Allison – Schwarm aller Männer
Sandra K. Rhoades
Julia 888 17 – 2/90
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von almutK ...
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Allison – Schwarm aller Männer
Sandra K. Rhoades
Julia 888 17 – 2/90
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von almutK
1. KAPITEL
Allie Smith war tief in Gedanken versunken und bemerkte nicht, dass die Geschwindigkeit des Autos immer mehr nachließ. Schließlich rollte es aus, und Allie hatte keine Möglichkeit mehr, den Wagen an den Straßenrand zu lenken. Er blieb mitten auf den Fahrbahn stehen. Glücklicherweise war diese gewundene Straße auf Vancouver Island wenig befahren. Allie warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Ihr fiel nichts auf. Gelegentlich vergaß sie zu tanken, aber dem Anzeiger nach musste der Tank noch ein Viertel voll sein. Es handelte sich also um eine echte Panne. Was nun? Allie stieg aus, um den Motor in Augen schein zu nehmen. Es begann zu regnen. Sie fluchte leise, beugte sich vor und betrachtete die auf dem Rücksitz des Autos gestapelten Schachteln und Koffer. Dabei versuchte sie, sich zu erinnern, wo ihr Regenmantel sein mochte. Endlich fiel ihr ein, dass sie ihn in die Reisetasche gepackt hatte, die sich im Kofferraum befand. Allie knallte den Wagenschlag zu und spürte, wie ihr der Regen in den Nacken lief. Rasch machte sie einen Schritt auf das Heck des Wagens zu, um dann aber jäh innezuhalten. Der Schlüssel steckte ja noch im Zündschloss! Sie wandte sich um und betätigte den Türgriff auf der Fahrerseite. Nichts geschah. Allie sah, dass der Türknopf hinuntergedrückt war. Das musste sie nach dem Aussteigen automatisch getan haben. Die andere Autotür erwies sich ebenfalls als verschlossen. Allie presste verärgert die Lippen aufeinander, musterte das Fahrzeug mit einem bösen Blick und beschloss, sich erst einmal den Motor anzuschauen, ehe sie das Problem löste, wie sie wieder in den Wagen hineingelangen sollte. Ob sie einen Regenmantel trug oder nicht, spielte keine Rolle mehr - sie war bereits pitschnass. Nachdem sie die Motorhaube geöffnet hatte, schaute Allie ein bisschen ratlos drein. Die Funktionsweise von Verbrennungsmotoren kannte sie, und sie wusste auch, dass es sich um einen Viertakter handelte. Sie hatte jedoch Mühe, zwischen dem theoretischen Wissen und dem Gewirr aus Schläuchen, Riemen und Metallblöcken, das sich ihr darbot, einen Zusammenhang herzustellen. Der Regen prasselte so laut auf die Kühlerhaube, dass sie das Brummen des sich nähernden Wagens beinahe nicht gehört hätte. Als sie es wahrnahm, richtete sie sich auf. Ein dunkler Ford nahm gerade rasant die Kurve. Hastig trat Allie vor, hob den Arm und winkte. Der Fahrer des Wagens stieg auf die Bremse, das Fahrzeug schleuderte leicht, hielt dann mit einem Quietschen auf dem nassen Asphalt, nur um Haaresbreite entfernt von Allies Pontiac. Die Tür des Fords wurde aufgerissen, und ein großer, dunkelhaariger Mann kletterte heraus. „Da haben Sie sich aber einen hübschen Parkplatz ausgesucht, liebe Dame! Sie haben verdammtes Glück, dass ich nicht in Ihr Vehikel hineingefahren bin!" Allie blickte durch den Regen zu dem Fremden auf. Er sah sie wütend an. „Sie hätten um mein Auto herumfahren können", meinte sie. Es klang ziemlich lahm. „Klar", gab er sarkastisch zurück. „Wo Sie mitten auf der Straße standen!" Sie hatte zwar auf der dem Verkehr zugewandten Seite ihres Wagens gestanden, aber die Mitte der Straße konnte man das wohl kaum nennen. Beinahe hatte Allie sich mit dem Fremden auf einen Streit eingelassen, doch als sie ihn näher betrachtete, entschied sie sich anders. Mit dem Mann schien nicht gut Kirschen essen zu sein. „Mein Auto ist liegengeblieben", erklärte sie, um auf das eigentliche Problem zu sprechen zu kommen. Der Fremde erwiderte nichts, sah sich das Coupe an. Dann warf er einen vielsagenden Blick auf den Straßenrand und wandte sich wieder Allie zu. Der Grasstreifen wäre breit genug gewesen, zwei Wagen nebeneinander abzustellen. Sie wollte sich verteidigen, unterließ jedoch auch das. Bis zu diesem Moment war ihr nie besonders aufgefallen, dass sie gewöhnlich über interessantere Dinge nachdachte, während sie Routineaufgaben ausführte. Natürlich hatte sie gemerkt, dass sie durch ihre
Geistesabwesenheit gelegentlich in unangenehme Situatio nen geriet. Ab und zu vergaß Allie einen Topf auf dem Herd, ihre Sachen passten nicht recht zusammen, sie verschluderte dieses oder jenes. Sie war allerdings keine gewöhnliche Tagträumerin. Wenn man berücksichtigte, was für hochkarätige Gedanken sie hatte, während sie sich eigentlich auf etwas Alltägliches hätte konzentrieren sollen, dann schienen die paar Unannehmlichkeiten ein geringer Preis zu sein. Diesmal hatte sie aber wirklich vor sich, hin geträumt. Sie hatte an Kevin gedacht und an ihr letztes Treffen. Der fremde Mann machte eine ungeduldige Geste, und Allie kam ihre Lage wieder zu Bewusstsein. „Ich weiß nicht, was mit dem Wagen nicht stimmt", sagte sie und wies auf den Pontiac. „Haben Sie überhaupt noch Benzin?" Musste er denn unbedingt so sarkastisch sein? Mühsam unterdrückte Allie ihren Zorn. Seit ihr Wagen den Geist aufgegeben hatte, war außer diesem Fremden niemand vorbeigekommen. Es wäre unklug gewesen, ihn durch einen Wutausbruch zu verscheuchen. Vielleicht konnte der Mann ihr ja helfen. Sie nickte. „Das habe ich schon geprüft. Ich hatte gerade vor, einen Blick unter die Motorhaube zu werfen, als ..." „Ich werde nachsehen", unterbrach er sie abrupt. Sie knirschte insgeheim mit den Zähnen. So ein grober Klotz! „Am besten sorgen wir erst mal dafür, dass die Autos von der Straße wegkommen. Ich fahre meines an den Rand, danach schieben wir Ihres beiseite", fuhr der Fremde fort und stieg in sein Auto, ohne auf eine Antwort zu warten. Allie holte tief Luft und befahl sich, ruhig zu bleiben. Immerhin war der Mann ihr behilflich, da sollte sie sich nicht beklagen. Sie beobachtete, wie er geschickt wendete und das Auto an den Straßenrand steuerte. Dann stieg er wieder aus, verharrte einen Augenblick und wischte sich eine nasse Locke aus der Stirn. Allie wurde plötzlich klar, dass er mit Recht ärgerlich war. Er trug einen gutgeschnittenen Anzug aus grauem Gabardine, der sich an den Schultern, wo der Regen ihn durchnässte, schwarz färbte. Erschrocken zuckte Allie zusammen, als sie sah, wie der Fremde beinahe im Schlamm ausgerutscht wäre. Die teuer aussehenden Lederschuhe waren nun total verschmiert. Und er hatte versprochen, sich den öligen Motor anzusehen! Nachdem er sich wieder zu ihr gesellt hatte, lächelte Allie den Fremden entschuldigend an. Er beachtete es nicht. „Steigen Sie ein. Lenken Sie, während ich Ihren Wagen schiebe!" befahl er, ging zum Heck des Autos und stemmte die Hände gegen den Kofferraum. Als der Mann bemerkte, dass Allie sich nicht rührte, richtete er sich auf. „Diesen Gefallen können Sie mir doch tun, nicht wahr? Ich kann schließlich nicht beides machen." Sie schluckte und wurde vor Verlegenheit rot. Jetzt musste sie mit der Wahrheit herausrücken. „Ich ..äh ... ich habe leider aus Versehen den Schlüssel eingesperrt. Ich kann die Tür nicht öffnen." Der Fremde sagte nichts, sah Allie nur an. Sie hielt dem durchdringenden Blick tapfer stand, aber sie wünschte sich, die Erde möge sich auftun und sie verschlingen. Die Augen des Mannes waren nicht dunkelbraun, wie sie zuerst gedacht hatte, sondern dunkelblau, und erst jetzt fie.1 ihr auf, wie attraktiv er war. Er hatte ein gutgeschnittenes Gesicht und einen braunen Teint. Im Moment wirkte er zwar einschüchternd, dennoch fand Allie ihn faszinierend. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. „Soviel Dummheit sollte strafbar sein", sagte der Fremde schließlich, beugte sich vor und spähte durch das Heckfenster, hielt durch das Chaos auf dem Rücksitz Ausschau nach dem Zündschlüssel, der tatsächlich noch steckte. Nach einer Weile richtete der Mann sich wieder auf. „Soviel Dummheit sollte strafbar sein", erklärte er noch einmal. „So etwas kann selbst dem Klügsten mal passieren", gab Allie zurück. Hinter dieser Schroffheit verbarg sie, wie verletzt sie war. Die Natur hatte ihr einen überlegenen Geist geschenkt, aber den Banalitäten des Alltags war sie ziemlich hilflos ausgeliefert.
Der Fremde wandte sich jäh ab und ging auf sein Auto zu. Panik stieg in Allie auf. Er durfte sie nicht einfach hier stehenlassen! Sie rannte hinter ihm her, hatte ihn fast erreicht, da glitt sie aus und fiel vornüber in den Schlamm. Der Fremde fuhr herum. „Lieber Himmel, was haben Sie denn jetzt schon wieder angestellt?“ rief er aus und half Allie auf. „Warum sind Sie denn nicht beim Auto geblieben?" Er griff nach ihrem Oberarm und zog sie auf die Füße. „Ich dachte, Sie würden mich hier sitzenlassen", gestand sie und versuchte, sich den Schlamm vom Kleid zu wischen. Ihre Handflächen schmerzten, wo sie mit der Erde in Kontakt gekommen waren, und im rechten Knie begann es zu klopfen. „Ich wollte nicht wegfahre», sondern nur nachsehen, ob ich ein Stück Draht dabeihabe, mit dem ich Ihre Tür öffnen kann:" „Oh…" Allie kam sich wie eine Närrin vor, weil sie so in Panik geraten war. Zum Glück schien der Mann nun wenigstens nicht mehr ärgerlich zu sein. Er hielt noch immer Allies Arm, und auf einmal wurde ihr die Berührung bewusst. Allie wandte sich ein wenig von dem Fremden ab, und er löste den Griff. Plötzlich fror sie ganz furchtbar, ihre Zähne schlugen aufeinander, und sie erschauerte. Sie hörte, wie der Mann etwas zu sich selber sagte. Dann schlüpfte er aus seinem Jackett und reichte es ihr. „Hier, ziehen Sie das an, ehe Sie sich eine Lungenentzündung holen." „Nein, das kann... kann ich nicht anne hmen. Ich bin ganz schmutzig, und Sie..." „Ziehen Sie es an und diskutieren Sie nicht", knurrte er und warf ihr das Kleidungsstück zu. Allie blickte auf, stellte fest, dass er wieder ärgerlich aussah, biss sich auf die Lippe und hängte es sich um. Er ging zum hinteren Ende seines Wagens und begann, im Kofferraum herumzuwühlen. Eine Viertelstunde später saß Allie hinter dem Lenkrad und steuerte ihren Wagen, den der Fremde schob, an den Straßenrand. Allie hatte ihm ihre Hilfe angeboten, während er versuchte, mit dem Draht an den Türknopf zu gelangen. Aber der Mann hatte abgelehnt und sie hatte nicht protestiert, obwohl sie vermutete, dass es ihr leichter gelungen wäre als ihm. Schließlich besaß sie mehr Übung - schließlich hatte sie sich nicht zum erstenmal aus ihrem Auto ausgesperrt. Sie blieb sitzen, als der Fremde sich am Motor zu schaffen machte. Nach einiger Zeit wurde sie ungeduldig. Der Mann schien nicht besonders gut voranzukommen. Nachdenklich besah sie sich noch einmal das Armaturenbrett. Der Benzinanzeiger zeigte noch immer einen viertelvollen Tank. Sie klopfte leicht gegen das Glas -und da fiel die Anzeige bis auf Null. Allie starrte das Instrument einen Moment lang ungläubig an, dann wandte sie sich dem Fremden zu, der gerade zur Fahrertür kam. Sein weißes Hemd war vollkommen durchnässt und lag eng und durchsichtig an dem wohlgebauten Brustkorb an. Ein öliger dunkler Streifen verzierte einen der Ärmel. Voller Schuldgefühle verschränkte Allie die Hände im Schoß. Der Fremde wischte sich die Finger an einem alten Lappen ab, beugte sich danach herab und sprach Allie durch das offene Fenster an. „Wir müssen den Wagen zur Werkstatt schleppen. Ich finde nicht heraus, wo der Fehler liegt. Wenn wir jetzt x-mal versuchen, den Motor anzulassen, erschöpfen wir am Ende nur die Batterie." „Nun, ich habe gerade herausgefunden, dass es doch am Benzin liegt. Ich fürchte, ich habe keines mehr." Sie sah, wie sich die Wangenmuskeln des Mannes spannten, und sprach hastig weiter: „Der Treibstoffanzeiger muss geklemmt haben. Ich habe dagegengeklopft, und die Nadel fiel auf Null." Allie wies auf die Anzeige. Stille. Sie blickte wieder zu dem Fremden. Sein Gesicht hatte sich gerötet. Mit den Händen umspannte er den alten Lappen und drehte ihn. Sie hatte den Eindruck, er hätte gern dasselbe mit ihrem Nacken gemacht. „Es tut mir wirklich sehr leid", sagte sie. „Ich ..."
„Hören Sie auf, sich zu entschuldigen!" herrschte der Mann sie an, sah dann in ihre großen grauen Augen, in denen das Schuldgefühl deutlich zu lesen stand, und holte tief Luft. Plötzlich wirkte er nicht mehr wütend, sondern nur noch entnervt. „Na ja, Sie können wohl nichts dafür." Allies innere Spannung ließ nach. „Nun, ich dachte nicht daran, die Anzeige zu überprüfen ..." „Und ich hatte mir schon gedacht, dass Sie eine natürliche Blondine sind." Allie schaute verwirrt drein. Der Kommentar des Fremden war ihr unverständlich. Man mochte ja fast annehmen ... „Ich erfinde keine Entschuldigungen! Die Anzeige funktionierte tatsächlich nicht richtig. Vorher zeigte sie einen Viertel vollen Tank an!" rief sie hitzig. Der Mann lächelte auf sie herab, freundlich, aber mit ein wenig Sarkasmus. „Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Jeder muss sich mit den Beschränkungen abfinden, die Mutter Natur ihm auferlegt. Sie sind schön genug, um mit den paar grauen Zellen auszukommen, die Sie haben. Lassen wir's also gut sein." Allie glaubte fast, sich verhört zu haben. Das durfte nicht wahr sein! Der Mann hielt sie für ein dummes Blondchen! Er achtete nicht auf ihre Entgeisterung, sondern sprach weiter: „Ich habe einen Schlauch dabei und werde versuchen, ihnen soviel Benzin in den Tank zu leiten, dass Sie damit bis zur nächsten Tankstelle gelangen." Damit drehte er sich um und ging zu seinem Auto. Allie sah dem Fremden nach. Nicht zu fassen, was für eine Meinung sich dieser Mensch über sie gebildet hatte! Sie war zwar im täglichen Leben häufig wirklich etwas geistesabwesend, aber man hatte auch nie von ihr erwartet, dass sie den alltäglichen Dingen große Aufmerksamkeit widmete. Als sie fünf Jahre alt gewesen war, hatten Tests ergeben, dass sie, Allie, einen Intelligenzquotienten von einhundertvierundneunzig besaß. Danach wurden alle Anstrengungen unternommen, um die ses unglaubliche geistige Potential vollkommen auszunutzen. Sie machte mit siebzehn ihren Doktor, die jüngste Doktorandin in der Geschichte ihrer Universität. Jetzt, mit vierundzwanzig zählte sie zu den geschätztesten Experten der Welt auf dem Gebiet der Computermathematik. Nur Kevin hatte sie zuweilen ihrer Exzentrizitäten wegen ge neckt, sie als Schlingpflanze bezeichnet, weil sie andere Menschen brauchte, um ihr Leben zu organisieren - und er mochte das nicht für sie tun. Kevin hatte jedoch nicht an ihrer ungewöhnlichen Intelligenz gezweifelt. Allie langte spontan nach dem Türgriff, wollte aus dem Auto steigen. Vielleicht sollte sie den Grobian darüber aufklären, wer sie war. Dann aber verharrte sie. Eine seiner Bemerkungen war ihr wieder eingefallen. Er hatte sie schön genannt! Allie ließ den Türgriff los und betrachtete sich im Rückspiegel. Sie sah ein herzförmiges Gesicht, graue Augen, von dunklen Wimpern eingerahmt, eine kleine Nase mit etwas nach oben gebogener Spitze und einen Mund mit vollen Lippen. Insgesamt bot sie wohl keinen unangenehmen Anblick, aber man sagte Dr. Allison Smith einfach nicht, dass sie schön war, höchstens, dass sie in ihrer letzten Veröffentlichung ein sehr interessantes Thema angesprochen habe. „Jetzt haben Sie wieder Benzin im Tank. Damit müssten Sie bis zu der Tankstelle kommen, die ein paar Kilometer weiter liegt." Der Fremde war unvermittelt neben Allie aufgetaucht und schreckte sie aus ihren Gedanken. Sie blickte ihn mit großen Augen an. Er hatte gesagt, sie sei schön, hatte sie als Frau anerkannt, wenn auch als dummes Exemplar. Das hatte sie noch nic ht erlebt. „Es dürfte Ihnen keine großen Schwierigkeiten bereiten, die Tankstelle zu finden", erklärte der Mann, da sie ihn nur verwundert ansah. Er runzelte ungeduldig die Stirn und wies auf die Straße. „Bleiben Sie einfach auf diesem Weg, dann können Sie sie nicht verfehlen. Ich würde Ihnen ja nachfahren, um mich zu vergewissern, dass Sie richtig hinkommen, aber ich hab's jetzt eilig, muss schleunigst weiter."
„O ja, selbstverständlich", erwiderte Allie. „Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie mir geholfen haben. Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Unannehmlichkeiten bereitet habe. Ich ..." „Könnte ich vielleicht mein Jackett wiederhaben?" unterbrach er sie. Sie hatte es ganz vergessen. Rasch öffnete sie die Tür und kletterte aus dem Auto. Ungeschickt streifte Allie das Jackett ab und reichte es dem Fremden. Er griff danach - und verharrte dann regungslos. Eben hatte «r es noch so eilig gehabt, warum ging er jetzt nicht? Allie folgte seinem Blick, und ihr Gesicht begann zu brennen. Unter dem feuchten Kle id zeichneten sich ihre vollen Brüste deutlich ab, die Spitzen hatten sich in dem kalten Luftzug aufgestellt. Der Blick des Mannes ruhte darauf. „Es... es tut mir wirklich leid, dass ich Sie... aufgehalten habe", stammelte sie und floh in ihr Auto. Gleich darauf riss sie den Zündschlüssel herum. Der Motor sprang an, und sie legte den Gang ein. Ihr Retter musste beiseite springen, als sie mit dem Fuß fest auf das Gaspedal trat. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du mich hierher eingeladen hast", sagte Allie. Sie trug einen Bademantel und hatte sich auf Alexandra Evans' Gästebett gekuschelt. In der Hand hielt sie einen Becher dampfend heißer Schokolade. Vor etwa einer halben Stunde hatte Allie ein heißes Bad genommen, und jetzt fühlte sie sich wohler und entspannter als in all den Wochen zuvor. „Kein Wort mehr darüber", bestimmte Alexandra. „Seit Jahren habe ich dich schon gebeten, uns einmal zu besuchen, aber du warst immer zu beschäftigt mit deinen diversen Projekten. Greg und ich sind so froh, dass du endlich einmal Zeit gefunden hast." „Nun, diesmal ist mir nichts dazwischengekommen", erwiderte Allie. Es klang ein bisschen bitter. Alexandra sah sie forschend an, und Allie wandte schnell den Kopf ab und schaute aus dem Fenster. Es regnete nicht mehr, und die Sonne erschien bereits wieder hinter den Wolken. Die Vorderseite des Evanschen Hauses ging auf die Meerenge von Georgia hinaus, und man hatte einen herrlichen Blick auf die See. Das Gästezimmer lag auf der Rückseite in Richtung Garten, hinter dem der Regenwald begann. Man roch den schweren Duft der Saskatoonbüsche. „Also bist du im Moment nicht mit einem Projekt beschäftigt?“ erkundigte Alexandra sich. Allie wandte sich ihr wieder zu und lächelte schwach. Die Frage störte sie nicht. Sie kannte Alexandra seit den Tagen im College, einer Zeit, in der sie außer ihr keine Freunde gewonnen hatte. Um so vieles jünger als die anderen, war es für Allie nicht einfach gewesen, Kontakte zu knüpfen. Die Professoren betrachteten sie wie ein Wesen von einem fremden Stern, und die Kommilitonen neideten ihr entweder ihre überlegene Intelligenz oder taten sie als Baby ab. Die allseits beliebte Alexandra hatte sich anders verhalten. Eigentlich nur eine mittelmäßige Studentin, legte sie mehr Wert auf die sozialen als auf die intellektuellen Möglichkeiten, die sich an der Universität boten. Wegen ihrer Gegensätzlichkeiten bildeten Alexandra und die um fünf Jahre jüngere Allie ein seltsames Paar. Gleich beim ersten Treffen hatte Alexandra das Mädchen jedoch in ihr Herz geschlossen, das ihr Mathematiknachhilfe gab. „Ich habe mich wegen eines Mannes zum Narren gemacht!" stieß Allie nun hervor und verzog den Mund vor Selbstekel. Das war zwar nicht komisch, aber Alexandra hätte beinahe ge lacht. Allie sah in diesem Augenblick genauso aus wie das Mädchen von einst, das sich stets schuldig gefühlt hatte, wenn es Alexandra gelungen war, es von seinen Büchern wegzulocken. „Nun, du bist nicht die erste, der es so ergeht", sagte sie und versuchte, ihre Belustigung zu verbergen. „Nein, wohl nicht", gab Allie zu. Sie machte eine hilflose Geste und umschloss dann mit beiden Händen den Becher. „Du hast also ein paar Narben davongetragen", meinte Alexandra voller Mitgefühl. „Hm ..." Allie stellte den Becher auf den Nachttisch. „Narben? Ich weiß nicht recht. Ich bin
sauer, in meinem Stolz verletzt, und ich ärgere mich darüber, dass ich so dumm sein konnte. Aber ..." Sie verstummte. „Erzähl mir, was vorgefallen ist." Allie strich sich das Haar aus der Stirn. „Vor acht Monaten erhielt ich einen neuen Assistenten im Institut, Kevin Derson. Wir arbeiteten von Anfang an sehr gut miteinander. Ich hatte zuvor mit anderen zuweilen Schwierigkeiten, weil ich eine Frau bin - und eine ziemlich junge obendrein. Mit Kevin dagegen lief alles glatt." „Also, was geschah? Hat er sich an dich herangemacht?" Allie zuckte die Schultern. „Es begann ganz unauffällig. Eines Abends arbeiteten wir länger, und Kevin schlug dann vor, ge meinsam essen zu gehen. Nach einiger Zeit wurde das zur Gewohnheit. Wir besuchten auch hin und wieder verschiedene kulturelle Veranstaltungen ..." „Ihr habt euch also immer öfter auch privat gesehen." „Ja. Und für mich war es etwas Besonderes. Vor Kevin hatte ich nie einen richtigen Freund. Du weißt es genau, an der Universität hielten die Kommilitone n mich für ein altkluges Kind. Am Institut bin ich dann zu beschäftigt gewesen, um mich Liebesdingen zu widmen, und außerdem waren die meisten Angestellten entweder verheiratet oder zu alt. Aber Kevin war..." Allie schluckte. „Er ist Anfang Dreißig und ledig, sieht toll aus und... na ja, er ist ein begehrenswerter Junggeselle. Kurz und gut, ich fing an, von Liebe und Heirat zu träumen. Doch Kevin war daran überhaupt nicht interessiert." Sie schaute erneut aus dem Fenster. Hatte sie Kevin geliebt? Nein, wohl mehr die Vorstellung, ihn zu lieben und mein Leben mit ihm zu verbringen, gestand sie sich ein. Bis ich ihn getroffen habe, ist mir nie klargeworden, wie sehr ich mir wünsche, was andere Frauen haben: einen Mann, ein Zuhause, eine Familie. „An dieser Sache muss mehr dran sein", sagte Alexandra nach einer Weile und riss Allie damit aus ihren Gedanken. „Du bist unerfahren, aber du hättest dich ohne jede Ermutigung bestimmt nicht solchen Vorstellungen hingegeben." Widerstrebend wandte Allie sich ihrer Freundin wieder zu. „Ich schäme mich so wegen meiner Dummheit." „Komm, erzähl weiter", bat Alexandra. „Ich habe mit Kevin geschlafen!" Allie senkte den Blick auf das Bettlaken und zupfte daran. „Wir besuchten ein Wochenendseminar, hatten eine Suite mit zwei Schlafzimmern gebucht, benutzten aber nur eines..." Sie machte eine hilflose Bewegung. „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich von Leidenschaft überwältigt wurde, doch es war nicht so. Es schien mir wohl einfach an der Zeit zu sein, mit einem Mann intim zu werden. Immerhin war ich schon vierundzwanzig und noch Jungfrau.,. Ich glaubte dann, weil Kevin mit mir geschlafen hatte, müsse er mich lieben - und ich ihn auch. Ich war unwahrscheinlich naiv." Alexandra setzte sich neben sie auf das Bett und strich über Allies Arm. „Jedenfalls hast du ihn offenbar nicht gerade gezwungen, mit dir zu schlafen." „Später hat er das angedeutet." „Wie bitte?" „Er stellte es so dar, als hätte ich ihn dazu erpresst." Allie atmete tief durch und kämpfte gegen die Tränen. „Ich war seine Vorgesetzte - wie konnte er sich da weigern?" „Der Schuft!" rief Alexandra aus. „Wann hat er dir das gesagt? Als ihr wieder im Institut wart?" „Nicht gleich. Nach unserer Rückkehr schwebte ich noch in meiner Traumwelt. Ich dachte, wir wären schon so gut wie verheiratet. Mir war noch nicht klar geworden, dass es sich nur um eine Affäre handelte. Kevin schlief nicht mehr mit mir, aber wir gingen weiterhin aus. Eines Tages platzte dann die Bombe." Nach dem letzten Wort schluchzte Allie auf, Und Alexandra drückte ihr tröstend die Hand. „Ich hatte ein Angebot vorbereitet", fuhr Allie fort. „Es ging um ein neues Computerprogramm zum Starten von Satelliten. Nach Fertigstellung des Grundkonzeptes wollte das Institut es in Ottawa zur Entwicklung einreichen. In jenem Stadium war alles
noch geheim. Niemand sollte etwas darüber wissen, außer mir und meinem Vorgesetzten. Leider war ich so indiskret, meine Arbeit mit Kevin zu besprechen. Ich hatte meine Ideen im Computer gespeichert, und eines Tages rief ich sie sogar ab, als Kevin bei mir war. Ich dachte nicht daran, dass er ja meinen Code sehen würde." „Was geschah dann?" „Mein Grundkonzept war ge rade eingereicht worden, da erhielt das Institut die Nachricht, dass eine Privatfirma den Zuschlag, für ein sehr ähnliches Projekt erhalten hatte. Zwei Tage später kam Kevin in mein Büro und kündigte. Er hatte bei der Firma den Job als Projektleiter angenommen." „O nein!" „O doch. Aber selbst da dämmerte mir die Wahrheit noch nicht. Statt dessen sprach ich Kevin auf das an, was zwischen uns war. Die Firma ist am anderen Ende des Landes, und ich wollte ihn nicht verlieren. Wir gerieten in Streit, und schließlich sagte er mir ganz deutlich, er sei nur mit mir ausgegangen und hätte nur mit mir geschlafen, weil..." Allie schluckte und holte tief Luft. „Weil ich seine Chefin war und er dachte, es könne seine Karriere fördern. Er gab zu, dass er meine Arbeit gestohlen hatte, um bei der Firma einsteigen zu können." Traurig sah Allie ihre Freundin an. „Da akzeptierte ich seine Kündigung. Ein paar Tage später reichte ich meine eigene ein." „Himmel, Allie, warum hast du das getan? " fragte Alexandra und umarmte sie. „Du hast seit deinem Abgang von der Universität am Institut gearbeitet. Du hättest nicht gehen müssen." „Mir blieb nichts anderes übrig. Schon waren Gerüchte zu hören. Die Leute wussten, dass ich mich mit Kevin auch privat getroffen hatte. Es war einfach, zwei und zwei zusammenzuzählen." „Nun ja. Aber das heißt noch längst nicht..." „Doch, Alexandra", unterbrach Allie die Freund in. „Die Gerüchte stimmten ja größtenteils. Am Institut hatte ich eine Vertrauensposition inne, und dieses Vertrauen hatte ich missbraucht." „Ich finde trotzdem, du hättest bleiben sollen", sagte Alexandra. „Es war alles nicht deine Schuld. Dieser Kevin hat dich ausgenutzt und hintergangen. Du hättest alles erklären können." Allie schüttelte den Kopf. „Und mich selbst noch mehr demütigen? Eingestehen, wie naiv ich war? Nein! Ich sah keinen anderen Weg, als das Institut zu verlassen, wo so viele über mich und Kevin Bescheid wussten. Im übrigen hatte ich es ohnehin satt, immer die Intelligenzbestie Dr. Allison Smith zu sein." Eine Zeitlang herrschte Schweigen. „Was hast du jetzt vor?" fragte Alexandra, nachdem Allie sich einigermaßen gefasst hatte. Allie zuckte die Achseln. „Ich bin mir nicht sicher. Ich würde gern ein paar Tage bei euch bleiben, wenn es dir keine Umstände macht." Das Sonnenlicht flutete nun hell ins Zimmer, und Allie blickte wieder zum Fenster. „Die Gegend scheint herrlich zu sein. Wenn ich eine Unterkunft finden könnte, würde ich den ganzen Sommer hier verbringen. Ich muss mir sofort einen neuen Job suchen." „Du hast hier bei uns eine Unterkunft, solange du willst." Allie seufzte. „Danke. Aber ich würde lieber irgendwo wohnen, wo mich niemand kennt und ich nicht immer Dr. Smith wäre, sondern wie ein ganz normaler Mensch leben könnte." Sie zögerte und biss sich auf die Lippe. „Das kannst du auch bei uns", meinte Alexandra. „Niemand kennt dich hier, außer Greg und mir. Wir erzählen einfach niemandem, wer du bist. Wenn ich so darüber nachdenke..." Sie betrachtete ihre Freundin einen Augenblick lang und sprach dann weiter. „Ich glaube, die Sache mit Kevin hat dich nur deshalb so hart getroffen, weil du zu wenig von Männern weißt. Du brauchst Erfahrung!" „Na, davon habe ich jetzt genug", erklärte Allie. „Das bezweifle ich", erwiderte Alexandra. „Nicht alle Männer sind so wie dieser Kevin. Du
findest im Handumdrehen einen besseren." „So einfach ist das nicht. Erstens wollen die meisten Männer nichts mit Frauen zu tun haben, die klüger sind als sie selbst, denn das verletzt ihren Stolz. Zweitens ..." „Sie brauchen ja nichts von deinem Intelligenzquotienten zu erfahren!" unterbrach Alexandra sie, die langsam in Fahrt kam, und musterte Allies Figur. „Gut, sehr gut. Du musst bloß deine Möglichkeiten ausschöpfen. Mit ein bisschen Schützenhilfe von mir machen wir dich zur heißesten Sexbombe, die die Männer auf dieser Insel je gesehen haben. Und wenn sie alle hinter dir her sind, darfst du sie nicht mit deinem Computergehirn abschrecken. Du musst dich dumm stellen!" Allie sah ihre Freundin zweifelnd an. Alexandra hatte schon immer ziemlich ausgefallene Ideen gehabt. „Und wie soll ich das machen? Ich bin keine Schauspielerin." „Es wird klappen, und es wird ein Riesenspaß", behauptete Alexandra. Sie nahm eine von Allies Haarsträhnen zwischen die Finger. „Ist es nicht vorteilhaft, dass du von Natur aus blond bist?" Die Worte erinnerten Allie an den attraktiven Fremden. Vielleicht war an Alexandras verrückter Idee wirklich etwas dran. Schließlich gab es ja bereits einen Menschen, der sie, Allie, für eine dumme Blondine hielt!
2. KAPITEL
„Ich weiß nicht recht", sagte Allie zweifelnd. „Ich fühle mich halb nackt." Sie zupfte am elastischen Dekollete ihrer Bluse, doch das nutzte nichts. Der Ausschnitt gab nach wie vor einen Teil der Brüste frei. Zu der offenherzigen Bauernbluse trug Allie einen engen langen Rock mit fröhlichem Blumenmuster, und beide Kleidungsstücke glichen in keiner Weise den konservativen, die sie normalerweise bevorzugte. Voll Unbehagen sah sie an sich herab. Sie kam sich wie ein Vamp vor. „Du siehst phantastisch aus", versicherte Alexandra. „Genau die richtige Mischung aus kleinmädchenhafter Unschuld und Sexkätzchen." Allie verzog das Gesicht. Wie das klang. Alexandra schaute sie nun .mit dem konzentrierten Blick einer Künstlerin an. „Mach die Augen zu, damit ich den Lidschatten auflegen und deine Wimpern tuschen kann." Allie gehorchte und fragte sich, wie Alexandra reagieren würde, wenn sie sich vor der Party davonschleichen würde, um sich wieder abzuschminken und umzuziehen - oder besser, um gar nicht erst auf der Party zu erscheinen. Leider war das unmöglich, ohne Alexandra zu verletzen, auch wenn sie, Allie, sich noch so sehr fürchtete, deren ledige n Freunden vorgestellt zu werden. Alexandra hatte sich mit dem Grillfest ihr zuliebe so große Mühe gegeben, und sich zudem in der letzten Woche um ihr Äußeres gekümmert, als sei sie, Allie, ein Preispudel, der für eine Hundeschau hergerichtet wurde. Ein Pudel hätte sich allerdings nicht halb so unbehaglich gefühlt. „Jetzt darfst du die Augen wieder aufmachen", sagte Alexandra. „Ich werde dir nur noch ein bisschen die Nase pudern." Während sie die Puderquaste schwang, bereitete Allie sich darauf vor, den Bemühungen ihrer Freundin Lob zu spenden, egal wie schrecklich sie, Allie, aussehen mochte. Schließlich schwenkte Alexandra den Stuhl herum, damit Allie sich im Spiegel betrachten konnte. Vor Überraschung verschlug es ihr die Sprache. Trotz des vielen Make-ups, das Alexandra verbraucht zu haben schien, wirkte sie, Allie, erstaunlich natürlich und anziehend. Der lila Lidschatten verlieh ihren grauen Augen etwas Geheimnisvolles, und die Wimperntusche machte die Wimpern länger und voller. Die zarte Wangenlinie wurde von ein wenig pfirsichfarbenem Rouge betont, die Lippen schimmerten einladend mit der Hilfe von Lip-Gloss. Am Vortag war Allie beinahe verzweifelt, als Alexandra sie zum Friseur geschleppt hatte, der ihr das lange Haar abschnitt und ihr eine luftige, wuschelige Frisur verpasste. Nachher fand sie sich reichlich zerzaust, aber jetzt sah sie die honiggoldenen Locken mit neuen Augen. Sie sah jung und fröhlich aus - und sexy. „Also, was meinst du?" erkundigte Alexandra sich. Allie zwang sich, den Blick von ihrem Spiegelbild abzuwenden, und schaute zu ihrer Freundin auf. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin mir gar nicht mehr ähnlich." Alexandra schmunzelte. „Das ist dein neues Ich. Du wirst sie alle umwerfen!" „Ach, du .. ."Allie blickte wieder in den Spiegel. Dass jener Unbekannte sie schön genannt hatte, hatte ihr sehr geschmeichelt, aber im Grunde ihres Herzens hatte sie ihm nicht geglaubt. Doch jetzt... ja, es stimmte wohl! Sie hörte, wie Alexandra seufzte, und sah sie erneut an. Alexandra betrachtete sie fast andächtig. Allie musste lächeln. „Was ist?" „Ich kenne einen Mann, der genau richtig für dich wäre", erklärte Alexandra nachdenklich. „Anthony Summerville ist letzten Herbst hierhergezogen. Er ist verwitwet, und alle ledigen und auch manche verheirateten Frauen sind hinter ihm her. Wenn er dich zu Gesicht bekommt, wird er gewiss den Wunsch verspuren, zum zweiten Mal zu heiraten." Allies Belustigung verwandelte sich in Unbehagen. Ihr wurde das Ziel dieser ganzen Veränderung wieder bewusst. „Weißt du, Alexandra", begann sie vorsichtig, „du hast mich sehr
schön hergerichtet, und ich sehe jetzt auch viel besser aus, trotzdem tauge ich nicht zur Femme fatale. Dieser Anthony Sowieso und die anderen Junggesellen, die du eingeladen hast..." Allie schüttelte den Kopf. „Selbst wenn ich ihnen mit meinem neuen Look gefalle, was soll ich dann tun? Ich habe keine Ahnung, wie man flirtet. Was soll ich überhaupt sagen?" „Dir wird schon irgendwas einfallen", meinte Alexandra. „Fang nur nicht an, von Computern zu sprechen." „Aber darüber unterhalte ich mich gern", erwiderte Allie. Sie sah ihr Spiegelbild wieder an und schüttelte erneut den Kopf. „Ich habe in der letzten Woche viel nachgedacht. Gut, ich habe mich wegen Kevin zum Narren gemacht, doch nun bin ich wieder vernünftig. Es ist das beste, wenn ich mich schnellstens nach einem neuen Job umschaue. Trotz dem, was vorgefallen ist, hat mir das Institut ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt, und es wird nicht schwer sein, etwas Neues zu finden. Meine Zukunft liegt in meiner Karriere, und darauf muss ich mich konzentrieren. Ich eigne mich nicht zum Heiraten." „Sei nicht so wankelmütig!" tadelte Alexandra. „Du hast gesagt, du wolltest den Sommer über hierbleiben, nun steh auch zu deinem Wort." „Erkennst du denn nicht, dass dies alles nur Zeitverschwendung ist? Angenommen, irgendein Mann verliebt sich in mich. Ich kann doch nicht für den Rest meines Lebens das dumme Blondchen spielen! Und was wird geschehen, wenn er herausfindet, dass mein Intelligenzquotient einhundertvierundneunzig beträgt? Dann wird er mich fallenlassen wie eine heiße Kartoffel, weil Männer nun mal nicht gern mit Frauen zusammen sind, die intelligenter sind als sie selbst. Das weiß ich aus Erfahrung." „Sei nicht so pessimistisch! Wenn der Mann dich wirklich liebt, wird ihn das gar nicht interessieren." „Liebe siegt über alles?" fragte Allie zynisch. Als sie dann sah, wie bestürzt Alexandra dreinblickte, verspürte sie Reue. Was machte es schon, das Spiel der Freundin ein paar Wochen lang mitzuspielen? Kevin hatte ihr, Allie, eine wertvolle Lektion erteilt, deshalb wusste sie, dass sie Alexandras Pläne nicht ernst nehmen durfte. „Gut, Alexandra", sagte Allie schließlich und lächelte leicht. „Ich werde mir Mühe geben." Allie stand in der Küche und sah sich verwundert um. Nach der Menge der Speisen, die Alexandra vorbereitet hatte, schien es sich um ein ganzes Regiment von Gästen zu handeln. Und von all den Töpfen, Pfannen und sonstigen Dingen einmal abgesehen, lag draußen auf dem Grill ein riesiger Lachs. „Kann ich dir nicht irgendwie behilflich sein?" fragte Allie und machte eine hilflose Geste. Sie verstand wenig vom Kochen, fühlte sich schuldig, weil Alexandra die vielen Vorbereitungen allein erledigt hatte. „Alles ist unter Kontrolle. Ich muss nur warten, bis das Zeug kocht." Alexandra fuhr sich über die gerötete Wange und schnitt eine Grimasse. „Nun ja, du könntest hier eine Zeitlang achtgeben, während ich mich frisch mache. Ich bin froh, dass es so warm geworden ist, aber durch die Hitze hier in der Küche ist mein Make-up total verschmiert." „Was soll ich tun?" „Du brauchst nur aufzupassen, dass nichts überläuft oder anbrennt. Ich bin gleich wieder da." Alexandra ging zur Tür, hielt dort inne und sah über die Schulter. „Wenn Greg vom Rasenmähen kommt, ehe ich zurück bin, sag ihm, er soll sich umziehen. Wie ich ihn kenne, würde er unsere Gäste in seinen alten Hosen begrüßen, wenn wir ihn nicht ermahnen." Sie ging weiter, schaute aber noch einmal zurück. „Oh! Ich habe die Salatsoße vergessen. Das Rezept liegt neben dem Mixer. Bereite sie zu, ja?" Sie war schon fort, ehe Allie antworten konnte. Widerstrebend nahm sie das Rezept zur Hand, das auf der Arbeitsplatte lag. Bei ihrem Hilfsangebot hatte Allie an Dosenöffnen oder Gemüseputzen gedacht. Diese Tätigkeiten lagen im Bereich ihrer Fähigkeiten. Etwas nach einem Rezept herzustellen, lag ihr nicht. Nach kurzer Zeit wurde ihr jedoch klar, dass es nicht allzu schwer war, die Soße nach dem Rezept zu machen.
Fast wie in der Chemie, dachte Allie und schüttete die abgemessenen Zutaten in den Mixer. Die ungewohnte Aufgabe bereitete ihr nun sogar Spaß. Greg kam herein, und sie schickte ihn munter zum Umziehen, voller Zuversicht, die Soße ohne Probleme zubereiten zu können. Dieser Optimismus war vielleicht ein wenig voreilig. Nachdem Allie der Mixtur sorgfältig einen Teelöffel Salz zugefügt hatte, tat sie den Deckel auf den Mixer und drückte auf den Einschaltknopf. Nichts geschah. Sie versicherte sich, dass der Mixer angeschlossen war, dann hob sie den Deckel und blickte verärgert auf die darin ruhende Masse. Verdammt! Auf einmal wurde Allie bewusst, dass das Radio, das leise im Hintergrund gespielt hatte, nun schwieg. Und bei den anderen elektrischen Geräten waren die Lichter erloschen. Kochen war nicht ihre Domäne, aber mit Elektrizität kannte Allie sich aus- Offenbar war durch das Einschalten des Mixers die Sicherung herausgesprungen. Sie schaltete die Herdplatten und die Kaffeemaschine ab und überlegte, wo der Sicherungskasten sich befinden mochte. In diesem Moment hallte das Läuten der Türglocke in der stillen Küche wider. Der erste Gast war offenbar eingetroffen. Da Alexandra und Greg beschäftigt waren, würde sie gehen müssen, um den Gast zu empfangen. Eiskaltes Lampenfieber überfiel sie. Es würde schwer genug sein, an Alexandras Seite den Fremden gegenüberzutreten. Allein fühlte sie sich einfach nicht in der Lage dazu. Beim zweiten Klingeln blickte sie sich verzweifelt in der Küche um. Ihr Blick fiel auf die Kellertür. Im Keller befanden sich norma lerweise die elektrischen Armaturen! Es bot sich also ein Ausweg. Allie ärgerte sich zwar über ihre Feigheit, flüchtete aber zur Kellertür und rannte die Treppe hinunter. Nach wenigen Augenblicken hatte Allie das etwa einen Meter neben der Treppe angebrachte elektrische Schaltbrett entdeckt. Ein paar Minuten lang inspizierte sie die verschiedenen Schalter, obwohl die herausgesprungene Sicherung sofort zu sehen war. Als Allie über ihrem Kopf gedämpfte Stimmen und Schritte hörte, befahl sie sich, nicht länger herumzutrödeln. Sie schaltete die Sicherung wieder ein und erschrak, weil in der Küche auf einmal Lärm losbrach. Am liebsten hätte Allie sich noch länger im Keller versteckt, aber sie zwang sich, ihn zu verlassen. In der Küche standen Alexandra und Greg mit einem anderen Paar. Sie schienen alle zur gleichen Zeit zu sprechen. Widerstrebend schlüpfte Allie in den Raum und beeilte sich, an Alexandras Seite zu kommen. „Allie, da bist du ja." rief Alexandra. „Wo hast du denn gesteckt?" „Die Sicherung ist rausgesprungen, als ich den Mixer einge schaltet habe, und jetzt habe ich gerade im Keller..." Mitten im Satz hielt Allie inne, sie hatte den männlichen Gast erkannt. O nein, das. durfte nicht wahr sein! „Sie!" donnerte Allies einstiger Retter. „Das hätte ich mir denken können!" Sie zuckte leicht zusammen und musterte ihn vorsichtig. Er sah seltsam aus, nicht regennass, sondern irgendwie... fleckig. Auf der Vorderseite seines dunkelbraunen Hemdes klebten komische kleine weiße Klümpchen, auf dem braungebrannten Gesicht und vorne in dem schwarzen Haar ebenfalls. ,»Ich ... äh... was..." stotterte Allie und verstummte. Der Fremde sah sie so böse an, dass sie am liebsten in den Keller zurückgelaufen wäre. Erst als Alexandra ihm ein Handtuch reichte, mit dem er sich die Flecken aus dem Gesicht wischte, wandte er zu Allies Erleichterung die Augen von ihr ab. „Was ist denn passiert?" fragte sie Alexandra. „Mach dir keine Sorgen", beruhigte die sie und tupfte das Hemd des Fremden mit einem Papiertuch ab. „Es war gar nicht deine Schuld. Es war ein Unfall." „Ja, aber was ist denn passiert?" Trotz Alexandras Bemühungen hatten sich die weißen Flecken in hässliche dunkle Ringe verwandelt. „Jetzt habe ich es nur noch schlimmer gemacht", sagte sie zu ihrem Gast. „Greg wird dir
ein frisches Hemd leihen, und ich werde dies hier einweichen." „Alexandra, würdest du mir jetzt bitte sagen, was hier vorgefallen ist?" verlangte Allie zu wissen. Alexandra warf das Tuch in den Abfalleimer. „Es war wirklich nicht deine Schuld." Allie schaute verwirrt drein. Wenn das stimmte, warum musste Alexandra das dann wiederholen, und warum hatte der Mann sie, Allie, so angesehen, als wolle er sie erwürgen? Was war nun wirklich passiert? „Es war wirklich dumm", fuhr Alexandra fort. „Ich glaube, du hast vergessen den Mixer abzuschalten, ehe du die Sicherung wieder eingeschaltet hast. Der Deckel war nicht aufgesetzt, und als der Strom anging..." Sie machte eine sprechende Geste. „Leider stand Anthony gerade daneben." Allie wandte sich dem Mann wieder zu. Er wirkte nicht mehr ärgerlich, sondern schicksalsergeben. „Ganz wie Alexandra sagte, es war ein Unfall. Es trifft Sie keine Schuld." Er seufzte. Sie fühlte sich kleiner und kleiner werden. Der Mann betrachtete sie nun nachsichtig, schrieb die Sache offenbar ihrer Dummheit zu. Ja, offenbar hielt er sie, Allie, für total dumm. Das war ganz im Sinne von Alexandras Plan, aber statt Dankbarkeit empfand Allie nur ein Gefühl der Demütigung. Greg nahm sich des Gastes an und ging mit ihm fort, um ihm ein frisches Hemd zu geben. Nachdem sie draußen waren, fühlte Allie sich gleich wohler. „Es tut mir wirklich leid", sagte sie zu Alexandra. „Ich werde die Bescherung für dich aufwischen." „Ich mach das schon", erwiderte Alexandra. „Ich muss hier ohne hin noch einiges erledigen. Warum gehst du nicht mit Elaine auf die Terrasse und besorgst ihr etwas zu trinken?" Allie lächelte die andere Frau an, und Alexandra rief aus: ,Ach, ich habe euch ja noch gar nicht einander vorgestellt. Elaine, das ist meine Freundin Allie Smith. Allie, dies ist Elaine Colridge. Und der Mann, der eben hier War, ist Anthony Summerville." Allie dachte an das vor einigen Stunden geführte Gespräch mit Alexandra und fragte sich, ob Elaine auch zu den Frauen gehörte, die hinter Anthony Summerville her waren. . Wie auch immer, jedenfalls war Elaine Colridge gar nicht der Typ, den sie, Allie, ihm als Geliebte zugetraut hätte. Sie war keine hochgewachsene, schicke Schönheit, sondern bemerkenswert durchschnittlich. Das mittelbraune Haar unauffällig frisiert, das blasse Gesicht ungeschminkt, wirkte sie ziemlich farblos. Der dunkelblaue Hosenanzug, den sie trug, stand ihr nicht besonders gut, sie sah darin fast mager aus. Hatte sie überhaupt einen Busen? Befangen verschränkte Allie di« Arme über ihren vollen Brüsten, die in der tiefausgeschnittenen Bluse so deutlich zur Geltung kamen. „Bist du sicher, dass ich dir nicht helfen kann?" fragte Elaine Alexandra. „Ganz sicher. Ich habe alles im Griff. Geh nur mit Allie auf die Terrasse und ruh dich aus. Ich komme in ein paar Minuten zu euch." Allie blickte Alexandra neugierig an; die Freundin hatte in freundlichem Tonfall gesprochen, schien Elaine jedoch abzulehnen. Es kam Allie seltsam vor, weil Alexandra normalerweise nie Antipathien hegte. Außerdem schien Elaine viel zu harmlos, um irgend jemandes Abneigung zu wecken. Sie kam ja sogar mit diesem schrecklichen Anthony Summerville so gut aus, dass sie mit ihm ausging! „Wenn du meinst", erwiderte Elaine. „Aber lass mich bis zum Essen diesen Salat noch in den Kühlschrank stellen." Sie begann, auf der Arbeitsplatte eine große Tüte zu öffnen. „Ich weiß, du hast gesagt, wir sollten nichts mitbringen, aber ich habe trotzdem eine Kleinigkeit zubereitet, weil ich nicht mit leeren Händen kommen wollte." Die angebliche Kleinigkeit entpuppte sich als Obstsalat, eher noch als Kunstwerk. Alle möglichen exotischen Früchte ruhten in einer ausgehöhlten Wassermelone, deren Rand gezackt und mit Zitronenscheiben verziert war. Allie beobachtete, wie Elaine noch einmal in die Tüte langte, ein langes Stäbchen mit bunten Fähnchen herauszog und es an dem Gebilde
befestigte. „Wie herrlich, Elaine", sagte Alexandra. „Vielen Dank. Aber du hättest dir nicht soviel Mühe machen müssen." „Ach, keine Ursache", versicherte Elaine lässig. Sie öffnete den Kühlschrank und spähte hinein. „Oje, ob noch genug Platz dafür da ist?" Alexandra gesellte sich zu ihr an den Kühlschrank, ehe Elaine anfangen konnte, herumzuräumen. „Ich werde schon Platz schaffen." Damit begann Alexandra, Salate und Tabletts mit Appetithappen umzuräumen. Elaine wandte sich an Allie. „Ich werde jetzt erst mal einen Blick auf Anthonys Hemd werfen. Solche Fettflecken sind manchmal schwer herauszukriegen, deshalb sollte man sich gleich darum kümmern. Anthony kauft nicht gerade Sonderangebote, und das Hemd ist neu." Elaine verließ die Küche. Allie fühlte sich schuldbewusst. Es hatte ihr schlechtes Gewissen nicht gerade erleichtert, dass das Hemd neu und teuer war. Als Alexandra den Kampf mit dem Kühlschrank für sich entschieden hatte, entnahm sie ihm eine Flasche Wein und schlug die Tür zu. „Lass uns was trinken. Nach einer Begegnung mit Elaine habe ich immer das Gefühl, ich brauche einen Drink." Allie nahm ein Glas Wein an und fragte: „Magst du sie nicht? Sie scheint doch nett zu sein, und das mit dem Salat war lieb von ihr. Sie hat sich viel Mühe gegeben." „Gegen diesen Salat wird alles, was ich zubereitet habe, aussehen wie Reste von gestern", bemerkte Alexandra säuerlich. „In unserer Clique trafen wir uns oft ganz spontan und aßen, was gerade im Haus war. Aber nachdem Elaine zu uns stieß, hörte das auf. Die meisten von uns kochen ziemlich gut, aber wir haben weder Zeit noch Energie, ewig in der Küche herumzustehen. Bei jedem Dinner kam Elaine mit irgend so einem Kunstwerk an, und unser Essen wirkte daneben wie Hundefutter. Vielleicht ist es nur verletzte Eitelkeit, doch es schmerzt, wenn einem immer die Schau gestohlen wird." Sie leerte ihr Glas und stellte es ab. „Du tätest uns allen einen Gefallen, wenn du ihr Anthony ausspannen würdest. Wir fürchten, dass er sie am Ende noch heiratet und wir sie bis zum Jüngsten Tag auf dem Hals haben." Alexandra begann, die verspritzte Salatsoße aufzuwischen, und Allie nippte an ihrem Wein. Elaine Anthony ausspannen? Selbst wenn sie wollte, würde ihr das nicht gelingen. Alexandra wusste nichts von ihrer ersten Begegnung mit Anthony. Die Einzelheiten hatte Allie ihr verschwiegen und ihr nur gesagt, dass ihr auf dem Weg das Benzin ausgegangen war. Die Episode war zu demütigend gewesen, um sie der Länge nach zu erzählen. Allie seufzte leise, stellte ihr Glas ebenfalls beiseite und nahm sich ein Tuch, um Alexandra beim Putzen zu helfen.
Die Dämmerung ging in die Nacht über, als Allie aus dem überfüllten Wohnzimmer auf die Terrasse schlüpfte. Die meisten Gäste Alexandras waren bei Sonnenuntergang ins Haus gegangen, weil ihnen die Moskitos lästig wurden. Aber Allie kam das Haus schon nach ein paar Minuten eng vor. Tief atmete sie nun die frische Luft ein, wich den Leuten aus, die sich noch auf der Terrasse aufhielten, und wanderte zur rechten Ecke. Dort lehnte Allie sich an das Geländer, sah in die sinkende Nacht und zog Zwischenbilanz. Die Rolle der dummem Blonden fiel ihr leicht, weil sie sich nicht zu verstellen brauchte. Es blieb ihr nichts übrig, als mehr oder weniger dümmliche Komme ntare abzugeben, da sie von den Gesprächsthemen keine blasse Ahnung hatte. Sie wusste nichts vom Angeln, vom Hockey oder von den Erdbeerpreisen, sah auch kaum fern und las nie Romane. Bis zu diesem Abend hatte sie nie bemerkt, wie begrenzt ihre Interessen eigentlich waren. Am Institut war es bei den Zusammenkünften immer nur um die Arbeit gegangen, und selbst bei den privaten Treffen mit Kevin hatte sie, Allie, sich meistens über Computermathematik und Wissenschaft mit ihm unterhalten. Erstaunlicherweise amüsierte sie sich an diesem Abend gut. Alexandras Plan schien zu funktionieren. Allie war nie ein Mauerblümchen gewesen, aber die Leute schienen sie immer
mit einer gewissen Reserve zu behandeln, fast, als seien sie von ihrer hohen Intelligenz eingeschüchtert. Heute jedoch fühlte Allie sich ganz und gar angenommen, von Frauen wie Männern. Manche von ihnen hatten ihr vorgeschlagen, sich mal zum Essen oder zum Einkaufen zu treffen. Und was die alleinstehenden Männer anging - Allie musste lächeln. Man war ihr noch nie mit solcher Aufmerksamkeit begegnet, hatte sich noch nie so um sie gekümmert. Wenn sie das nicht genossen hätte, wäre sie keine Frau gewesen. Nicht einmal das unbemerkte Hinausschlüpfen war einfach gewesen. An Begleitung hätte es nicht ge mangelt. Auf einmal fühlte Allie, wie ihr ein seltsames Prickeln den Rücken hinunterlief. Vielleicht war es ihr doch nicht gelungen, all ihren Verehrern zu entkommen. Langsam wandte sie sich um und entdeckte Anthony Summerville. Er lehnte an der Hauswand und betrachtete Allie. Sie blickte ihn misstrauisch an. Er hatte nicht zu dem Kreis von Bewunderern gehört, die sie umschwärmt hatten. Natürlich konnte man ihm deswegen keinen Vorwurf machen. Die beiden vorangegangenen Begegnungen mit ihr waren ziemlich unheilträchtig gewesen. Warum hatte er sich jetzt wohl zu ihr gesellt? Allie sah, dass die anderen Gäste mittlerweile alle hineingegangen waren. „Es ist kalt hier draußen", bemerkte sie und fuhr sieh über die Arme, auf denen sich eine Gänsehaut breitmachte. Vorher hatte der kühle Wind Allie seltsamerweise nicht gestört. „Ich glaube, ich werde wieder hineingehen." Sie trat vom Geländer weg, da straffte Anthony sich und kam auf sie zu. „Ich möchte einen Augenblick mit Ihnen sprechen."
3. KAPITEL
Anthony blieb gut einen Meter vor Allie stehen, aber sie musste sich zusammenreißen, um nicht bis ans Geländer zurückzuweichen. Sie blickte auf Anthonys Brust, dann auf seine Schultern. Seltsame Emotionen durchfluteten Allie. Gregs Hemd war zu eng für ihn, der Stoff spannte sich über den harten Muskeln, und ihr wurde auf einmal Anthonys männliche Stärke bewusst, obwohl sie normalerweise für die sexuellen Ausstrahlungen des anderen Geschlechts nicht sehr empfänglich war. Auch die körperliche Beziehung mit Kevin war erstaunlich leidenschaftslos verlaufen. Unvermittelt sagte Anthony: „Heute abend sehen Sie ganz anders aus als neulich." Die Bemerkung verwirrte Allie ein bisschen. Um ihr das zu sagen, konnte er ihr kaum bis nach draußen gefolgt sein. „Tatsächlich?" Scheinbar gleichmütig zuckte sie die Achseln. „Vielleicht liegt das daran, dass ich nicht vollkommen durchnässt bin." Das war nicht der Grund, aber das wollte sie ihm nicht eingestehen. „Kann sein, dass es daran liegt", erwiderte Anthony, trat näher und berührte eine der goldenen Locken, die Allies Gesicht umrahmten. „Mir gefiel allerdings das nasse Kätzchen neulich auch sehr gut", sagte er fast wie zu sich selbst. „Oh..." Sie fühlte sich unsicher. Anthony streifte aus Versehen mit dem Handrücken ihre Wange, und Allie zuckte zurück. Sofort ließ er die Hand sinken. Allie spürte einen Stich der Enttäuschung, wandte sich ab und sah hinaus auf die Meerenge. Der Mond war aufgegangen und warf sein silbriges Licht über das Wasser. Welch ein wunderschöner Abend - und wie romantisch, hier allein mit Anthony auf der Terrasse zu stehen! Allie spürte seine Nähe und roch den Duft seines Aftershave. Wieder fragte sie sich, warum er sich zu ihr gesellt hatte, obwohl sein erster Eindruck von ihr so ungünstig gewesen war. Konnte es sein, dass Anthony sich trotz allem zu ihr hingezogen fühlte? An jenem Regentage hatte er gesagt, er fände sie schön, und eben hatte er das bestätigt und ihr Haar berührt. Trotz aller Vorsicht nach den schlechten Erfahrungen mit Kevin, reizte die neue Situation Allie. Wenn Anthony versuchte, sie zu küssen, was sollte sie dann tun? „Alexandra erwähnte, dass Sie den Sommer hier verbringen möchten und gern ein Häuschen mieten würden." Sie sah, dass er ein Stück von ihr zurückgetreten war. Im Mondlicht versuchte sie, seinen Gesichtsausdruck zu ergründen. Anthony wirkte nicht, als habe er vor, sie zu küssen. „Ganz recht", antwortete sie so sachlich wie möglich. „Auf meinem Grundstück befindet sich eine Hütte. Alexandra weiß, dass ich dafür einen Mieter suche, und wahrscheinlich wird sie es Ihnen gegenüber erwähnen." Bot Anthony ihr etwa an, die Hütte zu beziehen? „Wie sieht sie aus?" fragte sie. „Nichts Besonderes", sagte er schnell. „Nur ein paar Zimmer. Als ich das Grundstück kaufte, stand die Hütte schon. Ich wohnte darin, während mein Haus gebaut wurde. Sie ist ziemlich primitiv." Er ist ja nicht gerade ein Verkaufstalent, dachte Allie. Andererseits schätzte sie seine Ehrlichkeit. Sie wollte ihm gerade erklären, dass sie einen Blick auf die Hütte werfen wolle, da fuhr er fort: „Ich glaube nicht, dass es das richtige für Sie wäre. Ich wollte Sie nur warnen, da Alexandra Ihnen gewiss vorschlagen wird, sie sich anzuschauen. Die Mühe brauchen Sie sich gar nicht erst zu machen." Seine Worte brachten Allie ein wenig aus der Fassung. „Oh, es kann doch bestimmt nicht schaden, wenn ich sie mir mal ansehe. Alexandra..." „Aber wenn ich es Ihnen doch sage - Sie würden sie alles andere als gemütlich finden. Außerdem bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt vermieten will." Allie hatte sich wieder gefangen. Kühl gab sie zurück: „Meinen Sie nicht eher, Sie möchten nicht an mich vermieten?" Anthony zögerte. Schließlich sagte er unumwunden: „Sie sind zumindest ein bisschen klüger, als ich dachte."
„Vielen Dank." „Hören Sie, ich verbringe viel Zeit in Vancouver, wo mein Geschäft ist", sprach Anthony weiter. „Meine Haushälterin kümmert sich um meinen Sohn, wenn ich fort bin, aber es wäre mir lieb, wenn jemand in der Hütte wohnen würde, an den sie sich in einem Notfall wenden könnte." „Und auf mich könnte sie nicht zählen?" Ohne auf Allies Einwurf zu achten, fuhr Anthony fort: „Mrs. Dorcus ist eine sehr gute Haushälterin, hat jedoch ziemlich viel Temperament. Dummköpfe mag sie nicht, und es wäre besser, wenn der Bewohner der Hütte ihr nicht zur Last fallen würde." „Nochmals vielen Dank", sagte sie ätzend. „Sie schmeicheln mir sehr." Sie machte einen Schritt vorwärts, um an Anthony vorbei ins Haus zu gehen, aber er hielt sie an den Oberarmen fest. „Ich habe mich ungeschickt ausgedrückt, und das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen." „Trotzdem ist es Ihnen gut gelungen!" Sie spürte seine Hände auf der Haut und war sich seiner Nähe wieder deutlich bewusst. Unwillkürlich machte Allie eine Bewegung, versuchte ihn abzuschütteln. Er ließ nicht los, „Sehen Sie, Sie sind eine sehr schöne anziehende Frau mit vielen guten Seiten", meinte er sanft. „Leider brauche ich jemanden für die Hütte, der selbständig ist." „Und woher ziehen Sie Ihre Schlüsse über meine Selbständigkeit?" verlangte sie zu wissen. Sie wusste gar nicht, warum sie sich noch stritt. Nach diesem Wortwechsel hätte er ihr einen Palast anbieten können, und sie hätte abgelehnt. „Am besten, wir reden nicht mehr darüber", erwiderte er. Allie spürte, wie ihr die Farbe in die Wangen stieg, und biss sich verärgert auf die Lippe. Als wäre noch nie jemandem das Benzin ausgegangen! „Um manche Frauen muss man sich ganz besonders kümmern", meinte Anthony nun. „Daran ist nichts Falsches. Fast jeder der heute anwesenden Männer würde diese Aufgabe bestimmt gern übernehmen. Aber ich habe nicht die Zeit, dauernd auf Sie aufzupassen, und darauf würde es hinauslaufen, wenn ich die Hütte an Sie vermietete. Sie würden ständig Ihre Schlüssel verlieren, oder Ihr Auto würde nicht anspringen. Für so etwas habe ich wirklich keine Zeit." „Ich habe Sie um nichts gebeten", sagte Allie gepresst. Leider musste sie zugeben, dass seine Einschätzung gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Die täglichen Kleinigkeiten bereiteten ihr, Allie, öfters Mühe, und ihre el tzten Vermieter hatten ihr gelegentlich aus der Patsche helfen müssen. „Ich habe Sie um nichts gebeten", wiederholte Allie, und plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Hastig riss sie sich los und wandte ihm den Rücken zu. Die Hände am Geländer, sah sie hinaus in die Nacht. Anthony fluchte leise, entschuldigte sich dann. „Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nur meine Lage deutlich machen. Ich weiß, dass ich ziemlich offen war, aber ich wollte Sie nicht verletzen." Da Allie nicht antwortete, fragte er besorgt: „Sie weinen doch nicht etwa?" Sie spürte, dass er nach ihrer Schulter griff und blinzelte hastig, um die Tränen aus den Augen zu vertreiben. Zu sprechen wagte Allie nicht, ihre zitternde Stimme hätte sie verraten. Anthony stieß einen weiteren Fluch aus und drehte Allie um. In diesem Augenblick knipste jemand die Außenbeleuchtung an, und Allie wusste, dass Anthony die Tränen auf ihren Wimpern gesehen hatte. Sie riss sich erneut von ihm los und wandte sich halb ab. „Da also habt ihr zwei euch versteckt", sagte Alexandra und nä herte sich Anthony und Allie. Bei ihnen angekommen, erkundigte sie sich: „Na, was habt ihr so gemacht?" Wenn sie wüsste! Allie wischte sich unauffällig die Tränen fort und wandte sich ihrer Freundin zu. Aber überraschenderweise war Anthony zwischen Allie und das Licht getreten, so dass sie in seinem Schatten stand und Alexandra ihr Gesicht nicht sehen konnte. Anthony warf Allie einen Blick zu und sagte dann zu Alexandra: „Wir sprechen gerade über das Häuschen auf meinem Grundstück. Wahrscheinlich wird Allie es mieten." Allie stieß vor Überraschung einen undefinierbaren Laut aus, der in Alexandras Freudenruf unterging. Verwirrt sah Allie Anthony an, während Alexandra drauflosredete: „Wie herrlich! Die Hütte liegt nur ein paar Meilen von hier, Allie, so dass du nicht weit weg sein wirst. Gleich morgen
kümmern wir uns um den Umzug. Ich habe eine Menge Geschirr, das du benutzen kannst, dann musst du nicht soviel kaufen. Wir..." „Alexandra?" Greg stand in der Terrassentür. „Bist du da draußen?" „Brauchst du etwas? Ich komme gleich!" „Geh ruhig, Alexandra", sagte Anthony. „Wir kommen auch bald nach." Kaum war Alexandra fort, platzte Allie heraus: „Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?" Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken. „Bitte seien Sie keine unnötige Last." Allie explodierte. „Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht gar keinen Wert darauf lege, ihre Hütte zu mieten? Ich bin genausowenig scharf darauf, Sie als Vermieter zu haben, wie Sie scharf darauf sind, mic h als Mieterin zu haben!" Mit leicht boshaftem Ausdruck betrachtete Anthony sie. „Gut, dann sagen Sie es Alexandra." Sie schnaubte und rauschte an ihm vorbei. Nach wenigen Schritten hielt er sie auf und reichte ihr etwas. Sie blickte hinab auf ein weißes Taschentuch. „Ihre Wimperntusche ist verlaufen. Sie sehen, aus wie ein Waschbär", scherzte er. „Besser, Sie wischen das Zeug ab, ehe Sie hineingehen." Anthony drückte ihr das Tuch in die Hand und ließ Allie stehen. Sie sah ihm ärgerlich und verwirrt nach. Obwohl Allie eigentlich nicht den Wunsch hatte, in Anthony Summervilles Hütte zu ziehen, tat sie drei Wochen später genau das. Alexandra und Greg erwarteten einige Hausgäste, daher war es günstiger, wenn Allie anderswo wohnte. Es gab allerdings eine ganze Reihe von möglichen Mietobjekten, und Allie hätte Alexandra bestimmt klarmachen können, warum sie davor zurückschreckte, auf Anthonys Grundstück die Zelte aufzuschlagen. Warum habe ich mich nur gefügt? überlegte Allie. Selbst wenn Alexandra meine Vorbehalte nicht verstanden hätte, ich bin doch unabhängig genug, meinen Neigungen zu folgen. Seit sie mit siebzehn Jahren die Universität verlassen hatte, hatte sie ihr Leben selbst in die Hand genommen. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Kurs für sie von ihren Eltern abgesteckt worden. Sie bestimmten die Fächer, die sie in der Schule belegen sollte, und sie schrieben sie für spezielle Ferienlager ein, wo sie Mathematik und Informatik lernte. Dann verlangten sie von Allie, nach dem Abgang von der Universität einen Lehrauftrag an einer großen Hochschule im Osten anzunehmen. Doch da hatte Allie sich geweigert. Sie fühlte sich mehr zur Forschung hingezogen, ihr lag der Job, den ihr das Institut anbot, viel besser. Das Institut war jedoch in der Öffentlichkeit relativ unbekannt, so dass sich mit Allies Job dort bei den Freunden der Smiths nicht viel Staat machen ließ. Es kam zum Bruch zwischen ihr und ihren Eltern. Zunächst wandten sie sich ganz von ihr ab, um sie für ihren Ungehorsam zu strafen. Als sie sich dann einen Namen zu machen begann, gaben sie sich Mühe, sie wieder in den Schoß der Familie zu holen. Allie war sich jedoch über die wahren Beweggründe ihrer Eltern im klaren und ließ sich nur selten bei ihnen sehen. Für ihren Vater und ihre Mutter war sie ein Statussymbol wie der große Cadillac oder das elegante Haus mit Swimmingpool im Garten, und sie legte keinen Wert darauf, bei Cocktailparties vorgeführt zu werden wie ein dressiertes Äffchen. Mom und Dad würden bestimmt die Nase rümpfen, wenn sie mich jetzt sähen, dachte Allie, während sie das Auto vor Anthonys Hütte parkte. Sie war nicht nur arbeitslos und lebte von ihren Ersparnissen, sondern ließ sich auch noch in einer primitiven Unterkunft nieder. Das Häuschen wies zwar moderne Installationen auf, war aber ansonsten ziemlich rustikal, wie Allie gesehen hatte, als sie mit Alexandra drei Tage nach der Party zur Besichtigung kam. Es gab ein L-förmiges Wohnzimmer, mit anschließender Küche, ein kleines Schlafzimmer, gerade groß genug für einen Schrank und ein Bett, sowie ein winziges Badezimmer. Die enge Küche war von einer mit ausgeblichenem Kattun verkleideten, hölzernen Anrichte vom Wohnzimmer abgeteilt. Die Fußböden bestanden aus blankem Sperrholz, die Decken wären mit weißen Plastikplatten verkleidet. Den unfertigen Bodenraum erreichte man über eine grobe, handgemachte Leiter. Mit ein paar neuen Möbeln und Teppichen wird es vielleicht gar nicht so schlecht aussehen,
sagte Allie sich, als sie auf das Häuschen zuging. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und wandte sich um, um die Aussicht zu genießen. Die Hütte lag auf einem Kliff, das hoch über der Felsküste aufragte. Man hatte einen herrlichen Blick über das Meer und die Inseln. Die Luft war frisch und kristallklar, der Himmel tiefblau. Allie seufzte leicht vor Wonne. Was für Mängel die Hütte auch haben mochte, sie lag einfach paradiesisch. Als Allie sich wieder dem Haus zuwandte, stand die Tür offen. Anthony Summerville lehnte am Türpfosten. Allie zuckte zusammen. „Huch, haben Sie mir einen Schrecken versetzt!" „Es tut mir leid", sagte Anthony, machte aber kein entschuldigendes Gesicht. .„Der Hahn in der Küche tropfte, und ich kam her, um den Dichtungsring auszuwechseln, damit bei Ihrem Einzug alles in Ordnung ist." „Ich verstehe." Statt Dankbarkeit fühlte sie Ärger. Offenbar war Anthony so überzeugt von ihrer Dummheit, dass er ihr, Allie, nicht einmal zutraute, einen einfachen Dichtungsring auszuwechseln. Allerdings verstand sie nicht, warum sie sich darüber ärgerte. Sie interessierte sich nicht für Anthony Summerville. Sie hatte es auch gar nicht nötig, von ihm akzeptiert zu werden. Seit Alexandras Party war sie mit einigen von den Männern ausgegangen, die sie da kennengelernt hatte, und keiner von ihnen hatte sie behandelt, als sei sie besonders dumm. Einzig Anthony schien sie dafür zuhalten. Er stand jetzt nicht mehr lässig im Türrahmen, war einen Schritt vorgetreten und sah zu ihrem Auto hin. „Sie sind also bereit, heute einzuziehen." Allie nickte und schaute ebenfalls zum Wagen. Zwischen den bis unter das Dach gestapelten Schachteln und Koffern befand sich ihr sorgfältig verpackter Computer, der über eine große Speicherkapazität und ein Festplattenlaufwerk verfügte. Plötzlich wünschte sie sich, Anthony das Gerät vorführen zu können. Er kannte sich mit solchen Dingen aus, wie sie wusste, denn Alexandra- hatte ihr erzählt, dass Anthony eine SoftwareEntwicklungsfirma in Vancouver besaß. Wenn Anthony sähe, wie sie, Allie, das Gerät bediente, würde er sie nicht länger für ein Dummchen halten! „Ich habe das meiste schon mitgebracht. Alexandra kommt später mit dem Kombi nach. Sie bringt mir noch ein paar Teller und Bettwäsche." „Gut Sie hat Ihnen doch ausgerichtet, dass Sie sich nicht um Möbel zu kümmern brauchen, nicht wahr? Ich. hatte ihr gesagt, dass ich für alles sorgen würde." „Ja, das hat sie mir ausgerichtet." Allie war sehr erstaunt gewesen. Anthony hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er sie als Last ansah« sich aber die Mühe gemacht, das Häuschen zu möblieren. Nun, wahrscheinlich war es gar keine so große Sache, zum Trödler zu fahren und ein paar gebrauchte Möbel zu besorgen, dachte sie. „Sie haben es nicht mehr gesehen, seit wir anfingen, es herzurichten, nicht wahr?" Anthony trat beiseite, damit sie ihm in die Hütte vorangehen konnte. „Kommen Sie, schauen Sie sich um und sagen Sie mir, was sie davon halten." Vor Verblüffung verschlug es Allie gleich darauf beinahe den Atem.: Sie erkannte das Innere des Hauses fast nicht wieder. Statt des muffigen, abgestandenen Geruches herrschte jetzt der Duft von frischer Farbe und Sägemehl. Wände und Decken waren beige-, gestrichen, und auf dem Boden lagen taubengraue Teppiche: Und was die Möbel vom Trödler anging, die Allie erwartet hatte... Sie sah ein verdächtig neu wirkendes Sofa in Altrosa mit dazu passenden Stühlen. Tischchen aus poliertem Mahagoni waren überall im Raum verteilt. Darauf standen helle Lampen aus Messing. Sie blickte Anthony an. Kaum zu glauben, dass er all das für sie getan hatte. Offenbar war seine Abneigung gegen sie doch nicht so groß, wie sie gedacht hatte. Und plötzlich konnte sie sich eingestehen, dass sie Zuneigung für ihn empfand... „Nun, wie gefällt es Ihnen?" fragte Anthony nach einer Weile.
Allie lächelte ihm zu. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es ist herrlich. Sie müssen
sich ..." „Keine Ursache", schnitt er ihr das Wort ab und zuckte die Achseln. „Das Haus musste ohnehin hergerichtet werden. Möbliert bringe ich es auch leichter an den Mann, wenn Sie wieder fort sind." Sie biss sich auf die Lippen und schaute Anthony nach, der nun zur Küche ging. Natürlich hatte er das alias nicht für sie getan. Dennoch ... Allie blickte zu der Stelle, wo die Anrichte gestanden hatte. Sie war durch ein modernes mit Resopal beschichtetes Eichenschränkchen ersetzt worden. Über das Schränkchen hinweg sah man die total renovierte Küche. „Ich möchte mich trotzdem bedanken", sagte Allie. „Es hätte mich nicht gestört, das Haus in seinem alten Zustand zu bewohnen, aber dies hier ist wirklich phantastisch!" Anthony schaute leicht verzweifelt zu ihr hinüber und erwiderte: „Nun, schön, dass es Ihnen gefällt. Kommen Sie und gucken Sie sich den Rest an." Sie gehorchte. Obwohl sie dann merkte, dass es ihn ärgerte, konnte sie nicht verhindern, dass ihr immer wieder kleine Rufe der Begeisterung entfuhren, während sie den Rest des Hauses besichtigten. Die Küche war ein Traum, klein, aber sehr praktisch. Im Bad entdeckte Allie eine nagelneue Duschkabine. Im Schlafzimmer angekommen, sah Anthony so aus, als habe er von Allie langsam die Nase voll. Mit großen Augen betracht ete Allie den exquisiten Überwurf auf dem Diwanbett und die dazu passenden Fenstervorhänge. Sie wandte sich Anthony zu, wollte etwas sagen, aber er sprach zuerst. „Ich weiß, es ist einfach wundervoll", bemerkte er boshaft. Sie kam auf die Erde zurück und wurde verlegen. „Es tut mir leid, dass ich mich so habe gehen lassen. Es ist nur... alles ist so..."Sie zuckte die Schultern, unfähig, den Satz zu vollenden. „Jetzt sind Ihnen endlich die Adjektive ausgegangen", stellte Anthony mit spöttischer Erleichterung fest. Allie wich seinem Blick aus, sah auf das Bett. Ein leichter Schauer überlief sie, während sie sich vorstellte ... Bis jetzt hatte sie noch keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie allein im Schlafzimmer waren. Auf einmal fühlte sie sich unbehaglich. Ihr Mund wurde trocken, und sie schluckte krampfhaft. Als sie wieder zu Anthony blickte, merkte sie, dass er sie abwägend betrachtete. In seinen blauen Augen stand ein eigenartiger Glanz. Allie hatte das Gefühl, dass Anthony ihre Gedanken genau erraten hatte. „Es gibt einen phantastischen Weg, wie Sie mir Ihre Dankbarkeit zeigen können", sagte er plötzlich. Sie stellte sich absichtlich dumm. Natürlich hatte sie den Sinn der Worte verstanden. „Ich weiß nicht, was Sie meinen." „Nein? Gleich werden Sie's wissen." Ehe sie zurückweichen konnte, hatte er sie bei den Schultern gepackt, zu sich herangezogen und seine Lippen auf Allies gelegt. Sie"' rührte sich nicht, war sich nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Wäre der Kuss gewaltsam und verlangend gewesen, hätte sie sich losgerissen und Anthony vielleicht sogar vors Schienbein getreten. Aber es handelte sich um einen beinahe unpersönlichen Kuss. Offenbar machte Anthony sich nur einen Spaß mit ihr... Trotzdem wurde es Allie langsam warm, und ihre Hemmungen lösten sich. Sie hatte schon andere Küsse erlebt, leidenschaftliche, begehrliche, doch keiner hatte jemals dieses sehnsüchtige Verlangen in ihr hervorgerufen, das sie jetzt empfand. Unwillkürlich schmiegte sie sich an Anthony und schlang die Arme um seinen Nacken. Einladend öffnete sie die Lippen und spürte dann, dass Anthony zögerte. Wollte er sich zurückziehen? Nein, das durfte er nicht! Sie presste sich enger an ihn. Auf einmal gab es nichts Wichtigeres auf der Welt, als von ihm in den Armen gehalten und geküsst zu werden. Allie hörte, wie er leise aufstöhnte, und da wusste sie, dass er sie nicht von sich stoßen würde.
Gleich darauf wurde sein Kussintensiver. Mit Lippen und Zunge erforschte Anthony die Zartheit ihres Mundes. Allie schmolz fast dahin und streichelte Anthonys Schultern. Unter ihren Fingern fühlte sich seine männliche Wärme verführerisch an. Irgendwann zog er sich ein Stückchen von Allie zurück und ließ die Hand über eine ihrer Brüste gleiten, umschloss sie und drückte sie leicht. Ein Pfeil der Ekstase durchfuhr Allie. Die Knie wurden ihr weich, so dass sie sich an Anthony festklammern musste. Mit den Lippen zeichnete ,er eine feuchte Spur von ihrem Mund bis hinunter zu ihrer Kehle. Danach öffnete Anthony die Bluse und strich sanft über Allies samtweiche Haut. Allie erschauerte. „Anthony..." „Ja, ja. Komm." Er führte sie in Richtung Bett. „Allie!" Anthony und Allie erstarrten, als sie Alexandras Stimme aus dem Wohnzimmer vernahmen. „Allie! Wo bist du?" Allie löste sich von Anthony und sah ihn mit großen Augen entsetzt an. Jäh war sie sich der Situation bewusst geworden. Um Haaresbreite wäre sie, Allie, mit Anthony ins Bett gegangen! Wenn Alexandra sie nicht unterbrochen hätte ... Er wich Allies Blick nicht aus, und sie stellte fest, dass auch Anthony ein wenig bestürzt wirkte. Dann holte er Luft, und seine Miene wurde ausdruckslos. „Wir sind hier drin", rief er. „Ich habe Allie gerade herumge führt." Er trat an ihr vorbei und sagte leise: „Bring deine Kleidung in Ordnung." Sie griff sich an den Kragen ihrer Bluse, die offenstand und die schwellenden Brüste freigab, die von der feinen Spitze des BHs nur unzulänglich bedeckt wurden. Mit bebenden Fingern begann Allie, die Knöpfe zu schließen. Anthony wartete derweil an der Tür. Schließlich war Allie fertig und schaute ihn wieder an. Sie spürte, dass er ärgerlich war. „Anthony?" fragte sie scheu. Langsam glitt sein Blick an Allie abwärts, dann hinüber zu dem Bett. Schließlich sah Anthony ihr in die Augen. Jetzt las sie Verachtung in seinem Blick. „Bist du soweit?" „Du hast damit angefangen", beschuldigte Allie ihn, ohne auf seine Frage einzugehen. „Du hast mich geküsst." Stolz hob sie das Kinn, obwohl sie sich gedemütigt fühlte und dieses Gefühl ihr Übelkeit bereitete. Er zuckte die Achseln. „Das war nur ein Scherz. Schade, dass Alexandra aufgetaucht ist. Wir kamen gerade zur Pointe.“ Er lächelte und um seinen Mund lag ein sarkastischer Zug. Allie wurde blass. Anthony hatte sie mehr verletzt, als wenn er sie geschlagen hätte. Als er ihren Ausdruck sah, verging sein Lächeln, und er trat einen Schritt vor, um Allie die Hände entgegenzustrecken. „Es tut mir leid. Das war nicht schön von mir." „Geh zum Teufel!" stieß Allie hervor und schob sich an ihm vorbei zur Tür. Alexandra war im Wohnzimmer glücklicherweise so in die Bewunderung der neuen Möbel versunken, dass sie Allies etwas verwirrten Zustand nicht bemerkte. Wenig später gingen die beiden Freundinnen daran, den Kombiwagen zu entladen, brachten Haushaltsgeräte und verschiedene Kleinigkeiten ins Häuschen. Dabei gewann Allie die Fassung zurück. Anthonys Weggang trug auch dazu bei. Als Gentleman hatte er zwar seine Hilfe angeboten, aber Allies Ablehnung ohne Einwand akzeptiert. Sie nahm an, dass er genausowenig Wert auf ihre weitere Gesellschaft legte wie sie auf seine. Nachdem der Wagen entladen war, machte Alexandra sich gleich wieder auf den Weg. Sie erwartete einige Hausgäste und musste sie an der Departure Bay in Nanaimo abholen, wo die Fähre aus Vancouver anlegte. Allie ließ die Kartons mitten in der Küche stehen und machte sich daran, ihren eigenen Wagen auszupacken. Ihre Kleidung befand sich in ein paar Koffern, aber es gab auch einige Kisten voller Bücher, Papiere und Disketten, außerdem natürlich den Computer. Statt über die alte Leiter erreichte man den Boden nunmehr über eine schmale schmiedeeiserne Treppe mit Holzsprossen, und Allie beschloss, ihren Arbeitsplatz dort oben aufzuschlagen. Anthony hatte da nicht viel renoviert, da er wahrscheinlich ange nommen hatte,
sie habe keine Verwendung für den Raum. Der Fußboden war jedoch frisch gestrichen. Ich muss nur ein Regal, einen Schreibtisch und einen Stuhl auftreiben, dann habe ich da ein zweckmäßiges Büro, dachte Allie. Im übrigen war sie lange nicht mehr so begeistert vom unteren Stockwerk wie am Anfa ng. Nach der Episode im Schlafzimmer hatte Anthony im Wohnraum ein paar Minuten mit Alexandra gesprochen, die ihren Kommentar zu den Veränderungen abgab, und erwähnt, Elaine hätte mitgeholfen, das Haus umzugestalten. Daraufhin hatte sich Allies Meinung über die Einrichtung allmählich geändert. Aber natürlich spielte Elaines Holle dabei für sie, Allie, nicht die geringste Rolle. Selbstverständlich war sie nicht eifersüchtig, wie wäre das möglich? Sie mochte Anthony nicht, deswegen ließ sie Elaine gern freies Feld bei ihm. Das ich alles nicht mehr so schön finde, liegt einzig und allein daran, dass ich mich inzwischen genauer umgesehen habe, redete Allie sich ein. Die Grau-Rosa-Kombination im Wohnzimmer erschien ihr nun fade und nichtssagend. Und der Überwurf auf dem Diwan im Schlafzimmer verlieh dem Raum etwas süßlich Weibliches, das vielleicht für ein Jungmädchenzimmer taugen mochte, doch nicht für eine erwachsene Frau. Ihr war rätselhaft, wie sie jemals in Begeisterung über die Einrichtung ausbrechen konnte.
4. KAPITEL
Nachdem Allie die Kisten mit den Büchern auf den Boden getragen hatte, machte sie sich daran, ihren Computer auszupacken. Spontan beschloss sie dann, eine kurze Systemprüfung vorzunehmen. Das Gerät war seit Allies Abgang aus dem Institut nicht mehr benutzt worden, und sie wollte sichergehen, dass es auf der Reise an die Küste keinen Schaden erlitten hatte. . Aus der kurzen Systemüberprüfung wurde nichts, denn kaum hatte Allie sich im Schneidersitz vor den Computer gehockt, war sie für die Realität verloren. Die Stunden flogen nur so dahin, und erst als Allies Magen vernehmlich zu knurren begann, wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Höchste Zeit fürs Abendessen! In der Küche sah es chaotisch aus. All die Kartons, die Allie und Alexandra aus dem Kombi geladen hatten, standen noch herum. Allie seufzte. Ihre Überprüfung der Schränke erwies sich als müßig. Es war nichts zu essen im Haus, weil sie vergessen hatte, einzukaufen. „Was tust du da?" Sie erschrak bei dem plötzlichen Klang der Stimme, fuhr herum und entdeckte einen kleinen Jungen. Die Hintertür der Hütte stand jetzt weit offen. Langsam trat der Junge ein, kam in die Küche." Erbetrachtete Allie ein paar Augenblicke lang mit unverhohle ner Neugier, sah sich dann in der Küche um, und rümpfte die Nase. Nachdem die Hütte fast den ganzen Tag geschlossen gewesen war, roch sie stark nach Farbe, allerdings nicht unangenehm. Der Junge sagte trotzdem: „Hier riecht es aber ekelhaft." Er trat an ein herumliegendes Stück Zeitung. Es rutschte ein Stück und blieb unter dem Tisch liegen. Im allgemeinen mochte Allie Kinder gern, obwohl sie nicht viel Kontakt zu ihnen gehabt hatte. Dieses Exemplar schien jedoch im großen und ganzen etwas raubeinig zu sein. Hatte er noch nie davon gehört, dass man anklopfte, ehe man eintrat? Er hatte sich auch nicht eben feingemacht für seinen Besuch. Der Junge trug ein schmutziges T-Shirt und kurze Hosen. Sein Gesicht war dreckverschmiert, und sein wirres braunes Haar sah aus, als könnte es eine Bürste gut gebrauchen. Während Allie ihn noch musterte, wiederholte er seine Frage. „Was tust du da?" „Ich habe nach etwas zu essen gesucht", gab Allie zurück. Daraufhin ging der Junge zum Kühlschrank, öffnete ihn und schaute hinein. Er war leer. Der Junge schloss den Kühlschrank wieder und wandte sich Allie zu. „Wieso hast du kein Essen in deinem Kühlschrank?" Sie fragte sich, wie sie dazu kam, Erklärungen abzugeben, sagte jedoch: „Normalerweise habe ich das, im Kühlschrank und im Küchenschrank. Aber ich hatte noch keine Zeit zum Einkaufen. Vielleicht sollte ich mal nachsehen, ob meine Freundin mir ein paar Kekse eingepackt hat." Die Augen des Jungen begannen zu leuchten. „Ich mag Kekse." Unwillkürlich musste sie lächeln. Er war eine kleine Nervensäge, trotzdem hatte er etwas Ansprechendes an sich. „Tatsächlich?" erwiderte sie. „Ja. Kekse sind wirklich super." Der Junge blinzelte auf die Kartons hinab. Dann hob er den Blick wieder zu Allie. „Ich bin gut im Kekse finden. Ich habe sogar die Kekse gefunden, die Mrs. Dorcus ganz oben auf dem Schrank über der Kühltruhe versteckt hatte." Damit langte er tief in einen der Kartons, warf die Zeitungen beiseite, die als Füllmaterial dienten, und gefährdete dabei Gläser und Geschirr. „Jason! Was fällt dir ein, hier herumzuwühlen?" Allie drehte sich um und erblickte Anthony Summerville, der im Türrahmen stand. Am Morgen hatte sie ihn am liebsten nie wiedersehen wollen, jetzt kam er ihr vor wie vom Himmel gesandt. Sie war ziemlich ratlos, wusste nicht, wie sie das kleine Monster behandeln sollte, das
ihr so unverhofft in die Küche geschneit war. Der Junge sah auf und betrachtete den Neuankömmling ohne Besorgnis. „Hallo, Dad", begrüßte er Anthony lässig, ehe er sich wieder über den letzten Karton beugte, so tief, dass er beinahe darin verschwand. Während Allie schweigend die Erkenntnis verdaute, dass es sich bei dem Jungen um Anthonys Sohn handeln musste, durchquerte Anthony schnell den Raum und zog das Kind am Hosenbund hoch. Die Art, wie Anthony es tat, schien nichts Gutes für seinen Sohn zu verheißen. „Ich habe dich etwas gefragt, Freundchen. Du solltest doch im Hof spielen und dort bleiben bis zum Essen!" Jason war durch den offensichtlichen Zorn seines Vaters kaum beeindruckt. Leichthin erwiderte er: „Ich habe nach den Keksen der Lady gesucht." Er machte Anstalten, seine Suche wieder aufzunehmen, aber Anthony legte die Hände auf seine Schultern und hielt ihn fest, blickte dann fragend zu Allie hinüber. Sie wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, da kam Jason ihr zuvor. „Sie meinte, ihre Freundin hätte ihr welche eingepackt, aber ich glaube, sie hat gelogen. Ich finde keine Kekse, dabei habe ich doch geschaut und geschaut." Er versetzte dem Karton einen Fußtritt, woraufhin das Geschirr darin unheilverkündend schepperte. „Weißt du, dass sie überhaupt nichts in ihrem Kühlschrank hat?" fragte er seinen Vater dann. Anthony musterte Allie mit seltsamem Blick. Rasch wandte sie den Kopf ab. Langsam bezweifelte sie schon, dass Anthony sie erkennen würde, wenn ihre Wangen mal nicht flammend rot wären. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die ständig erröteten, aber seit sie Anthony getroffen hatte, passierte das am laufenden Band. Dieser Mann hatte einfach die Begabung, sie in peinlichen Situationen zu ertappen. „Ich hatte keine Zeit, etwas einzukaufen", sagte Allie schließlich, weil sie das lange Schweigen nicht mehr aushielt. „Ich verstehe", entgegnete er und ließ den Blick durch das unordentliche Zimmer schweifen. Sie ahnte, was Anthony dachte. Es war offensichtlich, dass sie die Zeit nicht mit Auspacken und Einräumen verbracht hatte. Da sie befürchtete, dass er sie nun fragen würde, was sie denn eigentlich den ganzen Tag gemacht habe, versuchte sie verzweifelt, eine glaubhafte Ausrede zu finden. Die Frage wurde jedoch nie gestellt, weil Jason sich jetzt wieder ins Gespräch einschaltete. „Ich habe Hunger. Ist das Abendessen fertig?" „Ja", erwiderte Anthony grimmig und blickte finster auf seinen Sohn herab. „Vielleicht sollte ich dich aber ohne Essen zu Bett schicken. Ich hatte dir gesagt, du sollst beim Haus bleiben und nicht hierherkommen und Miss Smith belästigen. Du hast mir nicht gehorcht, und dafür musst du bestraft werden." „O Dad!" schrie Jason. „Ich verhungere, wenn ich nichts zu essen kriege." Er griff sich an den Magen und stöhnte dramatisch. „Ohne Essen werde ich sterben, dann musst du mich begraben und Blumen auf mein Grab legen." Die Arme noch immer vor dem Bauch verschränkt, stöhnte er erneut auf und sah flehentlich zu seinem Vater auf. „Bitte, Daddy, ich möchte nicht tot werden wie Mami." Eine Träne rollte langsam die Wange des Jungen hinab. „Ich vermisse meine Mami." Jason riss sich aus dem Griff seines Vaters los, rannte zu Allie hinüber und vergrub - laut schluchzend - den Kopf an ihrer Taille. Beim Anblick dieser Szene wäre sogar ein Herz aus Stein geschmolzen, aber Allie sah, dass Anthonys Miene noch finsterer wurde. Seine Augen wirkten kalt, und er hatte die Lippen in stummem Zorn zusammengepresst. Plötzlich trat er zu dem Jungen hinüber, zog ihn von Allie fort, drehte ihn zu sich um und sagte streng: „Jason, ich möchte, dass du jetzt sofort nach Hause gehst. Wenn ich komme, erwarte ich, dass du gebadet bist, dir die Zähne geputzt hast und im Pyjama im Bett liegst. Ist das klar?" Die Augen des Kindes waren voll herzzerreißender Trauer, die Lippen zitterten. „Ja, Dad", antwortete Jason leise. Mit gesenktem Kopf verließ er gehorsam das Haus.
Allie hatte dem Jungen voll Mitleid nachgeschaut. Vor der Szene war ihre Meinung von Anthony Summerville schon nicht allzu gut gewesen, aber sie hätte nie geglaubt, dass er ... dass irgend jemand derart herzlos und grausam zu einem so armen, wehrlosen, mutterlosen Kind sein könnte. Der Mann war ja ein richtiges Ungeheuer! Nach einer Weile sagte Anthony in einem Ton, als sei nichts vorgefallen: „Da du ja nicht die Möglichkeit hattest, dir etwas zu essen zu besorgen, lade ich dich ein, bei mir zu essen. Mrs. Dorcus kocht immer sehr reichlich." Allie riss die Augen weit auf. „Ich ... ich könnte nie mit so einem Sadisten wie dir essen. Das Essen würde mir im Hals stecken bleiben. Was machst du eigentlich sonst in deiner Freizeit? Kleinen Fliegen die Beine ausreißen?" Sie drehte sich um und starrte zu Boden. Ihre Hände zitterten, und sie verschränkte sie vor dem Leib, um sie zur Ruhe zu bringen. Sie hatte Anthony verletzt, das war ihr klar. Aber er hatte es verdient. Ein schweres Schweigen lag über der Küche. Schließlich hörte Allie, wie Anthony sich abwandte, und stieß den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hatte. Anthony ging nicht fort. Er ging zwar zur Tür, wandte sich dort jedoch um. „Ich schulde dir wirklich keine Erklärung, aber da du den Sommer hier verbringen wirst, kommst du bestimmt noch öfter mit meinem Sohn in Kontakt, und deswegen kläre ich dich besser darüber auf, dass er gern Theater spielt." Sie wollte Anthonys Erklärung nicht hören. Es gab keine Entschuldigung für sein Verhalten. Als Allie nicht reagierte, knurrte er: „Zum Teufel noch mal, dreh dich um! Ich habe keine Lust, mich mit deinem Rücken zu unterhalten." Ihr missfiel der Befehl, dennoch wandte sie sich Anthony zu. „Jason hat kein Theater gespielt", sagte sie. „Sein Kummer war durchaus echt." Anthony knirschte mit den Zähnen. „Das war er nicht." „Alexandra hat mir erzählt, dass du Witwer bist. Willst du etwa leugnen, dass Jasons Mutter tot ist?" „Das leugne ich keineswegs", erwiderte er kalt. „Mit Natalies Tod hat die kleine Szene allerdings nichts zu tun. Mein Herr Sohn hat eine reine Show abgezogen." „Das glaube ich nicht. Er vermisst seine Mutter." „Unsinn. Natalie starb, als er knapp zwei Jahre alt war. Das ist schon fast fünf Jahre her. Wenn ein Kind in dem Alter einen Elternteil verliert, erinnert es sich nach so langer Zeit nicht mehr daran. Das ist eine Tatsache, und sie gilt auch für Jason. Er ist nicht traurig wegen seiner Mutter. Er hat nicht mal eine Erinnerung an sie. Selbst ich denke nur noch selten an sie." Allie musterte ihn. Er mochte ein geplagter Vater sein, aber er sah wirklich nicht, so aus wie ein trauernder Witwer. Auf einmal spürte sie, wie ihre innere Spannung nachließ. Anthony fuhr fort: „Jason hat in letzter Zeit entdeckt, dass es einen sehr rührenden Eindruck macht, wenn er sich als armen, mutterlosen kleinen Jungen darstellt. Die herzzerreißende Rede vorhin hat er beinahe wortwörtlich aus einem Film, der neulich im Fernsehen gesendet wurde. Er hat ihn bei einem Freund gesehen, und leider lenkte dessen Mutter Jasons Aufmerksamkeit auf die Parallele zwischen ihm und dem Filmhelden, der ebenfalls seine Mutter verloren hatte, wenn auch erst kurz zuvor. Seitdem ha t Jason den Trick so ungefähr bei jedem angewandt, den er getroffen hat." Das klang glaubhaft, und Allie wusste selbst nicht, warum sie zweifelte. Sie hatte den kleinen Jungen ja nicht einmal sympathisch gefunden, als er einfach bei ihr hereingeschneit war. Und trotzdem... „Muss er denn wirklich ohne Essen zu Bett?" fragte sie. „Das hätte er verdient, weil er sich nicht an meine Anordnungen gehalten hat, aber ..." Anthony zuckte die Achseln. „Nein. Außerdem würde meine Haushälterin das nie zulassen. Sie würde ihm sogar extra etwas zubereiten, wahrscheinlich seine Lieblingsspeisen, und sie ihm heimlich in seinem Zimmer servieren, was immer ich auch anordne. Jason hat Mrs. Dorcus sehr fest um seinen kleinen Finger gewickelt." „Ich verstehe." Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte, bückte sich und hob eine der zusammengeknüllten Zeitungen auf, die auf dem Boden verstreut lagen. Langsam begann Allie,
sie zu glätten. „Was ist nun mit deinem Abendessen?" erkundigte sich Anthony. „Mit meinem Abendessen?" „Ich hatte dich eingeladen, mit mir zu essen, erinnerst du dich nicht?" „Oh... ja, natürlich." „Wirst du kommen?" Sie sah ihn unsicher an. Einerseits wünschte sie sich sehr, mit ihm zusammen zu essen, und das lag nicht an dem hartnäckigen Knurren ihres Magens. Andererseits ... es war sinnlos. Sie fühlte sich in Anthony s Gegenwart verlegen und unbeholfen. Außerdem wollte Allie nicht noch einmal so etwas wie am Morgen erleben. Gleich darauf fragte sie sich, ob sie wirklich nicht wollte, dass er sie noch einmal an sich zog und küsste. Wie auch immer, sie wollte besser kein Risiko eingehen. „Die Hütte ist völlig in Unordnung", sagte sie. „Ich bleibe lieber hier und räume auf." „Das läuft dir nicht davon, und außerdem wirst du vom Aufräumen nicht satt. Du hast nichts zu essen im Haus - nicht einmal Kekse, wie ich von meinem Sohn vernommen habe." Anthony lächelte ihr zu und um seine Augen entstanden kleine Lachfältchen. „Das ist wahr", meinte Allie. Es gab jedoch in der Gegend um Cedar einige kleine Geschäfte. Es würde nur ein paar Minuten dauern, sich dort mit Lebensmitteln zu versorgen. Sie könnte sich dann eine Dose Suppe warm machen und danach mit dem Aufräumen beginnen. Allie wollte ihm das gerade erklären, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie merkte, wie liebevoll Anthony sie betrachtete. „Komm und iss mit mir, Allie", bat er leise. „Ich müsste mich erst umziehen." „Ich warte hier auf dich." Auf einmal verflogen Allies Bedenken. „Ich werde nicht lange brauchen, um mich fertig zu machen." Anthonys Haus lag am Fuße der Klippe, auf der die Hütte stand. Ein steiler Pfad führte hinunter und verband die beiden Gebäude. Allie trippelte vorsichtig abwärts und fragte sich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, ein Kleid mit enggeschnittenem Rock und hochhackige Schuhe anzuziehen. Alexandra hatte ihr geholfen, diese Sachen auszusuchen, die sehr feminin und. ein wenig sexy wirkten. Will ich mit dieser Kleidung etwa Anthony zu ködern versuchen? überlegte Allie. Er hat doch bereits eine Freundin, und selbst wenn er keine hätte, mich hat er doch nur aus Spaß geküsst! Welche Motive auch immer sie bewegt hatten, sich so anzuziehen, jetzt sah es so aus, als würde entweder das Kleid von den Brombeerbüschen zerrissen werden, oder sie sich auf dem felsigen Pfad den Knöchel brechen. Plötzlich griff Anthony nach ihrer Hand. Behutsam führte er Allie über den unebenen Untergrund, und sie vergaß ihre Kleiderprobleme. Die Berührung löste angenehme Gefühle in ihr aus, und sie genoss sie, gab sich ihnen hin. Am Fuße des Pfades ließ Anthony sie los. Es dauerte eine Weile, bis Allie aus ihrem angenehmen Zustand erwachte, und deshalb bekam sie nur einen flüchtigen Eindruck von Anthonys Haus. Es handelte sich um ein modernes Gebäude aus Zedernholz und Glas. In der Halle sagte er: „Warte im Wohnzimmer auf mich. Ich werde Mrs. Dorcus mitteilen, dass ich dich zum Essen mitgebracht habe." Er wies auf eine Tür rechts von Allie. „Gut", stimmte sie zu, und schaute Anthony nach, der gleich darauf in einem Gang verschwand. Langsam wandte sie sich um und betrat das Wohnzimmer. Als erstes fiel ihr der herrliche Blick auf, den das Panoramafenster auf der Seeseite bot. Man sah das Wasser und die Inseln in der Abendsonne schimmern, Die Aussicht glich der von der Hütte, nur aus einem etwas anderen Winkel. Mehr interessiert war Allie jetzt allerdings daran, Anthonys Wohnzimmer zu untersuchen und festzustellen, was es ihr für Aufschlüsse über seine Person erlaubte. Das Zimmer wirkte männlich-elegant. Die Wände waren mit rotem Zedernholz verkleidet, das ebenso Warm wirkte wie der golden schimmernde Teppich. Ein langes Ledersofa stand dem
Kamin aus Naturstein gegenüber, der sich am anderen Ende des Zimmers befand. Grüppchen von Stühlen und Tischen machten einen anheimelnden Eindruck. Allie fühlte sich zu einem Schachbrett auf einem niedrigen Tisch beim Kamin hingezogen. Ein Figurensatz war aus dunkelgrüner Jade, der andere aus hellgrüner. Auch die Quadrate des Brettes bestanden aus diesem Material. Fasziniert streckte Allie die Hand aus, wollte nach einer der Figuren greifen, um sie näher zu betrachten. Doch dazu kam es nicht. „Daddy verhaut dich, wenn du sein Schachspiel anfasst!" Allie wirbelte herum und sah sich Jason gegenüber, der sie missbilligend musterte. „Meinst du?" fragte sie und lächelte dann. Jetzt, wo er sauber ist, sieht er viel niedlicher aus, dachte sie. Na ja, ganz so sauber auch wieder nicht, stellte sie auf den zweiten Blick fest. Auf Jasons Kinn befand sich ein kleiner roter Fleck, und ein weiterer, viel größerer, vorn auf der Pyjamajacke. Es schien sich um Spaghettisauce zu handeln. Jason musste also wirklich nicht hungrig zu Bett gehen. „Ja." Das Kind nickte. „Er hat mich gehauen." Allie zog die Augenbrauen hoch. Sie war keine Expertin in Kindererziehung, aber trotzdem der Meinung, dass Disziplin auf anderem Weg erreicht werden sollte als durch Gewaltanwendung. Es musste eine zivilisiertere Art geben, mit der Lage fertig zu werden. Allie wandte sich wieder dem Schachbrett zu, und Jason baute sich neben ihr auf. „Das ist der König", verkündete er und deutete mit dem Finger darauf, ohne die Figur zu berühren. Seltsamerweise merkte Allie sofort, dass Anthony eingetreten war, obwohl seine Schritte durch den dicken Teppich gedämpft wurden und sie auf das Schachbrett blickte. Langsam drehte sie sich um. Ein Lächeln auf den Lippen, näherte Anthony sich ihr und Jason. Sie schaute ihm fasziniert entgegen. Warum war er bloß um so vieles attraktiver als die anderen Männer, die Alexandra ihr vorgestellt hatte? Allie war mit einigen von ihnen ausgegangen, und es hatte ihr auch Spaß gemacht, dennoch... Hatte sie sich nicht insgeheim gewünscht, dass es Anthony gewesen wäre, der sie ausgeführt und am Ende des Abends zum Abschied geküsst hätte? Ehe Anthony sie erreichte, verlangte Jason wieder ihre Aufmerksamkeit. Er zupfte Allie am Kleid, Inzwischen war er doch der Versuchung erlegen - er hielt eine der Figuren in der Hand. „Dieser hier sieht aus wie ein Pferd und heißt Springer. Ist das nicht komisch?" Der Kleine kicherte und ließ das Figürchen über seine Hand und seinen Arm galoppieren. Als Jason aber aufsah und Anthony entdeckte, hörte er sofort auf zu spielen. Mit den Fingern umschloss er die Figur, um sie vor seinem Vater zu verbergen. Unter dessen strengem Blick hob er trotzig das Kinn. Eine Zeitlang herrschte angespanntes Schweigen. Schließlich sagte Anthony leise und unheilverkündend: „Tu den Springer dahin zurück, wo du ihn hergenommen hast." Der Junge schürzte aufrührerisch die Lippen. „Ich wollte ihn der Lady nur zeigen", schmollte er und setzte den Springer auf sein angestammtes Feld zurück, dass es krachte. Allie merkte, dass Anthony zusammenzuckte, und warf einen prüfenden Blick auf das Brett. Der Springer schien nicht beschädigt zu sein, aber durch andere Figuren zogen sich feine Risse. Sie waren offenbar mal gesprungen und wieder geleimt worden. Es handelte sich also nicht um eine selbstherrliche Laune Anthonys, Jason das Berühren des Schachbretts und der Figuren zu verbieten. Er fragte seinen Sohn nun in normalemTon: „Solltest du nicht in deinem Zimmer sein?" „Da ist es mir zu langweilig. Da kann man gar nichts machen." Anthony verzog das Gesicht und sagte zu Allie: „Man könnte meinen, er sei nach Sibirien verbannt. Dabei sieht es bei ihm aus wie in einer Spielwarenhandlung." „Ich habe fast gar kein Spielzeug", protestierte Jason empört. „Ich habe keinen ,Berg der Schlangen' wie Darryl. Und er hat auch..." „Du hast genug", unterbrach sein Vater ihn. „Zeit, dich zurückzuziehen, mein Sohn. Falls du es
schon vergessen hast, du solltest längst in deinem Zimmer sein, weil du heute nachmittag nicht in der Nähe des Hauses geblieben bist, wie ich dir gesagt hatte." „Aber Dad!" schrie Jason. „Ich will aufbleiben! Heute kommt meine Lieblingssendung. Ich möchte fernsehen." „Heute abend wird nicht ferngesehen. Marsch ab mir dir!" Jason blickte trotzig zu seinem Vater auf, wollte offenbar erneut widersprechen. Hastig mischte Allie sich ein: „Wie wäre es, wenn ich dir etwas in deinem Zimmer vorlesen würde, Jason? Hättest du etwas dagegen, Anthony?" Ehe er etwas erwidern konnte, kam sein Sohn ihm zuvor und brüllte: „Ich will keine Geschichte! Ich hasse Bücher! Sie sind dumm. Ich will fernsehen!" „Das reicht, Jason", sagte Anthony energisch. „Du entschuldigst dich jetzt bei Miss Smith für deine Grobheit, und dann verschwindest du." „Das tue ich nicht!" rief Jason. „Ich will fernsehen!" Er wirkte beinahe hysterisch. Sein Vater nahm ihn hoch und ging mit ihm zur Tür. Über die Schulter sagte Anthony zu Allie: „Ich bin gleich wieder da." Das Kind wand sich in seinem Griff, aber Anthony hielt es eisern fest und trug es hinaus. Anthony erschien erst nach über einer halben Stunde wieder im Wohnzimmer. Als er eintrat, stand Allie auf und legte die Zeitschrift fort, in der sie geblättert hatte. „Ist alles in Ordnung mit Jason?" Anthony nickte. „Er ist jetzt eingeschlafen." Er wirkte bedrückt, und Allie verspürte Mitleid. Während er mit Jason in dessen Zimmer gewesen war, hatte sie über ihn nachgedacht. Alexandra hatte ihr in den letzten Wochen einiges über Anthony erzählt. Nach außen hin führte er ein herrliches Leben, um das ihn sicherlich mancher beneidete. Er war der Eigentümer einer erfolgreichen Computersoftware-Firma in Vancouver und lebte in seinem schönen Haus mit Blick aufs Wasser. Unten am Strand lag neben einem einmotorigen Wasserflugzeug ein Kajütenboot vertäut. Von Alexandra wusste Allie, dass Anthony das Wasserflugzeug benutzte, um zwischen der Insel und der Firma in der Innenstadt von Vancouver hin- und herzupendeln. Und er ist nicht nur mit materiellen Gütern gesegnet, dachte Allie und sah zu ihm hinüber. Er ist noch dazu der attraktivste Mann dem ich je begegnet bin: schlank, sexy, charmant. Letzteres zumindest, wenn er will. Er hat unter den Frauen freie Aus wahl, sie beten ihn an ... „Ich mochte mich für die Szene von vorhin entschuldigen", unterbrach Anthony Allies Gedankengang und fuhr sich durch , seinen dunklen Haarschopf. „Schon gut, mach dir deswegen keine Sorgen", sagte sie schnell. „Ich bin froh, dass jetzt alles in Ordnung ist." Was für eine dumme Bemerkung! tadelte sie sich. Natürlich war nicht alles in Ordnung. Jason war im Grunde ein anziehendes Kind, aber er hatte offensichtlich einige Schwierigkeiten. Und Anthony hatte es mit ihm bestimmt nicht leicht. Sein Leben verlief nicht so einfach, wie manche Leute vielleicht denken mochten. Offenbar wollte Anthony nun noch etwas zum Thema Jason sagen, doch dann zuckte er nur die Achseln und wandte den Blick von Allie ab. Nach einer Weile sah Anthony sie wieder an und sagte; „Ich weiß, dass es schon relativ spät ist, aber möchtest du vielleicht einen Drink, ehe wir ins Esszimmer gehen? Ich hätte dich schon eher fragen sollen." Allie fühlte sich bereits ganz schwach vor Hunger und fürchtete, die Kontrolle über sich zu verlieren, wenn sie auf leeren Magen Alkohol trank. Andererseits hatte selten jemand so sehr den Eindruck gemacht, einen Drink zu benötigen, wie Anthony jetzt. Sie nahm ihren Platz auf dem Sofa also wieder ein und antwortete: „Okay. Ich hätte gern ein Glas Weißwein. Anthony ging zur Hausbar in der Zimmerecke. Die polierten Holztüren verbargen einen kleinen Eisschrank, aus dem Anthony Eis und Zwei Flaschen nahm. Er füllte ein Glas für Allie, brachte es ihr und bereitete sich dann seinen eigenen Drink: großzügig bemessenen Whisky auf
Eis. Schweigend saßen Anthony und Allie beieinander. Er starrte düster vor sich hin und trank seinen Whisky mit großen Schlucken. Sie nippte nur ganz leicht am Wein und hoffte, dass ihr Magen nicht in lautes Knurren ausbrechen würde. Nachdem einige Minuten vergangen waren, nahm Anthony sich zusammen. Er griff nach der Zeitschrift, die Allie vorher durchgeblättert hatte, und schaute auf den Titelkopf. „Konntest du nichts anderes zum Lesen finden? Das tut mir leid… Du musst es sehr langweilig gefunden haben." Es handelte sich um den „New Scientist". Sie hatte das britische Magazin nie abonniert, las es jedoch gelegentlich, um zu erfahren, was es aus der Welt der Wissenschaften Neues gab. Sie runzelte leicht die Stirn. Die Zeitschrift war alles andere als langweilig, und Allie wollte ihm das gerade mitteilen, da sah Anthony sie an und bemerkte: „Mrs. Dorcus kauft öfter ein paar Modejournale. Wahrscheinlich hat sie sie weggetan." „Oh..." Jäh erinnerte sie sich daran, dass sie die Rolle einer Frau spielte, die an anspruchsvollen Dingen kein Interesse hatte. „Die Zeitschrift war durchaus unterhaltsam. Ich habe die Comics betrachtet und mir die Bilder angeschaut", sagte Allie schnell.
5. KAPITEL
Mrs. Dorcus servierte im Esszimmer ein herrliches geschmortes Hühnchen. Während Allie ihren knurrenden Magen damit besänftigte, fragte sie sich, warum sie es so eilig gehabt hatte, Anthonys falsche Meinung über ihr geistiges Niveau zu bestätigen. Als sie bei Alexandra ausgezogen war, war Allie schon fast entschlossen gewesen, das Theater aufzugeben. Alexandras Plan hatte funktioniert, noch nie hatte sie ein so reges gesellschaftliches Leben gehabt. Andererseits hätte sie ihre Verabredungen bestimmt wesentlich mehr genossen, wenn sie sich nicht darauf hätte beschränken müssen, geistlose Antworten zu geben. Daraufhin schnitten die Männer nur Themen an, die nicht zu hoch sein konnten, und zum Schluss hatte Allie sich meistens gelangweilt. Sie beabsichtigte dann nicht, jedem aufs Brot zu schmieren, dass sie den Titel eines Doktors der Computermathematik besaß. Aber sie hatte beschlossen, einen Kompromiss zu finden, denn sie mochte nicht länger wirken, als fehle ihr selbst die grundlegendste Intelligenz. Allie warf einen Blick zu Anthony hinüber. Seitdem sie sich zum Essen niedergesetzt hatten, war er wieder sehr schweigsam. Vielleicht dachte er über seinen Sohn nach, doch möglicherweise fand Anthony auch, dass es zwischen ihm und ihr nicht genug Gemeinsamkeiten gab für ein Gespräch. Aber sie wusste, dass sie gemeinsame Interessen hatten. Sie liebte das Schachspiel ...vorhin hatte sie einen lehrreichen Artikel gelesen. Und im übrigen war da noch Anthonys Firma. Sie arbeiteten beide in derselben Branche. Wenn Anthony das wüsste? Allie schob ihren Teller beiseite und überlegte, ob sie Anthony aufklären und wie sie das Gespräch anfangen sollte. Es würde kaum weise sein, herauszuplatzen: „Hör mal, Anthony, ich bin sehr schlau, und du kannst mit mir über alles reden, ohne Angst, ich könnte es nicht verstehen." Es musste einen anderen Weg geben. . „Sollen wir unseren Kaffee auf der Veranda trinken?" riss Anthony sie in diesem Augenblick aus ihren Gedanken. „Ja, das wäre sehr schön", erwiderte sie bereitwillig. So blieb ihr mehr Zeit, einen Eröffnungszug für das Gespräch zu überlegen. Leider erwies sich dann, dass ihr immer mehr Einwände einfielen, statt Möglichkeiten für einen behutsamen Gesprächsbeginn. Sie und Antho ny nippten schon seit einigen Minuten an ihrem Kaffee auf der Veranda, als Allie schließlich beschloss, einfach draufloszureden, wie auch immer Anthony reagieren würde. „Anthony..." „Ich..." Er sprach gleichzeitig mit Allie, und beide brachen im selben Moment ab. Nach einigen Sekunden meinte Anthony: „Entschuldige, was wolltest du sagen?" „Ich ... äh ..." stotterte sie und spürte, wie ihre Wangen sich wieder einmal röteten. „Es war nicht wichtig. Bitte, was wolltest du sagen?" Er räusperte sich, und Allie konnte seine Gedanken lesen. Sie benahmen sich wie zwei Teenager bei ihrer ersten Verabredung -sie waren verlegen und übermäßig höflich zueinander. Was sie, Allie, betraf, war das nicht erstaunlich, aber für Anthony musste es eine neue Erfahrung sein. Er machte nicht den Eindruck eines Mannes, der in Gesellschaft von Frauen zur Befangenheit neigte. Die Erkenntnis, dass Anthony ihre Verlegenheit teilte, half Allie, ihre eigene zu überwinden. Unbefangen lächelte sie ihn an. „Raus mit der Sprache!" „Ich wollte dich gerade fragen, wie es dir hier in Cedar gefallen wird. Hier gibt es nicht viele Möglichkeiten zur Zerstreuung, und nach Nanaimo ist die Fahrt recht lang." „Es wird mir bestimmt gefallen", antwortete sie. „Ich habe noch nie auf dem Land gelebt, aber ich bin auch nicht gerade ein Stadtmensch. Immerhin komme ich ja auch aus einem relativ kleinen Ort." Sie zögerte. Hier bot sich die perfekte Möglichkeit, von sich selbst zu erzählen. Die Stadt
Henning war in Fachkreisen bekannt, und zwar wegen des Instituts. Wenn Anthony erfuhr, dass sie, Allie, in Henning gelebt hatte, würde er sie natürlich nach dem Institut fragen. Dann konnte sie ihm sagen, dass sie da gearbeitet hatte. Dennoch spürte sie Widerstreben, fühlte sich beinahe erleichtert, als Anthony weitersprach und über Cedar und Allies neue Nachbarn redete. Sie beobachtete ihn, während er sprach, und ihre Gedanken gingen im Kreis. Warum hatte sie die Möglichkeit nicht genutzt, ihn aufzuklären? Ihr Ruf als Intelligenzbestie war ihr verhasst, aber es war auch nicht besser, wie ein Dorftrottel behandelt zu werden. „ ... und man sagt, er habe auf Frauen eine verhängnisvolle Anzie hungskraft ausgeübt." Diese Äußerung Anthonys ließ Allie aus ihren Gedanken aufschrecken. „Wer?" Sie hatte Anthony betrachtet, sein dunkles Haar, die kleine Narbe auf seinem Kinn. Die Worte Anthonys passten genau auf ihn selbst, und auf einmal wurde Allie klar, warum sie nichts von dem Institut gesagt und nicht widersprochen hatte, als er meinte, das wissenschaftliche Magazin habe sie wohl gelangweilt. Anthony war verhängnisvoll anziehend - und sie ihm verfallen. Irgendwann hatte sie sich in ihn verliebt, und jetzt konnte sie ihm nicht mehr die Wahrheit über sich selbst gestehen. Das Risiko schien ihr zu groß, denn wenn er sie zurückwies, würde sie das kaum verkraften. „Ich sprach gerade von Brother Twelfth, der diese Gegend Cedar-by-the-Sea getauft hat. Hast du nicht zugehört?" Sie befeuchtete sich die Lippen. „Doch, natürlich. Ich war nur kurz etwas abwesend. Wer war dieser Brother Twelfth noch mal?" Anthony sah Allie gereizt an. Dann erklärte er ihr jedoch alles noch einmal. Brother Twelfth war eine Art Sektenführer gewesen, der gegen Ende der zwanziger Jahre auf Vancouver Island eine Kommune errichtet hatte, wo seine Anhänger lebten. Später zog die Gemeinschaft auf eine der Inseln vor der Küste. Schließlich setzte Anthony seine Kaffeetasse ab, bedeutete Allie, ihm zu folgen, und trat an das Geländer, um ihr etwas zu zeigen. „Du kannst die Insel von hier aus sehen - nein, nicht die, sondern die dort rechts." Er legte den Arm um ihre Taille, um Allie besser hinweisen zu können. Das erwies sich für sie allerdings als wenig hilfreich. Sie spürte seinen harten, muskulösen Arm und nahm nichts anderes mehr wahr als Anthonys Nähe. „Unglücklicherweise war Brother Twelfth mehr an dem Geld der Sektenmitglieder als an ihrem Seelenheil interessiert. Er verdiente Tausende von Dollars an ihnen, und als nichts mehr zu holen war, wollte er sie aus der Siedlung vertreiben. Am Ende taten sie sich gegen ihn zusammen, und er musste fliehen. Doch zuvor sprengte er die meisten Häuser der Kommune in die Luft. Seither hat man nichts mehr von ihm gehört, aber es geht die Sage, dass sein Goldschatz entweder hier in Cedar oder auf seiner Insel vergraben ist. Keiner hat ihn je gefunden, so viele auch gesucht haben." Eine Zeitlang sahen Anthony und Allie hinaus auf die Insel des geheimnisvollen Brother Twelfth. Allie fühlte die Wärme von Anthonys Arm, der um ihren Körper lag, durch ihr dünnes Kleid hindurch. Langsam hob er auch den anderen Arm, umfasste ihre Taille, zog Allie an sich. Sie spürte Anthonys Atem in ihrem Haar und befahl sich, ihren Gefühlen nicht nachzugeben. Jetzt, wo sie wusste, dass sie Anthony liebte, befürchtete sie, sich durch eine Reaktion zu verraten. Während Anthony Allie so drehte, dass er sie ansehen konnte, sagte sie hastig: „Du hast deine Geschichte nicht fertig erzählt. Was war mit Brother Twelfth' verhängnisvoller Anziehungskraft auf Frauen?" Sein Blick hielt ihren fest. Anthony merkte, dass sie auswich und versuchte, ihn davon abzuhalten, sie zu küssen. Sie bebte innerlich, sehnte sich danach, seine Lippen auf ihren zu spüren, aber als er sie, Allie, am Morgen geküsst hatte, war das nur ein Scherz gewesen. Sie hatte es allerdings alles andere als lustig gefunden. Anthony lächelte. „Offenbar waren die meisten Anhänger von Brother Twelfth weiblichen Geschlechts. Es gibt da eine Geschichte von einer sehr respektablen jungen Frau, die mit einem
Bankier aus New York verheiratet war. Sie traf Brother Twelfth auf einer Zugfahrt und geriet in seinen Bann, verließ ihren Mann und folgte dem Sektenoberhaupt auf seine Insel, um dort zu leben." Er senkte den Kopf, und Allie spürte Anthonys Atem an der Schläfe. „Wie findest du die Vorstellung, die Liebe auf einer wunderschönen Insel zu erleben, Allie?" Der Klang seiner Stimme betörte sie. Sie wandte das Gesicht ab und merkte, wie ihr Mund trocken wurde. Sie wollte nicht, dass Anthony die Antwort in ihren Augen las und herausfand, dass für sie, Allie, die Liebe auch mitten in der Wüste herrlich sein würde.' Nur eines war wichtig, nämlich Anthony dabei als Partner zu haben. Er hob mit einem Finger Allies Kinn und drehte ihr Gesicht wieder zu seinem. Sie senkte die Lider, fühlte gleich darauf, wie sein Mund sich sanft auf ihren legte, und wusste, dass sie verloren war. Sie konnte Anthony einfach nicht von sich stoßen. Einladend öffnete sie die Lippen. Doch er nutzte die Chance nicht. Statt dessen ließ er die Arme sinken und trat einen Schritt zurück. Allie sah ihn verwirrt an. Er lächelte ein bisschen schief und sagte: „Ich glaube, ich gehe besser hin, ehe Jason noch aufwacht. Mrs. Dorcus sieht wahrscheinlich in ihrem Zimmer fern und hört es nicht." Allie fragte sich, wovon er redete. Im nächsten Augenblick vernahm sie das Klingeln der Türglocke, das aus dem Inneren des Hauses nach draußen drang. Anthony nickte Allie entschuldigend zu und trat durch die Tür zum Wohnzimmer ins Haus. Allie seufzte leise, dann schnitt sie eine Grimasse. Das Klingeln hatte sie gerettet. Der Kuss war bereits zu Ende gewesen, ehe er richtig begonnen hatte, und so war es ihr erspart geblieben, sich zum Narren zu machen, indem sie dahinschmolz wie Eis in der Sonne. Und dennoch war sie nicht allzu froh, dass der unbekannte Besuch die Szene unterbrochen hatte.
Allie war zur Verandatür gegangen und dort stehengeblieben. Anthony und sein Gast waren zwar noch im Flur, aber Allie hörte das Gespräch trotzdem. „Nun, ich bin nicht direkt beschäftigt, aber ich habe Besuch", sagte Anthony. „Allie Smith ist zum Dinner herübergekommen." „Allie Smith?" fragte eine Frau mit scharfer Stimme. „Ist das nicht die Freundin von Alexandra, die dich überredet hat, ihr die Hütte zu vermieten?" „Ja, Allie hat das Häuschen gemietet." „O Anthony?" Nun klang die Frauenstimme scheltend, und jetzt erkannte Allie, dass Elaine sprach. „Ich dachte, du hättest dir soviel Mühe mit der Einrichtung gemacht, um sie davon abzuhalten, dauernd herüberzukommen und dir auf die Nerven zu gehen?" „So habe ich das nie ausgedrückt", erwiderte Anthony. Allie, in der das Gefühl der Demütigung immer stärker wurde, fragte sich, was genau er gesagt haben mochte. Es musste schon etwas in dieser Richtung gewesen sein, sonst hätte Elaine es nicht so auffassen können. Anthony fuhr fort: „Ich habe sie zum Essen eingeladen. Sie ist gerade erst eingezogen und hat sich noch gar nicht häuslich einrichten können." Das Paar betrat das Wohnzimmer. Allie stand mitten in der Verandatür, aber Elaine achtete nur auf Anthony und bemerkte Allie nicht. „Du solltest nicht zulassen, dass die Leute dich ausnützen. Vermutlich wird sie in Zukunft dauernd herüberkommen und erwarten, dass du dich um sie kümmerst", orakelte Elaine. „Nimm dich ihrer bloß nicht zu sehr an. Du bist einfach viel zu weichherzig. Manchmal glaube ich, du brauchst jemanden, der auf dich acht gibt!" Und wir wissen wohl alle, wer dieser Jemand sein sollte, dachte Allie bitter. Die Kommentare ihrer Rivalin verletzten sie tief. In diesem Moment erblickte Elaine Allie, und ihr Gesicht rötete sich. Dann rief sie aus: „Ach, hallo, Allie! Anthony und ich sprachen gerade über eine gemeinsame Bekannte." Es entstand ein peinliches Schweigen, in dessen Verlauf Elaine ihre Fassung
wiedergewann. Ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich, und schließlich rang sie sich ein einnehmendes Lächeln ab und fragte freundlich: „Wie geht es Ihnen? Ich hörte, Sie seien heute eingezogen." Allie war wütend über die offensichtliche Falschheit der anderen und gab nur eine kurze Antwort, ehe sie sich Anthony zuwandte. Im Gegensatz zu Elaine sah er etwas verstört aus. Das lag entweder daran, dass er wusste, sie, Allie, konnte Elaines lahme Erklärung kaum für bare Münze genommen haben, oder aber daran, dass ihm die ganze Situation unangenehm war. Schließlich war es seiner Freundin gewiss nicht recht, dass er eine andere Frau zum Essen eingeladen hatte. Und es hat ja nicht nur ein Essen auf dem Programm gestanden, dachte Allie. Wer weiß, was Elaine unterbrochen hätte, wäre sie eine halbe Stunde später gekommen. An Elaine hatte Allie jedenfalls keinen Gedanken verschwendet, während Anthony sie auf der Veranda in seinen Armen hielt, und er selbst offenbar genauso wenig. Anthony ist ein ganz schön mieser Charakter, fand Allie nun. Er war ihr gar nicht wie ein Casanova vorgekommen, der nichts anbrennen ließ, aber wie Alexandra ihr immer sagte, wusste sie von Männern nicht allzuviel. Ihr war jedoch bekannt, dass es allgemein hieß, Elaine sei Anthonys Freundin. War ihm eine Frau nicht ge nug?" „Es ist so ein herrlicher Abend, da dachte ich mir, ich komme einfach vorbei und lade mich selbst zum Kaffee ein", fuhr Elaine fort, die düstere Stimmung ignorierend, die sich über das Zimmer gesenkt hatte. Vertraulich hakte sie sich bei Anthony ein. „Habt ihr schon welchen getrunken?" „Ja, allerdings, aber ich glaube, wir könnten noch eine Tasse vertragen." Anthony wand geschickt seinen Arm aus Elaines. „Ich werde weiteren aufbrühen und ein paar Tassen bringen." Man sah ihm an, wie erleichtert er war, einen Grund zu haben, sich zurückzuziehen. Bevor er jedoch hinausgehen konnte, sagte Elaine: „Oh, hat Mrs. Dorcus schon Feierabend?" „Ja. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie heute nicht mehr brauchen würde." „Wirklich, Anthony, du verdirbst die Frau", schalt Elaine, ohne zu beachten, dass es fast halb zehn Uhr abends war und die Haus hälterin ihren Tag um sieben Uhr früh begann. Elaine trat zu Anthony, hängte sich wieder bei ihm ein und drückte dabei leicht seinen Arm. „Ich werde den Kaffee machen." Sie wandte sich Allie zu. „Ich habe eine besondere Art, ihn zuzubereiten. Er schmeckt ausgesprochen köstlich, wenn ich das selbst sagen darf." Allie hatte nicht die Absicht, den Rest des Abends zuzusehen, wie Anthony von seiner Freundin verhätschelt und umsorgt wurde - mochte ihr Kaffee auch noch so herrlich sein. „Vielleicht habe ich ein andermal die Möglichkeit, ihn zu versuchen", erwiderte Allie und ergriff die Gelegenheit zur Flucht. „Ich muss noch viel einräumen und sollte mich langsam wieder an die Arbeit machen." „Natürlich, ich verstehe", erwiderte Elaine liebenswürdig. Nicht, dass Allie Widerspruch von ihrer Seite erwartet hätte. Sie erwartete auch keinen Protest von Anthony, aber in dieser Hinsicht irrte sie sich. „Du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich komme morgen früh herüber und helfe dir beim Einräumen." Es lässt sich schwer sagen, welche der beiden Frauen von diesem Angebot verblüffter war. Elaine erholte sich zuerst von der Überraschung. „Was für eine nette Idee. Ich komme auch, habe morgen ohnehin nicht viel vor. Wissen Sie, Allie, als ich Anthony beim Einrichten zur Hand ging, hatte ich schon eine Vorstellung, an welche Plätze die einzelnen Dinge geräumt werden sollten. Wenn ich Ihne n morgen helfe, findet alles seinen richtigen Platz." „Ich möchte Ihnen nicht solche Mühe machen", entgegnete Allie. Ihr gefiel die Wendung ganz und gar nicht, die die Dinge genommen hätten. Lieber hätte sie die nächsten drei Monate aus dem Koffer gelebt, statt von Elaine vorgeschrieben zu bekommen, wo hin sie ihre Töpfe tun sollte.
„Von Mühe kann keine Rede sein. Wahrscheinlich wird es sogar Spaß machen." Allie seufzte insgeheim. Wie konnte sie Elaine nur von dieser Idee abbringen? Allie warf Anthony einen flehenden Blick zu, aber Anthony schien ihre Schwierigkeiten gar nicht wahrzunehmen. Wahrscheinlich dachte er sogar, ihr läge etwas an Elaines Hilfe. Männer waren manchmal ganz schön beschränkt. Allie machte einen letzten verzweifelten Versuch, sic h aus der Zwickmühle herauszuwinden, in der sie sich befand. „Wahrscheinlich habe ich morgen früh ohnehin schon alles erledigt. Ich bin gerade in der richtigen Stimmung, mich an die Arbeit zu machen." Sie durchquerte den Raum, um ihre Handtasche vom Couchtisch zu holen, packte sie mit den Händen und wandte sich dann dem Paar wieder zu. „Einen schönen Abend noch - und genießen Sie Ihren Kaffee." „Du bist heute umgezogen und brauchst ein wenig Erholung", protestierte Anthony. „Außerdem ist es zu spät zum Einräumen." Sie hätte ihn am liebsten erwürgt. Er trat zu ihr, wollte ihr die Tasche aus der Hand nehmen, doch Allie hielt sie fest umklammert. „Ich gehe jetzt, Anthony", sagte sie energisch und sah, wie ein Anflug von Ärger auf seinem Gesicht erschien. „Mach dir keine Gedanken um das Einräumen. Ich komme schon damit zurecht. Danke für das Dinner. Es war nett, Sie zu sehen, Elaine." Ihr gelang ein Lächeln. Anthony versuchte nicht länger, sie zurückzuhalten, wollte sie aber nach Hause bringen. Auf ihren Widerspruch hin wies er in Richtung Fenster. „Der Pfad ist holperig, und es ist schon fast dunkel, also komme ich mit dir. Elaine kann in der Zwischenzeit den Kaffee zubereiten." Anthony hat kein diplomatisches Talent, dachte Allie auf dem Heimweg. Weder Elaine noch sie war mit der neusten Entwicklung der Dinge glücklich. Schweigend gingen Anthony und Allie bis zum Fuß der Klippe. Dort blieb Anthony stehen. Da er die Taschenlampe hielt und der Pfad zwischen den Bäumen einem rabenschwarzen Tunnel glich, hatte Allie keine andere Wahl, als ebenfalls anzuhalten. „Allie, geh bitte gleich zu Bett. Du musst doch müde sein", erklärte er. „Elaine und ich helfen dir morgen früh gerne beim Einräumen." Sie erkannte trotz des nur schwachen Lichtscheins, dass er sie anlächelte, ärgerte sich jedoch, dass er das Thema nicht einfach fallenlassen konnte. „Ich komme schon allein klar", schnappte sie. Und sich auf Elaines Worte beziehend, fügte sie hinzu: „Ich möchte dein weiches Herz nicht ausnutzen." Anthony sah auf Allie herab. Dann hörte sie ihn seufzen. „Es tut mir leid, dass du Elaines Bemerkungen gehört hast. Bitte nimm sie nicht zu ernst. Elaine hat eine Neigung, mich zu bemuttern. Vor einigen Jahren war sie meine Sekretärin, und sie hat es sich wohl nie richtig abgewöhnt, über meine Zeit zu bestimmen." „Wie schön für dich", höhnte Allie. Und da fand Anthony sie, Allie, dumm! Jeder Narr konnte erkennen, dass Elaines Gefühle alles andere als mütterlich waren, ebensowenig Zeichen anhaltender Loyalität für den einstigen Arbeitgeber. Elaine wollte nicht, dass Anthony etwas für sie, Allie, tat, so wie es keiner Frau gefallen hätte, wenn ihr Mann sich einer anderen zuwenden würde. „Allie, könntest du nicht von deinem hohen Ross herabsteigen und Elaine auf halbem Weg entgegenkommen? Ich weiß, sie bereut, was sie gesagt hat. Ich hatte gehofft, du würdest dich mit ihr verstehen. Elaine fällt es nicht leicht, Freunde zu finden, weil sie gelegentlich etwas zu offen redet. Sie wollte wirklich deine Gefühle nicht verletzen. Als sie dir anbot, dir morgen früh zu helfen, wollte sie es wiedergutmachen." Ach du liebes bisschen, sie will dich nur nicht aus den Augen lassen, mein Lieber! dachte Allie. „Könntest du sie nicht als deine Freundin annehmen?" redete Anthony Allie zu. „Nein, das könnte ich nicht!" stieß sie hervor. Etwas ruhiger fuhr sie fort: „Sieh mal, Anthony, du hast mich gebeten, dir nicht auf die Nerven zu gehen. Das habe ich nicht vor, und ich würde es sehr begrüßen, wenn auch du mir nicht auf die Nerven gehen würdest."
„Allie!" „Ich" möchte jetzt nach Hause." Einen Augenblick lang schwieg er, und Allie spürte, wie sein Ärger wuchs. Plötzlich drückte er ihr die Taschenlampe in die Hand. „Du kannst gern gehen. Tut mir leid, dass ich dich aufgehalten habe." Anthony drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in der Dunkelheit. Am folgenden Tag räumte Allie ihre Sachen ein. Es war eine mühsame Arbeit, aber ihr war es lieber, sie allein zu verrichten, als zusehen zu müssen, wie Elaine alles an die „richtigen" Plätze tat. Den Rest der Woche widmete Allie der Aufgabe, ihr Büro einzurichten. Sie war nicht mehr angestellt, brauchte aber ein Projekt, an dem sie den Sommer über arbeiten konnte. Es erschien ihr nicht mehr so faszinierend, ein reges Gesellschaftsleben zu führen, und sie fühlte sich rastlos. Die Arbeit war in ihrem Leben immer das wichtigste gewesen, und sie konnte jetzt nicht abrupt damit aufhören. Daher überlegte Allie, was für eine Art Computerprogramm sie in freiberuflicher Tätigkeit entwickeln könnte. Es bot sich eine Reihe von Möglichkeiten, die sie sondieren musste. In der Holzindustrie bestand Bedarf nach einem Programm, das Stimmimpulse verstehen und verarbeiten konnte, die von einem Walkie- Talkie kamen. Das sollte den Angestellten helfen, die die Wälder durchkämmten, um die Menge der Bäume zu bestimmen, die geschlagen werden sollten. Die zweite Möglichkeit bot Allie eine größere Herausforderung. Die Lachszucht war ein wachsender Wirtschaftszweig in British Columbia. Per Echolot konnte man die Anzahl der Fische pro Tank bestimmen, aber man brauchte einen Computer, um die Daten zu analysieren. Die Entwicklung eines solchen Programms war nicht so einfach, wie es schien, da das Echolot nicht nur auf den Fisch reagierte, sondern auch auf etwaige Luftblasen im Tank. Das Programm musste also zwischen Fischen und Luftblasen unterscheiden können. Außerdem entstanden weitere Schwierigkeiten, wenn die Lachse zu dicht beisammen waren oder sich während der Messung von einem Ort zum anderen bewegten. Schließlich beschloss Allie, sich dem Problem des Lachszählens zuzuwenden. Es schien sehr anspruchsvoll und zeitraubend zu sein, und sie brauchte etwas, um ihre Zeit und ihre Gedanken auszufüllen. Ihre Beziehung zu Kevin hatte einige Wunden hinterlassen, aber die waren schnell geheilt, als Allie nach Vancouver Island gekommen war. Sie dachte nur noch selten an ihn - und wenn sie es tat, fragte sie sich, was sie je an ihm hatte finden können. Leider würde sie über die Sache mit Anthony nicht so leicht hinwegkommen. Allie versuchte sich zwar einzureden, dass es sich nur um eine weitere oberflächliche Verliebtheit handelte, aber im Grunde wusste sie, dass ihre Gefühle eine Tiefe hatten, die sie für Kevin nie empfunden hatte. Anthony zu vergessen, war weit schwieriger. Es half ihr auch nicht gerade, dass er so nahe wohnte. Sie ent deckte, dass sie die Veranda und den Anlegeplatz von Anthbnys Haus sehen konnte, wenn sie aus dem Bodenfenster schaute. So vermochte sie festzustellen, ob Anthony daheim war oder nicht, abgesehen davon, dass sie ohnehin morgens und nachmittags -meist das Geräusch des Wasserflugzeugs hörte. Am Donnerstag abend gab sie einer Schwäche nach: Anthonys Taschenlampe lag noch immer in der Küche, und obwohl Allie sich geschworen hatte, Anthony nicht nachzulaufen, machte sie sich abends auf den Weg, die Lampe zurückzubringen. Sein Flugzeug war vor einiger Zeit gekommen, daher wusste Allie, dass er daheim sein musste. Während sie darauf wartete, dass Anthony die Tür öffnete, überlegte Allie, was sie ihm sagen wollte. Ob er wohl mit einer Entschuldigung für den Streit am Samstag abend rechnete? Da Elaine daran die Hauptschuldige war, fühlte Allie sich nicht besonders reuig, aber sie beschloss, trotzdem etwas in der Richtung zu sagen, da sie wollte, dass Anthony und sie sich
wieder verstanden. Sie hatte sein Hilfsangebot sehr grob zurückgewiesen. Mrs. Dorcus kam an die Tür. Anthonys Haushälterin war schlank und hager und musste in den Fünfzigern sein. Ihr Gesicht war scharf geschnitten, ihr braunes Haar von Grau durchzogen und zu einem strengen Knoten geschlungen. Schwer zu glauben, dass Jason diese Frau um den Finger gewickelt haben sollte, wie Anthony behauptet hatte. „Miss Smith, wie geht es Ihnen?" grüßte Mrs. Dorcus höflich und trat zurück, um Allie einzulassen. „Ich wollte nur Anthonys Taschenlampe vorbeibringen", erklärte sie ein bisschen verlegen. Im Haus herrschte Stille, und Allie sah über die Schulter der Haushälterin, dass das Wohnzimmer offenbar verlassen war. War Anthony ausgegangen, vielleicht mit Elaine? Allie musste es wissen. „Ich möchte gerne ein paar Worte mit Anthony sprechen, wenn er daheim ist", sagte sie, während sie Mrs. Dorcus die Taschenlampe reichte. Die Haushälterin erwiderte steif: „Er hält sich in seinem Arbeitszimmer auf. Ich werde ihm mitteilen, dass Sie hier sind." „So wichtig ist es nicht", murmelte Allie, aber Mrs. Dorcus hatte sich bereits abgewandt. Allie spürte ein flaues Gefühl im Magen. Anthony würde bestimmt ärgerlich sein, einen Teil seiner kostbaren Arbeitszeit opfern zu müssen, um mit ihr, Allie, zu reden. Sie sah, wie Mrs. Dorcus am Ende des Ganges an eine Tür klopfte und gleich darauf das Zimmer betrat. Eine Minute später kam die Haushälterin zurück. Entweder lag es an Allies Einbildung, oder Mrs. Dorcus' strenge Züge hatten wirklich einen noch kälteren Ausdruck angenommen. „Leider ist Mr. Summerville im Augenblick sehr beschäftigt. Er schlägt vor, dass Sie mir eine Weile Gesellschaft leisten, dann wird er Zeit für Sie haben. Kann ich Ihnen irgend etwas anbieten? Tee, Kaffee?" „Oh, machen Sie sich bitte keine Mühe. Ich gehe wieder. Wie ich sagte, es ist nicht so wichtig." Allie schlüpfte hinaus. Anthony würde nicht davon ausgehen, dass sie wartete. Warum war sie nur gekommen, nachdem er ihr des öfteren klargemacht hatte, dass er ein vielbeschäftigter Mann sei, der nicht gerne belästigt wurde? Sie war eine außergewöhnlich intelligente Frau, warum schaffte sie es dann nie, sich so zu benehmen, wenn Anthony ins Spiel kam? Nach ihrer Rückkehr saß Allie lange Zeit auf dem rosa Sofa, das Elaine ausgesucht hatte. Es gefiel Allie überhaupt nicht mehr. Die Schatten wurden länger, und schließlich senkte sich die Dunkelheit über das Zimmer. Erst gegen Mitternacht gelang es Allie, sich aufzuraffen. Es half nichts, zu brüten und in Selbstmitleid zu versinken. Gut, sie liebte Anthony, und er liebte sie nicht, schien sie nicht einmal besonders gern zu haben. Nun, sie hatte immer noch ihre Arbeit. Allie wusste, dass sie nicht würde einschlafen können und stieg auf den Dachboden, um sich an ihren Computer zu setzen. Greg, der Kontakte zum Fischereiwesen hatte, hatte ihr einige Daten verschafft, die sie für ihr Fischzählprogramm benötigte. Statt Anthony nachzurennen, hätte sie zu Hause bleiben und sie in ihren Computer eingeben sollen. Sie würde das heute nacht tun.
6. KAPITEL
Am nächsten Nachmittag hatte Allie schreckliche Kopfschmerzen. Die Zeichen auf dem Bildschirm des Computers, die sie normalerweise so faszinierten, verschwammen ihr vor den Augen. Natürlich hatte sie wieder mal vergessen, Tabletten zu besorgen, und so musste sie die Schmerzen ertragen. Schließlich gab Allie die Arbeit auf und ging hinunter, um sich eine Weile hinzulegen. Die Nacht davor hatte sie nur zwei oder drei Stunden geschlafen. Ein bisschen Ruhe würde ihr sicher guttun. Aber sie konnte sich nicht entspannen. In dem kleinen Schlafzimmer herrschte drückende Hitze, die das Klopfen in ihren Schlä fen noch verstärkte. Sie setzte sich im Bett auf und sah böse zum Fenster hin. Beim Streichen der Hütte war das Fenster mit Farbe zugeklebt worden. Allie hatte schon einige Male versucht, es zu öffnen, aber ohne Erfolg. Ich kriege es schon irgendwie auf, schwor sie sich und schwang die Beine über die Bettkante. Allie besaß kein Werkzeug! Nicht einmal einen Schraubenzieher. Deshalb nahm sie aus der Besteckschublade ein scharfes Messer und holte sich draußen einen Stein, der als Hammer dienen konnt e . Die Hintertür ließ sie dann offen, weil sie hoffte, dass ein Teil der Hitze im Schlafzimmer dadurch verfliegen würde. Dann machte Allie sich daran, am Fenster zu hantieren. Sie benutzte das Messer wie einen Meißel und klopfte sachte mit dem Stein darauf, um die Farbe zu zerstoßen, die das Fenster versiegelte. Als die Unterseite farbfrei war, legte Allie die provisorischen Werkzeuge beiseite und versuchte, es aufzumachen. Vergeblich. Verdammt, es ging immer noch nicht! Ungeduldig wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und setzte das Messer an der Seite des Rahmens an. Heftig hieb Allie mit dem Stein darauf. Das runde Felsstück rutschte am Ende des Messers ab und knallte durch die Fensterscheibe, die zerbrach. „Zum Teufel!" fluchte Allie und zog die Hand zurück, in der sie den Stein hielt. Das Loch in der Scheibe hatte scharfzackige Ränder, und als Allie den Stein ansah, merkte sie, dass ihre Hand blutig war von einem über zehn Zentimeter langen Schnitt, der über den Handrücken und das Handgelenk ging. „Verdammt!" Der Schmerz kam plötzlich. Allie ließ den Stein fallen, schrie leise auf, stolperte hinüber zum Bett und setzte sich darauf, wobei sie die verletzte Hand an sich presste. Mehrmals atmete Allie tief durch, dann drehte sie den Arm vorsichtig, um noch einen Blick auf den Schnitt zu werfen. Nun ließ sie auch das Messer fallen, das sie noch in der linken Hand gehalten hatte, und umklammerte mit ihr das rechte Handgelenk. Sie musste die Augen einen Moment lang schließen, um ein drohendes Gefühl der Ohnmacht abzuwehren, danach machte sie sich ihre Lage klar. Auf der Hand hatte sie kaum mehr als einen Kratzer. Auf der Innenseite des Handgelenks war die Wunde jedoch ziemlich tief und das Blut spritzte heraus, sowie sie die Hand wegzog. Die Verletzung musste sofort genäht werden, aber wie und von wem? Das Telefon war noch nicht angeschlossen, und an Autofahren war in diesem Zustand gar nicht zu denken. Es schien, als müsse sie hier verbluten, denn sie war sich ziemlich sicher, dass sie eine Schlagader getroffen hatte. Allie riss sich zusammen. Sie durfte sich nicht gehen lassen. Da sie niemanden zu Hilfe rufen konnte, würde sie sich eben selbst helfen müssen. Sehr langsam stand sie auf. Einen Augenblick lang schien sich der Raum um sie zu drehen, dann wurde es besser. Sie hielt die linke Hand fest oberhalb der Wunde und trat an die Kommode. Aus der Wäscheschublade nahm Allie ein Paar Strumpfhosen und kehrte damit zum Bett zurück. Als sie wieder saß, streckte sie den verletzten Arm aus und blinzelte, um die Tränen zu vertreiben, die bei dieser schmerzhaften Bewegung in ihre Augen stiegen. Ungeschickt wand sie die Strumpfhose um den Arm, um ihn abzubinden. Die Finger wollten Allie nicht recht
gehorchen, und sie schaffte es nicht, die Enden zu verknoten. Schließlich geriet das glatte Material sogar ins Rutschen und fiel zu Boden. Trotz allem Realismus verfiel sie langsam in Panik. Krampfhaft versuchte Allie, sich einen Moment lang zu sammeln. Sie atmete wieder tief durch, wobei sie mit der unverletzten Hand Druck auf die Wunde ausübte. Dabei spürte Allie, wie ihr immer leichter im Kopf wurde. Nein, sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden! „Was machst du da?" Als Jason das erstemal ohne Ankündigung in ihr Haus geplatzt war, hatte sie ihn für ein ungezogenes Gör gehalten. Diesmal hätte sie ihn am liebsten geküsst, als sie ihn in der Tür stehen sah. „Jason, ist dein Vater daheim?" Er zuckte die Achseln und trat ins Zimmer. Eilig hielt Allie ihn auf. „Komm nicht näher." Sie drehte sich so, dass er ihren Arm nicht sehen konnte. Es war kein Anblick für ein Kind. „Jason, bitte lauf rasch nach Hause und hol deinen Dad oder Mrs. Dorcus. Sag, einer von beiden soll schnell hierherkommen." „Warum?" Allie befeuchtete sich die Lippen. Sie hatte ganz vergessen, dass Jason die aufreizende Angewohnheit hatte, jede Bitte in Frage zu stellen. „Ich möchte nur mit einem von ihnen sprechen. Könntest du mir nicht diesen Gefallen tun?" „Aber wieso?" „Bitte geh jemanden holen, Jason, bitte", flehte Allie. Sie hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Ihr wurde kalt, und das hatte nichts mit der frischen Luft zu tun, die durch das zerbrochene Fenster hereinströmte. Wahrscheinlich fällt mein Blutdruck wegen des Blutverlustes, dachte Allie. Sie blickte auf ihren Arm herab. Durch die Finger der linken Hand sickerte Blut. Als Allie wieder aufsah, merkte sie, dass Jason genau vor ihr stand. Er schaute verwirrt auf ihr Handgelenk herab. „Du hast dich verletzt." Das klang erschrocken, aber nicht verstört, glücklicherweise. „Ich hab mich mal am Knie verletzt, und da hat Dad mir einen Verband angelegt. Soll ich ihm sagen, er soll dir auch einen anlegen?" Allie nickte, und Tränen der Erleichterung schössen ihr in die Augen. Sie hatte schon geglaubt, Jason wolle den ganzen Tag mit ihr diskutieren. Der Junge wandte sich zum Gehen, und in diesem Augenblick hörten sie, wie draußen nach Jason gerufen wurde. „Da ist Dad!" verkündete das Kind und flitzte aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später hörte Allie, wie Anthony und sein Sohn die Hütte durch die Küche betraten. „Nun beeil dich doch, Dad", sagte Jason. „Sie muss ..." „Hatte ich dir nicht befohlen, Miss Smith in Ruhe zu lassen?" unterbrach Anthony ihn streng. „Aber Dad, sie braucht einen Verband!" Jason zog seinen Vater an der Hand zum Schlafzimmer. Allie sah Anthony entgegen und lächelte scheu. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, was für einen beruhigenden und verlässlichen Eindruck er machte, und ihre Angst verflog. Wenn es darauf ankam, konnte man sich auf ihn verlassen. „Es tut mir leid, dass Jason wieder hergekommen ist", begann Anthony und blieb im Türrahmen stehen. „Er ist mir entwischt." Er lächelte ein wenig schief. „Ich war froh über sein Erscheinen, denn ich habe wirklich einen Verband nötig", erwiderte Allie. Sie setzte sich so, dass er ihren Arm sehen konnte. Ein paar Sekunden lang blickte Anthony darauf nieder, das Lä cheln verschwand jäh von seinem Gesicht. Dann kam er mit schnellen Schritten zu ihr. „Was ist passiert?" Allie schluckte. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte - die Geschichte von dem Stein, dem Messer und dem Fenster musste ziemlich schwachsinnig klingen. Es war nicht schwer zu
verstehen, warum Anthony sie für eine dumme Blondine hielt. Das war sie in vieler Hinsicht wirklich. Sein Blick war von ihrem Arm zum Fußboden neben dem Bett gewandert. Nun bückte Anthony sich und hob das Messer auf. Sie fühlte sich zerknirscht, als sie sah, dass eine Menge Blut auf den grauen Teppich getropft war. „Es tut mir wirklich leid, Anthony. Ich weiß, dass der Teppichboden neu ist." Anthonys Gesicht hatte alle Farbe verloren, und in seinen Augen lag ein seltsamer Ausdruck. Verdammt, Anthony würde doch jetzt nicht etwa in Ohnmacht fallen? Viele Menschen, auch große, kräftige Sportler, konnten kein Blut sehen. „Ich glaube, ich hätte das im Bad machen sollen, da hätte es nicht so eine Bescherung gegeben", meinte Allie kläglich. „Ja", stimmte er grimmig zu. Er hatte die Zähne zusammengebissen, und eine kleine Ader klopfte an seiner Schläfe. Aber wenigstens sah er nicht mehr so aus, als würde er gleich umfallen. „Ja, normalerweise macht man so etwas im Bad," wiederholte er dann noch mal. Dann legte er den Arm um Allie und half ihr auf die Füße. Nun musste sie die Zähne zusammenbeißen, denn die Bewegung war schmerzhaft. " „Komm jetzt mit ins Bad. Ich werde dich verbinden und danach ins Krankenhaus fahren." Anthony blickte seinen Sohn an. „Du gehst heim und bleibst bei Mrs. Dorcus. Sag ihr, ich weiß nicht, wann ich wiederkomme." „Danke, dass du gewartet hast, aber ich muss die ganze Nacht hierbleiben." Mit der linken Hand zupfte Allie am Bettbezug, hörte aber auf, als sie einen stechenden Schmerz verspürte. Die rechte Hand war vollkommen eingewickelt, in der linken stak die mit Leukoplast befestigte Infusionsnadel. Anthony erwiderte nichts, deswegen fuhr Allie fort: „Ich hasse Krankenhäuser. Ich wünschte, ich könnte heimgehen." Sie wusste, dass sie sinnlos daherredete, doch sie fühlte sich so verlegen, dass sie nicht anders konnte. Was sagte man zu jemandem, der einem wahrscheinlich das Leben gerettet hatte? Anthony hatte sie vor ein paar Stunden in die Ambulanz gebracht. Dort musste eine Reihe von Formularen ausgefüllt werden. Das erwies sich als kompliziert, weil Allie erst seit kurzem in British Columbia wohnte und noch in der Krankenkasse einer anderen Provinz versichert war. Anthony bewältigte die bürokratischen Auflagen, denn Allie schaffte das nicht. Sie fühlte sich schrecklich, wegen der Schmerzen und dem Blutverlust. Das mochte auch der Grund gewesen sein, warum Allie dann so rebellisch geworden war. Der Arzt wollte, dass Anthony das Zimmer verließ, ehe die Wunde genäht wurde, doch Allie hielt ihn verzweifelt mit der unverletzten Hand fest, um ihn am Hinausgehen zu hindern. Schließlich durfte er bleiben. Erst kurz bevor die Krankenschwestern sie wuschen und in eines dieser Schrecklichen Nachthemden steckten, hatte sie ihn gehen lassen. Man verpasste ihr hoch eine Spritze, und daraufhin war Allie eingeschlafen. Sie hatte nicht erwartet, Anthony nach dem Erwachen noch vorzufinden, er saß jedoch auf dem Stuhl neben ihrem Bett, wie sie sah, als sie die Augen öffnete. „Krankenhäuser sind gar nicht so schlimm", meinte Anthony jetzt. „Vielleicht solltest du ein paar Tage hierbleiben." Sie verzog das Gesicht. „Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Morgen geht es mir bestimmt wieder gut. Man will mich nur wegen der Infusion hierbehalten." Er zögerte, und sie sah ihn fragend an. Schließlich erkundigte er sieh: °Geht es dir jetzt wirklich besser?" „Natürlich." Sie gestand sich ein, dass sie es schön fand, wie er sich um sie sorgte. Die Versuchung war groß gewesen, sich den Anschein von Schwäche zu geben, aber das entsprach nicht ihrer Art. „Morgen bin ich wieder vollkommen fit", versicherte Allie ihm fröhlich. Er schien das zu bezweifeln, verfolgte das Thema jedoch nicht weiter. „Neulich abends
hättest du warten sollen. Ich führte gerade ein sehr wichtiges Telefonat, als Mrs. Dorcus kam und mir sagte, dass du mich sprechen wolltest. Wenn du fünf Minuten gewartet hättest..." „Es war nicht so wichtig, und ich wollte dich nicht stören." Verzweifelt erwiderte er: „Hätte ich seinerzeit doch bloß nicht zu dir gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte! Ich gebe zu, ich bin ein sehr beschäftigter Mann, aber für dich bin ich immer da." Sein Blick wanderte zu dem Verband. Dabei verfinsterte sich Anthonys Miene so sehr, dass Allie meinte, er gebe sich selbst die Schuld an dem Unfall. „Bitte, versprich mir, dass du das nächste Mal zu mir kommst, wenn du jemanden brauchst, mit dem du reden kannst, oder etwas benötigst. Ich nehme mir die Zeit, ganz bestimmt." Sie wunderte sich über ihn. „Gut", erwiderte sie sanft. Vielleicht gab er sich ja tatsächlich die Schuld an dem Unglück, obwohl dazu kein Anlass bestand. Selbst wenn das Verhältnis zwischen ihnen besser gewesen wäre, hätte sie sich nicht mit der Bitte an ihn gewandt, das Fenster zu öffnen. Ehe Allie Anthony das zu erklären vermochte, sagte er: „Ich möchte, dass du dir durch den Kopf gehen lässt, eine Zeitla ng hier im Krankenhaus zu bleiben. Um deine Nerven scheint es nicht gut bestellt zu sein, und die Leute hier können dir bestimmt helfen. Ich weiß, du hattest es in der letzten Zeit schwer, vor allem seit du arbeitslos bist. Alexandra hat auch einmal erwähnt, dass dir eine Beziehung gescheitert ist. Aber lass dich davon nicht unterkriegen!" Er lehnte sich vor und ergriff, auf die Infusion Rücksicht nehmend, vorsichtig Allies linke Hand und streichelte sanft die Finger. „Es gibt Menschen, denen etwas an dir liegt. Alexandra, Greg und ich... wir haben dich lieb. Dein Leben ist noch immer wertvoll." Allie hatte während seiner Rede vor Erstaunen den Mund geöffnet. Sie schloss ihn wieder, schluckte hart und fragte: „Wovon sprichst du?" Dann sah sie, dass Anthony wieder auf den Verband blickte. „Du denkst doch nicht etwa ... du kannst doch nicht glauben ... es war vielleicht eine Dummheit, aber ich wollte mich nicht umbringen! Der Stein rutschte ab und knallte gegen die Scheibe." „Was für ein Stein? Was für eine Scheibe? Ich habe nur eines gesehen, nämlich das Messer!" „Und du dachtest, ich wollte mir die Pulsadern aufschneiden?" rief sie empört. Ihr wurde bewusst, dass Anthony noch immer ihre Finger hielt, und sie zog sie zurück. Dabei funkelte sie ihn wütend an. „War es denn nicht so?" „Natürlich nicht! Das Fenster war mit Farbe verklebt, und ich wollte sie mit dem Messer durchbrechen, aber ich brauchte etwas zum Hämmern und holte mir einen Stein. Als er ausrutschte, stieß meine Hand durch das Loch in der Scheibe hinterher. Du musst doch bemerkt haben, dass die Scheibe kaputt ist!" Er schüttelte den Kopf, wirkte verblüfft und lange nicht mehr so grimmig wie zuvor. „Ich sah das ganze Blut und das Messer zu deinen Füßen ... alles andere ging vollkommen an mir vorbei." Anthony blickte Allie ins Gesicht, und ihr Arger verflog. Sie konnte Anthony einfach nicht länger böse sein. Er hat eine falsche Schlussfolgerung gezogen, die ihn offenbar ziemlich erschüttert hat, aber auch gestanden, dass ihm viel an mir liegt, dachte sie. Sie schrieb das nicht seinem Bedürfnis zu, sie wieder aufzubauen. Es hatte geklungen, als meine er es wirklich. Ein warmes Lächeln trat in ihre Augen. Doch plötzlich wurde sie von einem Zornesausbruch Anthonys überrascht. Er sprang auf und ging mit großen Schritten zum Fenster. Dort wandte er sich um und stieß hervor: „Warum hast du mich denn nicht gebeten, das Fenster für dich in Ordnung zu bringen?" „Ich wollte dich nicht stören." Er schnaubte und drehte ihr den Rücken zu. „Du gehst mir auf die Nerven, ob du willst oder nicht!" Was für eine Ungerechtigkeit! Allies Lippen begannen zu zittern, sie kämpfte dagegen an, in
Tränen auszubrechen. Leise schluchzte sie auf. Anthony fuhr herum. „Teufel noch mal!" fluchte er, kam zu ihr zurück und umfasste ihr Gesicht. Dann beugte er sich über sie und presste seine Lippen auf ihre. Der Kuss war fest und fordernd, und er überraschte Allie. Sie war nicht darauf vorbereitet, erwiderte ihn aber spontan. Anthony atmete schneller, stöhnte schließlich auf. Behutsam ließ er die Lippen nun über Allies Wange bis zur Schläfe gleiten. „O du, ich begehre dich so", flüsterte er. „Anthony..." Er küsste Allie wieder und genoss die süße Weichheit ihres Mundes. Nach einer kleinen Ewigkeit löste Anthony sich von Allie und blickte ihr in die Augen, die wie verschleiert wirkten. Sie begehrte ihn ebenfalls und machte eine Geste, um ihm zu verstehen zu geben, er solle sich wieder niederbeugen. Er seufzte. „Dies hier ist weder der richtigte Ort noch die richtige Zeit, Darling. Die Krankenschwester kann jederzeit hereinkommen und mich hinauswerfen." Er lächelte Allie an. Zart strich er über ihren Arm oberhalb des Verbands, der die Wunde bedeckte. „Du wirst Mühe haben, dich zu versorgen, bis das hier zugeheilt ist. Ich hole dich morgen früh ab und nehme dich für ein paar Tage mit, zu mir nach Hause." Das ging ihr ein wenig schnell. Wollte sie das? Fest stand, dass ihre Liebe zu Anthony echt war, doch Allie fürchtete auf einmal den nächsten Schritt. Von dem Punkt an war mit Kevin alles schiefgelaufen. Angenommen, sie schlief mit Anthony, und er fand sie ungenügend, unbefriedigend? „Vielleicht sollte ich Alexandra anrufen. Es wäre wohl besser, wenn ..." Sie verstummte, weil sie spürte, dass er sich wieder vor ihr verschloss. „Ich habe Alexandra bereits von deinem Unfall verständigt. Bei ihr kannst du nicht bleiben. Das ganze Haus ist voller Gäste aus Ontario. Du wirst bei mir bleiben müssen, es sei denn... nun Elaine könnte vielleicht auf dich achtgeben." „Nein, danke." „Ach ja, ich hatte es vergessen. Du magst Elaine ja nicht besonders." Das stimmte. Doch plötzlich zweifelte sie daran, dass Elaine Anthonys Geliebte war. Er hatte sie zwar in Schutz genommen, sie aber keineswegs wie eine intime Freundin behandelt. Außerdem hätte er sie, Allie, sicher nicht so leidenschaftlich geküsst und eingeladen, sich eine Zeitlang bei ihm daheim zu erholen, wenn er eine feste Beziehung zu Elaine gehabt hätte. So ein Mann war er nicht. Allie antwortete nicht. Mit einemmal fühlte sie sich sehr müde. Das örtlich^ Betäubungsmittel, dass der Arzt gespritzt hatte, bevor er die Wunde nähte, verlor langsam die Wirkung, und Allie spürte ein schmerzhaftes Klopfen in der Hand. Schließlich brach Anthony das Schweigen. „Die Einladung vorhin bedeutete nicht, dass du das Bett mit mir teilen sollst, Allie. Du sollst nur bei mir zu Hause wohnen, bis deine Hand verheilt ist. Wenn du das Angebot nicht annehmen willst, dann lass es eben bleiben." Er ging zur Tür. „Anthony!" rief Allie ihm nach.. Er wandte sich um. „Ja?" Sie räusperte sich. „Wenn das Angebot noch gilt, möchte ich es gern annehmen." „Ja, es gilt noch", erklärte er, ohne seine Gefühle zu zeigen. „Dann... vielen Dank." „Ich hole dich morgen ab." Mit diesen Worten verließ Anthony den Raum. Allie lag still in den Kissen und versuchte, sich über ihre Empfindungen klarzuwerden, doch es gelang ihr nicht, sie war zu müde. Dennoch fand sie keinen Schlaf.
Anthony steuerte seinen Ford in eine Parklücke, schaltete die Zündung aus und wandte sich Allie zu. „Bist du dir sicher, der Arzt heißt es gut, dass du heute morgen wieder heimgehst?" Sie nickte. Dabei wünschte sie sich, sie könne ihr Gesicht vor Anthony verbergen. Sie wusste, sie sah nicht gut aus, hatte Schatten unter den Augen, weil sie sich die ganze Nacht schlaflos hin und her gewälzt hatte. Mit Hilfe von Kosmetika hätte sie vielleicht das Schlimmste abdecken können, aber in ihrer Handtasche hatte sich nur ein Lippenstift gefunden, mit dem nicht viel auszurichten war. Nach dem Unfall am Tag zuvor hatte Allie anderes im Kopf gehabt als Teintgrundierung und Rouge. Anthony betrachtete Allie weiterhin zweifelnd. „Es geht mir wirklich gut", versicherte sie. Da er noch immer nicht zufrieden schien, fuhr sie fort: ,,Ich habe einfach nicht besonders gut geschlafen; Du weißt schon, in einem fremden Bett, und ständig gingen Krankenschwestern im Raum ein öder aus." Sie senkte die Lider und entschuldigte sich im Geiste bei den aufmerksamen Pflegerinnen. Die Gedanken an Anthony hatten ihr den Schlaf geraubt, nicht das fremde Bett und die Schwestern. „Du hättest jemanden darum bitten sollen, dir ein Schmerzmittel zu geben, wenn dir der Arm weh getan hat." Verdammt! Natürlich hatte er auch gesehen, dass ihre Lider ein wenig gerötet waren. Sie hatte während der langen Nacht ein paar Tränen vergossen, allerdings nicht wegen des Schmerzes, zumindestens nicht des körperlichen. Es waren Tränen der Verwirrung, der Unsicherheit und der heißen Sehnsucht nach Anthony gewesen. Sie schaute auf und blickte in seine blaue Augen, las Besorgnis darin und erkannte, dass sie nach dieser langen Nacht die richtige Entscheidung getroffen hatte. Anthony war nicht so wie Kevin, war ein liebevoller, gutmütiger Mann. Er hatte ihr zwar nicht gesagt, dass er sie liebte, aber was spielte das schon für eine Rolle? Kevin waren Liebeserklärungen immer leichtgefallen, aber sie hatten nicht das geringste bedeutet. Anthony hat mir versichert, dass er mich gern hat und mich begehrt, und diese Worte bedeuten mehr als alle heißen Liebesschwüre von einem Mann wie Kevin, dachte Allie. „Gib mir jetzt bitte das Rezept für das Schmerzmittel. Du kannst im Auto warten, während ich es für dich hole. Mach ein paar Minuten lang die Augen zu und ruh dich aus." „Ich habe doch gesagt, ich bin okay. Ich erledige das schon." Sie drückte unbewusst die Handtasche fester an sich, in der das Rezept steckte. Allie hatte sich für eine intime Beziehung mit Anthony entschlossen, wusste aber noch nicht, wie sie ihn davon in Kenntnis setzen sollte. Jedenfalls schien es Allie nicht der richtige Weg zu sein, ihn merken zu lassen, dass der Arzt ihr auf ihre Bitte hin zusätzlich zu dem Schmerzmittel Antibabypillen verschrieben hatte. Anthony runzelte die Stirn, und Allie erkannte, dass er mit ihr streiten wollte. Schnell erklärte sie: „Ich brauche noch einiges aus der Apotheke, deshalb möchte ich selbst hineingehen." Sie wollte den Wagenschlag öffnen, hatte jedoch vergessen, dass sie den rechen Arm in der Schlinge trug. Unbeholfen versuchte sie schließlich, die Tür mit der linken Hand aufzumachen. Die Tür war allerdings verschlossen. Als Allie versuchte, den Knopf hochzuziehen, stieß sie sich den verletzten Arm. Unwillkürlich schrie sie auf und umklammerte das schmerzende Handgelenk. „Das geschieht dir recht. Immer musst du die Unabhängige spie len", kommentierte Anthony, langte an ihr vorbei und entriegelte die Tür. Dann zog er Allie behutsam an sich. Im Gegensatz zum barschen Klang seiner Stimme war die Berührung sanft und zärtlich. Allie durchlief ein angenehmer Schauer, und der Schmerz ließ nach. Sie wandte den Kopf. Anthonys Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, und sie spürte seinen warmen Atem. Anthony betrachtete ihre Lippen, die sie gerade mit der Zunge befeuchtete. Aber er küsste Allie nicht, strich ihr nur mit seinen Lippen über die Wange, ehe er sich zurückzog.
„Kann ich die anderen Dinge nicht auch für dich holen? Du solltest dich wirklich ausruhen." Allie wehrte ab. „Nein, danke, ich mache das lieber selbst." „Dann lass mich dir wenigstens beim Aussteigen helfen." Er kletterte aus dem Wagen. Sie befürchtete, Anthony habe vor, mit ihr in die Apotheke zu gehen. Doch vor der Apotheke trennte er sich von Allie. Zuvor hatte er vorgeschlagen, sie solle nach der Erledigung ihrer Einkäufe in das Cafe im Nebenhaus kommen. Allie mochte es sich nicht recht eingestehen, aber die paar Minuten in der Apotheke hatten ihre begrenzten Kräfte fast erschöpft. Als sie in dem Lokal anlangte, fühlte sie sich tatsächlich zerbrechlich. Der heiße Kaffee belebte sie dann ein wenig, trotzdem war sie froh, dass Anthony schon nach kurzer Zeit vorschlug, sich wieder auf den Weg zu machen. Unterwegs sah Allie dann ziemlich deprimiert aus dem Fenster und betrachtete die vorbeifliegende Landschaft. Anthony hatte beim Kaffee nicht viel gesprochen, und seit sie im Auto saßen, schwieg er ganz und gar. Vielleicht hätte er es nicht deshalb so eilig gehabt, das Cafe zu verlassen, weil er gemerkt hatte, wie müde sie, Allie, war? Möglicherweise ärgerte er sich, dass er wegen ihr soviel Zeit vertat. Es war zwar Samstag, aber es gab für Anthony sicher trotzdem einiges zu erledigen. Und selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, war da immer noch sein Sohn. Anthony schien ein gewissenhafter und liebevoller Vater zu sein. Die wenige Zeit, die er am Wochenende für Jason erübrigen konnte, war ihm wahrscheinlich sehr kostbar. Und nun fiel sie ihm zur Last. Sie näherten sich der Abzweigung, die hinauf zur Hütte führte. Impulsiv wandte Allie sich Anthony zu und berührte mit der linken Hand seine Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er blickte Allie kurz an, schaute dann wieder auf die Straße. „Bring mich bitte zur Hütte. Du brauchst mich wirklich nicht bei dir zu beherbergen. Ich kann mit der linken Hand hantieren und werde schon zurechtkommen." Sie sah, dass er die Lippen zusammenpresste und dass sich seine Miene verfinsterte. Er erwiderte nichts, fuhr aber schweigend an der Abzweigung zur Hütte vorbei. . „Ich bat dich, mich zur Hütte zu bringen", sagte Allie gereizt. Es kränkte sie, dass Anthony ihre Bitte so einfach ignoriert hatte. „Danke, dass du mich aus dem Krankenhaus abgeholt hast, aber jetzt möchte ich gern nach Hause." Er schaltete zurück, doch nur, um in die Auffahrt zu seinem Haus einzubiegen. Vor dem Gebäude bremste er, schaltete die Zündung aus und drehte sich Allie zu. „Ich dachte, wir wären uns einig. Du hattest dich gestern einverstanden erklärt, bei mir zu wohnen." „Ich habe meine Meinung inzwischen geändert." „Dann ändere sie noch einmal", forderte er. Gleich darauf seufzte er tief. „Solange du die rechte Hand in der Schlinge trägst, kannst du dich garantiert nicht ordentlich versorgen." Allie sah hinab auf ihren Arm. Anthony hatte recht. Es war ihr am Morgen nicht einmal gelungen, sich allein anzukleiden, die Krankenschwester hatte ihr den BH zuhaken und helfen müssen, Knöpfe und Reißverschluss zu schließen. Selbst das Frühstück hatte sich als Herausforderung erwiesen. Allie hatte noch nie zuvor einen Toast mit einer Hand zu buttern versucht. Dennoch ... es würde ihr gelingen zu überleben! „Ich meine einfach, dass es alles in allem besser wäre, wenn ich nach Hause ginge", sagte sie leise, aber fest. „Das wäre es nicht." „Doch. Ich..." „Ich glaube, ich werde dich erwürgen, wenn du mir jetzt sagst, dass du mir nicht zur Last fallen willst!" unterbrach er sie. „Und falls du sonst noch irgendwelche Bedenken hast, ich kann dir versichern, dass du in meinem Haus ganz und gar sicher bist. Was soll ich denn noch machen, mir den Kopf rasieren und eine Mönchskutte anlegen? Gut, ich habe dich ein paarmal geküsst. Deshalb bist du noch lange nicht unwiderstehlich. Ich werde dich bestimmt nicht
verführen, wenn du bei mir daheim übernachtest. Deine mädchenhafte Tugend ist bei mir vollkommen sicher!" „Ich... ich ..." Allie hielt inne, weil ihr die Bedeutung seiner Worte bewusst wurde. Eilig senkte sie den Kopf. Anthony sollte die Tränen nicht sehen, die ihr in die Augen traten. Durch den Tränenschleier hindurch blickte sie auf die Tüte mit dem kleinen Päckchen hinab, das sie in der Apotheke erhalten hatte. Verdammt! Sie, Allie, hatte sich Mathematik und Physik mit größter Leichtigkeit angeeignet, aber aus der Beziehung zu Kevin hatte sie anscheinend nicht das geringste gelernt. Sie hatte seine Küsse erwidert und sich eingebildet, sie würden für immer zusammenbleiben. Das dicke Ende fo lgte prompt. Mit Anthony lag sie ebenfalls schief. Mochte er sie auch geküsst haben und behauptet haben, dass er sie begehrte, er hatte nie vorgehabt, mit ihr zu schlafen. Das hatte er nur so dahingesagt, und sie war so dumm gewesen, es zu glauben. . „Komm ins Haus, Allie", bat Anthony ruhig. Sein Ärger schien verflogen. „Es war ein anstrengender Morgen, und du bist erschöpft. Du kannst dich vor dem Mittagessen noch eine Stunde hinlegen. Mrs. Dorcus hat heute früh Kleidung und verschiedene Dinge für dich aus der Hütte geholt." Anthony stieg aus und kam um das Auto herum, um ihr heraus zuhelfen. Sie mied seine hilfsbereit ausgestreckte Hand und kletterte ohne Hilfe ins Freie. Er behandelte sie wie ein Kind, und es war sinnlos zu diskutieren, solange er sich so verhielt.
7. KAPITEL
Allie fühlte sich wesentlich besser. Sie musste wirklich sehr ruhebedürftig gewesen sein, denn sie hatte das Mittagessen und fast den ganzen Nachmittag verschlafen. Nach dem Aufwachen konnte sie ihrer Lage gelassener ins Auge sehen. Anthony war ein guter Freund, und außer Alexandra besaß sie sonst keine. Anthony hatte ihr nicht nur seine Gastfreundschaft angeboten, sondern sogar Jason über das Wochenende zu seinen Großeltern geschickt, damit er sie nicht störte. Daher ist es alles in allem unreif und albern, ärgerlich zu sein, weil Anthony nicht mehr als Freundschaft für mich empfindet, sagte sie sich. Nach der Trennung von Kevin hatte ich mich damit abgefunden, dass ich einfach nicht der Typ von Frau bin, in den Männer sich verlieben. Mag sein, dass ich begonnen habe, das anders zu sehen, seit ich die dumme Blondine spiele. Aber innerlich habe ich mich nicht verändert. Ich eigne mich nicht für eine Liebesbeziehung. Dieser Gedankengang war nicht sehr aufmunternd, doch Allie Wusste, sie musste sich mit den Tatsachen abfinden. Anthonys Freundschaft war immer noch besser als gar nichts, versuchte sie sich einzureden. Allie stieg aus dem Bett. Das Badezimmer war gleich nebenan, und sie wollte vor dem Abendessen duschen. Glücklicherweise war eines der Kleider, die Mrs. Dorcus mitgebracht hatte, noch in der Hülle von der Reinigung, und Allie konnte die Hülle beim Duschen benutzen, um das Wasser von dem verbundenen Arm abzuhalten. Es gelang Allie ohne große Umstände, sich einzuseifen, und sie beschloss, auch noch ihr Haar zu waschen. Das erwies sich als schwieriger. Unbeholfen schamponierte sie sich mit einer Hand den Kopf und stellte sich dann wieder unter den Duschstrahl, um den Schaum herauszuspülen. Dabei kam ihr jedoch etwas davon in die Augen. Es brannte höllisch. Sie kniff die Augen zusammen, langte hastig durch den Duschvorhang nach einem Handtuch und vergaß dabei ganz die Wunde an der rechten Hand. Der Schmerz schoss Allie durch die ganze rechte Hälfte des Körpers. Sie schrie auf und zog den Arm schützend an die Seite. Wenige Augenblicke später wurde der Duschvorhang beiseite gerissen und das Wasser abgestellt. . Allie hielt die Augen noch immer geschlossen und hörte Anthony besorgt fragen: „Bist du in Ordnung? Du hast geschrien." „Ich bekam Shampoo in die Augen." Sie rieb mit dem linken Handrücken darin herum. Anthony zog ihre Hand fort und begann, Allie das Gesicht mit dem Handtuch abzutrocknen. Danach half er ihr aus dem Duschbecken. Sie spürte den weichen Teppich unter ihren Füßen und öffnete vorsichtig die Augen. Darin nahm sie die Plastikhülle vom Arm und sah Anthony an, wollte sich für seine Hilfe bedanken, aber die Worte erstarben Allie auf den Lippen. Seine Blicke schienen sich förmlich an ihr festzusaugen. Er betrachtete ihre festen vollen Brüste, die Taille... Vor Verlegenheit wurde es Allie heiß. In Anthonys Augen brannte die Flamme des Verlangens. So sah man keine platonische Freundin an! Allie vergaß ihre Verlegenheit, verspürte nur noch eine fast unerträgliche Sehnsucht. „Anthony?" Er streckte die Arme aus und umschloss mit den Händen Allies Brüste. Sie seufzte leise auf, und ihr Herz begann wild zu schlagen. „Allie", sagte er heiser, „du bist so schön." Zärtlich liebkoste er die seidige Haut und die rosigen Brustspit zen. Ihr entschlüpfte ein Ausruf der Lust, und der brach den Bann, der seit dem Anblick des nackten Körpers von Allie über Anthony gelegen hatte. Er spannte sich an und zog die Hände zurück. „Mein Versprechen, Allie", erinnerte er sie mit rauer Stimme. „Du musst mir sagen, ob ich gehen soll. Dies darf nicht einfach geschehen."
Einen spannungsgeladenen Augenblick lang sah Allie Anthony an. Er ließ ihr die Wahl, er wollte sie nicht verführen. Sie zögerte, und er machte Anstalten, sich abzuwenden. Da verschwanden ihre Zweifel, und sie traf ihre Entscheidung. „Ich möchte nicht, dass du gehst", erklärte Allie. „Du weißt doch, was geschieht, wenn ich bleibe?" fragte er warnend. Sie nickte und daraufhin umfasste er sie und ließ seine Hand über ihren festen runden Po gleiten, meinte jedoch: „Es ist noch nicht zu spät, mich fortzuschicken. Wenn ich bleibe, wirst du mir gehören." Allies Knie wurden weich, und sie lehnte sich an Anthony. Sie gehörte ihm ja bereits! Er besaß ihr Herz und ihre Seele. „Ja", wisperte sie und hob ihm das Gesicht entgegen, wobei sie ein wenig die Lippen öffnete. Er folgte der Einladung. Warm bedeckten seine Lippen ihre, zärtlich und leidenschaftlich zugleich küsste er Allie. Dann ließ er den Mund zu ihrer zarten Ohrmuschel gleiten, erforschte sie mit der Zungenspitze. „Oh, Anthony..." Er hob den Kopf. „Lass uns in dein Schlafzimmer gehen." Anthony wartete nicht auf eine Zusage, sondern hob Allie hoch, trug sie ins Nebenzimmer und legte sie aufs Bett. Sie spürte die Satindecke kühl und glatt unter ihrem heißen Körper. Eine Weile stand Anthony still und genoss ihre Schönheit. Als sein Blick auf die Bandage fiel, runzelte er die Stirn. „Vielleicht sollten wir lieber nicht... Ich möchte dir nicht weh tun." Jäh richtete Allie sich auf und begann, mit ihrer unverletzten Hand die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. „Du wirst mir nicht weh tun, es sei denn, du gehst." Er legte die Hand über ihre und drückte sie gegen seine Brust. Allie spürte das schwere Schlagen seines Herzens. „Das wäre für mich genauso schmerzhaft", sagte er, löste sich von ihr und entledigte sich rasch der Kleidung. . Vorsichtig ließ er sich dann neben Allie auf das Bett gleiten, streichelte sie und erforschte ihren Körper. Auch sie blieb nicht untätig. Mit der linken Hand liebkoste sie Anthony. Das Liebesspiel wurde drängender, die leidenschaftliche Begierde der beiden wuchs und wuchs. Immer fordernder wurden die Zärtlichkeiten, bis Anthony sich schließlich auf Allie legte und ihre Schenkel spreizte. Sie hätte später nicht zu sagen vermocht, ob sie es sich nur eingebildet hatte, dass er Worte der Liebe flüsterte, während er in sie eindrang. Vielleicht war es nur der Widerhall ihrer eigenen Gefühle und Gedanken gewesen.
Allie betrachtete sich unzufrieden im Spiegel. Sie wusste, dass es zu spät war, um, noch etwas an ihrem Äußeren zu ändern. Wenn sie sich schon den Arm hatte verletzen müssen, warum hatte es dann nicht wenigstens der linke sein können statt des rechten, den sie ständig brauchte? Es war Allie erst nach mehreren Anläufen gelungen, ihr Make-up einigermaßen sauber aufzutragen, und in das leichte Kleid hatte sie sich regelrecht hineinwinden müssen. Aber sie hatte es geschafft. Immerhin, ich sehe trotzdem nicht allzu übel aus, tröstete sie sich, während sie ihr Spiegelbild kritisch anblickte. Nach dem Erholungsschlaf waren die Schatten unter ihren Augen verschwunden, und das mit Blumen bedruckte Kleid war hübsch und wirkte sehr weiblich. Es hatte einen weiten Rock und ein trägerloses Oberteil. Wenn ich nur nicht diese schreckliche Schlinge tragen müsste, dachte sie bedauernd, verzog das Gesicht und sah an sich herab. Am liebsten hätte sie sich der Schlinge für den Abend entledigt, aber ein leiser Schmerz in ihrem Arm warnte sie davor. Nach dem leidenschaftlichen Liebesspiel am Nachmittag spür te sie die Wunde wieder. Ein Lächeln umspielte Allies Lippen. Mochte der Arm auch noch so schmerzen, sie bereute nichts! Schließlich ging sie ins Wohnzimmer. Anthony war nicht dort. Als sie den Flur
entlanggekommen war, hatte das Telefon geläutet, deshalb nahm sie an, dass Anthony das Gespräch im Arbeitszimmer angenommen hatte. Ein paar Minuten lang vertrieb Allie sich die Zeit, indem sie im Wohnzimmer herumspazierte, die Aussicht genoss und sich die Bücher in den Regalen anschaute. Sie empfand eine gewisse Nervosität. Ob Anthony den Nachmittag wohl in demselben Licht sah wie sie, Allie? Nachher hatten sie nicht viel gesprochen, sich nur erschöpft in den Armen gelegen Schließlich hatte Anthony sich aufgerafft und war gegangen, damit sie sich zum Dinner fertigmachen konnte. Betrachtet Anthony diese Episode als den Anfang einer Beziehung, so wie ich es tue, oder hat er nur einmal der Begierde nachgegeben und nicht vor, das zu wiederholen? fragte Allie sich. Wie würde er ihr gleich gegenübertreten? Sie fühlte sich unsicher, beschloss, den Augenblick hinauszuzö gern und ging in die Küche. Schließlich musste sie sich noch bei Mrs. Dorcus dafür entschuldigen, dass sie das Mittagessen verschlafen hatte. In der Küche duftete es verlockend. Da das Haus relativ modern wirkte, hatte Allie sich die Küche ein wenig wie ein Laboratorium vorgestellt, aber in dem großen Raum herrschte angenehm altmodische Atmosphäre, obwohl er mit den modernsten Geräten ausge stattet war. Unter der Decke verliefen breite Balken, an denen Kupferpfannen und antikes Porzellan hingen. Auf dem Kachelboden lagen Fleckerlteppiche, und bunte Leinenvorhänge schmückten die Fenster. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Kiefernholztisch. Die Haushälterin stand an dem großen, modernen Herd, gerade damit beschäftigt, ein gebratenes Huhn aus einer gusseisernen Pfanne auf eine Platte zu legen. Mrs. Dorcus wandte sich um, als sie Schritte hörte. „Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, weil ich das Mittagessen verschlafen habe", begann Allie. Die Haushälterin musterte sie eigenartig, und Allie wurde plötzlich verlegen. Wusste Mrs. Dorcus, was an diesem Nachmittag zwischen ihr, Allie, und Anthony vorgefallen war, und missbilligte sie es? Andererseits war Mrs. Dprcus ihr bisher nie besonders freundlich begegnet, daher lag dieses Verhalten vielleicht einfach in ihrer Art. „Keine Ursache. Ich nehme an, Sie brauchten ein wenig Ruhe", erwiderte Mrs. Dorcus nun und widmete sich wieder ihren Aufgaben. „Das Abendessen wird bald fertig sein." Ihr Tonfall verriet, dass sie das Gespräch als beendet betrachtete. Allie wusste, sie sollte gehen, aber das Zusehen faszinierte sie so, dass sie es nicht fertigbrachte. Wie mochte Mrs. Dorcus es geschafft haben, ein frisches, nacktes Huhn in die appetitanregenden krossen Stücke zu verwandeln, die auf der Platte lagen? Nun streute die Haushälterin Mehl in die Pfanne und begann, es mit dem Schmorfett zu vermengen. Als die Mischung vor sich hin brodelte, fügte Mrs. Dorcus Wasser aus dem Topf mit kochenden Kartoffeln hinzu, der ebenfalls auf dem Herd stand. Während sie rührte, erblickte sie Allie, die immer noch neben dem Tisch stand. Der Blick der Haushälterin wurde ein wenig feindselig. „Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht im Weg. Ich habe Ihnen nur beim Zubereiten der Sauce zugesehen." „Bei mir gibt es keine komplizierten Saucen. Ich bin eine ganz gewöhnliche Köchin", erwiderte Mrs. Dorcus kalt, da sie Allies Erklärung als Kritik empfand. „Aber Sie machen das sehr gut", erklärte Allie ehrlich. „Der Schmorbraten neulich war köstlich." Mrs. Dorcus sah nicht besänftigt aus, und Allie verspürte Unbehagen. Offenbar hatte sie Anthonys Haushälterin in irgendeiner Weise beleidigt, und das würde er ihr bestimmt übel nehmen. Es war bestimmt nicht leicht gewesen, jemanden zu finden, der sich um das Haus und um Jason kümmerte. Die Haushälterin wandte sich wieder ab, und man sah ihrem steifen Rücken an, wie verärgert sie war. Allie entschied sich zum Rückzug. „Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Ich ... ich
koche selten und wollte nur lernen, wie man solche Saucen macht. Das habe ich nämlich noch nie probiert." Ehe Allie gehen konnte, gab Mrs. Dorcus zurück: „Sie machen nie Saucen?" Das klang entsetzt. „Was machen Sie denn dann?" „Normalerweise kaufe ich alles in Dosen. Ich esse häufig Fertiggerichte." Die Haushälterin schnaubte, als habe Allie gestanden, sich von Hundefutter zu ernähren. „Können Sie denn nicht kochen?"" Bedauernd schüttelte Allie den Kopf. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, es zu lernen, da sie ihre Kindheit hauptsächlich in Internaten und in Collegesälen verbracht hatte. Die Küchenange stellten in diesen Institutionen hätten sich sicher dagegen verwehrt, dass ein Kind ihnen über die Schulter sah, um das Kochen zu erlernen. „Sie können mit Ihrem Arm nicht viel machen, aber Sie dürfen mir gern zusehen, wenn Sie möchten. Kommen Sie mal hierher", befahl Mrs. Dorcus schroff. Trotzdem lag jetzt Wärme in ihrem Tonfall. „Sie haben doch gesehen, wie ich das Mehl zugefügt habe?" fragte sie, während Allie sich zu ihr an den Herd gesellte. „Achten Sie darauf, dass Sie reichlich Fett haben, dann lassen Sie es aufkochen...." Allie machte die spontane Unterrichtsstunde Riesenspaß, denn Mrs. Dorcus erwies sich als hervorragende Lehrerin. Wie alle hochintelligenten Leute gab Allie sich nie mit einfachen Erklärungen zufrieden, und glücklicherweise kannte Mrs. Dorcus die Antworten auf alle Fragen, die Allie ihr stellte, und gab sie gern. Anthony fand die beiden Frauen eine halbe Stunde später in der Küche, tief in ein Gespräch über Butter und Schlags ahne verstrickt, und beobachtete die beiden, bis Mrs. Dorcus aufsah und ihn entdeckte. Sie schaute auf die Küchenuhr, erhob sich dann hastig vom Tisch, an dem sie mit Allie gesessen hatte, wischte sich die Hände an der Schürze ab und sagte: „Ich sollte besser das Gemüse aufsetzen. Ich nehme an, dass Sie Ihr Dinner bald haben wollen." „Es eilt nicht. Ich war auf der Suche nach Allie, weil ich vor dem Essen noch einen Drink mit ihr nehmen wollte." Er sah die beiden Frauen an, ein leichtes Lächeln umspielte dabei seine Lippen. „Was hat euch denn so intensiv beschäftigt?" Allie stand ebenfalls auf, ging zu Anthony hinüber. „Frances hat mir gerade ein paar Kochtips gegeben." Er hob die Brauen, als er hörte, dass Allie den Vornamen der Haushälterin gebrauchte. Mrs. Dorcus arbeitete seit einigen Jahren für ihn, aber sie hatte ihm nie angeboten, sie mit dem Vornamen anzusprechen. Allie blickte unsicher zu Anthony hoch. Die Haushälterin war seine Angestellte, und vielleicht war es ihm nicht recht, dass sie, Allie, sie in Beschlag genommen hatte. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen", sagte Allie schüchtern. „Nein, natürlich nicht", versicherte er ihr. Sein Lächeln würde ein bisschen spöttischer. „Sie ist eine mutige Frau. Ich sollte ihr wohl eine Gefahrenzulage anbieten. " Zuerst verstand sie nicht, was Anthony meinte, dann fiel ihr der Zwischenfall mit der Salatsauce ein. Allie fühlte sich verletzt, aber im nächsten Augenblick gewann ihr Sinn für Humor die Oberhand, und sie musste lachen. Der Anblick war einfach zu komisch gewesen. Anthony schlang den Arm um ihre Schultern und drückte sie. „Wie wäre es jetzt mit einem Drink? Ich möchte auch etwas von deiner Gesellschaft haben." Sie fand es wunderbar, dass er das so sehnsüchtig gesagt hatte, und ließ sich von ihm ins Wohnzimmer führen. Dort gab er sie frei und bereitete die Drinks zu. Allie schaute zu. Am liebsten hätte sie sich gekniffen, um festzustellen, ob sie nicht nur träumte. Anthony besaß all das, was eine Frau sich nur wünschen konnte: er war stark und sexy, klug, witzig, gutmütig ... und sie, Allie, liebte ihn. Außerdem spürte sie in ihrem Herzen, dass auch er sie liebte. Er trat zu ihr und reichte ihr eines der Gläser. „Ich war - ehrlich gesagt - überrascht, dich bei Mrs. Dorcus in der Küche vorzufinden. Normalerweise mag sie es gar nicht, wenn man
in ihr Reich eindringt." „Am Anfang war sie nicht sehr glücklich darüber", gestand Allie. „Dann aber würde sie sehr freundlich." „Ich freue mich, dass ihr so gut miteinander auskommt. Du wirst ja noch eine Weile hierbleiben. Auf Elaine ist Mrs. Dorcus gar nicht gut zu sprechen. Elaine geht inzwischen nie mehr in die Küche, wenn Mrs. Dorcus dort hantiert. Sie hat Elaine nämlich öfters hinausgeworfen." Allie sah in ihr Glas und wünschte sich, Anthony hätte Elaine nicht erwähnt. Dann sagte sie sich, dass zwischen den beiden bestimmt nichts lief. Anthony hatte zuviel Charakter, um eine Affäre mit einer Frau anzufangen, während er mit einer anderen intim befreundet war. . Dieser Gedanke munterte Allie wieder auf, und sie gestattete sich ein leises Lächeln der Selbstzufriedenheit. Selbst wenn Elaine nicht ihre Rivalin war, Allie fand es sehr befriedigend, dass sie selbst mit Anthonys Haushälterin auskam, während Elaine und Frances auf Kriegsfuß standen. Natürlich verstand Allie, warum Frances Dorcus mit Elaine nicht warm werden konnte. Frances betrachtete sich als einfache Köchin und hatte es Elaine übelgenommen, dass sie mit kunstvollen Salaten in die Küche gekommen war und das Zepter in die Hand nehmen wollte. Minderwertigkeitsge fühle wegen ihrer Kochkunst braucht Frances nicht zu haben, dachte Allie, als sie und Anthony sich einige Minuten später zum Abendessen niederließen. Sie fand, dass die Speisen köstlich dufteten und aussahen. Nachdem sie das Mittagessen verpasst hatte, fühlte sie sich in der Lage, dem krassen Hühnchen mit Kartoffelbrei und frischem Gemüse volle Gerechtigkeit anzutun. Hauptsache, es blieb noch ein wenig Raum für die Erdbeertörtchen, die Frances zum Nachtisch zubereitet hätte! Allie kostete von dem Gemüse auf ihrem Teller und blickte zu Anthony hinüber, der sich gerade daran machte, ein Stück Hühnerbrust zu zerteilen. Auf Allies Teller lag eine Keule, aber sie konnte sie beim besten Willen nicht schneiden, das ließ sich nicht bewerkstelligen. Wie sollte man Messer und Gabel handhaben, wenn man einen Arm in der Schlinge hatte? Allie unterdrückte einen Seufzer. Es gab nur einen Ausweg, aber in Anbetracht des schönen Porzellans und der sauberen Tischdecke schien es ihr wenig passend, die Hühnerkeule in die Hand zu nehmen. „Stimmt etwas nicht?" fragte Anthony plötzlich. Er hatte Allies Gesichtsausdruck bemerkt. „Dein Arm? Heute nachmittag... die Naht ist doch nicht etwa..." „Nein, nein, es ist alles in Ordnung." Sie schaute auf den Teller. „Es sieht wirklich köstlich aus." Dann nahm sie von dem Kartoffelbrei und überlegte, ob sie Anthony darum bitten sollte, das Fleisch für sie zu schneiden. Sie fühlte sich wie ein Baby und war verlegen. Anthony schwieg einen Moment lang. Plötzlich legte er Messer und Gabel beiseite und verkündete: „Weißt du, Mrs. Dorcus' gebratenes Hühnchen ist mehr oder weniger mein Lieblingsgericht." Mit den Händen packte er das Bruststück und biss hinein. Nachdem er es zurückgelegt hatte, leckte er sich genießerisch die Finger ab und erklärte: „S o zu essen, ist weniger vornehm, aber irgendwie schmeckt es immer besser, wenn man es mit den Fingern isst." Allie blickte ihn einen Moment lang zweifelnd an. Dann sah sie, dass Anthony ihr zuzwinkerte. Sie lächelte, nahm das Hühnerbein und biss herzhaft hinein. Es schmeckte himmlisch. Das Essen verlief in entspannter und angenehmer Atmosphäre. Allie fühlte sich so wohl, dass ihr beim Kaffee fast ein Fehler unterlaufen wäre. Bisher hatte sie sich nicht allzuviel Mühe geben müssen, ihre Intelligenz vor Antho ny zu verbergen. Das Schicksal war ihr zu Hilfe gekommen. Immer wieder hatte Anthony sie in den dümmsten Situationen erwischt, und sie hatte zudem manchmal wirklich dumm reagiert - aus Scheu und Ungewandtheit. Fest stand, dass er sie für geistig beschränkt hielt. Daher erwartete Allie nicht, dass Anthony näher auf seine Arbeit eingehen würde. Es
begann auch ganz harmlos, er sprach von seinem täglichen „Stundenplan". „Ich nehme an, du schläfst noch, wenn ich morgens das Haus verlasse. Ich versuche immer, möglichst früh in meinem Büro auf dem Festland zu sein, damit ich gegen drei wieder nach Hause kann. Jason kommt nämlich um drei aus der Schule." „Ich weiß, dass du früh gehst. Ich habe das Flugzeug gehört." „Habe ich dich aufgeweckt? Das tut mir leid." Allie schüttelte den Kopf. „Ich bin Frühaufsteherin." Anthony langte über den Tisch, ergriff ihre linke Hand, streichelte sie mit dem Daumen und blickte Allie in die Augen. „Dann haben wir etwas gemeinsam." Sie spürte, wie es sie wärm durchrieselte. Die Liebkosung weckte tiefere Bedürfnisse. Der Augenblick verging jedoch. Anthony ließ Allies Hand los, um sich zurückzulehnen und einen Schluck aus seiner Kaffeetasse zu nehmen. „Leider bin ich in letzter Zeit immer erst später von der Arbeit gekommen. Wir hatten ziemlich viel zu tun." „Du machst etwas mit Computern, nicht wahr?" fragte Allie, obwohl sie die Antwort kannte. „Genau. Anfangs haben wir bereits existierende Software zu maßgeschneiderten Paketen zusammengelegt. Mittlerweile entwickeln wir mehr und mehr eigene Programme." Allie nickte. Ihr Interesse war geweckt. „Das stelle ich mir sehr faszinierend vor." Sie sah auf ihren Schoß hinab, um zu verbergen, wie sehr das Thema sie interessierte. Immerhin sprach Anthony von ihrem eigenen Beruf! „Das ist es. Leider habe ich inzwischen kaum noch Zeit, selbst zu programmieren, bin zu sehr mit der Verwaltung beschäftigt. Ich habe aber eine Lieblingsidee, deren Verwirklichung ich mir vorbehalte." Er legte die Ellenbogen auf den Tisch und lehnte sich vor. „Vor ein paar Monaten kamen einige Leute zu mir. Sie suchen nach versunkenen Schätzen und haben eine neue Art Echolot gebaut, um damit den Meeresgrund zu erforschen. Sie wollen, dass meine Firma ein Programm entwickelt, das die Daten verarbeitet, die das Gerät produziert. Mit dieser neuen Ausrüstung hoffen sie, ein ge naueres Bild von dem zu erhalten, was sich da unten abspielt." Unwillkürlich sah Allie auf. Sie hatte brennende Fragen auf der Zunge. Die Verbindung mit ihrem eigenen Projekt war offensichtlich. Konnte man das Gerät nicht auch zur Zählung der Fische und zur Auswertung verwenden? Nur mit Mühe gelang es Allie, das nicht auszusprechen. Anthony betrachtete sie aufmerksam. Sie wusste, dass er ihre Kommentare nicht für wichtig hielt, aber er schien dennoch begierig zu sein, sie zu hören. Und fast hätte Allie sich verraten. Im allerletzten Moment erinnerte sie sich jedoch daran, dass Männer einfach keine superintelligenten Frauen mochten. Vor allem nicht, wenn sie in derselben Branche waren wie sie selbst! Allie zuckte leicht die Achseln und bedachte Anthony mit einem entschuldigenden und Zugleich koketten Lächeln. „Ich fürchte, ich kann dir nicht mehr ganz folgen." Das interessierte Licht schwand aus Anthonys Augen, und Allie führ hastig fort: „Das Essen war phantastisch. Vielleicht sollte ich den Tisch abräumen. Ich nehme an, dass Frances die Küche saubermachen und sich zurückziehen will." Sie zerknüllte ihre Serviette, legte sie neben den Teller und stand auf. Anthony erklärte: „Mach dir keine Mühe. Du bist mein Gast." Seine Stimme klang seltsam flach. Allie war so erschrocken darüber, sich beinahe verraten zu haben, dass sie es kaum bemerkte. „Ich helfe gern", sagte sie und begann, das benutzte Geschirr zu stapeln. Sie wollte Anthony eine Weile entkommen, brauchte ein paar Minuten für sich, um die Beherrschung wiederzugewinnen. Allie hielt sich längere Zeit in der Küche auf und half Frances beim Belegen der Geschirrspülmaschine und beim Wegräumen der Es sensreste. Schließlich kehrte Allie zu
Anthony zurück, der im Wohnzimmer stand und mit düsterem Blick auf das Wasser hinaus sah. Er wandte sich um und maß sie ziemlich kühl. Sie hätte sich schlagen können. Anthony hatte ihr gesagt, sie sei sein Gast, und sie hatte sich nicht darum gekümmert. Wahrscheinlich ärgerte er sich über ihre Anmaßung, nach Belieben in der Küche ein- und auszugehen. „Ich hoffe, ich war nicht zu lange fort", eröffnete Allie das Gespräch. „Ich ... äh ... Frances hatte noch einiges zu tun, da half ich ihr. Du bist doch hoffentlich nicht böse deswege n?" „Natürlich nicht", erwiderte er. „Du musst dich nicht entschuldigen. Es war sehr nett von dir, Mrs. Dorcus zur Hand zu gehen, denn sie hat viel zu tun." Das klang aufrichtig, aber sie spürte immer noch eine gewisse Reserviertheit Anthonys und nahm sich vor, nicht mehr zu Frances in die Küche zu gehen. Keinesfalls sollte Anthony meinen, sie, Allie, wolle sich als Hausfrau aufspielen. Nach ein paar Minuten musste sie sich eingestehen, dass die freundliche Atmosphäre zwischen ihr und Anthony sich nicht wieder aufbauen ließ. Allie hatte die Einladung zu einem Drink abgelehnt und sich auf einen Stuhl neben dem Kamin gesetzt, Anthony lehnte am Kaminsims, ein Glas mit Brandy in der Hand. Sie sprachen zwar miteinander, aber dazwischen entstanden lange Pausen. Allie fuhr mit dem Finger über die Quadrate auf dem Schachbrett. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, um die Stimmung zu lockern. „Spielst du Schach?" Die frage überraschte Allie, so dass sie unwillkürlich nickte. „Ja.“ Gleich darauf biss sie sich auf die Lippe. Anthony schaute ziemlich verblüfft drein. „Dann lass uns spielen", schlug er schließlich vor und stellte sein Glas ab. Ehe ihr ein plausibler Grund für eine Ablehnung einfiel, hatte er das Tischchen mit dem Schachbrett schon vor Allie geschoben und sich einen Stuhl herübergezogen. Bestürzt sah sie auf das Spiel herab. Warum hatte sie sich nur so verraten? „Als ich eben ja sagte, hatte ich das nicht so gemeint", behauptete sie. „Wie bitte?" „Ich meine, ich habe nur ein paarmal gespielt, vor langer Zeit. Ich weiß kaum, welche Figur wie zu ziehen ist." Anthony musterte sie nachdenklich, dann forderte er in ent schlossenem Ton: „Lass es uns versuchen. Ich werde dir Vorteil einräumen und dir beim Spiel helfen. Du fängst an. Erinnerst du dich, wie die Baue rn gehen?" Allie nickte widerstrebend und schob den erstbesten Bauern ein Feld vorwärts. Das Spiel ging ihr gegen den Strich. Es lag in ihrer Natur, immer ihr Bestes zu geben, und sie war eine sehr gute und ehrgeizige Spielerin. Es würde sehr unbefriedigend sein, sich wie eine Anfängerin zu verhalten. „Du kannst mit den Bauern zwei Felder gehen, wenn du sie zum erstenmal bewegst", erklärte Anthony, während er auf das Spiel hinabsah. „Weißt du das nicht mehr?" „Das hatte ich ganz vergessen", log Allie und schob die Figur ein Feld weiter vor. Anthony nickte und zog einen seiner eigenen Bauern. Das Spiel dauerte fünfundzwanzig Minuten. Anthony zeigte sich sehr geduldig, aber Allie hätte vor Frustration und Ärger am liebsten geschrien. Es war etwas ganz anderes, von Frances gezeigt zu bekommen, wie man kochte. Das lag daran, dass Allie davon keine Ahnung hatte. Aber Schach spielen konnte sie, und mit seiner konstruktiven Kritik machte Anthony sie fast verrückt. Er schien ein sehr guter Spieler zu sein, und sie hätte fürs Leben gern ernsthaft mit ihm gespielt und sich mit ihm gemessen. Ich sollte mich entschuldigen und ins Bett gehen, ehe ich mich verrate, dachte sie. Leider forderte die Versuchung sie genau in diesem Moment heraus. Sie studierte die Stellung. Von Allies grünen Figuren waren nicht mehr allzu viele übrig, Anthony fehlten nur fünf oder sechs. Allie erkannte jedoch, dass sie ein Matt in sechs Zügen erreichen konnte, wenn sie ihren einzigen verbleibenden Turm opferte.
Draufgängerisch schob sie den Turm vier Felder nach vorn und schlug einen von Anthonys Bauern. Anthony überlegte kurz, dann sah er sie an und fragte: „Bist du dir sicher, dass das richtig ist?" Allie nickte. Sie merkte gar nicht, dass ein selbstzufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht getreten war. Das verschwand, als er tadelte: „Allie, hast du denn gar nichts dazugelernt?" Seine Geduld war offensichtlich am Ende. „Bei die sem Spiel musst du vorausschauen und auf die Figuren des Gegners achten! Nach diesem Zug verlierst du deinen Turm und bekommst dafür nur einen lausigen Bauern. Hier sitzt schon mein Läufer und wartet darauf, den Turm zu schlagen!" „Das weiß ich", gab sie zurück. Ahthonys Schelten verletzte sie. Sie war doch im Recht! Wenn ihm ihre scheinbare Dummheit auf die Nerven ging, gut, sie hatte auch schon genug von seinen herablassenden Ratschlägen. „Ich will jetzt diesen Zug machen, und damit basta!" Anthony schnaubte genervt und blickte hinab auf das Brett. „Diese Idee war wirklich nicht besonders gut." Er langte neben sich, um die Figuren, die er vorher geschlagen hatte, wieder auf das Brett zu setzen. „Was machst du da?" rief Allie und fing seine Hand ab, um ihn daran zu hindern, die erste Figur hinzustellen. „Wollen wir denn nicht zu Ende spielen?" „Ich bin am Ende!" Er schüttelte ihre Hand ab und setzte den Läufer auf. Allie platzte verärgert heraus: „Du willst nur deshalb aufhören, weil du weißt, dass ich sonst gewonnen hätte!" Anthony sah sie vernichtend an. „Mach dir nichts vor, mein Schatz. Ich weiß nicht, ob du nicht lernen willst oder es nicht kannst. Jedenfalls kannst du mich nicht schlagen. Sei nicht eine so schlechte Verliererin!" Allie öffnete den Mund, eine scharfe Erwiderung auf den Lippen, schloss ihn aber wieder. Am liebsten hätte sie geflucht oder ge weint. Klar, dass Anthony dachte, er hätte gewinnen müssen. Bis zu diesem letzten Zug hatte sie die Figuren mehr oder weniger willkürlich gezogen. Anthony konnte ja nicht wissen, dass ihr letzter Zug seinen König todsicher in die Falle gelockt hätte. Eigentlich ist es ein Glück für mich, dass Anthony die Partie abgebrochen hat, dachte Allie. Wenn wir weitergemacht hätten, hätte ich ihn mattgesetzt, und wie hätte ich ihm das erklären sollen? Warum fühle ich mich dennoch nicht erleichtert, sondern wütend? Es herrschte eine unangenehme Spannung zwischen ihnen. Anthony stellte die Figuren auf, dann sah er auf die Uhr am Kamin. „Es ist schon zehn vorbei." Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl, den Allie nicht unbeachtet ließ. Sie war froh, sich zurückziehen zu können. Rasch stand sie auf und lächelte Anthony ein wenig gezwungen an. „Wenn es schon so spät ist, gehe ich jetzt lieber ins Bett. Gute Nacht." „Gute Nacht", gab er knapp zurück. Sie marschierte hinaus. Ein wenig früher hatte sie nicht erwartet, allein zu Bett gehen zu müssen. Aber Anthony machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Ich kann froh darüber sein, ich bin nicht in der Stimmung zur Liebe, redete Allie sich ein.
8. KAPITEL
Allie verbrachte fast den ganzen nächsten Tag mit Modezeitschriften auf Anthonys Veranda und versuchte, ein wenig Enthusiasmus für die Bilder aufzubringen, aber es gelang ihr nicht. Anthony hatte sich in seinem Arbeitszimmer vergraben. Die Stimmung beim Frühstück war deutlich kühl gewesen. Allie hatte sich für den Vorfall am vergangenen Abend entschuldigt, Anthony darauf erwidert, er hätte die Geduld nicht verlieren dürfen. Aber die beidseitigen Erklärungen des Bedauerns hatten die Atmosphäre nicht verbessert. Es war eigentlich seltsam. Allie spürte, dass Anthony sich wieder mit ihr vertragen wollte,/loch irgend etwas schien ihn daran zu hindern, den Graben zu überspringen. Allie verstand sich darauf, Probleme zu lösen. Ihre Arbeit bestand nicht darin, vor einem Computer zu sitzen und Befehle einzugeben. Sie analysierte und machte sich Gedanken über mögliche Fallstricke. Wenn sie einmal die Wurzel eines Problems erkannt hatte, ließ sie nicht locker, bis es gelöst war. Nur... die Beziehung zwischen ihr und Anthony war keine mathematische Gleichung. Allie wusste nicht einmal, was genau eigentlich zwischen ihnen nicht stimmte. Oder wollte sie es sich nur nicht eingestehen? Sie hatte Elaine nicht mehr als Rivalin betrachtet, aber vielleicht hielt der Gedanke an sie Anthony zurück? Sollte er doch an Elaine gebunden sein, quälten ihn bestimmt schwere Gewissenskonflikte, und er warf sich vor, in einem Augenblick der Leidenschaft die rau verraten zu haben, die er wirklich liebte. Er war nicht der Typ des Schürzenjägers und musste bitter bedauern, was sich zwischen ihm und ihr, Allie, abgespielt hatte. Allie fuhr aus ihren Gedanken, als sie hörte, wie ein Auto vor dem Haus vorfuhr. Sie sah auf die Armbanduhr, legte das Magazin beiseite und stand auf. Wahrscheinlich waren es Jasons Großeltern, die den Jungen heimbrachten. Vielleicht wird nach Jasons Rückkehr alles wieder wie früher, dachte Allie, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Es war sinnlos, sich etwas vorzumachen. Viel eher lieferte Jason Anthony einen Vorwand, ihren Aufenthalt abzukürzen. Sie ging ins Haus, Anthony sprach in der Halle mit einem älteren Ehepaar, während Jason ungeduldig danebenstand. Das Gespräch brach ab, als Allie hinzukam. Anthony stellte sie schnell vor. „Jean und Alvin, dies ist Allie Smith. Sie wohnt für ein paar Tage hier, um sich von einem Unfall zu erholen. Allie, dies sind meine Schwiegereltern, Jean und Alvin Delaine." Allie gab den beiden die Hand und fragte sich, was sie wohl darüber dachten, dass im Haus ihres Schwiegersohnes eine junge Frau übernachtete. Aber sie merkte schnell, dass man ihr nur flüchtige Aufmerksamkeit schenkte. Nach den Vorstellungen wandte Jasons Großvater sich wieder Anthony zu, um das Gespräch fortzusetzen. Die Augen Mr. Delaines blitzten, sein Gesicht war leicht gerötet. „Was habe ich da von Jason für einen Unsinn hören müssen? Du bist mit ihm nach Vancouver gefahren und hast ihn zum Psychiater gebracht?" Er streckte die Hand aus und fuhr seinem Enkel durchs Haar. „Jason ist ein völlig normales Kind. Er ist nur ziemlich lebhaft, und wenn seine Lehrer etwas anderes behaupten, dann ist das Unfug! Und im übrigen..." „Entschuldige bitte einen Moment, Alvin", unterbrach Anthony ihn. „Ich glaube, mein Sohn hat schon zu viele Diskussionen mit angehört." Er blickte Allie an. „Würdest du vielleicht mit Jason in sein Zimmer gehen und ihm Gesellschaft leisten, während er seinen Koffer auspackt?" „Natürlich", willigte sie ein. Sie lächelte den Jungen an und wünschte sich dabei, bleiben und zuhören zu können. Sie hatte nicht gewusst, dass Anthony die Probleme mit seinem Sohn so ernst nahm, dass er einen Arzt konsultiert hatte. Jason folgte Allie schmollend zu seinem Zimmer und schleifte dabei seinen kleinen Koffer hinter sich her.
„Ich wollte hören, was sie sagen", grollte das Kind, nachdem Allie die Tür geschlossen hatte. „Sie haben über mich geredet." „Ja." Allie nickte. „Aber du musst jetzt auspacken." Sie hob den Koffer auf das Bett und öffnete ihn. Obenauf lag ein verstümmelter Seestern, ihm fehlte ein Arm. Das Tier war offenbar schon einige Zeit tot, der Geruch von verfaultem Fisch stieg Allie in die Nase. „Jason, was soll denn das hier?" Sie schnitt eine Grimasse und entfernte das Tier mit Daumen und Zeigefinger. „Bring mir den Mülleimer." „Du kannst ihn doch nicht wegwerfen!" protestierte Jason. „Er wird einen neuen Arm bekommen!" Allie sah auf den Seestern. „Kaum." „Doch! Ich habe im Fernsehen gesehen, dass Seesternen die Arme wieder nachwachsen, wenn sie einen verlieren. Ich habe diesem einen Arm abgeschnitten, damit ich es beobachten kann." „Das geht nur bei lebenden Seesternen, Jason", erklärte Allie. „Dieser hier ist tot." „Wirklich?" Jason kam näher und betrachtete den Seestern in Allies Hand ganz genau. „Gestern hat er sich noch bewegt, als ich ihm den Arm abgeschnitten habe." „Nun, jetzt ist er jedenfalls tot", bemerkte Allie ziemlich grimmig. Das Tier tat ihr leid. Jason hatte den Arm nicht gerade mit größter Sorgfalt abgetrennt. „Würdest du mir jetzt bitte den Eimer holen, damit wir das Tier wegwerfen können?" Von dem Gestank wurde ihr fast übel. Sie sah hinüber zu Jasons offenem Koffer. „Nein! Lass uns eine Auto... eine Autosie machen." „Eine Autopsie", korrigierte sie automatisch. Dann rümpfte sie die Nase und schüttelte den Köpf. „Es riecht zu schlecht." „Ja, das stimmt", gab Jason zu. „Also lass es uns vom Hals schaffen." Endlich holte er den Eimer, und Allie warf das tote Tier hinein. „Bring ihn schnell hinaus, Jason, sonst riecht bald das ganze Haus." „Kann ich dann an den Strand gehen und sehen, ob ich noch einen Seestern finde?" „Nein!" „Aber dieser hier ist tot." „Jason, er ist gestorben, weil du ihm den Arm abgeschnitten und ihn in einen Koffer gesperrt hast", erklärte Allie. „Du kannst doch ein Tier nicht leiden lassen, nur weil du etwas ausprobieren willst!" Er sah sie beleidigt an. „Ich möchte einmal Wissenschaftler werden, und Wissenschaftler machen so was." Nach dem, was Allie vorhin mit angehört hatte, hatte Jason Probleme mit seinen Lehrern, und das vermochte sie sich nun gut vorzustellen. Zum Wissenschaftler taugte er vielleicht nicht, aber er konnte gut diskutieren, fand auf alles eine Antwort. „Ich mach dir einen Vorschlag", sagte Allie schließlich. „Du bist klug, denk dir ein Experiment aus, bei dem du keine Tiere töten musst." Die Lippen des Jungen begannen plötzlich zu zittern. „Ich wollte ihn doch nicht umbringen", flüsterte er. Ich wollte nur zusehen, wie ihm ein neuer Arm wächst." Allie dachte daran, dass Jason durch seinen Fernsehkonsum sehr beeinflusst war, und beruhigte ihn. „Ich weiß, dass du ihm nicht weh tun wolltest. Komm, stell jetzt den Eimer auf die Veranda. Du kannst ihn nachher fortbringen. Wir lesen eine Geschichte, bis dein Vater mit deinen Großeltern gesprochen hat." Jason tat, wie ihm geheißen, machte dabei aber ein störrisches Gesicht. „Ich mag keine Geschichten. Das habe ich dir schon einmal gesagt." Allie blickte zum Bücherregal neben dem Fenster. Für ein Kind, das Bücher nicht mochte, hatte Jason reichlich davon. Allerdings machten die meisten nicht den Eindruck, als sei viel in ihnen geblättert worden. Sie schaute Jason ein wenig hilflos an. Abgesehen vom Lesen fiel ihr nichts ein, was sie tun konnten. Sie wusste nichts darüber, wie man Kinder unterhält. Jason löste das Problem selbst. Er nahm ein großes, zerfleddertes
Buch aus dem Regal und reichte es ihr. „Du kannst mir was aus dem hier vorlesen." Sie studierte den Titel. „Bist du sicher, dass du das möchtest? Du hast doch andere nette Bücher hier. Warum nehmen wir nicht eins von denen?" „Ich will das da! Die anderen Bücher sind dumm." Allie setzte sich auf die Bettkante. Nicht zu fassen! Jason war sechs oder sieben Jahre alt, und bei seinem Lieblingsbuch handelte es sich um eine alte naturwissenschaftliche Schrift! Als das Werk sich allerdings von allein an einer bestimmten Stelle öffnete, begann Allie zu verstehen. Sie erblickte einen böse dreinschauenden Tyrannosaur us Rex. Jason gab ihr einen Stoß, und sie begann, dem faszinierten Jungen die trockene Abhandlung vorzulesen. Eine halbe Stunde später wurden Allie und Jason unterbrochen. Anthony kam ins Zimmer. Rasch legte sie das Buch beiseite und stand auf. „Deine Großeltern fahren in ein paar Minuten, also geh und verabschiede dich von ihnen", sagte Anthony zu seinem Sohn, sah sich dann im Zimmer um und erblickte den offenen Koffer, der am Fuß des Bettes stand. Hatte ich nicht gesagt, du solltest auspacken?" Jason schwieg, und Allie setzte zu einer Erklärung an. „Ich dachte, es sei besser, die Sachen noch eine Weile stehenzulassen, denn..." Ehe Allie Anthony sagen konnte, dass Mrs. Dorcus erst entscheiden musste, ob die Kleidungsstücke wegen des Fischgeruchs gewaschen werden sollten, fuhr Anthony ihr in die Rede. „Herzlichen Dank, Allie! Das hat noch gefehlt, dass du Jason darin bestärkst, meine Anordnungen zu missachten!" Er bedeutete dem Jungen, das Zimmer zu verlassen. „Was ist das für ein schrecklicher Gestank?" fragte Anthony das Kind, während er ihm folgte. „Komm bitte auch!" rief er dann noch zurück. Allie dachte gar nicht daran. Vor Wut hätte sie am liebsten den Seestern aus dem Eimer genommen und ihn Anthony nachgeworfen. Es hätte ihr zumindest die Chance geben können, alles zu erklären. Immer noch zornig, ging sie in ihr eigenes Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Allie hatte die Delaines kaum gesehen und hoffte daher, sie erwarteten nicht, dass auch sie sich von ihnen verabschiedete. Nachdem sie sich ein bisschen gefasst hatte, zog sie ihren Koffer hervor und begann ungeschickt, mit der unverletzten Hand ihre Kleidungsstücke hineinzulegen. Was für ein passendes Ende, dieser gammelige Seestern, dachte Allie bitter. Man merkte an Anthonys Verhalten, dass er sie los sein wollte. Sie hörte das Klopfen an der Tür nicht. Allie fluchte, weil es ihr nicht gelingen wollte, ihren Koffer zu schließen. Um nicht in Kummer zu verfallen, konzentrierte sie sich auf ihren Ärger. Viel Erfolg hatte sie nicht damit, Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Obwohl sie nicht antwortete, trat Anthony ein. Sie erblickte ihn aus dem Augenwinkel und fuhr herum. „Was machst du in meinem Zimmer?" herrschte sie ihn an und wischte sich die Tränen ab. Er runzelte die Stirn. „Ich habe mich gefragt, wo du bist. Ich dachte, du wolltest dich von Jasons Großeltern verabschieden." „Ich hatte keine Lust dazu", erwiderte Allie ärgerlich. „Ich habe ja kaum mit ihnen gesprochen." Anthony trat näher, und sie wandte ihm den Rücken zu. Als sie die Hand von ihrem Koffer genommen hatte, war der Deckel aufgesprungen, und einige Kleidungsstücke waren herausgerutscht. Allie packte ein T-Shirt und stopfte es wieder zurück, halb blind vor Tränen. Hinter ihr sagte Anthony: „Sieh mal, was in Jasons Zimmer passiert ist, tut mir leid. Er hat mir erklärt, was mit dem Seestern war." Sie antwortete nicht und drehte sich auch nicht um. Nach einer Weile fuhr Anthony fort: „Ich weiß, dass ich nicht nett zu dir war. Ich war ärgerlich, und zwar nicht wegen dir, sondern wegen Alvin. Wir verstehen uns nicht besonders gut und hatten ein ernstes und schwieriges Gespräch. Es tut mir leid, dass du
darunter leiden musstest, und ich möchte mich entschuldigen." Allie schluckte. Warum verflog ihr Zorn auf Anthony nur immer so rasch? Er legte ihr die Hände auf die Schultern, und sie versuchte vergeblich, sie abzuschütteln. Gleich darauf drehte er sie so, dass er sie ansehen konnte. Noch immer liefen Tränen über ihr Gesicht. „O verdammt!" Anthony stöhnte und zog Allie an sich. Er hielt sie ganz fest und streichelte ihr blondes seidiges Haar, während sie sich an seiner Schulter ausweinte. „Ich wollte dir nicht weh tun", flüsterte er. „Bitte glaub mir, das wäre das letzte, was ich möchte." Allie schluchzte auf und wisperte: „Du warst heute wirklich ge mein zu mir." „Ich weiß, ich weiß", gab er zerknirscht zu, legte die Hand unter Allies Kinn und hob es leicht an. Dann küsste er die salzigen Tränen von den Wimpern und sagte leise: „Glaub mir doch, es tut mir so leid." Im nächsten Augenblick spürte Allie seine Lippen warm und sanft auf ihren. Der Kuss zeigte ihr, wie groß Anthonys Bedauern war. Die Tränen versiegten, sie hörte auf zu schluchzen und wurde innerlich ruhiger. Als Anthony sie von sich forthielt, sah sie zu ihm auf, und in ihren Augen schimmerten Sterne der Liebe. Sein Blick hingegen war selt sam traurig. „Geh noch nicht, Allie", bat Anthony rau und schaute zu dem Koffer hin, der auf dem Bett stand. „Lass mich wenigstens auf dich aufpassen, bis dein Arm geheilt ist," Sie befeuchtete sich die Lippen. Wenn es nach ihr gegangen wäre - sie hätte sich ihr Leben lang seiner Obhut anvertraut. Ihr Herz gehörte Anthony ganz und gar. Er musste nicht erst fragen. Doch er wartete auf ihre Antwort. Allie nickte langsam. Anthony sah ihr in die Augen, dann zog er Allie wieder in die Arme. Diesmal küsste er sie leidenschaftlich, drängend, gnadenlos und unsanft. Trotzdem genoss Allie den Kuss. Es lag etwas Verzweifeltes darin, und sie verspürte plötzlich das Bedürfnis, Anthony ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Sanft streichelte Allie seine Schulter, seinen Nacken, schmiegte sich fest an Anthony. Wortlos zeigte sie ihm, was sie für ihn empfand. Irgendwann hob er den Kopf. „Danke, dass du bleibst." Behutsam schob Anthony sie fort und trat zurück. Er schien sich zu sammeln und die Geschehnisse der letzten Minuten in den Hintergrund zu schieben. Schließlich sagte er: „Das Abendessen wird in etwa einer Stunde fertig sein. Ich esse früher, wenn Jason daheim ist. Bis dahin kannst du dich noch ein bisschen ausruhen und dich frisch machen." Er streichelte ihre immer noch feuchte Wange. Als er es spürte, zog er die Hand zurück, als bereue er die Geste. „Ich sehe dich später." Damit drehte er sich um und verließ das Zimmer.
Die nächsten Tage verliefen harmonisch. Der Tagesablauf wurde vom Dröhnen des Wasserflugzeugs bestimmt. Anthony verließ das Haus morgens in aller Frühe. Allie war meistens wach, ehe er ging, aber irgend etwas hielt sie davon ab, ihn zu verabschieden. Sie wartete das Geräusch der Motoren ab, bevor sie aufstand. Dann frühstückte sie in der Küche mit Frances und Jason, unterhielt sich mit der Haushälterin und redete Jason zu, ordentlich zu essen. Da es bis zu den Sommerferien noch zwei Wochen dauerte, half Allie Jason anschließend sich anzuziehen und begleitete ihn zur Haltestelle des Schulbusses. Dann begann Allies Arbeitstag. Sie ging zu ihrem Häuschen und widmete sich der Entwicklung des Fischzählungsprogramms. Sie kam nur langsam voran, weil sie nur eine Hand zur Verfügung hatte, aber das störte Allie nicht. Sie verspürte nicht die übliche Ungeduld. In gewisser Weise war die Arbeit, obwohl sie sie genoss, nur ein Mittel, um die Zeit auszufüllen, bis Anthony und Jason heimkehrten. Pünktlich um halb drei schaltete Allie den Computer ab und räumte ihre Notizen fort. Dann schlenderte sie zur Bushaltestelle und wartete: auf Jason. Auf dem Heimweg sprachen sie über seinen Schultag, aber wenn sie bei der Auffahrt angekommen waren, verfielen beide in Schweigen und lauschten. Meist brauchten sie nicht
lange zu warten, bis sie das Dröhnen des Flugzeuges hörten. Anthony verbrachte die Nachmittage wie selbstverständlich mit Allie und Jason, was sie ihm hoch anrechnete. Sie spielten mit dem Jungen oder machten Ausflüge. An einem Nachmittag fuhren sie mildem Boot zu der Insel von Brother Twelfth, am nächsten nach Nanaimo. Dort legten Allie und Anthony. sich an den Strand und Jason baute Bürgen. So vergingen die Tage. Anthony pflegte Allie und seinen Sohn liebevoll zu necken. Sie fühlte sich glücklich, konnte sich leicht vorstellen, die Mutter Jasons zu sein - und Anthonys Frau. Nach dem frühen Abendessen mit Jason pflegte sich die unbeschwerte Stimmung ein wenig zu ändern. Kaum war Jason im Bett, schien Anthony sich innerlich von Allie zurückzuziehen. Es war, als senke sich eine unsichtbare Wand zwischen ihnen herab. Sie tranken zusammen Kaffee und sprachen über die Ereignisse des Tages, aber bald entschuldigte sich Anthony und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Dann sah Allie ihn nicht mehr bis zum folgenden Nachmittag. Am Dienstag nachmittag der zweiten Woche - Allie ging mit Jason gerade zum Haus hinauf schaute sie nachdenklich auf ihren bandagierten Arm. Am Morgen hätte Alexandra sie zum Arzt gebracht. Er hatte festgestellt, dass die Wunde gut heilte und einen leichteren Verband angelegt. Die Fäden wollte der Arzt erst in ein paar Tagen ziehen, er sagte Allie aber, sie sei nicht mehr auf die Schlinge ange wiesen und könne die rechte Hand vorsichtig gebrauchen. Für Allie bestand also kein rechter Grund mehr, weiterhin bei Anthony zu wohnen. Wahrscheinlich würde die einzige Erinnerung an diese Tage die Narbe sein, die Allie am Gelenk zurückbehalten würde. Ehe sie mit Anthony geschlafen hatte, hatte sie noch keine ihrer Antibabypillen nehmen können. Das Erlebnis war jedoch ohne Folgen geblieben. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, die erste Pille zu nehmen, doch das kam Allie ziemlich sinnlos vor. Vielleicht hatte Anthony wirklich soviel zu tun, dass er sich jeden Abend in seinem Arbeitszimmer vergraben musste. Aber bei ihr, Allie, brannte oft noch Licht, wenn er fertig war, und sie hörte Antho nys Schritte, bevor er zu Bett ging. Nie blieb er vor ihrer Tür stehen und trat ein. „Ich frage mich, wo Daddy bleibt", unterbrach Jason Allies Gedanken. Sie sah ihn an und bemerkte sein Stirnrunzeln. Er hatte recht, sie waren schon fast am Haus, und noch war kein Laut von Anthonys Flugzeug zu hören. „Wahrscheinlich ist er aufgehalten worden", beruhigte Allie den Jungen, aber auch sie fand es seltsam. Anthony hatte sich bisher noch nie verspätet, zumindest nicht, seit sie unter seinem Dach wohnte. „Verdammt!" „Jason!" schalt Allie. „So spricht ein kleiner Junge nicht. Ich weiß, du bist enttäuscht, dass dein Vater..." „Es ist nicht wegen Daddy. Sieh mal!" Er wies auf ein Auto, das vor der Tür stand. „Das ist Tante Elaines Auto." „Qh!" Allie gebrauchte in Gedanken dasselbe Wort, das Jason laut ausgesprochen hatte. Seit sie bei Anthony ihre Zelte aufgeschlagen hatte, war Elaine nicht mehr aufgekreuzt, und Allie war darüber froh gewesen. Sie wusste noch immer nicht, welche Stellung Elaine in Anthonys Leben einnahm, und wollte im Grunde auch gar nicht damit konfrontiert werden. „Ich mag sie nicht", erklärte Jason unumwunden und verlangsamte absichtlich den Schritt. „So etwas solltest du nicht sagen", schimpfte Allie halbherzig. Die Haustür wurde geöffnet, und Elaine und Mrs. Dorcus erschie nen auf der Schwelle. Natürlich entdeckte Elaine Jason und Allie sofort. Sie geriet ein wenig aus der Fassung, riss sich aber zusammen und setzte ein Lächeln auf. Frances winkte zur Begrüßung und verschwand im Haus. Feigling, dachte Allie, die die Einstellung Frances' zu Elaine ja kannte und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. „Allie, wie geht es Ihnen? Anthony hat mir von Ihrem Unfall erzählt."
„Danke. Die Wunde am Arm heilt gut." Elaine blickte auf den Verband. „Ich sehe. Nach dem, was Anthony gesagt hat, stellte ich mir vor, Sie seien von Kopf bis Fuß in Verbände eingehüllt. Offenbar war es nicht so ernst." Wollte Elaine etwa andeuten, dass sie, Allie, das Ausmaß ihrer Verletzung übertrieben hatte, um Anthonys Gastfreundschaft in Anspruch nehmen zu können? Allie ging in die Defensive. „Ich war heute beim Arzt. Er hat mir einen kleineren Verband angelegt und gesagt, ich brauche die Schlinge nicht mehr." „Der Unfall muss sehr schmerzhaft gewesen sein", erwiderte Elaine schnell, vielleicht von Allies scharfem Ton eingeschüchtert. „Sie sind wahrscheinlich froh, dass alles so gut verläuft und Sie bald wieder nach Hause können." Der hoffnungsvolle Ton ließ sich nicht überhören. Allie spürte, dass Elaine unglücklich war, und auf einmal tat sie ihr leid, ja sie fühlte sich sogar ein wenig schuldig, weil sie den Grund dafür bildete. Elaine vermutete, dass etwas zwischen ihr, Allie, und Anthony im Gange war, und es brach Elaine das Herz. „Und wie geht es dir, Jason?" fragte sie plötzlich und wandte sich dem Jungen zu. „Du freust dich wahrscheinlich auf die Sommerferien. Komm doch mal zu mir und besuch mich dann." Jason sah Elaine finster an. „Ich will aber nicht", murmelte er, schlängelte sich an ihr vorbei und schlüpfte ins Haus. Sie blickte ihm verlegen nach. „Anthony müsste mal ordentlich durchgreifen, der Junge ist unerträglich frech." Allie wäre am liebsten wie Jason im Haus versehwunden, aber die Höflichkeit verlangte es, dass sie noch ein paar Minuten mit Elaine verbrachte. „Nun, ich muss mich jetzt wieder auf den Weg machen", erklärte die schließlich. „Eigentlich wollte ich mit Anthony sprechen, doch er kommt wohl erst später. Ich werde ihn anrufen. Wir sind sehr gut befreundet, müssen sie wissen", fügte sie demonstrativ hinzu. „Ja, das glaube ich", sagte Allie sanft und sah hinter Elaine her, die zu ihrem Auto ging. Irgendwie griff es Allie ans Herz, dass Elaine so mit ihrer Freundschaft zu Anthony angab. Elaine fand gewiss nicht leicht Freunde, wie Anthony einmal gesagt hatte. Vielleicht spielte Mitleid in der Beziehung eine große Rolle.
Anthony kam erst um acht Uhr heim, und er befand sich in blendender Stimmung. Es war Allie nicht neu, dass er gute Laune haben konnte, aber an diesem Abend war er in Höchstform. Er kam die Stufen vom Bootsanlegeplatz hinaufgelaufen und stürmte ins Haus. Ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, betrat er das Wohnzimmer und wollte wissen, wo die anderen seien. „Frances ist mit einer Freundin nach Nanaimo ins Kino gefahren, und Jason ist im Bett", gab Allie Auskunft, während sie Anthony neugierig betrachtete. Frances blieb nach dem Abendessen für gewöhnlich für sich, und er wusste sehr gut, dass Jason um halb acht ins Bett ging. „Jason schläft schon?" fragte Anthony. Er schien ein wenig von seiner überschäumenden Laune zu verlieren. Allie nickte und hoffte, er werde den Jungen nicht aufwecken. Jason war nicht leicht zum Einschlafen zu bringen, und es bereitete große Mühe, ihn rechtzeitig ins Bett zu stecken. Er hatte erst vor einer viertel Stunde Ruhe gegeben. Wenn man ihn jetzt weckte, würde das Theater später von vorn losgehen. Aber das hatte Anthony nicht vor. Statt dessen kam er zu Allie herüber, hob sie hoch und wirbelte sie herum. Nachdem er sie wieder abgesetzt hatte, küsste er sie auf die leicht geöffneten Lippen und lachte ihr ins Gesicht. „Dann musst du mir wohl allein feiern helfen!" „Feiern?" fragte sie. Anthonys gute Laune war ansteckend, und obwohl Allie den Grund nicht kannte, musste sie einfach mitlachen. „Was feiern wir denn?"
„Wart's ab!" Anthony ging zum Barschrank, suchte im Kühlfach herum, entdeckte eine Flasche eisgekühlten Champagner und hielt sie hoch. „Wir müssen unbedingt anstoßen!" Dann griff er nach Gläsern und fragte: „Habt ihr mir etwas zu Essen übrig gelassen? Ich habe noch nichts gehabt und bin halb verhungert." Mit den Gläsern in der Hand wandte er sich um. „Bevor wir den Champagner trinken, sollte ich besser etwas Handfestes zu mir nehmen, sonst gerate ich noch durcheinander!" „Frances hat kaltes Fleisch und Salat für dich in den Kühlschrank gestellt", teilte Allie ihm mit. „Ich kann dir das anrichten." „Isst du mit?" Sie zögerte nicht lange und nickte. Sie hatte zwar mit Jason gegessen, aber nur wenig, da sie - vermutlich wegen Anthonys Abwesenheit - kaum Appetit gehabt hatte. Anthony legte den Arm um Allies Taille, und so gingen sie in die Küche. Dort fragte Allie: „Willst du mir nicht erzählen, was geschehen ist, während ich das Dinner fertig mache?" Er schien zu überlegen. Dann trat ein mutwilliger Ausdruck in seine Augen: „Nein. Ich erzähle es dir beim Essen. Du richtest das Essen an, während ich im Esszimmer decke." Sie sah sauer drein, woraufhin Anthony nur lachte. Allie stieß ihn in die Rippen. Er zuckte zusammen und tat, als sei er schwer verletzt. „Dafür musst du noch ein bisschen länger warten", sagte er boshaft. „Geh erst mal und zieh dein schönstes Kleid an. Ich muss ohnehin noch duschen." Er packte sie bei den Schultern und gab ihr einen leichten Stoß in Richtung ihres Schlafzimmers. „Fünfzehn Minuten." Erst knapp eine halbe Stunde später verließ Allie in einem luftigen grünen Cocktailkleid ihr Zimmer. Sie hatte sich mit ihrem Äußeren viel Mühe gegeben, wollte heute abend besonders schön aussehen. Normalerweise aßen sie mit Jason und Mrs. Dorcus in der Küche, so dass es etwas Besonderes war, das Mahl im Esszimmer einzunehmen. Anthony nahm gerade die Salatschüsseln und die Platte mit kaltem Fleisch aus dem Kühlschrank, als Allie die Küche betrat. Ant honys Haar war noch nass vom Duschen, und es schimmerte in der Abendsonne, die durchs Fenster schien. Er trug statt des grauen Anzugs nun dunkle Hosen und einen blauen Rollkragenpullover, der wie eine zweite Haut am Oberkörper anlag. Wie gut und männlich er aussieht, dachte Allie und merkte, wie ihr die Knie schwach wurden. Er lächelte ihr zu, betrachtete sie. Das Oberteil ihres Kleids war tief ausgeschnitten, und wenn es sich auch nicht um ihr schönstes Kleid handelte, es war auf alle Fälle ihr aufregendstes. Der Effekt wurde auch nicht verdorben, da sie ja die Schlinge nicht mehr trug. Plötzlich runzelte Anthony die Stirn. „Was ist denn mit der Schlinge passiert?" Allie unterdrückte einen Seufzer. Sie war natürlich froh, dass es ihrem Arm besser ging, aber sie hatte jetzt keinen echten Grund mehr, bei Anthony zu bleiben. Doch sie wollte sich von solchen Überlegungen nicht die Laune verderben lassen. Vielleicht war es ihr letzter gemeinsamer Abend. Leichthin sagte sie: „Auch ich habe etwas zu feiern. Der Arzt hat mir heute mitgeteilt, dass ich die Schlinge nicht mehr brauche. Ich darf sogar die Hand wieder benutzen, muss allerdings vorsichtig sein." Sie hielt die rechte Hand hoch und bewegte die Fingerspitzen. „Dann haben wir ja doppelten Grund zur Freude." Anthony sah Allie tief in die Augen und wurde auf einmal ernst. „Ich bin wirklich froh über die Nachricht. Weißt du, ich hatte Angst, der Arm würde nicht so gut heilen, nachdem wir uns an jenem Nachmittag geliebt hatten." Allie dachte an das Liebeserlebnis und ihre Gefühle drohten sie zu überwältigen. Sie flüsterte: „Dabei ist nichts passiert." Seine Worte hatten die Zweifel schwinden lassen, die sie die letzten Tage über gehegt hatte. Er hat nur deshalb nicht mehr mit mir geschlafen, weil er sich Sorgen um meinen Arm
gemacht hat, erkannte sie. An jenem Nachmittag hatte die Leidenschaft sie beide überwältigt. Das sollte nicht noch einmal passieren, und aus dein Grund hatte Anthony sich zurückgehalten. Er wollte den Heilungsprozess nicht gefährden! „Allie?" „Hm?" Sanft zog Anthony sie an sich, strich mit den Lippen über ihren Mund und streichelte zärtlich Über ihr Haar, Dann gab er Allie wieder frei. „Komm, mein Liebling, lass uns essen."
9. KAPITEL
Gemeinsam luden Anthony und Allie die Speisen auf einen Teewagen und schoben ihn ins Esszimmer. Allie staunte. Die Vorhänge waren zugezogen, Kerzenlicht erhellte den Raum, ließ Silber und Porzellan schimmern. Anthony schien ein Zaubermeister zu sein! „Toll hast du das gemacht", sagte sie. Er winkte ab. „Nicht der Rede wert. Komm, setz dich." Sie gehorchte. Wahrend Anthony die Flasche Champagner öffne te und die Gläser füllte, rückte Allie die Teller zurecht, legte die Speisen vor. Nachdem auch er Platz genommen hatte, hob Anthony sein Glas. „So, jetzt werde ich dich nicht länger im Ungewissen lassen. Ich trinke auf deine Gesundheit... und auf meinen Sohn Jason." „Auf Jason!" Allie prostete ihm zu. Dann fragte sie: „Was ist denn mit Jason?" Anthony strahlte sie an. „Er hat sein Licht bisher immer unter den Scheffel gestellt. Es hat sich herausgestellt, dass er ein regelrechtes Genie ist!" „Ein... ein Genie?" „Genau! Ein kleiner Einstein! Ich habe mich heute nachmittag mit dem Psychologen getroffen. Er machte neulich ein paar Tests mit Jason und fand heraus, dass er einen Intelligenzquotienten von einhundertneunundachtzig hat!" Allie vermochte Anthonys Freude nicht zu teilen. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass es durchaus nicht nur positive Seiten hatte, ein Genie zu sein. Hohe Intelligenz war zwar eine große Gabe, konnte aber auch leicht zur großen Last werden. „Allie? Allie, hast du nicht verstanden? Jason ist ein Genie!" „Wie schön ..." Das klang reichlich lahm. Die gedämpfte" Reaktion ernüchterte Anthony ein bisschen. „Offenbar bist du darüber nicht gerade begeistert." „Oh ... o doch. Es ist nur eine riesige Überraschung." Weil er daraufhin reichlich beleidigt aussah, fügte Allie eilig hinzu: „Ich habe natürlich längst bemerkt, dass Jason sehr klug ist, aber mit einem derartig hohen Intelligenzgrad hatte ich nicht gerechnet. Hast du so etwas vermutet? Bist du deshalb mit ihm zum Psychiater gegangen?" Anthony entspannte sich, lächelte wieder. „Im Gegenteil. Weißt du, Jason hatte in der Schule große Schwierigkeiten. Er störte den Unterricht, machte keine Hausaufgaben und gab freche Antworten. Ich musste in den letzten Monaten so oft mit der Lehrerin sprechen, dass es ein Wunder ist, wenn die Leute noch nicht denken, sie und ich hätten etwas miteinander. Wie auch immer, vor einigen Wochen spitzte sich die Lage zu." Das Lächeln verschwand aus Anthonys Gesicht. Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Ich glaube, das war an dem Tag, an dem dir das Benzin ausging. Ich konferierte nicht nur mit der Lehrerin, sondern auch mit dem Direktor und dem Vertrauenslehrer. Es schien keine Zweifel zu geben, dass Jason unter einer Art Lernstörung litt. Man legte mir nahe, ihn nach den Sommerferien in eine Sonderklasse für unterdurchschnittlich begabte Kinder zu stecken." „Das kann ich mir einfach nicht vorstellen!" rief Allie spontan. „Denk mal an das Buch mit den Sauriern, das er so liebt. Sogar ich hatte Schwierigkeiten, den Text zu verstehen." Ein Schatten huschte über Anthonys Züge. Es mochte am Flackern der Kerzen gelegen habe, aber es brachte ihr zu Bewusstsein, dass sie ihre Zunge hüten musste. Dieser Zeitpunkt war denkbar ungeeignet, Anthony mit ihrer, Allies, Intelligenz zu konfrontieren. Eltern liebten es, sich im Glanz ihrer hochbegabten Kinder zu sonnen, an ihren Partnerinnen schätzten Männer hohe Intelligenz normalerweise weniger. Es war eine Bedrohung für ihr Selbstwertgefühl. Allie unterdrückte ein Seufzen. Sie wusste, was Jason bevorstand, wenn er wirklich so begabt war. Anthony würde seinem Sohn mit viel Umsicht und Verständnis begegnen müssen, damit der seine Gabe voll ausschöpfen konnte, ohne dass sie ihm zur Last wurde. Doch wie sollte
sie Anthony das klarmachen, ohne sich zu verraten? „Auch ich wollte diese Bewertung nicht akzeptieren", sagte er gerade. „Deshalb ging ich mit Jason zu dem Psychologen in Vancouver." „Und der stellte fest, dass Jason überdurchschnittlich intelligent ist. Ich verstehe immer noch nicht, wie Jasons Lehrerin sich so irren konnte." „Sie scheint keine besonders gute Kraft zu sein, aber ich glaube, Jason hat zu dem Fehlurteil auch selbst beigetragen. Du kennst ihn ja - er ist störrisch und steht für sein Leben gern im Mittelpunkt. Er hat den Unterricht gestört, weil er sich langweilte. Die normale Schule fordert ihn einfach nicht genügend. Außerdem fand er wohl heraus, dass die Lehrerin sic h ihm besonders zuwandte, wenn er so tat, als käme er nicht weiter." Allie und Anthony verfielen in Schweigen und konzentrierten sich auf das Essen. Von Zeit zu Zeit sah Allie zu Anthony hinüber. Er wirkte gelöst, gleichzeitig aber auch nachdenklich. Sie wünschte sich, mehr Begeisterung für die neue Entwicklung aufzubringen. Schließlich sagte Allie: „Es ist wirklich eine tolle Neuigkeit. Ich weiß, wie sehr du dich freust." „Das tue ich", erwiderte er. „Andererseits ist es auch erschreckend. Jetzt wird sich einiges in unserem Leben ändern." „Inwiefern?" „Nun, der Psychologe hat mir bereits einige Vorschläge gemacht. Er meint, ein Aufbauprogramm würde Jason sehr guttun. Ich muss dafür sorgen, dass er an einem teilnehmen kann." „Ich verstehe." Allie legte ihr Besteck beiseite, der Appetit war ihr vergangen. Sie fühlte sich unbehaglich und besorgt. Ihr ganzes Leben war ein einziges Aufbauprogramm gewesen, und es hatte sie nie besonders glücklich gemacht. „Ich nehme an, das hiesige Schulamt kann dir weiterhelfen", fuhr sie fort. „Es gibt immer besondere Programme für besonders begabte Schüler." „Möglich. Aber Jason soll keinesfalls mehr hier auf die Schule gehen. Die hiesige Schule hat bei mir keinen günstigen Eindruck hinterlassen, wie du dir denken kannst. Ich werde Jason von hier fortschicken müssen, auf eine andere Schule." „Fortschicken?" wiederholte Allie entsetzt. Sie fand, es sei eine Schande, Jason aus dieser herrlichen ländlichen Umgebung herauszureißen. Ein heranwachsender Junge konnte hier so vieles machen: Boot fahren, fischen, am Strand Spazierengehen, die Wälder durchstreifen. „Der Psychologe empfiehlt eine Schule in Montreal. Ich muss Jason dort leider ins Internat geben, weil ich mein Geschäft in Vancouver habe." Anthony deutete Allies Gesichtsausdruck falsch. „Keine Angst, ich werde mir zwar wahrscheinlich ein Apartment auf dem Festland mieten, dieses Grundstück aber nicht verkaufen. Wir können es in den Ferien nutzen." „Du darfst Jason nicht einfach in ein Internat auf der anderen Seite des Landes schicken!" rief Allie. „Er ist doch noch ein kleiner Junge. Was ist mit den Freunden, die er hier hat? Und was ist mit dir und Frances? Er wird todunglücklich sein." „Das wird er auf keinen Fall!" behauptete Anthony. Plötzlich wirkte er ärgerlich. „Natürlich wird er sich zunächst umgewöhnen müssen, aber wenn er sich eingelebt hat, wird es das beste für ihn sein. Er wird Erfahrungen mit anderen hochintelligenten Jungen austauschen können. Und was noch wichtiger ist, er kann seine Energien darauf verwenden zu lernen, statt den Klassenclown zu spielen. Er wird glücklicher sein!" schloss er grimmig. Sie runzelte die Stirn. „Wen willst du eigentlich überzeugen „mich oder dich selbst?" „Dich", erwiderte er nach einem unmerklichen Zögern. „Aber ich weiß gar nicht, warum ich mir die Mühe überhaupt mache. Eigentlich geht es dich gar nichts an, wie ich mir die Schullaufbahn meines Sohnes vorstelle." Das tat weh. Allie wurde blass, und Tränen schössen ihr in die Augen. Sie blinzelte, schluckte und straffte dann die Schultern. „Vielleicht ist das wahr", gab sie zurück. „Aber ich glaube trotzdem, dass du einen Fehler
machst, wenn du Jason fortschickst." Anthony sah an ihr vorbei und griff nach seinem Sektglas. Er trank den letzten Schluck und langte nach der Flasche, um nachzuschenken. Allie wurde von Ärger überwältigt. Sie packte Anthonys Arm. „Hör mir zu, Anthony!" forderte sie eindringlich. „Ich weiß, wovon ich rede. Auch ich wurde auf eine besondere Schule geschickt, um mit Kindern zusammen zu sein, die dasselbe geistige Niveau hatten. Es war furchtbar!" „Das kann man doch gar nicht vergleichen", meinte Anthony und schob ihre Hand von seinem Arm. „Das war eine völlig andere Situation." „Es war genau das gleiche!" Einen Moment lang sah Anthony ihr in die Augen. Dann lachte er freudlos auf. „Sei mal realistisch, Allie. Es ist nicht dasselbe. Jason wird unter günstigen Umständen leicht lernen. Es tut mir leid, wenn du in der Schule Schwierigkeiten hattest, aber du kannst deine Erfahrungen nicht mit dem vergleichen, was Jason erleben wird. Mein Sohn ist ein Genie", fügte er stolz hinzu und musterte Allie leicht verächtlich. Was man von dir nicht behaupten kann, sagte sein Blick. „Es wäre unverantwortlich von mir als Vater, wenn ich Jason nicht jede Gelegenheit geben würde, seine Intelligenz zu entfalten." Anthony hatte missverstanden, was sie, Allie, über ihre Internatszeit gesagt hatte. Er dachte, es habe sich um eine Art Sonderschule für lernbehinderte Kinder gehandelt. Würde es helfen, ihn über seinen Irrtum aufzuklären? Allie betrachtete sein Gesicht. Der Ausdruck war hartund unnachgiebig. Anthony hatte eine Entscheidung getroffen, und sie, Allie, würde so oder so nichts daran ändern können. Dennoch unternahm sie einen letzten Versuch. „Aber bedeutet das denn wirklich, dass Jason fortgeschickt werden muss?" „Ja." Zum Zeichen, dass die Diskussion beendet sei, knüllte Anthony seine Serviette zusammen und legte sie neben seinen Teller. „Möchtest du Kaffee?" Allie nickte. „Ich werde uns welchen machen." Sie stand hastig auf und verließ den Raum. Anthony unternahm keinen Versuch, sie aufzuhalten. Allie blieb ziemlich lange in der Küche und grübelte dort vor sich hin. War sie schuld an dem Streit gewesen? Hatte sie sich in Dinge eingemischt, die sie nichts angingen? Aber wie hätte sie schweigen können, wenn der Mann, den sie liebte, eine so verhängnisvolle Entscheidung traf? In diesen letzten Tagen hatte sie Jason ebenso lieben gelernt wie seinen Vater. Sie wollte nicht, dass Jason unglücklich war, und das würde er bestimmt sein, wenn Anthony ihn nach Montreal schickte. Jason brauchte seinen Vater, und Anthony ... brauchte er seinen Sohn nicht ebenfalls? Als Allie sich nicht mehr länger mit dem Kaffeemachen aufzuhalten wagte, stellte sie alles Nötige auf ein Tablett und trug es zum Esszimmer. An der Tür blieb sie einen Augenblick lang stehen. Anthony hatte die Vorhänge geöffnet und sah missvergnügt hinaus aufs Wasser. Sie hatte das Gefühl, das Herz müsse ihr brechen. Noch vor wenigen Sekunden hatte sie nicht vorgehabt, sich zu entschuldigen, weil sie genau wusste, dass sie Jasons Zukunft besser beurteilen konnte und daher im Recht war. Aber nun ... Allie ertrug es einfach nicht, wenn Anthony böse auf sie war. Er wandte sich um und entdeckte sie an der Tür. Sofort betrat Allie das Zimmer und stellte das Tablett auf den Tisch, „Es tut mir leid, dass ich mich eingemischt habe", sagte sie leise. „Es stimmt wohl, es geht mich nichts an. Du bist Jasons Vater und hast über seine Zukunft zu entscheiden." „Richtig", erwiderte Anthony kurz und bündig. Er kam zu Allie und goss sich Kaffee ein. „Aber natürlich hast du ein Recht auf deine eigene Meinung." Damit wandte er sich wieder ab und ging zum Fenster zurück. Ihr sank das Herz. Sie hätte sich die Entschuldigung sparen können. Er legte keinen Wert darauf. Allie nahm ihre Tasse und setzte sich an den Tisch. Es herrschte nun Stille, und das Schweigen
wurde immer bedrückender. Nach ein paar Minuten drehte Anthony sich um, blickte Allie an und bemerkte im Gesprächston: „Du kannst offenbar schon wieder ganz gut mit der rechten Hand hantieren." Das waren höfliche Worte des Gastgebers. Anthony tat so, als habe es nie einen Streit gegeben. „Ja. Ich habe nicht einmal an die Verletzung gedacht, als ich das Tablett hier hereintrug." Allie rührte in ihrem Kaffee, obgleich sie weder Zucker noch Sahne hineingetan hatte. „Ich glaube, du bist jetzt wieder in der Lage, dich selbst zu versorgen." Sie spürte, dass alles Blut aus ihrem Gesicht wich. Ihre Hände wurden kalt und feucht, und sie spürte die Kälte auch in ihrem Herzen. Allie musste schlucken, ehe sie sprechen konnte. „Das glaube ich auch. Vielleicht sollte ich wieder in die Hütte ziehen." Anthony antwortete nicht, ließ aber ihren Blick nicht los. Sie meinte, in seinen Augen einen Schatten der Trauer zu sehen, doch einen Moment später war dieser Eindruck verflogen. Schließlich räusperte Allie sich und sagte steif: „Vielleicht sollte ich noch heute abend gehen." Anthony lächelte herablassend und wies zum Fenster. „Sei nicht albern. Die Sonne ist untergegangen, und es wird bald stockdunkel sein." Sie biss sich auf die" Unterlippe. Dann schob Allie die Tasse jäh beiseite und stand auf. „Nun, packen kann ich ja schon mal." „Wie du möchtest." Er zuckte die Achseln und sah wieder zum Fenster hinaus. Allie verharrte und schaute auf Anthonys breiten Rücken. So konnte es doch einfach nicht zu Ende gehen! Jeden Augenblick würde Anthony sich umdrehen und sie anlächeln, um ihr zu zeigen, dass er sie nur geneckt hatte. Sie hatten sich gestritten, nun ja, aber das konnte doch kein ausreichender Grund sein, sie wegzuschicken? „Es tut mir wirklich schrecklich leid, wenn du meinst, ich hätte mich ungebührlich in Jasons Leben eingemischt", sagte sie nach einer Weile. Stille. Es war, als hätte Allie nichts gesagt. Tränen traten ihr in die Augen, und sie sah traurig auf den Mann, den sie liebte. In einem letzten verzweifelten Versuch flüsterte sie: „Ich liebe dich, Anthony." Er fuhr herum. Sein Gesicht war vor Ärger verzerrt. Mit harter Stimme befahl er: „Geh endlich, Allie. Dies ist das Ende, also lass mich allein!" Allie steuerte ihren Wagen behutsam die Auffahrt hinauf, hielt vor dem geschlossenen Garagentor und stieg aus. Einen Moment lang betrachtete Allie den großen Ziegelbau, in dem ihre Eltern lebten. Meine letzte Zufluchtsstätte, dachte sie bitter. Während ihres Aufenthaltes daheim würde sie sich die Männer, die sie traf, sehr genau anschauen. Wenn etwas schiefging, gab es keinen Ort mehr, an den sie fliehen konnte. Dann sagte sie sich, dass wenig Gefahr bestand, was Männer anging. Kevin hatte ihr Herz verletzt, aber Anthony hatte es gebrochen, und es würde lange dauern, bis es wieder heilte, falls das überhaupt möglich war. Wenn sie ihn doch bloß nicht so sehr lieben würde! Sie wurde von einer Welle der Verzweiflung gepackt und musste auf dem Weg zum Haus innehalten, um sie zu überwinden. Seit dem Abend, an dem sie über Jasons Zukunft gesprochen hatten, hatte Allie nicht mehr mit Anthony geredet. Sie hatte die ganze Nacht schlaflos im Bett gelegen, gewartet und gehofft, dass er zu ihr kommen und ihre Entschuldigungen annehmen würde. Aber er war nicht gekommen. In der Morgendämmerung war Allie in einen schweren Schlaf gefallen, hatte nicht einmal das Wasserflugzeug starten hören. Frances hielt sich in der Küche auf, als Allie schließlich aus ihrem Schlafzimmer kam. Anthony hatte der Haushälterin bereits mitgeteilt, dass Allie an diesem Tag in das Häuschen zurückgehen würde. Es gab für sie nichts zu tun, außer ihren Koffer zu nehmen und sich in die Hütte zurückzuziehen. Am Nachmittag jenes Tages hatte Allie beschlossen, zu Anthony zu gehen und mit ihm zu sprechen. Vielleicht gab es ja doch einen Weg, sich wieder zu vertragen. Das Wasserflugzeug traf pünktlich ein, aber sie wollte Anthony noch die Zeit gönnen, Jason zu sehen und sich von
der Arbeit zu erholen. Als Allie gegen Abend zufällig aus dem Dachbodenfenster schaute, sah sie Anthony an der Ecke der Veranda stehen. Er blickte auf die See hinaus. Irgendwie wirkte die einsame Figur so niedergeschlagen, dass Allies Hoffnungen stiegen. Anthony vermisste sie und bedauerte den Streit bestimmt ebenso wie sie! Sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden und auf den Weg zu Anthony machen, da trat jemand zu ihm - Elaine. Er schlang den Arm um ihre Taille und hob die Hand, um Elaine etwas zu zeigen. Allie hatte das unheimliche Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. An einem anderen Abend hatte Anthony ebenfalls dort gestanden und eine Frau im Arm gehalten. Anthony hatte von Brother Twelfth gesprochen, dem unwiderstehlichen Frauenhelden ... Für Allie kam eine Aussöhnung nun nicht mehr in Frage. Statt zu Anthony zu gehen, packte sie ihre Sachen. Am nächsten Morgen fuhr sie ab. Sie war so feige gewesen, Alexandra nur einen Zettel zu hinterlassen, auf dem sie ihr für die geliehenen Gegenstände dankte, und sich dafür zu entschuldigen, dass sie ohne Abschied ging. Nein, sie, Allie, hätte es nicht übers Herz gebracht, die Freundin noch einmal zu sehen. Alexandra hätte gebohrt und keine Ruhe gegeben, bis sie ihr eine Erklärung für die verfrühte Abreise gegeben hätte. Nach der Affäre mit Kevin hatte sie das Bedürfnis ge habt, über ihre Trauer und Enttäuschung zu sprechen, um sie zu verarbeiten. Diesmal hätte ihr das Reden jedoch nicht geholfen. Der Schmerz saß zu tief und war zu groß, um daran zu rühren. Die Tür wurde schon geöffnet, ehe Allie ihr Elternhaus erreichte. Laura Smith kam mit schnellen, leichten Schritten auf ihre Tochter zu, um sie zu begrüßen. Allies Mutter war groß und schlank und besaß eine elegante und gebildete Art. Geschickt färbte sie ihr Haar, so dass es dasselbe Blond aufwies wie in ihrer Jugend. „Allie!" rief Laura aus und machte eine Geste, als wolle sie ihre Tochter umarmen. Allie zog sich instinktiv vor der Umarmung zurück. „Hallo, Mutter", sagte sie ruhig. Laura ließ die Arme sinken. Mit gezwungener Herzlichkeit erklärte sie: „Dein Vater und ich waren sehr überrascht, als du anriefst und sagtest, dass du kommen wolltest." Sie nahm Allie den Koffer ab und ging mit ihr zum Haus. „Du hast dich ja an der Hand verletzt!" rief Laura nach einem Blick auf Allies bandagiertes Handgelenk aus. „Ach, es ist kaum noch der Rede wert." Während der ganzen langen Fahrt durch das Land hatte Allie den Arm geschont, so gut es ging: Er machte ihr keine Schwierigkeiten. „Hm ..." Laura schaute erneut auf den Verband. „Hast du dir deshalb im Institut freigenommen?" Allie wurde klar, dass sie nicht mehr mit ihren Eltern in Verbindung gewesen war, seit sie ihre Stellung aufgegeben hatte. Es schien Jahre her zu sein. Allie verspürte ein leises Schuldgefühl, sagte sich aber gleich darauf, dass die Beziehung zwischen ihr und ihren Eltern ohnehin nicht eng war. Sie war auch jetzt nur gekommen, weil sie nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte. „Ich habe vor einigen Wochen im Institut aufgehört und bin Richtung Westen gefahren, um Alexandra zu besuchen", erklärte sie, während sie und ihre Mutter das Haus betraten. „Alexandra? Ist das deine Freundin aus dem College?" „Ja.“ „Du hast also gekündigt", sagte Laura, stellte den Koffer neben die Treppe, die in den ersten Stock führte, und blickte Allie neugie rig an. Laura lagen einige Fragen auf der Zunge, aber als sie das verschlossene Gesicht ihrer Tochter sah, erkundigte sie sich nur: „Hast du schon zu Mittag gegessen? Ich habe ..." Allie winkte ab. Sie war zu sehr deprimiert, um Gespräche zu führen. Eigentlich wollte sie sich nur in ihrem Zimmer verkriechen, um in Ruhe ihre Wunden zu lecken. „Ich bin nicht hungrig, nur ein wenig müde. Ich würde gern in mein Zimmer gehen und mich ein bisschen
ausruhen." „Ja, natürlich, du hast ja eine lange Fahrt hinter dir." Ehe Laura sich umwandte, um den Koffer zu nehmen und hinaufzutragen, sah Allie, dass ein Schatten über das Gesicht ihrer Mutter huschte, und empfand neben der Niedergeschlagenheit auf einmal Überraschung. Sie scheint verletzt zu sein, weil ich sowenig Wert auf ihre Gesellschaft lege, dachte Allie. Niemals hätte sie vermutet, dass Laura das etwas ausmachen könnte. Die Eltern hatten sie, Allie, jahrelang von einem Internat ins andere und von einem Camp zum nächsten geschickt, dass sie eher gemeint hätte, ihre Mutter sei erleichtert, dass sie sich nicht an ihren Schürzenzipfel hängte. „Ich glaube, eine Tasse Kaffee würde mir guttun, ehe ich hinaufgehe", sagte Allie spontan. Sie war sich jedoch nicht sicher, ob sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter richtig gedeutet hatte. Laura drehte sich um und lächelte strahlend. Ihre Freude war offensichtlich! Sie war also tatsächlich verletzt gewesen. „Ich setze das Wasser auf. Möchtest du im Wohnzimmer warten, während ich in der Küche alles vorbereite?" Allie wollte sich schon einverstanden erklären, um ein paar Minuten für sich zu haben, aber plötzlich wurde ihr bewusst, wie selbstsüchtig das wäre. Ihre Mutter schien wirklich glücklich zu sein, sie wiederzusehen. . Allie lächelte Laura an und sagte: „Lass mich mit dir kommen. Weißt du, eine Freundin wollte mir das Kochen beibringen, aber..." Sie stockte, als sie an Anthonys Haushälterin dachte, und musste schlucken, ehe sie fortfahren könnte. „Du machst immer so guten Kaffee. Zeigst du mir, wie man es macht? Wenn ich es versuche, schmeckt er scheußlich, daher verwende ich fast nur noch Instantkaffee." Sie hakte sich bei ihrer Mutter ein und drückte leicht deren Arm. Laura strahlte, zog Allie enger zu sich heran und sagte: „Natürlich zeige ich dir, wie man Kaffee kocht, Liebes. Ich kann dir auch beibringen, wie man kocht, während du hier bist. Mir war nie klar, dass du es lernen möchtest." Allie empfand es als angenehm, in der Küche mit ihrer Mutter Kaffee zu trinken. Sie waren zwar beide noch .ein bisschen befangen, unterhielten sich jedoch munter über alles mögliche. Dadurch wurde die Verzweiflung etwas gelindert, mit der Allie seit dem Bruch mit Anthony gelebt hatte. Sie wusste, dass sie der Gedanke an Anthony immer schme rzen würde. Jetzt aber, da sie mit ihrer Mutter zusammen war, erkannte sie, dass sie es schaffen konnte, damit zu leben. „Ich bin überrascht, dass du die Stelle im Institut aufgegeben hast. Ich dachte, du seist dort glücklich, hoffentlich ist nicht ir gend etwas schiefgelaufen", sagte Laura schließlich. Sie sah ihre Tochter nicht an, sondern rührte ihren Kaffee um. „Es wurde Zeit für einen Wechsel", erwiderte Allie ausweichend. Sie fühlte sich bei ihrer Mutter wohler, als sie gedacht hatte, war allerdings noch lange nicht zu einem vertraulichen Gespräch bereit. In dem folgenden Schweigen lag eine leichte Spannung, und Allie merkte, dass sie von ihrer Mutter ausging. „Stimmt irgend etwas nicht, Mom?" „Es ist alles in Ordnung", versicherte Laura. „Nur... nun, ich glaube, du weißt, dass dein Vater und ich nicht dafür waren, dass du den Job annahmst." „Ja, das weiß ich", gab Allie zurück. Sie biss die Zähne zusammen, fuhr nach einer Weile defensiv fort: „Ihr wolltet, dass ich an der Universität von Toronto arbeite." Mit einemmal schien eine feindselige Stimmung zu herrschen. Doch schließlich sagte Laura ruhig: „Ich glaube, du hast uns damals nicht verstanden. Wir hatten sozusagen deine ganze Jugend verpasst. Du warst ja immer in irgendwelchen Schulen, fort von zu Hause. Natürlich hat es sich gelohnt", setzte sie so nachdrücklich hinzu, als habe sie insgeheim einige Zweifel daran. „Du hattest die Ausbildung, die jemand mit deinen Geistesgaben verdient. Aber.... natürlich vermissten wir dich. Nachdem du das Studium abgeschlossen hattest, hofften wir,
du würdest einen Arbeitsplatz wählen, der hier in der Nähe liegt, so wie der bei der Universität von Toronto. Dann hättest du daheim leben können, und wir hätten uns besser kennengelernt." „Ich verstehe..." Von dieser Seite hatte Allie die Dinge noch gar nicht gesehen. Das Haus ihrer Eltern lag in einem Vorort von Toronto, und wenn sie die Stelle an der Uni angenommen hätte, hätte sie tatsächlich bei ihnen leben können. Sie war jedoch nie auf den Gedanken gekommen, dass sie das wünschten. Jetzt wünschte sie sich, ihre Mutter hätte ihr das schon damals gesagt, obwohl es für die Arbeitsplatzwahl nicht ausschlaggebend gewesen wäre. „Ich weiß, dass Henning weit entfernt ist, aber der Job entsprach eher meinen Vorstellungen", erklärte Allie nun. „Außerdem arbeiten im Institut einige der besten Köpfe des Landes. Ich wollte von ihnen lernen, indem ich mit ihnen arbeite." „Ja, mir ist bekannt, dass das Institut erstklassige Mitarbeiter hat. Dein Vater und ich fragten uns jedoch, ob du an der Universität nicht glücklicher wärst, wo wenigstens die Studenten deiner Generation angehören. Als Kind hattest du wenig Möglichkeiten, Freunde zu finden. Ich glaube, dass so gut wie alle großen Geister am Institut Jahre älter sind als du. Es wäre doch schön für dich gewesen, mit jungen Menschen zusammenzukommen, Verabredungen zu treffen und so weiter." Allie schwieg. Sie wusste nicht recht, was sie erwidern sollte. Die beiden haben meine Schwierigkeiten besser gekannt, als ich die ganzen Jahre lang geglaubt habe, dachte sie. Ich habe immer angenommen, sie seien froh, mich los zu sein, wenn ich wieder mal an einem Sonderprogramm teilnahm, aber da habe ich mich anscheinend geirrt. Offenbar hatten ihre Eltern sich gewünscht, sie bei sich zu haben, hatten jedoch gemeint, sie handelten im besten Interesse ihres Kindes. Leider wusste Allie, dass die Meinung der Eltern falsch gewesen war. Ein schönes Zuhause und liebende Eltern waren weit wichtiger als alle speziellen Lernprogramme auf der Welt. Allie überlegte. Sollte sie ihrer Mutter all das jetzt sagen? Nein, es wäre sinnlos, würde sie nur verletzen, weil sie wirklich das Beste gewollt hatte. Unwillkürlich dachte sie an Anthony. Auch er hatte das Beste für Jason im Auge - und würde denselben Fehler wie ihre Eltern machen. Sie hatte es nicht geschafft, ihn davon zu überzeugen, dass er sich im Irrtum befand... „Ich höre das Auto deines Vaters", sagte Laura plötzlich und stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. „Ja, da ist er." Wenig später betrat Everest Smith die Küche. Neben der Tür blieb er stehen und betrachtete seine Tochter. „Du bist heute früh daheim, Everest", bemerkte Laura. Er riss den Blick von Allie los und antwortete: „Ich wusste ja, dass Allie heimkommen würde, also habe ich mein Büro eher verlassen, um bei ihrer Ankunft zu Hause zu sein, aber nun ist sie ja schon da..." Everest sah Allie wieder an. Sie spürte, dass er unsicher war, sogar richtig scheu ihr gegenüber. Im ersten Impuls hatte er sie umarmen wollen, dann offensichtlich befürchtet, zurückgewiesen zu werden. Allie hatte diesen Fehler bei ihrer Mütter gemacht, wollte ihn jetzt nicht wiederholen und stand schnell auf. Rasch trat sie auf ihren Vater zu und schlang die Arme um seinen Nacken. „Hallo, Daddy", sagte sie heiser. Everest drückte sie fest an sich. Nachdem er sie wieder losgelassen hatte, ging sie zu Laura, „Es tut mir leid, dass ich mich ein bisschen abweisend verhalten habe, als ich angekommen bin. Bitte vergiss es." Allie umarmte ihre Mutter herzlich und flüsterte dann: „Hallo Mom, ich bin froh, wieder zu Hause zu sein."
10. KAPITEL
Während die Monate vergingen, war Allie tatsächlich froh, daheim bei ihren Eltern zu sein. Sie hatte schwer mit ihren Gefühlen zu kämpfen. Ihre Liebe zu Anthony war zu stark, Allie konnte ihn nicht vergessen. Schmerz und Sehnsucht drohten sie oft zu überwältigen. Doch die innige, liebevolle Bindung, die sich zwischen ihr und ihren Eltern entwickelte, half ihr über die schlimmsten Momente hinweg. Langsam, aber sicher entdeckte sie, dass das Leben auch ohne Anthony lebenswert sein konnte. Ein angenehmer Tagesablauf hatte sich eingespielt, und sie genoss ihre Tochterrolle. Sie musste nicht arbeiten gehen, ihre Eltern richteten ihr ein Arbeitszimmer ein, wo sie sich dem Fischzählprogramm zu widmen vermochte. Als sie es vollendet hatte, wandte sie sich anderen Projekten zu. Nebenbei lernte Allie zu kochen und zu backen. Dadurch machte sie eine weitere positive Erfahrung, was ihre Eltern anging. Sie hatte sich immer über den Stolz geärgert, den die beiden über ihren, Allies, akademischen Erfolg an den Tag legten. Sie schienen sich im Glanz ihrer Tochter zu sonnen und sich das Verdienst für deren große Intelligenz zuzuschreiben, obwohl es doch wohl einfach nur eine Laune der Natur gewesen war, die sie damit ausgestattet hatte. Als Laura und Everest jedoch denselben Stolz über Allies ersten selbstgebackenen, nicht allzu gelungenen Kuchen zeigten, begann sie, die beiden mit anderen Augen zu betrachten. Ihre Eltern liebten sie wirklich und hätten denselben Stolz gezeigt, wenn sie eine schlechte Schülerin gewesen wäre, die nur mit Mühe mittelmäßige Noten erhielt. Nach dieser Erkenntnis änderte sich auch die Einstellung Allies zu ihrer Intelligenz. Die Haltung der Eltern hatte Allie einst den Eindruck vermittelt, sie sei einzigartig wegen ihres hohen Intelligenzquotienten. Doch sie schämte sich dessen, weil sie sich vorkam wie ein seltsames Wesen. Dementsprechend führte sie ihr Leben, verhielt sich, was alltägliche Dinge betraf, oft schusselig und kleidete sich merkwürdig, bis Alexandra sich ihrer annahm. Außerdem hatte Allie nie etwas gelernt, was über ihr akademisches Feld hinausreichte. Das zeigte sehr gut, wie ausgefallen sie sich früher selbst einschätzte. Die neuen Einsichten kamen Allie zugute, als sie eine Einladung erhielt, auf der Jahresversammlung der Gesellschaft für Computerprogrammierung und Entwicklung von Programmen zu sprechen. In der Vergangenheit war Allie solchen Verpflichtungen aus dem Weg gegangen, da sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen mochte. Diesmal jedoch schickte sie keine höfliche Absage. Everest und Laura waren von der Einladung beeindruckt und hätten nicht verstanden, warum sie die große Ehre ablehnte, bei einer solchen Versammlung einen Vortrag zu halten. Außerdem würde die Reise bestimmt Spaß machen und Allie guttun, meinten ihre Eltern. Die Gesellschaft tagte in Las Vegas, Nevada, wo sie noch nie gewesen war. Allie wusste, dass die Eltern sich Sorgen um sie machten. Sie hatte es nie fertiggebracht, ihnen von Anthony zu erzählen, trotzdem hatten sie erkannt, dass etwas nicht stimmte, denn sie konnte ihren Kummer nicht ganz vor ihnen verbergen. Sicherlich würde es ihre Eltern ein wenig beruhigen, wenn sie die Reise machte.
Nach einigen Tagen fand Allie, dass es richtig war, an dem Kongress teilzunehmen. Sie lernte vieles aus den Vorträgen, aber noch viel mehr in der Freizeit. Von einer Gruppe jüngerer Kongressteilnehmer bekam Allie Blackjack, Poker und Ghemin de Fer beigebracht. Manchmal war das ganz schön kostspielig, aber das Geld schien nicht wichtig. Die fröhliche Gruppe nahm das Spiel nicht ernst, und alle konnten lachen, ob sie gewannen oder verloren. Am Nachmittag des dritten Tages trennte Allie sich früh von ihren Freunden. Sie nahm die Chips, die am Blackjack-Spieltisch vor ihr lagen, und ließ sie in ihre Tasche fallen. „Ich höre für heute auf, erklärte Allie und glitt von ihrem Hocker. Der blonde Mann neben ihr sah zu ihr hoch und sagte: „Bleiben Sie doch noch ein Weilchen.
Sie dürfen einfach nicht aufhören, wenn Sie eine Glückssträhne haben." Er lächelte Allie an. Sie verzog das Gesicht. An diesem Nachmittag hatte sie tatsächlich gewonnen - getreu dem alten Spruch: Pech in der Liebe, Glück im Spiel. „Ich muss jetzt gehen, Eric. Ich möchte mir noch einmal meine Notizen für heute abend durchlesen." An diesem Abend sollte sie ihren Vortrag halten. Außerdem hatte sie vorher noch mit dem Vertreter einer Software-Firma über den Verkauf des Fischzählungsprogramms zu verhandeln. Eric Peterson wollte Allie nicht so einfach davonschlüpfen lassen. Sie gefiel ihm. Dass sie auf ihrem Gebiet eine Expertin war, interessierte ihn nicht, obgleich er dumme Frauen nicht schätzte. Allies taubengraue Augen und ihr seidiges blondes Haar sowie ihre kurvenreiche Figur waren ihm wichtiger als ihr Intelligenzquo tient. Als der Geber einen König auf die Zehn und die Drei legte, die Eric Peterson hielt, raffte er seine übrigen Chips zusammen und stand auf, um Allie zu folgen. „Wahrscheinlich können Sie Ihre Rede schon auswendig. Ich würde Sie gern zum Essen einladen", sagte er, nachdem er sie eingeholt hatte. „Ich kann jetzt nichts essen", erwiderte sie. „Die Ameisen in meinem Magen sind dagegen." „Dann lassen Sie uns einfach einen Drink nehmen", schlug er vor. Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte wirklich lieber eine Zeit lang allein sein. Im Moment bin ich nicht in der Stimmung für Gruppenunternehmungen." „Ich hatte nicht vor, die anderen mitzunehmen." Eric Peterson wies auf die Spieler, die noch am Tisch saßen. „Ich dachte nur an uns beide. Möchten Sie denn nicht mal mit mir allein sein?" fragte er schelmisch. Allie musterte ihn. Eric zählte zu den Kongressteilnehmern, mit denen sie in den letzten Tagen ihre Freizeit verbracht hatte. Als Einzelwesen hatte sie ihn bisher noch nicht betrachtet. Nun stellte sie fest, dass er eigentlich recht attraktiv war - groß und blond, mit lachenden blauen Augen. Er war Fachdozent, also bestimmt nicht dumm, und hatte eine glänzende Karriere vor sich. Eine Menge Mädchen würde sein offensichtliches Interesse sehr freuen. Allie wünschte sich, sie wäre eine von ihnen. Sanft erwiderte sie: „Es tut mir leid. Ich möchte wirklich auf mein Zimmer gehen. Vielleicht nach meiner Rede?" Letzteres sagte sie nur, um die Zurückweisung abzuschwächen. Seit der Trennung von Anthony waren schon einige Monate vergangen, trotzdem fühlte Allie sich nicht in der Lage, eine neue Beziehung einzugehen. „Dann werden wir wieder mit den anderen Zusammensein", meinte Eric und sah über die Schulter auf die Gruppe, von der sie sich entfernt hatten. Schief lächelnd blickte er Allie wieder an. „Nichts für ungut." Damit wandte er sich um und kehrte zum Blackjack-Tisch zurück. Allie betrat den erstbesten Lift in der Lobby und drückte auf den Knopf zum obersten Stockwerk, wo ihr Zimmer lag, doch der Aufzug glitt zuerst hinab zu den Parkgaragen. Dort hielt er an, und Allie zog sich ein Stück zurück, um den Zusteigenden Platz zu machen. Hoffentlich hatten die nicht tonnenweise Gepäck bei sich! Aber es stieg nur ein Mann mit einer Aktentasche und einer Reisetasche ein. Allie sah zu ihm auf, während die Tür sich schloss, und hatte auf einmal das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen. Mühsam erlangte sie ihre Fassung wieder. „Anthony?" Er hob den Kopf. „Allie! Was tust du denn hier? Machst du hier Ferien?" „Ich ... nun ..." Sie vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen, hatte das Gefühl, zu halluzinieren. Die Lifttür ging auf und gab den Blick auf die Lobby frei. „Ich habe mich noch nicht bei der Rezeption gemeldet. Wie ist deine Zimmernummer? Ich komme, sobald ich alles erledigt habe." Stille. „Bitte, Allie, wir müssen uns aussprechen."
Sie nannte Anthony die Nummer, immer noch mit dem Gefühl zu träumen. Er sah sie forschend an. „Bis gleich." Damit verließ er den Lift. In ihrem Zimmer angekommen, konnte Allie endlich wieder klar denken. Anthony hatte gesägt, sie müssten sich aussprechen, aber wollte sie das denn wirklich? Würde ein solches Gespräch nicht im Gegenteil den ganzen Schmerz der vergangenen Monate wieder zum Leben erwecken? Wie auch immer, sie, hatte es nicht fertiggebracht, ein Treffen abzulehnen. Sie war noch lange nicht über ihre Liebe zu Anthony hinweg. Ja, sie war noch nicht einmal imstande, eine harmlose Einladung zu einem Drink anzunehmen, geschweige denn eine tiefere Beziehung mit einem anderen Mann einzugehen. Es klopfte an der Tür. Allie atmete tief durch, dann rief sie: „Herein!" Anthony betrat das Zimmer. Eine Zeitlang standen Allie und Anthony einander schweigend gegenüber. Er hat sich verändert, stellte Allie nun fest. Er war nicht mehr so braun, wirkte abgehetzt und schien schlanker geworden zu sein. Das Jackett hing etwas zu lose um seine Schultern. „Darf ich Platz nehmen?" fragte er schließlich. „Selbstverständlich." Allie wies auf einen der beiden Sessel, in der Sitzecke. „Bitte sehr." „Danke." Anthony setzte sich, und Allie ließ sich in dem anderen Sessel nieder. Sie schaute auf ihre Hände, dann aus dem Fenster, danach hinüber zur Uhr. Hauptsache, sie musste Anthonys Blick nicht begegnen. „Ich habe in ein paar Minuten eine Verabredung", sagte sie nach einer Weile, raffte allen Mut zusammen und sah Anthony an. „Worüber möchtest du mit mir reden?" Er machte einen verlegenen Eindruck. „Nettes Hotel, nicht wahr?" wich er aus. „Ich bin hier auf einem Computerkongress. Er hat schon vor ein paar Tage n angefangen, aber ich konnte mich jetzt erst loseisen. Wirklich nett hier, findest du nicht auch?" Anthony war gewiss nicht zu ihr gekommen, um über Belanglosigkeiten zu plaudern. „Ja, sehr nett." Sie räusperte sich. Es gab etwas, was sie brennend interessierte. „Wie geht es Jason auf seiner neuen Schule?" Er rieb sich den Nacken. „Anscheinend hattest du damals recht. Deshalb bin ich auch zu spät zu diesem Kongress eingetroffen. Ich war bei Jason in Montreal und glaube, ich muss ihn heimholen." Wenn Allie bisher an Jason gedacht hatte, dann immer in der Hoffnung, sich geirrt zu haben. Jetzt, da sie wusste, sie hatte die Lage richtig beurteilt, freute sie sich über Anthonys Einsicht. „Ich habe mich in vieler Hinsicht geirrt", gestand er. „Es war falsch, Jason fortzuschicken, und ebenso falsch, dich gehen zu lassen. Ich habe dich vermisst, Allie." Er beugte sich vor und griff nach ihrer Hand. Mit dem Finger zeichnete er die feine Narbe am Handgelenk nach. „Als du fort warst, machte ich mir Sorgen um dich. Alexandra sagte mir, du hättest ihr die Nachricht hinterlassen, du würdest nach Osten zu deinen Eltern fahren. Ich war in Sorge, dass dir etwas passieren könnte, wo doch dein Arm noch nicht richtig verheilt war. Es war dumm, einfach davonzulaufen, Allie." „Dumm! Natürlich." Allie entzog Anthony ihre Hand. „Ich hatte wohl keine große Wahl. Du wolltest, dass ich ging. Du hast dir seitdem auch nicht die Mühe gemacht, dich mit mir in Verbindung zu setzen." Er ballte die Hände zu Fäusten. „Du hast recht. Ich ... konnte mir nicht vorstellen, dass unsere Beziehung gutgehen würde." „Ich hatte dir gesagt, dass ich dich liebe." Er nickte. „Ich weiß. Das machte es mir noch schwerer, dich wegzuschicken." „Warum hast du es überhaupt getan?" verlangte sie zu wissen. Anthony sah sie an. In seinen dunklen Augen stand tiefes Bedauern. „Es ist schwer zu erklären. Meine Frau und ich hatten eine sehr altmodische Beziehung. Natalie und ich heirateten, nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte. Ich ging arbeiten, sie blieb daheim."
Anthony stand auf und trat ans Fenster, blickte auf die Stadt nieder. „Sie konnte wunderbar kochen", sagte er wie zu sich selbst. „Sie nähte ihre Kleider selbst. Wir hatten einen großen Garten, sie machte das Gemüse und Obst ein..." „Ich verstehe", erwiderte Allie leise. Und sie verstand es wirklich. Natalie Summerville war in jeder Hinsicht anders gewesen als sie, Allie. Trotz aller Lektionen ihrer Mutter konnte sie nur mäßig kochen. Und was Natalies andere Talente betraf - keine Aussichten. Mit dem Lösen von Differentialgleichungen vermochte sie zu dienen, aber sie war kein perfektes Hausmütterchen. Anthony hatte das erkannt, und die Beziehung unter anderem auch deshalb beendet. Er wollte eine häusliche Frau - eine wie Elaine vielleicht. Allie schluckte. Hatte er sie sehen wollen, um ihr beizubringen, dass er Elaine geheiratet hatte? „Ich komme zu spät zu meiner Verabredung", sagte Allie und stand auf. „Ich muss dich jetzt leider bitten zu gehen." Anthony fuhr herum. Verblüfft sah er sie an. „Was soll das heißen? Ich habe doch noch gar nicht angefangen ..." „Ich glaube, du hast alles Nötige bereits gesagt." „Ich..." „Sei still, Anthony", unterbrach Allie ihn. Schmerz und Ärger gingen mit ihr durch. „Ich will das nicht hören. Gut, du hattest eine perfekte Frau und jetzt hast du in Elaine wieder so ein Wunderwesen gefunden. Schön für dich!" „Glaubst du, ich hätte dir deshalb von Natalie erzählt, weil ich wieder eine Frau suche wie sie, jemanden wie Elaine?" Er trat auf sie zu und packte sie bei den Schultern. Allie versuchte, sich zu entwinden, aber er hielt sie fest. „Ich heirate Elaine nicht. Das habe ich nie gewollt." Plötzlich rollten Tränen über ihre Wangen. „Nein?" Anthony zog Allie an sich und hielt sie ganz fest. „Nein, du dummes kleines Mädchen", versicherte er. „Ich weiß nicht, wie du auf solche verrückten Ideen kommst, mit dieser liegst du jedenfalls total daneben. Ich kenne Elaine schon lange und habe öfter mal etwas mit ihr unternommen, weil sie nicht viele Leute kennt und schwer Kontakt findet. Mehr ist zwischen uns nie gewesen." Das klang aufrichtig, und ihre Ängste schwanden. Vor Erleichterung wurde ihr schwach in den Knien. Am liebsten hätte sie noch länger in Anthony s Armen gelegen, aber er hielt Allie ein wenig von sich weg und sah in ihre tränenfeuchten Augen. „Jetzt, wo das geklärt ist, wirst du mich ausreden lassen?" Neue Zweifel überfielen Allie. Hatte sich zwischen ihnen überhaupt etwas geändert? Er war der Ansicht gewesen, dass die Beziehung zwischen ihnen nicht funktionieren würde .... Allie löste sich von Anthony und trat einen Schritt zurück. „Ich bin völlig anders als deine erste Frau, Anthony. Ich bin einfach nicht der Typ Hausfrau." „Ich möchte ja gar kein Hausmütterchen", erklärte er mit Nachdruck. „Lass mich doch endlich ausreden. Als ich Natalie heiratete, liebte ich sie, aber als sie starb, wusste ich trotz aller Trauer, dass ich nicht mehr glücklich mit ihr gewesen war. Wir stritten uns nicht, wir hatten einfach nichts gemeinsam, von Jason abgesehen. Ich wollte mehr von meiner Partnerin als gutes Essen, ein sauberes schönes Heim und ein warmes Bett. Kurz gesagt, Natalie langweilte mich." Er legte ihr die Hände wieder auf die Schultern. „Ich ließ dich gehen, weil ich meinte, unsere Beziehung würde sich so entwickeln, wie meine erste Ehe. Davor habe ich jetzt noch ein wenig Angst." „Das verstehe ich nicht", erwiderte Allie und schüttelte den Kopf. „Wovor hast du Angst? Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht so bin wie deine erste Frau. Ich bin nicht häuslich. Ich ..." Ehe sie fortfahren konnte, klopfte es an der Tür. Anthony ließ Allie los und sagte: „Am besten, du schaust nach, wer es ist." Sie nickte und ging zur Tür. Wer immer das sein mochte, er kam nicht sehr gelegen. Es war der Hotelpage. „Dr. Smith?" Allie nickte.
„Diese Nachricht wurde für sie an der Rezeption hinterlassen." Der Page reichte ihr einen weißen Umschlag, den sie entgegennahm. „Moment mal." Sie gab dem Jungen ein Trinkgeld, „Vielen Dank." Er schloss die Tür hinter sich, und Allie lehnte sich dagegen, blickte auf den Umschlag, dann auf die Uhr. „Verdammt, ich bin schon zehn Minuten zu spät für meine Verabredung!" Allie riss den Umschlag auf, zog den Briefbogen heraus, las. „Oh, gut, das Treffen ist verschoben worden..." Sie verstummte, ihr Blick war auf die Unterschrift gefallen. Erschrocken sah Allie Anthony an. „Aragon Software, das bist du?" „Und du bist Dr. A. Smith!" Sein grimmiger Tonfall erschreckte sie, und sie beäugte Antho ny vorsichtig. Sie hatte gar nicht mehr an die Rolle der dummen Blondine gedacht, die sie im Sommer gespielt hatte. Allie zwang sich, in leichtem Ton zu sagen: „Ja, natürlich bin ich das. Hast du das inzwischen nicht erfahren?" Anthony antwortete nicht. Sie ging in die Offensive. „Ich erwähnte doch, ich hätte eine Verabredung. Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie mit dir war? Dann hätte ich mir keine Sorgen machen müssen, sie zu verpassen." „Ich habe meine Verabredung mit A. Smith, Doktor der Wissenschaft, verschoben. Es ging um das neue Software-Paket, dass er - oder besser sie, für die Fischzuchtindustrie entworfen hat." Anthony blickte an Allie herab. „Wie, bitte, hätte ich wissen sollen, dass es sich um die dumme Blondine handelte, die ich im letzten Sommer kennengelernt hatte?" „Also hat Alexandra dich nicht aufgeklärt?" „Nein, das hat sie nicht!" Er knirschte mit den Zähnen. „Ihr beide müsst euch ja prächtig über meine Dummheit amüsiert haben." Er drängte an ihr vorbei zur Tür. „Ja, hau ruhig ab!" rief Allie. „Du bist genau wie alle anderen Männer. Du kannst die Vorstellung nic ht ertragen, dass ich vielleicht intelligenter bin als du!" Anthony fuhr herum. „Quatsch! Trotz deiner großen Intelligenz bist du offenbar nicht imstande zu begreifen, warum ich im Sommer mit dir Schluss gemacht habe. Ich dachte, du seist so blöd, dass ich mich mit dir zu Tode langweilen würde, wenn wir heiraten wurden. Da siehst du mal, wohin dein dummes kleines Spielchen uns geführt hat!" Sie standen sich gegenüber und musterten einander wütend. Doch auf einmal verflog Allies Ärger. „Du dachtest, ich sei zu dumm, um dir eine gute Partnerin zu sein?" flüsterte sie. „Allerdings", bestätigte Anthony. Seine Stimme klang wieder normal, und plötzlich schmunzelte er. Allie sah es, und In ihr stieg ein nicht zu unterdrückender Lachreiz auf. „Du dachtest, ich sei zu dumm!" wiederholte sie und platzte los. Auch Anthony musste lachen. „Ja, Dr. Smith, man kann es mir eben nicht recht machen", scherzte er dann. Schließlich wurde er wieder ernst. „Meine erste Ehe ... ich wollte den Fehler nicht wiederholen. Mit Natalie konnte ich nicht richtig reden. Sie begriff nie was ich ihr sagen wollte, und am Ende gab ich es auf." „Ich ... ich..." Allie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, du würdest nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, wenn du herausfinden würdest, dass ich..." „ ... dass du ein Genie bist?" vollendete Anthony den Satz. „Im Gegenteil! Ich hätte dir auf der Stelle einen Heiratsantrag ge macht. Als ich versuchte, dich für meine Arbeit zu interessieren, schienst du leider kein Wort davon zu verstehen ..." Sie biss sich auf die Lippe. „Ich war sehr interessiert, habe mich später sogar nach dem neuen Echolotsystem erkundigt, von dem du mir erzählt hattest. Es hat mir dann bei meinem Fischzählprogramm geholfen." „Dadurch ist es dir also gelungen, eine solche Genauigkeit zu erzielen?" „Vermutlich. Ja, ich glaube schon." N
„Na wunderbar! Übrigens ... ich erinnere mich gerade an unsere Schachpartie. Kannst du wirklich nicht richtig Schach spielen?" „Ahm ... doch. Ich bin sogar Meisterin, um genau zu sein." Allie errötete leicht. Er hob die Brauen. „Ich sollte dich wirklich dafür bestrafen, dass du mich so hinters Licht geführt hast", sagte er streng, nahm Allie jedoch zärtlich in die Arme und küsste sie liebevoll. „Worüber waren wir noch am Streiten?" fragte Anthony danach. „Wir haben nicht gestritten." „Nicht?" „Nein. Höchstens ein bisschen." „Dr. A. Smith, ich muss doch sehr bitten! Drückt sich ein hochkarätiger Experte für Mathematik, Physik und Computertechnologie so aus? Ein bisschen, dass..." „In der Liebe gilt eine andere Terminologie, Mr. Summerville." Allie lachte wieder. Er stimmte ein, erkundigte sich dann jedoch mit ernster Stimme: „Hast du tatsächlich geglaubt, ich würde dich zurückweisen, weil du so klug bist?" Allie wich seinem Blick aus, nickte. „Das spricht ja Bände darüber, was du von meinem Charakter hältst", knurrte er und gab sie jäh frei. „Anthony, versteh bitte, so haben Männer auf meine Intelligenz bisher immer reagiert. Alle, bis auf einen, und der hat mich nur ausgenutzt." „War das der Mann, mit dem zu zusammen warst, ehe du nach Vancouver Island kamst?" Erzähl mir von ihm. Hast du ihn geliebt?" Das klang ziemlich eifersüchtig. Allie freute sich darüber, bemühte sich aber, Anthony zu beruhigen. „Eigentlich nicht." Und sie erzählte ihm, was Kevin ihr angetan hatte.
„Dieser Kevin ist offenbar ein sehr berechnender Mensch. Er hat sich dir gegenüber verdammt gemein verhalten", sagte Anthony, nachdem Allie ihre Geschichte erzählt hatte. „Ich hoffe, du denkst nicht, ich heirate dich nur, um ohne Entgelt an dein Fischzählungsprogramm heranzukommen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich ziemlich ärgerlich wäre, wenn du es jemand anderem verkaufen würdest." Allie blickte glücklich zu Anthony auf. „Heiraten wir?" „Natürlich. Als ich dich vorhin im Aufzug sah, wusste ich, dass ich aufhören musste, mir etwas vorzumachen. Dumm oder nicht, ich durfte dich einfach nicht noch einmal gehen lassen, weil es ohne dich kein wahres Glück gibt." Sie strahlte. „Wie wäre es, wenn ich dir das Programm zur Hochzeit schenkte?" „Hm... das klingt ziemlich unromantisch. Nein, das, lasse ich nicht zu. Du bist in Mathematik und Wissenschaft eine Kanone, aber von Geschäften scheinst du nicht viel zu verstehen. Mit dem Programm kannst du ein Vermögen verdienen." „Tatsächlich? Ich dachte, ic h bekäme dafür höchstens ein paar tausend Dollar." „Wenn es hält, was es verspricht, kannst du ein paar Nullen an diese Zahl anhängen." „Oh ... Du hast recht, ich weiß wirklich nicht viel über Geschäfte. Es ist nämlich das erste Mal, dass ich ein selbstgeschriebenes Programm verkaufen wollte. Ich hatte sogar Lampenfieber bei der Vorstellung, mich mit einem Vertreter der Branche zu treffen und mit ihm verhandeln zu müssen." „Nun, du hast Glück, dass ich es bin. Jemand von einer anderen Firma hätte dich wahrscheinlich übers Ohr gehauen, aber ich bin stolz darauf, dass Aragon Software Gewinne macht, ohne zu betrügen.“ Allie lächelte mutwillig. „In Zukunft lasse ich alle Geschäfte von meinem Gatten abwickeln." „Fein." Anthony beugte sich herab, um sie zu küssen, im selben Augenblick klingelte das Telefon. „Verdammt!" „Lassen wir es doch einfach klingeln", schlug sie vor. Dann fiel ihr Blick auf die Uhr neben
dem Bett. Es war bereits fünf nach acht. „O nein!" rief Allie aus. „Ich sollte heute abend um acht einen Vortrag halten, und ich bin noch nicht mal umgezogen!" Sie sah Anthony hilflos an. „Beruhige dich." Er ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. „Hallo? - Ja, Dr. Smith ist hier. Sie wurde aufgehalten, aber sie kommt in ein paar Minuten." Er legte den Hörer zurück und drehte sich zu Allie um, die mitten im Zimmer stand. „Das war die Kongressverwaltung." „Furchtbar! Dass mir immer so Was passieren muss!" Allie schämte sich schrecklich. „Wahrscheinlich wird man mich nie wieder bitten, auf einem Kongress zu sprechen. Und das könnte ich noch nicht einmal übel nehmen." „O doch. Du hast schließlich eine gute Entschuldigung." „Eine gute Entschuldigung?" „Nun, verlobst du dich jeden Tag?" Allie strahlte wieder. „Nein, bestimmt nicht." Sie wollte Anthony umarmen, aber er ließ es nicht zu. „Jetzt wird nicht geschmust", schalt er. „Ich habe den Veranstaltern versprochen, dass du in ein paar Minuten kommst. Wo sind deine Notizen?" „In meiner Aktentasche." Widerstrebend holte Allie sie hervor. „Zum Teufel mit allen Vorträgen der Welt! Ich möchte viel lieber mit dir..." „Beeil dich", unterbrach Anthony sie und nahm ihr die Aktentasche ab. „Mach dich fertig!" „Können wir nicht anrufen und sagen, ich sei soeben verstorben?" Er lächelte, zog die Notizen aus der Aktentasche und begann, die Blätter zu ordnen. „Du willst mich doch wohl nicht um den Augenblick des Triumphes bringen, oder?" „Was meinst du?" Er trat zu Allie und küsste sie auf den Mund. „Ich meine, dass jeder Mann im Saal den Kerl beneiden wird, der die schönste und klügste Frau der Welt bald sein eigen nennen darf. Und dieser Kerl bin ich!" Anthony drehte sie in Richtung Bad und gab Allie einen leichten Schubs. „Nun komm schon, zieh dich um, und dann lass uns gehen." - ENDE