Der Kongo während der politischen Wirren, die den Kongo in den 60er Jahren erschütterten. Eine zusammengewürfelte Solda...
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Der Kongo während der politischen Wirren, die den Kongo in den 60er Jahren erschütterten. Eine zusammengewürfelte Soldatentruppe bekommt den Auftrag, die Bewohner einer von Aufständischen eingeschlossenen Minenstadt und Diamanten von unschätzbarem Wert in Sicherheit zu bringen. Der Anführer des brutalen Haufens ist Bruce Curry, ein ehemaliger Rechtsanwalt; mit von der Partie sind neben anderen Hendry Wally, sein unberechenbarer Rivale, und der dem Alkohol verfallene Chirurg Mike Haig. Als sich zwischen der attraktiven belgischen Krankenschwester Germaine und Curry eine Liebesaffäre anbahnt, wird die Spannung unter den Männern unerträglich und explodiert in einer dramatischen Auseinandersetzung auf Leben und Tod … Ein brillanter Abenteuerroman, so heiß wie die Sonne Afrikas!
Wilbur Smith entstammt einer alten Siedlerfamilie aus Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, und ist einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Seine Bücher, die eine Weltauflage von über 50 Millionen Exemplaren erreicht haben, sind in 14 Sprachen übersetzt und zum Teil verfilmt worden. Außer dem vorliegenden Band ist von Wilbur Smith als Goldmann-Taschenbuch erschienen: Goldmine. Roman (9312)
Wilbur Smith SCHWARZE
SONNE Roman
Aus dem Englischen von Ulli Glass und Manfred Darmstadt
Non-profit ebook by tigger September 2003 Kein Verkauf!
GOLDMANN VERLAG
Ungekürzte Ausgabe Titel der Originalausgabe: The Dark of the Sun Originalverlag: William Heinemann Ltd., London
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 1. Auflage • 8/89 © der Originalausgabe bei Wilbur Smith © 1988 der deutschsprachigen Ausgabe bei Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft mbH, Wien und Darmstadt Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Paul Zsolnay Verlags, Wien und Darmstadt Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagfoto: Günter Blum Studio, Heidelberg Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 9332 MV • Herstellung: Sebastian Strohmaier ISBN 3-442-09332-5
1 »Die Sache gefällt mir nicht«, sagte Wally Hendry und rülpste. Er strich mit seiner Zunge über den Gaumen, schmeckte und fuhr dann fort. »Ich finde, daß die ganze Sache stinkt wie ein zehn Tage alter Kadaver.« Er lag ausgestreckt auf einem der Betten und balancierte dabei ein Glas auf seiner nackten Brust, während ihm die Hitze des Kongo das Wasser aus den Poren trieb. »Bedauerlicherweise ändert deine Meinung nichts an der Tatsache, daß wir die Sache durchführen werden.« Ohne aufzusehen suchte Bruce Curry seine Rasiersachen weiter heraus. »Du hättest ihnen sagen sollen, daß sie es selbst machen sollen und daß wir hier in Elisabethville bleiben – warum hast du ihnen das nicht erzählt, he?« Hendry hob sein Glas und trank es in einem großen Schluck aus. »Weil sie mich nicht fürs Diskutieren bezahlen.« Bruce sprach ohne das geringste Interesse und betrachtete sich in dem von Fliegen verklebten Spiegel über dem Waschbecken. Das Gesicht, das ihn daraus ansah, war sonnenverbrannt mit einem Schopf kurzgeschnittener, schwarzer Haare. Weiches Haar, vielleicht lockig, wenn es länger gewesen wäre. Schwarze Augenbrauen, die außen nach oben zeigten, grüne Augen mit schweren Augenlidern und ein Mund, der ebenso leicht lächeln wie Verbitterung zeigen konnte. Ohne Vergnügen stellte Bruce fest, daß er gut aussah. Es war schon lange her, seit er irgendeine Gemütsbewegung gefühlt, schon lange her, seit sein Mund gelächelt hatte oder verbittert war. Er fühlte nicht mehr die alte abgeklärte Liebe zu seiner Nase, einer großen, leicht gekrümmten Nase, die sein Gesicht vor allzuviel Schönheit bewahrte und ihm das Aussehen eines Salon-Piraten gab. »Zum Teufel«, brummte Wally Hendry vom Bett aus. »Ich habe jetzt wirklich die Schnauze voll von dieser Niggerarmee. 5
Kämpfen macht mir nichts aus, aber ich sehe nicht ein, daß ich Hunderte von Meilen in den Busch gehen soll, um Kindermädchen für einen Haufen verdammter Flüchtlinge zu spielen.« »Es ist schon ein Scheißleben«, stimmte Bruce abwesend zu, während er Rasierseife auf seinem Gesicht verteilte. Der Schaum hob sich sehr weiß gegen seine Bräune ab. Unter einer Haut, die so gesund aussah, als sei sie frisch geölt worden, wechselte das Spiel der Schulter- und Brustmuskeln, während er sich bewegte. Er war in guter Form. Auf jeden Fall in einer besseren als in den letzten Jahren. Aber auch diese Tatsache macht ihm kaum mehr Vergnügen, als es der Blick in den Spiegel getan hatte. »Gib mir noch einen Drink, André.« Wally Hendry gab sein leeres Glas dem Mann, der am Fußende des Bettes saß. Der Belgier stand auf und ging gehorsam hinüber zu dem Tisch. »Mehr Whisky und weniger Bier diesmal«, wies ihn Wally an. Er drehte sich noch einmal zu Bruce um und rülpste: »Genau das halte ich von der Sache.« Während André schottischen Whisky in das Glas goß und es dann mit Bier auffüllte, rückte Wally am Halfter seiner Pistole herum, bis diese genau zwischen seinen Beinen baumelte. »Wann hauen wir ab?« fragte er. »Morgen, ganz in der Frühe, bekommen wir eine Lokomotive und fünf Wagen am Güterbahnhof. Dann laden wir und fahren so schnell wie möglich los.« Bruce hatte angefangen, sich zu rasieren, und legte mit jedem Zug von der Schläfe bis zum Kinn einen glatten, braunen Hautstreifen frei. Jetzt haben wir drei Monate lang einen Haufen schmieriger, kleiner Gurkhas bekämpft, und ich habe mich darauf gefreut, ein bißchen Spaß zu haben – keine einzige Hübsche während der ganzen Zeit – und schon am zweiten Tag nach dem Waffenstillstand hetzen sie uns wieder heraus. »C’est la guerre«, murmelte Bruce, während er sein Gesicht 6
beim Rasieren verrenkte. »Was heißt denn das?« verlangte Wally argwöhnisch zu wissen. »So ist der Krieg«, übersetzte Bruce. »Sprich englisch, Junge.« Es war typisch für Wally Hendry, daß er nach sechs Monaten im belgischen Kongo weder ein Wort französisch sprechen noch verstehen konnte. Und wieder herrschte Ruhe, die nur durch das Schaben von Bruces Rasiermesser und den kleinen metallischen Geräuschen unterbrochen wurde, die der vierte Mann im Hotelzimmer verursachte, der seine Maschinenpistole auseinandergenommen hatte und reinigte. »Trink einen mit, Haig«, lud ihn Wally ein. »Danke, nein.« Michael Haig sah auf und verbarg nicht im geringsten seine Abneigung, als er zu Wally hinüberblickte. »Du bist auch so einer von diesen feinen Pinkeln, zu fein, um mit unsereinem zu saufen, was? Selbst der feine Captain Curry trinkt mit mir. Bist du vielleicht etwas Besonderes?« »Du weißt genau, daß ich nicht trinke.« Haig konzentrierte sich wieder auf seine Waffe, die er beinahe liebevoll behandelte. Für sie alle waren diese häßlichen Maschinenpistolen ein Teil ihrer Körper geworden. Selbst während Bruce sich rasierte, brauchte er nur die Hand auszustrecken, um seine eigene, die an der Wand lehnte, zu greifen, und die der beiden Männer auf dem Bett lagen und auf dem Boden neben ihnen. »Ach, du trinkst nicht«, höhnte Wally. »Wo hast du denn dann die Farbe herbekommen, mein Junge? Woher kommt es denn, daß deine Nase wie eine reife Pflaume aussieht?« Haig kniff den Mund zusammen, und die Hände auf dem Gewehr wurden ruhig. »Hör auf damit, Wally«, sagte Bruce ohne Erregung. »Haig trinkt nicht«, krächzte Wally und stieß den kleinen Belgier mit dem Daumen in die Rippen. »Hast du gehört, André? Er ist ein verdammter Abstinenzler! Mein Alter war 7
auch ein Abstinenzler, manchmal trank er zwei, drei Monate hintereinander keinen Tropfen. Dann kam er eines Nachts nach Hause und schlug seiner Alten eine in die Fresse, daß man noch auf der anderen Straßenseite ihre Zähne klappern hörte.« Er schüttelte sich vor Lachen und mußte warten, bis er weitersprechen konnte. »Ich wette, daß du auch so ein Abstinenzler bist, Haig. Ein Drink, und du wachst zehn Tage später auf. Stimmt’s? Ein Drink und – wum! – und die Alte kriegt die Fresse voll, und die Kinder vierzehn Tage nichts zu essen.« Haig legte sein Gewehr vorsichtig auf das Bett und sah mit zusammengepreßten Lippen auf Wally. Aber Wally hatte es nicht bemerkt. Er fuhr fröhlich fort. »André, nimm die Whiskyflasche und halte sie AltAbstinenzler Haig unter die Nase. Wir wollen mal sehen, wie ihm dann der Geifer aus dem Maul läuft und seine Augen vor Gier überquellen.« Haig stand auf. Er war etwa doppelt so alt wie Wally, ein Mann Mitte fünfzig, mit angegrautem Haar, und die Feinheit seiner Gesichtszüge war trotz deutlicher Spuren, die das Leben darin hinterlassen hatte, noch nicht verwischt. Er hatte Arme wie ein Boxer und mächtige Schultern. »Es wird einmal Zeit, daß ich dir ein paar Manieren beibringe, Hendry. Komm, steh auf.« »Willst du mich zum Tanz bitten oder so etwas? Ich tanze nicht – frag André. Er wird mit dir tanzen. Nicht wahr, André?« Haig tänzelte locker, die Fäuste geballt und leicht erhoben. Bruce Curry legte seinen Rasierapparat auf die Ablage über dem Waschbecken und ging ruhig um den Tisch herum – immer noch Seife im Gesicht –, um eine Stellung einzunehmen, von der aus er eingreifen konnte. Dort wartete er und beobachtete die beiden Männer. »Steh auf, du dreckiges Schandmaul.« 8
»He, André, hast du das gehört? Er spricht nett, was? Er spricht richtig nett.« »Ich werde deinen häßlichen Schädel so platt schlagen, daß für dein Gehirn kein Platz mehr ist.« »Witzig! Dieser Junge ist ein geborener Komiker.« Wally lachte. Aber das Lachen klang nicht echt. Bruce wußte genau, daß Wally nicht bereit war zu kämpfen. Starke Arme, ein breiter Brustkorb, von rötlichen Haaren bedeckt, ein flacher Bauch und widerstandsfähig, mit einem flachen Gesicht auf einem Stiernacken und mit kleinen mongolischen Augen; aber Wally war nicht bereit zu kämpfen. Bruce wunderte sich: Er erinnerte sich an die Nacht an der Brücke, er wußte, daß Hendry kein Feigling war. Und trotzdem war er jetzt nicht bereit, Haigs Aufforderung nachzukommen. Mike Haig ging langsam auf das Bett zu. »Laß ihn doch, Mike.« Zum erstenmal sprach André, und seine Stimme war so weich wie die eines Mädchens. »Er hat doch nur Spaß gemacht. Er hat es doch gar nicht so gemeint.« »Bilde dir nur nicht ein, Hendry, daß ich nicht zuschlagen würde, weil du auf dem Rücken liegst. Den Fehler würde ich an deiner Stelle nicht machen.« »Nun sieh mal an«, murmelte Wally. »Der Junge ist nicht nur ein Komiker, er ist auch noch ein unverbesserlicher Held.« Haig stand jetzt über ihm und hob seine rechte Faust, wie zu einem Hammer geballt, und zielte auf Wallys Gesicht. »Haig!« Bruce hatte seine Stimme nicht angehoben, aber der Ton ließ den älteren Mann zögern. »Das genügt«, sagte Bruce. »Aber dieser stinkende, kleine …« »Ja, ich weiß«, sagte Bruce. »Laß ihn.« Nichts bewegte sich im Raum. Die Faust noch immer erhoben, zögerte Mike Haig. Über ihnen knarrte das Wellblechdach, das sich in der Hitze des Kongomittags dehnte. Das einzige andere Geräusch war Haigs Atem. Er keuchte, und sein Gesicht war rot angelaufen. 9
»Bitte, Mike«, flüsterte André, »er hat es doch nicht so gemeint.« Langsam verwandelte sich Haigs Wut in Verachtung, und er ließ die Hand sinken, wandte sich ab und nahm seine Maschinenpistole vom anderen Bett. »Ich kann den Gestank in diesem Zimmer keine Minute länger ertragen. Ich warte auf dich unten im Lastwagen, Bruce.« »Ich bin gleich fertig«, stimmte Bruce zu, während Mike zur Tür ging. »Ich würde mich vorsehen, Haig«, rief Wally ihm nach. »Das nächste Mal kommst du mir nicht so leicht davon.« An der Tür drehte sich Mike Haig blitzschnell herum, aber mit einer Hand auf seiner Schulter drehte ihn Bruce wieder zurück. »Vergiß es, Mike«, sagte er und schloß hinter ihm die Tür. »Es ist ein verdammtes Glück, daß er ein alter Mann ist«, grölte Wally, »sonst hätte ich ihn zusammengeschlagen.« »Bestimmt«, sagte Bruce. »Es war richtig von dir, ihn laufen zu lassen.« Die Seife war mittlerweile auf seinem Gesicht angetrocknet und er befeuchtete seinen Pinsel, um sich von neuem einzuseifen. »Na ist doch wahr. Ich könnte doch nicht so einen alten Kerl verprügeln, oder?« »Nein.« Bruce lächelte ein wenig. »Aber laß nur, du hast ihm entsetzliche Angst eingejagt. Er wird es nicht noch einmal probieren.« »Das will ich hoffen«, warnte Hendry. »Das nächste Mal bring ich den alten Strolch um.« Das wirst du nicht tun, dachte Bruce. Du wirst genauso kneifen wie du es eben getan hast und schon ein dutzendmal früher. Mike und ich sind die einzigen, an die du dich nicht traust. Du bist wie ein wildes Tier, das seinen Dompteur im Käfig anbrüllt, aber sich davonschleicht, wenn er mit der Peitsche knallt. Er rasierte sich weiter. 10
Die Hitze im Raum machte schon das Atmen beschwerlich, sie trieb ihnen den Schweiß aus den Poren. Die Ausdünstung ihrer Körper vermischte sich zu einem säuerlichen Geruch mit dem kalten Zigarettenrauch und Alkoholdunst. »Wohin gehst du denn mit Mike?« André beendete das lange Schweigen. »Wir sehen uns um, ob wir Vorräte für unser Unternehmen auftreiben können. Wenn wir Glück haben sollten, bringen wir sie zum Güterbahnhof und Ruffy muß über Nacht einen Wachposten aufstellen«, antwortete ihm Bruce, während er sich über das Becken beugte und Wasser ins Gesicht spritzte. »Wie lange werden wir etwa unterwegs sein?« Bruce zuckte mit den Schultern. »Eine Woche, vielleicht zehn Tage.« Er setzte sich auf sein Bett und zog sich einen seiner Stiefel an. »Das heißt, wenn wir keinen besonderen Ärger haben.« »Ärger, Bruce?« fragte André. »Von der Msapa-Kreuzung an müssen wir etwa zweihundert Meilen durch ein Gebiet, in dem es von Balubas wimmelt.« »Aber wir sind doch im Zug«, protestierte André. »Die haben doch nur Pfeil und Bogen. Die kommen doch gar nicht an uns ran.« »André, wir müssen über sieben Flüsse – einen großen – und Brücken sind schnell zerstört. Und Schienen können herausgerissen sein.« Bruce begann seinen Schuh zuzuschnüren. »Ich glaube nicht, daß es ein Sonntagsausflug wird.« »Zum Teufel, ich finde, die ganze Sache stinkt«, wiederholte Wally schlecht gelaunt. »Warum gehen wir überhaupt?« »Weil«, begann Bruce geduldig, »seit drei Monaten die gesamte Bevölkerung von Port Reprieve von der Welt abgeschnitten ist. Frauen und Kinder sind dort. Die Lebensmittelbestände und andere lebensnotwendige Dinge gehen zu Ende.« Bruce machte eine Pause, um sich eine Zigarette anzuzünden, und redete dann weiter, während er den Rauch ausstieß. »Der 11
Baluba-Stamm ringsherum revoltiert, brennt, plündert und mordet ohne Unterschied. Bis jetzt hat er die Stadt noch nicht angegriffen, aber es kann nicht mehr lange dauern. Hinzu kommt noch, daß sich Rebellen der Zentral-kongolesischen Armee und Rebellen unserer eigenen Truppen zu einer Bande schwerbewaffneter Schufte zusammengeschlossen haben. Die laufen auch im nördlichen Teil des Landes Amok. Niemand weiß genau, was da oben eigentlich vorgeht, aber du kannst sicher sein, daß es nichts Erfreuliches ist. Wir werden diese Leute in Sicherheit bringen.« »Warum schickt denn die UN keine Flugzeuge?« fragte Wally. »Kein Landeplatz.« »Hubschrauber?« »Zu weit.« »Von mir aus können die Strolche dableiben«, grunzte Wally. »Wenn sich die Balubas auf ein kleines Menschensteak versteifen, wer sind wir, daß wir ihnen die Mahlzeit verweigern dürfen. Jeder Mensch hat das Recht zu essen, und so lange ich es nicht bin, den sie verspeisen, kann ich nur sagen, guten Appetit.« Er stellte seinen Fuß gegen Andrés Rücken und drückte sein Bein plötzlich durch; der Belgier fiel vom Bett auf die Knie. »Los, hol mir eine Hübsche.« »Hier gibt es keine, Wally. Ich hol dir noch einen Drink.« André kam schnell wieder auf die Füße und langte nach Wallys leerem Glas. Aber Wally packte ihn am Handgelenk. »Ich sagte, eine Hübsche, André, nicht einen Drink.« »Ich weiß wirklich nicht, wo ich eine finden soll, Wally.« Andrés Stimme klang verzweifelt. »Ich weiß nicht einmal, was ich zu ihnen sagen soll.« »Du bist wirklich ein Idiot, mein Junge. Ich müßte dir den Arm brechen.« Wally begann langsam das Handgelenk Andrés umzudrehen. »Du weißt genauso gut wie ich, daß die Bar unten voll von ihnen ist. Das weißt du doch, oder nicht?« 12
»Aber was sage ich zu ihnen?« Andrés Gesicht war schmerzverzerrt. »Stell dich nicht so an, du stupider, blöder Froschfresser. Geh einfach nach unten und schwenke eine Banknote. Du mußt keinen Pieps sagen.« »Du tust mir weh, Wally.« »Ach nein. Das glaubst du doch selbst nicht.« Wally lächelte ihn an und drehte den Arm noch weiter. Seine Augen waren vom Alkohol glasig, und Bruce sah, daß es ihm Spaß machte. »Also gehst du nun, mein Junge? Entscheide dich. Entweder kriege ich eine Hübsche oder du einen gebrochenen Arm.« »Also gut, wenn du das unbedingt willst. Ich gehe. Laß mich bitte los, ich geh ja schon«, stöhnte André. »Das ist genau was ich will.« Wally ließ ihn los. Er richtete sich auf und massierte sein Handgelenk. »Paß auf, daß sie sauber ist und nicht zu alt, hast du verstanden?« »Ja, Wally. Ich bring dir eine.« André ging zur Tür und Bruce sah seinen Gesichtsausdruck. Er war verzerrt vor Schmerzen an seinem gequetschten Handgelenk. Was für zauberhafte Kreaturen sie doch sind, dachte Bruce. Und ich bin einer von ihnen und gehöre trotzdem nicht zu ihnen. Ich bin der Zuschauer, angewidert wie von einem schlechten Stück. André verließ das Zimmer. »Noch einen Drink, mein Junge«, sagte Wally übermütig, »ich werde ihn dir sogar selbst eingießen.« »Danke«, sagte Bruce und begann sich den anderen Stiefel anzuziehen. Wally brachte ihm das Glas und er nippte daran. Das Zeug war stark und der modrige Geschmack des Whiskys vertrug sich schlecht mit der Süße des Biers, aber er trank es. »Du und ich«, sagte Wally, »wir sind die Cleveren. Wir trinken, weil wir wollen und nicht, weil wir müssen. Wir leben so, wie wir leben wollen und nicht wie andere glauben, daß wir leben sollten. Du und ich, Bruce, haben eine ganze Menge 13
gemeinsam. Wir sollten Freunde sein, du und ich. Ich meine, wo wir uns doch so ähnlich sind.« Der Alkohol begann bei ihm seine Wirkung zu tun und machte seine Sprache etwas undeutlich. »Aber klar sind wir Freunde. Ich zähle auf dich, Wally, als meinen Besten.« Bruce sprach feierlich und ohne den geringsten Sarkasmus zu zeigen. »Ehrlich?« Wally fragte ernsthaft. »Stimmt das? Verdammt, und ich habe immer geglaubt, daß du mich nicht leiden kannst. Verdammt, man weiß nie, woran man ist. Stimmt das nicht? Man weiß es einfach niemals.« Er schüttelte verwundert seinen Kopf und wurde plötzlich durch den vielen Whisky sentimental. »Das ist wirklich wahr? Du magst mich. Ja, wir könnten Kumpel sein. Was meinst du, Bruce? Jeder Mann braucht einen Kumpel. Jeder Mann braucht einen Rückhalt.« »Klar«, sagte Bruce. »Wir sind Kumpel. Was meinst du?« »Aber klar, mein Junge«, stimmte Wally aus tiefstem Herzen zu. Und ich fühle nichts, dachte Bruce, keine Verachtung, kein Mitleid – nichts. Auf die Art und Weise ist man sicher. Sie können dich nicht enttäuschen, sie können dich nicht anekeln, sie können dir keinen Schmerz zufügen und sie können dich nicht wieder vernichten. Sie sahen beide auf, als André das Mädchen ins Zimmer brachte. Sie hatte ein niedliches, nichtssagendes Gesicht und angemalte Lippen – Rubinrot auf Bernstein. »Prima, André«, applaudierte Wally und besah sich die Figur des Mädchens. Sie trug hohe Absätze, ein kurzes rosa Kleid mit ausgestelltem Rock, das aber nicht ihre Knie bedeckte. »Komm her, Süße.« Wally streckte seine Hand nach ihr aus, und ohne zu zögern ging sie durchs Zimmer, ein breites, berufsmäßiges Lächeln im Gesicht. Wally zog sie neben sich auf das Bett. André blieb in der Tür stehen. Bruce erhob sich, zog seine tarnfarbene Feldbluse an, legte seinen Pistolengurt um und schob die Pistolentasche zurecht, bis sie bequem 14
seitwärts an seinem Schenkel hing. »Du gehst?« Wally gab dem Mädchen aus seinem Glas zu trinken. »Ja.« Bruce setzte sich seinen Schlapphut auf, die rot-grünweiße katangesische Kokarde gab ihm ein gekünsteltes, fröhliches Aussehen. »Bleib doch noch ein bißchen. Na los, Bruce.« »Mike wartet auf mich.« Bruce nahm seine Maschinenpistole vom Boden. »Bleib doch noch ein bißchen. Na los, Bruce.« »Mike wartet auf mich.« Bruce nahm seine Maschinenpistole vom Boden. »Na wenn schon. Bleib noch einen Augenblick und wir amüsieren uns ein bißchen.« »Nein danke.« Bruce ging zur Tür. »Mensch, Bruce, guck dir das mal an.« Wally legte das Mädchen rückwärts auf das Bett, mit einem Arm hielt er ihre Brüste fest, während sie sich scheinbar wehrte, mit der anderen hob er ihr Kleid bis zur Hüfte hoch. »Guck dir das mal an und sag mir dann, ob du immer noch gehen willst.« Das Mädchen war unter dem Kleid nackt und ihr Unterleib war rasiert, so daß ihre Schamlippen schmollend hervortraten. »Na los, Bruce«, lachte Wally. »Du zuerst. Sag nicht, daß ich nicht dein Kumpel bin.« Bruce sah auf das Mädchen, dessen Beine weit gespreizt waren und dessen Körper sich im Kampf mit Wally wand. Sie kicherte. »Mike und ich werden vor der Sperrstunde zurück sein. Ich will das Mädchen dann hier nicht mehr sehen«, sagte Bruce. In mir ist keine Begierde mehr, dachte er, als er sie ansah, das ist alles vorbei. Er öffnete die Tür. »Curry!« schrie Wally. »Bist du auch so ein armer Irrer? Verdammt, ich dachte, du wärst ein Mann. Du bist genauso 15
mies wie die anderen. André, der Puppenjunge. Haig, die Schnapsdrossel, und was ist mit dir, mein Junge? Du bist auch so ein armer Verrückter!« Bruce schloß die Tür und stand allein im Gang. Der Hohn hatte seinen Panzer durchdrungen, er mußte seinen ganzen Verstand aufbieten, diesen Stachel wieder herauszureißen. Es ist längst vorbei. Sie kann mich nicht mehr verwunden. Mit äußerster Entschlossenheit dachte er das. Er erinnerte sich an sie. An die Frau, nicht an die in dem Zimmer, sondern die andere, mit der er einmal verheiratet gewesen war. »Die Hure«, flüsterte er und dann schnell, beinahe schuldbewußt, »ich hasse sie nicht. Für mich gibt es keinen Haß und keine Begierde mehr.«
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2 Die Halle des Grand Hotels Leopold II war überfüllt: Gendarmen, die ihre Waffen prahlerisch mit sich herumschleppten, laut sprachen, sich gegen die Wände und über die Bar lümmelten; Frauen, deren Farbe vom Schwarz bis zum Pastellbraun reichte, einige schon betrunken; einige Belgier, die noch immer erschüttert mit den ungläubigen Augen eines Flüchtlings in die Gegend starrten; eine der Frauen weinte, während sie das Kind auf ihrem Schoß wiegte; andere Weiße in Zivilkleidung, aber mit der aufgeweckten Unruhe der Abenteurer, ließen ihre Augen hin und her schweifen und sprachen leise auf die Afrikaner in Geschäftsanzügen ein; eine Gruppe von Journalisten in feuchten Hemden wartete mit der Geduld von Aasgeiern. Und alles schwitzte in der Hitze. Zwei südafrikanische Charterpiloten begrüßten Bruce vom anderen Ende des Raumes. »Hallo, Bruce, trinken wir rasch einen?« »Dave, Carl«, Bruce winkte. »Ich hab’s eilig, vielleicht heute abend.« »Wir fliegen heute nachmittag.« Carl Engelbrecht schüttelte seinen Kopf. »Nächste Woche sind wir zurück.« »Also sehen wir uns dann«, rief Bruce und ging durch den Haupteingang auf die Avenue di Kasai. Er hielt einen Augenblick auf der Straße an, und die weißgestrichenen Mauern der Häuser warfen ihr gleißendes Licht in sein Gesicht. Die sengende Hitze ließ ihn zusammenzucken, und er fühlte unter seiner Feldbluse frischen Schweiß aus seinem Körper strömen. Während er die Straße überquerte und auf den DreitonnerLastwagen zuging, in dem Mike Haig saß, nahm er seine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. »Ich werde fahren, Mike.« »Okay.« Mike setzte sich auf den andern Sitz und Bruce hinter das Steuer. Er fuhr in nördlicher Richtung die Avenue du Kasai entlang. 17
»Es tut mir leid, wegen der Szene, Bruce.« »Ist ja nichts passiert.« »Ich hätte die Beherrschung nicht verlieren dürfen.« Bruce gab keine Antwort. Er betrachtete die verlassenen Gebäude zu beiden Seiten. Die meisten von ihnen waren geplündert und alle hatten Einschläge von Geschossen der Mörser. Ab und zu lagen auf der Straße ausgebrannte Autowracks, die wie die Rückenpanzer toter Käfer aussahen. »Ich hätte ihn nicht so an mich herankommen lassen sollen, und trotzdem tut die Wahrheit mehr weh als alles andere.« Bruce schwieg und gab gleichzeitig mehr Gas. Der Lastwagen machte einen Satz nach vorne. Ich will das nicht hören, dachte er. Ich bin nicht dein Beichtvater – ich will es einfach nicht mehr hören. Er bog in die Avenue l’Étoile ein und fuhr in Richtung Zoo. »Er hatte vollkommen recht. Er hatte mich hundertprozentig getroffen«, drängte Mike. »Wir haben alle unsere Probleme, sonst wären wir nicht hier.« Und dann, um seine Laune zu ändern, »wir Wenigen, wir glücklichen Wenigen, wir Bund von Brüdern.« Mike grinste, und sein Gesicht sah plötzlich jung aus. »Zumindest haben wir das Privileg, dem Zweitältesten Berufsstand der Welt anzugehören – wir, die Söldner.« »Der älteste Beruf wird besser bezahlt und macht viel mehr Spaß«, sagte Bruce und schwenkte mit dem Lastwagen in die Einfahrt eines zweistöckigen Gebäudes, hielt vor dem Eingangstor und stellte den Motor ab. Vor nicht allzulanger Zeit war dies noch die Villa des Chefbuchhalters der Union Minière du Haut. Jetzt war es ein Gebäude der Abteilung »D«, der Spezialkampftruppe, die von Captain Bruce Curry kommandiert wurde. Ein halbes Dutzend seiner schwarzen Gendarmen saß auf der niedrigen Mauer der Veranda, und als Bruce die Stufen hinaufkam, schrien sie ihm den Gruß entgegen, der seit der Intervention der Vereinten 18
Nationen bereits zur Tradition geworden war. »UN – Merde!« »Aha«, grinste Bruce sie an, in einer Art von Kameradschaft, die sich im Verlauf der vergangenen Monate gebildet hatte. »Die Crème der Armee von Katanga!« Er ließ seine Schachtel Zigaretten herumgehen, unterhielt sich ein paar Minuten zwanglos und fragte dann: »Wo ist der Hauptfeldwebel?« Einer der Gendarmen zeigte mit dem Daumen zu den Glastüren, die in die Halle führten, und Bruce ging hinein, von Mike gefolgt. Nachschubmaterial war in wilden Haufen auf den teuren Möbelstücken aufgestapelt. Die Öffnung des steinernen Kamins war halb voll von leeren Flaschen. Ein Gendarm lag schnarchend auf dem Perserteppich; eines der Ölgemälde an der Wand war von einem Bajonett zerschnitten und hing schief. Ein eingelegter Kaffeetisch stand wie betrunken mit einem geknickten Bein, und die ganze Halle roch nach Männern und billigem Tabak. »Hallo, Ruffy«, sagte Bruce. »Zur rechten Zeit, Boß.« Hauptfeldwebel Ruffararo grinste erfreut aus einem Lehnstuhl, aus dem er fast überquoll. »Diese verdammten Araber haben auf einmal kein Material mehr.« Er zeigte auf die Gendarmen, die sich vor seinem Tisch versammelt hatten. »Araber« war für Ruffy ein degradierendes und verächtliches Wort und hatte nichts mit der eigentlichen Nationalität eines Menschen zu tun. Ruffys Akzent war immer wieder ein Schock für Bruce. Niemand erwartete jemals, daß aus diesem riesigen schwarzen Brocken reines Amerikanisch herauskommen könnte. Aber vor drei Jahren war Ruffy von einem Stipendium aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt und hatte dabei fließendes Amerikanisch, ein landwirtschaftliches Diplom, einen nicht zu stillenden Durst für Flaschenbier (wenn möglich Schlitz, aber auch anderes war annehmbar) und eine maßlose Bewunderung für Old Joe mitgebracht. 19
Die Erinnerung daran, die von einem Abschiedsgeschenk eines älteren Studenten der Universität von Los Angeles herrührte, überkam Ruffararo am schmerzlichsten, wenn er betrunken war, so schmerzlich, daß er sich erst beruhigte, wenn er den nächsten Bürger der Vereinigten Staaten zu Boden geworfen hatte. Glücklicherweise war es höchst selten, daß ein Amerikaner und die notwendigen zehn oder zwölf Liter Bier sich in Ruffys Nähe befanden, um seine Rassenantipathie zum Ausdruck zu bringen. Ein solcher Niederwurf durch Ruffy war ein unvergeßliches Erlebnis sowohl für das Opfer als auch für die Zuschauer. Bruce erinnerte sich lebhaft an eine Nacht im LidoHotel, wo er vielleicht eine der spektakulärsten Szenen Ruffys erlebt hatte. Die Opfer, drei insgesamt, waren Journalisten, die bedeutende Zeitungen repräsentieren. Im Verlauf des Abends sprachen sie immer lauter. Ein amerikanischer Akzent trägt so weit wie ein gut geschlagener Golfball, und Ruffy erkannte ihn sofort auf der Terrasse. Er wurde still. Und in dieser Stille trank er die letzten Liter, die notwendig waren, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er strich sich den Schaum von der Oberlippe und stand auf, die Augen auf die Gruppe der Amerikaner gerichtet. »Ruffy, bleib hier, halt!« Bruce hätte genauso gut nichts zu sagen brauchen. Ruffy ging über die Terrasse. Sie sahen ihn auf sich zukommen und schwiegen verlegen. Der erste war eine Art Probewurf. Außerdem war der Körper des Mannes nicht aerodynamisch konstruiert, und sein Bauch war so aufgeblasen, daß er im Fahrtwind bremste. Er flog nur sechseinhalb Meter. »Ruffy, laß sie in Ruhe«, schrie Bruce. Beim nächsten Wurf kam Ruffy schon ein bißchen besser in Schwung, aber er hatte ihn zu hoch geworfen. Es wurden etwa zehn Meter. Der Journalist flog über die Terrasse und landete auf dem darunterliegenden Rasen, während seine Hand noch 20
immer das leere Glas festhielt. »Rennen, Sie, Sie Narr«, warnte Bruce das dritte Opfer, aber der war wie gelähmt. Und das wurde der beste Wurf, den Ruffy je getan hatte. Er packte gut zu, am Nacken und am Gesäß. Und er legte sein ganzes Gewicht hinein. Ruffy muß gewußt haben, daß er hier einen Rekordwurf getan hatte, denn sein Schrei »Gonnoroeh!«, während er seinen Mann katapultierte, klang nach echtem Triumph. Später, nachdem Bruce die drei Amerikaner beruhigt hatte, und sie sich genügend erholt hatten, und sie sich darüber klarwurden, privilegierte Objekte eines Rekordwurfs gewesen zu sein, gingen sie alle gemeinsam hinaus, die Entfernungen zu messen. Die drei Journalisten entwickelten eine beinahe besitzergreifende Zuneigung für Ruffy und brachten den Rest des Abends damit zu, ihm Bier zu kaufen und sich vor jedem Neuankommenden in der Bar zu brüsten. Einer von ihnen, der letzte, der am weitesten geworfen worden war, wollte unbedingt einen Artikel mit Bildern über Ruffy schreiben. Gegen Ende des Abends hatte er sich so weit gesteigert und genügend internationalen Enthusiasmus entwickelt, daß er dafür plädieren wollte, bei zukünftigen olympischen Spielen einen Wettkampf im Männerweitwerfen einzuführen. Ruffy akzeptierte ihr Lob und ihr Bier mit bescheidener Dankbarkeit. Und als der dritte Amerikaner ihm anbot, ihn nochmals zu werfen, schlug er das Angebot ab mit der Begründung, daß er niemals den gleichen Mann zweimal werfen würde. Alles in allem war es ein denkwürdiger Abend. Abgesehen von diesen zeitweiligen Verfehlungen hatte Ruffy einen kräftigeren Körper und eine frohere Natur als alle anderen Männer, die Bruce kannte. Und darum konnte er sich nicht helfen, er mußte ihn sympathisch finden. Er lächelte, während er versuchte, Ruffys Einladung, mit ihm Karten zu spielen, abzuschlagen. 21
»Wir haben jetzt zu tun, Ruffy, ein andermal.« »Setzen Sie sich, Boß. Wir machen nur ein paar Spielchen, und dann sprechen wir über Arbeit.« Er mischte die drei Karten in seinen Händen. »Setzen Sie sich, Boß«, wiederholte Ruffy, und Bruce zog eine Grimasse, während er sich auf den Stuhl gegenüber setzte. »Wieviel setzen Sie?« Ruffy beugte sich vor. »Une Mille.« Bruce legte eine Tausendfranc-Note auf den Tisch. »Und wenn das weg ist, gehen wir.« »Nur keine Eile«, beruhigte ihn Ruffy. »Wir haben noch den ganzen Tag.« Er legte die drei Karten verdeckt auf den Tisch. »Der König ist irgendwo dabei. Sie müssen sich nur anstrengen, ihn zu finden. Das sind die leichtesten Tausend, die Sie je gemacht haben.« »In der Mitte«, flüsterte der Gendarm, der neben Bruces Stuhl stand. »Das ist er, der in der Mitte.« »Hören Sie nicht auf diesen verrückten Araber. Der hat heute morgen schon fünftausend verloren«, riet Ruffy. Bruce drehte die rechte Karte um. »Pech«, schrie Ruffy. »Da haben Sie sich die Herzkönigin geangelt.« Er nahm den Schein und steckte ihn in die Brusttasche. »Die bringt Sie immer auf den falschen Weg, diese kleine Hure mit dem Engelsgesicht.« Er grinste und drehte die mittlere Karte um, den Pik Buben mit seinen Schlitzaugen und dem gezwirbelten kleinen Schnurrbart. »Die war die ganze Zeit mit dem Buben zusammen, direkt vor der Nase des Königs.« Er drehte den König um. »Jetzt sehen Sie sich diesen verschlafenen alten Burschen an. Er sieht noch nicht mal zu ihnen hin.« Bruce starrte auf die drei Karten und fühlte wieder die gleichen Schmerzen im Magen. Die ganze Geschichte stand hier in den Karten. Alles stimmte. Nur, daß sein Bube einen Vollbart hatte und einen roten Jaguar fuhr, und seine Herzkönigin niemals so unschuldige Augen gehabt hatte. Abrupt sagte Bruce: »Das ist genug, Ruffy. Ich brauche dich und zehn Leute 22
zum Mitkommen.« »Wohin geht es?« »Zum Depot. Wir holen Material für unseren Auftrag.« Ruffy nickte und steckte die Karten in seine Brusttasche, während er die Gendarmen aussuchte, die sie begleiten sollten. Dann fragte er Bruce: »Wir könnten etwas Öl brauchen. Was glauben Sie, Boß?« Bruce zögerte. Sie hatten nur noch zwei Kisten Whisky von dem Dutzend, die sie im August erbeutet hatten. Die Kaufkraft einer Flasche echten schottischen Whiskys war enorm, und Bruce zögerte, sie außer bei ganz dringenden Angelegenheiten zu benutzen. Aber ihm wurde klar, daß seine Chancen, das notwendige Material zu bekommen, gering waren, es sei denn, er brächte dem Quartiermeister eine bedeutende Morgengabe mit. »Okay, Ruffy. Nimm einen Kasten.« Ruffy stand auf und setzte den Stahlhelm auf. die Kinnriemen hingen zu beiden Seiten seines runden, schwarzen Gesichts herunter. »Einen ganzen Kasten?« Er grinste Bruce an. »Wollen Sie einen Schlachtkreuzer kaufen?« »Beinahe«, stimmte Bruce zu. »Los, hol ihn.« Ruffy verschwand im hinteren Teil des Hauses und kam sofort mit einem Kasten »Grant’s Standfast« unter dem einen Arm und einem halben Dutzend Flaschen Simbabier zwischen den Fingern der anderen Hand zurück. »Wir könnten Durst bekommen«, erklärte er. Die Gendarmen kletterten hinten auf den Wagen und machten dabei viel Lärm mit ihren Waffen, während sie fröhlich ihre Kameraden auf der Veranda beschimpften. Bruce, Mike und Ruffy drängten sich in die Fahrerkabine. Ruffy stellte den Whisky auf den Boden und seine beiden großen gestiefelten Füße darauf. »Was ist es denn diesmal, Boß?« fragte er, während Bruce 23
den Wagen auf die Straße lenkte und die Avenue l’Étoile herunterfuhr. Bruce sagte es ihm, und als er fertig war, grunzte Ruffy etwas Unverständliches. Dann öffnete er eine Bierflasche mit seinen großen, weißen, messerscharfen Zähnen. Die Kohlensäure zischte und Schaum rann die Flasche entlang und tropfte auf seinen Schoß. »Meine Jungs werden das nicht gern haben«, sagte er, während er die offene Flasche Mike anbot. Mike schüttelte den Kopf und Ruffy gab die Flasche an Bruce. Ruffy öffnete sich eine Flasche und sprach weiter. »Sie werden es ganz und gar nicht mögen.« Er schüttelte seinen Kopf. »Und es wird noch viel mehr Ärger geben, wenn wir erst mal in Port Reprieve sind und die Diamanten holen.« Erregt starrte Bruce ihn von der Seite an. »Was für Diamanten?« »Aus den Minen«, sagte Ruffy. »Sie glauben doch nicht, daß die uns so weit schicken, nur um die Leute zu holen. Die haben Angst um ihre Diamanten. Das ist doch klar.« Plötzlich wurde Bruce verschiedenes klar, woran er bis jetzt gerätselt hatte. Eine halbvergessene Unterhaltung, die er im Frühjahr mit einem Ingenieur der Union Minière geführt hatte, tauchte in seinem Gedächtnis auf. Sie hatten sich damals über die drei Diamantenbagger unterhalten, die Schlamm aus den Lufirasümpfen baggerten. Die Boote waren in Port Reprieve zu Hause und sicherlich zu Beginn des Ausnahmezustandes dorthin zurückgekehrt. Sie mußten noch immer dort sein mit der Ausbeute von drei bis vier Monaten an Bord. Etwa eine halbe Million Pfund Sterling in Rohdiamanten. Das war also der Grund, warum die katangesische Regierung die Maßnahme als so besonders wichtig ansah. Das war der Grund, weshalb eine so starke Truppe eingesetzt und die Vereinten Nationen nicht eingeschaltet wurden. Bruce lächelte verbissen, als er sich an die humanitären Argumente erinnerte, die der Innenminister ihm gegenüber 24
geäußert hatte. »Es ist unsere Pflicht, Captain Curry. Wir können diese Menschen nicht der Gnade oder Ungnade dieser nicht gerade zartfühlenden Wilden ausliefern. Es ist unsere Pflicht als zivilisierte Menschen.« Es gab noch andere weiße Siedler, die in abgelegenen Missionsstationen und Regierungsposten abgeschnitten waren, im ganzen südlichen Kasai und in Katanga. Von ihnen hatte man schon seit Monaten nichts gehört, aber sie waren offensichtlich nicht so wichtig wie die Siedlung in Port Reprieve. Bruce setzte die Flasche noch einmal an die Lippen und trank, während er mit einer Hand steuerte und mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe sah. Na schön, wir werden sie schon holen. Und später wird eine Munitionskiste in eine Chartermaschine geladen werden, und noch später wird eine weitere Zahlung auf ein Nummernkonto in Zürich erfolgen. Warum soll ich mir Sorgen machen? Schließlich werde ich dafür bezahlt. »Ich glaube nicht, daß wir über die Diamanten mit meinen Leuten reden sollten«, sagte Ruffy traurig. »Ich glaube, das wäre keine gute Idee.« Bruce fuhr langsamer, als sie in das Industrieviertel hinter der Bahn kamen. Er beobachtete die Gebäude im Vorbeifahren, bis er das fand, was er suchte. Er bog von der Straße ab und hielt vor dem Tor. Er hupte, und ein Gendarm kam heraus und inspizierte seinen Paß genauestens. Zufriedengestellt rief er nach hinten, und das Tor öffnete sich. Bruce fuhr in den Hof und stellte den Motor ab. Etwa ein halbes Dutzend anderer Lastwagen parkten im Hof. Alle hatten ein Nummernschild von Katanga und waren von Gendarmen in völlig verschwitzten Uniformen umgeben. Ein weißer Leutnant beugte sich aus dem Fenster eines Lastwagens und schrie. »Ciao, Bruce!« 25
»Wie geht’s, Sergio?« fragte Bruce. »Verrückt! Verrückt!« Bruce lächelte. Für den Italiener war alles verrückt. Bruce erinnerte sich, daß er ihn im Juli beim Kampf um den Brückenkopf über den Kühler eines Landrovers gelegt hatte und ihm mit dem Bajonett einen Granatsplitter aus seinem haarigen Hinterteil entfernt hatte. Das war auch verrückt gewesen. »Bis bald«, sagte Bruce und ging mit Mike und Ruffy über den Hof zum Lager. Auf den großen Doppeltüren war ein Schild mit »Dépôt Ordinance – Armée du Katanga«, und dahinter saß in einem Glaskasten an einem Schreibtisch ein Major mit einer gandhiähnlichen Nickelbrille auf der Nase. Er sah aus wie ein jovialer schwarzer Frosch. Er sah zu Bruce auf. »Non«, sagte er endlich. »Non, non.« Bruce zeigte sein Anforderungsformular und legte es vor ihn hin. Verächtlich wischte es der Major zur Seite. »Wir haben nichts von diesen angeforderten Dingen. Wir sind völlig ausverkauft. Ich kann nichts machen. Nein. Ich kann nichts machen. Es gibt Prioritäten. Es gibt Umstände, die ich in Betracht ziehen muß. Nein, es tut mir leid.« Er nahm einen Stoß von Papieren von der einen Seite seines Schreibtisches, beschäftigte sich mit ihnen, und ignorierte Bruce. »Dieser Anforderungsschein ist von Monsieur le Président persönlich unterschrieben«, sagte Bruce ruhig. Der Major legte seine Papiere zurück und kam um den Schreibtisch herum. Er stand dicht vor Bruce, sein Kopf reichte gerade bis zu dessen Kinn. »Und wäre es von dem Allmächtigen selbst unterschrieben, es hätte keinen Zweck. Es tut mir leid, es tut mir wirklich leid.« Bruce sah auf und sah einen Augenblick lang auf die Berge von Waren, die sich im Lager stapelten. Von seinem Platz aus konnte er mindestens zwanzig Sachen sehen, die er brauchte. Der Major sah den Blick, und sein Französisch wurde so aufgeregt, daß Bruce nur die dauernde Wiederholung des 26
Wortes »non« verstehen konnte. Er warf Ruffy einen Blick zu, und der Hauptfeldwebel trat einen Schritt vor, legte seinen Arm beruhigend auf die Schultern des Majors und führte dann behutsam den noch immer Protestierenden in den Hof zum Wagen. Er öffnete die Tür zum Führerhaus, und der Major sah den Kasten Whisky. Ein paar Minuten später, nachdem Ruffy, die Kiste mit seinem Bajonett geöffnet hatte und der Major die Verschlüsse auf den Flaschen geprüft hatte, kehrten sie zum Büro zurück, und Ruffy schleppte die Kiste unterm Arm. »Captain«, sagte der Major, während er das Anforderungsformular vom Schreibtisch aufnahm, »ich sehe jetzt, daß ich mich geirrt habe. Diese Anforderung ist tatsächlich vom Monsieur le Président unterschrieben. Es ist meine Pflicht, Ihnen die höchste Priorität einzuräumen.« Bruce murmelte seinen Dank und der Major strahlte ihn an. »Ich werde Ihnen einige Männer zur Verfügung stellen, die Ihnen behilflich sind.« »Sie sind zu freundlich. Aber das würde Ihre Arbeit stören. Ich habe meine eigenen Leute.« »Ausgezeichnet«, stimmte der Major zu und deutete mit seiner fetten Hand auf das Lager. »Nehmen Sie sich, was sie brauchen.«
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3 Immer wieder sah Bruce auf seine Armbanduhr. Es waren noch zwanzig Minuten bis zum Ende der Sperrstunde um sechs Uhr. Bis dahin mußte er sich die Zeit damit vertreiben, Wally Hendry beim Frühstück zuzusehen. Es war ein Anblick, der ihm nicht viel Freude bereitete, denn Hendry war ein methodischer, aber unsauberer Esser. »Warum kannst du denn dabei deinen Mund nicht zumachen?« knurrte Bruce ärgerlich, als er nicht mehr länger zusehen konnte. »Kümmere ich mich um deine Angelegenheiten?« Hendry sah von seinem Teller auf. Seine Backen waren mit einem roten stoppeligen Bart bedeckt, seine Augen entzündet und aufgedunsen von den Ausschweifungen des vergangenen Abends. Bruce sah von ihm weg und blickte noch einmal auf seine Uhr. Die selbstmörderische Versuchung, die Sperrstunde einfach zu ignorieren und sofort zum Bahnhof zu fahren, war sehr stark. Es kostete Mühe, sie zu unterdrücken. Das Wenigste, womit er in einem solchen Fall zu rechnen hatte, war, von einer Patrouille verhaftet zu werden; das bedeutete eine Verzögerung von mindestens zwölf Stunden, bis seine Personalien festgestellt waren. Das Schlimmste wäre eine Schießerei. Er goß sich eine weitere Tasse Kaffee ein und trank sie langsam. Ungeduld war immer eine meiner Schwächen, besann er sich. Fast jeder Fehler, den ich je begangen habe, kam daher. Aber im Laufe der Jahre habe ich mich gebessert. Mit zwanzig wollte ich mein Leben in einer Woche leben. Jetzt gebe ich mir schon ein Jahr. Er trank seinen Kaffee aus und sah wieder nach der Zeit. Fünf Minuten vor sechs. Jetzt konnte er es riskieren. Solange würde es fast dauern, bis sie im Lastwagen saßen. »Wenn Sie fertig sind, meine Herren –« Er stieß seinen Stuhl 28
zurück, nahm seine Sachen auf, warf sich den Sack über die Schultern und ging voran. Ruffy wartete auf sie. Er saß auf einem Stapel von Waren in einem der Wellblechschuppen. Seine Leute lagen um ein Dutzend kleiner Feuer, die auf dem Zementboden brannten und machten sich ihr Frühstück. »Wo ist der Zug?« »Das ist eine sehr gute Frage, Boß«, gratulierte ihm Ruffy; Bruce stöhnte. »Aber er hätte längst hier sein sollen«, protestierte Bruce, und Ruffy zuckte mit den Schultern. »›Hätte sein sollen‹ ist etwas ganz anderes als ›ist‹.« »Verdammt noch mal, wir müssen noch laden. Wir haben Glück, wenn wir vor Mittag hier wegkommen«, sagte Bruce wütend. »Ich werde zum Stationsvorsteher gehen.« »Ich würde ihm ein Geschenk mitnehmen, Boß. Wir haben immer noch eine Kiste.« »Zum Teufel, nein«, brummte Bruce. »Mike, komm mit.« Mike und er überquerten die Schienen und kletterten auf den Bahnsteig. Am entfernten Ende stand eine Gruppe von Bahnbediensteten und unterhielt sich. Bruce kam wie ein großes Donnerwetter über sie. Zwei Stunden später fuhr Bruce neben dem farbigen Lokomotivführer langsam zum Güterbahnhof. Der Lokführer war ein kugelrunder kleiner Mann mit einer Haut, die zu dunkel für Sonnenbräune war und mit Zähnen, die in einem blutroten Plastikgaumen zu stecken schienen. »Monsieur, Sie wollen doch nicht etwa nach Port Reprieve fahren«, fragte er ängstlich. »Doch.« »Aber man weiß überhaupt nicht, ob die Strecke noch befahrbar ist. Sie ist seit über vier Monaten nicht benutzt worden.« »Das weiß ich. Du wirst eben vorsichtig fahren.« »In der Nähe des alten Flugplatzes haben die Vereinten Na29
tionen eine Sperre über den Schienen errichtet«, protestierte der Mann. »Wir haben einen Passierschein.« Bruce lächelte, um ihn zu beruhigen. Seine schlechte Laune verflog jetzt, da er sein Transportmittel bekommen hatte. »Halte hier neben dem ersten Wellblechschuppen.« Unter dem Kreischen seiner Bremsen hielt der Zug an dem Betonbahnsteig, und Bruce sprang herunter. »Also los, Ruffy«, schrie er. »Rauf mit den Sachen.« Bruce verlud die drei gepanzerten offenen Lastwagen in die Güterwagen, denn die waren am leichtesten zu verteidigen. Hinter der brusthohen Seitenverschalung konnten sie die Maschinengewehre sowohl für vorne als auch für die Deckung der Flanken benutzen. Dann folgten zwei Personenwagen, die als Warenlager und Offiziersquartiere benutzt werden sollten und in denen auf der Rückreise die Flüchtlinge untergebracht werden konnten. Die Lokomotive fuhr am Ende, wo sie am schwersten außer Gefecht zu setzen war und sie die Wagen nicht ständig mit Rauch und Ruß einnebelte. Die Waren wurden in vier Abteile verstaut, deren Fenster und Türen verbarrikadiert und verschlossen wurden. Dann begann Bruce die Verteidigungsmaßnahmen zu treffen. Auf dem Dach des ersten Wagens wurden Sandsäcke ringförmig aufgeschichtet und darin ein Maschinengewehr postiert. Das war sein eigener Platz. Von hier aus konnte er über die offenen Güterwagen und zur Lokomotive sehen, gleichzeitig hatte er einen glänzenden Ausblick auf die Umgebung. Die anderen Maschinengewehre wurden in dem ersten Güterwagen in Stellung gebracht; Hendry übernahm das Kommando. Er hatte außerdem von dem Major im Depot drei neue Sprechfunkgeräte erhalten. Eines davon bekam der Lokomotivführer, das zweite Hendry, und das dritte behielt er auf seinem Kommandoposten. Auf diese Art und Weise war die Verständigung zufriedenstellend. 30
Es war fast zwölf Uhr, ehe alle Vorbereitungen getroffen waren. Bruce wandte sich an Ruffy, der auf den Sandsäcken neben ihm saß. »Alles fertig?« »Alles fertig, Boß.« »Wieviel Leute fehlen?« Bruce hatte aus der Erfahrung gelernt, daß niemals seine ganze Truppe zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Stelle war. »Acht, Boß.« »Das sind drei mehr als gestern. Da bleiben uns nur zweiundfünfzig Mann. Glaubst du, daß sie auch im Busch verschwunden sind?« Fünf seiner Leute waren am Tage des Waffenstillstands mit ihren Waffen desertiert. Wahrscheinlich waren sie in den Busch gegangen, hatten sich einer der Banden von Shuftas angeschlossen und führten jetzt mit diesen einen grausamen Guerillakrieg, überfielen auf den Verkehrsstraßen unbewaffnete Wagen, verprügelten Reisende oder, wenn diese weniger Glück hatten, brachten sie sie um, vergewaltigten, wenn sich die Gelegenheit ergab und amüsierten sich überhaupt gut. »Nein, Boß. Das glaube ich nicht. Das waren drei gute Jungs. Ich bin überzeugt, die sind in der Cité indigené und amüsieren sich; die haben einfach die Zeit vergessen.« Ruffy schüttelte seinen Kopf. »Wir würden ungefähr eine halbe Stunde brauchen, bis wir sie finden. Wir müßten nur runtergehen und die Puffs durchstöbern. Wollen Sie’s versuchen?« »Nein. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, wenn wir Msapa Junction noch vor Dunkelheit erreichen wollen. Wir werden sie uns holen, wenn wir zurückkommen.« Bruce fragte sich, ob es seit den Burenkriegen jemals eine Armee gegeben hatte, in der Fahnenflucht so leicht genommen wurde. Er nahm das Funkgerät und drückte auf den Sprechknopf. »Oui, Monsieur.« »Langsam losfahren. Sehr langsam, bis wir an die Sperre der Vereinten Nationen kommen. Halte ein gutes Stück davor.« 31
»Oui, Monsieur.« Sie fuhren aus dem Güterbahnhof, ratterten über die Weichen und ließen das Industrieviertel mit den katangesischen Wachposten an der Kreuzung der Avenue du Cimetière rechts liegen. Dann ging es durch die Vorstädte, bis Bruce die Stellung der Vereinten Nationen vor sich sah; er fühlte, wie er nervös wurde. Der Paß, den er in der Brusttasche seiner Jacke bei sich trug, war von General Rhee Singh unterschrieben, aber schon oft war es ihm in diesem Krieg passiert, daß der Befehl eines indischen Generals einem sudanesischen Captain oder einem irischen Sergeanten nichts bedeutete. Der Empfang, der sie erwartete, konnte aufregend werden. »Ich hoffe, daß die über uns Bescheid wissen.« Mike Haig steckte sich lässig eine Zigarette an, aber er starrte unsicher über sie hinweg auf die frischen Erdhaufen, die zu beiden Seiten der Schienen aufgeworfen waren, so daß die Stellungen sichtbar waren. »Diese Jungens haben Panzerfäuste und sind irische Araber«, murmelte Ruffy. »Ich glaube, das sind die verrücktesten Araber, die es gibt, diese Iren. Hätten sie gerne eine Panzerfaust in die Kehle, Boß?« »Besten Dank, Ruffy«, lehnte Bruce ab und drückte auf die Sprechtaste. »Hendry!« Im vorderen Wagen nahm Wally Hendry sein Gerät auf, hielt es gegen die Brust und sah zu Bruce hin. »Curry?« »Sag deinen Leuten, daß sie sich von den Maschinengewehren entfernen sollen und daß die anderen die Gewehre zu Boden legen sollen.« »In Ordnung.« Bruce beobachtete, wie er den Befehl weitergab, die Leute von den Posten wegschob und sich zwischen den Gendarmen im übervölkerten ersten Wagen bewegte. Bruce konnte die Spannung spüren, die den ganzen Zug be32
fallen hatte. Seine Leute legten nur widerwillig die Waffen nieder und starrten mit leeren Händen auf die vor ihnen liegende Sperre der Vereinten Nationen. »Lokführer!« Bruce sprach wieder ins Funkgerät. »Fahr langsamer. Halte etwa fünfzig Meter vor der Sperre. Sollte es eine Schießerei geben, dann laß die Maschine hergeben, was sie kann und fahre einfach durch.« »Oui, Monsieur.« Vor ihnen sahen sie keinerlei Zeichen eines Empfangskomitees. Nur eine Sperre von Pfählen und Benzinfässern, die über die Schienen gelegt war. Bruce richtete sich auf dem Dach des Wagens auf und schwenkte die Arme über seinem Kopf als Zeichen der Neutralität. Das war ein Fehler. Die Geste veränderte die passive Haltung der Leute in den Wagen vor ihm. Einer von ihnen hob ebenfalls die Arme, aber seine Fäuste waren geballt. »Vereinte Nationen – Merde!« schrie er, und sofort wurde der Schrei von den anderen aufgenommen. »UN – Merde! UN – Merde!« Sie brüllten ihren Kriegsschrei. Zuerst lachten sie, dann hörte das Lachen auf und ihre Stimmen wurden plötzlich hart. »Haltet die Schnauze, verdammt noch mal«, brüllte Bruce und schlug mit seiner offenen Hand auf den Kopf eines neben ihm stehenden Gendarmen, der dies aber kaum bemerkte. Seine Augen glänzten von angesteckter Hysterie, für die die Afrikaner so anfällig sind. Er hatte sein Gewehr erhoben und hielt es vor der Brust. Sein Körper begann schon zu zucken, während er schrie. Bruce hakte seine Finger unter den Kinnriemen des Stahlhelms des Mannes und schob ihm den Stahlhelm über die Augen, so daß sein Nacken frei war. Er fällte ihn mit einem Judoschlag, und der Gendarm fiel vornüber auf die Sandsäcke; das Gewehr entglitt seinen Händen. »Bringt sie zum Schweigen. Hendry, de Surrier, verdammt 33
noch mal, bringt sie zum Schweigen.« Aber seine Stimme verlor sich in dem Geschrei. Ein Gendarm riß sein Gewehr hoch, das zu seinen Füßen lag. Bruce sah, wie er sich mit den Ellenbogen Platz machte und versuchte, die eine Seite des Lastwagens zu erreichen, um das Feuer zu eröffnen. Er versuchte dabei, eine Patrone in den Lauf zu bekommen. »Mwembe!« schrie Bruce den Namen des Gendarmen, aber seine Stimme war nicht laut genug, den Lärm zu durchdringen. In zwei Sekunden würde alles in einer wüsten Schießerei von Maschinengewehren und Panzerfäusten versinken. Bruce stand auf dem vorderen Teil des Wagendaches und schätzte für einen Augenblick die Entfernung ab, dann sprang er. Er landete genau auf den Schultern des Gendarmen, und sein Gewicht warf den Mann nach vorne, so daß dessen Gesicht an die Stahlwand des Wagens schlug und beide zu Boden fielen. Der Finger des Gendarmen war noch immer am Abzug, und als es ihm aus den Händen fiel, löste sich der Schuß. Sekunden herrschte völlige Stille, nur der Knall des Schusses war vernehmbar. Bruce stellte sich auf, zog seine Pistole aus seiner Hüfttasche. »Also gut«, keuchte er und bedrohte dabei die ihn umgebenden Männer. »Kommt her und gebt mir eine Chance, das Ding hier zu benutzen.« Er wählte sich einen Feldwebel aus und starrte ihn an. »Du da, ich warte auf dich. Fang doch an zu schießen.« Beim Anblick des Revolvers entspannte sich der Mann langsam, und der irre Ausdruck wich aus seinem Gesicht. Er senkte die Augen und scharrte verlegen mit den Füßen. Bruce sah zu Ruffy und Haig auf dem Dach hinauf und rief: »Paßt auf sie auf und erschießt den ersten, der wieder anfängt.« »Okay, Boß.« Ruffy nahm seine Maschinenpistole hoch. »Na, wer will’s denn sein«, fragte er fröhlich, indem er auf sie 34
hinabblickte. Aber die Stimmung hatte sich gewandelt. Ihr Trotz war gebrochen und hatte fast kindlicher Scham Platz gemacht. Ganz leise Unterhaltung durchbrach die Stille. »Mike«, schrie Bruce schon wieder erregt. »Rufe den Lokführer, er versucht, die Barriere zu durchbrechen!« Der Lärm des Zuges war lauter geworden, da der Lokomotivführer beim Hören des Schusses mehr Dampf gegeben hatte. Sie rasten auf die Barriere der Vereinten Nationen zu. Mike Haig ergriff das Sprechgerät und schrie den Befehl hinein. Sofort hörte man, wie die Bremsen angezogen wurden, und der Zug kam innerhalb der letzten hundert Meter vor der Barriere zu Stehen. Langsam kletterte Bruce wieder auf das Dach des Wagens zurück. »Das war knapp«, sagte Mike. »Bei Gott!« Bruce schüttelte den Kopf und zündete sich mit noch zitternden Händen eine Zigarette an. »Noch fünfzig Meter weiter –!« Dann drehte er sich um und sah eisig auf seine Gendarmen. »Kanaille! Wenn du das nächste Mal Selbstmord begehen willst, dann tu das ohne mich.« Der Gendarm, den er niedergerissen hatte, hatte sich aufgesetzt und befühlte eine häßliche dicke Beule über seinem Auge. »Mein Freund«, sagte Bruce zu ihm. »Mir wird später noch etwas Unangenehmes für dich einfallen!« und dann zu dem anderen Mann, der neben ihm auf dem Dach saß und seinen Nacken massierte, gewandt: »Und für dich auch. Hauptfeldwebel, schreiben Sie die Namen auf.« »Jawohl, Sir«, knurrte Ruffy. »Mike«, Bruces Stimme war wieder normal. »Ich gehe jetzt zu unseren Freunden hinter den Panzerfäusten und werde ihnen die ganze Sache schonend beibringen. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, bring den Zug durch.« »Soll ich nicht lieber mitkommen?« fragte Mike. »Nein, bleib lieber hier.« Bruce nahm seine Maschinenpisto35
le und warf sie sich über die Schulter. Dann ließ er seine Strickleiter am Wagen herunter und kletterte auf den Weg neben den Schienen. Langsam ging er vorwärts, der Kies unter seinen Schuhen knirschte. Das war ein viel versprechender Anfang für diese Expedition, entschied er grimmig. Das erste Unglück hatte er gerade noch um Haaresbreite abwenden können, ehe sie die Stadt hinter sich gelassen hatten. Gott sei Dank bemühten die Mickies bei dieser Gelegenheit nicht gleich ihre Panzerfäuste. Bruce starrte nach vorne und konnte jetzt die Umrisse von Helmen erkennen, die hinter den Erdwällen zu sehen waren. Jetzt, wo der Fahrtwind nicht mehr kühlte, war es wieder heiß, und Bruce fühlte, wie er zu schwitzen begann. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Mister.« Ein breiter Dialekt rief ihn von einem Graben in der Nähe der Schienen an. Bruce blieb stehen; die gleißenden Sonnenstrahlen brannten direkt auf ihn herunter. Jetzt konnte er die Gesichter der Männer unter den Helmen erkennen. Sie waren unfreundlich und lächelten nicht. »Weshalb wurde da eben geschossen?« fragte die Stimme. »Wir hatten einen Unfall.« »Ich würde Ihnen keinen weiteren empfehlen, sonst könnten wir vielleicht auch einen haben.« »Das haben wir auch nicht vor, Paddy.« Bruce lächelte dünn und die Stimme des Iren wurde schärfer, als er fortfuhr. »Was ist Ihr Auftrag?« »Ich habe einen Passierschein, wollen Sie ihn sehen?« Bruce nahm das gefaltete Stück Papier aus seiner Brusttasche. »Was ist ihr Auftrag?« wiederholte der Ire. »Nach Port Reprieve zu fahren und die Stadt zu entsetzen.« »Wir haben davon gehört«, nickte der Ire. »Zeigen Sie mir Ihren Passierschein.« Bruce ging vom Weg herunter, kletterte über den Erdwall 36
und gab das rosa Stück Papier dem Iren. Er trug die drei Sterne eines Captains. Nachdem er den Paß kurz geprüft hatte, sprach er zu dem Mann an seiner Seite. »In Ordnung, Feldwebel, Sie können die Barriere wegräumen lassen.« »Kann ich den Zug durchfahren lassen?« fragte Bruce, und der Captain nickte wieder. »Aber sorgen Sie dafür, daß keine weiteren Unfälle passieren – wir mögen keine bezahlten Mörder.« »Bestimmt. Und bei Gott, Paddy, das ist auch nicht Ihr Krieg, den Sie hier führen«, knurrte Bruce und drehte dem Mann seinen Rücken zu. Dann kletterte er wieder auf den Weg und winkte Mike Haig auf dem Dach des Wagens. Der irische Feldwebel und seine Leute hatten die Sperre von den Schienen geräumt, und während der Zug langsam auf ihn zufuhr, kämpfte Bruce mit sich, um seine Beherrschung zu behalten. Der Vorwurf des irischen Captains hatte ihn getroffen. Ein bezahlter Mörder. Es stimmte, genau das war er. Konnte ein Mann noch tiefer sinken? Als der Wagen auf seiner Höhe war, schwang sich Bruce an einem Griff hinauf und winkte dem irischen Captain einen ironischen Gruß zu, ehe er auf das Dach kletterte. »Kein Ärger?« fragte Mike. »Dummes Gerede mit den Komikern«, antwortete Bruce, »aber nichts Ernstes.« Er nahm das Sprechgerät. »Lokführer.« »Monsieur?« »Vergiß meine Befehle nicht.« »Ich werde nicht über vierzig Kilometer in der Stunde beschleunigen und werde zu jeder Zeit darauf vorbereitet sein, plötzlich zu halten.« »Gut!« Bruce stellte das Gerät ab und setzte sich auf die Sandsäcke zwischen Ruffy und Mike. Gut, dachte er. Jetzt geht es endlich los. Noch sechs Stunden 37
bis zum Knotenpunkt Msapa. Das sollte leicht sein. Und dann – Gott weiß, Gott allein weiß. Der Zug fuhr eine Kurve und Bruce sah zurück auf die letzten weißgetünchten Häuser von Elisabethville, die hinter den Bäumen verschwanden. Jetzt waren sie in den offenen Wäldern der Savanna. Hinter ihnen zog sich der schwarze Rauch der Lokomotive seitlich über die Bäume. Unter ihnen ratterten die Schienen in gleichmäßigem Rhythmus. Und vor ihnen lag der Schienenstrang, meilenweit und pfeilgerade, bis er am Horizont mit dem olivgrünen Dunkel des Waldes verschmolz. Bruce sah nach oben. Die Hälfte des Himmels strahlte in klarem, südlichen Blau. Aber im Norden waren Wolken zu sehen, und aus ihnen fiel grauer Regen herab, der sich mit der Erde vermengte. Das Sonnenlicht bildete in dem Regen einen Regenbogen, und die Wolkenschatten zogen über das Land, so langsam und dunkel wie eine Herde grasender Büffel. Er lockerte den Kinnriemen seines Helmes und legte seine Maschinenpistole neben sich auf das Dach. »Möchten Sie ein Bier, Boß?« »Hast du welches?« »Klar.« Ruffy rief einem der Gendarmen etwas zu, und der Mann kletterte in den Wagen und kam mit einem halben Dutzend Flaschen wieder. Ruffy öffnete zwei mit seinen Zähnen. Jedesmal spritzte fast die Hälfte aus den Flaschen und lief an den hölzernen Wänden des Wagens hinunter. »Dieses Bier ist so ungestüm wie eine wütende Frau«, schimpfte er, als er eine Flasche an Bruce weitergab. »Auf jeden Fall ist es naß.« Bruce trank einen Schluck. Es war warm, mit zu viel Kohlensäure und zu süß. »Na, denn Prost«, sagte Ruffy. Bruce sah auf die Gendarmen in den offenen Wagen; sie hatten es sich für die Reise bequem gemacht. Außer den Wachen an den Maschinengewehren lagen oder hockten sie völlig entspannt, die meisten von ihnen bis auf ihr Unterzeug 38
ausgezogen. Ein drahtiger kleiner Kerl schlief bereits, seinen Stahlhelm als Kissen benutzend, und die tropische Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Bruce trank sein Bier aus und warf die Flasche weg. Ruffy öffnete die nächste und drückte sie ihm einfach in die Hand. »Warum fahren wir so langsam, Boß?« »Damit wir schneller anhalten können, falls die Schienen aufgerissen worden sind.« »Stimmt. Das könnten die Balubas schon gemacht haben. Das sind verrückte Araber. Das ganze Pack.« Das warme Bier, das er in der Sonne getrunken hatte, beruhigte Bruce. Er fühlte sich jetzt friedlich. Es war nicht mehr nötig, Entscheidungen zu treffen oder sich am Leben um ihn herum zu beteiligen. »Hören Sie, wie der Zug erzählt?« fragte Ruffy und Bruce konzentrierte sich auf das Klicketiklack der Schienen. »Ja, ich weiß. Und du kannst jede Geschichte, die du willst, heraushören.« »Und singen kann es auch«, fuhr Ruffy fort. »Da ist richtige Musik drin. So etwa.« Er holte tief Luft und der riesige Brustkorb schwoll an. Dann hob er den Kopf und begann zu singen. Seine Stimme war tief, mit einer großen Resonanz, die sofort die Aufmerksamkeit der Leute in den offenen Wagen unter ihnen erweckte. Diejenigen, die mehr oder weniger geschlafen hatten, richteten sich auf. Eine weitere Stimme fiel summend in die Melodie ein, erst zögernd, dann kräftiger, dann fielen auch die andern ein. Die Worte waren ohne Bedeutung. Es war der Rhythmus, dem sie nicht wiederstehen konnten. Sie hatten schon oft zusammen gesungen und wie bei einem gut trainierten Chor fand jeder bald seinen Platz. Die Solisten führten, wechselten das Tempo, improvisierten, wurden schneller, bis die Originalmelodie ihre Identität verloren hatte und das Ganze zu einem der Stammeslieder geworden war. Bruce erkannte ein altes Pflanzerlied. Es war eines seiner Lieblingslieder, und er 39
saß da und trank sein lauwarmes Bier und ließ sich von dem Singen umgeben, das langsam zu einem Chor wie einer wilden Brandung anstieg, dann wieder in ein Tenorsolo zurückfiel, ehe es sich noch einmal erhob. Und der Zug fuhr weiter durch das Sonnenlicht den Regenwolken im Norden entgegen. André kam auf einmal aus dem Wagen herauf und drängte sich nach vorne durch die Männer, bis er zu Hendry kam. Die beiden standen zusammen. Andrés Gesicht sah zu dem größeren Mann auf und war todernst, während er sprach. »Puppenjunge.« So hatte Hendry ihn genannt, und es war eine akkurate Beschreibung für das weibisch hübsche Gesicht mit den großen nußbraunen Augen. Der Stahlhelm, den er trug, schien zu breit über den schmalen Schultern. Wie alt mag er wohl sein. Bruce beobachtete ihn, wie er plötzlich lachte. Noch immer blickte er zu Hendry auf. Kaum über zwanzig. Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden gesehen, der einem bezahlten Mörder unähnlicher gewesen wäre. »Wie zum Teufel konnte jemand wie de Surrier zu so einem Haufen kommen.« Seine Stimme gab seinen Gedanken Ausdruck. Und Mike, der neben ihm saß, antwortete. »Als das alles anfing, arbeitete er in Elisabethville, weil er nicht nach Belgien zurückkehren konnte. Ich weiß nicht warum, aber ich nehme an, daß es sich um etwas Persönliches handelte. Seine Firma machte zu. Es war wohl die einzige Arbeit, die er bekommen konnte.« »Der Ire an der Sperre nannte mich einen bezahlten Mörder«. Während er über Andrés Stellung nachgedacht hatte, war er auf seinen eigenen Status wieder zurückgekommen. »Ich habe darüber bis jetzt eigentlich noch nicht nachgedacht. Aber ich nehme an, er hat recht. Das ist genau das, was wir sind.« Mike Haig war einen Moment lang schweigsam. Aber als er wieder sprach, hatte seine Stimme einen ganz besondere Klang. »Sieh dir diese Hände an!« Bruce besah sie sich. Zum er40
stenmal bemerkte er, daß sie schmal, mit langen wohlgeformten Fingern, besessen von einer eigenen Schönheit, die Hände eines Künstlers. »Sieh sie dir an«, wiederholte Mike und bewegte sie leicht. »Sie waren dazu ausersehen, einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Sie sollten ein Skalpell halten. Sie waren dazu geschaffen, Leben zu erhalten und zu verlängern.« Er ließ sie auf die Maschinenpistole fallen, die in seinem Schoß lag. Fast widerspruchsvoll lagen die langen, schmalen Finger auf dem kalten blauen Metall. »Und schau dir an, was sie jetzt halten.« Bruce wurde unruhig und irritiert. Er hatte nicht die Absicht, wieder einmal einen Anfall von Mike Haigs Selbstzerfleischung mitzuerleben. Zum Teufel mit dem alten Narren. Warum mußte er immer wieder damit anfangen. Er wußte genauso gut wie jeder andere, daß es in der Söldnerarmee von Katanga ein einziges Tabu gab: die Vergangenheit. Sie existierte nicht. »Ruffy«, schnauzte Bruce, »gibst du deinen Leuten nichts zu essen?« »Sofort, Boß.« Ruffy öffnete ein weiteres Bier und gab es an Bruce weiter. »Nehmen Sie das. Es wird Ihre Gedanken an Essen so lange unterdrücken, bis ich etwas fertiggemacht habe.« Er lief noch immer singend über das Dach des Wagens. »Vor drei Jahren, es scheint eine Ewigkeit her zu sein«, fuhr Mike fort, als ob Bruce ihn nicht unterbrochen hätte. »Vor drei Jahren, da war ich Chirurg. Und jetzt das –« Verzweiflung war in seinen Augen zu sehen, und Bruce fühlte auf einmal Mitleid für den Mann, ganz tief drinnen, wo er das Mitleid mit all seinen anderen Gefühlen gefangenhielt. »Ich war gut. Ich war einer der Besten. Royal College. Harley Street. Guys (Hospital).« Mike lachte ein bitteres Lachen ohne jeden Humor. »Kannst du dir vorstellen, daß ich in meinem Rolls Royce zur Universität gefahren wurde, um dort eine Vorlesung über die fortgeschrittene Technik der Gallenblasenentfernung zu halten?« 41
»Was ist passiert?« Die Frage war heraus, ehe er sie stoppen konnte, und Bruce wurde klar, wie weit er seinem Mitleid erlaubt hatte, an die Oberfläche zu kommen. »Nein, sag mir nichts, das ist deine Angelegenheit. Ich will das nicht wissen.« »Aber ich werde es dir sagen, Bruce, ich möchte es. Es hilft irgendwie, wenn man darüber spricht.« Zum Anfang, dachte Bruce, wollte ich auch darüber reden und versuchen, den Schmerz durch Worte abzuwaschen. Ein paar Sekunden war Mike still. Unter ihnen hörte man das anund abschwellende Gesinge der Leute, während der Zug weiter durch die Wälder fuhr. »Ich hatte zehn schwere Jahre gebraucht, bis ich dort angelangt war, aber zum Schluß hatte ich es geschafft. Eine feine Praxis, in der ich die Arbeit, die ich liebte, mit Erfolg ausübte und die mir die Belohnung brachte, die mir dafür zustand. Eine Frau, auf die jeder Mann stolz gewesen wäre, ein schönes Heim, viele Freunde. Vielleicht zu viele Freunde. Denn Erfolg brütet Freunde wie eine schmutzige Küche Schaben brütet.« Mike nahm ein Taschentuch heraus und trocknete sich den Nacken, den der Wind nicht erreichen konnte. »Diese Art von Freunden bedeuten Partys«, fuhr er fort. »Partys, nachdem man den ganzen Tag schwer gearbeitet hat und müde ist. Und wenn man glaubt, die Aufmunterung nötig zu haben, die man so leicht in einer Flasche findet. Du weißt nie, ob du wirklich eine Schwäche dafür hast, ehe es zu spät ist. Bis du plötzlich eine Flasche in deinem Schreibtisch hast und bis du plötzlich feststellst, daß deine Praxis gar nicht mehr so gut geht.« Mike drehte das Taschentuch um seiner Finger, während er stur fortfuhr. »Dann weißt du es plötzlich. Du weißt es, wenn deine Hände morgens zu tanzen beginnen und wenn das einzige, was du dir zum Frühstück wünschst, sie ist. Wenn du nicht mehr bis zum Mittagessen warten kannst, weil du operieren mußt und du nur so noch deine Hände unter Kontrolle 42
bekommst. Und du weißt es endgültig und hundertprozentig, wenn das Messer in deiner Hand sich zu drehen beginnt und die Arterie zu bluten beginnt und du das Ganze wie paralysiert beobachtest. Du siehst, wie sich das Blut in einer roten Spirale über deinen Kittel ergießt und Pfützen auf dem Boden des Operationssaals bildet.« Mikes Stimme war heiser geworden, er klopfte eine Zigarette aus einem Päckchen und zündete sie an. Seine Schultern waren hochgezogen und seine Augen voll schuldbeladener Schatten. Dann riß er sich zusammen und seine Stimme wurde wieder fester. »Du mußt damals darüber gelesen haben. Es war ein paar Tage lang die Schlagzeile aller Zeitungen. Nur war mein Name damals nicht Haig. Den Namen nahm ich mir vom Etikett einer Flasche in der Bar.« »Gladys blieb selbstverständlich bei mir. Sie war der Typ. Wir gingen nach Afrika. Ich hatte aus allem noch genügend gerettet, um mir mit einer Anzahlung eine Tabakfarm im Centenary Block außerhalb Salisbury zu kaufen. Zwei gute Ernten, und ich hatte das Trinken aufgegeben. Gladys bekam unser erstes Kind, das wir uns beide so sehr gewünscht hatten. Alles war wieder in Ordnung.« Mike steckte das Taschentuch zurück in seine Tasche, seine Stimme verlor ihre Kraft und wurde trocken und heiser. »Dann fuhr ich eines Tages mit einem Lastwagen ins Dorf und hielt auf dem Nachhauseweg beim Club an. Ich war schon oft vorher dort gewesen, aber diesmal war es anders. Statt einer halben Stunde blieb ich dort, bis sie mich zur Sperrstunde hinauswarfen, und als ich bei der Farm ankam, hatte ich eine Kiste Whisky neben mir.« Bruce wollte ihn stoppen. Er wußte, was kommen würde, aber wollte es nicht hören. »Die Regenzeit begann in dieser Nacht, und die Flüsse traten über die Ufer. Die Telefonleitungen waren blockiert, und wir waren abgeschnitten. Am Morgen –« Mike hielt an und wandte 43
sich zu Bruce. »Ich nehme an, es war der Schock, mich wieder so zu sehen. Aber an diesem Morgen begannen bei Gladys die Wehen. Es war ihr erstes Kind, und sie war nicht mehr so jung. Am nächsten Tag hatte sie noch immer Wehen, aber jetzt war sie bereits zu schwach, um zu schreien. Ich erinnere mich genau, wie friedlich es ohne ihr Schreien war und ohne ihr ständiges Drängen, ihr doch zu helfen. Weißt du, sie wußte, daß ich alle Instrumente hatte, die ich brauchte. Sie bat mich, ihr zu helfen. Ich kann mich daran noch erinnern. Ihre Stimme kam durch einen Nebel von Whisky. Ich glaube, ich haßte sie da. Ich glaube, mich daran zu erinnern, sie gehaßt zu haben. Es war alles so durcheinander. Das Schreien und der Alkohol. Und endlich war sie ruhig. Ich glaube nicht, daß ich mir bewußt wurde, daß sie tot war. Ich war einfach froh, daß sie still war und ich meine Ruhe haben konnte.« Er wandte seine Augen von Bruce ab. »Ich war zu betrunken, um zum Begräbnis zu gehen. Dann traf ich einen Mann in einer Bar. Ich wußte nicht mehr genau, wann das gewesen ist. Und ich weiß auch nicht wo. Es muß irgendwo in der Kupferminengegend gewesen sein. Er rekrutierte Leute für Tschombés Armee, und ich ließ mich anwerben. Es gab für mich nichts anderes mehr, was ich hätte tun können.« Keiner von ihnen sprach, bis ein Gendarm das Essen brachte. Große Stücke braunen Brotes mit Büchsenbutter bestrichen und Ochsenfleisch mit eingemachten Zwiebeln. Sie aßen schweigend und hörten dem Singen zu. Dann sagte Bruce. »Du hättest mir das nicht zu erzählen brauchen.« »Ich weiß.« »Mike –« Bruce machte eine Pause. »Ja?« »Es tut mir leid, falls es dir etwas sagt.« »Es sagt mir etwas«, sagte Mike. »Es hilft einem, wenn man 44
weiß, daß man nicht völlig allein ist. Ich mag dich, Bruce.« Den letzten Satz stieß er hervor, und Bruce zuckte zusammen, als ob Mike ihm ins Gesicht gespuckt hätte. Du Narr, ermahnte er sich selbst wütend. Du wirst ja schon wieder weich. Beinahe hättest du einen von ihnen wieder an dich rangelassen. Mit äußerster Kraft verdrängte er seine Sympathie und war entsetzt darüber, welche Anstrengung er dazu brauchte. Als er das Funkgerät wieder aufnahm, war jegliche Güte aus seinen Augen verschwunden. »Hendry«, sprach er in den Apparat, »rede nicht so viel. Ich habe dich auf den Posten gestellt, damit du auf die Schienen achtgibst.« Von dem vordersten Wagen drehte sich Wally Hendry um und streckte mit einer obszönen Geste zwei Finger auf Bruce, wandte sich dann aber um und sah nach vorne. »Ich glaube, es ist besser, wenn du nach vorne gehst und Hendry ablöst«, sagte Bruce zu Mike. »Schick ihn hierher.« Mike Haig stand auf und sah auf Bruce herunter. »Wovor hast du eigentlich Angst?« sagte seine Stimme leicht erstaunt. »Ich habe dir einen Befehl gegeben, Haig.« »Jawohl, ich gehe ja schon.«
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4 Das Flugzeug fand sie am späten Nachmittag. Es war eine Vampire-Düsenmaschine der indischen Luftwaffe und kam von Norden her. Sie hörten das dröhnende Geräusch am Himmel und sahen es dann wie einen glimmernden Strahl an der Sonne vorüberfliegend über den Wolken, die vor ihnen lagen. »Ich wette tausend Francs gegen eine Handvoll Mist, daß der Junge da oben nichts über uns weiß«, sagte Hendry teilnahmsvoll, während er beobachtete, wie die Maschine ihren Kurs änderte und auf sie zukam. »Nun, jetzt weiß er es«, sagte Bruce. Schnell prüfte er die Entfernung der Regenwolken, die vor ihnen lagen. Sie waren nah. In ungefähr zehn Minuten würden sie unter ihnen sein und damit sicher vor jedem Luftangriff, denn der Bauch der Wolken hing tief, und der Regen brachte einen dicken blaugrauen Nebel mit sich, der die Sicht auf etwa hundert Meter beschränkte. Er stellte das Funkgerät an. »Fahrer, holen Sie alles heraus, was die Maschine hergibt. Wir müssen den Schutz des Regens erreichen.« »Oui, Monsieur«, erschallte die Antwort, und sofort begann der Zug schneller zu fahren, und das Rattern der Schienen wechselte seinen Rhythmus. »Schau, da kommt er wieder«, knurrte Hendry. Die Düsenmaschine kam schnell und tiefer hinter den Wolken vor, noch immer im Sonnenlicht, noch immer ein silbriger Punkt am Himmel, aber bereits größer. Bruce versuchte über sein Funkgerät, den Äther nach der Stimme des Piloten abzusuchen. Er probierte vier Wellenlängen aus und bekam jedesmal nur das Rauschen statischer Störungen zu hören. Bei der fünften hatte er Glück. Er hörte das leise Singen von Hindustani. Bruce konnte es nicht verstehen, aber er hörte, daß der Sprecher verwirrt war. Nach einer 46
kurzen Pause im Funkgerät, während der Pilot auf Befehle von der Basis in Kamina wartete, die man auf dem kleinen Gerät nicht empfangen konnte, kam eine kurze Bestätigung. »Er will uns ein wenig näher ansehen«, sagte Bruce und erhob dann seine Stimme. »Alles in Deckung und bleibt da.« Er war nicht bereit, sich auf eine neuerliche Demonstration der Freundschaft einzulassen. Die Düsenmaschine kam mit halber Kraft auf sie zu. Noch immer unglaublich schnell. Das Geräusch der Maschine lag weit hinter ihr. Wie ein großer Hai über dem Wald. Dann konnte Bruce den Kopf des Piloten in der Kanzel sehen. Jetzt konnte er seine Züge ausmachen. Ein sehr braunes Gesicht und ein kleiner Schnurrbart unter einem silberfarbenen Sturzhelm. Ungefähr so, wie der Pik Bube. Er war jetzt so nah, daß Bruce jede Bewegung wahrnehmen konnte und sah, daß er sie als Katangesen erkannte. Seine Augen wurden weiß, und sein Mund bewegte sich, während er fluchte. Neben Bruce gab das Funkgerät den Fluch mit metallischer Klarheit wider. Dann drehte die Maschine plötzlich ab und wurde mit Vollgas hochgerissen. Dabei sah man den geschwollenen silbernen Bauch und die unterhalb der Tragflächen befestigten Raketen. »Der ist aus lauter Angst um Jahre gealtert«, lachte Hendry. »Du hättest mich ihn abschießen lassen sollen. Er war nahe genug für mich, ihn ins linke Auge zu schießen.« »Du kannst jeden Moment eine neue Chance bekommen«, versicherte ihm Bruce grimmig. Das Funkgerät gab konsternierte Laute von sich, während das Flugzeug sich in den Himmel erhob. Bruce schaltete schnell wieder auf ihren eigenen Kanal. »Fahrer, kannst du das Ding nicht auf Touren bringen?« »Monsieur, so wie jetzt ist sie noch nie in ihrem Leben gelaufen.« Noch einmal schaltete er auf den Kanal des Flugzeuges um und hörte die erregte Stimme des Piloten. Die Maschine zog 47
einen weiten Kreis und war vielleicht fünfzehn Meilen entfernt. Bruce sah auf die Wolkenbank und den Regen vor ihnen. Es kam näher auf sie zu. Aber mit gravitätischer Ruhe. »Wenn er zurückkommen sollte«, schrie Bruce seinen Gendarmen zu, »dann können wir sicher sein, daß er diesmal uns nicht nur ansieht. Sobald er in Schußweite ist, eröffnet das Feuer. Gebt ihm alles, was drin ist. Wir müssen versuchen, ihm ein genaues Ziel unmöglich zu machen.« Alle Gesichter starrten jetzt auf ihn. Bedrückt durch die schreckliche Unterlegenheit an die Erde Gebundener gegenüber dem Jäger vom Himmel. Nur André sah nicht auf Bruce, er starrte auf das Flugzeug, wobei er nervös zuckte und seine Augen zu groß für sein Gesicht wurden. Und wieder war Ruhe im Funk. Jeder Kopf hatte sich zurückgewandt und starrte auf die Maschine. »Los, Junge, los«, grunzte Hendry ungeduldig. Er spuckte in seine rechte Hand und strich diese dann an der Jacke ab. »Komm schon, wir warten auf dich.« Mit dem Daumen sicherte und entsicherte er seine Maschinenpistole immer wieder. Plötzlich sprach das Gerät wieder. Zwei Worte. Offensichtlich die Bestätigung eines Befehls. Und eines dieser Worte erkannte Bruce wieder. Er hatte es unter Umständen gehört, die es tief in seinem Gedächtnis verankert hatten. Das hindustanische Wort »Attacke!« »Fertig«, sagte er und stand auf. »Er kommt.« Der Wind wehte sein Hemd hin und her. Er setzte sich seinen Helm fest auf und steckte ein Magazin in seine Maschinenpistole. »Geh runter in den Wagen, Hendry«, befahl er. »Ich habe hier eine bessere Sicht.« Hendry stand neben ihm, breitbeinig, um sich gegen das starke Rucken des Zuges zu befestigen. »Wie du willst«, sagte Bruce. »Ruffy, geh sofort in Dekkung.« 48
»Da unten in der Kiste ist es mir zu heiß«, grinste der riesige Neger. »Du bist auch ein verrückter Araber«, sagte Bruce. »Klar, wir sind alle verrückte Araber.« Das Flugzeug schlug einen scharfen Haken und senkte sich auf den Wald zu. Noch Meilen entfernt wurde die Maschine abgefangen und steuerte in geradem Flug an ihrer Flanke hin. »Dieser Junge ist noch ein richtiger Lehrbub. Er versucht uns von der Seite anzugreifen, so daß wir auch schön alle auf ihn schießen können. Wenn er auch nur halbwegs wach wäre, dann würde er es uns von hinten geben. Er würde die Lokomotive kaputtschießen und könnte damit sicher sein, daß wir alle schön über- und durcheinanderpurzeln würden«, strahlte Hendry. Ruhig und schnell kam die Maschine immer näher, bis sie beinahe die Wipfel der Bäume berührte. Dann blitzte aus der Nase des Flugzeugs plötzlich zitronenbleich das Bordfeuer auf, und um sie herum war die Luft mit Lärm angefüllt, als ob tausend Peitschen herniedergingen. Im selben Augenblick wurde von allen auf dem Zug das Feuer erwidert. Die Geschosse der Maschinengewehre jagten einander, das Flugzeug zu treffen und die Gewehre stimmten in den Chor ein, so daß dieser Lärm den des Bordgeschützes übertönte. Bruce zielte mit Bedacht. Der Düsenjäger war durch das Schlingern der Wagen nur schwer anzuvisieren. Dann drückte er auf den Abzug, und die Maschinenpistole schlug gegen seine Schulter. Aus einem Augenwinkel sah er, wie die leere Patronenhülse in einen grellen bronzenen Strom fiel, und der Pulvergeruch stieg ihm in die Nase. Das Flugzeug wurde etwas langsamer und versuchte, dem Feuer auszuweichen. »Der hat die Hosen voll«, schrie Hendry. »Der Strolch ist ein Feigling.« »Trefft ihn«, schrie Ruffy. »Immer weiter, trefft ihn.« Der Düsenjäger drehte ab, zog die Nase hoch, so daß das 49
Feuer der Bordwaffen harmlos über ihre Köpfe hinwegging. Dann senkte sich seine Nase wieder und er feuerte seine Raketen ab. Zwei von jeder Tragfläche. Abrupt hörte das Gewehrfeuer vom Zug auf, und jeder ging in Deckung. Nur die drei auf dem Wagendach fuhren fort, zu schießen. Mit einem Lärm wie vier gepanzerte Dämonen, die hinter sich parallellaufende Linien weißen Dampfes ausstießen, kamen die Raketen von einer Entfernung von etwa vierhundert Metern auf sie zu. Sie durcheilten die Distanz in weniger Zeit als man braucht, um Atem zu holen. Aber der Pilot hatte seine Nase zu steil gesenkt und zu spät gefeuert. Die Raketen explodierten am Bahndamm unterhalb von ihnen. Der Explosionsdruck warf Bruce nach hinten. Er fiel und rollte. Verzweifelt versuchte er, sich an dem glatten Dach festzuhalten. Aber als er über die Seite rutschte, hielt er sich mit seinen Fingern in der Regenrinne fest und blieb dort hängen. Die Erschütterung hatte ihn betäubt, und die Regenrinne schnitt in seine Finger. Der Schulterriemen seiner Maschinenpistole war ihm um den Nacken gerutscht und strangulierte ihn. Unter ihm flog der Eisenbahndamm vorbei. Ruffy beugte sich herüber, packte ihn vorne an seiner Jacke und zog ihn wie ein kleines Kind herauf. »Wollten Sie irgendwo hingehen, Boß?« Das große, runde Gesicht war völlig vom Staub der Explosion verschmiert, grinste aber trotzdem freundlich. Bruce hatte den unsicheren Eindruck, daß mindestens eine ganze Kiste voll Dynamit notwendig sein würde, um auf diesen schwarzen Fleischberg Eindruck zu machen. Während er auf dem Dach kniete, versuchte Bruce sich zusammenzureißen. Er sah, daß die hölzerne Seite des Wagens, die der Explosion am nächsten gewesen war, aufgerissen und gesplittert war. Das Dach war von Erde und Steinen übersät. Hendry saß neben ihm, seinen Kopf langsam von einer Seite auf die andere drehend. Ein kleiner Blutstrahl rann von einer 50
offenen Schramme auf seiner Backe und tropfte am Kinn herunter. In den offenen Wagen standen oder saßen die Männer, ihre Gesichter vor Erstaunen verzerrt. Aber noch immer raste der Zug dem Regensturm entgegen, und der Staub der Explosion hing in einer dicken braunen Wolke über dem Wald weit hinter ihnen. Bruce raffte sich auf und suchte mit den Augen nach dem Flugzeug, das er ganz winzig am Himmel über einer großen Wolke entdeckte. Das Funkgerät war noch in Ordnung, da es durch die Sandsäcke während der Explosion geschützt worden war. Bruce ergriff es und drückte auf den Sprechknopf. »Fahrer, bist du in Ordnung?« »Monsieur, ich bin außerordentlich beunruhigt, gibt es –« »Nicht du allein«, versicherte ihm Bruce. »Fahr weiter.« »Oui, Monsieur.« Dann schaltete er wieder auf die Wellenlänge des Flugzeugs. Obgleich seine Ohren noch von der Explosion dröhnten, konnte er wahrnehmen, daß die Stimme des Piloten ihren Klang gewechselt hatte. Sie war langsamer geworden, und manche Worte wurden atemlos hervorgestoßen. Entweder hatte er Angst oder er ist verletzt, dachte Bruce. Aber er hat immer noch Zeit genug, uns noch einmal anzugreifen, ehe wir die Wolkenfront erreichen. Seine Gedanken wurden schnell wieder klar und er mußte erkennen, daß seine Leute völlig unvorbereitet waren. »Ruffy«, schrie er. »Bring sie auf die Beine und auf ihre Posten. Das Flugzeug wird jede Sekunde wieder zurück sein.« Ruffy sprang in den Wagen, und Bruce hörte, wie seine Hand auf nacktes Fleisch einschlug, während er sie auf ihre Plätze scheuchte. Bruce folgte ihm und kletterte weiter in den zweiten Wagen, wo er mit der gleichen Prozedur begann. »Haig, hilf mir ein bißchen und bring das Blei aus ihren Gliedern.« Nachdem der Schock der Explosion vorbei war, reagierten die Leute willig, drängten sich zur Seite, begannen 51
ihre Waffen zu laden und zu kontrollieren, schimpften, wobei die Gesichter den starren Ausdruck der Verzweiflung verloren. Bruce wandte sich um und rief nach hinten. »Ruffy, ist jemand von deinen Leuten verletzt?« »Nur ein paar Schrammen, nichts Schlimmes.« Auf dem Dach des Wagens stand Hendry bereits wieder und beobachtete das Flugzeug. Sein Gesicht, blutverschmiert, die Maschinenpistole in den Händen. »Wo ist André?« fragte Bruce Haig, als sie sich in der Mitte des Wagens trafen. »Vorne. Ich glaube, er ist verwundet.« Bruce ging nach vorne und fand André zusammengekrümmt in einer Ecke des Wagens. Seine Maschinenpistole lag neben ihm, und beide Hände bedeckten sein Gesicht. Seine Schultern hoben und senkten sich, als ob er große Schmerzen verspürte. Die Augen, dachte Bruce. Er ist in den Augen getroffen. Er kam zu ihm und beugte sich über ihn, wobei er ihm die Hände weg vom Gesicht zog und erwartete, Blut zu sehen. André weinte. Seine Wangen waren tränenüberströmt und seine Wimpern klebten zusammen. Eine Sekunde lang starrte Bruce ihn an. Dann packte er ihn vorne bei der Jacke und stellte ihn auf die Beine. Er nahm Andrés Maschinenpistole hoch, der Schaft war kalt. Nicht ein einziger Schuß war daraus abgefeuert worden. Er nahm den Belgier zur Seite und drückte ihm die Pistole in die Hände. »De Surrier«, schnauzte er. »Ich werde jetzt neben dir hier stehenbleiben. Wenn du das noch einmal tust, schieße ich dich über den Haufen. Hast du mich verstanden?« »Es tut mir leid, Bruce.« Andrés Lippen waren geschwollen, wo er sie zerbissen hatte. Sein Gesicht war von Tränen verschmiert und eingefallen vor Angst. »Es tut mir leid. Ich konnte nichts dafür.« Bruce ignorierte ihn und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Flugzeug zu. Es hatte gewendet und bereitete sich auf 52
den nächsten Angriff vor. Er kommt wieder von der Seite, dachte Bruce. Diesmal muß er uns erwischen. Er kann nicht zweimal hintereinander vorbeitreffen. In Ruhe beobachteten sie, wie der Düsenjäger zwischen den beiden großen weißen Wolkenbergen durch das Tal flog und sie über dem Wald anpeilte. Klein, zierlich und todbringend raste er auf sie zu. Einer der Maschinengewehrschützen eröffnete das Feuer – ein Höllenlärm, die Schüsse leuchteten wie eine Perlenkette auf. »Zu früh«, murmelte Bruce, »viel zu früh. Er ist noch über eine Meile außer Reichweite.« Aber der Effekt war sofort zu bemerken. Die Maschine schwankte hin und her und berührte beinahe die Baumwipfel. Dann überkorrigierte der Pilot den Kurs und verlor dadurch die Angriffsrichtung. Ein riesiges Geschrei ging vom Zug aus und ging sofort in dem Lärm unter, als jede Waffe zu feuern begann. Der Pilot warf seine beiden übrigen Raketen ab, blind und hoffnungslos und ohne die geringste Chance auf einen Treffer. Dann stieg er steil hoch und verschwand in einer Wolke. Der Lärm seiner Triebwerke verlor sich, wurde von der Wolke verschluckt, und dann war es vorbei. Ruffy tanzte einen Freudentanz und schwenkte seine Maschinenpistole über dem Kopf. Hendry auf dem Dach verfluchte die Wolken, in denen der Pilot verschwunden war. Eines der Maschinengewehre schoß noch immer kurze Salven. Jemand begann das katangesische Kriegsgeschrei, das die anderen aufnahmen. Und der Lokomotivführer stimmte in das Ganze mit seiner Pfeife ein, die bei jedem Pfiff Dampfwolken ausstieß. Bruce warf seine Maschinenpistole über die Schulter und schob sich den Helm in den Nacken. Dann nahm er eine Zigarette heraus und zündete sie an. So stand er und beobachte53
te sie, wie sie sangen und lachten und aufeinander einredeten, erlöst, da die Gefahr vorbei war. Neben ihm lehnte André, der sich übergab. Einiges davon kam aus seiner Nase und beschmutzte seine Kampfjacke. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Es tut mir leid, Bruce. Es tut mir leid. Wirklich, es tut mir leid«, flüsterte er. Und dann waren sie unter den Wolken, und die plötzliche Kühle kam über sie wie die Luft aus einem offenen Kühlschrank. Die ersten schweren Tropfen brannten auf Bruces Wangen, und dann wischten sie nach und nach den ganzen Geruch von Pulver fort und den Staub von Ruffys Gesicht, bis es wieder glänzte wie gewaschene Kohle. Bruce spürte, wie seine Jacke naß an seinem Rücken klebte. »Ruffy, zwei Männer an jedes Maschinengewehr. Der Rest kann in die gedeckten Wagen zurückgehen. Ablösung alle Stunde.« Er drehte seine Maschinenpistole so, daß der Lauf nach unten zeigte. »De Surrier, du kannst gehen, und du auch Haig.« »Ich bleibe bei dir, Bruce.« »Na gut.« Die Gendarmen kletterten in die gedeckten Wagen, wobei sie noch immer lachten und schwatzten, und Ruffy kam nach vorne mit einer Zeltplane, die er Bruce gab. »Die Funkgeräte sind alle abgedeckt. Falls Sie mich im Moment nicht brauchen, Boß, hätte ich etwas mit einem dieser Araber in dem Wagen zu tun. Er hat fast zwanzigtausend Franc bei sich. Und ich glaube, es ist besser, wenn ich ihm einmal ein paar kleine Kunststückchen mit den Karten vorführe.« »Eine Tages werde ich den Jungens mal deine christlichen Töne hier erklären und ihnen zeigen, daß die Chancen drei zu eins gegen sie stehen«, drohte Bruce. »Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Boß«, riet ihm Ruffy ernst. 54
»So viel Geld ist für sie einfach nicht gut. Damit machen sie nur Dummheiten.« »Also gut, hau ab, ich rufe dich später«, sagte Bruce. »Sag den Leuten, daß ich mit ihnen sehr zufrieden bin. Sage ihnen, daß ich stolz auf sie bin.« »Aber ja, das werde ich ihnen sagen«, versprach Ruffy. Bruce hob die Plane hoch, die das Sprechgerät bedeckte. »Fahrer, laß Dampf ab, ehe du den Kessel sprengst.« Die wilde Fahrt des Zuges wurde wieder langsamer, und Bruce zog sich den Helm bis auf Augenhöhe und die Plane bis zur Höhe des Mundes, ehe er sich über den Rand des Daches beugte, um festzustellen, wieviel Schaden die Raketen angerichtet hatten. »Auf dieser Seite alle Fenster kaputt und das Holzwerk etwas beschädigt«, murmelte er. »Aber trotz allem sind wir noch glücklich davongekommen.« »Dieser Krieg ist wie ein miserables Kabarett«, grunzte Mike Haig. »Der Pilot hatte die richtige Idee. Warum sollst du dein Leben riskieren, wenn dich das Ganze eigentlich gar nichts angeht.« »Er war verwundet«, mutmaßte Bruce. »Ich glaube, daß wir ihn schon bei seinem ersten Angriff erwischt haben.« Dann waren sie ruhig. Der Regen peitschte in ihre Gesichter, und sie kniffen die Augen zusammen, um auf die Schienen sehen zu können. Die Männer hinter den Maschinengewehren saßen zusammengekauert unter ihren grün-braunen Tarnplanen. Die ganze Freude, die noch vor zehn Minuten geherrscht hatte, war verflogen. Sie sind wie Katzen, dachte Bruce, als er den Mißmut der Leute beobachtete. Sie können es nicht vertragen, naß zu werden. »Es ist schon fünf Uhr dreißig«, sagte Mike endlich. »Glaubst du, daß wir noch vor Einbruch der Nacht den Knotenpunkt von Msapa erreichen werden?« 55
»Bei dem Wetter ist es um sechs Uhr schon dunkel.« Bruce sah zu den niedrigen Wolken hoch, unter denen die Nacht früher als gewöhnlich einbrechen würde. »Ich riskiere es nicht, während der Nacht zu fahren. Hier ist ungefähr die Grenze des Balubalandes, und wir können die Scheinwerfer der Lok nicht einsetzen.« »Dann wirst du also anhalten lassen?« Bruce nickte. Was für eine idiotische dumme Frage, dachte er verwundert. Dann merkte er, daß seine Gereiztheit eine Reaktion der Gefahr war, der sie gerade entronnen waren und sagte, wie um sich zu entschuldigen: »Es kann nicht mehr sehr weit sein. Wenn wir beim ersten Morgengrauen starten, werden wir Msapa erreichen, ehe die Sonne aufgegangen ist.« »Mein Gott, ist es kalt«, klagte Mike und schauderte. »Es ist entweder zu heiß oder zu kalt«, stimmte Bruce zu. Er wußte, daß auch das zu der Reaktion gehörte, die ihn geschwätzig machte. Aber er wollte sich davon nicht abhalten lassen. »Das ist auch so eine der Merkwürdigkeiten unseres niedlichen kleinen Planeten. Nichts ist gemäßigt. Zu heiß oder zu kalt. Entweder du bist hungrig oder du bist überfressen. Entweder du liebst oder du haßt die Welt.« »So wie du?« fragte Mike. »Verdammt noch mal, Mike, du bist beinahe so schlimm wie eine Frau. Kannst du denn nicht mal objektiv über etwas reden, ohne dabei persönlich zu werden?« fragte Bruce. Er spürte, wie sein Temperament mit ihm durchging. Er fror und war erregt. Und außerdem brauchte er eine Zigarette. »Objektive Theorien müssen sich subjektiv anwenden lassen, um ihren Wert zu beweisen«, verwies ihn Mike. Auf seinem breiten zerfurchten Gesicht war so etwas wie die Spur eines amüsierten Lächelns zu sehen. »Also hören wir auf damit. Ich will nicht über persönliche Dinge reden«, schnauzte Bruce ihn an und fuhr im selben 56
Atemzug fort, genau das zu tun. »Humanität macht mich krank, wenn ich zu viel daran denke. De Surrier, der beinahe vor Angst krepiert, das Tier Hendry und du mit deinen krampfhaften Versuchen, nichts zu trinken, Joan –« abrupt hörte er auf. »Wer ist Joan?« »Habe ich dich nach deinen Angelegenheiten gefragt?« Bruce benutzte die Standardantwort auf alle persönlichen Fragen in der Söldnerarmee von Katanga. »Nein. Aber ich frage dich nach deinen – wer ist Joan?« Also gut, ich werde es ihm sagen. Wenn er es unbedingt wissen will, werde ich es ihm sagen. Die Wut hatte Bruce leichtsinnig gemacht. »Joan war die Hure, die ich geheiratet habe.« »Ach, das ist es also!« »Ja – das ist es. So, und jetzt weißt du’s und laß mich in Ruhe.« »Kinder?« »Zwei. Ein Junge und ein Mädchen.« Bruces Stimme war ohne Zorn. Der nackte, rohe Schmerz war für einen Augenblick wieder da. Dann nahm er sich zusammen, und seine Stimme klang wieder unbeteiligt. »Das Ganze kümmert mich einen Dreck. Wenn du mich fragst, so kann die ganze verdammte Menschheit – und ich meine alle – abhauen und zum Teufel gehen. Ich brauche sie nicht.« »Wie alt bist du, Bruce?« »Laß mich in Ruhe, verdammt noch mal.« »Wie alt bist du?« »Ich bin dreißig.« »Du sprichst wie ein Teenager.« »Und ich fühle mich wie ein uralter Mann.« Bei Mike war nichts mehr von Lustigkeit zu spüren, als er fragte: »Was hast du früher gemacht?« »Ich habe geschlafen, und geatmet und gegessen – und bin 57
getreten worden.« »Welchen Beruf hast du gehabt?« »Jurist.« »Hattest du Erfolg?« »Woran mißt du Erfolg? Wenn du meinst, ob ich Geld verdient habe, dann ist die Antwort ja.« Ich habe genug Geld verdient, um mein Haus und meinen Wagen abzuzahlen, dachte er bitter, um das Sorgerecht für meine Kinder zu bekommen und die Scheidung bezahlen zu können. Dafür hat es gereicht. Allerdings mußte ich dafür meine Partnerschaft verkaufen. »Dann wirst du auch wieder klarkommen«, sagte ihm Mike. »Wenn du einmal Erfolg gehabt hast, kannst du’s auch wieder schaffen. Wenn du den Schock überwunden und dein Leben neu geordnet hast, kannst du andere Menschen wieder in dich aufnehmen und selbst stark sein.« »Ich bin jetzt stark, Haig. Ich bin stark, weil es niemanden mehr in meinem Leben gibt. Das ist die einzige Möglichkeit, sicher zu sein. Sich auf sich selbst zu verlassen. Völlig frei und nur dir selbst verantwortlich.« »Stark!« Zum erstenmal machte sich Wut in Mikes Stimme bemerkbar. »Auf dich selbst gestellt bist du gar nichts, Curry. Auf dich selbst gestellt bist du so schwach, daß ich auf dich pissen könnte und dich damit wegwaschen würde!« Mikes Wut verflog wieder, er fuhr sanft fort. »Aber das wirst du schon noch herausfinden. Du bist einer der Glücklichen. Du ziehst Menschen an. Du brachst nicht allein zu sein.« »Auf jeden Fall werde ich es von jetzt ab sein.« »Wir werden ja sehen«, murmelte Mike. »Ja, wir werden sehen«, stimmte Bruce zu und hob die Plane vom Funkgerät. »Fahrer, wir halten hier für die Nacht. Es ist zu dunkel, um noch sicher weiterfahren zu können.«
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5 Der Radiosender von Brazzaville war durch die starken Nebengeräusche nur sehr schwach zu verstehen. Außerdem goß es in Strömen, und der Donner rollte am Himmel wie eine schlecht vertäute Ladung auf hoher See. »Wie wir von unserem Korrespondenten in Elisabethville erfahren, haben Einheiten der katangesischen Armee im Südkasai das Waffenstillstandsabkommen gebrochen, indem sie eine tieffliegende Maschine der Vereinten Nationen angriffen. Die Maschine, ein Vampire-Düsenjäger der indischen Luftwaffe, konnte wieder sicher zu ihrem Standort auf dem Flugplatz in Kamina zurückkehren. Bei dem Angriff wurde der Pilot durch MG-Feuer verwundet. Sein Zustand wird als zufriedenstellend angesehen! Der Kommandeur der Vereinten Nationen in Katanga, General Rhee, hat auf das schärfste bei der katangesischen Regierung protestiert –« Hier verlor sich die Stimme des Sprechers, und nur noch Krachen und Pfeifen war zu hören. »Wir haben ihn erwischt«, freute sich Wally Hendry. Die Schramme auf seiner Wange war mittlerweile zu einem schwarzen Schorf getrocknet mit rotentzündeten Rändern. »Halt’s Maul«, fuhr Bruce ihn an. »Wir versuchen zu hören, was los ist.« »Du kannst im Moment ja sowieso nichts verstehen. André, in meinem Sack ist noch eine Flasche. Hol sie. Ich werde mir jetzt einen auf das Wohl dieses Kulis genehmigen, der eine Kugel im –« In diesem Augenblick konnte man wieder die Stimme des Ansagers klar verstehen. »– bei der Senwati-Mission, etwa fünfzig Meilen von dem Binnenhafen von Port Reprieve entfernt. Ein Sprecher der kongolesischen Zentralregierung verwahrte sich gegen die Behauptung, daß kongolesische Truppen in diesem Gebiet operierten. Es müsse befürchtet werden, daß eine größere 59
Gruppe bewaffneter Banditen die derzeit unsichere Situation ausnutzten, um –« und wieder machten die Nebengeräusche ein weiteres Hören unmöglich. »Zum Teufel mit diesem Apparat«, sagte Bruce und versuchte den Sender wieder zu bekommen. »– erklärte heute, daß die Entfernung der russischen Raketenabschußbasen auf Kuba durch die Luftaufklärung bestätigt worden ist –« »Das ist alles, was uns interessiert.« Bruce stellte das Gerät ab. »Was für ein Durcheinander. Ruffy, wo ist die SenwatiMission?« »Am Ende der Sümpfe, in der Nähe der Rhodesischen Grenze.« »Fünfzig Meilen von Port Reprieve«, überlegte Bruce, ohne dabei seine Besorgnis zu verbergen. »Auf der Straße sind es erheblich mehr, Boß. Ich würde sagen, beinahe hundert.« »Das bedeutet, daß sie etwa drei bis vier Tage bei diesem Wetter brauchen, wenn man die Zeit für’s Plündern auf dem Wege mit einkalkuliert«, rechnete sich Bruce aus. »Das heißt, wir kommen im allerletzten Augenblick. Wir müssen morgen noch Port Reprieve erreichen, und zwar bis zum Abend, und am nächsten Morgen gleich wieder abhauen.« »Warum fahren wir denn heute nacht nicht weiter?« Hendry setzte die Flasche ab. »Ist doch besser, als hier herumzusitzen und von Moskitos aufgefressen zu werden.« »Wir bleiben«, antwortete Bruce. »Keinem ist damit gedient, wenn der Zug in der Dunkelheit entgleist.« Er wandte sich an Ruffy. »Wachablösung alle drei Stunden heute nacht, Hauptfeldwebel. Leutnant Haig übernimmt die erste, dann Leutnant Hendry, dann Leutnant de Surrier, ich übernehme die Ablösung in der Morgendämmerung.« »Okay, Boß, ich will mich nur vergewissern, daß meine 60
Jungs nicht schlafen.« Er ging aus dem Abteil, und das zerbrochene Glas im Gang knirschte unter seinen Stiefeln. »Ich mach’ mich auch auf meine Runde.« Mike stand auf und legte sich die Zeltplane über die Schultern. »Verschwende die Batterien der Scheinwerfer nicht, Mike. Nur alle zehn Minuten mal kurz aufblenden.« »Okay, Bruce.« Mike sah zu Hendry hinüber. »Ich wecke dich um neun Uhr.« »Das ist sehr freundlich von dir, altes Haus.« Wally übertrieb bewußt Mikes Sprachweise. »Ich wünsche fröhliches Jagen.« Und als Mike das Abteil verlassen hatte: »Dieser blöde Strolch. Warum muß er denn immer so geschwollen quatschen?« Niemand antwortete ihm. Er zog sich hinten das Hemd aus. »André, was habe ich da auf dem Rücken?« »Einen Pickel.« »Dann drücke ihn gefälligst aus.« Bruce wachte während der Nacht auf. Er schwitzte, Moskitos summten um sein Gesicht. Draußen regnete es noch immer, und ab und zu strich das Licht des Scheinwerfers, der auf dem Dach montiert war, am Abteil vorbei und erleuchtete es schwach. In einem der unteren Betten lag Mike Haig auf dem Rücken. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und er rollte den Kopf auf dem Kissen von einer Seite zur anderen. Er knirschte dabei mit den Zähnen – ein Geräusch, an das sich Bruce gewöhnt hatte und das er dem Schnarchen Hendrys verzog. »Du armer alter Strolch«, flüsterte Bruce. Im Bett ihm gegenüber wimmerte André de Surrier. Im Schlaf, wenn das dunkle weiche Haar ihm in die Stirn fiel, sah er wie ein Kind aus.
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6 Gegen Morgen hörte der Regen auf und die Sonne war bereits heiß, ehe sie am Horizont erschien. Von den tropfnassen Bäumen stieg ein warmer Dunst empor. Als sie weiter nach Norden fuhren, wurde der Wald dichter. Die Bäume standen enger beieinander, das Unterholz war unwegsamer als in der Umgebung von Elisabethville. Durch den warmen Dunst des Morgens sah Bruce den Wasserturm des Knotenpunktes von Msapa wie einen Leuchtturm den Wald überragen. Seine silbrige Farbe war von braunen, rostigen Stellen unterbrochen. Sie nahmen die letzte Kurve, und die kleine Siedlung lag vor ihnen. Es war ein winziges Nest. Alles in allem ein halbes Dutzend Häuser. Es machte diesen verlorenen Eindruck, den menschliche Behausungen im Dschungel hervorrufen. Neben den Geleisen stand der Wasserturm und die zementierten Kohlebehälter, dahinter das Stationsgebäude aus Holz und Eisen mit einem großen Schild über der Veranda: MSAPA JUNCTION, Höhe: 963 Meter. Eine Allee blühender Kassiabäume mit dichtem dunkelgrünem Laub und orangefarbenen Blüten war zu sehen und dahinter, am Rande des Waldes, eine Reihe von Hütten. Eine der Hütten war verbrannt, die Überreste verkohlt und eingestürzt. Im Garten fehlte jede Spur von Ordnung, da er bestimmt seit drei Monaten brachlag. »Lokführer, halte neben dem Wasserturm, du hast fünfzehn Minuten Zeit, deinen Kessel zu füllen.« »Danke sehr, Monsieur.« Unter schwerem Stöhnen und Ablassen von Dampf fuhr die Lok neben den Turm. »Haig, nimm vier Leute und hilf dem Lokfahrer.« »Okay, Bruce.« 62
Bruce schaltete noch einmal sein Funkgerät ein. »Hendry.« »Was gibt’s denn?« »Stell eine Patrouille von sechs Leuten zusammen und durchsuche die Hütten. Dann sieh dich mal ein bißchen in der Gegend um. Wir wollen keine unerwarteten Besucher.« Wally Hendry winkte als Zeichen des Verstehens vom ersten Wagen, und Bruce fuhr fort. »Gib mir de Surrier.« Er sah, wie Hendry das Gerät an André weitergab. »De Surrier, der erste Wagen steht unter deinem Befehl, solange Hendry fort ist. Gib ihm Deckung, aber beobachte auch den Busch hinter dir. Auch von da könnten sie kommen.« Bruce stellte den Apparat ab und wandte sich an Ruffy. »Bleib hier auf dem Dach, Ruffy. Ich werde sie beim Wasserfassen etwas antreiben. Wenn du irgendwas siehst, schreib mir keine Postkarte, sondern schlage Alarm.« Ruffy nickte. »Möchten Sie das Frühstück mitnehmen?« Er hielt ihm eine offene Flasche Bier hin. »Das ist besser als Rührei mit Schinken.« Bruce nahm die Flasche und stieg zur Plattform hinunter. Während er das Bier trank, ging er am Zug entlang und sah zu Mike und dem Lokomotivführer beim Wasserturm hinüber. »Ist er leer?« rief er nach oben. »Halb voll. Genug, um darin zu baden«, antwortete Mike. »Verführ mich nicht.« Die Idee war aber plötzlich doch sehr verführerisch, denn er konnte den muffigen Geruch seines Körpers riechen, und seine Augenlider juckten und waren von den Moskitostichen geschwollen. »Ein Königreich für ein Bad.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und spürte die harten Stoppeln des Bartes. Er sah, wie sie das Wasserrohr über die Lokomotive schwenkten und der fixe kleine Fahrer hinaufkletterte und breitbeinig auf dem Kessel saß, während er das Rohr ausrichtete. 63
Ein Schrei ließ ihn schnell herumfahren. Er sah Hendrys Patrouille von den Hütten zurückkehren. Sie brachten zwei kleine Gefangene mit. »Die hatten sich in der ersten Hütte versteckt«, rief Hendry. »Und dann versuchten sie, in den Busch abzuhauen.« Er stieß den einen mit seinem Bajonett. Das Kind schrie und versuchte sich aus dem festen Griff des Gendarmen zu winden. »Laß es gut sein.« Bruce hinderte ihn daran, das Bajonett noch einmal zu benutzen, und er ging auf sie zu. Er sah die beiden Kinder an. Das Mädchen war fast schon in der Pubertät; mit Brüsten winzig wie Insektenbisse, die gerade erst Form annahmen, dünnbeinig, mit sehr großen Knien, die völlig unproportional zu ihren Schenkeln und Beinen waren. Sie trug nur ein schmutziges Stück Stoff, das zwischen ihren Beinen durchgezogen und in ihrer Taille an einem Gürtel aus Baumrinde befestigt war. Die Stammestätowierung auf ihrer Brust und ihren Wangen und ihrer Stirn trat stolz in aufgeworfenen Hautschwülsten hervor. »Ruffy«, Bruce rief ihn vom Wagen herunter. »Kannst du dich mit ihnen verständigen?« Ruffy hob den Jungen auf und hielt ihn hoch. Er war jünger als das Mädchen – sieben, vielleicht acht Jahre alt. Er war sehr dunkelhäutig und völlig nackt, so nackt wie die Angst in seinem Gesicht. Ruffy machte eine kurze Bemerkung, und der Gendarm ließ das Mädchen los. Sie stand zitternd da und machte keinen Versuch zu entkommen. In beruhigendem Ton begann Ruffy auf den Jungen einzureden, den er auf den Arm genommen hatte. Er lächelte, und während er sprach, streichelte er den Kopf des Kindes. Langsam wich die Angst etwas, und der Junge antwortete mit einer piepsenden Stimme, die Bruce nicht verstehen konnte. »Was sagt er?« drängte Bruce. »Er glaubt, daß wir sie fressen werden«, lachte Ruffy. »An 64
dem ist nicht genug für ein anständiges Frühstück dran.« Er streichelte den ausgemergelten kleinen Arm, an dem verkrusteter Schmutz klebte. Dann gab er einem seiner Gendarmen einen Befehl. Der Mann verschwand im Wagen und kam zurück mit einer Handvoll Schokolade. Während er weiter sprach, wickelte Ruffy ein Stück aus und steckte es in den Mund des Jungen. Die Augen des Kindes strahlten dankbar, als er den Geschmack spürte, und er kaute schnell. Während er Ruffy anstarrte, kamen seine Antworten durch das Kauen der Schokolade noch undeutlicher. Endlich wandte sich Ruffy an Bruce. »Die bedeuten keinen Ärger, Boß. Sie kommen aus einem kleinen Dorf, ungefähr eine Stunde von hier entfernt. Nur etwa fünf oder sechs Familien, die keiner Kriegspartei angehören. Die Kinder haben sich herübergeschlichen, um die Hütten zu durchsuchen und vielleicht irgend etwas zu organisieren. Aber das ist alles.« »Wie viele Männer sind in seinem Dorf«, fragte Bruce, und Ruffy wandte sich wieder an den Jungen. Als Antwort auf die Frage hielt dieser die Finger beider Hände hoch, ohne dabei sein Kauen zu unterbrechen. »Weiß er, ob die Strecke nach Port Reprieve in Ordnung ist? Sind die Brücken verbrannt oder die Schienen aufgerissen?« Beide Kinder waren stumm auf diese Frage. Der Junge hatte in der Zwischenzeit den Rest der Schokolade verschlungen und sah hungrig auf Ruffy, der ihm den Mund wieder vollstopfte. »Verdammt«, murrte Hendry mit tiefer Verachtung. »Ist das hier ein Kindergarten oder sowas? Spielen wir doch mal alle Ringelreihen.« »Schnauze«, schnappte Bruce und wandte sich wieder an Ruffy. »Haben sie irgendwelche Soldaten gesehen?« Die Köpfe der beiden wurden in feierlicher Einigkeit geschüttelt. »Haben sie irgendwelche Kriegshorden von ihren eigenen 65
Leuten gesehen?« Wieder die gleiche feierliche Verneinung. »Also gut, gib ihnen den Rest der Schokolade«, befahl Bruce. Das war alles, was er aus ihnen herauskriegen konnte; die Zeit schritt voran. Er sah zurück zum Wasserturm und stellte fest, daß Haig und der Lokomotivführer fertiggeworden waren. Etwa eine Sekunde lang betrachtete er den Jungen. Sein eigener Sohn müßte jetzt ungefähr gleich alt sein. Es war zwölf Monate her, seit… Bruce befahl sich aufzuhören. Das war verrückt. »Hendry, bring sie zum Busch zurück und laß sie laufen. Beeil dich, wir haben genug Zeit verloren.« »Wem sagst du das«, grunzte Hendry und winkte den beiden Kindern zu. Hendry ging voran, und mit einem Gendarm an jeder Seite verschwanden sie gehorsam hinter dem Stationsgebäude. »Fahrer, sind alle Vorbereitungen getroffen?« »Ja, Monsieur. Wir können jederzeit fahren.« »Schaufel alle Kohlen rein, die Räder müssen rollen.« Bruce lächelte den Fahrer an. Er mochte den kleinen Mann, seine höfliche Art berührte ihn angenehm. »Pardon, Monsieur?« »Es war eine Kinderei, ein Scherz. Entschuldige.« »Ah, ein Scherz!« Der rundliche Bauch wabbelte fröhlich. »Okay, Mike«, schrie Bruce, »laß deine Leute einsteigen. Wir werden –« Eine Garbe von Maschinengewehrfeuer unterbrach ihn. Sie kam von der Rückseite des Stationsgebäudes und donnerte so in die dumpfe Stille des heißen Morgens, daß ihre Gewalt Bruce einen Augenblick lang lahmte. »Haig«, schrie er, »geh an die Spitze des Zuges und löse de Surrier ab.« Das war die schwächste Stelle. Mike rannte mit seinen Leuten am Zug entlang. »Ihr da«, Bruce hielt die sechs Gendarmen auf, »folgt mir.« 66
Sie setzten sich hinter ihn, und mit einem kurzen Blick überzeugte sich Bruce, daß der Zug gesichert war. An der ganzen Lange des Zuges sahen Gewehrläufe aus gedeckten Positionen hervor und auf dem Dach hatte Ruffy sich hinter das Maschinengewehr geklemmt, um die Flanke zu decken. Sollten jetzt auch tausend Balubas angreifen, ihr Angriff würde unter dem Feuerhagel zusammenbrechen. »Los«, sagte Bruce und rannte, die Gendarmen hinter ihm folgten, bis er die Deckung des Stationsgebäudes erreicht hatte. Nach den ersten Schüssen waren keine weiteren gefallen, das konnte bedeuten, daß es sich entweder um einen falschen Alarm gehandelt hatte, oder daß Hendry und seine Leute sofort überwältigt worden waren. Die Tür zum Büro des Stationsvorstehers war verschlossen. Bruce trat dagegen, und unter der Wucht seines Stiefeltritts brach sie krachend auf. Das wollte ich schon immer einmal tun, dachte er belustigt in seiner Erregung, schon seit ich das Clark Gable in »San Francisco« habe tun sehen. »Ihr vier, rein hier. Gebt uns von den Fenstern aus Deckung.« Sie drängten sich in den Raum, die Gewehre im Anschlag. Durch die offene Tür sah Bruce den Telegraphen auf dem hinteren Tisch an der Wand stehen, der Nachrichten über den Verkehr zwischen Elisabethville und Jadotville metallisch vor sich hinklapperte. Wie kommt es nur, daß man in der Erregung immer solche Belanglosigkeiten registriert? Er entschied, daß auch dieser Gedanke eine Belanglosigkeit war. »Los ihr beiden, ihr bleibt bei mir.« Er führte sie an der äußeren Mauer noch immer dicht in ihrem Schutz. An der Ecke hielt er an, sah nach, ob seine Maschinenpistole geladen war, und stellte sie auf Schnellfeuer um. Er zögerte noch einen Moment. Was werde ich hinter dieser Ecke finden? Hundert nackte Wilde, die sich um die verstümmelten Leichen von Hendry und dessen Gendarmen drängten? 67
Oder was? Geduckt, jederzeit bereit, in den Schutz der Mauer zurückzuspringen, die Maschinenpistole an die Brust gedrückt, jeden Muskel und Nerv seines Körpers angespannt wie ein Gewehrabzug, trat Bruce ins Freie. Hendry und die beiden Gendarmen standen auf der staubigen Straße jenseits der ersten Hütte. Sie waren entspannt und unterhielten sich. Hendry lud seine Maschinenpistole. Seine großen roten Hände, deren rötliche Haare das Sonnenlicht einfingen, stopften das Magazin voll. Eine Zigarette klebte an seiner Unterlippe. Plötzlich lachte er und warf den Kopf zurück. Die Zigarettenasche fiel auf seine Jacke. Bruce sah den langen dunklen Schweißfleck zwischen seinen Schultern. Die beiden Kinder lagen auf der Straße, etwa fünfzig Meter weiter. Bruce war plötzlich kalt. Es kam von innen. Eine krampfhafte Kälte der Gedärme und der Brust. Langsam richtete er sich auf und ging auf die Kinder zu. Seine Füße machten in der dicken Staubschicht kein Geräusch, der einzige Laut kam von seinem eigenen Atem – ein Keuchen, als ob ihm ein verwundetes Tier unmittelbar folgte. Er ging an Hendry und den beiden Gendarmen vorbei, ohne sie anzusehen; aber sie hörten auf zu reden und beobachteten ihn unsicher. Zuerst kam er zu dem Mädchen, beugte ein Knie neben ihr, legte die Maschinenpistole ab und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. »Das ist nicht wahr«, flüsterte er. »Das kann nicht wahr sein.« Die Kugel hatte fast die halbe Brust herausgerissen, ein Loch von ungefähr der Größe einer Kaffeetasse. Das Blut floß noch immer langsam heraus in eine kleine Lache, in der es sich zu einer dickflüssigen honigartigen Masse versammelte. Bruce ging zu dem Jungen hinüber; die Szene schien ihm so unwirklich wie im Traum. »Nein. Das ist nicht wahr.« Er sprach jetzt lauter, als ob er es durch die Worte ungeschehen machen könnte. 68
Drei Kugeln hatten den Jungen getroffen. Eine hatte seinen Arm an der Schulter abgerissen, das spitze weiße Ende des Knochens ragte anklagend aus der Wunde. Die beiden anderen Kugeln hatten seinen Oberkörper fast in zwei Hälften gerissen. Es kam von ganz weit weg, so wie das anschwellende Donnern eines Zuges in einem Tunnel. Bruce fühlte, wie alles in ihm von dieser Stärke erschüttert wurde. Er schloß die Augen und lauschte dem Donnern in seinem Schädel, und während er die Augen fest geschlossen hielt, wurde seine Vision von einem blutfarbenen Schleier überdeckt. »Halt!« Eine kleine Stimme schrie in seinem dröhnenden Kopf. »Laß dich jetzt nicht gehen, kämpfe dagegen an, wie du es schon so oft getan hast.« Wie ein Ertrinkender versuchte er sich an dem Strohhalm seines gesunden Menschenverstandes festzuhalten, während das große Donnern in seinem Schädel tobte. Dann verstummte das Dröhnen, verrauschte, weit entfernt ein Flüstern und dann nichts mehr. Die Kälte überkam ihn wieder, eine Kälte, die viel größer war als die Flut, in der er beinahe ertrunken wäre. Er öffnete die Augen und atmete wieder, stand dann auf und ging zu Hendry und den beiden Gendarmen zurück. »Korporal.« Bruce wandte sich an einen der Männer neben Hendry – es war ein Schock für ihn zu hören, daß seine eigene Stimme ruhig klang und ohne eine Spur von Wut, die ihn eben beinahe auf ihrer Woge hinweggespült hatte. »Korporal, geh zum Zug zurück. Sage Leutnant Haig und Hauptfeldwebel Ruffararo, daß ich sie beide hier zu sehen wünsche.« Dankbar ging der Mann davon, und Bruce sprach zu Wally Hendry mit der gleichen leidenschaftslosen Stimme. »Ich habe dir gesagt, daß du sie laufen lassen sollst«, sagte er. »Damit sie nach Hause rennen können und das ganze Pack auf uns hetzen, wolltest du das, mein Junge?« Hendry hatte 69
sich jetzt erholt. Er war bockig und grinste. »Und deswegen hast du sie umgebracht?« »Umgebracht! Bist du verrückt oder was, Bruce? Das sind doch Balubas, oder nicht? Verdammte menschenfressende Balubas!« schrie Hendry wütend. Das Grinsen war ihm vergangen. »Was ist los mit dir, Mensch? Das ist Krieg, mein Junge, Krieg. C’est la guerre, wie man so sagt, C’est la guerre.« Plötzlich wurde seine Stimme wieder ruhiger. »Vergessen wir es. Ich habe nur das getan, was richtig war. Also vergessen wir es. Was sind schon zwei verdammte Balubas mehr oder weniger nach all dem Morden. Vergessen wir es.« Bruce gab keine Antwort. Er zündete sich eine Zigarette an und sah an Hendry vorbei, ob die anderen schon kämen. »Also wie ist es, Bruce, bist du bereit, das Ganze zu vergessen?« drängte Hendry. »Im Gegenteil Hendry. Ich schwöre dir einen heiligen Eid, und Gott ist mein Zeuge.« Bruce sah ihn nicht an, er traute sich nicht, Hendry anzusehen, ohne ihn sofort umzubringen. »Ich verspreche dir: dafür wirst du hängen, nicht erschossen, sondern an einem soliden Hanfstrick hängen. Ich habe nach Haig und Ruffararo geschickt, damit wir viele Zeugen haben. Das erste, was ich tun werde, wenn wir nach Elisabethville zurückkommen, ist, daß ich dich den zuständigen Behörden übergebe.« »Das ist doch nicht dein Ernst!« »Noch nie in meinem Leben war mir etwas ernster.« »Zum Teufel, Bruce –!« Jetzt kamen Haig und Ruffy. Sie rannten, bis sie sahen, was los war. Dann hielten sie plötzlich an, standen ungläubig in der grellen Sonne, blickten von Bruce zu den beiden kleinen zerbrochenen Körpern, die auf der Straße lagen. »Wie ist das passiert?« fragte Mike. »Hendry hat sie umgelegt«, antwortete Bruce. »Aber warum?« 70
»Das weiß nur er.« »Willst du damit sagen, daß er sie einfach umgebracht hat? Einfach niedergeschossen?« »Ja.« »Mein Gott«, sagte Mike und dann noch einmal, und seine Stimme war fast lautlos von dem Schock. »Mein Gott.« »Geh und sieh sie dir an, Haig. Ich möchte, daß du sie dir genau ansiehst, damit du dich erinnerst.« Haig ging zu den Kindern hinüber. »Du auch, Ruffy. Du wirst Zeuge vor Gericht sein.« Mike Haig und Ruffy gingen Seite an Seite zu den Kindern und starrten sie an. Hendry trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und fuhr dabei fort, das Magazin seiner Maschinenpistole zu laden. »Ach zum Teufel«, brauste er auf. »Was soll der ganze Unsinn, schließlich sind es nur ein paar Balubas.« Mike Haigs Gesicht hatte eine gelbliche Farbe, auf Nase und Wangen sah man deutlich die kleinen geplatzten Venen unter der Haut, seine Lippen waren farblos. Langsam drehte er sich um. Jeder Atemzug brachte ein winselndes Geräusch aus seiner Kehle hervor. Er ging zurück auf Hendry zu. Noch immer machte sein Mund Bewegungen, als er versuchte, Worte zu formulieren. Während er ging, hatte er seine Maschinenpistole von der Schulter genommen. »Haig!« sagte Bruce scharf. »Diesmal-du-du Schwein, du, das ist das Letzte«, kam es aus Haig heraus. »Paß auf, mein Junge!« warnte ihn Hendry. Er ging rückwärts und versuchte unsicher das geladene Magazin in die Pistole zu drücken. Mike Haig zeigte mit der Spitze seines Bajonetts genau auf den Bauch von Hendry. »Haig!« schrie Bruce. Aber Haig war überraschend schnell für einen Mann seines Alters, als er sich nach vorne beugte und mit dem Bajonett auf Hendrys Bauch zustieß, wobei die stot71
ternden Bemerkungen ihren Höhepunkt in einer Art unartikuliertem Bellen fanden. »Also gut, dann!« Hendry antwortete und ging einen Schritt vorwärts. Als sie aufeinanderprallten, schlug Hendry das Bajonett mit dem Kolben seiner Maschinenpistole zur Seite. Es traf ihn noch in der Achselhöhle, als sie Brust an Brust zusammenstießen und stolperten, als Haigs Gewicht sie umwarf. Hendry warf seine Maschinenpistole weg und schlang beide Arme um Haigs Nacken. Dabei drückte er dessen Kopf so zurück, daß er in einem rechten Winkel nach oben gerichtet war. »Paß auf, Mike. Er wird gleich zuschlagen!« Bruce hatte es genau erkannt, aber seine Warnung kam zu spät. Hendrys Kopf machte eine plötzliche Vorwärtsbewegung, und er schlug mit seinem Stahlhelm Mike genau auf die Nase und nahm ihm so den Atem weg. Das Gewehr entfiel Mikes Händen und lag auf der Straße. Er nahm die Hände hoch und deckte damit sein Gesicht ab, wobei Blut zwischen den Fingern durchrann. Und wieder kam Hendrys Kopf vor wie ein Hammer und Mike stöhnte, als der Stahl auf seine Hände und sein Gesicht schlug. »Tritt ihn, Mike!« schrie Bruce, während er versuchte, eine Position einzunehmen, wo er dazwischengehen konnte. Aber die beiden wanden sich im Kreise wie ein sich schnell drehendes Rad, so daß Bruce nichts ausrichten konnte. Hendrys Beine waren gespreizt, als er seinen Kopf zurückwarf, um noch einmal damit zuzuschlagen. In diesem Augenblick riß Mike sein Knie mit aller Kraft, deren er mächtig war, zwischen den Beinen von Hendry hoch. Den Mund in einem stummen Schrei aufgerissen, ließ Hendry vor Schmerzen Haig los und sank ganz langsam auf die Knie in den Staub. Blut lief von Mikes Mund herunter; noch völlig benommen fummelte er an der Pistolentasche herum. 72
»Ich bringe dich um, du mordendes Schwein.« Die Pistole kam in der rechten Hand hoch. Kurzläufig, blau und häßlich. Bruce trat hinter ihn. Sein Daumen fand sofort das Nervenzentrum unterhalb des Ellenbogens, und eine Sekunde später hob er die Pistole auf, die aus Mikes paralysierter Hand gefallen war. An ihrer Schnur baumelte sie jetzt gegen sein Knie. »Ruffy, stopp ihn«, schrie Bruce, denn Hendry hatte schmerzgepeinigt nach der Maschinenpistole gegriffen, die im Staub neben ihm lag. »Hab ihn schon, Boß.« Ruffys riesiger Fuß trat schwer auf das Gewehr, und Hendry versuchte sinnlos, es darunter vorzuziehen. »Nimm ihm die Pistole ab«, befahl Bruce. »In Ordnung!« Ruffy beugte sich über den sich windenden Körper zu seinen Füßen. Mit einer schnellen Bewegung öffnete er die Pistolentasche, zog den Revolver heraus, wobei der Pistolengurt wie ein Stück Wolle zerfledderte, als er daran zog. So standen sie da: Bruce hielt Haig von hinten, während Hendry zu Ruffys Füßen kroch. Einige Sekunden lang konnte man nur das schwere Atmen aller Beteiligten hören. Bruce fühlte, wie Mike Haigs Spannung sich langsam lockerte und die Wut ihn verließ. Er öffnete seinen Pistolengurt und ließ ihn fallen. »Laß mich, Bruce. Ich bin jetzt in Ordnung.« »Bist du sicher? Ich möchte dich nicht erschießen.« »Nein, ich bin in Ordnung.« »Wenn du wieder damit anfängst, muß ich dich erschießen, verstehst du?« »Ja, ich bin jetzt wieder in Ordnung. Für einen Augenblick hatte ich den Verstand verloren.« »Das hattest du allerdings«, stimmte Bruce bei und ließ ihn los. Sie standen jetzt in einem Kreis um den knienden Henry und Bruce sprach: 73
»Wenn du oder Haig noch einmal damit anfangt, habt ihr euch vor mir zu verantworten. Hast du mich verstanden?« Hendry sah auf. Seine Augen waren schmerzhaft zusammengekniffen. Er gab keine Antwort. »Hast du mich verstanden«, wiederholte Bruce seine Frage und Hendry nickte. »Gut, Hendry, du stehst von diesem Augenblick an unter offenem Arrest. Ich habe keine Leute, die ich entbehren könnte, um dich zu bewachen. Wenn du fliehen willst, bitte sehr, es steht dir jederzeit frei. Ich bin fest davon überzeugt, daß die lokale Bevölkerung sich deiner auf das beste annehmen wird. Vielleicht geben sie dir sogar ein Ehrenbankett, wenn du zu ihnen gehst.« Hendrys Lippen verzogen sich, und die Grimasse, die er zog, ließ die Zähne mit den grünlichen Flecken darauf herausstehen. »Aber denke an mein Versprechen, Hendry. Sobald wir zurück sind, wirst du –« »Wally, Wally, bist du verletzt?« André kam von der Station her angerannt und kniete neben Hendry. »Hau ab und laß mich in Ruhe.« Hendry stieß ihn ungeduldig zurück und André war beschämt. »De Surrier, wer hat dir die Erlaubnis gegeben, deinen Posten zu verlassen. Mach daß du zum Zug zurückkommst.« André sah unsicher auf und dann wieder zu Hendry. »Hast du mich verstanden, de Surrier? Also los, und du auch, Haig.« Er beobachtete, wie die beiden hinter dem Stationshaus verschwanden, ehe er noch einmal auf die beiden Kinder sah. Auf der Wange des Jungen konnte man verschmiertes Blut und Schokolade wahrnehmen, und seine Augen waren weit aufgerissen vor Erstaunen und Überraschung. Die Fliegen hatten bereits begonnen, sich auf den beiden Körpern niederzulassen. »Ruffy, hol ein paar Spaten und beerdige sie unter den Bäu74
men da.« Er zeigte dabei auf die Straße mit den Casiabäumen. »Aber mach schnell.« Er sprach jetzt bewußt brüsk, damit sich seine Gefühle nicht in der Stimme zeigten. »Okay, Boß, ich bringe das in Ordnung.« »Also los, Hendry«, schnappte Bruce, und Wally Hendry kam auf die Beine und folgte ihm unterwürfig zum Zug.
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7 Vom Msapa-Knotenpunkt aus fuhren sie langsam nach Norden durch den Wald. Jeder Baum schien dem anderen zu gleichen. Zahllose Millionen dieser mächtigen Bäume brachten einen Eindruck betäubender Monotonie hervor. Über ihnen gab es eine Schneise offenen Himmels und hin und wieder eine Wolke. Langsam verschloß sich diese Schneise wieder, und der Wald umging sie mit seiner feuchten Hitze, so daß sie trotz des Fahrwindes zu schwitzen begannen. »Wie geht es deinem Gesicht?« fragte Bruce. Mike Haig berührte die parallelen Schwielen auf seiner Stirn, wo die Haut aufgeplatzt und verfärbt war. »Es geht schon«, sagte er entschieden. Und dann hob er die Augen und sah über die offenen Wagen zu Wally Hendry hin. »Du hättest mich nicht daran hindern sollen, Bruce.« Bruce antwortete nicht, aber auch er beobachtete Hendry, der sich unbequem gegen eine Wand im führenden Wagen lehnte, wobei er offensichtlich versuchte, seine Schmerzen zu verbergen. Das Gesicht ihnen abgewandt, sprach er zu André. »Du hättest mich ihn umbringen lassen sollen«, fuhr Mike fort. »Ein Mann, der zwei kleine Kinder kaltblütig niedermacht und hinterher noch darüber lacht –!« Mike verschluckte den Rest des Satzes, aber seine Fäuste öffneten und schlossen sich in seinem Schoß. »Das ist nicht deine Sache«, sagte Bruce, den der Vorwurf getroffen hatte. »Wer bist du denn. Einer von Gottes rächenden Engeln?« »Das geht mich nichts an, sagst du?« Mike wandte sich schnell Bruce zu. »Mein Gott, was für ein Mann bist du eigentlich. Um deinetwillen hoffe ich, daß du nicht das meinst, was du eben gesagt hast.« »Ich werde dir ganz kurz und bündig sagen, was für ein Mann ich bin, Haig«, antwortete Bruce sachlich. »Ich bin ein 76
Mann, der sich um seinen eigenen Scheißkram kümmert und andere Leute ihr eigenes Leben leben läßt. Ich bin bereit, gewisse Maßnahmen zu ergreifen, die andere daran hindern, die Regeln zu brechen, die die Gesellschaft für uns aufgestellt hat. Aber das ist alles. Hendry hat einen Mord begangen. Ich gebe zu, daß das eine böse Sache ist, und wenn wir nach Elisabethville zurückkommen, werde ich den Leuten Bescheid sagen, deren Job es ist, sich um solche Sachen zu kümmern. Aber ich bin nicht bereit, Fahnen zu schwenken, die Bibel zu zitieren oder Schaum vor den Mund zu bekommen.« »Und das ist alles?« »Das ist alles.« »Die beiden Kinder tun dir nicht leid?« »Doch. Aber Mitleid heilt keine Schußwunden. Es macht mich höchstens verzweifelt. Deshalb stelle ich es einfach ab. – Die können damit sowieso nichts mehr anfangen.« »Du bist weder wütend noch entsetzt, nicht einmal verschreckt über Hendry?« »Die gleiche Sache«, erklärte Bruce und begann bereits wieder die Geduld zu verlieren. »Ich könnte mich schon ganz schön aufregen, wenn ich mir erlauben würde, mich einer Orgie von Gefühlen hinzugeben, wie du das tust.« »Und infolgedessen fällt dir für so etwas Übles wie Hendry nichts als gleichgültige Toleranz ein?« fragte Mike. »Bei Gott«, knurrte Bruce. »Was zum Teufel soll ich denn sonst tun?« »Wenn du nur endlich aufhören könntest, dir wie ein Toter vorzukommen.« »Und wenn du es fertigbrächtest, ein Übel zu erkennen und es zu vernichten.« Mike begann ebenfalls seine Ruhe zu verlieren, seine Nerven waren aufs höchste angespannt. »Das ist wunderbar. Weißt du vielleicht, wo ich irgendwo eine gebrauchte Ritterrüstung kaufen kann? Und ein weißes Pferd, damit ich dann alleine in die weite Welt hinausreiten 77
kann, um Krieg zu führen gegen Brutalität und Ignoranz, Laster und Geiz, Haß und Armut –« »Das ist nicht, was ich –« Mike versuchte ihn zu unterbrechen, aber Bruce sprach weiter. Sein hübsches Gesicht wurde dunkel vor Wut. »Du willst, daß ich das Übel zerstören soll, wo immer ich es finde. Du alter Narr, weißt du denn nicht, daß es hundert Köpfe hat und daß für jeden, den ich abschlage, weitere hundert nachwachsen? Weißt du denn nicht, daß es genauso in dir selbst ist, so daß du, um es zu vernichten, dich selbst vernichten mußt?« »Du bist ein Feigling, Curry! Sobald du dir den Finger verbrennst, läufst du davon und baust dir einen Schutzwall aus Asbest –« »Ich hab’s nicht gern, wenn man mich beschimpft, Haig. Halte deine Zunge besser im Zaum.« Mike machte eine Pause und sein Ausdruck änderte sich, er wurde weich und grinste. »Tut mir leid, Bruce. Ich wollte dich nur lehren –« »Danke«, gab Bruce zurück, seine Stimme noch immer hart. Er war durch die Entschuldigung nicht versöhnt. »Du wolltest mich etwas lehren? Vielen herzlichen Dank! Was wolltest du mich denn lehren, Haig? Was bist du denn berufen, mich zu lehren? ›Wie finde ich Erfolg und Glück‹, niedergeschrieben vom ›lachenden Burschen Haig‹, der langsam seinen Weg herunter bis zum Posten eines Leutnants in der schwarzen Armee von Katanga machte – wie gefällt dir der Titel für deine Vorlesung, oder liebst du vielleicht etwas Technisches: ›Die Anwendung des Alkohols bei der Untersuchung des Geisteszustandes‹ –« »Schon gut, Bruce. Laß nur. Ich halte schon meinen Mund.« Bruce sah, wie schwer er Mike getroffen hatte. Es tat ihm leid, und er wünschte, es ungeschehen zu machen. Neben ihm war Mike Haig auf einmal viel älter geworden 78
und sah viel müder aus. Die Tränensäcke und Falten unter seinen Augen hatten sich anscheinend in den letzten paar Sekunden vertieft, und das lustige Zwinkern war von den Augen gewichen. Sein kurzes Lachen klang bitter und humorlos. »Wenn du es so formulierst, ist es wirklich ganz komisch.« »Das war ein Tiefschlag«, gab Bruce zu und dann: »Vielleicht hätte ich dich Hendry umlegen lassen sollen. Eigentlich eine Verschwendung von Munition. Aber wenn du es unbedingt tun möchtest?« Bruce zog seine Pistole und gab sie mit dem Griff nach vorne an Mike. »Hier nimm meine.« Entwaffnend grinste er Mike an. Diesem Grinsen war es unmöglich zu widerstehen. Mike begann zu lachen. Es war kein sehr guter Witz, aber irgendwie war es ansteckend, und ganz plötzlich sahen sie sich an und lachten gemeinsam. Mike Haigs zerfurchtes Gesicht wurde auf einmal wieder weicher, es verjüngte sich; Bruce lehnte sich gegen die Sandsäcke zurück, den Mund weit geöffnet, die Pistole noch immer in der Hand, und sein schlanker Körper schüttelte sich fast unkontrollierbar vor Lachen. Ihr Lachen hatte etwas Fieberhaftes an sich, so als ob sie durch das Lachen den Geschmack von Haß und Blut verdrängen wollten. Es war ein Lachen der Verzweiflung. Unter Ihnen drehten sich die Leute in den Wagen um und beobachteten sie. Zuerst waren sie erstaunt, dann begannen sie aus Sympathie mitzulachen, ohne das Krankhafte am Lachen der beiden herauszuhören. »Hallo, Boß«, rief Ruffy. »Das ist das erstemal, daß ich Sie lachen sehe, als ob Sie es meinten.« Wie eine Epidemie verbreitete es sich. Alle lachten jetzt, selbst André de Surrier lächelte. Nur Wally Hendry blieb unberührt. Still und verschlossen beobachte er sie aus seinen kleinen ausdruckslosen Augen.
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Sie erreichten die Brücke über den Cheke am Nachmittag. Die Straße und die Schienen überquerten ihn Seite an Seite. Aber schon kurz danach gingen beide wieder auseinander, und die Straße wandte sich weiter nach links. Der Fluß hatte an beiden Seiten des Ufers starkes, grün bewachsenes Buschgebiet, das etwa dreihundert Meter breit war. Eine dicke Matte aus Dornen, Sträuchern und Gras, hier und da große Bäume, die in Blüte standen, wenn sie das Sonnenlicht erreichten. »Das ist ein guter Platz für einen Hinterhalt«, murmelte Mike Haig und betrachtete die kompakte grüne Vegetationsmauer zu beiden Seiten des Ufers. »Reizend, nicht wahr?« stimmte Bruce zu. Er fühlte die Unruhe, die angespannte Aufmerksamkeit, die die Gendarmen überkommen hatte, und sah, daß diese genau das gleiche fühlten. Vorsichtig fuhr der Zug durch das Buschland zum Ufer, wie sich eine Stahlschlange auf einem Kaninchenpfad bewegt, bis sie am Ufer ankamen. Bruce drehte sein Radio auf. »Fahrer, halt am Beginn der Brücke an. Ich möchte erst einen Kontrollgang machen, ehe wir unsere kostbare Fracht der Brücke anvertrauen.« »Oui, Monsieur.« Der Chekefluß war an dieser Stelle etwa fünfzig Meter breit, tief und mit schnellfließendem, bösartigem Flutwasser, das die beiderseitigen Sandbänke fast völlig bedeckte. Die Wasserfarbe war flaschengrün und rauchte vom Schlamm. Um die Steinpfeiler der Brücke hatten sich Strudel gebildet. »Sieht in Ordnung aus«, meinte Haig. »Wie weit sind wir denn noch von Port Reprieve entfernt?« Bruce breitete seine Generalstabskarte auf dem Dach des Wagens zwischen den Beinen aus und fand die Klammern, die das Flußband einsäumten. »Jetzt sind wir hier«, zeigte er, und sein Finger verfolgte die markierte Linie des Schienenstrangs, bis er an einem roten 80
Kreis ankam, der Port Reprieve anzeigte. »Noch ungefähr dreißig Meilen, also noch ca. eine Stunde. Wir müssen dort noch vor Dunkelheit eintreffen.« »Das hier sind die Lufiraberge«, deutete Mike Haig auf eine blaue Stelle, die gerade oberhalb des Waldes vor ihnen angezeigt war. »Von dort oben müßten wir die Stadt sehen können«, stimmte Bruce zu. »Der Fluß fließt parallel zu den Bergen auf der anderen Seite, und der Sumpf liegt zur Rechten. Der Sumpf ist die eigentliche Quelle des Flusses.« Er rollte die Karte wieder zusammen und gab sie an Ruffy, der sie in eine Plastikkartentasche legte. »Ruffy, Leutnant Haig und ich gehen voraus und sehen uns die Brücke an, beobachtet den Busch.« »Okay, Boß. Wollen Sie ein Bier mitnehmen?« »Danke.« Bruce war durstig und trank die Hälfte der Flasche, ehe er hinunterkletterte, wo Mike bereits auf dem Kiesdamm auf ihn wartete. Die Maschinenpistolen im Anschlag und den Busch nach beiden Seiten mit Ungewißheit betrachtend, liefen sie, bis sie die Brücke erreichten und gingen dann auf ihrer Mitte entlang. »Die scheint stabil genug zu sein«, meinte Mike. »Da hat bis jetzt noch keiner dran rumgepfuscht.« »Die ist aus Holz.« Bruce stapfte auf die schweren wilden Mahagonistämme. Sie waren etwa neunzig Zentimeter dick und mit einer dunklen chemischen Flüssigkeit übergossen, um das Verrotten aufzuhalten. »Na schön, es ist Holz«, sagte Mike. »Holz brennt«, erklärte Bruce. »Es wäre ein leichtes, sie niederzubrennen.« Er lehnte sich mit den Ellbogen auf die Sicherheitsbrüstung, trank das Bier aus und warf die leere Flasche in den Fluß, der etwa sieben Meter tiefer vorbeiströmte. Sein Gesicht war nachdenklich geworden. »Höchstwahrscheinlich sind Balubas im Busch« – er zeigte 81
auf das Flußufer – »die uns in diesem Augenblick beobachten. Vielleicht haben die die gleiche Idee. Ich glaube, ich sollte hier eine Wache lassen.« Mike beugte sich neben ihm über die Brüstung, und beide starrten auf den Fluß, der ungefähr zweihundert Meter weiter flußabwärts eine Biegung machte. In der Kurve wuchs ein Baum, der etwa zweimal so hoch war wie alle benachbarten Bäume. Sein Stamm war gerade und von einer glatten, silbrigen Rinde bedeckt. Seine Krone bildete eine hohe grüne Spitze, die zu den Wolken aufragte. Es war natürlich, daß man sich an diesem Punkte festhielt, wenn man Probleme lösen wollte. »Was für ein Baum kann das wohl sein. Ich habe so einen noch niemals gesehen.« Einen Augenblick lang war Bruce von seiner Größe abgelenkt. »Er sieht beinahe wie ein riesiger blauer Gummibaum aus.« »Schon ein toller Anblick«, stimmte Mike zu. »Ich würde gerne runter gehen und ihn mir etwas näher –« plötzlich richtete er sich auf, seine Stimme klang alarmiert, als er zeigte. »Bruce, da. Was ist das da in den unteren Zweigen?« »Wo?« »Da ungefähr bei dem ersten Ast auf der linken Seite.« Plötzlich sah Bruce es auch. Eine Sekunde lang dachte er, daß es sich um einen Leoparden handle, dann bemerkte er, daß es dafür zu dunkel und zu lang war. »Das ist ein Mann«, rief Bruce. »Ein Baluba«, stieß Bruce hervor. Er konnte jetzt die Umrisse der Figur wahrnehmen und den Schimmer des nackten schwarzen Fleisches. Den Schurz aus Tierschwänzen und den Federkopfputz. Ein langer Bogen stand hinter der Schulter des Mannes, während dieser auf dem Ast balancierte, wobei er sich mit einer Hand am Stamm festhielt. Er beobachtete sie. Bruce sah zum Zug hin. Hendry hatte ihre Erregung mitbekommen und folgte der Richtung von Mikes erhobenen Armen. 82
Er hatte den Baluba ausgemacht. Bruce war sich darüber im klaren, was Hendry tun würde, und er öffnete den Mund, um zu schreien, aber noch ehe er dies tun konnte, hatte Hendry seine Maschinenpistole hochgerissen, angelegt und eine lange, sausende, hämmernde Salve abgefeuert. »Dieser schießwütige Idiot«, knurrte Bruce und sah wieder zu dem Baum hin. Einige Stücke weißer Rinde flogen vom Stamm, und die Kugeln rissen große grüne Blätter ab, die wie verkrüppelte Insekten zu Boden flatterten. Aber der Baluba war verschwunden. Das Feuer hörte abrupt auf, und an seine Stelle trat Hendrys vor Begeisterung überquellendes Schreien. »Ich habe ihn erwischt, den Bastard.« »Hendry«, auch Bruces Stimme war heiser, aber vor Wut. »Wer hat dir befohlen zu schießen.« »Er war ein verdammter Baluba. Ein widerlicher, großer, verdammter Baluba. Hast du ihn etwa nicht gesehen? Hast du ihn denn nicht gesehen, Mann?« »Komm her, Hendry.« »Ich habe den Strolch erwischt«, freute sich Hendry. »Bist du taub? Komm her.« Während Hendry vom Wagen herunterkletterte und auf sie zukam, fragte Bruce Haig. »Hat er ihn getroffen?« »Ich bin nicht sicher. Aber ich glaube nicht, er ist fortgesprungen. Wenn er ihn getroffen hätte, hätte es ihn nach hinten geworfen. Du weißt genau, wie es einen nach hinten überwirft.« »Ja«, sagte Bruce. »Das weiß ich.« Ein 0.300-Geschoß aus einer Maschinenpistole traf mit einer Kraft von über einer Tonne. Wenn man damit einen Mann traf, gab es hier keinen Zweifel. Das bedeutete also, daß der Baluba noch dort war. Hendry kam auf sie zu, breitspurig und vor Erregung lachend. 83
»So, du hast ihn also umgelegt«, fragte Bruce. »Mausetot. Ganz mausetot.« »Kannst du ihn sehen?« »Nein. Der liegt da unten im Busch.« »Willst du nicht hingehen und nach ihm schauen, Hendry? Willst du nicht hingehen und dir seine Ohren holen?« Die Ohren sind die beste Trophäe, die man von einem Mann bekommen kann. Sie sind zwar nicht so gut wie die Haut eines schwarzmähnigen Löwen oder die großen breiten Hörner eines Buffalos, aber besser als ein Skalp. Die wollene Kappe eines afrikanischen Skalps ist eine traurige Sache. Schwer zu nehmen und noch schwerer zu konservieren. Man muß sie einsalzen und über einen Helm spannen, und selbst dann riecht sie schlecht. Ohren machen viel weniger Ärger, und Hendry war ein wilder Sammler. Er war nicht der einzige in der Armee von Katanga. Das Abschneiden der Ohren war allgemein üblich. »Aber klar will ich die.« Hendry nahm sein Bajonett vom Lauf seiner Maschinenpistole. »Ich geh rasch runter und hol sie mir.« »Bruce, du kannst niemanden da hingehen lassen. Nicht einmal ihn«, protestierte Haig ruhig. »Warum nicht, er verdient es. Er hat hart genug dafür gearbeitet.« »Das dauert nur eine Minute.« Hendry ließ seinen Daumen über das Bajonett streichen, um die Schärfe zu prüfen. Mein Gott, er will es wirklich tun, dachte Bruce. Der würde tatsächlich da runter gehen, nur um ein Paar Ohren zu bekommen. Er ist nicht tapfer, ihm fehlt nur völlig jede Art von Einfühlungsvermögen. »Wart einen Augenblick auf mich, Bruce, es dauert nicht lange.« Hendry begann nach hinten zu gehen. »Das ist doch nicht dein Ernst, Bruce«, fragte Mike. »Nein«, stimmte Bruce zu, »das ist nicht mein Ernst.« Seine Stimme war kalt und hart, als er Hendry an der Schulter packte 84
und festhielt. »Jetzt hör mir mal zu. Noch eine Chance für dich gibt es nicht. Das war’s. Jetzt warte ich auf dich, Hendry. Noch einmal so etwas und dann langt’s. Nur noch ein einziges Mal.« Hendrys Gesicht war wieder düster geworden. »Treib’s nicht zu weit, mein Junge.« »Geh zum Zug zurück und bring ihn hinüber«, sagte Bruce verächtlich und wandte sich an Haig. »Jetzt müssen wir einen Wachtposten hierlassen. Die wissen jetzt, daß wir hinüberfahren und würden sie mit Sicherheit abbrennen. Vor allen Dingen nach dem letzten kleinen Fiasko.« »Wen willst du dalassen?« »Sagen wir etwa zehn Leute mit einem Feldwebel. Wir werden schon heute nacht zurück sein, spätestens morgen früh. Das sichert sie ausreichend. Ich zweifle, daß wir es hier mit einer größeren Menge von Kriegern zu tun haben. Vielleicht nur ein paar Versprengte. Die Masse wird sich näher bei der Stadt befinden.« »Ich hoffe du hast recht.« »Ich auch«, sagte Bruce abwesend, während er sich bereits mit dem Problem der Brückenverteidigung beschäftigte. »Wir werden alle Sandsäcke von den Wagen herunterholen und eine Stellung hier in der Mitte der Straße aufbauen. Außerdem werden wir zwei der Batteriescheinwerfer dalassen, einen Kasten mit Leuchtspurmunition, eines der Maschinengewehre und zwei Kasten Munition. Essen und Wasser für eine Woche. Ich glaube, das dürfte genügen.« Der Zug rollte langsam auf sie zu. Und dann stieg ein einzelner Pfeil vom Rand des Dschungels auf. Er stieg langsam, schlug im Fliegen einen Bogen und fiel in Richtung auf den Zug. Jetzt immer schneller werdend, bis er zwischen die Männer in dem ersten Wagen fiel. Das bedeutete, daß Hendry nicht getroffen hatte und der Baluba stromaufwärts durch den Busch gegangen war, um 85
seinen Pfeil als Vergeltung abzuschießen. Bruce sprang zur Brüstung und benutzte diese zur Auflage für seine Maschinenpistole. Dann eröffnete er mit kurzen Feuerstößen das Feuer, wobei er blindlings den Rand des Dschungels absuchte und in die grünen Massen hineinschoß, die unter seinen Schüssen erbebten. Auch Haig schoß jetzt, wobei er das Gebiet, aus dem der Pfeil abgeschossen worden war, mit Feuer belegte. Der Zug hatte sie jetzt erreicht, Bruce warf sich das Gewehr über die Schulter und sprang seitlich auf. Dann ging er zum Radio. »Fahrer, halte die bedeckten Wagen auf der Mitte der Brükke«, sagte er, und dann schaltete er ab und suchte nach Ruffy. »Stabsfeldwebel, alle Sandsäcke vom Dach herunter auf die Strasse.« Während die Gendarmen arbeiteten, wurden sie von weiteren Pfeilen durch den Wagen geschützt. »Okay, Boß.« »Kanaki.« Bruce wählte seinen verläßlichsten Feldwebel aus. »Ich lasse dich hier mit zehn Leuten, damit du die Brücke für uns hältst. Nimm eines von den Maschinengewehren und zwei von den Scheinwerfern –.« Schnell gab Bruce seine Befehle und fand dann Zeit, André zu fragen. »Was ist mit dem Pfeil passiert, wurde irgend jemand getroffen?« »Nein er schlug nur einige Zentimeter daneben ein. Hier ist er.« »Das nenne ich Glück.« Bruce nahm den Pfeil von André und untersuchte ihn schnell. Ein leichtes Rohr, das mit grünen Blättern umwickelt war and an dem vorne der eiserne Kopf mit rohem Leder festgebunden war. Er sah zerbrechlich und unschädlich aus. Aber die Zacken des Kopfes waren dick mit einer dunklen Paste verschmiert, die wie Toffee angetrocknet war. »Reizend«, murmelte Bruce und schauderte leicht. Er konnte sich das genau vorstellen, wie der Pfeil sich in den Körper 86
bohrte, wie dann das Gift anfing, das Fleisch unter der Haut rot zu färben. Er hatte davon gehört, daß es kein angenehmer Tod wäre. Auf einmal war dieses eisenköpfige Rohr bösartig und widerlich. Er brach es in zwei Stücke und warf es dann über den Wall der Brücke, ehe er vom Wagen wieder heruntersprang, um den Bau der Wachstellung zu beaufsichtigen. »Wir haben nicht genug Sandsäcke, Boß.« »Nimm die Matratzen aus dem Wagen, Ruffy.« Das Problem war von Bruce schnell gelöst. Die lederbedeckten Polster würden jeden Pfeil mit Leichtigkeit aufhalten. Fünfzehn Minuten später war die Stellung vollendet. Ein schulterhoher Ring von Sandsäcken und Matratzen, groß genug, um die zehn Männer und ihre Sachen einzuschließen und mit Schießscharten in solchen Positionen, daß man damit beide Seiten der Brücke unter Beschuß nehmen konnte. »Wir sind morgen in aller Frühe zurück, Kanaki. Laß unter keinen Umständen irgendeinen deiner Leute seinen Posten verlassen. Die Spalten zwischen den einzelnen Hölzern sind groß genug für sanitäre Zwecke.« »Wir werden jeden nur denkbaren Komfort haben, Captain. Aber wir könnten noch etwas zur Beruhigung brauchen.« Kanaki grinste bedeutsam Bruce zu. »Ruffy, laß ihnen eine Kiste Bier da.« »Eine ganze Kiste?« Ruffy verbarg nicht den Schock und daß er mit einem so großzügigen Befehl nicht einverstanden sein konnte. »Habe ich nicht mehr genug Kredit bei dir?« »Ihr Kredit ist okay, Boß«, und dann wechselte er ins Französische über, um seinen Protest in aller Form darzubringen. »Ich gebe nur zu bedenken, daß diese so äußerst wertvolle Ware nur schwer zu ersetzen sein wird.« »Du verschwendest deine Zeit, Ruffy.«
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8 Von der Brücke aus waren es genau dreißig Meilen bis nach Port Reprieve. Etwa sechs Meilen außerhalb der Stadt stießen sie wieder auf die Straße. Sie kreuzte unter ihnen und verschwand wieder im Wald, kam in einer Kurve aus dem Hochland und führte dann auf dem gemächlichen Wege nach Port Reprieve hinein. Die Schienen führten im Zickzackkurs die Berge hinauf und kamen an einer Stelle, etwa zweihundert Meter oberhalb der Stadt, wieder zum Vorschein. Auf den steinigen Hängen fand der Wald nur magere Nahrung, und die Vegetation war spärlicher, so daß der Blick frei war. Auf dem Dach stehend sah Bruce hinüber zu den Lufirasümpfen im Norden, eine riesige Fläche giftigen grünen Sumpfgrases und offenen Wassers, das sich in der großen blauen Hitzewelle endlos ausdehnte. Im Süden wurde der Sumpf durch den Lufirafluß trockengelegt. Dieser Fluß war etwa eine halbe Meile breit, tief olivgrün und durch kleine Wellen gekräuselt, die der Wind auf seiner Oberfläche tanzen ließ. Am Ufer befand sich eine Art fester Barriere aus dichtem Flußbuschland. In dem Winkel, der durch den Sumpf gebildet wurde und dem Fluß, der den natürlichen Hafen von Port Reprieve schützte, war Festland. Die Stadt befand sich an der Landspitze, der Hafen auf der einen Seite und ein kleiner Sumpf auf der anderen. Die Straße kam von rechts aus den Bergen, überquerte einen Damm, der über den Sumpf führte, und mündete von der entfernten Seite in die einzige Straße der Stadt ein. Im Stadtzentrum standen drei große Gebäude dem Bahnhof gegenüber. Ihre stählernen Dächer schossen wie Pfeile durch das Sonnenlicht ins Blaue. Um sie herum waren etwa fünfzig kleinere strohbedeckte Häuser. An der einen Seite des Hafens war ein großer Schuppen, offensichtlich eine Reparaturwerkstätte, und zwei Boote lagen 88
im Wasser. Die Diamantenbagger waren längsseits festgemacht. Drei Stück, unhübsche schwarze Kästen, mit hohen Aufbauten und stumpfen Enden. Es war ein Platz, in dem Hitze und Fieber und die Modergerüche des Sumpfes zusammenkamen. Ein häßliches kleines Dorf neben einem grünen reptilverseuchten Fluß. »Ein hübscher Platz, um sich zur Ruhe zu setzen«, grunzte Mike Haig. »Oder um ein Kurbad aufzumachen«, sagte Bruce. Hinter dem Damm auf dem Festland lag ein weiterer Haufen von Häusern, deren Dächer gerade den Wald überragten. Unter ihnen stieg der kupferverkleidete Turm einer Kirche empor. »Eine Missionsstation«, mutmaßte Bruce. »Augustiner«, stimmte Ruffy zu. »Der kleine Bruder meiner ersten Frau ist hier erzogen worden. Er ist jetzt Attaché in irgendeinem Ministerium in Elisabethville und macht eine ganz gute Karriere«, gab er ein wenig an. »Na und wenn schon«, sagte Bruce. Der Zug begann jetzt bergab zu fahren und sich der Stadt zu nähern. »Na also, Boß, wir haben es geschafft.« »Das stimmt. Bleibt nur noch eins: daß wir es schaffen und wieder zurückkommen.« »Genau Boß.« Sie fuhren in die Stadt ein. Eine Menge Leute, mehr als vierzig Menschen, standen auf der Plattform, um sie willkommen zu heißen. Wir werden eine schwere Last auf dem Rückweg haben, dachte Bruce, als er die Wartenden musterte. Er sah die leuchtenden Farben von Frauenkleidern – im ganzen vier. Das ist eine weitere Erschwerung – vielleicht finde ich eines Tages irgend etwas, das genauso abläuft, wie ich es mir vorher vorgestellt habe. Etwas, das sich gleichmäßig und logisch bis zum konsequenten Ende abwickelt. Welche Hoffnung, sagte er 89
sich. Welche verdammte Hoffnung, auf so was zu setzen. Die Freude und Erleichterung bei den Männern und Frauen auf der Plattform schmeckte nach Pathos. Die meisten Frauen weinten, und die Männer liefen neben dem Zug wie kleine Jungens her, bis dieser neben der Plattform zum Stehen kam. Wie Bruce feststellte, waren sie alle Euroafrikaner. Ihre Farbe variierte vom cremigen Gelb bis zum Kohlrabenschwarz. Die Belgier hatten wirklich eine Menge zurückgelassen, was auch in Zukunft an sie erinnern würde. Etwas entfernt von der Masse und ein wenig erhaben über die allgemeinen Freudensausbrüche stand ein halbblütiger Belgier. Auf der einen Seite umgab ihn eine gewisse spürbare Autorität. Neben ihm stand eine große vollbusige Frau in fortgeschrittenem Alter wie er selbst, mit etwas dunklerer Haut. Bruce war sofort klar, daß die beiden verheiratet waren. Auf der anderen Seite stand eine Figur im weißen offenen Hemd und Blue Jeans, die Bruce im ersten Augenblick für einen Jungen hielt, bis sich der Kopf drehte und er sah, daß ein langer Schopf dunkler Haare ihren Rücken herunterhing. Dann sah er auch den kleinen anatomischen Unterschied, wie er sich unter dem weißen Hemd abzeichnete. Der Zug hielt an und Bruce sprang auf die Plattform, wobei er sich lachend den Weg durch die Menge zu dem Belgier bahnte. Obwohl er bereits ein Jahr im Kongo war, hatte sich Bruce nicht daran gewöhnen können, von jemandem geküßt zu werden, der sich mindestens zwei oder drei Tage lang nicht rasiert hatte und stark nach Knoblauch und billigem Tabak roch. Trotzdem passierte ihm das mindestens ein dutzendmal, ehe er bei dem Belgier ankam. »Der Herr segne Sie dafür, daß Sie zu unserer Hilfe gekommen sind, Monsieur Captain.« Der Belgier hatte die beiden Streifen am Helm von Bruce erkannt und streckte ihm die Hand entgegen. Bruce hatte einen weiteren Kuß erwartet und nahm mit großer Erleichterung den Händedruck entgegen. 90
»Ich bin nur froh, daß wir rechtzeitig gekommen sind«, antwortete er. »Darf ich mich vorstellen. Martin Boussier. Ich bin der Distriktmanager der Union Minière, und dies hier ist meine Frau, Madame Boussier.« Er war ein großer Mann und im Gegensatz zu seiner Frau äußerst mager. Sein Haar war völlig silbern, seine Haut faltig, hart und gebräunt von einem Leben unter der Sonne des Äquators. Bruce konnte ihn sofort gut leiden. Madame Boussier drückte ihre Fülle gegen Bruce und küßte ihn herzlich. Ihr Schnurrbart war zu weich, um unangenehm zu sein, und sie roch nach Toilettenseife, was Bruce für einen außerordentlichen Fortschritt hielt. »Darf ich ihnen außerdem Madame Cartier vorstellen?« Zum erstenmal besah sich Bruce das Mädchen genau. Verschiedene Dinge registrierte er gleichzeitig. Die Blässe ihrer Haut, die nicht ungesund war, sondern eine solche Kühle verbreitete, daß Bruce versucht war, sie zu berühren; die Größe ihrer Augen, die fast die Hälfte ihres Gesichts auszufüllen schienen, ihre unbewußt angriffslustigen Lippen und schließlich das »Madame« vor ihrem Namen. »Ich bin Captain Curry von der Armee von Katanga«, sagte Bruce. Sie ist zu jung, um verheiratet zu sein. Sie kann unmöglich älter als siebzehn sein. Sie hat noch die Frische eines ganz jungen Mädchens; ich wette, daß sie wie ein frisch gebadetes Baby riecht. »Ich danke Ihnen für ihr Kommen, Monsieur.« Ihre Stimme klang heiser und rauh, als ob sie gerade lachen oder jemanden verführen wollte, und Bruce schätzte daraufhin ihr Alter um drei Jahre höher. Das war nicht die Stimme eines kleinen Mädchens, und das waren auch nicht die Beine eines kleinen Mädchens in den Jeans, und kleine Mädchen hatten auch weniger unter ihrer Bluse. Seine Augen wanderten wieder zu ihrem Gesicht zurück und 91
er sah, daß es Farbe bekommen hatte und in ihren Augen ein Funke Verärgerung aufleuchtete. Mein Gott, dachte er, ich starre sie an wie ein Matrose auf Landurlaub. Schnell wandte er seine ganze Aufmerksamkeit wieder Boussier zu, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, als er fragte: »Wieviel Personen sind hier?« »Zweiundvierzig. Darunter fünf Frauen und zwei Kinder.« Bruce nickte. Das hatte er ungefähr erwartet. Die Frauen konnten in einem der überdachten Wagen fahren. Er wandte sich um und sah sich den Bahnhof an. »Gibt es hier eine Drehscheibe, auf der wir die Lokomotive wenden können«, fragte er Boussier. »Nein Captain.« Sie mußten also den ganzen Weg bis zum MsapaKnotenpunkt rückwärts fahren; eine erneute Erschwerung. Es würde schwieriger werden, die Schienen zu beobachten, und es würde eine rußige und unbequeme Reise werden. »Welche Sicherheitsmaßnahmen haben Sie gegen einen Angriff getroffen, Monsieur?« »Die sind nicht zureichend, Captain«, gab Boussier zu. »Ich habe nicht genügend Leute, um die Stadt zu verteidigen. Der größte Teil der Bevölkerung hat die Stadt verlassen, ehe der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Ich habe Wachtposten an allen Zugängen zur Stadt aufgestellt und das Hotel befestigt, soweit es mir möglich war. Dorthin wollten wir uns im Falle eines Angriffs zurückziehen.« Bruce nickte wieder und sah zur Sonne hin. Sie hatte sich bereits rot gefärbt und würde bald am Horizont untergehen. Vielleicht war es noch eine oder zwei Stunden hell. »Monsieur, es ist zu spät, um alle Ihre Leute in den Zug zu verfrachten und vor Einbruch der Nacht abzufahren. Ihre Sachen werden wir heute abend noch verladen. Wir werden hier übernachten und morgen in aller Frühe abfahren.« 92
»Wir können es kaum erwarten, von hier wegzukommen; wir haben schon zweimal große Abteilungen von Balubas am Rand des Dschungels gesehen.« »Das verstehe ich«, sagte Bruce. »Die Gefahr, bei Nacht zu reisen, ist weit größer als weitere zwölf Stunden zu warten.« »Die Entscheidung liegt bei ihnen«, stimmte Boussier zu. »Was sollen wir jetzt tun.« »Bitte kümmern Sie sich darum, daß die Sachen ihrer Leute aufgeladen werden. Leider können wir nur die allernotwendigsten Gegenstände mitnehmen. Wir werden fast hundert Personen sein.« »Ich werde mich selbst darum kümmern«, versicherte ihm Boussier. »Und dann?« »Ist das das Hotel?« Bruce deutete über die Straße auf eines der großen zweistöckigen Häuser. Es war nur etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt. »Ja, Captain.« »Gut«, sagte Bruce. »Das ist nahe genug. Ihre Leute können dort die Nacht bequemer zubringen als im Zuge.« Er mußte wieder das Mädchen ansehen; sie beobachtete ihn mit einem kleinen Lächeln im Gesicht. Es war das Lächeln fast mütterlichen Vergnügens, als ob sie einen kleinen Jungen beobachtete, der Soldat spielt. Jetzt war es Bruce, der verärgert aufblickte. Er fühlte sich plötzlich verlegen in seiner Uniform mit ihren Epauletten, mit seiner Pistole an der Hüfte, der Maschinenpistole über der Schulter und dem schweren Helm auf dem Kopf. »Ich brauche jemanden, der mir das Gebiet zeigen kann, ich möchte die Verteidigungsstellungen inspizieren«, sagte er zu Boussier. »Madame Cartier könnte Sie führen«, schlug Boussiers Frau sofort vor. Ob sie wohl unser kleines Geplänkel mitbekommen hat? dachte Bruce. Bestimmt. Alle Frauen haben einen sicheren Instinkt für solche Dinge. 93
»Willst du mit dem Captain gehen, Germaine?« fragte Madame Boussier. »Wenn der Captain nichts dagegen hat.« Sie lächelte noch immer. »Dann ist das klar«, sagte Bruce brummig. »Ich werde sie in zehn Minuten im Hotel treffen, wenn ich hier einige Vorkehrungen getroffen habe.« Er wandte sich wieder an Boussier. »Sie können mit dem Verladen beginnen, Monsieur.« Bruce verließ sie und ging zum Zug zurück. »Hendry«, schrie er. »Du und de Surrier, ihr bleibt beim Zug. Wir fahren erst morgen früh, aber die Leute werden schon jetzt ihre Sachen aufladen. In der Zwischenzeit bringt die Maschinengewehre in Stellung und montiert die Scheinwerfer so, daß beide Seiten der Geleise abgesucht werden können.« Hendry murmelte eine Bestätigung, ohne Bruce dabei anzusehen. »Mike, nimm zehn Leute und geh zum Hotel. Ich möchte dich dort haben, falls heute nacht etwas passiert.« »Okay, Bruce.« »Ruffy.« »Sir.« »Nimm ein paar Leute und hilf dem Fahrer beim Wassertanken.« »Okay, Boß. Hallo, Boß.« »Ja?« Bruce wandte sich zu ihm. »Wenn Sie zum Hotel gehen, könnten Sie einmal nachsehen, ob es da vielleicht Bier gibt. Unseres ist gerade ausgegangen.« »Ich werde daran denken.« »Danke, Boß.« Ruffy sah erleichtert aus. »Es wäre mir peinlich, in einem solchen Nest wie hier verdursten zu müssen.« Die Leute strömten zum Hotel zurück. Das Mädchen ging mit den Boussiers, und Bruce hörte Hendrys Stimme über sich. »Mensch, guck dir mal an, was die Hübsche da in der Hose hat. Was es auch sonst noch ist, eins ist sicher: es ist rund und 94
in zwei Hälften. Und diese Hälften bewegen sich, als ob sie nicht zusammengehörten.« »Hast du nichts zu tun, Hendry?« fragte Bruce ärgerlich. »Was ist denn los, Curry?« Hendry grinste verächtlich auf ihn herunter. »Du hast wohl selber Pläne. Stimmt’s, mein Junge?« »Sie ist verheiratet«, sagte Bruce und war im gleichen Augenblick überrascht, daß er es gesagt hatte. »Aber sicher«, lachte Hendry. »Die besten sind immer verheiratet. Das bedeutet überhaupt nichts. Das bedeutet nicht das mindeste.« »Mach, daß du mit deiner Arbeit fertig wirst«, sagte Bruce und wandte sich dann an Haig. »Bist du fertig? Dann komm mit mir.«
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9 Als sie am Hotel ankamen, erwartete Boussier sie auf der offenen Veranda. Er nahm Bruce zur Seite und sprach ruhig auf ihn ein. »Monsieur, ich möchte nicht als Schwarzseher erscheinen, aber ich habe höchst beunruhigende Neuigkeiten. Räuberbanden, mit modernen Waffen ausgerüstet, kommen plündernd aus dem Norden auf uns zu. Nach letzten Berichten haben sie die Senwati-Mission etwa dreihundert Kilometer nördlich von hier zerstört.« »Ja, ich weiß«, nickte Bruce. »Wir hörten es im Radio.« »Dann werden Sie sich auch klargemacht haben, daß man sie sehr bald hier erwarten kann.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie hier vor morgen nachmittag ankommen werden; bis dahin werden wir schon längst auf unserem Weg zum Msapa-Knotenpunkt sein.« »Ich hoffe, daß Sie recht haben, Monsieur. Die Grausamkeiten, die dieser General Moses in Senwati begangen hat, liegen außerhalb des Fassungsvermögens eines normalen Menschenverstandes. Er scheint einen fast pathologischen Haß auf alle Menschen europäischer Herkunft zu haben.« Boussier zögerte, ehe er fortfuhr. »In Senwati befanden sich ein Dutzend weißer Nonnen. Ich habe gehört, daß sie –« »Ja«, unterbrach ihn Bruce schnell. Er wollte es nicht hören. »Ich kann es mir vorstellen. Bitte sorgen Sie dafür, daß diese Geschichten nicht unter ihren Leuten verbreitet werden. Ich möchte keine Panik aufkommen lassen.« »Selbstverständlich«, nickte Boussier. »Wissen Sie, wie stark die Truppe ist, die dieser General Moses befehligt?« »Nicht mehr als etwa hundert Männer, aber wie ich schon sagte, sie sind alle mit modernen Waffen ausgerüstet. Ich habe sogar gehört, daß sie der Beschreibung nach eine Kanone bei 96
sich haben, obwohl ich mir das kaum vorstellen kann. Sie sind in einem Konvoi von gestohlenen Wagen unterwegs, und in Senwati haben sie einen Tankwagen erbeutet, der einer Ölgesellschaft gehörte.« »Ich verstehe«, sagte Bruce nachdenklich. »Aber das ändert nichts an meiner Entscheidung, hier noch zu übernachten. Allerdings müssen wir beim ersten Morgengrauen abfahren.« »Wie Sie meinen, Captain.« »Und jetzt, Monsieur«, Bruce wechselte das Thema, »brauche ich irgendein Transportmittel. Ist der Wagen dort in Ordnung?« Er zeigte auf einen blaßgrünen Ford-Kombi, der vor der Verandamauer abgestellt war. »Aber ja. Er gehört meiner Firma.« Boussier nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und gab ihn Bruce. »Hier sind die Schlüssel. Der Wagen ist vollgetankt.« »Sehr gut«, sagte Bruce. »Wenn wir jetzt Madame Cartier finden könnten –« Sie wartete in der Hotelhalle und stand auf, als Bruce und Boussier hereinkamen. »Sind Sie bereit, Madame?« »Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, antwortete sie. Bruce sah sie scharf an. Ein ganz kleines Zucken in ihren dunkelblauen Augen deutete an, daß sie sich des Doppelsinns ihrer Antwort bewußt war. Sie ging zu dem Ford, und Bruce öffnete ihr die Tür. »Sie sind sehr höflich, Monsieur«, dankte sie ihm und stieg ein. Bruce ging zur anderen Seite und setzte sich neben sie. »Es ist fast dunkel«, sagte er. »Fahren Sie nach rechts in die Msapa-Junction-Straße. Dort ist ein Posten.« Bruce fuhr auf der verschmutzten Straße, bis sie zum letzten Haus vor dem Damm kamen. »Hier ist es«, sagte das Mädchen und Bruce hielt an. Zwei Männer standen da, mit Sportgewehren bewaffnet. Bruce sprach mit ihnen. Sie hatten keine Anzei97
chen von Balubas gesehen, aber beide waren äußerst nervös. Bruce war kurz entschlossen. »Gehen Sie zurück zum Hotel. Die Balubas haben den Zug bestimmt kommen sehen. Sie werden keinen Überfall wagen. Heute nacht sind wir sicher. Aber es kann ihnen einfallen, ein paar Kehlen zu schlitzen, wenn wir Sie hier draußen lassen.« Die beiden Halbeuropäer packten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg ins Stadtzentrum, offensichtlich leichteren Herzens. »Wo sind die anderen«, fragte Bruce das Mädchen. »Der nächste Posten ist bei der Pumpstation unten am Fluß. Dort sind drei Leute.« Bruce folgte ihren Weisungen. Ein- oder zweimal sah er während der Fahrt verstohlen zu ihr hinüber. Sie saß in der Ecke ihres Sitzes mit untergezogenen Beinen. Sie saß sehr ruhig, wie Bruce bemerkte. Ich mag eine Frau, die nicht herumhopst. Das ist beruhigend. Dann lächelte sie. Diese Frau ist nicht beruhigend. Sie ist beunruhigend wie ein Teufel. Plötzlich drehte sie sich um und ertappte ihn, wie er sie ansah. »Sie sind Engländer, nicht wahr, Captain?« »Nein, ich bin ein Rhodesier«, antwortete Bruce. »Das ist dasselbe«, sagte das Mädchen. »Ihr Französisch ist so grauenhaft, daß Sie nur Engländer sein können.« Bruce lachte. »Vielleicht ist ihr Englisch besser als mein Französisch«, forderte er sie heraus. »Viel schlechter kann es ja nicht sein«, antwortete sie ihm in seiner eigenen Sprache. »Sie sind anders, wenn Sie lachen. Nicht so grimmig und heroisch. Fahren Sie die nächste Straße rechts bitte.« Bruce fuhr den Ford zum Hafen hinunter. »Sie sind sehr geradeaus«, sagte er. »Und außerdem ist ihr Englisch ausgezeichnet.« »Rauchen Sie?« fragte sie, und als er nickte, zündete sie zwei Zigaretten an und gab ihm eine davon. 98
»Außerdem sind Sie noch zu jung, um zu rauchen, und zu jung, um verheiratet zu sein.« Sie hörte zu lächeln auf und nahm ihre Beine vom Sitz. »Hier ist die Pumpstation.« »Ich bitte um Entschuldigung, ich hätte das nicht sagen sollen.« »Das ist nicht so wichtig.« »Es war unverschämt von mir«, entschuldigte sich Bruce. Bruce hielt den Wagen an und öffnete seine Tür. Er ging über den hölzernen Bootssteg zum Pumpenhaus, die Bohlen dröhnten dumpf unter seinen Schuhen. Aus dem Schilf rings um den Hafen stieg Nebel auf, und Frösche quakten in mindestens fünfzig verschiedenen Tonarten. Er sprach mit den Männern in dem einzigen Raum der Pumpstation. »Sie können noch vor Anbruch der Dunkelheit das Hotel erreichen, wenn sie sich beeilen.« »Oui, Monsieur«, stimmten sie zu, und Bruce sah ihnen nach, wie sie die Straße entlang liefen, ehe er zum Wagen zurückging. Er zog den Anlasser, und den Lärm des Motors übertönend fragte das Mädchen: »Was ist eigentlich ihr Vorname, Captain Curry?« »Bruce.« Sie wiederholte es, wobei sie den Namen »Brüs« aussprach und fragte dann: »Warum sind Sie Soldat?« »Aus vielerlei Gründen.« Sein Ton war hintergründig. »Sie sehen nicht wie ein Soldat aus, trotz all Ihrer Abzeichen und Waffen, trotz all Ihrer Härte und Ihren ständigen Befehlen.« »Vielleicht bin ich kein sehr guter Soldat.« Er lächelte sie an. »Sie sind sehr überzeugend und grimmig, nur nicht, wenn Sie lachen. Ich bin sehr froh darüber, daß Sie nicht wie ein Soldat aussehen.« »Wo ist der nächste Posten?« 99
»Bei den Schienen. Dort sind zwei Leute. Bitte biegen Sie da vorne wieder rechts ab, Bruce.« »Sie sind auch sehr überzeugend, Germaine.« Sie schwiegen wieder; sie hatten beide ihre Vornamen genannt. Bruce fühlte die Spannung zwischen ihnen, ein gutes Gefühl, warm wie frisches Brot. Aber was ist mit ihrem Mann. Wo ist er, und wie ist er. Warum ist er nicht hier bei ihr? »Er ist tot«, sagte sie ruhig. »Er starb vor vier Monaten an Malaria.« Durch die Überraschung, daß Germaine seine unausgesprochenen Fragen erraten und auch beantwortet hatte, war Bruce einen Augenblick sprachlos, dann brachte er nur ein »Es tut mir leid« hervor. »Dort ist der Posten«, sagte sie. »In der Hütte mit dem Strohdach.« Bruce hielt den Wagen an und schaltete den Motor aus. In die Ruhe hinein sprach sie wieder. »Er war ein guter zartfühlender Mann. Ich habe ihn nur ein paar Monate gekannt, aber er war ein guter Mann.« Sie sah auf einmal sehr klein aus, wie sie da neben ihm saß, von zunehmender Dunkelheit und Traurigkeit umgeben. Bruce fühlte, wie eine große Welle von Zärtlichkeit ihn überkam. Er wollte seinen Arm um sie legen, sie festhalten und sie vor ihrer Traurigkeit schützen. Er suchte nach Worten, aber noch ehe er sie gefunden hatte, richtete sie sich auf und sprach ganz sachlich. »Wir müssen uns beeilen, es ist schon dunkel.« Im Hotel war die Halle voll von Boussiers Angestellten. Haig hatte ein Maschinengewehr im Fenster des Obergeschosses aufgestellt, um die Hauptstraße zu sichern. Zwei Leute waren in den Küchenräumen postiert, um die Rückfront abzusichern. Die Zivilisten standen in kleinen Gruppen und unterhielten sich ruhig. Der Ausdruck vollkommenen, beinahe blinden Vertrauens in ihren Gesichtern verwirrte Bruce, als sie ihn ansahen. 100
»Alles unter Kontrolle, Mike!« fragte er brüsk. »Ja, Bruce. Wir müssen es schaffen, dieses Gebäude gegen jeden plötzlichen Angriff zu halten. De Surrier und Hendry unten am Bahnhof sollten auch keine besonderen Schwierigkeiten haben.« »Haben diese Leute«, dabei zeigte er auf die Zivilisten, »ihr Gepäck verladen?« »Es ist alles im Zug. Ich habe Ruffy veranlaßt, ihnen Lebensmittel von uns zu geben.« »Gut.« Bruce fühlte sich erleichtert. Soweit gab es keine Komplikationen. »Wo ist der alte Boussier?« »Drüben in seinem Büro.« »Ich habe noch etwas mit ihm zu besprechen.« Unaufgefordert begleitete Germaine Bruce, als er auf die Straße ging, und er freute sich darüber. Boussier blickte auf, als Bruce und Germaine in sein Büro traten. Der helle Schein der Petroleumlampe vertiefte die Falten in seinen Augenwinkeln und an seinem Mund und ließ seine rote Kopfhaut unter dem ordentlich gekämmten Haar durchscheinen. »Martin, du arbeitest doch nicht etwa noch«, rief Germaine. Er lächelte ihr zu, das ruhige Lächeln seines Alters. »Nichts Besonderes, meine Liebe. Ich räume nur noch ein paar Sachen auf. Bitte setzen Sie sich doch, Captain.« Er kam auf sie zu, nahm einen Stoß schwerer ledergebundener Geschäftsbücher vom Stuhl und packte sie in eine hölzerne Kiste auf dem Fußboden. Dann ging er zu seinem Stuhl zurück, öffnete eine Schublade seines Schreibtischs, holte eine Kiste Zigarren hervor und bot sie Bruce an. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, daß Sie hier sind, Captain. Diese letzten Monate waren nervenaufreibend. Der Zweifel, die Angst.« Er hatte ein Streichholz angezündet und hielt es Bruce hin, der sich vorbeugte, um 101
seine Zigarre anzuzünden. »Aber jetzt ist alles zu Ende. Ich habe ein Gefühl, als ob ein großes Gewicht von meinen Schultern genommen ist.« Dann wurde seine Stimme schärfer. »Aber Sie sind keinen Moment zu früh gekommen. Ich habe gerade vorhin gehört, daß dieser General Moses und seine Leute Senwati verlassen haben und auf unserer Straße nach Süden marschieren, noch etwa zweihundert Kilometer nördlich von hier. Bei ihrem jetzigen Tempo müßten sie morgen eintreffen.« »Wo haben Sie denn das gehört«, verlangte Bruce zu wissen. »Von einem meiner Leute, und fragen Sie mich nicht, woher er es weiß. Es gibt ein Nachrichtensystem in diesem Land, das selbst ich nach all diesen Jahren noch nicht begreife. Vielleicht von den Trommeln, die ich heute abend gehört habe. Ich weiß es nicht. Doch sind diese Nachrichten meist verläßlich.« »Ich habe nicht gedacht, daß sie schon so nahe sind«, murmelte Bruce. »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich es vielleicht doch riskiert, heute nacht noch wenigstens bis zur Brükke zu kommen.« »Ich glaube, daß ihre Entscheidung, die Nacht hier zu verbringen, korrekt war. Moses wird kaum die Nacht hindurch marschieren. Keiner seiner Männer würde das mitmachen. Außerdem ist die Straße von Senwati hierher drei Monate lang nicht ausgebessert worden und befindet sich in einem so schlechten Zustand, daß er meiner Meinung nach mindestens zehn bis zwölf Stunden braucht, um die Strecke zurückzulegen.« »Ich hoffe, daß Sie recht haben«, sagte Bruce besorgt. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht doch noch jetzt fahren sollten.« »Das wäre auch ein Risiko, Captain«, wandte Boussier ein. »Wir wissen, daß sich in der unmittelbaren Umgebung der Stadt Eingeborene aufhalten. Man hat sie gesehen. Die müssen ihre Ankunft bemerkt haben, und es ist leicht denkbar, daß sie die Geleise zerstört haben, um unsere Abreise zu verhindern. 102
Ich glaube immer noch, daß ihre Entscheidung die richtige ist.« »Ich weiß, ich weiß.« Bruce saß vornübergebeugt in seinem Stuhl, beunruhigt sog er an seiner Zigarre. Endlich lehnte er sich entspannt zurück. »Ich darf nichts riskieren. Ich werde einen Wachtposten am Damm aufstellen. Sollte dieser feine Herr Moses eintreffen, können wir ihn dort lange genug aufhalten, bis wir Ihre Leute im Zug haben.« »Das ist wahrscheinlich das Beste«, stimmte Boussier zu. Er machte eine Pause, sah zum offenen Fenster hin und senkte seine Stimme. »Es gibt noch eine andere Sache, Captain, die ich Ihnen ans Herz legen möchte.« »Ja?« »Es dürfte Ihnen bekannt sein, daß meine Firma hier in Port Reprieve hauptsächlich mit dem Schürfen von Diamanten aus den Lufirasümpfen beschäftigt war.« Bruce nickte. »Ich habe hier in meinem Safe«, Boussier zeigte mit seinem Daumen auf eine schwere Stahltür, die hinter seinem Schreibtisch in die Wand eingebaut war, »neuneinhalbtausend Karat hochwertiger Schmuckdiamanten und etwa sechsundzwanzigtausend Karat Industriediamanten.« »Das hatte ich erwartet.« Bruce sprach bewußt unbeteiligt. »Es wäre gut, wenn wir uns darüber einigen könnten, wie diese Steine mitgenommen werden sollten.« »Wie sind sie verpackt?« fragte Bruce. »In einem Holzkasten.« »Wie groß und wie schwer?« »Ich werde es Ihnen zeigen.« Boussier ging zum Safe, den Rücken ihnen zugewandt, und sie hörten das Drehen und Klicken der Zahnräder. Während Bruce wartete, fiel ihm auf, das Germaine seit ihrer Begrüßung durch Boussier kein Wort mehr gesprochen hatte. Er sah zu ihr hinüber und sie lächelte ihn an. Ich mag eine Frau, die weiß, wann sie den Mund zu halten hat. 103
Boussier öffnete jetzt die Tür des Safes und kam mit einer kleinen Holzkiste zum Schreibtisch. »Hier«, sagte er. Bruce betrachtete sie genau. 45 cm lang, 20 cm tief und 30 cm breit. Er hob den Kasten prüfend hoch. »Ungefähr zwanzig Pfund«, meinte er. »Der Deckel ist versiegelt.« »Ja«, stimmte Boussier zu und zeigte die vier Wachssiegel. »Gut«, nickte Bruce. »Ich möchte keine unnötige Aufmerksamkeit auf die Kiste lenken, indem ich einen Posten für sie abkommandiere.« »Das ist auch meine Meinung.« Bruce besah sich den Kasten noch ein paar Sekunden und fragte dann. »Wieviel sind diese Steine eigentlich wert?« Boussier zuckte die Schultern. »Etwa fünfhundert Millionen Francs.« Bruce war beeindruckt. Eine halbe Million Pfund Sterling. Das lohnte sich zu stehlen. Dafür lohnte es sich auch zu morden. »Ich schlage vor, Monsieur, daß Sie den Kasten in Ihrem Gepäck verstecken. Vielleicht unter Ihren Decken. Ich glaube kaum, daß Diebstahlsgefahr besteht, ehe wir den Knotenpunkt von Msapa erreichen. Ein Dieb hätte keine Fluchtmöglichkeit. Wenn wir erst einmal in Msapa angekommen sind, werde ich weitere Maßnahmen zur Sicherheit treffen.« »Sehr gut, Captain.« Bruce stand auf und sah auf seine Uhr. »Fast genau sieben Uhr. Ich werde jetzt besser gehen und den Posten am Damm aufstellen. Bitte sorgen Sie dafür, daß die Leute noch vor Morgengrauen im Zug sind.« »Selbstverständlich.« Bruce sah Germaine an, sie stand schnell auf. Er öffnete die Tür für sie und wollte ihr gerade folgen, als ihm noch etwas einfiel. 104
»Diese Missionsstation – St. Augustin heißt sie doch – ist wohl jetzt unbewohnt.« »Nein, das ist sie nicht.« Boussier sah beschämt aus. »Vater Ignatius ist noch dort und selbstverständlich auch die Patienten im Hospital.« »Besten Dank, daß Sie mir das mitteilen.« Bruces Stimme klang sarkastisch. »Es tut mir leid, Captain. Ich hatte es vergessen. Ich habe jetzt so viele Dinge, an die ich denken muß.« »Kennen Sie den Weg zur Mission?« fragte er Germaine brüsk. Sie hätten es ihm wenigstens sagen müssen. »Ja, Bruce.« »Nun, vielleicht sind Sie so gut, mir den Weg zu zeigen.« »Selbstverständlich.« Auch sie sah schuldbewußt drein. Bruce schlug die Tür von Boussiers Büro zu und ging mit großen Schritten zum Hotel, während Germaine neben ihm herlief und sich bemühte, Schritt zu halten. Du kannst dich auf niemanden verlassen, auf niemanden. Und dann sah er Ruffy vom Bahnhof auf ihn zukommen, wie ein großer Bär in der Dunkelheit. Mit ein paar Ausnahmen, korrigierte sich Bruce. »Hauptfeldwebel?« »Hallo, Boß.« »Dieser General Moses ist uns näher, als wir annahmen. Man sagt, daß er etwa zweihundert Kilometer nördlich von hier auf der Straße von Senwati ist.« Ruffy pfiff durch die Zähne. »Wollen Sie jetzt noch losfahren, Boß?« »Nein, aber ich möchte einen Posten mit einem Maschinengewehr auf dieser Seite des Dammes aufstellen. Wenn sie kommen, können wir sie dort lange genug aufhalten, um hier herauszukommen. Ich möchte, daß du das Kommando übernimmst.« »Ich kümmere mich sofort darum.« 105
»Ich fahre jetzt zur Mission. Dort ist noch ein weißer Priester. Während ich fort bin, übernimmt Leutnant Haig das Kommando.« »Okay, Boß.«
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10 »Es tut mir leid, Bruce. Ich hätte es Ihnen sagen müssen.« Klein und schuldbewußt saß Germaine in der Ecke im Wagen. »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, sagte Bruce, ohne es zu meinen. »Wir haben immer wieder versucht, Vater Ignatius dazu zu bewegen, in die Stadt zu kommen. Martin hat mehrfach mit ihm gesprochen. Aber er weigerte sich, von dort wegzugehen.« Bruce gab keine Antwort. Er lenkte den Wagen vorsichtig hinunter zum Damm. Kleine Nebelwolken stiegen aus dem Sumpf empor und zogen über die Zementmauer. Insekten leuchteten hell im Scheinwerferlicht auf und klatschten gegen die Windschutzscheibe. Der Chor der Frösche in dem Sumpf quäkte und quakte ohrenbetäubend. »Ich habe mich entschuldigt«, murmelte sie. »Ja. Das habe ich gehört«, sagte Bruce. »Und Sie brauchen es nicht noch mal zu tun.« Sie war still, und dann: »Haben Sie immer so schlechte Laune?« fragte sie in englisch. »›Immer‹ ist eines der Worte, die aus dem Sprachgebrauch gestrichen werden sollten.« »Da das nicht der Fall ist, werde ich fortfahren es zu benutzen. Sie haben meine Frage nicht beantwortet: Haben Sie immer so schlechte Laune?« »Ich mag einfach keine schiefen Sachen.« »Was bitte ist eine ›schiefe‹ Sache?« »Was jetzt gerade passiert ist. Ein Fehler. Eine Situation, die durch Schlamperei entstanden ist. Dadurch, daß jemand seinen Kopf nicht benutzt hat.« »Und Sie machen niemals schiefe Sachen, Bruce?« »Es ist kein sehr höflicher Ausdruck, Germaine. Junge Damen der Gesellschaft benutzen ihn besser nicht.« Bruce wech107
selte ins Französische über. »Und Sie machen niemals Fehler?« korrigierte sie sich. Bruce antwortete nicht. Das ist eigentlich ein Witz, dachte er. Niemals Fehler machen! Bruce Curry, der Versager schlechthin. Germaine hielt eine Hand vor den Bauch und setzte sich kerzengerade auf. »Bonaparte«, sagte sie. »Kalt, schweigend und unfehlbar.« »Das habe ich nicht gesagt«, begann Bruce sich zu verteidigen. Und dann sah er im Licht der Armaturenbeleuchtung den schelmischen Ausdruck in ihrem Gesicht und konnte sich nicht halten; er mußte grinsen. »Also gut, ich benehme mich wie ein Kind.« »Möchten Sie eine Zigarette?« fragte sie. »Ja, bitte.« Sie zündete sie an und gab sie ihm. »Sie mögen keine –« sie zögerte, »Fehler. Mögen Sie irgend etwas gerne?« »Eine Menge«, sagte Bruce. »Was zum Beispiel?« In diesem Augenblick fuhren sie vom Damm herunter, und Bruce gab Gas, um das steile Stück zur Straße schnell zu überwinden. »Ich mag es, auf einem Berg zu stehen, wenn der Wind weht, und ich mag den Geruch der See. Ich mag Sinatra, Hummer, Thermidor und das Lachen kleiner Mädchen. Ich mag den ersten Zug aus einer Zigarette, die ich an einem Holzfeuer anstecke, den Geruch von Jasmin, das Gefühl von Seide. Außerdem mag ich gerne morgens lange schlafen. Schatten von Bäumen in einem Wald mag ich gern. Und dann mag ich selbstverständlich Geld. Aber ganz besonders mag ich Frauen, die nicht zu viele Fragen stellen.« »Ist das alles?« »Nein. Aber es ist immerhin ein Anfang.« 108
»Und abgesehen von – Fehlern, was gibt es sonst noch für Dinge, die Sie nicht leiden können?« »Frauen, die zu viele Fragen stellen.« Und hier sah er sie lächeln. »Egoismus außer meinem eigenen, Mohrrübensuppe, Politik, blonde Schamhaare, schottischen Whisky, klassische Musik und Katerstimmung.« »Ich bin sicher, daß das nicht alles ist.« »Nein, noch lange nicht.« »Sie sind äußerst gefühlsbetont. Alle diese Dinge haben etwas mit Gefühlen zu tun.« »Einverstanden.« »Sie sprechen niemals von anderen Menschen. Warum?« »Muß ich hier zur Missionsstation abbiegen?« »Ja. Fahren Sie langsam, die Straße ist schlecht. Warum sprechen Sie niemals über Ihr Verhältnis zu anderen Menschen?« »Warum stellen Sie so viele Fragen? Vielleicht erzähle ich es Ihnen einmal.« Sie war still und nach einer Weile sagte sie sanft: »Und was erwarten Sie vom Leben – nur die Dinge, von denen Sie eben gesprochen haben? Ist das alles, was Sie wollen?« »Nein. Nicht einmal die. Ich will nichts. Erwarte nichts. So kann ich nicht enttäuscht werden.« Plötzlich wurde sie wütend. »Sie benehmen sich nicht nur wie ein Kind, Sie sprechen auch wie eines.« »Noch etwas, das ich nicht mag: Kritik.« »Sie sind jung. Sie sind intelligent. Sie sehen gut aus –« »Danke, das ist schon besser.« »– und Sie sind ein Narr.« »Das ist nicht so gut. Aber regen Sie sich deshalb nicht auf.« »Keine Angst, das werde ich schon nicht.« Sie war jetzt wütend auf ihn. »Von mir aus können Sie –« Sie suchte nach etwas Furchtbarem. 109
»Von mir aus können Sie direkt aus dem Wasser springen.« »Sie meinen ›in das Wasser springen‹?« »Hinein, heraus, rückwärts, seitwärts, mir ist es egal.« »Gut. Es freut mich, daß wir uns darüber im klaren sind. Dort ist die Mission. Ich kann Licht sehen.« Sie gab ihm keine Antwort, sondern saß schweratmend in ihrer Ecke und zog so stark an ihrer Zigarette, daß das glühende Ende das Innere des Fords erleuchtete. Die Kirche lag in Dunkelheit, aber dahinter und an der Seite entlang sah man ein langes niedriges Gebäude. Bruce sah einen Schatten an einem der Fenster vorübergehen. »Ist das das Hospital?« »Ja«, sagte sie abrupt. Bruce hielt den Ford neben der kleinen Veranda an und schaltete Licht und Motor ab. »Kommen Sie mit?« »Nein.« »Ich möchte gerne, daß Sie mich Vater Ignatius vorstellen.« Einen Augenblick lang rührte sie sich nicht. Dann riß sie die Tür auf und marschierte die Treppen der Veranda hinauf, ohne sich nach Bruce umzusehen. Er folgte ihr durch das Büro, einen Gang hinunter, an der Klinik und dem Operationszimmer vorbei in den Krankensaal. »Ah, Madame Cartier.« Vater Ignatius verließ das Bett, über das er sich gerade gebeugt hatte und kam auf sie zu. »Ich habe gehört, daß der Zug eingetroffen ist, der Port Reprieve entsetzen soll. Ich dachte, Sie wären schon fort.« »Noch nicht, Vater. Morgen früh.« Ignatius war groß, über einmeterachtzig schätzte Bruce, und dünn. Die Ärmel seiner braunen Kutte waren kurz geschnitten, die einzige Konzession, die er dem Klima machte. Seine nackten Arme schienen nur aus Knochen zu bestehen, ohne Haare, die blauen Venen traten stark hervor. Große knöcherne Hände und grosse knöcherne Füße in braunen Sandalen. Wie 110
bei den meisten großen dünnen Männern waren seine Schultern gerundet. Sein Gesicht hätte man sich nicht eingeprägt, ein normales Gesicht mit einer stählernen Brille, die auf einer ziemlich formlosen Nase saß. Weder zu jung noch zu alt. Fast farblose Haare mit etwas Grau darin. Aber ihn umgab etwas von der gelassenen Weisheit, die man manchmal bei Leuten findet, die diesem Beruf nachgehen. Er wandte sich jetzt Bruce zu, wobei er ihn vorsichtig durch seine Brille musterte. »Guten Abend, mein Sohn.« »Guten Abend, Vater.« Bruce fühlte sich unbehaglich. Er fühlte sich immer so in der Gegenwart solcher Menschen. Könnte ich nur, wünschte er, könnte ich doch nur einer Sache in meinem Leben so gewiß sein, wie dieser Mann über alles. »Vater, das ist Captain Curry.« Germaines Ton war kalt. Aber dann lächelte sie plötzlich wieder. »Ihn interessieren Menschen im allgemeinen gar nicht. Das ist der Grund, warum er hierher gekommen ist, um Sie in Sicherheit zu bringen.« Vater Ignatius streckte seine Hand aus, und Bruce fand, daß seine Haut kühl und trocken war, und er wurde sich der Feuchtigkeit seiner eigenen bewußt. »Das ist äußerst liebenswürdig von Ihnen«, sagte er lächelnd; er erkannte sofort die Spannung zwischen den beiden. »Ich möchte nicht undankbar sein, aber ich kann bedauerlicherweise Ihr Angebot nicht annehmen.« »Wir haben Berichte, wonach eine Horde von bewaffneten Banditen sich nur etwa zweihundert Kilometer nördlich von hier aufhält. Sie werden in einem oder zwei Tagen hier eintreffen. Sie befinden sich in großer Gefahr, Vater. Diese Leute sind gnadenlos«, drang Bruce in ihn ein. »Ja«, nickte Vater Ignatius. »Das habe ich auch gehört. Und ich werde das tun, was ich für notwendig halte. Ich werde meine Leute und die Patienten in den Busch bringen.« »Die Banditen werden Ihnen folgen«, sagte Bruce. »Das glaube ich nicht.« Ignatius schüttelte den Kopf. »Sie 111
werden ihre Zeit nicht vergeuden. Sie sind auf Beute aus, nicht auf kranke Menschen.« »Sie werden Ihre Mission niederbrennen.« »Wenn sie das tun, dann werden wir sie wieder aufbauen, wenn sie weg sind.« »Der Busch ist voll von Balubas. Sie werden sich eines Tages in einem Kochtopf wiederfinden«, versuchte Bruce einen neuen Weg. »Nein.« Und wieder schüttelte Ignatius den Kopf. »Fast jedes Mitglied des Stammes war zu irgendeiner Zeit Patient in diesem Hospital. Ich habe von ihnen nichts zu befürchten. Sie sind meine Freunde.« »Schauen Sie her, Vater. Es hat keinen Zweck, daß wir diskutieren. Mein Befehl lautet, daß ich Sie nach Elisabethville zurückbringen soll. Ich muß darauf bestehen.« »Und meine Befehle lauten, daß ich hierzubleiben habe. Sie werden zugeben, daß die meinen von einer höheren Autorität kommen als die Ihren.« Ignatius lächelte mild. Bruce öffnete den Mund, um weiter zu argumentieren, aber dann lachte er. »Nein. Das will ich nicht bestreiten. Brauchen Sie irgend etwas, womit ich Ihnen helfen könnte?« »Medizin?« fragte Ignatius. »Etwas gegen Malaria, Morphium und Verbandsmaterial. Das ist nicht sehr viel, fürchte ich.« »Das würde uns schon helfen. Und wie sieht es mit Lebensmitteln aus?« »O ja, ich werde Ihnen alles geben, was ich entbehren kann«, versprach Bruce. Eine der Patientinnen am Ende des Saals schrie plötzlich so laut, daß Bruce zusammenzuckte. »Sie wird vor Anbrach des Morgens sterben«, erklärte Ignatius leise. »Ich kann nichts mehr für sie tun.« »Was fehlt ihr denn?« »Sie hat seit zwei Tagen Wehen. Es ist irgend etwas Kompli112
ziertes.« »Können Sie denn nicht operieren?« »Ich bin kein Arzt, mein Sohn. Ehe der Ärger hier losging, hatten wir einen. Aber er ist nicht mehr hier. Er ist nach Elisabethville zurückgegangen. Nein«, seine Stimme schien einen Augenblick gedrückt von allem menschlichen Leid. »Nein, sie wird sterben müssen.« »Haig«, sagte Bruce. »Pardon?« »Vater, Sie haben doch einen Operationsraum hier. Ist er mit allen Instrumenten versehen?« »Ja, ich glaube schon.« »Narkosemittel?« »Wir haben Chloroform und Pentothal.« »Gut«, sagte Bruce. »Ich bringe Ihnen einen Doktor. Los, Germaine.«
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11 »Diese Hitze. Diese verdammte Hitze.« Wally Hendry strich sich mit dem schmutzigen Taschentuch über die Stirn und warf sich auf die grüne Lederbank. »Ist dir aufgefallen, daß Curry mich und dich hier im Zug läßt, während er Haig im Hotel untergebracht hat und selbst mit der kleinen Französin abgehauen ist? Es spielt gar keine Rolle, daß ich und du hier in dieser Kiste langsam kochen, während er und sein Freund Haig im Luxus schwelgen. Hast du das bemerkt, he?« »Irgend jemand muß im Zug bleiben, Wally«, sagte André. »Ja. Aber ist dir aufgefallen, wer das ist? Immer du und ich. Diese feinen Herren halten zusammen. Das muß man ihnen lassen. Die passen schon auf sich auf.« Er wandte seine Aufmerksamkeit dem offenen Abteilfenster zu. »Die Sonne ist schon untergegangen, und noch immer ist es so heiß, daß man Eier backen kann. Ich könnte einen Drink gebrauchen.« Er schnürte seine Stiefel auf, zog die Socken aus und betrachtete angewidert seine großen weißen Füße. »Diese Hitze hat meine Sportflechte wieder losgehen lassen.« Er spreizte die Zehen und zog die lose hängende Haut ab. »Hast du noch etwas von der Salbe übrig, André?« »Ja. Ich gebe sie dir gleich.« André öffnete seinen Rucksack, nahm eine Tube heraus und ging zu Wally hinüber. »Reib mich ein«, befahl Wally, legte sich zurück und streckte ihm die Füße hin. André nahm sie in den Schoß, setzte sich auf die Bank und begann mit der Arbeit. Wally zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch gegen die Decke und beobachtete, wie er sich langsam wieder auflöste. »Zum Teufel, ich könnte einen Drink gebrauchen. Ein eiskaltes Bier mit so viel Schaum darauf.« Er zeigte vier Finger, dann stützte er sich auf einen Ellenbogen und sah André zu, der die Salbe zwischen seine langen wunden Zehen strich. »Na, wie geht’s denn.« 114
»Fast fertig, Wally.« »Ist es schlimm?« »Nicht so schlimm wie das letztemal. Es ist diesmal noch nicht feucht.« »Es juckt, daß es kaum zum Aushalten ist«, sagte Wally. André gab keine Antwort, und Wally stieß ihm mit dem flachen freien Fuß in die Rippen. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« »Ja, du sagtest, es juckt.« »Also, dann antworte gefälligst, Wenn ich mit dir rede. Ich spreche schließlich nicht zu mir selbst.« »Es tut mir leid, Wally.« Wally grunzte und war ruhig. Nach einer Weile sagte er: »Magst du mich, André?« »Das weißt du doch, Wally.« »Wir sind doch Freunde, nicht wahr, André?« »Natürlich, das weißt du doch, Wally.« Wallys Gesicht nahm auf einmal einen gerissenen Ausdruck an, die Langeweile verschwand einen Augenblick lang aus seinem Gesicht. »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich dich bitte, solche Sachen für mich zu machen, wie zum Beispiel hier das Zeug auf meine Füße zu streichen?« »Durchaus nicht. Es ist ein Vergnügen, Wally.« »Es ist ein Vergnügen, Ja?« Jetzt war Wallys Stimme spitz geworden. »Es macht dir Spaß, das zu tun.« Unsicher sah ihn André an. »Es macht mir nichts aus.« Seine weichen, kaffeebraunen Augen hingen an den schlitzartigen Mongolenaugen in Wallys Gesicht. »Du berührst mich gern, André?« André hörte auf mit der Salbe zu arbeiten und wischte sich nervös die Finger am Handtuch ab. »Ich habe gerade gefragt, ob du mich gerne berührst, André. Wünschst du manchmal, daß ich dich berühre?« André ver115
suchte aufzustehen. Aber Wallys rechter Arm schoß hervor, und seine Hand packte Andrés Nacken und drückte ihn auf die Bank zurück. »Antworte mir, verdammt noch mal. Magst du das?« »Du tust mir weh, Wally«, flüsterte André. Wally grinste. Er löste seinen Griff und bohrte seine Finger unterhalb des Nackens tief in Andrés Fleisch. »Bitte, Wally, bitte«, jammerte André. Sein Gesicht lag beinahe auf der Bank. »Du hättest’s doch gerne. Komm schon. Antworte.« »Ja, schon gut, ja, bitte tu mir nicht weh, Wally.« »So. Und jetzt erzähle mir mal genau, mein Puppenjunge. Du hast es doch schon mal gemacht, nicht wahr? Ich meine richtig.« Wally hatte sein Knie in Andrés Rücken gebohrt und drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht nieder. »Nein«, schrie André. »Niemals. Bitte Wally, tu mir nicht weh.« »Du lügst mich an, André, das solltest du nicht tun.« »Also gut, ich habe gelogen.« André versuchte, seinen Kopf herumzudrehen, aber Wally drückte ihn zurück auf die Bank. »So, nun erzähl mir mal alles. Mach schon, Puppenjunge.« »Es war nur ein einziges Mal, in Brüssel.« »Wer war denn dieser Bandit?« »Mein Arbeitgeber. Ich arbeitete für ihn. Er hatte ein Exportgeschäft.« »Hat er dich herausgeworfen, Puppenjunge? Hat er dich rausgeworfen, als er dich satt hatte?« »Nein, du verstehst nicht!« André wurde plötzlich heftig. »Das kannst du nicht verstehen. Er hat sich um mich gekümmert. Ich hatte meine eigene Wohnung, meinen eigenen Wagen, alles. Er hätte sich nicht von mir losgesagt, wenn nicht etwas passiert wäre. Er konnte nichts dazu. Er war mir treu. Ich schwöre es dir. Er hat mich geliebt.« Wally lachte sich schief. Es machte ihm Spaß. 116
»Er hat dich geliebt. Und Jesus hat geweint.« Er warf seinen Kopf zurück und das Lachen schien ihn fast zu ersticken. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er fragen konnte: »Und was ist denn passiert zwischen dir und deinem teuren, treuen Geliebten? Warum habt ihr denn nicht geheiratet und eine Familie gegründet, wie?« Bei dem Gedanken an diesen ungeheuren Witz brach Wally vor Lachen zusammen. »Es gab eine Untersuchung. Die Polizei – oh, du tust mir weh, Wally.« »Sprich nur weiter, mein Fräulein!« »Die Polizei. Er konnte nicht anders handeln. Er war ein Mann mit einer gesellschaftlichen Position. Er konnte sich keinen Skandal leisten. Es gab keinen anderen Ausweg – den gibt es nie für uns. Es ist hoffnungslos, für uns gibt es kein Glück.« »Hör mit dem Stuß auf, Puppenjunge. Erzähl mir nur die Geschichte.« »Er fand für mich einen Job in Elisabethville, gab mir Geld, bezahlte den Flug und alles. Er tat, was er konnte. Er kümmerte sich um mich, und er schreibt mir noch immer.« »Das ist schön, richtige, echte Liebe. Du rührst mich beinahe zu Tränen.« Dann wurde Wallys Gelächter schärfer. »Nun hör mir mal zu, Puppenjunge, und merke es dir gut. Ich mag keine Schwulen!« Und wieder drückte er mit seinen Fingern in Andrés Nacken, und dieser schrie auf. »Jetzt will ich dir mal eine Geschichte erzählen. Als ich in einer Erziehungsanstalt war, da war ein Schwuler, der versucht hat, mit mir etwas anzufangen. Eines Tages ging ich mit ihm in den Duschraum mit einem Rasiermesser. Einem ganz gewöhnlichen Rasiermesser. Zwanzig andere Jungens sangen und schrien in ihren Duschkabinen. Er schrie genauso wie die anderen, wenn sie sich unter das kalte Wasser stellten. Niemand bemerkte irgend etwas. Er wollte eine Frau sein. Da hab 117
ich ihm geholfen.« Hendrys Stimme wurde heiser und gierig beim Gedanken daran. »Mein Gott«, flüsterte er. »Mein Gott, das Blut!« André weinte nun, sein ganzer Körper schüttelte sich. »Ich werde es nie tun, bitte, Wally. Ich kann nichts dafür, es war ja nur das eine Mal. Bitte, laß mich los.« »Wie wär’s denn. Soll ich dir vielleicht auch helfen, André?« »Nein«, schrie André. Aber Hendry hatte schon das Interesse an ihm verloren; er ließ ihn auf der Bank liegen und griff nach seinen Socken. »Ich hol mir jetzt irgendwo ein Bier.« Er schnürte seine Schuhe zu und stand auf. »Denke nur immer daran«, sagte er düster, während er über dem Jungen auf der Bank stand. »Komm nur nicht mehr auf solche Ideen bei mir, mein Junge.« Er nahm sein Gewehr auf und ging in den Gang. Wally fand Boussier auf der Veranda des Hotels, wo er mit einer Gruppe seiner Leute sprach. »Wo ist Captain Curry?« fragte er. »Er ist zur Mission gefahren.« »Wann fuhr er fort?« »Vor etwa zehn Minuten.« »Gut«, sagte Wally. »Wer hat den Schlüssel zur Bar?« Boussier zögerte. »Der Captain hat angeordnet, daß die Bar geschlossen bleiben soll.« Wally nahm sein Gewehr von der Schulter. »Also, mein Freund, mach jetzt keinen Ärger.« »Es tut mir leid, Monsieur, aber ich muß den Befehlen des Captains gehorchen.« Eine Minute lang starrten sie einander an, und der ältere Mann zeigte kein Zeichen von Schwäche. »Wie Sie meinen«, sagte Wally und ging breitbeinig durch die Halle zur Tür der Bar. Er hob seinen Fuß hoch und trat 118
einmal mit voller Kraft gegen das Schloß, das diesem Angriff nicht standhielt. Die Tür flog weit auf, und Wally ging zur Bar, legte sein Gewehr darauf und griff nach hinten in die Regale, die voll von Simbabier waren. Die erste Flasche trank er, ohne sie abzusetzen. Er rülpste genüßlich und griff dann nach der zweiten, machte den Deckel mit dem Öffner auf und betrachtete den Schaum, der aus dem Flaschenhals hoch stieg. »Hendry.« Wally drehte sich um. Mike Haig stand in der Tür. »Hallo, Mike«, grinste er. »Was tust du hier eigentlich?« fragte Mike. »Na, wonach sieht es denn wohl aus?« Wally hob die Flasche, als ob er Mike salutierte, setzte sie dann an den Mund und trank. »Bruce hat strikte Anweisung gegeben, daß sich niemand hier aufzuhalten hat.« »Ach zum Teufel, Haig, hör auf, dich wie ein altes Weib zu benehmen.« »Raus mit dir, Hendry. Ich habe hier das Kommando.« »Mike«, Wally grinste ihn an. »Willst du, daß ich vor Durst krepiere?« Er lehnte sich mit seinen Ellenbogen auf die Bar. »Gib mir noch ein paar Minuten. Laß mich meinen Drink ausleeren.« Mike Haig sah hinter sich in der Halle, in der eine interessierte Gruppe von Zivilisten sich die Hälse verrenkten, um in die Bar zusehen. Er schloß die Tür, ging durch den Raum und stellte sich Hendry gegenüber auf. »Zwei Minuten, Hendry«, stimmte er mit unfreundlicher Stimme zu, »und dann raus mit dir.« »Du bist kein schlechter Junge, Mike. Wir haben uns bloß immer falsch angefaßt. Ich sage dir das, es tut mir leid für uns beide.« »Trink aus«, sagte Mike. Ohne sich umzudrehen griff Wally 119
nach hinten und nahm eine Flasche Remy Martin Cognac vom Regal. Er zog den Korken mit seinen Zähnen heraus, nahm mit seiner freien Hand ein dickbauchiges Cognacglas und füllte ein wenig der bernsteinfarbenen, öligen Flüssigkeit hinein. »Leiste mir Gesellschaft, Mike«, sagte er und schob das Glas über die Bar auf Haig zu. Zuerst verzog Mike keine Miene, aber als er auf das Glas starrte, begann sein Gesicht langsam zu zerfallen. Er befeuchtete die Lippen, sah wieder älter und müde aus. Mit letzter Kraft wandte er die Augen vom Glas ab. »Zum Teufel mit dir, Hendry.« Seine Stimme war unnatürlich leise. »Du solltest in der Hölle schmoren.« Er schlug nach dem Glas, schleuderte es von der Theke, und es zerschellte an der Wand. »Habe ich irgend etwas falsch gemacht, Mike?« fragte Hendry sanft. »Schließlich habe ich dir nur einen Drink angeboten. Das war alles.« Der Geruch des vergossenen Cognacs war scharf, fruchtig, mit dem warmen Geruch von Trauben. Mike feuchtete abermals seine Lippen an. Sein Speichel lief unter der Zunge zusammen und eine unbändige Gier stieg von seinem Magen hoch, breitete sich aus und betäubte ihn. »Zum Teufel mit dir«, flüsterte er. »O verdammt, verdammt«, beschwor er Hendry jetzt beinahe, der ein anderes Glas füllte. »Wie lange ist es her, Mike? Ein Jahr, zwei Jahre? Versuch doch mal ein bißchen. Nur einen Schluck. Denke daran, wieviel Kraft es dir gibt. Na los, alter Junge. Du bist müde und hast schwer gearbeitet. Nur einen – na, hier ist er. Trink nur den einen mit mir.« Mike wischte sich mit der Hand über den Mund und Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Oberlippe. Kleine glänzende Tropfen von Schweiß traten unter der irren Sucht 120
seines Körpers aus der Haut. »Also los, mein Junge.« Wallys Stimme war heiser und erregt, immer wieder verspottete und versuchte sie Mike. Mikes Hand griff nach dem Glas, aus freien Stücken. Er hob es an die Lippen, die plötzlich schlaff waren und zitterten. In seinen Augen schimmerte gleichzeitig Verachtung und Begierde. »Nur den einen«, flüsterte Hendry. »Nur den einen.« Mit einem plötzlichen wilden Ruck setzte Mike das Glas an und trank es mit einem Schluck aus. Dann hielt er es mit beiden Händen, seinen Kopf darübergebeugt. »Ich hasse dich, mein Gott, ich hasse dich«, sagte er zu Hendry und zu sich selbst und zu dem leeren Glas. »So ist’s recht, mein Junge«, krächzte Wally. »Das ist ein Kerl! Los, ich schenke dir nach.«
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12 Bruce kam durch die Eingangstür des Hotels, und Germaine bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. In der Halle waren etwa ein Dutzend Leute, eine ungewisse Spannung lag in der Luft. Boussier ging schnell auf Bruce zu. »Es tut mir leid, Captain, ich konnte sie nicht aufhalten. Der eine, der mit den roten Haaren, war unbändig. Er hat seine Maschinenpistole im Anschlag, und ich glaube, er war auch imstande, sie zu benutzen.« »Wovon reden Sie eigentlich?« fragte ihn Bruce, aber noch ehe Boussier antworten konnte, hörte man das Bellen von Hendrys Gelächter hinter der Tür in der linken Ecke der Halle. Es war die Tür zur Bar. »Sie sind da drin«, sagte ihm Boussier. »Und zwar schon seit einer guten Stunde.« »Bei allen Teufeln«, schwor Bruce, »und das jetzt. Verdammt noch mal, dieses dreckige Schwein.« Er rannte fast durch den Raum und stieß die Tür weit auf. Hendry stand hinten an der Wand, ein Cognacglas in einer Hand, seine Maschinenpistole in der anderen. Er hielt die Maschinenpistole am Kolben und zeichnete mit ihr undeutliche Kreise in die Luft. Mike Haig baute auf der Bar eine Pyramide aus Gläsern. Gerade in diesem Augenblick stellte er das letzte Glas auf die Spitze. »Hallo, Bruce, alter Junge. Du Strolch«, begrüßte er Bruce und machte eine einladende Handbewegung. »Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen. Du kannst auch mal ein paar Schuß probieren. Aber zuerst Wally. Er hat den ersten Schuß. Man muß sich an die Regeln halten. Kein Betrug. Eine vollkommen demokratische Angelegenheit. Jeder hat die gleichen Rechte. Der höhere Rang zählt nicht. So ist es doch, nicht wahr, Wally?« Haigs Gesicht war aufgedunsen. Es sah so aus, 122
als ob es sich auflöste und die letzten Konturen verlor. Seine Lippen waren weich und schlaff. Seine Wangen hingen herunter wie die Brüste einer alten Frau, und seine Augen waren feucht. Er nahm ein Glas, das neben der Pyramide stand. Dieses Glas war fast voll, und eine Flasche Remy-Martin stand daneben. »Ein sehr guter alter Cognac, wirklich ganz exquisit.« Die letzten beiden Worte kamen nicht mehr ganz klar heraus, so daß er sie langsamer wiederholte. Dann grinste er Bruce glasig an, und seine Augen schwammen bereits. »Aus dem Weg, Mike,«, sagte Hendry, hob seine Maschinenpistole mit einer Hand hoch und zielte auf die aufgestapelten Gläser. »Wenn du triffst, fällt sie herunter«, jauchzte Haig, »und wenn sie herunterfällt, gewinnst du eine Kokosnuß. Na, dann mal los, altes Haus.« »Hendry, Schluß damit«, schnappte Bruce. »Zum Teufel, du kannst mich mal«, antwortete Hendry und schoß. Der Rückstoß des Gewehrs warf ihn gegen die Wand. Die Glaspyramide zersprang zu einem ganzen Haufen von Scherben, und der Raum war vom Lärm des Gewehrfeuers erfüllt. »Geben Sie dem Gentleman eine Kokosnuß«, krähte Mike. Mit drei schnellen Schritten ging Bruce durch den Raum und riß Hendry die Maschinenpistole aus der Hand. »So, du besoffener Affe, das ist genug.« »Hau ab und scheiß dich an«, grölte Hendry. Er massierte sein Handgelenk, das das Gewehr verdreht hatte. »Captain Curry«, sagte Haig hinter der Bar. »Sie haben gehört, was mein Freund gesagt hat. Sie sollen gehen und sich anscheißen.« »Halt’s Maul, Haig.« »Diesmal rechne ich mit dir ab, Curry«, grollte Hendry. »Du hast mich jetzt lange genug herumkommandiert. Jetzt mache 123
ich dich ein für allemal fertig.« »Wollen Sie die Freundlichkeit haben, Captain Curry, meinem Freunde aus dem Wege zu gehen?« sang Mike Haig. »Er ist schließlich kein indischer Elefant, sondern mein Blutsbruder. Ich werde nicht gestatten, daß Sie ihn weiter verfolgen.« »Also los, Curry. Komm schon«, sagte Wally. »Gut so, Wally. Mach ihn fertig.« Haig hatte sein Glas wieder gefüllt während er sprach. »Laß dich nicht weiter von ihm beleidigen.« »Also los, Curry.« »Du bist betrunken«, sagte Bruce. »Los, red nicht so viel, Mann. Oder soll ich anfangen?« »Nein, das brauchst du nicht«, versicherte ihm Bruce und erhob im gleichen Augenblick den Maschinengewehrkolben und schlug ihn damit hart unters Kinn. Hendrys Kopf schleuderte zurück, und er stolperte rückwärts gegen die Wand. Bruce sah in seine Augen. Sie waren völlig verglast. »Der hat genug«, konstatierte er. Er ergriff Hendry an der Schulter und warf ihn in einen der Sessel. Ich muß zu Haig, ehe er noch mehr von dem Schnaps trinkt, dachte er. Ich habe keine Zeit, nach Ruffy zu schicken, und ich kann den Kerl hier nicht in meinem Rücken lassen, während ich mich mit Haig beschäftige. »Germaine«, rief er. Sie stand noch in der Tür und kam zu ihm. »Können Sie mit einer Pistole umgehen?« Sie nickte. Bruce zog seine Smith & Wesson aus dem Halfter und gab sie ihr. »Erschießen Sie diesen Mann, wenn er versucht, aus dem Stuhl aufzustehen. Stellen Sie sich hierher, hier kann er Sie nicht erreichen.« »Bruce –« sagte sie erschrocken. »Er ist ein gefährliches Tier. Gestern hat er zwei kleine Kinder umgebracht, und wenn Sie ihm Gelegenheit dazu geben, wird er das gleiche mit Ihnen tun. Sie müssen ihn so lange hier 124
festhalten, bis ich mit dem anderen fertig bin.« Sie hob die Pistole hoch und hielt sie mit beiden Händen. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst. »Können Sie es tun?« fragte Bruce. »Jetzt kann ich es«, sagte sie und spannte den Hahn. »Hörst du mich, Hendry.« Bruce nahm einen Büschel Haare und zog seinen Kopf hoch. »Sie legt dich um, wenn du diesen Stuhl verläßt – hast du mich verstanden? Sie wird dich umlegen.« »Scheißt euch an. Du und deine kleine französische Hure, scheißt euch beide an. Genau das habt ihr beide den ganzen Abend über in dem Auto getrieben. Ein bißchen Versteckspielen am Flußufer – was?« Wut stieg in Bruce hoch und zwar so plötzlich, daß sie ihn fast überwältigte. Er riß so stark an Hendrys Haar, daß er fühlte, wie es sich von der Haut löste. Hendry schrie vor Schmerz auf. »Halt deine dreckige Fresse, oder ich bring’ dich um.« Ihm war es ernst. Und plötzlich wußte auch Hendry, daß er es ernst meinte. »Okay, zum Teufel noch mal, okay. Laß mich in Ruhe.« Bruce ließ ihn los und richtete sich auf. »Es tut mit leid, Germaine.« »Das ist schon in Ordnung. Gehen Sie zu dem anderen.« Bruce ging zur Bar, und Haig beobachtete ihn. »Was willst du, Bruce? Komm, trink einen.« Er war nervös. »Komm, trink einen. Wir trinken alle einen. Ein schöner, sauberer Spaß, Bruce. Reg dich nicht auf.« »Du wirst nichts mehr trinken. Im Gegenteil. Du wirst genau das Gegenteil tun«, sagte Bruce, als er um die Bar herumging. Haig wich vor ihm zurück. »Was willst du tun?« »Das werde ich dir schon zeigen«, sagte Bruce und ergriff ihn am Handgelenk, drehte schnell den Arm um und hob ihn 125
zwischen die Schulterblätter. »Mensch, Bruce, laß das. Ich habe meinen Drink verschüttet.« »Gut«, sagte Bruce und schlug ihm das leere Glas aus der Hand. Haig begann Widerstand zu leisten. Er war noch immer ein kräftiger Mann, aber der Alkohol hatte ihn geschwächt, und Bruce drehte den Arm noch mehr um und zwang ihn auf die Knie. »So, nun komm schon, mein Junge«, sagte Bruce und ging mit ihm zur Hintertür der Bar. Dann griff er mit seiner freien Hand um Haig herum, drehte den Schlüssel im Schloß und öffnete die Tür. »Hier durch«, sagte er und stieß Mike in die Küche. Er schlug die Tür hinter sich zu, ging zum Spülbecken und zog Haig mit sich. »Also, komm schon, Haig. Raus damit«, sagte er und änderte schnell seinen Griff, um Haigs Kopf über das Becken zu bekommen. Ein Geschirrtuch hing neben dem Becken. Bruce drehte es zu einer Kugel zusammen, öffnete mit seinem Daumen Haigs Mund und quetschte ihm das Handtuch zwischen die Zähne. »Und jetzt alles raus.« Er drückte seine Finger gegen Haigs Hals, und dann kam es herausgeschossen, spritzte über seine Hände, und er mußte mit seiner eigenen Übelkeit kämpfen, während er Haig bearbeitete. Als er mit dieser Prozedur fertig war, drehte er den Kaltwasserhahn auf, hielt Haigs Kopf darunter und wusch ihm selbst das Gesicht. »So, und jetzt habe ich einen kleinen Job für dich, Haig.« »Laß mich in Ruhe, zum Teufel mit dir«, stöhnte Haig. Seine Stimme war unter dem laufenden Wasserhahn kaum zu verstehen. Bruce riß ihn hoch und lehnte ihn gegen die Wand. »Auf der Missionsstation liegt eine Frau in den Wehen. Sie stirbt, Haig. Sie muß sterben, wenn du nicht etwas dagegen tust.« 126
»Nein«, flüsterte Haig. »Nein, nicht das. Das nicht schon wieder.« »Ich fahre dich hin.« »Nein, bitte, nur das nicht. Ich kann nicht – verstehst du denn nicht, ich kann nicht.« Die kleinen roten und purpurnen Venen in seiner Nase und seinen Backen traten deutlich aus seinem blassen Gesicht hervor. Bruce schlug ihm mit der offenen Hand in Gesicht. Das Wasser spritzte aus Mikes Haar, als sein Kopf zurückschlug. »Nein«, murmelte er. »Bitte, Bruce, bitte.« Bruce schlug noch einmal hart zu. Er beobachtete ihn genau, und endlich sah er das erste Zeichen von Wut aufsteigen. »Zum Teufel mit dir, Bruce Curry, scher dich zum Teufel.« »Das ist besser«, freute sich Bruce, »ich danke Gott dafür.« Er kam mit Haig wieder in die Bar zurück. Germaine stand noch immer vor Hendry, die Pistole in der Hand. »Kommen Sie, Germaine, Sie können das Ding da lassen. Um den kümmere ich mich, wenn wir zurückkommen.« Als sie durch die Halle gingen, fragte Bruce Germaine: »Können Sie den Ford fahren?« »Ja.« »Gut«, sagte Bruce. »Hier sind die Schlüssel. Ich setze mich mit Haig nach hinten. Fahren Sie uns zur Missionsstation.« Als sie die Eingangsstufen des Hotels hinuntergingen, verlor Haig beinahe das Gleichgewicht, aber Bruce fing ihn auf und trug ihn halb zum Wagen. Er schob ihn auf den Rücksitz und setzte sich neben ihn. Germaine setzte sich hinters Steuer, startete und fuhr eine elegante Kehrtwendung auf der Straße. »Du kannst mich nicht zwingen, das zu tun. Ich kann es nicht, ich kann es einfach nicht«, flehte Haig. »Wir werden sehen«, sagte Bruce. »Du hast keine Ahnung, wie das ist, das kannst du nicht wissen. Sie wird mir auf dem Tisch sterben.« Er streckte seine Hände mit den Handflächen nach unten aus. »Sieh sie dir an, 127
wie soll ich es damit schaffen?« Seine Hände zitterten stark. »Sie muß sowieso sterben«, sagte Bruce mit harter Stimme. »Dann kannst du ihr wenigstens dabei behilflich sein, daß es schnell vorüber ist.« Haig nahm seine Hand zum Mund und fuhr sich über die Lippen. »Kann ich einen Drink haben, Bruce, das hilft. Wenn du mir einen Drink gibst, will ich es versuchen.« »Nein«, sagte Bruce. Und nun begann Haig zu fluchen. Der Schmutz floß von seinen Lippen und sein Gesicht war von Haß verzerrt. Er verfluchte Bruce, sich selbst und Gott in einer ordinären Sprache, wie sie Bruce noch nie gehört hatte. Dann griff er plötzlich nach der Tür und versuchte, sie zu öffnen. Bruce hatte darauf gewartet und packte ihn am Kragen, zog ihn zurück und hielt ihn fest. Da hörte Haig auf, sich zu wehren und begann leise vor sich hinzuweinen. Germaine fuhr schnell. Über den Damm am Ufer hoch und die Seitenstraße entlang. Die Scheinwerfer durchschnitten die Finsternis. Haig weinte noch immer auf dem Rücksitz. Dann sah man von weitem die Lichter der Missionsstation durch die Bäume schimmern und Germaine fuhr langsamer. Sie drehte hinter der Kirche und hielt vor dem Hospital. Bruce half Haig aus dem Wagen, und während er das tat, öffnete sich eine Seitentür, und Vater Ignatius kam mit einer Petroleumlampe in der Hand auf sie zu. Das kalte, weiße Licht der Laterne beleuchtete sie alle und warf bizarre Schatten hinter sie. Es erhellte mit besonderer Schärfe Haigs Gesicht. »Hier ist Ihr Doktor, Vater«, sagte Bruce. Ignatius hob die Laterne hoch und starrte durch seine Brille auf Haig. »Ist er krank?« »Nein, Vater«, sagte Bruce. »Er ist betrunken.« »Betrunken? Dann kann er nicht operieren.« »O doch, das kann er verdammt gut.« 128
Bruce nahm Haig am Arm und führte ihn durch die Tür, den Gang entlang zum Operationszimmer. Ignatius und Germaine folgten ihnen. »Germaine, gehen Sie mit dem Vater und helfen Sie ihm, die Frau herzubringen«, befahl Bruce; die beiden gingen. Dann wandte er sich Haig zu. »Bist du schon so tief im Dreck, daß du mich nicht mehr verstehen kannst?« »Ich kann es nicht tun, Bruce, es hat keinen Zweck.« »Dann wird sie sterben. Aber so viel ist sicher: Auf jeden Fall wirst du es versuchen.« »Ich muß einen Drink haben, Bruce.« Haig leckte sich die Lippen. »Mein ganzes Innere verbrennt. Du mußt mir einen Drink geben.« »Mach deine Arbeit, und ich gebe dir eine ganze Kiste.« »Ich muß jetzt einen haben.« »Nein«, sagte Bruce entschieden. »Schau nach, was sie hier an Instrumenten haben. Kommst du damit aus?« Bruce ging mit ihm zum Sterilisationsapparat, hob den Dekkel ab, und der Dampf stieg in einer dichten Wolke empor. Haig sah ebenfalls hinein. »Das ist alles, was ich brauche. Aber hier ist nicht genug Licht, und außerdem brauche ich einen Drink.« »Ich besorge dir mehr Licht. Fang an, alles vorzubereiten.« »Bruce, bitte, laß mich –« »Halt’s Maul«, schnauzte Bruce. »Da ist das Becken. Mach dich fertig.« Haig ging zum Waschbecken. Er war jetzt etwas besser auf den Beinen und sein Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. Du armer, alter Strolch, dachte Bruce, ich hoffe, daß du es schaffst, mein Gott, wie ich hoffe, daß du es schaffst. »Na mach schon, Haig. Wir haben nicht zuviel Zeit.« Bruce ging aus dem Zimmer, lief den Gang zum Krankensaal hinunter. Die Fenster im Operationssaal waren von außen 129
vergittert, so daß Haig nur durch den Gang entfliehen konnte. Bruce wußte, daß er ihn einholen würde, falls er fortzulaufen versuchte. Er sah in den Krankensaal. Germaine und Ignatius hatten mit Hilfe eines eingeborenen Sanitäters die Frau auf die Rollbahre gehoben. »Vater, wir brauchen mehr Licht.« »Ich kann Ihnen noch eine Laterne geben, das ist alles.« »Gut, tun Sie das. Ich werde die Frau nach vorne bringen.« Vater Ignatius verschwand mit dem Sanitäter, und Bruce half Germaine die Bahre durch den Saal und in den Gang zu schieben. Die Frau wimmerte vor Schmerzen. Ihr Gesicht war grau. Ein durchsichtiges Grau. So sieht nur jemand aus, der furchtbare Angst hat oder der sterben muß. »Sie hat nicht mehr viel Zeit«, sagte er. »Ich weiß«, stimmte Germaine zu, »wir müssen uns beeilen.« Die Frau bewegte sich unruhig auf der Bahre und brabbelte ein paar Worte. Dann stöhnte sie, und der große Hügel ihres Bauches unter der Decke senkte und hob sich, und sie wimmerte weiter. Haig war noch im Operationsraum. Er hatte seine Militärjakke ausgezogen und stand jetzt im Unterhemd über dem Becken und wusch sich. Er sah sich nicht um, als sie die Frau hereinbrachten. »Legt sie auf den Tisch«, sagte er und seifte sich die Arme bis zu den Ellenbogen ein. Die Bahre hatte die gleiche Höhe wie der Tisch; sie benutzten die Decke, um die Kranke herüberzuheben. »Sie ist bereit, Haig«, sagte Bruce. Haig trocknete sich die Arme an einem sauberen Handtuch ab und drehte sich um. Er kam auf die Frau zu und stand über ihr. Sie merkte nicht, daß er da war. Ihre Augen waren offen, aber sie sahen ihn nicht. Haig holte tief Luft. Er schwitzte ein bißchen auf der Stirn und sein stoppeliger Bart am Kinn war grau gestreift. 130
Er schlug die Decke zurück. Die Frau trug eine kurze weiße Jacke, die vorne offen war und ihren Bauch nicht bedeckte. Ihr Bauch war angeschwollen, sah hart aus und der Nabel war eingefallen. Die Knie waren leicht angezogen und die dicken Oberschenkel der Bäuerin waren durch die Wehen weitauseinandergespreizt. Bruce beobachtete sie; ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Er sah, wie die Muskeln unter der dunkelgrauen Haut arbeiteten und wie sie krampfhaft versuchten, den eingeschlossenen Fötus herauszupressen. »Beeil dich, Mike.« Bruce war von den Geburtswehen erschrocken. – Ich wußte nicht, daß es so war; mit Schmerzen sollst du deine Kinder gebären – aber das hier! Aus den trockenen, grauen, geschwollenen Lippen der Frau kam ein weiterer dieser kleinen Schreie. Bruce drehte sich zu Haig um. »Beeil dich, verdammt noch mal.« Mike Haig begann mit der Untersuchung. Seine Hände waren sehr blaß, als sie die dunkle Haut betasteten. Endlich war er zufrieden und trat vom Tisch zurück. Ignatius und der Sanitäter kamen mit zwei weiteren Lampen. Ignatius wollte etwas sagen, nahm aber sofort die Spannung wahr, die im Zimmer herrschte, und schwieg. Alle beobachteten Mike Haigs Gesicht. Seine Augen waren fest geschlossen, sein Gesicht wieder hart; das Kerzenlicht zeigte es in harten Konturen. Sein Atem war flach und angestrengt. Ich darf ihn jetzt nicht weiterhetzen, wußte Bruce instinktiv. Ich habe ihn bis an den Rand des Möglichen gebracht, jetzt muß er von alleine über die Klippen springen. Mike öffnete die Augen wieder und sprach. »Kaiserschnitt«, sagte er, als ob er sein eigenes Todesurteil ausgesprochen hätte. Dann hörte er zu atmen auf. Alle warteten. Und endlich kam der Atem als ein Seufzer aus ihm heraus. »Ich mache es«, sagte er. »Mantel und Handschuhe?« Bruce feuerte die Fragen an 131
Ignatius ab. »Im Schrank.« »Holen Sie sie.« »Du mußt mir helfen, Bruce. Und Sie auch, Germaine.« »Ja. Was sollen wir tun?« Schnell wuschen sie sich und zogen sich an. Ignatius hielt die blaßgrünen Mäntel für sie bereit, sie zogen sie schnell an und ließen sie sich zubinden. »Bring mir das Tablett da«, befahl Mike, als er den Sterilisationsapparat öffnete. Mit einer großen Pinzette nahm er die Instrumente aus dem kochenden Wasser und legte sie auf das Tablett, wobei er jedes einzelne beim Namen nannte. »Skalpell, Retraktor, Klammern.« Zur gleichen Zeit rieb der Sanitäter den Bauch der Frau mit Alkohol ab und rückte die Laken zurecht. Mike füllte eine Spritze mit Pentothal und hielt sie gegen das Licht. Er war auf einmal eine ganz fremde Person. Ein Gesicht hinter der Maske. Die grüne Kappe bedeckte sein Haar, und der lange Mantel fiel bis zu seinen Knöcheln herab. Er drückte auf die Spritze, bis ein paar Tropfen der hellen Flüssigkeit aus der Nadel kamen. Er sah auf Bruce. Nur seine gehetzten Augen waren oberhalb der Maske zu sehen. »Fertig?« »Ja«, nickte Bruce. Mike beugte sich über die Frau, nahm ihren Arm und suchte unter ihrer weichen schwarzen Haut in der Armbeuge mit der Nadel. Die Flüssigkeit der Spritze wurde plötzlich durch das angesaugte Blut überflutet, als Mike eine Vene gefunden hatte. Dann gab er langsam die Spritze, und der gläserne Behälter leerte sich. Die Frau hörte zu wimmern auf, die Anspannung wich aus ihrem Körper, und ihre Atmung wurde tief und ruhig. »Kommen Sie her«, befahl Mike Germaine, und sie ging zum oberen Ende des Tisches. Dort nahm sie die Chloroformmaske 132
und feuchtete die Gaze an, die in der Maske war. »Warten Sie, bis ich es ihnen sage.« Sie nickte. Bei Gott, was für schöne Augen sie hat, dachte Bruce, ehe er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. »Skalpell«, sagte Mike über den Tisch und zeigte darauf; Bruce gab es ihm. Was nun folgte, ging in Bruces Hirn wild durcheinander, hatte für ihn nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun. Die Wunde, die sich unter dem Messer öffnete, die angespannte Haut, die auseinanderging und die kleinen Adern, die zu bluten begannen. Rosa Muskeln, die mit weißen zusammengebunden waren, buttergelbe Lagen von Fett und dann durch die bläulichen, verwirrten Massen bis zur Bauchhöhle. Ein menschliches Wesen, weich und pulsierend, das in dem matten Schein der Petroleumlampe zu sehen war. Klammern und Refraktoren, die wie kleine silberne Insekten in der Wunde festgemacht wurden, als ob sie eine Blume wäre. Mikes Hände, unwirklich in den gelben Gummihandschuhen, griffen in die offene Höhle des Bauches. Sie tasteten ab, schnitten, klammerten, banden ab. Dann wurde plötzlich die dunkelrote Gebärmutter durch das Messer aufgeschnitten. Und jetzt endlich, fast unglaublich, sah man das Kind zu einem dunklen grauen Ball zusammengerollt, Beine, winzige Arme und einen Kopf, viel zu mächtig für seine Größe, und die dicke, rosafarbene Nabelschnur, die das Ganze umringelte. Herausgehoben hing der Säugling an seinen Beinen von Mikes Hand wie eine kleine graue Fledermaus, immer noch mit der Mutter verbunden. Dann schnappte die Schere, und das Kind war frei. Mike arbeitete weiter, und das Kind schrie. Es schrie mit winzigem Zorn, ärgerlich und lebendig. Vom Kopf des Tisches lachte Germaine in spontaner Freude. Sie 133
klatschte in die Hände wie ein kleines Kind auf dem Jahrmarkt. Plötzlich mußte auch Bruce lachen. Es war ein Lachen aus der tiefsten Tiefe und von weit, weit her. »Nehmen Sie es«, sagte Haig, und Germaine schloß es in ihre Arme, naß und unruhig zappelnd. Sie hielt es, während Haig die Nabelschnur abband. Bruce beobachtete ihr Gesicht und wie sie dastand. Und plötzlich fühlte er, wie das Lachen in seiner Kehle ohne jeden Grund versiegte, und er wollte weinen. Haig verschloß die Gebärmutter, wobei er ein kompliziertes Muster von Knoten und Stichen anfertigte wie eine perfekte Schneiderin. Dann wurden die großen Wülste der äußeren Wunde sorgfältig vernäht und zum Schluß das Ganze mit einer weißen Binde verbunden. Er deckte ein Tuch über die Frau, riß sich den Schutz vom Gesicht und sah Germaine an. »Sie können mir jetzt helfen, es zu säubern«, sagte er, und seine Stimme war wieder stark und stolz. Die beiden gingen gemeinsam zum Waschbecken. Bruce zog sich den Mantel aus, verließ den Raum und ging den Gang hinunter, hinaus in die Nacht. Er lehnte sich gegen den Kühler des Fords und zündete sich eine Zigarette an. Heute nacht habe ich wieder gelacht, sagte er zu sich selbst verwundert, und dann habe ich beinahe geweint. Und das alles wegen einer Frau und einem Kind. Das ist das Ende der Heuchelei. Das ist der Rückzug. Das war der wichtigste Akt. Dort drinnen geschah heute nacht mehr als eine Geburt. Ich habe wieder gelacht. Ich hatte das Gefühl, lachen zu müssen und den Wunsch zu weinen. Eine Frau und ein Kind. Der ganze Inhalt des Lebens. Der Abszeß war aufgegangen, das Gift herausgeflossen. Die Wunde konnte heilen. »Bruce, Bruce, wo sind Sie?« Sie kam durch die Tür. Er gab ihr keine Antwort, denn sie hatte das Glimmen seiner Zigarette gesehen und kam auf ihn zu. In der Dunkelheit stand sie ganz nahe bei ihm. 134
»Germaine –« sagte Bruce und hielt dann inne. Er wollte sie in seine Arme nehmen und fest an sich drücken. »Ja, Bruce.« Ihr Gesicht war ein blasses Oval in der Dunkelheit und ihm sehr nahe. »Germaine, ich möchte –«, sagte Bruce und hielt wieder inne. »Ja, ich auch«, flüsterte sie und zog ihn dann fort, »kommen Sie, wir wollen sehen, was Ihr Doktor jetzt macht.« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zum Gebäude zurück. Ihre Hand war kühl und trocken, und ihre langen schlanken Finger lagen in der seinen. Mike Haig und Vater Ignatius beugten sich über die Wiege, die neben dem Tisch stand, auf dem der zugedeckte Körper der Balubafrau lag. Die Frau atmete leise, und der Ausdruck ihres Gesichts war sehr friedlich. »Bruce, sieh dir das an. Es ist ein Prachtkerl«, rief Haig. Sich noch immer bei den Händen haltend, gingen Bruce und Germaine zur Wiege. »Der wiegt mindestens seine acht Pfund«, sagte Haig stolz. Bruce sah sich das Baby an. Neugeborene schwarze Kinder sind hübscher als unsere, dachte er, sie sehen nicht so krebsrot aus. »Schade, daß er keine Forelle ist«, murmelte Bruce. »Das wäre ein nationaler Rekord gewesen.« Eine Sekunde lang starrte ihn Haig fassungslos an, dann warf er seinen Kopf zurück und lachte. Es war ein befreiendes Lachen. Haig erschien jetzt in einem ganz anderen Licht. Sein neues Selbstvertrauen zeigte sich in der Art, wie er seinen Kopf hielt, ein plötzliches Gefühl, wieder in Ordnung zu sein. »Wie wär’s denn jetzt mit dem Drink, den ich dir versprochen habe, Mike?« testete ihn Bruce. »Den nimm du mal, Bruce. Ich laß ihn aus.« Er sagte es nicht nur, dachte Bruce, als er ihm ins Gesicht sah, er braucht ihn jetzt wirklich nicht mehr. 135
»Ich genehmige mir einen Doppelten, sobald wir in der Stadt zurück sind«, sagte Bruce, auf seine Uhr sehend. »Es ist schon zehn Uhr durch und wir müssen uns beeilen.« »Ich muß noch hier bleiben, bis sie aus der Betäubung kommt«, wandte Haig ein. »Du kannst mich ja morgen früh holen.« Bruce zögerte. »Na schön. Gehen wir, Germaine.« Sie fuhren nach Port Reprieve zurück und saßen eng beieinander in der Dunkelheit des Wagens. Sie sprachen nicht, bis sie den Damm erreicht hatten. Dann sagte Germaine: »Ihr Doktor ist ein guter Mann. Wie mein Paul.« »Wer ist Paul?« »Paul war mein Mann.« »Oh.« Bruce war verwirrt. Die Erwähnung dieses Namens zerstörte seine Euphorie. Germaine fuhr fort, leise vor sich hinsprechend und dem Lichtschein der Scheinwerfer nachsehend. »Paul war ungefähr genauso alt. Alt genug, um Verstehen gelernt zu haben – junge Männer sind immer so brutal.« »Sie haben ihn geliebt«, sagte Bruce ohne Empfindung. Er versuchte, jede Spur von Eifersucht aus seiner Stimme auszutilgen. »Liebe hat viele Formen«, antwortete sie und dann: »Ja, ich hatte begonnen ihn zu lieben. Sehr bald hätte ich ihn genug geliebt, um –« Sie hielt inne. »Um was?« Bruces Stimme war scharf geworden wie eine Holzsäge. Jetzt fängt es an, dachte er, jetzt bin ich wieder verwundbar. »Wir waren nur vier Monate verheiratet, ehe er – vor seinem Fieber.« »So?« Noch immer verstimmt, richtete er seine Augen auf die Straße vor ihm. »Ich möchte, daß Sie etwas wissen. Ich möchte Ihnen alles 136
erklären. Es ist sehr wichtig. Wollen Sie geduldig mit mir sein, während ich es Ihnen erzähle?« In der Stimme war ein solches Flehen, daß er sich dem nicht widersetzen konnte. »Germaine, Sie müssen mir gar nichts erzählen.« »Doch ich muß. Ich möchte, daß Sie es wissen.« Sie zögerte einen Augenblick, und als sie wieder sprach, hatte sich ihre Stimme gefangen. »Ich bin eine Waise, Bruce. Mama und Papa wurden beide bei einem Bombenangriff der Deutschen getötet. Ich war erst ein paar Monate alt, als das passierte und kann mich nicht mehr an sie erinnern. Ich erinnere mich überhaupt an nichts mehr. Nicht an die kleinste Kleinigkeit von ihnen, es gibt nicht einmal eine Fotografie.« Eine Sekunde lang schien ihre Stimme unsicher, dann wurde sie wieder fest. »Ich kam zu den Nonnen, sie waren meine Familie. Aber irgendwie ist es doch anders. Es ist niemals die eigene. Ich habe niemals etwas besessen, was wirklich nur mir gehört hat, etwas, was ganz und gar mein Eigentum gewesen wäre.« Bruce nahm ihre Hand. Sie lag sehr still in der seinen. Jetzt hast du etwas, dachte er. Jetzt hast du mich, und ich gehöre dir ganz. »Als die Zeit reif war, besprachen die Nonnen alles mit Paul Cartier. Er war ein Ingenieur bei der Union Minière hier im Kongo, ein Mann mit einer guten Stellung, eine angemessene Partie für eines ihrer Mädchen. Er flog nach Brüssel und wir heirateten. Ich war nicht unglücklich, denn obgleich er alt war – so alt wie Dr. Mike –, war er doch äußerst zärtlich und freundlich und hatte großes Verständnis. Er hat nie –« Sie hörte abrupt auf und wandte sich Bruce zu, wobei sie mit ihren beiden Händen die seine fest ergriff. Sie lehnte sich an ihn, ihr Gesicht sah in dem Halbdunkel ernst und bleich aus, ihr dunkles Haar fiel nach vorn über ihre Schulter, ihre Stimme war beschwörend. »Bruce, verstehst du, was ich versuche, dir zu erzählen?« Bruce hielt den Wagen vor dem Hotel an. Langsam schaltete 137
er den Motor ab und sprach überlegt. »Ja, ich glaube schon –« »Vielen Dank.« Sie stieß die Tür auf, verließ den Wagen und stieg die Stufen zum Hotel hinauf, ihre langen Beine schienen zu fliegen, und ihr Haar tanzte auf ihrem Rücken. Bruce beobachtete, wie sie durch die breite Tür ging. Dann drückte er auf den Zigarettenanzünder im Wagen und holte sich eine Zigarette aus dem Paket. Er zündete sie an und stieß den Rauch gegen die Windschutzscheibe. Plötzlich war er glücklich. Er wollte wieder lachen. Er warf die Zigarette, nachdem er sie ein Viertel geraucht hatte, fort und kletterte aus dem Ford. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war nach Mitternacht. Mein Gott, bin ich müde. Heute ist zu viel passiert. Eine Wiedergeburt ist eine schwere Anstrengung. Er lachte laut vor sich hin. Dieses Gefühl genoß er und ließ das Lachen langsam aus sich heraus, bis er seine Kehle und seine Brust befreite. Boussier wartete auf ihn in der Halle. Er trug einen Frottierbademantel, und man sah, daß er bereits geschlafen hatte. »Sind alle Ihre Vorbereitungen getroffen, Monsieur?« »Ja«, antwortete der alte Mann. »Die Frauen und die beiden Kinder schlafen oben, und Madame Cartier ist gerade nach oben gegangen.« »Das weiß ich«, sagte Bruce, und Boussier fuhr fort. »Wie Sie sehen, habe ich alle Männer hier.« Er zeigte auf die schlafenden Körper, die auf dem Boden der Halle und der Bar lagen. »Gut«, sagte Bruce, »wir fahren beim ersten Morgengrauen.« Er gähnte und rieb sich die Augen, wobei er sie mit den Fingerspitzen massierte. »Wo ist mein Offizier, der mit den roten Haaren?« »Er ist stark betrunken zum Zug zurückgegangen. Wir hatten noch einmal Ärger mit ihm, nachdem Sie fort waren.« Boussier zögerte höflich. »Er wollte nach oben gehen zu den Frauen.« »Zum Teufel mit ihm.« Bruce fühlte, wie die Wut in ihm 138
aufstieg. »War was los?« »Ihr Stabsfeldwebel, der große, hat ihn davon abgebracht und mitgenommen.« »Dem Himmel sei Dank für Ruffy.« »Ich habe für Sie einen Platz zum Schlafen reserviert.« Boussier zeigte auf einen bequemen ledernen Armsessel. »Sie müssen erschöpft sein.« »Das ist sehr nett von Ihnen«, dankte ihm Bruce. »Aber zuerst muß ich noch unsere Stellung inspizieren.«
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13 Bruce erwachte und fand Germaine über dem Stuhl, auf dem er lag, gebeugt. Sie kitzelte ihn an der Nase. Er war vollkommen angezogen, sein Helm und die Maschinenpistole lagen auf dem Boden neben ihm, nur seine Schnürsenkel waren aufgemacht. »Sie schnarchen nicht, Bruce«, gratulierte sie ihm und lachte dabei ihr kleines, heiseres Lachen. »Das ist ein gutes Zeichen.« Er richtete sich auf, noch immer schlaftrunken. »Wie spät ist es?« »Fast fünf Uhr. Ich habe das Frühstück für Sie in der Küche zubereitet.« »Wo ist Boussier?« »Er zieht sich gerade an. Dann wird er die Leute zum Zug bringen.« »Ich habe einen Geschmack auf der Zunge wie eine wiederkäuende Ziege.« Bruce strich sich mit der Zunge über die Zähne, sie fühlten sich pelzig an. »Dann werde ich Sie nicht zur Begrüßung küssen, Captain.« Sie richtete sich auf, und das Lachen war noch immer in ihren Augen zu sehen. »Ihre Toilettensachen sind in der Küche. Ich habe einen ihrer Gendarmen zum Zug geschickt, um sie zu holen. Sie können sich über dem Spültisch waschen.« Bruce band sich die Schnürsenkel zu und folgte ihr dann, über schlafende Körper steigend, zur Küche. »Es gibt leider kein heißes Wasser«, entschuldigte sich Germaine. »Das ist das wenigste.« Bruce ging zum Tisch, öffnete sein Necessaire und entnahm ihm Rasierapparat, Seife und Kamm. »Ich habe den Hühnerschlag überfallen«, bekannte Germaine, »habe aber nur zwei Eier gefunden. Wie soll ich sie zubereiten?« »Weichgekocht, vier Minuten.« Bruce zog sich Jacke und Hemd aus, ging zum Spültisch und füllte das Becken. Er wusch 140
sich das Gesicht und nahm Hände voll Wasser, die er sich über den Kopf goß. Er stöhnte vor Vergnügen. Dann stellte er seinen Rasierspiegel oberhalb der Hähne auf und seifte sich ein. Germaine setzte sich auf den Tisch neben ihn und beobachtete die Prozedur mit großem Interesse. »Ich bin ganz traurig, daß der Bart abgeschabt wird«, sagte sie. »Er sah wie eine Otterhaut aus, und ich mochte ihn gut leiden.« »Vielleicht lasse ich mir Ihretwegen eines Tages einen stehen«, lächelte Bruce sie an. »Sie haben blaue Augen, Germaine.« »Es hat eine ganze Weile gedauert, bis Sie das herausgefunden haben«, sagte sie und machte dabei einen dramatischen Schmollmund. Ihre Haut war seidig und sah kühl aus. Die Lippen blaß-rosa ohne jedes Make-up. Ihr dunkles, glatt zurückgekämmtes Haar unterstrich die hohen Backenknochen und die Größe der Augen. »In Indien heißt ›Sher‹ Tiger«, erzählte ihr Bruce, während er sie aus den Augenwinkeln betrachtete. Sofort änderte sich ihre Geste, und aus dem Schmollen wurde ein tigerähnliches Fauchen. Dabei zeigte sie ihre kleinen, sehr weißen und fast ebenmäßigen Zähne. Sie fing an, mit den Augen zu rollen und dann entsetzlich zu schielen. Sie knurrte wie ein überraschtes Tier. Bruce lachte und schnitt sich beinahe beim Rasieren. »Ich kann keine Frau vertragen, die noch vor dem Frühstück Theater spielt. Es ruiniert meine Verdauung.« »Frühstück!« sagte Germaine, wobei ihre Augen in ihre normale Stellung zurückgingen, dann sprang sie vom Tisch und lief zum Ofen. »Gerade noch zur richtigen Zeit.« Sie sah auf ihre Uhr. »Vier Minuten, fünfundzwanzig Sekunden. Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen?« »Dieses eine Mal noch und dann nie wieder«, sagte Bruce und wusch sich die Seife vom Gesicht. Dann trocknete er sich 141
ab, kämmte sich und kam zum Tisch. Sie hatte einen Stuhl für ihn bereitgestellt. »Wieviel Zucker in den Kaffee?« »Drei Stück bitte.« Bruce schlug das Ei auf, während sie ihm die Kaffeetasse hinstellte. »Es macht mir Spaß, Ihnen das Frühstück zuzubereiten.« Bruce gab keine Antwort. Das begann gefährlich zu werden. Sie setzte sich ihm gegenüber, wobei sie sich mit den Ellenbogen aufstützte, die Hände unter das Kinn gepreßt. »Sie essen zu schnell«, sagte sie, und Bruce zog die Augenbrauen hoch. »Aber Sie machen wenigstens beim Kauen den Mund zu.« Bruce begann sein zweites Ei zu essen. »Wie alt sind Sie?« »Dreißig«, sagte Bruce. »Ich bin zwanzig. Fast einundzwanzig.« »Ein wirklich reifes Alter.« »Was tun Sie eigentlich?« »Ich bin Soldat«, antwortete er. »Nein, das sind Sie nicht.« »Also gut, ich bin Jurist.« »Sie müssen sehr klug sein«, sagte sie feierlich. »Ein Genie. Das ist der Grund, warum ich hier bin.« »Sind Sie verheiratet?« »Nein – ich war es. Was ist das eigentlich hier? Ein formelles Verhör?« »Ist sie tot?« »Nein.« Zum erstenmal verletzte ihn der Gedanke an seine Frau nicht mehr. »Oh!« sagte Germaine. Sie nahm den Teelöffel in die Hand und konzentrierte sich darauf, seinen Kaffee umzurühren. »Ist sie hübsch?« »Nein – ja, ich nehme es an.« »Wo ist sie?« Und dann schnell: »Es tut mir leid, das geht 142
mich wirklich nichts an.« Bruce nahm seine Tasse von ihr und trank. Dann sah er auf die Uhr. »Es ist gleich fünf Uhr fünfzig, ich muß losfahren und Mike Haig holen.« Germaine stand schnell auf. »Ich bin fertig.« »Ich kenne jetzt den Weg – Sie gehen besser hinunter zum Zug.« »Ich möchte mit Ihnen fahren.« »Warum?« »Einfach so, darum.« Dann fand sie einen Grund. »Ich möchte das Baby noch mal sehen.« »Sie haben gewonnen.« Bruce packte seine Sachen zusammen, und sie gingen in die Halle. Boussier war dort, fertig angekleidet und tüchtig wie immer. Seine Leute waren fast fertig zum Abrücken. »Madame Cartier und ich fahren zur Mission, den Doktor abzuholen. Wir werden etwa in einer halben Stunde zurück sein. Ich möchte, daß alle Leute zu diesem Zeitpunkt bereits im Zuge sind.« »Selbstverständlich, Captain.« Bruce rief zu Ruffy hinüber, der auf der Veranda stand. »Hast du die Sachen für die Mission zusammengepackt?« »Sie sind hinten im Ford, Boß!« »Gut. Hol all deine Wachtposten zusammen und bring sie zum Bahnhof. Der Lokomotivführer soll die Maschine klar machen, so daß wir sofort losfahren können. Ich will in der Sekunde abfahren, in der ich mit Leutnant Haig zurück bin.« »Okay, Boß.« Bruce gab ihm sein Necessaire. »Nimm das zum Zug für mich, Ruffy.« In diesem Augenblick fiel sein Blick auf einen großen Stapel Pappkartons zu Ruffys Füßen. »Was ist denn das?« 143
Ruffy sah etwas beschämt aus. »Nur ein paar Flaschen Bier, Boß. Ich dachte mir, daß wir vielleicht auf der Rückfahrt etwas Durst haben könnten.« »Schon gut«, grinste Bruce. »Bring sie irgendwo sicher unter und trink sie nicht alle, ehe ich zurück bin.« »Ich hebe Ihnen eine oder zwei auf«, versprach Ruffy. »Also los, Tigermädchen«, sagte Bruce und führte Germaine zum Ford. Sie saß diesmal etwas näher bei ihm als am Tag zuvor, hatte aber die Beine wie sonst unter sich gezogen. Als sie über den Damm fuhren, steckte sie zwei Zigaretten an und gab eine davon an ihn weiter. »Ich bin froh, daß ich hier wegkomme«, sagte sie und sah dabei über den Sumpf, wo der Dunst in dicken grauen Strichen von dem weichen Papyrusgras herabhing und sich träge im aufgehenden Morgen löste. »Ich habe es hier gehaßt, seit Paul starb. Ich hasse den Sumpf und die Moskitos und den ganzen Dschungel hier herum. Ich bin froh, herauszukommen.« »Wo werden Sie hingehen?« fragte Bruce. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich nehme an, zurück nach Belgien. Ganz egal wohin, nur weg vom Kongo. Fort von dieser Hitze, in ein Land, wo man atmen kann. Fort von den Krankheiten und der Furcht. An einen Ort, wo ich weiß, daß ich morgen nicht schon wieder von ihm fortlaufen muß. Einem Ort, wo menschliches Leben noch eine Bedeutung hat, fort von dem Morden, Brennen und Vergewaltigen.« Sie zog mit großer Heftigkeit an ihrer Zigarette und starrte dabei auf die grüne Mauer des Waldes. »Ich wurde in Afrika geboren«, sagte Bruce, »zu einer Zeit, als der Arm des Richters noch nicht der Kolben einer Maschinenpistole war. Zu einer Zeit, als man noch zur Wahlurne trat um seine Entscheidungen nicht in Form von Gewehrsalven traf.« Er sprach sanft und mit Trauer in der Stimme. »Zu einer Zeit, als es noch keinen Haß gab. Aber jetzt, ich weiß auch 144
nicht mehr, auch ich habe mir noch keine großen Gedanken über die Zukunft gemacht.« Einen Augenblick lang war es still. Sie kamen zu der Abzweigung der Mission, und er bog mit dem Ford ein. »Es hat sich ja alles so schnell geändert. Es ist selbst mir erst richtig klar geworden, seit ich hier im Kongo bin.« »Werden Sie hier bleiben, Bruce? Ich meine, hier im Kongo?« »Nein«, sagte er, »Davon habe ich genug. Ich weiß nicht einmal mehr, wofür ich kämpfe.« Er warf den Zigarettenstummel aus dem Fenster. Vor ihnen standen die Missionshäuser. Bruce parkte den Wagen vor dem Hospital, und sie saßen schweigend zusammen. »Es muß doch ein anderes Land geben«, flüsterte er, »und wenn es das gibt, dann werde ich es auch finden!« Er öffnete die Tür und stieg aus. Germaine kam ihm nach. Sie gingen Seite an Seite in das Hospital. Ihre Hand strich an seiner vorüber. Er hielt sie fest und dann bemerkte er, wie sein Druck von ihr erwidert wurde. Sie ging ihm knapp über die Schulter. Aber nicht viel. Mike Haig und Vater Ignatius saßen zusammen in dem Krankensaal – zu sehr in ein Gespräch vertieft, um den Ford gehört zu haben. »Guten Morgen, Michael!«, rief Bruce. »Was ist denn das für eine eigenartige Verkleidung?« Mike Haig sah auf und grinste. »Guten Morgen, Bruce, hallo Germaine.« Dann sah er an der ausgeblichenen braunen Kutte, die er trug, herunter. »Die habe ich mir von Ignatius geliehen. Sie ist zwar ein bißchen lang und in den Hüften ein wenig eng, aber in einem Krankensaal wohl doch besser am Platz als eine Uniform.« »Es paßt Ihnen gut, Dr. Mike«, sagte Germaine. »Es ist gut, daß mich jemand mal wieder so nennt.« Haigs 145
Gesicht strahlte. »Ich nehme an, Germaine, daß Sie Ihr Baby sehen wollen.« »Geht es ihnen gut?« »Mutter und Kind sind in bester Verfassung.« Er führte Germaine an den Betten entlang, wo sie überall kleine, schwarze Wollköpfe, die auf den Kissen lagen, mit neugierigen Augen verfolgten. »Darf ich ihn hochnehmen?« »Er schläft, Germaine.« »Ach bitte!« »Ich nehme nicht an, daß es ihn umbringen wird. Also gut.« »Bruce, komm einmal her und guck ihn dir an. Ist er nicht ein Prachtkerl?« Sie hielt den kleinen schwarzen Körper an ihre Brust, und das Baby schnüffelte, und sein Mund begann automatisch zu suchen. Bruce beugte sich nach vorne, um ihn anzuschauen. »Sehr niedlich«, sagte er und wandte sich an Ignatius. »Ich habe die Sachen, die ich Ihnen versprochen habe, mitgebracht. Wollen Sie bitte einen Mann zum Wagen schicken, der sie holt?« Dann wandte er sich an Mike Haig. »Du ziehst dich besser um, Mike. Wir sind fertig zur Abfahrt.« Ohne Bruce anzusehen spielte Mike mit dem Stethoskop, das um seinen Nacken hing, dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht, daß ich mitkomme, Bruce.« Überrascht sah ihn Bruce an. »Was?« »Ich glaube, ich bleibe hier mit Ignatius. Er hat mir einen Job angeboten.« »Du mußt verrückt sein, Mike.« »Vielleicht«, stimmte Haig zu, nahm das Baby aus Germaines Armen, legte es in die Wiege zurück, die neben dem Bett der Mutter stand und deckte den kleinen Körper gut zu. »Und dann vielleicht auch nicht.« Er richtete sich auf und deutete mit einer Armbewegung auf die vollen Betten. »Du mußt doch 146
zugeben, daß es hier eine Menge für mich zu tun gibt!« Bruce starrte ihn hilflos an, und dann beschwor er Germaine. »Reden Sie ihm das aus. Vielleicht gelingt es Ihnen, ihm die Nutzlosigkeit des Ganzen klarzumachen.« Germaine schüttelte den Kopf. »Nein, Bruce, das werde ich nicht tun.« »Mike, um Himmels willen, sei doch vernünftig. Du kannst doch nicht an diesem verseuchten Platz hier bleiben, du kannst doch nicht –« »Ich komme mit dir zum Wagen, Bruce. Ich weiß, daß du es eilig hast.« Er ging mit ihnen durch die Seitentüre und stand neben dem Fenster des Führersitzes, während sie einstiegen. Bruce streckte ihm die Hand hin, Mike ergriff sie und drückte sie fest. »Cheerio, Bruce, und danke für alles.« »Cheerio, Mike. Ich nehme an, du wirst nach einer gewissen Zeit die heiligen Schwüre ablegen und dich zu einem vollbestallten Rettungsorgan machen lassen.« »Das weiß ich nicht, Bruce. Ich bezweifle es sogar. Ich will nur noch einmal eine Chance haben, die einzige Arbeit auszuüben, die ich wirklich gelernt habe. Ich will diese Gelegenheit benutzen, um etwas von den Schulden abzutragen, die ich in den letzten Jahren gemacht habe.« »Ich werde offiziell über dich berichten ›vermißt, wahrscheinlich gefallen‹ –, wirf deine Uniform in den Fluß«, sagte Bruce. »In Ordnung.« Mike trat einen Schritt zurück. »Paßt aufeinander auf, ihr beiden.« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Germaine antwortete steif, wobei sie sich bemühte, nicht zu lächeln. »Ich bin ein alter Hase, mir kann man so leicht nichts vormachen«, sagte Mike. »Packt beide das Leben mit einem festen Willen an.« Bruce kuppelte aus und der Ford bewegte sich vorwärts. 147
»Gottes Segen mit Euch, meine Kinder.« Ein breites Lächeln war in Mikes Gesicht zu sehen, als er ihnen nachwinkte. »Au revoir, Dr. Michael.« »Mach’s gut, Mike.« Bruce sah ihn durch den Rückspiegel breitbeinig und stolz in der schlecht passenden Kutte dastehen. Er winkte noch einmal, dann drehte er sich um und lief ins Hospital zurück. Keiner von ihnen sprach, bis sie fast an der Hauptstraße angekommen waren. Germaine kuschelte sich weich an Bruce und lächelte vor sich hin, wobei sie den von Bäumen umsäumten Weg entlang sah. »Er ist ein feiner Kerl, Bruce.« »Zünde mir bitte eine neue Zigarette an, Germaine.« Er wollte nicht darüber reden. Es war eine der Geschichten, die durch Worte nicht besser werden konnten. Ehe er zur Kreuzung kam, fuhr Bruce langsamer und sah dabei automatisch nach links, um sicher zu sein, daß die Hauptstraße frei war, ehe er einbog. »O mein Gott«, entfuhr es ihm. »Was ist denn los, Bruce?« Germaine sah alarmiert von der Zigarette auf, die sie gerade anzündete. »Schau!« Etwa hundert Meter von ihnen entfernt parkte am Rand des Waldes ein Konvoi von sechs großen Wagen. Die ersten fünf waren schwere, mit Planen überzogene Lastwagen mit dunkelgrüner Tarnfarbe gestrichen, der sechste ein Tankwagen in hellgelb und rot mit dem Zeichen der Shell-Kompanie auf dem bauchigen Leib. An dem führenden Wagen war eine kompakte 25-Pfund-Panzerabwehrkanone angehängt, deren langer Lauf in den Himmel starrte. Um die Wagen herum waren in einem wilden Durcheinander von Uniformen und Helmen jeglicher Art wenigstens sechzig Mann. Alle waren bewaffnet, einige mit Maschinenpistolen, die anderen mit altmodischen Gewehren. Die meisten von ihnen verrichteten gelassen ihre Notdurft 148
im Gras, das zu beiden Seiten der Straße wuchs, während die anderen in kleinen Gruppen herumstanden, rauchten und sich unterhielten. »General Moses«, sagte Germaine mit vor Schreck ganz kleiner Stimme. »Runter«, befahl Bruce und schleuderte sie mit seiner freien Hand auf den Boden. Dann trat er das Gaspedal ganz herunter, und der Ford schoß auf die Hauptstraße, schleuderte wild, die Hinterräder wirbelten große Mengen Staub auf. Während er den Wagen wieder in gerade Richtung brachte, sah Bruce in den Rückspiegel. Hinter ihnen waren die Männer in einem wilden Knäuel. Er hörte, wie sie laut durcheinanderbrüllten, so daß der Lärm sogar noch den des Fords übertönte. Bruce sah nach vorne. Er hatte noch ungefähr hundert Meter bis zur Kurve, von der ab er nicht mehr zu sehen sein würde, und von der die Straße dann über den Sumpf zum Damm führte. Germaine war wieder auf den Knien und wollte sich gerade aufrichten, um über die hintere Lehne hinauszusehen. »Verdammt noch mal, bleib gefälligst unten«, schrie Bruce und stieß ihren Kopf roh nach unten. Während er sprach, begann neben ihm die Straße in einem Stakkato kleiner Staubfontänen aufzuwirbeln, und er hörte den hohen hysterischen Klang von Maschinengewehrfeuer. Die Kurve der Straße kam immer näher. Nur noch ein paar Sekunden. Auf einmal erschütterten eine ganze Reihe von krachenden Einschlägen den Wagen. Die Windschutzscheibe sah aus wie ein opales Diamantnetzwerk, die Uhr am Armaturenbrett explodierte, wobei die Glassplitter wie Puder auf Germaines Haar fielen, zwei weitere Kugeln durchschlugen den Sitz, wobei die Polsterung herausgerissen wurde. Das Ganze sah aus wie der aufgerissene Magen eines getroffenen Tieres. »Mach die Augen zu«, schrie Bruce und schlug mit der Faust durch die Windschutzscheibe. Mit zusammengekniffenen 149
Augen, damit ihn keine Splitter im Inneren des Auges treffen konnten, konnte er jetzt genauso viel sehen wie das Loch hergab, das er mit seiner Faust eingeschlagen hatte. Die Kurve war in diesem Augenblick erreicht, und er riß das Steuer herum, so daß der Wagen in sie hereinschlitterte. Seine Außenräder berührten bereits das Gras, und Zweige kratzten an der Seite entlang. Dann waren sie um die Ecke herum und rasten auf den Damm zu. »Bist du in Ordnung, Germaine?« »Ja, und du?« Sie kroch unter dem Armaturenbrett hervor, auf der einen Wange blutverschmiert, wo das Glas sie gekratzt hatte und ihre Augen waren durch die Angst noch größer als sonst. »Ich kann nur beten, daß Boussier und Hendry mit allem fertig sind. Diese Strolche lassen höchstens noch fünf Minuten auf sich warten.« Sie fuhren mit Vollgas und einer Geschwindigkeit von etwa hundertdreißig Kilometern über den Damm, am Ufer wieder hoch und in die Hauptstraße von Port Reprieve herein. Bruce hielt die Hand auf der Hupe, verwendete sie als Warnsignal. »Wir wollen nur hoffen, daß sie abfahrtbereit sind«, murmelte er. Mit Erleichterung stellte er fest, daß die Straße leer war, auch im Hotel schien sich niemand mehr aufzuhalten. Während er auf die Station zufuhr, fuhr er fort, mit der Hupe Signale abzugeben und eine riesige Staubwolke hinter sich aufzuwirbeln. Als er am Stationsgebäude vorbeifuhr, bremste er hart und fuhr dann direkt auf die Plattform. Die meisten von Boussiers Leuten standen neben dem Zug. Boussier selbst stand neben dem letzten Wagen mit seiner Frau und der kleinen Gruppe von Frauen, die um sie geschart waren. Bruce schrie durch das offene Wagenfenster. »Bringen Sie sofort die Frauen in den Zug, die Shuftas sind direkt hinter uns. Wir fahren sofort ab.« 150
Ohne Frage oder Argument holte Boussier die Frauen zusammen und hetzte sie über die Stahlleiter in den Wagen. Bruce fuhr auf der Plattform weiter, wobei er im Vorbeifahren schrie: »Rein mit euch, verdammt noch mal! Beeilt euch! Sie kommen!« Neben der Kanzel des Fahrers hielt er den Wagen an und schrie auf die Glatze des Lokomotivführers ein: »Los! Warte keine Sekunde länger. Gib ihr alles, was du kannst. Es ist eine Bande von Shuftas mit nicht ganz fünf Minuten Verspätung hinter uns her.« Diesmal verschwand der Kopf des Lokomotivführers in seiner Maschine ohne das sonst übliche und höfliche »Oui, Monsieur«. »Komm, Germaine.« Bruce ergriff sie an der Hand und zerrte sie vom Wagen. Zusammen rannten sie zu einem der gedeckten Wagen und Bruce stieß sie die Metallstufen hinauf. In diesem Augenblick machte der Zug eine ruckartige Vorwärtsbewegung, die so heftig war, daß sie ihren Griff an der Leiter verlor und rückwärts auf Bruce fiel. Dadurch verlor er die Balance, und beide fielen zusammen auf die staubige Plattform. Neben ihnen begann der Zug an Tempo zu gewinnen und auszufahren. Er erinnerte sich an einen Alptraum, den er als Kind gehabt hatte, wo er immer hinter einem Zug hergelaufen war, den er nie einholen konnte. Ganz schnell mußte er diese Panik in sich niederkämpfen, und während Germaine und er sich beide keuchend wieder aufrichteten und fast aneinander klebten, fuhren die Wagen, deren Tempo sich immer mehr steigerte, an ihnen vorbei. »Renne«, keuchte er. »Renne.« Während die Panik ihre Knie weich machte, gelang es ihm, den Griff am zweiten Wagen zu erhaschen. Er hielt sich daran fest, stolperte neben dem Zug her, wobei er den anderen Arm um Germaines Hüfte gelegt hatte. Stabsfeldwebel Ruffararo beugte sich heraus, packte 151
Germaine mit einer Hand fest am Nacken und hob sie wie ein verlorengegangenes Kätzchen hoch. Dann griff er nach Bruce. »Boß, eines Tages werden wir Sie noch verlieren, wenn Sie nicht aufhören, solche Spielchen zu treiben.« »Es tut mir leid, Bruce«, keuchte sie, wobei sie sich an ihn lehnte. »Es ist ja nichts passiert.« Er konnte sie schon wieder anlächeln. »Und jetzt will ich, daß du in das Abteil gehst und dort bleibst, bis ich dir sage, daß du herauskommen kannst. Hast du verstanden?« »Ja, Bruce.« »Also los.« Er wandte sich von ihr an Ruffy. »Stabsfeldwebel, nach oben auf den Wagen. Es wird ein Feuerwerk geben. Diese Shuftas haben eine Feldkanone dabei, und wir sind, bis wir in den Bergen sind, jederzeit klar einzusehen.« Als sie auf das Dach geklettert waren, hatte der Zug bereits Port Reprieve verlassen und war an der ersten Kurve, die in die Berge führten, angelangt. Die Sonne war jetzt schon voll herausgetreten und stand über dem Horizont, der Dunst hatte sich vom Sumpf erhoben, so daß sie das ganze Dorf vor ihnen ausgebreitet sahen. Die Leute von General Moses hatten bereits den Weg über den Damm zurückgelegt und kamen jetzt in die Hauptstraße. Bruce beobachtete den ersten Lastwagen, der in die Hauptstraße einbog und anhielt. Männer schwärmten sofort aus und begannen die Kanone klar zu machen. »Ich hoffe nur, diese Araber haben nicht allzuviel Erfahrung mit dem Ding«, grunzte Ruffy. »Das werden wir bald genug herausfinden«, versicherte ihm Bruce grimmig und sah nach hinten. Im letzten Wagen stand Boussier beschützend über der kleinen Gruppe von vier Frauen und ihren Kindern – wie ein alter weißhaariger Schäferhund bei seinen Schafen. Gegen die metallene Seite des Wagens gelehnt, standen und lagen André de Surrier und etwa ein 152
halbes Dutzend Gendarmen, die sich bemühten, die beiden Maschinengewehre in Position zu bringen. Auch im zweiten Wagen bereiteten sich die Gendarmen auf das Feuer vor. »Worauf wartet ihr eigentlich«, brüllte Ruffy. »Bringt mir das eine Maschinengewehr und fangt endlich an zu schießen.« Die Shuftas schossen eine unsaubere Salve ab, und dann begannen die Maschinengewehre mit dem Feuer. Bei jedem Schuß rutschte Andrés Helm nach vorne über seine Augen, und er mußte immer wieder pausieren, um ihn zurückzuschieben. Wally Hendry lag auf dem Dach des ersten Wagens und feuerte kurze und fast mechanische Salven ab. Die Shuftas, die die Kanone umgaben, gingen in Deckung, wobei einer von ihnen in der Straße liegenblieb. Aber es befanden sich noch Männer hinter dem Panzerschutzschild, und Bruce konnte die Spitzen ihrer Helme sehen. Plötzlich kam eine weiße Rauchwolke aus dem Rohr, und das Geschoß flog über den Zug hinweg mit einem Geräusch, das einem nah vorbeifliegenden riesigen Fasan ähnelte. »Zu hoch,« sagte Ruffy. »Zu tief«, als das nächste Geschoß in die Bäume unterhalb ging. »Und den dritten genau in die Kehle«, sagte Bruce. Aber der traf den hintersten Wagen. Sie benutzten Panzergranaten und keine Sprenggeschosse, denn keine gelbe Rauchwolke folgte dem Einschlag, und man hörte nur das Geräusch und vernahm den Geruch, als es festsaß. Besorgt versuchte Bruce, den Schaden festzustellen. Die Männer und Frauen in dem hinteren Wagen sahen erschrocken, aber unverletzt aus, und er wollte gerade aufatmen als er plötzlich zu Tode erschrocken war und sah, was wirklich passiert war. »Sie haben die Kupplung getroffen«, sagte er. »Sie haben dadurch den letzten Wagen einfach abgehängt.« Schon wurde die Entfernung größer, als der letzte Wagen 153
begann, wieder den Berg hinunterzurollen, so wie ein abgehacktes Schwanzstück bei einem Salamander. »Springt«, schrie Bruce, die Hände an den Mund legend. »Springt, ehe der Wagen schneller rollt.« Vielleicht hörten sie ihn nicht. Vielleicht waren sie auch zu betäubt, um zu gehorchen. Aber niemand bewegte sich. Der Wagen rollte rückwärts, schneller und schneller, als sein Gewicht bei der Neigung der Schienen das Tempo beschleunigte. Er rollte den Berg hinunter auf das Dorf zu und der wartenden Armee des General Moses in die Arme. »Was können wir tun, Boß?« »Nichts«, sagte Bruce. Das Feuern um Bruce war einer Stille gewichen, als alle, selbst Wally Hendry, auf den zurückrollenden Wagen starrten. Ein dicker Klumpen saß Bruce in der Kehle, als er den alten Boussier sah, der sich bückte und seiner Frau auf die Beine half. Dann nahm er sie in seinen Arm, und die beiden standen und sahen auf Bruce, der auf dem Dach des fortfahrenden Zuges stand. Boussier erhob noch einmal den Arm in einer Geste des Abschieds, und dann stand er ganz still. Hinter ihm hatte André de Surrier sein Maschinengewehr verlassen und den Helm abgenommen. Auch er starrte auf Bruce, aber ohne zu winken. Ab und zu hörte man noch vom Dorf das Schießen der Kanone, das tiefe Summen und sah die Rauchwolke. Aber Bruce bemerkte es kaum. Er sah, wie die Shuftas zum Bahnhof liefen, um die Ankunft des Wagens zu erwarten. Der hatte langsam an Geschwindigkeit verloren und blieb dann, als er auf die Puffer der Station auflief, abrupt stehen. Wie kleine schwarze Ameisen, die sich auf die Leiche eines Käfers stürzten, überfluteten die Shuftas den Wagen. Ganz schwach hörte Bruce das Popp, Popp, Popp ihrer Gewehre und sah das Glänzen der Bajonette. Er wandte sich ab. Sie hatten fast den höchsten Punkt der Berge erreicht, und er 154
fühlte, wie der Zug an Geschwindigkeit zunahm. Trotzdem spürte er keine Erleichterung, nur das Prickeln in seinen Augenwinkeln und den Schmerz, der in seiner Kehle steckte. »Die armen Kerle«, grollte Ruffy. »Die armen Kerle.« Und dann gab es noch einmal einen lauten Aufprall am Zuge, ein weiterer Einschlag der Kanone. Diesmal weiter vorne bei der Lokomotive. Eine Menge ausströmender Dampf. Dann wurde der Zug langsamer und verlor an Geschwindigkeit. Aber sie waren jetzt bereits oberhalb der Spitze des Gebirges, das Dorf war nicht mehr zu sehen, und langsam gewann der Zug wieder an Geschwindigkeit, als sie bergab fuhren. Aber der Dampf stieg weiter auf und kleine weiße Wolken stiegen zum Himmel. Bruce wußte, daß sie eine tödliche Wunde dort empfangen hatten. Er benutzte das Radio. »Fahrer, kannst du mich hören? Wie schlimm ist es?« »Ich kann nichts feststellen, Kapitän. Es ist zuviel Dampf. Aber der Druck fällt sehr schnell.« »Versuche mit allem was du hast, den Berg herunter zu kommen. Es ist ungeheuer wichtig, daß wir die Schienenkreuzung hinter uns haben, ehe wir halten. Das ist das allerwichtigste – wenn wir noch auf dieser Seite der Kreuzung anhalten, können sie uns mit den Wagen einholen.« »Ich tue mein Bestes, Kapitän.« Sie rasten bergab. Aber sobald sie sich auf ebener Erde befanden, begann die Geschwindigkeit nachzulassen. Während Bruce durch die spärlicher werdenden Dampfwolken starrte, sah er das schmale braune Band der Straße vor sich. Aber als sie es kreuzten, fuhren sie noch immer mit etwa fünfzig Kilometer Geschwindigkeit. Als der Zug dann endlich stehenblieb, schätzte Bruce, daß sie etwa drei bis vier Meilen hinter der Schienenkreuzung waren, von Wald umgeben und von der Straße durch drei Kurven verborgen. »Ich zweifle daran, ob sie uns hier finden werden. Aber falls sie es doch tun sollten, müssen sie von der Schienenkreuzung 155
an uns auf den Gleisen folgen. Wir werden eine Meile zurückgehen und auf beiden Seiten der Schienen eine Falle für sie aufstellen«, sagte Bruce. »Diese Araber werden uns nicht folgen, Boß. Die haben jetzt Weiber und eine ganze Bar voll mit Alkohol. General Moses wird mindestens zwei oder drei Tage brauchen, bis er sie wieder so nüchtern hat, daß er mit ihnen weiterziehen kann.« »Wahrscheinlich hast du recht, Ruffy. Aber darauf wollen wir uns nicht verlassen. Sieh zu, daß die Fallen gestellt sind, und dann wollen wir uns mal überlegen, wie wir von hier aus nach Hause kommen.« Plötzlich überkam ihn ein Gedanke: Martin Boussier hatte die Diamanten bei sich. Das würde die Herren in Elisabethville sicher nicht sehr erfreuen. Aber gleich danach wurde Bruce auf sich selbst wütend. Die Diamanten waren das weitaus Unwichtigste, das sie in Port Reprieve zurückgelassen hatten.
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14 André de Surrier hielt seinen Stahlhelm auf der Brust, wie ein Mann seinen Hut bei einem Begräbnis hält. Der Wind blies kühl und wohltuend durch sein dunkles, schweißbedecktes Haar. Seine Ohren waren noch benommen durch den Einschlag des Geschosses, das den Wagen vom Zug abgetrennt hatte. Er konnte trotzdem das Weinen eines der Kinder hören und das beruhigende Summen der Mutter. Er starrte den Gleisen und dem entschwindenden Zug nach und sah den riesigen Körper von Ruffy neben Bruce Curry auf dem Dach des zweiten Wagens. »Sie können uns jetzt nicht mehr helfen«, sagte Boussier sanft. »Sie können nichts mehr für uns tun.« Er erhob seine rechte Hand zu einem beinahe militärischen Gruß und ließ sie dann wieder zur Seite fallen. »Sei tapfer, ma chère«, sagte er zu seiner Frau. »Bitte sei tapfer.« Sie schmiegte sich an ihn. André ließ den Helm aus den Händen fallen, er klapperte auf den Metallboden des Wagens. Er wischte mit nervös flatternden Händen den Schweiß vom Gesicht und wandte sich langsam um, um auf das Dorf zu schauen. »Ich will noch nicht sterben«, flüsterte er. »Nicht so. Nicht jetzt. Bitte, nicht jetzt.« Einer seiner Gendarmen lachte und ging zum Maschinengewehr. Er stieß André fort und begann auf die rennenden Figuren am Bahnhof zu schießen. »Nein«, schrie André, »laß das. Mach sie nicht wütend auf uns. Sie bringen uns um, wenn du das machst –« »Die bringen uns sowieso um«, lachte der Gendarm und schoß das Magazin leer in einer einzigen großen Salve. André wollte auf ihn zugehen, um ihn wegzuziehen, aber seine Kraft reichte dazu nicht aus. Seine Hände fielen herunter, ballten sich zu Fäusten und streckten sich wieder aus. Seine Lippen zitterten, und dann öffneten sie sich, um seinen Schmerz kundzutun. »Nein«, schrie er. »Bitte nein! Nein! O Gott sei gnädig. Rette 157
mich. Bitte laß mir das nicht geschehen, Gott. O mein Gott!« Er stolperte und kletterte jetzt an der Seite des Zuges hoch. Und dann herauf. Der Wagen fuhr langsamer, als er zum Bahnhof rollte. Er konnte Männer mit Gewehren in den Händen laufen sehen, die, während sie rannten, schrien. Schwarze Männer in schmutzigen zerrissenen Uniformen, ihre Gesichter vor Erregung verzerrt. Rosafarbene brüllende Münder, deren Geschrei sich wie das Gebell einer Hundemeute anhörte. André sprang. Der schmutzige Beton der Plattform riß seine Wange auf und ließ ihn die Luft verlieren. Er versuchte sich auf den Knien aufzurichten, wobei er sich den Magen hielt und zu schreien begann. In diesem Augenblick wurde ihm ein Gewehrkolben zwischen die Schultern geschlagen und er brach zusammen. Über ihm schrie eine Stimme auf französisch: »Er ist weiß. Heb ihn für den General auf. Bring ihn nicht um.« Und noch einmal schlug der Gewehrkolben zu, diesmal gegen die Schläfe. Er lag im Staub, benommen, etwas Blutgeschmack im Mund und beobachtete, wie sie die anderen aus dem Wagen holten. Die schwarzen Gendarmen wurden sofort auf der Plattform erschossen, ohne jede Zeremonie. Anschließend lachten die Leute und stießen mit ihren Bajonetten um die Wette in die Leichen. Die beiden Kinder starben schnell. Sie wurden ihren Müttern fortgerissen, an den Beinen gehalten und mit den Köpfen gegen die Stahlwände des Waggons geschlagen. Der alte Boussier versuchte, die Leute daran zu hindern, seine Frau zu entkleiden, wurde von hinten mit einem Bajonett zu Boden gestoßen und dann, als er auf der Plattform war, mit einer Pistole zweimal durch den Kopf geschossen. All dies passierte in den ersten paar Minuten, noch ehe die Offiziere eintrafen, um die Leute zu kontrollieren. Zu diesem Zeitpunkt waren André und die vier Frauen die einzigen noch Überlebenden aus dem Wagen. André lag noch immer da, wo er hingefallen war und beobachtete mit grausigem Schrecken, wie den Frauen die Klei158
dungsstücke vom Leibe gerissen wurden, und dann hielten vier Männer je einen Arm und je ein Bein und legten sie auf die Plattform. So, wie man Kälber zum Anbringen des Brandzeichens hinlegt. Alle lachten über die sich wehrenden nackten Körper. Dann wurden sie in Positur gelegt, und einige Soldaten begannen bereits ihre Gurte abzunehmen und miteinander zu kämpfen, wer sie zuerst haben sollte. Viele von ihnen hatten noch frisches Blut an ihrer Kleidung. Dann kamen zwei Männer, die rote Binden wie Scherpen um hatten und die ein gewisses Maß von Autorität zu besitzen schienen, zu der Masse. Der eine von ihnen feuerte eine Pistole in die Luft, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und dann begannen beide, auf die Meute zu schimpfen, was auch langsam seine Wirkung tat. Die Frauen wurden hochgerissen und zum Hotel gebracht. Einer der Offiziere kam zu dem Platz, wo André lag, beugte sich über ihn und griff in seinen Haarschopf, um den Kopf zu lüften. »Willkommen, mein Freund. Der General wird sich sehr freuen, dich zu sehen. Es ist bedauerlich, daß deine anderen weißen Freunde uns verlassen haben.« Aber dann: »Einer ist immer noch besser als keiner.« Er zog André in eine sitzende Stellung hoch. Sah ihm ins Gesicht und dann spuckte er ihm in einem Anflug von plötzlicher Wut in die Augen. »Packt ihn! Der General wird später mit ihm sprechen.« Sie banden André an eine der Säulen auf der Veranda im Hotel und ließen ihn dort stehen. Er hätte seinen Kopf drehen und durch die großen Fenster in die Halle sehen können, um festzustellen, was sie mit den Frauen machten, aber er tat es nicht. Er konnte hören, was passierte. Um die Mittagszeit war aus den Schreien ein Wimmern und Heulen geworden. Am Spätnachmittag gaben die Frauen überhaupt kein Zeichen mehr von sich. Aber noch immer wartete eine Schlange von Shuftas 159
vor der Tür zur Hotelhalle. Einige von ihnen hatten sich schon zum dritten- oder viertenmal angestellt. Jetzt waren sie alle betrunken. Ein lustiger Geselle hielt in einer Hand eine Flasche Parfait Amour Likör und in der anderen eine Flasche Harpers Whisky. Jedesmal, wenn er zurückkam, um sich wieder anzustellen, blieb er vor André stehen. »Willst du einen Drink mit mir haben, mein kleiner weißer Junge?« fragte er. »Aber sicherlich willst du das«, antwortete er selber. Dann nahm er einen Mund voll aus einer der beiden Flaschen und spuckte ihm ins Gesicht. Das erntete jedesmal einen großen Lacher von den Leuten in der wartenden Schlange. Ab und zu hielt auch mal ein anderer vor André an, nahm sein Gewehr von der Schulter, ging ein paar Schritte zurück, visierte über sein Bajonett Andrés Gesicht an und rannte dann schnell vorwärts. Erst im letzten Augenblick wurde das Bajonett zur Seite gerissen, so daß es lediglich die Wange streifte. Jedesmal konnte André einen Schrei des Schreckens nicht unterdrücken. Die wartende Menge brach vor Lachen beinahe zusammen. Gegen Abend begannen sie die Häuser am äußeren Rande der Stadt zu verbrennen. Eine Gruppe, die genug von Alkohol und Vergewaltigung hatte, saß am Ende der Veranda und begann zu singen. Ihre tiefen schönen Stimmen ließen die ganze melancholische Wildheit Afrikas auferstehen, und sie sangen auch ruhig weiter, als zwischen zwei Shuftas auf der Straße vorm Hotel ein Streit ausbrach, der in einem Messerkampf endete. Der süße Baßton des Gesanges überdeckte das heisere Atmen der beiden nacktbrüstigen, sich umschleichenden Messerkämpfer und das schneller und immer schneller werdende Stampfen ihrer Füße in dem Staub. Als die beiden endlich aneinandergeklammert waren, bereit, den Todesstoß anzubringen, stieg der Gesang tief und stark zu einem beinahe triumphierenden Höhepunkt an. Einer der beiden Männer trat, seinen rechten Arm ausgestreckt und das Messer tief in den Körper des 160
anderen stoßend, plötzlich zurück, während der Verlierer zu Boden sank. Dabei langsam das Messer loslassend. Der Gesang sank mit ihm, nachdenklich, traurig und bedauernd, bis er verstummte. Sie holten André nach Einbruch der Dunkelheit. Vier von ihnen, die etwas weniger betrunken zu sein schienen als die anderen. Sie führten ihn die Straße hinunter zum Büro der Union Minière. Dort war General Moses, der im Büro alleine hinter einem Schreibtisch saß. An ihm war nichts Finsteres. Er sah aus wie ein ältlicher Büroangestellter. Ein kleiner Mann mit kurzgeschnittenem, wolligem Haar, das oberhalb der Ohren grau war, der eine Hornbrille trug. Auf seiner Brust trug er drei Reihen von Paradeorden. Seine sämtlichen Finger waren bis zum zweiten Glied mit Ringen besteckt. Diamanten und Smaragde, ab und zu auch einmal der rötliche Schein eines Rubins. Die meisten davon waren Frauenringe, und das Metall der Ringe war eingeschnitten worden, damit sie auf seine dicken schwarzen Finger paßten. Das Gesicht war beinahe freundlich zu nennen, bis auf die Augen. Sie waren vollkommen ausdrucksleer – die leblosen Augen eines Irren. Vor ihm stand ein kleiner Holzkasten ohne jede Verzierung, der das schwarze Siegel der Union Minière Kompanie trug. Der Deckel war offen, und als André mit seiner Wache durch die Tür kam, nahm General Moses einen weißen Leinensack aus dem Kasten, öffnete ihn und schüttelte einen dunklen Haufen von Industriediamanten auf die Schreibtischvorlage vor ihm. Er wühlte nachdenklich mit seinen Fingern in dem Haufen, brachte sie durcheinander, bis sie dumpf in dem grellen Licht der Petroleumlampe leuchteten. »War dies der einzige Kasten im Wagen?« fragte er ohne aufzusehen. »Oui, mon General. Nur dieser eine«, antwortete einer von Andrés Wachtmannschaften. 161
»Bist du sicher?« »Oui, mon General, ich habe selbst sehr gründlich gesucht.« General Moses nahm einen weiteren Leinensack aus der Kiste und leerte ihn auf die Schreibtischunterlage. Er grunzte vor Enttäuschung, als er die dunklen kleinen Steine sah. Er suchte einen weiteren Sack und noch einen, während seine Wut mehr und mehr anstieg, als er nur schmutzige, graue und schwarze Industriediamanten zutage förderte. Bald war der Haufen auf der Unterlage groß genug, um ein Literglas zu füllen. »Hast du die Kiste aufgemacht?« schnappte er. »No, mon General. Die Kiste war versiegelt und die Siegel nicht erbrochen. Das haben Sie selbst gesehen.« General Moses grunzte wieder. »Ja, ja. Was ist denn das?« Er brachte eine Zigarrenkiste zum Vorschein, deren Umhüllung grell und bunt war. Mit dem Daumen öffnete er die Kiste, und da begann er fröhlich zu strahlen. Eingebettet in Watte strahlten im weißen Licht der Petroleumlampe in allen Regenbogenfarben die Schmuckdiamanten. General Moses nahm einen davon hoch und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hübsch«, murmelte er. »Hübsch. Sehr hübsch.« Er schob die Industriesteine auf die Seite und legte den Diamanten in die Mitte der Unterlage. Dann nahm er langsam einen nach dem anderen aus der Zigarrenkiste, betrachtete sie, legte sie auf die Unterlage, zählte sie, lächelte, sprach in sich hinein, berührte sie und arrangierte sie zu einem Muster. »Hübsch«, fuhr er fort zu flüstern. »Schön, einundvierzig, zweiundvierzig, sehr schön, meine kleinen Lieblinge, dreiundvierzig.« Dann nahm er plötzlich die Steine auf, steckte sie in einen der Leinensäcke, zog die Schnur zu und steckte das Ganze in die Brusttasche oberhalb der Orden und knöpfte sie zu. Er legte seine schwarzen, mit Juwelen bedeckten Hände vor sich auf den Schreibtisch und sah auf André. Seine Augen waren rauchig gelb mit schwarzen Punkten hinter der Brille. 162
Sie hatten eine undurchsichtige, träumerische Ausdrucksweise. »Zieht ihn aus«, sagte er mit einer Stimme, die genauso ausdruckslos war wie seine Augen. Sie entkleideten André auf rohe Weise, und General Moses betrachtete seinen Körper. »So weiß«, murmelte er. »Warum denn so weiß?« Plötzlich begannen seine Kinnladen nervös zu arbeiten und ein kaum sichtbarer Schimmer von Schweiß bildete sich auf der Stirn. Er kam jetzt hinter dem Schreibtisch vor, ein kleiner Mann, aber mit einer inneren Kraft, die ihn doppelt so groß erscheinen ließ. »Weiß wie die Maden, die sich vom lebenden Körper des Elefanten nähren.« Er kam mit seinem Gesicht ganz nahe an das von André. »Du solltest etwas fetter sein, meine Made, nachdem du so lange so gut gefüttert worden bist. Du solltest viel fetter sein.« Er berührte Andrés Körper und ließ seine Hände zärtlich über seine Flanken gleiten. »Aber jetzt ist es zu spät, meine kleine weiße Made«, sprach er weiter, und André zuckte vor der Berührung und der Stimme zusammen. »Denn der Elefant hat dich jetzt aus der Wunde geschüttelt, auf den Boden geworfen, genau zwischen seine Füße, und du wirst zerplatzen, wenn er dich zertritt.« Seine Stimme war noch immer weich, obgleich jetzt der Schweiß in kleinen öligen Bächen an seinen Wangen herunterlief und das Träumerische in seinen Augen einer brennenden Schwärze gewichen war. »Nun, wir werden ja sehen«, sagte er und trat einen Schritt zurück. »Wir werden es schon sehen, meine Made«, wiederholte er und trat im gleichen Augenblick mit seinem Knie mit solcher Kraft in Andrés Eingeweide, daß der ganze Körper dadurch bis zu den Schultern zurückgeworfen wurde. Eine Agonie überkam Andrés Unterkörper, furchtbar wie ein Strom heißen Stahls. Sie betäubte seinen Magen und verursachte Krampfzustände wie bei einer Kindsgeburt. Sie zerrte an allen Muskeln in seiner Brust und in seinem Kopf explodierte 163
am obersten Ende seines Schädels in einer Helle, die ihn blendete. »Packt ihn«, befahl General Moses, dessen Stimme plötzlich schrill geworden war. Die beiden Wachtposten nahmen André bei den Ellenbogen und zwangen ihn auf die Knie, so daß seine Genitalien und sein Unterkörper frei vor den Stiefeln des Generals lagen. Das hatten sie schon oft getan. »Viermal hast du mich eingesperrt!« Und damit schwang der General seinen gestiefelten Schuh in Andrés Körper. Der Schmerz, zusammen mit dem vorigen, war zu groß, als daß André hätte schreien können. »Und das ist für die Beleidigungen.« Und André fühlte, wie seine Testikel dabei zerquetscht wurden. Es war immer noch zu stark. Er konnte seine Stimme nicht benutzen. »Und das ist für die Male, die ich auf dem Boden habe kriechen müssen.« Der Schmerz hatte jetzt den Zenit erreicht, diesmal konnte er mit dem Tritt schreien. Er öffnete seinen Mund und füllte seine leeren Lungen. »Und dies für die Male, die ich gehungert habe.« Jetzt würde er schreien müssen. Jetzt mußte er es. Der Schmerz, o du mein lieber Gott. Ich muß, bitte, laß mich schreien. »Und dies ist für die Gerechtigkeit des weißen Mannes.« Warum kann ich denn nicht, bitte laß mich doch O nein, nein, bitte, o Gott, o bitte! »Und das ist für eure Gefängnisse und euren Kiboko!« Die Tritte waren jetzt so schnell wie der Trommelschlag eines Wahnsinnigen. Wie Regen auf einem Blechdach. »Und dafür, und dafür, und dafür.« Das Gesicht vor ihm nahm sein ganzes Blickfeld ein. Die Stimme und das Geräusch der Stiefeltritte füllten seine Ohren. »Da, und da, und da.« Jetzt war die Stimme schrill, und er fühlte in sich eine warme Flut innerer Blutungen. Der Schmerz ging jetzt vorüber, der Körper hatte ihn in Selbstverteidigung ausgeschlossen. Und er hatte nicht ge164
schrien. Was für eine Befreiung, als er sich dessen bewußt wurde. Diese letzte Tat kann ich gut tun, ich kann jetzt sterben, ohne zu schreien. Er versuchte, sich aufzurichten, aber sie hielten ihn fest am Boden und außerdem gehörten seine Beine nicht mehr ihm. Sie waren auf der anderen Seite der großen tauben Wärme seines Körpers. Er nahm seinen Kopf hoch und sah den Mann an, der ihn umbrachte. »Und das ist für den weißen Schmutz, der dich geboren hat. Und das, und das –« Die Tritte waren keine Realität mehr. Er fühlte nur noch den Schock, den sie seinem Körper beibrachten, während er ganz nahe bei dem Mann stand, der einen Baum mit einer Axt umlegte. Und André lächelte. Er lächelte noch immer, als sie ihn nach vorne auf den Fußboden fallen ließen. »Ich glaube, er ist tot«, sagte einer der Wachtmannschaften. General Moses wandte sich ab und ging zu seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück. Er zitterte so, als ob er eine lange Strecke gerannt wäre, und sein Atem war tief und schnell, Seine Uniformjacke war schweißdurchtränkt. Er sackte in seinem Sessel zusammen und sein Körper schien zu zerfallen. Ganz langsam verschwand das Strahlen aus seinen Augen, bis sie endlich wieder verschwommen und träumerisch geworden waren. Die Wachen setzten sich schweigend neben André nieder. Sie wußten, daß es eine lange Wache werden würde. Durch das offene Fenster hörte man ab und zu einen Ruf betrunkenen Lachens und man sah das große Aufleuchten und den grellen Schein von Flammen.
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15 Bruce stand mitten auf den Schienen und seine Augen musterten kritisch die unmittelbare Umgebung des Waldes. Endlich konnte er den Lauf des Maschinengewehrs, der ein paar Zentimeter aus dem hohen Elefantengras hervorragte, ausmachen. Obwohl er von vornherein genau gewußt hatte, wo er danach suchen mußte, hatte es ganze zwei Minuten gedauert, bis er es gefunden hatte. »Das ist in Ordnung, Ruffy«, entschied er. »Ich glaube kaum, daß wir es noch besser anbringen könnten.« »Das glaube ich auch nicht, Boß.« Bruce erhob seine Stimme. »Könnte ihr mich hören?« Von beiden Seiten des Busches konnte man zustimmendes Murmeln vernehmen, und Bruce fuhr fort: »Wenn sie kommen sollten, dann müßt ihr sie genau bis zu dieser Stelle kommen lassen, ehe ihr das Feuer eröffnet. Ich werde sie für euch markieren.« Er ging zu einem kleinen Strauch, der neben den Schienen stand, brach einen Zweig ab und ließ ihn auf die Schienen fallen. »Könnt ihr den sehen?« Und wieder Zustimmung von den Männern, die zu beiden Seiten in Stellung gegangen waren. »Ihr werdet vor Einbruch der Dunkelheit abgelöst. – Bis dahin bleibt ihr, wo ihr seid.« Der Zug war hinter einer Kurve der Schienen versteckt, etwa eine halbe Meile von ihnen entfernt, und Bruce ging mit Ruffy zurück. Der Lokomotivführer wartete bereits auf sie und unterhielt sich mit Wally Hendry, beide standen neben dem letzten Wagen. »Glück gehabt?« fragte ihn Bruce. »Ich bedaure, mon Captain, aber die ist nicht mehr zu reparieren. Der Kessel ist an zwei Stellen durchschlagen und außerdem ist ein großer Teil der Kupferteile zerstört worden.« 166
»Danke«, nickte Bruce. Er war weder überrascht noch enttäuscht. Das war genau der Schluß, zu dem er nach einer kurzen Betrachtung der Schäden an der Lokomotive gekommen war. »Wo ist Madame Cartier?« fragte er Wally. »Madame bereitet gerade das Mittagsmahl zu, Monsieur«, sagte Wally mit schwerem Sarkasmus. »Warum fragst du eigentlich, mein Junge? Hast du’s denn schon wieder so nötig, was? Hättest du gern eine Scheibe Kalbfleisch zum Mittagessen oder so?« Bruce unterdrückte das plötzliche Aufflammen von Wut und ging an ihm vorbei. Er fand Germaine mit vier Gendarmen im Führerstand der Lokomotive. Sie hatten die Kohlen aus dem Kessel zu einem glühenden Haufen auf dem Stahlboden zusammengeschabt und schnitten Kartoffeln und Zwiebeln in die großen ZwanzigLiter-Töpfe. Die Gendarmen lachten alle über etwas, was Germaine gesagt hatte. Ihre normalerweise blassen Wangen waren von der Hitze gerötet, auf ihrer Stirn war eine mit Ruß bedeckte Schramme. Sie konnte erstaunlich gut, beinahe perfekt, mit dem großen Messer umgehen. Sie sah auf und erkannte Bruce; ihr Gesicht leuchtete sofort auf. »Es gibt Ungarisches Gulasch zum Mittagessen, Ochsenfleisch, Kartoffeln und Zwiebeln.« »Von diesem Augenblick an ernenne ich dich zum kommissarischen zweiten Koch ohne Bezahlung.« »Du bist zu gütig.« Sie streckte ihm die Zunge heraus. Es war ein kleines, rosiges Etwas, wie die Zunge eines Kätzchens. Bruce fühlte die ihm von früher her bekannte Empfindung: seine Beine waren angespannt, seine Kehle trocken. »Germaine, die Lokomotive ist völlig kaputt. Sie hat keinen Wert mehr.« Er sprach englisch mit ihr. »Auf jeden Fall kann man sie als Küche benutzen«, wider167
sprach sie. »Sei jetzt einmal ernst.« Die Sorge machte Bruce nervös. »Wir sind hier gestrandet, bis uns etwas einfällt.« »Aber Bruce, du bist doch das Genie. Ich habe absolutes Vertrauen zu dir. Ich bin sicher, daß du irgendeine wunderbare Idee haben wirst.« Ihr Gesicht war ernst, aber sie konnte nicht ganz den Schalk aus ihren Augen verbannen. »Warum gehst du eigentlich nicht zum General Moses und bittest ihn, dir seine Wagen zu leihen?« Bruces Augen zogen sich zusammen beim Nachdenken, und die schwarzen, nach innen geschwungenen Bögen seiner Augenbrauen trafen sich beinahe oberhalb der Nase. »Um deinetwillen hoffe ich, daß das Essen anständig ist, sonst degradiere ich dich zum dritten Koch«, warnte er. Dann kletterte er von der Lokomotive herunter und ging eilig am Zug entlang. »Hendry, Stabsfeldwebel, kommt bitte einmal her, ich möchte etwas mit euch besprechen.« Sie kamen auf ihn zu, und er ging ihnen voran über die Leiter in einen der gedeckten Wagen. Hendry warf sich auf eines der Betten und legte seine Füße auf das Waschbecken. »Das war ja ‘ne ganz schnelle Nummer«, grinste er durch die kupferfarbenen Stoppeln seines Bartes. »Du bist für mich die größte und mieseste Drecksau, der ich je begegnet bin, Hendry«, sagte Bruce kalt. »Wenn ich dich nach Elisabethville zurückgebracht habe, werde ich dich vorher noch kurz und klein schlagen, ehe ich dich den militärischen Behörden wegen Mordes übergebe.« »O Gott, o Gott«, lachte Hendry. »Was für ein Großmaul. Curry, das größte Großmaul aller Zeiten.« »Bring’s nicht so weit, daß ich dich jetzt schon umbringe. Ich bitte dich recht herzlich darum. Ich brauche dich noch.« »Was ist denn mit dir und dem Franzosenmädel los? Liebst du sie vielleicht oder sowas? Liebst du sie, oder gefällt dir nur 168
ihr kleiner praller Hintern? Es können unmöglich ihre Titten sein. Da hat sie nicht sehr viel. Nicht mal ‘ne Handvoll auf jeder Seite.« Bruce wollte sich auf ihn stürzen, dann änderte er seine Meinung, wandte sich um und starrte aus dem Fenster. Seine Stimme wirkte, als er sprach. »Ich bin bereit, einen Vertrag mit dir zu schließen, Hendry. Bis wir aus dieser Geschichte heraus sind, läßt du mich in Ruhe und ich dich. Der Vertrag endet in dem Augenblick, wo wir den Knotenpunkt Msapa erreichen. Dann kannst du wieder tun und lassen was du willst. Wenn ich dich dann dafür nicht umbringe, werde ich mir jedenfalls die größte Mühe geben, dich als Mörder hängen zu sehen.« »Ich schließe weder mit dir, Curry, noch mit irgend jemand anderem einen Vertrag. Ich mache genauso lange mit, wie es mir paßt, und ich werde weder dich noch irgend jemand anderen warnen, wenn es mir auf einmal nicht mehr passen sollte. Und laß dir jetzt etwas sagen, mein Junge. Ich brauche dich nicht, ich brauche überhaupt niemanden. Weder Haig noch dich mit deinen hochgeschraubten, überkandidelten Redensarten. Wenn der Zeitpunkt da ist, werde ich dich schon kleinkriegen. Denke du nur immer daran, Curry, und sag mir nicht später, daß ich dich nicht gewarnt habe.« Hendry saß jetzt nach vorne gebeugt, die Hände auf den Knien, der ganze Körper angespannt, und sein Gesicht verzerrt und geifernd vor Wut. »Dann machen wir es doch gleich jetzt, Hendry.« Bruce drehte sich vom Fenster um und duckte sich ein wenig. Seine Hände formten sich zu flachen, harten Keilen eines Karatekämpfers. Stabsfeldwebel Ruffararo stand mit einer Leichtigkeit und Schnelle auf, die für einen so großen Mann überraschend war. Mit seinem großen Körper trat er zwischen die beiden. »Sie wollten uns etwas sagen, Boß.« Langsam richtete sich Bruce wieder auf, und seine Hände 169
entspannten sich. Nervös strich er die feuchte Haarlocke, die ihm in die Stirn gefallen war, zurück, als ob er mit der gleichen Bewegung Wally Hendry aus seinem Gedächtnis entfernte. »Richtig«, sagte er, wobei er seine Stimme gewaltsam zur Ruhe zwang, »ich wollte unsere nächste Aktion besprechen.« Er holte sich eine Zigarette aus der Brusttasche, zündete sie an und inhalierte tief. Dann setzte er sich auf den Deckel des Waschbeckens und betrachtete die Asche an der Zigarette. Als er wieder sprach, war seine Stimme normal. »Es ist hoffnungslos, die Lokomotive zu reparieren, das bedeutet, daß wir andere Transportmittel finden müssen. Entweder können wir zweihundert Meilen bis zum Knotenpunkt von Msapa laufen, wobei wir damit rechnen müssen, daß unsere Freunde, die Balubas, etwas gegen diesen Marsch einzuwenden hätten, oder wir fahren mit dem Wagen von General Moses!« Er machte eine Pause, um ihnen Zeit zu geben, das zu begreifen. »Sie wollen ihm die Tracks wegnehmen?« fragte Ruffy. »Das wird nicht das leichteste sein, Boß.« »Stimmt, Ruffy. Ich glaube kaum, daß wir die geringste Chance haben, sie ihm wegzunehmen. Wir müssen die Stadt angreifen und ihn vernichten.« »Du bist vollkommen verrückt«, rief Wally aus. »Du bist das Verrückteste, was ich je gesehen habe.« Bruce ignorierte ihn. »Ich schätze, daß Moses ungefähr sechzig Leute hat. Wir haben noch, wenn wir Kanaki und seine neun Mann auf der Brücke, Haig, de Surrier und sechs andere abziehen, vierunddreißig Mann übrig. Stimmt das, Stabsfeldwebel?« »Das stimmt.« »Also gut«, nickte Bruce. »Wir müssen mindestens zehn Mann hierlassen in der Deckung, falls Moses uns eine Patrouille nachschickt, oder falls die Balubas angreifen sollten. Das ist nicht genug, das weiß ich, aber das müssen wir riskieren.« 170
»Die meisten der Zivilisten haben Waffen bei sich. Jagd- und Sportgewehre«, sagte Ruffy. »Stimmt«, meinte Bruce. »Sie sollten es fertigbringen, sich selbst zu verteidigen. Das bedeutet, daß wir vierundzwanzig Mann für den Angriff haben. Also etwa drei zu eins.« »Diese Shuftas werden so volltrunken sein, daß die Hälfte von ihnen nicht einmal wird aufstehen können.« »Das ist genau das, womit ich rechne. Trunkenheit und Überraschung. Wir schlagen sie und versuchen mit allem fertig zu sein, ehe sie wissen, was los ist. Ich glaube nicht, daß sie wissen, wie schwer wir getroffen worden sind. Wahrscheinlich nehmen sie an, daß wir jetzt schon etwa hundert Meilen weit sind.« »Wann brechen wir auf, Boß?« »Wir sind jetzt etwa zwölf Meilen von Port Reprieve entfernt. Das bedeutet, sagen wir mal, einen Sechs-StundenMarsch in der Dunkelheit. Ich will in den frühen Morgenstunden angreifen, möchte aber bereits gegen Mitternacht in der richtigen Stellung sein. Wir gehen hier kurz vor Einbruch der Dunkelheit, gegen sechs Uhr, los.« »Dann gehe ich jetzt besser und suche die Leute aus.« »Okay, Ruffy. Gib jedem Mann hundert Extraschuß und zehn Handgranaten. Und außerdem will ich vier Extrasäcke mit Granaten haben.« Jetzt wandte sich Bruce zum erstenmal an Hendry und sah ihn an. »Geh mit dem Stabsfeldwebel, Hendry, und hilf ihm.« »Mein Gott, das wird ein großes Fest«, grinste Wally in Vorfreude. »Wenn ich auch nur etwas Glück habe, hole ich mir einen ganzen Sack voll Ohren.« Er verschwand im Korridor hinter Ruffy und Bruce. Bruce streckte sich auf dem Bett aus und nahm den Helm ab. Er schloß die Augen und sah noch einmal Boussier und dessen Frau in dem Wagen stehen, als er den Berg zurückrollte. Er sah den Haufen von geängstigten Frauen und André, der ihn ohne Kopfbedeckung mit seinen 171
großen braunen Augen anstarrte. Leise stöhnte er: »Warum sind es immer die Guten, die Harmlosen und die Schwachen?« Es klopfte an der Tür, und er setzte sich schnell auf. »Bitte?« »Hallo, Bruce.« Germaine kam mit einem mehrschichtigen Kochgeschirr in der Hand und zwei Bechern in der anderen herein. »Zeit zum Mittagessen.« »Schon!« Bruce sah auf seine Uhr. »Großer Gott, es ist schon ein Uhr durch.« »Bist du hungrig?« »Das Frühstück gab es vor hundert Jahren.« »Gut«, sagte sie, dann stellte sie einen kleinen zusammenklappbaren Tisch auf und servierte das Essen. »Das riecht gut.« »Ich bin ein Chef im Cordon Bleu. Mein Ochsenfleischgulasch wird von allen gekrönten Häuptern Europas verlangt.« Sie aßen schweigend. Beide waren hungrig. Einmal sahen sie sich dazwischen an, wandten sich aber dann wieder dem Essen zu. »Das war gut«, stöhnte Bruce endlich. »Kaffee, Bruce?« »Bitte.« Während sie ihm eingoß, fragte sie: »So, und was geschieht nun?« »Willst du damit sagen, was jetzt passiert, wo wir allein sind?« »Sie sind äußerst frech, Monsieur. Ich wollte wissen, wie wir hier herauskommen.« »Ich mache mir deinen Vorschlag zu eigen: ich werde mir die Wagen von General Moses ausleihen.« »Du machst Witze, Bruce.« »Nein«, sagte er, und erklärte es kurz. »Aber das ist doch äußerst gefährlich, nicht wahr? Du könntest dabei verletzt werden.« 172
»Nur die Besten sterben jung.« »Das ist der Grund, warum ich mir Sorgen mache. Bitte, komm nicht verwundet zurück. Ich fange an zu glauben, daß ich das nicht leiden mag.« Ihr Gesicht war sehr ernst und blaß. Bruce ging schnell zu ihr, beugte sich über sie und zog sie zu sich hoch. »Germaine, ich –« »Nein, Bruce, sprich nicht. Sag gar nichts.« Ihre Augen waren geschlossen, die dicken schwarzen Wimpern lagen darüber. Ihr hoch aufgerichtetes Kinn ließ den langen weichen Bogen ihres Halses sichtbar werden. Er berührte ihn mit seinen Lippen, und sie gab einen leisen Ton von sich, wobei er spürte, wie ihre Haut zitterte. Ihr Körper warf sich gegen den seinen, und ihre Finger ergriffen sein Haar am Nacken. »O Bruce, mein Bruce, bitte komm mir heil wieder. Laß sie dir nichts tun.« Jetzt begehrte er sie wild. Sein Mund ging höher, und der ihre kam als willige Beute dem seinen entgegen. Ihre Lippen waren rosa und von keinem Make-up berührt. Beim Druck seiner Zunge gingen sie auseinander, und er fühlte, wie ihre Nasenspitze kühl auf seiner Wange lag, während seine Hand ihren Rücken heraufstrich und in ihrem Nacken liegenblieb. Ein schlanker Nacken mit seidener Haut hinter ihren Ohren. »O Bruce«, sagte sie in seinen Mund. Seine andere Hand ging jetzt an ihr herunter, bis sie auf die stolzen Rundungen am Ende des Rückgrats liegen blieb. Er zog ihren Unterkörper gegen den seinen, und sie erschrak, als sie ihn fühlte – das arrogante Attribut der Männlichkeit durch den Stoff. »Nein«, erschrak sie, und versuchte, sich von ihm zu lösen, aber er hielt sie, bis sie sich wieder entspannte und gegen ihn lehnte. Sie schüttelte den Kopf. »No, no.« Aber ihr Mund war noch immer offen, und ihre Zunge kam der seinen entgegen. Seine Hand löste sich von ihrem Nacken und zog ihr Hemd langsam aus dem Gürtel und dann an ihrem Rücken hoch, 173
wobei er an ihrer Wirbelsäule entlangfuhr, so daß sie erschauerte und sich gegen ihn preßte. Er strich über die samtene Haut, die fest über dem harten Fleisch gespannt war, und kam zu ihren Schulterblättern, die er wieder aufwärts bis zu den Achselhöhlen verfolgte. Seiden behaarte Achselhöhlen, die ihn vor Aufregung fast wahnsinnig machten. Dann kam er schnell zu ihren Brüsten, kleinen Brüsten, deren Warzen unter seiner Berührung sofort fest wurden. Jetzt bekämpfte sie ihn im Ernst. Ihre Fäuste schlugen auf seine Schultern, ihr Mund ging von dem seinen, er beherrschte sich, nahm die Hand fort und umschlang sie bei den Hüften. Jetzt hielt er sie lose in den Armen. »Das war nicht gut, Bruce. Du wirst aber sehr schnell frech.« Ihre Wangen waren gerötet, und ihre blauen Augen waren fast schwarz geworden, ihre Lippen noch feucht von den seinen, und ihre Stimme unsicher. Auch seine Stimme war unsicher, als er ihr antwortete. »Es tut mir leid, Germaine. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Ich wollte dich auf keinen Fall ängstigen.« »Du bist sehr stark, Bruce. Aber du ängstigst mich nicht, nur ein ganz kleines bißchen. Deine Augen ängstigen mich, wenn sie mich ansehen und doch nicht sehen.« Diese Geschichte hast du wirklich fein angefangen, machte er sich Vorwürfe. Bruce Curry, der zarte, zutrauliche Liebhaber. Bruce Curry, das Schwergewicht der Catcher, der doppelfäustige Vergewaltiger. Er fühlte sich schwach. Seine Knie weich, und irgend etwas war ernsthaft mit seinem Atem nicht in Ordnung. »Du trägst keinen Büstenhalter«, sagte er, ohne nachzudenken. Es tat ihm sofort leid. Aber sie lachte nur weich und heiser. »Glaubst du, ich brauche einen, Bruce?« »Nein, das meinte ich nicht«, protestierte er schnell und erinnerte sich an den schönen Schwung der kleinen Brüste. Er war 174
jetzt ruhig und überlegte sich seine Worte. Er versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen und der Wollust, die in ihm herrschte, Herr zu werden. Sie betrachtete seine Augen. »Jetzt kannst du mich wieder sehen – vielleicht darfst du mich jetzt wieder küssen.« »Bitte«, sagte er, und sie kam wieder zu ihm. »Vorsichtig jetzt, Bruce, mein Junge.« Die Tür des Abteils flog mit lautem Knall auf, und sie sprangen auseinander. Wally Hendry stand im Eingang. »Ei, ei, ei.« Seine cleveren kleinen Augen nahmen alles in sich auf. »Ist das nicht fein!« Germaine beeilte sich, ihr Hemd wieder in die Hose zu stekken und versuchte zur gleichen Zeit, sich das Haar glatt zu streichen. Wally grinste. »Nach dem Essen ist es doch immer am schönsten, das sage ich auch. Es ist auch sehr förderlich für die Verdauung.« »Was willst du«, schnauzte Bruce. »Nun, es kann kein Zweifel daran herrschen, was du willst«, sagte Wally, »und ich habe den Eindruck, daß du es auch bekommst.« Seine Augen gingen langsam von Germaines Hüften über ihren Körper bis zum Gesicht. Bruce ging auf den Korridor hinaus, wobei er Hendry zurückstieß und die Tür schloß. »Was willst du«, wiederholte er. »Ruffy will, daß du seine Vorbereitungen überprüfst, aber ich sage ihm gerne, daß du zu tun hast. Wenn du willst, können wir ja den Angriff bis morgen nacht verschieben.« Bruce sah ihn wütend an. »Sag ihm, daß ich in zwei Minuten da sein werde.« Wally lehnte sich gegen die Tür. »Okay, das werde ich ihm sagen.« »Worauf wartest du denn noch?« 175
»Auf nichts, gar nichts«, grinste Wally. »Also, dann hau schon ab«, schnarrte Bruce. »Okay, okay. Und mach mir keinen Knoten in deine Unterhosen, mein Junge.« Gemächlich ging er den Korridor hinunter. Germaine stand noch immer da, wo Bruce sie verlassen hatte. Aber in ihren Augen waren Tränen der Wut. »Er ist ein Schwein, dieser Kerl. Ein dreckiges, dreckiges Schwein.« »Es hat keinen Sinn, sich seinethalben Sorgen zu machen.« Bruce versuchte, sie wieder in die Arme zu nehmen, aber sie schüttelte ihn ab. »Ich hasse ihn. Er läßt alles so billig und schmutzig erscheinen.« »Nichts, was zwischen dir und mir ist, könnte je billig und schmutzig sein«, sagte Bruce, und sofort legte sich ihre Wut. »Ich weiß es ja, mein Bruce. Aber er kann es manchmal so erscheinen lassen.« Sie küßten sich zärtlich. »Ich muß jetzt gehen. Sie brauchen mich.« Eine Sekunde lang preßte sie sich an ihn. »Sei vorsichtig. Versprich mir, daß du vorsichtig sein wirst.« »Das verspreche ich dir«, sagte Bruce, und sie ließ ihn gehen.
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16 Sie brachen auf, bevor es dunkel wurde. Im Laufe des Nachmittags waren Wolken aufgezogen, die jetzt tief über dem Wald hingen und die Hitze unter sich einschlossen. Bruce führte die Gruppe an, Ruffy ging in der Mitte, und Hendry bildete die Nachhut. Als sie die Straßenkreuzung erreichten, war es Nacht geworden und Regen fiel auf sie herab, weiche, fette Tropfen, wie die Tränen einer trauernden Frau, ein warmer Regen in der Dunkelheit. Die Nacht war rabenschwarz. Einmal fühlte Bruce nach seiner Nasenspitze, aber er konnte seine Hand nicht sehen. Mit einem Stock tastete er sich an den Schienen entlang und tappte wie ein Blinder vor sich hin. Bei jedem Schritt knirschte der Schotter des Eisenbahndammes unter seinen Füßen. Die Hand seines Hintermannes lag auf seiner Schulter, und er konnte die Gegenwart der anderen ahnen, die ihm wie ein Schlangenkörper folgten. Er konnte ihre Schritte und das gedämpfte Geräusch der Waffen hören. Ein Mann erhob seine Stimme, um zu protestieren, wurde aber sofort durch ein tiefes Knurren Ruffys zum Schweigen gebracht. Sie überquerten die Straße, und der Weg wurde steil, so daß er sein Gewicht nach vorne verlagern mußte. Sie begannen, die Lufiraberge hinaufzusteigen. Oben auf dem Gipfel werde ich sie rasten lassen, dachte er. Von dort aus sind schon die Lichter der Stadt zu sehen. Der Regen hörte ganz plötzlich auf, und die eintretende Stille war überraschend. Jetzt hörte er deutlich das Atmen seines Hintermannes, das die kleinen Geräusche ihres Vormarsches übertönte. In dem nahegelegenen Wald quakte ein Laubfrosch, und es klang, als fielen kleine Stahlkugeln in ein Kristallglas. Es war ein klarer und schöner Ton. Alle Sinne von Bruce waren angespannt, um die mangelnde Sicht auszugleichen. Sein Gehör, sein Geruchssinn, der ihn den 177
schweren süßen Duft einer Dschungelblume und den Modergeruch faulender, nasser Vegetation wahrnehmen ließ. Sein Tastsinn, der ihn die Regentropfen auf seinem Gesicht fühlen ließ und die Struktur seiner Kleidung gegen seinen Körper. Auf einmal sagte ihm sein beinahe tierischer Instinkt für Gefahr mit erschreckender und die Magennerven angreifender Gewißheit, daß sich irgend etwas vor ihm in der Dunkelheit befand. Er hielt an, und der Mann, der ihm folgte, lief auf ihn auf, wodurch er das Gleichgewicht verlor. In der ganzen Kette entstand ein Durcheinander und Verwirrung; dann war Ruhe. Alle warteten. Bruce horchte angespannt. Geduckt, die Maschinenpistole im Anschlag, kroch er vor. Da war irgend etwas; er konnte es beinahe fühlen. Lieber Gott, laß sie dort kein Maschinengewehr aufgebaut haben, dachte er; damit könnten sie uns alle niedermähen. Er wandte sich vorsichtig um und fühlte nach dem Kopf seines Hintermannes, fand ihn und drehte ihn herum, bis sein Mund ganz nah an dessen Ohr war. »Leg dich leise hin. Sag dem Mann hinter dir, daß er das weitersagen soll.« Bruce verharrte wartend und horchte und starrte in die vollkommene Finsternis vor ihm. Er fühlte einen leichten Klaps an seinem Knöchel von dem Gendarmen zu seinen Füßen: sie hatten sich alle hingelegt. »Also los. Dann wollen wir mal nachsehen.« Bruce nahm eine Handgranate vom Gürtel. Er zog sie ab und steckte sie in seine Brusttasche. Dann tastete er nach der nächsten Schwelle der Schienen und schob sich vorwärts. Nach zehn Schritten hielt er wieder an. Dann hörte er es. Das feine Geräusch von zwei Kieseln direkt vor ihm. Seine Kehle war zugeschnürt, so daß er kaum atmen konnte, und sein Magen wurde schwerer. Jetzt bin ich genau vor ihnen. Mein Gott, wenn die jetzt das Feuer eröffnen … 178
Zentimeter um Zentimeter nahm er die Hand zurück, die die Granate hielt. Ich muß kurz werfen und mich dann schnell auf den Boden fallen lassen. Fünf Sekunden bis zur Explosion. Das ist zu lange. Sie werden es hören und zu schießen anfangen. Seine Hand war jetzt hinter seinem Rücken. Er sank langsam auf die Knie. Also los, dachte er, und in diesem Augenblick zuckte ein Blitz am Himmel, und Bruce konnte sehen. Die Berge zeichneten sich schwarz unter den blaßgrauen bauchigen Wolken ab, und der Stahl der Schienen blitzte auf in dem plötzlichen Lichtstrahl. Der Wald stand dunkel und hoch zu beiden Seiten, und – ein Leopard dicht vor ihm, ein großer, gelb-schwarzer Leopard. In dieser kurzen Sekunde starrten sie einander an, und dann nahm die Nacht wieder alles in sich auf. Der Leopard fauchte angriffslustig in der Dunkelheit, und Bruce bemühte sich verzweifelt, sein Gewehr hochzubringen. Aber das hielt er in seiner linken Hand, und in der anderen hielt er die Granate zum Wurf bereit. Diesmal, dachte er, diesmal ist es ganz bestimmt aus. Dann, nach einer Ewigkeit, hörte er den Leopard sich seitlich ins Gebüsch schlagen, und das Rascheln seiner Schritte entfernte sich immer weiter. Er ließ sich auf seinen Hintern fallen, die entschärfte Granate in seiner Hand, und ein beinahe hysterisches Lachen der Erleichterung schüttelte ihn. »Sind Sie okay, Boß?« erklang Ruffys Stimme besorgt. »Es war ein Leopard«, antwortete Bruce, und er wunderte sich, wie erschrocken seine eigene Stimme noch klang. Stimmengebrumm der Gendarmen und Klappern und Rasseln löste die Stille ab, als sie aufstanden. Jemand lachte. »Das war genug Lärm«, zischte Bruce und stellte sich auf die Füße. Er fand den Sicherungsstift in seiner Tasche und steckte ihn in die Granate zurück. Dann tastete er die paar Schritte zurück, nahm seinen Stock, den er liegengelassen hatte, wieder auf und setzte sich wieder an die Spitze der Kolonne. 179
»Weiter«, sagte er. Sein Mund war trocken, und sein Atem ging zu schnell. Er fühlte, daß seine Wangen von dem Schock mit dem Leoparden noch immer erhitzt waren. Diesmal habe ich mich aber wirklich bis an die Haarspitzen mit Adrenalin vollgepumpt. Bruce grinste unsicher in der Dunkelheit. Ich bin noch arg wackelig auf den Beinen, und ehe die heutige Nacht vorüber ist, werde ich die Angst wiedergefunden haben. Langsam stiegen sie den Berghang hinauf, eine Schlange von sechsundzwanzig Männern, die alle bis auf das äußerste angespannt waren. Bruce konnte es an den Schritten hinter sich hören, an dem Griff der Hand auf seiner Schulter fühlen und an den Körperausdünstungen riechen, die manchmal ein Windstoß zu ihm nach vorne trug, den Geruch von Angstschweiß, wie Säure auf Metall. Vor ihnen stiegen die Wolken, die tief über den Bergen hingen, langsam auf, und Bruce konnte die Silhouette des Gipfels erkennen. Die Dunkelheit war nicht mehr so tiefschwarz, denn an der Wolkendecke schimmerte ein schwacher Lichtschein. Ein blasses, orangefarbenes Glühen von reflektiertem Licht, das intensiver wurde, dann schwächer und wieder aufflackerte. Eine Zeitlang rätselte Bruce daran, und das Nachdenken beruhigte seine Nerven wieder. Er stieg mühsam weiter, sein Augenmerk auf den flackernden Lichtschein gerichtet. Der Berghang unter seinen Füßen wurde jetzt steiler, und er stemmte sich dagegen. Die letzte halbe Meile bis zum Paß zwischen den Gipfeln war sehr mühsam, aber endlich war er oben angelangt. »Großer Gott«, sagte Bruce laut, denn von hier aus konnte er den Grund für den Lichtreflex an den Wolken erkennen. Sie brannten Port Reprieve nieder. Die Flammen hatten sich jetzt in den Gebäuden entlang des Kais eingenistet, und während Bruce zuschaute, brach eines der Dächer langsam in sich zusammen. Funken stoben empor, und dann standen nur noch 180
die Mauern nackt und senkrecht da, in denen die hölzernen Fensterrahmen lodernd weiterbrannten. Der Bahnhof stand ebenfalls in Flammen, und auch die Siedlung hinter den Büros der Union Minière und dem Hotel. Schnell blickte Bruce hinüber nach St. Augustin. Dort war es dunkel. Keine Flammen. Nicht einmal ein Licht. Er fühlte sich etwas erleichtert. »Vielleicht haben sie es übersehen, vielleicht sind sie zu sehr mit Plündern beschäftigt.« Und während er wieder nach Port Reprieve hinüberblickte, wurden seine Gesichtszüge hart. »Diese widerlichen, gräßlichen Schweine.« Wut stieg in ihm hoch, als er die sinnlose Zerstörung der Stadt betrachtete. »Was können sie denn dabei gewinnen.« Weitere Feuer waren jetzt in der Nähe des Hotels zu bemerken. Bruce wandte sich an den Mann hinter ihm. »Wir machen hier Rast. Aber es wird nicht geraucht und nicht gesprochen.« Er hörte, wie der Befehl nach hinten weitergegeben wurde, das leise Geräusch der Waffen, die niedergelegt wurden, und wie sich die Männer dankbar auf dem Bahndamm niederließen. Bruce nahm sein Fernglas aus dem Futteral und richtete es auf die brennende Stadt. In dem hellen Schein der Flammen war die Stadt klar zu erkennen, und es war fast möglich, die Leute in den Straßen zu unterscheiden. Sie zogen in Haufen umher, ruhelos und schwer bewaffnet. Viele von ihnen hatten Flaschen dabei, und der Gang von einigen war schon unsicher. Bruce versuchte, die Anzahl festzustellen, aber das war unmöglich, da die Leute dauernd in Gebäuden verschwanden und wieder auftauchten, Gruppen sich trafen und vermischten und wieder auseinander gingen. Er setzte das Fernglas wieder ab und ruhte seine Augen aus. Da hörte er neben sich im Dunkeln ein Rascheln. Er blickte zur Seite. Es war Ruffy, seine Gestalt durch die Last, die er trug, 181
noch mächtiger. Über der einen Schulter seine Maschinenpistole, auf der anderen hing ein ganzer Kasten mit Munition, und um seinen Nacken ein halbes Dutzend Säcke mit Granaten. »Sieht so aus, als ob die sich amüsieren, was Boß?« »Volksfest«, stimmte Bruce zu. »Willst du nicht ein kleines Verschnauferchen machen?« »Warum nicht?« Ruffy stellte die Kiste mit der Munition ab und ließ sich mit seinem breiten Hintern darauf nieder. »Können Sie irgendeinen von den zurückgelassenen Leuten erkennen?« fragte er. Bruce nahm das Fernglas wieder auf und suchte das Gebiet hinter dem Bahnhof ab. Dort war es dunkler, aber er konnte die Umrisse des Güterwagens erkennen, der zwischen den tanzenden Schatten stand. »Der Wagen ist noch da«, murmelte er. »Aber ich kann sie nicht sehen.« In diesem Augenblick ging das strohgedeckte Dach eines der Häuser in einer riesigen Stichflamme auf und beleuchtete den Bahnhof und den dort stehenden Güterwagen ganz deutlich. »Ja«, sagte Bruce, »jetzt kann ich sie sehen.« Sie lagen noch immer über den Bahnsteig verstreut, genau da, wo sie gestorben waren. Klein und zerbrechlich, wie liegengelassenes, kaputtes Spielzeug. »Tot?« fragte Ruffy. »Tot«, bestätigte Bruce. »Die Frauen?« »Das ist schwer zu sagen.« Bruce strengte seine Augen an. »Ich glaube nicht.« »Nein.« Ruffys Stimme war weich und sehr tief. »Sie würden doch die Frauen nicht so verschwenden. Ich nehme an, daß sie die ins Hotel gebracht haben. Und dann bekommt eine nach der anderen ihren Teil. Nur vier Frauen. Die halten unmöglich bis zum Morgen durch. Diese Strolche da unten könnten sogar einen Elefanten zu Tode vögeln.« Er spuckte nachdenklich auf 182
den Kies zu seinen Füßen. »Was werden Sie machen, Boß?« Eine Minute lang antwortete Bruce nicht; mit seinem Fernglas schweifte er über die ganze Stadt. Die Kanone stand noch immer, wo er sie zuletzt gesehen hatte, und zeigte anklagend zu ihm herauf. Die Lastwagen standen vor den Büros der Union Minière. Er konnte die grellen gelben und roten Farben und das Shellzeichen auf dem Tankwagen erkennen. Ich hoffe nur, daß er voll ist, dachte Bruce. Wir werden eine Menge Benzin brauchen, um zurück nach Elisabethville zu kommen. »Ruffy, sag deinen Jungens, daß sie um Himmels willen den Tankwagen mit ihren Kugeln verschonen sollen. Sonst kann das ein sehr langer Fußmarsch nach Hause werden.« »Ich sag es ihnen«, grunzte Ruffy. »Aber Sie kennen doch diese verdammten Araber. Wenn die erst mal am Schießen sind, dann hören sie erst auf, wenn sie keine Patrone mehr haben, und es ist ihnen ziemlich egal, wohin die Kugeln flitzen.« »Wir werden uns in zwei Gruppen aufteilen, wenn wir am Fuß des Berges angekommen sind. Wir beide führen unsere Leute am Sumpfufer entlang zur entgegengesetzten Seite der Stadt. Sag Leutnant Hendry, er soll herkommen.« Bruce wartete, bis er Wally geholt hatte, und als die drei zusammenhockten, fuhr er fort. »Hendry, du stellst deine Leute am Anfang der Hauptstraße auf, ungefähr hier auf dieser dunklen Seite des Bahnhofs. Ruffy und ich gehen am Sumpfufer entlang bis zum Damm am andern Ende der Stadt und verteilen uns dort. Halte um Himmels willen deine Leute solange ruhig, bis Ruffy und ich losschlagen. Wenn deine Leute anfangen zu ballern, ehe wir da sind, dann brauchen wir keine Lastwagen mehr, dann brauchen wir nur noch ein paar Särge für den Rest unserer Reise. Hast du mich verstanden?« »Okay, okay. Ich weiß schon, was ich zu tun habe«, murmelte Wally. 183
»Das hoffe ich«, sagte Bruce, und dann fuhr er fort. »Wir greifen morgen früh um vier Uhr an, gerade ehe es hell wird. Ruffy und ich werden in die Stadt schleichen und das Hotel bombardieren – dort werden wohl die meisten schlafen. Die Granaten werden die Überlebenden auf die Straße treiben, und sobald das passiert, kannst du das Feuer eröffnen. Aber nicht eher. Wart, bis sie im Freien sind. Ist das klar?« »Herr Gott noch mal«, grollte Hendry. »Glaubst du, ich bin ein kompletter Idiot? Glaubst du, ich verstehe meine Sprache nicht mehr?« Bruce ignorierte Wallys Ausbruch. »Das Kreuzfeuer von den beiden Gruppen wird die meisten von ihnen erledigen. Aber wir dürfen dem Rest keine Chance geben, sich zu organisieren. Ihr müßt sie erwischen, und wenn sie in Deckung gehen, ihnen folgen, sie einkreisen und fertig machen. Wenn wir das Ganze nicht in fünf bis zehn Minuten schaffen, werden wir Schwierigkeiten bekommen. Sie sind uns zahlenmäßig mindestens im Verhältnis drei zu zwei überlegen, und wir müssen das Überraschungsmoment voll ausnutzen.« »Wir müssen das Überraschungsmoment voll ausnutzen!« äffte Wally nach. »Was soll dieses feine Gequatsche. Warum sagst du nicht einfach, daß wir die Strolche umbringen sollen?« Bruce grinste schwach in der Dunkelheit. »Also gut, bring die Strolche um«, stimmte er zu. »Aber mach es verdammt schnell.« Er stand auf und drehte seine Armbanduhr mit den Leuchtziffern so, daß er sie lesen konnte. »Es ist jetzt zehn Uhr dreißig. Wir werden ins Tal hinabsteigen. Komm mit, Hendry, wir wollen die beiden Gruppen einteilen.« Bruce und Wally gingen die Kette ihrer Leute entlang und sprachen mit jedem Mann nacheinander. »Du gehst mit Leutnant Hendry.« »Du kommst mit mir.« Er sah zu, daß die beiden englischsprechenden Unteroffiziere mit Wally gingen. Nach zehn Minuten hatten sie zwei Gruppen 184
eingeteilt und die Granaten ausgegeben. Schließlich machten sie sich an den Abstieg, noch immer im Gänsemarsch. »Hier trennen wir uns, Hendry«, flüsterte Bruce. »Fang diesmal nicht zu früh mit dem Schießen an. Warte, bis du meine Granaten hörst.« »Schon gut, okay. Ich weiß alles.« »Viel Glück«, sagte Bruce. »Mit deinem Hintern in ein Pulverfaß, Captain Curry«, antwortete Wally und zog los. »Auf geht’s, Ruffy.« Bruce führte seine Männer vom Bahndamm weg in die Sümpfe. Sofort wurde der Boden weich, und sie sanken bis an die Knie ein. Während sie sich nach rechts durch das Gelände arbeiteten, stieg das Wasser saugend und gurgelnd manchmal bis zu ihren Hüften und sogar bis zu den Achselhöhlen. Es behinderte sie bei ihrem Vormarsch und stieß übelriechende kleine Wolken von Sumpfgas aus. Die Moskitos umschwirrten Bruces Gesicht in einer so dichten Wolke, daß er sie einatmete und sie ihm andauernd in die Augen flogen. Der Schweiß tropfte ununterbrochen unter seinem Helm und hing schwer in den Augenbrauen, und die abgebrochenen Halme des Sumpfgrases stachen in seine Füße. Ihr Vormarsch war qualvoll und langsam, und einmal verlor Bruce für fünfzehn Minuten die Lichter der Stadt aus der Sicht hinter einer Wand von Schilf. Er orientierte sich an dem Feuerschein und den manchmal aufstiebenden Funkenfontänen. Es dauerte eine Stunde, bis sie den halben Weg zum Port Reprieve zurückgelegt hatten. Bruce machte eine Pause, noch immer bis zu den Hüften im Dreck steckend, seine Arme fast taub vom Hochhalten der Maschinenpistole. »Jetzt könnte ich eine Zigarette brauchen, Boß«, grunzte Ruffy. »Ich auch«, antwortete Bruce, während er sein Gesicht mit dem Ärmel abwischte. Die Moskitostiche auf seiner Stirn und um seine Augen brannten wie Feuer. 185
»Ein schöner Weg, wenn man dafür am Leben bleibt«, flüsterte er. »Sie werden weiter leben, Sie werden auf jeden Fall zu den Glücklichen gehören«, antwortete Ruffy. »Meiner Meinung nach müssen einige von uns bis zum Morgen ins Gras beißen.« Die Todesangst war aber im Augenblick durch den körperlichen Schmerz verdrängt. Bruce hatte beinahe vergessen, daß es bald zum Kampf kommen würde; ihn beunruhigten vielmehr die Blutegel, die durch die Schlitze seiner Stiefelschäfte sich zu seinen Unterschenkeln vorgearbeitet hatten und vielleicht an den Beinen hochkrochen. Es sprach doch einiges für einen Reißverschluß in der Hose, wenn man im Sumpfgebiet ist, entschied er. »Machen wir, daß wir hier herauskommen«, flüsterte er. »Los, Ruffy, sag deinen Jungens, daß sie sich dabei ruhig verhalten sollen.« Er arbeitete sich langsam an das Ufer heran, und sie standen nur noch bis zu den Knien im Sumpf. Ihr Vorwärtskommen war jetzt mit mehr Lärm verbunden, da sie mit jedem Schritt ins flache Wasser stapften, und das Sumpfgras raschelte und schlug gegen sie zurück. Es war fast zwei Uhr, als sie den Damm erreichten. Bruce ließ seine Leute sich im Schilfgras ausruhen, während er vorsichtig, durch die massive Brücke und deren Schatten gedeckt, auf Erkundung ausging. Er robbte vorwärts, bis er auf das feste Land am Stadtrand kam. Keine Wachtposten waren aufgestellt, und mit Ausnahme der knisternden Flammen war die Stadt ruhig, versunken in einem besinnungslosen Rausch, befriedigt. Bruce ging zurück und rief seine Leute zusammen. Er postierte sie jeweils zu zweit entlang der Peripherie der Stadt. Schon sehr früh hatte er bei diesen Kämpfen gelernt, seine Männer niemals allein handeln zu lassen. Nichts nimmt einem Afrikaner den Mut mehr, als allein zu sein, besonders in der Nacht, wenn die Geister umgehen. 186
Jedem einzelnen gab er genaueste Instruktionen. »Wenn ihr die Granaten hört, dann schießt ihr auf jeden in den Straßen oder in den Fenstern. Wenn die Straße leer ist, rückt ihr zu diesem Gebäude vor. Werft eure Granaten in jedes Haus und achtet auf Leutnant Hendrys Leute, die von der anderen Seite kommen. Habt ihr verstanden?« »Das ist klar.« »Schießt genau, zielt bei jedem Schuß, nicht so, wie ihr es an der Brücke getan habt. Und schießt um Himmels willen nicht auf den Tankwagen. Den brauchen wir, um nach Hause zu kommen.« Bruce sah auf seine Armbanduhr. Es war jetzt drei Uhr, vor acht Stunden waren sie vom Zug aufgebrochen, und vor zweiundzwanzig Stunden hatte er zuletzt geschlafen. Aber er war nicht müde, obwohl sein Körper schmerzte, und seine Augen waren weit aufgerissen vor Entschlossenheit, sein Kopf klar und hellwach. Er lag neben Ruffy unter einem niedrigen Busch am Stadtrand von Port Reprieve, und der Nachtwind drückte den Rauch der brennenden Stadt auf sie herunter. Bruce war nicht müde. Ich werde wieder ein Rendezvous mit der Angst haben. Angst ist eine Frau, dachte er, mit den tausend Gesichtern und Stimmen einer Frau. Weil sie eine Frau ist und weil ich ein Mann bin, muß ich immer zu ihr zurückkehren. Diesmal jedoch ist es eine Verabredung, der ich nicht ausweichen kann, diesmal komme ich nicht freiwillig zu ihr. Ich weiß, daß sie schlecht ist. Ich weiß, daß ich mich krank und elend fühle, wenn ich sie besessen habe. Ich werde sagen: »Das war das letztemal. Nie wieder.« Aber ich weiß ganz sicher, ich werde wieder zu ihr gehen, werde sie hassen, mich vor ihr fürchten, aber sie doch brauchen. Ich habe auf einem Berg gesucht – am Dutoits Kloof Frontal, am Turret Towers, am Wailing Wall und am Devil’s Tooth. 187
Immer war sie da, angetan mit einer wallenden Robe aus Stein. Einer Robe, deren Schleppe tausend Meter in die Tiefe fiel. Ihr ganzes Gesicht schrie mit der Stimme des Windes. Dann wieder war ihre Stimme sanft und klirrte wie kühles Glas, wenn man auf dem Gletschereis umherlief, flüsternd wie ein Nylonseil, das frei herumhängt, und scharrend wie ein bröckelnder Stein unter meiner Hand. Ich bin ihr in den Jessie-Busch gefolgt, zu den Ufern des Sabi und des Luangwa. Sie war da, wartete auf mich, gekränkt, versteckt in der Gestalt eines Büffels, dem Blut aus dem Maul tropfte. Ihr Geruch war der säuerliche Geruch meines eigenen Schweißes, und ihr Geschmack wie der verfaulter Tomaten in meiner Kehle. Ich habe nach ihr gesucht jenseits des Riffs im tiefen Wasser, mein Atem war metallisch und heiser. Und sie war da, mit Reihen weißer Zähne im Halbkreis ihres Mundes, eine schmale Flosse auf ihrem Rücken, diesmal gekleidet in Haifischleder, und ihre Berührung war so kalt wie der Ozean, ihr Geschmack war salzig und hatte etwas vom Absterbenden an sich. Ich habe nach ihr auf den Straßen gesucht, wenn mein Fuß das Gaspedal herunterdrückte, und sie war da und legte ihren kalten Arm um meine Schultern. Ihre Stimme war das Quietschen des Gummis auf Asphalt und das heisere Brummen des Motors. Zusammen mit Colin Buttler am Steuer (einem Mann, der Furcht nicht wie ein Liebender suchte, sondern ihr mit nachsichtiger Verachtung, wie man sie für eine kleine Schwester empfindet, entgegentrat) wollte ich sie in einem kleinen Boot finden. Diesmal trug sie das Grün mit Federn aus aufspritzendem Wasser und eine Halskette aus scharfen, schwarzen Felsen. Und ihre Stimme war das Rollen der Brandung, die sich in den Wellen brach. Wir trafen uns in der Dunkelheit an der Brücke, und ihre Augen glitzerten wie Bajonette. Aber das war ein erzwungenes 188
Zusammentreffen, das ich nicht gesucht hatte, genau wie es heute nacht sein wird. Ich hasse sie, dachte er, aber sie ist eine Frau, und ich bin ein Mann. Bruce hob seinen Arm, um sein Handgelenk im Schein der Flammen betrachten zu können. »Es ist fünfzehn Minuten vor vier, Ruffy. Gehen wir, und sehen wir uns um.« »Das ist eine gute Idee, Boß.« Ruffy grinste und zeigte dabei seine weißen Zähne in der Dunkelheit. »Hast du Angst, Ruffy?« fragte er plötzlich. Er wollte es wissen, denn sein eigenes Herz schlug wie eine Kriegstrommel, und er hatte keinen Speichel im Mund. »Boß, es gibt Fragen, die man einem Mann nicht stellt.« Ruffy erhob sich langsam und verharrte in der Hocke. »Gehen wir mal nachschauen.« Sie schlichen zusammen in die Stadt, die Straße entlang, suchten hinter Büschen und Gebäuden Deckung und nutzten jeden Schatten aus. Ihre Augen nahmen alles in sich auf, ihr Atem war schnell und flach. Die Nerven waren zum Zerreißen angespannt, bis sie das Hotel erreichten. In den Fenstern war kein Licht, und es schien verlassen, bis Bruce einen Haufen von Leuten draußen auf der Veranda schlafend liegen sah. »Wie viele sind es, Ruffy?« »Weiß nicht. Vielleicht zehn, fünfzehn«, flüsterte Ruffy. »Der Rest von ihnen wird drinnen sein.« »Wo sind die Frauen? Wir müssen ihretwegen vorsichtig sein.« »Die sind schon lange tot. Das können Sie mir glauben.« »Also gut, gehen wir mal nach hinten.« Bruce holte tief Atem, und dann überquerten sie schnell die zwanzig Meter der von Flammen erleuchteten Straße bis zur Ecke des Hotels. Er hielt im Schatten an und fühlte Ruffy direkt neben sich stehen. 189
»Ich möchte einmal kurz in die Halle sehen. Ich schätze, daß die meisten von ihnen da drinnen sein werden«, flüsterte er. »Es gibt nur vier Schlafzimmer«, stimmte Ruffy zu. »Nehmen wir an, daß die Offiziere oben schlafen und der Rest unten in der Halle.« Bruce bewegte sich schnell um die Ecke und stolperte über etwas Weiches. Er fühlte, wie es sich an seinem Fuß bewegte. »Ruffy«, flüsterte er bedrängt, während er versuchte, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Er war auf einen Mann getreten, einen Mann, der im Staub neben der Mauer schlief. Im Licht der Flammen konnte er dessen nackten Oberkörper und das Spiegeln einer Flasche in seiner ausgestreckten Hand sehen. Der Mann setzte sich auf, brabbelte vor sich hin, begann zu husten, würgte schmerzverzerrt und fluchte, als er sich den Mund mit der freien Hand abwischte. Bruce hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden und riß gerade seine Maschinenpistole hoch, damit er sein Bajonett benutzen konnte. Aber Ruffy war schneller. Er setzte einen Fuß auf die Brust des Mannes und drückte ihn damit flach auf seinen Rücken. Dann stand er über ihm und setzte das Bajonett seiner Maschinenpistole wie ein Gärtner einen Spaten ansetzt, wenn er Kartoffeln ausgräbt, stemmte ganz plötzlich sein Gewicht dagegen und bohrte die Klinge in den Hals des Mannes. Der Körper bäumte sich auf, die Beine gerade ausgestreckt, die Arme gereckt, ein leichtes Pfeifen kam aus der durchschnittenen Luftröhre, und dann fiel er zusammen in der Entspannung des Todes. Während Ruffy noch immer über ihm stand, zog er das Bajonett heraus und stieg über die Leiche. Das war ja gerade noch mal gut gegangen, dachte Bruce und verdrängte damit das Gefühl des Grauens, das er bei dieser Exekution empfunden hatte. Die Augen des Mannes waren in fast komischer Überraschung weit aufgerissen. Er hielt die Flasche noch immer in seiner Hand, seine Brust war nackt und der Schlitz seiner Hose geöffnet und steif von trockenem Blut 190
… Nicht seinem Blut, dachte Bruce entsetzt. Sie kamen an den Küchen vorbei. Bruce sah hinein und bemerkte, daß sie leer waren. Die weißen Emaillekacheln reflektierten das fahle Licht, und Berge von benutzten Tellern und Pfannen lagen auf den Tischen und im Abwaschbecken. Dann kamen sie zur Bar. Dort stand eine Sturmlaterne auf dem Bartisch, die gelbes Licht verbreitete. Gestank von Alkohol kam durch das halboffene Fenster; in den Regalen standen keine Flaschen mehr, und Männer schliefen auf dem Bartisch, lagen zusammengekrümmt wie ein Rudel Hunde auf dem Boden, um sie herum zerbrochene Gläser, Gewehre und zerschlagene Möbelstücke. Irgend jemand hatte sich aus dem Fenster übergeben und dabei eine gelbe Spur auf der weißgetünchten Wand hinterlassen. »Bleib du hier«, flüsterte Bruce in Ruffys Ohr. »Ich gehe herum zur Vorderseite, damit ich die Veranda bewerfen kann und auch in die Halle komme. Warte, bis du meine erste Granate explodieren hörst.« Ruffy nickte und lehnte seine Maschinenpistole gegen die Wand. Dann nahm er zwei Handgranaten in beide Fäuste und entschärfte sie. Bruce lief schnell um die Ecke und an der Seitenmauer entlang. Er kam zu den Fenstern der Halle. Sie waren fest verschlossen, und er schielte hinein. Die Lampe in der Bar warf noch einen ganz schwachen Schein durch die offenen Türen und beleuchtete das Innere. Auch hier lagen Männer auf der Erde herum und auf den Sofas an der hinteren Wand. Mindestens zwanzig, schätzte er an der Lautstärke ihres Schnarchens und grinste humorlos. Mein Gott, was wird das für ein fürchterliches Schlachtfest geben … Dann sah er etwas am Fuß der Treppe, und das Grinsen in seinem Gesicht gefror. Er entblößte die Zähne, und seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen. Es waren Klumpen nackten Fleisches, die Körper der vier Frauen. Sobald sie ihren Zweck erfüllt hatten, waren sie wie Abfall behandelt und zur 191
Seite geworfen worden, um Platz für die Schlafenden zu machen. Dort lagen sie nun, eine auf der anderen, ein Durcheinander nackter Arme und Beine und aufgelöster Haare. Jetzt gibt es keine Gnade mehr, dachte Bruce, und Haß nahm den Platz der Furcht in ihm ein, als er auf die Frauen sah, und aus der Art, in der sie lagen, konnte er feststellen, daß in ihnen kein Leben mehr war. Jetzt gibt es keine Gnade mehr! Er nahm seine Maschinenpistole über die linke Schulter und nahm in jede Hand eine Granate, entschärfte sie und rannte geduckt zur Ecke, von der aus er die ganze Länge der gedeckten Veranda entlangsehen konnte. Er rollte beide Granaten zwischen die schlafenden Gestalten und konnte genau das metallische Rollen auf dem Betonboden hören. Schnell zog er sich zurück zum Hallenfenster, ergriff zwei weitere Granaten aus seinem Sack und warf sie nach dem Schärfen durch die geschlossenen Fenster. Der Lärm der splitternden Scheiben vermischte sich mit dem Donnern der Explosion auf der Veranda. Irgend jemand im Raum schrie. Es war ein Überraschungsund Alarmschrei. Dann flogen die Fenster über Bruce nach außen, und ein Glassplitterregen fiel auf ihn. Der Lärm der Explosionen machte ihn halb taub, als er zwei weitere Granaten durch das gähnende Loch der Fenster warf. Sie schrien und stöhnten in der Halle. Ruffys Granaten explodierten in der Bar und rissen dabei die Türen heraus. Dann löschten die Granaten von Bruce jedes Lebenszeichen in der Halle mit einer großen weißen Flamme und Donner aus. Bruce warf noch zwei weitere Granaten, lief dann zur Verandaecke zurück und nahm dabei seine Maschinenpistole von der Schulter. Ein Mann, der mit den Händen seine Augen bedeckte und dem Blut durch die Finger rann, fiel von der niedrigen Veranda und kroch auf seinen Knien weiter. Bruce schoß ihn von einer so kurzen Entfernung nieder, daß das Mündungsfeuer die Brust des Mannes berührte, ihn nach hinten schleuderte, und er mit allen vieren von sich gestreckt auf der Erde liegenblieb. 192
Er blickte hoch und sah zwei weitere Leute auf der Straße. Aber noch ehe er seine Maschinenpistole hochreißen konnte, wurden diese bereits von dem Feuer seiner Gendarmen getroffen und sanken, eingehüllt in kleine Staubwolken, zu Boden. Bruce sprang über die Verandamauer. Er brüllte. Ein Schrei, unartikuliert und sinnlos. Erregt, furchtlos, bemüht, in das Gebäude hineinzukommen, zwischen sie zu geraten. Er stolperte über die Toten auf der Veranda. Gewehrkugeln von der Straße flogen an ihm vorbei, so nah, daß er den Luftsog in seinem Gesicht spürte: Feuer seiner eigenen Leute. »Ihr stupiden Idioten!« schrie er ohne Ärger, ohne Furcht, nur aus dem Bedürfnis heraus zu schreien. Dann stürzte er durch den Haupteingang in die Halle. Sie lag im Halbdunkel, aber er konnte durch die Dunkelheit und den aufgewirbelten Kalkstaub hindurchsehen. Ein Mann auf der Treppe, Gewehrfeuer und der Stich einer Kugel, die den Oberschenkel von Bruce streift, feuert zurück aus der Hüfte, ohne zu zielen, trifft, und der Mann sackt zusammen. Bruce stürmte laut schreiend über die Treppe. Eine Granate in seiner rechten Hand. Wirf sie schön hoch. Paß auf, daß sie die Wand trifft und dann seitlich ins Zimmer rollt. Die Explosion erschüttert den kleinen Raum, der Lichtschein läßt die Konturen eines Mannes erkennen, der in die Halle zurückgeschleudert wird. Der Luftdruck hebt ihn glatt über das Treppengeländer. Zerfetzt und zerrissen durch die Explosion fällt er schwer in den Raum darunter. Nach einiger Zeit noch mal drei Leute oben in einem Schlafzimmereingang, ein anderer Mann, nackt, noch immer betrunken oder im Halbschlaf in einem Türeingang. Mach ihn fertig mit einem einzigen Schuß in den Bauch. Spring über ihn, wirf eine Granate durch das Oberlicht in das zweite Schlafzimmer und eine weitere in das dritte. Tritt die Tür auf zum letzten Zimmer in dem Donnern und Krachen der Explosionen. In dem Zimmer wartete ein Mann auf Bruce mit einer Pistole 193
in der Hand. Beide schossen gleichzeitig. Der Aufschlag der Kugel gegen Bruces Stahlhelm warf seinen Kopf wild nach hinten und schleuderte ihn seitlich gegen die Mauer. Aber er feuerte weiter, Schnellfeuer, er traf mit jeder Kugel, so daß der Mann zu tanzen schien, ein eigenartiger, grotesker Tanz, wobei er durch die Kugeln an die Wand genagelt schien. Bruce lag benommen auf den Knien. In seinen Ohren war das Summen einer Million wahnsinniger Moskitos. Seine Hände waren steif, und das Laden der Pistole dauerte lange. Langsam kam er wieder auf die Füße, mit Gummiknien, aber die geladene Maschinenpistole in seinen Händen machte ihn wieder kampffähig. Draußen im Gang war schon wieder einer. Eine große, dunkle Silhouette im Finstern – bring ihn um! Bring ihn um! »Schießen Sie nicht, Boß!« Ruffy, Gott sei Dank, Ruffy. »Sind noch welche übrig?« »Die sind alle erledigt, Boß. Die haben Sie schön fertiggemacht.« »Wie viele?« Bruce schrie, um das Summen in seinen Ohren zu übertönen. »Vierzig, oder so. Mein Gott, was für eine Schweinerei. Alles ist mit Blut bespritzt. Diese Granaten …« »Es müssen noch mehr da sein.« »Ja, aber nicht hier, Boß. Gehen wir und helfen den Jungens draußen ein bißchen.« Sie rannten den Gang entlang und die Treppen hinunter, und der Boden der Halle war glitschig und klebend, überall Tote. Es roch wie in einer Abdeckerei – Blut und herausgerissene Eingeweide. Einer kroch noch auf Händen und Füßen zur Tür. Ruffy schoß ihn mit zwei Schüssen nieder. »Nicht durch die Eingangstür, Boß, sonst legen Sie unsere Jungs garantiert um. Aus dem Fenster.« Bruce hechtete kopfüber durch das Fenster, ließ sich in der 194
Deckung der Verandamauer abrollen und kam noch mit dem gleichen Schwung auf die Knie. Er fühlte sich stark und unverwundbar. Ruffy war neben ihm. »Hier kommen unsere Jungs«, sagte Ruffy, und Bruce konnte sie die Straße herunterkommen sehen. In kurzen Intervallen rannten sie vorwärts, hielten an, um zu feuern oder eine Granate zu werfen, und stießen dann weiter vor. »Und da kommt Leutnant Hendry mit seinen Leuten.« Aus der entgegengesetzten Richtung, aber im gleichen geduckten, unterbrochenen Lauf konnte Bruce sie mit Wally sehen. Dieser stemmte seine Maschinenpistole in seine Hüfte, wenn er feuerte, wobei sein ganzer Körper von den Rückstößen des Gewehres geschüttelt wurde. Wie ein Vogel, der von Jägern aufgescheucht wird, lief ein Shufta aus dem Schutz des Gemüseladens unbewaffnet auf die Straße, den Kopf gesenkt, die Arme angewinkelt, wie ein Hundertmeterläufer. Bruce war nahe genug, um das Entsetzen in seinem Gesicht zu sehen. Er schien in Zeitlupe zu traben, die Flammen beleuchteten ihn grell und warfen einen verzerrten Schatten vor ihm her. Die Kugeln trafen ihn, aber er blieb noch auf den Beinen, lief im Kreis und warf die Arme in die Luft, als ob er mit seinen Händen einen Bienenschwarm vertreiben wollte; die Kugeln schlugen laut in seinen Körper ein und ließen kleine Staubwolken von seiner Kleidung aufsteigen. Neben Bruce zielte Ruffy ruhig und schoß ihn in den Kopf, das grausige Schauspiel beendend. »Es muß noch mehr von ihnen geben«, protestierte Bruce. »Wo verstecken sie sich?« »In den Büros, würde ich sagen.« Daraufhin wandte Bruce seine Aufmerksamkeit schnell dem Büroblock der Union Minière zu. Die Fenster waren dunkel. Aber als er länger hinstarrte, glaubte er Bewegungen wahrzunehmen. Er sah schnell zu Wallys Leuten zurück und beobachtete, daß vier von ihnen dicht zu Wally aufgeschlossen hatten, 195
während sie vorwärts stürmten. »Hendry, paß auf«, schrie er mit aller Kraft. »Rechts von den Büros!« Aber es war zu spät. Gewehrfeuer blitzte aus den dunklen Fenstern auf, und die kleine Gruppe von rennenden Männern brach auseinander. Bruce und Ruffy feuerten gemeinsam, sie belegten die Fenster mit einem Kugelhagel und leerten die Magazine ihrer Maschinenpistolen. Während er nachlud, sah Bruce zurück, wo Wallys Leute getroffen worden waren. Ungläubig sah er Wally als einzigen noch immer auf den Beinen. Er überquerte die Straße, rannte durch ein von Kugeln bestrichenes Gebiet auf sie zu, erreichte die Veranda und ließ sich über die niedrige Mauer fallen. »Bist du verletzt?« fragte Bruce. »Nicht mal ein Kratzer. Diese Strolche könnten noch nicht mal mit einem Präservativ ihr Ziel treffen«, schrie Wally laut, und seine Stimme drang tief in die plötzliche Stille. Er riß das leere Magazin seines Gewehres heraus, warf es beiseite und steckte ein volles hinein. »Mach Platz«, grollte er. »Laß mich mal an diese Strolche heran.« Er nahm die Maschinenpistole hoch, stützte den Lauf auf die Mauer, kniete sich dahinter, legte den Kolben an seine Schulter und begann in kurzen Stößen durch die Fenster des Büroblocks zu feuern. »Genau das habe ich befürchtet.« Bruce erhob seine Stimme über den Lärm der Waffen. »Jetzt haben wir ein Widerstandsnest, direkt im Stadtzentrum. Es müssen ungefähr fünfzehn bis zwanzig Mann da drin sein. Das kann Tage dauern, bis wir die ausgeräuchert haben.« Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Lastwagen, die vor dem Bahnhof standen. »Sie können von dort aus die Lastwagen unter Beschuß nehmen, und wenn sie merken, was wir vorhaben, oder wenn wir sie zu stürmen versuchen, schießen sie den Tankwagen in Brand und zerstören 196
die Laster.« Das Licht der Flammen flackerte über das Gelb und das Rot des Tankwagens. Er sah so groß und verletzbar aus, wie er da im Freien stand. Nur eine einzige Kugel war nötig von den vielen hundert, die schon abgefeuert waren, um seine Existenz zu beenden. Wir müssen sie jetzt überfallen, beschloß er. Hinter dem Büroblock war der Rest von Wallys Gruppe in Deckung gegangen und hielt das Gebäude unter scharfem Beschuß. Die Gruppe von Bruce verbarrikadierte sich im Hotel und bezog an den Fenstern Stellung. »Ruffy.« Bruce ergriff ihn an der Schulter. »Wir nehmen vier Mann und gehen zur Rückseite des Büroblocks. Von dort aus haben wir nicht einmal zwanzig Meter ohne Deckung zu überqueren. Wenn wir erst mal an der Mauer sind, können sie uns nicht mehr erwischen, aber wir können sie mit unseren Granaten ausräuchern.« »Die zwanzig Meter sehen von hier wie zwanzig Meilen aus«, murmelte Ruffy, aber er nahm seinen Sack mit Granaten auf und kroch hinter die Mauer der Veranda. »Such vier Leute aus, die mit uns kommen sollen«, befahl Bruce. »Okay, Boß. Wir warten auf Sie in der Küche.« »Hendry, hör zu.« »Ja. Was ist los?« »Wenn ich die Ecke da drüben erreicht habe, gebe ich dir ein Zeichen, das heißt, daß wir dann losrennen können. Du mußt uns in dem Augenblick volle Deckung geben, so daß sie ihre Köpfe unten halten.« »Okay«, stimmte Wally zu und feuerte eine weitere kurze Salve. »Paß auf, daß du nicht uns triffst, wenn wir an die Mauer kommen.« Wally wandte sich um und sah Bruce an. Er grinste hämisch. 197
»Solche Fehler passieren manchmal, weiß du? Ich kann dir nichts versprechen. Du machst dich einfach fabelhaft vor meinem Lauf.« »Mach keine Witze«, sagte Bruce. »Wer macht hier Witze?« grinste Wally. Bruce wendete sich ab. Ruffy und die vier Gendarmen warteten schon in der Küche auf ihn. »Es kann losgehen«, sagte er und führte sie über den Hof hinter der Küche, an den Toiletten vorbei, im Schutz der Stahltüren, dann hinter die Nebengebäude, vorbei an Qualm und üblem Gestank, um die Ecke herum und über die Straße zu den Gebäuden hinter dem Büroblock. Dort hielten sie an, drängten sich zusammen, als ob sie sich gegenseitig Mut machen und sich aufmuntern wollten. Bruce maß die Entfernung noch einmal mit den Augen ab. »Es ist nicht sehr weit«, sagte er. »Wie man’s nimmt«, grunzte Ruffy. »Nach dieser Seite gibt es nur zwei Fenster.« »Zwei sind genug, wieviel hätten Sie denn gern?« »Denke immer daran, Ruffy, man kann nur einmal sterben.« »Einmal ist genug«, sagte Ruffy. »Aber hören wir mit dem Gerede auf, Boß. Zuviel Gerede geht einem in die Knochen.« Bruce ging vor an die Ecke des Gebäudes, heraus aus dem Schatten. Er winkte zum Hotel und bildete sich ein, eine Antwort vom Ende der Veranda gesehen zu haben. »Alle zusammen«, sagte er und holte tief Luft, hielt sie eine Sekunde lang an, und dann stürzte er hinaus ins Freie. Er fühlte sich jetzt klein, nicht mehr tapfer und sehr verwundbar. Und seine Beine bewegten sich so langsam, daß er glaubte, auf der Stelle zu treten. Die schwarzen Fenster gähnten ihn an. Jetzt, dachte er, jetzt mußt du sterben. Wohin? dachte er. Bloß nicht in den Bauch. Lieber Gott, bitte nicht in den Bauch. Seine Beine schienen steif zu werden, als er den halben Weg 198
geschafft hatte. Nur noch zehn Schritte, dachte er. Noch ein kleines Stück. Nur noch ein ganz kleines Stück bis zum rettenden Ufer. Aber nicht in den Bauch. Lieber Gott, bitte nicht in meinen Bauch. Und seine Muskeln spannten sich in Erwartung. Sein Bauch war fest eingezogen, während er losrannte. Plötzlich waren die schwarzen Fenster grell erleuchtet, helle weiße Rechtecke in dem dunklen Gebäude, und Glas splitterte auf sie herab wie ein Speichelregen aus dem Mund eines alten Mannes. Dann war es wieder dunkel, und Rauch quoll aus der Dunkelheit. Der Nachhall der Explosion dröhnte noch in ihren Ohren. »Eine Granate!« Bruce war verwirrt. »Irgend jemand hat dort drinnen eine Granate hochgehen lassen.« Er stürzte auf die rückwärtige Tür ohne anzuhalten, und sie brach unter seinem Ansturm auf. Er stand im Raum, schoß, hustete von dem Rauch und feuerte dabei wild auf die kleinen Bewegungen der sterbenden Männer. Im Halbdunkel lag etwas Langes, Weißes an der einen Wand. Ein Körper, der nackte Körper eines weißen Mannes. Er ging hinüber und sah auf ihn hinab. »André«, sagte er. »Es ist André – und er hat die Granate geworfen.« Und schon kniete er neben ihm. Zusammengekrümmt auf dem Betonfußboden lag André. Er lebte noch, aber langsam innerlich verblutend, tropften die letzten Lebenstropfen aus ihm heraus. Sein Bewußtsein war immer klar gewesen, er hörte das Krachen von Bruces Granaten und das Gewehrfeuer in den Straßen, den Lärm rennender Menschen und die Schreie in der Nacht, und dann waren die Gewehre ganz nah, in dem Raum, in dem er lag. Er öffnete die Augen. An jedem Fenster standen Männer. Sie duckten sich unter die Fensterbänke, und der Raum war voll von Pulverdampf und dem Rattern von Gewehren, die in die Nacht feuerten. 199
André war kalt. Alles in ihm war kalt. Selbst seine Hände, die er vor der Brust hielt, waren kalt und schwer. Nur sein Bauch war warm, warm und ungeheuer angeschwollen. Es kostete ihn Mühe zu denken, denn auch sein Gehirn war kalt, und der Lärm der Gewehre lenkte ihn ab. Er beobachtete die Männer an den Fenstern, gleichgültig und ohne Interesse, und langsam verlor sein Körper sein Gewicht. Er schien sich vom Boden zu erheben und auf den Raum von der Decke herabzusehen. Seine Augen fielen ihm zu, und er zwang sich, sie wieder zu öffnen und kämpfte seinen eigenen Körper nieder. Plötzlich flog etwas durch den Raum, und Mauerstücke fielen von der Wand über seinen Kopf; Staubwolken erfüllten die Luft. Einer der Männer am Fenster fiel nach hinten, seine Waffe entfiel seinen Händen und knallte laut auf den Boden; er überschlug sich zweimal und lag dann still, mit dem Gesicht nach unten, etwa eine Armlänge von André entfernt. Mühsam versuchte André zu analysieren, was seine Augen wahrgenommen hatten. Jemand beschoß das Gebäude von außen. Der Mann neben ihm war tot, und aus seiner Kopfwunde floß das Blut langsam über den Fußboden auf ihn zu. Wieder schloß André seine Augen. Er war sehr müde, und ihm war sehr kalt. Es entstand eine Pause in dem Feuergefecht, eine jener kurzen Augenblicke des Schweigens mitten in einer Schlacht. Und in dieser Stille hörte André weit weg eine Stimme schreien. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber er erkannte die Stimme, und seine Augen öffneten sich wieder. Er war erregt. Eine neue Kraft hatte ihn ergriffen, denn es war Wallys Stimme, die er gehört hatte. Er bewegte sich ein wenig, ballte die Hände zusammen, und sein Hirn arbeitete fieberhaft. Wally ist zurückgekommen – er ist zurückgekommen, um mich zu retten. Er bewegte seinen Kopf langsam und unter 200
Schmerzen hin und her, und das Blut in seinem Bauch gluckerte. Ich muß ihm helfen, er darf sich nicht weiter in Gefahr bringen – diese Männer wollen ihn umbringen. Ich muß sie daran hindern. Sie dürfen Wally nicht töten. Und dann sah er die Handgranaten an dem Gürtel des Mannes vor ihm hängen. Seine Augen hefteten sich auf die runden glänzenden Metallkörper, und er begann leise zu beten. »Heilige Maria, du Gnadenreiche, der Herr ist mit dir.« Er bewegte sich wieder und streckte seinen Körper. »Gesegnet bist du unter den Weibern und gesegnet ist die Frucht deines Leibes, Jesus.« Seine Hand schob sich in die Blutlache, und der Lärm der Gewehre erfüllte seinen Kopf, so daß er sich nicht mehr beten hören konnte. Seine Finger gingen vorwärts und zogen die Hand durch das Blut, so langsam wie eine Fliege auf einem Teller Honig. »Gesegnet ist die Frucht deines Leibes Jesus. O Jesus, bete für mich jetzt und in dieser Stunde. Sei mir gnädig.« Er berührte das untere Stahlende der Granate. »Wir Sünder – am Tag – in der Stunde. Diesem Tag – an diesem Tag – unser täglich Brot.« Er fummelte mit steifen kalten Fingern an dem Haken. »Geheiligt sei dein – geheiligt sei dein …« Der Haken ging auf, und er hielt die Granate, seine Finger umklammerten sie. Er zog die Granate an sich, hielt sie mit beiden Händen gegen seine Brust. Dann hob er sie an den Mund und nahm den Bolzen zwischen die Zähne. »Bete für uns Sünder«, flüsterte er, während er den Stift herauszog. »… Jetzt und in der Stunde unseres Todes.« Und dann versuchte er, sie zu werfen. Sie rollte ihm aus der Hand und holperte über den Boden. Der Griff löste sich, und sie rollte gegen die Wand. General Moses drehte sich am 201
Fenster um und sah es. Seine Lippen öffneten sich, und seine Brille glänzte über der rosaroten Öffnung seines Mundes. Die Granate lag zu seinen Füßen. Und dann ging alles in dem Lärm und den Flammen der Explosion unter. Später, nach den beißenden Dämpfen, nach dem herabfallenden Kalk und dem Knirschen zerbrochenen Glases, in dem Stöhnen und Schreien sterbender Männer lebte André noch. Die Gewalt der Explosion hatte dem Mann neben ihm Kopf und Brust herausgerissen. Es war noch genug Leben in André, um Bruce Currys Gesicht neben sich zu erkennen, obwohl er die Hände, die ihn berührten, nicht mehr fühlte. »André!« sagte Bruce. »Es ist André – er hat die Granate geworfen!« »Sag es ihm –«, flüsterte André und hielt inne. »Ja, André«, sagte Bruce. »Ich habe nicht, an diesem Tag und zu dieser Stunde. Ich mußte es – diesmal nicht.« Er fühlte, wie es mit ihm zu Ende ging, wie eine Kerze bei starkem Wind, und er versuchte, seine Hände schützend davorzuhalten. »Was ist es, André, was muß ich ihm sagen.« Es war Bruces Stimme, aber ganz weit weg. »Seinetwegen – diesmal – nicht deswegen, ich hab’ es nicht getan.« Er hielt inne und sammelte alle Kraft, die noch in ihm war. Seine Lippen zitterten, während er so inständig versuchte, es auszusprechen. »Wie ein Mann!« flüsterte er, und die Kerze verlöschte. »Ja«, sagte Bruce weich, während er ihn hielt. »Diesmal wie ein Mann.« Vorsichtig legte er André zurück, bis dessen Kopf den Boden berührte. Dann richtete er sich auf und sah auf den fürchterlich verstümmelten Körper. Er fühlte eine Leere in sich. Eine gähnende Leere. Das gleiche Gefühl wie nach einer Liebe. Er ging zu dem Schreibtisch dicht an der anderen Wand. 202
Draußen hörte das Gewehrfeuer langsam auf, wie schwacher Applaus, flackerte noch einmal auf und verstummte dann endgültig. Ruffy und die vier Gendarmen rannten aufgeregt um ihn herum. Sie untersuchten die Toten, schrien und lachten, das eigenartig verklemmte Lachen von Männern, die gerade einer Todesgefahr entronnen waren. Langsam löste er mit ruhigen Fingern den Kinnriemen seines Helms und starrte durch das Zimmer auf Andrés Leiche. »Ja«, flüsterte er wieder. »Diesmal wie ein Mann. Alles andere ist ausgelöscht. Die Rechnung ist bezahlt.« Seine Zigaretten waren im Sumpf feucht geworden, aber er nahm eine aus der Mitte der Packung, strich sie mit ruhigen, gefühllosen Fingern gerade. Er fand sein Feuerzeug und zündete es an. Und dann, ohne jede Warnung, begannen seine Hände zu zittern. Die Flamme des Feuerzeuges flatterte hin und her, und er mußte es mit beiden Händen halten, um es zur Ruhe zu bringen. An seinen Händen klebte Blut. Neues, dickes Blut. Er ließ das Feuerzeug zuklappen und sog den Rauch ein. Er schmeckte bitter, und Speichel bildete sich in seinem Mund. Er schluckte ihn herunter, Übelkeit stieg in seinem Magen auf, sein Atem wurde schneller. So war es noch nie gewesen, erinnerte er sich. Nicht einmal in jener Nacht an der Brücke, als sie an der Flanke durchgebrochen waren und wir im Dunkeln in ihre Bajonette liefen. Früher hatte es mir nichts ausgemacht, jetzt empfinde ich wieder etwas. Jetzt lebe ich wieder. Plötzlich mußte er allein sein; er richtete sich auf. »Ruffy.« »Ja, Boß.« »Bring das hier in Ordnung. Hole Decken vom Hotel für de Surrier und die Frauen, und auch für die Männer auf dem Bahnhof.« Es war, als ob jemand anderes sprach. Er konnte die Stimme hören, obwohl sie von ganz weit weg schien. »Sind Sie okay, Boß?« 203
»Ja.« »Ihr Kopf?« Bruce hob die Hand und befühlte die große Beule in seinem Helm. »Nichts Besonderes«, sagte er. »Ihr Bein?« »Nur eine Schramme. Na, mach schon.« »Okay, Boß. Was sollen wir mit den anderen machen?« »Wirf sie in den Fluß«, sagte Bruce und ging hinaus auf die Straße. Hendry und seine Gendarmen waren noch immer auf der Veranda des Hotels. Sie hatten sich über die Leichen hergemacht, und benutzten ihre Bajonette wie Metzgermesser zum Abschneiden der Ohren; auch sie lachten ein angestrengtes, nervöses Lachen. Bruce überquerte die Straße zum Bahnhof. Es dämmerte. Der Morgen schob sich am Himmel empor wie ein Stück Stahl, das aus einem Walzwerk ausgerollt wird; zuerst purpurn und lila, und dann rot, als es über dem Wald zu schimmern begann. Der Ford stand noch immer da auf der Rampe, wo er ihn stehengelassen hatte. Er öffnete die Tür, setzte sich hinter das Steuer und beobachtete, wie die morgendliche Dämmerung zum Tag wurde.
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17 »Captain, der Feldwebel bittet Sie, zu kommen. Er will Ihnen etwas zeigen.« Bruce hob seinen Kopf vom Steuerrad. Er hatte den Gendarm nicht kommen gehört. »Ich komme«, sagte er, nahm seinen Helm, seine Maschinenpistole vom Sitz neben sich und folgte dem Mann zurück zum Büroblock. Seine Gendarmen schwenkten einen toten Mann an Armen und Beinen hin und her und warfen ihn auf einen Lastwagen. »Un de deux, trois.« Mit großem Gelächter flog der leblose Körper über die Seitenplanke auf einen Haufen von Leichen, die sich bereits dort angesammelt hatten. Feldwebel Jacques kam aus dem Büro und zog einen Mann an den Füßen hinter sich her. Der Kopf schlug leicht auf jede Stufe auf und hinterließ einen feuchten braunen Fleck auf dem Zementboden der Veranda. »Wie ein Schweinchen«, rief Jacques fröhlich. Es war die Leiche eines kleinen, grauhaarigen, dürren Mannes, auf dessen Nasenrücken man die deutlichen Einschnitte einer Brille sehen konnte. An seiner Uniformjacke hingen zwei Reihen von Orden. Bruce sah, daß einer dieser Orden das purpur und weiß gestreifte Band des »Military Cross« war, eine eigenartige Beute im Kongo. Jacques ließ die Beine der Leiche los, zog sein Bajonett und beugte sich über den Mann. Er nahm ein Ohr, das flach gegen die glatte Kopfhaut gedrückt war, zog es nach vorne und schnitt es mit einem einzigen Hieb des Bajonetts ab. Das rohe Fleisch schimmerte rosa vor der dunklen Höhle des Gehörganges. Bruce ging in das Büro, seine Nasenflügel bebten von dem Gestank. »Schauen Sie sich mal das hier an, Boß.« Ruffy stand am Schreibtisch. 205
»Das ist genug, um sich einen Ruhesitz am Hydepark zu kaufen«, grinste Hendry neben ihm. In seiner Hand hielt er einen Bleistift. Mit ihm hatte er etwa ein Dutzend Männerohren aufgespießt, wie auf einem Fleischspieß. »Ja«, sagte Bruce, als er auf den Haufen von Industrie- und Schmuckdiamanten auf der Schreibtischunterlage blickte. »Ich weiß darüber Bescheid. Du zählst sie besser, Ruffy, und packst sie dann in die Beutel zurück.« »Du willst sie doch nicht etwa zurückgeben«, protestierte Hendry. »Lieber Gott, wenn wir uns diesen Haufen durch drei teilen, du, Ruffy und ich, dann haben wir da genug bis ans Lebensende.« »Oder genug, um dafür an die Wand gestellt zu werden«, sagte Bruce grimmig. »Wieso glaubst du eigentlich, daß die Herren in Elisabethville nicht über die Diamanten Bescheid wissen?« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Ruffy zu. »Zähle und verpacke sie. Du bist dafür verantwortlich. Und verlier keinen davon.« Bruce sah durch den Raum auf das mit einer Decke verhüllte Bündel, das einmal André de Surrier war. »Hast du ein paar Leute zur Bestattung eingeteilt?« »Ja, Boß. Sechs Mann heben draußen ein Grab aus.« »Gut«, nickte Bruce. »Hendry komm mit, wir gehen rüber und sehen uns mal die Lastwagen an.« Eine halbe Stunde später klappte Bruce die Kühlerhaube des letzten Wagens zu. »Das ist der einzige, der nicht mehr fährt. Der Vergaser ist kaputt. Wir werden die Reifen als Ersatz mitnehmen.« Er wischte seine schmierigen Hände an der Hose ab. »Gott sei Dank, daß der Tankwagen nicht getroffen ist. Da sind zweieinhalbtausend Liter Benzin. Mehr als genug für die Rückreise.« »Nimmst du den Ford mit?« fragte Hendry. »Ja. Der könnte sich nützlich machen.« »Und außerdem ist er viel komfortabler für dich und deine 206
französische Kleine.« Hendrys Stimme triefte von Sarkasmus. »Das stimmt«, sagte Bruce gleichgültig. »Kannst du fahren?« »Was glaubst du denn? Glaubst du, ich bin ein Idiot?« »Jeder versucht dir immer eins auszuwischen. Nicht wahr? Du kannst dich auf niemanden verlassen. Stimmt doch?« fragte Bruce sanft. »Du hast verdammt recht«, stimmte Hendry zu. Bruce wechselte das Thema. »André hatte noch, ehe er starb, eine Nachricht für dich hinterlassen.« »Der alte Puppenjunge!« »Er hat die Granate geworfen. Wußtest du das?« »Ja, das wußte ich.« »Willst du hören, was er gesagt hat?« »Einmal ein Schwuler, immer ein Schwuler. Und der einzige gute Schwule ist ein toter Schwuler.« »Schon gut«, sagte Bruce nachdenklich. »Nimm dir ein paar Leute. Sie sollen dir helfen, die Wagen aufzutanken. Wir haben schon genug Zeit vergeudet.« Sie beerdigten ihre Toten in einem Gemeinschaftsgrab, legten sie schnell hinein und schaufelten sie genauso schnell wieder mit Erde zu. Dann standen sie bedrückt und schweigend um das Grab herum. »Werden Sie darüber erzählen, Boß?« fragte Ruffy, und alle sahen Bruce an. »Nein.« Bruce wandte sich ab und ging zu den Wagen. Was, zum Teufel, kann man schon erzählen, dachte er ärgerlich. Der Tod ist nicht jemand, mit dem man sich unterhalten kann. Was zu sagen bleibt – »Das hier waren Männer; schwach und stark, böse und gut, und alles, was es dazwischen gibt. Und jetzt sind sie tot – wie Schweinefleisch.« Er sah über seine Schulter. »Also los, fahren wir.« Der Konvoi schob sich langsam über die Dammstraße. Bruce führte ihn in dem Ford an, der Fahrtwind blies durch die 207
eingeschlagene Windschutzscheibe. Aber er war zu feucht und zu schwül, um eine wirkliche Erleichterung von der immer stärker werdenden Hitze zu bringen. Die Sonne stand hoch über dem Wald, als sie die Abzweigung zur Mission passierten. Bruce sah einen Augenblick dorthin, wollte dem Konvoi schon ein Zeichen geben, weiterzufahren. Er wollte nach St. Augustin fahren, wollte Mike Haig und Vater Ignatius sehen, um sicher zu sein, daß alles in Ordnung war. Aber dann schob er die Versuchung beiseite. Falls in St. Augustin auch Schreckenstaten verübt worden waren, falls die Shuftas sie gefunden hatten und auch dort ein Haufen toter Männer und vergewaltigter Frauen herumlag, dann konnte er sowieso nichts tun – er wollte nichts mehr davon wissen. Es ist besser, zu glauben, daß sie sie sich in den Dschungel in Sicherheit gebracht haben. Es ist besser, zu glauben, daß aus all dem noch etwas Gutes übrigbleiben wird. Entschlossen führte er den Konvoi an der Abzweigung vorbei über die Berge zu der Bahnkreuzung. Plötzlich überkam ihn eine andere Idee, sie beschäftigte ihn mit großer Freude. Vier Männer waren nach Port Reprieve aufgebrochen, Männer ohne Hoffnung, Männer, die von Gott verlassen waren. Und sie hatten gelernt, daß es nicht zu spät war, daß es niemals zu spät ist. Einer von ihnen hatte die Kraft gefunden, wie ein Mann zu sterben, obgleich er ein ganzes Leben lang nur ein Schwächling gewesen war. Ein zweiter hatte seine verlorene Selbstachtung wiedergefunden und nutzte die Chance, von neuem zu beginnen. Der dritte hatte – hier zögerte er – ja, der dritte hatte die Liebe wiedergefunden. Und der vierte? Als Bruce an Wally Hendry dachte, verschwand sein Lächeln. Es war eine hübsche kleine Parabel, mit 208
Ausnahme von Wally Hendry. Was hatte er gefunden? Ein Dutzend Menschenohren, die er auf einem Bleistift aufgespießt hatte?
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18 »Kannst du genug Dampf in den Kessel bekommen, um bis zur Kreuzung zurückzufahren – nur die paar Meilen?« »Ich bin verzweifelt, Monsieur, aber er würde nicht einmal einen Rülpser bei sich behalten, geschweige denn die Spur von Dampf.« Der Lokomotivführer spreizte seine kleinen fleischigen Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. Bruce betrachtete noch einmal das Loch im Kessel. Das Metall war durchschlagen und ausgefranst wie die Blüten einer Blume. Es war verlorene Liebesmüh. »Also gut, danke.« Er wandte sich an Ruffy. »Wir müssen alles zum Konvoi zurücktragen. Wieder ein verlorener Tag.« »Das ist ein langer Marsch«, stimmte Ruffy zu. »Wir fangen besser sofort an.« »Wieviel Lebensmittel haben wir?« »Nicht zu viel. Wir haben in der letzten Zeit eine Menge Extramünder gefüttert und eine ganze Menge der Mission abgegeben.« »Wieviel?« »Für etwa zwei Tage.« »Damit sollten wir es bis Elisabethville schaffen.« »Boß, wollen Sie alles auf den Lastwagen mitnehmen? Schweinwerfer, Munition, Decken – das ganze Zeug?« Bruce zögerte einen Augenblick. »Ich glaube schon. Wir könnten es gebrauchen.« »Dazu brauchen wir bestimmt noch den ganzen Tag.« »Ja«, stimmte Bruce zu. Ruffy ging am Zug entlang zurück, als Bruce ihm nachrief: »Ruffy!« »Boß?« »Vergiß das Bier nicht.« Ruffys schwarzes Mondgesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. 210
»Glauben Sie, daß wir’s mitnehmen sollen?« »Warum nicht«, lachte Bruce. »Also Mann, Sie haben mich direkt überredet.« Es war schon fast Nacht geworden, als sie das letzte Material von dem verlassenen Zug zu den Lastwagen getragen und alles verladen hatten. Zeit ist eine windige Angelegenheit, mehr noch als Reichtum. Kein Banksafe kann sie für jemanden aufbewahren, dieses kostbare Gut, das wir so großzügig an Kleinigkeiten verschwenden. Wenn wir geschlafen, gegessen und uns von einem Ort zum anderen bewegt haben, bleiben nur noch ein paar traurige Prozente für das wirkliche Leben übrig. Bruce fühlte jedesmal eine sinnlose Wut, wenn er über dieses Problem nachdachte. Und wenn man noch die Zeit abzieht, die man an seinem Arbeitsplatz verbringt, wieviel bleibt dann übrig? Ein halber Tag in der Woche. Das ist genau die Zeit, die der Durchschnittsmensch wirklich lebt. Da sieht man, wie weit die Wirklichkeit unserer Existenz von ihren Möglichkeiten entfernt ist. Gehen wir noch etwas weiter: Wir können nur einen Bruchteil unserer physischen und geistigen Stärke ausnutzen. Nur unter Hypnose sind wir in der Lage, mehr als ein Zehntel von dem, was an Kraft in uns steckt, zu verbrauchen. Teilen wir also diesen halben Tag in einer Woche durch zehn, und der Rest ist verschwendet! Eine erschreckende Verschwendung. »Ruffy, hast du schon Wachen für heute nacht eingeteilt?« schnauzte Bruce ihn an. »Noch nicht, ich wollte gerade –« »Dann mach es – aber ein bißchen plötzlich.« Ruffy sah Bruce fragend an, und trotz seines Ärgers bedauerte Bruce, daß er sich ausgerechnet diesen Energieberg ausgesucht hatte, um seinen Ärger abzureagieren. »Wo zum Teufel ist Hendry?« fuhr er ihn an. Wortlos zeigte Ruffy auf eine Gruppe von Männern, die bei 211
einem der Wagen am hintersten Ende des Konvois standen, und Bruce ging weiter. Von einer plötzlichen Ungeduld ergriffen, fiel Bruce über seine Leute her. Er schrie sie an und gab ihnen ein Dutzend verschiedene Befehle. Dann ging er an der Kolonne auf und ab und sah zu, daß seine Befehle bis ins kleinste Detail durchgeführt wurden. Er kontrollierte die Stellung der Maschinengewehre, der Scheinwerfer, er vergewisserte sich, daß das einzige kleine Kochfeuer nicht von den Balubas eingesehen werden konnte, hielt an, um das Auftanken der Wagen zu beaufsichtigen und die Motoren bis ins kleinste zu prüfen. Die Männer vermieden es, ihm in die Augen zu sehen und beugten sich mit geschäftigem Eifer über ihre Arbeit. Kein lautes Sprechen und kein Gelächter ertönte im Lager. Wieder hatte sich Bruce gegen eine Nachtfahrt entschlossen. Die Versuchung plagte ihn sehr, aber die Erschöpfung der Gendarmen, die seit dem vorhergehenden Morgen nicht geschlafen hatten, und die Gefahren, denen sie sich bei einer Nachtfahrt auslieferten, konnte er nicht einfach beiseite schieben. »Wir fahren, sobald es morgen früh hell ist«, sagte Bruce zu Ruffy. »Okay, Boß«, nickte Ruffy und sagte dann beruhigend: »Sie sind müde. Das Essen ist beinahe fertig, dann schlafen Sie mal ein bißchen.« Bruce starrte ihn an und hatte schon den Mund geöffnet, um ihn anzuschnauzen, aber dann klappte er ihn wieder zu. Er drehte sich um und ging aus dem Lager in den Wald. Er fand einen umgefallenen Baum, setzte sich auf ihn und zündete eine Zigarette an. Es war jetzt dunkel, und nur ein paar Sterne schimmerten durch die Regenwolken, die den Himmel verfinsterten. Leise Geräusche klangen vom Lager herüber, aber kein Licht war zu sehen, genauso, wie er es befohlen hatte. 212
Sein Ärger tobte in ihm, und da er ihn nirgends auslassen konnte, wurde er nur größer statt kleiner. Er wütete ruhelos in ihm, bis er endlich ein Ziel fand – sich selbst. Er stellte fest, daß ihn eine unbestimmte lähmende Depression ergriffen hatte – etwas, das er seit sehr langer Zeit nicht mehr erlebt hatte, seit fast zwei Jahren. Nicht mehr, seit seine Ehe in die Brüche gegangen war, und er die Kinder verloren hatte. Nicht mehr, seit er alle Gefühle unterdrückt und sich dazu gebracht hatte, an dem Leben um ihn keinen Anteil zu nehmen. Aber jetzt war diese Barriere verschwunden, jetzt gab es keinen Hafen, der ihn vor Unwettern und Stürmen schützte, jetzt mußte er sich in dem Sturm behaupten. Hol die Segel ein und mach den Anker los. Seine Wut war verschwunden. Wut erzeugte wenigstens Hitze, aber was er jetzt fühlte, war kalt. Eisige Wellen brachen über ihm zusammen, und er kam sich klein und unbedeutend unter ihrer Gewalt vor. Seine Gedanken wanderten zu seinen Kindern, und die Einsamkeit um ihn ließ ihn frieren wie ein eisiger Wind vom Südpol. Er schloß die Augen und preßte seine Finger auf die Lider. Ihre Gesichter erschienen auf einmal vor seinem geistigen Auge. Christine mit ihren dicken rosa Beinchen und einem rüschenbesetzten Rock, mit dem Gesicht eines nachdenklichen Engels unter weichem, pagenförmig geschnittenem Haar. »Dich liebe ich am allermeisten«, sagte sie immer mit so viel Ernst, während die beiden kleinen Hände, die noch von Eiscreme ein bißchen klebrig waren, sein Gesicht hielten. Simon war eine Miniaturausgabe von Bruce, sogar seine Nase. Verschrammte Knie und ein verschmutztes Gesicht. Er zeigte seine Zuneigung für ihn nicht mit Zärtlichkeiten, sondern mit etwas viel Wertvollerem, nämlich einer Kameradschaft, die ihn viel älter als seine sechs Jahre machte. Lange 213
Diskussionen über alles, von Religion angefangen: »Warum hat sich Jesus nicht rasiert?« bis zur Politik: »Vater, wann wirst du eigentlich Premierminister?« Jetzt war die Einsamkeit zu etwas Gegenständlichem geworden, wie die Arme eines Reptils, das ihm die Brust einschnürte. Bruce trat mit dem Absatz die Zigarette aus und flüchtete sich in Haß für die Frau, die einmal seine Ehefrau gewesen war, die Frau, die ihm seine Kinder genommen hatte. Aber auch sein Haß war kalt. Kalte Asche mit einem schalen Geschmack. Denn er wußte genau, daß die Schuld nicht nur auf ihrer Seite lag. Das war sein Versagen. Vielleicht, wenn er sich mehr bemüht hätte. Vielleicht, wenn er einige Grausamkeiten nicht ausgesprochen hätte. Vielleicht – ja, es hätte sein können. Vielleicht. Wer weiß. Aber er hatte es nicht getan. Vorbei und zu Ende, und jetzt war er allein. Es gibt keinen schlimmeren Zustand; jenseits der Einsamkeit gab es nichts mehr. Es war wie die Wüste und die Verbannung. Irgend etwas bewegte sich nicht weit von ihm im Dunkel. Ein leises Rascheln im Gras, etwas, das sich eher fühlen als sehen ließ. Bruce spannte sich. Seine rechte Hand griff zum Gewehr. Langsam brachte er es in Anschlag, seine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Da, wieder die Bewegung, näher jetzt. Ein Zweig brach. Bruce drehte sein Gewehr in die Richtung, aus der das Geräusch kam, den Finger am Abzug, seinen Daumen auf dem Sicherungshebel. Wie dumm, sich vom Lager zu entfernen. Das war ja eine direkte Herausforderung. Und nun hatte er den Salat. Balubas! Er konnte jetzt die Gestalt in dem matten Schein der Sterne ausmachen, die sich vorsichtig vor ihm bewegte. Wie viele sind es, überlegte er. Wenn ich den hier treffe, tauchen vielleicht noch ein Dutzend weitere neben ihm auf. Ich muß es riskieren. Einen kurzen Feuerstoß, und dann nichts wie ab. Hundert Meter bis zum Lager. Eine faire Chance. Jetzt blieb die Gestalt stehen, bewegte sich nicht und 214
lauschte. Bruce sah die Konturen des Kopfes – kein Helm, also auch niemand von uns, dachte er. Er hob das Gewehr und zielte. Zu dunkel, um genau zielen zu können, aber auf diese Entfernung konnte er nicht verfehlen. »Bruce?« fragte Germaines Stimme erschreckt, fast flüsternd, gerade als er abdrücken wollte. Mein Gott, das war knapp. Beinahe hätte er sie umgebracht. »Ja, hier bin ich.« Seine Stimme war heiser von dem Schock. »Oh, da bist du.« »Was zum Teufel machst du außerhalb des Lagers?« fragte er wild, als die Wut den Schock ablöste. »Es tut mir leid, Bruce. Ich wollte nur nachsehen, ob mit dir alles in Ordnung ist. Du warst schon so lange fort.« »So, dann geh ins Lager zurück und laß in Zukunft solche dummen Scherze.« Eine ganze Weile herrschte Stille, dann sprach sie sanft, ohne jedoch ihre Betroffenheit verbergen zu können. »Ich habe dir etwas zu essen gebracht. Ich dachte, daß du hungrig sein würdest. Es tut mir leid, wenn ich etwas falsch gemacht habe.« Sie kam näher, bückte sich und stellte etwas vor ihn auf den Boden. Dann drehte sie sich um und war verschwunden. »Germaine.« Er wollte, daß sie zurückkam. Aber die einzige Antwort war ein leichtes Rascheln im Gras, und dann Ruhe. Er war wieder allein. Er nahm den Teller mit dem Essen auf. – Du Narr, dachte er. Du kompletter, dummer, gedankenloser Narr. Du wirst sie verlieren. Und das hast du auch verdient. Du hast alles verdient, was dir bis jetzt passiert ist und noch mehr. Du wirst es wohl niemals lernen, was, Curry? Du wirst niemals lernen, daß es für Selbstsucht und Gedankenlosigkeit eine Strafe gibt. Er sah auf den Teller in seinen Händen. Ochsenfleisch mit Zwiebeln, Brot und Käse. Doch, ich habe gelernt, antwortete er sich selbst mit plötzli215
cher Überzeugung. Ich will das, was zwischen diesem Mädchen und mir zu wachsen beginnt, nicht zerstören. Das war das letztemal; jetzt bin ich ein Mann, und ich werde so kindische Sachen wie Wutanfälle und Selbstbemitleidung endlich abschaffen. Er begann zu essen und merkte, wie hungrig er war. Er aß schnell und schlang es hinunter. Dann stand er auf und ging zum Lager zurück. Ein vorgeschobener Wachtposten rief ihn an, und Bruce antwortete mit großer Geschwindigkeit. Seine Gendarmen waren nachts rasch mit dem Schießen bei der Hand. Der Anruf war eine ungewöhnliche Höflichkeit. »Es ist unklug, allein in der Dunkelheit in den Wald zu gehen«, ermahnte ihn der Wachtposten. »Warum?« Bruce fühlte, wie seine Laune sich änderte. Die Depression wich langsam. »Es ist unklug«, wiederholte der Mann vieldeutig. »Wegen der Geister?« zog ihn Bruce ein wenig auf. »Eine Tante des Mannes meiner Schwester verschwand noch nicht einen Speerwurf weit von meiner Hütte entfernt. Es gab keine Spur, keinen Lärm, nichts. Ich war da. Es gibt keinen Zweifel«, sagte der Mann mit Würde. »Vielleicht ein Löwe?« stachelte Bruce weiter. »Wenn Sie das sagen, wird es so sein. Ich weiß, was ich weiß. Und ich kann nur sagen, daß es nicht klug ist, die Sitten dieses Landes nicht zu beachten.« Gerührt durch das Wohlwollen des Mannes legte Bruce plötzlich seine Hand auf dessen Schulter und drückte sie in einem echten Gefühl der Freundschaft. »Ich werde mich daran erinnern. Ich war einfach gedankenlos.« Er ging in das Lager. Der Zwischenfall hatte ihm etwas bewiesen, was er bis jetzt nur undeutlich vermutet hatte, das ihn aber auch bis zu diesem Augenblick nicht interessiert hatte: Die Männer mochten ihn. Hundert ähnliche Anzeichen hatte er 216
kaum zur Kenntnis genommen, weil sie ihm einfach egal gewesen waren. Aber jetzt machten sie ihm große Freude und entschädigten ihn für die Einsamkeit, die ihn gerade noch umgeben hatte. Er ging an der kleinen Gruppe von Männern vorbei, die um das Kochfeuer herumstanden, zu dem Ford an der Spitze der Autokolonne. Durch das Seitenfenster sah er Germaine in eine Decke eingewickelt auf dem Rücksitz liegen. Er klopfte an die Scheibe, und sie richtete sich auf und kurbelte das Fenster herunter. »Ja?« fragte sie kühl. »Ich danke dir für das Essen.« »Schon gut.« Eine winzig kleine Spur von Wärme war in ihrer Stimme. »Germaine, manchmal sage ich Dinge, die ich nicht so meine. Du hast mich erschreckt, ich hätte dich beinahe erschossen.« »Es war mein Fehler. Ich hätte dir nicht folgen sollen.« »Ich war grob«, sagte er hartnäckig. »Ja.« Jetzt lachte sie. Ihr heiseres kleines Lachen. »Du warst grob, aber aus gutem Grund. Wir wollen es vergessen.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Du mußt dich jetzt ausruhen. Du hast zwei Tage nicht geschlafen.« »Wirst du morgen mit mir in dem Ford fahren, als Beweis dafür, daß du mir verziehen hast?« »Selbstverständlich«, nickte sie. »Gute Nacht, Germaine.« »Gute Nacht, Bruce.« Nein, sagte Bruce zu sich, als er seine Decken neben dem Feuer ausbreitete, ich bin nicht allein. Jetzt nicht mehr.
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19 »Was hältst du von Frühstück, Boß?« »Die können unterwegs essen. Gib jedem eine Büchse Corned Beef. Wir haben schon genug Zeit bei dieser Fahrt vergeudet.« Der Himmel war blaßblau und ging über dem Wald in ein Rosa über. Es war hell genug, um das Zifferblatt der Armbanduhr zu erkennen. Zwanzig Minuten vor fünf. »Bring sie in Trab, Ruffy. Wenn wir vor Dunkelheit Msapa Junktion erreichen, können wir die Nacht durchfahren und morgen zum Frühstück zu Hause sein.« »Sowas hört man gern, Boß.« Ruffy setzte sich den Helm auf und machte sich daran, die Männer auf die Beine zu bringen, die in den Straßengräben neben den Wagen lagen. Germaine schlief. Bruce beugte sich durch das Fenster des Ford und betrachtete ihr Gesicht. Eine Haarsträhne lag über ihrem Mund und hob und senkte sich mit ihrem Atem. Es kitzelte sie an der Nase, und sie schnitt dabei im Schlaf Grimassen wie ein Kaninchen. Bruce spürte ein Gefühl unendlicher Zärtlichkeit für sie. Mit einem Finger nahm er das Haar von ihrem Gesicht. Dann lächelte er über sich selbst. Wenn du so schon vor dem Frühstück empfindest, dann hat es dich schlimm erwischt, sagte er zu sich selbst. Weißt du was, gestand er sich selbst, mir gefällt das Gefühl. »He, du faules Stück!« Er zog sie am Ohrläppchen. »Zeit zum Aufstehen.« Es wurde fast fünf Uhr dreißig, bis der Konvoi sich in Bewegung setzte. So lange hatte es gedauert, sechzig Männer aus dem Schlaf zu rütteln und sie auf die Wagen zu bekommen. An diesem Morgen fand Bruce zum erstenmal die Wartezeit nicht unerträglich. Er hatte während der Nacht Zeit für vier Stunden Schlaf gefunden, freilich bei weitem nicht genug, um die 218
vorangegangenen beiden Tage auszugleichen. Sein Kopf fühlte sich leicht und unbeschwert an, eine unwirkliche Art von Fröhlichkeit überlagerte seine Erschöpfung. Beinahe wie Karnevalsstimmung. Es gab nicht mehr diesen ständigen Zwang, denn der Weg nach Elisabethville war frei und nicht allzu lang. Morgen zum Frühstück zu Hause! »In einer knappen Stunde werden wir die Brücke erreicht haben.« Er sah Germaine von der Seite an. »Du hast dort einen Wachtposten zurückgelassen?« »Ja, zehn Männer«, antwortete Bruce. »Die werden wir fast ohne Aufenthalt mitnehmen, und dann heißt unsere nächste Station Zimmer 201, Grand Hotel Leopold II, Avenue de Kasai.« Er grinste in Vorfreude. »Ein Bad mit so viel Wasser, daß es auf den Boden spritzt, und so heiß, daß man mindestens fünf Minuten warten muß, bis man hineinsteigen kann. Saubere Kleider. Ein ganz dickes Steak mit französischem Salat und einer Flasche Liebfrauenmilch.« »Zum Frühstück?« protestierte Germaine. »Zum Frühstück«, stimmte Bruce fröhlich zu. Einen Augenblick lang war er still, ganz der Idee hingegeben. Wie Tigerstreifen sahen die Schatten der Bäume auf der Straße aus. Durch die fehlende Windschutzscheibe blies der Wind kühl und angenehm frisch. Er fühlte sich rundherum wohl. Die Verantwortung seines Auftrages lag an diesem Morgen leicht auf seinen Schultern. Ein hübsches Mädchen neben sich, ein strahlender Morgen, und die Schrecken der letzten Tage halb vergessen – als sie ein Picknick veranstalteten. »Woran denkst du?« fragte er plötzlich. Sie saß sehr still neben ihm. »Ich mache mir Gedanken über die Zukunft«, sagte sie leise. »Ich kenne niemanden in Elisabethville, und ich möchte dort auch nicht bleiben.« »Willst du nach Brüssel zurückgehen?« fragte er. Die Frage war ohne besondere Bedeutung, denn Bruce Curry hatte sehr 219
bestimmte Pläne für die nahe Zukunft, und in ihnen spielte auch Germaine eine Rolle. »Ja, ich glaube schon. Ich wüßte keinen besseren Ort.« »Hast du Angehörige dort?« »Eine Tante.« »Kennt ihr euch gut?« Germaine lachte, aber in ihr heiseres Lachen mischte sich Bitterkeit. »O ja, sie hat mich einmal im Waisenhaus besucht. Einmal in all den Jahren. Sie brachte mir ein komisches Buch mit religiösem Inhalt mit und sagte mir, daß ich mir die Zähne putzen und mein Haar mit hundert Strichen am Tag bürsten müsse.« »Sonst gibt es niemanden?« fragte Bruce. »Nein.« »Warum willst du dann zurückgehen?« »Was soll ich denn sonst tun?« fragte sie. »Wohin soll ich denn sonst gehen?« »Man hat ein Leben, das man leben muß, und die ganze Welt steht einem noch offen.« »Wirst du das etwa tun?« »Ja, genau das werde ich tun. Und anfangen werde ich mit einem heißen Bad.« Bruce konnte dieses »Etwas« zwischen ihnen fühlen. Beide wußten, daß es da war, aber es war noch zu früh, um drüber zu reden. Ich habe sie erst einmal geküßt, aber das war genug. Was konnte also geschehen? Heirat? Seine Gedanken schreckten vor dem Wort zurück, kamen dann aber zögernd wieder, um es noch einmal zu bedenken. Sie umschlichen es, als ob es eine gefährliche Bestie sei, bereit, sofort die Flucht zu ergreifen, wenn es die Zähne zeigen sollte. Für viele Leute ist Heirat das Richtige. Sie kann die ohne Rückgrat stärken, die Einsamen heilen, den rastlosen Wanderern ein Ziel geben, die Lustlosen zum Ehrgeiz anspornen – und dann natürlich noch ein weiteres, unwiderlegbares Argu220
ment dafür. Kinder. Dagegen gibt es Menschen, die in dem farblosen Gefängnis der Ehe kränkeln und dahinsiechen. Wenn man keinen Platz zum Fliegen hat, kommt man aus der Übung und die Flügel werden schwach. Wenn man ständig nur in sich hineinsieht, wird man kurzsichtig. Wenn aller Kontakt zur Außenwelt nur durch die Glasfenster dieser Zelle besteht, bleibt der Gesichtswinkel begrenzt. Und ich habe schon Kinder. Ich habe eine Tochter, und ich habe einen Sohn. Bruce wandte die Augen von der Straße und betrachtete das Mädchen neben sich. Ich kann keinen Fehler an ihr finden. Sie ist schön, von einer zarten, beinahe zerbrechlichen Schönheit, die viel besser und langlebiger ist als blondes Haar und ein großer Busen. Sie ist unverdorben. Das Elend war lange genug ihr Begleiter, von ihm hat sie Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit gelernt. Sie ist erwachsen und kennt sich in der Welt aus. Sie kennt Tod und Angst, das Böse und das Gute im Menschen. Ich glaube nicht, daß sie sich jemals mit einem Märchenzauber umgeben hat, mit dem die meisten jungen Mädchen sich umspinnen. Und doch hat sie noch nicht vergessen, wie man lacht. Vielleicht, dachte er, vielleicht. Aber es ist noch zu früh, um darüber zu reden. »Du blickst so finster.« Germaine brach das Schweigen, und ein Lachen schwang in ihrer Stimme mit. »Wieder wie Bonaparte. Und wenn du finster blickst, dann ist deine Nase so groß und böse. Deine Nase ist brutal und paßt gar nicht zu deinem übrigen Gesicht. Ich glaube, sie hatten nur noch eine Nase auf Lager, als sie dich zusammengesetzt haben. ›Sie ist zu groß‹, sagten sie, ›aber es ist die einzige Nase, die wir noch da haben. Und wenn er lächelt, sieht es nicht mal so schlimm aus‹, und sie probierten es und setzten sie eben an.« 221
»Hat man dir nie beigebracht, daß es von schlechten Manieren zeugt, sich über die Schwächen eines Mannes lustig zu machen?« Bruce betastete mitleidsvoll seine Nase. »Deine Nase ist alles andere als schwach. Niemals schwach.« Jetzt lachte sie und rückte ein wenig näher zu ihm. »Nur weil du eine vollkommene Nase hast, kannst du mich angreifen, ohne daß ich zurückschlagen kann.« »Traue niemals einem Mann, der hübsche Dinge so leicht sagt, denn sicher sagt er sie jedem Mädchen, das er trifft.« Sie rückte noch ein paar Zentimeter näher heran, bis sie sich fast berührten. »Sie vergeuden Ihre Talente, mon Capitain. Ich bin gegen Ihren Charme immun.« »Noch eine Minute, und ich werde diesen Wagen anhalten und –« »Das kannst du nicht.« Germaine zeigte mit ihrem Kopf auf die zwei Gendarmen, die hinter ihnen saßen. »Was würden die denken, Bonaparte? Es wäre sehr schlecht für die Disziplin.« »Disziplin hin oder Disziplin her, in genau einer Minute werde ich den Wagen anhalten und dir den Hintern versohlen, ehe ich dich küsse.« »Drohungen dieser Art machen mir keine Angst. Aber ich werde deine arme Nase trotzdem in Ruhe lassen.« Sie rückte ein wenig von ihm ab, und wieder betrachtete Bruce ihr Gesicht. Unter seinem forschenden Blick wurde sie nervös und errötete leicht. »Nimm dich in acht! Hat dir niemand beigebracht, daß es schlechte Manieren sind, jemanden anzustarren?« Also liebe ich jetzt wieder, dachte Bruce. Es ist erst das drittemal. Also praktisch einmal alle zehn Jahre. Ich habe ein wenig Angst davor, denn immer ist auch Schmerz dabei. Der heftige Schmerz des Liebens und die krampfhafte Angst vor dem Verlieren. Es beginnt in den Schenkeln und ist sehr trügerisch, denn du glaubst, es handelt sich dabei nur um die alte Sache: die Span222
nung und Erregung, die wohlgeformte Rundungen und ein paar freche Brüste in dir verursachen. Kratze daran, und du glaubst, es ist nur ein kleines Jucken. Bestreiche es mit einer heilenden Salbe, und es geht im Nu vorbei. Aber ganz plötzlich breitet es sich aus, nach oben und nach unten, ganz durch dich hindurch. Du hast ein flaues Gefühl in der Magengegend und das Flattern um das Herz. Jetzt ist es gefährlich; wenn es erst einmal so weit ist, dann kannst du kratzen, so viel du willst, du wirst es höchstens weiter entzünden. Dann kommen die letzten Stadien, wenn es deinen Verstand angreift. Dort spürst du keine Schmerzen, und das ist das schlimmste Zeichen. Deine Sinne steigern sich; deine Augen sehen schärfer, dein Blut fließt schneller, das Essen schmeckt dir, dein Mund will schreien und deine Beine wollen rennen. Dann kommt der Größenwahn. Du bist der cleverste, stärkste, männlichste Mann des Universums. Und mindestens fünf Meter groß in Strümpfen. Wie groß bist du jetzt, Curry? fragte er sich selbst. Ungefähr vier Meter fünfzig und wiege vier Zentner, antwortete er und lachte beinahe laut heraus. Und wie endet das Ganze? Es endet mit Worten. Worte können alles zerstören. Es endet mit kalten Worten; Worten, die wie Feuer sind, das sich überall festgesetzt hat, das nach oben züngelt, immer weiter frißt und alles verkohlt, bis nur noch rauchende Ruinen übrig sind. Es endet mit Verdächtigungen über Dinge, die man nicht getan hat, und mit dem Erinnern an Dinge, die man getan hat. Es endet mit Egoismus, Lieblosigkeit und Worten und immer wieder Worten. Es endet mit Schmerzen in Alltäglichkeit, und es hinterläßt Stiche und Wunden, die niemals heilen. Oder es endet sang- und klanglos. Es bröckelt ab und verweht wie Staub im Wind. Aber es bleibt noch immer der Schmerz 223
des Verlustes. Beide Arten des Verlierens kenne ich gut, denn ich habe zweimal geliebt; und nun liebe ich wieder. Vielleicht muß es diesmal nicht so sein. Vielleicht wird es diesmal andauern. Nichts ist ewig, dachte er. Nichts dauert für immer, nicht einmal das Leben. Aber vielleicht, wenn ich es diesmal hege und es liebevoll pflege, dann wird es vielleicht so lange anhalten wie das Leben. »Wir sind fast an der Brücke«, sagte Germaine neben ihm, und Bruce schreckte auf. Die Meilen waren vorbeigeflogen, unbeachtet. Der Wald wurde dichter und niedriger, am Fluß entlang grüner und dunkler. Bruce fuhr langsamer, und der Wald ringsherum wurde zum dichten Busch, und die Straße zu einem Tunnel. Nach der letzten Kurve kamen sie aus dem grünen Waldtunnel heraus zu einer Lichtung, auf der Straße und Eisenbahnlinie nebeneinander herliefen bis zu der schweren Holzplattform der Brücke. Bruce hielt seinen Wagen an, stellte den Motor ab, und alle saßen schweigend da. Sie starrten in den dichten Dschungel auf dem gegenüberliegenden Ufer, an dem eine Mauer von Schlingpflanzen zum Wasser herunterhing, die die Oberfläche des dunkelgrünen, schnellfließenden Flusses bedeckte. Sie starrten auf die Stümpfe der Brücke, die von beiden Seiten des Ufers sich wie die Arme eines getrennten Liebespaares entgegenreckten, und sie starrten auf das breite Loch dazwischen mit schwelenden Holzteilen und Rauch, den der Wind über das grüne Wasser flußabwärts trieb. »Sie ist weg«, sagte Germaine. »Sie ist abgebrannt.« »Nicht doch«, stöhnte Bruce, »o Gott, nein!« Mit großer Anstrengung wandte er seine Augen von den verkohlten Überresten der Brücke ab und betrachtete den Dschungel, der sie in etwa dreißig Meter Entfernung umschloß, schweigend und nichts Gutes verheißend. »Steig nicht aus dem Wagen«, knurrte er, als Germaine nach dem Türgriff langte, 224
»kurble das Fenster hoch, schnell.« Sie gehorchte. »Sie warten auf uns.« Er zeigte auf den Rand des Dschungels. Der erste Wagen des Konvois fuhr auf die Lichtung. Bruce sprang aus dem Ford und rannte zu dem ersten Lastwagen. »Nicht aussteigen, drin bleiben«, schrie er und rannte weiter, die Kolonne entlang, und wiederholte im Vorbeilaufen seine Instruktionen. Als er Ruffys Wagen erreichte, sprang er auf das Trittbrett, riß die Tür auf, warf sich neben ihn und zog die Tür schnell wieder zu. »Sie haben die Brücke abgebrannt.« »Was ist denn den Jungs passiert, die wir als Wachtposten da gelassen haben?« »Das weiß ich nicht, aber wir werden es schon noch herausfinden. Fahre jetzt an den anderen Wagen entlang, damit ich mit den Leuten reden kann.« Durch das halboffene Fenster gab er seine Befehle an jeden der Fahrer, und innerhalb von zehn Minuten waren sämtliche Fahrzeuge zu einer Wagenburg zusammengezogen, einer Formation, die schon die Vorfahren von Bruce vor hundert Jahren gebildet hatten. »Ruffy, hol die Zeltplanen heraus und spanne sie über die Wagen, damit sie ein Dach bilden. Wir müssen verhindern, daß sie ihre Pfeile über die Wagen in den Innenraum schießen.« Ruffy suchte sich ein halbes Dutzend Gendarmen aus, und sie machten sich daran, die schweren, zusammengelegten Planen auszubreiten. »Hendry, sorge dafür, daß unter jedem Wagen ein paar Männer liegen und stell die Maschinengewehre auf, für den Fall, daß sie uns angreifen sollten.« In dieser dringenden Notwendigkeit, die Verteidigung aufzubauen, gab Wally keine seiner üblichen Antworten, sondern holte seine Leute zusammen. Sie robbten unter die Fahrzeuge, 225
ihre Gewehrläufe auf den schweigenden Dschungel gerichtet. »Ich will alle Feuerlöscher hier in der Mitte haben, so daß wir sie schnell zur Hand haben. Vielleicht kommen sie wieder mit Feuer.« Zwei Gendarmen rannten zum Führersitz der einzelnen Wagen und machten dort die Feuerlöscher los. »Was kann ich tun?« Germaine stand neben Bruce. »Den Mund halten und aus dem Weg gehen«, sagte Bruce, drehte sich um und lief zu Ruffys Leuten hinüber, um ihnen beim Ausbreiten der Planen zu helfen. Sie verbrachten eine halbe Stunde mit fieberhafter Arbeit, ehe die Befestigungen zu Bruces Zufriedenheit erstellt waren. »Das sollte gegen sie genügen.« Bruce stand mit Ruffy und Hendry in der Mitte des Lagers und prüfte das grüne Zeltdach über ihnen und die dichtgestaffelten Wagen um sie. Der Ford stand neben dem Tankwagen; er gehörte nicht zum Außenwall, da er kleiner war und ein schwacher Punkt in der Verteidigung gewesen wäre. »Es wird hier drinnen verdammt heiß und voll werden«, schimpfte Hendry. »Ja, ich weiß.« Bruce sah ihn an. »Vielleicht hättest du die Güte, Platz zu machen, indem du draußen wartest?« »Witzbold. Ich breche zusammen vor Lachen«, sagte Wally. »Und was jetzt, Boß?« Ruffy sprach aus, was Bruce sich selbst schon mehrfach gefragt hatte. »Wir beide werden uns erst einmal die Brücke ansehen«, sagte er. »Das wird für mich ein tragischer Anblick sein, wenn du mit einem großen Pfeil im Hintern zurückkommst«, grinste Wally. »Junge, das wird mich umbringen!« »Ruffy, hol für jeden von uns ein halbes Dutzend Schutzmäntel. Ich glaube kaum, daß ihre Pfeile bei einer Entfernung von über dreißig Metern da durchkommen werden, selbstverständlich auch Helme.« 226
»Okay, Boß.« Es war wie in einer Sauna unter den sechs Lagen von gummiverstärktem Leinen. Bruce fühlte bei jedem Schritt den Schweiß aus seinen Poren strömen, und kleine Bäche rannen an seinem Rücken und an seinen Seiten herunter. Ruffy und er verließen das Lager und gingen die Straße hinauf zur Brücke. Ruffys riesige Gestalt neben ihm war so von den Mänteln entstellt, daß er Bruce an ein prähistorisches, trächtiges Ungeheuer erinnerte. »Warm genug, Ruffy?« fragte er, weil er glaubte, einen Witz machen zu müssen. Der dichte Dschungel machte ihn nervös. Vielleicht hatte er die Reichweite eines Balubapfeils unterschätzt; denn den leichten Rohrschäften setzten sie nadelfeine Eisenspitzen mit Widerhaken auf, und die Widerhaken sind dick mit Gift beschmiert. »Mann, sehen Sie nicht, wie ich fröstle«, grunzte Ruffy, während der Schweiß an seinen Backen herunterlief und vom Kinn tropfte. Lange bevor sie den Anfang der Brücke erreichten, kroch ein Gestank von Fäulnis auf sie zu. Bei Bruce hatte jeder Geruch eine eigene Farbe. Dieser hier war grün, von dem gleichen Grün, in dem auch verfaultes Fleisch schimmerte. Der Gestank war schwer und bedrückte sie fühlbar. Er trocknete seine Kehle aus, legte sich auf die Zunge und schmeckte am Gaumen ölig süß. »Klar, was das ist!« Ruffy spuckte aus und versuchte dabei den Geschmack aus dem Munde zu bekommen. »Wo sind sie?« sagte Bruce erstickt und keuchte unter der Hitze und der Anstrengung, die verfaulte Luft einzuatmen. Als sie die Uferböschung erreichten und auf den schmalen Strand hinuntersahen, wurde Bruces Frage beantwortet. Dort unten waren die verkohlten Überreste von einem Dutzend Feuerstellen, und dicht an der hinteren Böschung standen zwei kreuzförmige Stangengebilde. Einen Augenblick lang 227
rätselte Bruce nach ihrer Bedeutung; dann wurde sie ihm grauenhaft deutlich. Er hatte diese Balken, die zwischen zwei Gabeln lagen, früher schon oft in Jagdlagern in ganz Afrika gesehen. Es waren Spieße zum Ausweiden. In Abständen befanden sich an den Stangen aus Rinde gemachte Seile, die man dazu benutzt, das Wild festzubinden. Die Beine zuerst, Kopf und Vorderfüße herunterhängend, damit der Bauch herausgedrückt und mit einem langen und tiefen Messerschnitt geöffnet wurde, und sich die Eingeweide leicht herausnehmen ließen. Aber das Wild, das an diesen Stangen geschlachtet worden war, waren Menschen. Seine Männer. Er zählte die einzelnen Stricke. Es waren zehn; also war keiner entkommen. »Gib mir Deckung, Ruffy. Ich gehe runter, um mich umzusehen.« Das war eine Strafe, die Bruce sich selbst auferlegte. Es waren seine Leute, und er hatte sie dagelassen. »Okay, Boß.« Bruce kletterte den gut sichtbaren Weg zum Strand hinunter. Hier war der Gestank fast nicht mehr auszuhalten, und er fand seinen Ausgangspunkt dafür. Zwischen den Gestellen lag eine dunkle, formlose Masse. Sie bewegte sich von den Fliegen. Die Oberfläche bewegte sich, zitterte und war bedeckt mit Fliegen. Plötzlich stiegen sie summend in einer Wolke von diesem Haufen menschlicher Überreste und setzten sich dann wieder nieder. Eine einzelne Fliege summte um Bruces Kopf und setzte sich dann auf seine Hand. Ein metallisch blauer Körper, die Flügel zurückgestellt, kroch sie über seine Haut und rieb sich freudig die Vorderbeine aneinander. Bruces Magen und Kehle zogen sich zusammen, und er begann zu würgen. Er schlug nach der Fliege, und sie flog davon. Um die Feuerstellen lagen Knochen verstreut, und neben seinen Füßen lag ein gespaltener und ausgenommener Schädel. Ein erneuter Brechreiz überkam Bruce, und diesmal kam es 228
ihm säuerlich und warm bis zum Mund hoch. Er schluckte es hinunter, wandte sich ab und kletterte die Böschung empor bis zu der Stelle, wo Ruffy auf ihn wartete. Dort stand er schwer atmend und unterdrückte seinen Brechreiz, bis er endlich sprechen konnte. »Gut, das ist alles, was ich wissen wollte.« Und dann ging er auf dem Weg zur Wagenburg voran. Bruce saß auf der Kühlerhaube des Fords und zog heftig an seiner Zigarette. Er versuchte, den Todesgeschmack aus seinem Mund zu bekommen. »Wahrscheinlich sind sie in der Dunkelheit stromabwärts geschwommen und dann an den Brückenpfeilern hochgeklettert. Kanaki und seine Leute haben sie wohl nicht bemerkt, bis sie über die Geländer kletterten.« Wieder zog er an seiner Zigarette und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus, um seine Kehle und seine Nasenpartien auszuräuchern. »Ich hätte daran denken sollen. Ich hätte Kanaki davor warnen müssen.« »Willst du damit sagen, daß sie alle zehn aufgefressen haben – mein Gott.« Selbst Wally Hendry war beeindruckt. »Ich möchte mir das mal am Ufer ansehen. Das muß ‘ne ganz schöne Sache sein.« »Gut!« Die Stimme von Bruce war plötzlich hart. »Du kannst das Kommando für die Beerdigung übernehmen. Du kannst runter gehen und das sauber in Ordnung bringen, ehe wir mit der Arbeit an der Brücke beginnen.« Wally widersprach nicht. »Soll ich gleich anfangen?« fragte er. »Nein«, schnauzte Bruce. »Du fährst erst mit Ruffy in zwei Wagen nach Port Reprieve zurück und holst das Material, das wir brauchen, um die Brücke zu reparieren.« Beide strahlten jetzt Bruce freudig an. »Daran habe ich niemals gedacht«, sagte Wally. »Am Hotel und an dem Büroblock liegt genügend Holz«, grinste Ruffy. »Nägel«, sagte Wally, als ob er einen wesentlichen Beitrag 229
damit leistete. »Wir brauchen Nägel.« Bruce unterbrach ihre Kommentare. »Es ist jetzt zwei Uhr. Ihr könnt bei Einbruch der Nacht in Port Reprieve sein. Tragt das Material morgen früh zusammen und seid gegen Abend wieder hier. Nehmt diese beiden Lastwagen hier, seht zu, daß sie vollgetankt sind. Ihr werdet etwa fünfzehn Leute brauchen. Sagen wir fünf Gendarmen, falls es Ärger geben sollte, und zehn Zivilisten.« »Das sollte genügen«, stimmte Ruffy zu. »Bringt auch ein paar Dutzend von den Wellblechplatten mit. Damit werden wir uns gegen ihre Pfeile schützen, während wir an der Arbeit sind.« »Ja, das ist eine gute Idee.« Sie besprachen alle Einzelheiten, wählten die Männer für das Unternehmen aus und beluden die Wagen, rangierten sie aus der Wagenburg heraus, und Bruce beobachtete sie, wie sie auf der Straße nach Port Reprieve verschwanden. Ein Schmerz tief hinter seinen Augen begann ihn zu quälen, und plötzlich war er sehr müde. Seine Energie war verbraucht durch den wenigen Schlaf, die große Hitze und die psychischen Belastungen der letzten vier Tage. Er machte noch einen letzten Rundgang durch das Lager, prüfte noch einmal die Verteidigungsmaßnahmen und sprach ein paar Minuten mit seinen Gendarmen. Dann kletterte er in den Ford, legte sich über die Vordersitze, legte Helm und Maschinenpistole beiseite; dann fiel sein Kopf auf die Arme, und er war sofort eingeschlafen.
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20 Germaine weckte ihn, als es dunkel geworden war, mit kaltem Essen aus Büchsen und einer Flasche von Ruffys Bier. »Es tut mir leid, Bruce, aber wir haben kein Feuer zum Kochen. Es ist sehr unappetitlich, und das Bier ist warm.« Bruce setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sechs Stunden Schlaf hatten ihn erfrischt. Die Augen waren jetzt weniger entzündet und geschwollen. Aber die Kopfschmerzen waren noch da. »Ich habe eigentlich keinen Hunger, danke. Das kommt von dieser Hitze.« »Du mußt etwas essen, Bruce. Bitte, versuch wenigstens ein bißchen.« Und dann lächelte sie. »Auf jeden Fall bist du schon höflicher, nachdem du dich ausgeruht hast. Du sagst immerhin ›Danke schön‹ statt ›Halte den Mund und geh’ aus dem Weg‹.« Reuevoll schnitt Bruce eine Grimasse. »Du bist eine von diesen Frauen, die ständig ein eingebautes Tonbandgerät laufen lassen. Jedes Wort wird festgehalten und kann später als Beweismaterial gegen den Mann verwendet werden.« Dann streichelte er ihre Hand. »Es tut mir leid.« »Es tut mir leid«, wiederholte sie. »Deine Entschuldigungen gefallen mir, mon Captain. Sie passen zu dir. Sehr männlich. Es gibt nichts an dir, was nicht männlich ist. Manchmal sogar überwältigend männlich.« Schelmisch beobachtete sie seine Augen. Er wußte, daß sie im Augenblick über die kleine Szene im Zuge sprach, die Wally Hendry unterbrochen hatte. »Also versuchen wir das Essen«, sagte er, und dann ein bißchen später: »Nicht schlecht – du bist eine erstklassige Köchin.« »In diesem Fall muß ich dein Kompliment an Monsieur Heinz und seine siebenundfünfzig Kinder weitergeben. Aber eines Tages werde ich dir mal meine ›Tournedos au Prince‹ machen. Das ist mein Spezielles.« 231
»Meine Spezialität«, korrigierte sie Bruce automatisch. Das Gemurmel der Stimmen im Lager wurde zuweilen durch ein frohes Gelächter unterbrochen. Es herrschte eine Gefühl der Entspannung. Das Zeltdach und die Mauer der Wagen gaben ihnen allen Sicherheit. Männer lagen in dunklen Gruppen schlafend beieinander oder unterhielten sich leise. Bruce kratzte seinen Blechteller leer und schob den letzten Rest des Essens in den Mund. »Jetzt muß ich wieder die Stellungen kontrollieren.« »Oh, Bonaparte, immer ruft dich die Pflicht.« Germaine seufzte resigniert. »Ich bin gleich wieder da.« Bruce nahm seine Maschinenpistole, setzte den Helm auf und war schon halb aus dem Ford ausgestiegen, als im Dschungel eine Trommel schlug. »Bruce!« flüsterte Germaine und hielt sich an seinem Arm fest. Die Stimmen um sie herum erstarben in ängstlicher Ruhe, und der Schlag der Trommel tönte durch die Nacht. Ein tiefer, widerhallender Klang, den man fühlen konnte, und der die warme stickige Luft erzittern ließ. Er erfüllte die Luft, ohne daß man hören konnte, woher er kam; monoton schlagend, ohne Unterbrechung, wie ein Pulsschlag des Dschungels. »Bruce!« flüsterte Germaine noch einmal; sie zitterte, und ihre Finger gruben sich in heller Angst in sein Fleisch. Das brachte ihn zur Vernunft und unterdrückte seine eigene Angst. »Baby, Baby«, beruhigte er sie und preßte sie fest an seine Brust. »Es ist nur das Geräusch von zwei Holzstücken, die ein nackter Wilder gegeneinander schlägt. Die können uns hier nichts tun. Das weißt du auch.« »O Bruce, es ist schrecklich – es klingt wie Glocken, Totenglocken.« »Das ist albern.« Bruce hielt sie an den ausgestreckten Armen: »Komm mit mir. Hilf mir, die anderen zu beruhigen. Sie werden Angst haben. Und du mußt mir helfen.« Und so zog er 232
sie sanft über den Sitz aus dem Ford, und mit einem Arm um ihre Hüfte gingen sie zur Mitte des Lagers. Was kann diesen grauenhaften Einfluß der Trommel eindämmen, diesen hypnotischen Schlag, fragte er sich. Lärm, unser eigener Lärm. »Joseph, M’Pophu –« rief er fröhlich und suchte damit die beiden besten Sänger unter seinen Leuten heraus. »Schade, daß das Trommeln so schlecht ist. Aber die Balubas sind Affen und verstehen nichts von Musik. Zeigt ihnen, wie ein Bambala singen kann.« Sie traten vor. Er fühlte, wie die Spannung nachließ. »Also los, Joseph –.« Er füllte seine Lungen und krächzte die erste Strophe eines alten Pflanzerliedes, absichtlich so falsch und unsauber, daß es ihnen wehtun mußte. Irgend jemand lachte. Dann begann Josephs Stimme zögernd die Melodie aufzunehmen und wurde sicherer. M’pophu fiel mit seinem Baß ein und gab dem hellen, klaren Tenor das Gegengewicht. Im halben Takt der Trommeln klatschten sie in die Hände im Dunkeln; Bruce fühlte auf einmal das rhythmische Schwingen von Körpern. Germaine zitterte nicht mehr. Er legte seine Hand fest um ihre Hüfte und fühlte, wie ihr Körper sich an den seinen schmiegte. Und jetzt brauchen wir Licht, dachte Bruce. Eine Lampe für meine Kinder, die die Dunkelheit und die Trommel fürchten. Mit Germaine an seiner Seite ging er durchs Lager. »Feldwebel Jack.« »Captain?« »Du kannst anfangen, die Scheinwerfer kreisen zu lassen.« »Oui, Captain.« Die Antwort kam erleichtert. Für jeden Scheinwerfer hatte er zwei Ersatzbatterien. Acht Stunden konnte jede brennen, das wird für die heutige und morgige Nacht ausreichen. An beiden Seiten des Lagers leuchteten jetzt die Scheinwer233
fer auf. Gleißende weiße Lichtkegel, die die Dunkelheit durchbohrten. Sie wanderten am Rand des Dschungels entlang, und ihr Widerschein erleuchtete das Innere des Lagers genügend, um jeden einzelnen zu erkennen. Bruce betrachtete ihre Gesichter. Jetzt sind sie in Ordnung, stellte er fest. Die Geister sind verscheucht. »Bravo, Bonaparte«, sagte Germaine, und Bruce wurde sich des Grinsens auf den Gesichtern seiner Männer bewußt, als er sie umarmte. Er wollte seinen Arm gerade fallen lassen, tat es aber dann doch nicht. Zum Teufel, was soll’s, sagte er sich. Dann können sie sich ihre Köpfe wenigstens über etwas anderes zerbrechen. Er brachte sie zum Ford zurück. »Müde?« fragte er. »Ein wenig«, nickte sie. »Ich werde die Sitze zurückklappen und eine Decke vor die Fenster hängen, dann bist du wenigstens etwas für dich.« »Du bleibst in der Nähe?« fragte sie schnell. »Ich bin direkt hier draußen.« Er schnallte seinen Pistolengurt ab. »Du trägst ihn besser von jetzt an.« Selbst im engsten Loch war der Gürtel noch zu weit für sie, und die Pistole hing fast in ihrer Kniekehle. »Die Jungfrau von Orleans«, revanchierte sich Bruce. Sie schnitt ein Gesicht und kletterte in den Fond des Wagens. Eine ganze Weile später hörte er sie sanft rufen, das Singen und den Schlag der Trommel übertönend. »Bruce?« »Ja?« »Ich wollte mich nur vergewissern, daß du da bist. Gute Nacht.« »Gute Nacht, Germaine.« Bruce lag auf seiner Decke und schwitzte. Das Singen hatte schon lange aufgehört, aber die Trommel schlug weiter und 234
weiter; nie ihren Rhythmus verändernd, ertönte das Dum-DumDum aus dem Dschungel. Die Scheinwerfer schwangen regelmäßig vor und zurück, erleuchteten manchmal das Lager hell und ließen es dann wieder im Schatten. Bruce konnte um sich herum die leisen Geräusche der Schlafenden wahrnehmen. Das Einziehen der Luft, ein unterdrücktes Husten, ein paar gebrabbelte Worte und die Bewegungen der Träumenden. Aber Bruce konnte nicht schlafen. Er lag auf dem Rücken, eine Hand unter dem Kopf, rauchte und starrte zu den Zeltplanen hinauf. Die Ereignisse der vergangenen vier Tage gingen in seinem Kopf herum. Bruchstücke von Gesprächen, Andrés Tod, Boussier mit seiner Frau im Wagen stehend, das Explodieren von Granaten, klebriges Blut an seinen Händen und der Geruch von Tod, Gewalt und Grauen. Er bewegte sich unruhig, warf seine Zigarette fort, bedeckte die Augen mit den Händen, als ob er damit die Erinnerungen auslöschen könnte. Aber sie huschten weiter durch seine Erinnerung wie Bilder eines riesigen Filmprojektors, jetzt durcheinander, ohne allen Sinn, aber immer weiter Grauen verbreitend. Er erinnerte sich, wie ihn die Fliege auf seinem Arm angrinste, die ihre Vorderbeine in hämischer Freude aneinanderrieb. Er rollte seinen Kopf auf der Decke von einer Seite auf die andere. Ich werde verrückt, dachte er. Ich muß es abstellen. Schnell setzte er sich auf und drückte seine Knie an die Brust; die Erinnerungen schwanden. Aber jetzt war er traurig und allein. So schrecklich allein, so verloren, so ohne jedes Ziel. Er saß allein auf der Decke, und er fühlte, wie er kleiner wurde, bis er winzig war; er bekam Angst. Ich werde gleich heulen, dachte er. Es würgt schon in meiner Kehle. Wie ein verletztes Kind, das in den Schoß der Mutter flüchtet, tastete Bruce Curry sich zu der hinteren Wagentür und 235
weiter zu Germaine. »Germaine«, flüsterte er, blind nach ihr suchend. »Bruce, was ist los?« Sie setzte sich schnell auf. Auch sie hatte nicht geschlafen. »Wo bist du?« In Bruces Stimme lag panische Angst. »Hier bin ich. Was hast du?« Und er fand sie. Ungeschickt drückte er sie an sich. »Halt mich, Germaine, bitte halt mich.« »Liebling«, fragte sie ängstlich, »was ist mit dir, sag es mir.« »Halt mich nur fest, Germaine, sprich nicht.« Er klammerte sich an sie und preßte sein Gesicht in ihren Nacken. »Ich brauche dich so sehr – o Gott, wie sehr ich dich brauche!« »Bruce!« Sie verstand ihn, und ihre Finger streichelten beruhigend seinen Nacken. »Mein Bruce«, sagte sie und hielt ihn fest. Ganz instinktiv begann sich ihr Körper zu wiegen, so als ob er ihr Kind wäre. Langsam entspannte sich sein Körper, und er seufzte tief – es war ein gequälter, gebrochener Ton. »Mein Bruce, mein Bruce.« Sie hob das dünne Wollhemd hoch; es war alles, was sie anhatte. Und instinktiv in jenem zeitlosen Ritus der Beglückung gab sie ihm ihre Brüste. Sie hielt seinen Mund daran und drückte ihn mit ihren Armen fest an sich. Ihr Kopf beugte sich schützend über den seinen, und ihr Haar fiel nach vorne und bedeckte beide. Durch den Druck seines festen Körpers gegen den ihren, durch das sanfte Saugen an ihrem Busen und das Gefühl, daß sie dem Mann, den sie liebte, seine Stärke zurückgab, wurde ihr klar, daß sie bis zu diesem Augenblick noch niemals glücklich war. Da war sein Körper nicht länger ruhig, und sie fühlte ihre eigene Stimmung in ein neues Begehren wechseln. »O ja, Bruce, ja!« Sie sprach direkt in seinen Mund, seinen hungrigen, drängenden Mund, und er war über ihr, kein Kind mehr, sondern wieder ein ganzer Mann. »So schön, so warm.« Seine Stimme war seltsam heiser; und 236
sie erschauerte unter der Stärke ihres eigenen Verlangens. »Schnell, Bruce, o Bruce!« Seine grausam liebenden Hände suchten und fanden. »O Bruce – schnell.« Und sie kam ihm mit ihren Hüften entgegen. »Ich werde dir weh tun.« »Nein – ja, ich will, daß du mir weh tust.« Sie fühlte den Widerstand, der sich gegen sie stemmte und in sie eindrang, und schrie und drückte ungeduldig dagegen. »Stoß zu«, und dann: »Ah, es brennt!« »Ich werde aufhören.« »Nein, nein!« »Liebling, es ist zuviel.« »Ja – ich kann nicht mehr – oh, Bruce, mein Herz – du hast mein Herz berührt.« Ihre geballten Fäuste trommelten auf seinen Rücken. Er preßte sich hinein gegen das Feste, Widerwillige, Nachgebende, Federnde. Und dann vor und zurück, und wieder vor und zurück, bis er ihr Innerstes berührte. Er zog sich zurück, um wieder hineinzugleiten, sich anzuschmiegen, fühlte das Schwanken, verließ es und kam wieder dorthin zurück. Langsam schwoll es an, kam zu seinem Höhepunkt, nicht mehr länger aufzuhalten, fast schmerzhaft – und vorbei, und vorbei und vorbei. »Ich falle. O Bruce, Bruce.« Zusammen in den Abgrund – vorbei, alles vorbei. Nichts ist mehr zu spüren. Keine Zeit, kein Raum und kein Boden in dem Abgrund. Nichts und alles. Vollkommen. Draußen im Dschungel schlug noch immer die Trommel. Später, viel später, schlief sie mit ihrem Kopf auf seinem Arm und ihrem Gesicht an seiner Brust. Und er, wachend, lauschte ihrem Schlaf. Das Geräusch war sanft, ein so feines Atmen, daß man es kaum hören konnte, wenn man nicht sehr genau hinhörte – oder, dachte er, wenn man sie liebte. 237
Ja. Ich glaube, ich liebe diese Frau – aber, ich muß dessen sicher sein. Aber aus Fairneß ihr und mir gegenüber muß ich völlig sicher sein, denn ich kann nicht noch einmal eine Zeit wie die letzte durchmachen. Und gerade weil ich sie liebe, will ich nicht, daß sie die schrecklichen Wunden einer schlechten Ehe erfährt. Es ist besser, jetzt aufzuhören, es sei denn, daß es stark genug ist, das zu ertragen. Bruce rollte seinen Kopf langsam zur Seite, bis sein Gesicht ihr Haar berührte, und das Mädchen knabberte in ihrem Schlaf an seiner Brust. Aber es ist so schwer, das zu erkennen, dachte er. Vor allem am Anfang ist es so schwer. Man verwechselt leicht Mitleid und Einsamkeit mit Liebe, aber ich kann es mir nicht leisten, das jetzt zu tun. Deshalb muß ich ganz klar über meine Ehe mit Joan nachdenken. Es wird schwer sein, aber ich muß es versuchen. War es zum Anfang mit Joan genauso? Es ist schon so lange her, sieben Jahre, daß ich es nicht mehr weiß, antwortete er sich ehrlich. Alles was mir aus jenen Tagen in Erinnerung geblieben ist, sind Bilder von Landschaften und Bruchstücke von Worten, die der Wind und der Schmerz nicht auslöschen konnten. Ein Strand, und vom Meer her aufziehende Nebel, ein ganzer Baumstamm, Treibholz, halb vergraben im Seesand, ausgebleicht durch das Salz, ein Korb mitgebrachter Erdbeeren, so daß ich, wenn ich sie küßte, die süße Herbheit der Früchte auf ihren Lippen schmeckte. Ich erinnere mich auch noch an ein Lied, das wir zusammen gesungen haben. »South of the border, down Mexican way.« Ich habe den Text schon vergessen. Und ich erinnere mich noch undeutlich an ihren Körper und an die Form ihrer Brüste, ehe die Kinder geboren wurden. Aber das ist alles, woran ich mich noch aus den guten Zeiten erinnern kann. 238
Die anderen Erinnerungen sind klar. Stechend und glasklar. Jedes häßliche Wort und der Ton, in dem es gesagt wurde. Das Geräusch von Schluchzen in der Nacht, so wie es sich über drei lange, graue Jahre hinzog, bis alles tödlich verwundet war, und wir beide unsere ganze Kraft brauchten, um der Kinder wegen durchzuhalten. Die Kinder! O Gott, an sie darf ich jetzt nicht denken. Es schmerzt zu sehr. Ohne daß die Kinder das Ganze noch schwieriger machen, muß ich jetzt das letztemal über Joan nachdenken. Ich muß die Geschichte mit dieser Frau endlich abschließen. Ein für allemal muß die Erinnerung aufhören, an sie, die mich fast um den Verstand gebracht hat. Ich hasse sie nicht wegen des Mannes, mit dem sie fortgegangen ist. Sie hatte es verdient, noch einmal ihr Glück zu suchen. Aber ich hasse sie meiner Kinder wegen und deshalb, weil sie die Liebe so abgenutzt hat, die ich Germaine als etwas Neues hätte geben können. Doch sie tut mir leid, weil sie unfähig ist, das Glück zu finden, das sie so eifrig jagt. Ich bedaure sie wegen ihrer Gefühls- und Geisteskälte, und ich bedaure sie um ihre Schönheit, die jetzt fast schon vergangen ist (man bemerkt es immer zuerst an den Augen, dort zeigt sie Risse wie in Ölgemälden), und ich bedaure sie ihrer verzehrenden Selbstsucht wegen, durch die sie die Liebe ihrer Kindar verlieren wird. Meine Kinder – nicht ihre! Meine Kinder! Das ist alles. Das ist der Schlußstrich unter Joan. Und jetzt habe ich Germaine, die nichts von dem ist, was Joan war. Auch ich darf es noch einmal versuchen. »Germaine«, flüsterte er und drehte ihren Kopf, um sie zu küssen. »Germaine, wach auf.« Sie bewegte sich unruhig und murmelte vor sich hin. »Wach auf!« Er nahm ihr Ohrläppchen zwischen seine Zähne und knabberte zärtlich daran. Ihre Augen öffneten sich. »Bon matin, Madame«, lächelte er sie an. 239
»Bon jour, Monsieur«, antwortete sie und schloß ihre Augen, um ihr Gesicht noch einmal gegen seine Brust zu drücken. »Wach auf, ich muß dir etwas sagen.« »Ich bin wach, aber sag mir erst, ob ich noch träume. Ich bin ganz sicher, daß das alles gar nicht wahr sein kann.« »Du träumst nicht.« Sie seufzte leise und schmiegte sich fester an ihn. »Jetzt sag mir das andere.« »Ich liebe dich«, sagte er. »Nein, jetzt träume ich.« »Es ist die Wahrheit«, sagte er. »Nein, wecke mich nicht auf. Ich könnte es nicht ertragen, jetzt aufzuwachen.« »Und du?« fragte er. »Du weißt es –« antwortete sie. »Ich muß es dir doch nicht mehr sagen.« »Es ist schon fast Morgen«, sagte er. »Wir haben nur noch wenig Zeit.« »Dann werde ich diese wenige Zeit damit ausfüllen, es dir zu sagen.« Er drückte sie fest an sich und lauschte dem, was sie ihm zuflüsterte. Nein, dachte er, jetzt bin ich sicher. Ich kann mich nicht so täuschen. Das ist meine Frau.
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21 Bei Tagesanbruch hörte das Trommeln auf. Die daraufhin eintretende Stille war bedrückend und brachte keine Erleichterung. Sie hatten sich an den ungleichmäßigen Rhythmus gewöhnt, und irgendwie vermißten sie ihn jetzt. Während Bruce durch das Lager ging, konnte er die Unsicherheit bei seinen Leuten spüren. Alle waren von einem Gefühl schrecklicher Vorahnungen ergriffen. Alle bewegten sich gezwungen, als ob sie keinerlei Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten. Ihr Lachen, mit dem sie seine Witze quittierten, war nervös und hörte so plötzlich auf, als ob sie in einer Kirche gelacht hätten. Und immer wieder blickten ihre Augen gebannt auf den sie umgebenden Dschungelring. Bruce gestand sich, daß er einen Angriff wünschte. Seine eigenen Nerven waren durch die ständige Furcht um ihn herum auf das äußerste gespannt. Wenn sie doch nur kommen würden, sagte er sich selbst. Wenn sie sich doch nur einmal zeigen würden, so daß wir Männer und nicht nur Geister sähen. Aber der Dschungel blieb ruhig. Er schien zu warten, sie zu beobachten. Sie konnten alle das Starren der verborgenen Augen fühlen. Eine unheimliche Gegenwart, die näherzukommen schien, je heißer es wurde. Bruce ging durch das Lager zur Südseite. Er versuchte, sich ganz unbeteiligt zu geben. Er lächelte Feldwebel Jack zu, hockte sich neben ihn und sah zwischen den Rädern des Wagens hindurch über die Lichtung zu den Überresten der Brücke. »Die Wagen werden bald zurück sein«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern, bis wir das repariert haben.« Jack gab keine Antwort. Seine hohe, intelligente Stirn zeigte sorgenvolle Falten, und das Gesicht glänzte schweißüberströmt. »Es ist das Warten, Captain. Es macht den Magen schwach.« »Sie werden bald zurück sein«, wiederholte Bruce. Wenn 241
sich dieser schon Sorgen macht, und er ist der beste von ihnen, dann müssen die anderen schon fast gestorben sein vor Angst. Bruce sah das Gesicht des Mannes, der neben Jack lag. Nackte Furcht starrte ihm entgegen. Wenn sie jetzt angreifen würden, Gott weiß, wie es ausgehen würde. Ein Afrikaner kann sich zu Tode denken. Sie legen sich einfach hin und sterben. So langsam erreichen sie jetzt dieses Stadium. Wenn jetzt ein Angriff kommt, laufen sie entweder Amok, oder sie rollen sich zusammen und schreien vor Angst. Man weiß es nie genau. Sei einmal ehrlich zu dir selbst. Du bist auch nicht ganz froh, stimmt’s? Nein, gab Bruce zu, das Warten macht einen schwach. Es kam von dem Rand der Lichtung am anderen Ende des Lagers. Ein schriller, hoher Schrei, wütend und wild. Bruce fühlte, wie sein Herz zu pochen begann, er drehte sich herum, um nachzusehen. Eine Sekunde lang schien das ganze Lager sich zu ducken. Dann kam es wieder. Wie eine Peitsche auf ihre angespannten Nerven. Und sofort war es im Feuer aus zwanzig Gewehren begraben. Bruce lachte. Er warf seinen Kopf zurück und lachte aus vollem Hals. Das Gewehrfeuer hörte auf, und die anderen lachten ebenfalls. Die Männer, die gefeuert hatten, grinsten hämisch und luden mit großem Getue ihre Waffen nach. Es war nicht das erstemal, daß Bruce durch den Schrei eines gelben Hornvogels erschreckt wurde. Aber jetzt erkannte er in seinem Lachen und dem Lachen seiner Männer das Anfangsstadium der Hysterie. »Brauchst du die Federn für deinen Hut?« schrie jemand, und ein Lachen ging durch das ganze Lager. Die Spannung war gebrochen, und Scherzworte flogen hin und her. Bruce stand auf und unterdrückte sein Gelächter. 242
Das hat nichts geschadet, entschied er. Für den Preis von fünfzig Schuß Munition war mindestens eine Stunde lang die Spannung gebrochen. Ein gutes Geschäft. Er ging zu Germaine hinüber. Auch sie lächelte. »Wie geht’s denn der Proviantabteilung«, grinste er sie an. »Welches Zauberwerk der Kochkunst gibt es denn zu Mittag?« »Ochsenfleisch.« »Mit Zwiebeln?« »Nein, nur Ochsenfleisch. Die Zwiebeln sind zu Ende.« Bruce hörte auf zu lächeln. »Wieviel ist noch da?« fragte er. »Eine Kiste – das reicht nur noch bis morgen mittag.« Sie würden mindestens zwei Tage brauchen, um mit den Reparaturen an der Brücke fertig zu werden. Und danach noch einen Tag unterwegs. »Na schön«, sagte er. »Wir haben dann wenigstens einen guten Appetit, wenn wir nach Hause kommen. Du mußt versuchen, es aufzuteilen. Von jetzt an gibt es nur noch halbe Rationen.« Er war so in Gedanken über diese neue Schwierigkeit versunken, daß er das leise Brummen außerhalb des Lagers nicht wahrnahm. Bruce hob seinen Kopf und lauschte. »Die Wagen!« Seine Stimme war laut in seiner Erleichterung. Und sofort machte sich eine freudige Erregung im Lager breit. Das Warten war vorbei. Fauchend kamen sie aus dem Busch auf die Lichtung. Schwer beladen, auf tief durchgebogenen Federn, schaute das Holz und das Wellblech überall unter den Planen hervor. Ruffy beugte sich aus dem Führersitz des ersten Wagens und schrie: »Hallo, Boß, wo sollen wir abladen?« »Bring das Zeug bis zur Brücke. Warte eine Sekunde, ich komme mit.« Bruce kroch aus dem Lager und lief schnell zu Ruffys Wagen. Er fühlte, wie es auf seinem Rücken prickelte, während er 243
im Freien war, und schlug erleichtert die Tür hinter sich zu. »Ein Pfeil in meinem Rücken behagt mir gar nicht«, sagte er. »Hatten Sie irgendwelchen Ärger, während wir fort waren?« »Nein«, sagte Bruce. »Aber sie sind da. Sie haben die ganze Nacht über im Dschungel getrommelt.« »Die haben ihre Kumpel zusammengerufen«, grunzte Ruffy und ließ die Kupplung kommen. »Wir werden noch einigen Spaß erleben, ehe wir mit der Brücke fertig sind. Sehr wahrscheinlich brauchen sie noch einen oder zwei Tage, bis sie genug Mut zusammenhaben, aber zum Schluß werden sie uns bestimmt angreifen.« »Fahr hinüber an die Seite der Brücke, Ruffy«, befahl Bruce und kurbelte sein Fenster herunter. »Ich werde Hendry ein Zeichen geben, sich neben uns zu stellen. Wir werden zwischen den beiden Wagen abladen und dann anfangen, den Wellblechzaun von hier aus aufzubauen.« Während Hendry seinen Wagen neben den ihren lenkte, zwang sich Bruce, auf das Gemetzel am Strand hinabzusehen. »Krokodile«, rief er erleichtert aus. Die Gestelle standen noch immer so, wie er sie zuletzt gesehen hatte. Aber der grausige Haufen menschlicher Überreste war verschwunden. Der Gestank und die Fliegen jedoch waren geblieben. »Während der Nacht«, stimmte Ruffy zu, als er die langen Schleifspuren am Strand betrachtete. »Gott sei Dank.« »Ja. Es hätte meinen Jungs nicht sehr viel Freude gemacht, das aufzuräumen.« »Wir werden jemand runterschicken, der die Stangen rausreißt. Ich will nicht andauernd da hinsehen, während wir arbeiten.« »Nein, die sind wirklich nicht hübsch.« Ruffys Augen wanderten über die beiden Galgengestelle. Bruce kletterte zwischen den beiden Lastwagen herunter. »Hendry.« 244
»So heiße ich.« Wally lehnte sich aus dem Fenster. »Ich muß dich leider enttäuschen. Aber die Krokodile haben die Arbeit bereits für dich getan.« »Das sehe ich auch, ich bin ja nicht blind.« »Schon gut. Nehmen wir an, daß du weder blind noch fest angewachsen bist, warum läßt du dann deine Wagen nicht entladen?« »Eine Masse Zeug«, murmelte Hendry. Aber er stieg aus und trieb die Leute unter den Planen an. »Los, das Zeug runter, ihr Faulenzer! Und ‘n bißchen plötzlich, das Ganze!« »Waren das die dicksten Balken, die ihr finden konntet?« wandte sich Bruce an Ruffy. »25 mal 8, aber wir haben eine Menge davon.« »Die tun’s schon«, entschied Bruce. »Wir können jedesmal ein Dutzend an den Hauptträgern zusammenbinden.« Die Stirn gerunzelt und scharf nachdenkend, begann Bruce damit, den Aufbau der Brücke zu organisieren. »Hendry, das Holz muß nach der Größe gestapelt werden. Die Wellblechplatten kommen hierher.« Er wischte sich die Fliegen aus dem Gesicht. »Ruffy, wie viele Hämmer haben wir?« »Zehn, Boß. Und außerdem habe ich ein paar Handsägen gefunden.« »Gut. Wie sieht es mit Nägeln und Seilen aus?« »Davon haben wir eine Menge. Ich habe eine ganze Kiste mit Fünfzehnzentimeter-Nägeln und …« Stark beschäftigt, hatte Bruce nicht bemerkt, daß einer der farbigen Zivilisten den Schutz der Wagenburg verlassen hatte. Er ging ein paar Schritte auf die Brücke zu und hielt an. Dort begann er seelenruhig seine Hose aufzuknöpfen. In diesem Augenblick sah Bruce hoch. »Was zum Teufel machen Sie denn?« schrie er, und der Mann sah schuldbewußt auf. Er verstand zwar die englischen Worte nicht, aber der Ton von Bruce war eindeutig genug. 245
»Monsieur«, erklärte er, »ich möchte …« »Hierher zurück«, schrie Bruce. Der Mann zögerte verwirrt und begann dann seine Hose wieder zuzuknöpfen. »Beeil dich, du verdammter Idiot!« Gehorsam beeilte sich der Mann, seine Hose zuzuknöpfen. Alle hatten aufgehört zu arbeiten und beobachteten ihn. Sein Gesicht war schamvoll gerötet, und er fummelte ungeschickt daran herum. »Laß das.« Bruce tobte. »Komm hierher.« Der erste Pfeil stieg lässig aus dem Dickicht des Flusses in einer ruhigen Kurve auf. Als er niederfiel, wurde er schneller, zischte leise und blieb zu Füßen des Mannes im Boden stecken und wackelte hin und her. Ein dünnes Rohr mit grünen Blättern sah das Ganze so harmlos wie ein Kinderspielzeug aus. »Lauf«, schrie Bruce. Der Mann stand und starrte entgeistert auf den Pfeil. Bruce wollte vorlaufen, um ihn zu holen, aber Ruffys riesige schwarze Hand umklammerte seinen Arm, und in diesem Griff war er hilflos. Er schlug nach Ruffy und versuchte, sich freizukämpfen, konnte aber den Griff nicht lösen. Ein Schwarm von Pfeilen, wie Heuschrecken im Flug, fielen in hohem Bogen, leise vor sich hinzischend, rings um den Mann auf den Boden, als er zu laufen begann. Bruce hörte auf, sich zu wehren und beobachtete. Er hörte, wie die Eisenspitzen auf die Kühlerhaube klatschten und sah sie weit neben dem Mann einschlagen. Einige der dünnen Schäfte brachen, als sie zu Boden fielen. Dann traf ihn einer zwischen den Schultern wie eine genaugezielte Banderilla. Er durchbohrte seinen Rücken, während er rannte, und er drehte seine Arme nach hinten, vergeblich versuchend, ihn zu erreichen, sein Gesicht von Schrecken und Schmerz verzerrt. »Bringt ihn in Deckung«, schrie Bruce, als der Farbige in den Schutz der Wagen kam. Zwei Gendarmen sprangen vor, packten seine Arme und drückten ihn mit dem Gesicht nach 246
unten auf den Boden. Er stammelte abgehackte und unzusammenhängende Worte in seinem Schrecken, während Bruce sich über seinen Rücken beugte und den Schaft ergriff. Nur die Hälfte der dornigen Spitze hatte sich etwa zwei Zentimeter tief in das Fleisch gegraben. Aber als Bruce am Schaft zog, blieb dieser in seiner Hand, während die Stahlspitze immer noch im Fleisch steckte. »Messer«, schrie Bruce, und jemand drückte ihm ein Bajonett in die Hand. »Passen Sie auf die Widerhaken auf, Boß, stechen Sie sich um Gottes willen nicht an ihnen.« »Ruffy, hol deine Leute zusammen, sie müssen bereit sein, falls sie uns angreifen«, schnappte Bruce und riß das Hemd auf. Einen Moment lang starrte er auf den groben, handgeschmiedeten Pfeilkopf. Er war dick mit Gift beschmiert, und es sah zwischen den Widerhaken wie klebrige schwarze Bonbonmasse aus. »Er ist tot«, sagte Ruffy, als er sich über den Kühler des Wagens beugte. »Er hat nur noch nicht zu atmen aufgehört.« Der Mann schrie und wand sich unter Bruce, als dieser den ersten Schnitt mit der Spitze des Bajonetts tief neben der Pfeilspitze machte. »Hendry, bring mir die Zange aus der Werkzeugtasche!« »Hier ist sie.« Bruce ergriff die Pfeilspitze mit der Zange und zog. Die Widerhaken saßen so fest, daß er das Fleisch mit emporhob. Bruce schnitt es sauber mit dem Bajonett ab, wobei er es zerreißen hörte. Es war so, als wenn man einen Angelhaken aus dem weichen Maul eines Fisches entfernen wollte. »Sie verschwenden Ihre Zeit, Boß«, grunzte Ruffy mit seiner afrikanischen Gelassenheit, die einen unnatürlichen Tod ruhig aufnimmt. »Für den Jungen ist es vorüber. Er ist schließlich kein Pferd! Das war Schlangengift, frisch gemixt. Der ist erledigt.« 247
»Bist du sicher, Ruffy?« Bruce sah auf. »Bist du sicher, daß es Schlangengift ist?« »Das benutzen sie immer. Sie vermischen es mit Kassavamehl.« »Hendry, wo ist unser Schlangenserum?« »In der Medikamentenkiste im Lager.« Bruce zog noch einmal an der Pfeilspitze und bekam sie los. Zwischen den Schulterblättern des Mannes war jetzt ein tiefes schwarzes Loch. »Alles in die Wagen. Wir müssen ihn zurückbringen. Jede Sekunde ist wichtig.« »Sehen Sie sich seine Augen an«, grunzte Ruffy. »Das Spritzenzeug wird ihm auch nicht mehr viel helfen.« Die Pupillen waren auf die Größe eines Streichholzkopfes zusammengeschrumpft, und er zuckte am ganzen Körper, während das Gift sich in ihm ausbreitete. »Bringt ihn in den Wagen.« Sie hoben ihn in das Fahrerhaus, und alle sprangen auf. Ruffy startete den Motor, schaltete den Rückwärtsgang ein, und aufheulend schoß der Wagen die dreißig Meter zum Lager zurück. »Bringt ihn heraus und in Sicherheit«, wies Bruce sie an. Der Mann stieß jetzt durch kraftlose Lippen blubbernde Geräusche aus und begann zu schwitzen. Kleine Bäche rannen an seinem Gesicht und dem nackten Oberkörper herunter. Die Wunde blutete kaum, nur ganz kleine Tropfen brauner Flüssigkeit. Es mußte sich um ein gerinnendes Gift handeln, überlegte Bruce. »Bruce, ist dir was passiert?« Germaine rannte auf ihn zu. »Mit mir ist alles in Ordnung.« Bruce dachte diesmal daran, seine Zunge im Zaum zu halten, »aber einer der anderen ist verletzt worden.« »Kann ich dir helfen?« »Nein, ich möchte nicht, daß du zusiehst.« Und er wandte 248
sich von ihr ab. »Hendry, verdammt noch mal, wo ist das Schlangenserum?« Sie hatten den Mann ins Lager gebracht und auf eine Decke im Schatten gelegt. Bruce ging zu ihm und kniete neben ihm nieder. Er nahm die scharlachrote Büchse, die Hendry ihm gab, und öffnete sie. »Ruffy, bring die beiden Wagen wieder in den Kreis und sorge dafür, daß deine Jungs auf Draht sind. Durch diesen Erfolg werden die vielleicht schon früher tapfer, als du es erwartet hast.« Bruce steckte die Nadel auf die Spritze, während er sprach. »Hendry, sie sollen eine Art Sichtschutz um uns aufstellen. Ihr könnt Decken benutzen.« Mit seinem Daumen brach er die Spitze der Ampulle ab und füllte die Spritze mit dem blaßgelben Serum. »Haltet ihn«, sagte er zu den beiden Gendarmen, hob ein Stück Haut in der Nähe der Wunde an und stach die Nadel ein. Die Haut des Mannes fühlte sich feucht und klamm an wie die eines Frosches. Nachdem er das Serum eingespritzt hatte, versuchte Bruce die Zeit zu schätzen, seit ihn der Pfeil getroffen hatte. Vielleicht sieben oder acht Minuten. Das Gift der Mamba tötet in vierzehn Minuten. »Dreht ihn um«, sagte er. Der Kopf des Mannes rollte zur Seite, sein Atem ging schnell und flach und Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln an den Wangen herunter. »Nun schau dir das einmal an!« sagte Wally Hendry. Bruce sah in sein Gesicht. Seine Augen leuchteten tief befriedigt auf, sein Atem war genauso schnell und flach wie der des sterbenden Mannes. »Geh und hilf Ruffy«, schnauzte Bruce ihn an, während sich sein Magen vor Ekel umdrehte. »Nicht um alles in der Welt. Das hier will ich nicht versäumen.« 249
Bruce hatte keine Zeit, sich zu streiten. Er hob die Haut in der Magengegend an und gab ihm eine zweite Injektion. In diesem Augenblick hörte man ein lautes Geräusch, als die Schließmuskeln nachgaben. »Mein Gott«, flüsterte Hendry. »Hau ab«, knurrte Bruce. »Kannst du ihn nicht sterben lassen, ohne dich daran aufzugeilen?« Ohne Hoffnung gab er ihm noch eine Spritze oberhalb des Herzens in die linke Brustseite. Als er die Spritze geleert hatte, wand sich der Körper des Mannes in einem Krampf, und die Nadel brach unterhalb der Haut ab. »Jetzt ist er hin«, flüsterte Hendry. »Jetzt ist er hin. Guck dir das an, Mensch. Das ist wirklich ein Ding.« Bruces Hände zitterten, und plötzlich senkte sich ein Vorhang über seinen Verstand. »Du dreckiges Schwein«, schrie er und schlug Hendry mit der offenen Hand ins Gesicht, daß dieser rückwärts gegen den Tankwagen taumelte. Dann ging er mit beiden Händen auf seinen Hals los, bekam ihn zu fassen und drückte mit seinen Daumen gegen die elastische Luftröhre. »Ist dir denn gar nichts heilig, du dreckiges Vieh?« schrie er Hendry ins Gesicht. »Kannst du nicht mal einen Mann sterben lassen ohne …« In diesem Augenblick kam Ruffy. Ohne jede Kraftanstrengung riß er Bruces Hände von der Gurgel und stellte seinen riesigen Körper zwischen die beiden. »Das ist genug, Boß.« »Dafür…«, sagte Hendry heiser, während er seinen Hals massierte, »dafür wirst du mir noch zahlen.« Bruce wandte sich ab und zu dem Mann auf der Decke; ihm war schlecht, und er schämte sich. »Deckt ihn zu.« Seine Stimme zitterte. »Legt ihn hinten in einen der Wagen, wir werden ihn morgen begraben.«
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22 Noch vor Einbruch der Nacht hatten sie den Wellblechzaun errichtet. Es war eine einfache, viereckige Konstruktion ohne Dach. Eine Seite davon konnte geöffnet werden, und alle vier Wände hatten kleine Schießscharten für die Verteidigung. Er war geräumig genug, um zwölf Männer bequem aufzunehmen, hoch genug, um auch die Köpfe der größten zu schützen, und er hatte genau die Breite der Brücke. Eine Schönheit war er allerdings nicht. »Wie wollen Sie das Ding denn bewegen, Boß?« Ruffy betrachtete den Schutz zweifelnd. »Ich werde es dir zeigen. Wir werden es jetzt mit zurück ins Lager nehmen, so daß wir morgen früh darin mit der Arbeit beginnen können.« Bruce suchte zwölf Leute aus, und sie drängten sich durch die Öffnung an der einen Seite in den Schutzzaun und machten ihn hinter sich zu. »Okay, Ruffy. Fahr die Wagen weg.« Hendry und Ruffy fuhren rückwärts mit den beiden Wagen zum Lager und ließen den Schutzwall wie eine kleine Wellblechbaracke am Beginn der Brücke stehen. Drinnen postierte Bruce seine Männer in gleichen Abständen entlang der Wände. »Jetzt packt alle das Holz des Rahmens auf dem Boden an und hebt das Ding hoch«, rief er. »Seid ihr alle fertig? Gut. Hoch!« Der Schutzwall schwankte und erhob sich etwa zwanzig Zentimeter über den Boden. Vom Lager her konnte man nur die Schuhe der Männer erkennen. »Alle zusammen«, befahl Bruce. »Marsch!« Kreischend und quietschend bewegte sich die Konstruktion über den unebenen Boden schwerfällig auf das Lager zu. Die Füße, die darunter hervorlugten, sahen wie die eines Tausendfüßlers aus. 251
Die Männer im Lager begannen zu jubeln, und aus dem Schutzwall konnte man ein Freudengeschrei vernehmen. Das sah lustig aus. Sie amüsierten sich enorm und hatten dadurch völlig den Schrecken vergifteter Pfeile und verborgener Geister im Dschungel vertrieben. Sie hatten das Lager erreicht und setzten den Schutzwall ab. Dann schlüpfte ein Gendarm nach dem anderen die paar Meter vom Freien ins Lager und in Sicherheit und wurde mit Gelächter, Schulterklopfen und Glückwünschen begrüßt. »Prima. Das klappt ja, Boß«, begrüßte Ruffy Bruce in dem Geschrei. »Ja.« Dann erhob er seine Stimme. »Das ist genug. Seid jetzt wieder ruhig und geht zurück auf eure Posten.« Das Gelächter verstummte und das Gewirr von Unordnung löste sich auf. Bruce ging in die Mitte des Lagers und sah sich um. Es herrschte jetzt völlige Stille. Alle beobachteten ihn. Ich habe schon oft darüber gelesen, grinste er in sich hinein, über die heroische Ansprache an die Männer am Abend vor der Schlacht. Hoffentlich mache ich das jetzt alles richtig. »Seid ihr hungrig?« fragte er laut auf französisch und erhielt eine laute einstimmige Bestätigung. »Es gibt heute abend Ochsenfleisch.« Diesmal stöhnten sie belustigt auf. »Und morgen zum Frühstück gibt es wieder Ochsenfleisch.« Hier machte er eine Pause. »Und dann ist Schluß.« Sie waren jetzt alle stille. »Das heißt, daß ihr alle hungrig sein werdet, wenn wir den Fluß überqueren. Je eher wir die Brücke reparieren, desto schneller werdet ihr wieder etwas in eure Bäuche bekommen.« Bruce ließ sich das ruhig ein bißchen setzen. »Ihr habt alle gesehen, was mit dem Mann passiert ist, der heute ins Freie ging. Ich muß euch also nicht sagen, daß ihr in Deckung bleiben sollt. Der Hauptfeldwebel wird die notwendigen sanitären Maßnahmen ergreifen. Es werden Zwanzig-Liter252
Kanister dafür benutzt. Die sind nicht sehr bequem, und deshalb werdet ihr auch nicht zu lange auf ihnen herumsitzen.« Hier lachten sie ein wenig. »Denkt immer daran, solange ihr hier im Lager oder im Schutzwall bleibt, können sie nicht an euch heran. Es gibt überhaupt keinen Grund zur Furcht. Sie können auf ihren Trommeln herumschlagen und so lange warten, wie sie lustig sind. Aber sie können uns nichts tun.« Ein Murmeln der Zustimmung. »Und je schneller wir mit der Brücke fertig sind, desto schneller sind wir auch wieder zu Hause.« Bruce sah sich den Kreis der Gesichter an und war zufrieden. Der Schutzwall hatte ihr Selbstvertrauen wieder sehr gehoben. »Gut. Feldwebel Jacque, sobald es dunkel ist, kannst du die Scheinwerfer wieder einschalten.« Damit beendete Bruce seine Ansprache und ging hinüber zu Germaine, die neben dem Ford saß. Er löste den Kinnriemen seines Helms und nahm ihn vom Kopf. Sein Haar war feucht vom Schweiß, und er strich mit seinen Fingern hindurch. »Du bist müde«, fragte Germaine weich und betrachtete die dunklen Ringe unter seinen Augen und die kleinen nervösen Zuckungen der Überanstrengung in seinen Mundwinkeln. »Nein, ich bin in Ordnung«, wehrte er ab. Aber jeder Muskel seines Körpers schmerzte vor Müdigkeit und nervöser Anspannung. »Heute mußt du die ganze Nacht schlafen«, befahl sie. »Ich werde dir das Bett hinten im Wagen machen.« Bruce sah schnell zu ihr auf. »Mit dir?« fragte er. »Ja.« »Macht es dir nichts aus, daß jeder es dann wissen wird?« »Ich schäme mich nicht für uns.« Ihr Ton war leidenschaftlich. »Ich weiß, aber …« »Du hast einmal gesagt, daß nichts zwischen dir und mir 253
jemals schmutzig sein könnte.« »Nein, natürlich kann es nichts Schmutziges zwischen uns geben. Ich dachte nur …« »Also – ich liebe dich, und von jetzt an haben wir nur noch ein gemeinsames Bett«, sagte sie, das Thema beendend. Gestern war sie noch eine Jungfrau, dachte er mit großem Erstaunen, und jetzt – ja, jetzt gab es keine Schranken mehr zwischen ihnen. Wenn eine Frau erst einmal erweckt ist, dann denkt sie viel unbekümmerter an die Konsequenzen als ein Mann. Sie sind solche hundertprozentigen Geschöpfe. Aber selbstverständlich hat sie recht. Sie ist meine Frau, und sie gehört in mein Bett. Die anderen sollen sich zum Teufel scheren und denken was sie wollen. »Also mach das Bett, Mädchen.« Er lächelte sie zärtlich an. Zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit begann das Trommeln wieder. Sie lagen zusammen, hielten sich fest in den Armen und lauschten. Es war für sie nicht mehr schrecklich, denn sie fühlten sich warm und sicher im Abklingen ihrer Leidenschaft. Es war, als ob man nachts dalag und dem ohnmächtigen Trommeln eines Regensturmes auf das Dach lauscht.
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22 Bei Sonnenaufgang gingen sie zur Brücke, der Schutzzaun bewegte sich über die Lichtung wie der Rückenpanzer einer vielbeinigen, metallisch glänzenden Schildkröte. Die Männer innerhalb unterhielten sich und machten laute Witze, noch immer von der Einmaligkeit der Konstruktion beeindruckt. »Das reicht jetzt. Also Schluß mit dem Geschrei«, schrie Bruce sie nieder. »Wir haben jetzt zu arbeiten.« Und dann begannen sie. Nach einer Stunde hatte die Sonne das Metallgehäuse in einen Ofen verwandelt. Sie hatten sich die Oberkörper freigemacht, und der Schweiß lief an ihnen herunter, während sie arbeiteten. Sie schufteten wie die Wilden, besessen von dem Drang, fertig zu werden. Das einzige, was sie fühlten, waren die rohen Holzstücke, die ihnen kleine Splitter in ihre Haut trieben. Sie arbeiteten in diesem Brutkasten zwischen dem Lärmen der Hämmer und dem Geruch von Sägemehl. Die Arbeit lief glatt weiter, und nur hier und da wurde ein zusätzlicher Befehl von Bruce oder Ruffy gegeben. Bis Mittag waren die vier Hauptplanken, die das Loch in der Mitte überbrücken sollten, fertig. Bruce prüfte die Festigkeit der Planken, indem er eine davon auf zwei Blöcke legte und sich dann mit allen seinen Leuten mitten darauf stellte. Unter diesem massierten Gewicht gab sie drei Zentimeter nach. »Was glauben Sie, Boß?« fragte Ruffy zweifelnd. »Vier davon könnten ausreichen. Wir müssen noch Stützpfeiler darunter stellen«, antwortete Bruce. »Also, Mann, ich weiß nicht. Der Tankwagen ist verdammt schwer.« »Der ist kein Fliegengewicht«, stimmte Bruce zu. »Aber wir müssen es riskieren. Zuerst bringen wir den Ford hinüber, dann die Lastwagen und zum Schluß den Tankwagen.« Ruffy nickte und wischte sein Gesicht mit dem Unterarm ab. Die Muskeln unterhalb seiner Achselhöhle traten hervor, als er 255
sich bewegte. In dem ganzen mächtigen Körper oberhalb des Gürtels war kein Gramm überflüssiges Fett. »Puh«, stieß er zwischen seinen Lippen hervor. »Mir ist jetzt nach einem Bier zumute. Der Durst bringt mich wirklich um.« »Hast du denn welches dabei?« fragte Bruce, während er mit seinem Daumen über die Augenbrauen strich und die Feuchtigkeit, die sich dort angesammelt hatte, die Wangen herunterlief. »Es gibt zwei Dinge, ohne die ich niemals irgendwo hingehe: meine Hosen und das braune blubbernde Zeug.« Ruffy nahm ein kleines Paket aus der Ecke des Zauns, und es schwappte stumpf. »Hören Sie das, Boß?« »Ich höre es, und es hört sich wie Musik an«, grinste Bruce. »Also alle herhören.« Er erhob seine Stimme. »Zehn Minuten Pause.« Ruffy öffnete die Flaschen und verteilte sie, eine auf jeweils drei Gendarmen. »Diese Araber verstehen nichts von dem Zeug«, erklärte er Bruce. »Es wäre glatte Verschwendung.« Das Bier war lauwarm und stark kohlensäurehaltig und verstärkte nur noch den Durst bei Bruce. Er trank die Flasche aus und warf sie aus dem Schutzwall heraus. »Also los.« Er stand auf. »Versuchen wir die Balken festzumachen.« »Das waren die kürzesten zehn Minuten, die ich je erlebt habe«, kommentierte Ruffy. »Deine Uhr geht nach«, sagte Bruce. Sie trugen die Balken in den Schutzwall und wankten zur Brücke. Es gab kein Lachen, sondern nur angestrengtes Atmen und Flüche. »Macht die Seile fest«, befahl Bruce. Er prüfte selbst die Knoten, sah dann zu Ruffy und nickte. »Das genügt.« »Also los, ihr verrückten Strolche«, grölte Ruffy. »Hoch damit.« 256
Der erste Balken wurde hochgehoben, schwang wie ein komischer Maibaum mit den Seilen zu beiden Seiten herunterhängend hin und her. »Zwei Männer an jedes Seil«, befahl Bruce. »Langsam herunterlassen.« Er sah sich um, um sicher zu gehen, daß alle bereit waren. »Wenn ihr das Ding fallenlaßt, werfe ich euch Strolche gleich hinterher«, warnte Ruffy. »Langsam herunterlassen«, schrie Bruce. Der Balken senkte sich langsam über den Hohlraum zwischen den rauchgeschwärzten Enden der Brücke. Erst ganz langsam, dann schneller, als das Übergewicht auf der anderen Seite war. »Halt, verdammt noch mal, halt«, schrie Ruffy, dessen Muskeln unter der enormen Belastung aus den Schultern hervortraten. Sie stemmten sich mit aller Kraft gegen die Seile, aber das Gewicht des Balkens riß sie nach vorne, als er niederfiel. Er krachte auf das andere Ende, wirbelte eine Wolke von verkohltem Holz auf und blieb dann schwankend liegen. »Mann, ich dachte, den hätten wir todsicher verloren«, grollte Ruffy und drehte sich dann wütend zu seinen Leuten um. »Ihr Idioten, paßt bei den nächsten besser auf – wenn ihr nicht im Fluß baden gehen wollt.« Sie wiederholten die ganze Prozedur bei dem zweiten Balken, und wieder konnten sie ihn nicht am Fallen hindern, aber diesmal hatten sie nicht so viel Glück. Das Ende des Balkens sauste auf der anderen Seite nieder, sprang hoch und rutschte zur Seite. »Er fällt, zieht, ihr Idioten, zieht«, schrie Ruffy. Der Balken rutschte langsam über die Seite des Vorsprungs ab. Er schlug unten im Fluß mit einem großen Krach auf, verschwand unter der Oberfläche, trieb stromabwärts, bis er durch die angezogenen Taue festgehalten wurde. Bruce und Ruffy fluchten und kurbelten wütend die langwie257
rige und aufreibende Arbeit an, den Balken gegen den Strom zurückzuziehen und die Last wieder auf die Brücke zu hieven. Ein halbes dutzendmal rutschte er wieder im wichtigsten Moment ab und fiel in den Fluß. Trotz seiner anderen Verdienste war Ruffys Vokabular an Flüchen begrenzt, und seine Wut steigerte sich noch dadurch, daß er sich unentwegt wiederholen mußte. Bruce war hier besser dran. Er hatte schon viele schöne Flüche gehört und konstruierte selbst ein paar neue dazu. Als sie den triefenden Balken endlich wieder auf der Brücke hatten und eine Pause machten, wandte Ruffy sich mit ehrlicher Bewunderung an Bruce. »Sie fluchen verdammt gut«, sagte er. »Ich habe Sie niemals vorher gehört. Aber kein Zweifel, Sie sind ausgezeichnet. Wie war der noch mit der Kuh?« Zögernd wiederholte ihn Bruce. »Den haben Sie selbst erfunden?« fragte Ruffy. »So aus der Situation heraus«, lachte Bruce. »Das ist ungefähr der dreckigste Fluch, den ich je gehört habe.« Ruffy konnte seinen Neid nicht zurückhalten. »Mann, Sie sollten ein Buch schreiben.« »Laß uns erst hier die Brücke fertig machen«, sagte Bruce, »dann werde ich darüber nachdenken.« Diesmal benahm sich der Balken beinahe untertänig, um zu gefallen. Er fiel sauber, bedeckte das Loch ein Stück mehr und gesellte sich neben seinen Zwillingsbruder. »Wenn man etwas gut genug verflucht, dann klappt es immer«, sagte Ruffy weise. »Ich bin überzeugt, daß Ihr Ding über die Kuh den Ausschlag gegeben hat, Boß.« Nachdem sie zwei Balken in die richtige Lage gebracht hatten, war die schwerste Arbeit getan. Jetzt trugen sie ihre Schutzmauer auf die Balken und konnten so den dritten und vierten Balken einfach schieben und sie mit Seilen und Nägeln 258
noch vor Einbruch der Dunkelheit absichern und befestigen. Als der Schutzraum bei Anbruch der Dunkelheit müde zum Lager zurückwankte, waren die Männer darin entkräftet. Ihre Hände bluteten und waren voller Holzsplitter; aber jeder war mit sich zufrieden. »Feldwebel Jacque, sieh zu, daß einer der Scheinwerfer die ganze Nacht die Brücke anstrahlt. Wir wollen nicht, daß unsere Freunde herauskommen und sie wieder anstecken.« »Die Batterien brennen nur noch für ein paar Stunden«, sagte Jacque mit leiser Stimme. »Dann nimm eine nach der anderen für nur einen Scheinwerfer«, sagte Bruce ohne zu zögern. »Wir müssen die Brücke die ganze Nacht über beleuchten.« »Glaubst du, daß du jedem der Jungs, die heute an der Brükke gearbeitet haben, ein Bier spendieren kannst?« »Ein ganzes für jeden!« Ruffy war schockiert. »Ich habe nur noch ein paar Kästen.« Bruce sah ihn befehlend an, und Ruffy grinste. »Okay, Boß. Ich glaube auch, daß sie es verdient haben.« Bruce wandte seine Aufmerksamkeit Wally Hendry zu, der auf dem Trittbrett eines der Lastwagen saß und seine Fingernägel mit der Spitze eines Bajonetts sauber machte. »War hier alles in Ordnung, Hendry?« fragte er kühl. »Na klar, was glaubst du, was passieren könnte? Daß wir Besuch von einem Erzbischof kriegen? Daß der Himmel einfällt? Daß deine kleine Französin Zwillinge bekommen hat oder so was?« Er sah von seinen Nägeln zu Bruce auf. »Wann werdet ihr Witzbolde denn endlich mit der Brücke fertig, statt daß ihr hier herumwandert und dumme Fragen stellt?« Bruce war zu müde, um sich zu ärgern. »Du übernimmst die Nachtwache«, sagte er. »Von jetzt bis zum Morgengrauen.« »Ist das etwa in Ordnung, was? Und du? Was wirst du die ganze Nacht über treiben? Oder wirst du bei dieser Frage vielleicht rot?« 259
»Ich gehe jetzt schlafen. Genau das werde ich tun. Ich habe ja schließlich nicht den ganzen Tag über im Lager verträumt.« Hendry ließ das Bajonett zwischen seinen Füßen auf die Erde fallen und brummte. »Und schlafe auch einmal für mich mit bei ihr, mein Junge.« Bruce ließ ihn stehen und ging zu dem Ford. »Hallo, Bruce, wie ging es denn heute? Ich habe dich vermißt«, begrüßte ihn Germaine. Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie ihn ansah. Etwas von Bruces Müdigkeit wich. Es ist ein schönes Gefühl, geliebt zu werden. »Wir sind etwa zur Hälfte fertig. Wir haben noch einen Tag zu tun.« Dann lächelte er zu ihr zurück. »Ich will nicht lügen und sagen, daß ich dich vermißt habe – ich hatte einfach zu viel zu tun.« »Deine Hände!« sagte sie und ergriff sie besorgt, um sie zu betrachten. »Die sehen ja furchtbar aus.« »Nicht gerade hübsch, was?« »Laß mich schnell eine Nadel aus meiner Tasche holen. Ich hole dir die Splitter heraus.« Von der anderen Seite des Lagers her sah Wally Hendry zu Bruce hin, und als dieser hochblickte, zeigte er mit seiner Hand eine unmißverständliche Geste auf seine unteren Körperteile. Dann, als er den Anflug von Ärger auf Bruces Gesicht sah, warf er seinen Kopf zurück und lachte aus vollem Hals.
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23 Bruce knurrte der Magen vor Hunger, als er mit Ruffy und Hendry neben der Feuerstelle stand. Im frühen Morgenlicht konnte er gerade die Umrisse der Brücke am Ende der Lichtung erkennen. Die Trommel war noch immer im Dschungel zu hören, aber sie nahmen sie jetzt kaum noch wahr. Sie gehörte ebenso dazu wie die Moskitos. »Die Batterien sind verbraucht«, grunzte Ruffy. Der matte gelbe Kegel des Scheinwerfers fiel schwach in Richtung der Brücke. »Verdammt noch mal, bin ich hungrig«, beschwerte sich Hendry. »Was ich alles einem großen Steak und ein paar gebratenen Eiern antun könnte.« Die Erwähnung des Essens ließ Bruce das Wasser im Munde zusammenlaufen. Dann aber verscheuchte er das Bild, das Wallys Worte ihm vorgezaubert hatten. »Wir werden heute mit der Arbeit an der Brücke und dem Transport der Wagen nicht fertig«, sagte er. Ruffy stimmte zu. »Wir haben mindestens noch einen vollen Arbeitstag an der Brücke zu tun, Boß.« »Wir werden folgendes machen«, fuhr Bruce fort. »Ich werde mit der Arbeitsgruppe auf die Brücke gehen. Du, Hendry, bleibst hier im Lager und gibst uns genau wie gestern Dekkung. Und du, Ruffy, nimmst dir einen Lastwagen und ein Dutzend Leute. Fahr ungefähr zehn Meilen zurück, wo sich der Wald lichtet und sie sich nicht anschleichen können. Dann schlägst du eine Menge Feuerholz. Schlage so dicke Stücke, daß sie die ganze Nacht hindurch brennen. Wir werden heute nacht einen Ring von Wachtfeuern um das Lager errichten.« »Das finde ich sehr vernünftig«, nickte Ruffy. »Aber was ist mit der Brücke?« »Wir müssen heute eine Wache dort postieren«, sagte Bruce, 261
und der Gesichtsausdruck bei allen dreien änderte sich, als sie darüber nachdachten. »Also eine frische Lieferung von Schweinefleisch für die Jungs im Busch«, grunzte Hendry. »Mich wirst du nicht heute nacht auf die Brücke kriegen.« »Das hat ja auch kein Mensch gesagt«, schnauzte Bruce. »Also gut, Ruffy, geh und hol das Holz. Je mehr desto besser.« Bruce hatte die Arbeiten an der Brücke am Spätnachmittag beendet. Kritisch wurde die Situation dabei um die Mittagszeit, als er und vier Leute den Schutzwall verlassen mußten und zu den Grundpfeilern kletterten, die einige Meter oberhalb des Wassers eingelassen waren, um dort die Querpfeiler zu befestigen. Hier waren sie den Pfeilen, die vom Ufer oder aus dem Dickicht abgeschossen wurden, ohne Schutz ausgesetzt. Aber keine Pfeile kamen, und sie konnten ihre Arbeit ungestört verrichten. Äußerst erleichtert kletterten sie danach wieder in ihre sichere Stellung zurück. Die Balken wurden mit Planken verbunden, die daraufgenagelt wurden. Dann verbanden sie das Ganze noch mit Seilen zu einer kompakten Masse. Bruce trat zurück und besah sich die Früchte von zwei Tagen schwerer Arbeit. »Behelfsmäßig«, entschied er, laut vor sich hinsprechend. »Und sicherlich werden wir dafür keinerlei Preise für Schönheit oder architektonische Vollkommenheit erhalten.« Er nahm seine Jacke auf und schlüpfte in die Ärmel; sein schweißgebadeter Oberkörper war jetzt kalt, nachdem die Sonne fast am Horizont verschwunden war. »Nach Hause, Gentlemen«, sagte er, und seine Gendarmen verteilten sich, um den Schutzwall aufzunehmen. Der Schutzwall ging um das Lager und blieb alle zwanzig bis dreißig Schritte stehen, wie ein altes Weib, das ein Geschäft zu verrichten hat. Wenn es wieder aufstand und weiterging, ließ es 262
jedesmal ein Feuer zurück. Der Feuerring war bei Dunkelheit vollendet, und der Schutzwall kehrte zum Lager zurück. »Bist du soweit, Ruffy?« rief Bruce innerhalb des Schutzwalls zu der Stelle hin, an der Ruffy wartete. »Alles klar, Boß.« Gefolgt von sechs schwerbewaffneten Gendarmen rannte Ruffy über die freie Stelle und kam zu Bruce. Dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg, um ihre Posten für die Nacht auf der Brücke zu beziehen. Bis Mitternacht war es in dem Wellblechkasten kalt, ein Wind, dem sie vollständig ausgesetzt waren, strich vom Fluß herüber, und es gab keine Wolkendecke, die die Wärme des Tages auf die Erde zurückgeworfen hätte. Die Männer in dem Schutzwall kauerten sich unter ihren Gazeschutzmänteln zusammen und warteten. Bruce und Ruffy lehnten sich gemeinsam gegen die Wellblechmauer, ihre Schultern berührten sich beinahe, und die Sterne gaben genügend Licht, um das Innere des Schutzwalls zu erleuchten. Außerdem konnten sie dadurch die Schutzgitter der Brücke durch die offenen Enden erkennen. »In einer halben Stunde kommt der Mond heraus«, murmelte Ruffy. »Zwar nur ein Viertel von ihm, aber das wird uns noch ein bißchen mehr Licht geben«, stimmte Bruce zu. Währenddessen starrte er durch eine schwarze Öffnung zwischen seinen Füßen. Hier hatte er eine der neu gelegten Planken losgemacht, um hinabsehen zu können. »Wollen wir mal mit der Taschenlampe runterleuchten?« schlug Ruffy vor. »Nein.« Bruce schüttelte den Kopf und nahm die Taschenlampe in die andere Hand. »Nicht eher, als bis ich sie höre.« »Vielleicht hören Sie sie nicht.« »Wenn sie stromabwärts schwimmen und an den Pfeilern hochklettern, was sie tun werden, glaube ich, hören wir sie. 263
Das Wasser wird heruntertropfen und klatschen«, sagte Bruce. »Kanaki und seine Leute haben sie nicht gehört«, meinte Ruffy. »Kanaki und seine Leute haben auch nicht darauf gewartet, etwas zu hören«, meinte Bruce. Eine ganze Weile schwiegen sie. Einer der Gendarmen begann leise zu schnarchen, und Ruffy trat ihm mit seinem riesigen beschuhten Fuß unsanft in den Hintern. Der Mann schrie auf, richtete sich auf den Knien auf und blickte wild um sich. »Hattest du schöne Träume?« fragte ihn Ruffy freundlich. »Ich habe nicht geschlafen«, protestierte der Mann, »ich habe nachgedacht.« »Dann denke in Zukunft nicht so laut«, wies ihn Ruffy an. »Es hörte sich an, als ob du die Brücke mit einer Bandsäge durchsägen wolltest.« Eine weitere halbe Stunde verstrich mühsam. »Die Feuer brennen sehr schön«, meinte Ruffy, und Bruce drehte sich um, um durch ein Loch im Wellblech auf den kleinen Garten orangefarbener Feuerblumen im Dunkeln zu sehen. »Ja, die werden bis zum Morgen brennen.« Und wieder herrschte Ruhe. Die einzigen Geräusche waren das Singen der Moskitos und das Rauschen des Flusses. Germaine hat meine Pistole, erinnerte sich Bruce, und sein Puls begann auf einmal schneller zu schlagen. Ich hätte sie mir zurückgeben lassen sollen. Er löste das Bajonett vom Lauf seiner Maschinenpistole und befühlte die Schärfe der Klinge mit seinem Daumen. Dann steckte er es in die Scheide, die an seinem Gürtel hing. Falls wir gezwungen sind, im Dunkeln zu kämpfen, ist es leicht möglich, die Waffe zu verlieren. »Verdammt, habe ich einen Hunger«, grunzte Ruffy neben ihm. »Du bist zu fett«, sagte Bruce. »Diese Diät wird dir gut tun.« 264
Sie warteten weiter. Bruce starrte durch das Loch im Boden. Seine Augen begannen in der Dunkelheit Phantasiegestalten zu sehen. Flüchtige Schatten und Formen, die sich bewegten wie Gegenstände auf der Oberfläche des Wassers. Sein Magen spannte sich an, und er mußte gegen den Drang ankämpfen, seine Taschenlampe zu benutzen. Er schloß die Augen, um sie auszuruhen. Dann beschloß er, langsam bis zehn zu zählen und dann noch einmal hinunterzusehen. Ruffys Hand umschloß seinen Oberarm. Der Druck der Finger löste in ihm Alarm aus wie ein elektrischer Schlag. Bruces Lider öffneten sich schnell. »Hören Sie«, flüsterte Ruffy. Bruce hörte es. Das ständige Fallen von Wasser auf Wasser unter ihnen. Dann schlug etwas gegen die Brücke. Ganz sanft, so daß er es eher fühlte als hörte. »Ja«, flüsterte Bruce zurück. Er griff zur Seite und rüttelte den neben ihm kauernden Gendarmen, dessen Körper sich bei der Berührung sofort anspannte. Sein Atem kratzte ihn in der Kehle. Bruce wartete, bis er sicher war, daß seine Warnung alle Männer erreicht hatte. Dann stützte er seine Maschinenpistole auf seinen Knien auf und zielte durch das Loch nach unten. Er atmete tief ein und knipste seine Taschenlampe an. Der Strahl der Lampe schoß nach unten, und über ihn hinweg zielte er mit seiner Waffe. Die rechteckige Öffnung im Fußboden war der Rahmen eines grausigen Gemäldes, das sich seinen Augen darbot. Schwarze Körper, nackt und vor Nässe glänzend. Wilde Muster und Tätowierungen und ein Gesicht, das zu ihm nach oben starrte. Eine breite, nach hinten fliehende Stirn über erstaunlich weißen Augen und einer flachen Nase. Daneben die lange, glänzende Klinge eines Panga. Klumpen von Menschen, die sich an den hölzernen Pfeilern festhielten, wie Sandflöhe an den Beinen 265
eines Tieres. Arme, Beine und glänzende Lendenschurze vermengten sich zu einem einzigen Organismus, gefährlich wie ein schleimiges Ungeheuer des Meeres. Bruce schoß mitten hinein. Seine Maschinenpistole schlug gegen seine Schulter, und die langen, orangefarbenen Feuerstöße, die aus dem Lauf kamen, machten das Bild noch fürchterlicher. Die Masse der Körper bewegte sich und kämpfte wie ein Haufen von Ratten, die in einem trockenen Brunnen eingeschlossen sind. Sie sprangen mit großem Geschrei in den Fluß, versuchten die hölzernen Streben hochzuklettern, wanden und krümmten sich, als die Kugeln sie trafen, schrien und überschrien beinahe den Lärm der Maschinenpistole. Bruces Waffe war leergeschossen, und er suchte nach einem neuen Magazin. Ruffy und seine Gendarmen hatten sich über das Schutzgitter gelegt und feuerten nach unten. Sie belegten die Pfeiler mit langen Feuerstößen, die ihre Gesichter erleuchteten und ihre Körper gegen den Himmel abzeichneten. »Sie kommen noch immer«, brüllte Ruffy. »Laßt sie nicht über die Brüstung kommen.« Durch das Loch trat Bruce mit dem Fuß auf den Kopf und Oberkörper eines Mannes, in dessen Hand eine Panga war. Er versuchte damit auf Bruces Beine zu schlagen. Seine Augen leuchteten im Licht der Taschenlampe. Bruce sprang zurück, und das Messer zischte um Haaresbreite an seinem Knie vorbei. Der Mann kroch in diesem Augenblick durch das Loch zu Bruce hoch. Dabei stieß er einen schrillen, hohen, sinnlosen Schrei der Wut aus. Bruce stieß mit dem Lauf seines leeren Gewehrs in das verzerrte schwarze Gesicht. Seine ganze Kraft hatte er in diesen Schlag gelegt, und der Lauf drang genau in das Auge des Balubas. Ein Stück des Laufes verschwand im Kopf, bis er durch einen Knochen am weiteren Vordringen gehindert wurde. Eine farblose Masse des zerquetschten Augapfels umrandete das herausstehende Stück Stahl. Er zog und drehte 266
und versuchte, sein Gewehr freizubekommen, aber das Korn hatte sich wie der Widerhaken einer Angel festgesetzt. Der Baluba hatte seinen Panga fallenlassen und klammerte sich mit beiden Händen an dem Gewehrlauf fest. Er schrie und rollte sich auf dem Rücken. Jedesmal, wenn Bruce versuchte, den Lauf wieder aus dem Kopf freizubekommen, bäumte er sich wild auf. Hinter ihm tauchten jetzt Kopf und Schultern eines weiteren Balubas in der Öffnung auf. Bruce ließ die Maschinenpistole los und ergriff den herumliegenden Panga. Er sprang über den sich windenden Körper des ersten Baluba und hob das schwere Messer mit beiden Händen über den Kopf. Der Mann war in der Öffnung eingeklemmt, wehrlos und nicht in der Lage, sich zu schützen. Er sah zu Bruce hoch und öffnete dabei den Mund. Mit beiden Händen, als ob er Holz hacken würde, schlug Bruce zu und legte seine ganze Kraft in den einen Hieb. Der Aufprall riß an seinen Schultern, und er fühlte, wie Blut über seine Beine spritzte. Die nicht verankerte Scheide rutschte aus dem Griff und blieb im Kopf des Balubas stecken. Schwer atmend richtete sich Bruce auf und sah wild um sich. Die Balubas kletterten auf der einen Seite über das Brückengeländer. Das Licht der Sterne ließ ihre Haut erglänzen. Einer seiner Gendarmen lag zusammengekrümmt, den Kopf nach hinten gedreht, die Maschinenpistole in den Händen. Ruffy und die anderen Gendarmen feuerten auf der anderen Seite noch immer nach unten. »Ruffy«, schrie Bruce, »hinter dir. Sie kommen!« Er warf den Griff des Panga fort und lief auf die Leiche des Gendarmen zu. Er brauchte die Maschinenpistole. Noch ehe er ihn erreicht hatte, stürzte sich ein Baluba auf ihn. Bruce tauchte unter dem Schlag des Panga hindurch und griff zu. Beide fielen ineinander verkrampft zu Boden. Der Körper 267
des Mannes war glitschig und versuchte sich ihm zu entwinden. Der Geruch, der von ihm ausging, war wie von ranziger Butter. Bruce fand die richtige Druckstelle unterhalb des Ellenbogens. Der Baluba schrie, und der Panga entglitt seinen Händen. Bruce wand seinen Arm um den Nacken des Mannes, während er mit der freien Hand nach seinem Bajonett griff. Der Baluba versuchte, Bruces Augen mit seinen Fingern zu erreichen. Seine Nägel kratzten eine Seite von Bruces Nase auf, aber jetzt hatte Bruce sein Bajonett aus der Scheide. Er drückte die Spitze gegen die Brust des Mannes und stieß zu. Er fühlte, wie der Stahl gegen eine Rippe stieß, und der Mann verdoppelte seine Anstrengungen, sich aus der Umklammerung zu lösen. Da drehte Bruce die Klinge im Einstich um, während er gleichzeitig mit dem anderen Arm den Kopf des Mannes nach hinten drückte. Die Spitze des Bajonetts glitt an dem Knochen vorbei in den durchlässigen Zwischenraum. Wie bei einer Entjungferung wich der Widerstand gegen den Druck, und das Bajonett konnte in seiner ganzen Länge in den Körper eindringen. Der Körper des Balubas zuckte mechanisch, und das Bajonett vibrierte in der Faust von Bruce. Er wartete nicht mehr darauf, bis der Mann starb. Er zog die Klinge heraus, die sich von dem ansaugenden Fleisch nur schwer lösen konnte. Bruce kam wieder auf die Füße und sah, wie Ruffy einen Baluba mit beiden Händen hochhob und ihn, so wie er war, über die Brüstung in den Fluß schleuderte. Bruce entriß dem toten Gendarmen die Maschinenpistole und trat an die Brüstung. Sie versuchten jetzt auf dieser Seite zu stürmen. Die unteren schrien und schubsten die oberen. Es ist genau, dachte Bruce, als ob man eine Reihe Spatzen von einem Zaun mit einem Jagdgewehr abschießt, während er mit einem langen Feuerstoß das Brückengeländer wieder von den Eindringlingen freimachte. Dann beugte er sich hinüber und 268
feuerte auf die Gestalten unter der Brücke. Seine Waffe war wieder leer. Er lud sie mit einem Magazin aus seiner Tasche nach. Aber da war schon alles vorbei. Sie sprangen jetzt in den Fluß zurück, und die Brückenstützen waren frei. Man sah stromabwärts vereinzelt Köpfe auftauchen. Bruce senkte die Waffe und blickte sich um. Drei seiner Gendarmen brachten gerade den Mann um, den Bruce verwundet hatte. Sie standen über ihm und grunzten, während sie mit ihren Bajonetten auf ihn einstachen. Der Mann schrie noch immer. Bruce sah fort. Ein Stück der Mondsichel war jetzt über den Bäumen sichtbar. Es war von einem dunstigen Heiligenschein umgeben. Bruce steckte sich eine Zigarette an, und der grauenhafte Lärm hinter ihm war vorüber. »Sind Sie okay, Boß?« »Danke, mir geht’s prima. Und wie geht’s dir, Ruffy?« »Ich habe einen schrecklichen Durst bekommen. Ich hoffe nur, daß niemand auf mein Paket getreten ist.« Bruce schätzte, daß die ganze Sache vom ersten bis zum letzten Schuß etwa vier Minuten gedauert hatte. Das war der Krieg. Sieben Stunden lang warten und sich langweilen, und dann vier Minuten höchsten Einsatz. Eigentlich, dachte Bruce, gilt das nicht nur für den Krieg, eigentlich ist das ganze Leben so. Dann fühlte er, wie seine Schenkel zu zittern begannen und der erste Krampf bei ihm die Reaktion der Nerven anzeigte. »Was ist denn los?« Der Ruf kam drüben vom Lager, und Bruce konnte Hendrys Stimme erkennen. »Ist alles in Ordnung?« »Wir haben sie abgeschlagen«, schrie Bruce zurück. »Es ist alles wieder ruhig, du kannst wieder schlafen gehen.« Jetzt muß ich mich ganz schnell hinsetzen, sagte er sich selbst. Die Balubas waren außer an den Tätowierungen auf den Wangen und der Stirn kaum von den Bambalas und Bakubas 269
zu unterscheiden, die den größten Teil der Leute unter Bruces Kommando ausmachten. Bruce ließ die Taschenlampe über die Leiche wandern. Arme und Beine waren dünn, aber muskulös. Der Bauch aufgedunsen, ein Zeichen jahrelanger Unterernährung. Es waren häßliche Körper. Knorrig und zerkratzt. Angeekelt ließ Bruce noch einmal seine Lampe das Gesicht beleuchten. Der Knochen des Schädels war eckig und großflächig unter der Haut. Die Nase war platt und die wulstigen Lippen kamen ihm widerlich und brutal vor. Sie waren leicht geöffnet und zeigten zwei Reihen kleiner, spitzgefeilter Zähne wie die eines Haifisches. »Das ist der letzte, Boß. Ich werde ihn runterschmeißen«, sagte Ruffy in der Dunkelheit neben Bruce. »Tu das.« Ruffy hob ihn hoch, grunzte, dann hörte man die Leiche unten aufschlagen. Ruffy wischte sich die Hände am Geländer ab, kam zu Bruce und setzte sich neben ihn. »Diese gottverdammten Affen.« Ruffys Stimme war bitter und typisch für den in Afrika herrschenden Haß unter den Stämmen. »Wenn wir erst mal diese verdammten Leute von den Vereinten Nationen los sind, dann wird sich hier einiges ändern. Diese widerlichen Balubas haben ein paar Lektionen verdient.« Und so wird es immer sein, dachte Bruce. Christ und Jude. Katholik und Protestant. Schwarzer und Weißer. Bambala und Baluba. Er sah auf seine Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Tagesanbruch. Seine nervöse Reaktion, die der physischen Anspannung gefolgt war, hatte er überstanden. Die Zigarette in seiner Hand zitterte nicht mehr. »Die kommen nicht wieder«, sagte Ruffy. »Sie können etwas schlafen, wenn sie wollen. Ich halte schon die Augen offen, Boß.« »Nein, danke, ich wache mit dir.« Seine Nerven waren noch 270
nicht ruhig genug, um schlafen zu können. »Wie wär’s mit einem Bier?« »Danke.« Bruce nahm einen Zug aus der Flasche und starrte auf die Wachtfeuer um das Lager. Sie waren jetzt zu kleinen Haufen roter Asche zusammengeschmolzen, aber Bruce wußte, daß Ruffy recht hatte. In dieser Nacht würden die Balubas nicht noch einmal angreifen. »Sag mal, wie gefällt dir eigentlich die Freiheit?« »Was sagten Sie, Boß?« Verwundert und fragend wandte Ruffy sich an Bruce. »Wie gefällt es dir, jetzt, nachdem die Belgier weg sind.« »Ich würde sagen, ganz gut.« »Und wenn Tschombé sich der Zentralregierung unterwerfen muß?« »Diese verdammten Araber«, knurrte Ruffy. »Alles, was sie wollen, ist unser Kupfer. Aber um das zu bekommen, müssen sie schon früher aufstehen. Hier sitzen wir fest im Sattel.« Der große immerwährende Kampf auf dem afrikanischen Kontinent. Ich bin hier im Sattel, versuch du, mich vom Pferde zu werfen! Wo immer es darum geht, zu überleben, da sind für ethische oder politische Überzeugungen kein Platz (außer für Beobachter in White Hall, Moskau, Washington und Peking). Es werden noch große Zeiten anbrechen, dachte Bruce. Mein eigenes Land. Wenn es da erst einmal losgeht, wird sich Algerien dagegen wie eine Kindergartenparty ausnehmen.
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24 Die Sonne stand hoch am Himmel und warf lange Schatten auf die Lichtung. Bruce stand neben dem Ford und sah über die Brücke zu dem Wellblechschutz am anderen Ufer hinüber. Eine Sekunde lang entspannte er sich und ließ in seinem Gedächtnis in aller Ruhe die Vorbereitungen für die Überquerung der Brücke vorüberziehen. Hatte er irgend etwas vergessen? Etwas, das noch zur zusätzlichen Sicherung möglich ist? Hendry und zwölf seiner Leute befanden sich in dem Schutzwall auf der anderen Seite der Brücke, bereit, einen Angriff von dieser Seite aus abzuwehren. Als erste würde Germaine den Ford hinüberfahren. Dann sollten die Lastwagen leer hinüberfahren, um so die Gefahr eines Zusammenbruchs der Brücke zu verringern und sie für die letzte und schwerste Belastung durch den Tankwagen fit zu halten. Der letzte Lastwagen würde vollbeladen hinüberfahren, das war riskant, aber nicht zu umgehen. Hendry sollte Last und Passagiere sofort entladen und sie unter dem großen Zeltdach in Sicherheit bringen. Zum Schluß wollte Bruce selbst den Tankwagen hinüberfahren. Nicht, um eine heroische Tat zu vollbringen, obgleich es das Gefährlichste des Planes war, sondern lediglich, weil er niemandem anderen, nicht einmal Ruffy, diese Fahrt zutraute. Die zweitausend Liter Benzin, die sich im Tank befanden, bedeuteten die Garantie für eine sichere Heimfahrt. Bruce hatte vorsichtshalber die Tanks aller Wagen volltanken lassen, aber es war in jedem Falle notwendig, noch einmal nachzutanken, um den Knotenpunkt in Msapa zu erreichen. Er sah auf Germaine herab, die am Steuer des Ford saß. »Fahre in einem niedrigen Gang langsam aber gleichmäßig hinüber. Was immer auch geschehen mag, halte auf keinen Fall an.« Sie nickte. Sie war ruhig und lächelte ihn an. Bruce fühlte 272
Stolz in sich aufsteigen, als er sie ansah. So klein und zart, und trotzdem versah sie heute den Dienst eines Mannes. Er fuhr fort: »Sobald du drüben angekommen bist, werde ich einen der Lastwagen nachschicken. Hendry wird sechs Leute mit rüberbringen und dann weitere nachholen.« »Oui, Monsieur Bonaparte.« »Dafür wirst du heute nacht büßen«, drohte er. »Fort mit dir.« Germaine ließ die Kupplung kommen, und der Ford rumpelte über den unebenen Boden der Straße. Dann gab sie Gas und fuhr ruhig auf die Brücke. Bruce hielt den Atem an, aber es gab nur ein leichtes Schwanken, als das Fahrzeug die reparierte Stelle überquerte. »Gott sei Dank.« Befreit atmete Bruce aus und beobachtete, wie Germaine drüben neben dem Schutzwall anhielt. »Allons«, rief Bruce; der farbige Lokomotivführer, der den ersten Wagen fuhr, war bereit. Er lächelte fröhlich aus seinem pockennarbigen, runden Gesicht, winkte, und der Wagen rollte vorwärts. Ängstlich beobachtete er, wie der Wagen auf die Brücke fuhr. Bruce stellte fest, daß die neu eingefügten Holzstücke beträchtlich unter dem Gewicht des Lastwagens nachgaben und laut protestierend quietschten. »Nicht so gut«, murmelte er. »Nein«, stimmte Ruffy zu. »Boß, warum lassen Sie nicht jemand anderen den Tankwagen rüberfahren?« »Das ist schon längst erledigt«, sagte Bruce, ohne dabei den Kopf zu wenden. Drüben ließ Hendry seine Leute aus dem Schutzwall wieder hinten auf dem Wagen aufsteigen, und dann machte der Schutzwall seinen mühsamen Weg wieder zurück. Während der vier Stunden, die es dauerte, bis die vier Lastwagen herübergebracht waren, wurde Bruce immer ungeduldiger. Die meiste Zeit nahm das Hin- und Hertragen des Well273
blechschutzes in Anspruch, der für jedes Mal mindestens zehn Minuten brauchte. Endlich war nur noch der fünfte Lastwagen und der Tankwagen am Nordufer übrig. Bruce startete den Tankwagen und legte den ersten Gang ein. Dann gab er ein Hupzeichen, und der Fahrer des Lastwagens vor ihm gab ein Handzeichen des Einverständnisses und fuhr los. Der Lastwagen kam zur Brücke und fuhr bis zur Mitte. Er war voll beladen mit zwanzig Mann. Als er zu der reparierten Stelle kam, fuhr er langsamer und hielt fast an. »Los, fahr weiter, verdammt nochmal«, schrie Bruce in ohnmächtiger Wut. Der Idiot von Fahrer hatte seinen Befehl vergessen. Er kroch vorwärts, und die Brücke gab unter seinem vollen Gewicht merklich nach. Der hohe Aufbau des Wagens ruckte wild hin und her, und selbst über dem Lärm seiner eigenen Maschine konnte Bruce das Quietschen der Brückenhölzer hören. »Dieser Narr, dieser verdammte Narr«, flüsterte Bruce vor sich hin. Er fühlte sich plötzlich hier am Nordufer sehr einsam und hilflos, während die Brücke von einem unfähigen Fahrer ruiniert wurde. Er fuhr mit seinem Wagen an. Der Fahrer vor ihm war jetzt in Panikstimmung. Er gab Vollgas, die hinteren Räder drehten sich wie wild, und blaue Rauchwolken stiegen von dem heißen Gummi der Räder auf. Eine der Planken wurde losgerissen, dann raste der Wagen vorwärts und das Südufer hinauf. Bruce zögerte und bremste den Wagen so, daß er am Brükkeneingang stehenblieb. Er überlegte schnell. Das Vernünftigste wäre, den Schaden an der Brücke zu reparieren, ehe man sie der Belastung durch den Tanker aussetzte. Das würde aber einen weiteren Tag Verzögerung bringen. Keiner von ihnen hatte seit gestern früh etwas gegessen. War er berechtigt, ein solches Spiel zu wagen bei einer Chance von fünfzig zu fünfzig? Zahl oder Adler. Zahl 274
bedeutete, daß er durchkam, Adler, daß der Tankwagen in der Mitte der Brücke ins Wasser stürzen würde. Plötzlich wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Vom anderen Ufer begann ein Maschinengewehr zu feuern. Bruce sprang in seinem Führerhaus auf und blickte hinüber. Gleich danach fingen etwa ein Dutzend weiterer Maschinenpistolen an zu feuern, und die Geschosse flogen an dem Tankwagen vorbei. Bruce versuchte, sich über diese ihm unverständliche Handlung klar zu werden. Plötzlich ging alles viel zu schnell. Alles war ein Durcheinander und Chaos. Undeutliche Bewegungen, die er in seinem Rückspiegel wahrnahm, fesselten sein Auge. Dann starrte er in den Spiegel. Er wandte sich schnell an seinem Sitz um und sah zurück. »Verdammt«, fluchte er unruhig. Vom Rande- des Dschungels und zu beiden Seiten der Lichtung schwärmten Balubas ins Freie. Hunderte liefen auf ihn zu, und ihre aus Tierhäuten gefertigten Röcke schlugen ihnen um die Beine. Ihre Federbüsche auf den Köpfen flatterten und die Sonne ließ die Klingen ihrer Pangas aufleuchten. Dumpf schlug ein Pfeil gegen das Metall des Tankwagens. Bruce gab Gas, ergriff das Steuerrad fest mit beiden Händen und fuhr auf die Brücke. Über den Lärm des Gewehrfeuers konnte er das schrille Geschrei von Hunderten erregt schreienden Balubas hören. Es hörte sich sehr nahe an, und er blickte schnell in den Spiegel. Was er sah, ließ ihn beinahe den Kopf verlieren. Er gab sofort Vollgas. Der Baluba, der ihm am nächsten war, durch den Tankwagen gegen das Gewehrfeuer gedeckt, befand sich nur etwa zehn Schritte hinter ihm. Er war so nahe, daß Bruce die Tätowierungszeichen auf seinem Gesicht und seiner Brust klar erkennen konnte. Mit großer Anstrengung hinderte Bruce seinen rechten Fuß daran, zuviel Gas zu geben und fuhr statt dessen auf die reparierte Stelle der Brücke mit dem ruhigen Tempo von etwa dreißig Stundenkilometern zu. Er versuchte, das Geheul hinter 275
sich und das Gewehrfeuer vor sich aus seinen Wahrnehmungen auszuschließen. Die Vorderräder waren jetzt auf den neuen Planken, und über all dem anderen Lärm hörte er sie laut ächzen und fühlte dann, wie sie nachgaben. Der Tankwagen fuhr weiter, und jetzt kamen die Hinterräder mit ihrem Gewicht auf die neue Stelle. Das Ächzen des Holzes wurde zu einem brechenden, lauten Geräusch. Der Wagen wurde langsamer, als die Brücke nachgab, und seine Räder drehten sich ohne zu greifen, da sie keinen Gegendruck mehr hatten. Dann neigte er sich zur Seite und kam zum Stehen. Ein kurzer Ruck, als eine der Haupttrossen brach, ließ Bruce fühlen, wie der Tankwagen nach hinten abkippte. Seine Nase zeigte nach oben, und er begann zu rutschen. »Raus«, schrie ihm sein Verstand zu. »Raus, er fällt!« Er griff nach der Tür, aber in diesem Augenblick brach die Brücke völlig zusammen. Der Wagen fiel über die Seite. Bruce wurde mit einer Wucht, die ihn bewegungsunfähig machte, durch die Fahrerkabine geschleudert, und seine Beine verfingen sich unter dem Beifahrersitz und seine Arme steckten in den Schlaufen des Gewehrgurtes. Jetzt machte sich der Tankwagen von den fallenden Stücken der Brücke frei und Bruce fühlte, wie sein Magen nach oben kam und gegen seine Brust drückte, als ob er in einem Fahrstuhl nach unten fuhr. Der schreckliche Fall dauerte nur einen Augenblick, dann knallte der Wagen auf das Wasser. Als er unter der Oberfläche verschwand, verstummten die Geräusche des Gewehrfeuers und das Schreien der Balubas. Durch die Windschutzscheibe sah Bruce jetzt das kühle, wolkige Grün des Wassers, als befände er sich in einem Aquarium und betrachtete von dort aus das Geschehen durch eine Scheibe. Langsam hin- und herschlingernd versank der Wagen in dem grünen Wasser. »Großer Gott, nur das nicht!« sagte er laut, während er versuchte, sich vom Boden der Fahrerkabine zu erheben. Seine 276
Ohren waren vom Sausen und dem Blubbern entströmender Luftblasen erfüllt, die in kleinen silbernen Wolken neben den Fenstern aufstiegen. Der Wagen sank immer weiter und Bruce fühlte, wie der Schmerz in seinem Trommelfell durch den stärker werdenden Druck zunahm. Er öffnete seinen Mund und sog Luft in sich hinein, bis sein Trommelfell beinahe zerplatzte, der Druck ausgeglichen war und der Schmerz zurückging. Wasser schoß durch den Boden des Führerhauses. Die Kabine füllte sich langsam mit Wasser. Bruce drehte den Türgriff neben sich und stemmte seine Schulter mit aller Gewalt dagegen. Sie wich nicht einen Zentimeter. Er stemmte seine Füße gegen das Armaturenbrett und drückte, bis seine Augäpfel hervortraten. Sie waren wie festgeschweißt durch den immensen Gegendruck des Wassers von außen. »Die Windschutzscheibe«, schrie er laut. »Schlag die Windschutzscheibe ein.« Er suchte nach seiner Waffe. Mittlerweile war der Führersitz bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Er setzte sich auf den Nebensitz, fand die Waffe und brachte sie tropfend in Schulterhöhe. Er drückte den Lauf gegen die Windschutzscheibe und hätte beinahe abgedrückt. Aber sein Verstand warnte ihn noch rechtzeitig. Ganz klar sah er die Gefahr des Schießens. Der Rückschlag in dem beengten Raum würde sein Trommelfell zerreißen, und die vielen Splitter der Scheibe würden ihm durch den Wasserdruck von außen ins Gesicht geschleudert. Er würde erblinden, sich zumindest schwer verletzen. Verzweifelt senkte er sein Gewehr wieder. Er fühlte, wie seine Panik langsam durch die kalte Ruhe der Ausweglosigkeit verdrängt wurde. Er war etwa zwanzig Meter unterhalb der Wasseroberfläche gefangen und es gab keinen Ausweg. Einen Augenblick dachte er daran, seine Waffe gegen sich zu richten und das Unausbleibliche selbst herbeizuführen. Aber er 277
verwarf die Idee im gleichen Augenblick, in dem sie auftauchte. Den Weg nie, nie den Weg! Er peitschte sein Gehirn an und vertrieb damit den kalten lethargischen Druck des Todes. Es mußte etwas geben. Nachdenken, verdammt nochmal, nachdenken. Der Tanker bewegte sich noch immer. Er hatte sich noch immer nicht im Schlamm des Flußbettes festgesetzt. Wie lange war er jetzt hier unten? Etwa zwanzig Sekunden. Er hätte sich doch längst auf dem Boden befinden müssen. Es sei denn! Bruce fühlte, wie neue Hoffnung ihm wieder Lebensmut gab. Der Tank! Natürlich. Das war es. Der große, fast leere Tank hinter ihm. Der große, Zwanzigtausendliter-Tank, in dem sich jetzt nur noch etwa fünfzehnhundert Liter befanden. Er mußte eine Verdrängung von beinahe achtzehn Tonnen haben. Das bedeutete, daß er schwimmen mußte. Als ob ihm in diesem Augenblick seine Hoffnung bestätigt werden sollte, fühlte er wie sein Trommelfell angespannt wurde und dann klopfte. Der Druck fiel! Er stieg langsam wieder hoch. Bruce starrte auf das grüne Wasser durch die Windschutzscheibe. Die kleinen Silberwolken mit Blasen zogen nicht mehr aufwärts. Sie schienen draußen an der Scheibe festzuhängen. Der Tankwagen hatte die durch den freien Fall ausgelöste Beschleunigung überwunden, die ihn nach unten gerissen hatte, und drückte jetzt langsam etwa im gleichen Tempo wie die Luftblasen nach oben. Das Dunkelgrün des tiefen Wassers wurde langsam heller und sah jetzt wie Chartreuse-Likör aus. Bruce lachte. Es war ein hysterischer schriller Aufschrei, und das Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Sofort nahm er sich wieder zusammen. Der Tankwagen kam wieder an die Oberfläche, Wasser strömte von der Windschutzscheibe und Bruce erkannte verzerrt das Südufer. 278
Er drehte den Griff und diesmal öffnete sich die Tür bereitwillig. Wasser strömte in die Führerkabine, und Bruce ließ sich mit dem Einströmen des Wassers herausdrücken. Mit einem schnellen Blick stellte er seine Position fest. Der Wagen war etwa zwanzig Meter flußabwärts getrieben worden. Die Gewehre an dem Südufer schwiegen wieder, und er konnte keinen Baluba am Nordufer entdecken. Sie mußten sich wieder in den Dschungel zurückgezogen haben. Bruce stürzte sich in den Fluß und begann auf das Südufer zuzuschwimmen. Undeutlich und von fern hörte er die hellen kleinen Anfeuerungsrufe seiner Gendarmen. Nach etwa zwölf Stößen fingen die Schwierigkeiten an. Seine Stiefel und die nasse Uniform beschwerten ihn wie Blei. Während er Wasser trat, riß er sich den Stahlhelm ab und ließ ihn untergehen. Dann versuchte er, aus seiner Jacke herauszukommen. Sie hing so schwer an seinen Armen und seiner Brust, daß er viermal tauchen mußte, ehe er sich endlich aus ihr befreien konnte. Er holte wieder tief Luft und fühlte, daß seine Beine müde und schwer waren. Das Südufer war zu weit entfernt, das würde er niemals schaffen. Während er schmerzvoll prustete, änderte er seine Absicht und bemühte sich jetzt gegen den Strom aufwärts zur Brücke hin zu schwimmen. Er fühlte, wie er tiefer im Wasser lag und wie er seine Arme zwingen mußte, bei jedem Stoß wieder nach vorne zu kommen. Etwas fiel neben ihm ins Wasser. Er kümmerte sich nicht darum. Plötzlich hatte ihn ein Gefühl völliger Apathie überkommen; das erste Stadium des Ertrinkens. Er atmete falsch und mußte Wasser schlucken. Dadurch mußte er von neuem husten. Er hing im Wasser, schwer atmend und unter Schmerzen um sich schlagend. Und wieder fiel etwas in seiner Nähe ins Wasser. Diesmal hob er den Kopf. Ein Pfeil flog an ihm vorbei und dann begannen sie in dichtem Netz fast gleichmäßig um ihn herumzufallen. 279
Balubas schossen auf ihn, die sich im dichten Busch oberhalb des anderen Ufers befanden. Ein leiser Regen von Pfeilen umgab seinen Kopf. Bruce begann wieder zu schwimmen. Wie wild versuchte er, sich seinen Weg stromaufwärts zu erkämpfen. Er schwamm, bis er seine Arme nicht mehr von der Oberfläche des Flusses erheben konnte und das Gewicht seiner Stiefel ihn hinabzog. Und wieder sah er auf. Die Brücke war ganz nah. Keine zehn Meter mehr entfernt. Aber er wußte, daß diese zehn Meter so weit für ihn waren wie zehn Kilometer. Er konnte nicht mehr. Die Pfeile, die neben ihm einschlugen, entsetzten ihn nicht. Er wurde durch sie nur noch leicht abgelenkt. Warum zum Teufel können sie mich nicht in Ruhe lassen? Ich mag nicht mehr spielen. Ich will mich ausruhen. Ich bin so müde, so schrecklich müde. Er hörte auf, sich zu bewegen und fühlte, wie das Wasser kühl über seinen Mund und seine Nase floß. »Aushalten, Boß. Ich komme.« Dieser Ruf durchdrang den grauen Nebel, der den langsam untergehenden Bruce umgab. Er riß sich noch einmal zusammen und sein Kopf kam an die Oberfläche. Er sah zur Brücke hinauf. Splitternackt, seinen dicken Bauch bei jedem Schritt schwingend, die mächtigen Beine fliegend und die großen Genitalien fröhlich hin und herwerfend, schwarz wie ein angreifendes Nilpferd, lief Hauptfeldwebel Ruffararo auf die Brücke. Er kam zu der eingebrochenen Stelle, schwang sich über das Schutzgitter, dabei fielen unentwegt Pfeile um ihn herum wie bösartige Insekten. Einer berührte seine Schulter, ohne ihn jedoch mit der Spitze zu treffen, und Ruffy schüttelte ihn nur ab. Dann duckte er sich zusammen und sprang. Ein riesiges Bündel von Armen und Beinen schlug mit einem großen Knall auf dem Wasser auf. »Wo zum Teufel sind Sie, Boß?« Bruce krächzte eine vom Wasser ertränkte Antwort und Ruffy 280
kam mit schwerfälligen Kraulzügen auf ihn zugeschwommen. Er erreichte Bruce. »Immer herumplanschen«, grunzte er. »Ich glaube, es gibt Leute, die nie etwas Gescheites lernen!« Seine Faust umschloß eine Handvoll von Bruces Haaren. Bruce versuchte ohne Erfolg sich zu wehren, er fühlte, wie sein Kopf fest unter einen Arm von Ruffy geklemmt wurde und dieser ihn durchs Wasser zog. Ab und zu kam sein Kopf nach oben, gerade lange genug, um Luft zu holen, aber die meiste Zeit befand er sich unter Wasser. Sein Bewußtsein schwand langsam und er fühlte, wie er tiefer und tiefer sank. Sein Kopf schlug gegen etwas Hartes, aber er war zu schwach, um mit der Hand danach zu greifen. »Wachen Sie auf, Boß. Später können Sie schlafen«, sagte Ruffys Stimme ihm ins Ohr. Er öffnete die Augen und sah neben sich einen Brückenpfeiler. »Also los, ich kann Sie da nicht rauftragen.« Ruffy hatte sie so hinter dem Pfeiler postiert, daß sie von den Pfeilen geschützt waren. Aber die Strömung war hier sehr stark und zog an ihren Körpern. Völlig entkräftet fiel Bruces Kopf zur Seite und sein Gesicht näherte sich dem Wasser. »Los, aufwachen.« Ein scharfer Schmerz durchfuhr Bruce, als Ruffy ihm mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Der Schlag brachte ihn wieder zu Bewußtsein; er hustete, und eine Mischung von Wasser und Erbrochenem stieg in seinem Hals hoch und schoß ihm aus Mund und Nase. Dann stieß er schmerzhaft auf und übergab sich noch einmal. »Na, wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte Ruffy. Bruce hob den Kopf hoch, nahm eine Handvoll Wasser und wischte sich damit übers Gesicht. Er fühlte sich jetzt viel besser. »Okay? Werden Sie’s schaffen?« Bruce nickte. »Also los dann.« Ruffy schubste und stieß ihn, und so kletterte er langsam an 281
dem Pfeiler hoch. Wasser tropfte aus seinen Kleidungsstücken, als sein Körper über die Oberfläche kam, sein Haar war an der Stirn festgeklebt und er konnte bei jedem Atemstoß das Rasseln seiner Lungen hören. »Hören Sie zu, Boß. Wenn wir oben angekommen sind, haben wir keinen Schutz mehr. Es wird eine Menge Pfeile geben. Das heißt, wir haben keine Zeit uns auszuruhen und uns zu unterhalten. Wir werden ganz schnell über das Schutzgitter klettern und dann wie die Wilden rennen. Ist das okay?« Bruce nickte wieder. Über ihm lagen jetzt die Planken der Brücke. Er griff mit einer Hand nach oben und zog sich am Geländer hoch. Dann hing er dort, ohne die Kraft zu haben, sich darüberzuschwingen. »Halten Sie sich fest«, grunzte Ruffy und zog seine glänzenden, feuchten Massen herauf und hinüber. Die Pfeile prasselten wieder nieder, einer davon blieb knapp neben Bruces Gesicht im Holz stecken und vibrierte. Langsam begann sich Bruces Griff zu lockern. Ich kann nicht mehr festhalten, dachte er. Ich falle. Dann umfaßte Ruffys Hand sein Handgelenk; er fühlte, wie er hochgezogen wurde und ließ seine Füße baumeln. Er hing an einem Arm und das Wasser floß ruhig etwa sieben Meter unter ihm vorbei. Langsam wurde er hochgezogen, seine Brust schabte über den Schutzwall, und sein Hemd zerriß. Dann fiel er wie ein formloses Bündel auf die Brücke. Undeutlich hörte er die Gewehre am Südufer feuern und das Vorbeipfeifen der Pfeile und dann Ruffys Stimme. »Los, Boß. Aufstehen.« Er fühlte, wie er aufgehoben und vorwärtsgezogen wurde. Seine Beine waren wie Gummi unter ihm, und er taumelte neben Ruffy. Dann hörten auf einmal die Pfeile auf, das Holz der Brücke wurde zu fester Erde unter seinen Füßen. Stimmen und Hände betasteten ihn. Er wurde hochgehoben und dann mit 282
dem Gesicht nach unten auf den hölzernen Boden eines Lastwagens gelegt. Es folgte der rhythmische Druck auf seinen Brustkorb, als jemand bei ihm künstliche Atmungsversuche machte, während man ihm zur gleichen Zeit warmes Wasser in den Mund goß. Und dann Germaines Stimme. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber schon der Klang ihrer Stimme reichte ihm, um zu wissen, daß er in Sicherheit war. Ganz entfernt, wie durch einen dichten Nebel nahm er wahr, daß ihre Stimme das wichtigste Geräusch in seinem Leben war. Er übergab sich wieder. Zuerst zögernd, dann immer schneller, erlangte Bruce wieder volles Bewußtsein. »Das ist genug«, murmelte er und rollte sich unter Feldwebel Jacque zusammen, der die Wiederbelebungsversuche vorgenommen hatte. Bei dieser Bewegung hustete er erneut, und er fühlte Germaines Hände auf seinen Schultern, die ihn niederdrückten. »Bruce, du mußt dich ausruhen.« »Nein.« Er richtete sich mühsam auf. »Wir müssen unbedingt ins Freie kommen«, sagte er heiser. »Keine Eile, Boß. Wir haben alle Balubas auf der anderen Seite zurückgelassen. Uns trennt jetzt der Fluß.« »Woher weißt du das?« wollte Bruce wissen. »Nun ja –« »Du weißt es nicht«, sagte ihm Bruce glatt. »Es könnten sich leicht noch ein paar hundert auf dieser Seite herumtummeln.« Er hustete wieder schmerzhaft und fuhr dann fort: »Wir fahren in fünf Minuten. Mach alles fertig.« »Okay.« Ruffy wandte sich ab, um zu gehen. »Ruffy!« »Boß?« Er drehte sich erwartungsvoll um. Ruffy grinste schüchtern. »Das ist schon in Ordnung. Ich hatte sowieso ein Bad nötig.« »Dafür kriegst du einen Drink, wenn wir nach Hause kommen.« 283
»Das werde ich nicht vergessen«, warnte ihn Ruffy und kletterte vom Wagen herunter. Dann hörte Bruce, wie er seine Leute zusammenrief. »Ich dachte, ich hätte dich verloren.« Germaines Arm lag noch immer um seine Schultern, und er fühlte sich schon viel besser. »Bruce, ich möchte gerne – ich kann es nicht erklären –« Unfähig, die richtigen Worte zu finden, beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf den Mund. Als sie wieder auseinander gingen, lachten Feldwebel Jacque und die beiden Gendarmen, die bei ihnen waren, freudig. »Jetzt sind Sie wieder richtig in Ordnung, Captain.« »Da habt ihr recht«, stimmte Bruce zu. »Macht alles zur Abfahrt fertig.« Bruce saß neben dem Fahrersitz und sah ein letztesmal zur Brücke hinüber. Der reparierte Teil hing wie eine heruntergefallene Zugbrükke ins Wasser. Auf der anderen Seite lagen verstreut ein paar tote Balubas wie Zelluloidpuppen in der Sonne. Der Tankwagen war stromabwärts durch die Strömung gegen das Ufer getrieben worden. Er lag auf der Seite, halb im sandigen Ufer begraben, und das weiße Shellzeichen zeichnete sich noch immer klar ab. Der Strom floß weiter; grün und undurchdringlich war der Dschungel zu beiden Seiten des Ufers. »Nur weg von hier«, sagte Bruce. Germaine startete den Motor, und der Konvoi der Wagen folgte ihnen durch das Gestrüpp des dichten Busches am Fluß entlang in den Wald. Bruce sah auf seine Uhr. Das Glas war von innen beschlagen, und er hielt sie an sein Ohr. »Das verdammte Ding steht. Wie spät ist es eigentlich?« »Zwanzig Minuten vor eins.« »Ein halber Tag vergeudet«, schimpfte Bruce. 284
»Wir werden die Kreuzung in Msapa vor Anbruch der Dunkelheit erreichen.« »Das werden wir nicht. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist es zu weit und zweitens haben wir nicht genug Benzin.« »Was willst du tun?« Ihre Stimme war ruhig und sorglos. Sie hatte vollstes Vertrauen zu ihm. Ich bin mal gespannt, wie lange das anhalten wird, dachte er zynisch. Zu Beginn bist du ein Gott. Du hast keine einzige männliche Schwäche. Und dann stellen sie ein Maß für dich auf. Dieses Maß kommt der Perfektion gleich. Das erstemal, wenn du dem nicht entsprichst, bricht ihre ganze Welt zusammen. »Wir werden uns etwas einfallen lassen«, versicherte er ihr. »Ich bin sicher, dir wird etwas einfallen«, stimmte sie ruhig zu, und Bruce grinste. Der große Spaß bei der Sache war, daß er es auch glaubte, wenn sie das glaubte. Es war schon eine verrückte Sache, daß Liebe einem das Gefühl gab, als ob man alles vollbringen könnte. Er sprach jetzt wieder englisch, um die beiden Gendarmen, die auf dem Rücksitz saßen, vom Gespräch auszuschließen. »Du bist das Beste, was mir in dreißig Jahren passiert ist.« »Oh, Bruce.« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Das Vertrauen der Liebe, das ihn anschaute, die Stärke seines eigenen Gefühls, trafen Bruce wie ein körperlicher Schlag. Ich werde das am Leben erhalten, schwor er sich. Ich muß es vorsichtig nähren und beschützen, damit die Gefahren der Selbstsucht und Gleichgültigkeit nicht an es herankommen können. »O Bruce, ich liebe dich so sehr. Heute morgen, als – als ich dachte, daß ich dich verloren hatte, als der Tankwagen in den Fluß kippte –« Sie schluckte schwer, und ihre Augen waren tränengefüllt. »Das war so, als ob das Licht ausgegangen wäre. Es war so finster, so finster und so kalt ohne dich.« In Gedanken vertieft hatte sie ganz vergessen, auf die Straße zu achten. Germaine ließ den Ford einfach fahren und kam mit 285
zwei Rädern in den Graben. »He, paß auf«, warnte Bruce. »So sehr ich dich auch liebe, muß ich aber leider zugeben, daß du eine miserable Fahrerin bist. Laß mich mal wieder ran.« »Glaubst du, du schaffst es wieder?« »Ja. Rück nur zur Seite.« Langsam, der Geschwindigkeit der Lastwagen entsprechend, fuhren sie durch den Nachmittag. Zweimal kamen sie an verlassenen Dörfern der Balubas am Straßenrand vorbei. Die Grashütten waren eingefallen und das ehemals bestellte Land bereits dicht überwuchert. »Mein Gott, bin ich hungrig. Ich habe Kopfschmerzen vor Hunger, und mein Bauch fühlt sich an, als wäre er voll von warmem Wasser«, beschwerte sich Bruce. »Glaube nur nicht, daß du der einzige bist. Das ist die strikteste Diät, die ich je durchgemacht habe. Ich muß mindestens zwei Kilo verloren haben. Aber ich verlier sie immer an den falschen Stellen. Nie am Hintern.« »Gut«, sagte Bruce. »Ich mag ihn genau so, wie er ist. Verlier du mir da kein Gramm.« Dann sah er über die Schultern zu den beiden Gendarmen hin. »Seid ihr hungrig?« fragte er auf französisch. »Mein Gott«, rief der dickere von beiden aus. »Ich werde heute nacht nicht schlafen können, wenn ich mich mit leerem Magen hinlegen muß.« »Vielleicht wird das nicht nötig sein.« Bruce ließ seine Augen von der Straße über den sie umgebenden Busch wandern. Der Charakter der Landschaft hatte sich während der letzten hundert Meilen verändert. »Es sieht so aus, als ob es hier Wild geben müßte. Ich habe eine Menge Spuren auf der Straße gesehen. Haltet die Augen offen.« Die Bäume waren hoch und standen jetzt weit auseinander, verbunden durch Gras und Moos. Ihre Zweige waren nicht ineinander verschlungen, so daß man den Himmel sehen 286
konnte. Ab und zu gab es offene Lichtungen, in denen Sumpfgras, Elfenbeinpalmen und Bambus zu sehen war. »Wir haben ungefähr noch eine halbe Stunde Tageslicht. Vielleicht finden wir vorher noch etwas.« Durch den Rückspiegel sah er die fahrende Kolonne von Wagen einen Augenblick an. Ihr Benzinvorrat müßte jetzt fast schon verbraucht sein. Kaum genug, um noch eine halbe Stunde weiterzufahren. Aber auf jeden Fall war es besser als vorher. Sie befanden sich jetzt im offenen Land und nur etwa achtzig Meilen von Msapa entfernt. Er sah auf die Benzinuhr. Der Tank war noch halb voll. Der Ford hatte noch genug Benzin, um durchzukommen, selbst wenn die Lastwagen fast leer waren. Klar, das war die Antwort: Ein gutes Lager finden, den Konvoi dort lassen und mit dem Ford losfahren, um Hilfe zu finden. Ohne die Lastwagen, die ihn hinderten, schnell zu fahren, konnte er Msapa in zwei Stunden erreichen. Dort gab es immerhin eine Funkstation, selbst wenn der Knotenpunkt verlassen war. »Wir werden auf der anderen Seite des Flusses anhalten«, sagte Bruce. Er fuhr langsamer, schaltete in den zweiten Gang herunter und fuhr dann das steile Ufer hinab. Der Fluß war flach. Das Wasser reichte kaum bis an die Radkappen, als sie über das steinige Geröll fuhren. Bruce schoß mit dem Ford an der anderen Seite wieder in den Wald hinein. »Da«, schrie einer der beiden Gendarmen vom Rücksitz, und Bruce folgte der Richtung seines Arms. Mit hochgezogenen Schultern und beinahe traurig gedrehten Hörnern, die Köpfe tief zwischen den Vorderfüßen verborgen, mit großen schwarzen Körpern, standen da zwei alte Büffel. Bruce bremste scharf, und der Wagen stoppte. Im gleichen Augenblick griff er nach seiner Maschinenpistole. Er zog an dem Griff, drückte die Tür mit seiner Schulter auf und sprang heraus. 287
Schnaufend, ihre unförmigen Köpfe schüttelnd, begannen die Büffel zu laufen. Bruce nahm den ersten aufs Korn. Er zielte auf den Nacken vor der herunterhängenden schwarzen Schulter, beugte sich vor, und um den Rückschlag beim Abschuß aufzufangen, und hörte, wie die Kugel in das Fleisch einschlug. Der Bulle lief langsamer, seine kurzen Vorderbeine knickten ein, und er fiel nach vorne auf seine Schnauze. Dann rollte er im Zusammenbrechen zur Seite und stieß mit seinen Hufen Staubwolken empor. Ohne den Gewehrkolben von der Schulter zu nehmen, schwenkte Bruce jetzt zu dem zweiten Bullen. Wieder feuerte er, und wieder traf die Kugel. Der Büffel stolperte, die Beine gaben nach, dann fing er sich wieder und lief wie ein groteskes Schaukelpferd weiter, wobei abgeschabte graue Stellen an seinen Flanken und seinem großen Bauch sichtbar wurden, als er weiterlief. Bruce veränderte sein Ziel und feuerte zweimal schnell hintereinander, wobei er nach unten auf das Herz zielte. Er traf beidemal. Der Bulle war so nah, daß er die Wunden im dunklen Fell sehen konnte. Der Galopp wurde zum Trab. Den Kopf noch immer nach unten hängend, mit offenem Maul, begannen jetzt die Beine einzuknicken. Sorgfältig auf den Kopf zielend, feuerte Bruce noch einmal. Der Bulle brüllte – einen traurigen, einsamen Schrei – dann brach er im Gras zusammen. Die Lastwagen hatten in einer Linie hinter dem Ford angehalten, und jetzt strömten von allen Seiten die schwarzen Männer. Sie unterhielten sich fröhlich, rannten um die Wette an Bruce vorbei zu der Stelle, an der die Büffel im Gras neben der Straße zusammengebrochen waren. »Das waren gute Schüsse, Boß«, applaudierte Ruffy. »Ich werde mir ein paar Sachen aus den Eingeweiden herausschneiden und mir eine Schlafdecke daraus machen.« 288
»Zuerst wollen wir lagern.« Bruces Ohren dröhnten noch von den Schüssen nach. »Laßt die Lastwagen sich im Kreis aufstellen.« »Ich kümmere mich darum.« Bruce ging auf den nächsten Büffel zu und beobachtete eine Weile, wie zwölf Männer sich bemühten, ihn auf den Rücken zu rollen und damit begannen, ihn zu schlachten. Zwischen den Hautfalten an Beinen und Körper hingen Trauben blauer Zecken. »Ein guter Kopf«, nahm er mechanisch wahr. »Mindestens einen Meter.« »Das gibt eine Menge Fleisch, Captain. Heute nacht essen wir prima«, grinste einer seiner Gendarmen, der sich über den riesigen Körper beugte und die riesige Haut abzuziehen begann. »Prima«, stimmte Bruce zu und wandte sich wieder dem Ford zu. In dem Augenblick des Abschusses war es ein gutes Gefühl, der Rückschlag des Gewehrs, während sich der Magen vor Aufregung zusammenzog. Aber später fühlte man sich ein bißchen schäbig. Traurig und schuldig, so wie man sich fühlt, wenn man neben einer Frau aufwacht, mit der man geschlafen hat, und die man nicht liebt. Er kletterte wieder in den Wagen. Germaine saß in der entferntesten Ecke. »Sie waren so groß und häßlich – und schön«, sagte sie weich. »Wir brauchten das Fleisch. Ich habe sie nicht zum Spaß erlegt.« Aber dann dachte er mit Beschämung, daß er viele andere nur zum Spaß abgeschossen hatte. »Ja«, stimmte sie zu, »wir brauchten das Fleisch.« Er fuhr den Wagen von der Straße herunter und gab den Lastwagenfahrern ein Zeichen, ihm zu folgen.
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25 Später war wieder alles in Ordnung. Der starke Fleischgeruch von etwa einem Dutzend Feuerstellen zog durch das Lager. Die dunklen Baumwipfel zeichneten sich als scharfe Silhouetten gegen einen sternenübersäten Himmel ab. Das freundliche Glühen der Feuer, das Gelächter der Männer, ein paar Leute singend, die Nachtgeräusche des Buschs – Insekten und Frösche im nahegelegenen Fluß, und ein Teller, vollgepackt mit gebratenen Filets, Leberstücken, eine Flasche Bier aus Ruffys Vorrat und die Luft endlich etwas kühler; ein kleiner Wind, der die Moskitos vertrieb, und Germaine neben ihm auf der Decke. Ruffy kam zu ihnen herüber. In einer Hand einen Stock, der mit aufgespießten Fleischstücken überladen war, aus denen noch das Fett tropfte, die andere um den Hals einer Bierflasche gelegt. »Wie wär’s mit noch einem Bier, Boß?« »Genug.« Bruce hob die Hand hoch. »Ich bin voll bis unter den Kragen.« »Also eins ist mal sicher, Sie werden alt. Ich und die Boys, wir werden die Büffel schon noch aufkriegen oder dabei zerplatzen.« Er hockte sich auf seine Fersen, und sein Ton wechselte. »Die Wagen sind leer, Boß. Ich schätze, daß in allen zusammen nicht mal mehr ein Eimer voll Benzin ist.« »Du mußt alle Tanks leermachen und das restliche Benzin in den Ford schütten.« Ruffy nickte und biß dabei einen riesigen Happen Fleisch von einem Stück an seinem Stock ab. »Morgen in aller Frühe fahren wir beide mit dem Ford nach Msapa und lassen alle anderen hier. Leutnant Hendry übernimmt das Kommando.« »Sprichst du über mich?« Wally kam von einem der Feuer auf sie zu. »Ja. Du übernimmst das Kommando hier, während Ruffy und ich nach Msapa fahren, um Hilfe zu holen.« Bruce sah Hendry 290
nicht an, und es fiel ihm schwer, seiner Stimme keinen krächlichen Klang zu geben. »Ruffy, hol doch bitte die Karte.« Sie breiteten sie am Boden aus und drängten sich herum. Ruffy hielt die Taschenlampe. »Ich schätze, wir sind ungefähr hier.« Bruce berührte den kleinen schwarzen Strich der Straße. »Etwa siebzig bis achtzig Meilen von Msapa entfernt.« Er fuhr mit dem Finger darauf entlang. »Wir werden etwa fünf Stunden hin und zurück brauchen. Wenn allerdings die Funkstation nicht in Ordnung ist, müssen wir weiterfahren, bis wir eine Patrouille finden oder irgendeine andere Möglichkeit, eine Nachricht nach Elisabethville zu bekommen.« Fast parallel zur Straße, und nur fünf Zentimeter auf der Generalstabskarte entfernt, lief eine dicke rote Linie, die die nordrhodesische Grenze anzeigte. Wally Hendrys Schlitzaugen wurden noch kleiner, als er sie betrachtete. »Warum läßt du Ruffy nicht hier, und ich fahre mit dir?« Hendry sah Bruce nicht an. »Ich will, daß Ruffy bei mir ist, damit er dolmetschen kann, falls wir irgendwelche Afrikaner auf dem Wege treffen.« Außerdem, dachte Bruce, will ich nicht irgendwo auf der Straße mit einer Kugel im Nacken zusammenbrechen, während du weiter nach Elisabethville fährst. »Das paßt mir«, grunzte Hendry. Und wieder sah er auf die Karte. Etwa vierzig Meilen bis zur Grenze. Ein harter Tagesmarsch. Bruce wechselte ins Französische hinüber und sprach schnell. »Ruffy, verstecke die Steine hinter dem Armaturenbrett in deinem Wagen. Auf die Art sind wir wenigstens sicher, daß sie eine Rettungsmannschaft schicken. Selbst wenn wir bis nach Elisabethville fahren müssen.« »Sprich englisch, mein Junge«, grollte Hendry. Aber Ruffy nickte und antwortete auch auf französisch: »Ich werde Feldwebel Jacque als Wache dabeilassen.« 291
»Nein!« sagte Bruce. »Sag es niemand.« »Hör auf damit«, grollte Hendry. »Ich will jetzt jedes Wort hören, was ihr sagt.« »Wir fahren in aller Frühe«, sagte Bruce wieder auf englisch. »Darf ich mitkommen?« Germaine sprach zum erstenmal. »Warum eigentlich nicht?« lächelte Bruce sie an. Aber Ruffy hüstelte nervös. »Ich schätze, das ist keine so gute Idee, Boß.« »Warum?« wandte sich Bruce ihm zu, und Wut begann in ihm aufzusteigen. »Wissen Sie, Boß«, Ruffy zögerte und fuhr dann fort: »Wenn Sie, ich und die Lady alle in Richtung Elisabethville losfahren, dann sieht das vielleicht für die Jungs nicht so gut aus. Die kriegen vielleicht falsche Vorstellungen und glauben, daß wir nicht zurückkommen oder so was.« Bruce schwieg und dachte nach. »Das stimmt«, fiel Hendry ein. »Vielleicht kommst du auf den Gedanken, einfach abzuhauen. Laß sie hier als eine Art Garantie für die, die hierbleiben.« »Es macht mir nichts aus, Bruce. Daran habe ich nicht gedacht. Ich werde hierbleiben.« »Da sind vierzig prima Jungs, die sich um sie kümmern. Das geht bestimmt in Ordnung«, versicherte Ruffy Bruce. »Also gut, dann ist das erledigt. Es ist ja nicht für lange, Germaine.« »Ich werde mich jetzt um das restliche Benzin aus den Lastwagen kümmern«, sagte Ruffy und stand auf. »Bis morgen früh, Boß.« »Ich hole mir noch ein bißchen mehr Fleisch«, sagte Wally und nahm dabei wie gedankenlos die Karte an sich. »Versuch dich heute nacht etwas auszuschlafen, Curry. Nicht zuviel Herumgefummle.« In seiner Erbitterung bemerkte Bruce nicht, daß Hendry die Karte an sich genommen hatte. 292
26 In den frühen Morgenstunden, ehe es dämmerte, hatte es zu regnen begonnen. Bruce lag hinten in dem Ford und hörte, wie es auf das Blechdach trommelte. Es war ein einschläferndes Geräusch und ein gutes Gefühl, warm dem Regen lauschen zu dürfen und die Frau, die man liebte, in den Armen zu halten. Er fühlte, wie sie neben ihm erwachte, wie ihr Atem unregelmäßiger wurde und spürte die ersten langsamen Bewegungen ihres Körpers. Es gab Büffelsteaks zum Frühstück, aber keinen Kaffee. Sie aßen schnell, und dann rief Bruce zu Ruffy herüber: »Okay, Ruffy?« »Hauen wir ab, Boß.« Sie stiegen in den Ford, und Ruffy füllte den größten Teil des Sitzes neben Bruce aus. Sein Helm saß wie angeklebt auf seinem Hinterkopf, seine Maschinenpistole ragte durch die Öffnung, wo die Windschutzscheibe hätte sein sollen, und seine beiden großen Füße standen sicher oben auf einem Kasten Bier am Fußende. Bruce drehte den Schlüssel, und die Maschine startete. Er wärmte sie und wandte sich an Hendry, der sich gegen das Dach des Fords lehnte und durch das Fenster hineinsah. »Wir werden heute nachmittag zurück sein. Sorge dafür, daß sich keiner vom Lager entfernt.« »Okay.« Hendry atmete seinen Morgenatem direkt in Bruces Gesicht. »Beschäftige sie, sonst bekommen sie Langeweile oder fangen Prügeleien an.« Ehe er antwortete, ließ Hendry seine Augen suchend über das Innere des Fords gleiten und trat dann zurück. »Okay«, sagte er wieder, »haut ab.« Bruce sah hinter ihn zu Germaine, die auf der Stufe eines Lastwagens saß, und lächelte sie an. »Bon voyage!« rief sie, und Bruce kuppelte ein. Sie fuhren 293
auf die Straße, begleitet von den fröhlichen Grüßen der Gendarmen, die um die Kochfeuer geschart standen. Bruce fuhr beruhigt davon. Im Rückspiegel sah er das Lager bei der nächsten Kurve entschwinden. Große Pfützen von Regenwasser waren auf der Straße, aber über ihnen war die Wolkendecke aufgebrochen und verteilte sich am Himmel. »Wie wär’s mit einem Bier, Boß?« »Statt Kaffee?« fragte Bruce. »Es gibt nichts Besseres für den Darm«, grunzte Ruffy und griff nach unten, um die Kiste zu öffnen. Wally Hendry nahm seinen Helm ab und kratzte sich den Kopf. Sein kurzes rotes Haar fühlte sich steif und hart an durch den getrockneten Schweiß, und oberhalb seines rechten Ohres befand sich eine Stelle, die juckte. Er befühlte sie vorsichtig. Der Ford war hinter einer Kurve der Straße verschwunden. Die Bäume hatten ihn verschluckt, ganz plötzlich, und mit ihm das Motorengeräusch. Okay, also mitgenommen haben sie die Steine nicht. Ich habe mich ganz genau davon überzeugt. Ich dachte mir, daß sie sie hierlassen werden. Sicherlich weiß das Mädchen, wo sie sich befinden. Vielleicht – nein, die würde höchstens wie ein abgestochenes Ferkel schreien, wenn ich sie fragen würde. Hendry sah von der Seite auf Germaine. Sie war noch immer damit beschäftigt, dem Ford nachzublicken. Dummes Aas! Bricht jetzt völlig zusammen, nachdem ihr Curry einmal gezeigt hat, wie’s geht. Komisch, warum diese gebildeten Kerle immer kleine Titten an ihren Weibern vorziehen – allerdings ein ganz schönes Stück Arsch. Der würde mir sogar Spaß machen. Bei Gott, das wäre was für den feinen hochgestochenen verdammten Mister Curry. Wenn ich es seiner Kleinen mal besorgen würde. Allerdings keine Chance. Diese verdammten Nigger hier glauben, er ist ein Gott oder so was. Die würden mich glatt in Stücke reißen, wenn ich sie nur 294
anfassen würde. Also vergessen wir das. Jetzt die Diamanten und dann ab zur Grenze. Hendry setzte seinen Helm wieder auf und ging gemächlich zu dem Wagen, den Ruffy am Tag zuvor gefahren hatte. Ich habe eine Karte, Kompaß, ein paar extra Magazine mit Munition, das einzige, was wir jetzt noch brauchen, sind die Steinchen. Er kletterte am Wagen hoch und öffnete die Fahrerkabine. Ich bin bereit, ein Pfund gegen eine Prise Mist zu wetten, daß sie irgendwo in diesem Wagen versteckt sind. Sie machen sich keine Sorgen – sie glauben, sie haben mich hier fest. Denen kam nie die Idee, daß der alte Onkel Wally aufwachen und abhauen könnte. Die dachten, daß ich hier ganz ruhig sitzenbleiben würde, bis sie zurückkämen, um mich zu holen. Um mich dann festzunehmen und einem Haufen von Niggerpolizei zu übergeben, die nur darauf warten, einen Weißen zwischen die Finger zu bekommen. Nun, ich habe Neuigkeiten für Sie, mein so vornehmer Mister Curry! Er durchsuchte den Handschuhkasten und schloß ihn wieder. Okay. Hier sind sie nicht. Versuchen wir es unter den Sitzen. Die Grenze ist nicht bewacht, das bedeutet, daß ich drei bis vier Tage brauchen werde, um nach Ford Roseberry durchzukommen. Aber wenn mir das gelingt, dann werde ich meine Tasche voll Diamanten haben, und von dort gibt es eine direkte Luftverbindung nach N-Dola und den Rest der Welt. Und dann werde ich zu leben anfangen! Unter den Sitzen war nichts außer einem verschmierten Wagenheber und einem Schraubenschlüssel. Hendry wandte seine Aufmerksamkeit den Fußplanken zu. Ein Jammer, daß ich diesen Strolch Curry zurücklassen muß. Mit ihm hatte ich besondere Pläne. Das ist einer, der mir wirklich auf die Nerven geht. So verdammt selbstsicher. Einer von denen, die dich denken lassen, daß du Scheiße bist. Spricht 295
fein, ist hübsch, hat weiche Hände. Verdammt, wie ich den hasse. Wütend riß er die Gummimatten vom Boden, Staub wirbelte auf, er hustete. Weil er auf der Universität war, denkt er, daß er was Besseres ist. Der Strolch. Ich hätte ihn schon längst fertigmachen sollen. In der Nacht an der Brücke damals habe ich ihn beinahe umgelegt. Niemand hätte es gemerkt. Es wäre nur ein Versehen gewesen. Ich hätte es damals tun sollen. Ich hätte es in Port Reprieve tun sollen, als er über die Straße zu den Büros lief. Der große verdammte Held. Der große Liebhaber. Der hatte immer alles, was er wollte. Bestimmt hat ihm sein Vater immer alles Geld gegeben, was er brauchte. Und dann sieht er dich auch so an, als ob du aus stinkendem Fleisch gekrochen bist. Hendry richtete sich auf und ergriff das Steuerrad. Seine Zähne knirschten unter der Kraft seines Hasses. Er starrte durch die Windschutzscheibe. Germaine Cartier lief am Kühler des Lastwagens vorbei. Sie hatte ein Handtuch und einen rosafarbigen Waschbeutel in der Hand. Die Pistole schlug gegen ihr Bein, während sie ging. Feldwebel Jacque stand vom Feuer auf, ging auf sie zu, um sie anzuhalten. Sie argumentierten miteinander, dann berührte Germaine die Pistole an ihrer Seite und lachte. Jacques schwarzes Gesicht sah besorgt aus, und er schüttelte zweifelnd den Kopf. Wieder lachte Germaine, wandte sich von ihm ab und ging die Straße zum Fluß hinunter. Ihr Haar war lose im Nacken mit einem Band zusammengebunden und hing über ihrem Rücken auf das rosafarbene Hemd, das sie trug. Der schwere Gürtel mit der Pistole unterstrich ihren unbewußt provozierenden Gang. Sie war jetzt außer Sichtweite und ging den steilen Pfad zum Strom hinunter. Wally Hendry grinste und leckte sich dabei mit seiner spitzen Zunge die Lippen. »Das macht das Ganze perfekt«, flüsterte er. »Sie hätten es 296
nicht besser machen können, wenn sie es eine ganze Woche geplant hätten.« Eifrig wandte er sich wieder der Suche nach den Steinen zu. Er beugte sich nach vorn, steckte seine Hand hinter das Armaturenbrett des Wagens und berührte plötzlich den Haufen von kleinen Säcken, die an den vielen kleinen Kabeln festgemacht waren. »Kommt schön her zu Onkel Wally.« Er riß sie los und legte sie in seinen Schoß. Dann begann er den Inhalt zu untersuchen. Der dritte Beutel, den er öffnete, enthielt die Schmucksteine. »Wunderbare, wunderbare Sache«, flüsterte er, als der dunkle Schimmer und der Glanz aus dem Beutel ihm entgegenleuchtete. Dann schloß er den Beutel, steckte ihn in die Brusttasche seiner Jacke und knöpfte sie zu. Die Beutel mit den Industriediamanten warf er auf den Boden und stieß sie unter den Sitz. Dann nahm er sein Gewehr auf und ging wieder aus dem Wagen. Drei oder vier Gendarmen sahen neugierig zu ihm auf, als er an den Feuern vorbeiging. Hendry rieb sich den Magen und schnitt eine Grimasse. »Gestern abend zu viel gegessen.« Der Gendarm, der englisch verstand, lachte und übersetzte es ins Französische. Dann lachten sie alle, und einer von ihnen rief etwas in einer Sprache, die Hendry nicht verstand. Sie beobachteten ihn, wie er zwischen den Bäumen fortging. Sobald er sich außer Sicht befand, begann Hendry zu rennen, schlug einen Haken und ging in Richtung auf den Fluß weiter. »Es wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein«, lachte er laut.
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27 Etwa fünfzig Meter unterhalb der Stelle, an der die Straße den Strom überquerte, hatte Germaine eine seichte Bucht gefunden. Sie war von Schilf umgeben, etwas weißem Flußsand und schwarzen Steinen, die rund und poliert und weich waren. Das Wasser hatte fast Körpertemperatur und war so klar, daß man ein paar kleine Fische an den grünen Algen, die die Steine unterhalb der Oberfläche umgaben, knabbern sehen konnte. Sie stand barfuß im Sand und sah sich vorsichtig um. Aber das Schilf verdeckte sie, und sie hatte Jacque gebeten, dafür zu sorgen, daß keiner seiner Leute zum Fluß herunterkam, solange sie da war. Sie zog sich aus und warf ihre Kleider über einen der schwarzen Steine und watete mit einem Stück Seife in der Hand in die Mitte der Bucht, tauchte unter, bis das Wasser sie bis zum Nacken umgab und der Sand angenehm rauh an ihren Hüften rieb. Zuerst wusch sie ihr Haar, dann lag sie ausgestreckt da, und das Wasser umspülte sie sanft, weich wie Seide. Die kleinen Fische wurden frech, sprangen auf sie zu und versuchten, an ihr zu knabbern. Das juckte, so daß sie schnaufte und sie durch Handbewegungen verscheuchte. Ganz zum Schluß tauchte sie ihren Kopf unter Wasser, und während das Wasser aus ihrem Haar in ihre Augen lief, stolperte sie zurück zum Ufer. Als sie anhielt und noch immer mit zugekniffenen Augen nach ihrem Handtuch tastete, schloß sich Wally Hendrys Hand über ihren Mund, und sein anderer Arm drückte sie von hinten an sich. »Einen Laut von dir, und ich breche dir dein verdammtes Genick«, sagte er heiser in ihr Ohr. Sie konnte den Geruch seines Atems warm und sauer in ihrem Gesicht verspüren. »Stell dir nur vor, ich bin der liebe Bruce – dann werden wir 298
beide uns schon amüsieren.« Dabei schüttelte er sich vor Lachen. Schnell strich er über ihre Hüfte, und seine Hand bewegte sich nach unten. Von Entsetzen geschüttelt, wehrte sie sich wie wild, aber Hendry hielt sie ganz mühelos fest und lachte weiter. Sie öffnete plötzlich ihren Mund, und einer seiner Finger kam zwischen ihre Zähne. Mit aller Kraft biß sie hinein und fühlte, wie die Haut platzte und Blut in ihren Mund tropfte. »Du Miststück!« Hendry riß seine Hand weg, und sie öffnete ihren Mund, um zu schreien. Aber seine Hand kam zurück, schlug geballt in ihr Gesicht ein und schleuderte ihren Kopf zur Seite. Der Schrei kam niemals bis zu ihren Lippen, denn er schlug wieder auf sie ein, und sie fühlte, wie sie zusammenbrach. Fast bewußtlos von seinen Schlägen lag sie im Sand und konnte nicht begreifen, was passierte, bis sie sein Gewicht auf sich verspürte und sich sein Knie brutal zwischen ihre Beine drängte. Da begann sie wieder zu kämpfen, versuchte sich seinem Mund und dem Geruch seines Atems zu entwinden. »Nein, nein, nein«, wiederholte sie immer wieder. Ihre Augen waren so fest geschlossen, damit sie nicht das Gesicht über sich sehen mußte, und ihr Kopf rollte im Sand von einer Seite auf die andere. Er war so stark, so außerordentlich kräftig. »Nein«, sagte sie, und dann: »Aua!« bei dem Schmerz, dem schrecklichen Schmerz, den sie in sich verspürte und seine drückende Schwere auf ihr. Und durch das Drücken, Grunzen und den Alptraum konnte sie ihn riechen und fühlen, wie der Schweiß von ihm tropfte und an ihrem Gesicht herunterlief. Es dauerte endlos. Dann plötzlich war der Druck fort, und sie öffnete die Augen. Er stand über ihr und fummelte an seiner Kleidung herum. Sein Ausdruck war völlig leer. Er wischte sich den Mund mit 299
dem Handrücken ab, und sie sah, wie seine Finger zitterten. Als er sprach, war seine Stimme müde und uninteressiert. »Ich mach’ mich besser aus dem Staub.« Schnell drehte sich Germaine um und griff nach der Pistole, die oben auf ihren Kleidern lag. Hendry ging einen Schritt auf sie zu und trat mit seinem ganzen Gewicht auf ihr Handgelenk. Sie fühlte, wie sich die Knochen unter seinem Fuß bogen, und stöhnte. Aber trotz des Schmerzes flüsterte sie: »Du Schwein, du dreckiges Schwein.« Und wieder schlug er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, so daß sie auf den Rücken zurückfiel. Er nahm die Pistole auf, öffnete sie und ließ die Patronen in den Sand fallen. Dann löste er die Tasche von der Verbindungsschnur und warf die Pistole weit in das Schilf hinaus. »Sag Curry, daß ich ihm gerne meinen Teil an dir überlasse«, sagte er und ging schnell durch das Schilf davon. Der weiße Sand bedeckte ihren feuchten Körper wie kristallisierter Zucker. Sie setzte sich langsam auf und hielt sich das Handgelenk. Die eine Seite ihres Gesichts war entzündet und begann da, wo er sie geschlagen hatte, zu schwellen. Sie begann zu weinen, schüttelte sich, und Tränen kamen hinter ihren Lidern hervor und benetzten die langen dunklen Wimpern.
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28 Ruffy hielt die braune Flasche hoch und inspizierte sie voller Reue. »Es scheint immer nur gerade ein Mund voll zu sein, und schon ist sie leer.« Er warf die Flasche zum Fenster hinaus. Sie flog gegen einen Baum und zerbarst mit einem klirrenden Geräusch. »Wir können unseren Weg immer noch dadurch zurückfinden, daß wir den leeren Flaschen nachfahren«, lächelte Bruce und bewunderte wieder einmal das unerhörte Volumen des Mannes. Aber da war noch viel Raum vorhanden. Er beobachtete, wie Ruffys Bauch sich verbreiterte, als er zum Bierkasten hinunter griff. »Wie kommen wir denn voran, Boß?« Bruce sah auf den Kilometerzähler. »Wir sind bis jetzt siebenundachtzig Meilen gefahren.« Ruffy nickte. »Das ist nicht schlecht. Wir werden ziemlich bald da sein.« Sie schwiegen. Der Wind blies durch die nicht vorhandene Windschutzscheibe, und das Gras, das zwischen der Fahrspur wuchs, schlug gegen das Chassis des Wagens. »Boß –«, sagte Ruffy endlich. »Ja?« »Leutnant Hendry – die Diamanten. Glauben Sie, daß es eine gute Idee war, sie dazulassen?« »Der sitzt dort in der Mitte des Busches fest. Selbst wenn er sie finden würde, würden sie ihm kaum guttun.« »Ich nehme an, daß Sie recht haben.« Ruffy setzte die Bierflasche an seine Lippen, und als er sie wieder absetzte, fuhr er fort: »Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß das ein Bursche ist, bei dem man nie weiß, woran man ist.« Er tippte sich mit einem Finger, der dick und schwarz wie eine Blutwurst war, gegen die Stirn. »Irgend etwas stimmt da nicht – er ist einer der 301
verrücktesten Araber, den ich je getroffen habe. Und ich habe wirklich eine Menge von ihnen getroffen.« Bruce stimmte grimmig zu. »Sie müssen in Zukunft äußerst vorsichtig sein, Boß«, bemerkte Ruffy. »Er hat es auf Sie abgesehen, und es kann jeden Augenblick losgehen. Ich habe das kommen sehen. Er bringt sich jetzt langsam in die richtige Stimmung. Er ist ein wirklich irrer Araber.« »Ich werde auf ihn aufpassen«, sagte Bruce. »Ja, tun Sie das.« Und wieder waren sie ruhig in dem ständigen Wehen des Windes und dem Dröhnen des Motors. »Da ist die Eisenbahn.« Ruffy zeigte auf das blaue Kiesband, das den Damm durch die Bäume sehen ließ. »Fast da«, sagte Bruce. Sie kamen zu einer anderen offenen Lichtung, und dahinter sahen sie den Wassertank von Msapa über den Wald ragen. »Da sind wir«, sagte Ruffy und trank die Flasche in seiner Hand aus. »Jetzt fang einmal an zu beten, daß die Telegrafenanlage in Ordnung ist, und daß in Elisabethville ein Mann am anderen Ende sitzt.« Bruce verringerte die Geschwindigkeit des Fords und fuhr an der Reihe der Lehmhütten vorbei, die genauso dastanden, wie er sie in Erinnerung hatte. Verlassen und verloren. Seine Lippen waren fest aufeinandergepreßt, als er auf die zwei kleinen Erdhügel neben dem Kasiabaum sah. Auch Ruffy sah hinüber, beide schwiegen. Bruce hielt den Ford vor dem Stationsgebäude an, und sie kletterten steif heraus und gingen gemeinsam auf die Veranda. Die hölzernen Dielen gaben ein dumpfes Echo von sich, als ihre Schritte sich der Tür des Büros näherten. Bruce stieß die Tür auf und sah hinein. Die Wände waren in einem schrecklichen Einheitsgrün bemalt, Papier lag auf dem 302
Boden herum, die Schubladen des einzigen Schreibtisches standen offen, und eine dünne graue Staubschicht bedeckte alles. »Da ist sie«, sagte Ruffy und zeigte auf die kupferne, von Holz umrahmte Einrichtung der Telegrafenanlage, die auf einem Tisch an der Wand stand. »Sieht aus, als ob sie in Ordnung wäre«, sagte Bruce. »Ich hoffe nur, daß die Leitungen nicht durchschnitten worden sind.« Als ob er ihn vom Gegenteil überzeugen wollte, begann der Telegraf wie wild zu klappern. »Gott sei Dank«, stieß Bruce hervor. Sie gingen zu dem Tisch hinüber. »Wissen Sie, wie man so ein Ding bedient?« fragte Ruffy. »Ein bißchen«, antwortete Bruce und lehnte seine Maschinenpistole gegen die Wand. Er war erleichtert, als er eine Tafel mit den Morsezeichen an der dem Apparat gegenüberliegenden Wand angeklebt sah. Es war schon sehr lange her, seit er das Morsealphabet als Pfadfinder auswendig gelernt hatte. Er legte seine Hand auf den Übermittlungsknopf und betrachtete die Tabelle. Das Rufzeichen für Elisabethville war »EE«. Unbeholfen gab er das Zeichen durch und wartete. Fast unmittelbar danach gab das Gerät Zeichen an ihn zurück, viel zu schnell, als daß er hätte verstehen können, und der Papierstreifen, der sonst die Zeichen aufschrieb, war längst zu Ende. Bruce nahm seinen Helm ab und buchstabierte mühsam: »Bitte langsamer senden.« Es war eine mühsame Angelegenheit mit ständigen Bitten um Wiederholung. »Nicht verstanden« war fast nach jedem zweiten Wort notwendig; aber endlich hatte Bruce dem dortigen Telegrafenbeamten klargemacht, daß er eine dringende Nachricht für Colonel Franklyn vom Stab Präsident Tschombés habe. »Warten«, war die einzige lakonische Antwort. 303
Und sie warteten. Sie warteten eine Stunde und dann zwei. »Die verdammten Strolche haben uns vergessen«, schimpfte Ruffy und ging zum Ford, die Bierkiste zu holen. Bruce saß nervös in dem ungepolsterten Stuhl neben dem Telegrafen. Er ließ erregt alle früheren Argumente vor sich Revue passieren, die dafür gesprochen hatten, Wally Hendry als Kommandeur im Lager zurückzulassen. Er entschied, daß die Diamanten sicher sein müßten. Er konnte nicht viel anrichten. Es sei denn, es sei denn, Germaine? Nein, das war nicht möglich. Nicht mit vierzig ergebenen Gendarmen, die sie beschützten. Er begann über Germaine und die Zukunft nachzudenken. Auf einem Bankkonto der Schweizer Bank in Zürich lag ein Jahresgehalt für seine Tätigkeit als Captain der Söldner. Er rechnete das Geld von Franken in Pfunde um, etwa zweieinhalbtausend. Genug Kapital für die nächsten zwei Jahre. So, daß sie zuerst einmal einen Urlaub machen konnten, ehe er wieder zu arbeiten anfing. Sie könnten sich ein kleines Chalet in den Bergen mieten, dort müßte es jetzt noch gute Skigelegenheit geben. Bruce grinste. Schnee, der wie Zucker knirschte, und ein dreißig Zentimeter starkes Daunenbett für die Nacht. Das Leben hatte auf einmal wieder einen Sinn und eine Richtung bekommen. »Worüber lachen Sie denn, Boß?« fragte Ruffy. »Ich habe gerade an ein Bett gedacht.« »Ja? Das ist eine gute Sache, mit der man sich schon beschäftigen kann. Dort beginnt man, denn dort wird man geboren, man verbringt den größten Teil seines Lebens dort, man hat dort auch sonst recht viel Freude, und wenn man Glück hat, stirbt man dort auch. Wie wär’s denn mit einem Bier?« Der Telegraf begann Lebenszeichen von sich zu geben. Bruce stützte sich auf beide Ellenbogen und wandte sich ihm schnell zu. 304
»Curry – Franklyn«, klapperte er. Bruce konnte sich den drahtigen, rotgesichtigen kleinen Mann am anderen Ende vorstellen. Ein Exmajor der dritten Brigade der Fremdenlegion, einer der Köpfe der O.A.S., auf dessen Kopf noch immer ein guter Preis ausgesetzt war, wegen einem versuchten Mordanschlag auf de Gaulle. »Franklyn – Curry«, klapperte Bruce zurück. »Zug unbrauchbar, Motortransport ohne Benzin gestrandet, Straße nach Port Reprieve, ungefähre Position –« hier las er die Zahlen, die er sich von der Karte notiert hatte, ab. Eine lange Pause, dann: »Ist das Eigentum der U.M.C. in Ihren Händen?« Das war eine delikate Fragestellung. »Bestätigt«, versicherte ihm Bruce. »Erwarten Sie Luftabwurf baldigst bei Ihrer Position. Ende.« »Nachricht verstanden. Ende.« Bruce streckte sich am Telegraf und seufzte erleichtert auf. »Das wär’s, Ruffy. Sie werden uns morgen von einer der Dakotas Benzin abwerfen. Wahrscheinlich morgen früh.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Zwanzig vor eins. Machen wir, daß wir zurückkommen.« Bruce sang leise vor sich hin. Seine Augen waren auf die ausgefahrene Spur vor ihm gerichtet, und er fuhr den Ford leichthändig. Er war zufrieden. Es war alles vorbei. Morgen würde eine Dakota Benzin mit gelben Fallschirmen abwerfen. (Er mußte noch heute abend eine Abwurfstelle kennzeichnen.) Und zehn Stunden später würden sie in Elisabethville sein. Ein paar Worte mit Carl Engelbrecht würde für ihn und Germaine Plätze auf einer über die Grenze fliegenden Dakota sichern. Und dann die Schweiz und das Chalet mit den Eiszapfen von der Regenrinne. Eine lange Pause, während er sich entschied, wo er wieder anfangen würde. Louisiana hatte römisch-holländisches Recht, oder hatte es den Code Napoleon? Vielleicht würde er 305
sogar sein Examen noch einmal machen müssen. Aber diese Aussicht gefiel ihm eher, als daß sie ihn entmutigte. Er freute sich darauf. »Ich habe Sie noch nie so fröhlich gesehen«, grunzte Ruffy. »Ich hatte auch noch nie soviel Grund«, stimmte Bruce zu. »Sie ist eine prima Frau. Noch jung. Sie können sie noch etwas lehren.« Bruce fühlte, wie Ärger in ihm aufsteigen wollte, dachte aber sofort, wie dumm das von ihm war und lachte. »Werden Sie sie anwerben, Boß?« »Vielleicht.« Ruffy nickte weise. »Ein Mann sollte viele Frauen haben – ich habe bis jetzt drei. Ich brauche noch ein paar mehr.« »Also ich könnte nur eine einzige gebrauchen.« »Eine ist schwierig. Zwei ist schon leichter. Bei dreien kann man anfangen, sich auszuruhen. Und wenn man vier hat, dann haben die alle so viel miteinander zu tun, daß sie einem keinen Ärger machen und man seine Freude haben kann.« »Vielleicht versuch ich’s mal.« »Ja, tun Sie das mal.« Und jetzt sahen sie durch die Bäume den Kreis mit den Wagen stehen. »Wieder zu Hause«, grunzte Ruffy, und dann wurde er in seinem Sitz unruhig. »Da ist irgend etwas los.« Die Leute standen in kleinen Gruppen. Irgend etwas war in ihrer Haltung. Spannung und Unruhe. Zwei Männer rannten zur Straße, ihnen entgegen. Bruce konnte sehen, wie sie sprachen, aber nichts verstehen. Grauen, schwer und kalt, stieß bis in Bruces Magengrube vor. Unzusammenhängend, klappernd, versuchte Feldwebel Jacques ihm etwas zu erklären, während er neben dem Ford herlief. »Der Tenente Hendry – der Fluß – Madame – weg.« Franzö306
sische Worte, wie Treibholzstücke in einem Schwarm von Dialekt. »Ihr Mädchen«, übersetzte Ruffy. »Hendry hat sie umgelegt.« »Tot?« Die Frage fiel Bruce aus dem Mund. »Nein. Er hat sie verletzt. Er hat – Na Sie wissen schon.« »Wo ist sie?« »Sie haben sie hinten in einen Wagen gelegt.« Bruce kletterte mühsam aus dem Wagen. Jetzt war alles ruhig. Sie standen beieinander und sahen ihn nicht an. Die Gesichter ausdruckslos und wartend. Bruce ging langsam zum Lastwagen. Er fühlte sich kalt und betäubt. Seine Beine bewegten sich automatisch unter ihm. Er zog die Plane zur Seite und schwang sich hinauf. Es war anstrengend, vorwärts zu gehen, und seine Augen mußten sich erst an das Dunkel gewöhnen. In eine Decke gewickelt, lag sie klein und still da. »Germaine.« Es blieb ihm in der Kehle stecken. »Germaine«, sagte er nochmals und kniete neben ihr. Eine große Schwellung verstümmelte die eine Seite ihres Gesichts. Sie wandte ihren Kopf ihm nicht zu, sondern lag da und starrte gegen die Decke. Er berührte ihr Gesicht, die Haut war kalt. Genauso kalt wie das Gefühl in seinem Magen. Die Kälte gab ihm einen solchen Schock, daß er seine Hand zurückriß. »Germaine.« Diesmal war es ein Weinen. Die Augen, ihre großen, verängstigten Augen wandten sich, nichts sehend, ihm zu, und er fühlte, wie er in diesem Augenblick glücklich war, daß sie noch am Leben war. »O Gott«, schrie er und zog sie zu sich. Er hielt das zerbrechliche Wesen, das ihm keinen Widerstand entgegensetzte, an sich gedrückt. Und jetzt konnte er das langsame und regelmäßige Schlagen ihres Herzens unter seiner Hand verspüren. Er zog die Decke zurück und kein Blut war zu sehen. »Mein Liebling, bist du verletzt? Sag mir, bist du verletzt?« 307
Sie gab keine Antwort. Sie lag ruhig in seinen Armen, ohne ihn zu sehen. »Schock«, flüsterte er. »Es ist nur ein Schock.« Und er öffnete ihre Kleider. Zärtlich untersuchte er den schmalen bleichen Körper. Die Haut war feuchtkalt und naß, aber es waren keine Verletzungen zu sehen. Er deckte sie wieder zu und legte sie vorsichtig zurück auf den Boden. Dann stand er auf und alles in ihm war wie ausgewechselt. Noch immer kalt, aber mit einer brennenden Kälte, so wie Trockeneis. Ruffy und Jacque warteten am Wagen auf ihn. »Wo ist er?« fragte Bruce leise. »Er ist abgehauen.« »Wohin?« »In der Richtung.« Jacque zeigte nach Süd-Osten. »Ich bin seiner Spur ein kurzes Stück gefolgt.« Bruce ging zum Ford, nahm seine Maschinenpistole vom Boden auf. Dann öffnete er den Handschuhkasten und entnahm ihm zwei Reservemagazine. Ruffy folgte ihm. »Er hat die Diamanten, Boß.« »Ja«, sagte Bruce und kontrollierte das Magazin in seiner Waffe. Die Diamanten waren ohne jede Bedeutung. »Gehen Sie ihm nach, Boß?« Bruce gab keine Antwort. Statt dessen sah er zum Himmel. Die Sonne stand etwa einviertel am Horizont und dicke Wolken umgaben sie. »Ruffy, bleib bei ihr«, sagte er leise. »Sieh zu, daß sie warm ist.« Ruffy nickte. »Wer ist der beste Fährtenfinder, den wir haben?« »Jacque. Ehe der Krieg ausbrach, war er als Fährtenfinder für Safaris beschäftigt.« Bruce wandte sich an Jacque. Die eisige Kälte in ihm hatte 308
jetzt auch die äußeren Regionen seines Körpers und seiner Nerven erreicht. »Wann ist das passiert?« »Etwa eine Stunde, nachdem Sie fort waren«, antwortete Jacque. Das bedeutete acht Stunden. Ein langer Vorsprung. »Nimm die Spur auf«, sagte Bruce leise.
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29 Die Erde war weich vom Regen der Nacht und die Spur tief eingetreten. Die Hacken hatten unter Hendrys Gewicht klare Spuren hinterlassen, so daß sie schnell folgen konnten. Während Bruce Feldwebel Jacque bei der Arbeit beobachtete, fühlte er, wie seine Besorgnis verflog. Denn obgleich die Fußspuren zu diesem frühen Zeitpunkt so leicht zu verfolgen waren, daß dies an sich noch kein Beweis für seine Fähigkeit bedeutete, so ließ doch die Art, wie er sich halb kriechend und völlig in die Sache vertieft und nur ab und zu einen Blick nach vorne auf den weiteren Verlauf der Fährte werfend, vorwärts bewegte, wie er sich ab und zu bückte, um ein paar Krumen Erde aufzunehmen und dabei ihre Zusammensetzung studierte, Bruce Beweis genug, daß dieser Mann genau wußte, was er tat. Durch den offenen Wald mit seinem Grasteppich führte sie Hendrys Spur in genau süd-östlicher Richtung auf die rhodesische Grenze zu. Nach den ersten zwei Stunden war sich Bruce darüber im klaren, daß sie bis jetzt keinen Zeitvorsprung hatten wettmachen können, Hendry war ihnen noch immer um acht Stunden voraus, und bei dem Tempo, das er angeschlagen hatte, bedeutete das etwa einen Vorsprung von dreißig Meilen. Bruce sah über seine Schulter auf die Sonne, die jetzt zwischen zwei riesigen Gewitterwolken zu verschwinden drohte. Dort oben vom Himmel kamen die beiden Elemente, die ihn besiegen konnten. Die Zeit. Vielleicht gab es noch zwei Stunden Tageslicht, und bei Einbruch der Nacht müßten sie anhalten. Der Regen. Die Wolken waren angeschwollen, dunkelblau und abgerundet. Während Bruce sie beobachtete, wurden sie durch Blitze von innen erleuchtet, und nachdem er bis zehn gezählt hatte, konnte er den Donner hören. Wenn es vor Morgengrauen wieder regnen würde, gäbe es keine Spur mehr, der man folgen könnte. 310
»Wir müssen schneller vorankommen«, sagte Bruce. Feldwebel Jacque richtete sich auf und betrachtete Bruce, als ob er ein Fremder sei. Er hatte ihn völlig vergessen. »Die Erde verhärtet sich.« Jacque zeigte auf die Spur, und Bruce sah, daß während der letzten halben Stunde der Boden sandig und fest geworden war. Hendrys Hacken brachen nicht mehr die Kruste. »Es ist unklug, bei einer solch unsicheren Spur zu rennen.« Wieder sah Bruce auf die bedrohlich näherkommenden Wolken hin. »Wir müssen es riskieren«, entschied er. »Wie Sie wünschen«, murmelte Jacque, nahm seine Maschinenpistole auf die andere Schulter, schnallte den Gürtel fester und preßte sich den Stahlhelm noch mehr auf den Kopf. »Allez!« Sie trabten durch den Wald nach Süd-Osten. Nach ungefähr einer Meile hatte sich Bruces Körper so an den automatischen Rhythmus des Laufens gewöhnt, daß er dabei klar denken konnte. Er dachte an Wally Hendry und sah wieder die kleinen Augen und die aufgedunsene lasche Haut um sie herum, den Mund, dünn und gnadenlos, die obszönen rosa Bartstoppeln. Er konnte ihn fast riechen. Seine Nasenflügel bebten bei der Erinnerung an den ranzigen Körpergeruch des Rothaarigen. Unsauber, dachte er. Ein unsauberer Geist und ein unsauberer Körper. Sein Haß auf Wally Hendry war etwas Greifbares. Er konnte ihn genauso schwer und tief in seinem Hals spüren wie in seinen Fingerspitzen, er fühlte, wie er seinen Beinen Stärke gab. Und doch war da noch etwas anderes. Plötzlich mußte Bruce grinsen. Er bleckte dabei die Zähne wie ein Wolf. Das Jucken in seinen Fingerspitzen war nicht nur Haß, es war auch eine Art freudiger Erregung. 311
Was für ein vieldeutiges Ding ist doch der Mensch, dachte er. Er kann sich nie nur einem Gefühl hingeben. Immer sind andere da, die es durcheinander bringen. Hier bin ich. Ich jage das, was ich am meisten verachte und hasse und habe doch auch noch Freude daran. Ohne jede Beimischung von Haß ist das erregende Gefühl, das gefährlichste und cleverste Wild zu jagen, den Menschen. Ich habe schon immer die Jagd geliebt, dachte er. Ich bin damit geboren worden. Denn in meinem Blut ist das der Männer, die um Afrika als Preis gejagt und gekämpft haben. Die Jagd auf diesen Mann wird mir Vergnügen bereiten. Wenn es je ein Mann verdient hat zu sterben, dann ist es Wally Hendry. Ich bin der Kläger, der Richter und der Henker. Feldwebel Jacque hielt so plötzlich an, daß Bruce auf ihn auflief und sie beide fast hinfielen. »Was ist los?« keuchte Bruce, wieder ganz in der Wirklichkeit. »Sehen Sie her!« Vor ihnen war die Erde zerborsten und zerbrochen. »Zebras«, stöhnte Bruce, als er die runden klauenlosen Hufeindrücke sah. »Verdammt noch mal. So viel höllisches Pech.« »Eine große Herde«, stimmte Jacque zu. »Weit ausgebreitet. Grasend.« So weit sie auch sehen konnten, hatte die Herde Hendrys Spuren im Wald völlig vernichtet. »Wir müssen weiter vorwärts.« Bruces Stimme war zerquält von Ungeduld. Er wandte sich dem nächsten Baum zu und schnitt eine Kerbe mit dem Bajonett in die Rinde, um ein Zeichen zu machen, wo die Spur geendet hatte. Er fluchte leise und machte sich so über seine Enttäuschung Luft. »Nur noch eine Stunde bis Sonnenuntergang«, flüsterte er. »O bitte, laß uns ihn wiederfinden, ehe es dunkel wird.« Feldwebel Jacque bewegte sich bereits wieder vorwärts, wobei er die Richtung einschlug, die Hendry ungefähr eingeschlagen 312
haben mußte. Verzweifelt suchte er nach einem einzigen Fußabdruck unter den Tausenden von Hufeindrücken. Bruce beeilte sich, ihm zu folgen und ging dann auf seine Flanke. So gingen sie langsam im Zickzack nach vorne, wobei sie sich jeweils etwa alle hundert Meter wieder trafen. Da war es! Bruce kniete sich hin, um ganz sicher zu sein. Es waren nur die Umrisse einer Schuhkappe, die unter der Spur eines alten Zebrabockes sichtbar waren. Bruce pfiff. Ein zischendes Geräusch kam von seinen trockenen Lippen, und Jacque kam schnell herbei. Ein kurzer Blick, und dann: »Ja. Er hält sich jetzt mehr nach rechts.« Er hob die Augen und blickte, während er sie zusammenkniff, zu einem Baum hin, der in direkter Linie mit der Spur verlief. Sie gingen vorwärts. »Da ist die Herde.« Bruce zeigte auf einen hin- und herflakkernden grauen Haufen, der durch die Bäume sichtbar war. »Sie haben uns gerochen.« Ein Zebra stieß einen Laut aus, und dann kam ein lärmendes, dumpfes, verschwommenes Geräusch von trommelnden Hufen, als die Herde fortlief. Durch die Bäume konnte Bruce bruchstückhaft die Tiere erkennen, die ihm am nächsten waren. Sie waren aber zu weit entfernt, als daß man die Streifen hätte unterscheiden können und machten so den Eindruck galoppierender fetter grauer Ponys, mit hochstehenden Ohren und schwarzen nickenden Mähnen. Dann waren sie verschwunden, und das Geräusch ihrer Flucht wurde leiser und leiser. »Wenigstens sind sie nicht weiter in der Spur gelaufen«, schimpfte Bruce, und sagte dann bitter: »Verdammt noch mal, diese stupiden kleinen Esel! Die haben uns mindestens eine Stunde gekostet. Eine ganze kostbare Stunde.« Wild suchend, verzweifelt und hastig, bewegten sie sich vorund rückwärts. Die Sonne stand schon hinter den Bäumen, und die Luft wurde in der kurzen afrikanischen Dämmerung bereits kühl. Noch fünfzehn Minuten, und dann würde es dunkel sein. 313
Da endete der Wald ganz plötzlich, und sie kamen an den Rand einer Lichtung. Offen wie eine Kornlandschaft, umrandet von grünem hüfthohem Gras und eingerahmt vom Wald, dehnte sie sich etwa zwei Meilen vor ihnen aus. Als einzelne Punkte ragten dazwischen Elfenbeinpappeln empor, deren schlanke Stämme in einem unordentlichen Klumpen von Blättern endeten. Am Rande der Lichtung waren Gruppen von Perlhühnern sichtbar, die gurrten und kratzten, und am entfernten Ende formte eine Herde von Büffeln eine dunkle Masse, die die Samenkronen des Grases abgrasten. Im Wald hinter der Lichtung, vielleicht hundert Meter darüber hinausragend, erhob sich ein kleiner Hügel aus zerfallenem Granit. Die großen Felsbrocken mit ihren glatten Seiten und breiten Oberflächen sahen wie die Ruine eines alten Schlosses aus. Die niedergehende Sonne schien jetzt darauf und gab dem Felsen eine orangenfarbene Wärme. Aber Bruce hatte keine Zeit, die Schönheiten der Szenerie zu bewundern, seine Augen waren auf den Boden gerichtet, wo sie nach Eindrücken von Hendrys Dschungelstiefeln suchten. Zu seiner Linken pfiff Feldwebel Jacque plötzlich scharf, und Bruce fühlte, wie Erregung in seiner Brust hochkam. Er lief zu dem kauernden Gendarmen hinüber. »Hier weicht sie ab.« Jacque zeigte auf die Spur, die vor ihnen, aufgereihten Perlen an einer Schnur gleich, die Lichtung umging, wobei jeder Eindruck einen Schatten warf, der sich klar aus der sandigen grauen Erde wahrnehmen ließ. »Zu spät«, stöhnte Bruce. »Zum Teufel mit diesen verdammten Zebras.« Das Licht schwand so schnell, daß man an einen Bühneneffekt glauben konnte. »Folge ihr.« Bruces Stimme war scharf durch seine hilflose Verzweiflung. »Folge ihr, solange du kannst.« Es war nicht mehr als eine viertel Meile weiter, als Jacque sich wieder aufrichtete, und nur das Weiße seiner Zähne war in der Dunkelheit zu sehen, als er sprach. 314
»Wenn wir weitergehen, verlieren wir sie wieder.« »Also gut.« Bruce nahm seine Maschinenpistole mit dunkler Resignation ab. Er wußte, daß Wally Hendry sich mindestens vierzig Meilen vor ihnen befand, vielleicht sogar mehr, falls er in der Dunkelheit weiterging. Die Spur war kalt. Hätte es sich hier um eine normale Jagd gehandelt, dann hätte er sie schon längst abgebrochen. Er sah zum Himmel. Im Norden waren die Sterne fett und gelb. Aber über ihnen und nach Süden hin war es schwarz und wolkig. »Laß es nur nicht regnen«, flüsterte er. »Lieber Gott, laß es nicht regnen.« Die Nacht war lang. Bruce schlief einmal vielleicht zwei Stunden lang, aber dann weckte ihn sein Haß wieder auf. Er lag flach auf dem Rücken und starrte zum Himmel. Es war völlig finster und wolkig. Nur ab und zu verzog sich die Wolkenschicht und ließ für kurze Augenblicke die Sterne hindurch. »Es darf nicht regnen. Es darf nicht regnen.« Er wiederholte es wie ein Gebet und starrte dabei gegen den dunklen Himmel. Er konzentrierte sich so sehr darauf, als ob er durch die Kraft seiner Gedanken den Gang der Elemente bestimmen konnte. Im Wald jagten Löwen. Er hörte, wie das Männchen brüllte, während es vom Süden her die Jagd begann, und wie die beiden Löwinnen ihm einmal antworteten. Sie töteten kurz vor Tagesanbruch, und Bruce lag auf der harten Erde und lauschte ihrem Jubel über den Erfolg. Dann wurde es ruhig, als sie zu fressen begannen. Wenn ich doch nur diesmal auch Erfolg haben könnte, dachte er. Ich habe nicht oft um eine Gnade gebeten, Herr, aber diesmal, bitte, sei mir gnädig. Ich bitte darum nicht nur für mich selbst, auch für Germaine und die anderen. In Gedanken sah er wieder die beiden Kinder dort liegen, wo Hendry sie erschossen hatte. Das mit der Schokolade vermischte Blut klebte an der Wange des Jungen. 315
Er hat es verdient zu sterben, betete Bruce, darum laß es bitte nicht regnen. So lang die Nacht auch gedauert hatte, so schnell begann es zu tagen. Ein grauer Morgen. Finster, mit niedrigen Wolken. »Wird es gehen?« fragte Bruce schon zum zwanzigstenmal, und diesmal sah Jacque von dem Platz, wo er neben der Spur kniete, auf. »Wir können es jetzt versuchen.« Sie gingen weiter. Jacque an der Spitze, tiefgebeugt, um die Erde zu betrachten und Bruce kurz hinter ihm. Wild vor Ungeduld und Eifer, hob er alle paar Schritte den Kopf, um den schmutziggrauen Wolkenhimmel zu betrachten. Das Licht wurde jetzt stärker, und ihr Gesichtskreis wuchs von zwei auf sechs Meter an. Dann auf hundert, so daß sie jetzt die Baumkronen der Elfenbeinpalmen sehen konnten, die gegen die grauen Wolken zu drücken schienen. Jacque verfiel in einen Trab, vor ihnen lag das Ende der Lichtung, dahinter begann der Wald. Zweihundert Meter weiter erhob sich massiv der Hügel. In dem frühen Morgenlicht sah er noch deutlicher als vorher wie ein Schloß aus. Mit Türmen und Wällen. Das Ganze hatte etwas Mächtiges an sich. Es schien sich über ihnen zu erheben, und Bruce sah unsicher davon weg. Kalt, mit genug Gewicht, um zu stechen, klatschte der erste Regentropfen gegen Bruces Wangen. O nein, protestierte er und hielt ein. Jacque richtete sich auf von der Spur und sah ebenfalls nach oben. »Das ist das Ende. In fünf Minuten werden wir nichts mehr haben, dem wir folgen können.« Ein weiterer Tropfen schlug in Bruces erhobenes Gesicht. Er bemühte sich, die Tränen der Wut und Verzweiflung, die sich in seinen Augenrändern einnisteten, abzuschütteln. Jetzt ging es schneller. Es klapperte auf seinen Helm, fiel auf seine Schultern und Gesicht. Der Regen kam. »Schnell«, schrie Bruce. »Folg ihr, solange du kannst.« 316
Jacque öffnete den Mund, um zu sprechen. Aber noch ehe ein Wort aus ihm kam, wurde er nach hinten gerissen, als ob er von einer unsichtbaren Faust niedergestreckt worden war. Sein Helm flog ihm vom Kopf, er stürzte mit seinem Gewehr zu Boden. Im gleichen Augenblick fühlte Bruce, wie die Kugel an ihm vorbeipfiff und die Luft zerriß, so daß ihr Flugwind ihm das Hemd gegen die Brust drückte und der Lärm bösartig in seinen Ohren knallte. Benommen starrte er auf die Leiche von Feldwebel Jacque. Sie lag mit weitausgestreckten Armen, das Kinn und die eine Seite des Kopfes unterhalb des Ohres waren fortgerissen. Weiße Knochen und Blut strömten heraus. Der Körper zuckte krampfhaft, und die Hände flatterten wie kleine gefangene Vögel. Dann hörte er durch den Regen das Feuern der Maschinenpistole. Der Hügel, schrie es durch Bruces Hirn. Er liegt auf dem Hügel! Und Bruce bewegte sich. Schlug Haken und begann zu rennen.
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30 Wally Hendry lag auf dem Bauch auf der flachen Anhöhe des Turms. Sein Körper war steif und verfroren von der Kälte der Nacht und der Härte des Felsens unter ihm, aber diese Unbequemlichkeiten drangen kaum bis zu seinem Gedächtnis. Er hatte sich eine niedrige Brustwehr aus losen Granitblöcken gebaut und deren Front mit dicken buschigen Zweigen verkleidet. Seine Maschinenpistole lag vor ihm auf der Brustwehr, bei seinem Ellenbogen lagen die zusätzlichen Magazine. In dieser Lage hatte er nun schon sehr lange verharrt. Seit dem frühen Nachmittag des letzten Tages. Jetzt war es Morgen und die Dunkelheit wich. Bald konnte er die ganze Lichtung überblicken. Ich hätte schon längst über den Fluß sein können, dachte er. Hätte schon fünfzig Meilen weiter sein können. Er versuchte nicht, näher zu untersuchen, was ihn fast zwanzig Stunden lang hier beinahe unbeweglich festgehalten hatte. Mann, ich wußte doch, daß der alte Curry kommen würde. Ich wußte auch, daß er nur einen einzigen Nigger als Fährtensucher mitbringen würde. Diese gebildeten Kerle haben ihre eigenen Regeln – sowas bringt man von Mann zu Mann aus der Welt. Er lachte in sich hinein, als er sich an die zwei winzigen Figuren erinnerte, die er im untergehenden Licht des vergangenen Abends hatte erkennen können. Der Strolch hat die Nacht unten in der Lichtung verbracht. Ich sah ihn, als er sich ein Streichholz ansteckte, um eine Zigarette zu rauchen. Na, hoffentlich hat sie ihm geschmeckt, seine letzte. Wally starrte angestrengt in den langsam erwachenden Tag. Jetzt werden sie sich auf den Weg machen und über die Lichtung kommen. Ich muß sie erwischen, ehe sie die Bäume erreichen. 318
Unter ihm zeigte sich die Lichtung jetzt wie ein blasses eitriges Geschwür, das an dem dunklen Walde klebte. Der Strolch! Ohne jeden Wechsel kehrte Hendrys Haß zu ihm zurück. Diesmal hat er keine Gelegenheit, feine Reden zu schwingen. Diesmal wird ihm keine Zeit mehr bleiben, hochnäsig zu mir zu sein. Das Licht war jetzt heller geworden, er konnte die Wipfel der Elfenbeinpalmen gegenüber dem bleichen braunen Gras der Lichtung ausmachen. »Ha!« rief Hendry aus. Da waren sie. Wie zwei kleine Ameisen. Dunkle Flecken, die in der Mitte über die Lichtung kamen. Die Spitze von Hendrys Zunge kam zwischen seinen Lippen hervor, er legte sich hinter seinem Gewehr in Positur. Mann, habe ich darauf gewartet. Sechs Monate lang habe ich an nichts anderes gedacht. Und wenn es vorbei ist, dann geh’ ich herunter und hol’ mir seine Ohren. Er entsicherte seine Waffe, ein kurzes, klickendes Geräusch, das ihn befriedigte. Der Nigger ist vorne. Und das ist Curry hinter ihm. Ich muß warten, bis sie sich umdrehen. Ich will nicht, daß es den Nigger zuerst erwischt. Erst Curry und dann den Nigger. Er betrachtete sie jetzt über Kimme und Korn, und atmete etwas schneller. Die Erregung war so stark, daß er schlucken mußte und ein Gefühl dabei hatte, wie von trockenem Brot in der Kehle. Ein Regentropfen fiel in seinen Nacken. Das machte ihn nervös. Er sah schnell zum Himmel und sah, was kam. »Verdammt noch mal«, stöhnte er und sah auf die Lichtung zurück. Curry und der Nigger standen zusammen. Ein einziger schwarzer Klumpen in dem Halblicht. Es gab keine Chance, die beiden zu trennen. Der Regen fiel jetzt schneller. Plötzlich überwältigte Hendry das uralte kindliche Gefühl seiner Minderwertigkeit, das Wissen, daß alles, sogar die Elemente, sich gegen ihn verbanden. Das Wissen, daß er niemals gewinnen 319
konnte. Nicht einmal dieses eine Mal. Sie alle, Gott und der Rest der Welt. Sie, die ihm einen Trinker zum Vater gegeben hatten. Eine miese Hütte als Heim und eine Mutter mit Halskrebs. Diejenigen, die ihn in eine Erziehungsanstalt geschickt hatten, die ihn aus zwei Dutzend Jobs herausgeworfen hatten, die ihn herumgestoßen und ausgelacht hatten, die ihn zweimal ins Gefängnis warfen. – Sie, sie alle würden wieder gewinnen durch Bruce Curry, der für sie alle stand. Nicht einmal dieses eine Mal sollte es sein. Nicht einmal da. »Zum Teufel damit«, fluchte er ohne Hoffnung in wortloser Wut gegen alle sie. »Zum Teufel und schert euch alle in die Hölle.« Und dann zielte er auf den dunklen Haufen und feuerte.
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31 Während er lief, sah Bruce über die hundert Meter freien Terrains, die noch bis zum Beginn des Waldes zu überwinden waren. Er fühlte die Luftbewegung, als die nächste Kugel an ihm vorüber flog. Wenn er Schnellfeuer benutzt, trifft er mich sogar auf dreihundert Meter. Bruce schlug bei seinem Rennen Haken wie ein wildes Kaninchen. Das Blut brannte in seinen Ohren, Furcht trieb seine Füße an. Dann auf einmal schien alle Luft um ihn herum zu zerplatzen. Es war so ein Lärm, daß er taumelte. Das widerliche Wipp, Wipp, Wipp der Kugeln füllte seinen Kopf an. Das kann ich nie schaffen. Noch siebzig Meter bis zum Schutz der Bäume. Siebzig Meter freien Terrains und über ihm die alles überblickende Masse des Hügels. Der nächste Stoß muß mich treffen – jetzt muß er ungefähr kommen! Und er warf sich so wild auf eine Seite, daß er beinahe fiel. Wieder wurde die Luft ganz in seiner Nähe zerrissen. Das kann ich nicht durchstehen! Er muß mich erwischen! Auf seinem Weg war ein Ameisenhaufen. Ein niedriger Berg aus Lehm. Ein Pickel in der flachen Erde. Bruce sprang danach und schlug so hart zu Boden, daß die Luft aus seinen Lungen durch den offenen Mund knallte. Der nächste Feuerstoß riß Lehmklumpen vom Ameisenhügel hoch, die auf Bruces Rücken niederfielen. Er lag da, sein Gesicht in die Erde vergraben und pumpte schmerzhaft Luft in seine leeren Lungen, wobei er seinen Körper so flach wie möglich hinter der winzigen Lehmhöhe ausstreckte. 321
Wird es mich decken? Ist er hoch genug? In diesem Augenblick schlugen die nächsten Kugeln in den Ameisenhügel und warfen dabei kleine Fontänen von Erde in die Luft. Aber sie ließen Bruce unberührt. »Hier bin ich sicher.« Diese Feststellung kam so heftig, daß sie alle Angst vertrieb. Aber ich bin hilflos, antwortete sein Haß. Ich muß so lange flach auf der Erde liegenbleiben, wie Hendry mich hier festzuhalten wünscht. Der Regen fiel auf seinen Rücken. Er durchtränkte seine Jacke und tropfte über seinen Nacken und an seinen Wangen herunter. Er rollte seinen Kopf zur Seite, wobei er nicht wagte, ihn auch nur einen Zentimeter zu heben, und der Regen schlug auf die eine Seite des Gesichts. Der Regen! Jetzt fiel er schneller. Jetzt wurde er dichter. Er hing jetzt aus den Wolken wie ein Frauenrock. Ganze Vorhänge aus Regen. Sie ließen den Waldrand grau erscheinen und keine festen Formen im Dunst dieses flüssigen Perlmutters erkennen. Noch immer schwer atmend, langsam, aber ohne weitere Schmerzen hob Bruce seinen Kopf. Der Hügel hatte jetzt eine undeutlich blaugrüne Form über ihm eingenommen. Dann war er ganz verschwunden. Verschlungen von den Wasserwirbeln des Regens. Bruce richtete sich auf den Knien auf, und der Schmerz in seinem Brustkorb machte ihn schwankend. Jetzt! dachte er. Jetzt, ehe der Regen schwächer wird. Er richtete sich mühsam auf. Einen Augenblick lang stand er, die Hände auf die Brust gedrückt, und atmete langsam durch den Dunst der mit Wasser gesättigten Luft ein. Dann stolperte er auf den Rand des Waldes zu. Seine Füße waren wieder fest unter ihm, sein Atem leichter; 322
er war zwischen den Bäumen. Sie umgaben ihn schützend. Er lehnte sich gegen die rauhe Rinde einer der Bäume und wischte sich mit dem Handrücken den Regen aus dem Gesicht. Seine Kraft kehrte wieder zu ihm zurück und damit sein Haß und seine Erregung. Er nahm seine Maschinenpistole von der Schulter und stand mit weitgespreizten Beinen, vom Baum losgelöst. »Jetzt, mein Freund«, flüsterte er, »kämpfen wir auf gleicher Ebene.« Er steckte ein Magazin in die Kammer seiner Waffe und ging auf den Hügel zu. Vorsichtig schritt er vorwärts, das Gewicht der Waffe in seinen Händen. Plötzlich verbesserte sich seine Sicht und seine Gedanken waren wieder scharf und klar. Furchtlosigkeit, und das Gefühl seiner Stärke, das alles wurde in ihm zu einem Gesang; einer Kampfeshymne. Undeutlich konnte er jetzt den Hügel durch die regenschweren tropfenden Bäume erkennen, während er ihn von rechts umkreiste. Ich habe viel Zeit, dachte er. Ich kann es mir leisten, mir das ganze Terrain gründlichst anzusehen. Dabei umkreiste er den Steinhaufen vollends. Der Hügel, so fand er, hatte ungefähr die Form eines sinkenden Schiffes. An dem einen Ende konnte man die hohen Doppeltürme des Hecks sehen, von wo aus sich das ganze Deck weiter nach vorne senkte, als ob sich der Bug bereits unter Wasser befände. Auf diesem Gefälle lagen überall Felsblöcke umher, die zum Teil von Zwerggebüsch bedeckt waren und dazwischen eine Menge von schulterhohen Zweigen und Blättern. Bruce hockte sich mit dem Gewehr im Schoß hin und sah die Rampe entlang bis zu den Zwillingstürmen auf dem Hügel. Der Regen war jetzt viel schwächer geworden. Hendry war auf der Spitze. Bruce wußte, daß er zum höchsten Punkt gehen würde. Es ist eigenartig, daß Höhe einen Mann so oft glauben läßt, er sei unverwundbar, ein Gott. Da er auf sie geschossen hatte, mußte er sich in dem Turm 323
befinden, der der Lichtung am nächsten war. Es war der etwas höhere von beiden. Seine Spitze wurde durch einen Haufen dichten Gebüschs gekrönt. So, jetzt weiß ich genau, wo er ist und werde erst mal eine halbe Stunde warten. Vielleicht wird er unruhig und bewegt sich. Wenn er das tut, werde ich von hier aus schon einen Schuß anbringen können. Bruce kniff die Augen zusammen und schätzte die Entfernung. »Etwa zweihundert Meter.« Er adjustierte sein Ziel an der Waffe und kontrollierte noch einmal, daß sie geladen war. Dann fühlte er in seiner Seitentasche nach, um sich zu vergewissern, daß die beiden Reservemagazine bereit lagen und setzte sich ruhig zurück, um zu warten. »Curry, du Hundesohn, wo bist du?« Hendrys Schrei flatterte durch den tröpfelnden Regen. Bruce lag angespannt. Ich hatte recht – er ist ganz oben in dem linken Turm. »Komm schon, mein Junge, ich habe hier seit gestern nachmittag auf dich gewartet.« Bruce erhob seine Waffe und sah abschätzend auf den dunklen Fleck an dem Felsen. Es würde schwierig sein, im Regen zu schießen, die Waffe war durch die Nässe schlüpfrig, der feine Regen hing an seinen Augenbrauen, Kimme und Korn wurden durch die kleinen feuchten Perlen unklar. »Na, Curry? Wie geht’s denn deiner kleinen französischen Hure? Mann, ich muß schon sagen, das ist ein geiles Stück. Findest du nicht?« Bruces Hände umspannten die Waffe. »Hat sie dir gesagt, wie ich sie fertig gemacht habe? Hat sie dir gesagt, wieviel Spaß es ihr gemacht hat? Du hättest sie mal stöhnen hören sollen. Wie eine Dampfmaschine. Ich sage dir, Curry, die konnte einfach nicht genug kriegen!« Bruce fühlte, wie er zu zittern begann. Er biß die Zähne zu324
sammen, bis diese ihm wehtaten. Ruhig, Bruce, mein Junge, ruhig. Zu dem, was du beinahe eben getan hättest, will er dich genau bringen. Von den Bäumen tröpfelte es, und ein Windstoß bog die Büsche am Fuße des Hügels. Bruce wartete und strengte seine Augen an, um die erste Bewegung an dem linken Turm wahrzunehmen. »Hast du Schiß oder so was, Curry? Hast du Angst, hier rauf zu kommen? Stimmt’s?« Bruce veränderte seine Stellung ein wenig, bereit, jederzeit einen Schnappschuß anzubringen. »Okay, mein Junge. Ich kann warten. Ich habe den ganzen Tag über Zeit. Ich sitze einfach hier und denke darüber nach, wie ich deine kleine Französin fertig gemacht habe. Ich kann dir nur sagen, das war wirklich eine dolle Sache. Auf und ab, rein und raus, Mensch, das war schon was!« Bruce kam vorsichtig hoch und stand hinter dem Baumstamm, während er nochmals den Hügel studierte. Wenn ich das Gefälle hinaufgehe und mich dabei weit zur Seite halte, bis ich den rechten Turm erreicht habe, gibt es von dort eine Felskante, die mich ganz nach oben bringt. Von dort aus bin ich nur noch sieben oder zehn Meter von ihm entfernt. Auf die Entfernung ist alles in ein paar Sekunden vorüber. Er holte tief Atem und verließ den Schutz des Baumes. Wally Hendry bemerkte die Bewegung im Wald unter ihm. Es war nur ein kurzer brauner Schatten, der schnell vorbei war, zu schnell, um darauf zu schießen. Er wischte den Regen aus dem Gesicht und rutschte etwas näher zur Kante. »Also los, Curry. Hören wir mit dem Theater auf«, schrie er und legte seine Waffe tief in die Schulter. Seine Zungenspitze schoß aus seinem Mund heraus und hinein, dabei stets die Lippen berührend. Am Fuße des Abhangs sah er, wie sich ein Zweig leicht be325
wegte, in einem Moment, wo kein Wind herrschte. Er grinste und legte sich flach mit den Hüften auf den Felsen. Hier kommt er, dachte er schadenfroh. Er schleicht sich unter dem Busch an. »Ich weiß, daß du da unten sitzt, okay, Curry. Ich kann auch warten.« Etwa auf dem halben Weg des Gefälles bewegten sich die Blätter eines anderen Busches, öffneten sich und schlossen sich wieder. »Ja!« flüsterte Wally. »Ja!« Er entsicherte seine Waffe. Seine Zunge kam aus dem Mund heraus und bewegte sich langsam von einer Ecke zur anderen. Jetzt habe ich ihn und diesmal sicher! Da. Er muß über das Stück offenen Grund. Es sind nur ein paar Meter. Aber das ist genug. Er bewegte sich wieder, drehte sich ein paar Zentimeter zur Seite, wobei er sein Ziel genau zwischen die zwei großen grauen Felsblöcke richtete, dann stellte er die Waffe auf Schnellfeuer ein, und sein Zeigefinger ruhte leicht auf dem Abzug. »Mensch, Curry, jetzt wird’s mir langsam langweilig. Wenn du schon nicht rauf kommst, dann sing mir doch ein Ständchen oder erzähl mir ein paar Witze!« Bruce Curry lag hinter einem großen grauen Felsblock. Vor ihm lagen etwa drei Meter offenen Geländes, dann der Schutz eines weiteren Felsen. Er war fast die ganze Anhöhe herauf, und Hendry hatte ihn noch nicht entdeckt. Auf der anderen Seite des freien Geländes gab es gute Deckungsmöglichkeiten bis zum Fuße des rechten Turms. Er würde etwa zwei Sekunden brauchen, um die freie Stelle zu überqueren. Seine Chance war, daß Hendry den Wall am Fußende des Hügels beobachtete. Er kauerte sich zusammen wie ein Sprinter in den Startlöchern. 326
»Los!« flüsterte er sich zu und sprang ins Freie – und in einen ganzen Wall von Kugeln hinein. Eine davon traf seine Waffe und schlug sie ihm mit solcher Kraft aus der Hand, daß sein Arm bis zur Schulter gelähmt war. Eine andere traf ihn an der Brust, und dann war er durch. Er lag jetzt hinter dem anderen Felsen, atmete schwer unter dem Schock und hörte, wie Hendrys Stimme triumphierend schrie: »Jetzt bist du stupider Idiot mir ganz schön auf den Leim gegangen. Ich habe dich die ganze Zeit von unten beobachtet.« Bruce hielt seinen linken Arm gegen den Magen gepreßt, langsam wich die Taubheit aus ihm, aber damit kam auch der Schmerz. Das oberste Glied seines Daumens hatte sich am Abzughebel verklemmt und war abgerissen worden. Und jetzt schoß das Blut dick und langsam heraus, dunkles Blut, die Farbe von Apfelgelee. Mit seiner rechten Hand griff er nach seinem Taschentuch. »He, Curry. Dein Gewehr liegt da draußen. Vielleicht brauchst du’s in ein paar Minuten. Warum gehst du nicht und holst es dir?« Bruce band sich das Taschentuch fest um den Stumpf des Daumens, und das Bluten wurde langsamer. Dann sah er auf sein Gewehr, das etwa drei Meter von ihm entfernt lag. Die Kimme war abgeschlagen, und die gleiche Kugel, die seinen Daumen amputiert hatte, war so tief in die Ladevorrichtung eingedrungen, daß diese mit Sicherheit blockiert war. Er wußte, daß es nicht mehr zu gebrauchen war. »Ich glaube, ich werde mal ein bißchen Schießübungen machen«, schrie Hendry von oben. Und wieder hörte man Schnellfeuer. Bruces Gewehr verschwand in einer Wolke von Staub und fliegenden Steinbrocken. Als sie verflogen waren, war das Holzwerk der Waffe zersplittert und zerrissen, und der Lademechanismus war zerschossen. Also so ist es, dachte Bruce. Die Waffe ist kaputt, Germaine hat meine Pistole, und ich habe nur noch eine gute Hand. Das 327
wird jetzt interessant werden. Er knöpfte seine Jacke auf und untersuchte die Schwiele, die die Kugel, die an seiner Brust vorbeigeflogen war, ihm beigebracht hatte. Sie sah aus wie ein Stück Tau, tat weh und war rot. Also nichts Ernsthaftes. Er knöpfte die Jacke wieder zu. »Okay, Bruce, mein Junge. Die Zeit der Scherze ist vorüber. Ich komme jetzt runter und mach dich fertig.« Hendrys Stimme war barsch, laut und voller Zuversicht. Bruce riß sich, dadurch angestachelt, zusammen. Schnell sah er sich um. Wohin sollte er gehen? Hochklettern, so daß er nach oben kommen mußte, um ihn zu erwischen? Den rechten Turm erreichen? Dann dort herumgehen und auf ihn auf der Spitze warten. Schnell, angespornt von der Angst, der Gejagte zu sein, kam er auf seine Füße, duckte sich die Anhöhe hinauf, zog seinen Kopf ein und benutzte den dicken Wall von Steinen und Dickicht als Schutz. Er erreichte die Mauer des rechten Turms und ging an ihr herum. Dann fand er die Felsspalte, die er von unten gesehen hatte, und ging in ihr entlang wie eine Fliege an einer Mauer. Völlig entblößt drückte er seinen Rücken an den Felsen und schob sich so die etwa fünfzig Zentimeter breite Spalte entlang, wobei die Kluft unter ihm bei jedem Schritt tiefer wurde. Jetzt war er hundert Meter über dem Wald und konnte das dunkelgrüne Land erkennen, das sich an einer Reihe von anderen Hügeln am Horizont abhob. Der Regen hatte aufgehört, aber die Wolken waren noch nicht aufgebrochen und bedeckten den Himmel. Die Spalte wurde weiter und zu einer Plattform, und Bruce rannte hinüber und an der entfernten Seite herum, bis er zu einem toten Ende kam. Hier hatte die Spalte ein Ende, und es gab nur noch den Abgrund. Er war selbst auf der einen Seite des Turmes in eine Falle gelaufen, das Ende war unausweichlich. Wenn Hendry zum Wald herunterging und um den Hügel 328
herum, würde er Bruce völlig in seiner Gewalt haben. Denn es gab weder einen Schutz noch sonst etwas auf diesem schmalen Spalt. Dann konnte Hendry noch ein paar Zielübungen mehr machen. Bruce lehnte sich gegen den Felsen und kämpfte damit, seinen Atem zu kontrollieren. Seine Kehle war voll Speichel vor Erschöpfung und Furcht. Er fühlte sich müde und hilflos. Sein Daumen klopfte schmerzhaft, und er hob ihn hoch, um ihn noch einmal zu untersuchen. Obwohl er ihn abgebunden hatte, blutete er langsam weiter, ein weinroter Tropfen nach dem anderen. Bluten! Bruce schluckte das dicke Zeug in seiner Kehle herunter und sah auf den Weg zurück, den er hochgekommen war. Auf dem grauen Felsen waren die hellen roten Flecken klar zu sehen. Er hatte für Hendry eine Blutspur gelegt, der er folgen konnte. Also gut, wahrscheinlich war es am besten so. Auf diese Art und Weise habe ich vielleicht noch eine Chance, mit ihm ins Handgemenge zu kommen. Wenn ich hinter dieser Ecke auf ihn warte, bis er die Plattform überquert, dann ist auf der einen Seite immerhin ein Sturz von hundert Metern drin. Vielleicht habe ich die Möglichkeit, ihn zu überrumpeln und hinunterzustoßen. Bruce lehnte sich gegen den Felsen, der ihn vor der Plattform verbarg, und spitzte die Ohren, um Hendry beim ersten Schritt zu hören. Die Wolken im Osten teilten sich, der Himmel wurde klar, die Sonne schien durch und bestrahlte eine Seite des Hügels. Es wird besser sein, in der Sonne zu sterben, dachte Bruce, ein Opfer, dem Sonnengott vom Dach des Tempels vorgeworfen. Er lachte ohne Freude und wartete mit Geduld und Schmerzen. Die Minuten vergingen wie Tropfen in dem Brunnen der Zeit. Langsam, den Teil des Lebens messend, der ihm noch zugeteilt war. Der Puls in seinen Ohren zählte mit, und der 329
Atem, den er einsog, hielt und leise wieder herausließ. Wie oft würde er es noch tun? Ich sollte beten, dachte er, aber nach diesem Morgen, als ich betete, daß es nicht regnen sollte, und der Regen kam und mich rettete, will ich mich nicht einmal anheischig machen, dem Alten Herrn vorzuschreiben, wie er seine Sachen machen soll, Vielleicht weiß er es doch am besten. Dein Wille geschehe, dachte er statt dessen, und plötzlich spannten sich seine Nerven wie eine Angelleine an, an der ein Hecht angebissen hatte. Das Geräusch, das er gehört hatte, war das von Kleidung, die gegen Felsen schabte. Er hielt seinen Atem an und lauschte. Aber alles, was er hören konnte, war der Puls in seinen Ohren und der Wind in den Bäumen unter ihm. Der Wind machte ein einsames Geräusch. Dein Wille geschehe, wiederholte er ohne zu atmen. Und er hörte, wie Hendry nahe hinter dem Felsen atmete. Er trat von der Mauer zurück und wartete. Dann sah er Hendrys Schatten, der durch die frühe Morgensonne am Felsspalt entlanggeworfen wurde. Ein großer verzerrter Schatten auf grauem Felsen. Dein Wille geschehe, und dann ging er schnell um die Ecke, seine gute Hand wie eine Klinge hochgehalten und das ganze Gewicht seines Körpers dahinter. Hendry war einen Meter entfernt. Die Waffe hoch vor der Brust, stand er nahe am Abhang, den Stahlhelm niedrig über die Schlitzaugen gezogen. Kleine Schweißperlen hingen in den rotgoldenen Stoppeln seines Bartes. Er versuchte, den Lauf seiner Waffe zu senken, aber Bruce war zu nahe. Mit steifen Fingern stieß Bruce auf seine Kehle zu und fühlte das Brechen von Knorpeln. Dann kam sein Gewicht mit ihm und warf Hendry rückwärts auf die Steinplattform, Bruce über sich. Die Waffe schlitterte über den Felsen und fiel hinunter. Jetzt lagen sie, Brust an Brust, mit verschraubten Beinen zusammen, wie in einer furchtbaren Parodie des Liebesaktes. Aber in diesem Akt wurde nichts gezeugt, nur vernichtet. 330
Hendrys Gesicht war purpurn und geschwollen oberhalb seiner verletzten Kehle. Sein Mund war geöffnet, während er um Luft kämpfte, sein Atem stieg alt und sauer in das Gesicht von Bruce. Mit einer Wendung zum Daumen hin befreite Bruce sein rechtes Handgelenk von Hendrys Griff und hob es wie eine Axt hoch. Dann schlug er damit Hendry mitten auf die Nase. Zwei Fontänen von Blut quollen aus den Nasenlöchern und liefen ihm in den offenen Mund. Mit einem feuchten, erstickten Laut in der Kehle richtete sich Hendrys Körper mit aller Kraft auf, und Bruce wurde mit solcher Gewalt auf die Seite des Abhangs gestoßen, daß er dort eine Sekunde benommen liegen blieb. Wally hockte auf den Knien und sah zu Bruce hin. Seine Augen glasig und ohne zu sehen. Der erstickende, rasselnde Laut kam aus seiner Kehle und verspritzte dabei eine Wolke von rosa Blut. Mit beiden Händen versuchte er seine Pistole aus der Tasche herauszubekommen. Bruce zog seine Knie bis zur Brust an und spannte dann die Beine zu einem Eselstritt. Seine beiden Füße landeten gemeinsam in der Mitte von Hendrys Magen und warfen ihn über die Plattform nach hinten. Hendry stieß noch einmal ein ersticktes Geheul aus und stürzte dann den ganzen Abhang hinunter, wo das Schreien abrupt aufhörte. Dann war nur noch das Sausen des Windes zu hören. Eine lange Zeit, während der ihn Kraft, Stärke und alles Denken verlassen hatten, saß Bruce mit dem Rücken gegen den Felsen gelehnt und starrte vor sich hin. Über ihm hatten sich die Wolken weiter aufgeteilt, und die Hälfte des Himmels war blau. Er sah über das Land, der Wald war strahlend und sauber vom Regen. Und ich lebe noch. Diese Feststellung war für Bruces Verstand genauso beruhigend wie die frühe Morgensonne, die seinen Körper erwärmte, An liebsten hätte er es in den Wald hineingerufen: Ich lebe noch! 331
Endlich stand er auf, ging zum Ende der Spalte und sah auf die kleine zerbrochene Gestalt, die unten auf den Felsen lag. Dann wandte er sich ab und zwang seinen zerschlagenen Körper, am Turm herunterzugehen. Er brauchte fast zwanzig Minuten, bis er Wally Hendry im Chaos der zerklüfteten Felsen und des Gebüschs unterhalb des Turms fand. Er lag auf der Seite mit angezogenen Beinen, als ob er schliefe. Bruce kniete neben ihm und zog seine Pistole aus dem olivgrünen Segeltuchfutteral. Dann knöpfte er Hendrys dicke Brusttasche auf und nahm den weißen Beutel heraus. Er stand auf, öffnete den Beutel und stocherte mit seinem Zeigefinger in den Steinen herum. Zufrieden zog er den Beutel wieder zu und steckte ihn in seine eigene Tasche. Tot ist er sogar noch widerlicher als lebendig, dachte Bruce ohne Bedauern, als er auf den Körper starrte. Die Fliegen krochen in die blutigen Nasenlöcher und sammelten sich um die Augen. Und dann sagte er laut: »Also hatte Mike Haig doch recht, und ich unrecht – man kann so etwas zerstören.« Ohne zurückzusehen ging er davon. Die Müdigkeit hatte ihn verlassen.
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32 Carl Engelbrecht kam durch die Tür, die von der Pilotenkanzel der Dakota in die Kabine führte. »Seid ihr zwei glücklich?« fragte er über dem tiefen Dröhnen der Maschine, und dann ging ein breites Lächeln über sein braunes großes Gesicht. »Ich sehe, daß ihr es seid.« Bruce lächelte zurück und hielt Germaines Schultern noch fester mit seinem Arm umschlungen. »Hau ab! Siehst du denn nicht, daß wir beschäftigt sind?« »Du bist ganz schön frech, wenn man bedenkt, daß du ein blinder Passagier bist. Ich habe beinahe Lust, dich aussteigen und laufen zu lassen«, schimpfte er, während er sich neben sie auf die Bank setzte, die zu beiden Seiten der Tanks entlanglief. »Ich habe euch etwas Kaffee und ein paar belegte Brote gebracht.« »Gut, gut, ich bin am Verhungern.« Germaine beugte sich nach vorne und griff nach der Thermosflasche und dem Paket, das in Stanniolpapier eingewickelt war. Die Schwellung auf ihrer Wange war zurückgegangen, und man konnte jetzt nur noch einen Schatten mit gelben Rändern sehen. Es war ja auch schon fast zehn Tage her. Den Mund voll mit Hühnerfleisch stieß Bruce gegen eine der hölzernen Kisten, die am Boden mit Stricken festgebunden waren. »Was hast du denn darin, Carl?« »Weiß ich nicht«, sagte Carl und goß dabei Kaffee in die drei Papierbecher. »In diesem Verein fragt man nicht viel. Du fliegst, nimmst dein Geld und damit hat sich’s.« Er trank seinen Becher aus und stand auf. »Nun ja, ich lasse euch beide jetzt allein. In etwa zwei Stunden sind wir in Nairobi, bis dahin könnt ihr schlafen oder sonst was tun.« Er zwinkerte mit den Augen. »Ihr müßt solange an Bord bleiben, während wir tanken. Aber eine Stunde später fliegen wir weiter. Und wenn Gott und das Wetter es erlauben, werden wir euch übermorgen 333
in Zürich absetzen.« »Besten Dank, alter Junge.« »Macht nichts. Das ist nur eine Routinesache.« Er ging nach vorne und verschwand in der Pilotenkabine, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Germaine wandte sich an Bruce, betrachtete sein Gesicht einen Augenblick lang und lachte dann. »Du siehst so ganz anders aus – genau wie ein Rechtsanwalt!« Unbewußt zog Bruce den Knoten seiner Schulkrawatte fester. »Ich muß zugeben, es ist ein sonderbares Gefühl, wieder einen Anzug und eine Krawatte zu tragen.« Er sah an sich herunter auf den gutgeschnittenen Anzug, den einzigen, den er noch besaß, und dann wieder auf Germaine. »Und außerdem muß ich sagen, daß ich dich in deinem Kleid kaum wiedererkenne.« Sie trug ein zitronengelbes Wollkleid, weiße hochhackige Schuhe und hatte etwas Rouge über die Schwellung im Gesicht gelegt. Eine verdammt gutaussehende Frau, überlegte sich Bruce mit Freude. »Was macht denn dein Daumen?« fragte sie, und Bruce hielt den Stumpf mit dem sauberen kleinen Turban aus Verbandstoff in die Höhe. »Den hätte ich beinahe vergessen.« Plötzlich änderte sich Germaines Gesichtsausdruck, und sie deutete aufgeregt auf die Luke hinter Bruces Schulter. »Schau, da ist das Meer!« Tief unter ihnen sah man es: Farben von blau bis blaßgrün mit einem Ring von weißem Sand, mit Wellen, die wie in einem Becken überzuschwappen schienen. »Das ist der Tanganjikasee«, lachte Bruce. »Jetzt haben wir den Kongo hinter uns.« »Endgültig?« fragte sie. »Endgültig«, versicherte er ihr. Das Flugzeug schwankte ein wenig und warf sie gegeneinander, als Carl den neuen Kurs nach Nordosten nahm. 334
Fünfzehnhundert Meter unter ihnen tanzte ein dunkles Insekt, das ihr Schatten war, über die Oberfläche des Wassers.
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