorry ging durch die dunklen Straßen heim und gab sich Mühe, auszulöschen, was hinter ihm lag, ohne zu öffnen, was sich davor befand, versuchte selbst durchzukommen, nicht mit Jorry-viel-leicht-muß-man-auf-dich-aufpassen oder mit Madarf-ich, sondern mit sich selbst, und wer, zum Teufel, sollte das sein? Über Chazz und das Spritzen, über Joanie und die Krankheit, über das Sterben im Mustang hätte er Bescheid wissen können, ohne das Haus zu verlassen. Ma hatte alles gesagt, Ma hatte immer recht. Er hätte es selbst dann wissen können, wenn sie es nicht gesagt hätte – aber sie hatte es gesagt. Sie hatte auch gesagt, daß sie hart arbeitete und dafür sorgte, daß er aß und gut angezogen war und ein Zimmer für sich hatte. Sie sagte es komisch, und sie sagte es so oft, daß man es nicht mehr hörte, aber sie sagte es. Pa sagte auch, daß er den ganzen Tag hart arbeitete und ein Recht hatte, wenn er heimkam. Er sagte es zu Ma, und er sagte es zu Jorry. Dann sagte Jorry das, was er immer sagte, und auch ihn hörte keiner. Jorry ging schneller. Denn wenn es einen Weg gab, zu Ma etwas zu sagen, und wenn sie es ihm und Pa sagen konnte, so daß sie einander hörten, dann würden sie nicht immer wütend sein oder sich nutzlos vorkommen müssen, keiner. So, wie wenn man die Leute auf irgendeine Art dazu bringen kann, einander zuzuhören, nicht nur dir zuzuhören. Und du hörst auch zu. Jeder. Jorry begann zu laufen, weil er wirklich glaubte, daß man einen anderen dazu bringen konnte, daß er zuhörte. Er wußte es, weil er es getan hatte. Er hatte auf jedes Wort gehört, das Ma über heute abend gesagt hatte, das Dumme war nur, er konnte sie erst später hören, als alles schon geschehen war. Und jetzt 117
glaubte er wirklich, daß man jetzt jemand dazu bringen konnte, zuzuhören. Und ob man es glauben wollte oder nicht, nach allem, was geschehen war, es war erst Viertel vor zwölf. Er ging hinten hinein, weil Ma immer einen Weg offenhielt. Er sperrte von innen ab, weil Ma wollte, daß alles abgesperrt blieb, wenn er im Haus war. Das schien etwas zu bedeuten, als er die Treppe hinaufstieg. Er konnte ihre Stimmen oben hören, Hammer-und-Zange. Er lächelte, weil er etwas wußte, was sie nicht wußten. Es war dasselbe, was er beim Weggehen gehört hatte: Warum kannst du nicht mit deinem Sohn sprechen. Und: heimkomme, Recht habe. Aber es war dasselbe, rauh und brüchig: Jorry begriff, daß sie seit seinem Weggang immer wieder dasselbe gesagt hatten. In dem Glauben, daß die Menschen zuhören konnten, zuhören und verstehen, klopfte er an die Tür. Pa, Unterhemd und hängende Hosenträger, der letzte Strohhalm war unter dem zornigen Giebel seiner Augen, brennend; Ma, graue Zöpfe – nur nachts, Zöpfe – und so verbraucht, ganz verbraucht, weil man sie nicht hörte. »Pa, hör mal.« »Ich wasche meine Hände in Unschuld«, rief Ma. »Tu, was du willst, Taugenichts. Setz dich doch in die Mülltonne, leb da mit deinem Chatz und dem anderen Müll. Ich wasche meine Hände in Unschuld, ich will nichts mehr damit zu tun haben.« »Ma, so hör doch.« Pa schlug wahrscheinlich gar nicht so hart zu, aber es kam so unerwartet, und er war gar nicht darauf vorbereitet. Er lag am Boden im Flur, sah hinauf, Ma schrie, und sein Vater sah groß aus. Riesig. Wie nicht mehr seit der Zeit, als er drei Jahre alt gewesen war. 118
»Ich habe das zum letztenmal mitgemacht und nie mehr wieder, du gehst weg, und sie läßt mir keine Ruhe, aus meinen Augen«, brüllte Pa, und der Speichel spritzte. Jorry setzte sich auf und schob sich auf die Knie. Er sagte: »Pa, hör doch«, oder vielleicht dachte er, er hätte es gesagt. Wie er so dakniete, ging Pa wieder auf ihn los, diesmal nicht mit einem Männerschlag wie vorher, sondern er drückte ihm das Gesicht weg, daß Jorry zurückfiel und fortrutschte, die Art Stoß, bei dem nichts weh tut, nur die Beleidigung. »Aus den Augen!« schrie Pa, daß ihm die Stimme überschnappte, und Ma stand in der Tür, und er stieß auch sie, auf das Bett zurück, und warf die Tür zu. Irgendwann dazwischen hörte Jorry auf, an irgend etwas zu glauben. Er ging in die Stadt zurück und tat das Seine dort und das Seine da, und Viertel vor fünf wurden er und Chazz wegen Rauschgiftbesitz und Rauschgiftgebrauch festgenommen, und zwei Wochen später zeigten sich die ersten Spuren der Geschlechtskrankheit, aber das war schon in der Jugendstrafanstalt. So kam Jorry auf diesen Weg.
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Es war Nichts – wirklich Nachdem Henry Mellow den Punkt in seiner Laufbahn erreicht hatte, der ihm eine Privattoilette in seinem Büro einbrachte, trat er aus dieser und sagte in den kleinen, schwarzen Kasten auf seinem Schreibtisch: »Mit Block, bitte.« Miss Prince bestätigte, kam herein und sagte: »Huch.« »›Schon seit dem Morgengrauen der Geschichte‹«, diktierte Henry Mellow, »›steht die Menschheit vor grundlegenden Wahrheiten, die – ‹« »Ich stehe vor der Wahrheit, daß Sie Ihre Hosen heruntergelassen haben, Mr. Mellow«, sagte Miss Prince, »und mit einer langen Fahne Toilettenpapier wedeln.« »Ah, ja, darauf komme ich gleich … ›grundiegenden Wahrheiten, die sie nicht sehen oder nicht erkennen oder nicht begreifen kann‹. Haben Sie das, Miss Prince?« »Ich gerate völlig durcheinander, Mr. Mellow. Bitte, ziehen Sie Ihre Hose hinauf.« Mr. Mellow betrachtete sie einen langen Augenblick, während er seine Gedanken auf ›Speichern‹ schaltete und auf Empfang für Miss Prince ging und endlich hinuntersah. »Archimedes«, sagte er und legte die Toilettenpapierfahne auf den Schreibtisch. Er zog die Hose hoch und sagte: »Ich glaube jedenfalls, daß es Archimedes war. Er badete, und als er sich zurücksinken ließ und das Wasser verdrängte und sah, wie es über den Badewannenrand hinausschwappte, kam ihm die Lösung eines Problems, nämlich wie zu bestimmen sei, wieviel unedles Metall in die Goldornamente des Königs gemischt war. Er sprang aus der Wanne, lief nackt durch die Straßen und schrie ›Heureka‹, was auf Griechisch ›Ich hab’s gefunden‹ heißt. Sie, 120
Miss Prince, sind Zeugin eines solchen Augenblicks. Oder war es Aristoteles?« »Es war peinlich, das war es«, sagte Miss Prince, »und gleichgültig, wie lange ich hier arbeite, Sie setzen mich in Erstaunen. Toilettenpapier.« »In Toiletten sind mitunter die tiefsten Überlegungen der menschlichen Geschichte angestellt worden«, sagte Henry Mellow. »Die protestantische Reformation begann in einer Toilette, als Luther dort saß und die Arbeit an seinen – trete ich Ihnen zu nahe, Miss Prince?« »Ich weiß es nicht. Das hängt wohl davon ab, wie es weitergeht«, sagte Miss Prince und nahm die Hände von den Ohren, aber nicht weit. Sie sah argwöhnisch zu, als er seine Toilettenpapierfahne auf dem Schreibtisch ausbreitete und zu zerreißen begann, indem er die Hände mit den Innenflächen nach unten auf die Tischplatte legte und sie auseinanderzog. »Sie werden feststellen – Miss Prince, haben Sie das?« Sie hob ihren Block auf, den sie weggeworfen hatte, um sich die Ohren zuzuhalten. »Nein, Sir, eigentlich nicht.« »Dann fange ich noch einmal an«, sagte Henry Mellow und begann das Memorandum zu diktieren, das Entsetzen in den Herzen und Seelen des Militär-Industrie-Komplexes verbreiten sollte. O ja, sie besitzen Herzen und Seelen. Sie hatten sie bis zu Henry Mellow nur niemals gebraucht. Man beachte die Ausdrucksweise. Henry Mellow war mehr als ein Mensch, er war ein historisches Ereignis. Man braucht nicht zu sagen: ›Wilbur und Orville Wright und ihr erstes erfolgreiches Experiment bei‹, man sagt nur ›Kitty Hawk‹. Man kann sagen ›seit Hiroshima‹ oder ›Dallas‹ oder ›Pasteur‹ oder ›Darwin‹, und die Leute wissen, was man meint. Und so blieb auch seit 121
Henry Mellow für den Militär-Industrie-Komplex nicht alles beim alten. Das Mellow-Memo erreichte das Pentagon auf den üblichen Kanälen, nämlich ein FBI-Agent, der routinemäßig die Abfälle aus dem Mellow-Büro durchsuchte, fand drei Seiten, die eine neue Tippse wegen dreiundvierzig Tippfehlern weggeworfen hatte, und erhielt den Auftrag, nachdem alle Ränge des Amtes damit befaßt gewesen waren, bis hinauf zum Direktor, in den Mellow-Büros einen Einbruch zu verüben und Aufnahmen einer Aktenkopie zu beschaffen. Er wurde bei der Ausführung seines Auftrags zweimal festgenommen und einmal verletzt. Wegen eines unausweichlichen Unfalls konnte der Erfolg der Mission geraume Zeit nicht gemeldet werden: Der FBI-Agent ließ die Papiere, nachdem er sie gestohlen hatte, in einem Taxi liegen und brauchte drei Wochen, um den Taxifahrer zu finden und bei ihm einzubrechen. Inzwischen war das Memorandum der ›Times‹ in Form eines Briefes vorgelegt worden, der seinerseits die Grundlage für einen Leitartikel bildete, aber wie gewöhnlich entging die Publikation solchen Materials sowohl der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit als auch der des Pentagons. Die Wirkung des Memos auf das Pentagon, vor allem auf seinen Zielpunkt, die Büros von Generalmajor Fortney Superpate, war die eines Erdbebens. Die Reaktionen des Generalmajors erfolgten augenblicklich und in der besten militärischen Tradition. Er verfügte für seine ganze Abteilung Alarmstufe Rot und Klassifizierung ›Streng geheim‹, damit außerhalb seiner Abteilung niemand von dem Fall erfuhr. Was dann folgte, war totaler Stillstand für zwei Stunden und vierzig Minuten, da er sich sofort entschieden hatte, Mellows Resultate zu überprüfen. Das erforderte Toilettenpapier, und obwohl Ge122
neral Superpate, wie Henry Mellow, in einer Ecke seines Büros über eine Privattoilette verfügte, besaß er genug Achtung vor der Tradition, um seinen Impuls zu unterdrücken, aufzustehen und welches zu holen; statt dessen ließ er seinen Adjutanten kommen, der strammstand und den Befehl empfing. Im Vorzimmer forderte der Adjutant das augenblickliche Erscheinen des Nachschubsergeanten – man darf nicht vergessen, die Sache war inzwischen geheim –, der sich in Urlaub befand; man mußte anschließend die Qualifikation seines Korporals prüfen, bevor er ihn vertreten durfte. Man füllte Bestellformulare aus, mit einem Tippfehler im vierten Durchschlag von sechsen, der ausgemerzt werden mußte, bevor die Rolle Toilettenpapier in einem schwarzen Aktenkoffer mit Doppelverschluß dem General überbracht werden konnte. An diesem Punkt wurde er von einem Herrn aus Jamestown gestört, der – wie er behauptete – Brown hieß: schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, schwarze Schuhe und ein schwarzes Lederding in der Brusttasche, das, aufgeklappt, eine schwere, glänzende Marke mit Adlern und Figuren enthielt. »Oh, verdammt«, sagte der General, »wie ist euer Laden denn dahintergekommen?«, was ihm ein Lächeln eintrug – es war das einzige, worüber diese Leute vom Mr.-Brown-Typ je lächelten –, während Mr. Brown nach der Fotokopie des Mellow-Memos und dem abgesperrten Aktenkoffer mit der Rolle Toilettenpapier griff. Er ging, worauf der General, der mit dem praktischen Sinn des Soldaten erkannte, daß man ihm den Fall aus den Händen genommen hatte, Alarmstufe Grün wiederherstellte und die Geheimhaltung aufhob. Danach fühlte er sich berechtigt, in seine Toilette zu treten und zur eigenen Toilettenpapierbeschaffung zu schreiten. Er kehrte mit etwa einem Meter davon zurück, legte das Papier auf den makellos saube123
ren Schreibtisch, legte die Handflächen darauf und begann sie auseinanderzuziehen. Er wurde bleich. Die Einführung des Mellow-Memos in die Industrie ist ein größeres Rätsel. Gewiß war es der Anlaß für die generelle sechsprozentige Kürzung der Rohstoffbestellungen bei der Inland Corporation, und wenn ein Konzern von der Größe und Vielschichtigkeit der Inland um sechs Prozent kürzt, erzittert der ganze Markt wie eine Ladung Sülze in einem Lastwagen mit quadratischen Rädern. Das ist der wahre Grund, weshalb Outland Industries Fusionsgespräche mit Inland zu führen begann, denn einer ihrer Spione hatte Outland informiert, aber ihnen nicht das Memo verschafft, und die Bonzen bei Outland meinten, wenn sie Inland kauften, würde das Memo dabeisein. Man stelle sich ihr Erstaunen vor, als der Aufsichtsratsvorsitzende von Inland der Fusion nicht nur begeistert zustimmte, sondern auch kostenlos eine Kopie des Memorandums übersandte. Es gibt keine Aufzeichnungen über die mitternächtlichen Sitzungen der Führungsspitzen der beiden Industriegiganten, aber als sie auseinandergingen, waren sie, wie man hört, ein zutiefst erschreckter Haufen. Die Morgendämmerung war in vielen Villenvororten, in Klubs und Hotelzimmerfluchten vom leisen, sorgenvollen Geräusch reißenden Toilettenpapiers begleitet. Und reißender Papierhandtücher. Und reißender Schecks aus Scheckbüchern. Was die Fusion anging, so blieb der Vorschlag auf dem Verhandlungstisch im Wartestand; inzwischen wurde die Anweisung Inlands, die Rohstoffkäufe zu vermindern, auf drei Kompromißprozent gesenkt, während die Welt – die kleine, wahre Welt, nicht die schlafende Massenwelt – abwartete. Die erschreckendste Wirkung des Mellow-Memos zeigte sich 124
jedoch bei der geheimen Zentrale in Jamestown. Es ist, vermutlich die geheimste Zentrale in der ganzen Welt oder sonstwo. Keine Schilder an der Fassade, Autos ohne Beschriftung, und das Essen wird im Vorzimmer für ›Mr. Brown‹ angeliefert. Niemand weiß, wie sich da einer zurechtfindet. In der Stadt hüten alle das Geheimnis. Sie hatten getan, was sie konnten; Henry Mellows Heim, Büro, seine persönlichen und Person und die unmittelbaren Bekannten standen unter Beobachtung, wurden beschattet und abgehört, seine vermutlichen Wege vom Computer erfaßt, geeignete Reaktionen vom Amt programmiert, und es blieb nichts anderes übrig, als dazusitzen und darauf zu warten, daß etwas geschah. Ausschließlich auf den Fall Mellow angesetzt waren drei Spitzenagenten, Red Brown und Joe Brown und ein BlackPower-Infiltrator namens Brown X. Wegen der extrem delikaten Natur des Memos hatte Red Brown Brown X auf eine extrem unsinnige Tour geschickt. Er mußte Henry Mellows ehemalige Lehrer, vom Kindergarten bis zur vierten Klasse, in Orten wie Enumclaw, Bundesstaat Washington, und Turtle Creek, Bundesstaat Pennsylvania, ermitteln und befragen. Red Brown erhob sich von seinem Schreibtisch, der mit Druckknöpfen und Signallampen übersät war, ging durch das Zimmer und schloß die Tür, um die alles durchdringenden Geräusche von Computern und Tonbandmaschinen und Gummisohlenschritten und Anrufen hinter vorgehaltener Hand: »Hier Brown … Fertig. Zerhacker Zwei. Brown Ende«, auszusperren. Joe Brown sah ihn aufmerksam an; er wußte, dies bedeutete, daß sie über ihren Auftrag sprechen würden. Er wußte auch, daß sie von Henry Mellow nur als ›Person‹ sprechen würden. Nicht mehr. 125
Red Brown stieg wieder in den Sattel oder in den Kontrollturm – niemand hätte das einen Stuhl genannt – und sagte: »Überblick. Denksitzung.« Joe Brown löste das Tonbandgerät aus, das in seiner schwarzen Jacke versteckt war, und wiederholte: »Überblick. Denksitzung«, und fügte Datum und Uhrzeit hinzu. »Wer ist Person eigentlich?« fragte Red Brown scharf. Joe Brown reagierte sofort, weil er klar begriff, daß das eine schnelle Übersicht über alles Wesentliche sein würde, was sie über Henry Mellow wußten, mit dem Ziel, neue Perspektiven und Einsichten zu gewinnen, ganz gleichgültig, wie ausgefallen sie waren; und daß er, Joe Brown, auf dem Prüfstand war und nachzuweisen hatte, ob er den Anforderungen entsprach, und so sagte er deutlich und im amtlichen Stakkato: »WMA, einsfünfundsiebzig, ledig, sechsunddreißig Jahre, Augen haselnußbraun, Gewicht einssechzig – « »Schon gut, schon gut. Beruf.« »Schriftsteller, technisch, auch wissenschaftliche Artikel und Buchkritiken. Freiberuflich. Außerdem Erfinder, Patente Nummer – « »Lassen Sie die, sonst rattern Sie den ganzen Tag Zahlen herunter, und außerdem prahlen Sie, Brown, ich kenne Ihre Vorliebe für Zahlen.« Joe Brown war zerknirscht, zeigte es aber wohlweislich nicht. Sich Zahlen zu merken, war etwas, was er wirklich konnte, und gerade bei Patentnummern vermochte er besonders zu glänzen. »Besitzt Patente für Küchengeräte, chemische Prozesse, Werkzeuge, optische Systeme – « »Typ Genie, sehr gefährlich. Das Amt überprüft seine Abfälle schon seit achtzehn Monaten.« 126
»Wie kam man auf ihn?« »Finanzamt. Er bekommt Tantiemen aus der ganzen Welt, und er versteuert sie bis auf den letzten Cent.« Joe Brown spitzte die Lippen. »Dann hat er etwas zu verbergen.« »Ja, nicht üblich, nicht normal.« »Politische Ansichten?« »Keine. Trägt sich ins Wählerverzeichnis ein und wählt, drückt aber keine Meinung aus.« Joe Brown spitzte die Lippen erneut. »Er muß etwas verbergen. Und was geschieht, wenn er das Ding auf die Welt losläßt?« »Es ist schlimmer als die Bombe, Nervengas, Dederick-Pest, nehmen Sie, was Sie wollen.« »Und wenn er alleinige Verfügungsgewalt hat?« »Herrscher der Welt.« »Zehn Minuten lang vielleicht.« Joe Brown kniff die Augen zusammen, blickte durch ein eingebildetes Zielfernrohr und krümmte einen Abzugsfinger. »Nicht, wenn er das Amt hat.« Joe Brown sah Red Brown einen langen, verstehenden Augenblick an. Bevor er Agent geworden war und auch während der Ausbildung hatte er ganz klar zu wissen vermeint, für wen das Amt arbeitete. Mit dem Lauf der Zeit schien das aber keine Rolle mehr zu spielen; die Agenten arbeiteten für das Amt, und niemand im Amt oder außerhalb oder in der Regierung oder außerhalb oder sonstwo wäre auf den Gedanken gekommen zu fragen, für wen das Amt arbeitete. Wenn das Amt also beschloß, für den Herrscher der Welt zu arbeiten, nun, warum nicht? Nur ein Mann. Es ist sehr einfach, sich um einen einzigen Mann zu kümmern. Das Amt wußte schon lange, wie die Dinge 127
eigentlich stehen sollten, und mit der alleinigen Verfügungsgewalt über so etwas konnte das Amt sie so einrichten. Für jedermann, überall. Red Brown machte eine schnelle, komplizierte Handbewegung, die Joe Brown verstand. Sie zogen beide ihre versteckten Tonbandgeräte heraus und löschten den letzten Satz von den Bändern. Sie steckten die Geräte wieder ein und sahen einander mit ganz anderen, glänzenden Augen an. Wenn sie beide in den alleinigen Besitz des Mellow-Effekts gelangen würden, dann stand ihrem Vorgesetzten, Mr. Brown, und seinem Vorgesetzten, der die ganze Behörde leitete, eine Überraschung bevor. Red Brown nahm einen Schlüsselbund von seinem Gürtel und wählte einen Schlüssel aus, mit dem er in seinem Schreibtisch ein Fach beziehungsweise eine Schublade beziehungsweise eine Konsole öffnete und eine schwere Stahlkassette herauszog, wie aus einem Depositenfach. Er warf einen Blick auf seinen Kollegen, um sich zu vergewissern, daß er sich außerhalb des Sichtwinkels befand, drehte einen Kombinationsknopf mit großer Behutsamkeit und Umsicht so und so, herum und wieder zurück, dann drückte er auf einen Griff. Der Deckel der Kassette ging auf, und er nahm zwei Fotokopien des MellowMemorandums heraus. »Wir werden jetzt das Mellow-Memo lesen«, sagte er für die Tonbänder. Und Sie sollen es auch. Das Mellow-Memorandum Schon seit dem Morgengrauen der Geschichte steht die Menschheit vor grundlegenden Wahrheiten, die sie, durch Unaufmerksamkeit, Vorurteil oder pure Dummheit, nicht sehen oder nicht 128
erkennen oder nicht begreifen kann. Zu Zeiten kam der Mensch mit komplexen Dingen sehr gut zurecht – man denke an die Kalendersteine der Mayas und an die Navigationskünste der Polynesier –, während sie blind über die Tatsache hinwegsahen, daß komplexe Dinge aus einfachen Dingen zusammengesetzt sind und daß die einfachsten Dinge ihrer Natur nach überall um uns herum zu finden sind und darauf warten, erkannt zu werden. Der Mensch war bei der Entdeckung des Naheliegenden schrecklich saumselig. Zwei deutliche Beispiele sollten genügen: In jedem Spielzeuggeschäft, auf jedem Jahrmarkt kann man für Pfennige ein Windrad kaufen. Ich habe nicht herausfinden können, wann dieses Gerät erfunden wurde, wo und von wem, aber soviel ich weiß, gibt es keine wirklich frühen Exemplare. Ein noch einfacheres Gerät vermag sich jeder Achtjährige aus einem Stück Holz zu schnitzen: einen Zweiklingenpropeller. Auf einem Schaft oder einer Nadel dreht er sich frei im Wind. Das scheint eine Entdeckung zu sein, die man vor fünfhundert Jahren hätte machen können, vor tausend – ja, vor fünftausend, als die ägyptischen Handwerker weitaus kompliziertere Dinge herstellten. Den Propeller auf eine starre Welle zu setzen, die Welle zu drehen und Wind zu erzeugen, das Ding ins Wasser zu stecken und sich Pumpen und Antrieb vorzustellen – das scheinen die naheliegenden, selbstverständlichen Schritte zu sein, und doch hat sie jahrtausendelang niemand getan. Man stelle sich vor, wenn man kann – man kann aber nicht —, wie die Geschichte der Zivilisation aussähe, wo wir technologisch jetzt stehen würden, hätte es schon vor tausend Jahren Propeller und Pumpen gegeben – oder vor dreitausend oder fünftausend Jahren! All das, weil es an einem schnitzenden Kind, an einem neugierigen Wilden fehlte, dessen Blick auf ein eingerolltes Blatt, das auf einem Spinnenfaden rotierte, hätte fallen müssen. 129
Noch ein Beispiel, und diesmal beginnen wir mit modernem Material und blicken zurück. Wenn man ein eineinhalb Millimeter großes Loch in ein Blech bohrt und einen Tropfen Wasser auf das Loch gibt, spannt sich der Tropfen dort. Die Schwerkraft zieht ihn nach unten, während die Oberflächenspannung ihn kuppeiförmig nach oben wölbt. Vom Rand des Blechs aus betrachtet, bildet der Tropfen eine Linse – und er ist eine. Wenn man hindurchblickt, das Auge nah am Tropfen, und etwas, was gut beleuchtet ist, durch ihn betrachtet, stellt man fest, daß die flüssige Linse eine Brennweite von etwa eineinviertel Zentimeter und eine etwa fünfzigfache Vergrößerung hat. Wenn jemand zufällig ein kostenloses Mikroskop möchte: Man bohrt das Loch in die Mitte des Bodens einer Suppendose, dann schneidet man in die Dosenwand drei Seiten eines Quadrats – rechts, links, oben – und biegt die Lasche so nach vorn und hinunter bis zu fünfundvierzig Grad, daß das Licht eindringt und nach oben gespiegelt wird. Man schneidet einen Streifen Glas und bringt ihn so an, daß er in der Dose liegt, unter dem Loch. Man legt das Objekt – ein Fliegenbein, ein Pferdehaar, was man will – auf das Glas, gibt einen Tropfen Wasser in das Loch, und man sieht das Objekt fünfzigfach vergrößert. Ein Tropfen Glyzerin übrigens ist zwar nicht ganz so klar, funktioniert aber beinahe ebensogut und verdunstet nicht. Mikroskope und ihre unvermeidlichen Nachkommen, die Fernrohre, tauchten nicht vor dem achtzehnten Jahrhundert auf. Warum nicht? Gab es nicht zahllose Tausende von Schafhirten, die an zahllosen betauten Morgenstunden vor sich frühes Sonnenlicht und Wassertropfen auf Spinnweben oder in durchlöchertem Laub hatten? Weshalb schaute nicht einer, nur ein einziges Mal, durch einen Tautropfen auf die Wirbel an seinem Daumen? Und warum kamen die großartigen Glaskünst130
ler in Tyrus und Florenz und im alten Babylon nie auf den Gedanken, einmal durch ihre geblasenen und geformten Schalen und Vasen zu blicken statt auf sie? Kann sich jemand vorstellen, wie diese Welt aussähe, wenn das Brennglas, das Mikroskop, die Brille, das Fernrohr dreitausend Jahre früher erfunden worden wären? Vielleicht teilt man inzwischen mit mir eine Art ehrfürchtiges Staunen vor der menschlichen Blindheit, der menschlichen Dummheit. Dann möchte ich noch eine andere Art von Blindheit anfügen: die Überzeugung, daß alle solchen einfachen Dinge inzwischen beobachtet und in Gebrauch genommen sind und daß man alle ihre Prinzipien versteht. Weit gefehlt. Es sind in der Natur noch zahllose Beobachtungen zu machen, und viele könnten noch von einem analphabetischen Schafhirten gemacht werden, aber zusätzlich zu diesen hat unsere eigene Technologie ein ganz neues Spektrum von Erscheinungen erzeugt, die nur auf dieses eine aufmerksame Auge warten, diesen einen nicht zu täuschenden Verstand, der sieht, was vor seiner Nase liegt – die nicht einmal, nicht selten, sondern immer und immer und immer wieder danach schreien, entdeckt und entwickelt zu werden. Eine solche Erscheinung schreit heute und jeden Tag an mindestens drei Orten in jedem Heim – im Badezimmer, in der Küche und, wenn Sie ein Bankkonto haben, in Ihrer Tasche. Wenn man ein Blatt Toilettenpapier, ein Papierhandtuch oder einen Scheck aus dem Scheckbuch abreißt, dann reißt in durchschnittlich zwei von fünf Fällen das Blatt durch, es wird nicht an der Perforierung abgetrennt. Dasselbe gilt für Notizblöcke, Briefmarken, Schnelltrennsätze und praktisch alle anderen Dinge mit Perforierung. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand des Verfassers ist die131
se Erscheinung bislang nicht erschöpfend untersucht worden. Ich möchte das nachholen. Wir beginnen mit der durch Versuche nachweisbaren Tatsache, daß in einem großen Prozentsatz der Fälle das Papier anderswo reißt als an der Perforation. In allen solchen Fällen liegt die Schlußfolgerung nahe: daß die Perforierung kräftiger ist als die nichtperforierten Teile. Betrachten wir nunmehr, was eine Perforierung ist – das heißt, was geschieht, wenn ein Stoff perforiert wird. Schlicht und einfach: Es wird Material entfernt. Wenn nun, in diesen besonderen Fällen, der Stoff fester wird, sobald man einen kleinen Teil davon entfernt, wäre es logisch anzunehmen, daß der Stoff noch fester werden muß, wenn man noch mehr entfernt. Aufgrund der logischen Schlußfolgerung erscheint es vernünftig, die Hypothese aufzustellen, daß der Stoff um so fester und stärker wird, je mehr Material man entfernt, bis wir schließlich einen Stoff erzeugen würden, der aus gar nichts besteht – und unzerstörbar wäre! Wenn das konventionelle Denken es Ihnen erschwert, diesem einfachen Gedankengang zu folgen, oder wenn Sie ihn, obwohl sie ihn begreifen, nicht akzeptieren können, so darf ich Sie an die Bemerkung eines Herrn aus Korsika namens Napoleon Bonaparte erinnern: ›Wenn man feststellen will, ob etwas unmöglich ist, muß man es versuchend Genau das habe ich getan, und die Ergebnisse sind bisher außerordentlich vielversprechend. Ich ziehe es vor, auf meine Methoden oder die von mir verwendeten Stoffe nicht näher einzugehen – ich will nur sagen, daß ich nicht mehr mit Papier arbeite. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß die Theorie begründet ist und das Endresultat erreicht werden kann. Ein abschließendes Wort – das eigentlich unnötig ist, denn wie alles an diesem Verfahren diktiert und beschreibt jeder Schritt 132
schon den nächsten – wird kurz die Vorteile dieses neuen Stoffes schildern, den ich kurz und bündig ›Nichts‹ nennen will: Das zu perforierende Urmaterial ist nicht teuer und wird immer in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Die Verarbeitung verlangt zwar ein hohes Maß an Präzision bei der Anbringung der Löcher, aber sie läßt sich leicht automatisieren, und die Maschinen werden, sobald sie einmal konstruiert und gebaut sind, wenig Wartung erfordern. Und das Wesentlichste – man möchte beinahe sagen, das Angenehmste – an dieser Verarbeitung ist, daß sie durch ihre Natur (das Entfernen von Material) die Wiedergewinnung von beinahe hundert Prozent des ursprünglichen Materials gestattet. Aus diesem wiederverwendbaren Material kann man erneut Folien herstellen, die ihrerseits durch wiederholte Perforierung zu weiterem Nichts verarbeitet werden können, so daß das ursprüngliche Material immer und immer wieder verwendet und unbegrenzte Mengen Nichts hervorbringen kann. Es lassen sich einfache tragbare Geräte herstellen, die Nichts zu Folien, Stäben, Schläuchen, Trägern oder Maschinenbauteilen beliebiger Biegsamkeit, Flexibilität, Verformbarkeit oder Starrheit verarbeiten. In der endgültigen Form ist Nichts unzerstörbar. Seine Permeabilität, Leitfähigkeit und chemische Reaktionsfähigkeit gegenüber Säuren und Basen sind allesamt Null. Es kann in dünnen Folien als Verpackungsmaterial hergestellt werden, so daß verderbliche Güter in Nichts verpackt sich attraktiv auf Regalen aus Nichts darbieten. Ganze Gebäude, Wohnhäuser, Fabriken, Schulen lassen sich daraus herstellen. Da es sogar in eng gewickelten Rollen nichts wiegt, können unbegrenzte Mengen für praktisch nichts transportiert werden, und es läßt sich so günstig stapeln, daß ich bislang noch keine Methode finden konnte, um zu berechnen, wieviel davon in ei133
nen bestimmten Raum paßt – sagen wir in einen einzigen Lastwagen oder in ein Flugzeug, die sicherlich genug Nichts transportieren könnten, um eine ganze Großstadt zu bauen, mit Straßen zu versehen und auszustatten. Da Nichts – wenn erwünscht – unwandelbar und unzerstörbar ist, erscheint es durchaus machbar, zeitweilig oder ständig Kuppeln über Häusern, Städten oder ganzen geographischen Gebieten zu errichten. Flugzeuge zu sichern, ist jedoch eine andere Sache: Einen Luftstrom durch die unsichtbare Barriere von Nichts und über die Tragflächen eines Flugzeugs zu leiten, bringt gewisse Probleme mit sich. Andererseits würden Erdsatelliten von ihnen nicht betroffen sein. Zusammengefaßt: Die logischen, zur Herstellung von Nichts führenden Schritte scheinen durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen, und die der Menschheit daraus erwachsenden Vorteile sollten es rechtfertigen, sie zu ergreifen. Miss Princes Stimme ließ eine gewisse Ehrfurcht erkennen, als sie aus dem kleinen, schwarzen Kasten drang und sagte: »Ein Mr. Brown ist hier und möchte Sie sprechen.« Henry Mellow runzelte die Stirn, als dachte er ›Ach du meine Güte‹, dann sagte er: »Schicken Sie ihn herein.« Er kam herein, schwarzer Anzug, schwarze Schuhe, schwarze Krawatte, und in den Augen nichts. Henry Mellow stand nicht auf, war aber freundlich genug, um zu gestikulieren: »Setzen Sie sich, Mr. Brown.« Es gab nur einen Stuhl zum Sitzen, und er war richtig placiert, also setzte Mr. Brown sich. Er wies sich mit etwas Ledrigem aus, das wie eine Schnappschildkröte mit einem Maul voller Orden auf- und zuklappte. »Was kann ich für Sie tun?« »Sie sind Henry Mellow.« Mr. Brown fragte’nicht, er stellte fest. 134
»Ja.« »Sie haben ein Memo geschrieben über Ni-, über einen neuen Stoff zu Bauzwecken.« »Ach das, ja. Sie meinen Nichts.« »Das kommt darauf an«, sagte Mr. Brown ohne Humor. »Sie haben die Forschungs- und Entwicklungsarbeit weitergetrieben.« »Habe ich das?« »Das möchten wir wissen.« »Wir?« Mr. Browns Hand tauchte in seine schwarze Jacke und wieder heraus und führte noch einmal die Schnappschildkröte vor. »Oh«, sagte Henry Mellow. »Nun, angenommen, wir nennen es einfach eine Denkübung – eine Unterhaltung. Wir schicken es, sagen wir, einer Zeitschrift als erfundene Geschichte.« »Das können wir nicht zulassen.« »Wirklich nicht?« »Wir leben in einer realen Welt, Mr. Mellow, wo Dinge geschehen, die Leute wie Sie vielleicht nicht verstehen. Ich weiß nun nicht, ob Ihre Idee ihre Meriten hat oder nicht und wie weit Sie damit gekommen sind, aber ich bin hier, um Ihnen den Rat zu geben, auf der Stelle damit Schluß zu machen.« »So? Warum, Mr. Brown?« »Wissen Sie, wie viele Konzerne davon betroffen wären – falls es so etwas wirklich gäbe? Bauindustrie, Bergbau, Transport, vorfabrizierte Teile – alles. Nicht, daß wir das ernst nehmen, wohlgemerkt, aber wir wissen einiges über Sie, und wir müssen es trotzdem ernst nehmen.« »Tja, ich bin Ihnen dankbar für den Rat, aber ich glaube, ich werde es trotzdem hinausschicken.« »Dann«, fuhr Mr. Brown fort, so als habe er nichts gehört, 135
und seine Stimme klang plötzlich sonor wie von der Kanzel. »Dann -ist da das Militär.« »Das Militär.« »Die Verteidigung, Mr. Mellow. Wir können nicht zulassen, daß einfach irgend jemand Pläne in die Hand bekommt, wie man undurchdringliche Kuppeln über Städten errichtet – angenommen, in Übersee baut sie jemand zuerst?« »Glauben Sie, jemand baut sie in Übersee zuerst, wenn eine Menge Leute das in einer Zeitschrift lesen?« »Das ist die Art, wie wir denken müssen.« Er beugte sich näher heran. »Hören Sie, Mr. Mellow – haben Sie sich überlegt, daß Sie da vielleicht eine Goldgrube für sich entdeckt haben? Sie wollen das doch nicht der ganzen Welt überlassen.« »Mr. Brown, ich will keine Goldgrube für mich allein. Ich will überhaupt keine Gruben, für niemand. Ich möchte nicht, daß die Menschen noch mehr Wälder abholzen oder noch mehr Löcher in den Boden graben, um herauszuholen, was sie nicht mehr hineinstecken können, nicht, wenn es bessere Methoden gibt. Und ich möchte nicht dafür bezahlt werden, eine bessere Methode nicht anzuwenden, wenn ich sie gefunden habe. Ich möchte einfach, daß die Leute haben können, was sie wollen, ohne einen ganzen Planeten dafür auszurauben, und sie sollen fähig sein, sich zu schützen, wenn sie müssen, und es sich recht schnell und recht billig bequem einzurichten, selbst wenn das heißt, daß ein paar Reiche es sich zusammen mit ihnen bequem machen müssen. Sie brauchen deswegen nichts zu entbehren, Mr. Brown – sie sollen es nur bequem haben.« »Ich dachte mir schon so etwas«, sagte Mr. Brown. Seine Hand tauchte erneut in die schwarze Jacke und wieder heraus, aber diesmal umfaßte sie einen ganz kleinen Gegenstand, der 136
aussah wie eine langgezogene Spielzeugpistole. »Sie können freiwillig mitkommen, oder ich muß das hier anwenden.« »Dann wenden Sie es lieber an«, sagte Henry Mellow bedauernd. »Es ist hübsch«, sagte Mr. Brown. »Es hinterläßt nicht einmal Spuren.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Henry Mellow, als die kleine Waffe ein kurzes, explosives Zischen von sich gab. Die kleine Nadel, die sie abfeuerte, löste sich mitten in der Luft auf. Mr. Brown wurde grau im Gesicht. Er hob die Waffe noch einmal. »Geben Sie sich keine Mühe, Mr. Brown«, sagte Henry Mellow. »Zwischen uns ist eine Wand aus Nichts, und sie ist undurchdringlich.« Mr. Brown, die Waffe noch immer in der Hand, stand auf und wich zurück – und prallte an Nichts hinter sich. Er drehte sich herum, schlug wild auf die Wand ein, lief zur Seite und prallte an eine unsichtbare Barriere, so daß er auf den Teppich fiel. Er machte ein Gesicht, als wolle er weinen. »Setzen Sie sich auf den Stuhl«, sagte Henry Mellow nicht unfreundlich. »Bitte. Da. Schon besser. Also, dann hören Sie mir zu.« Und in diesem Augenblick schien mit Henry Mellow etwas vorzugehen: Mr. Brown erschien er größer, breiter und auf irgendeine Weise realer als vorher. Es war, als habe sein Beruf ihn lange Zeit daran gehindert, die Menschen wirklich zu sehen, und plötzlich konnte er es wieder. Henry Mellow sagte: »Ich habe viel länger Zeit gehabt, das alles zu durchdenken, als Sie, und außerdem denke ich nicht so wie Sie. Ich glaube, ich denke überhaupt nicht wie andere Menschen. Das hat man mir jedenfalls gesagt. Aber so sieht es aus: Wenn ich versuchen würde, diese Sache zu behalten und allein 137
zu kontrollieren, würde ich keine zehn Minuten am Leben bleiben. Was ist los, Mr. Brown? Hat das schon jemand gesagt? Kein Zweifel. Oder ich könnte es einfach weglegen und vergessen, weil jetzt viele Leute sterben und in der Zukunft noch mehr sterben könnten, weil es fehlt. Ich habe mir sogar überlegt, alles drucken zu lassen und den Text von einem Flugzeug aus millionenfach abzuwerfen. Aber Sie wissen ja, was ich geschrieben habe, wie viele Schafhirten nicht in wie viele Tautropfen geblickt haben; das könnte wieder vorkommen – wahrscheinlich sogar, und ich könnte so etwas nicht tausendmal tun. Deshalb habe ich beschlossen, das zu tun, was ich sagte – ich veröffentliche es in einer Zeitschrift. Aber nicht mit Einzelheiten. Ich möchte nicht, daß jemand glaubt, er habe es gestohlen, und ich möchte nicht, daß einer damit viel verdient und mich dann sucht, entweder um mich zu beseitigen (das könnte vorkommen) oder um mit mir zu teilen, weil ich es nicht mit einer Person oder mit zwei oder mit einer Firma teilen will – ich will es mit allen teilen, alles Gute, was daraus entsteht, alles Schlechte. Das verstehen Sie nicht, nicht Wahr, Mr. Brown? Sie werden gleich einen Arzt, einen Bekannten von mir, kennenlernen, der Ihnen etwas gibt, was Ihnen hilft, das Ganze zu vergessen. Es ist ganz harmlos, aber Sie werden sich an nichts erinnern. Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen deshalb noch etwas sagen: Unten ist noch ein Mr. Brown. Mr. Brown X, sagte er, nennen Sie ihn, und er wollte nur das Verfahren – nicht für sich, nicht für das Amt, sondern für seine Rasse; er sagte, sie wüßten wirklich, wie man mit Nichts auskommen müsse.« Er lächelte. »Und ich möchte nicht, daß Sie bedrückt sind, aber Ihr Amt ist nicht ganz so flink auf den Beinen, wie Sie glauben. Vorige Woche kam ein Mann mit einem mitteleuropäischen Akzent und ein Mann, der Ukrainisch sprach, dann erschienen zwei Orien138
talen und einer mit Bart aus Kuba. Ich wollte das nur erwähnen … Leben Sie wohl, Mr. Brown. Sie werden das ganze Gespräch vergessen, aber wenn Sie einen Scheck schreiben und ihn auseinanderreißen, sobald Sie ihn heraustrennen wollen, oder wenn Sie ein Papierhandtuch oder eine Briefmarke brauchen und die Perforierung hält, dann wird Ihnen vielleicht etwas sagen, eine Minute stillzuhalten und darüber nachzudenken.« Er lächelte und drückte auf eine Taste. »Achtung, Doktor.« »Bin bereit«, ertönte es aus dem Lautsprecher. Henry Mellow betätigte etwas unter der Schreibtischplatte, und der Stuhl mit dem Besucher sank durch den Boden. Einen Augenblick später tauchte er leer wieder auf. Henry Mellow drückte auf eine andere Taste, und die Folien Nichts glitten hinauf und davon, um auf den nächsten zu warten. Wenn es passiert, dann sagen Sie also nicht einfach ›Verdammt noch mal‹, um es gleich wieder zu vergessen. Stutzen Sie, und denken Sie darüber nach. Irgend jemand wird das Antlitz der Erde verändern. Vielleicht Sie.
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Onkel Fremmis »Mein Gott«, rief ich, »es ist – das kann nicht sein.« Dann, ein bißchen betroffen davon, daß meine Stimme in diesen weiten, endlosen Korridoren nicht hallte – na ja, die Läufer waren alle fünf Zentimeter dick –, fügte ich beinahe scheu hinzu: »Onkel Fremmis?« »Aber ja, mein Sohn«, sagte er. Ich muß sagen, ich war schockiert. Onkel Fremmis – eigentlich war er der Onkel meiner Mutter – war ein zäher, humorvoller, grauhaariger Mann, als ich noch kaum richtig laufen konnte. Als ich erwachsen war und bevor ich das Seeland verließ – es sind zwar nur Berge dort, aber sie nennen es Seeland –, war Onkel Fremmis noch immer ein zäher, humorvoller, grauhaariger Mann. Er wohnte ziemlich für sich am Ende eines langen Gebirgskamms mit einer Art Teich – eigentlich nur einer breiten Stelle im Bach – auf der einen und einem tiefen, nebligen Tal auf der anderen Seite. Es war wohl ein Tal, das keiner wollte -es ist jetzt nicht anders als damals, und Onkel Fremmis sah mit Vorliebe den Himmel hell werden, bevor die Sonne aufging, und er beobachtete die Kaninchen und alles mögliche, die roten und grauen Eichhörnchen und die Stärlinge und die Rehe, die auf den steilen Wiesenhängen ästen, bis die Sonne den Nebel wegbrannte. Er trieb sich oft in der Stadt herum und war sehr beliebt, wenngleich er, soviel ich weiß, keinem Menschen besonders nahestand. Wenn er Vorräte brauchte, machte er alles mögliche – er hackte Holz, er hob Brunnen aus, er half beim Sägewerk aus. Mehl und Salz und Nadeln, das waren so die Sachen, die er kaufte. Gelbe Kernseife und Leinenhosen und alle paar Jahre einen Eimer und eine Axt, einen Schleifstein, einen Krug. 140
Er machte sich Feinde; es war immer derselbe Typ. Der erste, an den ich mich erinnere, war ein Hufschmied. Er haßte Onkel Fremmis richtig und ging eines Tages auf der Straße mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, und Onkel Fremmis grinste und ergriff sie, und der Hufschmied riß ihn von den Beinen und trat auf ihm herum, was keinem von den beiden guttat, denn die Leute hörten auf, zu ihm zu gehen, außer wenn es wirklich sein mußte, und wenn die Leute ohne Hufschmied auskommen wollen, dann geht das lange. Ich erinnere mich, daß ein Farmer fast drei Jahre lang einen Heurechen mit nur einem Rad benützte, statt sich beim Hufschmied die Achse richten zu lassen. Die rechte Seite des Rechens fuhr auf einer Kufe. Onkel Fremmis unternahm gegen den Hufschmied nie etwas. Nur an dem Tag, als der Schmied das Schild ›Zu verkaufen‹ annagelte, stand er auf der Straße und lachte. Die Jahre vergingen in dieser Gegend auf irgendeine Weise langsamer, aber sie brachten trotzdem neue Dinge. Die Arbeitspferde gingen den Weg der Kutschpferde, und alle hatten Traktoren, und es war der alte Pidgeon, dem die Tankstelle gehörte, der Onkel Fremmis so gemein beschimpfte. Onkel Fremmis achtete gar nicht darauf, und Pidgeon kaufte sich in den Gemischtwarenladen ein und versuchte Onkel Fremmis den Kredit zu nehmen, weil es bei Onkel Fremmis auf- und abging, und wenn es abwärtsging, kam es auf das Anschreiben an, und er ließ in seinem ganzen Leben keine Rechnung unbezahlt und auch nie mehr als höchstens vierzig Dollar zusammenkommen. Als sich das herumsprach, wurde das Geschäft in der Tankstelle und der Traktorwerkstätte so schlecht, daß der alte Pidgeon kaum noch seine Rechnungen bezahlen konnte. Die Traktoren hatten kaum noch Defekte, und wenn, dann gab es immer einen Nachbarn, der den seinen auslieh, und man holte die Pfer141
de von der Weide und spannte sie wieder vor. Bis man sich umschaute, mußte der alte Pidgeon seinen Anteil am Laden verkaufen, und dann bekam Onkel Fremmis wieder Kredit. Die Tankstelle und die Werkstätte florierten auch erst wieder, als der alte Pidgeon verkauft hatte. Und als ich in die Oberschule ging, gab es einen schielenden jungen Mann namens Skutch, der ein Elektro- und Radiogeschäft aufmachte. Er verdiente gut, bis er Onkel Fremmis zum zweitenmal etwas antun wollte. Beim erstenmal hatte er sich auf einen Unfall berufen, als er ihn bat, ihm nachmittags zu helfen, wobei Onkel Fremmis einen Draht halten sollte, aber dann tat er etwas, was Onkel Fremmis einen solchen Schlag versetzte, daß er dalag und seine Zunge verschluckte, wahrhaftig, und das wäre das Ende für ihn gewesen, wenn nicht Dr. Weiss vorbeigekommen und die Zunge mit dem Finger zurückgeholt und ihn wieder auf die Beine gebracht hätte. Das zweitemal ging Skutch mit seinem Essex-Automobil auf Onkel Fremmis los; er sagte, das sei auch ein Unfall gewesen, aber wenn das stimmte, dann war es einer, der einen halben Kilometer weit die Beasley-Straße hinaus und auf Roudenbushs Weizenfeld führte, wobei Onkel Fremmis wie ein Hase sprang und Haken schlug, bis Skutch Roudenbush auf seinem Traktor sitzen und zuschauen sah, und da hörte er auf. Danach ging Skutchs Geschäft stark zurück, und wenn man in der Stadt zu tun hatte und bei Skutch kaufte, dann ging auch das eigene Geschäft zurück, und so hielt Skutch nicht lange durch. Sooft Onkel Fremmis mehr als nur das Notwendigste brauchte, ging er mit der Wünschelrute Wasser suchen. Er war einer, der Wasser fand; er schnitzte ein Stück Holz von einem Apfelbaum – manche Wassersucher nehmen Weidenholz, aber Onkel Fremmis schnitt immer ein kleines Y von einem grünen 142
Apfelbaum – und ging damit herum, und da, wo es nach unten zeigte, sagte er: graben, und da war der Brunnen. Er machte das nur dreimal, soviel ich mich erinnere, und es kostete jedesmal fünfhundert Dollar, und er bekam sie, weil er ganz ehrlich war: Wenn er sagte: graben, und da war kein Wasser, dann zahlte man nichts. Das einzige Risiko, das man trug, waren die Kosten für das Graben. Er hatte bei allen drei Gelegenheiten Erfolg und bekam sein Geld. Er wurde ziemlich berühmt dafür und erhielt viele Angebote, aber er nahm sie nicht an. Er hielt nichts von der Einkommensteuer und wollte in keinem Jahr mehr verdienen als fünfhundert Dollar. Soviel ich weiß, heiratete er nie. Er machte Besuche, und es ist ein Beweis dafür, was für ein Ansehen er genoß, daß man ihn sein ließ, auch wenn sonst viel geklatscht wurde, nur ab und zu stieß eine Frau eine andere an und zwinkerte ihr zu und brachte sie zum Erröten. Alles in allem brauchte er deshalb nicht viel mehr als das, was er mit der Aushilfe hier und dort verdiente, außer wenn mal etwas Besonderes war oder wenn er nach einer schlechten Zeit im Laden etwas zurückzahlen mußte. Etwas Besonderes war ein kleiner Lieferwagen, Modell 1-NC. Es war der letzte Vierzylinder, den Henry jemals baute. Den Jeep zähle ich nicht, weil der gar nicht von Henry stammte. Der Wagen hatte vorn einen komischen kleinen Popcornröster und dahinter das größte Vierganggetriebe, das man je gesehen hat, so daß man im ersten Gang an einer Plakatwand hinauffahren konnte, wenn man einen Weg fand, das Ding festzupicken. Der Tacho ging nur bis neunzig, was kindisch ist, wenn jemand je einen 1-NC gefahren hat, wie bei kleinen Kindern, die um eine Million wetten; bergab und mit Rückenwind schaffte der Wagen vielleicht fünfundsechzig Kilometer in der Stunde. Jedenfalls verliebte sich Onkel Fremmis in so ein Ding, fand Wasser 143
für einen Sonntagsfarmer in Clearwater und nahm das Geld und kaufte den Wagen. Er ließ sich den Röster von Ed Varney herausnehmen und einen umgebauten V8 von Sears & Roebuck einbauen und eine Hinterachse von einem Reo. Ed machte das, weil Onkel Fremmis bei mechanischen Dingen der beste Wassersucher der ganzen Gegend war, wenn Sie mich verstehen. Jedenfalls wurde der alte 1-NC mit grünem, abblätterndem Lack und Rostflecken und allem zu einer Art Flugbombe ohne Tragflächen. Es war ein ungeheuerliches Erlebnis, mit Onkel Fremmis darin zu fahren. Die Tachonadel ging genau bis 90 und hing da an einem Stift fest, und dann sah man nur noch, wie sie sich durchbog. Die Karosserie war sehr hoch und schmal, und wenn sie zu schlingern anfing, übertrug sich das auf die linken Räder und dann auf die rechten Räder, und man wußte überhaupt nicht, wie einem geschah, bis man Onkel Fremmis fragte und er es einem erklärte. Andererseits, so ungeschickt Onkel Fremmis auch mit einem Schraubenschlüssel war, fahren konnte er, und er kippte mit dem Ding nie um. Niemand erfuhr jemals ganz genau, wie schnell es wirklich ging. Er probierte es einmal auf der Staatsstraße aus, und ein Polizist auf einer schweren Maschine verfolgte ihn eine Weile und ließ ihn dann fahren, weil er Angst davor hatte, ihn einzuholen; später sagte er, daß er einfach nicht ertragen konnte, das zu sehen, was gewiß geschehen mußte, aber jedenfalls gab er bei Hundertvierzig auf und erwischte ihn bei der Rückfahrt. Onkel Fremmis kam, weil er Onkel Fremmis war, ohne Strafanzeige davon, und der Polizist steckte eineinhalb Stunden lang den Kopf unter die Motorhaube und unter das Fahrzeug und bestaunte die Hinterachse. Der Polizist gewann später Rennen für Amateurfahrer und pflegte von Onkel Fremmis zu erzählen und davon, daß er ihn auf diesen Sport gebracht hatte, aber das ist eine andere Geschichte. 144
Jedenfalls war es der Lieferwagen, durch den ich Onkel Fremmis zu begreifen anfing. Ich hatte ein Mädchen, ich meine, ich wollte sie haben, die eine Mutter hatte, die eine Kuh hatte, die ein Kalb hatte, die mich nicht mochte, die Mutter, meine ich; und ich wußte, ich würde nicht mal bis zu den Barrikaden kommen, geschweige denn drüber, wenn ich es nicht fertigbrachte, daß mich die Mutter mochte. Nun, sie verkaufte das Kalb an einen Farmer drüben in West Fork, der es nicht holen wollte, und sie wollte es ihm nicht bringen, wenn er nicht zwei Dollar extra zahlte, und so stand es, er wollte das Kalb, und sie wollte das Geld, und sie sagte, holen Sie es, und er sagte, bringen Sie es, und sie sagte, für zwei Dollar, und er sagte, nein, also borgte ich mir den Wagen. Ich borgte Onkel Fremmis’ Wagen, aber das Kalb brachte ich doch nicht nach West Fork. Ich bekam das Kalb gar nicht. Ich fuhr nur die halbe Strecke zu ihrer Mutter, dann wendete ich irgendwie und fuhr das Ding zu Onkel Fremmis zurück. Es hatte nämlich ein Gaspedal, das hinten, unten am Boden, ein Scharnier besaß, und der Stift war schon lange aus dem Scharnier herausgerutscht. Mit einem Scharnier, das funktionierte, bewegte das Pedal einen Draht, der Benzin zuführte. Ohne den Stift legte sich das Pedal bei jeder Bewegung mit dem Fuß auf die Seite, und der Motor starb, wenn man nicht gerade den ersten Gang eingelegt hatte. Sie haben sicher mal einen Besenstiel auf dem Finger balanciert – jeder hat das schon gemacht. Tja, und genau das mußte man mit dem Fuß auf dem Gaspedal tun, nur daß man den Fuß nicht so gut beherrscht wie den Finger. Es hört sich vielleicht wie eine Kleinigkeit an, aber versuchen Sie das mal mit einem großen V-8-Motor vorn und einer Zweiganghinterachse hinten und einem klappernden, schwankenden Lieferauto ringsherum und einem Kopf voller Pläne, wie man 145
das mit dem Kalb schaukelt und den gerechten Lohn dafür einstreicht. Ich war sozusagen frustriert. Onkel Fremmis lachte nur. Aber ich begann zu begreifen, was ich wohl schon lange Zeit gewußt hatte – Onkel Fremmis war nicht wie andere Leute. Ich meine, er hatte nicht einmal ein Zündschloß an dem Fahrzeug, nur einen Kippschalter. Er hatte nur ein – Er hatte eine Art, daß alles für ihn lief. Man darf nun nicht glauben, das hieße, daß er etwas reparieren konnte. Das heißt es nicht. Er konnte gar nichts, außer Essen kochen. Ich meine das so: Er hatte ein altes Radio im Haus, ein Autoradio, das er mit einer Ersatzbatterie betrieb, die er ab und zu mit der im Auto austauschte. Manchmal blieb das Radio auf einer Station, aber innen war es schon recht alt, und es gab dann nur noch ein Flüstern von sich, und wenn man es aufdrehte, damit man etwas verstehen konnte, fing es plötzlich so laut an, daß man sich auf die Zunge biß. Onkel Fremmis fuhr mit der Hand darüber, hin und her und noch einmal hin und her, und dann kam die Hand zum Stillstand und bewegte sich vielleicht einen halben Zentimeter, und dann wumm! haute er mit dem Handballen drauf, und das Ding lief wieder einen Monat lang normal. Das ist auch der Grund, warum er so viele Freunde und eine ganze Anzahl richtiger Feinde hatte. Onkel Fremmis war einfach nicht wie die anderen. Es war ungefähr um diese Zeit – das Mädchen mit der Mutter und der Kuh und dem Kalb und so –, daß ich anfing, in Schwierigkeiten zu geraten. Das Leben war damals so einfach und gut, daß ich nicht wußte, wie einfach und gut es war. Es begann wohl, als ich mir von Sam Pritchard zwanzig Dollar borgte und versprach, sie nach zwei Wochen zurückzuzahlen, 146
und es nicht konnte. Ich lieh mir dreißig vom alten Joe im Friseurladen, damit ich Sam bezahlen konnte, aber ich brauchte ein paar Dollar für mich. Als ich Joe bezahlen mußte, ging ich wieder zu Sam. Er war bereitwillig, hatte aber nur zwanzig, also fehlten mir zehn Dollar. Ich brauchte etwas für mich, also borgte ich zwanzig bei Hank Johanssen, und dann fing es an, kompliziert zu werden. Auf irgendeine Weise trieb ich Sam und Joe auf je dreißig Dollar zurück und trug das Geld an die sechs Wochen lang zwischen den beiden hin und her. Dann konnte ich Hank nicht bezahlen, er wurde ganz wütend und sagte Joe, er sollte vorsichtig sein, und beim nächstenmal, als ich Joe zwanzig Dollar bot, sagte er nein. Ich dachte eine Weile darüber nach und kam dann auf eine gute Idee, ich glaube immer noch, daß sie gut war: Ich sagte zu Joe, er sollte Sam dreißig Dollar geben, und nach zwei Wochen könnte Sam ihm dreißig Dollar geben, und ich wäre draußen und könnte mich auf Hank konzentrieren. Und er warf mich zum Laden hinaus. Da dachte ich an Onkel Fremmis, und ich dachte so: a) wußte kein Mensch, wieviel Onkel Fremmis hatte, also hatte er vielleicht fünfzig Dollar; b) er brauchte eigentlich nie Geld, also schadete es wahrscheinlich nichts, wenn er es nicht zurückbekam; und c) er hatte mir sein Auto geliehen, warum sollte er mir also nicht auch Geld leihen? Ich ging gleich hin, aber er war nicht da und das Fahrzeug auch nicht. Ich erkundigte mich und erfuhr, daß er damit weggefahren war, keiner wußte, wohin, und er kam nie zurück. Ich entsinne mich, daß ich richtig wütend war auf Onkel Fremmis, weil er mich im Stich gelassen hatte. Ich blieb noch eine Weile in der Stadt, aber es wurde auf die Dauer zu kompliziert. Ich bin nie so richtig dahintergekommen, wie das alles passierte, aber es kam so weit, daß ich nir147
gends mehr etwas borgen konnte, und wenn ich nichts borgen konnte, wie sollte ich bezahlen? Es war viel einfacher, in die Großstadt zu gehen, dann konnten sie sich selber zurechtfinden. In der Großstadt ging es mir viel besser, womit ich meine, daß ich nach drei Jahren um die zwölftausend Dollar schuldig war. Ich dachte immer wieder an den Mann, der eine der erfolgreichsten Motelketten in den Staaten gegründet hatte. Als Teenager hatte er beschlossen, daß er mit fünfundzwanzig Jahren eine Million Dollar Schulden haben wollte. Er schaffte es und wurde ein großer Mann. Ich hatte wohl nicht sein Talent. Ich brauchte viel länger, und die Welt scheint etwas unduldsam bei Leuten zu sein, die lange brauchen. Ich war auf einer Party gewesen, ein Mädchen hatte mich mitgenommen, weil sie meinte, andere Leute würden mich komisch finden, weil man es nie los wird, wenn man vom Land stammt, und ich ging auf einen Mann im seidenen Anzug los, der in diesem Wolkenkratzer ein Büro hatte. Ich hatte einen Grund, aber auch seine Karte und hoffte, daß er nicht mehr wußte, wie betrunken er gewesen war, als er sie mir gegeben hatte, und ich kam in sein Büro und ging ihn um fünfhundert Dollar an, und als er fragte, wofür, fiel mir nichts Gescheites ein, also warf er mich hinaus. Deshalb war ich im Haus und traf Onkel Fremmis. »Was, zum Teufel, machst du denn hier, Onkel Fremmis?« sagte ich zu ihm. Er trug eine blaue Arbeitshose, ein blaues Hemd und Schlüssel am Gürtel. Er hatte keinen Besen, keine Bohnermaschine dabei, aber das brauchte er nicht. Es war aber wirklich Onkel Fremmis. »Hab’ keine Zeit, dir das zu erzählen«, sagte er. »Komm mit, dann zeige ich es dir.« 148
Er hetzte mich durch den Korridor. Seine Hand auf meinem Arm war eisenhart, und er bewegte sich sicher und schnell; die Jahre hatten ihn überhaupt nicht verändert. Ich meine nicht die Jahre, seitdem er die Stadt verlassen hatte, sondern die Jahre, seitdem ich auf ihn zugewackelt war, das erstemal, als kleiner Bub. Wir kamen an Türen mit höflichen, kleinen Namen dran vorbei – die meisten hatte ich irgendwann in der Zeitung gelesen, andere kannte ich nicht. Ein Name fiel mir aber auf, und ich blieb stehen und sagte: »Mensch.« (Semlar Warburg, Dr. med.) »Mensch, ist das der, der – « »Das ist er«, sagte Onkel Fremmis. Wir sprachen über den berühmtesten Psychiater auf der ganzen Welt, der Bücher geschrieben hatte und eine ›Schule‹ besaß – das heißt, viele Anhänger und Schüler. Onkel Fremmis griff nach den Schlüsseln und sah mich mit seinen hellen Augen an. »Jetzt hör mir mal zu«, sagte er, »was du jetzt siehst, behältst du für dich, ja? Und wenn du reden mußt, dann leise.« Ich versprach es, und er sperrte eine schmale Tür neben der von Dr. Warburg auf. Ich dachte, es sei eine Besenkammer, bis wir drin standen, und er schloß die Tür hinter mir. Es war stockfinster. »Warte erst, bis du was sehen kannst«, sagte er leise, und das machte ich, und tatsächlich, auf einmal konnte ich erkennen, daß wir in einem dunklen, schmalen Flur standen, mit Schaumgummi unter den Füßen. »Warte jetzt«, sagte er, als ich eine Frage stellen wollte; er schien es zu wissen. Plötzlich flammte zwei Meter vor uns Licht auf. Ich zuckte zusammen. Onkel Fremmis gab mir einen Rippenstoß und sagte: »Er will immer, daß ich eine halbe Stunde früher da bin.« Er winkte mich auf das Licht zu. 149
Es sah aus wie ein quadratisches Glasfenster, eingelassen in die Wand. Durch das Fenster sah ich eine Frau auf einem Sessel ohne Armlehnen sitzen, mir halb zugewandt, keinen Meter entfernt. Ich konnte mir nicht helfen, ich duckte mich und sprang zurück, bevor sie mich bemerken konnte. Onkel Fremmis lachte leise. »Keine Sorge. Das ist ein Spionspiegel. Solange es hier dunkel ist, sieht er draußen aus wie ein Spiegel. Sie kann dich nicht sehen.« Beruhigt schaute ich wieder hinein. Auf einem niedrigen Tisch, zwei Meter von der Frau entfernt – eine gutgekleidete Frau mit dem gehetzten Ausdruck der reichen Leute –, stand ein schwarzer Kasten mit drei Knöpfen und einem schimmernden Reflektor, so groß wie eine Salatschüssel, der auf der Kante stand. An den Knöpfen drehte ein älterer Mann, einen Block in der Hand. »Das ist er«, sagte Onkel Fremmis. »Das ist wer?« »Der große Mann«, sagte Onkel Fremmis grinsend. »Doktor Warburg.« Ich riß ungläubig die Augen auf. Kein Spitzbart, keine Pfeife, keine europäische Kleidung. Nur ein Mann. »Was ist das für ein Ding?« »Ein GWS. Gehirnwellensynchronisator. Er blitzt. Man dreht an den Knöpfen, und er blitzt, sooft man will, so hell man will.« »Wozu ist das?« »So, wie er es mir erklärt hat, hat jedes Gehirn einen ganz bestimmten Pulsschlag. Wenn jemand zum erstenmal hier ist, versucht er eine Stunde lang, ihn festzustellen. Er schreibt es auf und stellt das Gerät darauf ein. Dann braucht er es nur noch einzuschalten, und die Person wird abgeschaltet.« 150
»Du meinst, wie bei einer Hypnose?« »Nicht ›wie‹ – es hypnotisiert sie wirklich, in dreißig, vierzig Sekunden, statt in den dreißig oder vierzig Minuten Hokuspokus-Ihre-Augen-werden-schwer.« »Und dann?« »Sobald sie weg sind, sagt ihnen der Doktor, daß sie alles vergessen sollen, was passiert, bis er sagt: Aufwachen.« »Und was geschieht?« »Ich«, sagte Onkel Fremmis genüßlich. Bevor ich darauf etwas sagen konnte, schaltete der Mann im Nebenzimmer die kleine Maschine ein. Die Röhre wurde hell, nicht zu hell, in einer Reihe von orangeroten Lichtblitzen. Jeder Blitz dauerte wahrscheinlich nicht länger als eine Hundertstelsekunde, und die Blitze kamen … ich weiß nicht, wie schnell hintereinander. Etwas langsamer als gleichmäßig brennendes Licht, etwas schneller als ein Flackern. Ich bemerkte, daß Onkel Fremmis mich durchdringend anstarrte. »Na?« »Was denn?« »Schon gut. Ich dachte, es hat dich erwischt. Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie und du, daß überhaupt zwei Menschen genau dieselbe Frequenz haben, aber wenn es so wäre, wärst du schon weg. Du erwischst natürlich nicht das, was sie erwischt – der Reflektor wirkt ganz anders. Na, da ist sie schon weg.« Wir konnten sehen, wie die Lider der Frau hinuntersanken. Sie schlossen sich nicht ganz. Sie saß entspannt da, die Hände im Schoß, und starrte vor sich hin. Dr. Warburg fuhr mit der Hand vor ihren Augen herum, und sie blinzelte nicht. Er beugte sich vor und schien etwas zu sagen; sie nickte schließlich langsam. Der Arzt sah uns an und winkte. »Aus dem Weg«, sagte Onkel Fremmis, »wenn ich reingehe und wenn ich rauskomme. Ich glaube nicht, daß der Dok151
tor begeistert wäre, wenn er wüßte, daß ich hier jemand dabei habe.« Er gab mir einen kleinen Stoß und drehte einen Knopf unter dem Fenster, wobei ich endlich bemerkte, daß das eine Tür war. Sie ging auf, er trat in das Zimmer, und ich stellte mich wieder an die Glasscheibe. Der Arzt bewegte die Hand, Onkel Fremmis antwortete etwas, und sie lachten. Ich konnte sehen, daß das für die beiden etwas ganz Normales war. Onkel Fremmis trat zu der Frau. Sie schien ihn nicht zu bemerken und sah nur die kleine Maschine an. Er ging um sie herum und suchte etwas. Dann legte er die Hände auf sie oder so nah an sie, daß er sie fast berührte, ich konnte es nicht genau sagen. Nach einer Weile legte er die Hände an ihren Kopf und schließlich über das linke Ohr. Er bewegte die linken Fingerspitzen ein, zwei Zentimeter, kam an eine bestimmte Stelle, ließ sie liegen und bewegte sie ganz, ganz wenig. Onkel Fremmis schien sich ganz stark zu konzentrieren. Als er gefunden hatte, was er zu suchen schien, hob er die rechte Hand – mich erinnerte das an etwas, ich wußte aber nicht, an was –, und dann haute er ihr eine solche herunter, daß ich mir auf die Zunge biß, und mit dem Schmerz kam die Erinnerung an das alte Autoradio in seiner Hütte, das nicht richtig lief, bis er ihm auf eine bestimmte Art an einer bestimmten Stelle einen Schlag versetzte. Der Kopf der Dame wackelte ein bißchen, aber sonst saß sie nur da und starrte in die Blitze. Onkel Fremmis machte ein ›O‹ mit Daumen und Zeigefinger, für ›Okay‹, grinste den Doktor an und kam wieder zu mir zurück. Ich trat auf die Seite, als er die kleine Tür öffnete. Das Ganze hatte keine zwei Minuten gedauert. Wir schauten zu, wie der Doktor die kleine Maschine abschaltete und sich über die Frau beugte. Wir konnten ihn nicht 152
hören, aber ich wußte, daß er sie aus der Hypnose holte. Zuerst blinzelte sie nur und hob die Hand zu der Stelle, wo sie eine erwischt hatte, aber der Doktor hielt ihre beiden Hände fest und redete weiter, bis sie ganz wach war und ihn ansah. Dann lächelte sie. Es war ein wirklich schönes Lächeln, und der gehetzte Ausdruck war verschwunden. Völlig verschwunden. Ein schönes Lächeln. »Du bist immer ein kluger Bursche gewesen«, sagte mir Onkel Fremmis ins Ohr. »Was, meinst du, ist passiert?« Ich wußte nicht, was ich denken sollte. »Du lachst mich aus«, meinte ich. »Nein.« »Du hast ihr genauso eins draufgegeben wie deinem alten Radio.« »Du bist wirklich auf Draht«, sagte er bewundernd und klopfte mir auf die Schulter. Dann fragte er mich, wie es zu Hause aussah. Ich war vor drei Monaten oder so eine Woche zu Hause gewesen, also erzählte ich ihm, wie es war. Es hatte sich viel verändert, und er wirkte traurig, während er zuhörte. Inzwischen gingen der Arzt und die Dame nebenan hinaus, und es wurde dunkel. Ich erzählte weiter, weil Onkel Fremmis sich nicht rührte. Ich sagte, ich würde wohl nicht mehr heimfahren, das sei jetzt eine Stadt wie jede andere. Da wurde es wieder hell, und wir sahen, daß der Arzt wieder jemand hereinführte, und den erkannte ich gleich. Er war Senator, schon seit Jahren. Er setzte sich, der Arzt schaltete das Gerät ein und hypnotisierte ihn, Onkel Fremmis ging hinaus und – und reparierte ihn. Es gibt eigentlich kein richtiges Wort dafür. Diesmal brauchte Onkel Fremmis nicht lange zu suchen. Er ging zu dem alten Senator, hob dessen linke Hand bis zur 153
Schulter und riß sie so fest herunter, daß ich dachte, er reißt sie ihm ab. Dann kam er zu mir zurück, und wir unterhielten uns, während der Arzt die Maschine abschaltete und den Senator zu sich brachte und hinausführte. »Meine Schuld«, sagte Onkel Fremmis traurig, als er wieder neben mir stand. »Die Stadt, meine ich. Sie ist durch mich so geworden, wie sie war. Ich habe sie so erhalten. Ich wollte es gar nicht; ich wußte nichts davon. Es war Doktor Warburg, der mich aufmerksam gemacht hat. Und dann ist es auch meine Schuld, daß sich alles so verändert hat. Ich weiß bis heute nicht, was besser ist.« »Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich muß sagen, mir gefiel es ‚ so, wie es früher war.« »Da war es rückständig«, sagte er scharf. Ich sah, daß ihm das sehr wichtig war. »Wenn etwas lebendig bleiben soll, muß es sich verändern. Wenn es sich nicht mehr verändert, kann es alles mögliche sein – es kann Spaß machen oder spaßig anzusehen oder etwas für die Leute zum Studieren sein, aber es ist nicht mehr lebendig, und eine Stadt ist wie ein Mensch, sie hat ein Recht, zu leben und zu wachsen und sich zu verändern, und keiner sollte das aufhalten.« »Du meinst, du hast das aufgehalten? Wie denn?« »Nun, ich habe erreicht, daß alles lief. Wie der alte Rasenmäher von Artie Backer mit dem Kerosinmotor. Ich ging im Sommer alle sechs Wochen zu Artie und gab dem Ding einen Tritt. Keiner außer mir wußte, wo und wie fest der Tritt sein mußte, und bei mir klappte es. Die alte Mrs. Roudenbush hatte einen Fleischwolf, der nicht mehr ging. Ich brauchte ihn nur auf eine bestimmte Weise zu schütteln.« Und da fiel mir alles wieder ein – Wertenbakers Traktor und Samuels Windmühlenpumpe und die Kirchenuhr und Dutzen154
de, Hunderte von anderen Dingen, große und kleine, und Onkel Fremmis, der in der Stadt herumging, der alle kannte, von allen wußte, wo etwas nicht lief, und es zum Laufen brachte. Wecker und Nähmaschinen und landwirtschaftliche Maschinen. Ich erinnerte mich an den Hufschmied, der ihn getreten hatte, an den Elektriker, und ich begann zu begreifen, warum sie seine Feinde waren, warum die Stadt sie verjagte. Als es nebenan wieder hell wurde und ich ihn sehen konnte, blickte ich ihn mit ganz anderen Augen an, so als hätte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Ich schaute zu, als er hineinging, zum Doktor und dem berühmten Prediger, der immer im Fernsehen auftrat, und während der Prediger in die Röhre starrte, hieb ihm Onkel Fremmis die Hand mit aller Wucht zwischen die Schulterblätter. Als er zurückkehrte, fragte ich ihn, wie er hierhergekommen sei, und er erzählte mir davon, daß er einmal morgens die Kaninchen beobachtet habe, und da sei am Teich einer herumgelaufen. »Ein schöner Tag«, sagte er, »und der Mann watete ins Wasser, ich wußte gleich, daß da was nicht stimmte, und lief hinunter. Auf der anderen Seite stand ein großer Cadillac, und der Mann ging ganz blind auf die tiefe Stelle im Teich zu. Ich holte ihn heraus. Er wollte nicht mitkommen. Er war viel größer als ich, und das ganze Geschiebe und Gezerre half nichts, und ich konnte mir nicht anders helfen – ich dachte nicht mal nach. Ich meine, er war gar nicht wie ein Mensch, sondern wie eine Dreschmaschine mit kaputtem Förderband oder wie eine alte Uhr, die nachging. Es war ziemlich knapp, weißt du, er hätte mich auch ins Tiefe schleppen können, und da tat ich das einzige, was mir einfiel. Ich schlug zu, auf eine ganz bestimmte 155
Weise.« Er bohrte mir den Finger in die Rippen. »Da ungefähr, und er war sofort in Ordnung. Er blieb stehen und starrte mich komisch an, wir sind ans Ufer gewatet, und er ging mit zu mir, wir tranken Kaffee und ließen uns vor dem Feuer trocknen. Da kommt der Meister.« Wir schauten durch den Spiegel und sahen einen berühmten Kapellmeister. Onkel Fremmis ging hinein und drehte ihm den rechten Fuß halb herum und schlug ihm die Handkante auf den Hals, aber nicht zu hart. Als er zurückkam, fuhr er fort: »Wir haben den ganzen Tag und die halbe Nacht geredet, ich und der Doktor da. Er ist ein großer Mann, mein Junge, und ich meine nicht das Geld oder die Bücher, die er geschrieben hat. Er ist ein großer Mann mit klarem Kopf, der keine Angst hat, die Wahrheit zu sehen, auch wenn sie verrückt scheint. Er erzählte mir, wie es in seinem Beruf ist, wie schwer es ist, mit den Verrücktheiten der Leute zu leben, ohne daß man etwas abbekommt, und wie die Last mit den Jahren so groß geworden war, daß er einfach davonfuhr und mit dem Wagen hier ankam, um sich zu ertränken. Ja. Er hat es ganz offen gesagt. Und ich hatte ihm mit dem Schlag alles plötzlich ganz klargemacht, so daß er alles begriff und wieder funktionierte wie eine alte Nähmaschine oder ein Schulbus oder was weiß ich. Er fragte mich viel, und wir kamen auf die Geschichte, daß ich die Stadt nicht natürlich groß werden ließ. Mir war ziemlich übel zumute. Dann sagte er, ich soll in die Großstadt mitkommen und ihm helfen, ich hab’ es mir ein paar Tage überlegt und bin gefahren.« »Und jetzt richtest du Menschen statt Dinge.« Er schnaubte. »Ich richte gar nichts. Das kann ich gar nicht. Es ist wie bei Artie Backers Rasenmäher – ich mußte alle sechs Wochen hin. Manchmal lief etwas ein ganzes Jahr, manchmal nur eine Wo156
che. Jeder ist anders, die Leute hier auch. Sie müssen früher oder später alle wiederkommen, wenn das Kaputte in ihnen wieder anfängt. Doktor Warburg muß ich so alle neun Monate vornehmen.« »Und die Lichtblitze? Sind das nur Tricks?« »Von wegen Tricks«, sagte er verärgert. »Glaubst du, die Leute würden stillhalten, wenn sie wüßten, daß ich das bin? Die Maschine sorgt nur dafür, daß sie mich nicht sehen.« »Wozu brauchst du Warburg überhaupt, Onkel Fremmis? Mein Gott, du könntest dich selbständig machen und ein Vermögen verdienen.« »Ich will kein Vermögen. Außerdem, wer geht zu einem alten Mann und läßt sich ein paar herunterhauen?« »Viele Leute. Das spricht sich herum, und – « »Diese Leute da nicht. Und das ist das Wichtigste. Das sind die großen Leute, mein Junge, durch die vieles läuft. Nach einer Weile sind sie überanstrengt, und das vergiftet alles, was sie machen. Alle behaupten, daß die Welt zum Teufel geht, aber das wird nicht sein, wenn wir aufpassen und uns um die kümmern, die oben stehen. So viele gibt es davon nicht. Und wir haben sie noch nicht alle, aber wir bemühen uns. Ich finde, das lohnt sich mehr, als eine Nähmaschine in Betrieb zu halten, nur weil sie der Großmutter von irgend jemand gehört hat, oder einem Geizhals zu helfen, daß seine alte Pumpe weiterläuft, nur weil er keine neue kaufen will, was wieder Arbeitsplätze bringt.« Ich begann so manches einzusehen, aber dann fiel mir etwas ein, was noch wichtiger war. »Onkel Fremmis«, sagte ich, »ich brauche fünftausend Dollar.« Nun, ich will nicht alles erwähnen, was da gesprochen wurde, weil er mir viele Fragen stellte, aber bei ihm konnte man 157
nicht ausweichen und auch nichts beschönigen. Hinterher war ich ganz fertig. Er sah mich lange an und seufzte. »Ich will dir was sagen«, meinte er. »Ich tue, was ich kann. Es wird keine Minute dauern. Wir nehmen keine Maschine, weil wir zwei die nicht brauchen. Ich sage dir nur gleich, es wird dir nicht gefallen, mir wird es nicht gefallen, und ab und zu mußt du wieder zu mir kommen – du weißt schon, wann.« »Bekomme ich die Fünftausend?« Er schlug mir auf die Schulter. »Na klar, und noch mehr. Alles, was du willst.« »Dann los«, sagte ich. Er fuhr mit den Händen über mir herum, berührte mich aber kaum. Ich hörte ihn brummen, dann bewegte er die Hände wieder, bis sie stillstanden. »Los«, sagte er. Er führte mich hinaus in den Korridor. Er schaute nach links und nach rechts, aber da war keiner. Also machte er es, und es war ein arges Ding, das kann ich Ihnen sagen. Eine Kraft hat der Mann für sein Alter. Ich ging an dem Tag hin und besorgte mir eine Stellung. Es geht mir gut. Ab und zu, wenn es Zeit ist, besuche ich Onkel Fremmis. Ich weiß, daß es Zeit ist, wenn ich das Gefühl habe, daß ich keinen Tag länger auskommen kann, ohne Geld zu borgen. Dann gehe ich zu ihm, und er gibt mir wieder einen gewaltigen Tritt in den Hintern.
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Unerwünscht Wir mußten den Piloten und Mr. Petrilli und den jungen Stein begraben, und bis wir damit fertig waren, mußten wir Rodney begraben. Es war furchtbar für einen Haufen Kinder, aber Miss Morin zwang uns dazu. Der Pilot hatte kein Gesicht und nicht mehr viel Kopf, und Mr. Petrillis Brustkorb war zerquetscht, und der junge Stein zeigte keine Spuren, ich glaube, er starb vor Angst, bevor das Schiff aufprallte. Rodney schrie, bis Miss Morin ihm das Zeug gab. Danach lag er einfach da, bis er starb. Miss Morin war auch verletzt, aber das merkte keiner. Sie war nach dem Absturz vor allen anderen auf den Beinen gewesen und sagte allen, was sie zu tun hatten. Das konnte sie immer großartig. Wenn man Bewährungshelfer sein will, muß man das können. Miss Morin, die war schon Bewährungshelferin bevor sie auf die Welt kam, ich wette, als sie geboren wurde, hatte sie schon die Falten um den Mund, die alte Jungfern bekommen, wenn sie an den eigenen Lippen saugen statt an anderen. Nachdem wir die Leute eingegraben hatten, wollten wir uns ausruhen, aber sie verlangte von Fatty und Pam, daß sie Essen holten und es auftischten, während Tommy und Hai und Flip in den Laderaum steigen und eine Kiste holen mußten. Da gab es viele Kisten, und die meisten waren dreieckig, lauter Tafeln für den Bau von Kuppelhäusern, aber es war nicht irgendeine Kiste, die sie haben wollte, sondern eine ganz bestimmte. Sie gab Tommy einen Zettel mit der Nummer, und sie mußten fünfzig Kisten heraus- und hineinheben, bevor sie die richtige gefunden hatten. Sie holten sie heraus, und es war schwer, weil das Schiff auf die Seite gefallen war, und Flip war dauernd im Weg. Er war neun. Tom war fünfzehn. Hai war vierzehn, aber nicht viel größer als Flip. Die Kiste wog an die hundert Pfund. 159
Wir saßen draußen auf dem Boden und aßen, außer Miss Morin. Sie saß auf der Kiste. Das war ihre Art, sie stand oder saß immer ein bißchen höher als alle anderen, das war einer von ihren Tricks. Sie war voller Tricks. Sie war das eisenharteste, schmallippigste, kaltblütigste Weibsbild, das je gelebt hat. Sie war immer dabei. Sie sagte uns, was wir tun mußten, und sie war dabei, um aufzupassen, daß es auch gemacht wurde. Auf der Erde gab es andere Bewährungshelfer mit Gruppen wie der unseren, Überflußkindern, die nirgends dazupaßten und in Schwierigkeiten gerieten, und man schickte sie auf Grenzplaneten, wo sie gegen Kälte und Hitze und Tiere kämpfen konnten statt gegen andere Menschen und das ›Wie es ist‹ – na ja, das behaupteten sie jedenfalls, wir meinten immer, sie suchten nur nach einer Gelegenheit, uns loszuwerden; jedenfalls fanden andere Bewährungshelfer Arbeit für ihre Kinder, dann gingen sie, und wenn sie zurückkamen und die Arbeit nicht gemacht war, sperrten sie ein Kind oder alle ein. Miss Morin tat das nie, sie war immer dabei, sie kümmerte sich nie um ihre eigenen Angelegenheiten, sie hatte keine außer uns. Sie sperrte keinen ein, das hatte sie nicht nötig, sie war ein wandelndes Gefängnis. Die anderen Bewährungshelfer beaufsichtigten eine Gruppe, bis sie verschickt wurde, dann holten sie sich eine neue. Nicht Miss Morin. Als der Tag für uns kam, war sie da, sie flog mit. Niemand wußte genau, wie es draußen sein würde, das einzige, worauf man sich freuen konnte, war, daß man seinen Bewährungshelfer los war, und wir hatten unseren dabei. Während wir aßen, hielt sie eine Rede. Sie sagte das, was wir schon wußten, daß es auf der Erde für Kinder wie uns keinen Platz gab, daß wir alle Gelegenheit gehabt hatten, uns anzupassen, aber daß sie nicht genutzt worden war, daß wir von Glück sagen konnten, in einer Zeit zu leben, wo Grenzwelten 160
existierten, auf denen für uns Platz war, denn früher hatte es keinen Platz gegeben, und wir wären zur Ruhe gebracht worden, indem man einen Teil von unseren Hirnen gelöscht hätte, dann wären wir noch dazu gut gewesen, das ganze Leben Böden aufzuwischen, und noch früher wären wir die meiste Zeit eingesperrt worden, nur schlimmer als jetzt, mit Gittern an den Fenstern. Aber jetzt gab es den Hyperraumantrieb und eine Art, den Raum zu verzerren, wie wenn man zwei Punkte auf Papier setzt, weit auseinander, und das Papier so zusammenlegt, daß die Punkte aufeinanderkommen, so konnte man von einem zum anderen springen, ohne sich weit zu bewegen, und in fast keiner Zeit. Mit dem Antrieb flogen Raumschiffe zu dreißig oder mehr ganz neuen Welten, und man fand dauernd neue, und es gab Platz genug für überschüssige Menschen und genug Arbeit und Platz für solche wie uns, die soviel Ärger machten. Das hier war eine von den neuen Welten, sie hieß Barrault und war ziemlich gefährlich, aber wenn wir sie zähmen konnten, würde sie ganz gut werden. Wir brauchten es auch nicht allein zu tun, es gab schon eine Stadt namens Cap Sidney. Miss Morin erzählte uns noch mehr, was wir schon wußten, zum Beispiel, wie unser Schiff abgestürzt war. Die Schiffe mit dem neuen Antrieb landen nicht selber, sondern nur Boote aus ihnen. Als wir unser Boot lenkten, geriet es im Richtigen Raum in einen Magnetsturm, und nichts funktionierte. Der Pilot hatte sich alle Mühe gegeben, aber ohne Funk oder Radar konnte er nicht viel tun. Er war tot, und Mr. Petrilli und zwei von den Kindern auch, also blieben noch Miss Morin und wir fünf. Das Raumschiff wußte nichts von unserem Absturz, man hat keinen Kontakt zu Schiffen aus dem Richtigen Raum, weil sie da nicht sind. Außerdem wußten sie auch in Cap Sidney nichts vom Absturz, weil sie nicht wissen konnten, wann ein Boot 161
kommen würde, außer das Boot meldete sich, und das war im Magnetsturm nicht gegangen. Miss Morin kam nun zu dem Punkt, was wir als nächstes tun sollten. Wir mußten essen, was wir konnten, und viel schlafen, und am nächsten Morgen sollen wir uns auf den Weg nach Cap Sidney machen. Keiner würde uns suchen, und es hatte keinen Sinn, am Wrack zu bleiben, es enthielt nicht mehr Essen und Wasser, als für ein paar Umläufe nötig waren, und über die Hälfte davon war beim Absturz verlorengegangen. Sie sagte uns, wie wir Cap Sidney erreichen konnten. Direkt nach Osten – das hieß, den ganzen Vormittag der Sonne entgegen, am Nachmittag die Sonne im Rücken. Dann würden wir zu einem Fluß kommen, und an dem mußten wir flußabwärts gehen, bis wir Cap Sidney erreichten. Es klang ganz einfach, und ich weiß nicht, ob von uns einer richtig hingehört hat. Aber dann kam sie zu der Sache mit der Kiste, und da hörten wir genau zu, denn sie stand auf und kniete am Boden und sprach mit flüsternder Stimme und sprach von der Kiste, als enthalte sie die größten Schätze der Welt, jeder Welt. »Zu Hause auf der Erde hatte keiner von euch eine Chance, etwas zu werden oder zu besitzen«, sagte sie. »Hier draußen habt ihr etwas. Ihr solltet das nicht wissen, aber wegen der Bruchlandung sage ich es euch. Diese Kiste ist der größte Schatz, den der Mensch kennt, aber er muß zum Präzeptor in Cap Sidney gebracht werden, bevor ihr euren Anteil bekommen könnt. Ihr dürft die Kiste nicht öffnen – ihr würdet nicht verstehen, was sie enthält. Und ich möchte, daß ihr versteht, was ich sage – dieser Schatz ist nicht für mich oder die Kolonie, sondern für euch. Er gehört euch, und niemand wird euch darum betrügen, und niemand kann ihn euch wegnehmen. Aber ihr müßt ihn zum Präzeptor bringen.« 162
In diesem Augenblick begriffen wir, daß Miss Morin nicht vorhatte, mitzugehen. Niemand mochte die alte Schachtel, aber der Gedanke, ohne sie zu sein, war ein bißchen seltsam. Wir waren einfach nicht daran gewöhnt. Wir wurden alle ziemlich still. Dann fing sie an zu husten. So hustete sie ab und zu. Sie machte fast kein Geräusch dabei, weil sie ein großes Taschentuch an Mund und Nase preßte, aber es war, als schlage eine große Faust auf sie ein, so wurde sie geschüttelt. Wir saßen da und warteten, wie immer. Es dauerte länger als sonst, und eine Weile kniete sie da, den Kopf auf der Kiste und das Tuch am Mund. Niemand rührte sie an. Man rührte Miss Morin nicht an. Als sie sich erhob, stand sie aufrecht da wie immer. Pam sah etwas, wovon sie uns erst später erzählte. Sonst sah es keiner. Dann gab Miss Morin Befehle, wie die Kiste zu tragen war, einen Griff an jeder Ecke und Ringbolzen an den Kanten anschrauben, damit wir unsere Vorräte an Essen und Wasser oben festbinden konnten. Pam mußte mit ihr gehen, und sie stiegen wieder in das umgekippte Raumboot. Wir anderen arbeiteten an der Kiste. Nach einer Weile kam Pam ganz steif und still zurück und sagte, Flip sollte hineingehen. Flip kam nach einer Weile wieder und wirkte erschrocken. Er sagte, Fatty solle kommen. Nun, wir gingen der Reihe nach hinein, alle fünf, um Miss Morin zu besuchen. Sie hatte jedem etwas Besonderes zu sagen, und zwar unter vier Augen, dabei lassen wir es vorerst. Wir legten uns hin, als es dunkel wurde, und schliefen im Freien neben der Kiste. Am Morgen war Miss Morin tot. Wir konnten sie durch das Glasbullauge in der Tür sehen, aber die Tür war von innen abgesperrt. Ihre Augen waren offen, und sie hatte viel Blut gespuckt. Ich bin sicher, sie wollte nicht, aber es ging nicht anders. Vielleicht hätten wir sie auch begraben, aber wie gesagt, sie hatte sich eingesperrt, 163
und es blieb uns nichts anderes übrig, als loszumarschieren. Tommy war der größte, er war fünfzehn, und als er sagte, los, gingen wir. Tommy und Hai und Fatty nahmen die drei Griffe, und Pam und Flip gingen voraus. Es dauerte nicht lange, bis Fatty zu jammern anfing, weil die Kiste so schwer war, und Pam löste sie ab. Fatty jammerte weiter, aber nicht mehr so laut. Flip war überall, voraus, hinten, daneben, na ja, Flip war erst neun. Er sagte, was Miss Morin ihm unter vier Augen erklärt hatte. Es war: ›Frag immer vorher jemand.‹ Am ersten Tag wurde es nicht allzu heiß, obwohl die Luft sehr trocken war. Wir konnten lange Zeit umschauen und das Raumboot sehen. Es war eine weite Ebene, mit einem braunen Kraut bedeckt. Wir hatten so etwas wie eine Maus mit sechs Beinen gesehen und Käfer, die seitwärts liefen wie Krebse, und einmal eine Schar großer Vögel mit Knollenköpfen, wie Strauße, die uns beobachteten. Nach einer Weile sahen wir das Boot nicht mehr, die Gegend wurde hügelig, es war, als sei es untergegangen. Wir mußten Fatty anschreien, damit sie Pam ablöste. Pam beklagte sich nicht, aber sie wurde schneller müde als die anderen. Pam war vierzehn, aber nicht sehr groß. Wir wollten stehenbleiben, aber Tommy trieb uns weiter, bis die Sonne senkrecht stand, und dann machten wir Pause, bis wir wußten, in welcher Richtung sie sank, damit wir uns auskannten, wohin wir gehen mußten. Wir aßen und tranken ein bißchen Wasser, Tommy gab uns nur ganz wenig, und wir lagen im Schatten herum und unterhielten uns über Miss Morin. Und da war etwas Merkwürdiges. Jemand sagte etwas über sie, daß sie eine eisenharte alte Schachtel gewesen sei, sie hätte einem keinen Schluck Wasser gegeben, wenn man verdurstet wäre, wenn sie ein nettes Wort für jemanden gehabt hätte, wäre sie dran erstickt, und 164
auf einmal fängt Flip an, uns anzubrüllen. Flip! Flip war ein kraushaariger kleiner Bursche, neun Jahre alt, manche Leute hätten vielleicht gesagt, er sei nett, aber die meiste Zeit war er einem im Weg und stellte Fragen und rannte, wenn es einfacher war, daß man ging, man wurde schon müde, wenn man ihm nur zusah. Man weiß ja, wie kleine Kinder sind. Jedenfalls schrie er uns an, daß Miss Morin keine alte Schachtel und kein gemeines Weibsbild gewesen sei, wir seien ganz gemeine Typen und stinken würden wir auch. Ich meine, er war wütend und schluchzte. Nach einer Weile war er traurig und schluchzte, was wieder etwas ganz anderes ist, und er erzählte uns, daß er einmal im Bewährungszentrum weglaufen wollte, da konnte er höchstens sieben gewesen sein. Es war nachts, und keiner konnte durch die Kraftfeldzäune, aber er wußte das nicht, und er versuchte es lange Zeit, und dann wurde es kalt, und er legte sich an einem der Generatoren hin. Und wer kam daher? Miss Morin, sie mußte ihn die halbe Nacht gesucht haben, und sie sagte nichts, sondern setzte sich zu ihm, und er legte sich in ihren Schoß und schlief, und sie hielt ihn fest, bis zum Morgen, und brachte ihn zurück und sperrte ihn nicht ein. Wir hörten ihm mit großen Augen zu, weil wir nicht glauben konnten, daß Miss Morin so etwas getan hatte, aber wir mußten Flip glauben, weil er weinte. Als die Schatten nach Osten zeigten, rafften wir uns wieder auf und zogen auch nach Osten. Fatty jammerte noch mehr als vorher, und Flip durfte an dieser Ecke helfen. Nachdem Flip Fatty das drittemal auf die Zehen getreten war, hätte Fatty ihn am liebsten umgebracht; sie jagte ihn weg, und dann konnte sie nicht mehr dauernd jammern. Es wurde hügeliger, und wir kamen über eine Höhe und hinunter in ein kleines Tal, und da sah es so aus, als hätte jemand 165
etwas hingebaut. Ich meine, da ragten fünf oder sechs Dinger aus dem Boden, wie wenn man eine ovale Schale nimmt und schneidet sie kreuzweise in zwei Hälften und stellt sie auf die Schnittkante. Ein paar waren sechzig bis neunzig Zentimeter groß, die anderen mannshoch, und dann gab es ein ganz großes, vier Meter mindestens. Flip, der lief gleich den Hang hinunter, um sie sich anzuschauen, er hatte nicht mehr Verstand als ein kleiner Hund. Als wir hinunterstiegen, konnten wir sehen, daß vor jeder der ovalen Hälften ein Stück nackter rötlicher Fels war, oder es sah aus wie Fels, eine Vertiefung, in der nasser Schlamm war, und hinter dem großen Ding, im Schlick halb versteckt, ein Ding fast schädelgroß, rot und grün und schauriges Gelb. Wir dachten zuerst, es ist ein Tier, das da gefangen oder gefesselt war, weil es, als wir näher kamen, zu wackeln und zu rotieren, zu schwanken und sich aufzublähen anfing. Außerdem stieg ein ganz süßer, klebriger Geruch auf. Flip wollte sich wohl das Ding näher ansehen, und er ging hin. Als er das Ding berührte, klappte das ganze hohe Halboval wie an einem Scharnier herunter, als schlösse sich ein großer Mund. Mein Gott, ich konnte spüren, wie der Boden bebte. Fatty begann zu schreien und zu schreien. Wir ließen die Kiste fallen und rannten hin. Das große ovale Ding lag jetzt flach am Boden, es war mit brauner Rinde überzogen und bestand aus hartem Holz. Flips Hand und Unterarm ragten an der Seite heraus. Tommy schlug Fatty ins Gesicht, damit sie aufhörte zu schreien, versuchte die Finger in den Spalt zu stecken und anzuheben, und Hai packte Flips Handgelenk und versuchte ihn herauszuziehen. Tommy konnte das Ding nicht heben, und die Hand und der Unterarm bis zum Ellbogen kamen heraus, einfach abgebissen. Fatty begann wieder zu schreien, und Hai fiel auf den Rücken und ließ den Arm fallen und sah ihn an und übergab sich. 166
Egal, wie wir zuerst auch waren, wir wurden richtig tobsüchtig. Wir sprangen auf dem großen, geschlossenen Ding herum, das dalag wie eine riesengroße Muschel, wir gaben ihm Tritte, aber es nützte nichts. Dann dachte einer an die Zünder, die wir dabeihatten, Scheiben, handgroß, man zog die Schnur heraus, und das Ganze fing an zu brennen. Hai riß bei einem die Schnur heraus und warf den Zünder auf die anderen Muscheldinger, und es machte wumm!, daß der Boden zitterte, und nach einer Weile drang überall am Rande Rauch heraus. Wir brachten sie alle mit den Zündern um. Man hätte glauben mögen, daß wir alle verrückt waren, so haben wir gelacht. Man hätte dabeisein, hätte zu uns gehören müssen, um zu verstehen, daß wir überhaupt lachen konnten. Wir machten ein Feuer auf dem großen, geschlossenen Ding, das Flip erwischt hatte, aber es ging immer wieder aus. Ich glaube, dem haben wir nichts antun können. Wir begruben den Arm und sagten die gleichen Worte, die wir bei dem Piloten und Mr. Petrilli und dem jungen Stein und bei Rodney gesagt hatten, dann hoben wir die Kiste auf und gingen weiter. Wir erreichten Vorberge, als es dunkel wurde, und fanden eine Stelle an einer Felswand und machten Feuer und aßen und tranken wieder ein bißchen Wasser. Wir holten die Schlafsäcke heraus, jeder wog nur ein paar Gramm, aber aufgeblasen hielten sie warm. Pam schlüpfte in ihren Schlafsack, und Tommy wollte zu ihr hinein, und bis man sich umsah, packte Hai ihn an der Schulter und riß ihn zurück und warf ihn um. Tommy war groß und breit und hatte blitzende Zähne, und Hai hätte ihn nie zu Boden schlagen können, wenn er damit gerechnet hätte. Vielleicht war Hai noch erstaunter als Tommy, weil er nicht versuchte, ihn zu treten. Tommy rollte sich herum, sprang hoch, stürzte sich auf Hai, und es ging los. Hai brach167
te ein paar gute Schläge an, weil er so wütend war, aber er war kein Gegner. Tommy verprügelte ihn gründlich, und dann trat er zurück und ließ ihn aufstehen, und als Hai wieder auf ihn losging, schlug er ihn wieder zusammen. Hai gab es auf. Tommy ging zu Pam zurück. Pam sagte nein, geh weg, und rief Hai. Sie sagte: »Hai, du schläfst mit mir.« Tommy fing an zu schreien und wollte wissen, wieso, und Pam sagte es ihm ins Gesicht. Sie sagte: »Miss Morin hat gesagt, wenn um mich gekämpft wird, soll ich mit dem Verlierer schlafen. Denkt daran, wenn ihr wieder aufeinander losgehen wollt.« Und sie hielt ihm den Schlafsack auf, bis Hai darüber hinwegkam, seinen Ohren nicht zu trauen, und bis er an Tommy vorbeigeschlichen war, um endlich hineinzuschlüpfen. Tommy schüttelte nur den Kopf, und dann stieg er in seinen eigenen Schlafsack und drehte den Kopf zur Wand. Viel später in der Nacht, als das Feuer ganz niedergebrannt und alles still war, wurde Tommy wach. Pam schlüpfte in seinen Schlafsack. Sie flüsterte: »Sie hat ja nicht gesagt, daß ich nicht auch mit dem Sieger schlafen kann.« Aber man möchte es kaum glauben, Tommy warf sie hinaus. Der nächste Tag war der durstige Tag, und so knapp der letzte Tag für Fatty. So, wie Tommy und Hai sich die ganze Zeit ansahen, mußte man meinen, daß es einen Mord geben würde. Tommy war auch sehr wütend auf Pam, und Pam war beleidigt, weil er sie hinausgeworfen hatte, ich meine, keine Frau läßt sich gern so abweisen. Und mittendrin ist Fatty, der die Füße weh tun, die Durst hat, die wissen will, wie lange das Ganze noch dauert, und die vor allem immer und immer wieder sagt: »Warum müssen wir eigentlich das Ding da schleppen?« Es kam so weit, daß der Hauptgrund dafür, die Kiste zu tragen, der war, daß man Fatty ärgern wollte. Das Jammern ge168
nügte schließlich, daß wir anderen zusammenhielten und vergaßen, was wir gegeneinander hatten. Wir stiegen hinauf. Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wenn es bedeckt gewesen wäre. Wir gingen nach Westen, aber als der Berg steiler wurde, mußten wir meilenweit nach Norden und einen Umweg machen. Einmal ließen wir uns drei Stunden lang in eine Schlucht hinab, die nach Westen zu gehen schien, dabei war es eine Sackgasse, und wir brauchten sieben Stunden, um uns und die Kiste wieder hinaufzuschleppen, genau zum Ausgangspunkt. Wir schlugen unser Lager auf, und es war nur noch ein Spritzer Wasser übrig. Abgesehen von der Wut hielten Pam und Fatty sich ganz gut, und Tommy war ja ein Bulle, aber Hai schaffte es nicht. Er sagte nichts, aber so wie er zusammensank, als wir Rast machten, und so, wie er keuchte, nachdem wir anderen uns längst erholt hatten, fing er an, uns Sorgen zu machen. Der Grund dafür, daß wir das Lager aufschlugen, war eigentlich der, daß Hai ohnmächtig wurde. Ich meine, er knickte einfach in den Knien ein und brach zusammen. Pam sah, daß sein Kopf auf dem Fels aufschlug. Sie ließ ihre Ecke der Kiste fallen und lief zu ihm und setzte ihn auf und wischte ihm das Gesicht mit dem Ärmel ab. Er machte die Augen nicht auf, und als sie ein Lid hochzog, sah man nur das Weiße. Tommy kam wortlos mit der Feldflasche und maß ihm eine Portion Wasser ab und flößte es ihm ein. Er kam zu sich und schlief gleich normal ein, und wir mußten ihn zum Essen wecken. Das war die kalte Nacht. Wir verschmolzen drei Schlafsäcke miteinander und schliefen alle zusammen, sonst hätten wir es nicht überstanden. Man darf nie durstig und kalt zugleich sein. Das ist nichts. Am Morgen gab Tommy Hai als erstes Wasser, und drei Stunden später, als wir uns dem Gipfel näherten, noch einmal. Es 169
war Fatty, die erkannte, was da vorging. Vielleicht suchte sie nur nach einem Grund, um sich zu beschweren, ich weiß es nicht. Fatty mußte die linke Ecke ganz allein tragen. Tommy schleppte auf der rechten Seite mit einer Hand, den anderen Arm um Hai gelegt, der nur noch mit glasigem Blick dahinstolperte. Fatty hörte auf, sich zu beklagen, und beobachtete Tommy. Wir erreichten den Hohen Paß, und unten, tief unten, sahen wir den Fluß. Merkwürdig, wie der Anblick den kleinen Schluck Wasser, den Tommy austeilte, so winzig erscheinen ließ. Wir wußten aber alle, daß man das Wasser nicht einfach hinunterschlucken durfte. Fatty und Pam und Hai bekamen jeder ihren Anteil, und wir gingen weiter, und Fatty jammerte bis nach dem Regen nicht ein einziges Mal. Und wie es regnete, es ging los wie mit Artillerie. Dann preßten wir uns an den Fels und hielten die Kiste mit Händen, Zähnen und Klauen fest. Die Wassersturzbäche rauschten und brüllten rings um uns, zuerst aus dem Himmel, von Windfäusten heruntergetrommelt, dann vom Berg, als das Wasser sich den Weg um Zacken herum und durch Spalten und Risse bahnte, gegen Felsblöcke klatschte und der Gischt hochspritzte. Der nasse Schrapnellbeschuß vom Himmel hörte ebenso schnell auf, aber das Wasser auf dem Berg strömte weiter und röhrte und schimmerte in der Sonne. Als Tommy die Kiste loszulassen wagte, war er mit der Feldflasche zur Stelle, fing einen kleinen Guß auf, hielt die Flasche ruhig, bis sie vollblubberte und überlief. Dann schraubte er ganz vorsichtig die Kappe auf und beugte sich über den kleinen Wasserlauf. Fatty kroch heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ganz langsam zu Anfang, Tommy.« Und sie zwinkerte ihm zu. »Dir entgeht aber auch gar nichts, was, Fatty?« sagte Tommy. Er nahm einen Mund voll Wasser und spuckte es wieder aus, 170
bevor er ein bißchen trank. Pam wollte wissen, was los war. Hai kam tropfnaß hinter einem Steinblock hervor und sah besser aus als seit zwei Tagen. Tommy sagte was von Maulhalten. Fatty grinste und schüttelte den Kopf. »Weißt du, was er getan hat? Hai seine eigene Wasserration gegeben.« Tommy sagte wieder was von Maulhalten. Hai sagte: »Mensch, Tommy.« Pam sah Tommy an wie … wie einer möchte, daß ihn ein Mädchen ansieht. Tommy wirkte ein bißchen gereizt, als er sagte: »Das kam gar nicht von mir, verdammt. Miss Morin hat es von mir verlangt.« Er machte eine Pause. »Sie muß gewußt haben, was passieren wird. Oder vielleicht wußte sie einfach – wie ich bin. Sie sagte, wenn du jemand haßt, dann tu ihm was Gutes. Etwas ganz Wichtiges. Deshalb hab’ ich Hai das Wasser gegeben.« Er sah Hai an und sagte ganz erstaunt: »Ich hasse dich nicht mehr. Was sagt man dazu?« Ich glaube, wir hätten schon gleich sagen können, was mit Miss Morin war, wie es wirklich mit ihr stand, wenn das folgende nicht passiert wäre. Vielleicht wollte Pam das sogar sagen, weil sie aufsprang und ein bißchen hüpfte, als könnte sie etwas nicht mehr für sich behalten, und sagte: »Hört mal, Miss Morin war – « und dann war sie verschwunden, einfach – verschwunden, denn mit dem starken Regen und allem war der Berg ganz anders, es gab einen Grat, der ganz nah und auch schlüpfrig war. Wir lagen alle drei nebeneinander auf dem Bauch und schrien etwas, was ich nicht mal hinschreiben kann, und starrten hinunter auf Pam, die hinabstürzte, kleiner und immer kleiner wurde und an eine Felswand prallte und weit hinaus- und hinabstürzte und noch kleiner wurde und auf einem Felsrücken landete und wegrutschte, und dann gab es keine Pam mehr. Steine und Dreck und dann immer mehr Steine 171
und trockener Staub, von der Geröllawine aufgewirbelt, schössen aus der Felswand und ihr nach, rauchig und schön im frischen Sonnenlicht. Hai sprang vom Bauch auf alle viere, vielleicht um Pam nachzustürzen. Nicht um zu ihr zu kommen, nicht um sie zu retten, um einfach dort zu sein, wo sie war. Fatty stürzte sich sofort auf ihn und hielt ihn mit Armen, Beinen, Füßen fest. Tommy brauchte ein bißchen länger, aber er zog sie beide sofort vom Rand zurück. Er weinte. Fatty weinte auch, aber was sonst? So, wie Tommy weinte, war es furchtbar. Wir schafften die Kiste nach Cap Sidney. Ich weiß nicht, wie. Es war Fatty. Nun, eigentlich war es Miss Morin. Das meine ich so: Miss Morin kannte uns alle, und das Wichtigste war ihr, daß das Schwächste in jedem von uns eine Art Stütze fand, wenn es schwierig wurde. Nur bei Flip wirkte es nicht, aber die kleinen Kinder vergessen noch alles zu schnell. Hai erzählte uns, was sie ihm unter vier Augen gesagt hatte. »Du mußt aushalten bis zur größten Belohnung – der, mit der du leben wirst.« Fatty erklärte ihm das den ganzen Weg. Fatty sagte ihm, sich Pam nachzustürzen, damit könnte er nicht leben, jetzt nicht und später nicht. Ich weiß nicht, womit er leben wollte, als Pam fort war, aber Miss Morin sagte, mit etwas leben – einfach leben. Es war auch Fatty, die zu Tommy sagte, daß Miss Morin gewünscht hatte, daß die Kiste nach Cap Sidney kam. Das mußte man ihm nur einmal sagen. Es wirkte, und weil es wirkte, begriff Fatty schlagartig. Miss Morin hatte zu Fatty gesagt: »Wenn alles auseinanderfällt, setzt du es zusammen.« Weil Fatty sah, daß es wirkte, wurde sie aus einem Kind zu einem Mädchen. Sie war erst zwölf. Später sollte sie das in eine Frau verwandeln. Es dauerte acht Tage, den Berg hinunter und über den Fluß 172
und nach Cap Sidney zu kommen, und acht Stunden, bis der Präzeptor uns klargemacht hatte, daß in der Kiste nichts war – nichts als dreieckige Isoliertafeln für einen geodätischen Kuppelbau, und davon hatten sie schon genug und konnten den Rest vom Raumboot holen, weil sie jetzt wußten, wo es lag. Wir waren zuerst ziemlich wütend. Beinahe fiel alles wieder auseinander, so zornig waren wir. Dann fügte Fatty wieder alles für uns zusammen. Sie sagte das eine, was alles ausglich, denn man darf nicht vergessen, wer wir waren, die Überschüssigen, die Unangepaßten, die Unerwünschten. Sie sagte: »Wie oft wären wir auseinandergefallen, wenn es die Kiste nicht gegeben hätte? Wie weit wären wir ohne sie gekommen, ohne sie und die Aufgabe, uns gegenseitig zu helfen? Der Schatz, den sie uns versprochen hat, war genau der, den sie meinte – der größte Schatz, den der Mensch kennt –, am Leben zu sein. Der Schatz war nicht in der Kiste, sondern im Bringen der Kiste.« Dann sagte sie es, Fatty tat es, sie sagte, was für uns alle das Wichtigste war, für ewig und immer; sie sagte: »Miss Morin hat uns geliebt. Sie hat uns wirklich und wahrhaftig geliebt.«
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Kümmere dich um Joey Ich unterhielt mich mit dem Barmann, worüber, weiß ich nicht mehr, und er sagte, Moment, und griff nach dem Telefonhörer. Ich hatte auf den kleinen Mann mit dem grünen Pullover kaum geachtet, aber er. Der Kleine schlenderte durch das ganze Lokal, und an jedem Barhocker blieb er nicht gerade stehen, wurde aber langsamer. Jeder Gast wurde angestarrt, mit einem kalten Blick von oben bis unten, der praktisch sagte, hau mir doch eine rein. Unheimlich. Manche kleingewachsenen Männer haben diese Art, Sie wissen schon: Ich bin zwar klein, aber eisenhart, probier’s doch mal – und sie sind wirklich zähe Burschen. Der da war’s nicht. Irgendwie stimmte was nicht mit seinem Gang, ich weiß nicht wie, es war nicht mal ein Hinken, und er war sehr mager. »Hallo, Dwight. Hier Danny, vom Ramble Inn. Joey ist eben reingekommen, und er scheint – Ja. Ja. Ja.« Er legte auf, und wir beide sahen uns den Kleinen, diesen Joey, an. Ein paar Gäste drehten ihm den Rücken zu, nach links, wenn er herankam, nach rechts, wenn er vorbeiging, und wenn sie das machten, zwängte er sich neben ihnen hinein und blieb da, bis sie ihn ansehen mußten. Er warf ihnen diesen Blick zu und zog die Oberlippe an der Seite hoch, und wenn sie nichts sagten, ging er weiter, und sie sagten nichts. Dann sahen andere ihn an, so was-solln-das, und er starrte sie an, bis sie sich abwandten, und ging dann weiter. Ein Gast, er war ziemlich kräftig und sah schläfrig aus, aber bei denen muß man aufpassen, er sagte: »Wollen Sie was?«, und dieser kleine Joey wartet eine ganze Zeit, bevor er antwortet: »Vielleicht später.« Dann komme ich, weil ich ganz unten sitze, beim Barmann. Ich beobachte ihn im Spiegel, und das kann er nicht wis174
sen, deshalb steht er neben mir und macht nichts, bis ich mich umdrehe und ihn ansehe. Ich sagte hallo. Er sagte nichts. Er wartete ganz lange und starrte mich an, dann spuckte er auf den Boden. Ich brauchte die Füße nicht wegzuziehen, aber beinahe. Er starrte mich weiter an, dann ging er um mich herum und sagte zum Barmann: »Ich will einen Boiler.« Danny, der Barmann, gab ihm Schnaps und Bier, und der kleine Mann nahm die Gläser und ging zu einem Tisch, von dem aus er alle sehen konnte. »So einer kann Ärger machen«, sagte ich. »Wird Ärger machen«, meint Danny, der Barmann. Bevor ich noch etwas sagen kann, kommt ein großer Mann herein, sorgenvoll, schaut sich überall um, aber ich glaube nicht, daß er diesen Joey sehen konnte, weil er direkt zu mir kommt und zum Barmann sagt: »Danny, wo- « »Hallo, Dwight. Da ist er.« Er zeigt es ihm mit den Augen. Dwight, das ist der Große, wirft einen Blick hinüber und benutzt dann den Wandspiegel, um diesen Joey genau zu beobachten, er scheint alles wissen zu wollen, was er erfahren kann, ohne daß er mit ihm redet. Ich sehe, wie er das Gesicht verzieht, als Joey den Whisky kippt und das Bier hinterhertrinkt. Ich höre ihn sagen, o Gott, als Joey aufsteht. Joey steckt sich eine Zigarette in den Mund und zieht das Kinn ein und geht halb an der Theke hinauf, wo der große, schläfrige Mann sitzt, der vorher gesagt hat: »Wollen Sie was?«, und er greift nach der Zigarre von dem, die in einem Aschenbecher auf der Theke liegt. Dwight sagt mir wieder ins Ohr, o Gott, und Danny, der Barmann, sagt: »Dwight, Sie nehmen ihn am besten mit«, und der Schläfrige sagt: »He, nehmen Sie Ihre gottverdammten Finger von meiner Zigarre.« 175
Joey zündet sich seelenruhig an der Zigarre die Zigarette an, und Dwight geht auf die beiden zu, und vielleicht wäre sogar da noch alles gutgegangen, aber Joey nimmt die Zigarre und läßt sie in das Glas von dem Großen fallen. Na, das war’s natürlich, und der Schläfrige holt aus, aber inzwischen steht schon Dwight zwischen ihnen, und mehr noch – er stößt Joey mit der Schulter weg, daß er zur Seite taumelt. Dafür muß Dwight den Schlag auf den Hals kassieren, und er hebt die Hände, um Frieden zu stiften, und sagt, schon gut oder so etwas. Der Schläfrige will aber nicht ruhig sein und steht auf, und er ist viel größer, als ich dachte. Er holt mit einer Riesenrechten aus, und ich hab’ welche gesehen, die das machen, und ich möchte Dwight zuschreien, er soll nicht darauf achten, denn das will er ja, und tatsächlich kommt die Linke von dem Schläfrigen kurz und gerade und legt Dwight flach auf die Bretter. Angewidert und erschrocken höre ich Danny, den Barmann, sagen: »Herrgott, jetzt muß ich die Bullen rufen, ich mag die Bullen nicht«, also sagte ich, er solle es nicht tun, und ging dahin, wo der Ärger war. Dwight zappelte ein bißchen am Boden, und der Schläfrige blickte auf Joey, und Joey wich zurück. Ich wollte eigentlich nur versuchen zu reden, aber der Schläfrige tritt Dwight. Er tut es, während er Joey anstarrt, als sei ihm egal, wo er Dwight trifft, und das ist es auch. Ich mag Kerle nicht, die einen treten, außer es muß sein, deshalb sagte ich zu dem Schläfrigen, er soll aufhören, und er trat Dwight wieder und sah mich an und holte mit der rechten Faust ganz auffällig aus, und wenn man das zweimal hintereinander sieht, weiß man, daß da einer nur einen Trick kennt, und da ist es einfach für einen, der zwei beherrscht; ich kenne an die fünfzig. Ich zeigte ihm ein paar, und er kam gar nicht an mich heran, nur einmal, als ich sein Handgelenk packte und ihn über meine 176
Schulter warf, daß er durch die Luft flog, und inzwischen hatte ich ihn schon viermal erwischt, und er würde eine Weile nicht mehr aufstehen. Ich half Dwight auf die Beine und hinüber zu meinem Glas, und er hielt sich an der Theke fest und schüttelte den Kopf. Danny, der Barmann, gab ihm einen Schnaps, und das schien ein bißchen zu helfen, während die Gäste wieder auf ihre Hocker stiegen, bis auf zwei, die nach dem Schläfrigen schauten. Ich rief ihnen zu, sie brauchen sich nicht zu sorgen. Und inzwischen steht der kleine Joey, der das Ganze angefangen hat, genau noch an der Stelle, wo der Schläfrige ihn hingeschoben hat. Danny sagte, ich soll austrinken. »Auf meine Kosten, dankbar, aber schafft Joey raus, von jetzt an hat er hier nichts mehr zu suchen. Sie kennen ihn, alles, was recht ist, Dwight«, und ich begriff, daß er mit Dwight sprach, nicht mit mir, »ich weiß nicht, wie Sie das machen. Wenn ich das wäre, ich würde einfach zulassen, daß ihn einer runterbügelt.« »Sie sind es aber nicht«, sagt Dwight. »Danke für den Schnaps.« Er schaut mich an und bedankt sich bei mir auch. Ich sagte, ich wolle mitgehen. Manchmal, wenn so etwas passiert, ist noch nicht Schluß, und man wird draußen überfallen. Dwight sagte, diesmal glaube er nicht dran, und ich glaubte es auch nicht, aber ich ging trotzdem mit. Auf dem Weg nach draußen sammelten wir Joey sozusagen links und rechts ein. Er ging auch mit, er blieb nur einen Augenblick an der Tür stehen, um sich umzuschauen, als zwei Gäste dem Schläfrigen auf die Beine halfen, und dann sah er Dwight an und lachte ihn aus. Um mich kümmerte er sich gar nicht. Ich meine, er war ein richtig unheimlicher Kerl. Ich ging mit, und ich will Ihnen sagen, warum. Ich habe schon viel gesehen, an vielen Orten, und es gibt eines, was mich 177
immer wieder packt, nämlich wenn ich sehe, wie einer sich um jemand kümmert, weil ich das, ehrlich gesagt, eigentlich nicht verstehen kann. Warum sich einer auf eine Handgranate wirft, um seine Kameraden zu retten. Weshalb ein Fremder in ein brennendes Haus rennt, um jemand herauszuholen. Wie es kommt, daß man jemand mitten in der Nacht anrufen kann, und er rennt los, um einem anderen aus der Patsche zu helfen. Man kann sagen, was man will von Helden und vom Überleben der Rasse und von Opfermut und dergleichen, und ich sage Quatsch. Vielleicht glauben Sie dran, aber ich glaube, daß die Menschen entweder Wolfe sind oder Schafe, und aus damit. Trotzdem suche ich immer wieder, ich weiß wirklich nicht, warum. Ich schaue ganz genau hin, und es gefällt mir nicht. Ich meine, es ist, als wollte ich nicht herausbekommen, kein einziges Mal, daß jemand wirklich und wahrhaftig einem anderen hilft, ohne daß er dafür etwas bekommt. Es ist so, als hätte ich Angst, das herauszufinden, so als würde das meine ganze Welt auf den Kopf stellen, wenn ich je dahinterkäme, aber ich suche danach. Als erstes riß Joey sich los, als wir das Lokal verlassen hatten, und rannte auf die Straße hinaus. Autos kamen daher, ein Lastwagen und ein Omnibus, und Joey schien das ganz egal zu sein. Es wurde wild gehupt, und Reifen quietschten, und man fluchte, und Dwight war von dem Rundschlag immer noch benommen, aber er hechtete trotzdem hinaus in den Verkehr und erreichte Joey und schlang die Arme um ihn und schleppte ihn bis zur unterbrochenen Linie zwischen den Fahrspuren und hielt ihn da fest, bis es eine Lücke gab und er ihn auf den Gehsteig zurücktreiben konnte. Er beschimpfte ihn auch und meinte es ernst. Joey lachte nur. Dwight sagte, er solle sich heimscheren, bevor ihn einer umbringe, und ich glaube, daß er sich 178
selbst meinte damit. Joey sagte nein. Er kümmerte sich immer noch nicht um mich. Dwight ließ den kleinen Burschen los, und der schlenderte die Straße hinunter. Dwight ging langsam hinter ihm her. Er behielt ihn fast die ganze Zeit im Auge. Er sagte zu mir, na, vielen Dank für das, was Sie im Lokal getan haben, es war soviel wie leben Sie wohl, hau ab. Aber ich ging mit. Nach einer Weile meinte Dwight, er käme schon allein zurecht. Er sagte: »Ab und zu wird er so, will raus und trinken. Es ist nicht allzu schlimm, solange man ihn im Auge behält und von den Großen wegsteuert.« Ich glaube nicht, daß er große Leute meinte, er meinte wohl große Schwierigkeiten. Ich sagte, wenn es ihm nichts ausmache, daß ich das frage, wenn’ einer so scharf drauf sei, sich umzubringen, warum lasse er ihn dann nicht einfach in Ruhe? Er wolle doch schließlich nichts anderes. Und Dwight sagte: »Nein, das tut er nicht.« Er sagte das ganz entschieden, so als wüßte er genau Bescheid. Da lief Joey also mitten in der Nacht herum, als hätte er kein bestimmtes Ziel und als sei ihm alles egal, und wir beiden gingen hinterher, paßten auf und unterhielten uns ab und zu ein bißchen. Als ich dabei blieb, hörte Dwight auf, dauernd danke und gute Nacht zu sagen. Ich erfuhr, daß sie nicht verwandt waren, daß sie nicht aus derselben Stadt stammten, daß sie nicht zusammen wohnten oder in derselben Firma arbeiteten oder auch nur im selben Beruf. Dwight war Meister in einer Druckerei, glaube ich, ziemlich gebildet, ich meine, man hatte das Gefühl, daß er viel mehr erreichen könnte, wenn ihn nicht etwas zurückgehalten hätte. Joey war Arbeiter in einem Karosseriewerk. Die beiden hatten auch nichts miteinander. Je mehr ich über sie 179
erfuhr, desto mehr zerbrach ich mir den Kopf, desto mehr machte ich mir Sorgen, daß hier wirklich jemand war, der für einen anderen sorgen wollte, ohne dafür etwas zu bekommen. Ich meine, ich glaube nicht, daß sich die beiden überhaupt mochten. Schließlich fragte ich ihn rundheraus, warum, und er sagte nur: »Es gibt Dinge, die muß man einfach tun.« Dann begann Joey zu laufen. Man möchte nicht glauben, daß so ein kleiner, spindeldürrer Kerl so losrennen kann, in der einen Sekunde noch gemütlich an den Schaufenstern vorbeigeschlendert, in der nächsten losgeschossen wie eine Rakete. Ich hörte wieder das müde ›O Gott‹ von Dwight, und ssst! ist er hinter dem Kleinen her. Ich dachte, na wenn schon, und hetzte ihnen nach. Joey rannte drei Straßen weit, und sein Vorsprung wurde noch größer. Ich erkannte sofort, daß Dwight gar nicht in guter Verfassung war, weil er schon keuchte, als ich ihn überholte. Ich kümmerte mich nicht mehr um ihn, sondern nahm mir vor, diesen Joey einzufangen und festzuhalten. Es war nicht einfach. Er bog in eine Gasse ein, und wenn ich nicht aufgepaßt hätte, hätte ich gar nicht bemerkt, daß er sofort wieder abbog, in einen Verladeplatz ohne Ausgang hinter einem großen Lagerhaus. Da war es dunkel, aber nicht stockfinster. Trotzdem konnte ich ihn nirgends sehen. Ich suchte überall, bis ich wieder in der Gasse stand, damit Dwight mich sehen konnte, wenn er vorbeikam, und er sah mich. Er war so ausgepumpt, daß er gar nicht sprechen konnte, und als ich ihm sagte, wohin Joey gelaufen war, nickte er nur und lehnte ‚ sich an eine Ziegelmauer und schnaufte, bis 180
er sich wieder erholt hatte. Dann sagte er: »Wir müssen ihn jetzt aufhalten. Mit seinem Herzmuskel stimmt etwas nicht, er darf nicht so rennen. Er weiß es, tut es aber trotzdem ab und zu, der Saukerl.« Jetzt wußte ich, daß es nicht darum ging, daß sie sich nicht mochten, dieser Dwight haßte den Kleinen sogar. Er ging zu der Verladestelle und schaute sich um. Jemand hat mir einmal erklärt, wenn du dich verstecken willst, dann nicht unter oder hinter etwas, sondern oben. Wer etwas sucht, schaut immer hinunter oder hinter etwas, nie hinauf, wenn ihn nicht etwas aufmerksam macht. Ich erinnerte mich daran und schaute hinauf, und klar. Ich gab Dwight einen Stoß und zeigte es ihm. Es gab eine Feuerleiter, die bis zum Dach hinaufführte, und etwa sechs Meter weit oben sah man einen schwarzen Fleck, der sich bewegte. Wenn man genau hinschaute, konnte man sehen, daß es Joey war, und nach einer Weile sah man, daß er auf einem der Absätze der Stahltreppe stand, und wenn sich die Augen richtig daran gewöhnt hatten, sah man, daß er auf der falschen Seite des Geländers auf einem Bein stand, sich festhielt und über dem Abgrund hin und her drehte. »O Gott. Ich muß ihn holen. Er wird so leicht schwindlig.« Dwight lief auf die Leiter zu. Ich war in zwei Sprüngen bei ihm. Es war einfach, er war noch nicht einmal richtig zu Atem gekommen. Ich sagte, wie er wohl zur Leiter hinaufkommen wollte? Es war eine von diesen Klappleitern, die herunterschwingt, wenn man von oben kommt, sonst bleibt sie im ersten Stock, damit es die Einbrecher nicht so leicht haben. Jemand mußte sie unten festgebunden haben, und wenn Joey sie so vorgefunden hatte, dann beließ er es jedenfalls nicht dabei. Man mußte ein Vogel oder ein Stabhochspringer sein, um jetzt hinaufzu181
kommen. Und da oben schwang sich Joey hin und her wie ein Affe. Ich hörte ihn lachen. Dwight stellte sich unter die Leiter und sprang. Es war herzergreifend. Er sprang und sprang, ich glaube, er war nicht mehr ganz bei sich. »Wir müssen ihn holen«, sagte er immer wieder zwischen den nutzlosen kleinen Sprüngen – man konnte es nicht richtig verstehen, so keuchte er. An der Ecke des Gebäudes gab es ein glattes Rohr, wozu, weiß ich nicht. Ich kletterte Hand über Hand hinauf. Es war nicht einfach. Für die Füße fand ich keinen Halt, also ließ ich sie einfach hängen. Dwight versuchte mir zu folgen, aber er kam nicht einmal vom Boden weg. Als ich über die Höhe des ersten Treppenabsatzes hinauskam, holte ich erst mal Atem, dann schwang ich die Beine hinaus und stieß mich gleichzeitig ab. Es war keine schlechte Idee, aber ganz klappte es nicht. Ich konnte das Geländer nicht, wie vorgesehen, mit beiden Händen fassen, eine Hand landete an den flachen Bodengitterstäben. Das tat verdammt weh, aber ich konnte mich festhalten, bis ich aufhörte, hin und her zu baumeln, dann kletterte ich hinauf. Ich mußte mich eine ganze Zeit hinlegen, bis ich weitermachen konnte. Ich hätte ja die Leiter hinunterschieben und Dwight heraufklettern lassen können, aber um ganz ehrlich zu sein, auf den Gedanken kam ich gar nicht. Ich stieg diesem verrückten Joey nach. Ich hörte ihn wieder lachen. Ich kletterte sozusagen auf allen vieren weiter. Er dachte wohl, es sei Dwight, nicht ich. Als ich den sechsten Absatz erreichte, schrie er jedenfalls: »Sie sind nicht Dwight, hauen Sie ab hier, kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck, der alte Dwight kümmert sich um mich.« Er stand immer noch hinter 182
dem Geländer und hielt sich fest, während er sich hinausbeugte. Ich sagte gar nichts. Er brauchte nur loszulassen, und das wär’s gewesen. Ich ging langsam hinauf. Vielleicht war es bis dahin nur Spaß für ihn, ich weiß nicht. Vielleicht lag es daran, daß er zornig auf mich wurde, daß in seinem irren Kopf sich etwas änderte. Aber als ich näher kam, sah ich, in einem schwachen Lichtschein, wie seine Augen ganz merkwürdig wurden – ich meine, er hörte auf zu schreien und hin und her zu baumeln, und seine Augen wurden weiß. Sie rollten einfach nach oben. Und seine Knie knickten ein. Ich sprang. Ich griff mit der rechten Hand nach ihm, weil ich Rechtshänder bin, und weil ich keine Zeit zum Nachdenken hatte. Es war die Hand, mit der ich mich beim Sprung unten abgefangen hatte, und sie war blutig und abgeschürft. Es tat enorm weh, aber das ging in Ordnung – sie funktionierte nur nicht richtig. Sie landete in seiner Achselhöhle, als er stürzte, eine blöde Stelle, wenn man jemand abfangen will, und erwischte Haut und Pullover. Ich fiel hin und rutschte nach vorn, und er hätte mich glatt mitgezogen, aber ich wölbte den Rücken hoch und hakte die Fersen in der Unterseite des Geländers ein. Solange ich die Knie gebeugt halten konnte, bildeten meine Fersen eine Art Haken, der wenigstens das Wegrutschen verhinderte. Ich erfaßte ihn mit der anderen Hand. Er war keine Hilfe, er war Ballast, er war ohne Bewußtsein. Ich entsinne mich, daß ich eine Sekunde lang dachte, zum Teufel, ich habe genug getan. Aber darauf hörte ich nicht und hielt fest, und nach einer Weile fand ich die Kraft, ihn so hochzuziehen, daß ich seine Brust auf das Bodengitter zerren und mich zurückbeugen und darauf fallen lassen und ihn ganz hereinziehen konnte. Weit unten im Dunkeln schrie Dwight immer wieder etwas. Er schrie: »Nicht schlagen. Um Gottes willen, nicht schlagen.« 183
Wenn er nicht ohnmächtig geworden wäre, ich glaube, ich hätte ihn geschlagen. Wie gesagt, ich kenne eine Menge Tricks, aber es gibt ein paar, die ich noch nie ausprobiert habe, und die hätte ich gern bei ihm versucht. Aber es war nicht nötig, und nachdem ich mich erholt hatte, lud ich ihn auf die Schulter und ging mit ihm die Feuertreppe hinunter. Die Klappleiter ließ sich ohne Schwierigkeiten bewegen, ich stieg hinunter, sie klappte wieder hoch, und ich legte Joey auf den Boden. Dwight sprang auf ihn zu und betastete ihn überall und legte das Ohr an Joeys Mund und zündete ein Streichholz an und zog ein Lid hoch, dann kauerte er sich nieder und seufzte tief. »Es ist ihm nichts passiert.« »Sehr schade«, sagte ich. Dwight sagte, er würde ungefähr eine halbe Stunde so liegenbleiben und dann zu sich kommen, und er, Dwight, würde ihn heimbringen. Er sagte, er würde dann wahrscheinlich zwei oder drei Wochen lang so etwas nicht mehr machen. Ich glaube, ich wurde ein bißchen wütend, und nannte ihn alles mögliche, vor allem dumm. Ich sagte, er solle sich das Gehirn untersuchen lassen, wenn er seine Zeit damit verschwende, für einen irren, häßlichen, kleinen Furz wie diesen Joey zu sorgen. Er kauerte da neben Joey und sah zu mir auf und ließ mich schimpfen, und dann sagte er, na ja, ich hätte wohl das Recht, die ganze Geschichte zu erfahren. Er sagte, es gebe in jeder Gruppe einen Jungen, der für alle die Zielscheibe sei – der kleine, dicke Junge. Oder manchmal der kleine, magere Junge oder der mit den Kraushaaren. Er sagte, je mehr alles auf einem Jungen herumtrampelt, desto mehr haßt man ‚ ihn, und manchmal tut es gut, ihn allein zu erwischen und ihn elend zu verprügeln, nur weil er da ist, um elend verprügelt 184
zu werden. Dieser Junge war nämlich Joey gewesen, und eines Tages erwischte Dwight ihn alleine und verprügelte ihn elend, und Joey stand auf und schlug zu. Vielleicht hatte er nur nicht aufgepaßt, aber jedenfalls kippte er um wie ein langer Baum und stürzte mit dem Kopf in zerbrochene Flaschen und war bewußtlos und schnitt sich ziemlich, und als er nach etwa einer Minute wieder zu sich kam, versuchte Joey ihm das Blut vom Gesicht zu wischen. Aus irgendeinem Grund machte ihn das wahnsinnig, und er sprang auf und schlug Joey zusammen und trat auf ihm herum, bis er nicht mehr konnte. Dann ging er heim. Als sie Joey fanden, dachten sie, er sei tot, und im Krankenhaus dachten sie monatelang, er würde nicht durchkommen. Er kam aber durch, sozusagen. Mit seiner Milz stimmte etwas nicht, mit dem Zentralnervensystem auch nicht, so daß er ein bißchen komisch ging, und im Kopf, wo durch den Schädelbruch sein Gehirn gequetscht worden war, stimmte es auch nicht ganz. Und eine gebrochene Rippe hatte mit seinem Herzen etwas angestellt. Den gesetzlichen Vorschriften in dem Bundesstaat zufolge war Tod aufgrund vorsätzlicher Körperverletzung selbst dann Mord, wenn er erst nach langer Zeit eintrat. Bei den vielen Leiden konnte jeder Schlag und jeder Sturz Joeys Ende bedeuten. Dwight wußte das, und Joey wußte es. Wenn man Joey je tot auffand, sprach vieles dafür, daß ihm das, was ihn getötet hatte, nicht das Leben gekostet hätte, wäre er nicht so zugerichtet worden, und jeder Gerichtsarzt würde das feststellen können. Also konnte Dwight nur versuchen, dafür zu sorgen, daß Joey nicht in Schwierigkeiten geriet. »Ab und zu fängt er an, darüber nachzubrüten, daß er nie heiraten oder aufs College gehen oder wie die anderen Menschen sein kann, dann geht er aus und trinkt und versucht nie185
dergeschlagen zu werden, damit ich vielleicht auf dem elektrischen Stuhl lande, und außerdem gefällt es ihm, wenn er sieht, was ich alles tun muß, um auf ihn aufzupassen.« Er blickte lange Zeit auf Joey und sah dann wieder mich an. »Er ist von zu Hause nach Philadelphia und dann nach Macon und Cleveland gegangen und jetzt hierher, und ich mußte auch mit.« Er sah wieder auf Joey hinunter und sagte: »Ich bin auch nie aufs College gegangen und konnte nicht heiraten und Kinder haben, das wird wohl nie etwas. Es sind jetzt zweiundzwanzig Jahre.« Ich sagte: »Na, da ist mir aber schon viel wohler.« Ich sagte: »Ich suche mein ganzes Leben nach einem Menschen, der etwas für andere tut, ohne daß er etwas dafür bekommt, und ich glaube, ich würde wahnsinnig werden, wenn ich je einen fände.« Ich sagte: »Hund beißt Hund, das kann ich verstehen, und ich verstehe, wie alles funktioniert, aber wenn Sie mir mal den einen zeigen, der für andere etwas Bedeutendes tut, nur weil es getan werden muß, dann schnappe ich über.« Und ich sagte: »Worüber lachen Sie denn, verdammt?« Er sagte: »Sie sind einer.« Ich sagte: »Nein, bin ich nicht.« Ich rannte weg und sagte nein, bin ich nicht. So will ich nicht sein, ich möchte nicht, daß einer so ist, wenn einer so wäre, würde ich überhaupt nicht mehr begreifen, wie alles funktioniert.
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Die Verhaltensmuster von Dorne Der Nadelpfeil war ein Wunder an Mikropräzision. Ein winziges Stück Metall, enthielt er einen Lasergenerator, ein Suchgerät und einen so wirksamen Zerstörungsmechanismus, daß er augenblicklich seine Bestandteile bis hinunter zur Molekularebene auflösen würde. Er würde jenen einen kurzen Hitzeblitz ins Ziel bringen, aus nächster und tödlicher Nähe, und dann aufhören zu existieren. Eine Obduktion des Ermordeten würde die beinahe mikroskopisch kleine Punktverbrennung zutage fördern – aber inzwischen würde die Ausschußwunde beinahe identisch und alles dazwischen zu einer Art Suppe verkocht sein. Es würde hinter oder vor dem Opfer keine Spuren geben; selbst der grelle Glanz nahezu solarer Hitze würde im Körper des Opfers verborgen bleiben, und beim Sturz mußte er in die eine oder andere Richtung fallen; wer konnte die Schußbahn rekonstruieren? Die kleine Waffe, die den Nadelpfeil abfeuern sollte, war ein ebensolches Wunder – sie war so klein, daß sie unter dem aufmontierten Teleskop zwergenhaft erschien. Als Antrieb diente eine Reihe von kryptokryogenischen Solenoidringen, laut- und lichtlos, gewunden in Zehntausenden von Wicklungen eines nahezu unsichtbaren, supraleitfähigen Drahts. Im Zielfernrohr befand sich ein vollständiges Lichtverstärkersystem mit automatischem Entfernungsmesser. Was immer am Schnittpunkt des leuchtenden Fadenkreuzes erfaßt und scharf eingestellt erschien, würde getötet werden. Und alles zusammen, Waffe und Geschosse, bestand aus Material weit unterhalb der Grenzbereiche selbst der besten Ortungsgeräte und war demontierbar zu kleinen, unauffälligen Teilen, die man um und in die gutsitzende Uniform eines Oberleutnants in der Wachtruppe des Führers verteilen konnte und verteilt hatte. Der Führer war 187
Dorne, und im hellen Bild im Fernrohr befand sich die offene Balkontür von Domes Suite, und alles, was noch fehlte, um das Bild zu vervollständigen, diesen genauen Plan zu ergänzen, war das Erscheinen von Dornes berühmtem Gesicht. Der steinerne Raum, in dem der Leutnant sehnsüchtig lehnte und in sein Teleskop blickte, paßte mit seiner eisenbeschlagenen Eichentür und dem schmalen Fensterschlitz eher zum fünfzehnten Jahrhundert als ins einundzwanzigste. Es war grabdunkel, abgesehen von dem winzigen Lichtpunkt im Fernrohr, und leer, abgesehen von einem halben Leben Haß und Entschlußkraft und absoluter Gewißheit ... und jetzt, und jetzt war es abgeschlossen; jetzt zuckte ein Schatten in der Tür auf der anderen Seite des Innenhofs, jetzt öffnete sie sich, und das Gesicht auf den Münzen, das Gesicht, von Briefmarken und Plakaten und Statuen und Regierungserlassen, das große, sanft wirkende, löwenmähnige, machtvolle Gesicht Domes erschien im Fadenkreuz, als der Führer auf die Sekunde genau – das verstand sich von selbst! – auftauchte, um zur Mitternacht frische Luft zu schöpfen. Leben und Laufbahn des Leutnants gipfelten in den zwei winzigen Bewegungen eines Fingers, der an den Abzug glitt, und eines Daumens, der sich auf den Fokusrotor legte. Das Bild wurde porenklar scharf, und als der Daumen den zweiten Rotor erreichte, schoß es heran, um den Rahmen auszufüllen mit den verhaßten, lachbereiten Zügen, den muskelstarken Wangen, der Andeutung von Krähenfüßen um die weit auseinanderstehenden brütenden Augen. Der Schnittpunkt der Fäden gelangte zur Nase des Führers, der Finger spannte sich am Abzug, das Bild wurde starr – Und erlosch. Erlosch, war leer, verschwunden. 188
Dann ein Sekundenbruchteil endloser Zeit, ein schwarzes Universum aus totalem Unglauben, und er zog das Auge zurück, was nichts änderte, nur die Schwärze in der Schießscharte noch betonte. Er löste die Hand vom Abzugsbügel und schob sie am Fernrohr entlang zum Ojektiv, um festzustellen, was es verhüllte. Es war eine Hand. Er hatte Zeit genug, sie zu berühren und als das zu erkennen, was sie war, als etwas Stumpfes ihn am Kehlkopf traf. Er fiel, die Waffe von der Dunkelheit scheinbar in der Dunkelheit festgehalten, schwebte, während er von ihr wegstürzte und um zwei unmögliche Dinge kämpfte – Atem und Stille. Seine Knie prallten auf den Steinboden, und als er den Kopf über dem unerträglichen Schmerz in seinem Kehlkopf beugte, traf ihn etwas im Nacken, und er sank zusammen. Der Schmerz war ein kurzes Aufzucken noch schwärzerer Schwärze, die ihn verschluckte. Die Zeit machte einen Sprung. Er sollte sich nie erinnern, wie er als schlaffes Bündel unter dem Fenster an einer der Seitenwände aufgesetzt worden war. Entweder war es noch immer dunkel, oder er war blind … nein; es war nur die Dunkelheit, denn er nahm die schwach erhellte Scharte wahr. Seine Augen brannten. Er hatte seit Jahren nicht mehr geweint, nicht mehr, seitdem sein Vater und seine beiden Brüder eines Nachts von einer Streife abgeholt worden waren, um nie mehr gesehen zu werden; damals war er noch sehr klein gewesen. Was ihn jetzt anrührte, war das qualvolle Leid und der Verlust und der Zorn der Enttäuschung – all das, was er sich in diesen vorsichtigen Jahren versagt hatte; für den Augenblick war ihm alles andere versagt. Das eine, was er nicht empfand, war Scham, und die brandete erschreckend auf, als weicher Stoff eine Wange, ein Auge, das andere berührte und die Tränen abwischte. Niemand 189
hätte wissen sollen, daß er Tränen hatte. Er versuchte zwei zornige Hände zu heben und konnte nicht; prickelnder Schmerz an zwei Stellen über den Schlüsselbeinen sagte ihm, daß die Nerven fachmännisch gequetscht worden waren, und er wußte aus Erfahrung, daß ihm seine Arme eine Zeitlang nicht gehorchen würden. Etwas legte sich über seinen Kopf, fiel über Stirn und Augen. Er ächzte. Das Licht war an sich nicht hell, aber jedes Licht hier blendete. Begreifen blendete auch – daß das eine Nachtbrille war, ein UV-Gerät, und daß er mit ihr und dem unsichtbaren Strahl aus der Lampe zwischen den Gläsern von dem Augenblick an beobachtet worden war, als er den steinernen Raum in der Festungsmauer betreten hatte. Er war bei der Montage der Waffe gesehen – fotografiert? – worden, und als er gezielt hatte. Er war, o Gott, beim Weinen beobachtet worden, und man hatte ihm die Tränen abgewischt, damit er durch die Brille sehen konnte. Was sehen? Einen hellen Fleck, ein Zucken, ein Wappenschild mit Lederrücken, mit dem allgegenwärtigen Gesicht des Führers, und links und rechts daneben einen Buchstaben, ein funkelndes S. Secret Service – Dornes eigener legendärer, geheimnisvoller Geheimdienst, über dem Gesetz, außerhalb des Gesetzes; denn sogar Dornes Gesetze, von Dorne erlassen, erlegten Dorne Beschränkungen auf, und Dorne war ein Mann, der sich nicht beschränken ließ. Er nickte, und die Brille wurde sofort abgenommen. Drei leise Schritte im Dunkeln, ein atemloser Augenblick des Wartens, Lauschens, dann wurde die schwere Tür gerade weit genug geöffnet, um eine schwarze Silhouette entstehen zu lassen, die hinausschlüpfte und die Tür wieder schloß. Der Leutnant gaffte die Stelle an, wo die kurze Vision erschienen war, und versuchte nicht zu denken – denken war 190
zu schrecklich, denken führte zu der sicheren Erkenntnis, daß er ein toter Mann war, zu dem noch vernichtenderen Wissen, daß man mit ihm wie mit einer kleinen Katze gespielt und ihn weggewischt hatte wie ein Insekt. Soviel also für ein halbes Leben der Sorgfalt und Leidenschaft. Anstatt zu denken, fühlte er – fühlte das Prickeln über seinen Schlüsselbeinen zum Bizeps wandern, weiter zum Unterarm, zu den Händen und Fingern, mit jeder Sekunde weniger qualvoll, bis eine Willensanstrengung durch eine Bewegung seiner Finger belohnt wurde. Er hob die Hände und rieb sie zitternd, bis sie wieder; ihm gehörten; dann schob er sich auf die Füße und folgte dem Beispiel, das man ihm gerade gegeben hatte; er ging zur Tür, hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Er öffnete die Tür einen winzigen Spalt, schaute hinaus, schlüpfte hinaus, schloß sie. Niemand zu sehen. Er wandte sich nach rechts und begann zu gehen. Wenn er erwartet hatte, daß die Festung in Alarmbereitschaft war, sah er sich getäuscht. Als er an einem salutierenden Kurier. und an einem Unteroffizier vorbeikam, wurde ihm klar, daß ihre Gesichter oft genug an diesem Ort gesehen hatte; daß er wieder an seinen vertrauten Platz im komplizierten Mechanismus der konzentrisch aufgestellten Wachen zurückgekehrt war. Seitdem er heute zum Dienst gekommen, hatte er jeweils ein paar Sekunden, früher seine Kontrollen vorgenommen, bis ihm knapp sechs Minuten Zeitvorsprung zur Verfügung gestanden hatten. Mit diesen sechs Minuten und einer Waffe, die zu entwerfen und zu bauen sechs Jahre gedauert hatte, wollte er die Welt verändern. Jetzt wußte er, daß es nicht mehr Zeit bedurft hatte, um nutzlos und tot zu sein, die Welt, Dornes Welt, unverändert und im Triumph zurückzulassen; denn er war wieder pünktlich auf seinem Rundgang. Er konnte direkt in den Wach191
raum gehen und sich ablösen lassen, um den Dienst zu beenden, und niemand würde wissen, daß Leben und alle Beweggründe für das Leben aus ihm herausgesogen worden waren, zusammengefaltet, abgelegt – in knapp sechs Minuten. Im vertrauten Wachraum voll vertrauter Gesichter überflog er die Kolonnen seines Berichts – eine lautete ›Ungewöhnliche Vorfälle‹, eine andere ›Unbefugtes Personal‹; er log und schrieb ›Keine‹, ›keines‹, ›keine‹ auf die ganze Seite; was konnte man ihm jetzt noch antun, einer Lüge wegen? – und er erkannte den Schwung der Vertrautheit. Man konnte in Gedanken, müde, betrunken sein und doch bekannte Dinge richtig tun. Man konnte tot sein. Er wußte, daß er beobachtet wurde, wie vorher. Er wußte, daß er mehr als hilflos war – er war nutzlos. Er übergab die Wache an Riggs, einen Leutnant und Berufsoffizier mit vorstehenden Zähnen und albernem Kichern, ging hinaus in die von Scheinwerfern erhellte Nacht und ließ sich am vertrauten Tor überprüfen; war dies das letztemal? Vielleicht, vielleicht nicht – es hing ja soviel davon ab, wie ›amüsant‹ sie das Spiel finden würden. Der vertraute Wagen wartete, die vertrauten Zein und Hallowell und Iturbi stiegen ein, als er ihn erreichte, und als der Wagen lautlos durch die dunklen Straßen rollte, verlief auch das Gespräch in den üblichen Bahnen. Niemand achtete auf sein Schweigen; er war kein gesprächiger Mensch. Iturbi wurde abgesetzt. Wieder lautloses Rollen, und die neue Vertrautheit der Zein-Hallowell-Unterhaltung; sie sprachen stets über Iturbi. Dann wurden sie am Schrein des Führers abgesetzt – sie wohnten beide in der Nähe, und der Wagen rollte nordwärts auf dem Dorne-Boulevard, mit der endgültigen Vertrautheit des leeren Fonds und der vertrauten, stummen Gegenwart des Fahrers. Nördlich auf dem Dorne-Boulevard? »He!« 192
Der Wagen wurde sofort langsamer und rollte an den Randstein. Nun, endlich unterschied sich etwas, um den Tag seines Todes zu bezeichnen. Der Fahrer hatte vergessen, daß er in der South Side wohnte. Er schaute genauer hin. Es war eine Frau. Nun, das waren die meisten. Sie drehte sich ihm halb zu und sagte: »Kommen Sie nach vorn zu mir.« »Ich bleibe, wo ich bin«, knurrte er. »Wenden Sie gefälligst, und – « Er verstummte, wie vom Blitz getroffen, denn die Fahrerin zog beiläufig etwas aus der Tasche und warf es auf seinen Schoß. Es war das Okular seines Zielfernrohrs. Einen Augenblick herrschte zermürbende Stille – keine wiederholte Bitte, kein Befehl, kein Vorzeigen von Waffen. Sie wartete einfach. Der ganze Dialog war da, hm und her, hin und her – Argument, Widerstand, Drohung, Angst. Dann tat er, was er mußte – öffnete seine Tür, stieg aus, stieg neben ihr ein. Der Wagen setzte sich sofort in Bewegung. Er beobachtete eine Weile ihr Gesicht im Schimmer der vorbeizuckenden Lampen. Mitte Zwanzig, gerade Nase, kräftiges Kinn, große Augen – eine Frau mehr in Uniform unter Millionen ebensolcher. Ein Gedanke kam ihm, eine Frage. »Wer hat mich niedergeschlagen?« »Ich.« Sie fuhr mit großer Geschicklichkeit und wirkte gesund, aber sie war keine große Frau. Wieder einige Sekunden stummen Dialogs: Unglaube, konnte es sein?, wer dann?, beweis es doch! – was sie mit Worten tat. »Sie haben geweint.« Nicht das, was er hören wollte, aber Beweis genug. Sie lenkte den Wagen in eine Seitenstraße und sah ihn endlich an. 193
»Ich nehme es Ihnen nicht übel«, sagte sie. »Ich hätte es auch getan. Ich schätze Sie deshalb.« »Denk einer an«, sagte er bitter. Sie ignorierte die Bemerkung und sagte: »Sie hatten keine Pläne für nachher, meine ich. Wenn er tot war.« Wenn sie ihn gefragt hätte, welche Pläne er gemacht habe, wäre er stumm geblieben. Er hätte vielleicht sogar dafür sterben wollen. Aber dies war eine ruhige Feststellung. ‚ f »Wer braucht Pläne? Dorne ist ein Narr.« Die ketzerischen Worte taten gut, nach all den Jahren der Verehrung. »Jeder ist ein Narr, der sein Gebäude auf einen einzigen Grundstein setzt. Nimm ihn heraus, und das Ganze fällt auseinander. Es sieht nach Kraft aus, aber sie ist nicht vorhanden.« »Und was, dachten Sie, würde geschehen, wenn es auseinanderbricht?« »Es war mir egal. Alles wäre besser als eine gelenkte Bevölkerung, die ein gelenktes Leben führt. Aus den Ruinen würde irgend etwas entstehen – vielleicht nicht so ordentlich und leistungsstark vielleicht nicht so bequem. Aber es wäre etwas Wachsendes, Lebendiges, nichts Vollkommenes und – nun, Stillstehendes.« Sie sagte im Tonfall voller Gewißheit und Erkenntnis: »Dorne glaubt nicht, daß er ewig leben wird. Er glaubt es von seinem System. Er war schon lange auf Sie vorbereitet.« »Auf mich?« »Oder auf jemanden wie Sie. Newtons erstes Gesetz gilt überall auch in der Politik. ›Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich.« Wenn man eine Gesellschaft erschafft wie diese, dann erzeugt man seine Revolutionäre gleich mit. Sie wissen sehr genau, daß es einen Untergrund gibt.« »Versuchen Sie ja nicht, mich mit diesen Idioten zusammenzutun!« fauchte er. 194
»Das tue ich gar nicht«, meinte sie. »Es gibt alle möglichen Arten von Revolutionären, und diejenigen, die viel Lärm machen, sind am leichtesten zu behandeln. Sie fallen auf – das ist es. Man kann sie finden und unschädlich machen, sobald die Zeit reif ist. Außerdem sind die Leute, die sich ihnen anschließen, meist Außenseiter, und sie hören nicht auf, es zu sein, nur weil sie einem neuen Führer folgen. Sie kämen mit dem Establishment nicht aus, und sie kommen nicht miteinander aus. Da gilt Ihr ›Grundsteinprinzip‹ auch. Entfernen Sie den Führer, und Sie brauchen nur noch sauberzumachen, aber keine Bewegung mehr zu unterdrücken.« »Sie wissen ja über alles Bescheid«, sagte er, und seine Bitterkeit wuchs. Sie nickte ruhig. Er hätte ihr am liebsten die Faust ins Gesicht geschlagen – aber nicht bei hundertzehn Stundenkilometern auf einer kurvenreichen Straße. Wohin brachte sie ihn? Die Stadt lag jetzt hinter ihnen. »Es gibt noch einen Typ des Revolutionärs, mit dem schwieriger umzugehen ist«, fuhr sie fort. »Der Mann mit einem persönlichen Groll, mit der Intelligenz, seinen Schlag zu planen, und mit der Fähigkeit, ihn auszuführen. Er hat keine Partner oder Kameraden; er kann nicht verraten werden. Das Schwierigste bei alldem ist, daß er ein begrenztes Ziel hat. Er möchte etwas einzelnes – sagen wir, einen Mann töten. Er baut nichts auf, er rettet die Welt nicht, er schert sich nicht einmal darum, ob jemals jemand dahinterkommt, daß er verantwortlich ist. Wie kann man sich gegen solche Revolutionäre schützen?« »Wie haben Sie es getan?« Sie lächelte. »Einfach durch das Wissen, daß es ihn gibt, daß er so unausweichlich ist wie der Typ des Helden, der auf die Barrikaden 195
geht. Sobald man das weiß, kann jeder Computer der zweiten oder dritten Generation ihn herausfinden – wer, warum, wie, wann und wo. Man braucht nur dazusitzen und auf ihn zu warten. Er wird pünktlich sein.« Die Welle der Sinnlosigkeit ertränkte ihn beinahe. Als sie verströmt war, sah er die Frau an. »Computer? Sie meinen wohl XT-Extrapolierung.« »Genau. Dafür sind sie konstruiert – um Vorhersagen zu machen. Der Computer verwendet alle bekannten Faktoren und errechnet Wahrscheinlichkeiten, er vergleicht sie miteinander und wählt die wahrscheinlichsten aus und macht das noch einmal und nimmt die sicherste davon und so weiter. Und wir benutzen keine Maschine der zweiten oder der dritten Generation – wir haben ein Gerät der siebten. Es spricht mit allen anderen Computern. Es weiß Bescheid – Leutnant.« Sie lenkte den Wagen von der geteerten Straße auf eine kaum wahrnehmbare Spur durch den Wald. Sie konzentrierte sich auf das Fahren zwischen den Bäumen und Felsvorsprüngen. Endlich erreichten sie eine Sackgasse zwischen einem hausgroßen Felsblock und zwei riesigen Fichten. Sie hielt. Sie öffnete nicht die Tür, also blieb er sitzen. Irgendwo mußte sie eine Taste berührt haben, denn der Boden, auf dem der Wagen stand, begann plötzlich lautlos zu rotieren, wie auf einer Drehscheibe. Als der Wagen zwischen die beiden Bäume zielte, kam die Drehscheibe zum Stillstand, und sie lenkte den Wagen langsam hindurch. Der Leutnant schaute nach hinten und sah, daß die Drehscheibe in ihre ursprüngliche Stellung zurückgekehrt war. »Kommen Sie herein.« Er sah sie an und blickte dann in die Richtung, die sie wies. Eine Jagdhütte auf Pfählen, Holz und Teerpappe, an einer Felswand. Er sah die Frau wieder an. Sternenlicht und eine dünne Mondsichel gaben nur wenig Licht, 196
aber es genügte ihm, daß er sehen konnte, wie sicher sie sich bewegte, als sie um den Wagen herumging und neben ihm stehenblieb. Sie war größer, als er vermutet hatte, und sie hielt die Hände ein wenig vom Körper ab, und ihre Füße hatten eine gewisse Stellung eingenommen. Er begriff, daß er sich nicht zu fragen brauchte, ob sie eine Waffe hatte. Ihre Hände waren Waffen – sie war eine Waffe. Und eine Pistole mochte sie auch noch haben. Er nickte und ging voraus zur Hütte. Auf ihre Geste hin öffnete er die Tür und trat ein. Sie folgte ihm. Sie schloß die Tür, und aus ihrer Hand sprang Licht. Er sah ein Bett, einen alten Ofen, Gerumpel am Boden, Brennholz. Sie gab dem Brennholz einen Fußtritt, und die Wand dahinter rollte massiv nach oben, zeigte einen Gang, der schräg hinab in den Berg führte. Der Leutnant blieb stehen und sah an ihr vorbei auf die zerbrechliche Barriere der Hüttenwand und blickte dann auf die Frau. Wie er preisgab, was ihm durch den Kopf zuckte, wußte er nicht. Spannte er die Muskeln an, verengte er die Augen, bewegte er die Hände? Er bewegte sich beinahe, aber sie sagte: »Nicht.« Und er mußte reumütig den Kopf schütteln und aufgeben. Er stellte eine Frage, während er in den Gang deutete. »Komme ich jemals lebend wieder heraus, wenn ich da hinuntergehe?« Und sie gab ihm eine Antwort, die offen klang: »Das hängt ganz von Ihnen ab.« Sie machte eine Geste, die nach Ihnen besagte, und er seufzte und trat in den Gang, während er auf verschiedenen Ebenen verschiedenes zugleich dachte: Das ist vielleicht eine Frau – und Was hat sie so Besonderes an sich? Denn er hatte schon viel hübschere Mädchen gesehen, manche, die intelligenter wirkten, viele, die mehr Spaß machten ... Und darunter: Sie haben mich erwischt, und ich werde hier sterben. 197
Sie ging unten an der Rampe an ihm vorbei, sah in sein Gesicht und öffnete eine Tür. Sie traten ein. Folterkammer? Zuflucht eines irren Wissenschaftlers, mit Felswänden, dampfenden Retorten und zuckenden Lichtbogen? Geheimes Kriegsgericht mit granitgesichtigen Offizieren und einer leeren Anklagebank nur für ihn? Nichts davon … ein gemütliches Wohnzimmer. Teppich abgewetzt, aber nicht schäbig, ein kleiner Riß im Lampenschirm. Großes Sofa, zwei große Sessel, drei gut ausgewählte kleine und ein passender Tisch, ein großer Schreibtisch. Ein Heim, kein Büro, keine Werkstatt. Ein fröhlicher, kleiner Mann um die Fünfzig sprang auf und kam mit ausgestreckter Hand um den Schreibtisch herum. »Leutnant! Darauf habe ich mich gefreut.« Er nahm die Hand nur aus einem Reflex, der kleine Mann sprach freundlich auf ihn ein und führte ihn zu einem der großen Sessel. Er hatte die Wahl, ob er sich hinsetzen oder hineinfallen lassen wollte; er setzte sich, entgeistert. »Doktor McHenry ...!« Wäre das der Augenblick für kleine Späße gewesen, hätte er hinzufügen können: »… nehme ich an!« Er konnte es annehmen; das war eines der berühmtesten Gesichter der Welt, zusammen mit – o mein Gott, sie war auch da, Rachel McHenry; das Klischee bezeichnete sie als die ›Curies des 21. Jahrhunderts‹. Sie war Biochemikerin, wenn man Untertreibungen liebte, und ihr Mann war der größte lebende Computertheoretiker, und das bedeutete Mathematik, Logik, Linguistik, Kybernetik, Philosophie, Elektronik und eine ganze Menge mehr. Er bekam nicht die Gelegenheit aufzustehen, um Rachel McHenrys Hand zu drücken; Rachel McHenry war da, um sie ihm zu geben, bevor er es auch nur versuchen konnte, und bat ihn, Kaffee anzunehmen. Er lehnte ab, nicht weil er ihn nicht wollte, sondern weil das so ähnlich war, als hätte man 198
sich vom Papst ein paar Eier in die Pfanne schlagen lassen. Das Ganze wurde, wie er fand, auf amüsierte Weise von dem Mädchen in Uniform beobachtet, die sich hier zu Hause zu fühlen schien, obwohl er sich bei dem Wunsch ertappte, sie möge die Dorne-Mütze abnehmen, mit ihrem schimmernden Schild und dem Nackenschutz ä la Fremdenlegion. Das kurze Cape Domes paßte zu ihr, die Mütze nicht. Dr. McHenry ging zu seinem Schreibtischsessel zurück und setzte sich. Er öffnete die flache Mittelschublade und zog einen gelben Bogen heraus, den er auf den Schreibtisch legte. »Ich komme sofort zur Sache, Leutnant«, sagte er. »Sie haben heute nacht versucht, Führer Dorne zu töten Ich möchte wissen, wie lange Sie das geplant haben.« Plötzlich zerfiel der kleine Schwall erfreuter Überraschung, und es ging wieder um die grimmige Wirklichkeit. »Sie wissen es schon. Soviel ich weiß, haben Sie Zugang zu einem Modell Sieben XT.« »Er hat es konstruiert«, fauchte das Mädchen – vielleicht ein wenig verteidigend. Dr. McHenry hob beschwichtigend die Hände. »Bitte«, sagte er. »Sie werden hier nicht verhört, Leutnant. Nennen wir es eine rhetorische Frage. Ich wollte auf etwas anderes hinaus. Sie brauchen nicht zu antworten.« »In diesem Fall antworte ich«, sagte der Leutnant. »Ich glaube, ich fing an zu planen an dem Tag, als mein Vater und meine beiden Brüder nicht zurückkehrten, nachdem mitten in der Nacht Soldaten gekommen waren. Ich war damals dreizehn; jetzt bin ich siebenundzwanzig. Es gibt nichts, was ich getan habe, was nicht dazugehört hätte – in den Service einzutreten, in die Konzentrische Garde aufgenommen zu werden, alles. Ich habe nicht geheiratet. Ich lernte nie tanzen. Heute nacht war der Gip199
felpunkt, und Sie haben ihn mir genommen. Jetzt wissen Sie, was ich bin und was ich getan habe und wie mir zumute ist.« Dr. McHenry lehnte sich zurück und gab ein unprofessorales »Mann!« von sich. Seine Frau – es war beinahe lächerlich – sagte mit offenbar echter Sorge: »Sind Sie sicher, daß ich Ihnen nichts bringen kann?« Das Mädchen wirkte nüchtern. Dr. McHenry öffnete die Schublade und zog noch ein gelbes Blatt heraus. Er warf einen Blick darauf und sagte: »Wieviel wissen Sie über Führer Dorne, ich meine, wer seine Angehörigen waren, wie er aufgewachsen ist, all das, was ihn zu dem gemacht hat, was er ist?« »Ich habe die Schulbücher gelesen. Wer nicht? Visionen als Kind, verblüffte seine Lehrer, redete die Professoren nieder, als er zwölf war – all das. Ich habe mich nicht viel damit befaßt. Alles, was mich interessierte, war jetzt – seine Gewohnheiten, sein Alltag, wo ich ihn erwischen konnte.« »Dann lassen Sie mich Ihnen ein paar Dinge erzählen, die Sie vielleicht nicht wissen. Dorne ist als Jude geboren. Seine Eltern waren keine Juden; sie traten kurz vor seiner Geburt zum mosaischen Glauben über. Sie waren Fundamentalisten, die ins Alte Testament vordringen wollten, weil ihnen das Neue nicht orthodox genug war. Als Dorne alt genug war, selbständig denken zu können, gab er das alles auf und wurde Christ. Als Halbwüchsiger war er eine Weile Buddhist, aber das hielt nicht an; im wahren Buddhismus gibt es wenig für einen Mann, der persönliche Macht will. Danach wandte er sich ganz von der Religion ab und befaßte sich mit dem Kommunismus. Sehr eingehend sogar. Es dauerte nicht lange, bis er zum inneren Führungskreis gehörte. Das hielt einige Jahre an, und dann ging die Strömung in die andere Richtung. Dorne schloß sich der Opposition an, verriet 200
eine Reihe seiner Freunde, und binnen kurzem leitete er den sogenannten Ruck nach Rechts der neunziger Jahre ein. Es war kein großer Schritt mehr, zu dem zu gelangen, was wir heute haben.« »Und wir werden es ewig haben, dank Ihnen und Ihrem Modell Sieben XT.« Wieder hob McHenry beschwichtigend die Hand. »Es ist äußerst wichtig, ja entscheidend, daß Sie verstehen, was wir Ihnen klarmachen wollen. Denken Sie an das, was ich über Dorne gesagt habe. Achten Sie vor allem auf die Zeitpunkte der Veränderungen, die er durchlaufen hat. Zuerst waren es Wochen, dann Monate, dann Jahre.« »Und jetzt wird es nie mehr einen Wandel geben«, sagte der Leutnant düster. »Er ist zu alt, um sich noch einmal zu ändern.« »Sehr gut. Sehr gut«, sagte Dr. McHenry mit erstaunlicher Herzlichkeit. »Genau das wollte ich klarmachen. Also, Rachel.« Sie kam näher und ließ sich auf der Armlehne eines Sessels nieder; sie wirkte wie ein dicklicher Vogel. Er staunte wieder über die Vorstellung, daß diese legendäre Gestalt daran gedacht hatte, ihm Kaffee zu kochen, als sie die Bombe platzen ließ: »Leutnant, ich habe gefunden, wie man einen Menschen unsterblich machen kann.« Sie schwieg einen Augenblick. »Wahrhaftig. Von Unfällen abgesehen, kann ein Mensch ewig leben.« Der Leutnant schloß langsam die Augen und öffnete sie wieder, um zu sehen, um dieser dicklichen, netten, kleinen Dame zu glauben, die etwas von DNS- und RNS-Molekülen sagte. »Schwer zu erreichen, wohlgemerkt, aber leicht zu verstehen. Das Muster, die Struktur des ganzen menschlichen Wesens ist in jeder einzelnen Zelle seines Körpers enthalten. In einem neugeborenen Kind sind die Muster scharf umrissen und klar, 201
aber je älter wir werden, desto undeutlicher werden die Umrisse der Muster, weil die Zellen immer wieder durch neue ersetzt werden. Es ist so, als mache man Kopien von einem Magnetband. Mit guten Geräten erhält man hervorragende Kopien, aber gleichgültig, wie gut sie sind, wenn man Kopien von Kopien herstellen muß, geht jedesmal ein bißchen verloren. Und nichts anderes ist das Altern. Wenn man aber das Originalband hat und jede Kopie davon herstellt, erhält man eine sehr große Anzahl beinahe vollkommener Kopien. Und wenn man eine Gewebeprobe eines neugeborenen Kindes besitzt und sie, sagen wir, vierzig Jahre aufhebt, kann man sie als Grundlage dafür verwenden, um die verschwommenen Umrisse in den DNS-Molekülen dieser Person zu reinigen und scharf zu gestalten. Das geschieht durch das Lymphsystem – man flutet die Gewebe … ach, lassen wir das, wir brauchen nicht ins Detail zu gehen. Wollen Sie mir glauben, wenn ich sage, daß wir das können?« »Ich glaube Ihnen.« Er mußte es sagen. McHenry öffnete wieder seine Schublade und zog einen gelben Bogen heraus. Das begann den Leutnant zu ärgern. Dr. McHenry winkte dem Mädchen, das zu ihm ging, einen Blick auf das Papier warf und dann zum Leutnant trat. Sie sank vor ihm auf die Knie, ergriff seine beiden Hände und blickte tief in seine Augen. Sie hielt ihn so – und ihre Augen schienen mit dem Halten das meiste zu tun zu haben – und preßte seine Hände auf die Armlehnen. Es knackte leise, er sah hinunter, und seine Handgelenke, seine Unterarme und seine Oberschenkel waren von silbergrauen Ringen aus Metallnetz umgeben. »Keine Sorge«, sagte sie, bevor er sprechen oder schreien konnte. »Entspannen Sie sich.« Sie stand auf und entfernte sich. 202
Der Leutnant blickte angewidert auf seine gefesselten Glieder. »Und jetzt fängt es wohl an.« Er hoffte, daß sein Ekel das Entsetzen übertönte. »Nichts fängt an«, sagte Dr. McHenry. »Es wird nur Zeit, daß wir Ihnen etwas sagen, und wir möchten nicht, daß Sie sich weh tun.« Er sah seine Frau an. »Wir haben eine konservierte Probe von Dornes Gewebe, die entnommen wurde, als er erst acht Tage alt war. Wir haben die DNS wiederaufbauen und genügend synthetische DNS herstellen können, um seinen ganzen Körper damit zu fluten. Wir werden ihn zu einem vollkommen autarken Organismus machen. Wir werden ihn unsterblich machen.« Der Leutnant schrie auf und versuchte seine Fesseln zu sprengen. Und wieder. Und noch einmal. Er begann etwas mit solcher Heftigkeit zu brüllen, daß die Worte nicht zu verstehen waren. Speichel spritzte; er biß sich auf die Zunge; Blut floß. Die Frauen liefen auf ihn zu und beruhigten ihn wie ein krankes Kind, wischten ihm den nassen und blutigen Mund. Rachel McHenry badete ihm‚ Lider und Schläfen mit einem kühlen, feuchten Tuch. Endlich hatte er sich so weit beruhigt, daß er Worte gebrauchen konnte, obwohl er immer noch schrie: »Seht ihr denn nicht, was ihr getan habt? Ihr habt uns und alle, die nach uns kommen, getötet. O gewiß, die Armeen und Fabriken und Farmen werden weiter bestehen und alle die Menschen darin, aber sie werden tot sein, die ganze Menschheit wird tot sein, weil sie nicht wachsen, sich nicht verändern kann! Weshalb habt ihr mich nicht in Ruhe gelassen? Warum habt ihr ihn mich nicht töten lassen?« Er schluchzte, dann schrie er wieder: »Was habt ihr davon? Habt ihr nicht schon genug Preise 203
und Orden? Was kann Dorne noch für euch tun?« Dann begann er zu fluchen. Sie ließen es zu. Dr. McHenry nahm den nächsten gelben Bogen aus der Schublade. Als er ihn betrachtete, lächelte er. Er gab ihn der jungen Frau, und was sich auf ihrem Gesicht abspielte, war erstaunlich zu sehen – Überraschung, Lachen und dann Erröten. Sie ging wieder zu dem Sessel und kniete vor dem Gefangenen nieder. Sie wartete. Als er verstummte, fragte sie ruhig: »Wollen Sie mich anhören?« Sie mußte es wiederholen, bevor er sie hören konnte; er sank zurück und funkelte sie an. Sie sagte geduldig: »Hören Sie mich an, wenn ich Sie gehen lasse?« Er starrte sie noch immer an. Sie seufzte und zog den Ausweis mit dem Lederetui und dem Wappen heraus – das Profil des Führers, flankiert von den beiden S. »Er ist nicht echt. Wir haben ihn nachgemacht. Verstehen Sie denn nicht, wir stehen nicht auf Dornes Seite – wir stehen auf Ihrer Seite. Sie und ich, wir alle hier – wir wollen dasselbe; wir wollen dem, was Dorne errichtet hat, ein Ende setzen.« Sie warf den Ausweis über die Schulter; er wurde nicht mehr gebraucht. Der Leutnant folgte ihm mit dem Blick, dann sah er wieder zornig zu ihr auf. »Weshalb sollte ich Ihnen glauben?« »Weshalb haben Sie geglaubt, daß ich beim Geheimdienst bin? Nur weil ich Ihnen das da gezeigt habe? Was sollte ich tun – Ihnen das alles erklären, in Ihrem Zustand? Angenommen, ich hätte es getan – wie weit wäre ich gekommen, wenn ich Sie mit vorgehaltener Waffe hinausgetrieben hätte? Man hätte uns alle beide festgenommen. Nein, Sie mußten allein gehen, durchdrungen von der Überzeugung, daß Sie beobachtet wurden. Das einzige, was Sie dazu veranlassen konnte, war, Sie glauben zu machen, daß der Geheimdienst Sie durchschaut hatte. Ver204
stehen Sie – ich mußte es so anstellen.« Sie flehte ihn an, und während Wut und Verblüffung sein Gehirn verwirrten, hob sie die Hände und nahm die Dorne-Mütze ab – und ihr Haar fiel herab über die Schultern und den Rücken und die Brust, solche Massen rotgoldenen Haars, wie er es selten gesehen, nie berührt hatte – nie in seinem leeren, unbeirrbaren, nur einer Absicht dienenden Leben. »Darf ich Sie jetzt freilassen? Hören Sie zu? Hören Sie bitte zu?« Er nickte. Sie berührte augenblicklich einen Knopf, und die Fesseln verschwanden. »Könnte ich Ihnen jetzt vielleicht eine Tasse Kaffee machen?« sagte Rachel McHenry, und auf einmal lachten sie alle – nicht herzlich, nur ein wenig, aber die Luft war gereinigt. McHenry kam hinter dem Schreibtisch hervor und ging auf den Sessel zu, vor dem das Mädchen immer noch kniete, wie eine Nymphe unter einem Wasserfall, ein rotgoldener Lichtfall. Er brachte einen seiner gelben Bogen mit. »Denken Sie nach – denken Sie angestrengt nach«, sagte er. »Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen über Dornes Verhaltensmuster gesagt habe. Er ging von Religion zu Religion, dann in die Politik, von einer Seite zur anderen. Er suchte nach Antworten, er suchte nach einem Gesetz, einem System, das für ihn das Richtige war, und als er schließlich keines fand, machte er selbst eines. Aber es ist die Grundstruktur dieses Mannes, daß er sich verändern muß. Gewiß, die Veränderungen traten immer zögernder ein, als er älter wurde, und gewiß, innerhalb einer normalen Lebensspanne würde er sterben, bevor die nächste Veränderung eintreten könnte. Wenn er jetzt stirbt, wird es keine Veränderung geben. Er hat auch Computer, wissen Sie – und sie sind programmiert. Er wird nicht länger der Grundstein sein – sei205
ne Computer werden das ganze Gefüge beherrschen, und dann wird der Tod für uns alle endgültig sein. Das Leben selbst ist Wachstum und Wandel, und eine Gesellschaft, die nicht wächst und sich nicht wandelt, ist tot – und alle Menschen in ihr, wie Sie selbst gesagt haben. Wir haben Dorne jetzt unbegrenztes Leben gegeben, und weil er ist, wer er ist, wird er das ändern. Zuletzt wird er es tun, weil er muß – weil er Dorne ist und das zu seinem Grundmuster gehört. Außerdem besitzt er mehr Macht, den Wandel herbeizuführen, als jeder andere. All das wird geschehen, wenn er unsterblich ist. Er kann nicht unsterblich sein, solange Sie leben und frei und entschlossen sind, ihn zu töten. Können Sie mich verstehen?« Der Leutnant sah von einem zum andern, dann ruhte sein Blick auf dem Haar des Mädchens. »Sie müssen etwas anderes finden, wofür Sie leben«, murmelte Rachel McHenry. Der junge Mann erhob sich aus seinem großen Sessel und trat langsam auf das Mädchen zu. Wie ein Schlafwandler hob er die Hand und berührte vorsichtig ihr Haar. Die Hand sank hinab. Er schüttelte sich, dann sagte er zu Rachel: »Vielleicht könnte ich es. Vielleicht könnte ich, wenn – « Keiner sprach den Satz für ihn zu Ende, aber das Mädchen lächelte. Der Leutnant preßte die Hände einen Augenblick auf sein Gesicht, ließ sie sinken und vermochte auch zu lächeln, ein wenig. »Ihr habt mich herumgeschlagen wie einen Pingpongball«, sagte er unsicher. »Ich bin mir in meinem ganzen Leben noch nicht so hilflos vorgekommen. Ihr seid mir himmelweit überlegen.« 206
»Nein, das sind wir nicht.« Dr. McHenry lächelte. »Aber unser Freund in der Ecke ist es.« Er deutete auf den alten Schreibtisch – und weshalb sollte ein Modell Sieben XT nicht aussehen wie ein alter Schreibtisch? »Schreiben Sie uns nicht mehr zu, als wir verdienen. Sehen Sie sich das an.« Auf dem gelben Bogen standen Worte: ›Wenn Dorne zu töten eine Überzeugung ist, behaltet ihn. Wenn es eine fixe Idee ist – tötet ihn.‹ »Überzeugungen sind der Vernunft zugänglich«, sagte McHenry leise. »Fixe Ideen nicht. Es war sehr knapp.« Der Leutnant starrte das rotgoldene Haar an und sagte: »Eigentlich gar nicht.« Niemand erzählte ihm jemals, daß das Modell Sieben sie angewiesen hatte, das Haar herunterzulassen, daß es jedes Wort verfolgt hatte, das hier in diesem Raum gesprochen worden war. Es erzählte ihm auch niemand – denn er kam nicht auf den Gedanken zu fragen –, weshalb ein Fundamentalistenehepaar jedes Fetzchen Fleisch aufbewahrte, das von ihnen oder ihrem Kind stammte; solche Leute glauben, daß sie beim Jüngsten Gericht wieder zusammengesetzt werden, wirklich und buchstäblich. Und auf diese Weise überwältigte die Menschheit den Tod und eroberte die Zeit und nahm sich die Sterne.
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Selbstmord Boyle … sprang. Er tat es. Er tat es wirklich und wahrhaftig. Es heißt, wenn das Ende kommt, gleichgültig, wie schnell, bleibt immer noch Zeit genug, daß das ganze Leben vor dem inneren Auge vorbeizieht. Das trifft nicht ganz zu; dazu bedürfte es einer ganzen Lebensspanne, aber es ist Zeit genug für eine ganze Menge. Boyle entdeckte jedoch, wie andere vor ihm, daß man eine große Zahl von Bildern sieht, alle durcheinander – ja, und auch Geräusche, Stimmen hört, die ein, zwei Worte sprechen, lachend, ein Schrei, der dich endlich von vor Jahren erreicht und bedeutet, was der Rufende gemeint hat, nicht das, was du immer dachtest. In einem solchen Augenblick ergibt alles einen Sinn. Manche von den Bildern und Geräuschen sind scheinbar banal: Tante Edith mit ihrem ›Gib mir bitte das Salz‹ und die Sache mit Hank, der immer einen Strumpf oben und einen unten trug, als sie klein waren, und solche Dinge mehr. Dann kommen die Dinge, von denen man weiß, daß sie nicht banal sind und es nie waren, wie damals, als du nach Scranton mußtest und Kay plötzlich sagte: »Bitte, geh nicht. Bitte, geh nicht«, und du hast verdammt genau gewußt, daß sie in dieser Nacht mit einem anderen schlafen würde und dich weghaben wollte und es trotzdem sagte, und du – du bist trotzdem nach Scranton gefahren. Und Kreiger, der sagte: »Boyle, wissen Sie, in einem anderen Beruf wären Sie wesentlich glücklicher«, und das hieß raus, kommt nicht an auf die vielen Jahre und den Schweiß und die Treue und die unsinnigen Träume vom großen Schreibtisch mit den Milchglaslettern auf einem Dreikantholz, der Tür gegenüber. Er sprang. Er sprang, und gewiß war da Entsetzen, ist da immer, wenn 208
man stürzt, ist da oft, wenn es dunkel ist. Und gewiß war da Bedauern und wenn-ich-nur-noch-einmal-von-vorn-anfangenkönnte. Er hatte ein paar ganz neue Ideen erwartet, um alles zu heilen, und bekam sie auch. Geh einfach hin zu ihm und sag ... zeig ihr ein für allemal, daß er ... nimm einen Kredit auf … lauter solche Dinge, und darunter und drum herum eine tiefe Freude: Ich habe es geschafft. Boyle hat nicht versagt. Ich habe gesagt, ich werde es tun, und ich habe es getan. Das muß dem ganzen hundsgemeinen Haufen doch etwas beweisen. So weit war er etwa gekommen, bevor in der Dunkelheit etwas seinen Fuß erfaßte und ihn herumdrehte. Der Wind war anders, als er an seinem Gesicht vorbeifegte, und er sah sich ungläubig an seinen Füßen vorbei auf die Sterne blicken, während das große Kliff ein Drittel des Himmels auslöschte. Dann wurden die Lichter – zehntausend Lichter im Tal unten über seinem Kopf, eine Million Lichter im Himmel unter seinen Füßen – von zehn Millionen Lichtern mehr in seinem Kopf verdunkelt, als er einen Regen grausamer Hiebe und hundert lange, betäubende Schürfungen empfing, die unerträgliche Qualen gewesen wären, wenn er lange genug gelebt hätte, bis der Schock überwunden war, aber das würde nicht sein. Und die Lichter gingen aus. »Geh nicht. Bitte, geh nicht.« Die Stimme klang leise und ganz deutlich und ganz nah. Er öffnete die Augen und konnte die Silhouette ihres Kopfes sehen, als sie sich über ihn beugte. Er spürte sogar, wie die feinen Härchen an seiner Schläfe sich unter ihrem Atem bewegten. Er blinzelte, und es war nicht ihr Kopf oder irgendein Kopf, es war der Umriß des Berges vor dem Himmel. Einen unsinnigen Sekundenbruchteil lang glaubte er, er fliege noch durch die Luft, im Sturz, aber ein einziges Zucken seiner Wange 209
verriet ihm, daß es nicht so war. Wenn man durch die widerstandslose Luft fliegt, spürt man nicht Kiesel und Erde, die sich in die zerfetzte Wange bohren. Er schüttelte den Kopf, um klarzukommen, und sein ganzer Körper bewegte sich, glitt davon. Es waren nur Zentimeter, aber es genügte, um Steinchen und Erde in seinen Kragen zu pressen und einen entsetzlichen Schmerz von irgendwo unten an seinem rechten Bein hinauf durch den ganzen Leib zu schicken. Oder vielleicht hinunter. Oben war noch immer unten für ihn. Vorsichtig blickte er über den Kopf hinaus und sah Lichter … Sterne? Nein, denn sie bildeten Reihen und Muster. Sie sahen genauso aus wie die Lichter am Talboden. Es waren die Lichter am Talboden. Er lag auf einem Vorsprung des Berges, auf dem Rücken, mit dem Kopf nach unten, und der Boden unter ihm war gekippt wie ein Steildach. Er blickte schnell an seinen Füßen vorbei, und da waren die Sterne – und wieder rutschte er zwei, drei Zentimeter. Er begriff plötzlich voll Entsetzen, daß er genau über die gezackte Kante dort stürzen würde, wenn er so noch ein- oder zweimal zuckte, wenn er gerade weit genug, schnell genug rutschte, so daß er nicht mehr zum Stillstand kam. Langsam und vorsichtig erkundete er, wo sich seine Hände befanden. Die eine lag am Boden neben ihm, die andere auf der Magengrube. Er hob sie vorsichtig und legte sie ebenfalls auf den Boden. Die linke Hand fand nur lockere Steinchen und Erde, die an ihm hinauf- (hinunter-), vorbeisprangen und -zischten, als er die Finger bewegte und irgendwo an seinem Kopf vorbei in die schwarze Leere flogen. Übrigens nicht sehr weit. Die rechte Hand schien auf festerem Gestein zu liegen. Behutsam, ohne daß er den Kopf zu drehen wagte, wissend, daß es sowieso zu dunkel war, um etwas zu sehen, erkundete er die Stelle mit den Fingerspitzen. 210
Da war eine Kante … mehr – es war ein Spalt, an die zwei Zentimeter breit. Er konnte nicht feststellen, wie lang oder wie tief der Spalt war. Er krallte die Finger hinein, und es war wunderbar. Er hörte einige Zeit auf, sich zu bewegen, und genoß die Freude, das zu spüren. Er hatte dieses Gefühl vorher nur einmal kennengelernt, als er sein erstes neues Auto gekauft hatte. Das ist mein, das gehört mir. Er ließ die Fingerspitzen hineinkriechen und wieder herausgleiten, genauso, wie er seine stolzen Hände über die neu riechenden Polster und das Armaturenbrett hatte gleiten lassen. Wie herrlich, einen Spalt im Fels zu besitzen. Er versuchte seine Fersen irgendwo einzuhaken und sich ein wenig bergauf zu schieben, aber da oben war nichts als lockere Erde und Steinchen und eine Explosion von Schmerz in seinem rechten Bein. Und sein ganzer Körper sagte ihm, daß er wieder der Kante entgegenrutschen wollte, da unten (oben) an seinem Kopf vorbei. Er zwängte die Finger in den Spalt, so weit es ging, und hörte auf zu denken. Dann kam die Angst, und sie wollte ihn nicht nachdenken lassen. Sie stieg hoch und überflutete ihn und ließ ihn geschwächt liegen, mit Pfützen davon hier und dort auf seiner ganzen Seele. Er wußte auch, daß noch mehr solche Wellen kommen würden. Die Angst betäubt das Gehirn, die Angst kann die Finger schwächen, lähmen, kann sie aus dem kostbaren Spalt im Fels zerren, der dein einziger Besitz in dem auf den Kopf gestellten, gleitenden Universum ist. Er biß die Zähne zusammen, bis sie schmerzten. Es war ein Schmerz, anders als die anderen Schmerzen, die ihn folterten, weil es ein Schmerz war, den er selbst hervorrief und selbst beenden konnte. Das mag wie eine Kleinigkeit erscheinen, ist es aber 211
nicht. Wenn ein hilfloser Mensch feststellt, daß er etwas tun kann – irgend etwas –, ist er nicht mehr hilflos, selbst wenn das, was er tut, nutzlos ist. Es war etwas Merkwürdiges, was er tat. Er begann die Kiefer zusammenzupressen und wieder zu öffnen, und er kam dahinter, daß das wie eine Pumpe wirkte, die ihm die Angst aus dem Körper holte. Er wußte, daß er sie nie bis auf den letzten Tropfen hinausbefördern konnte, aber das brauchte er gar nicht; er wollte nur so viel loswerden, daß er wieder denken konnte. Langsam legte er die linke Hand über den Körper und so weit wie möglich nach rechts. Die eine Hand fand die andere, und die ausgreifenden Fingerspitzen ertasteten den Boden daneben. Der Spalt war voll trockener Erde, und er grub ungeschickt, um sie herauszuholen. Die Anstrengung unterstützte den Druck seines ganzen Körpers, abzurutschen, und das Gestein unter seiner rechten Hand begann dagegenzudrücken. Erbegriff plötzlich, daß die rechte Hand ermüden, einfach den Dienst versagen würde, wenn dieser Druck viel größer wurde oder zu lange dauerte. Er schob die linken Finger in den Spalt, so tief es ging. Er mußte den Körper dazu ein wenig drehen, und seine ganzen Pläne, sich langsam und behutsam zu bewegen, ertranken in einer Entsetzensflut, als sein Körper zu rutschen begann. Er setzte sich halb auf und warf sich herum, um beide Hände nebeneinander in den Spalt zu krallen. Sein Körper glitt um die beiden Hände als Angelpunkt herum, und überall lösten sich kleine Steine in einer kleinen Lawine, raschelnd und wispernd und in einer schrecklichen Stille gleich unter ihm endend, als sie in den schwarzen Abgrund hinabstürzten. Als endlich jede Bewegung aufhörte, lag er auf dem Bauch, beide Hände tief im Spalt, und er konnte gar nichts mehr sehen. Aber wenigsteas war sein Kopf jetzt hangaufwärts gerichtet, und das schien ihm zu helfen. 212
Er rang nach Atem und spuckte Erde aus. Er lag keuchend da, bis das Atmen weniger schmerzhaft wurde, und das tat ihm sofort leid, denn das relative Nachlassen der Anspannung erlaubte ihm, andere Empfindungen wahrzunehmen. Die eine, die sich über alles andere erhob wie ein Schrei über Gemurmel, war sein rechtes Bein. Er spürte in ihm nichts anderes als überwältigende, unaufhörliche Qual. Mit dem Bein war etwas ganz Furchtbares geschehen. Das andere schien in Ordnung zu sein. Er bewegte es ein bißchen. Er spürte, wie sich das Knie in den Berg bohrte, spürte das Schienbein, aber nichts darunter. Er wackelte mit dem Fuß. Er spürte nichts, und dann erkannte er mit furchtbarer Klarheit, daß seine beiden Füße über den Rand des Abgrunds ins Leere ragten. Die Erkenntnis brachte eine neue, riesig aufsteigende Angstbrandung. Er wandte an, was er darüber gelernt hatte: Wenn der Schrecken kommt, gräbt man sich ein und klammert sich fest und läßt ihn über einen hinwegdonnern. Nicht ertrinken, nicht loslassen. Nach einer Sekunde oder einer Minute oder vielleicht nach einer Ewigkeit wird die Angst nachlassen. Auch wenn sie Reste von sich überall zurückläßt, wirst du früher oder später wieder so weit sein, daß du denken kannst. Er krallte sich mit den beiden Händen fester in den Spalt und versuchte sich hinaufzuziehen. Sein Körper rutschte schmerzhaft noch einen halben Zentimeter, und er hörte den Beginn jenes wispernden Rascheins, als Steine und Erde sich in Bewegung zu setzen begannen. Na, rutscht doch, wenn ihr wollt, sagte er stumm zu ihnen, ich mache nicht mit. Er nahm die andere Richtung – nach oben. Nicht viel, nicht schnell und ganz gewiß nicht leicht. 213
Als er die Füße über die Kante zog, wurde er bitter bestraft – und reich belohnt. Als der rechte Fuß den Hang berührte und sich drehte, übertraf der Schmerz in seinem rechten Bein alles, was Boyle in seinem Leben je mitgemacht hatte, und er duckte sich unter dem Schmerz und flehte ihn an, ihn nicht ohnmächtig werden zu lassen und seinen Griff sich nicht lockern zu lassen. Aber die linke Zehe, die wie ein blindes Tier suchte, fand ein wenig Halt und schickte Hilfe wie ein Regiment Kavallerie in einem Cowboy- und Indianer-Film ta-taaa! und half seinen knackenden Fingern, ihn bergwärts zu ziehen. Es war einer der großartigsten Augenblicke, die er jemals erlebt hatte, als er sich so weit hinaufzog, daß seine Lippen auf gleicher Höhe mit den Händen waren. Von einem Impuls angetrieben, den er nie hätte erklären können, lachte er kurz und heiser und schob die Zunge in den Felsspalt zwischen seinen Händen. Dann blieb er ruhig liegen, halb dösend, halb lächelnd, bis es Zeit wurde, sich wieder zu bewegen. Nun war das Ziehen ein Schieben, als er den Spalt an seinem Körper hinunterdrückte, vorbei am Brustkorb, vorbei am Magen. Als seine Hände ganz nach unten gestreckt waren, ruhte er sich wieder aus, dann begann er das linke Bein anzuziehen. Er wagte noch nicht, sich auf die Knie zu erheben, und mußte das Bein hinaus und seitlich schieben, bis sein Hüftgelenk ihn anflehte, aufzuhören, aber er hörte nicht auf. Höchst widerwillig begann das linke Bein die Last zu tragen, und je mehr es sich ausstreckte, desto fähiger wurde es. Er glitt hinauf. Er wagte, nach vorn zu greifen und fand ein paar Grashalme – keine Hilfe an sich, aber ihre Wurzeln bildeten einen kleinen, festen Hügel. Boyle spürte, wie der Hügel sich bewegte, als er daran zog, und er ging ganz behutsam vor. Er erfaßte ihn mit beiden Händen und ließ seinen linken Fuß ein herzliches 214
Dankeschön und Lebewohl zu dem Spalt im Fels sagen und zog ihn wieder hinauf. Der Hang war hier eine Spur weniger steil, und es wurde möglich, das Knie gerade hinaufzuziehen statt seitlich wie vorher – ein Luxus, dazu imstande zu sein. Sein rechtes Bein war geschmolzene Qual. Er biß die Zähne dagegen zusammen; er sagte zu sich selbst: Das muß ich jetzt einfach abschalten. Man kann das natürlich nicht, den Schmerz in einem gebrochenen Bein abschalten. Man tut so, als könnte man es, wenn man muß. Und dann konnte man weiter. Der Hang wurde noch etwas flacher. Boyle hielt inne und schaute hinauf. Hier ungefähr mußte er aufgeprallt und weitergerutscht sein, nach dem Sprung. Er konnte nicht besonders gut sehen – es gab nur das Sternenlicht und einen überaus schwachen Schimmer von den Lichtern im Tal –, aber das Kliff ragte steil über ihm auf, und der beinahe flache Hang, auf dem er lag, war nicht sehr breit – vielleicht drei oder vier Meter. Er kroch bis zum Beginn der senkrecht aufragenden Felswand und drehte sich vorsichtig herum, wobei er das gebrochene Bein mit beiden Händen hob; dann ließ er sich, mit dem Rücken zum Fels, wieder auf den Boden sinken. Er war so müde und so erschöpft und von solchen Schmerzen gepeinigt, daß die fernen Lichter verschwammen und rotierten. Dann tauchte alles in einen schwarzen, behaglichen Schlummer, bevor er sich richtig damit befassen konnte. Als er erwachte, geschah das im Grau der Vordämmerung. Einen Augenblick lang krallte er sich in die Erde rechts und links und blickte schwindelnd über das Tal hinaus – so weit entfernt, die Lichter, so tief unten. Dann flutete die Erinnerung an diese Minu215
ten zurück – oder Stunden, nicht wahr? –, als er auf dem Rücken gelegen hatte, den Kopf nach unten, eine Hand im Felsspalt, und Es gab keinen Überhang mehr. Wo die Regenrinne mit einem schmalen Spalt begonnen hatte, befand sich nun ein breites V, das sich von oben in einem natürlichen 2:1-Gefälle herabzog, und voller Wurzeln war. Er schob sich mit dem Bauch hinein und krallte sich hinauf und – mit einer Art Freude – zehn Meter auf ebenem Boden weiter, bevor er zusammenbrach. Er lag lange Zeit da, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, an irgend etwas zu denken. Dann drehte er sich endlich um, behandelte sein verletztes Bein so, als sei es ein zerbrechlicher Besitz einer anderen Person, und setzte sich auf, um über das Tal zur Sonne hinüberzublicken, die eben hinter den Bergen hervorkam. Alles, was sie zu ihm sagte, war, daß dies ein neuer Tag sei, und darüber brauchte er nicht viel nachzudenken. Woran er dachte, als er in seinem neuen Tag dasaß und darauf wartete, daß jemand vorbeikam, waren die beiden Fragen, die er sich nicht gestellt hatte, nicht eine Sekunde lang, während dieser ganzen entsetzlichen Stunden: Weshalb war er gesprungen? Weshalb war er hinaufgeklettert? Einfach dazusitzen und zu beobachten, wie die Sonne heraufkam – das war Antwort genug für die zweite Frage. Und die erste spielte keine Rolle mehr. Richtig? fragte er sich. »Richtig«, sagte er.
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Die langsamste Skulptur der Welt Sie wußte nicht, wer er war, als sie ihm begegnete; nun, das wußten viele Leute nicht. Er stand in dem hochliegenden Obstgarten und arbeitete an einem Birnbaum. Das Land roch nach Spätsommer und Wind: Bronze, es roch bronzen. Er sah auf zu einem mittelgroßen Mädchen von Mitte Zwanzig, mit furchtlosem Gesicht und Augen von der Farbe ihrer Haare, was ungewöhnlich war, denn sie hatte rot-goldenes Haar. Sie sah hinunter auf den Mann um die Vierzig mit seinem wettergegerbten Gesicht und einem Blattgoldelektroskop in der Hand und kam sich wie ein Eindringling vor. Sie sagte, offenbar, auf die richtige Art, »Oh«, denn er nickte einmal und sagte: »Halten Sie das«, und dann gab es keinen Gedanken daran, daß sie sich aufdrängte. Sie kniete neben ihm nieder und ergriff das Instrument, hielt es genau dort hin, wo er ihre Hand hinschob, dann entfernte er sich ein Stück und schlug mit einer Stimmgabel auf seine Kniescheibe. »Was geschieht?« Er hatte eine gute Stimme, die Art von Stimme, die Fremden auffällt, der sie zuhören. Sie blickte auf die dünnen Goldblätter hinter dem Glasfenster des Elektroskops. »Sie streben auseinander.« Er schlug die Stimmgabel wieder an, und die Blättchen strebten auseinander. »Weit?« »Ungefähr fünfundvierzig Grad, wenn Sie die Gabel anschlagen.« »Gut – das ist ungefähr das Höchste, das wir herausholen.« Er zog aus einer Tasche seiner Buschjacke ein Säckchen voll Kreidepulver und warf eine kleine Handvoll auf den Boden. 217
»Ich entferne mich jetzt. Sie bleiben da und sagen mir, wie weit die Blättchen auseinanderstreben.« Er lief im Zickzack um den Birnbaum herum und schlug die Stimmgabel an, während sie Zahlen rief – zehn Grad, dreißig, fünf, zwanzig, null. Sooft die Goldblättchen bis zum Maximum auseinanderwichen, vierzig Grad oder mehr, warf er Kreide auf den Boden. Als er damit zu Ende kam, war der Baum ungefähr im Oval von den weißen Kreidehäufchen umgeben. Er zog ein Notizbuch heraus und zeichnete ihre Lage um den Baum ein, dann steckte er das Buch in die Tasche und nahm dem Mädchen das Elektroskop aus den Händen. »Suchen Sie etwas?« fragte er. »Nein«, sagte sie. »Ja.« Er konnte lächeln. Es hielt zwar nicht lange an, aber sie fand es in einem solchen Gesicht sehr überraschend. »Vor Gericht nennt man so etwas nicht gerade eine klare Antwort.« Sie schaute über den Hang, der metallisch war im späten Sonnenlicht. Es gab nicht viel zu sehen – Felsen, Unkraut, der Sommer war fertig damit, ein, zwei Bäume, dann den Obstgarten. Wer hier war, hatte einen weiten Weg zurückgelegt. »Es war keine einfache Frage«, sagte sie, versuchte zu lächeln und brach in Tränen aus. Sie bedauerte es und sagte das auch. »Warum?« fragte er. Es war das erstemal, daß sie seine Eigenheit, gleich die nächste Frage zu stellen, kennenlernte. Es war beunruhigend. Es würde immer beunruhigend sein – nie weniger, manchmal weit mehr. »Nun – man hat in der Öffentlichkeit keine Gefühlsausbrüche.« »Sie aber. Von diesem ›man‹ weiß ich nichts.« 218
»Ich – ich eigentlich auch nicht, wenn wir schon davon sprechen.« »Dann sagen Sie die Wahrheit. Es hat keinen Sinn, darum herumzureden, ›er wird glauben, daß ich -‹ und so. Ich werde denken, was ich denke, egal, was Sie sagen. Oder – gehen Sie den Berg hinunter, und sagen Sie gar nichts mehr.« Sie wandte sich nicht ab, also fügte er hinzu: »Dann versuchen Sie es mit der Wahrheit. Wenn es wichtig ist, ist es einfach, und wenn es einfach ist, ist es leicht auszusprechen.« »Ich werde sterben!« rief sie. »Ich auch.« »Ich habe eine Geschwulst in der Brust.« »Kommen Sie mit ins Haus, und ich behebe das.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging durch den Obstgarten davon. Halb außer sich vor Verblüffung, empört und voll unsinniger Hoffnung, ja, sogar von dem Drang erfüllt, erstaunt zu lachen, stand sie einen Augenblick da und sah ihm nach, dann ertappte sie sich dabei – an welchem Punkt habe ich mich entschieden? –, daß sie ihm nachlief. Sie holte ihn am oberen Rand des Obstgartens ein. »Sind Sie Arzt?« Er schien nicht zu bemerken, daß sie gewartet hatte, daß sie gelaufen war. »Nein«, sagte er, ging weiter und schien nicht zu sehen, daß sie wieder stehenblieb und an ihrer Unterlippe zupfte, um dann wieder zu laufen und ihn einzuholen. »Ich muß den Verstand verloren haben«, sagte sie, neben ihm auf einem Gartenweg. Sie sagte es zu sich selbst, was er gewußt haben mußte, denn er gab keine Antwort. Der Garten war voll Leben mit trotzigen Chrysanthemen und einem Teich, in dem sie zwei Fische flitzen sah, silbern, nicht rot. Dann – das Haus. 219
Zuerst war es Teil des Gartens, mit der Säulenterrasse, und dann, mit den Felsmauern – sie waren zu groß, um Feldsteine genannt zu werden –, Teil des Berges. Es war an und im Berg, und die Dächer verliefen seitlich und vorn parallel zu seinen Umrissen, und ein Teil davon berührte eine überhängende Kliffwand. Die Tür, beschlagen und benagelt und mit zwei Schießscharten, öffnete sich für sie – aber da war niemand –, und als sie sich schloß, war es still, das Außen weit deutlicher ausgesperrt als mit einem Klicken oder Knirschen von Schloß oder Riegel. Das Mädchen lehnte mit dem Rücken an die Tür und sah ihm zu, wie er durch den Mittelschacht des Hauses ging. Es war eine Art kleiner Hof, in dessen Mitte sich ein Atrium befand, auf allen fünf Seiten gefliest, zum Himmel hin offen. Darin stand ein Baum, eine Zypresse oder ein Wacholderbaum, knorrig und verkrümmt, mit den Windungen, der parallel verlaufenden, geformten Erscheinung dessen, was die Japaner Bon-sai nennen. »Kommen Sie nicht?« rief er und öffnete eine Tür hinter dem Atrium. »Bon-sai sind doch nicht fünf Meter hoch«, sagte sie. »Der hier schon.« Sie ging langsam daran vorbei und starrte den Baum an. »Wie lange haben Sie ihn schon?« Sein Tonfall verriet, daß er große Freude empfand. Es ist eine Ungeschicklichkeit, den Besitzer eines Bon-sai zu fragen, wie alt der Baum ist; man will dann wissen, ob es sein Werk ist, oder ob er das Werk eines anderen erworben und fortgesetzt hat; man verlockt ihn dazu, die Idee und die mühsame Arbeit eines anderen für sich zu beanspruchen, und es ist unhöflich, einem Menschen zu erklären, daß man ihn prüft. Daher ist die Frage ›Wie lange haben Sie ihn schon?‹ höflich, nachsichtig, zutiefst zuvor220
kommend. Er antwortete: »Mein halbes Leben.« Sie betrachtete den Baum. Man findet manchmal Bäume, die nicht gerade weggeworfen, nicht ganz vergessen sind, in verrosteten großen Büchsen in nicht ganz erfolgreichen Baumschulen, nicht verkauft, weil sie seltsam geformt sind oder hier und dort tote Äste haben, oder weil sie ganz oder teilweise zu langsam gewachsen sind. Das sind jene, die interessante Stämme und einen Widerstand gegen das Mißgeschick entwickeln, der sie gedeihen läßt, wenn man ihnen nur eine kleine Chane bietet zu überleben. Dieser hier war viel älter als das halbe Leben dieses Mannes oder auch das ganze. Sie betrachtete ihn und war entsetzt von dem unwillkürlichen Gedanken, daß ein Feuer, eine Eichhörnchenfamilie, irgendein Wurm oder Termit dieser Schönheit ein Ende setzen mochte – etwas, was außerhalb jedes Begriffs von Recht oder Gerechtigkeit oder … oder Achtung wirkte. Sie betrachtete den Baum. Sie betrachtete den Mann. »Kommen Sie?« »Ja«, sagte sie und ging mit ihm in sein Labor. »Setzen Sie sich dorthin, und entspannen Sie sich«, sagte er. »Es kann eine Weile dauern.« »Dort war ein großer Ledersessel neben dem Bücherregal. Die Bücher befaßten sich praktisch mit allem – es waren Nachschlagewerke über Medizin und Technik, Kernphysik, Chemie, Biologie, Psychiatrie. Auch über Tennis, Turnen, Schach, das orientalische Kriegsspiel Go und Golf. Dann über das Drama, die Dramaturgie des Romans, Wörterbücher, Reimlexika und eine ganze Reihe anderer Lexika und Wörterbücher. Ein ganzes Regalbrett von Biographien. »Sie haben ja eine ganze Bibliothek.« Er antwortete ziemlich kurz; ganz offenbar wollte er jetzt nicht sprechen, denn er hatte zu tun. Er sagte nur: »Ja, die habe 221
ich – vielleicht sehen Sie sie einmal«, womit er es ihr überließ, an seinen Worten herumzukratzen, um festzustellen, was er wohl damit meinte. Er konnte doch nur gemeint haben, entschied sie, daß die Bücher neben ihrem Sessel jene waren, die er für seine Arbeit griffbereit aufgestellt hatte – daß seine eigentliche Bibliothek anderswo war. Sie sah ihn mit einer gewissen Scheu an. Und sie beobachtete ihn. Es gefiel ihr, wie er sich bewegte schnell, entschieden. Er wußte offenbar genau, was er tat. Er benutzte Geräte, die sie kannte – einen gläsernen Destillierapparat, Titriergerät, eine Zentrifuge. Es gab zwei Kühlschränke, von denen einer gar kein Kühlschrank war, denn sie konnte die Skala vorne erkennen: Der Zeiger stand auf 22 Grad Celsius. Aber all das, und die Geräte, die sie nicht kannte, waren nur Einrichtungen. Es war der Mann, den zu beobachten sich lohnte, der Mann, der sie so beschäftigte, daß sie nicht einmal in der langen Zeit, die sie dort saß, versucht war, auf die Bücher zu blicken. Schließlich schloß er eine lange Arbeitsreihe am Tisch ab, drehte ein paar Schalter, griff nach einem hohen Hocker und kam zu ihr. Er setzte sich auf den Hocker, stellte die Füße auf die Querstange und legte lange, braune Hände auf seine Knie. »Angst?« »Eigentlich schon.« »Sie brauchen nicht zu bleiben.« »Wenn man die Alternative bedenkt«, begann sie tapfer, aber der Mut verließ sie plötzlich doch, »kann es keine große Rolle spielen.« »Sehr vernünftig«, sagte er, beinahe heiter. »Ich erinnere mich, als ich ein Kind war, gab es in dem Haus, in dem wir wohnten, einmal Feueralarm. Die Panik ist ein ganz besonderer 222
Zustand, wissen Sie. Wie Angst und Flucht oder Wut und Angriff ist sie eine ziemlich primitive Reaktion auf außerordentliche Gefahr. Auch durch sie drückt sich der Wille aus zu überleben. Was sie so heraushebt ist, daß sie irrational ist. Weshalb kann nun die Preisgabe der Vernunft ein Uberlebensmechanismus sein?« Sie dachte ernsthaft darüber nach. An diesem Mann war etwas, was ernsthaftes Nachdenken verlangte. »Ich kann es mir nicht vorstellen«, meinte sie schließlich. »Es sei denn, daß die Vernunft bei manchen Situationen einfach nicht funktioniert.« »Sie können es sich vorstellen«, sagte er und strahlte wieder diese umfassende Anerkennung aus, daß ihr wohl wurde. »Und Sie haben es eben getan. Wenn Sie in Gefahr sind und es mit der Vernunft versuchen und die Vernunft nicht wirkt, dann verzichten Sie auf sie. Man kann nicht sagen, es sei unintelligent aufzugeben, was nicht funktioniert, nicht? Sie sind also in Panik; dann beginnen sie mit willkürlichen Reaktionen. Die meisten – bei weitem die meisten – werden nutzlos sein; manche können sogar gefährlich sein, aber das spielt keine Rolle – Sie sind ja bereits in Gefahr. Der Überlebensfaktor spielt hinein, weil Sie zutiefst im Inneren wissen, daß eine Chance unter einer Million immer noch besser ist als gar keine. Da sitzen Sie also, Sie haben Angst, und Sie könnten weglaufen; etwas sagt Ihnen, Sie sollten weglaufen, aber Sie tun es nicht.« Sie nickte. »Sie haben einen Knoten gefunden«, fuhr er fort. »Sie sind zu einem Arzt gegangen, der hat Sie untersucht und Gewebeproben entnommen und Ihnen die schlechte Nachricht mitgeteilt. Vielleicht sind Sie noch bei einem anderen Arzt gewesen, der die Diagnose bestätigt hat. Dann forschten Sie nach und 223
bekamen heraus, was nun weiter geschehen würde – die Probeinzision, die Operation, die fragliche Genesung, der ganze, lange, qualvolle Prozeß, ein sogenannter hoffnungsloser Fall zu sein. Dann schnappten Sie über, Sie taten Dinge, von denen Sie hoffen, daß ich Sie nicht danach frage. Eine Reise, irgendwohin, und schließlich kamen Sie ohne besonderen Grund in meinen Obstgarten.« Er hob die guten Hände und ließ sie wieder in ihre Art von Schlaf zurücksinken. »Panik. Der Grund, warum kleine Jungen im Schlafanzug mitten in der Nacht mit einem zerbrochenen Wecker in den Armen dastehen und weshalb es Quacksalber gibt.« Auf dem Arbeitstisch summte etwas, er lächelte sie kurz an, ging wieder an die Arbeit und sagte über die Schulter: »Ich bin übrigens kein Quacksalber. Um Quacksalber zu sein, muß man sich als Arzt ausgeben. Das mache ich nicht.« Sie sah zu, wie er abschaltete, einschaltete, rührte, abmaß und berechnete. Ein kleines Orchester von Geräten spielte Tutti und Soli rings um ihn, während er dirigierte, surrend, zischend, knackend, flackernd. Sie wollte lachen, weinen und schreien. Sie tat nichts davon, aus Angst, nie mehr damit aufhören zu können. Als er wieder herankam, tobte der Konflikt nicht in ihr, sondern übte gleichmäßigen, entgegengesetzten Druck aus; das Ergebnis war ein schrecklicher Stillstand, und als sie das Instrument in seiner Hand sah, konnte sie nichts anderes tun, als die Augen zu weiten. »Ja, eine Nadel«, sagte er, beinahe spaßend. »Eine lange, schimmernde, scharfe Kanüle. Erzählen Sie mir nicht, daß Sie zu den Leuten gehören, die sich davor fürchten.« Er zog an dem langen Stromkabel, das aus dem schwarzen Gehäuse um die Injektionsspritze ragte, und setzte sich auf den Hocker. »Wollen Sie was für die Nerven?« 224
Sie wagte nicht zu sprechen; die Membran um ihr Selbst war ganz dünn und straff gespannt. »Es wäre mir lieber, wenn Sie nichts brauchen, weil dieses pharmazeutische Gemisch sowieso schon kompliziert genug ist. Aber wenn Sie etwas haben müssen – « Es gelang ihr, den Kopf ein wenig zu schütteln, und wieder spürte sie die Welle der Anerkennung von ihm. Es gab tausend Fragen, die sie stellen wollte – hatte fragen wollen – fragen mußte: Was war in der Kanüle? Wie oft mußte sie behandelt werden? Wie würde die Behandlung sein? Wie lange mußte sie bleiben und wo? Und vor allem, oh, konnte sie am Leben bleiben, konnte sie am Leben bleiben? Er schien sich nur für die Antwort auf eine einzige dieser Fragen zu interessieren. »Aufgebaut ist das Mittel vor allem um ein Kaliumisotop. Wenn ich Ihnen alles erzählen würde, was ich darüber weiß und wie ich überhaupt darauf gestoßen bin, würde das – nun, länger dauern, als wir Zeit haben. Aber grob gesprochen, sieht es so aus: Theoretisch ist jedes Atom elektrisch im Gleichgewicht – normale Ausnahmen lassen wir hier außer acht. Gleichermaßen sollen alle elektrischen Ladungen im Molekül ausgeglichen sein – soviel Plus, soviel Minus, insgesamt Null. Ich bin auf die Tatsache gestoßen, daß das Gleichgewicht der Ladungen in einer wuchernden Zelle nicht Null ist – nicht ganz. Es ist so, als finde auf der Molekularebene ein submikroskopisches Gewitter statt – mit kleinen Blitzen, die hin und her zucken und die Vorzeichen ändern. Sie stören die Kommunikation – statische Störungen –, und das«, sagte er und gestikulierte mit der abgeschirmten Spritze in seiner Hand, »ist es, worum es hier geht. Wenn etwas die Informationsübermittlung stört – vor allem den RNS-Mechanismus, der sagt, lies diesen Plan und 225
baue entsprechend und hör auf, wenn es fertig ist –, wenn diese Botschaft verunstaltet wird, werden schiefe Dinge gebaut, Dinge ohne Gleichgewicht, Dinge, die fast tun, was sie sollen, es fast richtig machen; es sind wuchernde, wilde Zellen, und die Botschaften, die sie weiterreichen, sind noch schlimmer. Gut: Ob diese Gewitter durch Viren oder chemische Stoffe oder Strahlung oder Verletzungen oder sogar durch seelische Störungen hervorgerufen werden – und glauben Sie nicht, daß das Seelische dazu nicht imstande wäre –, ist zweitrangig. Das Wichtige ist, es so einzurichten, daß die Gewitter nicht entstehen können. Wenn man das erreicht, besitzen die Zellen die Fähigkeit, ganz von selbst die Defekte zu beheben und auszugleichen. Und biologische Systeme sind nicht wie Pingpongbälle mit statischen Ladungen, die darauf warten, abzuströmen oder in einen geerdeten Draht überzugehen. Sie haben eine Art Widerstandsfähigkeit, die sie befähigt, etwas mehr oder etwas weniger an Ladung aufzunehmen und trotzdem zu bestehen. Also: Sagen wir, eine gewisse Anhäufung von Zellen beginnt zu wuchern, und sagen wir, der Knoten trägt ein Aggregat von hundert Einheiten zusätzlich, positiv geladen. Die Zellen unmittelbar im Umkreis werden davon betroffen, aber nicht die nächste Schicht oder die übernächste. Wenn man sie der zusätzlichen Ladung öffnen könnte, wenn sie dazu beitragen könnten, sie zu verteilen und fortzuschwemmen, würden sie, nun, die wilden, wuchernden Zellen des Überschusses heilen, verstehen Sie? Und sie würden fähig sein, diesen kleinen Überschuß selbst zu bewältigen oder ihn an andere und wieder andere Zellen weiterzugeben, die damit fertig werden würden. Mit anderen Worten, wenn ich Ihren Körper mit einem Mittel durchfluten kann, das eine Konzentration dieser labilen Ladung fortzuschaffen und weitum zu verteilen vermag, 226
wären die gewöhnlichen Körperprozesse in der Lage, einzugreifen und den Schaden zu beheben. Und das habe ich hier.« Er hielt die abgeschirmte Kanüle zwischen den Knien und zog aus der Seitentasche seines Laborkittels eine Plastikschachtel, öffnete sie und nahm einen Alkoholtupfer heraus. Während er weitersprach, griff er nach ihrem gelähmten Arm und säuberte ihre Ellenbeuge. »Ich behaupte keinen Augenblick, daß Kernladungen in einem Atom dasselbe sind wie statische Elektrizität. Sie befinden sich in einer ganz anderen Klasse. Trotzdem gilt das Gleichnis. Ich könnte auch ein anderes gebrauchen. Ich könnte die Ladung in den wuchernden Zellen mit Fettansammlungen vergleichen und diesen Saft hier, den ich zusammengebraut habe, mit einem Lösungsmittel, das das Fett auflöst und so verstreut, daß man es nicht mehr wahrnehmen kann. Aber zu dem Vergleich mit der statischen Elektrizität gelange ich durch einen seltsamen Nebeneffekt – Organismen, denen dieses Mittel eingespritzt wird, erhalten eine enorm hohe statische Ladung. Das ist ein Nebenprodukt, und aus Gründen, über die ich hier nur theoretisieren kann, scheint es mit dem Hörspektrum zusammenzuhängen. Mit Stimmgabeln und dergleichen. Damit habe ich gespielt, als ich Sie traf. Der Baum draußen ist mit dem Zeug vollgepumpt. Er hatte einen starken Wildwuchs, der jetzt nicht mehr vorhanden ist.« Er zeigte ihr das schnelle, überraschende Lächeln, und es verschwand wieder, als er die Kanüle hochhob und etwas heraussprit-zen ließ. Mit der anderen Hand, die er um ihren linken Bizeps legte, drückte er vorsichtig zu. Die Kanüle senkte sich, gelangte an die Stelle und glitt so mühelos in die große Vene, daß das Mädchen den Atem anhielt – nicht, weil es weh tat, sondern im Gegenteil, weil es nicht schmerzte. Er blickte aufmerksam 227
auf das Stück Glasrohr, das aus dem schwarzen Gehäuse ragte, zog den Kolben etwas zurück und sah das rötliche Wölkchen in die farblose Flüssigkeit schießen, dann drückte er wieder auf den Kolben. »Bitte, nicht bewegen ... es tut mir leid, das dauert einige Zeit. Ich muß ziemlich viel davon in Sie hineinpumpen. Das ist gut, wissen Sie«, fuhr er fort, »weil es beständig ist, Nebenwirkung hin, Nebenwirkung her. Gesunde Biosysteme entwickeln ein starkes elektrostatisches Feld, kranke ein schwaches oder gar keines. Mit einem so einfachen und primitiven Instrument wie dem kleinen Elektroskop kann man feststellen, ob irgendein Teil des Organismus eine Ansammlung wuchernder Zellen besitzt, und wenn ja, wo und wie groß und wie stark wuchernd.« Er versetzte geschickt den Griff um die Spritze, ohne die Kanüle zu bewegen oder den Druck auf den Kolben zu verändern. Es wurde jetzt unangenehm, ein Schmerz, der sich in einen Bluterguß verwandelte. »Und wenn Sie sich fragen sollten, weshalb dieser Stachel in einem Gehäuse steckt, an dem ein Kabel angebracht ist – obwohl Sie das sicher nicht tun und genausogut wissen wie ich, daß ich nur dauernd rede, um Sie abzulenken –, dann will ich es Ihnen sagen. Es ist nichts als eine Spule unter Hochfrequenzwechselstrom. Das Wechselstromfeld sorgt dafür, daß die Flüssigkeit von Anfang an magnetisch und elektrostatisch neutral ist.« Er zog die Kanüle plötzlich heraus, beugte ihren Arm und klemmte in die Ellenbeuge einen Wattebausch mit ein. »Vor einer Behandlung hat mir noch keiner gesagt, daß es nichts kostet«, meinte sie. Wieder diese Welle der Anerkennung, diesmal mit Worten: »Ihre Art gefällt mir. Wie fühlen Sie sich?« Sie suchte nach passenden Worten. 228
»Wie der Besitzer einer großen, schlafenden Hysterie, der darum fleht, daß man sie nicht weckt.« Er lachte. »Nach kurzer Zeit werden Sie sich so eigenartig fühlen, daß Sie gar keine Zeit für Hysterie haben.« Er stand auf und trug die Spritze zum Tisch zurück, wobei er das Kabel aufrollte. Er schaltete den Generator ab und kam mit einer großen Glasschale und einem Sperrholzquadrat zurück. Er stellte die Schale verkehrt auf den Boden und legte das Holz auf die Unterseite. »An etwas Ähnliches erinnere ich mich«, sagte sie. »Als ich in der Oberschule war. Man erzeugte künstliche Blitze mit einem – Augenblick – nun, da lief ein endloses langes Band über Rollen, ein paar kleine Drähte schleiften darauf, und dann gab es oben noch eine große kupferne Kugel.« »Van-de-Graaf-Generator.« »Richtig! Und sie machten alles mögliche damit, aber vor allem entsinne ich mich, daß er auf einem Stück Holz und auf einer Glasschale stand und man mich mit dem Generator auflud, und ich spürte eigentlich nicht viel, außer daß meine Haare wild zu Berg standen. Alle lachten. Ich sah aus wie Struwwelpeter. Sie sagten, ich hätte vierzigtausend Volt in mir.« »Gut! Ich bin froh, daß Sie sich daran erinnern. Hier wird es aber ein bißchen anders sein. Und an die vierzigtausend Volt mehr.« »Oh!« »Keine Angst. Solange Sie isoliert sind und solange geerdete oder vergleichsweise geerdete Objekte – ich, zum Beispiel – nicht in Ihre Nähe kommen, gibt es kein Feuerwerk.« »Benutzen Sie einen solchen Generator?« »Nicht einen solchen, und ich habe ihn schon benutzt. Sie sind der Generator.« 229
»Ich bin – oh!« Sie hatte ihre Hand von dem gepolsterten Sesselarm gehoben, Funken knisterten, und es roch nach Ozon. »Gewiß sind Sie das, und zwar stärker, als ich dachte, und schneller. Stehen Sie auf!« Sie stand langsam auf und zuckte dann hoch. Als ihr Körper sich vom Sessel löste, saß sie für einen Sekundenbruchteil in einem Netz aus zischenden, blau-weißen Fäden. Diese, oder sie selbst, stießen sie stehend eineinhalb Meter weg. Buchstäblich halb außer sich von dem Schock, fiel sie beinahe hin. »Auf den Beinen bleiben!« knurrte er, und sie gewann mühsam das Gleichgewicht wieder. Er trat einen Schritt zurück. »Steigen Sie auf das Brett. Schnell jetzt!« Sie tat, wie ihr geheißen, und hinterließ bei den zwei Schritten zwei kurze Fußabdrücke von Flammen. Sie schwankte auf dem Brett. Ihr Haar begann sich zu regen. »Was passiert mit mir?« rief sie. »Sie bekommen doch eine Ladung«, sagte er heiter, aber sie war so erschrocken, daß sie nicht begriff. »Was passiert mit mir?« rief sie noch einmal. »Alles in Ordnung«, sagte er tröstend. Er ging zum Tisch und schaltete einen Tongenerator ein, der tief im Bereich zwischen ein- bis dreihundert Schwingungen stöhnte. Er steigerte das Volumen und drehte an einem Knopf. Der Generator begann schrill zu heulen, und ihr rotgoldenes Haar zitterte und zuckte hinauf und hinaus; jedes einzelne Haar war verzweifelt bestrebt, sich von jedem anderen zu entfernen. Er ließ den Ton bis über zehntausend Hertz anschwellen und wieder zurück auf pulsierende, unhörbare elf Schwingungen; an den Extremen fiel ihr Haar herab, aber bei elfhundert sträubte es sich in allen Richtungen, wahrhaftig wie bei Struwwelpeter. 230
Er drehte das Gerät wieder zu einem erträglichen Geräusch zurück und griff nach dem Elektroskop. Er kam lächelnd auf sie zu. »Sie sind ein Elektroskop, wissen Sie das? Und ein lebendiger Van-de-Graaf-Generator dazu. Und ein Struwwelpeter.« »Lassen Sie mich herunter«, war alles, was sie sagen konnte. »Noch nicht. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Das Gefälle zwischen Ihnen und allem anderen hier ist so groß, daß Sie, wenn Sie an irgend etwas herankämen, alles dort hinein entladen würden. Es würde Ihnen nicht schaden – es ist kein Fließstrom –, aber Sie könnten eine Brandwunde und einen Schock davontragen.« Er hielt das Elektroskop hin; selbst auf diese Entfernung und trotz ihrer Angst konnte sie sehen, wie die Goldblättchen schwirrend auseinanderstrebten. Er ging um sie herum, achtete sorgfältig auf die Blättchen, schob das Gerät nach vorn, zurück und hin und her. Er ging noch einmal zum Tongenerator und drehte ihn herunter. »Sie senden ein so starkes Feld aus, daß ich die Abweichungen nicht wahrnehmen kann«, erklärte er und ging wieder auf sie zu, näher diesmal. »Ich kann nicht mehr lange – ich kann nicht«, murmelte sie; er schien es nicht zu hören oder sich nicht darum zu kümmern. Er brachte das Elektroskop an ihren Bauch, hinauf und hin und her. »Ja! Da wären wir!« sagte er heiter und hielt das Instrument ganz nah an ihre rechte Brust. »Was?« wimmerte sie. »Ihr Krebs. Rechte Brust, tief, mehr zur Achselhöhle hin.« Er pfiff durch die Zähne. »Und ein ganz übler dazu. Bösartig wie der Teufel.« Sie schwankte und sank nach vorn zusammen. Eine schwin231
delnde Schwärze stieß auf sie hinab, fegte explodierend in einem qualvollen blau-weißen Lichtblitz davon und stürzte dann wie ein zusammenbrechender Berg auf sie. Ort, wo Wand an Decke grenzt. Noch eine Wand, noch eine Decke. Andere Wand, andere Decke. Nie zuvor gesehen. Egal. Schlaf. Ort, wo Wand an Decke grenzt. Etwas dazwischen. Sein Gesicht, nah, angespannt, müde; Augen aber wach um! durchdringend. Egal. Schlaf. Ort, wo Wand an Decke grenzt. Etwas tiefer, spätes Sonnenlicht. Drüben rotgoldene Chrysanthemen in einem goldgrünen Glasfüllhorn. Wieder etwas dazwischen: sein Gesicht. »Können Sie mich hören?« Ja, aber nicht antworten. Nicht bewegen. Nicht sprechen. Schlaf. Es ist ein Zimmer, eine Wand, ein Tisch, ein Mann, der hin und her geht; nächtliches Fenster und Blumen, die man für lebendig hält, aber weißt du nicht, daß sie abgeschnitten sind und sterben? Wissen sie das? »Wie fühlen Sie sich?« – Drängend, drängend. »Durstig.« Kalt und scharf, daß die Kiefer schmerzen. Grapefruitsaft. Auf seinem Arm liegend, während er mit der anderen das Glas hält, o nein, das ist nicht … »Danke. Vielen Dank – « Aufzusetzen versuchen, die Decke – meine Sachen! 232
»Das tut mir leid«, sagte er, beinahe Gedankenleser. »Es gibt manche Dinge, die sich mit Strumpfhose und Minikleid einfach nicht vertragen. Alles gewaschen und getrocknet und bereit für Sie – jederzeit. Da drüben.« Das braune Wollkleid und die Strumpfhose und die Schuhe auf dem Stuhl. Er ist respektvoll, tritt zurück, stellt das Glas neben einen Thermoskrug auf den Nachttisch. »Was für Dinge?« »Erbrechen. Bettschüsseln«, sagte er offen. Geschützt mit der Decke, die den Körper verbergen kann, aber oh, nicht die Verlegenheit. »Oh, es tut mir leid … Oh, ich muß – « Kopfschütteln, und er gleitet im Blick hin und her. »Sie waren im Schockzustand und kamen einfach nicht mehr heraus.« Er zögerte. Es war das erstemal, daß sie ihn bei irgend etwas zögern sah. Einen Augenblick lang wurde sie beinahe zur Gedankenleserin: Soll ich ihr sagen, woran ich denke? Sicher sollte er das, und er tat es: »Sie wollten nicht herauskommen.« »Ich habe alles vergessen.« »Der Birnbaum, das Elektroskop. Die Injektion, die elektrostatische Reaktion.« »Nein«, sagte sie, nicht wissend, dann wissend: »Nein!« »Halt!« rief er, und bis sie sich umsah, war er am Bett, über ihr, die beiden Hände hart an ihren Wangen. »Nicht wieder untertauchen. Sie werden fertig damit. Sie schaffen es, weil es jetzt in Ordnung ist, verstehen Sie? Sie sind in Ordnung!« »Sie haben mir gesagt, ich hätte Krebs.« Es klang schmollend, anklagend. Er lachte, lachte sie wirklich an. »Sie haben mir erzählt, daß Sie ihn hätten.« »Oh, aber ich habe es nicht gewußt.« »Das erklärt alles«, sagte er mit einer Stimme, als falle ihm 233
ein Stein vom Herzen. »Was ich getan habe, konnte keine dreitägige Bewußtlosigkeit hervorrufen, es mußte etwas in Ihnen selber sein.« »Drei Tage!« Er nickte nur und berichtete weiter. »Ab und zu werde ich ein wenig hochtrabend«, gestand er. »Das kommt daher, wenn man so oft recht hat. Ich unterstelle ein bißchen mehr, als ich eigentlich gedurft hätte, als ich annahm, Sie wären bei einem Arzt gewesen, hätten vielleicht sogar eine Gewebeprobe entnehmen lassen. So war es gar nicht, oder?« »Ich hatte Angst davor«, gab sie zu. Sie sah ihn an. »Meine Mutter starb daran, meine Tante, und bei meiner Schwester mußte eine Totaloperation durchgeführt werden. Ich konnte es nicht ertragen. Und als Sie – « »Als ich Ihnen sagte, was Sie schon wußten und niemals hören wollten, konnten Sie es nicht ertragen. Sie wurden schlagartig ohnmächtig, wissen Sie. Einfach weg, und das hatte nichts mit den fast achtzigtausend Volt in Ihnen zu tun. Ich fing Sie auf.« Er streckte die Arme aus, und sie zuckte unwillkürlich zurück, aber er wollte sie ihr nur zeigen; sie sah die roten Verbrennungsspuren an seinen Unterarmen und am Bizeps. »Ich war auch ziemlich weg«, sagte er, »aber wenigstens haben Sie sich nicht den Kopf angeschlagen.« »Danke«, sagte sie reflexartig und begann zu weinen. »Was soll ich nur tun?« »Tun? Heimgehen, wo das auch sein mag – Ihr Leben weiterführen, was immer das bedeutet.« »Aber Sie sagten – « »Wann begreifen Sie endlich, daß das, was ich getan habe, keine Diagnostik war?« 234
»Sind Sie – haben Sie – soll das heißen, Sie haben mich geheilt?« »Ich meine damit. Sie werden geheilt. Ich habe Ihnen schon alles erklärt – daran erinnern Sie sich doch jetzt, oder?« »Nicht ganz, aber – ja.« Heimlich, aber nicht heimlich genug, denn er bemerkte es, tastete sie unter der Decke nach der Geschwulst. »Sie ist noch da.« »Wenn ich Ihnen mit dem Knüppel eins auf den Kopf gebe«, sagte er mit leicht übertriebener Schlichtheit, »haben Sie auch eine Beule. Morgen noch und übermorgen. Am Tag danach wird sie schon kleiner, und nach einer Woche spüren Sie sie immer noch, aber sie geht weg. So ist es hier auch.« Endlich ließ sie die Ungeheuerlichkeit an sich heran. »Einmalige Behandlung zur Krebsheilung – « »Mein Gott«, sagte er rauh. »Ich brauche Sie nur anzusehen, um zu wissen, daß ich mir die Predigt noch einmal anhören muß. Das mache ich aber nicht.« Erstaunt sagte sie: »Welche Predigt?« »Die über meine Pflicht der Menschheit gegenüber. Sie hat zwei Phasen und viele Abwandlungen. Phase eins hängt zusammen mit meiner Pflicht der Menschheit gegenüber und heißt eigentlich, daß wir eine Stange Geld damit verdienen könnten. Phase zwei befaßt sich allein mit meiner Pflicht, und von der höre ich nicht oft. Phase zwei übersieht völlig das Widerstreben der Menschheit, gute Dinge zu akzeptieren, wenn sie nicht von anerkannten und geachteten Quellen herstammen. Phase eins ist sich darüber im klaren, findet aber ganz raffinierte Umwege.« Sie sagte: »Ich habe nicht – «, kam aber nicht weiter. »Die Abwandlungen sind begleitet vom Licht der Offenbarung«, fuhr er fort, »mit oder ohne Religion und/oder Mys235
tik, oder gründen streng im Ethisch-Philosophischen und zielen darauf ab, meine Kapitulation zu erzwingen, durch Schuld, vermischt in unterschiedlichem Maß (bis zu hundert Prozent) mit Mitleid.« »Aber ich wollte nur – « »Sie«, sagte er und zielte mit einem langen Zeigefinger auf sie, »haben sich des schönsten Beispiels all dessen beraubt, was ich Ihnen eben mitgeteilt habe. Wenn meine Annahmen zutreffend gewesen wären und Sie Ihren Arzt aufgesucht hätten, und er hätte Krebs erkannt und Sie zu einem Spezialisten geschickt, und der hätte das gleiche getan und Sie zu einem Kollegen überwiesen, und Sie wären in Ihrer Panik in meine Hände gefallen und geheilt worden und hätten bei Ihren diversen Ärzten ein Wunder gemeldet, wissen Sie, was Sie dann von ihnen gehört hätten? ›Spontane Remission‹, das hätten Sie gehört. Und es wären nicht nur die Ärzte gewesen«, sagte er leidenschaftlich. »Jeder hat seinen eigenen Werbespot. Ihr Diätetiker hätte nickend über seinen Weizenkeimen oder seinen makrobiotischen Reiskuchen gesessen, Ihr Pfarrer wäre auf die Knie gefallen und hätte zum Himmel geblickt, Ihr Genetiker hätte eine Lieblingstheorie über Generationssprünge aufgetischt und Ihnen versichert, daß Ihre Großeltern wahrscheinlich auch spontane Remissionen erlebt hatten, ohne etwas davon zu ahnen.« »Bitte!« rief sie, aber er schrie sie an: »Wissen Sie, was ich bin? Ich bin zweifacher Ingenieur, Maschinenbau- und Elektroingenieur, und zusätzlich Jurist. Wenn Sie so dumm wären, jemandem zu erzählen, was hier geschehen ist – und ich hoffe, Sie sind es nicht, aber wenn Sie es sind, weiß ich mich zu schützen –, könnte ich dafür eingesperrt werden, Medizin ohne Zulassung praktiziert zu haben, Sie könnten mich wegen Körperverletzung verklagen, weil ich eine Nadel in Sie hineingesto236
chen habe, und sogar wegen Kidnapping, wenn Sie beweisen können, daß ich Sie vom Labor hier hereingetragen habe. Kein Mensch würde sich einen Deut darum scheren, daß ich Sie von Ihrem Krebs geheilt habe. Sie wissen nicht, wer ich bin, oder?« »Nein, ich weiß nicht einmal Ihren Namen.« »Und ich sage ihn auch nicht. Ich weiß Ihren Namen auch nicht – « »Oh! Ich heiße – « »Sagen Sie ihn mir nicht! Ich will ihn nicht wissen! Ich wollte mit Ihrer Geschwulst zu tun haben, und das hatte ich. Ich möchte, daß die und Sie verschwinden, sobald es möglich ist. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Gestatten Sie, daß ich mich anziehe«, sagte sie gepreßt, »dann gehe ich sofort!« »Ohne eine Predigt zu halten?« »Ohne eine Predigt zu halten.« Und schlagartig wurde ihre Wut zu Elend, und sie fügte hinzu: »Ich wollte sagen, daß ich dankbar bin. Wäre das in Ordnung gewesen?« Und auch sein Zorn verwandelte sich, denn er kam nah ans Bett, setzte sich auf die Hacken, daß ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren, und sagte ganz leise: »Das wäre schön. Allerdings ... Sie werden noch an die zehn Tage nicht richtig dankbar sein, wenn Sie dann Ihre ›spontane Remission‹ bestätigt bekommen, oder vielleicht ein halbes Jahr oder ein Jahr oder zwei oder fünf, solange die Untersuchungen andauern, die den negativen Befund bestätigen.« Sie entdeckte dahinter so viel Traurigkeit, daß sie unwillkürlich nach der Hand griff, mit der er sich am Bett festhielt. Er zuckte nicht zurück, aber sie schien ihm auch nicht willkommen zu sein. »Warum kann ich nicht gleich dankbar sein?« 237
»Das wäre ein Glaubensbekenntnis«, sagte er bitter, »und so etwas gibt es überhaupt nicht mehr – falls es das jemals gegeben hat.« Er stand auf und ging zur Tür. »Bitte, gehen Sie heute nicht«, sagte er. »Es ist dunkel, und Sie kennen den Weg nicht. Wir sehen uns am Morgen.« Als er am Abend zurückkam, stand die Tür offen. Das Bett war gemacht, die Bettwäsche auf dem Stuhl sauber zusammengefaltet, zusammen mit den Kissenbezügen und Handtüchern, die sie benutzt hatte. Sie war nicht da. Er trat hinaus in den Hof und betrachtete seinen Bon-sai. Die Morgensonne überzog das horizontale obere Laub des alten Baums mit goldenem Reif und ließ die gekrümmten Äste in scharfen Umrissen hervortreten, knorriges Braun-Grau und samtige Spalten. Nur der Begleiter eines Bon-sai – es gibt auch Besitzer von Bon-sai, aber das ist eine geringere Klasse – versteht die Beziehung völlig. Es gibt eine ausschließliche und individuelle Baumheit des Baums, weil er ein Lebewesen ist, und Lebewesen verändern sich, und es gibt klare Wege, auf denen der Baum sich verändern will“. Ein Mann sieht den Baum und schafft in seinem Inneren gewisse Erweiterungen und Fortsetzungen dessen, was er sieht, und macht sich daran, sie zu erzeugen. Der Baum seinerseits wird nur tun, was ein Baum tun kann, wird bis zum Tod jedem Versuch widerstehen zu tun, was er nicht kann oder in kürzerer Zeit tun soll, als er braucht. Die Züchtung eines Bon-sai ist deshalb immer ein Kompromiß und immer eine Zusammenarbeit. Ein Mensch kann keinen Bonsai erschaffen, ebensowenig ein Baum; es braucht beide, und sie müssen einander verstehen. Das dauert lange. Man prägt sich seinen Bon-sai ein, jeden Zweig, den Winkel jedes Spalts, und nachts wach liegend oder tausend Meilen entfernt, in einer Gedankenpause, erinnert man sich an diese oder jene Li238
nie oder Form, man macht seine Pläne. Mit Draht und Wasser und Licht, mit Kippen und mit dem Pflanzen von wasserraubendem Unkraut oder von dicken, die Wurzeln verdeckenden Moosen, erklärt man dem Baum, was man von ihm will, und wenn die Erklärung gut genug ist und wenn das Verständnis groß genug erscheint, dann wird der Baum reagieren und gehorchen – beinahe. Es wird immer seine eigene, individuelle Variation bleiben: Nun gut, ich mache, was du willst, aber auf meine eigene Weise. Und für diese Variationen wird der Baum stets eine klare und logische Erklärung zu geben bereit sein, und meistens wird er – lächelnd – dem Menschen klarmachen, daß er das hätte vermeiden können, wenn das Verständnis größer gewesen wäre. Es ist die langsamste Skulptur der Welt, und manchmal gibt es Zweifel darüber, wer geformt wird, der Mensch oder der Baum. So stand er vielleicht zehn Minuten da und beobachtete den goldenen Strom an den oberen Zweigen, dann ging er zu einer geschnitzten Truhe, öffnete sie, schüttelte ein altes Stück Segeltuch heraus, öffnete die Glasscheibe an einer Seite des Atriums und breitete den Stoff über die Wurzeln und die Erde auf einer Seite des Stamms, während das übrige Wind und Wasser ausgesetzt blieb. Nach einer Weile – ein, zwei Monate – würde vielleicht ein bestimmter Schößling im obersten Ast begreifen, und der unregelmäßige Fluß der Feuchtigkeit durch das Kambium würde ihn von dem nach oben zielenden Weg abbringen und ihn dazu bewegen, horizontal weiterzuwachsen. Vielleicht auch nicht, und es bedurfte der schärferen Sprache von Draht und Fessel. Aber dann mochte der Baum auch etwas über die Richtigkeit eines aufwärts zielenden Wegs zu sagen haben und es vielleicht so überzeugend ausdrücken, daß der Mann über239
zeugt wurde; alles in allem ein geduldiger, sinnvoller und lohnender Dialog. »Guten Morgen.« »Verdammt«, knurrte er, »jetzt habe ich mir auf die Zunge gebissen. Ich dachte, Sie sind fort.« »War ich auch.« Sie kniete im Schatten, den Rücken an der Innenwand, und blickte in das Atrium. »Aber dann blieb ich, um eine Weile bei dem Baum zu sein.« »Und dann?« »Habe ich viel nachgedacht.« »Worüber?« »Über Sie.« »Tatsächlich!« »Hören Sie«, sagte sie entschieden, »ich gehe nicht zu einem Arzt, um das nachprüfen zu lassen. Ich wollte nicht gehen, bevor ich Ihnen das gesagt habe und überzeugt war, daß Sie mir glauben.« »Kommen Sie herein, wir essen etwas.« Sie kicherte plötzlich. »Ich kann nicht. Meine Füße sind eingeschlafen.« Ohne Zögern hob er sie auf und trug sie um das Atrium herum. Sie hatte die Arme um seine Schultern gelegt und sagte, ihr Gesicht an dem seinen: »Glauben Sie mir?« Er ging weiter, bis sie zur Truhe kamen, dann blieb er stehen und sah ihr in die Augen. »Ich glaube Ihnen. Ich weiß nicht, warum Sie sich dazu entschlossen haben, aber ich bin bereit, Ihnen zu glauben.« Er setzte sie auf die Truhe und trat einen Schritt zurück. »Das ist das Glaubensbekenntnis, von dem Sie gesprochen haben«, sagte sie ernsthaft. »Ich dachte, Sie sollten es haben, wenigstens einmal in Ihrem Leben, damit Sie so etwas nie wieder 240
sagen können.« Sie trommelte mit den Fersen vorsichtig auf den Boden. »Au.« Sie lächelte schief. »Es prickelt so.« »Sie müssen lange nachgedacht haben.« »Ja. Wollen Sie noch mehr hören?« »Sicher.« »Sie sind ein zorniger, erschreckter Mann.« Er schien sich zu freuen. »Erzählen Sie!« »Nein«, sagte sie ruhig. »Erzählen Sie. Ich meine es ganz ernst. Weshalb sind Sie so zornig?« »Bin ich gar nicht!« »Warum sind Sie so zornig?« »Ich sage doch, ich bin es nicht! Allerdings bringen Sie mich langsam dazu, zornig zu werden.« »Also, warum?« Er sah sie, wie es ihr vorkam, sehr lange an. »Sie wollen es wirklich wissen, wie?« Sie nickte. Er hob plötzlich die Hand und deutete hinauf und hinaus. »Was meinen Sie, wo das alles herkommt – das Haus, der Boden, die Anlagen?« Sie wartete. »Ein Auspuffsystem«, sagte er mit jener Gepreßtheit, die ihr schon vertraut war. »Eine Methode, Auspuffgase von Verbrennungsmotoren so zu lenken, daß sie in schnelle Drehung versetzt werden. In den Wänden des Auspufftopfs lagern sich unverbrannte Feststoffe ab, in Glaswolle, die man alle paar tausend Meilen ersetzt. Der Rest der Gase wird von einer eigenen Zündkerze gezündet, und was verbrennen will, verbrennt. Die Hitze wird dazu verwendet, den Treibstoff vorzuwärmen, der Rest gelangt wieder durch eine Patrone, die fünftausend Mei241
len hält. Was schließlich herauskommt, ist, nach den heutigen Maßstäben, ziemlich sauber, und wegen der Vorwärme leistet der Motor mehr.« »Sie haben also viel Geld verdient.« »Ich habe viel Geld verdient«, wiederholte er. »Aber nicht, weil das Gerät dazu verwendet wird, die Luftverschmutzung herabzusetzen. Ich bekam das Geld, weil eine Automobilfirma die Erfindung kaufte und in einem Tresor vergrub. Die Industrie hält nichts davon, weil es einiges kostet, das Ding in die vorhandenen Autos einzubauen. Die Freunde in der Ölindustrie halten nichts davon, weil man aus schlechtem Benzin viel herausholen kann. Nun gut – ich wußte es nicht anders, und diesen Fehler begehe ich nicht noch einmal. Aber ja – ich bin zornig. Ich war zornig, als ich als Junge auf einem Tanker fuhr und wir das Schiff mit Kernseife reinigen mußten; ich ging an Land und kaufte ein Reinigungsmittel, und es war besser, billiger und wirkte schneller, also brachte ich es dem Bootsmaat, der mir mit der Faust ins Gesicht schlug, weil ich mehr verstehen wollte als er ... nun, er war betrunken, aber die altgedienten Leute auf dem Schiff taten sich zusammen und verprügelten mich, weil ich einer sei, der für die Firma zuviel übrig hätte. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum die Menschen etwas dagegen hatten, wenn man etwas Besseres vorschlug. Damit hatte ich mein ganzes Leben zu tun. Ich habe etwas in meinem Kopf, was einfach nicht aufhören will. Ich stelle immer die nächste Frage gleich mit. Warum ist etwas so und gerade so? Warum kann es nicht anders sein? Es gibt immer eine Frage mehr zu stellen, bei allem; vor allem sollte man nicht aufhören, wenn einem eine Antwort gefällt, weil es danach noch immer eine mehr gibt. Und wir leben in einer Welt, wo die Menschen einfach nicht die nächste Frage stellen wollen. 242
Ich habe soviel Geld bekommen, wie ich vertragen kann, für Dinge, die die Menschen nicht gebrauchen wollen, und wenn ich die ganze Zeit zornig bin, dann ist das wirklich meine eigene Schuld – das gebe ich zu. Ich kann einfach nicht damit aufhören, die nächste Frage zu stellen und Antworten zu finden. In meinem Labor gibt es ein halbes Dutzend Knüller, die nie jemand zu Gesicht bekommen wird, und ich habe noch ein halbes Hundert im Kopf, aber was kann man tun in einer Welt, wo die Menschen sich lieber in einer Wüste umbringen, selbst wenn man ihnen zeigt, daß sie grünen und blühen kann, wo sie Milliarden hineinstecken, um mehr Erdöl zu finden, obwohl wir wissen, daß wir mit den Fossilstoffen nicht weiterkommen? Ja, ich bin zornig. Sollte ich es nicht sein?« Sie ließ das Echo seiner Stimme durch den Hof hallen, hinaus durch die Öffnung über dem Atrium, und wartete noch ein bißchen, um ihm zu zeigen, daß er hier bei ihr war und nicht außer sich. Er grinste sie verlegen an. »Vielleicht stellen Sie die nächste Frage anstatt der richtigen Frage«, meinte sie. »Ich glaube, Menschen, die nach alten Sprichwörtern leben, denken nicht nach, aber ich kenne eines, das man beachten sollte. ›Wenn man eine Frage richtig stellt, hat man auch schon die Antworte« Sie machte eine Pause, um zu sehen, ob er auch richtig zuhörte. Er tat es. »Ich meine, wenn man seine Hand auf einen heißen Ofen legt, könnte man sich fragen, wie kann ich verhindern, daß ich mir die Hand verbrenne?« fuhr sie fort. »Und die Antwort ist doch ziemlich klar, nicht? Wenn die Welt immer wieder zurückweist, was Sie zu geben haben, gibt es eine Art, nach dem Grund zu fragen, die die Antwort enthält.« »Es ist eine einfache Antwort«, sagte er kurz. »Die Menschen sind dumm.« 243
»Das ist nicht die Antwort, und Sie wissen es«, sagte sie. »Was dann?« »Ach, ich kann Ihnen das nicht sagen! Ich weiß nur, daß die Art, wie man etwas tut, wenn es um Menschen geht, wichtiger ist als das, was man tut, wenn man Resultate erzielen will. Ich meine … Sie wissen schon, wie Sie bei dem Baum erreichen können, was Sie wollen, nicht?« »Der Teufel soll mich holen!« »Die Menschen sind auch wachsende Wesen. Ich weiß nicht ein Hundertstel von dem über Bon-sai, was Sie wissen, aber eines ist mir klar: Wenn man mit einem anfängt, ist es oft nicht der gesunde, starke Baum, den man wählt. Es ist der verkrümmte, kranke, der am schönsten werden kann. Daran sollten Sie denken, wenn Sie die Menschen formen wollen.« »Alles, was – Ich weiß nicht, ob ich Ihnen ins Gesicht lachen oder ihnen eine Ohrfeige geben soll!« Sie stand auf. Er hatte gar nicht bemerkt, daß sie so groß war. »Ich gehe besser.« »Na, hören Sie. Sie wissen doch ganz genau, wie das gemeint war.« »Ach, ich habe mich nicht bedroht gefühlt. Aber – ich gehe trotzdem lieber.« »Haben Sie Angst davor, die nächste Frage zu stellen?« sagte er. »Und was für eine!« »Dann fragen Sie trotzdem.« »Nein!« »Dann mache ich es für Sie. Sie sagten, ich sei zornig – und erschreckt. Sie wollen wissen, wovor ich Angst habe.« »Ja.« 244
»Vor Ihnen. Ich habe schreckliche Angst vor Ihnen.« »Wirklich?« »Sie haben eine Art, Ehrlichkeit zu provozieren«, sagte er stockend. »Ich will aussprechen, was Sie denken, wie ich weiß: Ich habe Angst vor jeder engen menschlichen Beziehung. Ich habe Angst vor etwas, was ich nicht mit einem Schraubenzieher auseinandernehmen oder mit einem Massenspektroskop oder einer Logarithmentafel durchschauen kann.« Seine Stimme klang scherzend, aber seine Hände zitterten. »Man tut es, indem man die eine Seite gießt«, sagte sie leise, »oder indem man es einfach in die Sonne stellt. Man behandelt es, als sei es ein Lebewesen, wie eine Spezies, eine Frau, ein Bon-sai. Es wird sein, was Sie sich wünschen, wenn Sie sich Mühe geben.« »Ich glaube«, sagte er, »Sie machen mir ein Angebot. Warum?« »Als ich die halbe Nacht herumsaß«, sagte sie, »fiel mir etwas ganz Verrücktes ein. Glauben Sie, daß jemals zwei kranke, verkrümmte Bäume Bon-sai auseinander gemacht haben?« »Wie heißt du?« fragte er.
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