SCHRIFTEN IM UMKREIS MITTELEUROPÄISCHER UNIVERSITÄTEN UM 1400
EDUCATION AND SOCIETY IN THE MIDDLE AGES AND RENAISSANCE...
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SCHRIFTEN IM UMKREIS MITTELEUROPÄISCHER UNIVERSITÄTEN UM 1400
EDUCATION AND SOCIETY IN THE MIDDLE AGES AND RENAISSANCE Editors
Jürgen Miethke (Heidelberg) William J. Courtenay (Madison) Jeremy Catto (Oxford) Jacques Verger (Paris)
VOLUME 20
SCHRIFTEN IM UMKREIS MITTELEUROPÄISCHER UNIVERSITÄTEN UM 1400 Lateinische und volkssprachige Texte aus Prag, Wien und Heidelberg: Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Wechselbeziehungen HERAUSGEGEBEN VON
FRITZ PETER KNAPP, JÜRGEN MIETHKE UND MANUELA NIESNER
BRILL LEIDEN • BOSTON 2004
This book is printed on acid-free paper.
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Schriften im Umkreis mitteleuropäischer Universitäten um 1400 : Lateinische und volkssprachige Texte aus Prag, Wien und Heidelberg : Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Wechselbeziehungen / herausgegeben von Fritz Peter Knapp, Jürgen Miethke und Manuela Niesner. p. cm. — (Education and society in the Middle Ages and Renaissance, ISSN 0926-6070 ; v. 20) Includes bibliographical references and index. ISBN 90-04-14053-0 1. Universities and colleges—Europe, Central—History—15th century—Sources. I. Knapp, Fritz Peter. II. Miethke, Jürgen. III. Niesner, Manuela. IV. Series. LA627.A2S37 2004 378.43’09024-dc22
2004054576
ISSN 0926-6070 ISBN 90 04 14053 0 © Copyright 2004 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill Academic Publishers, Martinus Nijhoff Publishers and VSP. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Brill provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910 Danvers MA 01923, USA. Fees are subject to change. printed in the netherlands
INHALT
Vorwort ...................................................................................... Ein Fragenkatalog zum Thema der Tagung .......................... Fritz Peter Knapp
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Lateinisches Schrifttum: Artes, Theologie und Predigt Konrad von Soltau: ‚Lectura super caput Firmiter‘ ................ Jana Nechutová Konrad von Gelnhausen: Leben und Predigt .......................... Dorothea Walz Geschäft und Moral: Schriften ‚De contractibus‘ an mitteleuropäischen Universitäten im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert .......................................................................... Matthias Nuding Die Verschriftlichung der Quodlibet-Disputationen an der Prager Artistenfakultät bis 1420 ................................................ Franti ek mahel Ethica in Wien anno 1438. Die Kommentierung der Aristotelischen ‚Ethik‘ an der Wiener Artistenfakultät ............ Christoph Flüeler
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Volkssprachiges Schrifttum im Umkreis der Universitäten Princeps litteratus aut illitteratus? Sprachfertigkeiten regierender Fürsten um 1400 zwischen realen Anforderungssituationen und pädagogischem Humanismus ............................................ 141 Wolfgang Eric Wagner Pastoraltheologische Texte des Matthäus von Krakau ............ 178 Dietrich Schmidtke Lateinische und deutsche Predigten im Umfeld von Universität und Hof in Heidelberg um 1420 .......................... 197 Christoph Roth
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inhalt
Der Widerruf des Peter von Uni ov vor der Prager Universitätsgemeinde (1417) ...................................................... 231 Václav Bok und Freimut Löser ‚Die Wyclifsche‘. Frauen in der Hussitenbewegung ................ 251 Alfred Thomas Liebeslieder im Universitätsmilieu ............................................ 268 Fritz Peter Knapp
Nachwort Rückblick eines Historikers auf eine interdisziplinäre Tagung ........................................................................................ 275 Jürgen Miethke Abgekürzt zitierte Literatur ........................................................ 301 Register der Personennamen .................................................... 303
VORWORT
Vom 4. bis zum 6. April 2002 fand im Rahmen des Internationalen Wissenschaftsforums Heidelberg (IWH) das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Stiftung Universität Heidelberg finanzierte internationale Symposion über das Rahmenthema dieses Bandes statt, der nun die Beiträge der Tagung in gedruckter Form der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Kenntnis bringt. Der Einladung der unterzeichneten Organisatoren sind erfreulicherweise ausgewiesene Fachleute der spätmittelalterlichen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte aus den U. S. A., aus Tschechien, der Schweiz, Österreich und Deutschland gefolgt. Leider waren jedoch Frau Walsh (Innsbruck) eines schweren Unfalles wegen und Herr Stelzer (Wien) aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, ihre Referate in schriftlicher Form zum vorliegenden Band beizusteuern. Daß auch sonst ein leichtes Mißverhältnis zwischen den in der Einladung an die Teilnehmer und entsprechend auch in der Einleitung dieses Bandes formulierten Zielen der Tagung und den dann tatsächlich behandelten Themen nicht ganz zu übersehen ist, hat vielerlei Ursachen, liegt aber wohl vor allem an den schwer übersteigbaren Fachgrenzen zwischen den einzelnen philologischen und historischen Disziplinen, an dem Zwang zur Spezialisierung und dem nach wie vor ganz unzureichenden Forschungsstand auf dem hier anvisierten Gebiet. Die Herausgeber haben dennoch Anlaß zur Hoffnung, daß die Beiträge zu diesem Band einige wichtige Schneisen durch das unwegsame Dickicht geschlagen und Aussichten auf nunmehr einzuschlagende Wege eröffnet haben. Es bleibt ihnen nur noch, den Symposionsteilnehmern, den Mitdiskutanten von der Universität Heidelberg, dem IWH, den Geldgebern der Tagung, dem Verleger und den Herausgebern der Reihe, in der der vorliegende Band erscheinen kann, ihren herzlichen Dank auszusprechen. Heidelberg, im März 2004
Fritz Peter Knapp Jürgen Miethke Manuela Niesner
EIN FRAGENKATALOG ZUM THEMA DER TAGUNG Fritz Peter Knapp
Dieser Einleitungsbeitrag unternimmt es, aus der subjektiven Sicht des Initiators der Tagung die Lage der Forschung und insbesondere ihre Defizite zu benennen und damit die Initiative zu begründen. Wieweit dies gelungen oder nicht gelungen, wieweit hier das Richtige oder das Falsche gefragt, wieweit zu kurz gegriffen oder zu viel erwartet worden ist, mag der Leser selbst im Vergleich mit den folgenden Beiträgen beurteilen. 1. Die erste Frage betrifft die Erfassung, Edition und Erschließung der einschlägigen lateinischen Schriften. Nach meinem Wissen bestehen hier nach wie vor gravierende Defizite. Was Prag betrifft, verfügen wir immerhin über einige bio-bibliographische Repertorien, sogar über solche in lateinischer Sprache. Josef T®í ka hat schon seit den sechziger Jahren eine Reihe von einschlägigen Arbeiten zur literarischen Tätigkeit der Universität im Mittelalter in den Acta Universitatis Carolinae veröffentlicht und dann 1981 zusammengefaßt, und zwar dankenswerterweise nicht nur auf Tschechisch, sondern auch auf Latein.1 Noch umfangreicher ist das Repertorium von Pavel Spunar,2 obgleich es ausschließlich tschechische Autoren enthält. Eigene spezielle Arbeiten behandeln mehr oder minder ausführlich Leben und Schriften etlicher herausragender prähussitischer Autoren: Nikolaus von Louny, Johann Hoffmann von Meißen, Jakob von Soest, Matthäus von Krakau, Nikolaus Magni von Jawor, Johannes Marienwerder, Adalbert Ranconis, Andreas von Brod, Heinrich von Bitterfeld, Matthias von Janov, Johann Müntzinger,
1 Josef T®í ka, De auctoribus et operibus universitatis Pragensis medii aevi capitula I–III, Acta Universitatis Carolinae, tom. IX (1968), fasc. 1, pp. 7–28; fasc. 2, pp. 5–43; tom. X (1969), fasc. 1, pp. 7–48; ders., ivotopisn [Lit.-Verz.]. 2 Spunar, Repertorium [Lit.-Verz.].
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Heinrich Totting von Oyta, Matthäus von Königsaal u.a., wie dem nützlichen Literaturverzeichnis zur Geschichte der Carolina von Pavel Spunar3 leicht zu entnehmen ist. Allerdings sind wie dieses Handbuch auch viele dort zitierte Einzelstudien natürlich in tschechischer Sprache abgefaßt, die deutschen dagegen oft veraltet. Jüngere wie ältere Studien müssen sich aber überdies zum ganz überwiegenden Teil auf ungedrucktes Material stützen, da die Editionslage bei den Prager lateinischen Universitätsschriften nicht viel besser als bei den Wiener oder Heidelberger, also insgesamt schlecht zu nennen ist. Immerhin besitzen wir z.B. brauchbare neuere Ausgaben der Opuscula theologica von Matthäus von Krakau4 und sogar der fünf Bücher der ‚Regula veteris et novi testamenti‘ von Matthias von Janov.5 Aber von Ausgaben der großen Sentenzen- und Bibelauslegungen, die natürlich auch an der Carolina für jeden Theologen obligatorisch waren und doch nicht alle durch die hussitischen Wirren untergegangen sind, ist mir nichts bekannt geworden.6 Den großen Nachholbedarf, den die mittellateinische Philologie in Tschechien insgesamt trotz aller Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts immer noch aufweist, hat zuletzt Jana Nechutová deutlich artikuliert.7 Was die Wiener Rudolphina betrifft, sind unzählige einfache und magistrale Kommentare zu den Sentenzen und den biblischen Büchern erhalten geblieben, mehr als kleine Ausschnitte daraus jedoch nicht zum Druck gelangt. Den Überblick, den ich mir hier mit Hilfe der Literatur und meiner Mitarbeiterin, Frau Brigitta Callsen, zu verschaffen gesucht habe – was J. Aschbach8 vor weit mehr als 100 Jahren vorgelegt hat, ist für die damalige Zeit überaus verdienstvoll, gleichwohl aus heutiger Sicht durchaus lückenhaft, ungenau und oft nicht nach-
3 Pavel Spunar (Hg.), D jiny univerzity Karlovy I: 1347/48–1622, Prag 1995. Siehe auch Spunar, Repertorium [Lit.-Verz.]. 4 Opuscula theologica, hg. v. W adys aw Se ko u. Adam L. Szafra ski, Warschau 1974 (Textus et studia historiam theologiae in Polonia excultae spectantia 1). 5 Regula veteris et novi testamenti, Libri I–IV = Band I–V, hg. v. Vlastimil Kybal u. Otakar Odlo ilík, Prag 1908–1926; Liber V De corpore Christi, hg. v. Jana Nechutová, München 1993 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 69). 6 Keine Ausgabe verzeichnet Spunar z.B. beim Isaiaskommentar von Stephan von Kolín (Nr. 186), beim Psalmenkommentar von Johannes von M ta (Nr. 198) oder beim anonymen Psalmenkommentar Nr. 217. 7 Jana Nechutová, Prolegomena ad vetustiores Bohemorum litteras – Study of Latin Medieval Literature in Bohemia, Listy filologické 115 (1992), S. 148–156. 8 Aschbach, Geschichte der Wiener Universität [Lit.-Verz.].
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prüfbar –, wird man hoffentlich bald im letzten Band meiner Literaturgeschichte lesen können.9 Einen ersten Eindruck vermag ein Blick auf den vielseitigsten und produktivsten Theologieprofessor, Heinrich von Langenstein, zu vermitteln. Von seinen rund zweihundert (möglicherweise) echten lateinischen Schriften sind gerade einmal 15 in neueren Ausgaben zugänglich, zumeist kurze Stücke (Briefe, einzelne Predigten, naturwissenschaftliche Texte und Erbauungsschriften, die ins Deutsche übertragen wurden), jedoch nur einer der Sentenzenkommentare und schon gar nicht sein dreibändiger gewaltiger GenesisKommentar. Das gleiche Schicksal teilen der Psalmen-Kommentar Heinrichs von Oyta, der Matthäus-Kommentar des Nikolaus von Dinkelsbühl, der Proverbia-Kommentar des Franz von Retz, der Hohelied-, Matthäus- und Lukas-Kommentar des Michael Suchenschatz, der Jesaja-Kommentar Thomas Ebendorfers, die PaulusKommentare Dinkelsbühls, Peter Zächs von Pulkau und Peter Reichers von Pirawarth oder der Johannes-Kommentar von demselben, um nur die wichtigsten zu nennen. Vom Kommentar Lambert Sluters von Geldern zu den Katholischen Briefen gibt es zumindest eine Teilausgabe von Rudolf Kadan, Wien 1995. Sie enthält die Auslegung der Johannesbriefe, also immerhin etwa ein Viertel eines allerdings nicht eben dickleibigen Werks. Von Dinkelsbühls mächtigem MatthäusKommentar sind dagegen lediglich zwei Quästionen ediert. Kaum besser ist es den Sentenzenkommentaren ergangen, die uns aus der Feder der eben genannten und etlicher anderer Magister überliefert sind. Glücklicherweise verfügen wir wenigstens über die substantielle Untersuchung eines entscheidenden fundamentaltheologischen Streitpunkts diverser Sentenziare der Universität Wien, Johanns von Bremen, Johanns von Maigen, Johann Berwarts von Villingen, Lambert Sluters, Oytas, Langensteins und Dinkelsbühls.10 Von solchen Studien brauchten wir viel mehr. Sie sind aber eben auf der alleinigen Grundlage ungedruckten Materials nur sehr schwer zu leisten.
9 Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, II. Halbband: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. 1358–1439, Graz 2004. Wie unvollständig dieser Überblick im Detail immer noch ist, zeigen die Quellenstudien zu den Wiener Ethikkommentaren von Christoph Flüeler im vorliegenden Band, S. 92ff. 10 Shank [Lit.-Verz.].
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Die Heidelberger Universitätstheologie der Frühzeit ist nach der Darstellung in Gerhard Ritters Universitätsgeschichte von 1936 von eher populärwissenschaftlicher Ausrichtung geprägt gewesen.11 Die vorgeschriebenen Sentenzen- und Bibelkommentare mußten aber selbstverständlich auch hier als akademische Lektionen vorgetragen werden. Von den Sentenzenkommentaren haben sich angeblich außer einigen Principia nur drei erhalten, vollständig der des Marsilius von Inghen und der Konrads von Soltau (s.u.), teilweise der Konrads von Soest.12 Zur Heiligen Schrift listet Ritter erhaltene exegetische Vorlesungen bis 1442/43 von Marsilius von Inghen (zu Matthäus), Konrad von Gelnhausen (zum Hohenlied), Konrad von Soltau (zum Psalter), Wasmod von Homberg (zum Psalter), Heinrich von Homberg (zu Lukas) und Johannes von Trutzenbach (zu den vier Evangelien) auf. Von dem großen Sentenzenkommentar des Marsilius standen der Forschung seit jeher Frühdrucke zur Verfügung. Näher damit beschäftigt hat sich schon Ritter 1921, allerdings von nicht eben objektivem protestantischem Standpunkt aus. Seit etlichen Jahren gibt es jedoch eine eigene äußerst effektive Arbeitsgruppe in Nijmegen, die nicht nur eine Edition aller Werke des aus den Niederlanden stammenden Spätscholastikers erarbeitet, sondern auch begleitende Studien veröffentlicht, welche nach den Pariser logischen und naturkundlichen Schriften des Niederländers nun auch die späteren theologischen Kommentare berücksichtigen.13 Allerdings ist die Chronologie
11 Ritter [Lit.-Verz.], S. 334. – Nach Ende unseres Symposiums erschien Drüll, Gelehrtenlexikon [Lit.-Verz.], das hier nicht mehr hinreichend benützt werden konnte. Für die mittelalterliche Literaturgeschichte hat es allerdings ohnehin nur beschränkten Wert, da es nur gedruckte Werke registriert. 12 Ritter [Lit.-Verz.], S. 330f.; vgl. auch von dems., Studien zur Spätscholastik II: Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts, Heidelberg 1922 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist, Kl., Jg. 1922, 7. Abh.), S. 47f. 13 Vgl. u.a. M.J.F.M. Hoenen, Marsilius of Inghen. Divine Knowledge in Late Medieval Thought, Leiden 1993; M.J.F.M. Hoenen u. P.J.J.M. Bakker (Hgg.), Philosophie und Theologie des ausgehenden Mittelalters. Marsilius von Inghen und das Denken seiner Zeit, Leiden 2000. Hoenen hat auch eine Bibliographie zu Marsilius veröffentlicht, in: Bulletin de Philosophie Médiévale 31 (1989), S. 150–167; 32 (1990), S. 191–195, welche die von Mieczys aw Markowski, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 6 (1987), Sp. 136–141, hier Sp. 141, ersetzt. Inzwischen sind auch die ersten beiden Bände der Neuausgabe des Sentenzenkommentars erschienen (Bd. 1 hg. v. M. Santos Noya, Leiden 2000).
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der Werke und Werkteile noch immer nicht befriedigend geklärt und damit auch nicht der spezifische Heidelberger Anteil. Mit kleineren Heidelberger theologischen Schriften anderer Autoren, und nicht nur pastoraltheologischen, hat sich die Forschung seit mehr als hundert Jahren bis heute durchaus beschäftigt. Kürzlich ist auch die Zahl der edierten Opuscula Johanns von Frankfurt wieder um etliche vermehrt worden.14 Aber das entschädigt uns natürlich nur sehr teilweise für die fehlende Edition solcher Opera magna wie der Quästionen zum Lukasevangelium von Heinrich von Homberg in fünf Foliobänden, den Codices Palatini Latini 126–131 der Vaticana. 2. Meine zweite Frage zielt auf den direkten oder indirekten Einfluß Prags auf Wien. Bis 1384/85 war Prag an der Rekrutierung des Wiener Lehrkörpers ganz wesentlich beteiligt, und dann kamen von den ersten sechs Wiener Professoren der neuen Theologischen Fakultät vier aus Prag (Leonhard von Kärnten, Konrad von Ebrach, Heinrich Totting von Oyta und Friedrich Wagner von Nürnberg) und nur zwei aus Paris (Heinrich von Langenstein und Gerhardt Kijkpot von Kalkar).15 Und auch in den folgenden Jahrzehnten versiegte der Austausch von Lehrenden und Lernenden nicht. So erwarben etwa folgende Wiener Magister ihre ersten akademischen Grade in Prag: Johannes von Bremen (M. A. Pragensis 1381/84), Simon von Bruck (M. A. 1384), Michael Suchenschatz (B. A. 1385), Friedrich von Drosendorf (M. A. 1388), Peter Deckinger von Wien (M. A. 1394), Heinrich von Bernstein (M. A. 1401) oder Johannes Stuckler von Passau (B. A. 1408).16 Umgekehrt wandte sich, vermutlich aus Enttäuschung über das schmale akademische Angebot, 1378 der Schlesier Nikolaus Magni aus Jauer/Jawor (um 1355–1435) nach nur einjährigem Studium an der Rudolphina nach Prag, wo er bis 1402 blieb, bis er nach Heidelberg ging (s.u.). Was aber bedeutete diese Studentenund Professorenwanderung für die intellektuelle Ausstrahlung von Prag auf Wien? Ich beschränke mich im folgenden wie zumeist auf
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Johannes von Frankfurt [Lit.-Verz.]. Vgl. Paul Uiblein, Zu den Beziehungen der Wiener Universität zu anderen Universitäten des Mittelalters, in: The Universities in the Late Middle Ages, Leuven 1978 (Mediaevalia Lovanensia I 6), S. 168–189; wieder abgedruckt in: ders., Die Universität Wien im Mittelalter. Beiträge und Forschungen, Wien 1999, S. 123–178. 16 Vgl. Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis [Lit.-Verz.]. 15
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den Bereich der Theologie. Leonhard von Kärnten, Friedrich Wagner von Nürnberg und Konrad von Ebrach wurden nicht in Prag, sondern an der jungen Theologischen Fakultät von Bologna zum Magister promoviert, Heinrich Totting in Paris. Der Augustiner-Eremit Leonhard und der Karmelit Friedrich sind als Lehrer an der Rudolphina kaum hervorgetreten, und auch von dem Zisterzienser Konrad haben sich keine wichtigen theologischen Vorlesungen aus der Wiener Zeit ab 1385, sondern nur aus der Prager Zeit 1375–1385 erhalten, so daß kein Vergleich möglich ist. Die genannten jüngeren Studenten erhielten in Prag nur ihre artistische Ausbildung, die weitere dagegen in Wien, die sie aber selten zu Ende führten. Bleibt Heinrich Totting von Oyta. Der Weltpriester aus Friesoythe bei Vechta ist 1365 in Prag als M. A. nachgewiesen; ca. 1367 wurde er B. Th., promovierte aber – nach einer unfreiwilligen Unterbrechung seines Studiums – erst 1380 zum theologischen Lizentiaten an der Sorbonne, wo er u.a. mit dem theologischen Magister Heinrich von Langenstein bekannt wurde, entfloh jedoch bald darauf den schismatischen Wirren in Richtung Prag, wurde hier aber 1384 in den Kollegiaturenstreit verwickelt, der die spätere Spaltung der Universität vorausahnen ließ, und folgte dem Ruf an die Universität Wien, gewiß nicht unbeeinflußt von seinem Freund Langenstein. Um Tottings Lehrgebäude kennenzulernen, sind wir im wesentlichen auf Albert Langs verdienstvolle, aber einseitig neuscholastische Darstellung (Münster i. W. 1937) angewiesen. Soviel dürfte aber einigermaßen feststehen: Heinrich von Oyta neigte der nominalistischen Doktrin erst in der Pariser Zeit etwas stärker zu, ohne jedoch auf den Versuch eines Ausgleichs der Meinungen zu verzichten. Selten findet sich eine derartig eindeutige Stellungnahme zur Universalienfrage wie im Prinzipium zu seinen Pariser ‚Quaestiones sententiarum‘. Im Bereich der Theologie verfuhr er überhaupt von Anfang an stark eklektizistisch, stellte möglichst viele unterschiedliche Lehrmeinungen einander gegenüber, berief sich bei der Entscheidung besonders gerne auf die übereinstimmende Tradition der Kirchenlehrer und, sofern eine solche fehlte, mit Vorliebe auf Thomas von Aquin, von dem er gleichwohl mitunter auch abwich, so in der Übereinstimmung von Glauben und Wissen. Wie Alfonso Maierù und Michael H. Shank gezeigt haben, suchte Oyta bei der rationalen Erklärung der Trinität sogar Zuflucht beim platonischen Universalienrealismus, behauptete aber, daß dieser ohnehin zumindest implizit in der aristotelischen Logik enthalten sei, da es genüge, nur die hypothetische Wahrheit der platonischen
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Theorie anzunehmen, weil es gar nicht um den ontologischen Standpunkt, sondern nur um die logischen Implikationen der hypothetischen Annahme gehe. Da somit jeder vernunftbegabte Mensch, allein erleuchtet von der Natur (nicht von der christlichen Offenbarung), diese logischen Implikationen erkennen könne, so stehe dies auch den Theologen bei ihrer rationalen Argumentation in divinis frei, ohne Einwände Andersgläubiger scheuen zu müssen. Anders als Langenstein scheint Oyta auch später von diesem Standpunkt nicht grundsätzlich abgerückt zu sein, die ockhamistische Skepsis also nicht geteilt und sich auch in höherem Alter eine gewisse optimistische Wissenschaftsgläubigkeit bewahrt zu haben. Doch dies müßte anhand aller seiner Wiener Schriften genau überprüft werden. Damit wäre aber noch nicht die Frage beantwortet, was er davon aus Prag mitgebracht hat. Welche einschlägigen Meinungen hat er dort überhaupt in seinen Vorlesungen vertreten? Wieweit gingen sie mit denen Konrads von Ebrach konform, an dessen Seite er ja vier Jahre lang an der Prager Theologischen Fakultät lehrte? Wie gering das Interesse der heutigen deutschen Theologiehistoriker an der Spätscholastik an den Universitäten des Reichs nördlich der Alpen insgesamt ist, kann man aus modernen Überblicksdarstellungen ersehen. Mir ist nur eine aufgefallen, die ihr überhaupt ein eigenes Kapitel widmet, nämlich die von Manfred Gerwing aus dem Jahr 2000.17 Angesichts der allgemeinen Forschungslage kann man wirklich, wie es Wendelin Knoch in seiner Besprechung18 tut, von einem „überraschenden Blick“ sprechen. Auf dreizehn Seiten „soll exemplarisch und punktuell auf die sogenannte ‚Wiener Schule‘ hingewiesen werden,“ wie der Autor sagt.19 Mir ist die Bezeichnung ‚Wiener Schule‘ allerdings nur mit Bezug auf die Wiener Übersetzungsprosa begegnet. Gerwing legt auch im weiteren keinen besonderen Wert darauf, den Wiener Anteil an diesem Schrifttum herauszustreichen. Vielmehr stellt er Langenstein und Oyta, die erst spät nach Wien kamen, genauso wie den nur an der Rudolphina lehrenden Dinkelsbühl in ihren gesamten äußeren Lebenswegen, kirchen- und universitätspolitischen Aktivitäten vor und nimmt bei Oyta auch gleich
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Gerwing [Lit.-Verz.], Kap. VI 2: Zur „Wiener Schule“, S. 215–228. W. Knoch, Rezension Gerwing, Das Mittelalter 5 (2000), Heft 2, S. 185f. Gerwing [Lit.-Verz.], S. 215.
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seine Prager Schüler Konrad von Soltau und Matthäus von Krakau mit. Was die theologische Ausrichtung betrifft, wird sie ziemlich einseitig auf die „Frömmigkeitstheologie“ festgelegt, „die einerseits hohen theologischen Ansprüchen gerecht wurde, andererseits die sittlichreligiöse Erneuerung besonders der oberen sozialen Gruppen im seelsorglichen Blick hat.“20 Bei Heinrich von Langenstein macht Gerwing namentlich einen engen Anschluß an „die zisterziensische Mystik und die breite mönchisch-spirituelle Tradition“ geltend, welche der Magister aus Hessen während seines Aufenthalts im Kloster Eberbach im Rheingau 1383/84 intensiv studiert habe und „von denen seine späteren Werke beeindruckendes Zeugnis ablegen.“21 Daß Langenstein in Österreich nicht nur vor Studenten und Magistern, sondern auch vor Laien und Mönchen predigte und sich durchaus um moralische und spirituelle Fragen kümmerte, ist tatsächlich bestens belegt, auch wenn man ihm, anders als Gerwing das tut, die Schrift von der ‚Erkenntnis der Sünde‘ in welcher Fassung auch immer ganz aberkennt. Ob er sich aber mit Fragen des monastischen Lebens, von dem Problem des Eigenbesitzes abgesehen, nicht doch fast ausschließlich in Eberbach beschäftigt und die diesbezüglichen Schriften bloß nach Wien mitgebracht hat, wo sie ein neues Publikum finden konnten, wäre erst nachzuweisen. Und selbst von den Eberbacher klösterlichen Erbauungsschriften atmet höchstens ‚De anima‘ einen Hauch mystischen Geistes, wenn man den Begriff der Mystik nicht auf alle fromme Begegnung der menschlichen Seele mit Gott ausdehnen will. Etwas gewichtiger als Gerwings Anmerkungen zu Langenstein oder auch zu Dinkelsbühl,22 aber auch recht oberflächlich sind die zu Heinrich Totting von Oyta, der in seiner frühen Zeit als radikaler Vertreter der Forderung nach totaler liebender Ausrichtung des Menschen auf Gott erscheint. Der diese Ausrichtung vollkommen realisierende Mensch könne nicht sündigen, der sie verneinende Mensch könne dagegen auch mit guten Werken nur erneut sündigen. Diese von Oytas Gegnern inkriminierten und in Avignon verhandelten Artikel haben jedoch offenbar in der Wiener Lehrtätigkeit keine Rolle
20
Ebenda, S. 215f. Ebenda, S. 216f. 22 Diese Anmerkungen gehen über die Zusammenfassung nicht hinaus, welche Alois Madre, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 6 (1987), Sp. 1048–1059, geliefert hat. 21
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mehr gespielt. Zu den späten Werken vermerkt allerdings Gerwing mit Recht, sie seien „noch längst nicht genügend erforscht, geschweige denn spiritualitätsgeschichtlich gewürdigt“.23 Noch geringer schätzen offenbar die modernen Philosophiehistoriker den Beitrag zu ihrer Disziplin ein, welchen die Magister an den Universitäten des Reichs nördlich der Alpen um 1400 geleistet haben. Im überaus zuverlässigen und nützlichen bio-bibliographischen Repertorium der Philosophie im lateinischen Mittelalter von Ruedi Imbach und Doris Nienhaus24 sind von den im vorliegenden Fragenkatalog genannten Prager, Wiener und Heidelberger Universitätslehrern nur Marsilius von Inghen, Matthäus von Krakau, Konrad von Soltau, Heinrich von Langenstein und Heinrich von Oyta registriert. 3. Analog dazu stellt sich hier nun die Frage nach dem Einfluß Prags auf Heidelberg. Am Anfang der Heidelberger Rupertina standen freilich die beiden „Pariser“ Marsilius von Inghen und Konrad von Gelnhausen. Die prägende Gestalt des Marsilius zeichnet sich nun dank der von den genannten Nimwegener Forschern geleisteten und initiierten Arbeiten auch in ihrer theologiegeschichtlichen Bedeutung schon recht deutlich ab. Wir glauben jetzt etwa zu wissen, daß Marsilius als Theologe insofern mit Recht der nominalistischen Richtung zugerechnet wird, als er die Begriffsebene grundsätzlich von der Realitätsebene getrennt hat,25 des weiteren, daß er in der Rechtfertigungslehre eine ausgesprochen widersprüchliche Haltung eingenommen hat26 und daß zumindest der späte Marsilius wie der späte Langenstein den Glauben an eine philosophische Bewältigung entscheidender theologischer Fragen wie der Trinität und der Schöpfung überhaupt aufgegeben haben.27 Abgesehen jedoch von den ersten Gründergestalten kann die Rupertina bekanntlich in ihren Anfängen, was das Personal betrifft, durchaus als „Dependance“ der Carolina gelten. Es seien nur Konrad
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Gerwing [Lit.-Verz.], S. 221. In: Peter Schulthess und Ruedi Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, Zürich 1996, Teil II, S. 351–608. 25 Vgl. Sigrid Müller, Nominalismus in der spätmittelalterlichen Theologie, in: Philosophie und Theologie des ausgehenden Mittelalters [Anm. 13], S. 47–65. 26 Manfred Schulze, Marsilius von Inghen und die vorreformatorische Theologie: Augustinusrezeption, Willensfreiheit und Gnadenlehre, ebenda, S. 67–87. 27 Vgl. M.J.F.M. Hoenen, Marsilius of Inghen in der Geistesgeschichte des ausgehenden Mittelalters, ebenda, S. 21–45. 24
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von Soltau (M. A. Pragensis 1368), Matthäus von Krakau (M. theol. Prag. 1384) oder aus späterer Zeit Nikolaus Magni von Jawor (M. theol. Prag. 1395), genannt.28 Aber das sind fürs erste wiederum nichts als prosopographische Befunde. Was das Schrifttum betrifft, reichen meine eigenen Kenntnisse kaum aus, um auch nur fundierte Fragen zu stellen. Kann man Konrad von Soltau aufgrund seiner engen persönlichen Verbundenheit mit Heinrich von Oyta einen mehr als punktuellen gedanklichen Gleichklang mit diesem unterstellen, namentlich in seinen Auslegungen der Sentenzen oder der Psalmen, welche ja auch Heinrich kommentiert hat? Gerwing merkt immerhin an, Soltau habe Oytas These, im Stande einer Todsünde könne der Mensch intentional nichts Gutes tun, zu untermauern versucht. Daß er die objektive Gültigkeit der Sakramente ernstlich in Zweifel gezogen habe, scheint ebenso wie im Falle seines Lehrers ein unbegründeter Häresieverdacht gewesen zu sein.29 Beide legten nur größtes Gewicht auf die schwere Sünde, welche jeder im Stande der Todsünde befindliche Priester bei der Spendung der Sakramente beging. Welche seiner Prager Thesen Konrad von Soltau nach Heidelberg übertrug, deutet Gerwing nicht einmal an. An Forschungen scheint es hier fast gänzlich zu fehlen. Gerhard Ritter vermerkt wenigstens in seiner Geschichte der Rupertina, daß der gut überlieferte Sentenzenkommentar Konrads von Soltau nicht in Heidelberg, sondern bereits in Prag entstanden und als eher simplifizierendes, weitgehend von dem Augustinertheologen Thomas von Straßburg abhängendes Schulbuch einzustufen sei.30 Bei Nikolaus Magni (Groß) von Jawor verfügen wir immerhin über die alte, aber grundlegende Studie von Adolph Franz von 1898. Aber die Quellenlage gibt von vornherein für unsere Frage wenig her, da aus der Prager Zeit offenbar nur zwei Sermones erhalten sind und
28 Überdies gingen infolge des Kollegiaturenstreits 1386/87 die Juristen Diethmar von Schwerte und Johannes (von) Noet (Noyt), der Mediziner Petrus von Brieg, 1394 dann die Theologen Nikolaus Prowin und Matthäus von Krakau von Prag nach Heidelberg. Weitere folgten. Vgl. Franz [Lit.-Verz.], S. 77f. 29 Gerwing [Lit.-Verz.], S. 219 bzw. 222. 30 Ritter [Lit.-Verz.], S. 330f. Wenn ebenda behauptet wird, auch der Kommentar Konrads von Soest stamme aus dessen Prager Zeit, so kann das nicht stimmen, da dieser Lehrer offenbar nur in Heidelberg studiert und doziert hat. Vgl. Franz [Lit.Verz.], S. 83f. – Einen bescheidenen Teilabdruck von Soltaus Sentenzenkommentar liefert Mieczys aw Markowski, in: Wahrheit und Verkündigung. FS f. Michael Schmaus z. 70. Geb., hg. v. L. Scheffczyk u.a., München 1967, I, S. 639–649.
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aus der Heidelberger auch nur Schriften über Aberglauben und Häresie. Die Pflichtvorlesungen jedes akademischen theologischen Lehrers und daher notgedrungen auch des Nikolaus von Jawor in Prag 1392–1402 und in Heidelberg 1402 bis 1435, dem Jahr seines Todes, sind offenbar nicht auf uns gekommen. Die Bindung des Heidelberger Professors an Prag manifestiert sich für uns daher nur in den heftigen Polemiken gegen Wyclifiten und Hussiten. Es verdient allerdings Beachtung, daß auch bei dem ungleich berühmteren und produktiveren Matthäus von Krakau sich die Überlieferung ganz ungleichmäßig präsentiert. Außer Kommentaren zu den vier Evangelien und einem Psalm haben sich nur erbauliche, pastoral- und moraltheologische sowie kirchenkritische Schriften von Matthäus erhalten. Zudem sind just die Kommentare, abgesehen von den Vorreden, unediert. Trotzdem ist die Editionslage bei diesem Autor im Verhältnis zu andern so vorzüglich, daß sich ein einigermaßen zuverlässiger, über die alten, einseitigen und vielfach überholten Studien von Sommerlad und Franke31 hinausgehender Eindruck von Matthäus’ zentralen Lehrmeinungen zur Zeit seiner Dozententätigkeit in Prag 1380–1394 und – im Vergleich dazu – in Heidelberg 1394 bis zu seinem Tode 1410 gewinnen lassen müßte. Gerwing beschränkt sich in seinem kurzen Überblick auf Matthäus’ Kirchenkritik und kennzeichnet ihn im übrigen als Synkretisten, dem „die Konsistenz einer theologischen Schulrichtung“ nicht wichtig gewesen sei,32 was wohl auf die allermeisten Theologen der Zeit zutreffen dürfte. Vermutlich hat hier aber die polnische Forschung in den letzten Jahren neue Einblicke gewonnen, welche mir jedoch entgangen sind. Daß mir von einem akademisch-intellektuellen Einfluß Wiens auf Heidelberg so gut wie nichts bekannt geworden ist, resultiert dagegen kaum aus einer Wissenslücke,33 denn die kirchenpolitische Ausrichtung der beiden Universitäten verhinderte jede engere Kooperation. 31 Theo Sommerlad, Matthaeus von Krakau, Diss. Halle 1891; Franz Franke, Mathäus von Krakau, Bischof von Worms 1405–1410, sein Leben, sein Charakter und seine Schriften zur Kirchenreform, Diss. Greifswald 1910. 32 Gerwing [Lit.-Verz.], S. 224. 33 Auf einem eingeschränkten Feld der Wissenschaft bestand gleichwohl ein reger Wissensaustausch, wie M. Nuding im vorliegenden Band, S. 40ff., zeigt. Innerhalb des Schrifttums de contractibus bereitet zuerst Konrad von Ebrach in Prag den Nährboden für die Auseinandersetzungen Heinrichs von Oyta und Mätthäus’ von Krakau mit dem Thema, bezieht sich dann Matthäus in Heidelberg zumindest marginal auf die Wiener Lehrer Oyta und Langenstein, während Johannes Nider massiv auf Matthäus zurückgreift.
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Marsilius von Inghen polemisierte heftig gegen die Konzilspropaganda Langensteins, und der Gegensatz setzte sich unter dem romtreuen König Ruprecht von der Pfalz ungebrochen fort.34 Eine Karriere wie die des Wiener Artistenmagisters Konrad Kindlin (Puer) von Ulm, der 1396–1397 an der Rudolphina lehrte, 1414/15 aber Rektor der Rupertina war und hier 1416 das juristische Lizentiat erwarb, hat da schon Seltenheitswert.35 Die gelehrten Brüder Wasmod (Wasmuth) und Heinrich von Homberg, spätere Leuchten der Heidelberger Theologischen Fakultät, waren zwar vormals in Wien immatrikuliert (ab 1377/78 bzw. 1389/90), erwarben ihre akademischen Grade aber offenbar erst in Prag (B. A. 1381) bzw. in Erfurt (M. Th. 1398/1404?).36 4. Wie ist es nun um das volkssprachige Schrifttum im Umkreis der drei Universitäten bestellt? Wer sich über Böhmen informieren will und nicht über ausreichende Kenntnisse des Tschechischen verfügt, greift hier notgedrungen nach der Überblicksdarstellung von Winfried Baumann, der zwar sachgerecht alle drei Literaturen Böhmens einigermaßen gleichmäßig zu erfassen sucht, jedoch sehr kursorisch verfährt und in der Regel nur Informationen aus zweiter Hand liefert.37 Was die tschechische vorhussitische Literatur betrifft, muß ich die Überprüfung den Bohemisten überlassen.38 Für unser Symposion von vorrangiger Bedeutung ist die Frage nach der Anbindung dieser Literatur an die Universität einerseits und an den Königshof anderer-
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Vgl. Uiblein [Anm. 15], S. 181. Acta Facultatis Artium Universitatis Viennensis [Lit.-Verz.], Register, S. 505; Drüll, Gelehrtenlexikon [Lit.-Verz.], sub nomine. An allen drei Universitäten, Prag, Wien und Heidelberg, studierte offenbar Ludolf Mestermann von Lübeck (gest. 1418?) – vgl. AFA, S. 545. 36 Vgl. Drüll, Gelehrtenlexikon [Lit.-Verz.], sub nominibus. 37 Ein Beispiel für viele daraus resultierende Fehlinformationen ist die Behauptung, daß Ulrich von Pottenstein, in Wirklichkeit eines der Häupter der Wiener Schule, „gerade noch zum Kreis um Johannes von Neumarkt gezählt werden kann“ (Baumann, [Lit.-Verz.], S. 192). – In der tschechischen Literaturgeschichtsschreibung wird natürlich das deutsche Schrifttum in Böhmen nicht berücksichtigt, aber auch allenthalben das lateinische kraß unterbewertet. Nicht gar so ausgeprägt erscheint diese Unterbewertung bei Jan Vilikovsk , Písemnictví eského st®edov ku, Prag 1946. 38 Ein tschechisches Denkmal aus dem frühen 15. Jahrhundert beleuchtet A. Thomas im vorliegenden Band S. 251ff. Er interpretiert es als ein frauenfeindliches, antihussitisches und antihöfisches Pamphlet eines katholischen Angehörigen der Universität. Neben ideologischen Merkmalen, die dem gesamten europäischen Spätmittelalter gemein sind, treten hier also auch böhmische Spezifika deutlich hervor. 35
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seits. Selbstverständlich blühte in jener Zeit die tschechische Predigt. Am berühmtesten war wohl der „Vater der tschechischen Reformation“, Jan Milí z Krom ®í e (von Kremsier), der ab 1369 sogar in drei Sprachen predigte. Aber er hat an der Universität weder studiert noch gelehrt. Welche Beziehungen hatte er zur Carolina? Tschechische Predigten von ihm scheinen sich gar keine erhalten zu haben. Zeigt sich hier und darüber hinaus dasselbe seltsame Phänomen wie im Deutschen, nämlich daß die tatsächlich in der Volkssprache gehaltenen Predigten zum allergrößten Teil nur lateinisch überliefert, die volkssprachlich überlieferten aber so nie gehalten worden sind? Ohne den intensiven Einfluß von Jan Mili ist das größte und wichtigste tschechische vorhussitische Œuvre, das des Thomas von títné (gest. 1401?), nicht denkbar. Thomas, aus dem südböhmischen Kleinadel stammend, hat in Prag studiert, allerdings ohne Abschluß, hat jedoch gegen einzelne akademische Lehrer polemisiert und einzelnen hinwiederum die eine oder andere Schrift gewidmet.39 Einen weit größeren Teil seines breiten und reichhaltigen Gesamtwerks schrieb er jedoch für die religiöse Erziehung seiner Tochter und anderer Mädchen aus dem niederen Adel, wie nicht nur die ältere Forschung, sondern auch Alfred Thomas in seiner Studie von 1998 feststellt.40 Gab es aber damals „ein breites Lesepublikum“, welches Thomas von títné gemäß Baumanns Angabe41 etwa mit seiner tschechischen Fassung der Visionen der Brigitta von Schweden erreichen wollte? Noch schwieriger ist die Antwort bei den anonymen Werken, deren Zahl es aber jedenfalls rechtfertigen würde, von einer Prager Schule der tschechischen Übersetzungsliteratur zu sprechen. Gab es dazu auf deutscher Seite eine Entsprechung? Um eine mögliche deutschsprachige Rezeption lateinischen Schrifttums der bedeutenden Prager Universitätslehrer zu eruieren, schlägt man natürlich vertrauensvoll das Verfasserlexikon der deutschen Literatur des Mittelalters auf und wird auch fündig, allerdings selten in der zu erwartenden Weise, wie etwa bei Matthäus von Krakau. Dessen Eucharistietraktat ‚Dialogus rationis et conscientiae‘ ist mehrfach ins Deutsche übertragen worden. Die älteste Handschrift, die Breslauer,
39 Vgl. Baumann [Lit.-Verz.], S. 217–222; M. Polívka, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1997), Sp. 23. 40 Alfred Thomas, Anne’s Bohemia. Czech Literature and Society, 1310–1420, Minneapolis, London 1998 (Medieval Cultures 13), S. 45. 41 Baumann [Lit.-Verz.], S. 221.
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ist 1389 geschrieben. Weitere Handschriften sind über das ganze ehemalige deutsche Sprachgebiet verstreut. Aber wie viele eigenständige Übersetzungen liegen hier eigentlich vor, und wo sind sie entstanden? Haben sie etwas mit der Universität Prag zu tun? Die eine, unvollständige Heidelberger Handschrift läßt jedenfalls keinen Schwerpunkt der Verbreitung in diesem Raum, im Gegensatz zu Prag, erkennen. Nichts weist aber auf Matthäus selbst als Übersetzer des eigenen Werks hin.42 Der Kenner der Wiener Verhältnisse, welche gleich noch kurz zu erörtern sein werden, wundert sich darüber freilich nicht im geringsten, staunt vielmehr im Gegenteil bei der Musterung der andern Prager Universitätsangehörigen über die Menge der auch deutsch schreibenden Lehrer. Das Erstaunen vermindert sich freilich beträchtlich angesichts der speziellen Umstände, unter denen die deutschen Werke verfaßt wurden. Johannes Marienwerder etwa, M. A. Pragensis 1369, Magister an der Theologischen Fakultät ebenda 1380, kehrte 1386 in seine ostpreußische Heimatstadt Marienwerder zurück und wurde Priester des Deutschen Ordens. Hatte er sich schon in Prag, trotz seiner engen Verbindung mit Heinrich von Oyta, mehr auf das pastoraltheologische lateinische Schrifttum konzentriert, widmete er sich dann in Marienwerder vornehmlich den Offenbarungen der Visionärin Dorothea von Montau, deren Lebensbeschreibung er auf Latein und auf Deutsch vorlegte. Johannes Rode von Hamburg, M. A. Pragensis 1395(?), trat um 1400 in den Kartäuserorden ein, zuerst in Prag und Brünn, dann in Frankfurt an der Oder und in Stettin. Außerhalb des deutschen Sprachraums schrieb er lateinische Lehrbriefe, innerhalb desselben niederdeutsche. Der Wechsel der Sprache hängt jedesmal ursächlich mit dem Wechsel des Wirkungsfeldes zusammen. Die deutschen Werke haben mit der Carolina nichts mehr zu tun. Eine Ausnahme könnte einer der bedeutendsten Prager Theologen, der Sachse Heinrich von Bitterfeld, bilden, der wohl 1391 zum theologischen Magister promovierte und spätestens seit 1394 bis zu seinem Tode um 1405 einen der fünf Lehrstühle an der Theologischen Fakultät innehatte. Denn Franz Josef Worstbrock nennt in seinem Verfasserlexikon-Artikel unter 42 Diesen Übersetzungen widmet sich der Beitrag von D. Schmidtke in diesem Band, S. 178ff. Ein direkter Bezug zur Universität Prag wird hier nicht sichtbar, schon gar nicht zur Rupertina. Dasselbe gilt für die Übersetzung des zweiten pastoraltheologischen Hauptwerks des Matthäus, ‚De puritate conscientiae‘. Vielleicht hat jedoch Matthäus eine deutsche Fassung des ‚Dialogus‘ dem Heidelberger Hof überreicht.
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Heinrichs Werken auch „das noch nicht näher bekannte deutsche ‚Regimen vitae cum confessionali‘ (Inc.: Czu habin das reyche gotis an vordynen, das ist sunde)“.43 Bis zum Beweis des Gegenteils würde ich die ganz ungeschützte Behauptung wagen, daß hier eine anonyme Übersetzung oder deutsche Originalschrift dem bekannten Lehrer zu Propagandazwecken unterschoben wurde, wie dies offenbar Heinrich von Langenstein bei der österreichischen ‚Erkenntnis der Sünde‘ widerfahren ist.44 Es waren offenbar wie in Wien nicht die großen Gelehrten der Theologischen Fakultät, die für die Popularisierung geistlichen Wissens sorgten, sondern ‚Randfiguren‘, Studenten und Absolventen niederer Grade oder Außenstehende, die auf irgendeine Weise doch mit der Carolina verbunden waren. Ob dazu der Verfasser des deutschen ‚Gewissensspiegels‘, Martin von Amberg, der wohl 1396 als Inquisitor auch in Prag tätig war, gehört hat, ist nicht sicher.45 Kein Zweifel kann jedoch bei Heinrich von St. Gallen bestehen, der es in Prag bis zum B. Th. gebracht und dort auch zumindest eine Redaktion seines deutschen Passionstraktats fertiggestellt hat.46 Die Reihe läßt sich fortsetzen, doch bedürfen die Angaben bei Baumann dringend einer Überprüfung. Die angeblichen Übersetzer Nikolaus von Erfurt und Johannes von der Ygla47 fehlen etwa im Verfasserlexikon. 5. Das deutsche Schrifttum im Umkreis der Universität Wien läßt sich dank intensiver Forschung der letzten zwei Jahrzehnte zumindest in seinen Umrissen einigermaßen deutlich erkennen, auch wenn es noch etliche blinde Flecken im Gesamtbild gibt. Was das Zielpublikum dieser Texte betrifft, so zeichnen sich als solches auf der einen Seite der herzogliche Hof im weitesten Sinne, also mit Einschluß
43 Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 3 (1981), Sp. 699–703 (F.J. Worstbrock), hier Sp. 701. Thomas Kaeppeli, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi II, Rom 1975, S. 186 Nr. 1720, notiert dazu die Überlieferung: Wroclaw, Bibl. Uniw. I Q 81 (XIV–XV), f. 97–118v („Expl. confessionale reg. mag. Heynrici de Bitterveld“). 44 Dagegen spricht allerdings der seltsame Umstand, daß auch unter Bitterfelds erhaltenen lateinischen Schriften etliche pastoraltheologischen, aber keine regelrechten akademischen figurieren. 45 Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 3 (1981), Sp. 143–149 (S.N. Werbow). 46 Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 3 (1981), Sp. 738–744 (H. Hilg/K. Ruh). 47 Baumann [Lit.-Verz.], S. 197f.
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der mächtigen, im Lande reich begüterten und mit Ämtern und Würden betrauten Vasallen, auf der andern Seite die geistlichen Gemeinschaften im engeren und weiteren Umfeld Wiens, ab dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts dann insbesondere die Klöster der Melker Reform, ab. Gegenstand der von etwa einem Dutzend namhafter und anonymer Autoren übersetzten und bearbeiteten lateinischen Texte sind in erster Linie kirchliche Glaubens- und Lebenslehre einfachen und mittleren, selten ganz hohen Niveaus. Auch die beiden Fürstenspiegel passen sich dem geistlich geprägten Bild weitgehend ein. Und selbst diese eher randständigen Texte lassen noch eine Verbindung zur akademischen Gelehrsamkeit erkennen, die anderen erst recht. Besondere Rätsel geben, wie oben angedeutet, nach wie vor die deutschen Predigten auf, und dies trotz der intensiven Bemühungen von Thomas Hohmann, Bernhard Schnell, Christoph Roth und Ulla Williams. Wie hat man sich die konkrete Produktion der lateinischen und deutschen Fassungen derselben Predigten Johannes Bischoffs vorzustellen? Wie verhalten sich in inhaltlicher und sprachlicher Hinsicht sowie in ihrer Rezeptionssteuerung die deutschen Fassungen des sogenannten Nikolaus-vonDinkelsbühl-Redaktors zu den tatsächlich deutsch gehaltenen, aber schriftlich nicht aufgezeichneten eigenen Predigten Dinkelsbühls? Die Tatsache, daß die überlieferten deutschen Fassungen unter anderem auch im Kloster Melk als Teil der Laienbrüderbibliothek erhalten sind, verweist uns auf die – durchaus auch im gelehrt-lateinischen Bereich zu beobachtende – besondere Verbindung dieses Benediktinerklosters mit der Universität. Gab es dergleichen auch im Umkreis der Universitäten Prag und Heidelberg? 6. Wenn wir nun mit Recht von einer Prager Schule tschechischen und von einer Wiener Schule deutschen Prosaschrifttums sprechen dürfen, so stellt sich die dringende Frage nach einer Entsprechung im Umkreis der Universität Heidelberg. Wie die böhmischen Könige und die österreichischen Herzöge erwarteten auch die kurfürstlichen Pfalzgrafen bei Rhein selbstverständlich von den Lehrern an der von ihnen gegründeten und geförderten geistlich-geistigen Pflanzstätte auch nützliche Dienste für den Hof. Tatsächlich waren etliche Universitätslehrer für den Kurfürsten als Ratgeber, Diplomaten, Konzilsväter, Rechtsgutachter, Rhetoren etc. tätig. Schon der erste Rektor, Marsilius von Inghen, den Kurfürst Ruprecht I. 1386 aus Paris für 200 Gulden jährlich nach Heidelberg holte, daz er, wie von der
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Kanzlei vermerkt wird, uns unsers studium zu Heidelberg ein anheber und regirer und dem furderlich for sin sal,48 fungierte als wichtiges Mitglied des kurfürstlichen Rates. Der erste Kanzler der Universität war 1387 Konrad von Gelnhausen,49 welcher bereits 1360 als clericus et servitor des Pfalzgrafen bezeichnet wird, aber bis 1381 kaum in Heidelberg anzutreffen war. Ein entscheidender Unterschied zwischen der „Neugründung“ der Rudolphina 1384/85 und der Gründung der Rupertina 1385/86 bestand aber in der Bildung der Gründer.50 Ruprecht I. war nach eigenen Angaben Illiterat.51 Wenn Konrad von Gelnhausen für ihn 1380/81 in Paris eine Handschrift der konzilspropagandistischen Schrift ‚Epistola pacis‘ anfertigen ließ, „konnte Ruprecht selbst [. . .] nur die aufwendig verzierte Wappenminiatur des Widmungsschreibens ‚lesen‘,“ wie Martina Backes vermerkt, der wir eine überaus aufschlußreiche Studie über das literarische Leben am kurpfälzischen Hof jener Zeit verdanken.52 Wenn wir diese Studie nach Hinweisen auf literarische Verbindungen von Hof und Universität durchsuchen, werden wir jedoch kaum fündig. Daß etwa Marsilius eine wissenschaftliche Schrift dem Kurfürsten gewidmet hätte, kann natürlich niemand erwarten. Aber auch die in Wien übliche Brücke der Übersetzung wird offenbar kaum begangen, weder jetzt noch in folgenden Jahren. Ob die bereits erwähnte schwerlich aus Heidelberg stammende deutsche Version des Eucharistietraktats des Matthäus von Krakau „bei der Seelsorge der kurfürstlichen Familie“ Ruprechts III. „Verwendung gefunden haben könnte,“ wie Backes vermutet, läßt sich nicht sagen.53 Daß Matthäus auch Beichtvater Ruprechts III.
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Aus der Bestallungsurkunde für Marsilius, abgedruckt bei Eduard Winkelmann (Hg.), Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Bd. I, Heidelberg 1886, S. 4f. 49 Über Konrads Leben, Wirken und Predigt informiert nun aus gegenwärtiger Sicht und eigener Forschung D. Walz im vorliegenden Band, S. 20ff. 50 Zur Bildung der Kurfürsten von der Pfalz wie der böhmischen und habsburgischen Landesfürsten der Zeit jetzt erstmals ausführlich und quellengestützt, aber auch hyperkritisch W.E. Wagner im vorliegenden Band, S. 141ff. 51 Ebenda, S. 174, bezweifelt Wagner den Wahrheitsgehalt dieser – angeblich politisch motivierten – Behauptung des Kurfürsten. Dieser hätte aber, um sich hinter theologischer Unkenntnis zu verstecken, nicht gleich behaupten müssen, er gebrauche nur seine Muttersprache, wenn dies nicht wahr und vom Adressaten, König Karl V., auch überprüfbar gewesen wäre. Und dieser Behauptung widerspricht natürlich auch keineswegs sein Auftrag, eine deutsche Weltchronik für ihn abschreiben zu lassen. 52 Backes, [Lit.-Verz.]. Das Zitat hier S. 99. Die Handschrift hat sich in der Vaticana als Cpl 592 erhalten. 53 Ebenda, S. 100. Von einer „Heidelberger Übersetzung“ zu sprechen (ebenda,
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war, reicht als Beweis dafür nicht aus. Matthäus war auch nur einer von mehreren, ein anderer z.B. der Karmelit Friedrich Wagner von Nürnberg, der dasselbe Amt zeitweilig auch bei Herzog Albrecht III. von Österreich ausübte.54 Ab 1405, da Matthäus Bischof von Worms wurde, bis zu seinem Tode 1410 besaß er freilich ein gewisses Vorrecht in dieser Hinsicht, da einige Beichtsummen den zuständigen Diözesanbischof zum Confessor des Landesfürsten bestimmten.55 Über die Bildung Ruprechts III. (Pfalzgraf 1398–1410 – röm. König 1400–1410) wissen wir ebenso wenig wie über die seines Vaters, Ruprechts II. (Pfalzgraf 1390–98).56 Selbst Ludwig III., Pfalzgraf 1410–36, lernte, während einer seiner jüngeren Brüder Unterricht durch den Theologen Johannes von Frankfurt erhalten hatte, erst mit knapp 40 Jahren Latein, wie uns Jakob Wimpfeling berichtet.57 1417, bei seiner Hochzeit mit Mechthild von Savoyen, konnte er offenbar schon das lateinische Tagzeitenlied über die Schmerzen Marias aus der Hand Winands von Steeg (1371–1453) mit Verständnis entgegennehmen, während der Autor, ein Jurist im Dienste der Reichsstadt Nürnberg, der in Heidelberg studiert und gelehrt hatte, Ludwigs Gattin eine formgleiche deutsche Fassung überreichte.58 Das Stundenlied bildet den Anhang einer lateinische eherechtlichen Abhandlung, welche der Jurist für den Kurfürsten auf der Grundlage einer von ihm selbst in Heidelberg 1401 gehaltenen Vorlesung ausarbeitete und in Form eines eigenhändig illustrierten Codex (Codex Palatinus Latinus 411) überreichte. 1419 schob Winand noch einen
Anm. 6) ist mehr als voreilig. Zur Datierung und Provenienz der Überlieferung im Cpg 696, fol. 126r–135v, sagt Backes nichts. 54 Vgl. Franz-Bernard Lickteig, The German Carmelites at the Medieval Universities, Rom 1981 (Textus et studia historica Carmelitana 13), S. 171. 55 Vgl. z.B. Johannes von Freiburg, Summa Confessorum, Druck Augsburg 1476 (Hain 7365), III,43 q. 57. 56 Auch Wagner bringt im vorliegenden Band dazu keinen Beleg bei. Warum er auch Albrecht III. und Albrecht IV. von Habsburg übergeht, wird nicht klar, da es hier nicht an Zeugnissen mangelt. Vgl. F.P. Knapp [Anm. 9], S. 40. 57 Vgl. Backes [Lit.-Verz.], S. 81f. Vgl. jedoch jetzt in diesem Band Wagner, S. 157. 58 Vgl. Bulst-Thiele [Lit.-Verz.], hier S. 139; Backes [Lit.-Verz.], S. 91; Enno Bünz, Winand von Steeg, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 10 (1999), Sp. 1181–1189, hier Sp. 1185f.
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allegorisch-mystischen Traktat ‚Adamas colluctantium aquilarum‘ über den Kampf der Kirche mit dem Teufel in vergleichbarer Aufmachung nach (Cpl 412).59 Schließlich gab Ludwig lateinische Schriften auch bei dem Heidelberger Theologen Johannes von Frankfurt († 1400) in Auftrag, nicht nur die üblichen Begrüßungsansprachen, sondern auch eine kurze Zusammenstellung biblischer Typologien (‚Malleus Iudeorum‘) und sogar die Übersetzung dreier deutscher Predigten, die Johannes vor ihm gehalten hatte, ins Lateinische, und ließ deren Niederschrift (Cpl 474, fol. 1–32 bzw. fol. 33–75) auf dem Schloß anfertigen.60 Martina Backes vermutet allerdings, daß zumindest die lateinischen Predigten für gelehrte Theologen bestimmt gewesen seien, die deutsche Übersetzung der jagdkundlich interessanten Kapitel aus dem Buch ‚De animalibus‘ Alberts des Großen, welche Ludwig in jungen Jahren 1404 bei dem Notar und Schreiber seiner Mutter bestellt hatte (Codex Palatinus Germanicus 206, fol. 1–54), dagegen für ein fürstliches Laienpublikum.61 Wie dem auch sei, es bleibt die Frage nach deutschen Übersetzungen geistlicher Werke für den Heidelberger Hof oder in dessen Umkreis. In Frage kommt hier zumindest eines der für die Pfalzgräfin Elisabeth angefertigten Werke, die Übersetzung der lateinischen ‚Elisabeth-Vita‘ Dietrichs von Apolda. Da die Pfalzgräfin jedoch zugleich Herzogin von Bayern war, läßt sich vielleicht nur die Abschrift in Cpg 61 im Heidelberger Schloß lokalisieren. Mit der Universität steht die Übersetzung jedenfalls schwerlich in Verbindung. Dies trifft dagegen wenigstens indirekt auf eine Schrift ganz anderer Art zu, welche der Aufmerksamkeit von Martina Backes entgangen ist. 1400–1423 lebte Job Vener, gelehrter Jurist, doctor utriusque iuris der Universität Bologna (1402), und kurfürstlicher Rat „überwiegend in Heidelberg, in engem Kontakt mit der Universität, auch wenn er nicht förmlich Mitglied des Lehrkörpers war, seit 1410 im Haus des Matthäus von Krakau am Peterstor“.62 Neben seinen lateinischen
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Ebenda, Sp. 1184f.; Backes [Lit.-Verz.], S. 110. Ebenda, S. 111; R. Haubst, Johannes von Frankfurt, in: Verfasserlexikon [Lit.Verz.] 4 (1983), Sp. 599–603; Bulst-Thiele [Lit.-Verz.], S. 146–148. 61 Backes [Lit.-Verz.], S. 49, 82, 112. Vgl. auch Helmut Lomnitzer, Dietrich von Apolda, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 2 (1980), Sp. 103–110, hier Sp. 107. 62 Peter Johanek, Vener, Job, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 10 (1999), Sp. 207–214, hier Sp. 209. 60
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juristischen und reformtheologischen Schriften verfaßte Job Vener auch zwei deutsche Texte, eine ‚Ermahnung gegen die Hussiten‘ und, damit im engen Zusammenhang, nämlich zur Unterstützung des Hussitenkreuzzugs, eine Übersetzung von Bernhards ‚Laus novae militiae‘, beide im Jahre 1421.63 Daß in Heidelberger Handschriften überlieferte deutsche Predigtsammlungen64 irgendetwas mit der Universität zu tun haben könnten, läßt sich dagegen offenbar nicht nachweisen.65 Daß die deutschen Predigten der Universitätslehrer vorerst nur lateinisch aufgezeichnet wurden, entsprach üblicher Praxis; daß sie extra ins Lateinische übersetzt wurden, wie die drei Predigten des Johannes von Frankfurt, schon weniger, denn deutsche sind keine aus seiner Feder auf uns gekommen. Doch selbst in lateinischer Vor- oder Nachschrift aus Heidelberg überlieferte Volkspredigten sind, soweit ich sehe, rarer als solche, welche ad clerum, also vor Magistern und Scholaren, namentlich in der Heiliggeistkirche, gehalten wurden.66 Wichtige Vertreter der Predigt ad populum sind immerhin Winand von Steeg (1371–1453)67 und Johannes Wenck von Herrenberg (ca. 1415 M. A. Parisiensis, 1432/35 M. Th. Heidelbergensis, gest. 1459).68 Dieser hielt freilich seine 86 Predigten zum Jahreskreis von Advent bis Himmelfahrt erst 1430–1432 und schloß seine noch größere Sammlung von Sermones de tempore et de sanctis (‚Memoriale divinorum officiorum‘) gar erst 1445 ab. Winand sammelte seine Sonntags- und Herrenfestpredigten
63 Vgl. ebenda, Sp. 213. Beide Schriften überliefert im Cod. Vind. 5099, hg. v. Werner Höver bei H. Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447, 3 Bde., Göttingen 1982, Bd. III, S. 1315–1350. 64 Backes [Lit.-Verz.], S. 48, 111, 173. 65 Dazu siehe nunmehr im vorliegenden Band Chr. Roth, S. 197ff. Danach könnte immerhin eine deutsche Sammlung von Evangelien mit homilieartigen Glossen (‚Heidelberger Typ‘, Cpg 39 und Cpg 55) im Heidelberger Raum entstanden sein und die lokale Geistlichkeit mit einem Grundstock von Musterpredigten versorgt haben. 66 Ältere Hinweise u.a. bei Franz [Lit.-Verz.], S. 144–150. Die hier genannten Sammlungen von Universitätspredigten befinden sich im Codex 60/1022 der Staatsbibliothek Trier und im Codex 40 der Breslauer Dombibliothek (vgl. Haubst, Johannes von Frankfurt [Lit.-Verz.], Sp. 601). Eine sehr nützliche Liste der auch oder nur in Heidelberg tätigen Prediger der Zeit gibt jetzt C. Roth im vorliegenden Band, S. 206ff. 67 Enno Bünz, Winand [Anm. 58], Sp. 1183f. 68 Vgl. R. Haubst, Wenck, Johannes, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 10 (1999), Sp. 841–847, hier Sp. 845; Drüll, Gelehrtenlexikon [Lit.-Verz.], sub nomine. Er predigte nachweislich nicht nur vor Universitätsangehörigen, sondern auch auf der Heidelberger Burg.
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weit früher (1414), fügte jedoch den zweiten Teil der großen Sammlung ‚Lapis angularis‘, die Heiligenpredigten, erst fast dreißig Jahre später (1443) hinzu. Ins Jahr 1436 fällt auch erst die Widmung einer deutschen Schrift Johannes Wencks, des ‚Büchleins von der Seele‘.69 Soweit ich sehe, handelt es sich hierbei, wenn wir von den deutsch gehaltenen, aber lateinisch aufgezeichneten Predigten absehen, um das erste volkssprachige geistliche Werk, das mit der Universität in unmittelbarem Zusammenhang steht, also eine Parallele zum entsprechenden Prosaschrifttum im Umkreis der Universitäten Prag und Wien darstellt. Auch die Verbindung zum landesfürstlichen Hof ist gegeben, denn Michael I. von Wertheim war u.a. Hofmeister des Heidelberger Pfalzgrafen. Aber auch die Unterschiede zur sogenannten Wiener Schule sind nicht zu übersehen. Übersetzung aus dem Lateinischen liegt hier offenbar keine vor, sondern ein einigermaßen selbständiges Werk, und zwar von einem renommierten Universitätslehrer selbst. Angesichts dieses Befundes, sollte er sich insgesamt bestätigen, stellt sich natürlich die Frage nach dessen Erklärung. Es entspricht keineswegs ihrer Bedeutung, wenn die Frage hier an letzter Stelle meines Fragenkatalogs steht.
69 Ausgabe von Georg Steer, München 1967 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 3). Bei Drüll, Gelehrtenlexikon [Lit.-Verz.], unter dem Namen des Autors nicht registriert.
Lateinisches Schrifttum: Artes, Theologie und Predigt
KONRAD VON SOLTAU: ‚LECTURA SUPER CAPUT FIRMITER‘1 Jana Nechutová
I Die grundlegenden biographischen Daten Konrads von Soltau, der von den 60er bis 80er Jahren des 14. Jahrhunderts eine der ausgeprägtesten Persönlichkeiten der Prager Universität an ihrer artistischen und theologischen Fakultät war, sind im Allgemeinen bekannt. Angegeben wird sein Wirken an der Universität in Prag in den Jahren 1368–1387, danach in Heidelberg von 1387–1399. Die bislang einzige Monographie über Konrad ist die am Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Leipziger Dissertation von Ludwig Schmitz:2 Obwohl er auch Konrads Werk studierte (und eine unvollständige Zusammenstellung bot), hat er sich doch eher mit seinem Lebenslauf beschäftigt, besonders mit Geschichte und Bedeutung seines Bischofsamtes in Verden (Konrad hatte es von 1399 bis zu seinem Tode 1407 inne). Als Kenner von Konrads Werk kann bisher nur der Historiker der mittelalterlichen Philosophie Albert Lang bezeichnet werden: er widmete sich Konrad im Zusammenhang mit dem Studium der Spätscholastik3 und in einer Monographie über Heinrich Totting von Oyta.4 Die jüngste Arbeit, die sich mit der Persönlichkeit Konrads von Soltau beschäftigt, ist die Studie von Hans-Jürgen Brandt,
1 Die Studie ist im Rahmen des Projekts „Zentrum für die Arbeit mit patristischen, mittelalterlichen und Texten der Renaissancezeit“ (MSMT CR, LN 00A011) entstanden. 2 Ludwig Schmitz, Conrad von Soltau (Inaugural-Dissertation Universität Leipzig), Jena 1891. 3 Albert Lang, Die Wege der Glaubensbegründung bei den Scholastikern des 14. Jahrhunderts, Münster 1933 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Texte und Untersuchungen, hg. von M. Grabmann, Bd. XXX). 4 Lang [Lit.-Verz.].
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‚Universität, Gesellschaft, Politik und Pfründen am Beispiel Konrad von Soltau († 1407)‘.5 Schon der Titel verrät, dass die Studie eher den Lebensschicksalen Konrads gewidmet ist: zunächst seinem politischen Wirken in den Diensten Ruprechts von der Pfalz (eo ipso gehörte Konrad zu dem Lager, das dem böhmischen König Wenzel IV., seiner Politik und seinen Maßnahmen in Bezug auf die Karlsuniversität feindlich gegenüber stand), dann Konrads Vielämterei: dieser Professor besaß während seines Wirkens in Heidelberg zehn Pfründen gleichzeitig und Brandt weist nach, dass er weder in dieser Hinsicht noch durch die Kombination seines universitären und politischen Wirkens eine Ausnahme war. (Immer noch neu klingen Brandts recht überzeugende Ausführungen über die positive Seite der Vielämterei von Universitätsangehörigen des späten Mittelalters.)6 Aus der Zeit der Prager Tätigkeit Konrads und besonders seines Rektorats (1384 –1385) pflegt seine Aktivität in den nationalen Auseinandersetzungen der deutschen und der böhmischen Universitätsnation betont zu werden (der Streit betraf das Verhältnis der Kollegiatsstellen für Magister); als Sentenziarier an der theologischen Fakultät in Prag in den Jahren 1377/79 reagierte er auf den konkurrierenden Sentenziarier M. Nicolaus Biceps: der trat damals gegen Wyclifs Auffassung der Eucharistie auf und Konrad soll ihm widersprochen haben, was eine relativ frühe Kenntnis von Wyclifs Werk in Prag bezeugen könnte.7 F. mahel sagt dazu: Vielleicht noch bevor Wyclif seine Lehre von der Remanenz systematisch darlegen konnte, reagierte der Bakkalaureus der Theologie Nicolaus Biceps polemisch darauf in einer Disputation zu den Sentenzen des Petrus Lombardus. Sein Konkurrent war der Bakkalaureus der Theologie Konrad Soltau, der in groben Umrissen bereits Wyclifs Auffassung der Universalien kannte. Da die Disputation wahrscheinlich in den Jahren
5 In: Les universités à la fin du Moyen Âge, Actes du Congrès International Louvain, Mai 1975, hg. Katholische Universität Löwen, 1978, S. 614–627. 6 Ebenda, S. 622: „Die oft pauschal geschmähte mittelalterliche Pfründenpraxis bekommt gerade aus der Sicht der Universität eine positive Bedeutung. Durch Zuwendung auch von kirchlichen Benefizien an Studenten und Magister machte sich die Kirche unter gesellschaftlichem Blickwindel verdient. Denn weil sie den einzelnen im Studium bzw. im Lehrberuf unterstützte, trug sie wesentlich dazu bei, das Universitätsunternehmen wirtschaftlich möglich zu machen.“ 7 V. Herold, Pra ská univerzita a Wyclif [Die Prager Universität und W.], Praha 1985, S. 148, vgl. D. Trapp, Clm 27034, Unchristened nominalism and Wycliffite realism at Prague in 1381, Recherches de théologie ancienne et médiévale 24, 1957, S. 320–360.
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1378–79 stattfand, konnten ihre Teilnehmer nur Wyclifs logische Schriften in der Hand haben, in denen bereits die eucharistische Häresie langsam zum Vorschein kam.8
Über die Bedeutung dieser Auslegung Konrads, ‚Questiones super quattuor libros Sententiarum‘, lesen wir auch bei J. Kadlec, der konstatiert, dass sich hier der Sentenziarier auf die Augustinische Schule stützt, namentlich auf Thomas von Straßburg, und dass dieser in Prag 1385 publizierte Kommentar eine Art Universitätslehrbuch in Prag und andernorts (in Krakau) wurde. Er wird sehr oft in den Handschriften von der Anmerkung begleitet et contra mores cleri und sein Charakter wird auch dadurch angedeutet, dass sein Autor sehr rasch in den Verdacht der Ketzerei geriet – so weit Kadlec.9 Weiter finden wir in der Literatur eine Erwähnung der Polemik Konrads mit Buridanus ‚Argumenta contra conclusiones questionum Buridani de generacione et corrupcione et de celo‘; diese Aufzeichnung eines Hörers Konrads hatte Ludwig Schmitz in der Hand und auf der Basis einer handschriftlichen Angabe konnte er sie nach Prag in das Jahr 1377 einordnen (S. 67–68); nach den Angaben von T®í kas Verzeichnis ist die offenbar einzige Aufzeichnung dieser ‚Argumenta‘ heute verschollen.10 Die ‚Argumenta‘ könnten vielleicht ein Beleg dafür sein, dass die ältere Universität oder zumindest ihr deutscher Teil damals im Unterschied zu den geläufigen historiographischen Annahmen nicht eindeutig nominalistisch orientiert war11 (sporadische Bemerkungen in der Literatur sprechen von Konrad überhaupt als von einem Realisten – im Unterschied zu seinen Lehrern und Zeitgenossen, wie Heinrich Totting von Oyta, Nicolaus Magni von Jauer oder Matthäus von Krakau). Die Meinung, dass Konrads ‚Argumenta contra conclusiones Buridani‘ von Konrads Realismus zeugen, teilt jedoch nicht Albert Lang, der bisher gründlichste Kenner des Werks von Konrads Lehrer Heinrich Totting von Oyta und
8 In: D jiny Univerzity Karlovy [Geschichte der Karlsuniversität] I, red. F. Kavka – J. PetráÏn, Praha 1995, S. 124; Husitské echy, Struktury, procesy, ideje [Das hussitische Böhmen, Strukturen, Prozesse, Ideen], Praha 2001, S. 254. 9 In: D jiny Univerzity Karlovy [Geschichte der Karlsuniversität] I, S. 149. 10 Josef T®í ka, Literární innost p®edhusitské univerzity [Die literarische Tätigkeit der vorhussitischen Universität] Praha 1967, S. 111; Stefan Swie awski, Dzieje filozofii europejskej XV wieku [Geschichte der europäischen Philosophie des 15. Jh.], Warszawa 1978, S. 312, Anm. 63. 11 Cf. Vilém Herold, Pra ská univerzita a Wyclif [Die Prager Universität und W.], Praha 1985, Anm. 501, S. 264.
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schließlich auch guter Kenner Konrads selbst: „Dieser Schluß ist voreilig, da die Argumenta wahrscheinlich zu Disputationszwecken dienten und über die Einstellung des Verfassers wenig verraten.“12 – Über Konrads philosophische Orientierung könnte vielleicht ein gründlicheres Studium seiner Auslegung der logischen Schriften des Aristoteles und von des Porphyrios Isagoge zu ‚Organon‘ eine verlässlichere Information geben; diese Auslegung des Prager Magisters artium etwa von 1379 trägt in den Handschriften den Titel ‚Argumenta veteris artis‘,13 und soweit mir bekannt ist, hat sie bisher niemand untersucht. Weiter sind in den Handschriften Konrads Bibelauslegungen erhalten, von denen den größten Umfang und die weiteste Verbreitung ‚Glossa Psalterii‘ hatte, und schließlich werden seine Predigten und kritischen Äußerungen gegen die Verderbtheit des Klerus angeführt – ‚Dicta reverendi doctoris Soltonis contra clericos fornicatores‘ (UB Wroclaw I F 614, F. 62v a–63v a) und ‚Dicta Saltonis contra presbyteros‘ (München Clm 14610, F. 137v–140v); trotz der Angaben in T®í kas Verzeichnis handelt es sich in beiden Handschriften um einen und denselben Text, der sich besonders auf der Basis der Kanones und ihrer Glossatoren mit dem Verhältnis der Kirche zu notorisch Unzüchtigen beschäftigt; vor allem wird hier die Frage der Gültigkeit ihrer Messen und weiterer Sakramentshandlungen besprochen. Zu Beginn des Textes wird klar gesagt, dass Sakramente sogar von abgesetzten und exkommunizierten Priestern gültig sind; weiter wird dann aber ausgeführt, dass diese sich selbst im Zustand der Todsünde befinden ebenso wie alle, die sie zum Dienst an den Sakramenten auffordern, ihnen dies ermöglichen und an ihren Sakramentshandlungen teilnehmen. Es handelt sich also nicht um einen gewöhnlichen Mahntraktat gegen Missstände bei Priestern. Außerdem gibt es auch in der Aufzeichnung von Konrads Auslegung
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A. Lang [Anm. 3], S. 68. Josef Truhlá®, Catalogus codicum manu scriptorum Latinorum, qui in c. r. Bibliotheca publica atque Universitatis Pragensis asservantur, Pragae 1905–1906, ad Sign. IV H 5, f. 1a–101a.: Mag. Conradi Soltow Argumenta veteris artis (= super Porphyrium, Aristotelis Praedicamenta, Perihemeneias libros). Circa inicium veteris artis primo potest queri . . . . . . . expliciunt argumenta veteris artis rev. mag. Soltonis. Mit anderem Inzipit gibt T®í ka, ivotopisn [Lit.-Verz.], S. 82) an ‚Dicta super Veterem artem‘, Kraków, Biblioteka Jagiello ska 757, F. 19a ff. 13
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der Sentenz wohl, wie Kadlec angibt, die hinzugefügte Bemerkung et contra mores cleri. Es ist natürlich verlockend, Konrad als einen der damaligen Moralisten anzusehen und ihm das Streben nach Besserung der Gesellschaft, besonders des Klerus, zuzuschreiben,14 aber bisher wurde nichts Derartiges durch solide Textarbeit nachgewiesen. Das schwerwiegendste Argument für einen solchen Standpunkt Konrads, am ehesten auf dem Gebiet der unerlässlichen moralischen Qualifikation für die Ausübung des Priesteramtes und besonders für die Austeilung der Sakramente, führt gerade M. Gerwing an: „Wir wissen, daß Gerhard Groote ebenfalls gegen die Konkubinarier unter dem Klerus heftig zu Felde zog und sich dabei ähnlicher Argumente bediente, wie wir sie von Prag her kennen [. . .]. Groote wies sogar bei seiner Verteidigung vor dem Utrechter Bischof 1383 ausdrücklich auf die beiden (d.h. Heinrich Totting von Oyta und sein Schüler Konrad Soltau, J.N.) Prager Professoren hin.“15 Einstweilen, ebenfalls ohne Überprüfung und also ohne Garantie, kann man über Konrads Predigten sprechen – es würde sich wohl um einzelne Predigten sowie um die Sammlung von Sonntagspredigten ‚Postilla super evangelia Dominicalia per totum annum‘ handeln. Im Biographischen Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder werden als literarisches Werk Konrads von Soltau nur Postillen angeführt, dafür aber gleich zwei, und zwar ‚Postilla Pragensis‘, 1387, und ‚Postilla Domini Conradi Saltow super ewangelia Dominicalia‘.16 An dieser Stelle kann zu den behandelten Punkten leider nur ein sehr skeptischer und kritischer Schluss ausgesprochen werden: wir wissen nichts Genaues über Konrads Engagement in den ersten Auseinandersetzungen über Wyclif; nichts, was zuverlässig belegt wäre, kennen wir von seiner philosophischen Orientierung, nämlich ob wir über ihn als über einen Nominalisten oder einen Realisten
14 Als einen Kritiker der Unsitten der Priester und einen Verbesserer der Gesellschaft sehen Konrad vor allem E. Winter und M. Gerwing. So Manfred Gerwing, Stichwort Konrad von Soltau, in: Lexikon des Mittelalters: „[. . .] setzte er (Konrad) sich für eine umfassende Kirchenreform ein, namentlich für die sittlich-moralische Erneuerung des Klerus [. . .]“, ders., Malogranatum oder der dreifache Weg zur Vollkommenheit. Ein Beitrag zur Spiritualität des Spätmittelalters, München 1986, S. 95–96; ähnlich Eduard Winter, Frühhumanismus. Seine Entwicklung in Böhmen und deren europäische Bedeutung für die Kirchenreformbestrebungen im 14. Jahrhundert, Berlin 1964, S. 122–123. 15 Malogranatum [Anm. 14], S. 96. 16 Heribert Sturm, München, Collegium Carolinum 1984.
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sprechen können; ebenso stehen nur auf der Ebene von Vermutungen und frommen Wünschen die Äußerungen über seine Kritik an der damaligen Kirche und Gesellschaft. Die Historiographie hat bisher nicht die Frage geklärt und eigentlich auch nicht gestellt, ob Konrad der Ketzerei beschuldigt wurde, warum und auf der Basis von welcher seiner Schriften.
II In der Fachliteratur kommt es zuweilen zur Verwechslung von Konrads bereits genannter Auslegung von Lombardus Sentenzen und dem Kommentar zum ersten Kapitel des 1. Titels der Dekretalen Gregors IX. ‚Firmiter credimus et simpliciter confitemur‘. Der genannte Autor der bisher einzigen Monographie über Konrad, Ludwig Schmitz, spricht von dieser Auslegung Soltaus als von seinem bekanntesten Werk, er befasst sich damit auf einigen Seiten im Schlussteil seiner Schrift (S. 70–74), und den nicht bestätigten Bericht darüber, dass Konrad der Ketzerei beschuldigt wurde, verbindet er mit dieser Auslegung, nicht mit dem Kommentar zu den Sentenzen (wie wir oben gesehen haben). Für uns ist dieser Traktat Konrads (nach der Überschrift des ganzen ‚Titulus 1.‘ des 1. Dekretalenbuchs Gregors IX. manchmal auch unter dem Titel ‚Tractatus de summa Trinitate et fide catholica‘ angeführt) aus zwei Gründen wichtig: 1. deshalb, weil er offensichtlich nach den chronologischen Angaben in den Handschriften ein Bindeglied zwischen Konrads Wirken an der Prager und dann der Heidelberger Theologie bildet, 2. wegen seiner, meiner Ansicht nach, originellen Struktur und exegetischen Methode. Ad 1: Zunächst also zur Frage, ob Konrads Kommentar zu ‚Firmiter credimus’ ein Tertium comparationis zu seinem Wirken an der Prager und dann an der Heidelberger Universität sein kann. Darüber, dass er in Prag konzipiert und wohl auch vorgetragen wurde und dann in Heidelberg beendet und verwendet, haben wir folgende handschriftliche Zeugnisse: 1. Kolophon in der Handschrift 5243 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, F. 134v: Explicit lectura capituli Firmiter, De summa Trinitate et fide katholica, conpleta in studio Heidelbergensi per venerabilem doctorem sacre theologye Cuonradum de
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Soltow anno Domini 1388mo. Ac ego scriptor istum librum scribendo finivi sub anno Domini 1390 circa festum Mathie Apostoli, et hoc in studio Ulmensi.
2. Explizit unseres Textes in der Handschrift CCCL 529 der Bibliothek des Corpus Christi College, Cambridge,17 F. 274vb: Explicit lectura capituli Firmiter credimus, De summa Trinitate et fide katholica, completa in studio Heydelbergensi per Conradum Zoltonem, sacre theologie doctorem et professorem etc.
3. Kolophon in der Handschrift CCCL 538 derselben Bibliothek: Explicit Summa de Trinitate et fide katholica magistri Soltonis, egregii doctoris, Pragae compilata (reportata?)18 anno Domini M º CCC º nonagesimo VII º. Explicit Summa de Trinitate et fide katholica magistri Zoltonis, egregii doctoris, etc. Anno Domini milesimo . . . (Datum nicht beendet)
Diese Handschrift hat gleichzeitig vielsagende Besitzervermerke: F. 13r: Liber Iohannis Mekelburg, baccalarii in artibus, quem ordinavit19 in studio Pragensi. F. 99r: Liber Iohannis . . . de Elbingo. Am Schluss der Eintragung: Liber Iohannis Mekelburg, quem comparavit20 in studio Pragensi.21
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Die Angaben aus den folgenden drei Cambridger Handschriften wurden übernommen aus der Studie von Ji®i Kej®, Díla pra sk ch mistr% v rukopisech knihovny Corpus Christi College [Die Werke von Prager Magistern in den Handschriften der Bibliothek des C. Ch. College], Cambridge, in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis XXVI, Fasc. 1, S. 109–148. 18 compilare saepissime i.q. conscribere = niederschreiben (nach Mediae Latinitatis Lexicon Bohemorum); der Begriff ‚compilata‘ bezeichnet in der Terminologie der Kolophone eine meist vom Lehrer selbst revidierte und autorisierte studentische Niederschrift (= reportata) der exposicio, oder, wie in unserem Fall, von der exposicio abgeleiteter Quaestionen. Nach Ch. Flüerer, From Oral Lecture to Written Commentaries: From Oral Lecture to Written Commentaries: John Buridan´s Commentaries on Aristotle’s Metaphysics, in: Medieval Analyses in Language and Cognition, Acts of the symposium The Copenhagen School of Medieval Philosophy, January 10–13, 1996, Copenhagen 1999, S. 497–521 (und hier S. 520 angeführte Literatur, vor allem die Studie von Jacqueline Hamesse). Die Lesung reportata ist hier nach Kej®s Apparat probabilis lectio. Es ist hier also zweifellos von einer zusätzlichen, wohl vom Autor selbst revidierten Abschrift der ‚Summa‘ die Rede, die 1397 in Prag beendet wurde. 19 ordinare i.q. describere, componere (nach Thesaurus Linguae Latinae) = niederschreiben, hier also ‚hat abgeschrieben‘. 20 comparare i.q. acquirere, parare (nach Mediae Latinitatis Lexicon Bohemorum) = kaufen, erwerben??? 21 Nach Kej® [Anm. 17], S. 144, erlangte dieser Iohannes Mekelburg den Bakkalaureus-Titel 1397 in Prag. In dieser Zeit ist auch diese Handschrift entstanden, wie aus der Datierung im Kolophon hervorgeht.
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4. Nach L. Schmitz, O.c., S. 70, Anm. 4: Codex Coloniensis (Stadtarchiv Köln), G. B. 196m, F. 150, Sp. 2, wird ein Ereignis erwähnt, das sich anno praesente Mo CCC o87o zugetragen hat, und F. 31b, Sp. 2: Isto modo legendo in studio Pragensi tenui istam conclusionem etc.
Die Verwendung der ersten Person (tenui ) sowie auch das zu frühe Datum (1384 war Konrad noch in Prag) wecken Verdacht in Bezug auf die Verlässlichkeit der ganzen Angabe. 5. Ebd. Anm. 5 (nur: „. . . nach einer Handschrift . . .“!): Explicit Lectura capituli Firmiter credimus de summa Trinitate et fide catholica, completa in studio Heidelbergensi per venerabilem Magistrum Conradum de Zoltow, magistrum in artibus et sacre theologie doctorem, anno domini 1388, mensis Aprilis die XIX.
6. Dasselbe Datum (19. April 1388) führt die Vatikanische Handschrift Pal. Lat. 330, F. 160v: Explicit Lectura capituli Firmiter De Summa Trinitate et fide katholica conpleta in studio Heildelbergensi per Conradum de Soltou sacre theologie doctorem anno domini M oCCC o88 o die 19 a mensis Aprilis. Et scripta per me Gerardum, finita et conpleta . . . anno CCCC o prima die, scilicet Circumcisionis Domini Amen.
7. Explizit in der Handschrift UB Wroclaw22 I F 22, F. 95vb: Explicit lectura capituli Firmiter credimus De Summa Trinitate et fide katholica in studio Heydelbergensi per Conradum Soltow sacre theologie doctorem vel professorem.
8. Kolophon in der Handschrift UB Wroclaw I F 589, F. 97 (nur nach dem handschriftlichen Katalog): Explicit lectura capituli Firmiter de Sancta Trinitate et fide catholica completa in studio Heydelbergensi per Conradum Zolto sacre Hedvigie coctorem (?).
Diese Angaben informieren uns also darüber, dass die ‚Lectura‘ in Heidelberg beendet wurde. Ein verlässliches handschriftliches Zeugnis dafür, dass Konrad die Arbeit schon in Prag begonnen hätte, haben
22 In dieser Bibliothek habe ich 7 weitere Abschriften der Lectura Soltaus, wenn auch ohne relevante Angaben der Kolophone, gefunden (I F 221, I F 589, I Q 67/1, I Q 67/2, I Q 68, I Q 371, Mil II 109).
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wir nicht, ein einziges, dafür aber in dieser Hinsicht recht bedeutendes Zitat, das ich jedoch nicht überprüfen konnte, gibt L. Schmitz aus der Kölner Handschrift (oben unter 4 angeführt); das Kolophon der Wiener Handschrift (oben unter 1) spricht davon, dass die ‚Lectura‘ 1388 beendet wurde, also in recht kurzer Zeit nach Konrads Ankunft in Heidelberg. Auch Albert Lang gibt an, dass die in Gda sk (Danzig) aufbewahrte Handschrift dieser Auslegung (Danzig Stadtbibliothek, Cod. Mar. F 281) schon von 1287 stammt, allerdings mit der Angabe, dass die Auslegung in Heidelberg gelesen wurde;23 sicher ist aber nach dem Kolophon und dem unter 3. oben angeführten Besitzervermerk, dass die ‚Lectura‘ in Prag auch weiterhin, entschieden bis zum Ende des 14. Jahrhunderts, verwendet und abgeschrieben wurde, ob sie nun hier entstanden ist oder von Heidelberg hierher gebracht wurde. – Wir haben jedoch noch eine weitere ziemlich klare Andeutung der Möglichkeit, dass Konrads Lectura, auch wenn sie erst in Heidelberg entstand und gelesen wurde, einen Prager Zusammenhang hat: es geht um die deutliche Abhängigkeit dieses Werks von der Auslegung des Lehrers von Konrad, Heinrich Totting von Oyta, in den Handschriften ‚Questiones Sententiarum‘ genannt. Albert Lang, der die Beziehung zwischen diesen Texten enthüllt hat, sagt dazu:24 „Die Einleitung, die er (d.h. Soltau, J.N ) in diesem Jahr (d.h. 1388, J.N.) seiner Lectura zum Caput firmiter vorausgeschickt hat, zeigt, eine klare, meist wörtliche Abhängigkeit von Heinrichs Quaestiones. Sie ist geradezu eine gekürzte Wiedergabe derselben.25 Es legt sich nun die Vermutung nahe, daß Konrad von Soltau die Quaestiones bereits vor seiner Abreise von Prag (1387), ja wahrscheinlich schon vor der Übersiedelung Heinrich Tottings von Prag nach Wien (1384) kennengelernt hat, als er während seines Theologiestudiums – er wurde 1382 baccalarius theologicus – zu den Füßen des damals in Prag tätigen Heinrich von Oyta saß.“26 23 Lang [Anm. 3], S. 239, Anm. 1; T®í ka [Anm. 10], S. 111, führt (zu dieser Handschrift?) die Zuschrift an pro sublevamine studencium in sacra theologia Pragensi in studio editum et contextum (die Angaben dieser übrigens heute als verschollen geltenden Handschrift konnte ich nicht überprüfen). 24 Lang [Lit.-Verz.], S. 66–67. 25 Lang spricht allerdings von einer Einleitung, die er nur in der VatikanHandschrift Cod. Pal. Lat. 330 gefunden hat. Es handelt sich um eine verhältnismäßig lange (mehr als 50 FF.) Einleitung zu Konrads Lectura; diese Einleitung befasst sich vor allem mit der Definition der Theologie und der theologischen Wahrheit. Vgl. Anm. 33. 26 Dass der Text von Tottings ‚Quaestiones‘ während des Prager Wirkens seines
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Ad 2: Ein zweiter Grund, weswegen uns die ‚Lectura super capitulo Firmiter’ interessieren kann, ist, wie gesagt, ihre Struktur. Nach dem Titel handelt es sich um die Auslegung des 1. Kapitels des 1. Titels der Dekretalen Gregors IX. (X 1.1.1. Fr.27 II, col. 5–6). Manchmal (schon in eigenen Handschriften) wird sie unter der Bezeichnung des ganzen 1. Titels des 1. Buches der Dekretalen, ‚De summa Trinitate et fide catholica‘, tradiert. Das ist eine recht umfangreiche (durchschnittlich 130 handschriftliche Folios mittleren Formats umfassende) Darlegung der wichtigsten Glaubensartikel vom Dreifaltigkeitsdogma bis zur Eschatologie, was im Kapitel ‚Firmiter‘ enthalten ist; gleichzeitig ist allerdings die ‚Lectura’ ein eigenwilliger Kommentar zu Lombardus‘ Sentenzen: sie steht ihnen so nahe und flüchtet sich so oft zu ihnen, dass sie, wie wir bereits erwähnt haben, nicht selten mit Konrads ‚Quaestiones super Quattuor Sententiarum‘ verwechselt wird. Darüber, was das Kapitel ‚Firmiter‘ und der Magister Sententiarum gemeinsam haben, gibt es folgende Aussagen Konrads von Soltau oder der Abschreiber seines Kommentars: Cod. Vatic. Pal. Lat. 330, F. 1r:28 . . . que Constitutio illius sancte et apostolice decretalis Firmiter credimus et simpliciter confitemur tenorem orthodoxe universorum fidelium asserendo integraliter docens materias quattuor librum Sententiarum distincte pertractat, ut in ipsius lectura infra lucide apparebit, ideoque premisse decretalis lecturam una cum aliqualibus questionibus materiam libri Sententiarum . . . pertinentibus in unam summam gracia Spiritus sancti coadiuvante duxi copulare . . .
ÖNB Wien, Handschrift 5243, F. 1r (margo superior, margo dexter): Ista decretalis que est rubrica prima librorum Decretalium, videtur in sua continencia esse . . . quasi summarius totius libri Sentenciarum, et cum glossa ordinaria superficialiter tractat materiam illius capituli. Ideo quidam doctor subtilis theoloye nomine magister Cuonradus Soltow, qui scribens super illam rubricam materias fidem katholicam continentes in hoc commento sumavit, et secundum distinccionem materiarum quattuor librorum Sentenciarum ipse hoc capitulum in quattuor partes distinguens cuilibet parti materiam unius libri Sentenciarum adiecit. (Et in prima
Autors fertig war und dass er also in Prag vorgetragen werden konnte, ergibt sich aus einer weiteren Feststellung Langs [Anm. 3], S. 68: „Die Quaestiones Sententiarum enthalten den Text der Sentenzenerklärung, die Heinrich Totting als Vorbedingung zum Lizenziat 1378–1380 in Paris vorgetragen hat.“ 27 Corpus iuris canonici, hg. von Aemilius Friedberg, (ed. Lipsiensis secunda), pars II., Graz 1959. 28 Nach Lang [Anm. 3], S. 239.
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parte tractat materiam de fide catholica in quantum conpetit beatam divinam Trinitatem, et hoc eciam est materia Primi Sentenciarum.)
Es handelt sich also um die Auslegung des Kapitels ‚Firmiter credimus‘, des ersten und theologisch prinzipiellen Kapitels der Dekretalen Gregors IX., oder dagegen um die Auslegung der grundlegenden Thesen der Sentenzen von Petrus Lombardus unter Verwendung der Gliederungspunkte des Kapitels ‚Firmiter‘. Konrad von Soltau führt also eine Parallele zwischen den Strukturen beider Texte: beide ersten Bücher von Lombardus’ Sentenzen handeln nämlich von Gott dem Schöpfer und der Schöpfung Gottes, die beiden letzten von der recreatio, der Wiederherstellung der Schöpfung durch die Erlösung Christi, vom sacramentalen Heilsdienst der Kirche und von der Totenerweckung.29 Gerade so ist das einleitende Kapitel des 1. Buchs der Dekretalen Gregors IX. gegliedert. Auf der Basis dieser inhaltlichen Parallele erarbeitet Konrad einen gründlichen Kommentar zum 1. Kapitel der Dekretalen und gleichzeitig einen knappen Kommentar zu Lombardus’ Sentenzen. Lassen wir hier Konrad selbst zu Wort kommen: Brno, R 409, F. 157rb–va: Ista decretalis – propter plurimam quam succinctis verbis continet sententiam – sumari non potest. Ipsa namque potest dici „verbum breviatum, quod fecit Deus super terram“, ut ait Apostolus ad Romanos nono (Rm 9, 28). Est enim ista decretalis „verbum breviatum, quod fecit Deus super terram“, quia in ea fides continetur, „que per diversa volumina predicatur“ (Haymo Halberstatensis, Expositio in ep. S. Pauli ad Romanos, Migne, Patrologia Latina T. 117, col. 447). Et exponit Haymo verbum premissum de symbolo apostolorum (ebd.) sicud epistulam ad Romanos V o, ubi videtur ista decretalis in sui continencia esse casus quasi summarius tocius libri Sentenciarum. Ideo iuxta materiam fidei katholice, quam determinat, dividitur in IIII or partes: in prima tractat de fide in quantum respicit benedictam Trinitatem, et hec est materia primi libri Sentenciarum. In 2a tractat de fide, inquantum rerum creacionem, et hec est (materia) 2 i libri Sentenciarum. . . . In 3a parte tractat de fide quantum respicit Cristi incarnacionem, et hec est materia 3ii libri Sentenciarum. . . . In 4ta tractat de fide inquantum pertinet ad sacramentorum suscepcionem, et hec est materia quarti libri Sentenciarum.
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Nach L. Hödl in: Theologische Realenzyklopedie, Stichwort ‚Petrus Lombardus‘.
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Es handelt sich also um eine Abbreviation der Sentenzen, wie wir im Spätmittelalter eine große Menge davon finden. Auch in dieser Zeit wurde allerdings Lombardus’ Werk als Ganzes ausgelegt, denn es war obligatorischer Stoff an theologischen Fakultäten und jeder Bakkalaureus der Theologie musste seine Auslegung vornehmen – auch in aus der Karlsuniversität stammenden Materialien haben wir solche Gesamtauslegungen in größerer Anzahl. Auch in diesen Gesamtauslegungen formulierte jedoch der Sentenziarier seine eigenen Thesen – Quaestiones, deren Lösung er selbst für wichtig und aktuell hielt. Über diesen freien Umgang mit dem Text des Magisters Sententiarum wurden ganz gegensätzliche Ansichten ausgesprochen. Albert Lang spricht am Schluss seiner mehrfach zitierten Arbeit30 über die methodische Behandlung und über die formale und sachliche Seite der Entwicklung der Kommentare zu den Sentenzen in der Spätscholastik und er zeigt, dass bei vielen Universitätstheologen verfolgt werden kann, wie sie bei der Auslegung nur einige von Lombardus’ Thesen herausnehmen, während sie andere kürzen oder ganz auslassen, wie sie die eigenen Probleme in eigenen Quaestiones formulieren, die unabhängig von Lombardus formuliert sind. Die meisten Historiker bewerten diese Entwicklung jedoch eher kritisch – ebenso der schon zitierte Ludwig Hödl in dem entsprechenden Stichwort (‚Petrus Lombardus‘) der Theologischen Realenzyklopädie.31 Kehren wir zu den Abbreviationen zurück, denen Soltaus Kommentar zugerechnet werden kann. Es handelt sich um Derivate aus Lombardus oder noch häufiger um Derivate aus den Kommentaren zu seinen Sentenzen. Sie haben unterschiedliche Titel und Formen – conclusiones, abbreviationes, breviaria, compendia, manchmal erscheinen sie sogar in Versen. (Das fruchtbarste Milieu, in dem solche Kommentare entstanden, war die Franziskanerschule in Erfurt, die mit diesen Kommentaren das Werk Bonaventuras fortsetzte.)32 Ein Beleg für die Tatsache, dass die Auslegungen von Lombardus’ Sentenzen sich immer deutlicher vom eigentlichen Text des Magisters Sententiarum lösten, ist auch Konrads Auslegung ‚super capitulo
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Lang [Anm. 3], S. 241ff. „. . . die Ausführungen der Sentenziarier versierten oft in heillosen Schulstreitigkeiten und endlosen Ketten von Thesen (Conclusiones)“. 32 Dictionnaire de théologie Catholique, 14, 1941, col. 1860–1884, verweist ebenfalls auf die Einleitung zum 1. Band von Bonaventuras Schriften und auf die Studie von Ludger Meier, De schola franciscana Erfordiensi, Antonianum V, 1930, 157–202. 31
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Firmiter credimus‘. Zweifellos ist es so, wie wiederum Lang konstatiert, dass Konrad in seiner ‚Lectura‘ keine originellen Gedanken bei der Lösung theologischer Probleme bringt, sondern aus Autoritäten kompiliert, nach Lang benutzt er in starkem Maße seinen Prager Lehrer und Kollegen Heinrich Totting von Oyta oder Thomas von Straßburg (Augustinerschule) und weitere. Derselbe Forscher stellte auch fest (S. 239): „Die Einleitung der Lecture ist fast ganz aus dem Traktat De fide des Wilhelm de Auvergne entnommen.“33 Als Beweis für die schöpferische Unselbständigkeit und als Bekenntnis des Autors zu dieser Abhängigkeit von Autoritäten zitiert Lang die Worte der Einleitung der ‚Lectura‘ aus dem vatikanischen Kodex Pal. Lat. 330: protestans ibidem nichil nec nulla aut modica ex me nec ex mei modulo ingenii inventis fore conscripta nec esse conscribenda, sed solum huiusmodi per me collecta venerabilium predicte theologice facultatis doctorum protestantur fore dicta. Ich möchte hier anmerken, dass diese selbstkritischen Worte des Autors allein nicht als Zeugnis der Unselbständigkeit Konrads und des abgeleiteten Charakters des Textes genügen würden: Wir haben nämlich hier einen Exordialtopos vor uns, einen locus modestiae, der in Prologen mittelalterlicher literarischer Werke geläufig und beinahe obligatorisch war. Auch wenn die Beweise dafür gelten, dass Konrad von Soltau nicht nur scholastische Autoritäten, sondern auch den Text seines Vorgängers an der Prager Universität, Heinrich Totting von Oyta, reichlich verwendet, ist doch ein scheinbar äußerlicher Fakt wert betont zu werden: Konrad legte das erste Kapitel des 1. Titels der Dekretalen Gregors IX., also einen theologischen Schlüsseltext, der diese Sammlung des kanonischen Rechts einleitet, als Parallele zum Inhalt der Sentenzen des Petrus Lombardus aus. Mit anderen Worten, er erläutert das Kapitel ‚Firmiter credimus‘ durch Lombardus und wiederum Lombardus’ Sentenzen durch dieses Kapitel des kanonischen Rechts. Das wurde hier schon gesagt und ich habe das auch mit Konrads eigenen Worten nachgewiesen. Diese Methode war, soweit mir bekannt ist, nicht geläufig, möglicherweise ist sie überhaupt einmalig. Von Seiten der Kanonisten hat Ji®í Kej®, ein führender Kenner des mittelalterlichen kanonischen Rechts, meine Vermutung bestätigt; was dann die Kommentare zu den Sentenzen
33 Lang benutzt hier wieder die Vatikan-Handschrift Cod. Pal. Lat. 330, deren Einleitung wir sonst nicht finden, vgl. oben Anm. 25.
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betrifft, so habe ich in Stegmüllers Repertorium34 nichts gefunden, was eine solche Vorgehensweise an anderem Ort als bei Konrad von Soltau bestätigen würde. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, können wir dies als Zeugnis für den Mut des Autors zur Originalität ansehen: Wir wissen nämlich alle sehr gut, dass dem Mittelalter leicht eine begrenzte Anzahl literarischer Formen genügte, allerdings so, dass es erfinderisch die traditionellen und oft schon aus der Antike vererbten oder abgeleiteten Genres verwendete und transformierte; ebenso begrenzt war die Anzahl von Formen für theologische Auslegungen und Textexegesen.
III Ich möchte nun versuchen, kurz die Struktur von Konrads ‚Lectura‘ vorzustellen, auf der Grundlage davon möchte ich dann wenigstens annähernd feststellen, ob sich Konrad in dieser seiner Schrift zu zeitgenössischen theologischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Problemen äußert, also ob zwischen der scholastischen Auslegung und der aktuellen Situation irgendeine Beziehung besteht. Grundlage für meine Arbeit mit dem Text waren die Handschriften ÖNB Wien No. 5243 und Mährische Landesbibliothek Brno, R 409. Die einleitenden Marginalien der Wiener Version, wo über die Beziehung der Dekretalen und der Sentenzen des Lombardus gesprochen wird, habe ich bereits oben zitiert, weiter ist in der Wiener Handschrift in extenso das ganze erläuterte Kapitel der Dekretalen verzeichnet (F. 1r–v), auf FF. 2r–5r folgt der Prolog mit dem Inzipit Istud est prologus istius conmenti, in quo continentur aliqua dicta pulchra, aliqualiter in glossa ordinaria tacta, licet non ita expresse. Der Prolog hat in beiden mir zur Verfügung stehenden Handschriften als Überschrift die Anfangsworte des ausgelegten Dekretals ‚Firmiter credimus‘ und beschäftigt sich mit der Definition des Glaubens auf der Basis von Distinktionen, die durch die Glosse zu diesem Kapitel formuliert werden. Es werden hier gründlich und umfassend Fragen behandelt, die sich auf die Glaubensbegründung, das Verhältnis von Glaube und
34 Repertorium Commentariorum in Sententias Petri Lombardi, collegit disponit edidit Fridericus Stegmüller, I–II, Würzburg 1947.
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sinnlicher Wahrnehmung (visio sensibilis),35 von Glaube und Denken (opinio),36 Glaube und Wissen (scientia)37 beziehen. Erst nach dieser einleitenden Partie beginnt die eigentliche Auslegung des Dekretals. Zu Beginn jeder Partie der Auslegung sind immer (meist rubriziert) einige Anfangsworte der behandelten Passage übergeschrieben, auf F. 157rb der Brünner Handschrift also das Inzipit Firmiter credimus. Hier stellt Konrad seine Absicht vor, das entsprechende Dekretal durch Lombardus auszulegen und vice versa – diese Passage wurde oben in extenso zitiert; danach folgen interessante Ausführungen über die Beziehung Theologie, Glaube und Schriftstudium – also erneut eine Betrachtung zur Glaubensbegründung. In der gesamten weiteren Auslegung hat sich allerdings Soltau nicht immer gleich konsequent an Lombardus gehalten, denn ziemlich oft stellt er auch Fragen, über die in den Sentenzen nicht gesprochen wird. Dies ist z.B. der Fall bei ekklesiologischen Fragen: während Petrus Lombardus sein erstes Buch direkt mit Ausführungen über die Sakramente beginnt, schickt Soltau hier zwei Quaestiones voraus, die sich auf die Kirche beziehen, übrigens in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des ausgelegten Dekretals. Die zweite von ihnen kann uns interessieren, denn hier wird in der Zeit des Doppelpapsttums gefragt, an repugnat unitati ecclesie duos aut plures esse summos pontifices. Die übliche und nicht zu nachdrückliche Art, wie Soltau an die Lösung dieser Frage herangeht, führt eher zu dem Schluss, dass dieser Theologe an aktuellen kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Fragen kein allzu großes Interesse hatte. Konrad teilt zwar die übliche Ansicht der Kirchenautoritäten, dass ein solcher Zustand der Einheit der Kirche entgegensteht, aber er entwickelt diese Tatsache nicht weiter und bietet nicht die geringste aktuelle Anspielung: (Brno, R 409, F. 192va): . . . an repugnat unitati ecclesie duo aut plures esse summos pontifices. . . . Videtur quod non, quia a rege et propheta David propter amplificacionem divini cultus constituti fuerunt XXIIIIor pontifices summi. . . . . . Sed in contrarium est . . . Solucio:
35 [. . .] precise et adequate de eodem nunquam est fides et visio sensibilis [. . .] (Brno, R 409, F. 157r a; hieraus zitiere ich weiterhin nach dieser Handschrift der Brünner Mährischen Landesbibliothek). 36 Sed fides conpatitur secum opinionem, quia fides non evacuatur in eis, qui per raciones probabiles et studio scrutantur scripturas theologicas (ebd). 37 [. . .] fides conpatitur secum scieniam circa idem conplexum. Patet hoc, quia phylosophus infidelis sciens Deum esse unum et veniens ad fidem non desinit scire [. . .] (ebd).
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jana nechutová Unitati ecclesie repugnare videtur, quod sunt duo aut plures summi pontifices. Iure namque divino tantum unus sacerdos summus fuit institutus, Aron. . . . . et ita consequenter. Ymmo iste ordo videtur esse secundum institutum nature in apibus. In apibus enim est unus princeps, et grues unam sequuntur omnes . . .
Auch zu den damals aktuellen eucharistischen Fragen finden wir bei Konrad nichts Interessantes, was eine Reaktion auf den sich herausbildenden Wyclifismus oder die eucharistische Volksfrömmigkeit sein könnte. Von der Eucharistie wird zusammen mit den weiteren Sakramenten in demselben vierten Teil der ‚Lectura‘ in Übereinstimmung mit der Struktur von Lombardus’ Sentenzen gesprochen. Wir lesen hier (Brno, R 409, F. 193ra) zwar, dass corpus Cristi et sanguis in sacramento altaris sub speciebus, id est accidentibus panis et potus, id est vini, continentur veraciter, nam sicut quidam heretici dixerunt, quod esset ibi sicut in signo, aber gleich folgt: quos Magister dampnat in IIIIo libro distinccione IXa in principio. Also nichts Neues – wir haben vor uns ein fast wörtliches Zitat aus Sent. IV, 10 (Migne, Patrologia Latina T. 192, col. 859). – Auch in den nachfolgenden Quaestiones unter dem Kapitel ‚De transsubstantione‘38 findet sich nichts Aktuelles. Etwas einigermaßen Beachtenswertes gibt es in Konrads ‚dubitacio‘, an histrionibus et ioculatoribus sit dandum hoc sacramentum (Brno, R 409, F. 196va–b), wo er sich mit einem Verweis auf Cyprianus entschließt, dass einem offensichtlichen Sünder die Eucharistie entschieden verweigert werden soll. – Dass Konrad von Soltau über solche Fragen schweigt, wie die Gültigkeit der Sakramente eines unwürdigen Priesters oder über die moralische Qualifikation des Klerus überhaupt, z.B. in den Quaestiones über claves ecclesie, überrascht insgesamt nicht – diese Fragen werden, allerdings auch unter dem Einfluss von Wyclif, in der böhmischen Reformation fast eine ganze Generation später aktuell. – Von heterodoxen Strömungen distanziert sich Konrad in der Frage des Fegefeuers: in der Abteilung über das Sakrament der Buße kommt die Rede auf das Fegefeuer. Die damit verbundenen Quaestiones beantwortet Soltau auf der Basis von Lombardus und der von ihm zitierten Autoritäten, vor allem Augustinus, und dem Abschluss seiner solutio, die ideo est ponendum purgatorium lautet, fügt er hinzu (Brno, R 409, F. 221ra): dicencium enim quod non est purgatorium est error quorundam
38 [. . .] transsubstantiatis pane in corpus et vino in sanguinem potestate divina [. . .] (X 1.1.1., Friedberg II, col. 5).
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hereticorum, qui dicuntur Waldenses, quorum multi iam amplius et a pluribus annis, scilicet XX et citra, apprehensi sunt in Austria.39 Diese Äußerung über die zeitgenössische waldensische Häresie, die das Fegefeuer leugnet, ist die einzige deutliche zeitbezogene Anspielung in der ganzen ‚Lectura‘. Auch im verbleibenden Teil, der die Quaestiones über die Ablässe enthält und am Schluss der letzten Abteilung über die Eschatologie spricht, erfahren wir nichts, was auf die gegenwärtige Situation der Kirche und der Gesellschaft bezogen werden könnte, umso weniger dann etwas, das eine Reaktion auf die Volksfrömmigkeit sein könnte. Es erscheint hier nichts, was einen tschechisch schreibenden Theologen, wie Tomá von títné, einnehmen könnte oder was ein direktes Echo in Predigten fände, die in den Volkssprachen gehalten wurden. Ich kann also nur die Annahmen wiederholen, die ich zu Beginn meiner Ausführungen über die ‚Lectura super caput Firmiter‘ ausgesprochen habe, mit dem Schluss, dass ich wohl die Gültigkeit dieser Annahmen durch die Arbeit mit Konrads Text nachweisen konnte: 1. Die Struktur unseres Textes und die Methode seines Autors, die Wahl eines juristischen, wenn auch theologisch relevanten Textes für die Auswahl der Quaestionen zum Verständnis der ‚Sentenzen‘ des Lombarden, ist einmalig und bemerkenswert selbständig. 2. Dieser Text bildet, wie das Zeugnis der Handschriften beweist, ein Bindeglied zwischen Konrads Wirken an der Prager und an der Heidelberger Universität.
39 Über die Häretiker gibt es bei Konrad noch eine Bemerkung, und zwar in der Schlussabteilung bei den Ausführungen über die Stände virgines – continentes – coniugati (F. 224ra): Ecce hec sacra constitucio evidenter determinat contrahendi (matrimonium) ritum, dampnans hereticos, qui damnant matrimonium et nupcias, qui, inquam, heretici, spiritibus errorum attendentes et demoniorum doctrinis, prohibent nubere – hier zitiert allerdings der Autor eigentlich nur aus 1. Tm 4,1–3, ähnlich spricht auch Lombardus: Fuerunt autem nonnulli heretici nuptias detestantes, qui Tatiani appellati sunt. Hi nuptias omnino damnant [. . .] (Migne, Patrologia Latina T. 192, col. 909).
KONRAD VON GELNHAUSEN: LEBEN UND PREDIGT Dorothea Walz
Als Verfasser der ‚Epistola concordiae‘ ist Konrad von Gelnhausen (ca. 1320/22–1390)1 eine herausragende Gestalt der europäischen Literaturgeschichte des ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts, eines Abschnitts des Spätmittelalters, der in vielen Lebensbereichen von dem Großen abendländischen Schisma beherrscht war. Durch seine Promotion im Kirchenrecht verfügte Konrad von Gelnhausen über die nötigen Voraussetzungen, um Überlegungen zur Beendigung des Schismas anzustellen: Erstmals in der Kirchengeschichte wurde an die weltlichen Fürsten appelliert, ein allgemeines Konzil einzuberufen, um die Papstfrage zu klären und das Schisma zu beenden. Entsprechend dieser Forderung widmete er seine ‚Epistola concordiae‘2 1380 dem französischen König Karl V., dem deutschen König Wenzel und dem Kurfürsten Ruprecht I. von der Pfalz. Quis ego sum aut que vita mea vel cognacio patris mei, ut scribam regibus aut eciam repugnem legibus?
So charakterisiert Konrad in dem Begleitschreiben an Karl V. sich selbst3 in aller Bescheidenheit, die sich jedoch als rhetorische Widmungstopik herausstellt, denn Konrad von Gelnhausen war zu diesem Zeitpunkt keinesfalls eine unbekannte Person. Nicht zuletzt durch seine Herkunft als Sohn einer angesehenen und begüterten
1 Zum Leben Konrads von Gelnhausen in Auswahl: David E. Culley, Konrad von Gelnhausen. Sein Leben, seine Werke, seine Schriften, Halle 1913; Georg Kreuzer, Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 5 (1985), Sp. 177–181, Nachtrag zu Sp. 180 (II.1): ebd. Bd. 11, Lieferung 3 (2002), Sp. 877f.; Tilmann Schmidt, Konrads von Gelnhausen Pfründenkarriere, Zeitschrift für Kirchengeschichte 103 (1992), S. 293–331; Drüll, Gelehrtenlexikon [Lit.-Verz.], S. 91f. 2 Text: Franz Bliemetzrieder, Literarische Polemik zu Beginn des großen abendländischen Schismas, Rom 1910 (Publikationen des österreichischen historischen Instituts in Rom), S. 116–140. Im Schisma standen Karl V. auf der Seite von Clemens VII., König Wenzel und Kurfürst Ruprecht I. von der Pfalz auf der Seite Urbans VI. 3 Bliemetzrieder [Anm. 2], S. 111–114, hier 111.
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Schöffenfamilie aus dem hessischen Gelnhausen verfügte er über weitreichende und vorzügliche Beziehungen, die ihn zum Kanoniker des Mainzer Stiftes Mariengreden (1347), zum Dompropst von Worms (1378), jeweils mit einträglichen Pfründen (Mainz/Mariengreden: 1357), werden ließen4 und schließlich 1386 zum Kanzler der neugegründeten Universität Heidelberg. Dennoch liegt über die Person Konrads von Gelnhausen manches noch im Dunkeln. In dieser Hinsicht sind seine 77 lateinischen Predigten5 aufschlußreich, die die Jahre 1375 bis 1389 umfassen und zur Erhellung seiner Biographie wesentlich beitragen.
Die Predigten Konrads von Gelnhausen Die Predigten sind in den Handschriften Vat. Pal. lat. 606 (im folgenden: A) und Vat. Pal. lat. 991 (im folgenden: B) enthalten. Beide stammen aus Konrads umfangreicher Bibliothek, die er der Universität Heidelberg zur Ausstattung eines von ihm vorgesehenen Artistenkollegs vermacht hatte und die letztlich zum Grundstock der Heidelberger Universitätsbibliothek wurde.6 Nur die in chronologischer Folge erste
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Schmidt [Anm. 1], S. 298f. u. ö. Walz [Lit.-Verz.]. Dies., Die Predigten Konrads von Gelnhausen († 1390), in: Predigt im Kontext. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 5.–8. 12. 1996, hg. von V. Mertens/H.-J. Schiewer/W. Schneider-Lastin, Tübingen (im Druck). Eine Gesamtedition der Predigten ist in Vorbereitung. 6 Nach dem 1396 angelegten Gesamtvermögensverzeichnis der Universität umfaßt Konrads Bibliothek ca. 215 Buchtitel, wobei die meisten in Sammelhandschriften zusammengefaßt sind, siehe Gustav Toepke, Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662, Bd. I, Heidelberg 1884, S. 655–665 mit Edition des Buchbestandes Konrads von Gelnhausen. Toepke zählt zwar 215 Titel, doch haben 3–4 davon eine andere Provenienz (Nr. 174 und evtl. auch 175: Heidelberger Juden; Nr. 214–215: Ruprecht III.). Andererseits sind drei eindeutig Konrad gehörende Buchtitel von Toepke überhaupt nicht gezählt (unmittelbar nach Nr. 175): zwei Pergamentbände der sog. ‚Summa Pisana‘ (‚Summa de casibus conscientiae‘ des Bartholomäus von Pisa) und ein Pergamentband der ‚Historia scolastica‘ des Petrus Comestor. Bis heute konnten nur fünf Sammelhandschriften aus Konrads Besitz nachgewiesen werden, siehe Walz 1995 [Lit.-Verz.] mit vollständiger Beschreibung von A und B, verkürzt (nur die Predigten) bei Walz, in: Predigt im Kontext [Anm. 5], ferner Dorothea Walz, Die historischen und philosophischen Handschriften der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibliothek (Cod. Pal. Lat. 921–1078), Wiesbaden 1999, S. 122–126 (Beschreibung von B). 5
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Predigt vom 5. August 1375, Konrads Promotionspredigt in Bologna, stellt die kalligraphische Abschrift eines Berufsschreibers dar; alle übrigen Predigten sind Autographe Konrads, geschrieben in seiner prägnanten Kursivschrift. Die Predigten präsentieren sich in der äußeren Anlage gänzlich verschieden. Hinsichtlich der Länge können sie aus nur wenigen Zeilen bestehen, aber auch bis zu acht Handschriftenseiten umfassen. Auch der Grad der Ausarbeitung ist unterschiedlich: Mehr als die Hälfte aller Predigten ist im großen und ganzen vollständig, d. h. sie enthalten einen erkennbaren Schluß, der meistens quod nobis concedat etc. oder per saecula saeculorum, seltener amen lautet. Auch wenn diese Predigten über einen Anfang und ein Ende verfügen, können sie durchaus innerhalb des Textes Lücken aufweisen, sei es, daß Absätze und Paragraphen mitten im Satz abbrechen, sei es, daß ganze Leerräume über mehrere Zeilen vorhanden sind, die offensichtlich als Platzhalter für spätere Ergänzungen vorgesehen waren. Die übrigen Predigten ohne Predigtschluß brechen mitten im Text ab, meistens schon nach der Divisio. Das Kriterium für eine Predigteinheit ist daher das Predigtthema, das den Predigtanfang kennzeichnet. Unterschiedlich ist auch die Sorgfalt in der Darbietung des Textes: Nur die wenigsten zeichnen sich durch ein regelmäßiges und sorgfältiges Schriftbild aus. Dagegen enthalten die meisten Predigten in unterschiedlichem Umfang Korrekturen, Textänderungen, Einfügungen und Randergänzungen, so daß sie eher als Entwürfe denn als ausgearbeitete Texte erscheinen. Es handelt sich daher, auch bei den inhaltlich vollständigen Predigten, um das bloße Predigtgerüst, das Konrad von Gelnhausen für den eigenen Gebrauch, nicht für die Öffentlichkeit angelegt hatte. Exempla, Erzählungen aus der Bibel und aus anderen bekannten Texten erscheinen daher nur in sprachlich rudimentärer Form und als vage Hinweise, deren Verifizierung oft eine Herausforderung darstellt, die aber Konrad als Stichworte genügten, um den betreffenden Sachverhalt im mündlichen Predigtvortrag in aller Breite aus dem Gedächtnis ausführen zu können. Auf diese Weise gestatten die Predigten, deren Entstehungsprozeß mitverfolgt werden kann, einen unmittelbaren Einblick in die Werkstatt des Predigers. Daß die Predigten auch tatsächlich gehalten wurden oder zumindest für die Praxis vorgesehen waren, ergibt sich daraus, daß die meisten von ihnen genau nach Jahr und Tag im Kirchenjahr datiert sind, wobei der Tag oft aus dem Predigtthema zu erschließen ist.
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Wir erhalten somit eine zuverlässige Chronologie von Konrads Predigten. Darüber hinaus teilt Konrad in vielen Fällen mit, in welcher Kirche die Predigten stattfanden. Durch den privaten Charakter, die Anlage als Notizen und Entwürfe, die Datierungen und die Lokalisierungen kann die Gesamtheit der Predigten als ein Predigttagebuch Konrads von Gelnhausen bezeichnet werden,7 wobei ‚Tagebuch‘ hier nicht meint, daß persönlich Erlebtes oder eigene Gedanken und Empfindungen mitgeteilt werden, sondern als ein geistliches, liturgisches Itinerar zu verstehen ist, das wie bei einer Prozession die einzelnen Stationen des Lebens im Lauf des Kirchenjahres und von Kirche zu Kirche festhält. Selbst wenn manche Predigten nachträglich umgearbeitet wurden und mehrfache Verwendung fanden,8 bleibt doch der Charakter des Predigttagebuches in seiner historischen Dimension gewahrt, indem die Predigten wenigstens einmal gerade für den angegebenen Zeitpunkt und Ort vorgesehen waren.
Die Predigten als Quellen für Konrads Biographie Studium der Kanonistik in Bologna (1369–1375) Den genauen Beginn von Konrads Studium in Bologna wird man wohl nicht festlegen können. In der Zeit vom 8. September 1369 bis 13. Januar 1370 ist er dort als Prokurator der deutschen Nation bezeugt.9 Bereits 1371 heißt es in einer Papsturkunde, „er habe mehrere Jahre kanonisches Recht studiert“.10 Andererseits traf er noch am 23. Dezember 1368 als Propsteioffizial des Mainzer Stiftes Mariengreden im Auftrag des Mainzer Erzbischofs Gerlach von Nassau eine Entscheidung in einem Rechtsstreit,11 so daß er frühestens
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Walz, in: Predigt im Kontext [Anm. 5]. Walz, in: Predigt im Kontext [Anm. 5]. 9 Ernst Friedländer/Carlo Malagola, Acta nationis germanicae universitatis Bononiensis, Berlin 1887, S. 132f. 10 Denifle/Châtelain [Lit.-Verz.], Bd. 1, S. 992, Addenda et Corrigenda zu Sp. 567, Anm. 3: Conradum Sifridi de Geilenhusen . . ., licent. in artibus, qui eciam, ut asserit, in theologia peritus existit et in iure canonica per plures annos studuit; siehe auch Karl Wenck, Konrad von Gelnhausen und die Quellen der konziliaren Theorie, Historische Zeitschrift 76 (1896), S. 13, Anm. 4. 11 Hessisches Urkundenbuch, hg. von Heinrich Reimer, Bd. II,3, Leipzig 1894, Nr. 585. 8
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zu Beginn des Jahres 1369 nach Bologna gereist sein kann. Für das Kanonistikstudium waren sechs Jahre erforderlich; Konrads Ausbildung war demnach wohl 1375 mit der Promotion beendet. Weitere Informationen über diesen Abschnitt seiner akademischen Laufbahn liegen bisher nicht vor. In diesem Zusammenhang ist die erste überlieferte Predigt Konrads12 von Bedeutung, gehalten am 8. Sonntag nach Pfingsten (1375 wäre dies am 5. August) in der Bologneser Kathedrale San Pietro. Sie stellt die feierliche und öffentliche Prunkpredigt des frisch Promovierten dar, nachdem das eigentliche, nichtöffentliche Examen bestanden war. An die Predigt schließt sich unmittelbar eine Schaudisputation über ein festgelegtes Thema sowie die Überreichung der Magisterinsignien an; letztere sind Gegenstand von Konrads Predigt, die deshalb auch eine ausgezeichnete Quelle für die in Bologna üblichen Promotionsriten bildet. Vor allem aber nennt Konrad darin seine Lehrer der Kanonistik: den sehr bekannten Dr. utriusque iuris und führenden Kanonisten der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, Johannes (Giovanni) von Legnano († 1383 in Bologna),13 sowie den kaum bekannten Hieronymus de Sancto Hieronymo, der sich wohl hauptsächlich im Licht des berühmten Bologneser Kanonisten Johannes Andreae (Giovanni d’Andrea) sonnt, von dem er als Enkel abstammt, denn literarisch scheint er nicht hervorgetreten zu sein. Statt dessen wird in den wenigen Zeugnissen, die über ihn erhalten sind, seine illustre Abstammung hervorgehoben, und auch Konrad bezeichnet ihn in der Predigt als germen . . . de claro sanguine incliti viri domini Johannis Andree. Weiterhin überliefert der Rotulus der Bologneser Professoren von 1370/71, daß jener Hieronymus in demselben Studienjahr als Ordinarius mit einem Jahresgehalt von 150 Pfund das ‚Decretum Gratiani‘ gelesen habe,14 in der gleichen Zeit also, in der Konrad in Bologna studierte. B, fol. 160r–162v, siehe Walz in: Predigt im Kontext [Anm. 5]. Zu Johannes von Legnano siehe John P. McCall, The writings of John of Legnano. With a list of manuscripts, Traditio 23 (1967), S. 415–437. 14 Umberto Dallari, I Rotuli dei lettori legisti e artisti dello Studio bolognese dal 1384 al 1799, Bd. IV, Bologna 1924, S. 3, Rotulo 1370/71: Doctores legentes in Studio . . . civitatis Bononie. In iure canonico . . . Dominus Ieronimus domini Federici olim domini Iohannis Andree legit librum Decreti ordinarie de mane cum salario librarum CL. in anno. Offensichtlich nach diesem Rotulus bei Albano Sorbelli, Storia dell’università di Bologna, Bd. I, Bologna, 1944, S. 99 in dem Verzeichnis der Lehrer des kanonischen und zivilen Rechts im 14. Jahrhundert: Jeronimus d. Federici ol. Johannis Andreae. Darüber hinaus wird Hieronymus zum 30. März 1363 als Zeuge in der Bologneser 12
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Erneuter Parisaufenthalt (nach 7. September 1378 – mindestens Mai 1380) Nachdem Konrad von Gelnhausen bereits 1344 in Paris zum Licentiatus artium promoviert worden war,15 begab er sich im September 1378 als Doctor iuris canonici ein weiteres Mal nach Paris, um seine Antrittsvorlesung als Magister artium zu halten und damit erst den Magistertitel zu erwerben, ferner um sein Theologiestudium fortzusetzen, das er aller Wahrscheinlichkeit nach schon in seiner ersten Pariser Zeit begonnen haben dürfte, denn 1371 charakterisierte er sich selbst als in theologia peritus.16 Kurz nach seinem Eintreffen in Paris, zwischen dem 18. November und dem 16. Dezember 1378, hielt Konrad seine Antrittsvorlesung und wurde durch Gerhard Kijkpot von Kalkar, der 1389 als Professor der Theologie an die neugegründete Universität Köln ging, zum Magister artium promoviert, wenngleich diese Promotion damals umstritten war.17 In jedem Fall ist Konrads akademische Karriere, der erst als doctor decretorum in Bononia, wie er ausdrücklich im ‚Liber procuratorum‘ bezeichnet wird, den Grad des Magisters artium erwarb, ungewöhnlich. Die Ursache dafür sowie überhaupt für seine akademischen Abschlüsse in fortgeschrittenem Alter liegt einerseits in seinen langwierigen Bemühungen um Pfründen, die ihm erst die finanziellen Möglichkeiten für die hohen Kosten eines Universitätsstudiums, vor allem für die
Kathedrale San Pietro erwähnt: . . . presentibus . . . Hieronymo q Federici olim Iohannis Andreae, siehe Celestino Piana, Nuovi documenti sull’Università di Bologna e sul Collegio di Spagna, Bd. I, Bologna 1976 (Studia Albornotiana XXVI), S. 238. 1385 ist Hieronymus bereits nicht mehr am Leben, denn zum 18. Februar jenes Jahres ist ein Rechtsstreit seiner Tochter Electa als seiner Erbin, erwähnt: . . . Ellectam filiam et heredem Hieronymi de S. Hieronymo decretorum doctoris, uxorem ad praesens Petri Ioannis de Saliceto scholaris in iure civ., et Theodoram uxorem q Hieronymi . . ., siehe Piana, ebd., S. 286, Nr. 186. Herrn Prof. Giuseppe Cremascoli (Bologna) und Frau Prof. Annalisa Belloni (Mailand) danke ich vielmals für ihre Hinweise. 15 Denifle/Châtelain [Lit.-Verz.], Bd. I, Sp. 70 Z. 7 und 72 Z. 16. 16 Vgl. oben Anm. 10. 17 Der ‚Liber procuratorum‘ der englisch-deutschen Nation, siehe Denifle/Châtelain [Lit.-Verz.], Bd. I, Sp. 567 Z. 27, überliefert zwar eindeutig: Item incepit dominus prepositus Wormaciensis Curradus de Geilhusin, doctor decretorum in Bononia, sub magistro Gerardo Kalcer, cujus bursa xii solidi. Solvit et iuravit, doch wurde zu dieser Stelle später am Rand nachgetragen: Nota quod licet iuraverit procuratori et rectori et bursas solverit complete, non tamen incepit et per consequens non est magister in artibus, ebd., Sp. 567, Anm. 4. Von Gerson, dem späteren Pariser Kanzler, wurde er deshalb nur als lic. in artibus bezeichnet, siehe Jean Gerson, Œuvres complètes, hg. von Palémon Glorieux, Bd. 6, Paris 1965, Nr. 270, S. 140 und Nr. 271, S. 130. Culley [Anm. 1] vermutet als Grund dafür die Turbulenzen des Schismas.
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kostspieligen Abschlüsse, verschafften, andererseits darin, daß es ihm gelang, anstelle von akademischen Nachweisen durch seine ausgezeichneten Beziehungen in den Besitz von ertragreichen und angesehenen Pfründen zu kommen.18 Unsicher ist auch, wann und wo Konrads Promotion in der Theologie stattfand. Seine bislang erste Bezeichnung als Doctor sacre theologie findet sich erst bei seiner Immatrikulation in Heidelberg am 13. Dezember 1387.19 Gegen eine Promotion in Paris sprechen sich die Herausgeber des ‚Liber procuratorum‘ der englisch-deutschen Nation der Pariser Universität, Denifle und Châtelain, mangels Nachweisen aus.20 In der Predigthandschrift A, fol. arv, existiert jedoch ein Fragment, das dem Inhalt nach eine Beichte in mittelhochdeutscher Sprache darstellt und von dem Dominikanerbruder Sygelo von Oppenheim geschrieben ist. In dem Text nimmt jener Sygelo, der auch als Schreiber für Konrad tätig war, Bezug auf eine an Conceptio Mariae (8. Dezember) genau ein Jahr zuvor in der Mainzer Stiftskirche Mariengreden gehaltene Predigt Konrads, die dieser als meister der heilgen schrieft gehalten habe. Die betreffende Predigt existiert sogar und fand 1381 statt.21 Die Aussage Sygelos von Oppenheim stellt damit den frühesten Beleg für eine Bezeichnung Konrads als Magister theologiae dar, der diesen Titel somit vor dem 8. Dezember 1381 erworben haben muß. Die theologische Promotion kann demnach nur in Paris während seines Aufenthaltes 1378–1380 erfolgt sein, vermutlich erst ganz am Ende im Sommer 1380, jedenfalls erst nach dem Mai. Denn in dem an Ruprecht I. von der Pfalz gerichteten Widmungsbrief der ‚Epistola‘ vom Mai 1380 nennt er sich lediglich decretorum doctor.22 Wenn er zu diesem Zeitpunkt schon Doktor der 18
Schmidt [Anm. 1], S. 296f. Toepke [Anm. 6], S. 25. 20 Denifle/Châtelain [Lit.-Verz.], Bd. 1, Sp. 567, Anm. 3: „minime Parisiis in theol. licenciatus est, licet an. 1379sqq. ibidem theologiae studuerit.“ 21 A, fol. 154r–155r. Zu Sygelo von Oppenheim und seinem Verhältnis zu Konrad von Gelnhausen siehe Dorothea Walz, Konrad von Gelnhausen und die Heiligen Heinrich und Kunigunde. Mit Edition des Sequenzenzyklus in Vat. Pal. lat. 991, in: Palatina-Studien. 13 Arbeiten zu Codices Vaticani Palatini latini und anderen Handschriften aus der alten Heidelberger Sammlung, hg. von W. Berschin, Città del Vaticano 1997 (Miscellanea Bibliothecae Apostolicae Vaticanae V; Studi e Testi 365), S. 329–358 mit Taf. XLVII–XLVIII, S. 335f., ferner Walz, in: Predigt im Kontext [Anm. 5]. 22 Bliemetzrieder [Anm. 2], S. 114. Das Entstehungsdatum der ‚Epistola concordiae‘ ist dem Widmungsexemplar für Kurfürst Ruprecht I., Vat. Pal. lat. 592, fol. 27v entnommen: Explicit epistola concordiae compilata Parisius anno domini millesimo tricentesimo LXXX de mense Maii . . . 19
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Theologie gewesen wäre, hätte er kaum versäumt, diesen ehrenvollen Titel ebenfalls anzufügen. Zieht man weiter in Betracht, daß der ‚Liber procuratorum‘ für die Jahre 1380–1393 wegen der Unruhen des Schismas unvollständig ist,23 kann aus dem Fehlen eines entsprechenden Eintrags in diesem Zeitraum keinesfalls geschlossen werden, daß Konrad nicht in Paris promoviert wurde. Die Daten von Konrads zweitem Parisaufenthalt sind exakt bestimmt durch weitere datierte Predigten. Am 24. August 1378 hatte Konrad noch im Dom zu Worms in curis prepositure, d.h. als Dompropst, der zugleich der Gemeindepfarrer der Dompfarrei war, gepredigt,24 und noch am 7. September 1378 hielt er sich in Frankfurt am Main anläßlich einer Predigt im dortigen Katharinenkloster auf.25 Am 20. September 1378 kam mit der Wahl von Papst Clemens VII. das Schisma zustande; gleich darauf, noch im September, war Konrad bereits in Paris, wo er an der Versammlung der Magistri in Anwesenheit König Karls V. teilnahm, um über die Konsequenzen des Schismas zu beraten. Hier trug Konrad von Gelnhausen bereits mündlich seine Konzilsvorschläge vor, die er am 31. August 1379 schriftlich in der ‚Epistola brevis‘26 für Karl V. darlegte und nochmals ausführlicher und systematischer in der erwähnten ‚Epistola concordiae‘ von 1380 ausarbeitete. Aus dieser Pariser Zeit sind drei Predigten Konrads erhalten: vom 10. Juli 1379 und vom 7. August 1379, beide gehalten im Cölestinerkloster, ferner vom 14. August 1379 im Kloster St. Victor.27 Die Predigten bei den Cölestinern führen zu einer weiteren prominenten Gestalt in Konrads Leben: zu Philippe de Mézières (um 1326– 1405), dem einflußreichsten Berater König Karls V., der auch für Konrad als Kontaktperson zu dem König fungierte. Dies erfahren wir aus einem Brief Konrads an Philippe de Mézières vom 18. Juli
23 Zuletzt Jacques Verger, Étudiants et gradués allemands dans les universités françaises du XIVe au XVIe siècle, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 28: „La période 1380–1393, malheureusement incomplète dans les livres de procurateurs, semble marquée par un rallentissement de l’activité de la nation; il est cependant impossible de mesurer exactement le déficit creusé dans les rangs par le schisme.“ 24 A, fol. 164v–165v. 25 A, fol. 168rv. 26 Text: Hans Kaiser, Der kurze Brief des Konrad von Gelnhausen, Historische Vierteljahrschrift 3 (1900), S. 379–394. 27 A, fol. 175v–182v.
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1379,28 gerade also aus der Zeit, aus der die Predigten stammen. Konrad kündigt in dem Brief an, daß er dem König in nächster Zeit „über eine gewisse Materie“ schreiben wolle, von der auch Philippe de Mézières wisse, und bittet ihn, sich beim König für ihn verwenden zu wollen. Es handelt sich zweifellos um die kurz darauf verfaßte ‚Epistola brevis‘. Vor allem aber dankt Konrad in dem Brief Philippe, daß er sich bei Karl V. für die Cölestiner eingesetzt habe, und fordert ihn auf, diese auch weiterhin zu unterstützen. Obwohl ausdrücklich von den celicis celestinis viris devotissimis die Rede ist, erkannte der Herausgeber des Briefes, Ludwig Schmitz, nicht, daß damit die Cölestiner gemeint sind.29 Das Cölestinerkloster spielte im Leben Philippes de Mézières eine wichtige Rolle. Nach dem Tod Karls V. (16. September 1380) zog er sich als Laie dorthin zurück, wo er bis zu seinem Tode lebte und beigesetzt wurde. Dem Kloster stiftete er eine jährliche Rente und finanzierte die Errichtung mehrerer Klostergebäude; eine Kapelle – die Capella domini Philippi de Maseriis – trug sogar seinen Namen. Karl V. selbst aber war der größte Förderer des 1352 am heutigen Quai des Célestins errichteten Klosters; 1370 wurde in seiner Anwesenheit die von ihm ausgestattete Kirche Notre Dame des Célestins geweiht. Obwohl die Cölestiner zusammen mit den Kartäusern als die strengsten Orden galten, war jene Kirche des Pariser CölestinerKonvents eine der am reichsten ausgestatteten Kirchen von Paris, und das Kloster selbst galt, wie St-Denis im frühen und hohen Mittelalter, als der Couvent royal. Für dieses „Königskloster“, in dem Philippe de Mézières und Konrad von Gelnhausen sich auch getroffen haben dürften, teilten die beiden nicht nur ihre Vorliebe, sondern sie waren nach der Wahl von Papst Clemens VII. zunächst auch beide Parteigänger des römischen Papstes Urban VI. Bald jedoch, schon im November 1378, war Philippe de Mézières gemeinsam mit Karl V. auf die Seite des Franzosen Clemens VII. umgeschwenkt, und Urban VI. wurde für
28 Text: Ludwig Schmitz, Ein Brief Konrads von Gelnhausen aus dem Jahr 1379, Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und für Kirchengeschichte 9 (1895), S. 186–189. Das Original des Briefes befindet sich ebenfalls in Konrads Predigthandschrift A, fol. 160rv. 29 Schmitz, ebd., S. 185: Da es um das „himmlische Band“ ging, das den Adressaten „an die Cölestiner fessele“ ( funiculus celestis celicis celestinis viris devotissimis cordialiter vinciens), verstand Schmitz celestini viri offensichtlich in der wörtlichen Bedeutung „himmlische Männer“.
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ihn zur male beste der Apokalypse.30 Ob und inwieweit das gute Verhältnis zu Konrad von Gelnhausen davon beeinträchtigt wurde, ist ungewiß. Zu einer allgemeinen Verhärtung der Fronten zwischen Franzosen und Deutschen kam es jedenfalls erst 1381 unter König Karl VI., als den deutschen Studenten das Promotionsrecht an der Pariser Universität genommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt aber war Konrad von Gelnhausen, der Paris im Sommer 1380 verließ, längst nicht mehr im Land. Die Jahre 1380–1387 Das Ende der beiden Studienjahre in Paris wird markiert durch eine Predigt am 26. August 1380, die Konrad bereits wieder in Worms hielt.31 In den folgenden Jahren befand sich Konrad bis mindestens März 1384 – die letzte datierte Predigt dieses Zeitraums fand am 7. März 1384 statt – kontinuierlich in seiner deutschen Heimat und entfaltete eine intensive Predigttätigkeit in und um Worms, wobei die Grenzpunkte Heidelberg, Speyer und Eßlingen im Süden, Mainz und Frankfurt am Main im Norden darstellen, wie aus der Handschrift A hervorgeht. Auch die Handschrift B hält neue Erkenntnisse bereit: Demnach war Konrad anschließend ein weiteres Mal nach Bologna gereist, wo ihn sechs datierte Predigten für die Zeit vom 4. August 1385 bis zum 25. März 1387 bezeugen.32 Die Bologneser Predigten und sein zweiter Aufenthalt in Bologna erklären auch, warum Konrad nicht bei der Gründung der Universität Heidelberg am 18. Oktober 1386 anwesend war, sondern sich erst am 13. Dezember 1387 im zweiten Rektorat des Marsilius von Inghen in Heidelberg immatrikulierte, wo er doch bereits in der Stiftungsbulle Papst Urbans VI. vom 23. Oktober 1385 als Dompropst von Worms zum Kanzler der Universität bestellt worden war.33 Die zwischen 1380–1387 datierten Predigten füllen nun die Lücke zwischen Konrads letzten Pariser Jahren und seiner Immatrikulation
30 Nicolas Jorga, Philippe de Mézières (1327–1405) et la croisade au 14e siècle, Paris 1896, S. 435ff. 31 A, fol. 184r–186v. 32 B, fol. 140r–157r. 33 Eduard Winkelmann (Hg.), Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Bd. I, Heidelberg 1886, Nr. 2.
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an der Universität Heidelberg am 13. Dezember 1387. Für die Interimszeit war man auf Spekulationen angewiesen: Da den deutschen Studenten 1381 infolge des Schismas an der Pariser Universität das Promotionsrecht verweigert wurde, verließen sie scharenweise die Stadt; unter ihnen vermuteten Denifle und Châtelain auch Konrad von Gelnhausen,34 und David E. Culley nahm sogar an, Konrad habe die Jahre bis 1387 an der Universität Prag verbracht.35 Dagmar Drüll führte darüber hinaus einen Beleg für die vermeintliche Prager Zeit an, wonach sich am 21. Oktober (in die XI millium Virginum) 1383 ein Dominus Conradus praepositus Wormaciensis s. Pauli dort immatrikulierte,36 doch ist jener angeführte Konrad nicht mit unserem Konrad von Gelnhausen identisch, der zwar Propst am Wormser Dom, aber nicht Propst des Wormser St. Paulusstiftes war. Dennoch ist Konrad von Gelnhausen möglicherweise mit Prag in Zusammenhang zu bringen, jedoch nicht für die Jahre 1380–1387 und auch nicht mit der Prager Universität, sondern mit Kaiser Karl IV., an dessen Hof er sich vielleicht im Herbst 1357 aufhielt.37 Gesichert ist jedenfalls sein gutes Verhältnis zu dem Kaiser, der für ihn 1357 bei Papst Innozenz VI. um die Pfarrei Bondorf bei Herrenberg als Pfründe supplizierte.38 Schließlich sind noch seine guten Beziehungen zu den Pfalzgrafen bei Rhein, seinen wichtigsten Mentoren, zu erwähnen, die sich ebenfalls für Konrad in seinen Bemühungen um Pfründen einsetzten. Bereits 1360 wird Konrad als clericus et servitor Pfalzgraf und Kurfürst Ruprechts I. bezeichnet.39 1363 bezeichnet ihn Ruprecht II. als secretarius suus carissimus, für den sich der Pfalzgraf (Kurfürst ab 1390) verwendet.40 Ein Prachtexemplar der ‚Epistola concordiae‘, das zu Beginn eine halbseitige, bordürenumrahmte und mit Gold geschmückte
34 Henricus Denifle/Aemilius Châtelain (Hgg.), Chartularium universitatis Parisiensis, Bd. III, Paris 1894, S. 581, Nr. 1634; S. 583f., Nr. 1640; S. 584f., Nr. 1642 Anm. 35 Culley [Anm. 1], S. 22, Anm. 2 und S. 23f. 36 Drüll [Lit.-Verz.], S. 92 mit Bezug auf die Monumenta universitatis CaroloFerdinandeae Pragensis, Bd. II,1: Album seu matricula facultatis juridicae universitatis Pragensis ab anno Christi 1372 usque ad annum 1418, Prag 1834, S. 71. 37 Schmidt [Anm. 1], S. 300 und 305. 38 Schmidt, ebd., S. 300f. 39 Heinrich Sauerland, Vatikanische biographische Notizen zur Geschichte des XIV. und XV. Jahrhunderts, Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde 21 (1909), S. 350, Nr. 4b. 40 secretario suo carissimo magistro Conrado de Geylenhusen, Vatikan, Archivio Segreto Vaticano, Reg. Suppl. 39, fol. 131v; Schmidt [Anm. 1], S. 318 mit Anm. 128.
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Miniatur des kurpfälzischen Wappens enthält [Abb. 1],41 schickt Konrad Ruprecht I., der bei der Gründung seiner landeseigenen Universität den Wormser Dompropst als Kanzler empfiehlt, und kurz nach seinem Tod bezeichnet ihn am 10./11. August 1390 Ruprecht II., einer seiner Testamentsvollstrecker, als consiliarius noster.42 Daß Konrad von Gelnhausen auch als Prediger für den Heidelberger Hof wirkte, zeigen seine drei in Heidelberg gehaltenen Predigten, die gleichzeitig als partes pro toto seinen Predigtstil illustrieren mögen.
Die Heidelberger Predigten Hinsichtlich des Publikums sind zwei Typen von Predigten zu unterscheiden: 1. Predigten vor akademischem Publikum, zu denen in erster Linie die Bologneser Promotionspredigt und die übrigen Bologneser Predigten zählen und die gekennzeichnet sind durch die Anrede: Reuerendi patres et domini. Ferner gehören die im Kloster St. Victor zu Paris sowie die auf Wormser Diözesansynoden vorgetragenen Predigten zu diesem Typ. Sie zeichnen sich durch Länge und in der Regel auch durch Vollständigkeit sowie durch eine differenzierte Predigtstruktur aus. Neben für Predigten ausgefalleneren literarischen Quellen (z.B. Vergil)43 und selteneren Kirchenvätertexten werden häufig Belege aus dem ‚Corpus iuris canonici’ angeführt. 2. Volkstümliche Predigten vor Pfarrgemeinden, in Kanonikatsstiften wie Mariengreden in Mainz, St. Bartholomäus in Mainz, St. Martin in Worms und dem Liebfrauenstift (ebenfalls in Worms), im Wormser und Mainzer Dom, im Jungfrauenkloster St. Katharina in Frankfurt, vor Franziskanern, Dominikanern und Dominikanerinnen. In drei
41 Vat. Pal. lat. 592, fol. 2r. Beschreibung und Farbabbildung in: Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli bis 2. November 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg, hg. von Elmar Mittler u.a., Heidelberg 41986, Textband S. 57f. (Arnold Bühler), Bildband S. 37. Das aus einem gevierten Schild bestehende Wappen enthält im ersten und vierten Feld den gekrönten Löwen der rheinischen Pfalzgrafen und im zweiten und dritten Feld das weiß-blaue bzw. hier silber-blaue bayerische Rautenwappen der Wittelsbacher. Zur Entwicklung des pfalz-bayerischen Wappens siehe Harald Drös, Heidelberger Wappenbuch, Heidelberg 1991 (Buchreihe der Stadt Heidelberg II), S. 371–375 (Ruprecht I.). 42 Heidelberg, Universitätsarchiv, XII (2, Nr. 15, siehe Winkelmann [Anm. 33], S. 50f. 43 B, fol. 140r.
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Abb. 1. Cod. Vat. Pal. lat. 592, fol. 2r: Konrad von Gelnhausen, ‚Epistola concordiae‘. Widmungsexemplar für Kurfürst Ruprecht 1. von der Pfalz mit Miniatur des kurpfälzischen Wappens.
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Fällen wird sogar ausdrücklich erwähnt, daß die Predigt ad populum stattfand.44 Weiterhin finden sich in 15 Predigten kurze deutsche Einfügungen, wobei es sich meistens um die deutsche Übertragung der Divisio handelt. Gerade die deutschen Partikel lassen darauf schließen, daß die entsprechenden Predigtentwürfe zwar auf lateinisch angefertigt waren, die Predigten selbst aber auf deutsch gehalten wurden. Die Predigten dieses Typs sind im allgemeinen kurz und schlicht gehalten und brechen meistens auch vorzeitig ab. Häufig sind Exempla aus der Erzählliteratur wie den ‚Gesta Romanorum‘ oder aus dem Tierreich (nach Plinius, Isidor von Sevilla, Aristoteles’ ‚Historia animalium‘, dem ‚Physiologus‘) vertreten, die als Verhaltensmuster für menschliche Eigenschaften oder zur heilsgeschichtlichen Deutung bei Konrad besonders beliebt sind. Dem zweiten Typ gehören die drei Heidelberger Predigten aus den Jahren 1382 und 1383 an, die sogar die älteste in Heidelberg entstandene lateinische Literatur sind.45 Die erste Heidelberger Predigt46 zu Mariae Himmelfahrt (15. August) 1382 trägt folgende Überschrift: Veni, piissime Ihesu cum matre, quam assumpsisti. Heidelberge 1382. Abgestimmt auf den Festtag, ist das Predigtthema dem Hohenlied entnommen: Veni, coronaberis (Ct 4,8). Nach dem Thema nennt Konrad als Exordium bzw., um seine eigene Terminologie anzuwenden, als Introductio vier Gründe, weshalb Mädchen oder Frauen gekrönt werden: 1. 2. 3. 4.
propter pulchritudinem, Hester; propter propinquitatem, 3 Reg 2; 4 Reg 11; ob sapientiam, 1 Reg 25; propter nobilitatem, 3 Reg 3 in principio.
Als Beleg für seine These gibt Konrad lediglich die entsprechenden Bibelstellen an. Der damit implizierte Sachverhalt wird jedoch erst
A, fol. 131v–132r (Eßlingen); A, fol. 145v und 184r–186r (Wormser Liebfrauenstift). Die ältesten nachweisbaren Handschriften in Heidelberg überhaupt sind kopierte Auftragsarbeiten Kurfürst Ruprechts I. von 1365 (die Weltchronik Rudolfs von Ems und eine deutsche Verslegende der hl. Elisabeth) sowie seiner ersten Gemahlin Elisabeth von Namur von 1370 (Predigten Bertholds von Regensburg). Wahrscheinlich besaß auch Ruprecht I. die Papierhandschriften des Leibarztes Kaiser Karls IV., Reimbotus de Castro, in seiner Bibliothek, siehe Walz, Die historischen und philosophischen Handschriften [Anm. 6], S. XVIII. Bei den Heidelberger Predigten Konrads von Gelnhausen handelt es sich jedoch um die ersten lateinischen Texte, die in Heidelberg selbst entstanden sind. 46 A, fol. 131r mit Nachträgen fol. 130v. 44
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in der mündlichen Ausführung aus dem Gedächtnis vollständig erschlossen und dargelegt. Auf diese Weise ergibt sich folgende Charakterisierung biblischer Frauen: 1. Esther, die von unglaublicher Schönheit war (Est 2,15); 2. Batseba, die durch die Thronbesteigung Salomos zu Ehren gekommene Königinmutter (III Rg 2,13ff.), die hier für die königliche Legitimation durch Verwandtschaft steht, sowie Achabs Tochter Atalia (IV Rg 11,1–16), die als Gegenbeispiel für propinquitas genannt wird: Da durch sie die Davidische Linie unterbrochen war, galt ihre Herrschaft als unrechtmäßig; 3. Abigail, gerühmt ob ihrer Weisheit (I Sm 25,3); 4. die Tochter des ägyptischen Pharao, die Salomo zur Frau nimmt und von Konrad als Beispiel für nobilitas genannt wird.
Die gleiche Introductio findet sich am unteren Rand der gegenüberliegenden Seite (fol. 130v) auf deutsch wiederholt: siplich schonheyt nahe siplichkeyt große wisheyt der geburt edelkeyt.
Eine Divisio fehlt. Der Tenor der sich anschließenden Tractatio lautet, daß alle vier genannten Eigenschaften (Schönheit, Verwandtschaft, Weisheit, Adel) auf Maria zutreffen, was von Konrad ausführlich dargelegt und, neben weiteren zahlreichen Bibelzitaten, durch Exempla aus Plinius’ ‚Naturgeschichte‘ und Walter Maps ‚De nugis curialium‘ ergänzt wird. Die deutsche Introductio signalisiert, daß die ganze Predigt auf deutsch gehalten wurde. Auch die Kürze und die schlichte Tractatio zeigen, daß es sich um eine volkstümliche Predigt für ein Laienpublikum handelt. Eine genauere Lokalisation in Heidelberg fehlt jedoch. Das Predigtthema Ct 4,8 für Mariae Himmelfahrt mag eher auf eine Pfarrgemeinde als auf ein Kloster hinweisen, wo es bereits für die Himmelfahrtsoktav (Stundengebet) reserviert war. Die einzige Pfarrkirche in Heidelberg war zu dieser Zeit die Peterskirche, zu der bis 1400 die Hl. Geist-Kirche (1386 noch als Capella S. Spiritus bezeichnet) als Filialkirche gehörte. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, daß die Predigt für den Heidelberger Hof bestimmt war. Dafür spricht, daß der 4. Paragraph der Tractatio über die nobilitas gegenüber den drei übrigen Paragraphen weitaus am längsten und ausführlichsten gehalten ist, und weiterhin spricht Walter Maps ‚De nugis curialium‘
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als zitierte Quelle dafür, gilt doch das Werk, eine satirische Geschichtsund Geschichtensammlung um den Hof König Heinrichs II. von England, als vielgelesener Klassiker der höfischen Literatur des 12. Jahrhunderts, der auch im Spätmittelalter noch beliebt war. Gemäß der Überschrift: Veni, Ihesu redemptor. In die pasche Heidelberge 83 fand die zweite Heidelberger Predigt47 am Ostersonntag, dem 22. März 1383, statt. Sie ist von der Struktur ebenso kurz, schlicht und einfach konzipiert wie die erste Heidelberger Predigt. Hier existiert zwar eine Divisio, die jedoch, gemessen an Konrads sonstigen Sprachkünsten,48 weniger kunstvoll gestaltet ist. Dafür fehlt das Exordium. Zahlreiche Exempla bezeugen den volkstümlichen Charakter der Predigt, darunter das Exempel vom Löwenvater, der durch Brüllen sein totgeborenes Junges erweckt, überliefert etwa bei Isidor von Sevilla oder im ‚Physiologus‘,49 meistens und auch hier angewandt als Sinnbild der Auferstehung Jesu. Weiterhin wird der Löwe als nachahmenswertes Vorbild empfohlen: Obwohl schrecklicher Gegner, der vor niemandem kehrtmacht, zeigt er doch, gemäß der ‚Naturgeschichte‘ des Plinius (VIII,48), Erbarmen mit den Schwachen und verschont Frauen und Kinder. Gerade jene Eigenschaft wird in der Tugendtopik des Adels häufig hervorgehoben. Die auffällig hervorgehobene Löwenthematik, die in der dritten Heidelberger Predigt sogar dominierend ist, deutet darauf hin, daß auch diese Predigt weniger für die Pfarrgemeinde von St. Peter oder Hl. Geist vorgesehen war als vielmehr ebenfalls für den Heidelberger Hof. Die dritte Heidelberger Predigt50 zum Fest Mariae Verkündigung am 25. März (Überschrift: Veni, piissime Ihesu cum matre, de annunciacione Heidelberge ad minores) ist im Unterschied zu den beiden ersten exakt lokalisiert und fand demnach im Heidelberger Minoritenkloster an der Stelle des heutigen Karlsplatzes statt. Die Jahresangabe fehlt, doch kann das Jahr 1383 aus der Reihenfolge der Predigten in der Handschrift A erschlossen werden.
A, fol. 207v. Vgl. z.B. die Divisio (fol. 140v) der Predigt B, fol. 140r–143v (Bologna, 4. August 1385, Fest des hl. Dominikus) oder den Sequenzenzyklus auf die Heiligen Heinrich und Kunigunde, siehe Walz [Anm. 21]. 49 Isidor von Sevilla, Etymologiae XII,2,5; Der Physiologus, übertragen und erläutert von Otto Seel, Zürich 1960 u. ö., S. 4; Nikolaus Henkel, Studien zum Physiologus im Mittelalter, Tübingen 1976, S. 166f. 50 A, fol. 206rv. 47 48
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Die Predigt hat zum Thema: Fiat mihi secundum verbum tuum (Lc 1,38 aus dem Festtagsevangelium zu Mariae Verkündigung). Der Schwerpunkt liegt auf dem Hören des Wortes Gottes: Man soll es hören, aber auch ausführen, und zwar tugendhaft. Dies gibt Konrad von Gelnhausen die Gelegenheit, sich ausführlich über die vier Kardinaltugenden, nämlich iustitia, prudentia, fortitudo und temperantia, zu äußern. Diese vier werden nach seiner Deutung bildlich durch einen goldenen Löwen dargestellt. Hierbei stand ihm kein realer Löwe vor Augen, wie er etwa von Aristoteles, Plinius, dem ‚Physiologus‘ und anderen vielgelesenen naturwissenschaftlichen Autoren beschrieben wurde, sondern zweifellos ein heraldischer Löwe, genauer gesagt, das kurpfälzische Wappen, das einen steigenden, goldenen Löwen mit gespreizten Krallen und Krone auf schwarzem Feld enthält, wie er auch in Konrads Widmungshandschrift der ‚Epistola concordiae‘ für Kurfürst Ruprecht I. abgebildet ist [Abb. 1]. Unter Anwendung dieser Eigenschaften des rheinpfälzischen Wappen-Löwen auf die vier Kardinaltugenden leitet Konrad folgende allegorische Deutung ab: 1. Iustitia per ungulas apertas ad uindicandum et distribuendum designatur . . . „Die Gerechtigkeit wird bezeichnet durch gespreizte Krallen zum Rächen und Verteilen, denn es ist der Gerechtigkeit eigen, einem jeden zu geben, was ihm zusteht.“ Als Exemplum wird die von Valerius Maximus und in den ‚Gesta Romanorum‘ überlieferte bekannte Geschichte von einem König vorgebracht, der sich selbst und seinem Sohn jeweils ein Auge ausriß, weil dieser einen Untertanen geblendet hatte.51 Weiterhin wird der König von Frankreich erwähnt, der durch das Aufschlagen der Bibel die Losung aus den Psalmen erhält: Juste iudicate (vgl. Ps 57,2).52 Die größte Aufgabe aber der Fürsten sei es, den Frieden zu bewahren: Maxime autem curent procurare pacem principes. 2. Prudentia als die rechte Vernunft wird, da sie alle übrigen Tugenden steuert, durch die goldene Krone des Löwen bezeichnet (significatur per coronam leonis deauratam). 3. Temperantia wird per claritatem auri „durch das strahlende Gold“ abge-
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Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia VI, 5, 3; Gesta Romanorum, hg. von Hermann Oesterley, Berlin 1872, Nachdruck Hildesheim 1963, nr. 50; weitere Nachweise bei Frederic C. Tubach, Index exemplorum. A handbook of medieval religious tales, Helsinki 1969, nr. 204. 52 Das beliebte Exemplum geht zurück auf Gregor von Tours (Historia Francorum V, 14), demzufolge König Merowech den Psalter, die Königsbücher und die Evangelien auf das Grab des hl. Martin von Tours gelegt haben soll mit der Frage, ob er das Reich gewinne oder nicht. Alle drei aufgeschlagenen Stellen verhießen Unheil; Tubach [Anm. 51], Nr. 3988.
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bildet. Besonders wichtig sei dies für den Fürsten, wobei wiederum ein Exemplum aus Walter Maps ‚De nugis curialium‘ (Dist. IV,3) erzählt wird, nämlich der Fall des achtzigjährigen und von Jugend an keusch lebenden, nicht weiter identifizierbaren Kaisers Valentius als Beispiel für temperantia eines Fürsten. 4. Fortitudo per picturam: Die Tapferkeit wird durch das ganze Bild, d.h. die Statur des Löwen dargestellt. Und schließlich: Sed campus debet esse niger . . . „das (Wappen-)Feld muß schwarz sein, welches die Demut (humilitatem), Hüterin der Tugend, bedeutet.“
Aufgrund der behandelten Tugenden, die typische Adels- bzw. Fürstentugenden sind, und der Beispiele, die ausschließlich von Königen bzw. Fürsten handeln, ferner aufgrund der Anspielung auf das kurpfälzische Löwenwappen ist es wenig wahrscheinlich, in den Minoritenbrüdern die Adressaten der Predigt zu sehen. Aus Konrads eigenhändiger Zuweisung der Predigt ad minores ist auch nicht zu schließen, daß diese für die Minoriten bestimmt war, sondern lediglich, daß sie bei den Minoriten stattfand. Vielmehr kann die Predigt wiederum nur an die kurfürstliche Familie gerichtet sein, die Konrad mit anschaulichen Beispielen aus ihrem bekannten, höfischen Umfeld anspricht. Über die geistliche Praxis am Hof ist wenig bekannt, doch da seit 1341 eine Burgkapelle existierte,53 ist anzunehmen, daß dort üblicherweise auch die Gottesdienste und übrigen geistlichen Handlungen verrichtet wurden. 1382 besorgten vier Hofkapläne die Seelsorge am Hof, von denen einer allein für die Kurfürstin zuständig war.54 Dennoch ist zu Lebzeiten Konrads von Gelnhausen eine enge Beziehung zwischen der Franziskanerkirche und dem Hof für die Kurfürstin und erste Gemahlin Ruprechts I., Elisabeth von Namur, bezeugt. In ihrem Testament vom 27. Januar 1382 bedenkt sie die Heidelberger Minoriten, was, für sich genommen, wenig aussagekräftig ist, da sie gleichzeitig auch die Augustiner, die Burgkapläne und andere Personen und Einrichtungen für ein Legat vorsieht.55 Bemerkenswert ist aber, daß sie in dem Testament verfügt, in der Franziskanerkirche vor
53 Johann Kolb, Heidelberg. Die Entstehung einer landesherrlichen Residenz im 14. Jahrhundert, Sigmaringen 1999 (Residenzforschung 8), S. 76f. 54 Peter Moraw, Kanzlei und Kanzleipersonal König Ruprechts, Archiv für Diplomatik 15 (1969), S. 524; Kolb [Anm. 53], S. 101. 55 Adolf Koch/Jakob Wille (Hgg.), Regesten der Pfalzgrafen am Rhein 1214–1400, Innsbruck 1894, S. 265f., Nr. 4431.
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dem Fronaltar beigesetzt zu werden. Dies geschah auch nach ihrem kurz darauf eingetretenen Tod am 29. März 1382.56 Seit Pfalzgraf Konrad von Staufen († 1195) war es Tradition der Pfalzgrafen, sich in ihrem Hauskloster, der Zisterzienserabtei Schönau, bestatten zu lassen. Mit Rudolf II. († 1353) trat als zweite pfälzische Grablege die Ägidienkirche in Neustadt an der Weinstraße hinzu; in ihr wurden Rudolf II. und seine Gemahlin Margarethe († 1377) bestattet, schließlich Pfalzgraf und Kurfürst Ruprecht I. († 1390), der 1368 den Neubau der Kirche veranlaßte und durch mehrere Stiftungen und Schenkungen für sein Seelenheil reichlich ausstattete, sowie seine zweite Gemahlin Beatrix von Berg († 1395). Ruprecht II. († 1398) ließ sich dagegen wieder in Schönau beisetzen, und erst mit Ruprecht III. (König Ruprecht I., † 1410) wurde die Heiliggeistkirche in Heidelberg zur neuen Grablege der kurfürstlichen Pfalzgrafen.57 Die Heidelberger Franziskanerkirche ist somit die erste und bis 1410 auch einzige Grablege eines Mitglieds der kurfürstlichen Familie in der Residenzstadt selbst. Der Ort von Konrads Predigt bedeutet daher in erster Linie die Grablege der Kurfürstin; das Datum der Predigt fällt in etwa zusammen mit ihrem ersten Todestag. Schließlich könnte noch eine weitere Beziehung zwischen Konrad von Gelnhausen in seiner Eigenschaft als Prediger und dem Heidelberger Hof bestehen. Der Hof schließt auch das Hofgesinde mit ein, zu dem nicht nur die Dienerschaft gehörte, sondern wohl im weiteren Sinn auch alle Personen, die in irgendeinem Dienstverhältnis zum Kurfürsten standen.58 Bereits 1380 stiftete das Heidelberger Hofgesinde eine Bruderschaft und erwarb sich einen eigenen Altar in der Heiliggeist-Kirche.59 Am 5. November 1391 stifteten Ruprecht II. und sein Sohn Ruprecht III. eine Predigerpfründe an diesem neuen Altar und statteten sie überdurchschnittlich hoch aus.60 Auffällig ist, daß diese Stiftung nur kurze Zeit nach Konrads Tod erfolgte,
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Koch/Wille, ebd., Nr. 4431 und S. 266, Nr. 4440. Kolb [Anm. 53], S. 61–63. 58 Kolb [Anm. 53], S. 107f. 59 Franz Joseph Mone, Predigerpfründen im 14. und 15. Jahrhundert zu Heidelberg, Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 18 (1865), S. 1–11, hier S. 2. 60 Mone, ebd., S. 2–5 mit Abdruck der Urkunde Karlsruhe, Generallandesarchiv, 67/651, fol. 1v–2v; Kolb [Anm. 53], S. 110; Wolfgang Eric Wagner, Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg, Berlin 1999 (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 2), S. 248 mit Anm. 58. 57
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der testamentarisch sein Vermögen, zu dem auch seine Bücher gehörten, im geschätzten Gesamtwert von eintausend Gulden der Universität zur Errichtung eines Artistenkollegs mit zwölf Magistern vererbt hatte.61 Die Bestimmung Konrads wurde jedoch von seinen Testamentsvollstreckern, allen voran Ruprecht II. und Ruprecht III., nicht exakt nach seinem Willen umgesetzt, sondern geriet mehr und mehr zu einem kurfürstlichen Stiftungsprojekt, das Konrad von Gelnhausen als den eigentlichen Stifter in den Hintergrund drängte.62 Denkbar wäre deshalb, daß die Anregung zur Einrichtung einer Predigerstelle für das Hofgesinde ursprünglich von Konrad ausgegangen war und die kurfürstliche Familie ebenso wie seine Kollegstiftung auch dieses Vorhaben an sich gezogen und realisiert hat.63 Zweifellos war Konrad von Gelnhausen ein gefragter und prominenter Prediger. Nach den Angaben Sygelos von Oppenheim, des einzigen zeitgenössischen Zeugen von Konrads Predigttätigkeit, soll er vor großen Volksmengen gepredigt haben: multitudine populi copiosa bescheinigt Sygelo für die im Mainzer Stift Mariengreden am 8. Dezember 1381 gehaltene Predigt.64 Daß er auch in Bologna an den Hochfesten wie Weihnachten, Karfreitag, Mariae Verkündigung, sogar am Fest des hl. Dominikus in der Kirche San Domenico von Bologna, der Grablege des Ordensgründers predigte, bezeugt, daß er nicht nur im ober- und mittelrheinischen Raum eine Lokalgröße war, sondern seine Bekanntheit und Bedeutung weit über die heimischen Grenzen hinaus reichte.
61 Die Rektorbücher der Universität Heidelberg, hg. von Jürgen Miethke, Bd. I: 1386–1410, bearbeitet von Heiner Lutzmann/Hermann Weisert, Heidelberg 1986ff., Nr. 3; 20; 61; 125. 62 Wagner [Anm. 60], S. 238ff., bes. S. 241: „Geschickt hatten es die von Konrad als Testamentsvollstrecker eingesetzten Pfalzgrafen vielmehr verstanden, dessen Vorhaben unter Beteiligung der Universität in ein unter ihrem Namen laufendes umzufunktionieren.“ 63 Auf die Parallelität der beiden fast zeitgleichen Stiftungen, die vielleicht kein Zufall ist, sondern möglicherweise beide mit Konrad von Gelnhausen in Verbindung zu bringen sind, wies mich Dr. Wolfgang Eric Wagner freundlicherweise hin. 64 Siehe oben Anm. 21.
GESCHÄFT UND MORAL: SCHRIFTEN ‚DE CONTRACTIBUS‘ AN MITTELEUROPÄISCHEN UNIVERSITÄTEN IM SPÄTEN 14. UND FRÜHEN 15. JAHRHUNDERT Matthias Nuding
Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben, oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.
Dieses resolute Christuswort bei Matthäus 6,24 (vgl. Lukas 16,13) gewann seit dem hohen Mittelalter, als sich das ökonomische Gesicht Europas einschneidend zu verändern begann, immer mehr an Gewicht: In einem Ausmaß, wie es die vorangegangenen Jahrhunderte nicht gekannt hatten, verbreiteten sich die Geldwirtschaft und mit ihr allerlei Praktiken der Profiterzielung, die unweigerlich den Widerstand der christlichen Lehre provozieren mussten. Die Kirche stand dem erwachenden Kapitalismus ablehnend, ja feindlich gegenüber und warnte vor der dämonischen Macht des Geldes, wie sie in dem einleitenden Bibelzitat zum Ausdruck kommt. Nicht zu Unrecht sah sie die Stabilität des sozialen Gefüges durch die neuen Entwicklungen bedroht, deren Dynamik sie folgerichtig durch ethische Einwände zu dämpfen suchte.1 Erklärter Feind der Theologen war der Wucher, usura genannt, unter dem man unerlaubte Geldgeschäfte aller Art verstand, insbe-
1 Zum wirtschaftlichen Denken im Mittelalter vgl. Raoul Manselli, Il pensiero economico del Medioevo, in: Storia delle idee politiche, economiche e sociali, hg. v. Luigi Firpo, Bd. II/2: Il Medioevo, Torino 1983, S. 817–865; Langholm [Lit.Verz.]; ders., The legacy of scolasticism in economic thought. Antecedents of choice and power, Cambridge 1998; Joel Kaye, Economy and nature in the fourteenth century. Money, market exchange, and the emergence of scientific thought, Cambridge 1998 (Cambridge studies in medieval life and thought IV/35); Jacques Le Goff, Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, Stuttgart 1988, sowie noch immer Edmund Schreiber, Die volkswirtschaftlichen Anschauungen der Scholastik seit Thomas v. Aquin, Jena 1913 (Beiträge zur Geschichte der Nationalökonomie 1).
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sondere solche Kreditverträge, in denen trotz fehlender Voraussetzungen verbotenerweise Zinsen verlangt wurden. Wer so nach Gewinn strebte, missachtete den gerechten Preis (iustum pretium), der nach allgemeiner Vorstellung als verbindliche Richtgröße existierte.2 Doch bereits an diesem Punkt begannen die praktischen Schwierigkeiten. Die Bücher der Bibel und die christliche Tradition formulierten zwar recht einhellig die Ablehnung des Wuchers, gaben jedoch kaum unmittelbare Auskünfte auf die Frage, inwieweit die konkreten geschäftlichen Prozesse – geschweige denn die Mechanismen der Preisbildung – im Alltag des späteren Mittelalters diesen Tatbestand erfüllten. Doch verständlicherweise wurden gerade solche Auskünfte den Zeitgenossen aus Sorge um ihr Seelenheil zunehmend wichtiger. Diese Tendenz wurde durch eine zweite Entwicklung verstärkt, die sich im 12. und frühen 13. Jahrhundert auf einer anderen Ebene abspielte, nämlich im Bereich der Vorstellungen von Buße und Sünde. Bei der Bewertung des Handelns stand immer mehr die zugrunde liegende Absicht im Mittelpunkt. Die dadurch entstehende neuartige Spiritualität und die Verinnerlichung der Gewissenserforschung bedingten einen Wandel der Beichtpraxis. Das vertrauliche, individuelle und regelmäßig wiederholte Vieraugengespräch zwischen Beichtvater und Gläubigem, wie es das vierte Laterankonzil vorschrieb, ersetzte die bis dahin üblichen, unpersönlicheren und eher sporadischen Bußzeremonien.3 Beide Entwicklungslinien, das Aufkommen neuartiger Geschäftsformen einerseits sowie das verstärkte Bedürfnis nach geistlicher Führerschaft im Beichtstuhl andererseits, erzeugten allmählich eine Nachfrage nach moralisch kompetentem Rat in ökonomischen Fragen, der sich die Seelsorge nicht auf Dauer entziehen konnte. Folgerichtig nahm sich die Schultheologie entsprechender Fragen an, ebenso wie selbstverständlich auch die Rechtswissenschaft.4 Jedoch blieb der unmittelbare Einfluss der gelehrten Jurisprudenz auf den Alltag des einfachen Gläubigen vergleichsweise gering; die wichtigeren Ratschläge
2 Le Goff [Anm. 1], S. 16. Vgl. Hans-Jörg Gilomen, Wucher und Wirtschaft im Mittelalter, Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 265–301; John T. Noonan, The scholastic analysis of usury, Cambridge/Mass. 1957; Winfried Trusen, Äquivalenzprinzip und gerechter Preis im Spätmittelalter, in: Staat und Gesellschaft (Fs. Günter Küchenhof ), hg. v. Franz Mayer, Göttingen 1967, S. 247–263. 3 Le Goff [Anm. 1], S. 9. 4 Vgl. Manselli [Anm. 1], bes. S. 820f.
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erhielt der gewöhnliche Laie von seinem Seelsorger, der sich idealerweise zuvor an sachkundiger Stelle über die herrschenden Meinungen informiert hatte. Zu den maßgeblichen Schauplätzen der theoretischen Auseinandersetzung mit der Wucherproblematik wurden im 13. Jahrhundert die Universitäten. In Paris, dem damaligen Zentrum der abendländischen Theologie, nahm beispielsweise Thomas von Aquin († 1274) unter Rückgriff auf aristotelische Lehren richtungsweisend zu verschiedenen wirtschaftsethischen Zusammenhängen Stellung. Waren die Überlegungen des Aquinaten noch recht punktuell gewesen, was freilich ihre jahrhundertelange Rezeption nicht schmälerte, setzte bereits wenige Jahre nach seinem Tod mit der Schrift ‚De usuris‘ des Aegidius von Lessines († nach 1304) die Reihe derjenigen Untersuchungen ein, die sich gleichsam monographisch ökonomischen Einzelproblemen widmeten.5 Als im folgenden Jahrhundert die mitteleuropäischen Hochschulen in Prag, Wien und Heidelberg gegründet wurden,6 übernahmen sie nicht nur den Diskussionsstoff, sondern auch die Argumente und Autoritäten von den altehrwürdigen Vorbildern. Die Zeiten hatten sich jedoch weiterentwickelt und mit ihnen die Fragestellungen und Herangehensweisen. Insbesondere aber war die Beschäftigung mit wirtschaftlichen Problemen inzwischen auf dem besten Wege, sich zu einem Modethema zu entwickeln.7 Im späteren 14. und im 15. Jahrhundert beschäftigten sich mehr und mehr Theologen mit dieser Materie, und etliche von ihnen widmeten ihr auch eigene Schriften.8 Da diese sich letztlich mit Vorgängen beschäftigen, die summarisch unter der Bezeichnung ‚Vertragsgeschäfte‘ zusammengefasst werden
5 Vgl. Kaye [Anm. 1], bes. S. 90ff. Ebenso wie der Aquinate widmeten sich dem Thema auch etliche andere Scholastiker in ihren Summen, vgl. Le Goff [Anm. 1], S. 23. 6 Frank Rexroth, Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln. Die Intentionen des Stifters und die Wege und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat, Köln [u.a.] 1992 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 34). 7 Vgl. Ritter [Lit.-Verz.], S. 341f. 8 Vgl. etwa die Aufstellung bei Winfried Trusen, Zum Rentenkauf im Spätmittelalter, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 2, Göttingen 1972 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/2), S. 141–158, hier 152.
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können, ist die Wendung de contractibus in vielen einschlägigen Werktiteln anzutreffen, auch wenn bei näherem Hinsehen im Einzelfall durchaus vielfältigere Fragestellungen behandelt wurden, als es die Einheitlichkeit der Überschriften zunächst vermuten lässt. Einer Gruppe solcher Erörterungen gilt dieser Überblick. Es handelt sich um sieben Schriften, die im letzten Viertel des 14. und etwa im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts im Umfeld der Universitäten Prag, Wien und Heidelberg entstanden sind. Sie alle stammen aus der Feder von Theologen. Ihre Autoren sind die drei Wiener Professoren Heinrich von Langenstein,9 Heinrich Totting von Oyta10 (beide † 1397) und Konrad von Ebrach († 1399),11 von denen die beiden letztgenannten lange in Prag gewirkt hatten; ferner der aus Prag nach Heidelberg berufene spätere Bischof von Worms, Matthäus von Krakau († 1410),12 die beiden Heidelberger Gelehrten Konrad
9 Georg Kreuzer, Heinrich von Langenstein. Studien zur Biographie und zu den Schismatraktaten unter besonderer Berücksichtigung der ‚Epistola pacis‘ und der ‚Epistola concilii pacis‘, Paderborn [u.a.] 1987 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, N.F. 6); Olga Weijers, Le travail intellectuel à la Faculté des arts de Paris: textes et maîtres (ca. 1200–1500). IV: Répertoire des noms commençant par H et J ( jusqu’ à Johannes C.), Turnhout 2001 (Studia Artistarum 9), S. 63–68; Gerwing [Lit.-Verz.], S. 216–219; Thomas Hohmann u. Georg Kreuzer, [Art.] Heinrich von Langenstein, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.], Bd. 3, 1981, Sp. 763–774. 10 Weijers [Anm. 9], S. 68–73; Gerwing [Lit.-Verz.], S. 219–221; Jadwiga Krzy aniakowa, Henryk Totting z Oyty i jego prascy uczniowie, Roczniki Historyczne 61 (1995), S. 87–109; Lang [Lit.-Verz.]. 11 Kassian Lauterer, Konrad von Ebrach S. O. Cist. († 1399). Lebenslauf und Schrifttum, Analecta Sacri Ordinis Cisterciensis 17 (1961), S. 151–214, 18 (1962), S. 60–120, 19 (1963), S. 3–50; ders., [Art.] Konrad von Ebrach, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 5 (1985), Sp. 160–162; ders., Johannes von Retz OESA, Collatio in exequiis Mag. Conradi de Ebraco – Ein Nachruf auf Konrad von Ebrach († 1399), Cistercienser-Chronik 68 (N.F. 55/56), 1961, S. 25–40; Kadlec [Lit.-Verz.], hier 98–102; Emile Brouette, [Art.] Conrad d’Ebrach, in: ders., Anselme Dimier u. Eugène Manning (Hgg.), Dictionnaire des auteurs cisterciens, Bd. 1, Rochefort 1975, Sp. 184. 12 Dagmar Drüll, [Art.] Matthäus von Krakau, in: dies. [Lit.-Verz.], S. 387f.; Burkard Keilmann, [Art.] Mathäus von Krakau, in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 bis 1448, hg. v. Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 875–877; Mieczys aw Markowski, Dzieje Wydzia u Teologii Uniwersytetu Krakowskiego w
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Koler von Soest, später Bischof von Regensburg († 1437),13 und Johannes von Frankfurt († 1440)14 sowie der in Wien promovierte, zeitweilig in Nürnberg und Basel aktive Dominikaner Johannes Nider († 1438).15 Der wohl nach 1393/94 entstandene Traktat ‚De contractibus‘ des Matthäus von Krakau nimmt unter drei Aspekten eine Sonderrolle innerhalb dieser Gruppe ein. Dies gilt zunächst in chronologischer Hinsicht, nach der dem Text eine mittlere Position unter den genannten zukommen dürfte.16 Auch was die örtlichen Gegebenheiten seiner
latach 1397–1525, Kraków 1996 (Studia do dziejów Wydzia u Teologicznego Uniwersytetu Jagiello skiego 2), bes. S. 63–69; Miroslav Danys, Master Matthew of Cracow, Warszawa 1995; Franz Josef Worstbrock, [Art.] Matthäus von Krakau, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.], 6 (1987), Sp. 172–182; Gerwing [Lit.-Verz.], S. 222–224; Heimpel, Die Vener [Lit.-Verz.]; Franz Franke, Mathäus von Krakau (Bischof von Worms 1405–1410). Sein Leben, Charakter und seine Schriften zur Kirchenreform, phil. Diss. Greifswald 1910. 13 Drüll [Lit.-Verz.], S. 99f.; Karl Hausberger, [Art.] Konrad von Soest, in: Gatz [Anm. 12], S. 636; Hermann Heimpel, Konrad von Soest und Job Vener, Verfasser und Bearbeiter der Heidelberger Postillen (Glossen), zu der Berufung des Konzils von Pisa, Westfalen 51 (1973), S. 115–124; Remigius Bäumer, Konrad von Soest und seine Konzilsappellation 1409 in Pisa, Westfalen 48 (1970), S. 26–37 (wieder abgedruckt in: Das Konstanzer Konzil, hg. v. Remigius Bäumer, Darmstadt 1977 [Wege der Forschung 415], S. 96–118); Ritter [Anm. 7], S. 254; Ferdinand Janner, Geschichte der Bischöfe von Regensburg, Bd. 3, Regensburg [u.a.] 1885, S. 414–450. 14 Drüll [Lit.-Verz.], S. 284–286; Johannes von Frankfurt, [Lit.-Verz.], S. XI–XXX; Bulst-Thiele [Lit.-Verz.]; Heimpel, Drei Inquisitions-Verfahren [Lit.Verz.], bes. S. 148–150. 15 Guy-Thomas Bedouelle, [Art.] Nider ( Jean), in: Dictionnaire de spiritualité, ascétique et mystique, Bd. 11, Paris 1982, Sp. 322–325; Marie-Luise Ehrenschwendtner, [Art.] Johannes Nider, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Herzberg 1992, Sp. 502–505; Isnard Wilhelm Frank, Hausstudium und Universitätsstudium der Wiener Dominikaner bis 1500, Graz [u.a.] 1968 (Archiv für österreichische Geschichte 127), S. 202–205, 214–217; Eugen Hillenbrand, [Art.] Nider, Johannes, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 6 (1987), Sp. 971–977; Thomas Kaeppeli, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi, Bd. 2, Romae 1975, Sp. 500–515. 16 Zu seiner Datierung s. Matthäus von Krakau [Lit.-Verz.], S. 15.
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Entstehung betrifft, ist er alles andere als randständig. Wahrscheinlich wurde er bereits in Heidelberg verfasst, nachdem sein Autor, der in Prag bei Heinrich von Oyta studiert und wohl auch Konrad von Ebrach kennen gelernt hatte, dorthin berufen worden war. In der kurpfälzischen Residenzstadt gehörte der Krakauer fortan zur ersten Gelehrtengeneration der jungen Universität und wirkte in dieser Eigenschaft auf die jüngeren Theologen wie eben Konrad von Soest und Johannes von Frankfurt.17 Die außerdem bestehenden Kontakte des Matthäus nach Wien sind im Zusammenhang mit dem dritten Kriterium, das dem Traktat des Krakauers in gewissem Sinne eine Schlüsselrolle zuweist, zu nennen: Es handelt sich dabei um überlieferte inhaltliche Rezeptionsvorgänge zwischen ihm und anderen Autoren, die in beide Richtungen verlaufen. Wem Matthäus geistige Anregungen in der Auseinandersetzung mit dem wirtschaftsethischen Fragenkomplex verdankt, berichtet uns eine Notiz in einer der ältesten Abschriften seiner Abhandlung, die sich heute in Krakau befindet.18 Die Eintragung, die auch der erwähnten Datierung der Schrift zugrunde liegt, wurde von Matthäus’ jüngerem Prager Studienkollegen Bartholomäus von Jas o, dem Besitzer des fraglichen Codex, unter den von einem Schreiber kopierten Text gesetzt und muss angesichts dieser Urheberschaft als zuverlässig gelten.19 Sie besagt, dass Matthäus vor der Abfassung seines Traktats einschlägige Schriften Heinrich Tottings von Oyta und Heinrichs von Langenstein eingesehen und sich mit den Verfassern persönlich über das Thema ausgetauscht habe.20 Die prominentesten Äußerungen dieser beiden Theologen in der fraglichen Sache sind ihre umfangreichen und später weit verbreiteten Gutachten, die sie in den frühen 1390er Jahren im Auftrag des Wiener Stadtrats anfertigten, als eine Revision von umstrittenen Gesetzen zur Renten- und Grundzinsablösung anstand.21 Dass der
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Vgl. Ritter [Lit.-Verz.], S. 246–255. Krakau, Biblioteka Jagiello ska, ms. 1309, f. 142r–164r; vgl. W adys aw Wis ocki, Catalogus codicum manuscriptorum Bibliothecae Universitatis Jagellonicae Cracoviensis (Katalog r‰ekopisów Biblioteki Uniwersytetu Jagiello skiego), Cracoviae 1877–1881, S. 330; Nuding [Anm. 16], S. 32f. 19 Vgl. Maria Kowalczyk, Bart omiej z Jas a, Materia y i Studia Zak adu Historii Filozofii Staro ytnej i redniowiecznej 5 (1965), S. 3–23; ferner Markowski [Anm. 12], S. 104f. 20 [. . .] priusquam hunc tractatum scripsit, vidit de eadem materia scripta magistrorum Henrici de Oyta et Henrici de Hassia, cum quibus eciam personaliter conferebat, s. Nuding [Anm. 16], S. 32. 21 Winfried Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz und Wirtschaftsethik, dargestellt 18
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Stadtrat mit seinem Anliegen an diese beiden Koryphäen herantrat, lag buchstäblich nahe, gehörten sie doch seit geraumer Zeit zu den führenden Köpfen der theologischen Fakultät an der 1384 neu ins Leben gerufenen Wiener Hochschule. Ähnlich nahe lag es jedoch auch, dass Matthäus von Krakau den Kontakt mit den beiden Wahlwienern suchte, zumindest mit Heinrich von Oyta, unter dessen Ägide der Krakauer 1367 in Prag zum Artistenmagister promoviert worden war.22 Matthäus von Krakau hat seinerseits eine der oben aufgezählten Schriften beeinflusst, nämlich den Traktat des Johannes Nider, der unter dem Titel ‚De contractibus mercatorum‘ mehrfach gedruckt worden ist, zuletzt im späten 16. Jahrhundert.23 Wie Nider in seinem kurzen Proömium bemerkt, entnahm er seine Ausführungen “im ganzen oder großenteils” Texten des Thomas von Aquin, des Johannes Duns Scotus sowie eines gewissen Matthäus von Krakau, der nach zahlreichen Unterhaltungen mit Kaufleuten besonders treffend über dieses Thema geschrieben habe.24 Wie noch näher zu betrachten sein wird, beruhte Niders Wendung in toto vel in magna parte im Hinblick auf Matthäus von Krakau keineswegs auf falscher Bescheidenheit. Für den Augenblick bleibt festzuhalten, dass dessen Traktat somit neben der chronologischen und der räumlichen Platzierung auch in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht an einer Schnittstelle positioniert ist. Die hier betrachteten Schriften können und wollen selbstverständlich nicht beanspruchen, die wirtschaftsethischen Debatten, die im fraglichen Zeitraum an den drei Universitäten geführt wurden, abzu-
an Wiener Gutachten des 14. Jahrhunderts, Wiesbaden 1961 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 43). 22 Liber decanorum facultatis philosophicae Universitatis Pragensis ab anno Christi 1367 usque ad annum 1585, pars 1, Pragae 1830 (Monumenta historica Universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis, Bd. 1), S. 135. Vgl. Krzy aniakowa [Anm. 10], S. 105–108. 23 Johannes Nider, Compendiosus tractatus de contractibus mercatorum, in: Tractatus Universi Iuris, Bd. 6.1, Venetiis 1584, f. 279vb–284ra. Zur Überlieferung vgl. Winfried Trusen, De contractibus mercatorum. Wirtschaftsethik und gelehrtes Recht im Traktat Johannes Niders († 1438), in: Ius et commercium. Studien zum Handels- und Wirtschaftsrecht (Fs. Franz Laufke), hg. von der Juristischen Fakultät der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg, Würzburg 1971, S. 51–71, hier 52f. 24 [. . .] sequentia in toto vel in magna parte sumpta sunt de dictis sancti Thomae, Scoti et etiam Matthaei de Canonia [!] sacrae theologiae doctoris, qui post multas quas habuit cum magnis mercatoribus collationes luculentissimae [!] de hac scripsit materia multumque se fundans in praefatorum duorum doctorum sententiis. Johannes Nider [Anm. 23], c. 1, f. 279vb–280ra.
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decken – dem stehen der Verlust des gewiss umfangreichen nicht schriftlich fixierten Gedankenguts sowie eine Anzahl weiterer überlieferter Abhandlungen zum gleichen Thema entgegen. Gleichwohl stellen die sieben Texte herausragende Äußerungen ihrer Art dar. Sofern nicht schon die belegte wechselseitige Benutzung durch die Autoren ihre Einbeziehung in diese Betrachtung wünschenswert erscheinen lässt, liefern die Besonderheiten von Zeit (im Fall der relativ frühen Schrift Konrads von Ebrach) und Ort ihrer Entstehung (im Fall der Heidelberger Traktate) die nötige Rechtfertigung. Unter den sieben Schriften ergibt sich somit ein Geflecht von belegten oder mutmaßlichen Abhängigkeiten zwischen den Autoren an den drei beteiligten Hochschulen, das nun in seinen Einzelheiten näher zu untersuchen ist. Mehrere dieser Texte sind von der Forschung erst wenig beachtet worden, was vor allem mit ihrer Erschließungssituation zusammenhängt. Bis in die jüngste Zeit lagen nur die Traktate Langensteins, Oytas und Niders in Drucken des 15. bzw. 16. Jahrhunderts vor,25 und demzufolge waren es auch sie, die am ehesten in Untersuchungen berücksichtigt werden konnten. Erst im Jahr 2000 erschienen mit den Schriften des Matthäus von Krakau26 und des Johannes von Frankfurt27 zwei weitere, bis dahin wenig rezipierte Texte im Druck, während die Abhandlungen Konrads von Ebrach28 und Konrad Kolers von Soest29 bis heute nur in Handschriften zugänglich sind. Die Wirkungsgeschichte eines Textes beginnt selten erst mit seiner Verarbeitung im späteren Schrifttum. Gerade in einem zwar der
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S. Anm. 23 und 41. S. Anm. 16. 27 Johannes von Frankfurt, De contractibus – Manigerley Händel, hg. v. Angelika Häse u. Kathrin Pfister, in: ders. [Lit.-Verz.], S. 166–213. 28 Zur Überlieferung (vier Hss., davon eine verloren): Josef T®í ka, Literární innost p®edhusitské university, Praha 1967 (Sbírka pramen% a p®íru ek k d jinám University Karlovy 5), S. 138; Lauterer (1963) [Anm. 11], S. 22f.; Kadlec [Lit.Verz.], S. 100. Für diese Untersuchung herangezogen wurde die Hs. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 42. 2. Aug. fol., f. 9ra–17vb; vgl. auch Otto von Heinemann, Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Zweite Abtheilung: Die Augusteischen Handschriften, Teil 3 (= Bd. 6), Wolfenbüttel 1898, S. 227–229. 29 Konrad Koler von Soest, ‚Questio de usura circa quartum ethicorum‘, wohl nur überliefert in: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 153. Helmst., f. 223ra–228vb; vgl. Otto von Heinemann, Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Erste Abtheilung: Die Helmstedter Handschriften, Teil 1, Wolfenbüttel 1884, S. 145f. 26
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Schriftlichkeit verpflichteten, aber dennoch auch sehr stark vom verbalen Austausch geprägten Milieu wie dem der mittelalterlichen Universitäten kann bereits das Wissen um das Vorhandensein von Abschriften eines Textes interessante Einblicke in dessen Rezeption ermöglichen. Im Falle von Matthäus’ ‚De contractibus‘ sind wir aufgrund der relativ überschaubaren Überlieferung in der glücklichen Lage, den Text nach seiner Abfassung gleichsam eine Zeitlang auf seiner Wanderschaft durch Mitteleuropa begleiten zu können. Wie sich zeigt, spielten in diesem Fall zunächst persönliche Kontakte des Autors eine wichtige Rolle, der selbst in nicht geringem Maße an der Verbreitung seines Werkes beteiligt war. Die inzwischen bekannten 18 Handschriften lassen sich philologisch in drei ungefähr gleich starke Gruppen teilen, von denen eine im fränkisch-pfälzischen Raum, eine zweite in Krakau und eine dritte in Wien beheimatet ist.30 Auffälligerweise existiert keine Prager Tradition, was jedoch nur die angesprochene Datierung des Textes auf die Zeit nach Matthäus’ Abwanderung aus Böhmen (um 1394) stützt, wie sie der überlieferte Rückgriff auf die Wiener Gutachten nahelegt. Die Bekanntheit des Traktats in Südwestdeutschland bedarf angesichts des Heidelberger Aufenthalts seines Verfassers keiner komplizierten Erklärung. Dass bei der Verbreitung die nahe am wittelsbachischen Einflussbereich gelegene, wirtschaftlich im Vergleich zu Heidelberg ungleich weiter entwickelte Handels- und Gewerbestadt Nürnberg31 eine wichtige Rolle gespielt zu haben scheint, kann im Hinblick auf das Thema der Schrift nicht verwundern. Auch die Präsenz von ‚De contractibus‘ in Wien erstaunt nicht allzu sehr: Der philologische Befund stützt die Annahme, dass im Zuge des überlieferten Gedankenaustauschs des Matthäus von Krakau mit Heinrich von Oyta und Heinrich von Langenstein – modern gesprochen – ein frühes Belegexemplar des Traktats seinen Weg an die Wiener Hochschule gefunden hat.31a Am deutlichsten greifbar sind die persönlichen Hintergründe der Textverbreitung im Falle der Krakauer Universität: An der Erneuerung 30
Matthäus von Krakau [Lit.-Verz.], Einführung, S. 29–49. Zu den dort genannten 17 Handschriften ist hinzuzufügen: Universitätsbibliothek Eichstätt/Eigentum des Freistaates Bayern, Cod. st. 717, f. 19r–40r; vgl. Zofia W odek, Polonica w redniowiecznych r‰ekopisach bibliotek niemieckich: Aschaffenburg, Augsburg, Bamberg, Eichstätt, Harburg, Moguncja, Norymberga. Wroc aw [u.a.] 1974, S. 37. 31 Alfred Wendehorst, [Art.] Nürnberg, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), Sp. 1317–1322, bes. 1320f. 31a Jaros aw Reszczy ski, [Rez.] Matthäus von Krakau, De contractibus, Erstausgabe von Matthias Nuding, Heidelberg 2000, Kwartalnik Historyczny 110.2 (2003), S. 115–120, hier 118, Anm. 9, weist auf die Möglichkeit hin, dass die Wiener Textzeugen
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der nominell seit 1364 bestehenden Hochschule Kasimirs des Großen durch König W adys aw II. Jagie o war Matthäus von Krakau kurz vor 1400 offenbar beteiligt.32 Wahrscheinlich wurde ‚De contractibus‘ dort während eines Zeitraums, in dem ein Aufenthalt des Verfassers in seiner Vaterstadt belegt ist, in diejenige Handschrift kopiert, die der ehemalige Prager und künftige Krakauer Universitätsgelehrte Bartholomäus von Jas o mit der erwähnten Notiz über die Zusammenarbeit mit den Wienern versah. Später überließ Bartholomäus die Kopie unter anderen seinen Kollegen Johannes Isner und Lukas von Wielki Ko<min zur weiteren Vervielfältigung.33 Letzterer griff zu diesem Zwecke sogar selbst zur Feder.34 Zumindest Isner kannte Matthäus – ebenso wie Bartholomäus von Jas o – bereits aus Prag.35 Das Autorenexemplar sowie die beiden Abschriften, aus denen die südwestdeutschen und polnischen Textzeugen einerseits sowie die Wiener Exemplare andererseits kopiert wurden, müssen alle als verloren gelten. Die ältesten erhaltenen Codices sind die beiden Hyparchetypen der südwestdeutschen und der Krakauer Linie sowie drei Abschriften des letzteren aus der Zeit um 1400. Diese Exemplare dürften die einzigen sein, die noch zu Lebzeiten des Autors entstanden sind. Die meisten übrigen Textzeugen, mithin also ein Großteil der Überlieferung, sind in die Zeit des Basler Konzils zu datieren, und erst diese jüngere Handschriftengeneration hat dem Traktat über den persönlichen Wirkungsraum seines Verfassers hinaus zu Bekanntheit verholfen. Allerdings machte die Überlieferung von Matthäus’ Traktat auch während des als Umschlagplatz seltenen Schriftguts bekannten Basiliense36 an den Grenzen des deutschen Sprachgebiets halt.37
auch auf eine Handscrift aus dem Besitz Johannes Niders zurückgehen könnten. Vgl. unten S. 58–60. 32 Ritter [Lit.-Verz.], S. 251. Zur Erneuerung der Krakauer Universität s. Peter Moraw, Die Hohe Schule in Krakau und das europäische Universitätssystem um 1400, in: Studien zum 15. Jahrhundert (Fs. Erich Meuthen), hg. v. Johannes Helmrath u. Heribert Müller, Bd. 1, München 1994, S. 521–539. 33 Zur Abhängigkeit der Hss.: Nuding in: Matthäus von Krakau [Lit.-Verz.], S. 43–45. Biographisches: Markowski [Anm. 12], S. 100–104, 115f.; Maria Kowalczyk, ukasz z Wielkiego KoΩmina, Materia y do Historii Filozofii \Sredniowiecznej w Polsce 4 [15] (1971), S. 3–40, sowie Anm. 19. 34 Kowalczyk [Anm. 33], S. 25. 35 Vgl. T®í ka, ivotopisn [Lit.-Verz.], S. 40, 261f., 404. 36 Vgl. Jürgen Miethke, Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jahrhundert, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 37 (1981), S. 736–773, hier 757f. 37 S. Anm. 30.
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Wenn im Folgenden die Inhalte dieser und der übrigen bezeichneten Abhandlungen beleuchtet werden, so kann dies innerhalb des vorgegebenen Rahmens selbstverständlich nur schlaglichtartig und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit geschehen. Angestrebt wird vielmehr eine knappe Charakterisierung. Dabei dürfte jedoch schnell klar werden, welche sachliche Bandbreite sich in unserem Fall hinter einer Anzahl ähnlich betitelter Abhandlungen zu verbergen vermag. Außerdem ist nun natürlich nach konkreten inhaltlichen Wechselbeziehungen zu fragen. Wir wollen bei der Betrachtung chronologisch vorgehen: Die um 1375/78 entstandene Schrift ‚De contractibus‘ des Prager Zisterziensers Konrad von Ebrach, dessen Verfasserschaft freilich nicht restlos gesichert ist,38 stellt keinen abgeschlossen konzipierten Traktat dar. Vielmehr handelt es sich um den Teil einer universitären Disputation, vielleicht um eine determinatio, wie die Überlieferung andeutet.39 In der Einleitung macht der Verfasser die Ankündigung, um der Übung im Disputieren und der Wahrheitsfindung willen Beweisgründe aus dem secundum principale – worunter ein Argument des vorangegangenen Streitgesprächs zu verstehen sein dürfte – zur Beantwortung der Titelfrage anzuführen. Diese lautet: Ob ein Zinsoder Rententitel, bei dessen Erwerb lediglich die Schuldverschreibung den Besitzer wechsle, dem Naturrecht widerspreche? Wie der weitere Verlauf der Erörterung zeigt, schwebt Konrad vor allem die Rechtsfigur der Wiederkaufsrente vor, einer im Vergleich zur Ewigund zur Leibrente moderneren Form, die freilich einem besonders
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Vgl. Lauterer (1963) [Anm. 11], S. 23f. Zum Inhalt knapp Lauterer (1963) [Anm. 11], S. 25f. In Cod. Guelf. 42. 2. Aug. fol. lautet der Anfang [f. 9ra]: Incipit alius tractatus de contractibus magistri Conradi de Ebroco [!] – De contractibus reddituum queritur, utrum omnis redditus vel census de camera vel fisco communitatis alicuius vel persone singularis, ubi nil tempore empcionis in possessionem traditur ementis preterquam littera recognicionis, uti communiter inolevit, iuri naturali sit contrarium et repungnans, cum scriptura Iob quarto sic dicat: ‚Conceptum sermonem quis tenere‘ [f. 9rb] potest? Uti [folgt gestrichen: promisso] promisi alias, gracia scolastice collacionis et inveniende veritatis raciones secundi principalis in medium ducam negativa dicte questionis persuadentes, quatinus subtiliores inde moti caritate dignentur earum soluciones michi et michi similibus impertiri. Et ego raciones oppositas vel auctoritates cum correccione sancte matris ecclesie sapientumque, reverendissimi in Christo patris ac domini mei Iohannis Pragensis ecclesie archiepiscopi ac universitatis nostre Pragensis cancellarii temptabo dissolvere iuxta posse, non intendens aliquid pertinaciter asserere vel defendere, ymmo paratus omnino cunctis, que prefati in hiis diffinierunt, assentire. – Die Abschrift schließt mit der Bemerkung [f. 17vb]: Et sic est finis illius determinacionis de contractibus magistri Conradi de Ebraco doctoris Pragensis. 39
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starken Wucherverdacht ausgesetzt war.40 Konrads Text dürfte eine der frühesten erhaltenen Auseinandersetzungen mit diesem Thema sein, die im römisch-deutschen Reich nördlich der Alpen enstanden sind. In seiner Erörterung zieht der Verfasser alle Register der Gelehrsamkeit: Die 21 Argumente, die er im Folgenden vorbringt und zu beweisen sucht, werden mit einer Vielzahl von Belegstellen aus der Bibel, dem patristischen Schrifttum, der aristotelischen Philosophie sowie nicht zuletzt mit über einem Dutzend Bestimmungen des ‚Corpus Iuris Canonici‘ untermauert. Bereits dieser recht massive Rückgriff auf die geistlichen Autoritäten weist darauf hin, welche inhaltliche Position der Zisterzienser einnimmt: Einem gewissen Rigorismus und Formalismus verpflichtet, führt er eine breite Palette traditioneller Einwände ins Feld. Die besprochenen Geschäftsformen verstießen gegen das Gebot der Nächstenliebe, das dem Verfasser als roter Faden bei der Bewertung von Geschäftsvorgängen dient, sowie gegen das Naturrecht (f. 9va–11ra). Die formalen Voraussetzungen eines klassischen und gerechten Kaufgeschäfts, nämlich das Gleichgewicht zwischen Gabe und Gegengabe (f. 16ra–16rb u.ö.), die Eindeutigkeit von Käufer und Verkäufer, Ware und Preis (f. 13vb–14va, 17rb) sowie die beiderseitige Freiwilligkeit des Geschäftsabschlusses seien nicht gewährleistet; schon die Absicht des Kreditgebers bei der Vertragsvereinbarung sei wucherisch; man handle unerlaubterweise mit dem göttlichen Gut der Zeit (f. 15vb–16ra) und leiste mit der Etablierung nicht auf Arbeit beruhender Einkommensformen dem Müßiggang und damit dem Laster Vorschub, ja der Wucher könne sogar das gesellschaftliche Gefüge destabilisieren (f. 16vb–17ra). An all diesen Einwänden ändere es auch nichts, wenn man die tatsächlichen Vorgänge mit Hilfe von Sprachverdrehungen und Euphemismen in das Gewand erlaubter Transaktionen zu kleiden versuche, denn solche Äußerlichkeiten beeinflussten die wahre Natur eines Vertrages nicht (f. 11ra–11va). Diese weitgehende Ablehnung der Rückkaufrente führt noch einmal zurück zu der Frage nach dem ursprünglichen Wesen dieses Textes. Da der Verfasser selbst einleitend ankündigt, negative Argumente aufzählen zu wollen, kann das Fehlen positiver Aspekte in der Erörterung nicht verwundern. Da er aber ebenso angibt, dies um des Disputierens willen zu tun, muss man sich die Frage stellen, ob 40
Vgl. zu dieser Problematik Trusen [Anm. 8].
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die hier vertretene Position die wirkliche Ansicht Konrads von Ebrach wiedergibt oder nicht vielmehr als eine Art akademische Fingerübung zu gelten hat. Dieser Einwand erscheint um so plausibler, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass der erhaltene Text allem Anschein nach nur einen Ausschnitt der Disputation wiedergibt, in deren Kontext er entstanden ist. In jedem Fall belegt er, dass das Thema der Rentenverträge an der Prager Universität der 1370er Jahre bereits Gegenstand ausführlicher Debatten war. Offensichtlich stellten sie den Nährboden dar, auf dem auch Theologen wie Heinrich von Oyta und Matthäus von Krakau begannen, sich mit diesem Gegenstand zu befassen. Die beiden Schriften, von denen als nächstes zu handeln ist, der ‚Tractatus bipartitus de contractibus‘ Heinrichs von Langenstein und ‚De contractibus reddituum‘ Heinrichs von Oyta,41 entstanden um 1392/93 in Wien. Beide waren, wie erwähnt, Auftragsarbeiten des Stadtrats, die Probleme des Rentenkaufs begutachten sollten. Eine zweite in diesem Zusammenhang entstandene Schrift Heinrichs von Langenstein, die etwas jüngere, unveröffentlichte ‚Epistola de contractibus‘, die auf seinem ‚Tractatus bipartitus de contractibus‘ fußt, jedoch bereits Ansichten aus Heinrich Tottings Gutachten aufnimmt, kann hier nicht berücksichtigt werden, ebenso die gleichfalls ungedruckte Stellungnahme des Kanonisten Johannes Reuter in derselben Sache; über alle vier Schriften liegt jedoch eine ausführliche rechtshistorische Studie vor.42 Heinrich von Langenstein, der bei der Abfassung des ‚Tractatus bipartitus‘ Gebrauch von seinem Genesiskommentar gemacht hat,43 beginnt mit einer Art theologischer Entstehungsgeschichte des Wirtschaftslebens nach dem Sündenfall, der die Menschheit zur Arbeit verdammte und so zur Herausbildung und Diversifizierung des Geschäftslebens führte (I. 1–2). Was folgt, ist als eine „Verteidigung des wirtschaftlichen Ideals des Mittelalters gegenüber der eindringenden kapitalistischen Zersetzung“44 charakterisiert worden. Langenstein
41 Heinrich von Langenstein, Tractatus de contractibus habens duas partes, in: Ioannes Gerson, Opera, Bd. 4, Coloniae 1484, f. 185r–224r; Heinrich Totting von Oyta, Tractatus de contractibus, ebd., f. 224r–253v. Sowohl in der Überlieferung als auch im Gebrauch der Forschung variieren die Titel bisweilen. 42 Trusen [Anm. 21]; Datierungen: S. 14–19. 43 Trusen [Anm. 21], S. 15. 44 Schreiber [Anm. 1], S. 197.
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betont die Beschränkung erlaubter Gewinne auf eine dem Erwerber standesgemäße Höhe (I. 12, I. 47–48). Um die moralischen Gefahren des freien Spiels der Marktkräfte auszuschalten, plädiert er als erster scholastischer Autor für die Fixierung der Preise seitens der Obrigkeit (I. 12).45 Die Verwerflichkeit des Wuchers von christlicher und von jüdischer Seite wird angeprangert;46 ja geradezu eine Abschaffung aller Darlehensgeschäfte gewünscht (I. 49). Auch im Hinblick auf sein Hauptthema, die Renten, begegnet Heinrich von Langenstein neuen Entwicklungen reserviert.47 Heinrich von Oyta leitet seine Ausführungen mit einem predigtähnlichen Proömium über die überragende Bedeutung der Gerechtigkeit für den Bestand eines Gemeinwesens ein. Unter diesem Blickwinkel wird sodann die Frage der Rentengeschäfte in 19 Kapiteln (dubia) erörtert. In ihnen kommt als Grundhaltung eine gewisse Offenheit zum Tragen, die sich unter bestimmten Voraussetzungen selbst mit einer fortschrittlichen Vertragsform wie dem census realis, einer nicht mehr auf Immobilien, sondern auf die persönliche Arbeitskraft eines Menschen radizierten Rente, abzufinden vermag (dubium 1). Dies gilt erst recht für die konventionelleren Formen des Rentenkaufs.48 Hinsichtlich dieser aufgeschlosseneren Grundhaltung unterscheidet sich Heinrich von Oyta immer wieder von Heinrich von Langenstein.49 Wie sich zeigt, ist die Schrift des Matthäus von Krakau trotz des überlieferten Austauschs mit den beiden Wiener Gelehrten äußerlich eher marginal von deren Gutachten abhängig. Beide werden von ihm nicht explizit zitiert; ihrem Auftrag gemäß behandeln sie schließlich vor allem die Problematik des Rentenkaufs, ein Thema, das bei Matthäus von Krakau gänzlich fehlt. Dass der Krakauer auf diesen Kernbereich des spätmittelalterlichen Wirtschaftsalltags nicht eingegangen ist, geschah offenbar unabsichtlich und unter dem Druck widriger Verhältnisse. Im Vorwort seiner Schrift kündigt Matthäus noch eine dreiteilige Erörterung an: einen Abschnitt über die Grundlagen des Geschäftslebens, einen zweiten über den Handel mit beweglichen Gütern und einen dritten über Rentenkäufe, die auf Immobilien 45
Schreiber [Anm. 1], S. 200. Langensteins [Anm. 41] Aussagen über die Juden (bes. I. 25–30) sind deutlich polemischer formuliert als etwa die Konrads von Ebrach. 47 S. zusammenfassend Schreiber [Anm. 1], S. 201f. 48 Schreiber [Anm. 1], S. 203. 49 Vgl. Trusen [Anm. 21], zu den Positionen gegenüber dem Rentenkauf bes. S. 113–137. 46
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radiziert werden.50 Die bekannte Überlieferung präsentiert uns jedoch nur den Text der ersten beiden Teile, und man muss davon ausgehen, dass der Verfasser an seiner neuen Heidelberger Wirkungsstätte nicht mehr die Zeit fand, die Last dieser komplizierten Materie zu schultern. Was er wahrscheinlich von seinem Wiener Gesprächspartner Heinrich von Langenstein übernommen hat, ist die Darstellungsweise, der Erörterung von Einzelthemen einen Überblick über die Grundlagen vorauszuschicken. Wer seinen Traktat mit dem ersten Teil von Langensteins Gutachten vergleicht,51 wird diese Gemeinsamkeit nicht verkennen, auch wenn erst Matthäus von Krakau die entsprechenden Ausführungen stärker als sein älterer Kollege auch formal zusammenfasst. Wenn er darin u.a. eine Typologie der Eigentumsgeschäfte und eine Definition des gerechten Preises entwickelt, so geschieht dies mit dem Ziel, entstandene schädliche Unklarheiten zu beseitigen und dem Leser die Möglichkeit an die Hand zu geben, anhand eines stringenten Systems allgemeine Regeln zu formulieren, die ihm die selbständige Orientierung im Alltag ermöglichen sollen.52 Seine folgenden Ausführungen, die versuchen, die oftmals abstrakten Postulate der Tradition anhand von Fallbeispielen zu konkretisieren, nehmen immer wieder auf diese Grundlagen Bezug. Weniger Gemeinsamkeiten bestehen im Hinblick auf die letztliche Absicht der Schrift: Zwar wollten auch die beiden Wiener Gutachten Lösungen für alltägliche Fragen vorschlagen, doch lassen sie sich letztlich nur schwer von ihrem konkreten rechtspolitischen Zweck in dem Gesetzgebungsverfahren lösen, in dessen Kontext sie entstanden sind. Ein solcher Zusammenhang spielte im Fall des Krakauers offenbar keine Rolle; stattdessen ist seine Schrift stärker an den Erfordernissen der praktischen Seelsorge orientiert. Dass sich etwa ein Drittel des Traktats (II. 3) allein mit Phänomenen wie dem Glücksspiel und dem Bettel auseinandersetzt, denen beiden keine große volkswirtschaftliche Bedeutung zukam, verdeutlicht dies ebenso
50 Dividitur autem presens opusculum in tres partes: In prima agitur de fundamentis, generibus et speciebus translacionum, descripcionibus et divisionibus terminorum et aliis generalibus ad translaciones requisitis. In secunda parte agitur de translacionibus, que ut communiter fiunt circa res mobiles. In tercia parte agitur de translacionibus censuum, que fiunt circa res immobiles. Matthäus von Krakau [Anm. 16], S. 56. 51 S. etwa Heinrich von Langenstein [Anm. 41], I. 5. 52 Vgl. die Erklärung bei Matthäus von Krakau [Lit.-Verz.], II. 2. 3.
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wie die Aufnahme listenartiger Zusammenstellungen, in denen etwa aufgezählt wird, weshalb der Handel Gefahren für das Seelenheil berge (II. 2. 14) oder wie der rechtschaffene Kaufmann sich zu verhalten habe, wenn er erlöst werden wolle (II. 2. 15). Im Vergleich mit den beiden Wiener Gutachten erscheint zudem die Masse der Autoritätenzitate erheblich ausgedünnt. Inhaltlich begegnen uns durchaus eigenständige Argumente des Matthäus, etwa im Bereich der Wertlehre: Hier betrachtet der Krakauer traditionsgemäß den Marktpreis, die communis aestimatio, als den gerechten Preis einer Ware, allerdings betont er die vielen praktischen Schwierigkeiten, die sich bei der Feststellung und Durchsetzung desselben ergeben können. Eben solcher Ausnahmen und Grenzfälle wegen war das Vertrauen in die traditionelle Lehre vom iustum pretium unter Druck geraten. Matthäus sagt sich nicht von dieser Grundanschauung los, sondern versteht es, sie um den Preis ihrer strengen Geschlossenheit mit Hilfe verschiedener Ergänzungen gleichsam auf den neuesten Stand zu bringen. So kommt dem Händler seiner Ansicht nach eine gewisse Selbständigkeit zu, denn er hat zu prüfen, ob die allgemeine Einschätzung sich womöglich durch das Wirken von Angebot und Nachfrage verändert hat. Unter bestimmten Umständen können auch persönliche Unkosten für den Transport und die Bereitstellung der Ware geltend gemacht werden, was in diesem Fall einer Abkehr vom Prinzip der communis aestimatio gleichkommt. Ähnliches gilt, wenn dieselbe dem Händler unrichtig erscheint oder für eine bestimmte Ware überhaupt nicht existiert: dann ist seine eigenverantwortliche ehrliche Kalkulation notwendig. Matthäus ist sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die Dynamik des Marktgeschehens durch Schwankungen von Angebot und Nachfrage zu Situationen führen kann, in denen das Konzept des theoretisch gerechten Preises sich nicht verwirklichen lässt. In derartigen Situationen, so Matthäus, sei eine Abweichung von der communis aestimatio statthaft (I. 12, II. 2. 4, II. 2. 7).53 Soweit erkennbar ist, äußert sich der Krakauer in solchen und ähnlichen Zusammenhängen wesentlich liberaler, ja unbefangener als etwa Heinrich von Langenstein, der, um bei dem genannten Beispiel zu bleiben, für dirigistische Preisfestsetzungen durch die Obrigkeit plädierte.54 Auch was das 53
Vgl. unten Anm. 64. Gleichwohl tritt auch Matthäus von Krakau [Lit.-Verz.] für eine Proportionalität zwischen sozialem Stand und der Höhe des legitimen Geschäftsgewinns ein (II. 2. 15). 54
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Wechselgeschäft betrifft, gelangt Matthäus durch eine Neubewertung der eingebrachten Leistungen zu befürwortenden Argumenten (II. 2. 16). Allerdings neigt der Krakauer bei der Erörterung erlaubter Ausnahmen vom Zinsverbot zu restriktiveren Ansichten als Heinrich von Langenstein. Dass er sich dabei zu den gleichen Konstellationen äußert wie der Wiener, macht es plausibel, dass er sich zuvor mit dessen Schrift auseinandergesetzt hatte.55 Möglicherweise sind Matthäus’ liberalere Anschauungen ein Reflex des Einflusses Heinrichs von Oyta, was sich jedoch aufgrund der unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte kaum konkret belegen lässt. Hinter der Schrift ‚De usuris‘ des 1387 in Heidelberg immatrikulierten späteren Theologen Konrad Koler von Soest56 verbirgt sich eine quaestio über das Thema, ob jede Form von Wucher von sich aus verwerflich sei, auch wenn im Einzelfall kein positives Gesetz sie verbiete.57 Nach reiflicher Betrachtung des Für und Wider beantwortet Koler die Frage im Großen und Ganzen mit ja, wenngleich er etliche Sonderfälle ausnimmt, in denen seines Erachtens kein Wucher vorliegt. Die Erörterung fußt auf einer theoretischen Charakterisierung des Leihegeschäfts (f. 223rb–223vb), aus der fünf umfängliche Folgerungen (conclusiones) gezogen (f. 223vb–225vb) und sodann in einem weiteren Abschnitt (f. 225vb–228va) anhand von neun praktisch-beispielhaften Einwänden (dubitaciones) diskutiert werden. Bemerkenswert an Kolers quaestio ist seine Selbstbeschränkung bei den angeführten Autoritäten. Christliche Theologie und Jurisprudenz kommen kaum zu Wort, stattdessen beherrscht Aristoteles das Feld. Möglicherweise ist dies ein Hinweis darauf, dass der Text noch während des ArtesStudiums seines Verfassers entstanden sein könnte. Die Urteile, zu denen Koler gelangt, stehen freilich fest auf dem traditionellen Grund der theologisch argumentierenden Autoren, die ja seit Thomas von Aquin in wirtschaftsethischen Fragen ohnehin mit aristotelischem Gedankengut operierten. Inhaltlich akzentuiert Koler den altbekannten Unterschied zwischen
55 Vgl. Heinrich von Langenstein [Anm. 41], I. 38 und Matthäus von Krakau [Anm. 16], II. 1. 8. 56 Als solcher war er auch an der Wuchergesetzgebung des Konstanzer Konzils beteiligt, vgl. Ritter [Lit.-Verz.], S. 342. 57 Queritur, utrum usura sit de se prava, eciam si nulla lege esset prohibita, Cod. Guelf, 153. Helmst., f. 223ra. Zum Inhalt s. auch Ritter [Anm. 7], S. 343, Anm. 1.
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der Verleihung von Gütern, deren Benutzung in ihrem Gebrauch besteht, und solchen, deren Benutzung ihrem Verbrauch entspricht. Letztere Güter, zu denen traditionell auch das Geld gerechnet wurde, dürfe man mit Ausnahme einer Aufwandsentschädigung nicht gewinnbringend verleihen (f. 224va–224vb). Mit Aristoteles wird die Sozialverantwortlichkeit des Menschen betont und auf sie ein grundsätzliches Wucherverbot gestützt (f. 223vb). Parameter wie positive Absichten beim Geschäftsabschluss oder die Unsicherheit einer Gewinnerwartung schaffen für Koler jedoch Freiräume, in denen Ausnahmen Platz finden (f. 224ra–224va). Dies lässt ihn etwa Leibrenten befürworten, bei denen ja zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht absehbar ist, welche Seite letztlich mehr profitieren wird, während er folgerichtig ewigen oder rückkaufbaren Renten wegen der Risikolosigkeit der Gewinnerzielung skeptisch gegenüber steht (f. 226vb–227va). Der Fürkauf erscheint ihm dagegen akzeptabel (f. 227va). Der vor 1423 in Heidelberg entstandene Überblick ‚De contractibus’ des Johannes von Frankfurt58 ist als kurzes Handbüchlein für Beichtväter konzipiert (S. 170f.). Nicht nur die von diesen betreuten Laien, sondern offenbar auch die einfachen geistlichen Leser selbst will Johannes nicht mit gelehrten Spitzfindigkeiten überfordern, von denen er sagt, dass sie im Beichtstuhl ohnehin nutzlos seien (S. 176f.). Stattdessen bietet er in 16 conclusiones einfache, bisweilen holzschnittartige Verhaltensregeln an, die eine Orientierung im Alltag ermöglichen sollen. Sie werden anhand von Beispielen, die ganz auf die Heidelberger Verhältnisse zugeschnitten sind, vorgeführt.59 Der Text hat eine weite Verbreitung erfahren; über drei Dutzend Kopien, vor allem im süddeutschen Raum, sowie eine 1468 angefertigte Übersetzung ins Frühneuhochdeutsche sind von ihm bekannt geworden.60 Die behandelten Fragen, die nicht selten dem Bereich der Landwirtschaft entstammen, sind den Bedürfnissen des Zielpublikums angepasst. Hinsichtlich des Rentenkaufs äußert Johannes sich folgendermaßen: Ewigrenten könnten nicht unzulässig sein, da der Klerus selbst seinen Unterhalt mit ihnen finanziere; entsprechend sollten sie auch keine
58 Edition: s. Anm. 27. Zum Inhalt bereits Ritter [Lit.-Verz.], S. 343, Anm. 2, und Bulst-Thiele [Lit.-Verz.], S. 150f. 59 Walz [Anm. 14], S. XXI. 60 Häse u. Pfister [Anm. 27], S. 166–169.
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Rückkaufklausel enthalten, um den reibungslosen Ablauf des geistlichen Lebens nicht zu gefährden. Im privaten Bereich, wo eine solche Gefahr nicht bestehe, könne der Rentenrückkauf dagegen erlaubt werden, sofern er nicht zum Wucher missbraucht werde (S. 170–175, 178–181). Der Erwerb von Leibrenten, deren Erlös dem Müßiggang diene, wird negativ bewertet; wenn jedoch mit der Leibrente – ähnlich wie mit einer Pfründe – ein geistliches Leben oder Studium finanziert werden solle, sei dies akzeptabel (S. 200–203). Auch Johannes von Frankfurt unterscheidet zwischen Wortlaut und Geist eines Vertrages (S. 174f.) und hält am Prinzip der Gleichheit von Wert und Gegenwert fest, wobei er allerdings dem gerechten Preis nur am jeweiligen Ort Verbindlichkeit beimisst (S. 170f., 188–191). Die wichtige Rolle des Kaufmanns im Gemeinwesen und sein Recht, u.a. durch antizyklisches Handeln Gewinn zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu erwirtschaften, werden anerkannt (S. 210f.), im Gegensatz zu Konrad von Soest wird der Fürkauf jedoch rundheraus abgelehnt (S. 204–207); Johannes lässt dabei das Risiko des Käufers offenbar nicht als Rechtfertigung des verbilligten Kaufpreises gelten. Konservative Aussagen stehen bei ihm also im Vordergrund. Auch die Ausnahmen vom Zinsverbot, die er zugesteht, sind konventionell.61 Weisen die beiden zuletzt skizzierten Traktate keine direkten Beziehungen zu der Schrift des Matthäus von Krakau auf, so verhält sich dies im Fall des abschließend zu betrachtenden Textes völlig anders: Johannes Niders nicht präzise datierbares Werk ‚De contractibus mercatorum‘ ist eine kurzgefasste Abhandlung über das Geschäftsgebaren von Kaufleuten, die ein Kenner der Materie wie Winfried Trusen 1971 als „die erste selbständige Monographie eines Deutschen über dieses Thema“ einschätzte.62 Das Kompendium richtet sich offenbar an Seelsorger und interessierte Laien, verzichtet jedoch nicht ganz auf wissenschaftliche Argumentation.63 In fünf Kapiteln werden nacheinander folgende Punkte abgehandelt: 1. Die Voraussetzungen eines gerechten Kaufs, 2. die Feststellung des Waren-
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Ritter [Lit.-Verz.], S. 343, Anm. 2. Trusen, [Anm. 23], S. 53. Der Aufsatz enthält eine ausführliche Inhaltsangabe von Niders Schrift. 63 Cum mercatorum officium tot suspectis contractibus circumvolutum agnoscatur moderno tempore, ut experti animarum medici iustum ab iniusto vix valeant discernere, idcirco famosorum doctorum innixus sententiis principaliter nunc propono tractare materias quinque in totidem capitulis. Johannes Nider [Anm. 23], f. 279vb. 62
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werts bzw. Verkaufspreises, 3. 24 Regeln, an denen erkennbar ist, ob die Kaufleute sich eher richtig oder falsch verhalten, 4. ein Überblick über gerechte und ungerechte Vertragsformen, 5. Erörterungen zum Ursprung aller Eigentums- und Besitzübertragungen. Wie erwähnt, erklärt Nider selbst in seinem Vorwort, sich weitgehend auf Aussagen des Thomas von Aquin, des Duns Scotus sowie des Matthäus von Krakau zu stützen. In der Tat zitiert er die ersten beiden an etlichen Stellen; daneben werden auch noch einige andere Werke, etwa die ‚Summa Astesana‘, erwähnt. Der Name des Matthäus von Krakau dagegen taucht nach der genannten Erwähnung nicht mehr im Text auf. Vielleicht ist dieser Umstand dafür mit verantwortlich, dass keiner der Historiker, die den Traktat bislang zu interpretieren versuchten, hinterfragt hat, ob die Passagen, die nicht als Übernahmen von Thomas und Scotus gekennzeichnet sind, tatsächlich alle von Nider stammen. Wie die Veröffentlichung der dritten von ihm herangezogenen Schrift, derjenigen des Matthäus von Krakau, gezeigt hat, ist dies nicht der Fall. Vielmehr hat der Wiener Dominikaner ganze Passagen teils wörtlich aus dem Traktat des Krakauers übernommen. Dies gilt nicht für den gesamten Traktat in gleichem Maße, doch entpuppen sich etliche Stellen, in denen man früher die geistige Eigenleistung des Wieners erkennen wollte, als Übernahmen – besonders im Bereich der Wertlehre.64 Gewiss hat Nider eine sinnvolle Konzeption entwickelt, seine Quellen kritisch benutzt, sie zu einem stringenten Überblick angeordnet und so ein neues Handbüchlein kompiliert; eine Originalität, die über dieses Maß hinausgeht, wird man ihm jedoch absprechen müssen. Nur ergänzend sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass Nider in Wirtschaftsfragen auch anderweitig mit Heidelberg in Verbindung stand. Wie man weiß, ließ er sich etwa 1430 von den dortigen Gelehrten Job Vener, Nikolaus von Jauer, Winand von Steeg und Johannes Kirchen Gutachten zu Fragen des Rentenkaufs erstellen.65 So wenig Aussagekraft einer derartigen Etikettierung auch zukommen mag – man wird kaum umhin können, Trusens Vermutung, bei Nider handle es sich um den ersten deutschen Autor, der die
64 Matthäus von Krakau [Lit.-Verz.], S. 27. Zur Wertlehre s. Schreiber [Anm. 1], S. 208f.; vgl. die dort zusammengestellten Aussagen mit Matthäus von Krakau [Lit.-Verz.], I. 12 und II. 2. 4. 65 Heimpel, Die Vener [Lit.-Verz.], Bd. 1, S. 420–455; Bd. 3, S. 1367–1372.
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praktische Vertragslehre monographisch bearbeitet habe, auf Matthäus von Krakau zu übertragen. Denn zumindest ihrer Konzeption nach war dessen Schrift – ungeachtet ihrer ausbleibenden Vollendung – als systematischer und umfassender Beitrag zu diesem Thema geplant. Versucht man nun eine abschließende Zusammenfassung, so sind die Kategorien Form und Inhalt nicht voneinander zu trennen. Die betrachteten Traktate gehören unterschiedlichen Gattungen an, was nicht ohne Rückwirkung auf die Formulierung der Themen oder zumindest auf das Zielpublikum und die Art der Darstellung geblieben ist. In gewissem Maße bedingte die typologische Zugehörigkeit der Schriften auch den Grad ihrer Verbreitung. So repräsentieren die Prager Abhandlung des Konrad von Ebrach und der Heidelberger Beitrag des Konrad Koler von Soest verschriftlichte Momentaufnahmen des akademischen Lehrbetriebs. Es ließen sich wohl unschwer weitere Texte dieser Art finden, hingewiesen sei hier nur darauf, dass auch der bereits erwähnte, in Heidelberg lehrende Theologe Nikolaus Magni von Jauer († 1435) eine ‚Quaestio de usura‘ verfasste, von der sich allerdings nicht viel mehr als der Titel (Queritur, utrum tam dans mutuum quam ipsum recipiens sub usuris peccet mortaliter) zufällig erhalten hat.66 Dieser Umstand deutet eine Eigenschaft an, die dem gesamten Texttypus eigen ist: die spärliche Verbreitung. Sicherlich waren diese Werke nicht von vornherein zu einer mäßigen Rezeptionswirkung verurteilt, allerdings wandten sie sich an ein kleines und sehr spezifisches Publikum und vermochten schon aufgrund ihrer Darstellungsweise kaum über den engeren Umkreis der Universitäten auszustrahlen. Daneben begegnen uns unter den genannten Schriften noch zwei weitere Textgattungen. Die eine von ihnen lässt sich als Monographie bezeichnen. Sie widmet sich einem breiter zugeschnittenen Thema und löst sich dabei von Form und Umfang einer Einzelquästion, auch wenn deren Technik in der Beweisführung beibehalten werden kann. Autoritäten und Belegstellen werden nach wie vor zitiert, wenn auch in unterschiedlicher Dichte und Tiefe. Von den untersuchten
66 Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 362, f. 8v; vgl. Henricus Stevenson jr., Codices Palatini Latini Bibliothecae Vaticanae, Bd. 1, Romae 1886, S. 96. Franz [Lit.-Verz.], S. 107. Vgl. auch Krzysztof Bracha, Teolog, diabe i zabobony. wiadectwo traktatu Miko aja Magni z Jawora De superstitionibus (1405 r.), Warszawa 1999, bes. S. 17–36.
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Traktaten zählen die vier Texte, deren gegenseitige Beeinflussung von den Quellen postuliert wird, nämlich diejenigen Heinrichs von Langenstein, Heinrichs von Oyta, Matthäus’ von Krakau und Johannes Niders, zu dieser Kategorie. Letzterer steht freilich schon an der Schwelle zur dritten hier zu nennenden Gattung. Als solche lässt sich das Manual anführen, für welches Johannes von Frankfurt ein Beispiel liefert. Es handelt sich um einen Text zum rein praktischen Gebrauch außerhalb des gelehrten Milieus, im vorliegenden Fall zur Nutzung durch Beichtväter. Kürze und Verständlichkeit sind seine wichtigsten Züge. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Text des Johannes von Frankfurt von den hier betrachteten als einziger eine Übertragung in die Volkssprache erfahren hat, kam er doch vorrangig in einem eher bildungsschwachen Umfeld zum Einsatz, wo die Rezeption einer längeren lateinischen Schrift schon nicht mehr ohne Einschränkungen vorausgesetzt werden konnte. Offenbar machte aber erst eine solche Entfernung vom gelehrten Milieu und eine derartige Orientierung an der Alltagspraxis ein Abweichen von der lateinischen Sprache als Vermittlungsmedium plausibel. Freilich gilt auch dies nur bedingt, denn immerhin wurde das Handbüchlein des Johannes von Frankfurt von seinem Autor noch auf Latein verfasst. Diese typologische Entwicklung, die sich weitgehend parallel zum chronologischen Verlauf unserer Beispielkette vollzieht, verdeutlicht, wie sich in der hier betrachteten Frage die von Prag beeinflusste Heidelberger Theologie Schritt für Schritt pastoralen Aufgaben annäherte. Die Schrift ‚De contractibus‘ des Matthäus von Krakau, die konzeptionell sozusagen auf halbem Wege zwischen gelehrter und angewandter Wissenschaft steht, scheint hier ein wichtiges Zwischenstadium zu markieren. Was den Inhalt betrifft, so bleibt ein paradox anmutender Befund: Alle beschriebenen Autoren bis auf Johannes Nider waren mit Matthäus von Krakau persönlich bekannt, mit einigen ist sein sachbezogener Austausch sogar verbürgt, und doch ist ausgerechnet Niders Traktat derjenige, in dem die Rezeption des Vorläufers am deutlichsten zu Tage tritt. Die übrigen Schriften unterscheiden sich – mit Ausnahme der beiden Wiener Gutachten – mehr oder minder stark im Hinblick auf Form, Thema, Länge und Zielpublikum. Selbst wo sie sich sachlich berühren, widersprechen sie sich bisweilen in ihren Ansichten, und wenn diese doch übereinstimmen, ist kaum zu entscheiden, ob sie tatsächlich dem vermeintlichen Vorbild oder nicht doch der allgegenwärtigen Tradition entstammen. Offenbar vollzog sich der
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Rezeptionsfluss in der Mehrzahl der behandelten Beispiele also auf einer Ebene, die in den Texten selbst schwer greifbar ist: nämlich in der Welt des flüchtigen Wortes, in der akademischen Disputation67 oder schlichtweg im gemeinsamen themenbezogenen Gespräch – wie es, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, auch zwischen Matthäus von Krakau und seinem gleichfalls aus Prag stammenden Kollegen Nikolaus Prowin bezeugt ist, ohne dass uns von Prowin irgendeine wirtschaftsethische Schrift bekannt wäre.68 Man las, diskutierte, ließ sich anregen, machte womöglich eigene praktische Erfahrungen und brachte diese am Ende vielleicht auch zu Papier. In den umfänglichen und relativ mechanischen Übernahmen des Johannes Nider aus dem Traktat des Matthäus von Krakau spiegelt sich dagegen in gewissem Sinne bereits die Tatsache wider, dass die geschilderte Art des direkten geistigen Austauschs zwischen diesen beiden Autoren nicht mehr zustande gekommen war. Eine über diese Stufe hinaus reichende Rezeptionswirkung ist dem Inhalt nach in den betrachteten Fällen wohl nur von der Schrift Heinrichs von Langenstein auf diejenige des Matthäus von Krakau mit einiger Klarheit greifbar. Gleichwohl sind uns wiederholt Hinweise darauf begegnet, welche Bedeutung dem Gedankenaustausch und der persönlichen Mobilität von Gelehrten im wissenschaftlichen Dialog der spätmittelalterlichen Universitäten bei der Verbreitung von Ideen und Schriften zukam. Dafür, wie um das Jahr 1400 ein solches Beziehungsgeflecht zwischen Prag, Wien, Heidelberg und Krakau aussehen konnte, bietet der Fall des Matthäus von Krakau und seiner Schrift ‚De contractibus‘ ein instruktives Beispiel. Dass die einzelnen schriftlichen Arbeiten zur Vertragslehre, die an den verschiedenen Orten entstanden sind, dennoch große äußerliche Unterschiede und inhaltliche Eigenständigkeit aufweisen, ist kein Argument gegen die Existenz und Bedeutung dieser Kontakte, sondern vielmehr ein Beleg für die Kreativität, Meinungsvielfalt und konkrete Fallbezogenheit, die bei den jeweiligen Stellungnahmen zum Tragen kam.
67 Vgl. Jürgen Miethke, Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort, Historische Zeitschrift 251 (1990), S. 1–44. 68 Matthäus erwähnt diesen Austausch in einem einschlägigen Gutachten, das er wohl für oberdeutsche Kaufleute verfasst hat. Es ist abgedruckt bei Nuding, Matthäus von Krakau [Lit.-Verz.], S. 156–159, bes. 158. Was seinen Zweck betrifft, tendiert es im Sinne obiger Typologie am ehesten zu der von Johannes von Frankfurt repräsentierten Gattung. Zu Prowin: Ritter [Lit.-Verz.], S. 250–252; T®í ka, ivotopisn [Lit.-Verz.], S. 414.
DIE VERSCHRIFTLICHUNG DER QUODLIBET-DISPUTATIONEN AN DER PRAGER ARTISTENFAKULTÄT BIS 1420* Franti ek mahel
Die alljährlichen Quodlibet-Disputationen, dieses Turnier der Bildungsritter, sind in der ältesten Geschichte der mitteleuropäischen Universitäten ein nur wenig bekanntes Faktum. Im ersten Band der ‚Geschichte der Universität in Europa‘ werden sie mit keinem Wort erwähnt,1 und ihre Anfänge sind auch in Spezialstudien nach wie vor noch ein weißer Fleck.2 Ich werde zu zeigen versuchen, daß es sich bei den Quodlibet-Disputationen nicht nur um eine Festivität besonderer Art handelte, sondern auch – und dies gilt zumindest für das Prag des einsetzenden 15. Jahrhunderts – um eine spannende intellektuelle Schaubühne mit ernsten politischen und anderweitigen Zusammenhängen. Die berühmten theologischen Quodlibet-Disputationen, die ihre Höhepunkte in den Jahren 1260–1320 hatten,3 verfolgten mit den späteren alljährlich stattfindenden Disputationen an den artistischen Fakultäten ein gemeinsames Ziel: Fragen oder Diskussionen „über einen beliebigen Gegenstand“ zu ermöglichen. Je nach den Umständen konnte ein solcher gelehrter Meinungsaustausch pädagogische und
* © Deutsche Übersetzung: Wolf B. Oerter. 1 Vgl. Rüegg [Lit.-Verz.]. Gesprochen wird hier nur von den Quodlibets an den theologischen Fakultäten in Paris und Oxford. 2 Erwähnenswert ist in dieser Hinsicht der 44.–45. Faszikel in der Reihe Typologie des Sources du Moyen Age occidental: Les questions disputés et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine, Turnhout 1985. Vgl. hier John W. Wippel, Qodlibetical questions, chiefly in theology faculties, Chapter IV: Circulation and development of the Quodlibet in nontheology faculties, S. 202–214. 3 Die eingehendste Gesamtanalyse bieten immer noch die Arbeiten von P. Glorieux: La littérature quodlibétique de 1260 à 1320, Vol. I, Le Saulchoir, Kain 1925), Vol. II, Paris 1935; Aux origines du Quodlibet, Divus Thomas 38 (1935), S. 502–522 und Le Quodlibet et ses procédés rédactionnels, Divus Thomas 42 (1939), S. 61–93. Die Ergebnisse der neueren Forschungen bis 1985 sind zusammengefasst von Wippel [Anm. 2], S. 153ff.
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kognitive, traditionelle und aktuelle, individuelle und Gesichtspunkte von Gruppen akzentuieren. Unsere Aufgabe indes ist es nicht zu untersuchen, warum und unter welchen Umständen die QuodlibetDisputationen an den theologischen Fakultäten bereits vor 1350 deutlich an Bedeutung verloren hatten.4 Vielmehr gilt unser Interesse der Frage, auf welchen Wegen ihre Nachbildungen an den Artistenfakultäten Fuß fassten. In Paris hätten, wie Martin Grabmann und nach ihm auch Astrik L. Gabriel annehmen, die sophistischen Disputationen, die sog. sophismata grammaticalia oder auch logicalia, an der Artistenfakultät eine ähnliche Rolle gespielt wie die Quodlibet-Disputationen an der theologischen Fakultät. Allerdings geschah dies auf unvergleichlich niedrigerem Niveau und offenbar auch ohne zuvor festgelegte Regeln und lediglich im Rahmen der einzelnen Kollegien und Bursen.5 Die Disputatio de quolibet im eigentlichen Sinne des Wortes wird jedoch auch in Paris durch Sammlungen von Quästionen gleich mehrerer Magister aus der Zeit um 1300 belegt.6 Angesichts ihrer Ausrichtung urteilte Olga Weijers, daß das Quodlibet an der Pariser Artistenfakultät „semble avoir concerné en particulier des questions sur les sciences naturelles“.7 Ein Schweigen der Quellen muß jedoch nicht maßgebend sein. Das Vorhandensein der alljährlichen Disputationen de quolibet an der Pariser Artistenfakultät bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts deutet auf den Umstand hin, daß fast alle neu entstehenden mitteleuropäischen Universitäten diese Disputationen früher oder später für die Artisten statutarisch einführten. Deshalb überrascht es nicht, daß die Pariser Artistenfakultät im Jahre 1445 beschloß, die Quodlibet-Disputationen als einen actus solemnis einzu-
4 Dazu schon P. Glorieux, La littérature quodlibétique I, S. 56–58, neuerdings Wippel [Anm. 2], S. 202. 5 Martin Grabmann, Die Aristoteleskommentare des Simon von Faversham († 1306), Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Abtheilung (1933), S. 11–13 und Astrik L. Gabriel, Preparatory Teaching in the Parisian Colleges during the Fourteenth Century, Nachdruck in: ders., Garlandia. Studies in the History of the Medieaval University, Frankfurt am Main 1969, S. 112–113. 6 Es handelt sich insbesondere um die quaestiones de quolibet in der Hs. der Pariser Bibliothèque nationale, sign. Lat. 16089. In Frage kommen ferner die Sammlungen der Quodlibet-Quästionen aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die Wippel [Anm. 2], S. 204 (hier auch weitere Literatur) verzeichnet. 7 Olga Weijers, La „disputatio“ à la Faculté des arts de Paris (1200–1350 environ). Esquisse d’une typologie, Amsterdam 1995 (Studia artistarum 2), S. 106–108.
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führen und zu diesem Zweck Regeln für die Nominierung der quodlibetarii aus den einzelnen Nationen aufzustellen.8 Typisch ist ferner, daß sich auch in Oxford weder statutarische Vorschriften noch andere Zeugnisse über die Quodlibets an der dortigen Artistenfakultät erhalten haben. Nur aus einer zufälligen Notiz kann geschlossen werden, daß man über sie noch 1340 wenigstens Kenntnis hatte.9 Und weil sich über diesen Disputationsakt auch die Quellen zur ältesten Geschichte der west- und südeuropäischen Universitäten ausschweigen,10 ist eine Antwort auf die Frage, warum die Quodlibets in den Kalendarien der Artistenfakultäten in Prag, in Wien, in Heidelberg, Köln und Leipzig eine so bedeutsame Stelle einnahmen, umso schwieriger. Die älteste Notiz bezieht sich auf den 29. Oktober 1379, als die Plenarversammlung der Magister der Prager Artistenfakultät das Statut De modo disputandi de quolibet et de disputaturi electione erließ. Mit gewissen Vorbehalten kann eingeräumt werden, daß es sich dabei nicht um einen ganz neuen Akt handelte, denn der Quodlibetarius sollte iuxta morem consuetum vorgehen oder so, ut consvetum est.11 Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß das Urbild dafür irgendwelche Gewohnheiten Pariser Ursprungs waren, beispielsweise das Datum für die Abhaltung des Quodlibets, das sich an der Sorbonne zwischen Advent und Fasten abspielte.12 Während in Prag das Quodlibet
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Denifle/Chatelain [Lit.-Verz.], Bd. 1, Sp. 631–632: Quantum [ad primum super resumpsione Quotlebetorum] conclusit veneranda facultas, quod placebat ei resumpsio Quotlebetorum, eo quod est actus solemnis facultatis, et quelibet natio dabat suum quotlebetarium. . . . Darauf hatte u.a. bereits Rashdall [Lit.-Verz.], Bd. 1, S. 460, Anm. 2 aufmerksam gemacht. 9 J.M. Fletcher, The Faculty of Arts, in: The History of the University of Oxford I. The Early Oxford Schools, ed. by J.I. Cato, Oxford 1984, S. 392–393. 10 Über die Disputationen de quolibet in artibus führen zwar auch die ältesten Statuten der Universität in Bologna eine gesonderte Rubrik, doch scheinen die Disputationen einmal im Jahr jeweils gesondert für Grammatik, für Logik und für Philosophie stattgefunden zu haben. Siehe C. Malagola (Hg.), Statuti delle Università e dei Collegi dello Studio Bolognese, Bologna 1988, S. 263–264, rubrica LVII. Zu ihrer Interpretation s. Wippel [Anm. 2], S. 212–213. 11 Monumenta historica Universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis I. Liber decanorum Facultatis philosophicae Universitatis Pragensis ab anno Christi 1367 usque ad annum 1585. Pars 1, Pragae 1830, S. 65–67 (weiter nur MUPR I-1). 12 Vgl. Monika Asztalos, Die theologische Fakultät, in: Geschichte der Universität I [Anm. 1], S. 366.
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für Anfang Januar vorgesehen war, verbanden die Statuten der Wiener Artisten von 1389 das Quodlibet mit dem Festtag der Schutzpatronin der Fakultät: der hl. Katharina, also mit dem 25. November.13 Und weil die alljährliche Disputation in Köln am Festtag der hl. Luzie (13. Dezember)14 und in Erfurt zu Beginn des akademischen Jahres nach dem Bartholomäustag stattzufinden hatte,15 mußte der Pariser Brauch nicht normativen Charakters gewesen sein. Die Einführung des Quodlibets setzte ein zahlenmäßig ausreichendes Magisterkollegium voraus, damit die Jahresdisputation einen entsprechenden Verlauf nehmen konnte. Und auch für diese anspruchsvolle Aufgabe einen Quodlibetarius zu finden, war nicht einfach. Die ältesten Prager und Wiener Statuten gaben der Erfahrung den Vorrang, weshalb sie eine Wahl gemäß dem akademischen Seniorat bevorzugten, d.h. gemäß der seit der Promotion verstrichenen Zeit. In Prag, wo in den 1380er Jahren gleich mehrere Dutzend Magister regentium in artibus wirkten, gab es trotz dieses Umstandes nur sehr selten Quodlibet-Disputationen. Deshalb entschloss sich die Fakultät auf ihrer Plenarversammlung am 3. Februar 1391 zu einer Änderung des Statuts. Danach sollte in Zukunft demjenigen Magister der Vorrang eingeräumt werden, der sich freiwillig meldete. Erst im Falle mehrerer Interessenten hätte das akademische Alter zu entscheiden. Lagen keine Meldungen vor, sollte der Quodlibetarius auf einer Versammlung der Magister eine Woche später verbindlich gewählt werden. Die Statuten sahen auch vor, denjenigen Magister finanziell zu belangen, der die Wahl nicht annahm.16 Die strikten Regeln und die hohe
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Die Statuten der Artistenfakultät vom 1. April 1989, in: Alphons Lhotsky, Die Wiener Artistenfakultät 1365–1497, Wien 1965, S. 255. In vereinzelten Fällen wurde die Disputation auf die Zeit nach Weihnachten verschoben. Konkrete Beispiele gibt Paul Uiblein, Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät, Wien 1987 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs Universität Wien Bd. 4), S. 94. 14 Nach Hermann Keussen, Dia alte Universität Köln. Grundzüge ihrer Verfassung und Geschichte, Köln 1934, S. 338–343. Vgl. auch Anna-Dorothee v. den Brincken, Die Statuten der Kölner Artistenfakultät von 1398, in: Die Kölner Universität im Mittelalter. Geistige Wurzeln und soziale Wirklichkeit, Berlin-New York 1989 (Miscellanea Mediaevalia 20), S. 403. 15 Acten der Erfurter Universität II. Hg. von Hermann Weissenborn, Halle 1884, S. 139–140. Vgl. dazu Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt. Teil. I: Spätmittelalter 1392–1460, Leipzig 1985, S. 250–251. 16 MUPR I-1 [Anm. 11], S. 101–102. Die Strafgebühr in Höhe von zwei Schock Groschen war genau so hoch wie die Entlohnung für den Quodlibetarius. Dieser hatte zudem am ersten Tag der Disputation von der Fakultät ein novum birretum, &
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Strafe von acht Florin für diejenigen, die sich der Aufgabe entziehen wollten, zeitigten nur in Wien eine größere Wirkung.17 Zwar versuchten auch hier zahlreiche Magister der Wahl zu entkommen, doch hatte dies auf die recht regelmäßige Abhaltung der Quodlibets keinen Einfluß, abgesehen von ernsten Gründen wie insbesondere der Pest.18 Angesichts der Tatsache, daß die regelmäßigen QuodlibetDisputationen in Wien ihren festen Platz im akademischen Jahr hatten, überrascht es doch sehr, wie wenig bislang über ihren Verlauf bekannt ist. Aus der schriftlichen Agenda kennt man nur die Posiciones de quolibet disputate sub anno 1411 unter Georg Wetzel von Horb, doch sind auch sie bisher noch nicht entsprechend analysiert worden.19 Und weil Gleiches auch für die Quellen zu den Quodlibets in Heidelberg,20 Köln, Erfurt21 und Leipzig gilt, bieten überwiegend nur die überraschend zahlreichen Akten der Prager Jahresdisputationen einen Halt für eine weitere Auslegung.22 Warum dem so ist, kann
par chirothecarum, & par caligarum nigri coloris im Wert von mindestens einem halben Schock Groschen zu erhalten, wie es bereits das Statut von 1379 festgelegt hatte. 17 Lhotsky [Anm. 13], S. 256. 18 Detailliertere Informationen über die Wahl der Quodlibetarii in den einzelnen Jahren bieten die Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis [Lit.-Verz.]. Die erste bekannte Quodlibetarius-Wahl erfolgte in Wien bereits im Dezember 1385, also vier Jahre vor den eigentlichen Statuten. Mehr dazu in den Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis [Lit.-Verz.], S. 93–94, daselbst auch weitere Einzelheiten. 19 Auf die Posiciones in der Hs. Wien, Österreichische Nationalbibliothek Nr. 5247, fol. 48r–79v, 126r–135v, hat Uiblein (Hg.), Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis [Lit.-Verz.], S. 365, Anm. 63 aufmerksam gemacht. 20 Ritter [Lit.-Verz.], S. 183, Anm. 3 weist auf verschiedene Einleitungsreden im Cod. der Bibliotheca Vaticana, sign. Pal. Lat. 370 hin. Zahlreiche öffentlich disputierte Quästionen de quodlibet vom August 1444 enthält der Cod. Pal. Lat. 376, zu dessen Beschreibung vgl. in: Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli bis 2. November 1986. Textband, Heidelberg 1986, S. 21–22. 21 Erwähnt seien hier die Quodlibet-Akten von 1455 für 63 Teilnehmer, darüber Ludgerus Meier, Die Rolle der Theologie im Erfurter Quodlibet, Recherches de Théologie ancienne et médiévale 17 (1950), S. 291–293 und Kleineidam [Anm. 15], S. 250–257. 22 Ich sehe hier von den späteren Quodlibets ab, die an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert Adrian Florensz (der spätere Papst Hadrian VI.) an der Universität Leuwen geführt hatte und die im Druck erschienen sind: D. Hadriani Florentii de Traiecto . . . Quaestiones Quotlibeticae, Louvain 1518. Zu ersten Informationen vgl. Wippel [Anm. 2], S. 208.
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nur vermutet werden. Sicher ist, daß die Quodlibet-Vorbereitungen in Prag eine wertvolle Quelle für den Fragenkatalog der demnächst mit der Abhaltung der jährlichen Disputationen betrauten Magister darstellten.23 In Betracht kommen auch die aktuelle Polemik und das Echo einiger Quodlibets vor und nach dem Erlass des Kuttenberger Dekrets, mit dem König Wenzel IV. im Januar 1409 die Universitätsverfassung zugunsten der einheimischen Nacio bohemica geändert hatte.24 Ein erstes Zeugnis für verschärfte Diskussionen um Wyclifs realistische Philosophie, zu der sich die meisten Magister der Böhmischen Nation bekannten, stellt die einleitende Quodlibet-Quästion des Johann Arsen von Langenfeld dar, die ich ins Jahr 1400 datiere. Der führende Vertreter der Bayerischen Nation trat hier eindeutig mit der Argumentation contra universalia realia auf.25 Aufmerksamkeit verdient gleichfalls die Wahl des Quodlibetarius auf der Plenarversammlung vom 23. Juni 1403. Ungeschriebenem Brauch zufolge sollte, wie ich später noch nachzuweisen versuche, die Wahl auf einen der Magister der Bayerischen Nation fallen. In Übereinstimmung mit den Statuten meldete sich aber das führende Mitglied der Sächsischen Nation,
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Zu identischen oder ähnlichen Quästionen in den Vorbereitungen auf die Quodlibets von 1409–1417 Ji®í Kej®, Kvodlibetní disputace na pra ské universit , Praha 1971, S. 52–61. Das Quodlibet-Handbuch aus dem Jahre 1400 ist verglichen worden von Franti ek mahel, Ein unbekanntes Prager Quodlibet von ca. 1400 des Magisters Johann Arsen von Langenfeld, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 33 (1977), S. 201–202. Relativ wenige identische Quästionen habe ich in dem Verzeichnis der Quodlibet-Quästionen des Magisters Matthias von Legnitz feststellen können, das Josef T®í ka, Star í pra ská univerzitní literatura a karlovská tradice, Praha 1978, S. 141–146 abdruckte. Die Frage der Quästion Nr. 17 hat eine Parallele in den Quodlibets des Johann Arsen (Nr. 48) und Prokops von Kladrau (Nr. 45), Quästion Nr. 63 weist übereinstimmenden Wortlaut gleichfalls bei Prokop von Kladrau auf (Nr. 70), Quästion 22 a 85 finden wir in ähnlicher Fassung bei Matthias von Knin (Nr. 68 und 114). 24 Aus der umfangreichen Literatur sei hier auswahlweise auf folgende Studien verwiesen: Ferdinand Seibt, Johannes Hus und der Abzug der deutschen Studenten aus Prag 1409, Nachdruck in: ders. Hussitenstudien. Personen, Ereignisse, Ideen einer frühen Revolution, München 1987, S. 1–15; Ji®í Kej®, Sporné otázky v bádání o Dekretu kutnohorském, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 3–1 (1962) S. 83–121; Franti ek mahel, Pra ské universitní studentstvo v p®edrevolu ním období 1399–1419, Praha 1967 (Rozpravy SAV, ÒRada spol. v d 77–3), S. 61–81; ders., The Kuttenberg Decree and the Withdrawal of the German Schools from Prague in 1409: a Discussion, History of Universities 4 (1984), S. 153–166; ders., Hussitische Revolution II, Hannover 2002 (MGH Schriften 43–2), S. 805–838. 25 Mehr dazu mahel, Ein unbekanntes Prager Quodlibet [Anm. 23], S. 207–211.
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Magister Johann Hübner, der auch secundum majorem partem gewählt wurde. Für die meisten fremden Magister im Professorenkollegium handelte es sich um eine fast demonstrative Angelegenheit, denn gerade dieser Theologe hatte das 1382 von der Synode in London verurteilte Verzeichnis der 24 Wyclifschen Irrtümer um 21 Artikel ergänzt. Auf einer Versammlung der gesamten Universität vom 28. Mai 1403, die der Rektor Walter Harrasser von der Bayerischen Nation ins Karlskolleg einberufen hatte, war trotz des stürmischen Widerstandes der böhmischen Magister das Verbot ergangen, die gesamten 45 irrtümlichen Artikel des Oxforder Theologen weiterzuverbreiten.26 Als Quodlibetarius hatte Magister Hübner dann eine willkommene Gelegenheit, den einzelnen Magistern die Fragen so zuzuteilen, daß die Wyclifiten auch bei der alljährlichen Disputation geschlagen wurden.27 Doch nicht genug damit. Zwei führende Magister der Böhmischen Nation wurden schmählich damit betraut, gemeinsam mit dem Dekan die Wahl Johann Hübners bekanntzugeben.28 Bisher konnten weder Hübners Vorbereitungen noch irgendeine der vorgebrachten Quästionen entdeckt werden, so daß über den Verlauf des Quodlibets vom Januar 1404 nichts bekannt ist. Lediglich aus Hussens Brief an Hübner, der wohl noch vom Januar 1404 stammt, kann geschlossen werden, daß bei dem Quodlibet scharfe Angriffe gegen die Wyclifiten in der Tat erklungen waren. Hübners Verleumdungen, die Tschechen seien Ketzer, zahlt Hus mit gleicher Münze zurück, und zwar unter Anspielung auf die allgemein bekannte Redensart Teotunicus hereticus, Boemus fur naturaliter.29 Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war es in Prag offenbar besser, für einen Dieb gehalten zu werden als für einen Ketzer. Nach einer weiteren Verurteilung der Wyclifschen Artikel im Mai 1408 bestand die Gefahr, daß die deutschen Gegner der Prager Reformisten erneut einen Angriff starteten, und zwar diesmal bereits
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Zur ersten Verurteilung der Wyclifschen Irrtümer auf Prager Universitätsboden eingehender Václav Novotn , M. Jan Hus. ivot a u ení I-1, Praha 1919, S. 108–113. 27 In der Auslegung folge ich Novotn , [Anm. 26], S. 116 und Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 23], S. 73. 28 MUPR I-1 [Anm. 11], S. 375. 29 Václav Novotn (Hg.), M. Jana Husi korespondence a dokumenty, Praha 1920, Nr. 6, S. 12. Zu Zuschreibung und Problematik dieses Blattes zuletzt Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 23], S. 73.
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mit Unterstützung des Prager Erzbischofs. Alles deutet darauf hin, daß die Magister der Böhmischen Nation bei der im Juni erfolgten Wahl des Quodlibetarius dieselbe Taktik gewählt hatten wie vor Jahren ihre Gegner. Nach Übereinkunft mit seinen Kollegen meldete sich Magister Matthias von Knin, genannt Pater, freiwillig als Quodlibetarius, und der Versammlung der Artistenfakultät blieb laut Statut nichts anderes übrig, als seine Wahl zu bestätigen. Es handelte sich somit um eine fast demonstrative Satisfaktion eines der Ketzerei beschuldigten Magisters, der kurz zuvor (am 14. Mai 1408) gezwungen worden war, der Wyclifschen Lehre von der Remanenz abzuschwören.30 Dem eigentlichen Quodlibet ging ein Boykott der deutschen Magister voraus, die verkündeten, sie wollten lieber Prag verlassen als an einem Quodlibet teilzunehmen, das unter der Leitung einer Person stand, die der Ketzerei verdächtig sei. Erst eine schriftliche Anweisung König Wenzels IV., der die meisten Mitglieder der drei fremden Nationen Folge leisteten, führte dazu, daß sie ihren Standpunkt änderten.31 Das Quodlibet Anfang Januar 1409 war das Vorspiel zum Kuttenberger Dekret zugunsten der einheimischen Universitätsnation und zum anschließenden Abzug mehrerer hundert fremder Magister, Bakkalare und Studenten aus Prag. Die ersten Tage der Disputation verliefen zwar in einer angespannten Atmosphäre, jedoch alles in allem so, wie man es bisher gewohnt war. Auch die scharfen Diskussionen um die Universalien und die Ideen, die, wie wir später hören werden, ein Nachspiel in den darauf folgenden Disputationen hatten, waren auf dem Boden der Universität nichts Neues. Nur wenige aber erwarteten einen Abschluß des Quodlibets, an dem als Gäste nicht nur zwei Bischöfe der Brabanter Delegation zugegen waren, sondern auch zahlreiche Ratsherren der Prager Altstadt. Dazu muß gesagt werden, daß es sich hierbei um Vertreter eines Rates
30 Zur Gesamtlage ausführlich Novotn [Anm. 26], S. 226–228. Den Hintergrund erhellen Zeitzeugen des Inquisitionsprozesses gegen Magister Hieronymus von Prag 1410 in Wien. Nach Magister Johannes Butzbach Matthias von Knin presentavit se ad disputandum quodlibetum, et fuerit rumor, quod presentavit se sponte, cum hoc prius longis temporibus non fuerit factum. Ein anderer Zeuge, Konrad Creuczer, war der Meinung, der besagte Magister versuche auf diesem Wege seinen Leumund reinzuwaschen. Siehe Ladislav Klicman (Hg.), Processus iudiciarius contra Jeronimum de Praga habitus Viennae a. 1410–1412, Praha 1898, S. 16–17. 31 Die Quellenzeugnisse kritisch zusammengestellt von Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 23], S. 80–81.
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handelte, in dem die Tschechen überhaupt zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt das absolute Übergewicht hatten.32 Sie waren auch schon im voraus mit den Führern der einheimischen Universitätsnation verabredet gewesen, besonders aber mit Hieronymus von Prag, der statt des Quodlibetarius das Schlußwort ergriff. In dem überfüllten Saal hob Hieronymus nach einem blumigen Lob auf die freien Künste das Bestreben des ehrwürdigen Quodlibetarius hervor, der sich trotz einer Verschwörung der Gegner aus den fremden Nationen seiner Aufgabe entledigt hatte. Danach wandte sich Hieronymus an die Ratsherren, unterstrich in einer wirksamen Apotheose der böhmischen Nation dessen Allerheiligkeit und forderte die Studenten auf, „in den Büchern Wyclifs zu lernen, die Ader der Wahrheit zu erkennen“.33 Auch den darauf folgenden Quodlibets der Jahre 1411 bis 1417 fehlte es nicht an zugespitzten gelehrten Diskussionen, doch fanden diese bereits mehr oder weniger nur zwischen den Magistern der einheimischen Nation statt.34 Das stärkste Echo außerhalb der eigentlichen Quodlibet-Disputation rief eine Quästion hervor, die der führende Reformtheologe Magister Jacobellus von Mies in dem Quodlibet vom Januar 1412 gelöst hatte: Utrum sicut ex scriptura plane constat Cristum in plenitudine temporis personaliter advenisse, ita evidenter sit deducibile ex eadem Anticristum in complemento seculi propria venire in persona. Auf die gestellte Frage hatte Jacobellus positiv geantwortet und seine Anschauung mit der Behauptung untermauert, der Antichrist sei tatsächlich schon in der Gestalt Papst Johannes XXIII. auf die Welt herabgestiegen.35 Wenn wir wissen, welche Rolle die Quodlibets in der ältesten Geschichte der Prager Hohen Schule gespielt haben, dann überrascht uns das beträchtliche Interesse nicht, das die bisherige Forschung
32 Vgl. dazu Jaroslav Mezník, Praha p®ed husitskou revolucí, Praha 1990, S. 121–130. 33 Die Schlußrede des Hieronymus von Prag hatte Konstantin Höfler, Geschichtschreiber der husitischen Bewegung II, Wien 1865 (FRA SS VI-2), S. 112–128 irrtümlich als ein Werk Jan Hus herausgegeben; eine Teilausgabe ohne die einleitende Recommendatio artium liberalium besorgte Amedo Molnár für den Sammelband V bor z eské literatury doby husitské I, Praha 1962, S. 244–250. Vgl. dazu meine Studie Pramen Jeron movy Chvály svobodn ch um ní, Strahovská knihovna 5–6 (1970–1971), S. 169–180. 34 Die weiteren Umstände der Quodlibets aus den Jahren 1411 bis 1417 hat Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 23], S. 90–105 erhellt. 35 Handschriftenüberlieferung, Edition und Literatur bei Spunar [Lit.-Verz.], Bd. 1, S. 215, Nr. 563.
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der Problematik ihrer ‚Verschriftlichung‘ geschenkt hat. Von der Novellisierung des Statuts De disputatione de quolibet aus dem Jahre 1391 bis zur Unterbrechung des Unterrichts zu Beginn der Hussitenkriege kennen wir 14 Quodlibetarii dem Namen nach, doch nur bei zehn von ihnen können wir deren Disputationen genau datieren. Im Falle von vier weiteren tappen wir im Dunkeln, da ihre Vorbereitungen, die sich erhalten haben, nur hypothetisch datierbar sind.36 Als ich vor Jahren versuchte, das wahrscheinliche Quodlibet-Datum von Johann Arsen festzulegen, ging ich von der Annahme aus, daß sich die vier Universitätsnationen in der Besetzung dieser undankbaren Funktion abwechselten. Unter dieser Voraussetzung hätten wir dann einen Anhaltspunkt für die Datierung der restlichen Vorbereitungen. Mehr als es Worte vermöchten, sagt die tabellarische Übersicht auf der folgenden Seite aus:37 Fett markiert habe ich die bezeugte Reihenfolge im Wechsel der Universitätsnationen; ein Fragezeichen hinter dem Namen des Quodlibetarius bedeutet hypothetische Datierung. Die Quodlibets der Magister Jan Hus (1411), Michael von Malenitz (1412), Simon von Ti nov (1416) und Prokop von Kladrau (1417) habe ich nicht mit aufgenommen, da alle Genannten zu den Professoren der Natio Bohemica gehörten. Alle vier erscheinen indes in der nächsten Tabelle, die die Zahl der vorbereiteten und namentlich vergebenen Quästionen vergleicht. Die zweite Zahl bezieht sich nur auf bekannte, nicht aber auf alle möglichen Fälle. Quodlibetarii, deren schriftliche Vorbereitungen sich nicht vollständig erhalten haben, werden in der Tabelle nicht berücksichtigt. Die dritte Tabelle bietet eine Übersicht über die Parallelität identischer Vorbereitungen in sechs erhalten gebliebenen Handbüchern.38 36 Beiseite lasse ich die Frage nach der Existenz zweier Quodlibets vor 1409, zu denen sich nur vereinzelte Quästionen erhalten haben. Beide Fälle sind festgehalten von Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 23], S. 115–116. 37 Um nicht ständig die grundlegenden Angaben zu Quellen, Editionen und Literatur der einzelnen Quodlibets wiederholen zu müssen, habe ich sie in Anhang 1 zusammengefasst. 38 Im Falle des Quodlibet von Magister Matthias von Legnitz hatte ich zum Vergleich lediglich das Verzeichnis der Quästionen zur Verfügung, das von T®í ka [Anm. 23], S. 141–146 publiziert wurde. Ich benutzte ferner die Ergebnisse eines eigenen Vergleichs des Handbuchs von Magister Johann Arsen von Langenfeld ( mahel, Ein unbekanntes Prager Quodlibet [Anm. 23], S. 201–203); den Inhalt der übrigen Quodlibethandbücher verglich Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 26], S. 49–61. Zum Verzeichnis der Quästionen des Quodlibetarius Heinrich von Ribnitz siehe im Anhang 2.
die verschriftlichung der quodlibet-disputationen Jahr
Natio Bohemorum
Natio Bavarorum
Natio Polonorum
1394 Nikolaus Magni von Jauer
1396
Heinrich de Homberg
1397 1398
? Heinrich von St. Gallen
1399
Matthias von Legnitz (?)
1400
Johann Arsen von Langenfeld (?) Stephan von Kolin
1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409
Natio Saxonum Heinrich von Ribnitz (?)
1395
1401
73
? →
? Johann Hübner
Andreas von Brod (?) ? ? ? Matthias von Knin
Quodlibet
Jahr
Heinrich von Ribnitz Matthias von Legnitz Johann Arsen Matthias von Knin Jan Hus Michael von Malenitz Simon von Ti nov Prokop von Kladrau
1394 (?) 1399 (?) 1400 (?) 1409 1411 1412 1416 1417
Anzahl der vorbereiteten Quästionen
Anzahl der bekannten Teilnehmer
46 91 66 151 67 ? 60 79
? ? ? 30 55 38 5 42
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Hinter dem Schrägstrich folgt die Anzahl gleichlautender Fragen mit unterschiedlichen Vorbereitungen. Daraus ist ersichtlich, daß die Quodlibetarii die Vorbereitungen ihrer Vorgänger nicht immer übernahmen. Eine ganze Reihe gleichlautender Quästionen war in vielen zeitgenössischen Sammelschriften oder in Kommentaren zu den Aristotelischen Schriften in Umlauf. Quodlibet 1399 1400 1409 1411 1416 1417
1399
1400
1409
1411
1416
1417
x –/1 –/2 – – –/2
–/1 x 25/5 –/1 2/– 4/2
–/2 25/5 x 1/1 15/– 9/2
– –/1 1/1 x 2/– –
– 2/– 15/– 2/– x 2/1
–/2 4/2 9/2 – 2/1 x
Zum Teil haben wir bereits einen Blick in die Werkstätten der Prager quolibetarii geworfen. Obgleich wir nur für ungefähr die Hälfte der bekannten Quodlibets schriftliche Quellen zur Verfügung haben, konnten ihre Leiter nicht ohne sie auskommen. Gerade der Anspruch, den die schriftlichen Unterlagen stellten, war die Kehrseite dieser ansonsten prestigeträchtigen Aufgabe. Auch wenn keines der Handbücher im Original erhalten ist, kann ihr gemeinsamer Kern in etwa bestimmt werden. Am meisten war Magister Jan Hus an der Wirkung seines Quodlibets gelegen, da er als Führer der tschechischen Reformpartei um den Nachweis bemüht war, daß das Niveau der Prager Alma mater durch den Weggang der fremden Magister nicht gesunken war. Darüber hinaus war ihm auch an der gesellschaftlichen Wirkung der Jahresfeier gelegen, die statt durch scharfen Meinungsstreit eher durch versöhnliche Behaglichkeit gekennzeichnet sein sollte. Deshalb bereitete er sorgfältig nicht nur die einführende Invokation vor, sondern auch die halb im Scherz, halb freundlich verfaßten leutseligen Vorstellungen der Disputierenden, vom Rektor angefangen bis hin zum jüngsten Magister. Das Handbuch, zu dessen Abfassung es großer Anstrengungen seitens des Quodlibetarius bedurfte, hatte dieser lediglich für seinen Bedarf und hütete es wie seinen Augapfel. Erst nach Beendigung der Jahresdisputation konnte das Handbuch als bereits unbestreitbares Produkt quodlibetarischer Gelehrsamkeit abgeschrieben werden. Allen direkten Disputationsteilnehmern hatte der Quodlibetarius dem Statut
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gemäß drei oder vier Tage vor Disputationsbeginn schriftlich die Themen ihrer Fragen bekanntzugeben.39 Ob dies brieflich oder durch bloße Übergabe der Fragen erfolgte, kann nur vermutet werden. In zahlreichen Fällen folgte nach der Frage eine kurze Proposition, die in den Handbüchern zumeist den einleitenden Abschnitt bildet, und das sog. Probleuma. Die vorbereitete Argumentation Concedenti/Neganti war lediglich für den Bedarf des Quodlibetarius bestimmt. Sofern er wußte oder ahnte, welchen Standpunkt der entsprechende Magister verteidigen werde, hatte er sich Argumente besonders für die entgegengesetzte Meinung zurechtgelegt. Die sog. probleumata waren keine Prager Eigenart. Ihr Zweck bestand darin, die Diskussion, die oft einförmig in schulischer Form oder als Pflichtübung erfolgte, abwechslungsreich zu gestalten. Auch die Probleumata gab der Quodlibetarius den Teilnehmern im voraus bekannt. Da bislang keine Antworten auf diese mit dem Wort Quare beginnenden beigefügten Fragen entdeckt werden konnten, kann berechtigterweise nur angenommen werden, daß ihre Aufgabe darin bestand, das Publikum zu belustigen. Als Beispiel soll ein typisches Probleuma aus dem Husschen Quodlibet dienen: Quare, ut dicit Sydonius in Epistolari, detestabilior est verbositas in mulieribus quam in viris? 40 Ein Sonderfall war die Einbeziehung eines Bakkalaren in die Disputation. Die ältere Literatur war sich in dieser Frage uneins. Bohumil Ryba meinte, daß ein ausgesuchter Bakkalaureus die positio principalis gleichsam anstelle des eigentlichen Quodlibets vortrug.41 Demgegenüber äußerte Ji®í Kej® die Vermutung, daß der Bakkalaureus erst bei der eigentlichen Diskussion zu Worte kam, in der er anstelle seines Magisters-Quodlibetarius’ auf die Entgegnungen der anderen Magister antwortete.42 Durch Analyse der Quellen einschließlich des Diskussionsprotokolls zu dem Quodlibet von Januar 1412, wovon
39 Ich verzichte hier auf Einzelheiten, die der Leser in den zitierten Arbeiten von J. Kej® findet, die auch über umfangreiche Fremdsprachenresümees verfügen. Im weiteren werde ich deshalb ausführlicher nur Erkenntnisse der neueren Forschung anführen. 40 Bohumil Ryba (Hg.), Magistri Iohannis Hus Qudlibet. Disputationis de Quolibet Pragae in Facultate Artium Mense Ianuario Anno 1411 habitae Enchiridion, Praha 1948, S. 110. Mehr zu diesem Genre Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 23], S. 37–38. Hier auch die begründete Annahme, daß die Vergabe der Probleumata nicht die Regel sein mußte. 41 Bohumil Ryba (Hg.), Kvodlibet imona z Ti nova, Listy filologické 72 (1948), S. 182, Anm. 9. 42 Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 23], S. 31.
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noch die Rede sein wird, bin ich zu folgendem Schluß gekommen: Der Quodlibetarius beauftragte einen seiner Bakkalaren, die grundlegende und von jenem selbst erarbeitete Lösung der Frage vorzutragen. Dies geschah einerseits deshalb, damit der Bakkalaureus dem Quodlibetarius dessen nicht einfache Aufgabe erleichterte, andererseits deshalb, damit der Quodlibetarius seiner Aufgabe mit größerem äußerlichen Effekt im Sinne des klassischen Scholastikunterrichts nachkommen konnte, d.h. die Frage durch eine Argumentation pro et contra bzw. auch dubitando klären konnte. Aus der erwähnten Diskussion zur Quästion principalis des Magisters Michael von Malenitz geht nämlich hervor, daß als Antwort des Quodlibetarius eindeutig die Position gehalten wurde, die der Bakkalaureus in Vertretung des Quodlibetarius vortrug. Die Diskussionsteilnehmer hegten keine Zweifel daran, welchen der gegensätzlichen Standpunkte der Quodlibetarius vertrat, und deshalb traten sie mit ihren Einsprüchen – bis auf einen – ganz natürlich nur gegen die von dem Bakkalaureus vorgetragene Position auf. Die ‚spiegelbildliche‘ Position, in der der Quodlibetarius persönlich auftrat, wurde als formal unerläßlicher Teil des Aktes verstanden, so daß dem keiner der Anwesenden Aufmerksamkeit schenkte. Eine abschließende Zusammenfassung war dann nicht mehr nötig, denn der Verlauf der Diskussion gab sowohl den Mehrheits- als auch den individuellen Standpunkt zu erkennen.43 Wenn wir nun wissen, daß sich der ausgewählte Bakkalaureus nicht an der Ausarbeitung der Quästion principalis beteiligte, so heißt das noch nicht, daß er dem Quodlibetarius auch sonst nicht geholfen hätte. Für die Ehre, die ihm zuteil wurde, half er wohl beim Übertragen der gesammelten Unterlagen und ihrer Verteilung an die entsprechenden Magister. Vertrauenswürdigkeit verstand sich hier von selbst. Nachdem die Quodlibet-Teilnehmer die vergebenen Fragen erhalten hatten, wurden der akademischen Öffentlichkeit in schriftlicher Form Datum und Ort der Disputation bekanntgegeben.44 Jetzt war es an den Mitgliedern des Magisterkollegiums, sich entsprechend
43 Mehr dazu in meiner Abhandlung Kvodlibetní diskuse ke kvestii principalis Michala z Malenic roku 1412, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 21–1 (1981), S. 30–32. 44 Eine Vorstellung von diesem Schrifttum gibt die selten erhaltenene Bekanntmachung des Jacobellus von Mies aus dem Jahre 1417. Auf sie hingewiesen hat Emma Urbánková, Rukopisy a vzácné tisky pra ské Universitní knihovny, Praha 1957, S. 37, Nr. 220, Abb. 73.
die verschriftlichung der quodlibet-disputationen
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vorzubereiten. Aus der Vergabe der Fragen zu den Quodlibets der Jahre 1409 und 1411 geht eindeutig hervor, daß die Quodlibetarii die Möglichkeit hatten, ihren Kollegen die Aufgabe zu erleichtern oder im Gegenteil zu erschweren. Dabei ging es nicht um eine bloße absichtliche Zuspitzung der Fragen hinsichtlich der Widersprüche zwischen der tschechischen Reformgruppe und ihren Gegnern,45 sondern auch um die fachliche Orientierung der magistri regenti. Aus den erhaltenen Vorlesungsverzeichnissen geht unter anderem hervor, daß sich die Professoren auch an der Artistenfakultät auf gewählte Fächer bzw. Lektionen spezialisiert hatten.46 Die Quodlibets boten gleichfalls eine willkommene und dabei statutarisch durchaus zulässige Möglichkeit zu individuellen oder gruppenweisen Konfrontationen ideeller Art. In Prag hatte seit Ende des 14. Jahrhunderts der Streit um die universalia realia einen breiteren Anklang gefunden und sich alsbald zu einem erbitterten Kampf um die reformatorisch-wyclifsche Orientierung der Universität ausgewachsen.47 Ich hatte bereits erwähnt, daß in diesem Kontext auch die Quästion principalis des Johann Arsen von Langenfeld zu beurteilen sei. Eine ganz einzigartige Dokumentation liefert in dieser Hinsicht die Diskussion, die Hieronymus von Prag in dem im Januar 1409 abgehaltenen Quodlibet mit seiner Bearbeitung der gestellten Fragen Utrum a parte rei universalia sit necessarium ponere pro mundi sensibilis armonia hervorgerufen hatte.48 Wer neue Wege in unbekannter Landschaft beschreitet, kann gelegentlich auch etwas übersehen. Dies war auch dem verdienten Gelehrten Jan Sedlák passiert, der in der Handschrift der Prager Nationalbibliothek VIII E 5, fol. 178r–182r zwei Fragmente von Universitätstexten entdeckte, die er als zweifache Polemik des Magisters Blasius Vlk mit der oben erwähnten Quästion des Hieronymus von
45
Siehe Kej®, Kvodlibetní disputace [Anm. 23], S. 89–90 u.a. Vgl. dazu Franti ek mahel, Zwei Vorlesungsverzeichnisse zum Magisterium an der Prager Artistenfakultät aus deren Blütezeit 1388–1390, Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 195–207. 47 Aus der umfangreichen Literatur genügt hier der Hinweis auf mein Verzeichnis der Quellen zum Prager Universalienstreit 1348–1500, Wroc aw [u.a.] 1980 (Mediaevalia Philosophica Polonoum 25), und auf die Arbeiten von Vilém Herold, Pra ská univerzita a Wyclif, Praha 1985, und Zum Prager philosophischen Wyclifismus, in: Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter, hg. v. F. mahel, München 1998, S. 133–146. 48 Diese Position hat Jan Sedlák, Filosofické spory v dob Husov , in: Studie a texty k nábo ensk m d jinám esk m 2, Olomouc 1915, S. 215–224 veröffentlicht. 46
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Prag veröffentlichte.49 Fast sieben Jahrzehnte sind Kenner der Materie ohne Einwände von dieser gut begründeten Erkenntnis ausgegangenen. Und trotzdem hatte Magister Blasius mit beiden Polemiken nichts zu tun. Die erste Polemik ist ein Auszug oder eine Paraphrase der Quästion Johann Buridans, die zweite die Antwort eines unbekannten Opponenten, der Magister Hieronymus im Herbst des Jahres 1406 Paroli bot.50 Die echten Polemiken des Blasius Vlk habe ich nämlich in der Handschrift der Bibliothek des Prager Metropolitankapitels N 12 entdeckt. Soweit meine Vorbemerkungen zu dem Rätsel, mit dem ich zunächst nichts anzufangen wußte und das die Verschriftlichung der Quodlibet-Debatten gut illustriert. In der erwähnten Handschrift N 12, die ein typischer codex mixtus aus der Zeit vor 1420 ist, hat mich die Lage von fol. 37r–45r Contra universalia realia interessiert. Nulla res est ponenda ab aliquo philosopho esse . . . Mehr steht im zweiten Band des Handschriftenverzeichnisses aus der Bibliothek des Prager Metropolitankapitels von Antonín Podlaha nicht.51 Und dies ist auch kein Wunder, denn diese Handschrifteneinheit in der Gestalt, in der sie auf uns gekommen ist, ist eine nahezu unverständliche Sammlung fragmentarischer Texte und Anmerkungen, an der drei Schreiber beteiligt waren. Ich hätte die Handschrift schon bald aus den Händen gelegt, wenn es nicht bestimmte textologische Anzeichen gegeben hätte, die durch meine Untersuchungen zutage traten. Also begann ich, mich mit der Handschrift näher zu befassen. Es zeigte sich, daß es sich um einen Sexternio besonderen Charakters handelte, denn durch das Herausschneiden zweier Folia hat er sich als Quinternio erhalten. Zunächst meinte ich, daß diese Verwirrung auf das Binden vertauschter Folia zurückzuführen sei. Eine Rekonstruktion des ursprünglichen Zustands zeigte aber, daß ich dem Buchbinder Unrecht getan hatte. Dank kodikologischer Analyse, die ich hier nur angedeutet habe, konnte ich zu folgender Geschichte gelangen: Magister Blasius Vlk gab irgendwann zu Beginn des Jahres 1409 öffentlich die Fortsetzung seiner Polemik gegen die Quodlibet-Quästion
49
Sedlák [Anm. 48], S. 224–229 und 258–262. Ausführlicher dazu meine Abhandlung Univerzitní kvestie a polemiky mistra Jeron ma Pra ského, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 22–2 (1982), S. 11–27. 51 Antonín Podlaha, Soupis rukopis% Knihovny metropolitní kapituly pra ské II, Praha 1922, S. 383, Nr. 1536. 50
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des Hieronymus von Prag bekannt. Der schrieb sich die Argumente seines Gegners contra universalia realia auf drei zuvor bereitgestellte Doppelblätter ab, die mit einem feinen Schriftspiegel versehen waren. Er beschrieb die erste Doppelseite (heute fol. 37r–v), und weil er zu den Einwänden die Antwort niederzuschreiben gedachte, fuhr er auf dem eingelegten Doppelblatt fort. Der Text des Opponenten endete gleich auf der ersten Seite (fol. 38r), die folgende Seite ließ er leer, und die eigentliche Antwort (Solutiones argumentorum) begann er auf dem dritten eingefügten Doppelblatt zu schreiben. Die Solutiones erforderten ebenfalls drei Seiten, die heutigen fol. 39r–v und 45r. Die Lage dieser drei Doppelblätter, den sog. Ternio, nahm Hieronymus in das große Lectorium im Karolinum mit. Sein Famulus bereitete unterdessen drei andere Doppelblätter vor, diesmal ohne Schriftspiegel, auf die er den Verlauf der Diskussion notierte (die heutigen fol. 40r–44r). Durch Einfügen der Lage des Famulus in den geöffneten Ternio des Magisters entstand ein Sexternio, wodurch die Aufzeichnung der Diskussion die Antworten 1 bis 12 und 12 bis 14 der besagten Solutiones argumentorum voneinander getrennt wurden. Und um die Sache noch weiter zu komplizieren, wurden vor der Foliierung zwei unbeschriebene Folia herausgeschnitten, so daß es sich eigentlich um einen unechten Quinio handelt. Erst durch die Lösung dieses kodikologischen Schachzugs konnte das Autograph des Hieronymus von Prag entdeckt werden. Das Protokoll seines Famulus hatte der Magister nämlich korrigiert und ergänzt. Der entscheidende Beweis ist auf fol. 43r zu finden. Die These des Opponenten Item non necesse est deum omnia facere, igitur non necesse est deum omnia condita facere hatte der Magister überschrieben mit: Dixi ego ‚racionabiliter‘ facere. Suchen wir nämlich die entsprechende Stelle in den Quodlibet-Quästionen des Hieronymus, dann finden wir dort schwarz auf weiß: Necesse est deum omnia racionabiliter facere.52 Der Kreis von der Textologie zur Kodikologie und zurück schließt sich wieder. Einmal wenigstens ist es gelungen. Der bislang einzige Teil der schriftlichen Agenda der Prager Quodlibets ist die Aufzeichnung der zur Quästion principalis des Magisters Michael von Malenitz im Januar 1412 geführten Diskussion, die sich in der Handschrift IX F 7, fol. 35r–41v der Prager Nationalbibliothek
52
Vgl. Sedlák [Anm. 48], S. 218.
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erhalten hat. Aus der grafischen Gestalt der Aufzeichnung mit vielen gedanklichen Pausen und Abkürzungen ergibt sich mit großer Wahrscheinlichkeit, daß wir es auch in diesem Falle mit einem Originaldokument zu tun haben, das direkt in dem großen Disputationssaal des Karlskollegiums entstanden ist. In dem Bemühen, die Argumentation der einzelnen Magister zu erfassen, hat sich der Schreiber wie ein Vorlesungen mitschreibender Student von heute verhalten. Der Redefluß war schneller als die Feder, so daß der Schreiber etliches auslassen oder aber lediglich in Stichworten festhalten mußte. Damit läßt sich nicht nur der fragmentarische Charakter einiger Beiträge erklären, sondern auch der Umstand, daß die Argumentation überall dort weggelassen wurde, wo sie nicht wesentlich oder uninteressant war. Nicht auszuschließen ist aber auch die Möglichkeit, daß der Protokollant, vielleicht der Bakkalaureus des Quodlibetarius, noch nicht den Sinn und die Nuancen einiger erhobener Einwände und Zweifel begriffen hatte. Zwar hat der Schriftführer in einer Reihe von Fällen nicht angegeben, zu welchem Teil der Quästion der betreffende Magister diskutierte, doch läßt sich auch so ein Gesamtbild von der Debatte machen. Zuvor sei jedoch noch angemerkt, daß der Magister-Quodlibetarius auf alle Teile der Frage positiv antwortete, denn, wie er selbst sagt, die Quästion pro omnibus suis partibus est vera. Und weil ein wesentlicher Bereich der Antwort die kategorische Verneinung der Möglichkeit einer real existierenden Welt Gottes ist, ergibt sich daraus, daß Magister Michael einen Standpunkt vertrat, der der Wyclifschen Konzeption der Universalien in re nahe stand oder mit ihr identisch war.53 Ungefähr die Hälfte der weiteren Diskussionsbeiträge bezog sich dabei auf den ersten Artikel, der für den Kern des Problems weniger bedeutend war als die beiden restlichen. Hier bot sich am ehesten die Möglichkeit zu formalen Einwänden für alle, die sich aus verschiedenen Gründen nicht in einen prinzipiellen Streit mit dem Quodlibetarius einlassen wollten. Hinsichtlich der Häufigkeit folgt dann der 3. Artikel. Hier muß nun nicht in Einzelheiten gegangen werden,54 es genügt der Hinweis, daß keiner der Diskussion-
53 Mehr dazu Franti ek mahel, Hus und Wyclif: Opinio media de universalibus in re, Studia Mediewistyczne 22 (1983), S. 123–130. 54 Die findet der Leser in meiner Studie Kvodlibetní diskuse [Anm. 43], daselbst auch im Anhang die Edition einiger Auftritte.
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steilnehmer vorhatte, die formalen Regeln more scholastico zu verletzen. Andererseits ermöglicht die Aufzeichnung aber die Vermutung, daß die meisten Magister in Übereinstimmung mit ihrer Haltung aufgetreten sind, sei es, daß sie der Philosophie John Wyclifs zustimmten oder von ihr abwichen. Abschließend möchte ich meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, daß es im Laufe der Zeit möglich sein wird, die bisherigen Erkenntnisse über die Verschriftlichung der Jahres- und anderer Disputationen zu vermehren und zu verifizieren.
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franti“ek “mahel ANHANG 1 VERZEICHNIS DER BEKANNTEN PRAGER QUODLIBETEN IN DEN JAHREN 1394–1417
[1] 1394 (?) Mag. Henricus de Ribenicz Handbuch der Vorbereitungen: Hs. Leipzig, Univ.-Bibl. Nr. 1414, fol. 4r–231v Quaestio principalis: Utrum in ordine essenciali rerum universi tantum unum supremum principem esse sit necesse? Quaestiones: 48 Lit.: Josef T®í ka, P®ísp vky k st®edov ké literární universit III, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 10–1 (1969), S. 32, Nr. 21; Franti ek mahel, Fakulta svobodn ch um ní, in: D jiny Univerzity Karlovy I. 1347/48–1622, Praha 1995, S. 119 (Datierung). [2] 1395 Mag. Nicolaus Magni de Jawor Wahl: 20.–21. Juni 1394 (MUPR I-1, S. 292) Lit: Franz [Lit.-Verz.], S. 16–18; Ji®í Kej®, Kvodlibetní disputace na pra ské universit , Praha 1971, S. 72. [3] 1396 Mag. Henricus de Homburg Wahl: 19. Juni 1395 (MUPR I-1, S. 303) Lit.: T®í ka, ivotopisn [Lit.-Verz.], S. 156–157. [4] 1399 (?) Mag. Matthias de Legnitz Handbuch der Vorbereitungen: Hs. Stralsund, Stadtarchiv NB 24, fol. 207r–279r Quaestio principalis: Utrum summum bonum summe volibile omnium citra se causa productiva sit a nobis summe congnoscibile? Quaestiones: 91 Lit.: Josef T®í ka, Star í pra ská univerzitní literatura a karlovská tradice, Praha 1978, S. 141–146 (Verzeichnis der Quästionen); mahel, Fakulta svobodn ch um ní, S. 119 (Datierung).
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[5] 1400 (?) Mag. Johannes Arsen de Langenfeld Handbuch der Vorbereitungen: Hs. Leipzig, Univ.-Bibl. Nr. 1435, fol. 188r–267r Quaestio principalis: Utrum primum mutans inmutabile sit cum aliquo proprie componibile? Quaestiones: 61 Lit.: T®í ka, P®ísp vky k st®edov ké literární universit III., S. 33, Nr. 26; Franti ek mahel, Ein unbekanntes Prager Quodlibet von ca. 1400 des Magisters Johann Arsen von Langenfeld, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 33 (1977), S. 199–215 (hier auch Verzeichnis der Quästionen). [6] 1401 Mag. Stephanus de Colonia Wahl: 19.–21. Juni 1400 (MUPR I-1, S. 351–352) Lit.: Otakar Odlo ilík, M. t pán z Kolína, Praha 1924, S. 17; Ji®í Kej®, Struktura a pr%b h disputace de quolibet, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 1 (1960), S. 42; Ders., Kvodlibetní disputace na pra ské universit , Praha 1971, S. 72. [7] 1404 Mag. Johannes Hubner Wahl: 23. Juni 1403 (MUPR I-1, S. 375) Quaestio principalis: Utrum voluntas divina omnium rerum atque se causa inmediata et prima possit impediri ne impleatur per quancunque potenciam ab aliqua pura creatura? (Hs. Breslau, Univ.-Bibl. I F 285, fol. 293v–295v) Lit.: Franz [Lit.-Verz.], S. 42; Václav Novotn , M. Jan Hus. ivot a u ení I-1, Praha 1919, S. 108–11; Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 72f. [8] 1405 (?) Mag. Andreas de Broda Inceptio cum quaestione principali: Laborem gravem, licet eximium, disputacionis de quolibet aggressurus mente deicior . . . Utrum summa dei sapiencia, cuius legem eternam participant omnia alia agencia, omnem veritatem possibilem distinctissime, unico actu simplicissimo, per eius puram essenciam in propria forma congnoscit? (Hs. Prag, Nationalbibliothek X E 24, fol. 390r–391r [inceptio], 169r–178r [quaestio principalis] und Prag, Nationalbibliothek XIII F 16, fol. 98r–99v [nur inceptio])
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Ed.: Jaroslav Kadlec, Studien und Texte zum Leben und Wirken des Prager Magisters Andreas von Brod, Münster 1982 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF 22), S. 87–111 Lit.: Ji®í Kej®, Kvodlibetní questie kodexu UK X E 24, Listy filologické 79 (1956), S. 229; Ders., Kvodlibetní disputace, S. 74–76; mahel, Ein unbekanntes Prager Quodlibet, S. 207, Anm. 27 (Datierung); Kadlec, Studien und Texte S. 67–68. [9] 1409 Mag. Mathias de Knin Quaestio principalis: Utrum summum bonum immutabile sit creator et conservator singulorum encium universi? (Hs. Prag, Bibl. des Metropolitankapitels L 45, fol. 1v–9v; weitere Hss. bei Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 116–117) Quaestiones: 148 (Hs. Prag, Bibl. des Metropolitankapitels L 45, fol. 9v–151v) Quaestiones determinatae: 30 Laudatio finalis quodlibetarii et recommendatio artium liberalium Mgri Hieronymi Pragensis: Prestantissimi patres magistrique doctissimi dominique singuli et universi vos quoque studentes speciosissimi, in quorum vultibus rosa cum lilio disputare cernitur . . . (Hs. Prag, Nationalbibliothek X E 24, fol. 241r–250r) Ed.: Konstantin Höfler, Geschichtschreiber der husitischen Bewegung II, Wien 1865 (FRA SS VI-2), S. 112–128 (hier irrtümlicherweise als Werk von Johannes Hus); V bor z eské literatury doby husitské I, Praha 1962, S. 244–250 (nur Recommendatio artium liberalium, hg. von Amedeo Molnár) Lit.: Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 77–90, 116–136 (Verzeichnis der Quästionen); Franti ek mahel, Pramen Jeron movy Chvály svobodn ch um ní, Strahovská knihovna 5–6 (1970–1971), S. 169–180; Ders., Univerzitní kvestie a polemiky mistra Jeron ma Pra ského, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 22–2 (1982), S. 11–27; Ders., Hussitische Revolution 2, Hannover 2002 (MGH Schriften 43–2), S. 827–830. [10] 1411 Mag. Johannes Hus Inceptio cum quaestione principali: Pater et Filius et Spiritus sanctus, unus Deus omnipotens, omnium rerum principium, in quo vivimus . . . Utrum a primo ente intellectivo et inmutabili, omnipotenti, omniscienti, dependeat optima
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disposicio universi? (Hs. Prag, Bibliothek des Nationalmuseums V C 42, fol. 1r–10r; weitere Hss. bei Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 137) Quaestiones: 67 (Hs. Prag, Bibliothek des Nationalmuseums V C 42, fol. 10r–51v) Quaestiones determinatae: 55 Laudatio finalis: Consumato disputacionis opere de quolibet omnipotentis Dei assistente gracia. . . (Hs. Prag, Bibliothek des Nationalmuseums V C 42, fol 51r–54v) Ed.: Bohumil Ryba (Hg.), Magistri Iohannis Hus Quodlibet. Disputationis de Quolibet Pragae in Facultate Artium Mense Ianuario Anno 1411 habitae Enchiridion, Pragae 1948, S. 1–218 Lit.: Ryba (Hg.), Magistri Iohannis Hus Quodlibet, S. XI–XXX; Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 90–94, 137–148 (Verzeichnis der Quästionen); mahel, Hussitische Revolution II., S. 853–854. [11] 1412 Mag. Michael de Malenitz Quaestio princialis: Utrum Deus ex infinita potencia, sapiencia et bonitate mundum sensibilem ex nichilo temporaliter productum conservet ne in nichilum redigatur? (Hs. Prag, Nationalbibliothek X E 24, fol. 295r–210r) Disputatio generalis 37 magistrorum: (Hs. Prag, Nationalbibliothek IX F 7, fol. 33v–41v) Lit.: Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 94–97, 148–149 (Verzeichnis der bekannten Quästionen); Franti ek mahel, Kvodlibetní diskuse ke kvestii principalis Michala z Malenic roku 1412, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 21–1 (1981), S. 27–52 (hier auch Zusammenfassung der Quaestio principalis und Verzeichnis der Disputanten). [12] 1416 Mag. Simon de Tissnow Wahl: 17. Juni 1413 (MUPR I-1, S. 424); 8. Januar 1414 Aufschub des Quodlibets (MUPR I-1, S. 426); 17. Junii 1415 Bestätigung des Mag. Simon de Tissnow (MUPR I-1, S. 428); 23. Juni 1415 endgültige Nomination desselben Magisters (MUPR I-1, S. 434) Quaestio principalis: Utrum a summo bono creatore et conservatore omnium dependeat optima disposicio universi? (Hs. Prag, Bibliothek des Nationalmuseums V C 42, fol. 56r–62r) Quaestiones: 59 (Hs. Prag, Bibliothek des Nationalmuseums V C 42, fol. 62v–145v)
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Quaestiones determinatae: 5 Lit.: Kej®, Kvodlibetní disputace S. 97–101, 149–158 (Verzeichnis der Quästionen); Jana Nechutová, M. Martini de Praga Utrum circumscripta simonia. Quaestio disputationis de quolibet Pragae Anno 1416 habitae, Sborník prací Filozofické fakulty Brn nské university E 18–19 (1973–1974), S. 309–314. [13] 1417 Mag. Procopius de Kladrau Wahl: 21. Juni 1416 (MUPR I-1, S. 440) Quaestio principalis: Utrum primum principium rerum naturalium possit aliquem effectum absque secundo principio concurrente producere et de novo productum in esse perpetuo tempore naturaliter conservare? (Hs. Prag, Bibliothek des Metropolitankapitels L 27, fol. 3r–12v) Quaestiones: 78 (Hs. Prag, Bibliothek des Metropolitankapitels L 27, fol. 12v–119r) Quaestiones determinatae: 42 Lit.: Ji®í Kej®, Quodlibet M. Prokopa z Kladrub z r. 1417, Acta Universitatis Carolinae – Philosophica et historica 2 (1958), S. 27–48; Ders., Kvodlibetní disputace, S. 101–104, 158–169 (Verzeichnis der Quästionen).
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ANHANG 2 QUODLIBET DES MAG. HEINRICH VON RIBENICZ Auf das Quodlibet des Magisters Heinrich von Ribenicz hatte J. T®í ka hingewiesen,55 doch ist sein Aufsatz von der Literatur – mit Ausnahme des Autors dieses Aufsatzes – nicht zur Kenntnis genommen worden.56 Die Akten dieses Quodlibets sind enthalten in der Hs. Leipzig, Univ.-Bibl. Nr. 1414, fol. 4r–231v. Auf dem Spiegelblatt ist die Handschrift wohl von einem der beiden Schreiber als QUOTLIBET RIBENICZ bezeichnet worden. Auf fol. 1v und 2r lesen wir das Verzeichnis von 46 Quästionen, doch enthält die Handschrift zwei Quästionen mehr.57 Im Unterschied zu allen bisher bekannten Quodlibet-Vorbereitungen enthält dieses Handbuch ausgearbeitete Quästionen, so daß Magister Heinrich auf die Disputation vollständig vorbereitet war. Da keiner Frage der Name des Magisters beigefügt ist, entfällt die Möglichkeit, hierin eine dokumentarische Aufzeichnung der vorgetragenen Antworten zu erblicken. Andererseits handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um eine bloße Sammlung von bearbeiteten Quästionen aus dem Nachlaß des erwähnten Magisters, denn seine weiteren posiciones, die dann in diese Sammlung gehörten, finden wir gleich in mehreren anderen Handschriften.58 Für ein Quodlibet-Handbuch spricht auch der Umstand, daß die Fragen, die Heinrich von Ribenicz vorbereitete, zum Teil von seinen Nachfolgern übernommen wurden. Insgesamt handelt es sich um sieben identische oder fast übereinstimmende Fragen. Die meisten (4) übernahm Mag. Prokop von Kladrau (Nr. 1, 15, 17, 23), was den bekannten Tatsachen entspricht,59 mit zwei Fragen gab sich Mag. Matthias von Legnitz zufrieden (Nr. 11, 22), eine gemeinsame Frage finden wir in dem Handbuch von Mag.
55 Josef T®í ka, P®ísp vky k st®edov ké literární universit III, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 10–1 (1969) S. 32, Nr. 21. 56 Franti ek mahel, Fakulta svobodn ch um ní, in: D jiny Univerzity Karlovy I. 1347/48–1622, Praha 1995, S. 119, daselbst das Quodlibet dem Jahr 1394 zugeordnet. 57 Der Schreiber überging Quästion Nr. 16 und 24 des unten publizierten Verzeichnisses. 58 Ihre Bezeichnungen und Angaben zur handschriftlichen Überlieferung bei J. T®í ka, P®ísp vky k st®edov ké literární universit I, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 9–1 (1968) S. 18, Nr. 22 und P®ísp vky III, S. 32, Nr. 21. 59 Vgl. J. Kej®, Kvodlibetní disputace na pra ské universit S. 59–60.
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Johann Arsen (Nr. 41). Last but not least kann gesagt werden, daß Mag. Heinrich von Ribenicz die Quästionen sorgfältig nach den Fachgebieten zusammenstellte, von der Metaphysik bis hin zur Naturphilosophie. Dies hatte bereits ein Kopist bemerkt, der auf fol. 123v notierte: Iam pertractande sunt questiones philosophie naturalis. Die Zahl von 48 Quästionen ist zwar überraschend niedrig, unterscheidet sich aber nicht allzu sehr vom Quodlibet des Magisters Johann Arsen von Langenfeld (61). Es scheint, als seien vor 1409 im Quodlibet lediglich magistri actu regentes aufgetreten, nicht aber sämtliche in Prag anwesenden Magister, wie dies aus demonstrativen Gründen nach dem Weggang der fremden Magister aus Prag erforderlich gewesen wäre. Im übrigen war die Zahl der Magister, von denen wir wissen, daß sie aktiv an den Quodlibets teilgenommen haben, zumeist wesentlich niedriger (1409: 30, 1411: 55, 1412: 37, 1417: 42). Das QuodlibetHandbuch hat kein relevantes Datum, und weil auch die Vermerke im Liber decanorum hier keinen Halt bieten, habe ich es hypothetisch dem Jahr 1394 zugeordnet, als die Magisterwahl aus der Natio Saxonum an der Reihe war (siehe dazu die Tabelle im Textteil). Die Angaben über die akademische Laufbahn des Heinrich von Ribenicz in Prag stehen damit nicht in Widerspruch. Bakkalaureus artium wurde er 1377, 1379 wurde er promoviert, und nach dem obligatorischen biennium wirkte er in den Jahren 1391 bis 1398 als magister regens an der Fakultät der freien Künste. Zum Dekan dieser Fakultät wählte man ihn 1388, vier Jahre später stand er als Rektor an der Spitze der Universität. Nach seinem Weggang aus Prag wurde er Prior der Marien-Kartause bei Rostock.60
Verzeichnis der Quästionen (Hs. Leipzig, Univ. Bibl. Nr. 1414, fol. 4r–231v) 1. Fol. 4r–11r: Utrum in ordine essenciali rerum universi tantum unum supremum principem esse sit necesse (= Quaestio principalis). Vgl. Quodlibet Kladrub Nr. 72 ( J. Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 168). 2. Fol. 11r–17v: Utrum cuiuslibet artis et doctrine primum principium per demonstracionem sit investigabile.
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Biographische Angaben mit Verweisen auf Literatur und Quellen bei T®í ka, ivotopisn [Lit.-Verz.], S. 167.
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3. Fol. 17v–21v: Utrum intellectus divinus se et omnia possibilia citra se distincte congnoscat et perfecte. 4. Fol. 21v–25r: Utrum prima causa productiva omnium dependencium effectum perfeccionis infinite possit producere. 5. Fol. 25r–28v: Utrum deus possit facere effectum perfeccionis infinite. 6. Fol. 28v–35v: Utrum perfeccio essencialis maior vel minor rerum universi debeat attendi penes maiorem vel minorem excessum. 7. Fol. 35v–44v: Utrum intelligencie ipsi celo appropriate intelligant per species vel per earum proprias essencias. 8. Fol. 44v–49r: Utrum omnes homines ad summi (?) obiecti congnicionem sint naturaliter inclinati. 9. Fol. 49r–53v: Utrum principes potenciarum debeant esse philosophi et viri speculativi. 10. Fol. 53v–57v: Utrum in bellis devicti et superati perpetue ad serviendum superantibus sint obligati. 11. Fol. 57v–61r: Utrum in policia bene recta princeps publica mala permittere teneatur. Vgl. die Variante in Quodlibet Legnitz Nr. 16: Utrum in policia bene recta publica mala sint punienda ( J. T®í ka, Star í pra ská univerzitní literatura, S. 141). 12. Fol. 61r–66r: Utrum melius sit civitatem vel policiam regi optimo rege quam optima lege vel econtra. 13. Fol. 66r–71v: Utrum actus magistrales philosophorum digniores et perfecciores sint actibus militaribus. 14. Fol. 72r–80v: Utrum summa beatitudo consistat in summi dei dileccione vel in summi dei contemplacione. 15. Fol. 80v–84v: Utrum ad debitam actuum humanorum ordinacionem requiritur congnicio ultimi finis. Vgl. Variante: Utrum ad debitam actuum humanorum regulacionem requiretur cognicio ultimi finis. Vgl. Quodlibet Kladrub Nr. 71 ( J. Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 168). 16. Fol. 84v–88r: Utrum aliquis homo possit dici vere felix in hac vita. 17. Fol. 88r–92v: Utrum propter bonum virtutis conservandum quodlibet malum sit sustinendum. Vgl. Quodlibet Kladrub Nr. 69 ( J. Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 167). 18. Fol. 92v–96v: Utrum virtutes morales poni debeant in appetitu sensitivo vel intellectivo. 19. Fol. 96v–100v: Utrum habitus virtutum moralium et intellectualium possint successive acquiri vel deperdi. 20. Fol. 100v–104r: Utrum voluntas humana quodlibet obiectum volibile sub quantocumque gradu intenso volicionis possit velle. 21. Fol. 104r–107v: Utrum vere fortis pocius debeat et teneatur eligere mortem propriam quam mortem principis.
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22. Fol. 107v–110v: Utrum iudex attenta iusticia teneatur iudicare secundum allegata et probata. Vgl. Quodlibet Legnitz Nr. 36 ( J. T®í ka, Star í pra ská univerzitní literatura, S. 143). 23. Fol. 110v–113v: Utrum propter furtum vel latrocinium aliquis secundum leges sit morti adiudicandus. Quodlibet Kladrub Nr. 66 ( J. Kej®, Kvodlibetní disputace, S. 167). 24. Fol. 113v–116v: Utrum iudex corruptus ferens sentenciam iniquam pro parte corrumpente gravis peccet quam pars corrumpens. 25. Fol. 116v–120r: Utrum sciencia moralis realiter distinguatur a prudencia. 26. Fol. 120r–123v: Utrum habitus methaphisicus dignior et perfeccior sit omnibus aliis habitibus humanitus adinventis. 27. Fol. 123v–128r: Utrum philosophus naturalis volens scientifice tradere scienciam naturalem debeat incipere suam determinacionem a causa ad effectum vel econtra ab effectu ad causam. 28. Fol. 128r–134r: Utrum ad cuiuslibet rei naturalis constitucionem requirantur et sufficiant duo principia essencialia intrinseca. 29. Fol. 134r–139v: Utrum magnitudo rei naturalis sit res distincta a re magna naturali. 30. Fol. 139v–150v: Utrum totum compositum naturale sit perfeccius essencialiter forma substanciali eiusdem. 31. Fol. 150v–154v: Utrum sciencie medicine magis accedant ad scienciam naturalem quam ad methaphisicam. 32. Fol. 154v–160v: Utrum in tempore in quo est precise summa calefaccio sit summa caliditas. 33. Fol. 160v–165v: Utrum motus localis sit res distincta a mobili. 34. Fol. 165v–170v: Utrum corpora elementaria in locis eorum sint naturaliter situata. 35. Fol. 171r–177r: Utrum in vacuo et sine resistencia medii aliquod mobile naturale et non voluntarie possit successive moveri. 36. Fol. 177r–184r: Utrum in linea sint ponenda puncta simpliciter individualia. 37. Fol. 184r–189v: Utrum in moventibus et motis sit procedendum in infinitum. 38. Fol. 189v–194r: Utrum quodlibet mobile quod movetur per impetum sibi impressum in termino reflexionis quiescat si reflectitur. 39. Fol. 194r–202r: Utrum cuilibet corpori simplici insit tantum unus motus simplex in specie et solum illis videlicet corpori simplici. 40. Fol. 202r–210r: Utrum potencia activa respectu sue resistencie terminata sit ad maximum in quod potest. 41. Fol. 210r–212v: Utrum ad salvandum illa que aparent circa motum planetarum oporteat poni ecentricos et epicyclos. Variante in Quodlibet
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42. 43. 44. 45. 46. 47. 48.
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Knin Nr. 71: Utrum ad salvandas apparencias, que ex motibus planetarum fiunt in celo, oporteat ponere circulos ecentricos et epiciclos ( J. Kej®, Kvodlibetní disputace S. 127). Fol. 212v–214r: Utrum elementa grava et leva in locis suis naturalibus existencia trahant sursum et deorsum. Fol. 214r–217v: Utrum generacio substancialis differat ab alteracione penes suos terminos videlicet a quibus et ad quos. Fol. 217v–220r: Utrum forme substanciales elementorum mixtum ingredientes possint intendi et remitti. Fol. 220v–225v: Utrum qualitates secundum quos in mente elementa transformantur ad invicem sit eiusdem speciei specialissime. Fol. 225v–227v: Utrum ista inferiora a superioribus dependeant motu lune vel influencia. Fol. 227v–229v: Utrum omnium impressionum ex materia, terra et aqua generatarum locus sit sphera aeris. Fol. 230r–231v: Utrum radius visualis fungatur in occursu medii rarioris seu densioris.
ETHICA IN WIEN ANNO 1438 DIE KOMMENTIERUNG DER ARISTOTELISCHEN ‚ETHIK‘ AN DER WIENER ARTISTENFAKULTÄT* Christoph Flüeler
In seiner Einleitung zur ‚Nikomachischen Ethik‘ von Aristoteles widmete René Antoine Gauthier ein Kapitel der Wirkungsgeschichte im 15. Jahrhundert. Nach seinen Worten ist diese geprägt durch Tradition und Neuanfang.1 In Italien wurden im Quattrocento nach einem Unterbruch von mehr als 150 Jahren wieder lateinische Übersetzungen aus dem Griechischen erstellt: die beiden wichtigsten verdanken wir den Humanisten Leonardo Bruni (1416/17) und Johannes Argyropoulos (Redaktion B: vor 1464).2 In Italien entstanden im 15. Jahrhundert auch zahlreiche Kommentare, die meisten von ihnen in Florenz.3 Formal und inhaltlich gesehen verlagerte sich die Kommentierung in Italien im Laufe des Jahrhunderts unter dem Einfluss der Humanisten immer mehr von einem philosophischen zu einem philologischen Kommentar. Dieser Wandel kam nicht unvermittelt, * David Lines (Miami) und Martin Rohde (Freiburg) danke ich für wertvolle Hinweise. Un ringraziamento particolare ad Alfonso Maierù (Roma), amico e maestro, il quale da tempo mi aiuta nello sviluppo della problematica di questo articolo. 1 Aristote, L’Éthique a Nicomaque. Introduction, traduction et commentaire, par René Antoine Gauthier et Jean Yves Jolif, Bd. 1: Introduction, par René Antoine Gauthier, Louvain [u.a.] 21970, hier S. 138–146. 2 Grundlegend für das Fortleben der ‚Nikomachischen Ethik‘ an den italienischen Universitäten bis circa 1650 ist nun die Studie von David A. Lines, Aristotle’s Ethics in the Italien Renaissance (ca. 1300–1650). The Universities and the Problem of Moral Education, Leiden [u.a.] 2002 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 13). Zu den verschiedenen Übersetzern vgl. man den bibliographischen Appendix A und vor allem das Repertorium im Appendix C: S. 483f. (Leonardo Bruni Aretinus), S. 484 (Andreas Pieri [de Billis] de Mediolano O.E.S.A.), S. 485 ( Jannottius Manettus), S. 487–9 ( Johannes Argyropoulos), S. 497 (Severinus). 3 David Lines [Anm. 2] listet in seinem Verzeichnis (S. 472–539) der lateinischen Werke über die ‚Nikomachische Ethik‘ in Italien im 15. Jahrhundert insgesamt 36 Titel auf, wobei nur ein Teil davon Kommentare enthält. Aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts besitzen wir anscheinend nur noch den Kommentar von Augustinus Favaroni de Roma OESA, in der zweiten Hälfte hingegen sind mindestens zwölf Kommentare aus Italien erhalten. Sieben von ihnen sind offensichtlich in Florenz entstanden, d.h. die Kommentare Marsilio Ficino, Guglielmo Becchi, Donato Acciaiuoli, Niccolò Tignosi da Foligno, Dominicus de Flandria, Angelo Poliziano, Girolamo Savonarola.
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sondern in mehreren Schritten. Doch gegen Ende des Jahrhunderts, als ein Werk wie das ‚Panepistemon‘ von Angelo Poliziano im Druck erschien, hatten sich die Kommentare so stark gewandelt, dass sie sich bezüglich Form, Inhalt und Vorgehensweise grundlegend von den mittelalterlichen bzw. scholastischen Kommentaren unterschieden. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts folgten die Gelehrten noch den alten lateinischen Übersetzungen, das heisst einer meist schrecklich fehlerhaften Abschrift der Übersetzung von Robert Grosseteste.4 Trotz der weitgehend traditionellen Vorgehensweise lassen sich aber schon hier deutliche Veränderungen feststellen. Während im 14. Jahrhundert Universitätsschriften mit Kommentaren aus verschiedenen Ordensschulen rivalisierten, verlagerte sich die Kommentierung in Frankreich und Mitteleuropa weitgehend auf die Universität. Man kopierte zwar weiterhin fleissig die wichtigsten Kommentare der älteren Zeit, kopierte also auch die Ethikkommentare von Albert von Köln OP, Thomas von Aquin OP, aber auch von Heinrich von Friemar OESA, Guido Terrena OCarm, Guido Vernani OP und Gerardus Odonis OFM5 und benützte diese als Vorlagen, doch sind die Kommentare, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts entstanden und heute noch erhalten sind, fast ausschliesslich aus dem Studium an der Artistenfakultät hervorgegangen. Aber nicht in Frankreich und auch nicht in Italien,6 sondern an
4 Es handelte sich dabei meistens um die Übersetzung von Grosseteste in der sparsamen Überarbeitung von Wilhelm von Moerbeke (die Zuschreibung der Recensio wurde von Jozef Brams erbracht; ders., The Revised Version of Grosseteste’s Translation of the Nicomachean Ethics, Bulletin de philosophie médiévale 36 (1994), S. 45–55). Die Abschriften des 15. Jahrhunderts aus den mitteleuropäischen Universitäten sind zahlreich überliefert. Solche Abschriften weichen vom kritisch editierten Text des Übersetzers zum Teil so stark ab, dass sie für die Edition vollständig vernachlässigt werden konnten. Für die Übersetzung von Grosseteste vgl.: Aristoteles, Ethica Nicomachea. Translatio Roberti Grosseteste Lincolniensis sive ‘Liber Ethicorum’. A. Recensio Pura, ed. von R.A. Gauthier, Bruxelles [u.a.] 1972 (Aristoteles Latinus XXVI 1–3 fasc. secundus), und für die Überarbeitung von Moerbeke vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea. Translatio Roberti Grosseteste Lincolniensis sive ‚Liber Ethicorum‘. B. Recensio Recognita, ed. von R.A. Gauthier, Bruxelles [u.a.] 1973 (Aristoteles Latinus XXVI 1–3 fasc. quartus), S. 371–588 und natürlich ebd. auch Faszikel 1 (editorische Einleitung) und 4 (Wortindices). 5 Südlich der Alpen wurde dieser Kommentar sogar zweimal gedruckt: Brescia, 1482 und Venedig, 1500, vgl. Lines [Anm. 2], S. 467f. 6 David Lines [Anm. 2] erwähnt in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Kommentar von Augustinus Favaroni de Roma OESA, ferner einen bezeugten Kommentar (Franciscus Casinus), eine Einleitung (Francisco Filelfo), zwei Orationes (Piero Perleone da Rimini und Giacomo Pisauro) und selbstverständlich die schon genannten Übersetzungen (vgl. Anm. 2).
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den mitteleuropäischen Universitäten fand in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die fleissigste Auseinandersetzung mit der ‚Nikomachischen Ethik‘ statt. Es wäre zwar falsch zu behaupten, dass Paris im 15. Jahrhundert seine Strahlkraft ganz verloren hätte. In den vierziger Jahren verfasste namentlich Johannes Versoris an der Pariser Universität einen umfangreichen Kommentar in Quaestionenform, der sich schnell an zahlreichen Universitäten durchsetzen konnte.7 Jacques Lefèvre d’Étaples publizierte 1494 in Paris eine Einführung in die ‚Nikomachische Ethik‘ (‚Ars moralis in magna moralia Aristotelis introductoria‘) und 1497 einen Kommentar (‚Decem librorum Moralium Aristotelis tres conuersiones‘) nach der Übersetzung von Johannes Argyropoulos und verhalf damit der humanistischen Auslegung der ‚Ethik‘ nördlich der Alpen zum Durchbruch.8 R.A. Gauthier sagt aber mit Recht, dass sich an den mitteleuropäischen Universitäten, vor allem im heutigen Deutschland und Österreich, in diesem Jahrhundert die Kommentare vervielfachten.9 Aus den Universitäten Prag, Heidelberg und Wien, alles Gründungen
7 Johannes Versoris schrieb seine ‚Quaestiones super libros Ethicorum I–VI‘ vor 1446 (vgl. Datierung der ältesten Handschrift Paris, BN, lat. 6455). Der Kommentar hatte einen grossen Einfluss, wie die 27 mir bekannten Handschriften, die drei frühen Drucke (Köln 1491 [Hain 16053]; Köln 1494, ND Frankfurt a.M. 1967, [Hain 16054] und Köln 1497 [Hain 16055]) und sogar eine hebräische Übersetzung von Eli Habillo bezeugen (vgl. dazu den Hinweis in Moritz Steinschneider, Die Hebraeischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Berlin 1893 (ND Graz 1956), S. 487–89). Der Beweis, dass diese Quaestionen aber tatsächlich von Johannes Versoris stammen, ist noch zu erbringen. Zwar schreiben alle Inkunabeln den Kommentar diesem Pariser Magister zu, aber die Handschriften sind meines Wissens mit Ausnahme einer späten Pariser Handschrift (Paris, BN, lat. 6691, Paris, 1486/7) alle anonym. Der Kommentar wurde wie andere Werke von Versoris schon in den vierziger Jahren in Prag kopiert (Prag, Metr. Kap. M.82 [A.D. 1447–50] und Prag, NK, X.F.18) und scheint dort einige Jahrzehnte lang den Unterricht geprägt zu haben. Zur Prager Rezeption vgl. den Beitrag von Franti ek mahel, Paris und Prag um 1450. Johannes Versor und seine böhmischen Schüler, Studia Ωród oznawcze 25 (1980), S. 65–77. 8 Jill Kraye, Renaissance Commentaries on the Nicomachian Ethics, in: Vocabulary of Teaching and Research between Middle Ages and Renaissance: Proceedings of the Colloquium, London, Warburg Institute, 11–12 March 1994, ed. O. Weijers, Turnhout 1995 (Études sur le vocabulaire intellectuel du moyen âge 8), S. 96–117 und diess., Philologists and Philosophers, in: The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, ed. J. Kraye, Cambridge 1996, S. 142–60; diess., The French Connection: Denys Lambin, Marc-Antoine Muret and the Origins of the Philological Commentary on the Nicomachian Ethics, in: Late Medieval and Early Modern Ethics and Politics, hg. von J. Kraye and R. Saarinen (im Druck). 9 L’Éthique à Nicomaque [Anm. 1], S. 139.
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des 14. Jahrhunderts, stammen mehrere Ethikkommentare.10 In Heidelberg entstand der Kommentar von Konrad Koler de Susato (von Soest), mehrmaliger Rektor an der hiesigen Universität.11 An der Prager Universität hat das Studium der Artes nach 1409 durch den Abgang zahlreicher deutscher und polnischer Magister und Studenten sicher einen Einbruch erlitten. Die Kommentierung, die im Jahrhundert davor einsetzte,12 wurde aber nicht unterbunden. Anonyme Kommentare des 15. Jahrhunderts in Prager Bibliotheken bezeugen diese Tradition.13 Doch war es vor allem an der Universität Wien, wie schon R.A. Gauthier feststellte, wo die Magister geradezu miteinander wetteiferten, dieses Buch zu lesen.14 Als Beleg erwähnt er sechs Magister, von denen heute noch umfangreiche Handschriften
10 Überreichlich ist die Überlieferung in Krakau. Allein die Universitätsbibliothek Krakau besitzt zwanzig Kommentare aus dem 15. Jahrhundert, die zum grössten Teil an der dortigen Universität entstanden sind. Die ‚Ethica‘ in Krakau dürfte somit ein vergleichbarer Fall sein zur ‚Ethica‘ in Wien. Vergleiche dazu J.B. Korolec, Le commentaire de Jean Buridan sur l’Ethique à Nicomaque et l’Université de Cracovie dans la première moitié du XVe siècle, Organon (Warszawa) 10 (1974), S. 187–208; Miecislaus Markowski und Sophia W odek, Repertorium commentariorum medii aevi in Aristotelem Latinorum quae in Bibliotheca Iagellonica Cracoviae asservantur, Wroc aw [u.a.] 1974; ders., Die Rezeption Johannes Buridans Kommentar zur ‚Nikomachischen Ethik‘ des Aristoteles an den mitteleuropäischen Universitäten angesichts der in den Bibliotheken Erfurt, Göttingen, Krakau, Kremsmünster, Leipzig, Melk, München, Salzburg, Wien, Wroclaw und im Vatikan erhaltenen Handschriften, Mediaevalia Philosophica Polonorum XXVII (1984), S. 89–131. Einen materialreichen Überblick über die Rezeption von Buridans ‚Ethik‘ gibt Bernd Michael, Buridans moralphilosophische Schriften, ihre Leser und Benutzer im späten Mittelalter, in: Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, hg. von J. Miethke unter Mitarbeit von A. Bühler, München 1992 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 21), S. 139–151; vgl. aber auch B. Michael [Anm. 17], S. 340–349. 11 Diese Fragen zur ‚Ethik‘ sind in mindestens fünf Handschriften erhalten, vgl. Michael [Anm. 10] S. 148, Anm 40. Zwei Kopien in Wien (ÖNB, CVP 5340, f. 1ra–359va und ÖNB, CVP 5316, 4ra–412rb) bezeugen, dass dieser Kommentar dort sehr geschätzt wurde. Da dieser Kommentar stark von Buridan beeinflusst ist, wurde er häufig mit jenem verwechselt; vgl. auch München, UB, 2° 565, f. 1r–500v (A.D. 1469). 12 Im 14. Jahrhundert sind aus der Prager Universität unter anderem Ethikkommentare von Konrad Stensberg alias de Wormatia (München, UB, cms 2° 568a (a. 1389), f. 2ra-69vb), Matthias von Legnica (Praha, SK SR, cms 1941 (X.F.15), f. 1–193), Johannes Langewelt, ‚Lectura super I–X libros Ethicorum Aristotelis‘ (Kraków, BJ, cms 1899, f. 1r–166), Peter Vartenberg, ‚Commentum Ethicorum bonum Reportatum Prage a Petro Vartenberg‘ (Wro aw, UB, cms IV.Q.51, f. 1r–21r), bezeugt. 13 Georgius B. Korolec, Repertorium commentariorum medii aevi in Aristotelem Latinorum quae in Bibliotheca olim Universitatis Pragensis nunc Státní Knohovna SR vocata asservantur, Wroc aw [u.a.] 1977. 14 Gauthier [Anm. 1], S. 139.
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vorliegen, die alle in die ersten sechs Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts datiert werden können.15
Die ‚Nikomachische Ethik‘ an der Wiener Artistenfakultät im 15. Jahrhundert Neuere Untersuchungen haben nun gezeigt, dass die Kommentierung in Wien noch weit umfangreicher und intensiver war, als dies Gauthier annahm.16 Ein vorläufiges Repertorium (Anhang A), das anhand von verschiedenen Vorarbeiten von Mieczys aw Markowski zusammengestellt werden kann, enthält nicht weniger als zwanzig Ethikkommentare, die zwischen 1396 und 1470 entstanden sind.17 Es handelt sich dabei ausschliesslich um Quaestionenkommentare, wobei die meisten Magister nur die ersten fünf Bücher kommentierten. Diese Schriften haben offensichtlich keine grössere Verbreitung gefunden. Ausser dem Kommentar von Urban von Melk, von dem eine spätere Kopie (A.6b) erhalten ist, und dem Kommentar von Thomas Wölfel von Wuldersdorf, der in mehreren Fassungen überliefert ist (A.8, A.9, event. auch mindestens teilweise A.10, A.11 und A.12), sind alle anderen Kommentare in nur einer Handschrift erhalten und auch die heutigen Standorte legen die Vermutung nahe, dass diese Kommentare über Wien hinaus wohl kaum je gelesen wurden. Von der Beschäftigung mit der aristotelischen Ethik in Wien zeugen aber auch mehrere Abschriften der mittelalterlichen Übersetzungen.18 Wien besitzt Abschriften der Kommentare von Albert dem
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Gauthier [Anm. 1], S. 139. Gauthiers Angaben entsprechen auch etwa dem Stand der Forschung in Charles H. Lohr, Medieval Latin Aristotle Commentaries, Traditio XXIII (1967), S. 313–413; XXXIV (1968), S. 149–245; XXVI (1970), S. 135–216; XXVII (1971), S. 251–351; XXVIII (1972), S. 281–396; XXIX (1973), S. 93–197; XXX (1974), S. 119–144. 17 Miecislaus Markowski, Repertorium commentariorum medii aevi in Aristotelem Latinorum quae in bibliothecis Wiennae asservantur, Wroc aw [u.a.] 1985; ders., Buridanica quae in codicibus manu scriptis bibliothecarum Monacensium asservantur, Wroc aw [u.a.] 1981 und ders., Repertorium philosophicorum operum Wiennensium inde ab anno 1365 usque ad annum 1500 quae in codicibus manu scriptis bibliothecarum Europae asservantur, Acta Mediaevalia XIII (2000), S. 241–264; wertvoll ist nach wie vor Michael [Lit.-Verz.]. 18 Die Österreichische Nationalbibliothek besitzt insgesamt acht Kopien (AL 85, 16
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Grossen, Eustratius, Gerard Odonis. Nicht weniger als elf Kopien des Ethikkommentars von Johannes Buridan sind in Wien entstanden oder gehörten nachweislich einem Wiener Magister.19 Ferner werden in Wien zwei Kopien des Heidelberger Gelehrten Konrad von Soest20 und je eine Abschrift der Ethikkommentare von Thomas von Aquin,21 Richard Kilvington22 und möglicherweise Marsilius von Inghen23 (A.27) aufbewahrt. Wie lässt sich diese Fülle von Kommentaren (und Abschriften) in einer Zeitspanne von einigen Jahrzehnten erklären? Es fällt auf, dass die Mehrheit dieser Kommentare nur die ersten fünf Bücher behandelt. Wie kam es zu dieser Beschränkung? Wenn wir davon ausgehen, dass den überlieferten Texten eine bestimmte akademische Lehrveranstaltung zugrunde liegt, könnten wir weiter fragen, um welche Lehrveranstaltung es sich handelte und wie der mündliche Vortrag schriftlich festgehalten wurde.
87, 96, 108, 113, 114, 130, 138), cf. Aristoteles Latinus. Codices, hg. Georgius Lacombe, Roma 1939, und Ethica Nicomachea. Praefatio quam conscripsit Renatus Antonius Gauthier, Leiden – Bruxelles 1974. Die meisten gehörten offensichtlich Wiener Artisten oder der Bibliothek der Wiener Artistenfakultät, wie die kurzen Hinweise im ‚Aristoteles latinus‘ belegen. 19 Vgl. Anhang A.31–41. 20 Vgl. oben Anm. 11. 21 Die Handschrift Wien, ÖNB, CVP 2361 gehörte dem Herzöglichen Kolleg Wien. 22 In der Handschrift Wien, ÖNB, CVP 5431 (s.o. Anm. 17) enthalten (f. 292ra– 336va). 23 Mieczys aw Markowski, Kommentare zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles zur Zeit des Marsilius von Inghen, in: Marsilius von Inghen. Werk und Wirkung; Akten des Zweiten Internationalen Marsilius-von Inghen-Kongresses, hg. von Stanis aw Wielgus, Lublin 1993, S. 15–30 (hier versucht Markowski den anonym überlieferten Ethikkommentar [Sélestat, BM, 113] Marsilius zuzuschreiben); ders., Die wiederaufgefundene ursprüngliche Fassung des Kommentars des Marsilius von Inghen zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles, in: Philosophie und Theologie des ausgehenden Mittelalters. Marsilius von Inghen und das Denken seiner Zeit, hg. von M.J.F.M. Hoenen und P.J.J.M. Bakker, Leiden [u.a.] 2000, S. 175–195 (hier versucht Markowski die Wiener Handschrift, ÖNB, CVP 5317 Marsilius zuzuschreiben und in seine Heidelberger Zeit zu datieren. Da der Kommentar nur die ersten fünf Bücher enthält, nimmt Markowski an, dass die Kopie im Umkreis der Universität Wien entstanden ist, da man dort nur die ersten fünf Bücher las).
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christoph flüeler Die Kommentierung der ‚Nikomachischen Ethik‘ nach den Universitätsstatuten (1389) und den Universitätsakten (1385–1497)
Alle überlieferten Kommentare, die in Wien im 15. Jahrhundert geschrieben wurden, sind anscheinend an der Artistenfakultät entstanden und eng mit dem Unterricht an der Universität verbunden. Aus diesem Grunde möchte ich mich zuerst den Statuten und den Universitätsakten zuwenden und fragen, wie nach den Statuten die Ethik gelehrt werden sollte und was an Fakultätssitzungen bezüglich des Ethikunterrichts bestimmt wurde. Erst in einem zweiten Schritt werde ich versuchen, die handschriftlich überlieferten Kommentare mit den statuarischen Bestimmungen und den Protokollen der Fakultätssitzungen in Beziehung zu bringen. Die Überlieferung aus der Wiener Artistenfakultät ist für unser Vorhaben besonders günstig, da sowohl die Statuten als auch die Akten überliefert sind, auch wenn diese nur teilweise in modernen Editionen greifbar sind.24 Die Ethik – und das heisst natürlich in der Regel die ‚Nikomachische Ethik‘ von Aristoteles – gehörte an der Wiener Artistenfakultät, wie auch an den anderen Universitäten Mitteleuropas, die nach dem Pariser Modell errichtet wurden, zu den ordentlich zu lesenden Büchern (libri ordinarie legendi ).25 Die
24 Die Statuten von 1389 wurden schon mehrmals ediert. Ich habe die Edition von Alphons Lhotsky benutzt: ders. [Lit.-Verz.] [Beilage II, S. 223–262, Abschrift der Edition von Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, zweiter Band: Statutenbuch der Universität, Wien 1854, S. 170–226]. Bezüglich der Akten vgl. Anm. 32. 25 Vgl. Sönke Lorenz, Libri ordinarie legendi. Eine Skizze zum Lehrplan der mitteleuropäischen Artistenfakultät um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, in: Argumente und Zeugnisse, hg. von W. Hogrede, Frankfurt a.M. 1985 (Studia Philosophica et Historica, Bd. 5), S. 204–257 (vor allem die übersichtliche Zusammenstellung der Lehrpläne an acht Universitäten, S. 229–236); ders., Studium generale Erfordense. Zum Erfurter Schulleben im 13. und 14. Jahrhundert, Stuttgart 1989 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 34); neuerdings auch Lines [Anm. 2], S. 68–77. Bernd Michael und andere haben die Ansicht vertreten, dass die ‚Ethik‘ in Paris nicht für das Examen erforderlich war, da sie nur extraordinarie gelesen wurde. David Lines [Anm. 2] weist, wie mir scheint, mit Recht darauf hin, dass die ‚Ethik‘ mindestens seit 1240 fest im Studienplan verankert war und auch geprüft wurde. Trotzdem wurde sie, wie die Universitätsakten schreiben, auch an Sonntagen nach der Predigt gelesen (ibid., S. 71f.), was auf eine außerordentliche Lehrveranstaltung hinweist. Dass dies aber eher die Ausnahme als die Regel war, legen die Wiener Statuten nahe: Tit. De ordinariis lectionibus et disputationibus magistrorum. . . . Item volens legere diebus festivis post prandium propter deum et sine collecta librum
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Fakultätsstatuten von 138926 forderten, dass jeder, der ein Lizentiat anstrebte, Vorlesungen über sechs (von zehn) Bücher der Ethik besucht und zusammen mit dem Magister in besonderen Übungen (in exercitiis particularibus) Fragen zu fünf (von zehn) Büchern (questiones quinque librorum Ethicorum Aristotelis) disputiert haben musste.27 Der Bakkalar hatte also für die Ethik zwei verschiedene Veranstaltungen zu besuchen: Vorlesungen und private Übungen.28 Diese Übungen, die auch exercitia in privato oder exercitia particularia sive cameralia genannt wurden, oblagen ausschliesslich den Magistern, es sei denn, die Fakultät erteilte einem Bakkalar das Recht, solche Übungen zu leiten.29 Anfang September, am Fest des hl. Aegidius, anderthalb Monate bevor das Schuljahr anfing, musste der Dekan eine Sitzung anberaumen, an der die zu lesenden Bücher an jene Magister verteilt wurden, die in diesem Jahr lesen wollten.30 Wer während des ganzen akademischen Jahres, also vom 14. Oktober bis zum 11. Juli des folgenden Jahres las, durfte sich ‚Magister regens‘ nennen. Die Bücher waren nach einer bestimmten Regel zu verteilen, ohne dass die Statuten selbst den Wahlmodus festlegten. Ausserdem mussten die Vorlesungszeiten bestimmt und darauf geachtet werden, dass diese sich nicht mit den privaten Übungen überschnitten. Die Statuten legten auch die Kolleggelder (collecta) für die einzelnen Veranstaltungen fest. So hatte ein Bakkalar im Jahre 1389 für die ‚Oekonomik‘ zwei Groschen, für die aristotelische ‚Politik‘ zehn Groschen zu bezahlen. Die ‚Ethik‘ war mit zwölf Groschen die teuerste Veranstaltung. Die Übungen kosteten sogar das Doppelte: jeder Teilnehmer hatte für
Ethicorum aut alium in philosophia morali, aut alium communiter aliis diebus legi non consuetum, super hoc debet specialem licentiam, ne fiat fraudulenter, in facultate obtinere. (ed. Lhotsky [Anm. 24], S. 251–2). Die ‚Ethik‘ konnte also auch an Sonntagen gratis gelesen werden, doch musste die Bewilligung eingeholt werden. Da an der Pariser Artistenfakultät die Verteilung der Bücher (libri ordinarie legendi ) nicht wie in Wien in den Akten vermerkt wurde, könnten wir – so würde ich vermuten – davon ausgehen, dass in Paris eher die Ausnahme als die Regel dokumentiert ist. 26 Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 170–226. 27 Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 243. 28 Davon zu unterscheiden sind die ordentlichen Disputationen (Tit. XXV: De disputatione ordinaria, in: Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 253f.), die nicht etwa mit den privaten Übungen verwechselt werden dürfen. Vgl. die fehlerhaften Angaben bei Lhotsky [Anm. 24], S. 52. 29 Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 230, S. 254 (Titel XXVI: De exercitiis magistrorum cum baccallariis et scolaribus in privato), und S. 252. 30 Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 251. Dass die Sitzung an St. Aegidius stattfinden soll, wird weiter unten, S. 255 festgehalten.
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die fünf ersten Bücher der ‚Ethik‘ 24 Groschen zu entrichten und den gleichen Betrag für die restlichen fünf Bücher.31 Die Akten der Wiener Artistenfakultät von 1385–1497 bestätigen weitgehend die Bestimmungen der Statuten.32 Es erstaunt vielmehr, wie lange an dieser Verfassung mit wenigen Änderungen festgehalten wurde. Die Verteilung der ordentlich zu lesenden Bücher fand tatsächlich meistens an St. Aegidien statt, selten einen Tag vorher oder einen danach.33 An dieser Sitzung wurden regelmässig zwei Traktanden behandelt: die Wahl des Magisters, der eine ‚Disputatio de quolibet‘ zu bestreiten hatte, und die Verteilung der ordentlich zu lesenden Bücher für das nach dem 13. Oktober einsetzende Studienjahr. Jahr für Jahr trug der amtierende Dekan eigenhändig der Reihe nach die Magister, denen die Erlaubnis erteilt wurde, ein Buch ordentlich zu lesen, in das Aktenbuch ein. Diese Verteilung wurde, da ein Wahlmodus in den Statuten nur gefordert, aber nicht festgelegt wurde, unterschiedlich durchgeführt, doch setzte sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts der Brauch durch, den ältesten anwesenden Magister zuerst wählen zu lassen und nach der Länge der Regenz jeden anwesenden Magister bis zu den jüngsten ein Buch auswählen zu lassen, wobei natürlich immer darauf geachtet werden musste, dass das ganze Lehrprogramm abgedeckt wurde.34 Die in
31 Item magister disputans in privato exercitio questiones Byridani aut equales ipsis in numero physicorum. . . . Item de quinque libris Ethicorum viginti quatuor grossos. De aliis quinque iterum viginti quatuor grossos. (Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 255). Die Preise erhöhten sich natürlich im Laufe der Jahre, doch blieb die ‚Ethik’ die teuerste Veranstaltung. Vgl. Aschbach [Lit.-Verz.], hier S. 352 Anm. 1: Im Jahre 1449 kostete demzufolge eine Ethikvorlesung einen Gulden. 32 Nur die frühesten Akten von 1385–1416 sind ediert: Acta facultatis artium universitatis Vindobonensis [Lit.-Verz.]. Die restlichen Akten sind immer noch unediert und unter der Signatur: AFA II (1416–1447) und AFA III (1447–1497) im Besitz des Archivs der Universität Wien. Ich danke dem Archiv herzlich für die Erstellung von Mikrofilmen. Sehr hilfreich ist der Kommentar von Paul Uiblein, Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät. Kommentar zu den Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis, 1385–1416, 2., verb. u. verm. Auflage, Wien 1995 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs 4). 33 Diese Fakultätssitzung wurde offensichtlich nicht deshalb um einen Tag verschoben, weil in diesem Jahr der 1. September auf einen Sonntag fiel. Im Gegenteil! Fakultätssitzungen fanden besonders häufig an Sonntagen statt. Im Jahre 1397 wurde die Sitzung auf Sonntag, den 2. September und im Jahre 1399 auf Sonntag, den 31. August verschoben. Zu den Sonntagssitzungen, vgl. Uiblein 1995 [Anm. 32], S. 65f. 34 Uiblein 1995 [Anm. 32], S. 111f.
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den Akten im Einzelnen vermerkte Verteilung der Bücher gibt Jahr für Jahr Aufschluss darüber, wieviele Magister an der Artistenfakultät unterrichteten und mit welchem Buch sie ihre Regenz beginnen durften. Diese Zahl der Magister nahm bis zur Jahrhundertmitte stetig zu. Beim ersten überlieferten Verzeichnis im Jahre 1390 waren es 20 Magister, 1410 schon 38 Magister, und 1452 erreichte die Fakultät eine Spitze mit insgesamt 103 Magistern, nimmt dann aber deutlich ab: 1464 waren es 62 Magister und Ende des Jahrhunderts 45 Magister (A.D. 1489), bzw. 53 Magister (A.D. 1491).35 Die freie Wahl der Bücher legt natürlich die Vermutung nahe, dass die begehrteren Bücher zuerst gewählt wurden und dass einzelne Magister nur jene Bücher wählten, die sie am meisten interessierten. Eine statistische Untersuchung dieses reichhaltigen Materials wurde bisher nur in Ansätzen durchgeführt. Es wurde z. B. festgestellt, dass die ‚Physik‘, ‚De anima‘ und besonders die ‚Ethik‘ eher von älteren Magistern gewählt wurde und die jüngsten Magister sich besonders mit der Grammatik beschäftigten.36 Aber selbst wenn wir alle diese Daten sorgfältig statistisch ausgewertet hätten, könnten wir, wie Paul Uiblein richtig bemerkt, in der Regel nicht sagen, ob ein Magister das gewählte Buch auch tatsächlich las.37 Vor allem aber führt die Verteilung der Bücher am 1. September nur einen Teil der gelesenen Bücher auf. Ein Magister regens war verpflichtet, ein ganzes akademisches Jahr lang bis zum 11. Juli zu lesen. Da aber einige
35 Aschbach [Lit.-Verz.], S. 355 Anm. und Uiblein 1995 [Anm. 32], S. 112 Anm. 20, der freilich Magister dazuzählt, denen bis zum Dezember des gleichen Jahres noch ein ordentliches Buch zugeteilt wurde. Dadurch erhöht sich die Anzahl der Magister um durchschnittlich zwei Personen. 36 Claudia Kren, Patterns in Arts Teaching at the Medieval University of Vienna, Viator 18 (1987), S. 321–336. Dabei handelt es sich freilich um statistische Werte. Die ‚Ethik‘ konnte natürlich auch in den ersten Jahren einer Regenz gelesen werden. So las Magister Egidius Sprenger (de Augusta) 1456 in seinem ersten Jahr das siebte Buch oder Magister (Frater) Erhardus de Gersten (professus in Gersten) 1430 in seinem zweiten Jahr das 7.–10. Buch. Andererseits konnten Langzeitprofessoren wie Wolfgang von Eggenburg, der 30 Jahre an der Artistenfakultät lehrte, im 30. Lehrjahr ein ‚Anfängerwerk‘, wie die ‚Summa Jovis‘ wählen. Auch die Vermutung, dass ein junger Magister nur vereinzelte Bücher der ‚Ethik‘ las und erst ein Langzeitprofessor ‚Ethik‘ I–VI (bzw. I–V) ist nur tendenziell richtig. Andreas Wall de Walheim [Anm. 86] las z.B. schon in seinem vierten Jahr alle fünf, bzw. sechs Bücher der ‚Ethik‘ (vgl. Anhang A.15), Jacobus von Fladnicz las schon im dritten Jahr lib. Ethicorum oder Johannes Hymel (de Weits) las Ethycorum in seinem vierten Jahr, etc. 37 Uiblein 1995 [Anm. 32], S. 113.
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Bücher einen geringen Umfang hatten und wie die ‚Summa Iovis‘38 in nur sechs Lektionen behandelt werden konnten, musste der Magister anschliessend noch andere Bücher wählen. Die Akten enthalten somit nur einen Ausschnitt des tatsächlichen Vorlesungsbetriebes. Der grössere Teil der Vorlesungen, die die Magister tatsächlich gehalten haben dürften, ist in den Akten nicht aufgeführt.39 Trotzdem zeigen die Akten deutlich, dass die Magister vor allem jene Bücher wählten, die in den Statuten für einen akademischen Grad gefordert wurden. Diese Bücher wurden fast jedes Jahr von mindestens einem Magister gewählt. Bücher hingegen, die für einen akademischen Grad nicht gehört werden mussten, wurden eher selten ordentlich gelesen, und zwar kam es offenbar darauf an, ob diese in den Statuten überhaupt Erwähnung gefunden haben. Wenn die Bücher, obwohl sie für einen akademischen Grad nicht erforderlich waren, trotzdem in den Statuten genannt wurden und sogar das Kolleggeld festgelegt wurde, wurden solche Bücher, wie die ‚Politik‘, die ‚Oekonomik‘ oder ‚De consolatione philosophiae‘ von Boethius, in unregelmässigen Abständen immer wieder gelesen. Bücher aber, die in den Statuten überhaupt nicht genannt werden, wie der ‚Liber de pomo‘40 oder ‚De planctu naturae‘41 von Alain von Lille und viele andere, wurden nur ganz vereinzelt ordentlich gelesen. Daran änderte auch der nach der Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzende Humanismus an der Universität Wien recht wenig.42 Nur selten wählten die Magister andere Bücher, so dass das Vorlesungsprogramm an der Wiener Artistenfakultät bis zum Ende des 15. Jahrhunderts eine geradezu verblüffende Konformität aufweist.43
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Vgl. unten Anm. 52. Dazu Uiblein 1995 [Anm. 32], S. 114f. Die Ansicht Aschbachs, dass jeder Magister nur eine Vorlesung im Jahr gelesen habe, trifft nicht zu, wie Uiblein anmerkt, doch muss dann gefragt werden, wie (und ob) die Verteilung des Lehrstoffs im Laufe des Jahres geregelt wurde, denn in den Akten ist nur recht selten nach dem 1. September die Zuteilung eines anderen Buches vermerkt. 40 Dieses Buch wählte z.B. Johannes Maynberger de Ratispona am 1. September 1459. 41 Vgl. Anm. 84. 42 In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts lasen einige Magister Werke, die in der ersten Hälfte nie gelesen wurden. So las z. Bsp. Magister Nicolaus de Rudolfswerd im Jahre 1490 Terenz oder ein Jahr später las Magister Wilhelm Puellinger ex Patavia die ‚Elegantiae‘ von Agostino Dati (1420–1478). Doch blieben solche Veranstaltungen Ausnahmen, wie es auch früher in der ersten Hälfte des 15. Jhs. Ausnahmen gab. 43 Noch seltener sind Magister wie Georg von Peuerbach (1423–1461), der eine 39
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Die ‚Ethik‘ war seit den Anfängen der Universität sicher bis Ende des 15. Jahrhunderts fest im Lehrplan verankert und wurde jedes Jahr mindestens von einem Magister gelesen.44 Häufig lasen auch mehrere Magister gleichzeitig die ‚Ethik‘, so dass die Aussage von Gauthier, dass die Magister in Wien „se rivalisent d’ardeur à expliquer l’Éthique“,45 tatsächlich sehr zutreffend ist. Im Jahre 1401 erhielten erstmals zwei Magister (Petrus de Pulka und Conradus Seglauer) gleichzeitig die Erlaubnis, die ‚Ethik‘ zu lesen (vgl. Anhang B). Später, als die Anzahl der lesenden Magister immer mehr zunahm, wählten bis zu vier (1448, 1455, 1460, 1461), fünf (1450, 1452, 1465, 1466), sechs (1476), ja bis acht Magister (1463) gleichzeitig die ‚Ethik’. Las ein Magister die ersten sechs Bücher, dann las er während 30 Wochen, viermal die Woche jeweils ein Kapitel aus der ‚Nikomachischen Ethik‘. Die ‚Ethik‘ war mit insgesamt 120 Vorlesungen (lectiones) dasjenige Buch, welches in Wien am ausführlichsten behandelt wurde, länger und ausführlicher noch als die ‚Metaphysik‘, die ‚Parva logicalia‘ und die ‚Physik‘ (mit je 104 Lektionen).46 Da das Schuljahr am 14. Oktober begann und bis zum 11. Juli des folgenden Jahres dauerte, erstreckte sich ein akademisches Jahr in Wien – Ferien an Weihnachten, Ostern und Pfingsten mit eingerechnet – über 38 Wochen. Die ‚Ethik‘ war somit in Wien das einzige Werk, das über ein volles akademisches Jahr gelesen wurde. Der Bakkalar musste aber nach den Statuten nicht nur Vorlesungen, sondern auch Übungen besuchen. An der Fakultätssitzung vom 14.
für Wien ganz außergewöhnliche Auswahl traf. Peuerbach las von 1454 bis 1461, und zwar erhielt er am 1. September 1454 quartum Eneis Virgili (AFA III, f. 74v), am 1. September 1456 Satyras Juuenalis (f. 97r), am 1. September 1458 ein Orarium (f. 117r) und am 1. September 1460 wählte Magister Georius de Pewrbach Eneyden Virgilj (f. 136r). Wie außergewöhnlich die Auswahl der Bücher des berühmten Astronomen und Humanisten war, zeigt die traditionelle Wahl seiner Kollegen: im Jahre 1454 war (AFA III, f. 74r–v) Georg von Peuerbach der einzige von 79 Magistern, der ein anderes Buch als eines aus der Liste der 32 Bücher, die im Jahre 1449 für den Unterricht bestimmt wurden, wählte. Alle anderen hielten sich an das ganz traditionelle Lehrprogramm, das schon seit den Statuten von 1389, wenn nicht seit den ersten Jahren nach der Gründung der Universität bestand! 44 Ich stütze mich auf Fakultätsakten AFA III, die bis 1497 reichen. Wie sich der Lehrplan in den folgenden Jahrzehnten des frühen 16. Jahrhunderts veränderte, habe ich nicht untersucht. 45 Vgl. Gauthier [Anm. 1], S. 139. 46 AFA III f. 17r–v (f. 17r: Ethicorum per 30 septimanas adminus 120 lectiones) und Aschbach [Anm. 31], S. 352 Anm. 1 (hier ist zu präzisieren, dass die Vetus ars während nur 16 Wochen bzw. 64 Vorlesungen zu behandeln war und nicht während 104, wie Aschbach schreibt).
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April 1449 wird im Protokoll festgehalten, dass Übungen zur ‚Ethik‘, ‚Physik‘, ‚De anima‘, ‚De generatione et corruptione‘, ‚Vetus ars‘, ‚Priorum‘, ‚Posteriorum‘ und den ‚Parva logicalia‘ nach dem lobenswerten Brauch stattfinden sollen.47 An der jährlichen Fakultätssitzung an St. Aegidien wurde nur selten ausdrücklich erwähnt, ob ein Magister auch beabsichtigte, Übungen anzubieten.48 Bezüglich der Übungen, die immer wieder als besonders wichtig für das Studium hervorgehoben werden, sind die Angaben in den Akten unzureichend.
Das ‚Vorlesungsverzeichnis‘ an der Wiener Artistenfakultät im akademischen Jahr 1438–39 Die Statuten der Wiener Artistenfakultät legten für die Promotionen zum Bakkalar oder zum Lizentiat genaue Anforderungen fest. Selbstverständlich nahm der Besuch von Vorlesungen und Übungen für das Erlangen eines akademischen Grades eine zentrale Rolle ein. Der Scholar musste mehrere Bücher zur Grammatik und Rhetorik vollständig gehört haben:49 das erste und zweite Buch des ‚Doctrinale ( primam et secundam partem Doctrinalis),50 den zweiten Teil des ‚Graecismus‘
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AFA III., f. 17v. Der Eintrag des Dekans Magister Stephan Bruck am 1. September 1459 scheint eine dieser Ausnahmen zu sein, wenn er bei vier Magistern, die in diesem Jahr beabsichtigten, die ‚Ethik‘ zu lesen, vermerkt, dass drei davon auch die Erlaubnis erhielten, Übungen abzuhalten. Als vierter von 89 Magistern wählte in diesem Jahr Magister Seyfridus von Heilbronn, der seit 1437 an der Artistenfakultät lehrte und erhielt die Erlaubnis, die ‚Ethik‘ mit Übungen zu lesen (libros Ethicorum cum exercicio); als zehnter Magister in der Reihenfolge wählte Magister Andreas von Schärding, der seit 1441 als Magister regens bezeugt ist, und erhielt ebenfalls die Erlaubnis, die ‚Ethik‘ mit Übungen durchzuführen. Sein Kollege Magister Jacob von Fledniz, der zusammen mit Andreas im Jahre 1441 promoviert wurde und im selben Jahr als Magister anfing zu lesen, wählte nur das 5. Buch (quintum li. Ethicorum), ohne dass vom Dekan vermerkt wurde, ob er auch beabsichtigte, zu diesem Buch Übungen zu veranstalten. Doch der nächstfolgende Magister, Magister Johannes Harrer von Heilbronn, der seit 1442 las, erhielt wiederum die ‚Ethik‘ mit Übungen. (AFA, f. 126r/v); vgl. auch die Einträge in den Jahren 1471 und 1476. 49 Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 235–6: Tit. VII: De promovendis ad gradum baccallariatus. Anstatt des ‚Doctrinale‘ [Anm. 50] oder des ‚Graecismus‘ [Anm. 51] wurde auch häufig ‚Donatus‘ – anscheinend meistens der ‚Donatus minor‘ – gewählt, wobei Priscian sich in Wien nicht durchsetzen konnte und nur vereinzelt gelesen wurde. 50 Gemeint ist das ‚Doctrinale puerorum‘ von Alexander de Villa Dei; Das Doctrinale des Alexander de Villa-Dei: kritisch-exegetische Ausgabe mit Einleitung, Verzeichniss der Handschriften und Drucke nebst Registern, bearb. von Dietrich Reichling, Berlin 1893 (Monumenta Germaniae paedagogica 12). 48
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(secundam partem Grecismi)51 und irgendein Buch zur Rhetorik (unum librum in rhetorica).52 Ferner mussten an einer Universität mit mindestens drei lehrenden Magistern Vorlesungen einer Reihe von Büchern zur Logik und zur Naturphilosophie besucht werden. Gehört werden mussten: die ‚Summulae Petri Hyspani‘,53 ferner ‚Suppositiones‘, ‚Ampliationes‘ und ‚Appellationes‘, ‚Obligationes‘, ‚Insolubilia‘, ‚Consequentias‘, die häufig zusammen ‚Parva logicalia‘ genannt werden.54 Die Logik wurde also keineswegs ausschliesslich von Aristoteles beherrscht. Die Logik von Aristoteles war aber trotzdem für alle Scholaren verpflichtend. So mussten alle logischen Werke des Philosophen (ausser der ‚Topik‘) für das Bakkalaureat studiert werden: d.h. die ‚Ars Vetus‘, die ‚Erste‘ und die ‚Zweite Analytik‘ (‚Priorum‘ und ‚Posteriorum‘), die ‚Sophistischen Widerlegungen‘ (‚Elencorum‘). Zum Pensum eines Scholaren gehörten auch die aristotelischen Schriften zur ‚Physik‘ und zu ‚De anima‘. Was schliesslich das traditionelle Quadrivium betrifft, waren die Anforderungen für einen 51 Das heißt der ‚Graecismus‘ des Eberhard von Béthume, vgl. Eberhardi Bethuniensis Graecismus. Ad fidem librorum manu scriptorum recensuit, lectionum varietatem adiecit [. . .] Ioh. Wrobel, Vratislaviae 1887 (Corpus grammaticorum medii aevi 1). Dazu neuerdings die umfangreiche Studie von Anne Grondeux, Le Graecismus d’Évrard de Béthune à travers ses gloses. Entre grammaire positive et grammaire spéculative du XIIIe et XIVe siècle, Turnhout 2000 (Studia Artistarum 8). 52 Die vage Formulierung erlaubte es, verschiedene Bücher zu wählen, doch bevorzugten die Magistri regentes offensichtlich die ‚Summa Iovis‘, die ‚Nova poetria‘ von Geoffroy de Vinsauf oder den ‚Laborintus‘ von Eberhard dem Deutschen (vgl. Edmond Faral, Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècles, Paris 1924, [Nova poetria] S. 194–262, [Laborintus] S. 336–77). Die ‚Summa Iovis‘ ist noch nicht ediert und noch kaum erforscht, obwohl das kleine Werk in Wien wahrscheinlich häufiger noch als die ‚Ethik‘ gelesen wurde. Die besten Informationen zu diesem Traktat findet man im ‚Verfasserlexikon‘ [Lit.-Verz.] unter der Rubrik: ‚Iuppiter‘ (Bd. VII, S. 429–30 [F.J. Worstbrock]). Die ‚Rhetorik‘ von Aristoteles wurde im 15. Jh. nur selten gewählt (z.B. 1437: Nicolas von Grecz; 1438: Stephanus de Ebenburga; 1458: Conrad Selder; 1549: Jacob von Wuldersdorf ). Bei all diesen Magistern wurde die Aristotelische ‚Rhetorik‘ erst am Ende ihrer Lehrtätigkeit gewählt, wobei die oben genannten kleinen Traktate eher jüngeren Magistern zugeteilt wurden. 53 Vgl. Peter of Spain (Petrus Hispanus Portugalensis), Tractatus called afterwards Summule logicales. First Critical Edition from the Manuscripts with Introduction by L.M. de Rijk, Assen 1972. 54 Besonders beliebt waren die kleinen logischen Traktate von Marsilius von Inghen, vgl. Marsilius of Inghen, Treatises on the Properties of Terms. A First Critical Edition of the Suppositiones, Ampliationes, Appellationes, Restrictiones and Alienationes with Introduction, Translation, Notes and Appendices, Dordrecht [u.a.] 1983 (Synthese Historical Library. Texts and Studies in the History of Logic an Philosophy 22); und die ‚Obligatoria‘ von Johann von Holland, die fast jedes Jahr, meistens mehrfach gelesen wurde, vgl. John of Holland, Four Tracts on Logic (Suppositiones, Fallacie, Obligationes, Insolubilia), Nijmegen 1985 (Artistarum 5).
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Scholaren eher gering. Er musste nur kleinere Werke gehört haben. Namentlich erwähnt wird ein Traktat, der schlicht ‚Sphera‘55 genannt wird, der ‚Algorismus‘56 und das erste Buch von Euklid.57 Neben den Vorlesungen musste ein Scholar auch Übungen besuchen, und zwar zur ‚Ars vetus‘ und zur ‚Ersten Analytik‘, zu den üblichen Fragen, wie die Statuten anmerken: Item talis debet stetisse particulariter in exercitiis et a principio usque ad finem continuasse in questionibus omnibus et consuetis scilicet philosophorum, Veteris artis atque Priorum [. . .].58 Für das Lizentiat waren die Anforderungen keineswegs einfacher.59 Vorausgesetzt wurden natürlich alle Bücher, die für das Bakkalaureat geprüft wurden. Dazu kamen Bücher, die der Bakkalar an öffentlichen Studien mit mindestens drei lehrenden Magistern gehört haben musste. Gehört werden mussten Vorlesungen zu mehreren aristotelischen Werken der Naturphilosophie: ‚De celo et mundo‘, ‚De generatione et corruptione‘, ‚Meteora‘, und die ‚Parua naturalia‘, ferner Bücher, die einem bestimmten Fach des Quadriviums zugeordnet werden können: die ‚Theorica planetarum‘,60 fünf Bücher von Euklid,61 die
55 In den Akten auch häufig Sphera materialis oder Tractatus de spera materiali genannt. Gemeint ist der ‚Tractatus de sphaera‘ von Johannes de Sacrobosco († um 1250), ediert von Lynn Thorndike, The Sphere of Sacrobosco and its commentators, Chicago 1949. 56 In den Akten steht meistens Algorismus de integris, seltener Algorismus de minutiis. Gemeint ist die arithmetische Schrift ‚Algorismus vulgaris‘ oder ‚De arte numerandi‘ von Johannes von Sacrobosco, das verbreitetste arithmetische Lehrbuch des Mittelalters über die Darstellung der Zahlen mit Hilfe der indisch-arabischen Ziffern und über das Rechnen mit ihnen. Die Schrift wurde ediert von Maximilianus Curtze, Petri Philomeni de Dacia in Algorismum vulgarem Johannis de Sacrobosco Commentarius, una cum Algorismo ipso, Hauniae 1897, S. 1–19; Fritz S. Pedersen, Petri Philomenae de Dacia et Petri de S. Audomaro opera Quadrivalia, Hauniae 1983, S. 174–201 (Corpus philosophorum Danicorum Medii Aevi X/1). 57 Damit sind die ‚Elemente‘ von Euklid gemeint, wobei nicht klar ist, welche Übersetzung oder Bearbeitung die Wiener Artisten benutzten. Die am weitesten verbreitete Übersetzung war Adelard II (eine Überarbeitung der frühesten Übersetzung von Adelard von Bath, die wahrscheinlich auf Robert von Chester zurückgeht, vgl. Robert of Chester’s (?) Redaction of Euclid’s Elements, the so-called Adelard II Version, hg. von H.L.L. Busard und M. Folkerts, 2 Bde., Basel [u.a.] 1992; vgl. auch die Vermutungen von Lhotsky [Anm. 24], S. 113, die aber nicht zu überzeugen vermögen. 58 Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 236. 59 Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 242–244: Titulus XIV. De baccallariis presentandis ad licentiam in artibus. 60 Gemeint ist das astronomische Traktat von Gherardo da Sabbioneta; vgl. Theorica planetarum Gerardi, edited from 14 copies by Francis J. Carmody, Berkeley 1942. 61 Vgl. Anm. 57.
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‚Perspectiva communis‘,62 ein Traktat über Proportionen (aliquem tractatum de proportionibus),63 eines über ‚De latitudinibus formarum‘ (aliquem de latitudinibus formarum),64 ein Werk zur Musiktheorie (aliquem librum de musica)65 und eines zur Arithmetik (aliquem in arithmetica). Vervollständigt wurde dieses Studienprogramm durch drei aristotelische Schriften, nämlich durch sechs Bücher aus der ‚Nikomachischen Ethik‘, die ‚Metaphysik‘ und die ‚Topik‘. Wie schon als Scholar musste der Bakkalar mehrere Übungen besucht haben und mehrere Werke des Aristoteles in privato diskutiert haben. Dazu zählten Fragen
62 Welche Schift über die Optik gelesen wurde, ist mir nicht bekannt. Da Johannes Peckham ein Werk schrieb, das auch ‚Perspectiva communis‘ genannt wurde, nimmt Lhotsky an, dass es sich um dieses Werk handelte; vgl. John Pecham and the science of optics: Perspectiva communis. Edited with an introd., English translation, and critical notes by David C. Lindberg, Madison 1970. Meistens steht jedoch in den Akten, dass die Perspectiva gewählt wurde, was nicht ausschließt, dass auch Werke von anderen Autoren, die diesen Gegenstand behandelten, gelesen wurden. Am 31. August 1399 erhielt jedenfalls Magister Hermannus de Waltsee Perspectivam communem Allacen (vgl. Uiblein 1968 [Anm. 32], S. 171 Z.5). Er erhielt also die Erlaubnis, ‚De aspectibus‘ von Ibn al Haithams (Alhazens) zu lesen; vgl. Opticae thesaurus: Alhazeni Arabis libri septem, nunc primum editi, eiusdem liber De crepusculis et nubium ascensionibus, item Vitellionis Thuringopoloni libri X omnes instaurati, figuris illustrati et aucti, adiectis etiam in Alhazenum commentariis, Neuauflage des Drucks von Basel 1572 von D.C. Lindberg, New York 1972. 63 Häufig wird in den Akten geschrieben, dass die Proportiones breves Bragwardini verteilt wurden. Es handelt sich somit um den ‚Tractatus de proportionibus‘ von Thomas Bradwardine (* um 1290 † 1349); vgl. Thomas of Bradwardine, his Tractatus de proportionibus; its significance for the development of mathematical physics, edited and translated by H. Lamar Crosby, Jr. Madison, University of Wisconsin Press, 1955. Der Text liegt auch in zahlreichen älteren Drucken vor, z.Bsp.: Tractatus proportionum Alberti de Saxonia. Tractatus proportionum Thome Bradvardini. Tractatus proportionum Nicholai Horen, Parisius: de Marnef, (s.d.). Da die Statuten sich nicht auf ein bestimmtes Werk festlegten, war es auch möglich, dass in Wien ein Traktat über denselben Gegenstand von anderen Autoren, wie Albert von Sachsen oder Nicole Oresme, gewählt wurde. 64 Wahrscheinlich ist damit der Traktat gemeint, der früher Nicole Oresme zugeschrieben wurde, aber von Jacobus de Sancto Martino in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Süditalien verfasst wurde. Edition von Thomas Smith, PhD Thesis: Univ. of Wisconsin, 1954. Der Text existiert auch in zahlreichen älteren Drucken, wie: Quaestiones super tractatum de latitudinibus formarum, Padua 1486 oder Venedig 1505. Teilweise ediert von H. Wieleitner, Der Tractatus de latitudinibus formarum des Oresme, in: Bibliotheca Mathematica, 3. Folge, Bd. 13 (1912–1913), S. 114–145; teilweise engl. Übers. von C.G. Wallis, An Abstract of Nicholas Oresme’s Treatise on the Breadths of Forms, Annapolis 1941. 65 Gelesen wurde meistens die Musica Muris. Gemeint ist damit die ‚Musica speculativa‘ von Johannes de Muris, vgl. Christoph Falkenroth, Die Musica speculativa des Johannes de Muris: Kommentar zur Überlieferung und kritische Edition, Stuttgart 1992 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 34).
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zur ‚Ars vetus‘, zur ‚Ersten‘ und ‚Zweiten Analytik‘, zur ‚Physik‘, ‚De generatione‘, ‚De anima‘ und zu fünf (von zehn) Büchern der ‚Ethik‘: Item presentandus etiam debet stetisse in aliqua universitate cum magistris in exercitiis particularibus, in questionibus Veteris artis consuetis disputari communiter Priorum et Posteriorum, Physicorum, De generatione, De anima et questiones quinque librorum Ethicorum Aristotelis [. . .] Die Protokolle der Fakultätssitzungen an St. Aegidien werden auf diesem Hintergrund besser verständlich. Als Beispiel wähle ich die Fakultätssitzung vom 1. September 1438. [‚Vorlesungsverzeichnis‘ für das akademische Jahr 1438–9] In die sancti Egidij congregabatur facultatis per juramentum ad prouidendum de magistro disputaturo de quolibet anno presenti. Et electus fuit Magister Wenczeslaus de Mirobicz. Secundus articulus ad recipiendum duos scolares proxime examinatos qui precedenter cum aliis presentati non fuerunt propter eorum absentiam. Itaque presentati sunt et recepti Simon Weissempacher de Lewbersdarf, Petrus de Augusta. Item prefatus Petrus exauditus est in petitione superhabendo habitu. Supplicatio vero pro florenis eiusdem conmissa est decano et receptorj iuxta conclusionem facultatis. Data est regencia Magistris Tidmanno de Kalmaria, Chünrado Cadossis de Amerkingen. Item exauditus est supplicatio Magistri Stephani de Prukk petentis licentiam absencie secundum communem formam cuidam baccalaurio nomine Rudolfus de Ror. Alter articulus erat ad distribuendum libros ordinarie legendos. Receperunt autem magistri hos ordinarios: Magister Stephanus de Egenburga libros Rethoricorum Aristotelis, Magister Judocus de Hailprunna De anima magister, M. Simon de Asparn Yconomicorum, M. Johannes de Tythmaning libros Phisicorum Aristotelis, magister Judocus Gartner libros Elencorum, Magister Nicolaus de Auln Parua logicalia, M. Thomas de Wuldersdorf libros Ethicorum, Magister Christianus de Hürben Elencorum, M. Johannes de Dinkelspühel Veterem artem, Magister Wolfgangus de Chnütelfeld libros De anima, M. Georius de Walse De celo et mundo, M. Wolfgangus de Stain Parua naturalia, M. Leonardus de Hallstat Musicam Muris, M. Andreas de Perchtolsdorf libros Posteriorum, M. Liethardus De generacione et corrupcione, M. Johannes de Mistelpach De celo et mundo, M. Chünradus Mülner de Nürnberga libros Priorum Aristotelis, M. Blasius Posteriorum, M. Johannes de Chünighofen Parua naturalia, M. Johannes de Wisenstain Obligatoria Holandrini, M. Bero de Ludosia Veterem artem, M. Georius Tüdel secundum tractatum et tertium Petri Hyspani, M. Martinus Hämerl Speram materialem, M. Georius de Pabenberga Parua naturalia, Magister Johannes de Dinkelspühel Obligatoria Holandrini, Magister Georius de Herczogenburga libros De generatione et corruptione, M. Leonardus de Schlüsselueld Parua naturalia, M. Seifridus secundum librorum Grecismi, M. Wolfgangus de Egenburga Perspectiuam communem, M. Hermannus de Chiczing Parua naturalia, M. Stephanus de Prukch Methafisicam, Magister Nicolaus Mäkkel Physonomiam Aristotelis, M. Nicolaus de Argentina Summam Iouis, M. Tidmannus de Kalmaria Latitudines formarum, M. Johannes de Prawnaw Algorismum de integris, M. Paulus de Wolfsperg libros
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Elencorum, M. Judocus de Nürnberga De generatione et corrupcione, Magister Chünradus de Chrälshaim primam partem Alexandri, Magister Chünradus Sälder secundam partem Alexandri, Magister Jacobus de Ulma terciam partem Alexandri, M. Johannes Fortis libros Posteriorum, Magister Martinus de Chlosenburg terciam partem Alexandri, Magister Martinus de Hallis Theoricas planetarum, Magister Andreas de Gräcz secundum et tertium tractatus, M. Johannes Sansensund de Nürnberga secundam partem Alexandri, M. Leonhardus de Perching secundam partem Grecismi, M. Johannes Hübär primum Metheororum, Magister Johannes Chalb libros Metheororum, Magister Chünradus de Emerkchingen Donatum minorem, Magister Petrus de Nürnberga Algorismum de integris, M. Petrum de Nouoforo secundum partem Alexandri, Magister Georius de Rotenburg libros De anima, magister Leopoldus de Monaco secundum et tertium tractatus, M. Johannes de Strawbinga quartum tractatum Petri Hyspani. (AFA II, f. 132r)
Wie gesagt, musste der Dekan nach den Statuten eine Sitzung an St. Aegidien anberaumen. Im Jahre 1438 war am 1. September Magister Johannes Grössel von Tittmaning Dekan, der wie üblich an der Sitzung vom 14. April (in festo sanctorum Tyburcij et Valeriani) gewählt wurde. Johannes Grössel lehrte schon seit 1424 als Magister regens,66 gehörte also schon zu den älteren Magistern, als er dieses Amt – wie üblich – für ein halbes Jahr übernahm.67 Eine der Pflichten des Dekans war es, die Akten nachzuführen. Das dritte und längste Traktandum dieser Sitzung behandelt die Verteilung der Bücher. In diesem Jahr entschlossen sich insgesamt 54 Magister, ordentlich zu lesen. Der amtsälteste Magister regens der Fakultät war in diesem Jahr Stephan von Eggenburg, der schon seit 1418 fast jedes Jahr las.68 Er wählte die ‚Rhetorik‘ von Aristoteles, die eher selten gelesen
66 Iohannes (Grossel) de Tittmanning erhielt an den Fakultätssitzungen vom 1. September folgende Bücher (nach AFA II): 1424 Latitudines formarum, 1425 secundum et tertium tractatus Petri Hyspani, 1426 Priorum, 1427 libros Posteriorum, 1428 De celo, 1429 tractatus Petri Hyspani et quedam alia Parva logicalia, 1430 Phisicorum, 1431 libros Metheororum, 1432 Ethicorum 1433 Metaphisicam, 1435 Veterem artem, 1437 Petri Hispani tractatus et alia Parva logicalia, 1438 libros Phisicorum Aristotelis, 1439 librum De anima, 1440 Ethicorum, 1441 De anima, 1442 novem Ethicorum, 1443 octauum librum Ethicorum, 1444 De anima, 1445 Ethicorum, 1448 De anima, 1449 libros de generatione et corruptione, 1450 Parva naturalia. 67 Johannes Grössel hat sich intensiv mit der ‚Ethik‘ auseinandergesetzt wie seine Lehrveranstaltungen zeigen, vgl. Anhang B und Anm. 56. Demzufolge erhielt Grössel fünfmal die Erlaubnis, die ‚Ethik‘ ordinarie zu lesen. 68 Stephan von Egenburg erhielt an den Fakultätssitzungen von St. Aegidien folgende Bücher: 1418 Algorismi de integris, 1419 Priorum, 1420 Thopicorum, 1421 libros Elencorum, 1422 Metheororum, 1423 Algorismum de integris, 1424 Veterem artem, 1425 Metaphisicam Aristotelis, 1426 Parva naturalia, 1427 De anima Aristotelis, 1428 Boethium De consolatione philosophiae, 1429 Politicorum, 1430 tractatus Petri Hyspani, 1431 libros Phisicorum, 1432 Parva naturalia, 1433 Ethicorum, 1434 De anima, 1437 De anima, 1438 libros Rhetoricorum.
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wurde. Der Dekan, der sich häufig das Recht ausnahm, als erster zu wählen, wählte in diesem Jahr gemäss seiner Regenz als vierter, und zwar die ‚Physik‘ von Aristoteles. Das Vorlesungsverzeichnis enthielt in diesem Jahr die üblichen Bücher. Besondere Werke wurden nicht vergeben ausser der ‚Physionomia‘,69 die sehr selten gewählt wurde. Auffallend in diesem Jahr ist eher, dass einige Werke, die sonst meistens gelesen wurden, nicht auf der Liste stehen. So fehlen z.B. die ‚Topik‘ und vor allem mehrere Bücher, die den mathematischen Wissenschaften bzw. dem Quadrivium zugeordnet werden können, wie die ‚Proportiones breves‘ von Thomas Bradwardine, die ‚Arismetrica communis‘ und die fünf Bücher von Euklid. Auch die ‚Politik‘ von Aristoteles wurde nicht gewählt. Andererseits wurden viele Bücher dreimal und die ‚Parva naturalia‘ sogar fünfmal gewählt. Die Erlaubnis, die ‚Ethik‘ zu lesen, wurde in diesem Jahr nur Thomas von Wuldersdorf erteilt, der als siebter wählen durfte.70 Ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass ein Magister nach dem gewählten Buch, wenn dies fertiggelesen war, noch andere Bücher lesen musste, um als Magister regens zu gelten. Dies gilt tatsächlich für die meisten Bücher, wohl mit Ausnahme der ‚Ethik‘, die mit 120 Vorlesungen ein ganzes akademisches Jahr ausfüllte. Das heisst also, dass neben Thomas Wölfel wahrscheinlich kein anderer Magister im Laufe des Jahres noch die ‚Ethik‘ las.
69 Gemeint ist die pseudo-aristotelische Schrift mit diesem Titel. Ediert von Richard Foerster, De translatione latina Physiognomonicorum quae feruntur Aristotelis, Kiliae, 1884; ders., Scriptores physiognomonici graeci et latini, Lipsiae, 1893 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Bd. 1, S. 5–91. 70 Thomas von Wuldersdorf las seit 1424 während 33 Jahren und wählte jeweils an St. Aegidien folgende Bücher: 1424 Posteriorum, 1428 De anima, 1429 Priorum, 1430 Posteriorum, 1431 De generatione et corruptione, 1432 libros De celo et mundo, 1433 Veterem artem, 1435 Proportiones breves Bragwardini, 1437 De anima, 1438 libros Ethicorum, 1439 Parva logicalia, 1440 libros Phisicorum, 1441 Parva naturalia, 1442 libros Ethicorum, 1443 De anima, 1444 Posteriorum, 1445 De anima, 1448 libros Posteriorum, 1449 dominus reverendus in theologia Magister Thomas licentiatus de Wülderstorff (recepit) libros de celo et mundo, 1450 libros Methaphisice, 1451 Parva naturalia, 1452 Posteriorum, 1454 libros De anima, 1456 De generatione et corruptione, 1457 Parva naturalia.
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Der Ethikunterricht im akademischen Jahr 1438–9 an der Wiener Artistenfakultät Die Statuten und die Akten vermitteln uns ein recht lebendiges Bild des Universitätsbetriebs, doch wissen wir noch nicht, ob die Bestimmungen auch befolgt wurden. Diese Unsicherheit kann zum Teil durch die Akten behoben werden, doch bleiben viele Fragen ungeklärt. Wir wissen immer noch nicht, ob eine in den Akten bewilligte Vorlesung auch tatsächlich stattgefunden hat, ob der Magister neben der Vorlesung auch Übungen anbot, wie lange die Vorlesung dauerte etc. Gerne möchte man wissen, was in diesen Vorlesungen tatsächlich gelehrt wurde und wie eine einzelne Veranstaltung ablief. Vor allem die Übungen, über die in den Statuten und Akten nur wenige Informationen gegeben werden, bleiben in ihrem Ablauf unklar. Diese Fragen könnten vielleicht beantwortet werden, wenn wir neben den Statuten und Akten noch zusätzliche Quellen prüfen, die uns konkret über den Ablauf einer bestimmten Vorlesung oder Übung berichten. Meiner Ansicht nach können solche Fragen zum Teil durch die überlieferten Kommentare und vor allem durch direkte Mitschriften von Vorlesungen oder Übungen beantwortet werden. Im Folgenden möchte ich diesen Ansatzpunkt anhand der Ethikkommentare, die in Wien in den Jahren 1438–9 entstanden sind, entwickeln. Es wird also weniger die Interpretation der aristotelischen ‚Ethik‘ im Vordergrund stehen als direkte Mitschriften, die als Ergänzung zu den Statuten und Akten herbeigezogen werden, um den konkreten Ablauf einer universitären Veranstaltung zu beschreiben. Das heisst natürlich nicht, dass die philosophische Untersuchung dieser Kommentare für die Interpretation der aristotelischen ‚Ethik‘ ganz aufgegeben werden soll, sie soll nur zurückgestellt werden, da es mir wichtig erscheint, zuerst den institutionellen Rahmen besser zu verstehen, um dann die überlieferten Kommentare in ihrem Kontext lesen zu können. Die grosse Masse der mittelalterlichen Kommentare zum Corpus Aristotelicum – es dürften ein paar tausend überliefert sein – sind sicher eine nahezu unerschöpfliche Quelle für das Verständnis der aristotelischen Philosophie im Mittelalter, wenn wir unter ihnen auch nur wenige Werke finden, die zu Recht zu den Meisterwerken der Philosophiegeschichte gehören. Die meisten Aristoteleskommentare sind aber von einem philosophischen Standpunkt aus, für den nur originäre philosophische Leistungen zählen, völlig belanglos. Sie stützen
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sich auf frühere Kommentare, paraphrasieren und schreiben zum Teil wörtlich ab. Die mittelalterlichen Aristoteleskommentare sind aber auch eine bedeutende Quelle für das konkrete Studium an den mittelalterlichen Universitäten. Der grösste Teil der Kommentare ist direkt aus dem Unterricht hervorgegangen. Doch bezeugen nicht alle Handschriften auf gleiche Weise ihre Entstehung aus der Praxis des Unterrichts, die Verschriftlichung des gesprochenen Wortes. Die meisten Handschriften, die wir besitzen, sind keine direkten Mitschriften, sondern spätere Abschriften, das heißt Kopien, die verschiedene Redaktionsstufen durchlaufen haben. Bei den berühmtesten Kommentaren von Autoren wie Thomas von Aquin, Albert von Köln, Boethius von Dacien, Johannes Buridan und anderen, lassen sich anhand der überlieferten Handschriften nur wenige genaue Informationen darüber gewinnen, wie ein Buch tatsächlich gelesen wurde, wie der mündliche Vortrag oder die Diskussion einer Frage schriftlich festgehalten wurde und wie schliesslich diese direkten Mitschriften nachträglich vom Meister selbst oder seinen Schülern redigiert und zur Abschrift freigegeben wurden. Die ursprüngliche Form der in der Vorlesung entstandenen Mitschriften dürfte sich durch uns unbekannte Stufen der Redaktion und durch Abschriften so stark verändert haben, dass die Spuren, die auf den tatsächlichen Ablauf einer Veranstaltung hindeuten, weitgehend verwischt worden sind. Aus den Anfängen der Universität, also dem 13., ja sogar dem 14. Jahrhundert, sind anscheinend nur ganz wenige solcher direkten Mitschriften erhalten geblieben.71 Aus solchen direkten Mitschriften dürften jedoch wertvolle Informationen über den konkreten Ablauf einer Vorlesung, Disputation oder Übung erschlossen werden können. Wenn ich mit meiner Annahme richtig liege, dass solche Kolleghefte des 13. und 14. Jahrhunderts sehr selten sind, so bestehen doch viele Hinweise, dass zahlreiche direkte Mitschriften des 15. Jahrhunderts noch erhalten sind. Die Wiener Ethikkommentare sind, gerade weil sie ausserhalb von Wien wahrscheinlich keinen Einfluss hatten und häufig von einer
71 Vgl. Christoph Flüeler, From Oral Lecture to Written Commentaries: John Buridan’s Commentaries on Aristotle’s Metaphysics, in: S. Ebbesen & R.L. Friedman (eds.), Medieval Analyses in Language and Cognition. Acts of the Symposium The Copenhagen School of Medieval Philosophy, January 10–13, 1996, Copenhagen 1999 (Historisk-filosofiske Meddelelser 77), S. 497–521.
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schier unlesbaren Hand geschrieben wurden, für unsere Fragestellung besonders aufschlussreich. Es handelt sich dabei nicht um Kommentare, die vom Magister sorgfältig überarbeitet und zur Abschrift freigegeben wurden, sondern es finden sich darunter Mitschriften, die direkt im Unterricht entstanden sind und die mündliche Form der Veranstaltung, soweit dies bei einer Reportation möglich scheint, wiedergeben. Fünf Handschriften mit Ethikkommentaren aus der Wiener Artistenfakultät sind ganz oder teilweise im Jahre 1439 geschrieben worden (vgl. Anhang A.8–12). Sie weisen zwar viele Gemeinsamkeiten auf, überliefern aber nicht den gleichen Text. Die Münchner Handschrift BSB, Clm 19673 (A.8) enthält die Reportation des Bakkalaren Augustinus von Weilheim der Übung von Magister Thomas Wölfel von Wuldersdorf. Die Handschrift der Stiftsbibliothek St. Florian, Stiftsbibliothek. XI, 636 (A.9) enthält die Reportation des Bakkalaren Symon (Simon). Wie noch gezeigt werden soll, enthalten diese beiden Kommentare zwei verschiedene direkte Mitschriften der gleichen ‚Ethik‘-Übung. Die restlichen drei Handschriften (A.10–12) sind alle im Sommer und im Herbst des Jahres 1439 entstanden, grob gesagt nach dem Ende des Ordinariums des akademischen Jahres 1438–39 und vor dem Beginn des neuen Ordinariums. Mit der Veranstaltung von Thomas Wölfel verknüpft ist sicher die Reportation von Ulrich Greymolt von Weilheim in der Münchner Handschrift BSB, Clm 19848 (A.10), die, wie am Schluss des fünften Buches (von sechs Büchern) präzisiert wird, zum Teil ( pro parte) in der Vorlesung des Magisters Thomas (Reportata magistri Thome de Bulderstorf ) mitgeschrieben wurde. Damit verwandt ist eine zweite Münchner Handschrift Clm 19668 (A.11), die wie die Reportation von Ulrich Greymolt die ersten sechs Bücher enthält und gemäss einem Kolophon vom Schreiber Wolfgang (Kydrer) von Salzburg ebenfalls in der Vorlesung reportiert wurde: Reportata sunt hec brevia in leccione per me Wolfgang de Salczburga. Bei der Münchner Handschrift Clm 19678 (A.12) schliesslich wurde der Kommentar zum zweiten Buch am Dienstag, den 22. September 1439 fertiggestellt. Jahre später vermachte derselbe aus Salzburg stammende Wolfgang Kryder diese Handschrift dem Kloster Sankt Quirin von Tegernsee.72
72 Vgl. B. Michael, der zu Unrecht annimmt, dass diesem Kommentar die Ethikvorlesung von Wolfgang Kydrer zugrunde liegt, vgl. auch Anm. 93.
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Abb. 1. Münchner Handschrift BSB, Clm 19673, f. 54r.
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Abb. 2. Münchner Handschrift BSB, Clm 19673, f. 125r.
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Abb. 3. Handschrift der Stiftsbibliothek St. Florian, Stiftsbibliothek XI, 636, f. 277v.
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Die Reportationen des Bakkalaren Augustinus von Weilheim und des Bakkalaren Symon der ‚Ethik‘-Übung des Magisters Thomas von Wuldersdorf im Jahre 1438–39 Thomas Wölfel von Wuldersdorf erhielt, wie wir gesehen haben, am 1. September 1438 von der Fakultät die Erlaubnis, im akademischen Jahr 1438–39 die ‚Ethik‘ zu lesen. Die überlieferten Reportationen belegen nun, dass Thomas tatsächlich die ‚Ethik‘ gelesen hat und neben den Vorlesungen auch Übungen veranstaltete.73 Von der ‚Ethik‘Übung des Magisters Thomas sind uns zwei direkte Mitschriften überliefert, die beide die gleiche Veranstaltung wiedergeben.74 Die beiden Mitschriften von Augustinus von Weilheim und dem Bakkalar Simon werden ausdrücklich als Mitschriften der Übungen (exercitia) bezeichnet. Die Überlieferung der Wiener Ethikkommentare scheint sogar die Vermutung nahezulegen, dass vor allem die Übungen schriftlich festgehalten wurden und von den feierlicheren Vorlesungen in den Universitätsgebäuden fast keine Reportationen überliefert sind, da fast alle Wiener Ethikkommentare nur die ersten fünf Bücher enthalten. (vgl. A.1–10 und 12–19). Thomas lehrte mehr als drei Jahrzehnte an der Artistenfakultät, war viermal Dekan, dreimal Rektor und wurde schliesslich zum Doktor der Theologie promoviert.75 Als Thomas die ‚Ethik‘ las, hatte er schon fünfzehn Jahre an der Artistenfakultät unterrichtet. Vier Jahre später las er erneut über die ‚Ethik‘ (Anhang B), wobei uns von dieser Veranstaltung keine Mitschrift überliefert ist. Es fanden insgesamt 120 Sitzungen statt. An jeder Sitzung wurde eine andere Frage diskutiert, d.h. Thomas folgte, wie andere Wiener Artisten, der ‚Tabula quaestionum‘ von Buridans Ethikkommentar. Da nun Buridan in den ersten fünf Büchern genau 120 Fragen behandelte, lässt sich die Länge der Wiener Übungen und die Beschränkung der Übungen auf die ersten fünf Bücher aus der überdurchschnittlichen
73
Vgl. oben AFA II, f. 132r; Aschbach [Anm. 31], S. 557. Es haben also nicht etwa zwei Übungen zur gleichen Vorlesung stattgefunden. Die Behauptung von Aschbach [Anm. 31], S. 73), dass an den Privatdisputationen, welche die Bakkalaren zu Hause mit ihren Scholaren abhielten, ein Bakkalar die Stelle des vorsitzenden Magisters vertrat und den Schülern die Rolle der Bakkalaren zukam, ist wohl falsch und trifft für die ‚Ethik‘ bestimmt nicht zu, da dieses Werk erst von dem der das Lizentiat erstrebte, gefordert wurde. Auch mussten Aristotelische Werke nach den Statuten immer von Magistern gelesen werden. 75 Zu seiner Lehrtätigkeit, vgl. Anm. 70. 74
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Länge des Pariser Kommentars erklären. In einem Schuljahr mit vier Sitzungen pro Woche und einer Quaestio pro Sitzung war es nicht möglich, mehr als 120 Fragen zu behandeln. So beschränkte man sich in Wien auf die ersten fünf Bücher und vernachlässigte die folgenden 91 Fragen, die Buridan den restlichen Büchern widmete; es sei denn, dass ein Magister die restlichen Bücher zum Gegenstand einer weiteren Übung machte, was nach den Statuten durchaus möglich war, aber nach den Universitätsakten nur selten bewilligt wurde.76 Die Bestimmung der Statuten, dass der Magister in den Übungen die Fragen Buridans oder die gleiche Anzahl Fragen disputieren müsse,77 findet somit eine einleuchtende Erklärung: Wichtig war, dass die Anzahl der Fragen eingehalten wurde, die in Wien nach dem Umfang von Buridans Ethikkommentar festgelegt wurde. Wollte ein Magister eine Übung auf der Grundlage eines anderen Kommentars abhalten, wäre dies möglich gewesen, er hätte aber gemäss den Statuten gleichviele Fragen diskutieren müssen. Dass es in Wien üblich war, über die ersten fünf Bücher der ‚Ethik‘ Übungen abzuhalten, aber über die ersten sechs zu lesen, bestätigt auch das Kolophon am Ende der Übung von Magister Andreas Wall von Walsheim,78 wo der Bakkalar Ulrich von Landau mitteilt: questiones quinque librorum Ethicorum Aristotelis, que dumtaxat more Universitatis Wiennensis disputantur pro baccalauriis, sex vero leguntur. (Anhang A.15). Der Bakkalar Augustinus von Weilheim,79 von dem die Münchner Reportation stammt, datiert sorgfältig Buch für Buch. Das erste Buch
76 Nach den Akten las 1432 Andreas de Weytra quatuor libros Ethicorum ultimos, 1437 Andreas Weitra ultimos quatuor libros Ethicorum, 1451 Iacobus de Wuldersdorf tres ultimos libros Ethicorum, 1452 Georgius de Giengn tres libros ultimos Ethicorum, 1452 Bero de Ludosia tres ultimos libros Ethicorum. Erhalten ist vor allem München, BSB, Clm 7479, a. 1424, der die Bücher VI–X enthält. Die Handschrift stammt möglicherweise aus Wien (A.23). 77 Item magister disputans in privato exercitio questiones Byridani aut equales ipsis in numero physicorum, habet de ipsis octo libris physicorum viginti quatuor grossos a quolibet exercitantium, ita quod non presumat plus aliqualiter extorquere. De questionibus De celo et mundo Alberti vel equalibus ipsis in numero duodecim grossos. Item de generatione decem grossos. Item Metheororum duodecim grossos. Item De anima decem grossos. Item Parvorum naturalium octo grossos. Item Metaphysice viginti grossos. Item de quinque libris Ethicorum viginti quatuor grossos. (Lhotsky [Anm. 24], S. 255). Obwohl hier nur für die ‚Physik‘ und ‚De celo et mundo‘ der Standardkommentar angegeben wird, darf man aufgrund der handschriftlichen Überlieferung der Ethikübungen davon ausgehen, dass Buridans Ethikkommentar für die Übungen eindeutig der Standardkommentar war. 78 Vgl. Anm. 86. 79 Augustinus (Ayrimsmalcz) von Weilhaim hat sich im Jahre 1435 in der Rheinischen Nation immatrikuliert (Die Matrikel der Universität Wien, 1. Band: 1377–1450,
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ist nicht datiert, aber aus den Statuten und anderen Ethikkommentaren dürfen wir schliessen, dass die Übungen mit dem akademischen Jahr, wie üblich, am 14. Oktober anfingen. Die erste Frage des 2. Buches wurde am Donnerstag, den 8. Januar 1439 diskutiert und die letzte Frage desselben Buches am Freitag, den 13. Februar, dem Tag vor dem ‚Schmalzigen Samstag‘. Die nächste Übung zur ersten Frage des 3. Buches fand am folgenden Aschermittwoch statt und die letzte Sitzung zu diesem Buch am Montag, den 4. Mai. Gleich am nächsten Tag wurde die erste Frage des vierten Buches disputiert, welches am Samstag, den 6. Juli beendet wurde. Am nächsten Mittwoch folgte dann die erste Frage des 5. Buches und die letzte Übung fand am Mittwoch, den 29. Juli 1439 statt. Augustinus datierte zusätzlich sogar einzelne Fragen, so dass wir anhand dieser Datierungen erfahren, dass an Ostern der Unterricht für zehn Tage (Sonntag, den 29. März bis Mittwoch, den 8. April) unterbrochen wurde und die Übungen um die dritte Stunde begannen. Die Übungen dauerten unterschiedlich lang, was aus der unterschiedlichen Länge der reportierten Fragen ersichtlich ist. Das fünfte Buch beendete Thomas gut zwei Wochen nach Ende des Ordinariums. Offensichtlich wurde von den Magistern verlangt, das ganze Programm durchzuführen und die Übung nicht mit dem ordentlichen Schuljahr abzubrechen. Dies ist auch verständlich, da die Bakkalaren für das ganze Programm zahlten und für die Promotion sogar schwören mussten, die ganze Übung besucht zu haben.80 Besonders aufschlussreich ist ein Vergleich der beiden Mitschriften. Der Reportator Simon (Symon), der nicht weiter identifiziert werden konnte, schloss seine Reportation zur selben Zeit wie sein Kommilitone ab, wie die Datierung am Schluss der Handschrift mit der genauen Zeitangabe zeigt: feria quarta post festum sancti Jacobi hora tercia (Anhang A.9). Die beiden Handschriften der Reportationen von Simon und
Graz [u.a.] 1956 [Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung], S. 188 [1435 I R33]), wurde 1437 Bakkalar und erhielt anfangs 1440 das Lizentiat und im gleichen Jahr den Magister. Er bekam als Magister regens folgende Bücher zugeteilt: 1441 Musica muris, 1443 Metaphysicam, 1446 De anima, 1448 Parva naturalia. 80 Vgl. z.Bsp. den Kommentar von Urban von Melk (vgl. A.6), der sogar bis zum 22. September 1430 dauerte, wobei sogar die Gründe dieser Verzögerung vermerkt werden: Leitung der Disputatio de quolibet und zahlreiche Prüfungen. Eine Verzögerung des Kurses wegen Krankheit von mindestens 12 Tagen bedauert auch der anonyme Magister in der Handschrift Wien, ÖNB, CVP, 5149 (Anhang A.7).
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Augustinus weisen deutliche Merkmale einer direkten Mitschrift auf.81 Am Anfang einer Übung ist die wirklich wenig hübsche Graphie des Bakkalaren Simon noch ziemlich lesbar, doch am Schluss der Veranstaltung, als seine Hand ermüdet war, kritzelte er nur noch flüchtig Notizen aufs Blatt. Da der Schreiber bei jeder Sitzung wieder neu ansetzte, lassen sich die Unterrichtseinheiten anschaulich anhand des Schriftzugs bestimmen. (Abb. 1–3). Die Mitschriften der Übung von Thomas Wölfel sind bestimmt keine philosophischen Meisterwerke. Es sind gewiss mittelmässige Schulschriften, wie die meisten erhaltenen Aristoteleskommentare des 15. Jahrhunderts. Dieses Urteil dürfte sich wahrscheinlich nur bestätigen, wenn die anderen Wiener Ethikkommentare von Sebold Messner von Wallsee82 (A.4), Thomas Ebendorfer de Haselbach83 (A.5), Urban von Melk84 (A.6), Jodok Weiler,85 Andreas Wall von
81 Ausführlicher habe ich diese Merkmale einer direkten Mitschrift anhand der Reportation von Buridans Metaphysikkommentar behandelt; vgl. Anm. 71. 82 Seboldus Mesner de Walse hat sich 1403 als Student bei der österreichischen Nation eingeschrieben (Matrikel: Wien [Anm. 79], S. 65 [1403 I A35]). Er las als Magister regens (wahrscheinlich) 1407 Metheororum, 1408 Perspectivam, 1409 Methaphysicam, 1410 Ethicorum, 1412 Priorum, 1413 Veterem artem, 1414 Ethicorum. 83 Der berühmte Thomas Ebendorfer hat sich 1408 immatrikuliert und erhielt als Magister folgende Bücher zu lesen: 1412 De generacione, 1413 Metheororum, 1414 Speram, 1415 tractatus Petri Hyspani, 1416 Physicorum, 1417 Parva naturalia, 1418 Veterem artem, 1419 Summam naturalium Alberti, 1420 maius volumen Prisciani, 1421 tractatus Petri Hyspani, 1422 Phisicorum, 1423 Ethicorum, 1425 Politicorum. Die Literatur zu Thomas Ebendorfer ist sehr umfangreich, doch seine erste erhaltene Schrift, sein Ethikkommentar (dazu noch sein Autograph!), wurde bisher noch nie genauer untersucht. 84 Vrbanus de Melk hat sich im Jahre 1409 immatrikuliert (Matrikel: Wien [Anm. 79], S. 77 [1409 I A23). Er ist von 1413–23 und 1426–30 als Magister regens bezeugt; vgl. das Verzeichnis der Lehrtätigkeit bei Aschbach [Anm. 31], S. 445–6. Eine Kopie von Buridans Ethikkommentar, die eine Zeit lang im Besitz von Urban war, steht heute in der Schottenbibliothek (Anhang A.32). Am 23. November 1414 erhielt er ferner auch die Erlaubnis, ‚De planctu naturae‘ von Alain de Lille an Festtagen zu lesen, vgl. Uiblein 1995 [Anm. 32], S. 436 Z. 25. 85 Nach den Universitätsakten wählte Jodok von Heilbronn an den Sitzungen von St. Aegidien folgende Bücher: 1419 secundam partem Grecismi, 1420 Donatum, 1421 Algorismum de integris, 1422 De anima, 1423 libros Priorum, 1424 Elencorum, 1425 Veterem artem, 1426 Summam Iovis, 1427 libros de generatione et corruptione Aristotelis, 1428 De generatione, 1429 secundum et tertium tractatum Petri Hyspani, 1431 Parva logicalia, 1432 libros Phisicorum, 1433 De anima, 1434 Parva naturalia, 1435 libros Priorum, 1437 Posteriorum, 1438 De anima, 1439 libros Ethycorum, 1440 sextum Ethycorum. Jodok las also die ‚Ethik‘, die ihm am 1. September 1439 (AFA II, f. 137r) zugeschrieben wurde, erst nach einer 20–jährigen Lehrerfahrung, als er schon das Lizentiat der Theologie erlangt hatte. Die Kolophone am Ende der einzelnen Werke (vgl. A.13) belegen deutlich, dass es sich nicht um eine Mitschrift der Vorlesung, sondern der Übung (exercitium) handelte. Datierungen am Ende jedes einzelnen Buches der Grazer Handschrift
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Walsheim86 (A.15), Stephanus Molitoris von Brugk87 (A.17), Andreas von Schärding88 (A.18) und weitere anonym überlieferte Kommentare (vgl. Anhang A) erforscht werden. Trotzdem würde es sich lohnen, den Ethikkommentar von Thomas Wölfel auch inhaltlich genauer zu untersuchen, da erst dadurch Unterschiede und Übereinstimmungen in den beiden Mitschriften der Bakkalaren verglichen werden könnten. Die Übungen waren gewiss secundum Buridanum, da sie dessen Fragenliste wörtlich übernommen haben. Doch strebten diese Übungen kein reines Wiederkäuen eines fast hundert Jahre alten Kommentars an, sondern vielmehr eine mehr oder weniger offene Diskussion über „gewohnte oder angekündigte Fragen“ (in questionibus consuetis seu precognitis). Obwohl Buridans Kommentar als Vorlage diente, strebte man keinen Kommentar zu Buridan an, sondern eine Diskussion von Argumenten und Behauptungen, die in erster Linie in Buridans Ethikkommentar, aber auch in anderen Kommentaren gefunden werden konnten. Dies belegen zahlreiche Verweise auf andere Autoritäten wie Thomas von Aquin, Albert oder Gerhard Odonis. Wenn aber die Übungen tatsächlich, wie in den Statuten gefordert, eine offene Disputation der Bakkalaren mit dem Magister waren: ut ergo quilibet apud alium sine tamen publico detrimento possit probare se ipsum,89 und nicht
können den zeitlichen Ablauf recht genau bestimmen. Jodok las die ‚Ethik‘ während 40 Wochen. 86 Andreas Wall von Walsheim hat sich im Jahre 1438 immatrikuliert (Matrikel Wien [Anm. 79], S. 206 [1438 II A14]), erhielt 1442 das Lizentiat und ist von 1442–46 als Magister regens bezeugt. Er erhielt an St. Aegidien folgende Bücher: 1443 Posteriorum, 1444 De celo et mundo, 1445 Parva naturalia, 1446 Ethicorum. 87 Stephanus Molitoris de Prukch hat sich 1426 als Student in der österreichischen Nation immatrikuliert (Matrikel: Wien [Anm. 79], S. 156 [1426 II A5] und erhielt von der Fakultät am 1. September die Erlaubnis, folgende Bücher zu lesen: 1437 quartum De celo et mundo, 1438 Methaphisicam, 1439 libros Topicorum, 1440 Musicam Muris, 1441 Veterem artem, 1442 sextum librum Phisicorum cum sequentibus, 1443 Theodolum, 1445 Arismetricam, 1448 Parva naturalia, 1449 libros Physicorum, 1450 De generatione, 1451 Musicam Muris, 1452 Latitudines formarum, 1454 Ethicorum I–VI, 1455 Theoricas planetarum, 1456 Parva naturalia, 1456 Obligatoria Holandrini, 1457 Speram materialem, 1458 Ethicorum, 1459 Speram, 1460 libros de generatione et corruptione, 1461 Arismetricam communem, 1462 De celo et mundo, 1463 tertium Rethoricorum, 1464 Musicam Muris. 88 Andreas de Scherdinga wurde 1434 immatrikuliert [Matrikel: Wien [Anm. 79], S. 187 [1434 II R19]. Er erhielt als Magister die Erlaubnis, folgende Bücher zu lesen: 1441 Obligatoria Holandrini, 1442 Posteriorum, 1443 De anima, 1445 De generatione, 1446 libros de celo et mundo, 1448 libros de generacione et corrupcione, 1449 li. de anima Aristotelis, 1451 secundam partem , 1454 Parua loycalia, 1455 libros Physicorum, 1456 Ethicorum, 1457 li. Methaphisice, 1458 De generatione et corruptione, 1459 Ethicorum cum exercicio, 1460 Parva naturalia, 1461 Elencorum. 89 Lhotsky [Lit.-Verz.], S. 254.
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etwa ein schon schriftlich vorbereiteter Text, der vom Magister in die Feder (ad pennam) diktiert wurde,90 dann kann erst ein formaler und inhaltlicher Vergleich von einzelnen Fragen den Verschriftlichungsprozess begreiflich machen und eine Übung zwar keinesfalls in ihrem Wortlaut rekonstruiert werden, aber wenigstens der Ablauf einer einzelnen Sitzung genauer bestimmt werden. Auch die übrigen drei Handschriften (A.10–12) könnten dann einbezogen werden, obwohl sie nur zum Teil in der Veranstaltung von Thomas Wölfel entstanden sind und keine direkten Mitschriften enthalten. Auch handelt es sich bei diesen drei Kommentaren nicht um Reportationen einer Übung (exercitium), sondern einer Vorlesung (lectio),91 wie die beiden Schreiber Ulrich von Weilheim92 und Wolfgang Kydrer93 betonen und auch daraus ersichtlich wird, dass sie das sechste Buch enthalten, das bekanntlich in Wien nur in den Vorlesungen behandelt wurde. Erstaunlicher noch ist die Tatsache, dass die beiden Kommentare der Vorlesung nicht etwa eine Reportation einer Schriftauslegung (expositio) enthalten, sondern wie die Übungen (freilich kurze) Quaestionen nach dem Fragenkatalog von Buridans Ethikkommentar! Es muss deshalb gefragt werden, ob in Wien an der Artistenfakultät die ‚Nikomachische Ethik‘ von Aristoteles überhaupt noch in den Vorlesungen kommentiert wurde oder ob die Quaestionenliste von Buridans Ethikkommentar die wörtliche Auslegung anhand der lateinischen Übersetzung nicht vollständig verdrängt hatten.
90 Vgl. dazu die Vermutungen von Olga Weijers bezüglich der Quaestionenkommentare im 14. Jahrhundert; diess., La ‚disputatio‘ dans les Facultés des arts au moyen âge, Turnhout 2002 (Studia Artistarum. Études sur la Faculté des arts dans les Universités médiévales 10), S. 29f. und 312–15; siehe auch diess., La ‚disputatio‘ à la Faculté des arts de Paris (1200–1350 environ). Esquisse d’une typologie, Turnhout 1995 (Studia Artistarum 2) und diess., Le maniement du savoir. Pratiques intellectuelles à l’époque des premières universités (XIIIe–XIVe siècles), Turnhout 1996 (Studia Artistarum. Subsidia). 91 Vgl. Anhang A.10 und A.11. 92 Ulrich von Weilheim hat sich im Oktober 1435 bei der Rheinischen Nation immatrikuliert; vgl. Matrikel: Wien [Anm. 79], S. 190 [1435 II R19], wurde 1439 zum Bakkalar und 1441 zum Magister promoviert, hat aber anscheinend nie als Magister gelesen. 93 Wolfgang Kidrer (Chydrer) de Salczburga hat sich 1437 immatrikuliert, war seit 1439 Bakkalar und erhielt am 1. September 1441 primum librum Euclidis. Wolfgang und Ulrich [Anm. 92] waren also zu Beginn der ‚Ethik‘-Vorlesung, bzw. Übung von Thomas Wölfel noch keine Bakkalare und hatten deshalb wohl auch nicht die ganze Veranstaltung besucht. Zu Wolfgang Kydrer, vgl. auch B. Michael [Anm. 10], S. 147 und oben Anm. 73.
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ANHANG A DIE WIENER ETHIKKOMMENTARE DES 15. JAHRHUNDERTS (CHRONOLOGISCHE REIHENFOLGE)* Handschriften, die mit einem (*) gekennzeichnet sind, habe ich in einem Mikrofilm einsehen können. Ich danke der Bayerischen Staatsbibliothek München und der Stiftsbibliothek St. Florian für die Erstellung eines Mikrofilms und der Universitätsbibliothek Graz für die CD-Rom mit der digitalisierten Handschrift. 1. Anonymus: ‚Quaestiones abbreviatae super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘; Wien, ÖNB, CVP, 5330, a. 1396, f. 1ra–193vb (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 125, 262; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 260). Anmerkung 1: Die Handschrift wurde von Paul (Leubmann) von Melk († 1479) der Bibliothek des Collegium Ducale (Herzogliche Kolleg) vermacht; vgl. Aschbach [Anm. 31], S. 558–560. Paul von Melk las von 1430–1450 an der Artistenfakultät. Ob er je die ‚Ethik‘ las, ist unsicher, da ihm an der jährlichen Sitzung an St. Aegidien nie die ‚Ethik‘ zugeteilt wurde. Anmerkung 2: Im akademischen Jahr 1395–6 las nach AFA I Rutgerus de Raimunda die ‚Ethik‘, vgl. Anhang B. 2. Anonymus: ‚Quaestiones Wiennenses super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘; Wien, ÖNB, CVP, 5437, a. 1400, f. 287ra–364ra. (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 125, 267f.; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 260). f. 364ra: Et sic est finis questionum quinti libri Ethicorum. Finiti et completus est iste liber per me Petrum dictum Stugel in vigilia Mathei sub anno domini 1400. Deo gracias etc. (Mi, den 24. Febr. 1400). Anmerkung: Im Studienjahr 1399–1400 wurde Johannes Flück die Bewilligung erteilt, die ‚Ethik‘ zu lesen. 3. Anonymus: ‚Quaestiones super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘, Wien, ÖNB, CVP, 4672, XVinc., f. 1r–231v (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 125f., 249; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261). 4. Seboldus Messner de Wallsee: ‚Quaestiones super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘; Melk, Stiftsbibliothek, ms. 59 (548), a. 1417, 224ff. (Lohr 1973 [Anm. 16], S. 125; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 252).
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5. Thomas Ebendorfer de Haselbach: ‚Commentarius super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘; Wien, ÖNB, CVP, 4952, a. 1424, f. 1r–200r (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 123f., 254; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 252). f. 200r: Finita tamen hec collecta in angustiis pluribus per magistrum Thomam Ebendorffer de Haselpach, baccalarium formatum in theologia manu propria conscripta 1424, octava Junii, que tunc erat quarta ante festum sanctissimum Pentecostes. (Do, 8. Juni 1424). 6. a) Urbanus de Mellico: ‚Disputata super quinque libros Ethicorum‘; Wien, ÖNB, CVP 4667, a. 1429–30, f. 1r–243r (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 124, 249; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 253). f. 243r: Incepi disputare anno domini 1429 circa festum Cholomanni et finivi anno Domini 1430 in die sancti Mauricii et causa tam longe disputacionis fuit, quia multa interciderunt. Disputavi enim de quolibet et examinavi ad gradus, qui fuerunt 30, licet solum 27 admissi et quedam alia. (Freitag, den 13. October 1429 – Samstag, den 22. September 1430). b) Urbanus de Mellico: ‚Questiones super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘; Wien, ÖNB, CVP 4914, f. 1r–344v (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 124, 253; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 253). Anmerkung: Möglicherweise direkte Abschrift von Wien, ÖNB, CVP 4667 (A.6). 7. Anonymus [Andreas de Weitra ?]: ‚Disputata super questionibus Byridani quinque librorum Ethycorum Aristotelis‘; Wien, ÖNB, CVP, 5149, a. 1432, f. 1r–284r (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 126, 255; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261). f. 284r: Et sic est finis disputatorum super questionibus Byridani quinque librorum Ethycorum Aristotelis [. . .] Finivi autem hoc opus anno domini etc. 32° sequenti die immediate post festum Invencionis sancti Stephani prothomartiris et finivissem prius, sed per infirmitatem inpeditus fui bene 12 diebus et aliunde bene 10 diebus. Explicit. (Montag, den 4. August 1432). 8. Thomas Wölfel de Wuldersdorf: ‚Exercitium librorum quinque Ethicorum‘; *München, BSB, Clm 19673, a. 1438–9, f. 5r–254v (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 116f., 143; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 252). f. 4v: Titel des Bibliothekars, a. 1485: 1485°. Iste liber attinet venerabili cenobio sancti Quirini, regis et martiris et patroni nostri in Tegernsee,
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in quo continentur / Disputata magistri Thome de Vuldersdorff super quinque libros Ethycorum Aristotelis, phylosophi maximi, qui anthonomasice dicitur philosophus philosophorum. f. 66 (Inc. li. 2): In die sancti Erhardi anno 39° hora tertia et tunc promotus fuit Uldradicus de Weilh(eim). (Donnerstag, 8. Januar 1439). f. 108r (Expl. li. 2): Explicit ante die smalczigen samcztag anno 39. (Freitag, den 13. Februar 1439). f. 108v (Inc. li. 3): anno 39° feria quarta in capite jejunii (Mittwoch, den 18. Februar 1439). f. 129r (Inc. li. 3. q. 10): [. . .] die sancti Gregorii (Donnerstag, den 12. März). f. 145r (Inc. li. 3. q. 18): [. . .] in vigilia Palmarum [. . .] (Samstag, den 28. März). f. 146v (Inc. li. 3, q. 19): [. . .] feria quinta post Pasce [. . .] (Donnerstag, den 9. April). f. 172r (Expl. li. 3): Et finitus est iste tercius Ethicorum proxima feria secunda post festum Invencionis sancte Crucis anno 1439° etc. (Montag, den 4. Mai 1439). f. 172v (Inc. li. 4): proxima tertia feria post festum sancte crucis que fuit dominica die anno 1439. (Dienstag, den 5. Mai 1439). f. 207r (Expl. li. 4): Et tantum de isto quarto finito in die sancti Bonifacii vel proxima sabbato die post festum Erasmi episcopi anno 1439 (Samstag, den 6. Juni 1439). f. 207v (Inc. li. 5) [. . .] feria tertia post festum sancti Erasmi anno 39 (Mittwoch, den 10. Juni 1439). f. 254v (Expl. li. 5): Explicit exercicium librorum quinque Ethicorum exercitatum per venerabilem magistrum in artibus liberalibus nec non baccalareum formatum in sacra theologia Magistrum Thomam de Wlderstorff, nacionis Austrie, repertatumque per me Augustinum baccalarium artium facultatis Ayrinsmalcz de Weylheim in exercicio magistri prefati et finitum autem erat exercicium librorum pertractorum proxima feria quarta post festum apostoli Christi sancti Jacobi Mayoris, anno 39° infra horas terciam et quartam vesperarum temporis etc. (Mittwoch, den 29. Juli 1439) 9. Thomas Wölfel de Wuldersdorf: ‚Disputata quinque Ethicorum Magistri Thome de Wulderstorff ‘; *St. Florian, Stiftsbibliothek, XI, 636, a. 1438–9, f. 1r–302v. f. 302v (Expl. li. 5): Expliciunt disputata Ethicorum reverendi magistri Thome de Wulderstorff anno domini millesimoquadringentesimotrecesimonono
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christoph flüeler feria quarta post festum sancti Jacobi hora tercia Reportata per me Symonem in studio Wiennensi generali. (Mittwoch, den 29. Juli 1439).
10. Anonymus (Thomas Wölfel de Wuldersdorf pro parte): ‚Concepta sex librorum Ethicorum‘ (‚Reportata in lectione magistri Thome de Wulderstorf pro parte‘); *München, BSB, Clm 19848, a. 1439, f. 4r–183v (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 115f. 146; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 252). f. 2r (manu posteriori): Hunc libellum obtulit monasterio Tegernsee magister Udalricus Greymolt de Weilhaym 1494° quo obiit. f. 36r (Expl. li. 1): Et tantum de conceptis super primo Ethicorum. In die sabbati ante die Marie Magdalene hora quasi tertia et protunc lapsus temporis erat in causa erant protunc magne gwerre inter studentes et milites aliosque clientes quapropter eo tempore vasales Universitatis Wiennensis alme multum fuerunt reclusi. (Samstag, 18. Juli) f. 55v (Expl. li. 2): Et tantum de conceptis primi et secundi librorum Ethicorum finita in vigilia sancti Jacobi. Eodem die mandatum fuit omnibus sff tis alme Universitatis Studii Wiennensis, ut convenirent in curia Collegii prefate Universitatis pro concordia fienda inter nobiles ac milites ex una parte et inter sff ta predicte Universitatis ex parte altera. (Freitag, den 24. Juli) f. 102r (Expl. li. 3): Et sic patet ad questionem et sic est finis paucorum punctorum super tercio Ethicorum. f. 124r (Expl. li. 4): Et tantum de questionibus quarti Ethicorum. f. 153r (Expl. li. 5): Et tantum de questionibus huius quinti Ethicorum oportet sufficere pro nunc. Feria quinta post festum sancte Marie Magdalene in leccione Reportata magistri Thome de Bulderstorf pro parte. (Donnerstag, den 23. Juli 1439). f. 183v (Expl. li. 6): Finitus per me Ulricum dictum a nonnullis Greymolt de Weylhaim in vigilia s. Augustini episcopi doctorisque eximii anno 1439. Iterum eodem die iurabatur(?) examen ad quod submiserunt se 94 admissis omnibus. finito examine in vigilia undecim milium virginum, omnes promouebantur preter decem. [. . .] (Donnerstag, den 27. August 1439 und 20. Oktober 1439, geschrieben von der Texthand) 11. Anonymus [Thomas Wölfel de Wuldersdorf ?]: ‚Reportata brevia super II.12–VI libros Ethicorum Aristotelis‘; *München, BSB, Clm 19668, a. 1439, f. 68r–113v (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 117, 143; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 253). f. 103v (Expl. li. 5): Et sic est finis huius quinti, anno etc. 39 mo in pro-
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festo sancte Marie Magdalene Reportata sunt hec brevia in leccione per me Wolfgangum de Salczburga. (Dienstag, den 21. Juli 1439). f. 113v (Expl. 6): Et hec sufficiant de sexto libro Ethicorum, in quo p de quinque virtutibus intellectualibus, scilicet de arte, prudentia et sapientia etc. 12. Anonymus [Thomas Wölfel de Wuldersdorf ?]: ‚Quaestiones abbreviatae super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘; *München, BSB, Clm 19678, a. 1439, f. 5r–101r (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 118f., 145; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261 und B. Michael [Anm. 10], S. 147, der jedoch zu unrecht diesen Kommentar dem Reportator zuschreibt.). f. 3v (manu posteriori): Iste liber attinet venerabili monasterio sancti Quirini, martiris et patroni in Tegernsee, quem obtulit magister Wolfgangus Kydrer de Salczpurga, hic professus est monachus ex seculari sacerdote factus. f. 34v (Expl. li. 2): Et tantum de secundo feria tercia ante festum Translationis sancti Rudberti, episcopi et confessoris eximii sancte Salczburgensis ecclesie patroni, anno etc. trigesimo nono etc. (Dienstag, den 22. September 1439). 13. Iodocus Weiler de Heilbronn: ‚Exercitium super quinque libros Ethicorum Aristotelis‘; *Graz UB, Ms. 883, a. 1439–40; f. 1r–251r (Lohr 1970 [Anm. 16], S. 152). f. 59r: Et sic finis huius primi Ethicorum per manus fratris hainrici Strömberger professi in Runa. Anno domini 1439, quarta feria ante festum sancti thomae apostoli. Frater heinricus Strömberger. (Mittwoch, den 16. Dezember 1439) f. 97v: Et sic est finis Christus laudetur per manus fratris henrici Strömberger professi in Runa. Anno domini 1440 sexta decima die februarij que est dies beate Juliane virginis et martiris. (Dienstag, den 16. Februar 1440) f. 168r: Et sic est finis huius tercii ethicorum Anno domini 1440 30a die mensis aprilis que est vigilia apostolorum Philippi et Jacobi per manus fratris hainrici Strömberger professi in Runa baccalareus artium. (Samstag, den 30. April 1440). f. 204r: Et sic est finis huius quarti per gratiam dei omnipotentis per manus fratris heinrici Strömberger professi in Runa baccalaurei quarta nonas Junij que est secunda dies et festiuitas beatorum martirum Marcellini et Petri. Anno domini etc. 1440 ante meridiem hora quasi septimam, et eodem die erat octaua Corporis christi. (Samstag, den 4. Juni 1440) f. 251r: Et sic est finis tocius exercicii ethicorum super librum quintum
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christoph flüeler exercitatum per reverendum ac eggregium virum magistrum Judocum de hailprunna pro tunc licentiatum in theologia. Anno domini 1440. Reportatum [die folgenden Worte sind mit Tinte unleserlich gemacht] bacc. in artibus et finitum anno quo supra 16 kalendas augusti que est dies preclarissimi confessoris Alexij. (Sonntag, den 17. Juli 1440). Anmerkung: Die Grazer Handschrift enthält die Reportation des Bakkalaren Heinrich Strömberger. Heinrich Strömberger von Dorffen hatte sich am 14. April 1431 als Student bei der Rheinischen Nation immatrikuliert (vgl. Matrikel: Wien [Anm. 82], S. 174 (1431 I R21), wurde aber erst im Jahre 1439 zum Bakkalar befördert (vgl. AFA II 1439), f. 135v: am 13. Juli 1439 wird frater Hainricus de Runa zu den Examen zugelassen). Seine Reportation signierte er an drei Stellen als Bakkalar (f. 168r, 204r und 251r) der Artes.
14. Anonymus: ‚Quaestiones super I–V libros Ethicorum‘; Wien, ÖNB, CVP 5502, ca. a. 1443, f. 202r–279v (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 126, 272; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261). 15. Andreas Wall de Walczhaim: ‚Questiones disputate quinque librorum Ethicorum Aristotelis‘; München, BSB, Clm 18883, a. 1447, f. 3r–225r (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 109f., 142; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 243). f. 2r: In illo libello continentur questiones quinque librorum Ethicorum Aristotelis, que dumtaxat more Universitatis Wiennensis disputantur pro baccalauriis, sex vero leguntur. In hoc vero sunt libri decem. Hee vero questiones quinque librorum disputate sunt per venerabilem virum et excellentem magistrum Andream Wall de Walczhaym nacionis Sueuice. f. 225r (Expl. li. V): Expliciunt dicta super questionibus quinque librorum Ethicorum Aristotelis venerabilis magistri Johannis Biridani disputata per reverendum virum magistrum Andream Wall de Waltzhaim, scripta in exercicio ab eodem per me Ulricum Keyerl de Landaw, tunc temporis studentem in Studio Generali Wiennensi sub anno Domini 1447, sabbato ante festum Ascensionis Domini etc. In bursa magistri Johannis de Otting ex ordine predicatorum (Samstag, 13. Mai 1447). Anmerkung: Ulricus de Landaw wurde im Jahre 1446 zum Bakkalar promoviert (AFA II, f. 174r). 16. Anonymus: ‚Quaestiones super I–V libros Ethicorum‘, München, UB, 4° 685, s. XVmed., f. 1r–368v (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 119f., 151; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261).
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17. Stephanus de Brugen: ‚Quaestiones super libros Ethicorum Aristotelis‘; Melk, Stiftsbibl., 801 (823), s. XV (1455), f. 1–186. (Lohr 1973 [Anm. 16], S. 148; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 252). 18. Andreas Schärding: ‚Exercitium super quinque libros Ethicorum Aristotelis‘; München, BSB, Clm 18458, a. 1460, f. 2r–163r (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 108f., 141; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 243). Titel des Bibliothekars von 1468, f. 2r: Questiones magistri Andree de Schärding sacre papine professoris et doctoris, qui propria manu scripsit hunc librum super quinque libris Ethicorum Aristotelis. f. 107r (Expl. li. 3): [. . .] et in hoc terminatur exercicium tercii Ethicorum ultima die mensis Februarii, anno 1460mo. (Freitag, den 29. Feb. 1460). f. 163r (Expl. li. 5): [. . .] cui potestas et imperium, honor, laus et gloria nunc et in secula seculorum. Amen. Anno 1460mo. Anmerkung: vgl. auch Wien, ÖNB, CVP 5401. 19. Anonymus: ‚Quaestiones super I–V libros Ethicorum‘; Wien, ÖNB, 4703, ca. a. 1466, f. 66r–366r (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 127, 250; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261). 20. Thomas Teufl de Landshut: ‚Questiones subtiles super decem libros Ethicorum Aristotelis‘; München, UB, 2° 566, a. 1470, f. 5ra–196rb. (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 113f., 150; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 252). f. 3r (Tabula quaestionum): Sequitur registrum seu tabula questionum in hoc libro Ethicorum contentarum secundum mentis fratris Hainrici de Almania. f. 196rb (Expl. li. 10): In hoc terminantur questiones subtiles super decem libros Ethicorum Aristotelis precisse textui correspondentes et eundem cum argumentis notabilibus pulcre declarantes ipso largiente, qui est finis et consumacio omnium, cui sit laus, honor et gloria in secula seculorum, amen. Et scripte sunt per me magistrum Thomam Teufel de Lanczhuet in Universitate Wiennensi, anno Domini M°CCCC° septuagesimo, secunda feria post festum Nativitatis Marie virginis. (Montag, 10. Sept. 1470). (manu posteriori de a. 1476): Item sub decanatu secundo venerabilis magistri Wolgangi Federkiel ex Darffen ob favorem Facultatis Arcium moderne vie, cuius et ego magister indignus sum, vendidi istum librum eidem facultati pro usu magistrorum pro quatuor forenis Renis, quem decanus prefatus a me magistro Thoma Tewfel in Lanczhuet mercatus est anno Domini
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M°CCCC°LXXVIto in vigilia sancti Laurencii martiris, tunc Ludvico et Georgio ducibus Bavarie et fundatoris Universitatis Ingolstatensis regnantibus.
Die Entstehung der folgenden Kommentare an Universität Wien ist wahrscheinlich, wenn auch nicht gesichert: 21. Anonymus: ‚Glossae super I–V libros Ethicorum Aristotelis cum textu‘; Wien, ÖNB, CVP 4029, XVin., f. 1r–25r (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 124, 247; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 260f.). 22. Anonymus: ‚Quaestiones super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘; München, BSB, Clm 11478, ca. a. 1424, f. 1r–238v (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 120f., 138; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261). f. 145v (Expl. li. 3): Et in hoc terminatur exercicium tercii Ethicorum ultima die mensis Februarii. 23. Anonymus: ‚Questiones disputate super VI–X libros Ethicorum‘; München, BSB, Clm 7479, a. 1424, f. 1r–282ra (Markowski 1981 [Anm. 17], S. 121f., 136). f. 22ra (Inc. li. 6): Circa sextum Ethycorum. – Post finem questionum disputatarum supra quintum librum Ethicorum restat alias questiones super sextum eiusdem disputare [. . .] f. 282ra (Expl. li. 10): [. . .] Et sic est finis questionum super decem libros Ethicorum, anno quadringentessimo vicesimo quarto.94 24. Anonymus: ‚Quaestiones super I–V libros Ethicorum Aristotelis‘; Wien, ÖNB, 4784, s. XVmed., f. 1r–69r (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 127, 252; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261). Anmerkung: Nach Markowski 1985 [Anm. 17], S. 127 und 252 ist der Kommentar in Wien entstanden. Neuerdings hat Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261, dies in Frage gestellt, ohne diesen Zweifel jedoch zu begründen. 25. Anonymus: ‚Quaestiones Wiennenses super I–X libros Ethicorum Aristotelis cum fragmentis textus‘, Wien ÖNB, CVP 5401, ante
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a. 1469, f. 1ra–282ra. (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 128, 266; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 261). f. 282ra manu posteriori: Item illa lectura fuit olim egregii viri doctoris in sacra pagina magistri Andree de Schärding, quam lecturam ego magister Leonhardus Foring capellanus Lanshute ad sanctam Martinum emi ab amicis suis pro quatuor florensis Ungaricis in auro et quia de quolibet non disputavi in ordine meo propter causas certas, voluntarie dedi in recompensum ad libreriam Facultatis artium in usu magistrorum et ut cathenatus maneat cum aliis libris in commune bonum anno Christi 1469 in die Marci etc. Anmerkung: Da die Handschrift zuerst Andreas Schärding, dann dem Magister Leonhardus Foring gehörte, der sie der Bibliothek der Wiener Artistenfakultät schenkte, ist dieser Kommentar sicher an der Wiener Artistenfakultät gelesen worden, auch wenn die Herkunft nicht geklärt ist.
Bei einigen Kommentaren besteht ein direkter Zusammenhang mit der Universität Wien. Der Kommentar von Albert von Sachsen ist in Paris und nicht in Wien entstanden. Den Kommentar Wien, ÖNB, CVP 5317 zählen wir ebenfalls nicht zu den authentischen Wiener Kommentaren, da er neuerdings Marsilius von Inghen zugeschrieben wird. Beim Werk von Michael Lochmayr handelt es sich nicht um einen richtigen Kommentar. Ferner sind zwei handschriftliche Kopien von Kommentaren aus der Wiener Universität bezeugt, aber nicht mehr auffindbar. 26. Albert von Sachsen: ‚Expositio decem librorum Ethicorum Aristotelis‘; 26 Mss. (in Paris in den Jahren 1356–8 entstanden). (Markowski 2000 [Anm. 17], S. 243). Literatur: Jürgen Sarnowsky, Die aristotelisch-scholastische Theorie der Bewegung. Studien zum Kommentar von Sachsen zur Physik des Aristoteles, Münster 1989, S. 446f., Christoph Flüeler, Buridans Kommentare zur Nikomachischen Ethik: Drei unechte Literalkommentare, Vivarium 26 (1998), S. 234–249. Anmerkung: Der Kommentar ist wahrscheinlich an der Pariser Universität entstanden. 27. Anonymus (Marsilius von Inghen?): ‚Quaestiones super I–V Ethicorum‘; Ms.: Wien, ÖNB, CVP 5317, s. XV/2, f. 1r–346rb. (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 127, 262).
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christoph flüeler Anmerkung: Der Kommentar stammt nach Ansicht von M. Markowski von Marsilius von Inghen. Vgl. oben Anm. 23.
28. Petrus (Schad) de Wallsee: ‚Quaestiones magistri Petri de Walse super libros Ethicorum‘, olim Wien Univ. (AFA III: a. 1467, f. 186v; vgl. auch Mittelalterliche Bibliothekskataloge [Anhang A.29], S. 481 Z. 14–15; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 251–2). Anmerkung: Petrus hat sich im Jahre 1385 immatrikuliert und ist von 1389–1397 als Magister bezeugt. In den Akten ist nirgends vermerkt, dass Petrus je die Erlaubnis erhielt, die ‚Ethik’ zu lesen. 29. Martinus Hainzl de Memmingen: ‚Dicta super libros Ethicorum magistri Martini de Memmingen‘; olim Aggsbach Stiftsbibliothek (Katalog des späten 15. Jhs., vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs. Bd. 1: Niederösterreich, bearbeitet von Th. Gottlieb, Wien 1915 (ND Aalen 1974), S. 608); Markowski 2000 [Anm. 17], S. 250). Anmerkung: Martinus Heinczel de Memming hat sich im Jahre 1448 immatrikuliert und ist seit 1454 als Magister regens bezeugt. Nach den Universitätsakten (AFA III, f. 188v) wurden ihm am 1. September 1467 libros Ethicorum Aristotelis zugeteilt und am 1. September 1470 erhielt er primum librum Ethicorum (AFA III, f. 200v). Der erwähnte Kommentar ist wohl eher aus der ersten Veranstaltung hervorgegangen. 30. Michael Lochmayr de Haideck: ‚Summa philosophiae moralis‘; Wien, ÖNB, CVP 5161 (XVex.), f. 1r–116r (Markowski 1985 [Anm. 17], S. 217f., 256; Markowski 2000 [Anm. 17], S. 251). Anmerkung: Michael Lochmayr von Haideck ist von 1471 bis 1483 als m.a. bezeugt und erhielt 1475 die Erlaubnis die Aristotelische Politik zu lesen.
Zentral für die Überlieferung der ‚Nikomachischen Ethik‘ in Wien ist, wie wir gesehen haben, der Ethikkommentar von Johannes Buridan, von dem insgesamt elf Handschriften überliefert sind, die der Bibliothek der Wiener Artistenfakultät, dann der Hofbibliothek gehörten oder die eine Zeit lang im Besitz eines bestimmten Wiener Magisters waren. 31. Wien, Bibliothek des Dominikanerkonvents, 120/87 (A.D. 1389) mit dem Ethikkommentar von Johannes Buridan (f. 2ra–398va)
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wurde in Wien vom Studenten Georgius Zynkk von Praunau reportiert, das heisst, der Magister Michael Schrägel von Wien diktierte das Werk und ein oder mehrere Studenten erstellten auf diese Weise Abschriften der Texte. Michael Schrägel begann mit dem Diktat am Freitag, den 18. März und beendete sein Diktat am Sonntag, den 5. September 1389 vor dem Frühstück (Markowski 1984 [Anm. 10], S. 104–6). Et sic est finis questionum decimi libri Ethicorum, et per consequens super omnes libros eiusdem Byridani pie memorie. Expliciunt questiones Ethycorum reverendi magistri Johannis Byriden, Reportate Wyenne per Georgium dictum Zynkk de Prawnaw, sub anno Domini m°ccc°lxxxix° pronunciate et incepte per reverendum magistrum Mychahelem dictum Ichragel [besser: Schragel] in crastino Gertrudis post Reminiscere et finite die dominico ante festum nativitatis Marie quasi hora nona [sic] ante prandium de mane. (f. 398rb/va, Markowski 1985 [Anm. 17], S. 119–20). 32. Wien, Bibl. des Schottenklosters, cod. 273 (278) (A.D. 1389). Der Besitzereintrag (f. 1r) belegt, dass diese Handschrift mit dem Ethikkommentar von Buridan, bevor sie in die genannte Bibliothek kam, dem Wiener Magister Urban von Melk gehörte. (vgl. Markowski 1985 [Anm. 17], S. 286, Markowski 1984 [Anm. 10], S. 114–5 und Michael [Anm. 17], S. 860). Urban Melk las 1429–3 die ‚Ethik‘. Sein eigener Kommentar ist in zwei Handschriften erhalten; vgl. Anhang A.6. 33. Wien, ÖNB, CVP 5431 mit dem Ethikkommentar von Buridan (f. 1ra–291vb) gehörte dem Wiener Magister Colomannus de Nova Villa und später der Bibliothek der Wiener Artistenfakultät, wurde aber in Prag reportiert, d.h. diktiert (Pragae reportate), wobei das 9. (und 10.?) Buch von Colomannus geschrieben wurden (vgl. Markowski 1984 [Anm. 10], S. 112–14, Markowski 1985 [Anm. 17], S. 267 (Markowski 1984 [Anm. 10], S. 112–4 und Michael [Anm. 10], S. 143 Anm. 11). Colomannus von Neudorf ist von 1392–1397 als Magister regens der Artistenfakultät bezeugt, las 1392 und 1396 die Yconomica und wurde später Bakkalar bei den Juristen (vgl. Uiblein 1968 [Anm. 32]). 34. Wien, ÖNB 3694, f. 1ra–290vb. Diese Handschrift gehörte zuerst dem Wiener Magister Georius Apphentaler, der sie dem Magister Zacharias Ridler für vier ungarische Gulden verkaufte (vgl. Markowski 1985 [Anm. 17], S. 245, Markowski 1984 [Anm. 10], S. 114–5).
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35. Wien, ÖNB, CVP 5378, a.d. 1443, f. 1ra–268vb, stammt aus der Wiener Universität (vgl. (Markowski 1984 [Anm. 10], S. 124–6, Michael [Anm. 17], S. 346). 36. München, BSB, Clm 7602 stammt nach Markowski aus Wien (vgl. Markowski 1981 [Anm. 17], S. 136). 37. Innsbruck, Stiftsbibliothek Wilten, Cod. XXXII.C.9, f. 139ra–305ra (lib. I–V) (um 1400). Auf die Wiener Herkunft verweist B. Michael, vgl. Michael [Anm. 10], S. 143 Anm. 16. 38. Kraków, BJ, cod. 658 stammt nach B. Michael aus Wien, da der dort enthaltene Ethikkommentar im Jahre 1372 reportiert (reportate Wienne a.d. 1372), d.h. diktiert wurde, vgl. B. Michael [Anm. 17], S. 840, vgl. Markowski 1984 [Anm. 10], S. 109–11), wobei das Kolophon am Ende des achten Buches wiederum eher für Prag spricht (f. 304rb: et cuius est finis octavi libri questionaliter determinatis, reportatum hic Prage per Ieronimum de Reichenburga, etc., vgl. Markowski 1984 [Anm. 10], S. 110). 39. Melk, Stiftsbibliothek, cod. 122, f. 12r–561 ist möglicherweise in Wien entstanden. Mit Sicherheit aber war der Codex Mitte des 15. Jh. im Besitz des Wiener Magisters Jacob von Wuldersdorf; vgl. Michael [Anm. 17], S. 844 und Markowski 1984 [Anm. 10], S. 127–9. Jacob von Wuldersdorf ist von 1429–1461 als Magister regens der Artistenfakultät bezeugt und las voraussichtlich 1450–1 und 1451–2 die ‚Ethik’, wobei er das erste Jahr wahrscheinlich die ersten Bücher las (Ethicorum I–VI, bzw. I–V) und im folgenden Jahre die letzten drei Bücher (ultimos tres libros Ethicorum). 40. Salzburg, St. Peter-Stiftsbibliothek, b X 13 (A.D. 1452) mit dem Ethikkommentar Buridans (576ff.) ist an der Universität Wien entstanden: f. 576rb: Explicit liber Ethicorum venerabilis magistri Johannis Biridani, finitus in crastino sancti Ottmari anno Domini M°CCCC°LII° in alma Universitatis Wyenensi (Markowski 1984 [Anm. 10], S. 126–7). 41. Kremsmünster, Stiftsbibliothek 236 mit dem Ethikkommentar Buridans (f. 208ra–298vb) stammt nach Markowski wahrscheinlich aus Wien, vgl. Markowski 1984 [Anm. 10], S. 129.
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ANHANG B Dieser Anhang enthält nach den Universitätsakten (AFA I–III) alle Magister der Wiener Artistenfakultät, denen an den Fakultätssitzungen an St. Aegidien (1. September) bis zum Jahr 1459 ein Werk der Moralphilosophie (‚Nikomachische Ethik‘, ‚Magna Moralia‘, ‚Oeconomica‘ und ‚Politica‘) zugeteilt wurde. ETHICORUM 1390 1391 1392 1393 1394 1395 1396 1397 1398 1399 1400 1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409 1410
1411 1412
1413 1414 1415
YCONOMICORUM
POLITICORUM
Nicolaus de Honharczchirhen Andreas de Langenstayn Philippus de Znoyma Gerhardus de Husen Gerhardus de Hüssen Symon de Prukka Rutgerus de Rarimunda Nicolaus Dinkelspuhel Colomannus de Nova Villa Johannes Berwardi Iohannes de Prüsia Leo (von Ungarn) Üppig Johannes Flük keine Eintragungen am 1. September 1400 Petrus de Pulka C%nradus Segla(u)er Alardus Nicolaus de Dinkelspühel Conradus de Rottenburg Petrus Dekkinger Petrus de Pulka Theodericus de Hamelburg lricus de Patavia Zacharias Ridler Iacobus Baden Zacharias Henricus de Haslach Seboldus (de Waldsee) (vgl. oben Anhang A.4) Iohannes de Hamelburg Iacobus de Baden Iohannes de Buczbach C%nradus de Rotenburg Magister Zacharias: Magna moralia Aristotelis Johannes Merswin Johannes Rochel quartum Ethicorum Heinricus de Haslach Seboldus (de Waldsee) Cu(o)nradus de Rotenburg (vgl. oben Anhang A.4) Conradus de Ro(e)tenburg: octauum Ethicorum Johannes Hymel
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136 Table (cont.) ETHICORUM 1416 1417 1418 1419 1420
Nicolaus de Gottesprun Johannes Angreri quintum Ethycorum Theodricus de Hamelburg Nicolaus de Gotesprun sextum Ethycorum Chunradus Chrewczer Narcissus de Berching Narcissus (de Berching) sextum Ethicorum Martinus de Egenburga
1421
1422 1423 1424 1425 1426 1427 1428 1429 1430 1431 1432
1433 1434 1435 1436 1437
YCONOMICORUM
POLITICORUM
Johannes Hemil
Petrus de Pirchunwart Petrus de Rehingen (?)
Paulus de Wyenna Urbanus de Emmestorf C%nradus de Hallstat
Wilhelmus Span Martinus de Egenburga Thomas de Haselpach (vgl. oben Anhang A.5) Johannes Stukler
Petrus Pachmulner Jodocus de Uberling Johannes de Pawngarten Jacobus de Stokstal Cristanus de Trawnstain
Paulus de Wienna: 12m Methaphisice aut libros Polliticorum Wilhelmus Spann de Weissenhorn Urbanus de Emersdorff Barnabas de Tissavassan Erhardus de Newnburga Stephanus de Essling Thomas de Haslpach
Narcissus (de Berching) Paulus de Giengen Ulricus de Weyssenburga Johannes (Angrär) de Müldorf Ulricus de Weissenburga Paulus de Frauleiten Johannes Anger octavum Ethicorum Johannes Himel Urbanus de Mellico Stephanus de Esslingen Stephanus de Egenburga (vgl. oben Anhang A.6) Paulus Troppauer Erhardus de Gersten ultimos quatuor libros Ethicorum Andreas de Weitra Andreas de Weytra quatuor Vincentius Waller libros Ethicorum ultimos Johannes de Tyttmaning Johannes Sachs de Nürnberga Ethicorum Stephanus de Egemburga Petrus de Francenspurck Stephanus de Esslingen Nicolaus de Aulen Nicolaus de Grecz Johannes de Mistelbach keine Eintragungen am 1. September 1436 Andreas Weitra ultimos quatuor Johannes de Mistelbach libros Ethicorum Johannes de Dinkelsphühl quartum Ethicorum Bertholdus Deichsler primum librum Ethicorum
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Table (cont.) ETHICORUM 1438 1439
1440
1441 1442
1443 1444 1445
1446 1447 1448
1449
1450
YCONOMICORUM
POLITICORUM
Thomas de Wuldersdorf Simon de Asparn (vgl. oben Anhang A.8–12) Judocus de Hailprunna Tydemannus de Kalmarina (vgl. oben Anhang A.13) Judocus de Nuremberg Septimum Ethicorum Jodocus de Haylprunna licentiatus in theologia recipit sextum Ethicorum Johannes de Titmanning Jodocus Gartner octauum Ethicorum Ernestus Putrich quintum Ethicorum Christianus de Hyrben Johannes de Medling Iohannes Grossel de Tittmanning nonum Ethicorum Thomas Wulderstorff Johannes de Titmaningen Tidemannus de octauum Ethicorum Calmeriam Jodocus Gärtner Jacobus de Fladnicz Johannes Grossel de Tyttmanning Jacobus Stob de Ulma septimum Ethicorum Michael de S. Georio 10 Ethicorum Andreas Wal (vgl. oben Anhang A.15) keine Angaben an St. Aegidien 1447 Johannes de Dinkelspuhel Petrus de Augusta Conradus de Nurenberga Nicolaus de Weysenburga septimum Ethycorum Ludwicus Schleicher 8 Ethicorum Michael de S. Nicolao 4 Ethicorum Iodocus Gartner libros primos Seyfridus de Hailprunna 6 Ethicorum Aristotelis Michael de sancto N(icolao) 3m Ethicorum Johannes de Farenpach decimum Ethicorum Jacobus de Wuldertorf Andreas de Potumprunn unum de libris Ethicorum Michael de sancto Nicolao 10 Ethicorum
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138 Table (cont.) ETHICORUM
1451 1452
1453 1454
1455
1456
1457 1458
1459
YCONOMICORUM
POLITICORUM
Sigismundus de Lengenfeld 7m Ethicorum Nico de Sittania 7m Ethicorum Iacobus de Wulderdorf tres Thomas de Krembs ultimos libros Ethicorum Georius de Giengen Iohannes Knaber von Albersdorff quintum, sextum, tercium et quartum libros Ethicorum Mathias de Weinspergk Wolffgangus de Eggenburg libros primos Ethicorum Georgius de Giengn tres libros ultimos Ethicorum Bero de Ludosia tres ultimos libros Ethicorum keine Eintragungen an St. Aegidien 1453 Stephanus de Brugk 6 libros Ethicorum primos (vgl. oben Anhang A.17) Ludowicus Schleicher de Ulma sex libros Ethicorum primos Georgius de Giengen sextum Ethicorum Andreas de Pottenbrun Ludowicus Sleuher septimum Ethicorum Reginaldus ordinis praedicatorum quartum Ethicorum Seyfridus de Haylbrunna Andreas de Schärding Egidius Sprenger septimum Ethicorum Wolfgangus de Eggenburg Thomas de Krems Paulus de Huning Paulus de Zylich Georius de Giengen librum Bero de Ludosia octauum Ethicorum Stephanus de Pruck Jacobus Flednicz Syfridus de Hailprun li. Gradus Sellder de Iohannes de Albersdorff Ethicorum cum exercicio Ratenack Andreas de Scerding cum exercio (vgl. oben Anhang A.18) Jacobus de Flednicz quintum librum Ethicorum Johannes Harrer de Hailprunn li. Ethicorum cum exercicio
Volkssprachiges Schrifttum im Umkreis der Universitäten
PRINCEPS LITTERATUS AUT ILLITTERATUS? SPRACHFERTIGKEITEN REGIERENDER FÜRSTEN UM 1400 ZWISCHEN REALEN ANFORDERUNGSSITUATIONEN UND PÄDAGOGISCHEM HUMANISMUS* Wolfgang Eric Wagner
Sebastian Brant (1457/58–1521) stellt im 46. Kapitel seines ‚Narrenschiffs‘ (1494) einen ursächlichen Zusammenhang her zwischen dem Bildungsgrad der Fürsten, ihrer Beratung durch gelehrte Räte und einer gerechten, friedlichen Regierung. Die fürsten worent ettwann wisz, Hattent altt raet, gelert, vnd grysz Do stund es wol jn allem land Do wart gestroffet sünd vnd schand Vnd was g%t fryd jnn aller welt „Wenn Fürsten wären alle weis, hätten alt Rat gelehrt und greis, da stünd es gut in jedem Land, da würd gestrafet Sünd und Schand, und wär gut Fried in aller Welt.“1
Die Fürsten, so fährt Brant fort, verließen hingegen Weisheit und Kunst und gäben nur dem Eigennutz ihre Gunst. Sie wählten sich kindische Räte und seien dann an deren Empfehlungen gebunden. Zur Illustration ist diesem wie jedem anderen Kapitel des ‚Narrenschiffs‘ ein vom jungen Albrecht Dürer (1471–1528) geschaffener Holzschnitt beigegeben, damit auch derjenige von dem Buch etwas habe, der die gschrifft veracht Oder die villicht nit künd lesen (Z. 26f.). Und darauf sieht man die Narrheit als Heerführerin mit ihren Getreuen in einem
* Der folgende Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Vortrags, den ich auf dem Heidelberger Symposium gehalten habe. Für weiterführende Hinweise danke ich den Herren Professoren Winfried Stelzer (Wien), Alfred Thomas (Harvard) und Johannes Helmrath (Berlin), für hilfreiche Diskussionen Harald Müller und Marek Lommatzsch sowie den Teilnehmern des Berliner Mittelalterkolloqiums um Herrn Prof. Michael Borgolte, wo ich den Vortrag wiederholen durfte. 1 Sebastian Brants Narrenschiff, hg. v. Friedrich Zarncke, Leipzig 1854 (ND Hildesheim 1961), S. 48, Z. 63–67. Neuhochdeutsche Nachdichtung: Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Text und Holzschnitte der Erstausgabe 1494. Zusätze der Ausgaben 1495 und 1499, Leipzig 1986, S. 134, Abb. S. 132.
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aufgeschlagenen Zelt versammelt, in dem auch ein bekrönter Herr sitzt, der an seine gelehrten Ratgeber gekettet ist.2 Folgt man Brants Argumentation, so war nur ein gelehrt beratener Fürst, der auch selbst gebildet war, zu einem vorbildlichen Regiment fähig. Ähnlich sehen das auch die universitäts- und die verwaltungsgeschichtliche Forschung. Als ein zentrales Motiv für die Gründung der spätmittelalterlichen Universitäten im Reich wird daher häufig angeführt, daß der zunehmend als ‚Dilettant‘ agierende Fürst immer dringlicher auf eine professionelle Verwaltungselite angewiesen gewesen sei.3 Herrscherliche Entscheidungen mußten schneller und dennoch korrekt getroffen werden. Verrechtlichung und Verschriftlichung der Herrschaftspraxis verlangten zusätzliche Kenntnisse und Entscheidungshilfen. Die neuere adelsgeschichtliche Forschung sieht in diesem Prozeß die Hauptursache dafür, daß der adelige Lehnsmann als geborener Berater des Fürsten verdrängt und durch den ‚Experten‘, den gelehrten Rat, ersetzt wurde. Universitäten konnten diese gebildeten Führungskräfte bereitstellen. Andererseits habe die Erfahrung, wie unzulänglich sich die traditionellen ritterlichen Wissensinhalte in den neuen ‚Anforderungssituationen‘ erwiesen, eine Neuorientierung in der Adelserziehung bewirkt. Neben die Übung im Umgang mit den arma in Turnier, Jagd und Kampf sei deshalb das Erlernen der litterae getreten, also zumindest des Lesens und/oder Schreibens, des Latei2 Konrad Hoffmann, Wort und Bild im ‚Narrenschiff ‘, in: Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann (Hgg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien 5), S. 392–422. Brant spielt in diesem Zusammenhang mit der doppelten Bedeutung des Wortes gschrifft, das zum einen die Heilige Schrift, die Bibel, meint, zum anderen aber auch die Schrift allgemein (ebd. 404f.). 3 Ernst Schubert, Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: Peter Baumgart u. Notker Hammerstein (Hgg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, Nendeln/Liechtenstein 1978 (Wolfenbütteler Forschungen 4), S. 13–74, hier 22; ders., Zusammenfassung, in: S. Lorenz (Hg.), Attempto – oder wie stiftet man eine Universität. Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich, Stuttgart 1999 (Contubernium 50), S. 237–256, hier 255f.; Erich Meuthen, Das 15. Jahrhundert, 3., überarb. u. erw. Aufl., München 1996 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 9), S. 91; Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl u. GeorgChristoph von Unruh (Hgg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 66–142, bes. 109–112. Zum Fürsten als Dilettant in Verwaltungsangelegenheiten s. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Aufl. bes. v. Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1980, S. 165.
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nischen und womöglich einer weiteren Sprache. Dieser ‚Anpassungsdruck‘ habe nicht nur auf den Ritteradeligen gelastet, die sich in ihrer Tätigkeit als Amtmann oder Rat eines Fürsten immer häufiger mit Schriftstücken befassen und ihrer bürgerlichen gelehrten Konkurrenz erwehren mußten, sondern letztlich auch auf den Regenten selbst.4 Indes war bereits zuvor gefragt worden, ob das Erlernen von Schreiben, Lesen, Latein und Humaniora die Prinzen zu besseren, klügeren Regenten gemacht habe, ob sich also der Einzug der Schriftkultur in die Kinderstuben der Adelshöfe nach der Effizienz bemessen läßt. Und es ist eingeräumt worden, daß sich wohl schwerlich eine direkte Kausalreihe von der Prinzenerziehung hin zum Regierungserfolg ziehen ließe.5 Tatsächlich dürften die eventuellen Vorteile eines lese- und schreibkundigen Regenten gegenüber einem analphabetischen Fürsten nur im Rahmen eines umfangreichen Vergleichs ihrer gesamten Regierungstätigkeit zu ermitteln sein. Doch bliebe wohl auch hier der eindeutige Nachweis eines Zusammenhangs zwischen fürstlichem Bildungsgrad und Regierungserfolg letztlich ungewiß und der damit verbundene Aufwand mithin fragwürdig. Sinnvoller erscheint es daher, zuerst nach den Gelegenheiten zu fragen, in denen überhaupt Schreib- und Lesefertigkeiten von den Regenten verlangt wurden. Über diesen Weg – die Betrachtung der Situationen, in denen die sprachliche Elementarbildung von regierenden Fürsten in den Quellen thematisiert wird – läßt sich wohl auch ihr Wert für die spätmittelalterliche Regententätigkeit näher bestimmen. Denn in diesen sprachlichen Anforderungssituationen dürfte der ‚Anpassungsdruck‘ am ehesten sichtbar werden, unter dem die fürstlichen Regenten
4 Karl-Heinz Spiess, Zum Gebrauch von Literatur im spätmittelalterlichen Adel, in: Ingrid Kasten, Werner Paravicini u. René Pérennec (Hgg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter/Transferts Culturels et Histoire Littéraire au Moyen Âge, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 85–101, hier S. 86f. Vgl. auch Ernst Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, München 1996 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 35), S. 28, und Werner Paravicini, Administrateurs professionels et princes dilettantes. Remarques sur un problème de sociologie administrative à la fin du moyen âge, in: ders. u. Karl Ferdinand Werner (Hgg.), Histoire comparée de l’administration (IVe–XVIIIe siècles), München 1980 (Francia, Beiheft 20), S. 168–181. 5 Laetitia Boehm, Konservatismus und Modernität in der Regentenerziehung an deutschen Höfen im 15. Und 16. Jahrhundert, in: dies., Geschichtsdenken, Bildungsgeschichte, Wissenschaftsorganisation. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Gert Melville [u.a.], Berlin 1996 (zuerst 1984), S. 405–432, hier 431f.
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gestanden haben sollen. Ziel des folgenden Beitrags ist es, das hierzu vorhandene Material zusammenzustellen und unter diesem Blickwinkel zu diskutieren.6 Dabei soll die Untersuchung auf die Regenten aus den Häusern Luxemburg, Habsburg und Pfalz-Wittelsbach während der zweiten Hälfte des 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts beschränkt bleiben, wie das der Thematik des vorliegenden Symposiumsbandes entspricht.7
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Für dieses Anliegen kann streckenweise auf hinreichende Vorarbeiten auf dem Gebiet der Erziehungs-, der Literatur- und der Kanzleigeschichte zurückgegriffen werden. Vgl. für die Erziehungsgeschichte die Arbeiten aus der Reihe „Monumenta Germaniae Paedagogica“ und hier bes. Friedrich Schmidt, Geschichte der Erziehung der pfälzischen Wittelsbacher, Berlin 1899 (Monumenta Germaniae Paedagogica 19); für die Literaturwissenschaft: Backes [Lit.-Verz.]; für die Kanzleigeschichte: Peter Moraw, Kanzlei und Kanzleipersonal König Ruprechts, Archiv für Diplomatik 15 (1969), S. 428–531; ders., Grundzüge der Kanzleigeschichte Kaiser Karls IV., Zeitschrift für historische Forschung 12 (1985), S. 11–42; Ivan Hlavá ek, Das Urkunden- und Kanzleiwesen des böhmischen und römischen Königs Wenzel (IV.) 1376–1419. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Diplomatik, Stuttgart 1970 (Schriftenreihe der Monumenta Germaniae Historica 23); Christoph Freiherr von Brandenstein, Urkundenwesen, Kanzlei, Rat und Regierungssystem des Pfälzer Kurfürsten Ludwig III. (1410–1436), Göttingen 1983 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 71); Heinrich Koller, Zur Bedeutung der eigenhändigen Briefe Kaiser Friedrichs III., in: Friedrich Battenberg u. F. Rainieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Fs. Bernhard Diestelkamp, Weimar [u.a.] 1994, S. 119–129; Joachim Spiegel, Urkundenwesen, Kanzlei, Rat und Regierungssystem Ruprechts I. (1309–1390), 2 Teile, Neustadt an der Weinstraße 1996/98 (Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Rh. B, Abhandlungen zur Geschichte der Pfalz 1); Christian Lackner, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406), München 2002 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Erg.-Bd. 41). Eine kritische Gesamtschau, wie sie etwa für die englischen und französischen Verhältnisse geleistet wurde, fehlt indes noch für die deutsche Adelserziehung. Für Frankreich vgl. Jacques Krynen, Idéal du Prince et Pouvoir Royal en France à la Fin du Moyen Age (1380–1440), Paris 1981; für England: Nicholas Orme, From Childhood to Chivalry. The Education of the English Kings and Aristocracy 1066–1530, London, New York 1984. Vorwiegend für Deutschland vgl einstweilen: Adolf L. März, Die Entwicklung der Adelserziehung vom Rittertum bis zu den Ritterakademien. Phil. Diss. Wien 1950 (Masch.); Herbert Grundmann, Litteratus – illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: ders., Ausgewählte Aufsätze, Teil 3, Stuttgart 1987 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 25,3), S. 1–66, u. Alfred Wendehorst, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?, in: Johannes Fried (Hg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Sigmaringen 1986 (Vorträge und Forschungen 30), S. 9–33. In jüngster Zeit hat sich jedoch die deutsche spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Adelsforschung verstärkt des Themas angenommen. Vgl. den Sammelband von Werner Paravicini u. Jörg Wettlaufer (Hgg.), Erziehung und Bildung bei Hofe, Stuttgart 2002 (Residenzenforschung 13). 7 S. hierzu die Einleitung zum vorliegenden Band von Fritz Peter Knapp.
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Mustert man die überlieferten Zeugnisse auf Gelegenheiten hin durch, bei denen die sprachlichen Bildungsvoraussetzungen der regierenden Fürsten thematisiert werden, dann fallen fünf Situationen besonders ins Auge. Zunächst werden sprachliche Fertigkeiten angesprochen, wenn sie bei der Erziehung der Prinzen eine Rolle gespielt haben. Zum anderen werden auch spätere Bemühungen der Regenten um Sprachbildung berührt. Drittens erforderte der Umgang mit anderssprachigen Untertanen Kenntnisse in fremden Sprachen. Viertens waren Fremdsprachenkenntnisse, zumindest des Lateinischen, auch in der Diplomatie, etwa im Verkehr mit anderssprachigen Herrschern, vonnöten. Und fünftens schließlich gehörten Schreib- und Lesefertigkeiten dazu, wenn Briefe und Urkunden erstellt werden sollten. Damit sind allerdings lediglich die Anforderungssituationen selbst umschrieben. Sie erscheinen naheliegend und leuchten sofort ein. Es verdient jedoch noch ein Vorgang Aufmerksamkeit, dessen Berücksichtigung den Blick auf die Quellen schärfen kann. Vor dem 13. Jahrhundert waren weltliche Adelige, die selbst lesen und schreiben konnten, nicht nur Ausnahmeerscheinungen, sie mußten sogar mit dem Spott ihrer Standesgenossen rechnen. „Doctor, Schulmaister, Vossen, Schreiber, Schüler“ waren – jedenfalls nach heutigem Verständnis – noch die glimpflichsten Schimpfworte, mit denen ein studierender Adliger bedacht werden konnte.8 Sie deuten auf starke standesbedingte Vorbehalte hin, und zwar nicht in erster Linie gegenüber den vermittelten Inhalten, sondern vielmehr gegenüber den vermittelnden Personen und den Tätigkeiten, die zur Aneignung von Wissen notwendig waren. Schreiben und Lesen galten in deutschen Adelskreisen weithin als inferiore Verrichtungen.9 Denn seit
8 Siegmund Herberstein (1486–1566) wurde seiner Autobiographie zufolge mit diesen Worten verhöhnt, weil er an der Wiener Universität studiert hatte. Auch als „Blackschiter, Buchgucker, Bletterwender, Stubenfincken, Polsterwermer“ wurden studierte Leute von Adligen benannt, so Cyriakus Spangenberg in seinem AdelsSpiegel, Bd. 2, Schmalkalden 1594, f. 346v. Vgl. hierzu Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984), S. 257–354, hier S. 276 mit Anm. 71, sowie Rainer A. Müller, Universität und Adel. Eine soziostrukturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472–1648, Berlin 1974 (Ludovico Maximilianea. Forschungen u. Quellen, Forschungen 7), S. 44–53. 9 Boehm [Anm. 5], S. 406. Auch die Tatsache, daß zahlreiche adelige Frauen über Schreib- und Lesefertigkeiten verfügten, steht dazu nicht im Widerspruch, wenn man ihre soziale Stellung im Vergleich zu adligen Männern berücksichtigt.
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Jahrhunderten war es der Adel gewohnt, sich im Rahmen seiner Herrschaftstätigkeit der Lese- und Schreibfertigkeit geistlicher Gebildeter zu bedienen, die entweder am Hof selbst oder in den Schreibstuben von Klöstern und Stiften des Herrschaftsbereiches zur Verfügung standen. Ebenso war es auf diese Weise möglich, an der Vermittlung von Literatur teilzuhaben. Man ließ schreiben, und man ließ sich vorlesen. Andererseits barg die beschriebene Haltung tatsächlich die Gefahr in sich, daß der Adel sich zugleich auch von den Bildungsinhalten entfernte. Mahnende Stimmen gegen die geistige Trägheit, mangelnde Studierwilligkeit, ja Bildungsfeindlichkeit des Adels sind bereits seit dem hohen Mittelalter zu vernehmen und gehören zu den gängigen Topoi der Adelskritik. Auch Sebastian Brants Gedanke, daß ein vorbildlicher Herrscher Bildung besitzen sollte, läßt sich bis ins erste Viertel des 12. Jahrhunderts zurückverfolgen.10 Am schärfsten hat ihn in seiner Umkehrung wohl William von Malmesbury um 1120 ausgedrückt: „Ein ungebildeter König ist ein gekrönter Esel.“11 Daß dieses einprägsame Diktum auch in der Zwischenzeit keineswegs in Vergessenheit geriet, wird dadurch belegt, daß es über die Jahrhunderte und ebenso über den hier zu betrachtenden Zeitausschnitt hinweg immer wieder aufgegriffen wurde. Johannes Rothe (um 1360–1434), Scholastikus am Marienstift in Eisenach, bezog in seinem ‚Ritterspiegel‘ das geflügelte Wort gleich auf den gesamten illiteraten Adel: Eyn awisiger, tummer edilman der sich keynerlei dingis schemit, Ist eyme gekronetin esel glich getan der den hundin ist vorfemit.12
Seit den Fürstenspiegeln des späten 15. Jahrhunderts ist der als Imperativ gemeinte Topos des princeps litteratus dann zum festen Bestandteil dieses Genres geworden.13 Die Humanisten des 16. Jahrhunderts
10 Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde., München 1986, bes. S. 595ff., hier 596. 11 Rex illiteratus quasi asinus coronatus. Ebd., S. 595, mit Nachweisen. 12 Johannes Rothe, Der Ritterspiegel, hg. v. Hans Neumann, Halle/Saale 1936 (Altdeutsche Textbibliothek 38), vv. 1465–1468. Vgl. Schreiner [Anm. 8], S. 274f. Anm. 66. 13 Zum Konzept des ‚princeps litteratus‘ s. Bruno Singer, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, München 1981
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erhoben ihn schließlich zum Ideal und versuchten den Adel auf dieses Bildungskonzept zu verpflichten.14 Bei alledem ist jedoch zu berücksichtigen, daß sich hier zumeist Gelehrte zu Wort meldeten, die über den Wert von Bildung urteilten. Daß sie ihn recht hoch veranschlagten, vermag kaum zu überraschen und ist somit in Rechnung zu stellen. Will man sich nicht an die Argumentationskette von Sebastian Brant legen lassen und die Nachrichten über die fürstlichen Bildungsvoraussetzungen unvoreingenommen deuten, so dürfen daher „beide Seiten dieses Vorganges – sowohl das pädagogische Bemühen von Predigern und Spieglern als auch das innere Widerstreben des Adels, sich durch Lesen zu bilden“15 – nicht außer Acht gelassen werden. Im folgenden soll deshalb der Blick nicht allein auf die historischen Situationen gerichtet werden, in denen sprachliche Anforderungen an die Regenten zutage treten. Aufmerksamkeit gebührt ebenso den konkreten Erzählzusammenhängen, in die diese Anforderungssituationen eingebettet sind, sowie den allgemeinen Darstellungsabsichten der Autoren, sofern sie aus deren Texten selbst hervorgehen oder aus ihrem sonstigen Persönlichkeitsbild abgeleitet werden können. Denn bislang wurden die wenigen überlieferten Mitteilungen zumeist aus ihrem Kontext herausgelöst betrachtet und eins zu eins als Beleg für die Bildung oder Unbildung eines Fürsten genommen.16 Selten wurde ein Nachweis problematisiert, sein Aussagewert hinterfragt, indem z.B. seine Gewährsleute überprüft wurden.17 Genau das ist aber nötig, um deren Haltung
(Humanistische Bibliothek, Rh. 1, 34), S. 35–38, 45, 63–65, 67–69, 136–138 u. 160, u. Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Stuttgart 1938 (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde 2), S. 66–71. Vgl. hierzu auch Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, Göttingen 1979 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 63), S. 53–56. 14 „Es bedurfte langwieriger Erziehungsarbeit, ehe sich der Adel den Umgang mit Büchern als eine seinem Stand gemäße und erstrebenswerte Lebensform zu eigen machte.“ Schreiner [Anm. 8], S. 273. Vgl. auch Wilhelm Kühlmann, Apologie und Kritik des Lateins im Schrifttum des deutschen Späthumanismus. Argumentationsmuster und sozialgeschichtliche Zusammenhänge, Daphnis 9 (1980), S. 33–63, bes. 46, sowie Gerhard Fouquet, Erziehung und Bildung bei Hofe. Eine Zusammenfassung, in: Paravicini u. Hirschbiegel [Anm. 6], S. 267–277, hier 270. 15 Schreiner [Anm. 8], S. 273. 16 Vgl. etwa Max Koch, Die Kirchenpolitik König Sigmunds während seines Romzuges (1431–1433), Phil. Diss. Leipzig o. J. [1907], S. 9 Anm. 1, o. Joerg K. Hoensch, Kaiser Sigismund. Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit 1368–1437, München 1996, S. 36. 17 Vgl. etwa Frank Rexroth, Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln.
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zur fürstlichen Elementarbildung ermitteln und bei einer Gesamtbeurteilung berücksichtigen zu können. Auf diese Weise sollte es gelingen, den ‚Anpassungsdruck‘ im Bereich sprachlicher Bildung auf spätmittelalterliche Regenten genauer zu bestimmen, als dies bislang möglich war. Im folgenden sollen die einzelnen Nachweise daher eingehender betrachtet werden. Sie werden dabei jeweils den fünf aufgezählten Anforderungssituationen zugeordnet und anschließend einer zusammenfassenden Betrachtung unterzogen. Die meisten und wohl bekanntesten Zeugnisse auf dem Gebiet der spätmittelalterlichen Prinzenerziehung beziehen sich auf einen König und Kaiser, der selbst als lateinischer Autor hervorgetreten ist. Zum Teil stammen sie sogar von ihm persönlich. Die Rede ist von dem Luxemburger Karl IV. (1346–1378). Er hat eine Legende des Hl. Wenzel und eine Autobiographie verfaßt und letztere zu großen Teilen eigenhändig niedergeschrieben. Möglicherweise gehört auch ein Fürstenspiegel zu seinen Werken.18 Karl war zunächst in Böhmen aufgewachsen. Ab dem siebenten Lebensjahr wurde er allerdings auf Geheiß seines Vaters am französischen Königshof erzogen.19 Sein Vater, König Johann von Böhmen (1310/11–1346), war ein Bewunderer des Pariser Hoflebens, eine von seinen Schwestern war mit dem französischen König Karl IV., dem Schönen (1322–1328), vermählt, und zudem war es bereits seit längerem üblich, daß die jungen luxemburgischen Grafen zu Paris unterrichtet wurden. Karl
Die Intentionen des Stifters und die Wege und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat, Köln [u.a.] 1992 (Beihefte des Archivs für Kulturgeschichte 34), S. 180–185, über das Eingeständnis Pfalzgraf Ruprechts I., ein ungebildeter Laie zu sein, sowie Jan-Dirk Müller, Der siegreiche Fürst im Entwurf der Gelehrten. Zu den Anfängen eines höfischen Humanismus in Heidelberg, in: August Buck (Hg.), Höfischer Humanismus, Weinheim 1989 (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 16), S. 17–50, 39–41, über die Nachrichten zur Erziehung Pfalzgraf Friedrichs I. Zu diesen beiden Beispielen s. unten bei Anm. 74 bzw. 38. 18 Vita Caroli Quarti. Die Autobiographie Karls IV. Einführung, Übersetzung und Kommentar von Eugen Hillenbrand, Stuttgart 1979. Anton Blaschka, Kaiser Karls IV. Jugendleben und St.-Wenzels-Legende, Weimar 1956 (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 3,83). Zur Diskussion um die Autorschaft des Fürstenspiegels s. Ji®í Spevá ek, Karl IV. Sein Leben und seine staatsmännische Leistung, Prag 1979, S. 176 mit Anm. 428. 19 Vgl. hierzu den Überblick von Carl D. Dietmar, Die Beziehungen des Hauses Luxemburg zu Frankreich in den Jahren 1247–1346, Köln 1983 (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur 5), bes. S. 144–147, mit älterer Literatur.
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verbrachte die Jahre 1323 bis 1330 in Frankreich, die zwei folgenden in Luxemburg und Italien. Die älteste Nachricht über die sprachliche Ausbildung des jungen Fürsten überliefert der Abt des Klosters Königsaal, Peter von Zittau († 1339), in seiner Chronik.20 Er berichtet zum Jahr 1333 über die Rückkehr Karls nach Böhmen und sinnt den Gründen dafür nach, warum der Erbprinz so viele Jahre seinem Reich ferngeblieben sei. Wie allgemein erzählt werde (ut communiter dicitur), habe König Johann befürchtet, daß die (böhmischen) Adligen seinen Sohn entführen und, seiner Entscheidung vorgreifend, zum König erheben könnten. Er aber glaube, daß der durch göttliche Vorsehung wohlbegabte Jüngling nach Frankreich geschickt wurde, damit er dort Weisheit und ordentliche Lebensführung erlerne. Er habe nämlich durch eine Probe herausgefunden, daß Karl für sein Alter hinreichend Fleiß besitze und mit angenehmen Umgangsformen ausgestattet sei. Er verfüge über vierfache Sprachkenntnisse: des Französischen, des Italienischen, des Deutschen und des Lateinischen; in diesen Sprachen wisse er zu schreiben, zu lesen und zu verstehen, und er könne sich bestens ausdrücken: Quadruplex ipse scit lingwagium, Gallicum, Lombardicum, Teutunicum et Latinum; in hiis lingwis scit scribere, legere et intelligere, et se optime potest expedire.
Als nun der vielgenannte Jüngling, so der Chronist weiter, in sein Erbreich zurückgekehrt sei, das ihm aufgrund der Nachfolge seiner mütterlichen Familie gehörte, da habe er es in Wirren und aufgeteilt vorgefunden, zu sehr auch von der rechten Herrschaft verlassen. Peters Kritik an König Johann ist, wenngleich er sie nur implizit äußert, unübersehbar. Hoffnungen setzt er hingegen in dessen Sohn und Thronfolger Karl, dem er ein besseres Regiment in Böhmen zutraut, nicht zuletzt aufgrund seiner guten Ausbildung. Der Abt konnte diese beurteilen. Er selbst besaß Kenntnisse in der lateinischen, deutschen, tschechischen und einer romanischen Sprache, „was ihn als gelehrten Mann ausweist“.21
20 Hg. v. J. Emler, in: Fontes rerum Bohemicarum, Bd. 4, Prag 1884, S. 1–337, hier c. III, S. 318. 21 Baumann [Lit.-Verz.], S. 39: „Gerade an seiner Chronik zeigt sich die Vertrautheit mit den mittelalterlichen Poetiken (vgl. Apostrophen, Aphorismen, Reime, Rhythmisierung usw.).“
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Karl selbst geht im dritten Kapitel seiner überwiegend chronologisch fortschreitenden Lebensbeschreibung, die er zwischen 1365 und 1372 verfaßt hat, ausführlich auf seine Erziehung am französischen Königshof ein: Misitque me meus pater iam dictus ad dictum regem Francie me existente in septimo anno puericie mee (. . .). Dilexitque me prefatus rex valde, et precepit capellano meo, ut me aliquantulum in litteris erudiret, quamvis rex predictus ignarus esset litterarum. Et ex hoc didici legere horas beate Marie virginis gloriose, et eas aliquantulum intelligens cottidie temporibus mee puericie libencius legi, quia preceptum erat custodibus meis regis ex parte, ut me ad hoc instigarent. Rex autem predictus non erat avarus pecunie, et utebatur bono consilio et curia ipsius resplendebat senum principum tam spiritualium quam secularium congregacione.22 „Und es sandte mich mein schon genannter Vater zu dem erwähnten König von Frankreich, als ich gerade im siebenten Jahr meiner Knabenzeit war (. . .). Der erwähnte König liebte mich sehr und trug meinem Kaplan auf, mich ein wenig in den litterae zu unterrichten, obwohl der König selbst der litterae unkundig war. Damals lernte ich die Horen der glorreichen, heiligen Jungfrau Maria lesen, und sobald ich sie ein wenig verstand, las ich sie in den Zeiten meiner Kindheit täglich lieber, zumal meinen Aufsehern von Seiten des Königs befohlen war, mich dazu anzuhalten. Der erwähnte König war nicht geldgierig, er befolgte guten Rat, und sein Hof erglänzte durch die Versammlung lebenserfahrener Fürsten sowohl geistlichen als auch weltlichen Standes.“
Aus den königlichen Rechnungen geht hervor, daß Karls Erzieher während dieser Zeit die gelehrten Kleriker Johann und Huetus von Viviers waren, die der französische König dazu bestellt hatte.23 Das erudire in litteris schloß in jedem Fall das Lesen des Lateinischen ein, wie aus der nachfolgenden Horenlektüre hervorgeht, wahrscheinlich auch das Schreiben. Bemerkenswert erschien Karl zudem die Tatsache, daß es der König war, der den Anstoß zu seinem Unterricht gegeben hatte, obwohl der Herrscher selbst ein ignarus litterarum war. Im gleichen Atemzug lobt er seine großzügige Hofhaltung und weise Regierung. Für dessen Nachfolger, Philipp VI. (1328–1350), hat er hingegen nur Tadel übrig. Philipp habe zwar die Ratgeber seines Vorgängers beibehalten, auf ihre Ratschläge sei er aber keineswegs
22
Vita Caroli [Anm. 18], S. 82. Jaroslav Mezník, Berichte der französischen königlichen Rechnungen über den Aufenthalt des jungen Karl IV. in Frankreich, Mediaevalia Bohemica 1 (1969), S. 291–295, hier 292f. 23
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eingegangen und habe sich der Habsucht überlassen. Unter Philipps Räten gab es jedoch einen, von dessen Sprachgebrauch und Beredsamkeit ( facundia seu eloquencia) sich Karl in seiner Erinnerung stark beeindruckt zeigt. Dieser homo facundus et litteratus war der Abt von Fécamp, Pierre Roger, der spätere Papst Clemens VI. (1342–1352). Er habe am Aschermittwoch in Philipps erstem Regierungsjahr eine Messe gehalten und dabei mit solcher Eindringlichkeit gepredigt, daß er von allen gelobt worden sei. Während Karl ihm andächtig zuhörte und ihn anschaute, sei er so tief in Betrachtungen versunken, daß er sich innerlich zu fragen begann, was es sei, daß von jenem Manne soviel Sympathie in ihn einströmte. Er habe darauf dessen Bekanntschaft gemacht, und der Abt habe ihn liebevoll und väterlich gehegt, indem er ihn öfter über die heilige Schrift belehrte (Kap. 3). Neben Peter von Zittau erwähnt auch Karl seine Rückkehr nach Böhmen. Und er schreibt in diesem Zusammenhang, daß er dank der göttlichen Gnade nicht nur das Böhmische, sondern auch das Französische, Lombardische, Deutsche und Lateinische so sprechen, schreiben und lesen gelernt habe, daß er eine wie die andere dieser Sprachen geläufig schreiben, lesen, reden und verstehen könne (Kap. 8). Auf Nachweise dafür, daß Karl hiermit keineswegs übertrieb, sowie auf die Unterschiede zum Bericht des Abtes von Königsaal wird an entsprechender Stelle noch zurückzukommen sein. Die dritte und letzte Nachricht über Karls Bildungsgang stammt von Benesch Krabice von Weitmühl (†1375), einem Kanoniker des Allerheiligenkapitels auf der Prager Burg. Auch er geht im zweiten Buch seiner ‚Chronik der Prager Kirche‘ kurz auf Karls siebenjährigen Aufenthalt am Hof des französischen Königs ein und teilt dann mit, daß der junge Prinz sich dort das Lesen und/oder Schreiben des Lateinischen und des Französischen sowie die Umgangsformen des Landes angeeignet habe (literas latinas et lingwam atque mores Francigenarum addisceret perfecte).24 Benesch war von Karl IV. beauftragt worden, die Chronik des Franz von Prag zu überarbeiten.25 Am Anfang seines zweiten Buches weist er darauf hin, daß er nun beginne, gemäß der Absicht des Kaisers zu schreiben (secundum intencionem domini imperatoris). Diese
24 Hg. v. J. Emler, in: Fontes rerum Bohemicarum, Bd. 4, Prag 1884, S. 459–548, hier 498. 25 Baumann [Lit.-Verz.], S. 43.
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Aussage darf sicher auch auf den Inhalt ausgeweitet werden, so daß die verarbeiteten Informationen entweder auf den Kaiser und dessen Vita zurückgehen oder doch zumindest mit seinem Einverständnis verwendet wurden. Was Karls eigene Haltung zur Bildung angeht, so hat er sie an zwei Stellen klar zum Ausdruck gebracht. Gleich zu Beginn des schon zitierten dritten Kapitels seiner Lebensbeschreibung teilt er mit, daß er sie für seine Erben und Nachfolger verfaßt habe (successioni vestre diligenter scripsi ). Von seinem nichtigen und törichten Leben (de vana et stulta vita) wolle er schreiben, damit es ihnen zum Beispiel gereiche. Doch auch von der ihm durch Gott verliehenen Gnade und seiner „Liebe zum Studium“ (amor studii ), an der sein Herz beharrlich festgehalten habe, wolle er nicht schweigen, damit sie um so mehr hofften, daß die göttliche Hilfe ihnen in ihren Bemühungen beistehe, je mehr ihre Väter und Vorgänger ihnen davon erzählten. Es ging ihm also nicht nur darum, seinen Nachfolgern „einen ‚Spiegel‘ oder das Bild eines musterhaften und erfolgreichen Herrschers zu zeigen“.26 Mit der Intention, daß „sich das politische Handeln an den Taten der Vorgänger bilden soll und ihre in Historien bewahrten Erfahrungen den begrenzten Erfahrungsraum des Einzellebens erweitern können“,27 nahm Karl IV. vielmehr einen wesentlichen Programmpunkt humanistischer Regentenerziehung vorweg. Und in seinen ‚Moralitates‘, einer später so benannten Sammlung von Auszügen aus geistlichen Texten, philosophischen Sentenzen und moralischen Belehrungen, die offenbar zur Fortsetzung seiner Lebensbeschreibung gedacht war, formulierte er noch deutlicher: „Falsch handelt, wer die Weisheit sucht, ohne zu lesen, und sich nicht nach Kräften bemüht, sie zu erlangen; und wer gedenkt, sie ohne Bildung zu erlangen, ist ein Unwissender.“ Non recte agit, qui quaerit sapientiam non legendo et non laborat studens in eadem adquirenda; et ille, qui cogitat eam habere cum aliqua inhabilitate, est ignorans.28
Das gelte freilich auch für den Herrscher:
26
So Spevá ek [Anm. 18], S. 175. Müller [Anm. 17], S. 40. 28 Karl Wotke, Moralitates Caroli quarti imperatoris, Zeitschrift des Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens 1 (1897), S. 41–76, hier 61. 27
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„Wie gut hat es ein Volk, dessen König von starker Urteilskraft, gut beraten und des zu Wissenden kundig ist, und wie schlecht ergeht es demselben, wenn ihm irgendeines von den Vorgenannten fehlt.“ Quam bene est populo, cuius rex est bonae discretionis et boni consilii et sapiens in sciendis, et quam male est ipsi, quando aliquid praedictorum deficit ei.29
Daher sei es auch wichtig, daß der König seinem Sohn das Wissen darum mitteile, wie er seine Herrschaft erhalten, sich sittlich in seinem Volk verhalten und seine Bosheit steuern könne; weder sollte er seinem Sohn gestatten, sich der Jagd hinzugeben, noch anderen Ausschweifungen, sondern ihn darin unterweisen, wohlgesetzt zu sprechen, und ihn dazu bringen, Eitelkeiten zu vermeiden. Interest regis informare filium scientiis, qualiter suum regnum conservet et qualiter sit rectus in populo suo et qualiter dirigat malitiam suam; nec permittat multum uti venatione aut aliis vagationibus et instruat eum loqui composite et vitare faciat vanitates.30
Die bildungspolitischen Maßnahmen Karls IV. erschöpften sich indes nicht in Gedanken und Ermahnungen, was wohl am besten das in diesem Zusammenhang häufig zitierte Kapitel 31 in den Metzer Gesetzen der ‚Goldenen Bulle‘ belegt, das man als „die erste reichsgesetzliche Ausbildungsvorschrift“ bezeichnet hat.31 Darin postulierte Karl, daß die Kurfürsten ihre Söhne und künftigen Nachfolger zwischen dem siebenten und dem vierzehnten Lebensjahr in Sprachen unterrichten lassen sollten, und zwar, da sie ja Deutsch in der Kindheit auf natürliche Weise lernten, in lateinischer Grammatik sowie in italienischer und in slawischer Sprache. Es sollte dabei der Entscheidung der Eltern überlassen werden, ob sie ihre Söhne oder ihre nächsten nachfolgenden Verwandten zu Orten schickten, an denen sie sich in diesen Sprachen bilden konnten, oder ob sie in ihren eigenen Häusern Lehrer als Erzieher und ihnen in diesen Sprachen erfahrene Knaben als Spielgefährten beigaben, damit sie gleichermaßen durch den Umgang mit ihnen und durch deren Unterricht in diesen Sprachen unterrichtet werden konnten.32 Anklänge an Karls eigenen Bildungsweg
29
Ebd., S. 60. Ebd. 31 Boehm [Anm. 5], S. 405. 32 Lorenz Weinrich, Quellen zur deutschen Verfassungsgeschichte des römischdeutschen Reiches im Spätmittelalter (1250–1500), Darmstadt 1983 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 33), Nr. 94b, S. 393f. 30
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sind hier gewiß nicht zu überhören, wenngleich die Verfasserfrage letztlich ungeklärt ist.33 Bei seinen eigenen Söhnen scheint Karl IV. diese Forderungen konsequent umgesetzt zu haben, soweit sich dies aus ihren späteren Sprachfertigkeiten folgern läßt.34 Für den erstgeborenen Wenzel ist sogar ein Bildzeugnis überliefert, das für die Lesefähigkeit des jungen Prinzen spricht. Es gehörte zu einem Bilderzyklus in der Nürnberger Moritzkapelle, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts freigelegt wurde, aber infolge der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verloren ist. Die Wandmalerei bestand aus mindestens vier Szenen, die „in einen ziemlich steil abfallenden Spitzbogen eingeordnet“ waren, und befand sich an der nördlichen Wand des einschiffigen Gotteshauses.35 „Unterhalb des Scheitels sieht man in einem eingezäunten, mit Bäumen und Blumen besetzten Garten eine weibliche, stehende Figur mit blauem, pelzverbrämtem Rock und goldenem Gürtel. In der Linken hält sie ein geflochtenes Körbchen, während die Rechte ein mit einem Siegel versehenes Schriftstück von einem Boten in Empfang nimmt. Über ihr schwebt ein Adler mit mächtig ausgebreiteten Schwingen. Links am Bildrande steigt ein bärtiger König von seinem Pferde; offenbar erwartet er die Rückkehr des Boten. Unterhalb dieser Darstellung sind unter einem horizontalen Streifen drei zum Teil schlecht erhaltene, gegeneinander nicht abgetrennte Szenen sichtbar. Aber man erkennt doch noch, daß es sich links um eine Geburt handelt. Von der Lagerstätte der Kindbetterin ist noch das Fußende mit grüner Decke sichtbar, und unter dem Bogen der Wochenstube steht der königliche Vater, den wir eben kennen gelernt haben. Er hält den Neugeborenen zum Zeichen seiner Anerkennung mit beiden Armen hoch. Es folgt die Taufe des Knaben. Wiederum der König, links vom Taufbecken mit einem Pagen, und ihm gegenüber ein Erzbischof, an dem Pallium erkennbar, der den kräftigen Täufling hochhält. [. . .] Im Bilde nebenan ist der Knabe herangewachsen. Er geht zur Schule, in der ihn der König besucht.
33 Zur Verfasserschaft s. Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356, bearb. v. W. D. Fritz, Weimar 1972 (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum 11), S. 12, u. Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV., T. 1, Weimar 1908 (Quellen u. Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter u. Neuzeit 2,1), 178f. 34 Zu Siegmund s. unten bei Anm. 68. 35 Hugo Kehrer, Das König-Wenzel-Fresko in der Marienkapelle zu Nürnberg, Monatshefte für Kunstwissenschaft 5 (1912), S. 65–67, hier 65. Vgl. dazu auch Wilhelm Schwemmer, Zwei Fresken der Luxemburger in Nürnberg, Blätter für deutsche Landesgeschichte 114 (1978), S. 539–545.
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Wir sehen, wie der Prinz im Kreis von Kameraden vor einem aufgeschlagenen Buche sitzt und die ersten Leseübungen vornimmt. Der Lehrer steht rechts im Mittelgrunde.“36
Das sogenannte ‚König-Wenzel-Fresko‘ wird ins letzte Drittel des 14. Jahrhunderts datiert und mit Ereignissen um Geburt und Jugend des langersehnten luxemburgischen Thronfolgers in Verbindung gebracht. Die obere Szene soll danach die Werbung Karls IV. um die Herzogstochter Anna von Schweidnitz darstellen, mit der sich der Kaiser in dritter Ehe am 27. Mai 1353 vermählte. Das zweite Bild zeige den neugeborenen Wenzel, der am 26. Februar 1361 auf der Nürnberger Burg zur Welt kam, das dritte Bild seine Taufe, die am 11. April 1361 in der benachbarten Sebalduskapelle stattfand. Auf dem vierten Bild, der Unterrichtsszene, sei schließlich neben dem Kaiser Wenzels Lehrer Burghard, der Propst von Wischegrad und Kanzler Böhmens, zu sehen.37 Folgt man dieser Deutung, ist auch hier nicht zu übersehen, daß der Impuls zur sprachlichen Schulung des Prinzen von Karl IV. ausging. Das wird durch seine persönliche Anwesenheit bei den Unterrichtsübungen verdeutlicht, wobei der Kaiser seine Hände gleichsam segnend erhebt. Inwieweit der Künstler sich hier an die Vorgaben seines Auftraggebers gehalten hat, bleibt aufgrund der Überlieferungslage ungeklärt. Doch fügt sich die Darstellung gut in das Bild ein, das die schriftlichen Zeugnisse von der Haltung des Kaisers zur sprachlichen Vervollkommnung von Fürsten zeichnen. Eine ähnlich ausführliche Beschreibung der Prinzenerziehung wie für Karl IV., die auch auf die sprachliche Ausbildung des Fürstennachwuchses eingeht, ist ansonsten nur noch in bezug auf die pfälzischen Wittelsbacher des Untersuchungszeitraums überliefert. Die Mitteilungen, die Michel Beheim (1416–1475) im zweiten Buch seiner Pfälzischen Reimchronik (um 1471) macht, sind zwar in erster Linie auf Pfalzgraf Friedrich I., den Siegreichen (1425–1476), gemünzt, der bereits außerhalb des hier betrachteten Personenkreises steht. Sie werfen aber zugleich auch Licht auf den Unterricht seiner fast gleichaltrigen Brüder, des Erzbischofs Ruprecht von Köln (1427–1480) und
36 Kehrer [Anm. 35], S. 65f. Abbildungen ebd., Tafel 20, u. bei Schwemmer [Anm. 35], Abb. 1, beide von so schlechter Qualität, daß auf eine nochmalige Reproduktion verzichtet wurde. 37 Ebd., S. 66f.
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des Pfalzgrafen Ludwig IV. (1424–1449), Friedrichs Vorgänger, weshalb sie hier doch noch von Interesse sind: 27. Da er auch aber gewüchs bass vnd ettwaz grösser worden was, wurden im zu der zucht und ler meister zugeben sunderber, die besten in dem lande so man sie irgen fande. 28. Vnder andern eyner mit fliss, genannt meister Hanns Ernst vast wyss, vernünfftig, sittig, hoch gegrunt, in siben kunsten wol erkunt, die man do heysset freya vnd auch theologya. 29. Diesem Friedrich pfaltzgraf by Ryn vnd den zweyen gebrudern syn, auch beid geboren von der kur, wart mit ersten gehalten fur die ersten elamente vnd buchstaben genente. 30. Nach dyser ziit man in furgab die heiligen geschrifft vorab der bibel vnd auch ander mer.38
Der Reimchronist ist generell darum bemüht, historische Fakten für ein Laienpublikum aufzubereiten. So scheint in dieser Passage z.B. die Tätigkeit von Hans Ernst Landschad von Steinach als Lehrmeister, die auch anderweitig belegt ist,39 für seine gute Unterrichtung und damit für seine Glaubwürdigkeit zu sprechen. Und tatsächlich lassen sich die aufgezählten Fertigkeiten und Interessen auch in Friedrichs Urkunden und an seinem Bücherbesitz bestätigen. Der Schluß, daß sich in diesen Strophen eine Befolgung der ‚Goldenen Bulle‘ widerspiegle, dürfte indes zu weit gehen.40 Denn mit Lesenlernen an lateinischen Texten und selbst Schreibunterricht wären deren Forderungen ja nur zu einem Teil erfüllt worden. Mit dem Studium der Artes, und da besonders des Quadriviums, wie Beheim an anderer Stelle
38 Michel Beheim, Pfälzische Reimchronik. Teilausg. v. Buch 2 u. 3 v. K. Hofmann, in: Quellen zur Geschichte Friedrichs I. Bd. 2, München 1863 (Quellen u. Erörterungen zur bayerischen u. deutschen Geschichte, A.F. 3), S. 1–258, 316–324, hier Buch 2, Str. 27–30. 39 Vgl. Backes [Lit.-Verz.], S. 82. 40 Für Müller [Anm. 17], S. 39, „ist dieser Zusammenhang offenkundig“.
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weiter ausführt (Str. 70–71 u. 96–99), ähnelt die beschriebene Ausbildung der jungen Fürsten hingegen eher auffällig dem Programm humanistischer Regentenerziehung, wie es zeitgenössische Fürstenspiegel entwerfen, und zwar dem Bildungskonzept des princeps litteratus.41 Welche Inhalte also tatsächlich den Bildungsgang von Friedrich und seinen Brüdern bestimmten und „was dabei schon Projektion seiner gelehrten Berater ist, bleibt schwer auszumachen.“42 Weitaus seltener als die elementare Spracherziehung in Kindheit und Jugendzeit werden spätere Bemühungen der Regenten um Sprachbildung in den Quellen erwähnt. So übermittelt der an der Heidelberger Universität wirkende Humanist Jakob Wimpfeling (1450–1528) in seiner ‚Epitome rerum Germanicarum‘ (1505) über den Pfalzgrafen Ludwig III. (1378–1436) die Nachricht, daß dieser, dem Beispiel Catos folgend, erst im Alter Latein gelernt habe, und zwar, weil Kaiser Siegmund gesagt habe, daß ihn die barbarischen Lateinkenntnisse der Kurfürsten mit Scham erfüllten: Ludovicus princeps . . . Latinas literas Catonis exemplo senex didicit, quod audierat Sigismundum imperatorem dixisse pudore sese affici ob principum electorum barbariem, qui Latinarum expertes essent literarum, quas tamen necessario scire deberent.43
Nun hat der gealterte Cato laut Überlieferung Griechisch gelernt, denn Latein konnte er ja schon. Das Beispiel hinkt also etwas. Auf das Lateinische kam es Wimpfeling in diesem Fall aber auch gar nicht so sehr an. Ihm ging es vielmehr um das antike Beispiel eines Gelehrten, der sich, obwohl schon in die Jahre gekommen, noch um Spracherwerb bemüht hatte. Für diese Deutung spricht auch eine ähnliche Stelle in der ‚Philippica‘, die Wimpfeling für Ludwigs III. Urenkel, den Pfalzgrafen Philipp (1480–1541) und späteren Bischof von Freising und Naumburg, verfaßt hat. Auch sie verweist darauf, daß Ludwig III., der Großvater des jetzigen Kurfürsten Philipp (1448– 1508), sich noch in höheren Jahren eifrig darum bemüht habe, in der romanischen Sprache voranzukommen:
41
Ebd. Ebd., S. 40. 43 Ausgabe von 1562, f. 61v. Skeptisch, aber nicht ablehnend hierzu Ritter [Lit.Verz.], S. 291f. Zu Wimpfeling s. Dieter Mertens, Jakob Wimpfeling (1450–1528). Pädagogischer Humanismus, in: Paul Gerhard Schmidt (Hg.), Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, Sigmaringen 22002, S. 35–57. 42
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wolfgang eric wagner Ludowicus Co(mes) Rheni Palatinus, Philippi moderni avus, jam aevo plenus, in Romano eloquio proficere satagebat.44
Ob damit Latein, Französisch oder Italienisch gemeint war, ist nicht endgültig zu klären. Bei der „Philippica“ handelt es sich allerdings nicht um eine heftige Strafrede, wie der wohl bewußt so gewählte Titel vermuten lassen könnte, sondern um einen Fürstenspiegel, der in der literarischen Form der belehrenden Wechselrede, des Dialogs, verfaßt ist. Und die Titel der Einzeldialoge machen ihr Hauptthema offensichtlich: De sapientia principibus necessaria, De iactura imprudentium principum, De sapientia veterum principum, De manifesta ruina fidei christianae ex ignavia regum et imperatorum. „Mit Beispielen von Augustus über die Ottonen, Sigmund, die Pfalzgrafen, bis hin zu Maximilian werden die Vorteile lateinischer Bildung für die Fürsten geschildert: bei der Teilnahme an Beratungen und Disputationen, beim Empfang von Gesandtschaften – Litterae aber auch zur Lektüre von Geschichtswerken als Ansporn für eigene ruhmvolle Taten, Litterae und Philosophie als Grundlage aller Tugenden, staatlicher Wohlfahrt, blühender Religion: Sic patria et respublica servaretur, sic pax inconcussa maneret, sic hostes fidei a Christianis arceri et comprimi, sic boni mores indui, sic Christiana religio resuscitari, sic ad superos ardua via patere posset (fol. a6v).“45
Das humanistische Bildungsanliegen wird besonders an der von Wimpfeling im gleichen Zusammenhang erzählten Siegmund-Anekdote deutlich. Zum einen, weil die Kurfürsten darin in die Nähe von Barbaren gerückt werden aufgrund der Tatsache, daß sie kein oder nur wenig Latein verstünden – eine ebenfalls in der Antike gebräuchliche Gegenüberstellung. Zum anderen, weil sich diese Anekdote in Humanistenkreisen offensichtlich großer Popularität erfreute. Sie erscheint wohl zuerst bei Aeneas Silvius Piccolomini, wurde dann von Wimpfeling und Johannes Cuspinian kolportiert und mußte sogar in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch als Begründung dafür herhalten, daß Herzog Wartislaus IX. von Pommern die Universität Greifswald gestiftet habe.46
44 Jakob Wimpfeling, Philippica, Straßburg: Martin Schott 1498, f. A6r, zitiert nach Backes [Lit.-Verz.], S. 82 Anm. 98. 45 Singer [Anm. 13], S. 198. 46 Aeneas Silvius wird zitiert nach Joseph v. Aschbach, Geschichte Kaiser Sigmunds, Bd. 1, Hamburg 1838, S. 11 Anm. 23. Die dortige Quellenangabe „Aeneas Sylvius stat. Europae sub Frideric. III. c. 1“ konnte ich allerdings nicht verifizieren. –
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Aeneas Silvius
Jakob Wimpfeling
Johannes Cuspinian
Sebastian Bacmeister
[. . .] illi liberalitas ac munificentia, quanta in nullo antea principum religionis ac pietatis augendae studium incredibile, multarum etiam linguarum scientia, et in his linguae Latinae studium excelluit: quare doctos homines fovit [. . .] accusavit saepe Germanos Principes, qui Latinas adissent litteras.
Ludovicus princeps . . . Latinas literas Catonis exemplo senex didicit, quod audierat Sigismundum imperatorem dixisse pudore sese affici ob principum electorum barbariem, qui Latinarum expertes essent literarum, quas tamen necessario scire deberent.
Multarum enim linguarum scientia [. . .] claruit, et linguam Latinam observavit. Ob id doctos homines in primis fovit et amplis dignitatibus honestavit. Saepius accusans Germanos Principes, qui literas odissent Latinas. A quibus quandoque reprehensus est, quod doctos homines foveret, sed humiles familia.
Academia Gryphiswaldensis in Pomeania a Wartislao IX. Pomeranorum duce (qui in Concilio Constantiensi, quid literae prosint intellexerat, cum vel nemo Principum totius Germaniae Linguam Latinam intelligeret, de quo publice tunc Sigismundus Imperator in Concilio conquerebatur) [. . .] fundata [. . .].
Der Grund für die anhaltende Beliebtheit dieser Geschichte liegt auf der Hand: Animierte doch hier einmal der vornehmste Adlige selbst seine unwilligen Standesgenossen, sich endlich sprachlich weiterzubilden. Der Maßstab, den er somit vorgab und in eigener Person verkörperte, so hoffte man, würde bei einer Schicht, die sich vorrangig über den unterschiedlichen Besitz an Ehre definierte, stärker wirken als die Appelle von Gelehrten, mochten deren Argumente auch noch so schlagend sein. Der Wiener Humanist Johannes Cuspinian (1473–1529) bringt genau dies zum Ausdruck, wenn er in seinem Werk ‚De Caesaribus atque Imperatoribus Romanis‘ (1540) neben der hohen und schlanken Gestalt sowie der Freigebigkeit Siegmunds die Kenntnis vieler Sprachen zu einem wichtigen Merkmal seiner königlichen Majestät erklärt, mit der dieser alle anderen Könige seiner Zeit mühelos überragt habe:
Johannes Cuspinian, De Caesaribus atque Imperatoribus Romanis (Ausgabe Basel 1561; UB Rostock Sondersammlungen: Rb-1410), S. 497. – Sebastian Bacmeister, Megapoleos Literatae Prodromus, in: Ernst Joachim von Westphalen, Monumenta inedita rerum Germanicarum, Bd. 3, Lipsiae 1743, Sp. 1038. Sebastian Bacmeister (1646–1704), Sohn des Tübinger Medizinprofessors Johannes B., war Diakon und Pastor zu Travemünde. Vgl. hierzu Adolf Hofmeister, Die geschichtliche Stellung der Universität Greifswald, Greifswald 1932 (Greifswalder Universitätsreden 32), S. 32f. Anm. 14.
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wolfgang eric wagner Nam et maiestate regia, quam in procero ostentabat corpore et liberalitate ac munificentia, quam multarum linguarum peritia insigniorum reddidit, omnes facile suæ ætatis reges antecellebat.47
Den dritten Anlaß, die sprachlichen Elementarkenntnisse der Fürsten zu thematisieren, bot deren Umgang mit anderssprachigen Untertanen. Wiederum liegen hier die meisten Nachrichten für Karl IV. vor. Nachdem er von seinem Vater zuerst nach Luxemburg und dann als dessen Stellvertreter nach Italien beordert worden war, durfte Karl im Spätsommer 1333 nach Böhmen zurückkehren. Seine Ankunft, wie er sie in seiner Lebensbeschreibung schildert, enthält die oben bereits kurz erwähnte Passage, die aber nicht nur seine Sprachkenntnisse, sondern zugleich auch seine Haltung zu den Sprachnationen erhellt. Als er nach Böhmen kam, habe er weder Vater noch Mutter, nicht Bruder noch Schwestern oder sonst irgendeinen Bekannten angetroffen. Auch die böhmische Sprache habe er völlig vergessen gehabt, habe sie jedoch nachher wieder erlernt, so daß er sie wie jeder andere Böhme redete und verstand. Dank der göttlichen Gnade habe er aber nicht nur das Böhmische, sondern auch das Französische, Lombardische, Deutsche und Lateinische so sprechen, schreiben und lesen gelernt, daß er eine wie die andere dieser Sprachen geläufig schreiben, lesen, reden und verstehen konnte (Kap. 8): Et sic cum venissemus in Boemiam, non invenimus nec patrem nec matrem nec fratrem nec sorores nec aliquem notum. Idioma quoque Boemicum ex toto oblivioni tradideramus, quod post redidicimus, ita ut loqueremur et intelligeremus ut alter Boemus. Ex divina autem gracia non solum Boemicum, sed Gallicum, Lombardicum, Teutunicum et Latinum ita loqui, scribere et legere scivimus, ut una lingua istarum sicut altera ad scribendum, legendum, loquendum et intelligendum nobis erat apta.
Erfährt man daraus zunächst, daß Karl bereits vor seiner Abreise nach Frankreich Tschechischkenntnisse besessen hatte, so fällt im Weiteren eine gewisse Bemühtheit darum auf, gerade keine Vorliebe für eine der aufgezählten Sprachen zu äußern. Daß Karl hiermit auf zeitgenössische sprachnationale Tendenzen reagierte, ahnt man, wenn etwa Peter von Zittau in seiner Chronik das Tschechische bei der oben zitierten Aufzählung von Karls Sprachkenntnissen einfach wegläßt und nur auf das Gallische, das Lombardische, das Deutsche und das Lateinische verweist. Wenige Zeilen weiter weiß er zudem zu 47
Cuspinian [Anm. 46], S. 491.
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berichten, daß Karl fast das gesamte Gefolge seiner ersten Gemahlin Blanca von Valois einen Monat nach ihrer Ankunft in Böhmen nach Frankreich und Luxemburg zurückgeschickt und durch böhmische Adelige ersetzt habe. Zudem habe Blanca Deutsch zu lernen begonnen, um besser mit den dortigen Leuten zusammenzuleben, und sich darüber hinaus auch im Tschechischen geübt. Denn in fast allen Städten des Reiches und im Umgang mit dem König sei das Deutsche mehr gebräuchlich als das Tschechische: Familia vero fere tota, que de Francia et de Luczelburgensi comicia cum eadem Blanka in Boemiam venerat, lapso uno mense cum expensis duorum milium sexagenarum in die beate Margarete ad terras suas remittitur et familia alia de Boemia per nobiles terre eidem domine applicatur. Ut autem hominibus benignius possit convivere, lingwam Teutunicam incipit discere et plus in ea solet se quam in ligwaio Boemico exercere; nam in omnibus civitatibus fere regni et coram rege communior est usus ligwe Teutunice quam Boemice ista vice.48
In die gleiche Richtung geht der Elsässer Jakob Twinger von Königshofen (1346–1420), der sagt, Karl kunde sehs sprochen, vnder den hette er dütsche sproche aller liebest. Und diese habe Karl auch so gefördert, daß man überall in Böhmen deutsch sprach, wo vorher nur böhmisch zu hören war. Bei diesen Äußerungen Twingers ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß er „seine Chronik bewußt in deutscher Sprache abgefaßt [hat], da es bisher an solchen Werken gefehlt habe, obwohl doch kluge Laien sich ebenso informieren wollten wie gelehrte Pfaffen“.49 Im Widerspruch dazu steht nämlich, daß Karl in Prag, Aachen und Ingolstadt Stiftungen eingerichtet hat, deren Geistliche zwar nicht unbedingt Slawen, aber auf jeden Fall der slawischen Sprache mächtig sein sollten, und das, weil er, so wörtlich, „der Sprache seiner Geburt mit liebevoller Sanftmut verbunden“ war (qui nobis natalis linguae dulci et suavi mansuetudine connectuntur).50 Doch dürfte sich aus 48
Peter von Zittau [Anm. 20], c. 1. Die Chronik des Jakob Twinger von Königshofen, hg. v. C. v. Hegel, in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte, Straßburg, Bd. 1, Leipzig 1870 (Die Chroniken der deutschen Städte 8), S. 230–910, hier 230. Vgl. Klaus Wriedt, Latein und Deutsch in den Hansestädten vom 13. bis 16. Jahrhundert, in: Bodo Guthmüller (Hg.), Latein und Nationalsprachen in der Renaissance, Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 17), S. 287–313, hier 290. Zu Twinger s. Dorothea Klein u. Gerd Melville, Twinger, Jakob, von Königshofen, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 9 (1995), Sp. 1181ff. 50 So in einer Urkunde vom 18. Januar 1349 für das Prager Hieronymuskloster: Leander Helmling u. Adolf Horcicka, Das vollständige Registrum Slavorum, Prag 49
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den sprachnationalen Tendenzen und Karls IV. eigenen Erfahrungen im Umgang mit anderssprachigen Untertanen sicher auch die bereits angesprochene Gesetzgebung für den Sprachunterricht des kurfürstlichen Regentennachwuchses in der ‚Goldenen Bulle‘ erklären. Denn die dort mitgelieferte, einer Arenga ähnliche Begründung ist durchaus praxisorientiert: Da das Hl. Römische Reich über Gesetze von Völkern verfüge, die nach Gebräuchen, Lebensweise und Sprache verschieden seien, sei es angemessen, daß die Kurfürsten als Säulen und Mauern dieses Reiches in den Unterschieden der einzelnen Sprachen unterwiesen würden, damit sie selbst viel verstünden und von vielen verstanden werden könnten. Und etwas weiter: Denn jene Sprachen (Deutsch, Latein, Italienisch, Tschechisch) seien es, die gewöhnlich am häufigsten zu Nutzen und Notdurft des heiligen Römischen Reiches verwendet und auch in den besonders schwierigen Regierungsangelegenheiten gebraucht würden. Cum sacri Romani celsitudo imperii diversarum nacionum moribus, vita et ydiomate distinctarum leges habeat et gubernacula moderari, dignum est et cunctorum sapientum iudicio censetur expediens, quod electores principes, ipsius imperii columpne et latera, diversorum ydiomatum et lingwarum differenciis instruantur, ut plures intelligant et intelligantur a pluribus, qui plurimorum necessitatibus relevandis cesaree sublimati assistunt in partem sollicitudinis constituti. [. . .] eo quod ille lingue ut plurimum ad usum et necessitatem sacri Romani imperii frequentari sint solite et in hiis plus ardua ipsius imperii negocia ventilentur.51
Auf die offene Verfasserfrage im Hinblick auf die ‚Goldene Bulle’ ist bereits hingewiesen worden.52 In ganz anderer Weise, als Karl IV. dies mit seinem Gesetzeswerk wohl beabsichtigt hatte, soll sein Sohn und Nachfolger, der römische und böhmische König Wenzel (1361–1419), im Verkehr mit Untertanen von seiner Mehrsprachigkeit Gebrauch gemacht haben. Dies erzählt jedenfalls der Nürnberger Patrizier Niklas III. Muffel (†1469) in seinem ‚Gedenkbuch‘ von 1468. Als König Wenzel einmal im Haus seines Großvaters, Niklas I. Muffel (†1392), zu Gast war, soll er dessen Frau darum gebeten haben, ihm die Haare zu
1904 (Die Urkunden des königlichen Stiftes Emaus 1), Nr. 6, S. 21. Vgl hierzu und zu ähnlichen Äußerungen Karls IV. im Zusammenhang mit seinen Stiftungen Peter Wörster, Monasterium sancti Hieronymi Slavorum ordinis sancti Benedicti, Blätter für deutsche Landesgeschichte 114 (1978), S. 721–732, hier 727. 51 Die Goldene Bulle [Anm. 32], S. 392–394. 52 S. oben Anm. 33.
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waschen. Und nachdem sie das getan hatte, habe der König sie gefragt, welchen Lohn sie dafür begehre. Nach anfänglichem Zögern entschied sie sich für einen Teil von der Partikel des Hl. Kreuzes, die der Herrscher an seinem Hals trug. Wenzel habe daher nach einem Priester und einem Goldschmied geschickt, dem Priester aber in tschechischer Sprache aufgetragen, nur ein wenig von dem Span abzuteilen. Doch als der Priester mit einem Messer darangehen wollte, sei der Span von selbst in zwei gleichgroße Stücke zersprungen. Daraufhin habe Wenzel eingestanden, sich im Gespräch mit dem Priester der böhmischen Sprache bedient zu haben, um den größeren Teil der Reliquie zu behalten. Durch göttliches Eingreifen sei allerdings offenbar geworden, daß der Herr wolle, daß das Hl. Kreuz durch sie mehr verehrt werde als durch ihn, den König. Wenzel habe ihr deshalb freigestellt, eines von den beiden Stücken auszuwählen, und ihr obendrein noch 30 Schock böhmischer Groschen überlassen.53 Ohne Zweifel hatte Niklas I. Muffel engere Verbindungen zu Wenzel, denn er betätigte sich als Geldgeber des Königs. Doch die Darstellung dieser Ebene ihrer Kontakte erschien dem 80 Jahre später schreibenden Enkel offenbar zu profan. Mit der Wundergeschichte versuchte deshalb „der Nachgeborene, die wahren Beziehungen zwischen Muffel und dem Luxemburger“ zu überhöhen.54 Die Erwähnung von Wenzels Sprachkenntnissen wirkt hingegen in diesem Zusammenhang zunächst völlig unverdächtig, da sie wie nebenbei erfolgt, und sie erscheint deshalb auch gefahrlos aus der Legende herauslösbar. Natürlich, so meint man, verständigte sich der römisch-deutsche König in der Regel auf deutsch mit seinen Untertanen, und daß er auch tschechisch sprechen konnte, durfte man bei einem böhmischen Herrscher voraussetzen. Möglicherweise konnte der Muffel-Enkel hierbei auch auf mündliche Familienüberlieferungen zurückgreifen. Tatsächlich bildet Wenzels Mehrsprachigkeit jedoch ein entscheidendes Erzählelement, ohne das die Geschichte nicht funktionierte und die Pointe wegfiele. Der schelmenhafte
53 Gedenkbuch von Nicolaus Muffel 1468, in: Die Chroniken der fränkischen Städte, Bd. 5, hg. v. C. v. Hegel, Leipzig 1874 (Die Chroniken deutscher Städte 11), S. 735–751, hier 742f. 54 Gerhard Fouquet, Die Affäre Muffel. Die Hinrichtung eines Nürnberger Patriziers im Jahre 1469, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83 (1996), S. 459–500, hier 467f.
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Täuschungsversuch stellt ein gängiges Literaturmotiv dar, ebenso wie das nachfolgende ‚Gottesurteil‘ und ‚der beschämte Herrscher‘.55 Wenngleich also die von Muffel geschilderten Sprachfertigkeiten gut zur Person Wenzels zu passen scheinen, so sind doch auch in diesem Fall die übergeordneten Erzählstrukturen mitzubeachten, und daher ist gegenüber einer vorbehaltlosen Verwertung der Einzelinformationen Vorsicht geboten. Sie sind weder ein sicherer Beleg dafür, daß Wenzel „als Junge bereits mit dem Hofmeister deutsch und dem Kaplan tschechisch sprechen“ konnte, noch „für seinen laxen Umgang mit den Familienreliquien“.56 Gegenüber dem Habsburger Friedrich III. (1415–1493) gibt der Humanist Aeneas Silvius Piccolomini (1405–1464) in seinem ‚Pentalogus de rebus ecclesiae et imperii‘ das zweideutige Kompliment ab, daß der König „ganz gut Latein spreche, es aber nicht gerne tue, wodurch er sich in den Augen besonders der Italiener viel geschadet habe“.57 Er verstehe nicht, warum Friedrich es vermeide, Latein zu sprechen, und den Nutzen daraus vertue. Wie er den Seinen auf Deutsch antworte, so könne er doch den Fremden auf Latein Genüge tun. Das würde ihn auch nicht mehr Aufwand kosten als zuvor die Vorbereitung deutscher Reden, denn seine Räte könnten ihn dabei unterstützen. Flehentlich bitte er ihn, und, falls es gestattet sei, rate er, daß Friedrich sich so bilde und vorbereite, daß er allen, die bei ihm vorstellig würden, selbst antworten könne, insbesondere den italienischsprachigen, damit nicht, da er König der Latiner sei, der Eindruck entstehe, daß er die Sprache seines Reiches nicht kenne. Er erwarte ja nicht von ihm, daß Friedrich wie Mithridates 22 Sprachen erlerne, aber daß er jene, welche er beherrsche, übe und durch ihren Gebrauch verbessere. 55 So läßt beispielsweise Wernher der Gartenaere Helmbrecht bei seiner Ankunft zu Hause verschiedene Sprachen zur Begrüßung verwenden, um zu demonstrieren, wie ‚höfisch’ der Bauernbursche auf seiner Reise geworden war, woraufhin er von seinem Vater nicht erkannt wird. Meier Helmbrecht, hg. v. Friedrich Panzer u. Kurt Ruh, 10. Aufl., besorgt v. Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 1993 (Altdeutsche Textbibliothek 11), vv. 711–794. Freundlicher Hinweis von Jutta Hoffmann (Berlin). Vgl. auch Horst S. u. Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur, Tübingen 1987, S. 303f. (Täuschung), u. Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 5., überarb. u. erg. Aufl. Stuttgart 1999, S. 296–311 (Gottesurteil) u. 358–370 (Herrscher, Der beschämte). 56 So Franti ek Kavka, Am Hofe Karls IV., Leipzig 1989, S. 60, bzw. Ji®í Spevá ek, Václav IV. 1361–1419, Prag 1986, S. 62. 57 Alphons Lhotsky, Zur Frühgeschichte der Wiener Hofbibliothek, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 59 (1951), S. 329–363, hier 355 mit Anm. 85.
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Nam cum Latine bene scias, cur, oro, loqui vereris, usumque perdis? [. . .] Nam ut tuis respondes Teutonice, sic et alienis Latine poteris satisfacere: nec plus negotii habes quam vetere meditatum Teutonicum. [. . .] Supplex autem postulo, et, si fas est, consulo, ut ita te instituas, itaque disponas, ut venientibus ad te omnibus ipse respondeas, et praesertim latinum sermonem habentibus: ne, cum Latii rex sis, sermonem regni tui videaris ignorare, quod est latine fari. Non exigo a te, ut Mithridatis more viginti duas linguas ediscas, sed illud, quod scis, exerceas et consuetudine augeas.58
Das wohl im Frühjahr 1443 verfaßte ‚Fünfergespräch‘ zwischen Friedrich III., dessen Kanzler Kaspar Schlick, dem Bischof Silvester von Chiemsee, Nicodemo della Scala, dem Bischof von Freising, und dem Autor selbst zeigt Aeneas in seiner neuen Funktion als Sekretär des Königs. Ihm geht es darum, die Einheit der Kirche wiederherzustellen, indem er sich für ein neues Konzil einsetzt. „Für den König selbst entwirft er ein reichspolitisches Programm, dessen Kern die Rückführung Italiens unter die Oberhoheit des römisch-deutschen, vom Papst gekrönten Kaisers ist.“59 Wenn man Aeneas folgt, waren in diesem Zusammenhang nicht zuletzt Friedrichs Lateinkenntnisse von Interesse, um die italienischen Großen für sich zu gewinnen. Als sein Sekretär konnte Aeneas die Sprachfertigkeiten des Königs aus nächster Nähe beurteilen. Und Friedrichs III. eigenhändig geführtes Notizbuch belegt, daß er Latein im Schriftlichen beherrschte.60 Doch ist gerade bei den Äußerungen des Aeneas Silvius generell auch ein humanistisch-pädagogisches Anliegen zu berücksichtigen, insbesondere was die Fürstenerziehung angeht. Vom 5. Dezember desselben Jahres datiert ein Brieftraktat von ihm, das an den jungen Herzog Sigismund von Österreich gerichtet ist, der als Mündel Friedrichs III. am Wiener Neustädter Hof aufwuchs. Aeneas versucht darin, dem jungen Herzog das Ideal eines sowohl humanistisch gebildeten als auch gesitteten Fürsten zu vermitteln.61 Einen größer angelegten
58 Bernhard Pez, Thesaurus anecdotorum novissimus, Bd. 4, Augsburg 1723, Sp. 639–743, hier 647, 649f. u. 657f. 59 Franz Josef Worstbrock, Art. Piccolomini, Aeneas Silvius, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 7 (1989), Sp. 634– 669, hier 648f. 60 Alphons Lhotsky, AEIOV. Die „Devise“ Kaiser Friedrichs III. und sein Notizbuch, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichte 60 (1952), S. 155–193. 61 Rudolf Wolkan (Hg.), Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, Bd. I,1, Wien 1909 (Fontes rerum Austriacarum, II. Abt., 61), Nr. 99, S. 222–236.
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Erziehungsbrief (Febr. 1450) verfaßte er für den zehnjährigen König von Ungarn Ladislaus Postumus.62 „Erörtert wird in einem kürzeren ersten Teil die Fürsorge für die körperliche Entwicklung, im ausgreifenden zweiten die intellektuelle Erziehung. P[iccolomini] legt ihr die Septem Artes zugrunde, gibt aber, nicht allein im Blick auf die Altersstufe des Adressaten, der Grammatik – sie umfaßt drei Gebiete: recte loquendi scientia, poetarum et aliorum auctorum enarratio, scribendi ratio – das bestimmende, nahezu die Hälfte des Traktats beherrschende Gewicht.“63
Eine erzieherische Absicht wird man daher bei jedem Urteil, das Aeneas über das Sprachvermögen eines Fürsten abgibt, in Rechnung zu stellen haben. Der vierte Grund, aus dem heraus fürstliche Sprachfertigkeiten in den Quellen berührt wurden, ist der der Diplomatie. Als Kaiser Karl IV. im Winter 1377/78 noch einmal Frankreich besuchte, wurden er und sein Sohn und Thronfolger Wenzel Anfang Januar 1378 in Paris von seinem Neffen, König Karl V. von Frankreich, empfangen. Dem Bericht der ‚Chronique des règnes de Jean II et Charles V‘ nach wurden dabei von den Herrschern wechselseitig Ansprachen zur politischen Lage gehalten. Da sein Gefolge des Französischen größtenteils nicht mächtig war, soll ihm Karl IV. die wesentlichen Punkte der langen Rede des französischen Königs persönlich übersetzt haben. Et en briefves paroles l’Empereur dist en alemant à ses gens, qui presens estoient et qui n’entendoient pas françois, ce que le Roy luy avoit dit, et leur exposa les lectres que sur ce avoit oy lire . . .64
Anschließend habe er seine eigene Rede in der Landessprache des Gastgebers gehalten. Eine weitere Ansprache an die Vertreter der Pariser Universität sei hingegen auf Latein verfaßt gewesen.
62 Rudolf Wolkan (Hg.), Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, Bd. I,2, Wien 1912 (Fontes rerum Austriacarum, II. Abt., 67), Nr. 40, S. 103–158. 63 Worstbrock [Anm. 59], Sp. 642. 64 Chronique des règnes de Jean II et de Charles V, hg. v. R. Delachenal, Paris 1920, S. 193–277, hier 255f., zum folgenden auch 247 u. 257. Vgl. hierzu Roland Delachenal, Histoire de Charles V, Bd. 5, Paris 1931, S. 61–122, bes. 108–111. Zum Besuch Karls IV. in Frankreich s. zuletzt Franti ek mahel, Studie o cest Karla IV. do Francie 1377–1378. I. Prolegomena: nové poznatky a otázky. [Eine Studie über die Reise Karls IV: nach Frankreich 1377–1378. I. Prolegomena: Neue Erkenntnisse und Fragen], esk asopis historick 101 (2003), S. 781–817.
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Wer der Autor dieser Chronik war, ist zwar umstritten.65 Er ist jedoch mit Sicherheit am französischen Königshof zu verorten. Durchgängig erkennbar ist sein Bemühen, dem französischen König in allen protokollarischen Angelegenheiten des Empfanges den Vorrang einzuräumen, ohne dabei den Kaiser allzu sehr zurückzusetzen.66 Denn der hochgestellte Besuch sollte den eigenen Herrscher ja erhöhen. Das Eingehen auf die beachtlichen kaiserlichen Sprachfertigkeiten konnte hierbei zumindest kompensierend wirken. Zudem scheint Karl IV. die Rolle des Sprachgebildeten nicht ungern eingenommen zu haben, was wiederum zu den anderen Nachrichten paßt, die in dieser Hinsicht für ihn vorliegen. Konnte er hier doch seinem Sohn und seinem Gefolge auf zugleich eindrucksvolle Weise einmal praktisch vorführen, wofür fürstliche Sprachkenntnisse von Nutzen waren. Die folgende Zeit des Schismas und der Konzile brachte zahlreiche weitere Gelegenheiten mit sich, bei denen verschiedensprachige Fürsten miteinander in Kontakt traten und treten mußten. Eine gemeinsame Verständigungsgrundlage bot dabei in der Regel das Latein. Der schon erwähnte Humanist Jakob Wimpfeling erzählt indes in seiner ‚Epitome rerum Germanicarum‘ um 1500, daß sich der zweite Sohn und Nachfolger Karls IV., Siegmund, wehmütig geschämt habe wegen der Unwissenheit der Kurfürsten, die die lateinische Sprache weder lesen noch verstehen konnten: Hic Sigismundus cum moerore dicebat sese erubescere propter ignorantiam principum electorum, qui Latinas literas neque legere neque intelligere possent (f. 51v).67
Siegmund selbst konnte dem Magnum Chronicon Belgicum zufolge mehrere Sprachen, nämlich die lateinische, die deutsche, die böhmische, die slawische, die italienische und die französische, und er habe sie alle gleich gut sprechen können.
65 Die These, daß der Verfasser der Chronik der Kanzler Karls V., Pierre d’Ogemont, sei, die vom Herausgeber Delachenal zurückgewiesen worden war, wurde von Heinrich Neureither, Das Bild Karls IV. in der französischen Geschichtsschreibung, Phil. Diss., Heidelberg 1964, S. 66ff. u. 112ff., wieder aufgegriffen. Thomas [folgende Anm.], S. 99 Anm. 2, schließt sich indes wieder der Meinung von Delachenal an. 66 Heinz Thomas, Ein zeitgenössisches Memorandum zum Staatsbesuch Kaiser Karls IV. in Paris, in: Wolfgang Haubrichs [u.a.] (Hgg.), Zwischen Saar und Mosel. Fs. Hans-Walter Herrmann, Saarbrücken 1995 (Veröffentlichungen d. Kommission f. Saarländische Landesgeschichte u. Volksforschung 24), S. 99–119, bes. 107–110. 67 Wimpfeling, Epitome [Anm. 43].
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wolfgang eric wagner Scivit multas linguas, primo Latinam et Theutonicam, Bohemicam, Slavicam, Italicam et Gallicam, quibus omnibus loqui congrue poterat.68
Das zum Ausgang des 15. Jahrhunderts geschriebene Chronicon, das den Zeitraum vom Jahr 54 bis 1475 umfaßt, geht auf einen Chorherren aus dem Augustinerkonvent bei Neuss am Rhein zurück, der sich aufgrund seiner Arbeitsweise selbst als Collector bezeichnet, aber namentlich nicht bekannt ist.69 Die Stelle ist eingebettet in eine Lebensbeschreibung Siegmunds. Zuvor berichtet der Autor von den Bemühungen des Herrschers, die Häresie in Böhmen und Prag sowie in Mähren „auszurotten“, unmittelbar im Anschluß geht er zum Aufenthalt Siegmunds auf dem Konzil von Konstanz über. Ob hier eine gedankliche Verbindung zu den Klagen vorliegt, die Siegmund dort laut Wimpfeling und seinen Humanistenkollegen über die mangelnden fürstlichen Lateinkenntnisse geäußert haben soll, unterliegt der Spekulation. Der Zusammenhang fällt jedoch auf. Neben Wimpfeling ist es besonders der Wiener Humanist Johannes Cuspinian, der die Klagen Siegmunds tradiert und kontrastierend dazu auf dessen eigene Sprachgewandtheit hinweist.70 Unmittelbar bevor er in ‚De Caesaribus atque Imperatoribus Romanis‘ darauf eingeht, teilt er eine Lesefrucht mit, die von einem Sprachschnitzer des Königs handelt. Danach soll der ansonsten rede- und sprachgewandte Siegmund auf dem Konstanzer Konzil von den grammatischen Regeln abgewichen sein, indem er das Wort ‚Schisma‘ als Maskulinum und nicht als Neutrum verwendet habe, wie das die Grammatiker lehrten. Und als er dafür von dem Kardinal Placentinus getadelt worden sei, habe er schlagfertig geantwortet: „Placentinus, Placentinus! Wenn Du auch sonst in allem unseren Beifall findest, so kann es uns kaum gefallen, daß Du unsere Autorität für geringer erachtest als die des Grammatikers Priscianus, den ich, wie Du 68 Magnum Chronicon Belgicum, in: Rerum Germanicarum veteres iam primum publicati scriptores, hg. v. Johann Pistorius, Bd. 3, Frankfurt 1607 (Exemplar UB Rostock Sondersammlungen Re-63[3]), S. 1–456, hier 356: Multos labores subivit pro extirpatione hæresis in Bohemia et Praga et in Moravia. Scivit multas linguas, primo Latinam et Theutonicam, Bohemicam, Slavicam, Italicam et Gallicam, quibus omnibus loqui congrue poterat. Fuit in Sacro Concilio Constantiensi (. . .). 69 Magnum Chronicon, in quo cumprimis Belgice res et familiae diligenter explicantur, Authore vel Collectore ordinis S. Augustini canonicorum Regularium prope Nußiam religioso (ebd. 1). Vgl. K.E. Hermann Müller, Das Magnum Chronicon Belgicum und die in demselben enthaltenen Quellen. Ein Beitrag zur Historiographie des 15. Jahrhunderts, Berlin 1888, S. 2. „Dem Anschein nach fühlte er sich als Deutscher“ (ebd. 45). 70 S. oben bei Anm. 46.
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behauptest, verletzt haben soll.“ Diese Entschuldigung für den begangenen Irrtum sei von allen Anwesenden mit sehr großem Gelächter aufgenommen worden: Passim autem id de eo scribitur, cum in concilio Constantiensi, lapsu forte linguae, alioqui disertus ac facundus, multarumque linguarum peritus, a Grammaticae regulis deerrasset, scismaque masculino non neutro genere (ut Grammatici docent) protulisset, esse tum a Placentino correptum Cardinale. Cui mox ex tempore dixit: Placentine, Placentine, si omnibus placeres, minime nobis places, qui minoris nos auctoritatis quam Priscianum Grammaticum, quem offendisse me asseris, existimas. Maximo omnium qui aderant cachinno suscepta est Cesaris peccati commissi excusatio.71
Die Geschichte war, wie Cuspinian mit seinem passim scribitur bereits andeutet, offenbar weiter verbreitet. Denn es existiert noch eine Variante davon, in der die Rolle des Kritikers von einem anonymen alten Böhmen eingenommen wird. Auf die Frage des Königs, woher er sein Wissen habe, antwortet jener, daß Alexander de Villa Dei dies so sage. Worauf Siegmund zurückfragt, wer denn dieser Alexander sei, und zur Antwort erhält, daß es sich um einen Mönch handele. „Und ich bin römischer Kaiser, deshalb wiegt mein Wort allemal soviel wie das eines Mönches!“, soll Siegmund nach dieser Version gesagt haben.72 Die Anekdote scheint eher dazu geeignet, die ständische Einteilung der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu beleuchten. Cuspinian dient sie jedoch als Aufhänger dafür, die Sprachkenntnisse Siegmunds thematisieren zu können. Bemerkenswert ist auch, daß in beiden Versionen auf verschiedene Grammatiker Bezug genommen wird. Der hochmittelalterliche Alexander de Villa Dei (†1240/50), dessen ‚Doctrinale‘ im späteren Mittelalter weite Verbreitung fand, galt in Humanistenkreisen gegenüber dem antiken Priscianus (Ende 5./Anfang 6. Jh.) als ‚Barbar‘,73 was auf eine Bearbeitung der Geschichte hindeuten könnte. Und wollte man sehr spitzfindig sein, dann müßte man auch anmerken, daß Siegmund erst 1433, also lange nach dem Konzil
71
Cuspinian [Anm. 46], S. 497. Diese Version bei A. S. Shaw, The earliest latin grammars in english, Transactions of the Bibliographical Society 5 (1898/1900), S. 39–65, S. 44; Wayland Johnson Chase, The ars minor of Donatus, Madison 1926 (University of Wisconsin Studies 11), S. 18, sowie Heinrich Fichtenau, Die Lehrbücher Maximilians I. und die Anfänge der Frakturschrift, Hamburg 1961, S. 13, alle ohne Quellennachweis. 73 Vgl. Gregor Müller u . Erwin Neuenschwander, Art. Alexander de Villa Dei, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München, Zürich 1980, Sp. 381. 72
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von Konstanz, zum Kaiser gekrönt worden ist. Zweifel an der Aussagekraft dieser treppenwitzartigen Nachricht für Siegmunds Sprachfertigkeiten scheinen mithin durchaus angebracht. Als fünfte und letzte der Gelegenheiten, bei der das Thema Sprachkenntnisse aufgeworfen wurde, ist die fürstliche Urkundenausstellung einschließlich des Briefwechsels anzusprechen. Dieser Bereich überschneidet sich häufig mit dem der Diplomatie, so daß nur die hier gewählte Schwerpunktsetzung auf den sprachlichen Aspekt, insbesondere die Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation, eine Trennung rechtfertigt. Auch hier ist wieder mit Karl IV. zu beginnen. Im vierten Buch seiner Chronik erzählt Benesch von Weitmühl über Karl, daß er zahlreiche Briefe zu verschiedenen Zeiten und an verschiedene Personen geschrieben habe, in denen viel Nützliches und Ersprießliches enthalten gewesen sei. So tiefgründig und hochintellektuell seien diese gewesen, daß selbst Doktoren der Theologie seinen Verstand bewundert hätten. Bei vielen Magistern der freien Künste hätten Karls Wissen und Fähigkeiten ebenso tiefe Bewunderung ausgelöst: „Wie konnte er nur solche Fortschritte in der Wissenschaft machen“, sollen sie sich gefragt haben, „da er doch so geringe Zeit hindurch die Schulen besucht hat, sich schon in frühester Jugend den Geschäften hingegeben und sich mehr als wackerer Ritter in der Welt als in der Schule umgetan hat?“ Plures eciam epistolas, in quibus multa utilia et salutaria continentur, scripsit iste Karolus diversis temporibus ad diversas personas, ita profundi sermonis et alti intellectus, ut eciam magistri sacre theologie ingenium ipsius in magna haberent ammiracione. Multi eciam magistri liberalium arcium de huius principis sciencia et pericia mirabantur, intra se dicentes: Quomodo hic scit et profecit in sciencia, qui pauco ipse scholas frequentavit et in iuventute postea deditus seculi negociis, miles strennuus magis in seculo quam in scolis fuit conversatus. Sed ut concludam, Deo nichil est impossibile, cuius spiritus, ubi vult, spirat. Et David canit: Domine non cognovi litteraturam etc.
Glaubt man Beneschs Darstellung, so bestätigen die verwunderten Äußerungen der Gelehrten die Ausnahmestellung Karls IV. Mit seinem hohen Bildungsgrad scheint er ganz und gar nicht den damals gewohnten adligen Herrschern entsprochen zu haben. Zur Glaubwürdigkeit des Chronisten ist indes oben bereits einiges gesagt worden. Er schrieb im Auftrag Karls IV., und so dürfte auch in diesem Fall das entworfene Bild des Herrschers mit diesem abgeglichen worden sein. Eigenhändige Briefe oder Urkunden sind von Karl IV., im Gegensatz zu seinem Sohn Wenzel, bislang nicht identifiziert wor-
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den, so daß das scripsit in dieser Passage wohl auch eher im Sinne von „ließ schreiben“ zu verstehen ist.74 Der rheinische Kurfürst Pfalzgraf Ruprecht I. (1358–1390) entschuldigte sich in einem Schreiben vom 10. Oktober 1379 an den französischen König Karl V. für die Verzögerung seiner Antwort, indem er auf seine unzureichenden Schrift- und Lateinkenntnisse verwies. Der König solle ihn wegen des langen Ausbleibens einer sofortigen Erwiderung, wie sie seiner Durchlaucht zustehe, verschonen, da dies nicht aus Bosheit, sondern aus seiner Einfachheit heraus geschehen sei, vor allem weil er sich in Wahrheit für unzulänglich erachte, auf so bedeutende und überaus wichtige Punkte, die das Seelenheil beträfen, angemessen und pflichtschuldigst zu antworten. Denn er gebrauche allein seine Muttersprache, sei ein einfacher Laie und ohne Schriftkenntnisse: insuper illustrissime princeps et domine, supplicamus humiliter, ut de mora per nos habita in rescribendo illico, prout serenitati vestrae decuisset, nobis parcere velitis, cum hoc non ex malitia sed ex simplicitate processerit, praesertim quia re vera nos insufficientem, qui sola materna lingua utimur et simplex laicus sumus et litteras ignoramus, ad tanta et praemaxima puncta, quae salutem respiciunt animarum, reputamus congrue et debite respondere.75
In einem Schreiben vom Mai 1379, das dem Pfalzgrafen durch den königlichen Gesandten, den Bischof von Paris, überbracht worden war, hatte ihn Karl V. aufgefordert, angesichts der Doppelbesetzung des apostolischen Stuhls für einen der beiden Päpste Stellung zu beziehen.76 Ruprecht teilte ihm nun Näheres über die Reichstage zu Frankfurt im Februar und September mit, auf denen für Urban VI. 74 Vgl. oben bei Anm. 25. Allerdings hat Karl häufiger, zumindest bis zur Kaiserkrönung, seine Urkunden eigenhändig unterfertigt. Wilhelm Erben u.a., Urkundenlehre, T. 1, München, Berlin 1907, S. 258f. Zu einem eigenhändigen Brief Wenzels von 1368 s. Johann Lechner, Zur Geschichte König Wenzels (bis 1387), Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Erg.-Bd. 4 (1901), S. 339–354. Mehrere eigenhändige Subskriptionen sind auch von dem habsburgischen Herzog Rudolf IV. (1339–1365) bekannt. Seine Brüder Albrecht III. (1349/50–1395) und Leopold III. (1351–1386), von denen nur eine eigenhändige Unterfertigung überliefert ist, gaben jedoch diese Neuerung ihres Bruders wieder auf. Ihre Nachfolger Wilhelm (1370–1406) und Albrecht IV. (1377–1404) haben keine ihrer Urkunden eigenhändig unterschrieben. Lackner [Anm. 6], S. 229. Vgl. auch Wendehorst [Anm. 6], S. 19. 75 Reichstagsakten, Ältere Reihe, Bd. 1, hg. v. Julius Weizsäcker, München 1867, Nr. 149, S. 263f. 76 Regesten der Pfalzgrafen am Rhein, Bd. 1, bearb. v. Adolf Koch u. Jakob Wille, Innsbruck 1894, Nr. 4271.
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gestimmt worden war, und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, daß auch Karl um der Einheit der Christenheit willen noch dessen Partei ergreifen werde. Die von Ruprecht in diesem Zusammenhang vorgebrachte Entschuldigung ist einerseits als „umständlich“ charakterisiert worden, man hat sie als diplomatischen Schachzug gedeutet, um der Diskussion mit dem Clementisten Karl aus dem Wege zu gehen.77 Andererseits ist sie als „Eingeständnis“ der „real empfundene[n] Unterlegenheit des Pfalzgrafen“ auch wörtlich genommen worden.78 Hatte „der schwertkundige Alte“ also „von der Wesensart des böhmischen Königs, von dem Typus des feinen, klugen und kühlen Diplomaten, des Hofmannes mit europäischer Bildung [. . .] nicht viel an sich“, wie das seine Charakteristik durch die Limburger Chronik nahelegt?79 Oder kam es Ruprecht in dieser Situation vielleicht doch sehr gelegen, sich hinter die Fassade des ignarus litterarum zurückziehen zu können? Sein Zögern begründete der Pfalzgraf selbst unmittelbar im Anschluß an seine Entschuldigung noch zusätzlich mit einem Folgeargument: Aufgrund seiner Unwissenheit habe er zuerst und verständlicherweise über die Meinungen und Festlegungen mehrerer Prälaten, in Theologie und im Kirchenrecht erfahrener (sacrorum theologiae et canonum peritorum) und anderer notabler Personen informiert werden wollen, um antworten zu können. Mittlerweile sei jedoch das Problem in parlamentis regalibus zweimal beraten worden, und an diesen Beratungen hätten die Kurfürsten und andere geistliche und weltliche Fürsten, in Theologie und beiderlei Recht erfahrene Männer (in sacra pagina et in utroque jure periti viri ) sowie Herren und Städte in großer Zahl teilgenommen. So sei man schließlich zu der besagten Stellungnahme gelangt.80 Soviel wird deutlich: Die Beseitigung der Kirchenspaltung brachte neue Anforderungssituationen für die Herrschenden hervor. Komplizierte Gegenstände und häufige Verhandlungen ließen den Bedarf an kompetenten Beratern und Unterhändlern und damit den Wert 77 Alois Gerlich, Die Anfänge des großen abendländischen Schismas und der Mainzer Bistumsstreit, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 6 (1956), S. 25–76, hier 51f. 78 So Grundmann [Anm. 6], S. 65, u. Rexroth [Anm. 17], S. 181f., sowie Ritter [Lit.-Verz.], S. 39, der allerdings eine eher vermittelnde Position zwischen beiden Deutungen einnimmt. 79 Die Limburger Chronik des Tilemann Elhen von Wolfhagen, hg. v. A. Wyss, Hannover, Leipzig 1883 (Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken 4,1), c. 39. Vgl. Ritter [Lit.-Verz.], S. 39. 80 Wie Anm. 75.
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von Bildung klarer zutage treten. Doch „in der Pfalz sucht man bis zum Beginn des Schismas gelehrte Beamte im landesherrlichen Dienst vergebens.“81 Das galt auch für die pfalzgräfliche Kanzlei: „Die Texte der Briefe und Mandate sind, wie auch die der Urkunden, fast ausschließlich in der deutschen Sprache der Zeit verfaßt worden, während die lateinische Sprache häufig für die Datierung verwendet wurde.“82 Diese Befunde scheinen stark für den Realitätsgehalt von Ruprechts Äußerungen zu sprechen. Andererseits war der Pfalzgraf zu dieser Zeit noch in eine weitere Auseinandersetzung verwickelt, und zwar mit dem Mainzer Erzbischof Adolf von Nassau (1373–1390). Am 7. Oktober 1379, nur wenige Tage also vor dem Brief an den französischen König, war es in Weinheim in dieser Angelegenheit zu einem vorübergehenden Ausgleich gekommen.83 „Die räumliche und zeitliche Nähe zu den Weinheimer Abmachungen gibt zu denken. Bahnt sich in der offenen Absage Ruprechts I. in der Kirchenfrage an Karl V. von Frankreich nicht auch gleichzeitig eine Frontstellung gegen den Mainzer Elekten an?“84 Adolf von Nassau war ein Anhänger Clemens’ VII., und Ruprechts Haltung in der Kirchenfrage stand schon seit längerem fest. Bereits im Februar 1379 war er an der Formierung des ‚Urbanbundes‘ beteiligt gewesen. Zur selben Zeit, am 20. Februar 1379, hatte Ruprecht jedoch gerade eine Übereinkunft mit Gesandten Karls V. über eine Ehe zwischen seinem jüngeren Verwandten Pfalzgraf Ruprecht Pipan (†1397) und der französischen Königstochter Katharina getroffen.85 Auf dieses Eheprojekt mußte im Verkehr mit dem französischen König Rücksicht genommen werden, wollte man es nicht gefährden. Unterfertigt hatte die Übereinkunft u.a. der öffentliche Notar Mathias Folz von Sobernheim, der von 1375 bis 1381 in pfalzgräflichen Diensten stand.86 Auf ihn hätte Ruprecht also jederzeit zurückgreifen 81
Rexroth [Anm. 17], S. 184. Spiegel [Anm. 6], S. 105f. Eine Ausnahme bilden Spiegel zufolge zwei Briefe Ruprechts I., bei denen über einem auf deutsch geschriebenen Text die abgesetzte Intitulatio samt Devotio auf lateinisch erscheine (U 1356, 1384, vom 6. Sept. [1356] bzw. vom 4. Dez. [1359], beide für die Stadt Hagenau). Hinzu käme das hier interessierende Dokument, das Spiegel in seiner Arbeit nicht behandelt. 83 Regesten der Pfalzgrafen am Rhein 1 [Anm. 76], Nr. 4312. Vgl. dazu Gerlich [Anm. 77], bes. 41. 84 Ebd., 52. 85 Regesten der Pfalzgrafen am Rhein 1 [Anm. 76], Nr. 4271. Zusammen mit seinem Neffen Ruprecht II. und dem Burgrafen Friedrich von Nürnberg. 86 Spiegel [Anm. 6], S. 127 u. 132f. Oberster Schreiber Ruprechts I. war in der fraglichen Zeit (1375–1381–[1388]) Nikolaus von Wiesbaden, Propst zu Deventer 82
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können. Und ganz so ungebildet, wie er sich dem französischen König gegenüber gab, war der fast Siebzigjährige letztlich wohl auch nicht: Bereits 1365 hatte er sich durch Johann von Speyer die Weltchronik Rudolfs von Ems abschreiben lassen.87 Es gibt mithin auch eine Reihe von Hinweisen darauf, daß bei Ruprechts Entschuldigung gegenüber Karl V. von Frankreich ebenso politisches Kalkül im Spiel war. Als „älteste verläßliche Nachricht über den Bildungsstand eines kurpfälzischen Fürsten“88 wird man die Äußerungen Ruprechts I. jedenfalls nicht nehmen dürfen. Über die Sprachkenntnisse Herzog Albrechts V. (1397–1439), des späteren römisch-deutschen Königs, liegen gleich mehrere Nachrichten vor, die mit der Ausstellung von Urkunden in Zusammenhang stehen. Sie stammen z.T. aus den Rektoratsakten der Wiener Universität und aus den Akten der Artistenfakultät. Als der vierzehnjährige, gerade erst für mündig erklärte Fürst im Wintersemester 1411 von einer Abordnung unter Leitung des Rektors um eine Bestätigung der Universitätsprivilegien gebeten wurde, habe er die Vorlage einer deutschen Übersetzung sowie eine Niederschrift über die Bedürfnisse seiner Hohen Schule verlangt.89 Item XVII. die Octobris rector cum deputatis accessit dominum principem petendo confirmacionem privilegiorum et proponendo tres articulos juxta formam conclusionis universitatis conclusam prima die Septembris, quibus princeps se exhibebat graciosissimum et favorosum, petens omnium privilegiorum copiam in teutonico sibi et suo consilio presentari; (. . .) et quia privilegia non erant in toto translata nec copiata nec articuli particulariter defectus et necessitates universitatis continentes fuerant preconcepti non poterat statim secundam commissionem principis fieri execucio premissorum.90
Unterstellt man, daß der Herzog die Privilegien vor ihrer Bestätigung selbst lesen wollte, so müßte man annehmen, daß seine Lateinkenntnisse im Bistum Utrecht, später Bischof von Speyer. Schreiber war zu dieser Zeit neben Mathias Folz auch Otto vom Stein (1379–1384). 87 Konrad Burdach, Die pfälzischen Wittelsbacher und die altdeutschen Handschriften der Palatina, Zentralblatt für Bibliothekswesen 5 (1888), S. 111–133, hier 118, mit Verweis auf Philipp Strauch, Pfalzgräfin Mechthild in ihren litterarischen Beziehungen, Tübingen 1883, S. 29. 88 Backes [Lit.-Verz.], S. 80. 89 Dieter Girgensohn, Peter von Pulkau und die Wiedereinführung des Laienkelches. Leben und Wirken eines Wiener Theologen in der Zeit des Großen Schismas, Göttingen 1964 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 12), S. 47 mit Verweis auf Acta rectoratus 2, f. 48. 90 Archiv der Universität Wien, Cod. R 1b (Acta Universitatis seu Rectoratus II, 1402–1422), fol. 48r. Für die Übersendung einer Transkription der fraglichen Passage danke ich Herrn Hofrat Dr. Kurt Mühlberger herzlich.
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hierfür anscheinend nicht ausreichten. Hatte er keine Räte, die ihm den Inhalt der Dokumente hätten vortragen können? Oder vertraute er ihnen ebenso wenig wie offenbar den Professoren? Der Grund dafür, daß die Angelegenheit überhaupt in solcher Ausführlichkeit in den Akten vermerkt wurde, dürfte jedenfalls vor allem in dem zusätzlichen Aufwand zu suchen sein, den die Übersetzung der Universitätsprivilegien verursachte. Diese Art von Aufzeichnungen diente vorrangig als Erinnerungsstütze und Entscheidungshilfe, um in ähnlichen Situationen adäquat und schnell urteilen und handeln zu können. An dem Bemühen um Richtigkeit in den Aussagen, die damit indirekt auch über die Sprachfertigkeiten Albrechts V. getroffen wurden, dürfte daher kaum zu zweifeln sein. Festzuhalten ist aber, daß sie auch in diesem Fall von Gelehrten stammen. Als der Herzog im Februar 1414 in einem Streit mit der Wiener Bürgerschaft vermitteln sollte, verlangten er und seine Räte abermals die Vorlage der Privilegien. Für die Universität ergab sich daraus die Schwierigkeit, ob sie ihm die Originale oder nur Abschriften vorlegen sollte. Und man beschloß, sich vorerst lediglich mit Abschriften in Latein und Deutsch zu begnügen. Allerdings sollte die deutsche Version, wie ausdrücklich vermerkt wurde, mit der lateinischen möglichst weitgehend übereinstimmen. Falls der Herzog und seine Berater allerdings die Originale einsehen wollten, sollten sie ihm an einem sicheren Ort zugänglich gemacht werden: Et recitavit dominus rector, quod princeps cum suis consiliariis vellet videre privilegia universitatis etc. et sic esset difficultas, an littere originales privilegiorum deberent presentari vel solum copie. Et placuit facultati, quod solum presentaretur copie privilegiorum in Latino et Theutonico, quod essent magis consonum Latino; sed si omnino vellent videre litteras originales, quod tunc unus vel duo de consilio deputarentur, qui inferius viderent in loco tuto.91
Räte hatte der Herzog also, wie aus dem kurzen Text hervorgeht. Aber gab es darunter keine gelehrten Räte, die ein solches Schriftstück verständlich vortragen konnten? Diese Frage beantwortet das letzte Zeugnis über die Sprachfertigkeiten Albrechts V. Am 8. Mai 1435 gab es vor Albrecht in der Burg zu Wien eine Vorsprache, wobei der Theologieprofessor Thomas Ebendorfer in vulgari Theotonico das Wort geführt habe und ein Schreiben Kaiser Siegmunds interpretierte, das ihm zu diesem Zweck übergeben worden war. Offenbar war 91
Acta facultatis [Lit.-Verz.], S. 412 zu 1414 Februar 1.
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„Herzog Albrecht V. der lateinischen Sprache nicht so weit mächtig [. . .], daß er eine Rede fließend verstanden haben würde“.92 In dieser Hinsicht war er zweifellos von seinen gelehrten Räten abhängig. Für die vorangegangene Übersicht wurden urkundliche und historiographische Nachrichten zu Situationen gesammelt, in denen sprachliche Anforderungen für ausgewählte spätmittelalterliche Regenten sichtbar werden. Indem die hierzu überlieferten Belege problematisiert wurden, d.h. indem nach den konkreten Erzählzusammenhängen sowie den allgemeinen Darstellungsabsichten der Quellenurheber gefragt wurde, ist der zeitgenössische Stellenwert elementarer Bildung für spätmittelalterliche regierende Fürsten auf der Basis der hier näher untersuchten Beispiele genauer zu bestimmen, als dies bislang möglich war. Die eingehende Betrachtung der entsprechenden Situationen führte zu dem Ergebnis, daß die sprachliche Elementarbildung spätmittelalterlicher regierender Fürsten für durchaus verschiedene Gelegenheiten, aber überwiegend von derselben Personengruppe thematisiert wurde. Entsprachen die Anforderungssituationen auf den ersten Blick durchaus dem gängigen Bild von fürstlicher Regierungstätigkeit, so fällt auf, daß die Berichterstatter über diese Gelegenheiten fast ausschließlich Gelehrte, darunter häufig Humanisten, waren. Ob Pfalzgraf Friedrich der Siegreiche zusammen mit seinen Brüdern, Ludwig IV. und Ruprecht, im Knabenalter die ersten elamente vnd buchstaben lernte, Ludwig III. sich noch im Alter dem Lateinlernen widmete, König Siegmund sich bei einer Rede auf dem Konstanzer Konzil einen Sprachschnitzer leistete, aber andererseits wie König Friedrich III. für seine guten Lateinkenntnisse gelobt wurde: Zumeist stammen die Berichte darüber von humanistisch gesinnten Gelehrten, die damit ein pädagogisches Anliegen verbanden. Sie schufen so eine Nachfrage. Mit ihren Beispielen, die sie in ihren Schriften z.T. wiederholten und variierten, wie etwa die angeblichen Klagen Siegmunds über die Unbildung der Kurfürsten, verfolgten die gelehrten Autoren überwiegend die klar erkennbare Absicht, Adlige zur Beschäftigung mit Bildungsinhalten zu bewegen. Auch Karl IV., der von seinen eigenen Bildungsanstrengungen ausführlich berichtet und sich nachweislich sehr um die gediegene Ausbildung seiner Söhne bemüht hat, bildet hier angesichts seiner moralischen Sentenzen über den Nutzen 92 Alphons Lhotsky, Thomas Ebendorfer. Ein österreichischer Geschichtsschreiber, Theologe und Diplomat des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 1957 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 15), S. 25 mit Anm. 6.
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fürstlicher Bildung keine Ausnahme. Für ihn scheint sprachliche Bildung, wie etwa sein Auftreten während seines letzten Pariser Aufenthaltes zeigt, zugleich einen wichtigen Faktor fürstlich-königlicher Repräsentation dargestellt zu haben.93 Die Äußerungen Piccolominis gegenüber Friedrich III. deuten zudem darauf hin, daß Gelehrte sogar versuchten, Fürsten mit ihren Anregungen auf ein Feld zu bewegen, auf dem sie selbst Experten waren, um sie dort stärker beeinflussen zu können, oder, wenn man im Bild Sebastian Brants und Albrecht Dürers bleiben will, um „ihren“ Fürsten „an die Kette zu legen“. Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussagekraft ihrer Nachrichten für das tatsächliche Bemühen spätmittelalterlicher Regenten um elementare Sprachbildung eher zweifelhaft. Im Zusammenhang mit dem Schisma und den Konzilien ist zwar eine Zunahme sprachlicher Anforderungssituationen für Regenten festzustellen. Um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert waren sie jedoch durchaus noch auf dem herkömmlichen Weg zu bewältigen. Man bediente sich hierzu, wie der habsburgische Herzog Albrecht V. dies tat, gelehrten Personals.94 Die Spärlichkeit zeitgenössischer gegenüber späteren Belegen für fürstliche Sprachbemühungen, die eben überwiegend aus der Humanistenzeit stammen,95 scheint dies zu bestätigen. Der ‚Anpassungsdruck‘ ging demzufolge weniger von den Situationen selbst aus als von den Gelehrten, die sie schilderten. Und er nahm erst ab der Mitte des 15. Jahrhunderts stärker zu. Dem Ideal, das Karl IV. 1356 in der ‚Goldenen Bulle‘ für die Fürstenerziehung formuliert hatte, näherte sich die Wirklichkeit deshalb auch nur ganz allmählich an. Zusammenfassend wird man daher konstatieren dürfen, daß die sprachliche Elementarbildung regierender Fürsten um 1400 vor allem spätere Gelehrte interessierte, von den Regenten selbst aber nur in nachgeordnetem Maße als Gut geschätzt wurde.
93 Vgl. Ferdinand Seibt, Karl IV. Ein Kaiser in Europa 1346 bis 1378, 5. Aufl., München 1985, S. 175. 94 Belegt wird das beispielsweise durch eine Passage in der ‚Concordantia Catholica‘ des Nikolaus von Kues von 1433, in der er die geheime und schriftliche Wahl des römischen Königs vorschlug. Denn er knüpfte daran sogleich das Zugeständnis, daß die Wähler ihre Sekretäre mitbringen durften, sofern sie keine Schriftkenntnisse besäßen: Acceptis itaque scedulis per electores trahat quisque ad partem solus et secrete cum secretario, si literas ignorat . . . (Lib. III. c. 37). Schreibfertigkeit konnte also nicht bei allen Kurfürsten unterstellt werden. Wendehorst [Anm. 6], S. 18. 95 Vgl. etwa die treffende Beobachtung von Backes [Lit.-Verz.], S. 80 Anm. 95, daß die von Schmidt [Anm. 6] für die pfalzgräflichen Wittelsbacher gesammelten Belege zum größten Teil erst aus der Zeit nach 1500 stammen.
PASTORALTHEOLOGISCHE TEXTE DES MATTHÄUS VON KRAKAU Dietrich Schmidtke Zum Stichwort Pastoraltheologie findet man im Evangelischen Kirchenlexikon am Eingang des Artikels folgende Definition: „In der Evangelischen Theologie bezeichnet der Begriff Pastoraltheologie einen bestimmten Typus praktisch-theologischer Theoriebildung. Unter bewusstem Verzicht auf streng wissenschaftliche Methodik widmet sich die Pastoraltheologie der detailgenauen und lebensnahen Rekonstruktion der Berufs- und Lebenswirklichkeit des evangelischen Pfarrers.“1 Aus dem weiteren Verlauf des Artikels, es folgt noch ein Abschnitt über die katholische Kirche, ergibt sich, dass dieser Begriff in zwei Bedeutungen verwandt worden ist, in Bezug auf den Klerikerberuf und in Bezug auf die Laienschicht, ad clerum und ad populum. Bei meiner Begriffswahl habe ich an die zweite Bedeutung (ad populum) gedacht. Matthäus von Krakau hat etwa in seinen Synodalpredigten auch etwas zum Klerikerstand und dessen Verhaltensnormen gesagt. Da diese Texte nicht in deutscher Sprache vorliegen, werde ich hierauf nicht eingehen. Mich interessiert, welche Lehren er dem Laienstande nahegebracht hat. Da ein Hauptthema für Germanisten die Frage ist, inwieweit die Universitäten auf die volkssprachigen Literaturen eingewirkt haben, beginne ich meine Ausführungen mit dem einzigen deutschsprachigen Text, von dem man sagen kann, dass er von Matthäus von Krakau selbst stammt. Es handelt sich um einen Kleintext, eine Beichtformel. Beichtformeln konnten verschiedenen Funktionen dienen. Sie konnten im Gottesdienst – als Predigtannex der sogenannten Offenen Schuld – oder aber außerhalb des Gottesdienstes als praemeditatio, Vorüberlegung vor dem Beichtgang bei der jährlichen Pflichtbeichte dienen.2 Im Falle des Matthäus von Krakau ist die Sachlage eindeu1 Evangelisches Kirchenlexikon, hg. v. Erwin Fahlbusch u.a., Bd. 3, 3. Aufl. Göttingen 1992, Sp 1075–1078. 2 Josef A. Jungmann, Missarum Solemnia, Bd. I, 5. Aufl. Wien etc., 1962, S. 631f. (zur offenen Schuld als Predigtannex).
pastoraltheologische texte des matthäus von krakau 179 tig. Seine Beichtformel, in fünf Handschriften und in zwei Gestalten tradiert, einer Kurz- und einer Langfassung, ist durch lateinische Über- und Schlussschriften präzise bestimmt. In einer Breslauer Handschrift heißt es in der Schlussschrift: Istam confessionem generalem dixit Magister Matheus de Cracovia professor sacrae theologiae, post sermones quos fecit ad populum. In einer Krakauer Handschrift lautet die Überschrift Magister Mathei de Cracovia confessio ad populum. Mit einer oder zwei Ausnahmen stammen die Überlieferungen aus dem ostmitteldeutschen Bereich. In einer moselfränkischen Überlieferung (Trier aus dem Jahre 1419) lautet die Unterschrift Confessio episcopi Wormacensis magistri Mathei.3 Daraus ließe sich folgern, dass Matthäus die Beichtformeln in seiner Heidelberger Zeit geschaffen haben könnte, denn nach seiner Ernennung zum Bischof von Worms 1405 hat er weiterhin in Heidelberg gewohnt. Die Schlussfolgerung ist allerdings fragwürdig, da Matthäus als Autor von Schriften in der Überlieferung des 15. Jahrhunderts häufig als Bischof von Worms bezeichnet wird, wenn nicht gar als römischer Kardinal. Die ihm angetragene Kardinalswürde hat Matthäus bekannterweise nicht akzeptiert. Man wird aufgrund des Übergewichts der ostmitteldeutschen Überlieferungen wohl auf die Entstehung der Beichtformel in der Prager Zeit des Matthäus schließen dürfen. Im Vergleich mit Beichtformeln mittelalterlicher Theologen des 15. Jahrhunderts, etwa im Vergleich mit der Beichtformel, die sich in dem Werk eines Prager Professorenkollegen des Matthäus von Krakau, in Heinrichs von Bitterfeld OP ‚Regimen vitae cum confessionali‘ (trotz des lateinischen Titels ein deutschsprachiges Werk)4 findet, sind die Beichtformeln des Matthäus klarer, übersichtlicher, sie bieten, mit Ausnahme der Krakauer Überlieferung, eine Gruppierung nach peccata cordis, oris, operis et commissionis. Bei Heinrich von Bitterfeld sind die Sünden nach den 5 Sinnen, den 7 Todsünden, den 6 leiblichen und geistlichen Werken der Barmherzigkeit und den 8 Seligpreisungen zu klassifizieren. Der Unterschied erklärt sich
3 Monika Lange, Matthaeus de Cracovia, ‚Ich sundiger mensche bekenne [. . .]‘, Mediaevalia Philosophica Polonorum 24 (1979 57–71. Auf eine weitere (im übrigen ostmitteldeutsche) Textüberlieferung hat Worstbrock im Verfasserlexikon [Lit.Verz.] 6 (1987), Sp. 127 verwiesen. 4 Zum ‚Regimen vitae‘ des Heinrich von Bitterfeld vgl. Dietrich Schmidtke, Die ‚Laienregel‘ des Dietrich Engelhus und ihr literarischer Kontext, in Volker Honemann (Hg.), Dietrich Engelhus, Beiträge zu Leben und Werk, Köln etc. 1991, S. 127–146, spez. S. 133 und S. 143–145.
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natürlich daraus, dass bei Heinrich von Bitterfeld an die praemeditatio vor dem Beichtgang gedacht ist, Matthäus dagen musste einen Text schaffen, den seine Zuhörer nachsprechen konnten. Aus den Überlieferungen der Beichtformeln des Matthäus kann man nicht im einzelnen den liturgischen Kontext entnehmen, in dem die Beichtformel gesprochen werden sollte. Hier können frühe deutschsprachige Beichtformeln abhelfen, etwa der Benediktbeurer Glaube und Beichte III und der damit verwandte Kremsmünsterer Glaube und Beichte.5 Beide Texte entstammen dem 12. Jahrhundert und belegen durch ihre Übergangstexte, wie man sich die Realisierung der Beichtformeln vorzustellen hat. Nach dem Glaubensbekenntnis folgt in Benediktbeuern ein lateinischer Abschnitt Post fidei adnuncionem und eine Exhortatio ad confessionem, die mit der Aufforderung endet: und sprechet nâch mir vil lûterlichen. Darauf folgt die Beichtformel, als pura confessio bezeichnet. Darauf folgt ein Abschnitt Post confessionem, in dem der Prediger ankündigt, dass er jetzt die Sündenvergebungsformel sprechen wird. Darauf folgt in Latein und dann auf Deutsch die Sündenvergebungsformel: Indulgentiam et remissionem omnium peccatorum vestrorum. Daran schließt sich eine Admonitio post indulgentiam, die im wesentlichen die Wirkmacht der Offenen Schuld beschreibt. Aus dem eben Angeführten kann man entnehmen, dass im Nachfeld der ebenfalls volkssprachigen Predigt im Mittelalter5a in den sonst 5 Karl Müllenhoff/Wilhelm Scherer (Hg.), Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.–XII. Jahrhundert, 4. Aufl. v. Elias Steinmeyer, Berlin 1872 (Nachdruck 1964), Nr. XCII, Volker Honemann (Hg.), Kremsmünsterer ‚Beichte und Glaube‘, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 102 (1980), 339–356. Die jüngste Gesamtdarstellung zu den deutschen Beichtformeln stammt von Chiara Staiti, Agli inizi della produzione catechetica in volgare tedesco, Studi Medievali 36 (1995) 657–719. Eine Gesamtausgabe der deutschen Beichtformeln hat Rudolf Schützeichel angekündigt. Ob er darin wohl auch die frühneuhochdeutschen Denkmäler berücksichtigt? 5a Von der volkssprachigen Predigtbetätigung des Matthäus in Prag als Reformprediger an der Teynkirche, von Heidelberg aus als Bischof am Wormser Dom, ist nichts erhalten geblieben. Es sei deshalb auf gewisse Spuren verwiesen. In einer in Landshut entstandenen Handschrift des ‚Marienlebens‘, das normalerweise dem Heinrich von St. Gallen zugeschrieben wird, hat der Schreiber Johannes Reiter eingetragen: als sy gepredigt haben dy zwey meister der heyligen geschrifft meister Matheus und maister Hainrich von Berching und der dritt maister Hainrich von send Gallen. Zur Glaubwürdigkeit dieser Notiz vgl. Hardo Hilg: Das ‚Marienleben‘ des Heinrich von St. Gallen, München 1981, S. 367ff. Von einigen Jahren bin ich in einer Mystikerhandschrift, die aus einem oberrheinischen Nonnenkloster stammen dürfte, auf einen Beleg für den Predigerruhm des Bischofs Matthäus gestoßen. In dieser Handschrift wird ihm die Lectulus noster floridus-Predigt des Heinrich Seuse zugeschrieben, vgl. Dietrich Schmidtke, Eine Beuroner Mystikerhandschrift, Scriptorium 34 (1980), S. 278–287, spez. S. 282.
pastoraltheologische texte des matthäus von krakau 181 durchgängig lateinischen Gottesdienst volkssprachige Elemente eingedrungen waren. In welchen Diözesen des mittelalterlichen Deutschen Reiches diese Praxis ausgeübt wurde, ist nicht im Einzelnen überschaubar.6 Wieso Matthäus von Krakau auf die Idee kam, eine Beichtformel für die Offene Schuld zu entwerfen, lässt sich nicht erkennen. Er hat seine Beichtformel, die mit den Worten Ich sundeger mensche bekenne unserm herren [. . .] beginnt, gewiss nicht ohne Vorbilder erfunden. Monika Lange, die über die Beichtformel einen Aufsatz publiziert hat, weist darauf hin, dass in der Krakauer Handschrift eine verwandte Beichtformel eines Nicolaus von Erfurt, der offenbar wie Matthäus Prediger an der Prager Teynkirchenar, enthalten ist. Wenn man auch die Absicht, die Matthäus mit dem Entwurf der Beichtformel verband, nicht erschließen kann, so wird man wohl doch sagen dürfen, dass Matthäus wohl für die Bewahrung des in den lateinischen Gottesdienst eingedrungenen volkssprachigen Elements mit seinem Beichtformelentwurf eintrat. Noch eine selbstverständliche Schlussbemerkung: Matthäus von Krakau wird die Beichtformel vor einem slawischen Publikum natürlich in slawischer Sprache vorgetragen haben. Zum Abschluss dieses Kapitels noch ein Hinweis auf eine Kleingattung, in der sich Matthäus von Krakau auch als deutschsprachiger Autor betätigt haben könnte. Joseph Klapper hat der Edition der Gebete des Johannes von Neumarkt eine Sammlung von ostmitteldeutschen Gebeten angefügt, die seiner Meinung nach unter dem Einfluss des Johannes von Neumarkt entstanden sind. Unter diesen Gebeten finden sich einige, die in anderen Handschriften als den von Klapper benutzten dem Matthäus von Krakau zugeschrieben werden.7 Es dürfte schwer sein, hier zu einer sicheren Zuschreibung zu gelangen. 6 Der einzige Titel der Sekundärliteratur, in dem man derartige Informationen erwarten würde, ist Andreas Heinz, Die deutsche Sondertradition für einen Bußritus der Gemeinde in der Messe, Liturgisches Jahrbuch 4 (1971) 193–214. Heinz bietet S. 202f. Neben Informationen zur gegenreformatorischen Zeit, S. 205 weist er zum Mittelalter darauf hin, dass die ‚Offene Schuld‘ auch in Polen und dem Erzbistum Prag praktiziert wurde. Das ist für Matthäus von Krakau ein aufschlussreicher Hinweis. 7 Vier Gebete, die Matthäus von Krakau zugeschrieben werden, in Nürnberg. Cod. Cent VI, 44, 185v–189r (vgl. Karin Schneider, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften [der Stadtbibliothek Nürnberg], Wiesbaden 1965, S. 143f. Mit Nachweisen der entsprechenden Stellen bei Klapper). Vgl. ferner Kathedralbibliothek Kalocsa, Ms. 194, Bl. 168r–170r (András Vizkelety, Beschreibendes Verzeichnis der altdeutschen Handschriften in ungarischen Bibliotheken, Bd. II, Wiesbaden 1973, S. 193). – Die Beichtformel des Matthäus in Krakau, UB Jagiell. 2244 läuft in ein Mariengebet aus (Lange S. 71).
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Ich möchte jetzt zur Behandlung jenes Textes des Matthäus von Krakau übergehen, der die intensivsten Übersetzungsbemühungen auf sich gezogen hat, den ‚Dialogus rationis et conscientiae de crebra communione‘. Es existieren etwa 7 bis 9 deutsche Übersetzungen (in 29 Handschriften und einer Inkunabel belegt) und eine französische Übersetzung (1 Handschrift) und durch die Sekundärliteratur geistert die Angabe, dass auch eine tschechische Übersetzung existieren soll.8 Es handelt sich im ‚Dialogus‘ um einen Text, der das Problem der häufigen Kommunion zum Inhalt hat. Dies Thema war im späten 14. Jahrhundert in Prag aktuell, zumal in Universitätskreisen. Hier ist der schon erwähnte Heinrich von Bitterfeld als Vorkämpfer der häufigen Laienkommunion zu nennen. Aus dem Kreis der tschechischen Reformer ist zudem Matthias von Janow anzuführen,9 der für kurze Zeit vom Prager Erzbischof Johann von Jenstein zum Beichtvater am Prager St. Veitsdom ernannt worden war. Das Hauptwerk des Matthias, die ‚Regulae veteris et novi testamenti‘, sollten u.a. der Rechtfertigung der häufigen, möglichst täglichen, Laienkommunion dienen. Auf der Prager Herbstsynode 1388 wurde über seine Thesen verhandelt. Das Werk des Matthäus enthält keine eindeutige Stellungnahme zur Streitsache. Den Streit zwischen den sprechenden Abstrakta im Text sollte am Schluss eine weitere Personifikation entscheiden – der Wille. Diese Entscheidung liegt in den erhaltenen lateinischen Texten und auch in den deutschsprachigen Übersetzungen nicht vor. Matthias von Janow hat in Prag den ‚Dialogus‘ als Zustimmung zu seiner Grundüberzeugung verstanden und diese seine Meinung in die Neufassung seiner ‚Regulae‘ eingefügt.10 Auch in Heidelberg hat man den Text ebenso verstanden. Der Schüler des Matthäus, Heinrich von Altendorf (bzw. von Hessen), hat eine Nachahmung des ‚Dialogus‘ geschrieben: ‚Dialogus inter pontificum et sacerdotem de rara seu frequente celebratione et de communione‘.11 Hier ist die Lösung eindeutig. Aber auch ohne die Prager und Heidelberger Interpretationen 8 Zur tschechischen Übersetzung des ‚Dialogus‘ vgl. Helmut Beifuss, Matthäus von Krakau, Edition der deutschen Übersetzungen des ‚Dialogus rationis et conscientae de communione sive de celebritione Missae‘, in Chloe 25 (1999), S. 983–994. spez. S. 989, B. weist in einer Anmerkung hin auf Se ko/Szafra ski [Lit.-Verz.], S. 363. 9 Zum Prager Streit über die häufige Laienkommunion und die Rolle des Matthias von Janov dabei vgl. Manfred Gerwing, Malogranatum oder der dreifache Weg zur Vollkommenheit. Ein Beitrag zur Spiritualität des Spätmittelalters, München 1986, S. 115f. u.ö. 10 Zur Rezeption des Matthäus durch Matthias vgl. Matthiae de Janov Regulae Veteris et Novi Testamenti, Innsbruck 1908ff., 5. Bde. hg. v. V. Kybal, Bd. IV, S. 325ff. 11 Zu Heinrich von Altendorf und seiner Schrift vgl. Ritter [Lit.-Verz.], S. 338
pastoraltheologische texte des matthäus von krakau 183 des ‚Dialogus‘ des Matthäus ist bei aufmerksamer Lektüre des Textes nicht daran zu zweifeln, dass Matthäus in seinem ‚Dialogus‘ der These der häufigen Laienkommunion zuneigt. Allerdings hat er im Dialog nicht das Richtige auf einen der beiden Gesprächspartner konzentriert. Die kluge Ratio – vielfach naseweis redend – hat nicht immer recht, die von Skrupeln geplagte Conscientia hat dagegen auch ihre eigene Wahrheit. Den Inhalt des Dialoges nachzuerzählen, bereitet Schwierigkeiten: Es fehlt dem Text an einer klaren Argumentationslinie. Ausgangspunkt ist das Verlangen der Conscientia nach Sicherheit in Bezug auf den Kommunionsempfang. Die Vernunft antwortet darauf: Certitudinem non promitto, sed hoc decet tibi sufficere, si rationalius esse quod accedas quam abstineas potero persuadere. In der Breslauer Übersetzung wird dies folgendermaßen wiedergegeben: dy sichirkeit globe ich dir nicht, svndir dir sey an dem genvg daz ich dir mag bewern das redelicher ist daz du czu gehist wen daz du dich abeheldist. Diesen kühlen Bescheid der Vernunft akzeptiert das Gewissen im Grunde nicht, auch wenn andere religiöse Fragen erörtert werden: etwa die Frage nach der Fühlbarkeit der Kommunionserfahrung oder die Frage, ob ein sündiger Priester die Kommunion spenden darf. Am Schluss des Dialogs artikuliert das Gewissen noch einmal seine Skrupel. Darauf antwortet die Vernunft, enttäuscht darüber, dass es ihr nicht gelungen ist, das Gewissen durch ihre Argumentation zu beruhigen. In einer breiten Schlussrede wird über die sittliche Reinheit gehandelt, die zum Empfang der Kommunion notwendig ist. Dann wird als neues Thema noch die Wunden-Christi-Thematik angesprochen. Die Schlussrede der Vernunft bildet formal auch den Schluss des Textes, anstelle des angekündigten Urteils des Willens. Es sei rekapituliert, wie der Text aufgebaut ist. Auf einen Eingangsabschnitt, in dem das Gewissensproblem vorgestellt wird, folgt eine Art Regiebemerkung über die Dialogpartner und das beabsichtigte Schlussurteil, diesem Eingangsteil folgt als Hauptteil der eigentliche Dialog, in dem die Partner relativ knapp reden, und dann als Abschluss die rekapitulierende Rede der Vernunft. Ich muss gestehen, dass ich bei der Behandlung der deutschen Übersetzungen des ‚Dialogus‘ vor einem Problem stehe. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich das Problem in autobiographischer Weise, also nicht metiergerecht, angehe. Vor einigen Jahren hat mich ein junger damaliger Heidelberger Germanist, Dr. Helmut Beifuss, um einen Ratschlag wegen eines Habilitationsthemas gebeten. Damals und Konrad Heilig, Kritische Studien zum Schrifttum der beiden Heinriche von Hessen, Röm. Quartalsschrift 40 (1932), S. 105–176, spez. S. 161f.
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habe ich ihn auf die Übersetzung des ‚Dialogus‘-Traktates des Matthäus von Krakau verwiesen. Ausgangspunkt meines Ratschlags war eine Bemerkung von Wolfgang Stammler in seiner Darstellung ‚Mittelalterliche Prosa in deutscher Sprache‘ (Sp. 802): „Die lebendige Schrift durchlief rasch das Abendland und sofort wurde der Wunsch nach Übersetzung laut. Noch am Ende des 14. Jahrhunderts wurde sie angefertigt und zeigt alle Vorteile der Prager deutschen Autoren. Der bewegte Dialog ist packend wiedergegeben, neue Wortbildungen sind geglückt, alles in allem ein nicht unwürdiger Zeitgenosse des Johannes von Tepl. Andere Übertragungen folgten nach, konnten indes die erste an Sprachkunst nicht erreichen.“12 Außerdem kannte ich zwei frühe Handschriften von Übersetzungstexten: UB Breslau cod.I F. 136 (1389) und Prag, Metropol. Kap. Bibl. cod.D 70 (1387). Leichtsinnigerweise nahm ich trotz der Abweichungen in den Initien an, dass diese Überlieferungen zu einer Übersetzung gehören. Herr Beifuss hat sich daraufhin eifrig an die Aufarbeitung seines Themas gemacht. Jetzt kommt mein Problem: ich habe eine vorläufige Fassung von Herrn Beifuss’ Arbeit zur Einsicht erhalten (sie ist noch nicht offiziell als Habilitationsschrift eingereicht), und der Verfasser hat die Erlaubnis erteilt, auf seine Ergebnisse zurückzugreifen. Dafür möchte ich ihm auch hier danken. Herr Beifuss hat über sein Vorhaben gelegentlich in Aufsätzen (3)13 berichtet, so dass ich nicht völlig auf sein Manuskript angewiesen war. Zu erwähnen ist hier noch ein unpublizierter Vortrag, den Herr Beifuss auf den von Schülern von Frau Prof. Wisniewski veranstalteten Abschiedssymposion anlässlich ihres Ausscheidens aus dem Universitätsdienst gehalten hat. In diesem Vortrag hat er über die einzige Heidelberger Handschrift (cpg 696) gehandelt, die eine deutschsprachige Fassung des Dialoges enthält. Er hat meiner Erinnerung nach damals vermutet, dass diese Fassung von Matthäus dem Heidelberger Hof geschenkt worden ist. Kodikologisch ist das Problem sehr kompliziert. Die genannte Heidelberger Handschrift hat einen Hauptteil, der Neidhartstrophen ent12
Wolfgang Stammler, Mittelalterliche Prosa in deutscher Sprache, in: Wolfgang Stammler (Hg.), Deutsche Philologie im Aufriß, 2. Aufl. Bd. II, Berlin 1960, Sp. 749–1102, spez. Sp. 802. 13 Helmut Beifuss, Frühe schlesische Übersetzungskunst: ‚Dialogus rationis et conscientiae‘, in Carola L. Gottzmann/Petra Hörner (Hgg.), Studien zu Forschungsproblemen der deutschen Literatur in Mittel- und Osteuropa, Frankfurt/M. u.a. 1998, S. 105–132; ders., Matthäus von Krakau, Edition der deutschen Übersetzung(en) [Anm. 8]; ders., Ein frühneuhochdeutsches Erbauungsbuch aus Bayern: ‚Hdschr. 242‘ der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Mediaevistik 12 (1999), S. 7–40, ebenda S. 14ff. zur Nürnberger Übersetzung des ‚Dialogus‘.
pastoraltheologische texte des matthäus von krakau 185 hält. In der Literatur zu Neidhart führt diese Handschrift die Sigle d. Daran sind Faszikel unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Inhalts angebunden, u.a. ein Faszikel, in dem die ‚Dialogus‘Übersetzung enthalten ist, ferner ein Faszikel, der die Minneallegorie ‚Der Spiegel‘ des Hermann von Sachsenheim enthält. Den ‚Spiegel‘ erwähne ich hier ausdrücklich, weil es sich hierbei um einen Text handelt, bei dem die Annahme wahrscheinlich ist, dass ein Widmungsexemplar der Schrift dem Heidelberger kurfürstlichen Hof verehrt worden ist. In der verwandten Minneallegorie ‚Die Mörin‘ des Hermann von Sachsenheim findet sich eine Widmung an Friedrich I. (den Siegreichen) von der Pfalz. Der Herausgeber des ‚Spiegels‘, Thomas Kerth, hat die Handschrift und ihre Entstehung intensiv analysiert. Ich zitiere die Zusammenfassung seiner Ergebnisse aus seiner ‚Spiegel‘-Edition: „Die kleinen Fragmente wurden von verschiedenen Mitgliedern der pfalzgräfischen Familie gesammelt, u.a. von der Pfalzgräfin Elisabeth (Frau Johann Casimirs), Johann von Pfalz-Simmern, Kurfürst Ludwig VI. und dessen Frau Elisabeth. Schon die alten Signaturen bzw. Kistennummern (= C), die sie für die Verpackung nach Rom durch Leone Allaci 1622 erhielten, beweisen, dass die Fragmente ursprünglich nicht zusammengehörten. Erst beim neuen Einbinden in Rom bekam die Handschrift den Charakter, den sie noch heute aufweist. Sie kam mit den deutschen Handschriften der Heidelbergischen Sammlung 1815–1816 aus Rom zurück.“14 Die Bestandteile der Handschrift, auch die deutsche Fassung des ‚Dialogus‘, sind offenbar sekundär aus einem Textrepertoire, das ursprünglich lose auf dem Heidelberger Schloss lagerte, zusammengestellt worden und bei der Plünderung der Bibliotheca Palatina mit nach Rom transportiert und dort gebunden worden. Zurück zu Beifuss’ Vermutung, dass Matthäus von Krakau die ‚Dialogus‘-Übersetzung dem Heidelberger Hof geschenkt und möglicherweise selbst angeregt haben könnte. Herr Beifuss wusste damals noch nicht über die ‚Dialogus‘-Übersetzungsgruppen Bescheid, wusste noch nicht, dass der Heidelberger Text zur Prager Übersetzungsgruppe gehörte, die erstmals in der schon erwähnten Prager Handschrift belegt ist. Er konnte es wohl nicht wissen, da der Text der Heidelberger Handschrift am Beginn fragmentiert ist. Die Hypothese von Herrn 14 Thomas Kerth (Hg.), Hermann von Sachsenheim: Des Spiegels Abenteuer, Göppingen 1986, S. 39. Kerth hat an dieser Stelle die Ergebnisse seiner Spezialstudie: Cod. pal. germ 696. Zur Entstehung einer Mischhandschrift, Codices manuscripti 8 (1982), S. 135–148, zusammengefasst.
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Beifuss lässt sich angesichts des neuen Wissenstandes wohl noch retten. Matthäus hätte dann eine ihm bekannte und von ihm vielleicht geschätzte frühe Übersetzung seiner Schrift überreichen lassen. Soviel zum Heidelberger Bezug der ‚Dialogus‘-Übersetzung. In dem Sinne der Äußerung von Wolfgang Stammler hatte ich die Hoffnung gehabt, dass die Aufarbeitung der Übersetzungen des Dialoges unsere Kenntnis der spätmittelalterlichen Literatur um ein Hauptwerk erweitern würde. Diese Hoffnung ist enttäuscht worden, die frühe Breslauer Handschrift und die Prager Handschriften enthalten voneinander abweichende Übersetzungen, die in diesen Handschriften enthaltenen Daten dürfen nicht als Entstehungsangaben für die Übersetzungen beansprucht werden, sondern gehören zu anderen Texten dieser Handschriften. Es gibt zwei frühe Übersetzungen, die möglicherweise noch ins letzte Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts gehören. Zum einen die Breslauer Fassung, die nur in einer bereits genannten Handschrift enthalten ist, die aus dem Breslauer Kreuzherrenkloster St. Matthias stammt. Über den Autor weiß man nichts, wenn man ihn unter den Mitgliedern dieses Klosters vermuten will. Hier sind die Bezüge zwischen Matthäus von Krakau und Breslau zu erwähnen.15 Er war Inhaber eines Kanonikats an dem Breslauer Kanonikerstift St. Ägidius, ferner studierten viele Breslauer Studenten am Ende des 14. Jahrhunderts in Prag, vermutlich auch bei Matthäus. Unter diesen Studenten könnte man den Autor der Breslauer Übersetzungsfassung vermuten – dies tut Beifuss. Die Breslauer Übersetzungsfassung ist auf den ersten Blick der Prager Übersetzungsfassung, zu der ich mich umfassender äußern muss, nicht eindeutig unterlegen. Zur Prager Fassung muss ich mich deshalb umfänglicher äußern, weil Herr Bok und seine Frau Hildegard Boková eine Zuschreibung vorgenommen haben, und zwar an den Autor des vorangehenden Textes. Es handelt sich dabei um eine Übersetzung der ‚Soliloquien‘ des Bonaventura durch den Prager Subnotar Ulricus.16 Diesen Ulricus hat Vaclav Bok in einem Aufsatz
15 In fast jeder biographischen Darstellung zu Matthäus von Krakau wird erwähnt, dass Matthäus in Breslau eine Kanonikerpfründe innehatte, etwa bei T®í ka [Lit.Verz.]. Der wichtigste schlesische Schüler des Matthäus war Nikolaus Magni de Jauer (de Jawor). 16 Der Prager Subnotar Ulricus gehört zu den vielen Autoren, die von Kurt Ruh in die deutsche Literaturgeschichte eingeführt wurden, vgl. Kurt Ruh, Bonaventura deutsch, Bern 1956, S. 130 und S. 296.
pastoraltheologische texte des matthäus von krakau 187 mit dem Unterstadtschreiber der Prager Altstadt Ulrich von Falkenau identifiziert.17 Zum Subnotar Ulricus ist noch zu sagen: Er gehört neben Johannes von Tepl zu den letzten Vertretern der von Johannes von Neumarkt begründeten deutschen Kunstprosatradition in Böhmen. Worauf beruht nun die Zuschreibung der ‚Dialogus‘-Übersetzung in Prag, Metropol. Bibl. cod. D. 70? Die ‚Dialogus‘-Übersetzung folgt in der Handschrift direkt der ‚Soliloquien‘-Übersetzung, an deren Ende steht, dass der Text 1387 vom Subnotar Ulricus übersetzt wurde. Der ‚Soliloquien‘-Text und der ‚Dialogus‘-Text sind von einer Hand geschrieben, in der vom Ehepaar Bok die Hand des Ulricus vermutet wird. Beifuss stimmt darin zu, dass ein Schreiber die beiden Texte geschrieben hat, vermutet im Schreiber aber den Ermolaus, der sich am Ende des ‚Dialogus‘-Textes nennt. Ich möchte Sie in dieser Angelegenheit nicht völlig ratlos zurücklassen. Wenn man die wenigen Editionsproben aus der ‚Soliloquien‘Übersetzung vergleichend neben die ‚Dialogus‘-Übersetzung stellt, so scheint es mir aufgrund der rhetorischen Durchformung beider Schriften durchaus möglich, dass die Bok-These, dass Ulrich von Falkenau der Urheber der Prager Übesetzung des ‚Dialogus‘ sei, durch Stil- und Übersetzungsuntersuchungen untermauert werden könnte. Die Prager Übersetzung liegt in 10 Handschriften vor und war damit die erfolgreichste aller ‚Dialogus‘-Übersetzungen. Ich habe schon angedeutet, dass meiner Meinung nach die Breslauer Übersetzung von gleicher Qualität ist. Wenn man sich auf die Suche nach einem wichtigen Texte macht und dann feststellt, dass es zwei überragende Texte gibt, soll man dann darüber klagen? Die übrigen Übersetzer des ‚Dialogus‘-Dialoges sind mit dem Problem, Gewissensskrupel wiederzugeben, auch gut zurechtgekommen. Zu nennen ist zunächst eine Nürnberger Übersetzung, die in 6 Handschriften vorliegt. Die älteste Handschrift – sie befindet sich heute in Amerika – ist 1410/11 entstanden und befand sich im Besitz zweier Nürnberger Patrizier, Johann Volkmar und Peter Nützel.18 Bei Patriziern könnte man annehmen, dass sie zur Übersetzung auf 17 Václav Bok, Ulrich von Falkenau – eine neu identifizierte Gestalt der Prager deutschen Literatur des 14. Jahrhunderts, in Festschrift Wolfgang Spiewok hg. v. Danielle Buschinger, Amiens 1988, S. 25–30; Hildegard Boková, Zur Sprache der Prager Bonaventura-Übersetzung Ulrichs von Falkenau, in Festschrift Heinz Mettke, Jena 1989, S. 43–48. 18 Robert G. Warnock, Ms. German Codex 1 der Brown University, USA, Zeitschrift für deutsches Altertum 121 (1992), S. 422–433.
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Kanzleipersonal oder auf Geistliche zurückgegriffen haben. Mir scheint dies allerdings unwahrscheinlich. In der Handschrift nennt sich als Schreiber einer anderen Partie ein Heinrich von Wildenholz. Dieser Schreiber ist mir schon einmal in einer wohl aus Nürnberg stammenden Handschrift begegnet. Ich habe damals aus dem Inhalt der Handschrift geschlossen, dass sie vermutlich für Klarissen geschrieben wurde, der Schreiber vermutlich ein Franziskaner war.19 Auch die Tatsache, dass die weitere Überlieferung der Nürnberger Fassung im Beziehungsnetz des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharinen erfolgte: Augustinerchorfrauen Pillenreuth, Dominikanerinnenkloster St. Gallen, Augustinerchorherrenstift Rebdorf/bei Eichstätt, spricht für monatische Herkunft der Übersetzung. Herr Beifuss hat die Übersetzungsfassungen nummeriert, die Benennung nach dem vermuteten Ursprungsort stammt von mir. Es gibt dann noch zwei Übersetzungsfassungen unbestimmter Herkunft mit je 3 Handschriften und eine Augsburger Fassung (2 Handschriften und ein Frühdruck),20 die vermutlich nach der Mitte des 15. Jahrhunderts entstand. Daneben gibt es noch 3 isolierte Handschriftenfassungen. Aus diesen möchte ich eine zweite Breslauer Fassung herausheben: UB Breslau cod. I O 50 aus dem Breslauer Dominikanerkloster. Sie stammt nach Joseph Klapper aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts.21 Sie ist deshalb erwähnenswert, weil in dieser Handschrift ein zweiter Text des Matthäus in Übersetzung erscheint, ein Text aus dem Bereich der Beichtschriften des Matthäus, ‚De puritate conscientiae‘. Die Aufzählung der Übersetzungen des ‚Dialogus‘ kann hier noch nicht enden. Es gibt außer Vollübersetzungen auch noch Teilübersetzungen (10 eines Typs und 3 eines anderen Typs) und noch kleine Exzerpte. Auf die Frage, weshalb es in Deutschland zur wiederholten Rezeption der Eucharistieschrift des Matthäus von Krakau gekommen ist, gibt es zwei hypothetische Antworten. Zum einen legte die Einleitung des Textes, in der auf drängende Sorgen von Priester und Laien verwiesen wurde, den Gedanken einer Übersetzung nahe, zum ande-
19 Dietrich Schmidtke, Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur. Am Beispiel der Gartenallegorie, Tübingen 1982, S. 49. 20 In einem Sammelband Augsburg: Anton Sorg 1482 oder 1485 (Hain Nr. 12462). Zum Datierungsproblem vgl. Schmidtke (Anm. 19), S. 26 Anm. 4. 21 Die Datierung entnehme ich Klappers Beschreibung der Handschrift für die Preußische Akademie der Wissenschaften vom Jahre 1905. Herr Jürgen Wolf, BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften – Arbeitsstelle ‚Deutsche Texte des Mittelalters‘, hat mir freundlicherweise eine Kopie dieser Beschreibung übersandt.
pastoraltheologische texte des matthäus von krakau 189 ren könnte man sich fragen, ob das Problem der Laienkommunion regional immer neu aktuell wurde. So könnte die Augsburger Fassung mit Streitigkeiten um die Laienkommunion in Augsburg in der Mitte des 15.Jahrhunderts zusammenhängen.22 Fragt man nach der Beteiligung von Universitätsangehörigen an der Übersetzungsarbeit, so wird man wohl feststellen, dass die üblichen Autoren, an die man bei der Suche nach Übersetzern geistlicher Texte denkt, die Übersetzungen vorgenommen haben: Bettelordensangehörige, Augustinerchorherren und vielleicht einmal ein Angehöriger der stadtbürgerlichen Intelligenz (Subnotar Ulricus). Unter den Titeln ‚De modo confitendi‘ oder ‚Confessionale‘ finden sich in den Handschriften unterschiedliche Textkomplexe unter dem Namen des Matthäus von Krakau. Ediert ist eine Kurzfassung, die beginnt: Quilibet peccator volens confiteri antequam ad sacerdotem vadat diligenter debet praemeditari peccata sua. 23 Was für ein umfangreicher Textkomplex unter der Überschrift ‚De modo confitendi‘ erscheinen kann, sei am Beispiel einer Wiener Handschrift (cod. 4501) vorgeführt: f. 146–149v f. 150–155 f. 155–157 f. 157–159 f. 159v–161
Matthaeus de Cracovia, ‚De modo confitendi.‘ Inc.: Quilibet peccator volens confiteri ‚Quinque sensus corporis‘. Inc.: Primus sensus corporis est visus ‚De septem mortalibus peccatis‘. Inc.: Primum ergo capitale peccatum ‚De septem sacramentis ecclesiae‘. Inc.: Discursis operibus misericordie discurrat sacramenta ecclesie et consideret si circa illa aliquo modo peccaverit [. . .] Primum sacramentum est baptismum ‚De modo confitendi‘. Inc.: Quo modo debet confiteri (sc. peccator). Omnibus ergo predictis generaliter discursis peccator de omnibus peccatis quibuscumque commisit peniteat 24
22 Bei Willi Massa, Die Eucharistiepredigt am Vorabend der Reformation, Steyl 1965, S. 188 heisst es: „So hatte z.B. in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der Stiftsherr und Leutpriester von Augsburg Johann Molitoris fleissig für die häufige Kommunion geworben.“ Zu Molitoris vgl. Christoph Roth, in: Günther Grünsteudel u.a. (Hgg.), Augsburger Stadtlexikon, 2. Aufl. Augsburg 1998, Sp. 659f.; ferner (Hinweis Roth): Günter Hägele, Honorius Augustodunensis, Johannes Molitoris und Sigismund Lang, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 57 (2001), S. 171–177, spez. S. 173–175. 23 Ausgabe von ‚De modo confitendi‘ bei Se ko/Szafra ski [Lit.-Verz.], S. 305–313. 24 Wiedergabe nach der Beschreibung bei Se ko/Szafra ski [Lit.-Verz.], S. 304.
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Das Initium Quilibet peccator volens confiteri ist der Beginn eines Beichtspiegels, in dem die Sünden nach den 10 Geboten betrachtet werden bzw. betrachten werden sollen. Angelagert hat sich vielfach (s. oben) ein Abschnitt über die 5 Sinne, die 7 Todsünden und die 7 Sakramente. Insgesamt ergibt sich hieraus eine umfangreiche Beichtformel zur praemeditatio; ein Beispiel für derartige Texte von Heinrich von Bitterfeld habe ich am Beginn schon genannt. Solche Beichtformeln scheinen besonders an der Universität Prag populär gewesen zu sein,25 daneben auch an der Universität Wien, an der Nikolaus von Dinkelsbühl auch eine derartige Beichte nach diesem Muster geschaffen hat (deutschsprachig).26 Die Beichtformel, die sich aus der Vollfassung von ‚De modo confitendi‘ des Matthäus ergibt, ist meines Wissens niemals übersetzt worden. ‚De puritate conscientiae‘,27 oder in einigen Überlieferungen auch ‚De puritate animae‘ genannt, ist die einzige Beichtschrift des Matthäus, die übersetzt vorliegt, in einer Handschrift aus dem Breslauer Dominikanerkloster, in der sich auch eine Übersetzung der Eucharistieschrift des Matthäus findet. Die Übersetzung war wohl für ein Frauenkloster bestimmt. Wie der Zusammenhang dieser Schrift mit den übrigen Beichtschriften des Matthäus zu deuten ist, bleibt unklar. Die möglichen Erklärungen wären, dass diese Schrift von Matthäus wie die schon erwähnten Ergänzungsschriften zu ‚De modo confitendi‘ als Anhangsschrift konzipiert wurde oder aber, wie Theodor Sommerlad 1893 annahm, den Ausgangspunkt des Beichtschriftkomplexes des Matthäus bildet.28 Wie inhaltlich der Zusammenhang der Schrift mit dem Bußsakrament zu deuten ist, ergibt sich aus der Überschrift der deutschen
25 Zu Beichtformeln aus dem Umkreis der Universität Prag vgl. Petra Hörner, Dorothea von Montau, Frankfurt/M. u.a. 1993, S. 322–386; ferner Volker Honemann, ‚Elbinger Beichtbüchlein des Deutschen Ordens‘, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 11; Lfrg. 2 (2001), S. 400–402. 26 Zur Beichtformel des Nikolaus von Dinkelsbühl vgl. Egino Weidenhiller, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters, München 1965, S. 239f. Wie die meisten der deutschsprachigen Texte, die dem Nikolaus von Dinkelsbühl zugeschrieben wurden, dürfte auch dieser Text nicht vom Autor stammen, vgl. etwa Ernst Haberkern (Hg.), Das ‚Beichtbüchlein‘ des Thomas Peuntner nach den Heidelberger, Melker, Münchner und Wiener Handschriften, Göppingen 2001 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 696), S. 31. 27 Ausgabe von ‚De puritate conscientiae‘ bei Se ko/Szafra ski [Lit.-Verz.], S. 248–292. 28 Theodor Sommerlad, Matthäus von Krakau, Diss. Halle/S. 1891, S. 70.
pastoraltheologische texte des matthäus von krakau 191 Übersetzung: Wer do wil selic werden, der sal haben reyne gewissen. Dorczu gehort eyne lawtirt beychte von allen sunden wy sy seyn. In der deutschen Übersetzung ist der Text durch Zwischenüberschriften gegliedert: ‚Von der Kommunion‘, ‚Von Gedankensünden‘, ‚Sünden des Wortes‘, ‚Von der Vollkommenheit der Beicht‘, ‚Von den Hauptsünden‘. Die alle sunden, wy sy seyn, reduzieren sich im Text auf die sündigen Gedanken, vor denen sich der Mensch hüten muss. Bei diesen handelt es sich durchgängig wie in der heutigen Karikatur katholischer Beichtväter um unkeusche Gedanken, die in allen Einzelheiten der Umstände zu beichten seien, etwa: Dum essem in ecclesia vel in oratione, vel dum audirem missam aut praedicationem, cogitavi talem actum turpem, aut habui memoriam alicuius personae, in cuius aspectu iam habui vanam complacentiam, aut inordinatum amorem (p. 274). Man sieht, auch der Fromme ist in diesem Text von sündigen Gedanken nicht verschont, selbst nicht in der Kirche. In dem zitierten Textausschnitt ist an Laien gedacht. Das ist im Text eine Ausnahme. Normalerweise denkt Matthäus von den Sündengefahren für den geistlichen Stand her (Priester und Mönche). Das gilt wohl auch für die Abschnitte über nächtliche pollutio und den Anblick von Frauen.29 Das Thema der pollutio, das im Spätmittelalter häufiger anzutreffen ist, etwa bei Gerson,30 entstammt wohl der anachoretischen Tradition, in der die Furcht vor physischer Beschmutzung eine Rolle spielte. In dem Abschnitt über den Anblick von Frauen wird Hieronymus intensiv zitiert. Sonst wird im Text noch über verschiedene Versuche, sich der Verantwortung für die sündigen Gedanken zu entziehen, berichtet, etwa in dem Sinne: Gott hat mich nicht bewahrt vor sündigen Gedanken – unausgesprochener Zwischengedanke: wie es im Grunde seine Pflicht ist. Es geht im Text durchgängig um Sündenbefleckung der Seele, des Gewissens. Andere Möglichkeiten, die Reinheit der Seele und des Herzens zu verstehen, etwa eine metaphysische Möglichkeit im Sinne der eckhardischen Abgeschiedenheit, treten nicht in den Blick. Als Gegenmodell möchte ich auf folgenden Text verweisen ‚Lere,
29 Pollutio: Se ko/Szafra ski [Lit.-Verz.], S. 264, Frauen sind zu fliehen: ebenda, S. 279. 30 Herbert Kraume, Die Gerson-Übersetzungen Geulers von Kaysersberg, München 1980, S. 197, Anm. 10.
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wie got eines luteren herczen eigen will seyn‘. Bei diesem Text handelt es sich um einen der Texte, die K. Ruh bei seiner Suche nach eigenständigen Texten deutschsprachiger Scholastik entdeckt hat.31 Ich zitiere zu diesem Text, (Berlin, mgq 164, 239r–253v), der wohl von einem Straßburger Augustinereremiten stammt, meinen Artikel im Verfasserlexikon. An dem zitierten Ausschnitt hat Karl-Heinz Witte mitgewirkt: Im Gespräch eines vatters mit dem junger wird mit philosophischen und theologischen Argumenten die These begründet: Selig die reinen Herzen, denn sie werden Gott schauen (Mt 5,8), und zwar nit allein in ewigkeit, me ouch in disser zit noch moß der innerlichen lidigen luterkeit (239v). Zwar bleibt Gott gemäß seiner potentia absoluta frei, aber noch fursehender ordenung seyner ewigen wijsheit (potentia ordinata) werde er von den lauteren Herzen gezwungen. Diese These wird in vier Schritten entfaltet: 1. daß sich Gott einem jeden lauteren Herzen geben muß, 2. daß er sich ihm nicht entziehen kann, 3. daß, wer in der Lauterkeit des Herzens steht, sich nicht leicht wieder davon abkehren kann, 4. daß allein die lauteren Herzen Ruhe und Frieden finden. Bedeutsam ist dieser Text, da hier eine scholastische Auseinandersetzung aus der Theologenschule der Augustinereremiten mit Meister Eckharts Lehre von der Lauterkeit bzw. Abgeschiedenheit fassbar wird.32
Auf einer solchen spekulativen Ebene zu denken, war Matthäus offenbar versagt.33 In irgendeiner Form Sicherheit zu vermitteln, sei es bei dem Eucharistiesakrament oder bei dem Bußsakrament, war ihm unmöglich.
31 K. Ruh [Anm. 16], S. 111. – Kurt Ruh hat den früh von ihm entdeckten Text auch im Alter nicht aus den Augen verloren. In seinem Werk: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. III, München 1996, S. 387, knüpft er an die Vorstellung des Textes an, dass Gott „nach voraussehender Ordnung seiner einigen Weisheit“ gezwungen wird, sich selber den Menschen zum Lohn zu geben. Er bemerkt dazu: „Das ist eine heterodox klingende Aussage.“ Ferner will Ruh a.a.O. den Text als Jugendwerk dem sog. ‚Meister der Lehrgespräche’ zuschreiben. 32 Dietrich Schmidtke/Karl-Heinz Witte, Straßburger Augustinereremit, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 9 (1995), Sp. 373–375, spez. Sp. 375 (An diesem Schlussabschnitt des Artikels hat auf Wunsch der Redaktion K.-H. Witte mitgewirkt). 33 Wenn Matthäus sich doch einmal zu theologischer Spekulation hinreissen läßt, wie in seinem ‚Rationale operum divinorum‘ im Gefolge der englischen Scholastik (Anselm von Canterbury, Thomas Bradwardine), so fügt er sogleich abschwächend hinzu, dass nicht theologische Spekulation, sondern christliches Leben ein Gegenstand der theologischen Interessen sein sollte (vgl. Jerzy Misiurek, Historia i. Teologia polskiej duchowosci, Katolickiej, 3 Bände, Bd. I, Lublin 1994, S. 14).
pastoraltheologische texte des matthäus von krakau 193 Zum Abschluss der Behandlung der beiden pastoraltheologischen Hauptwerke (ad populum) des Matthäus von Krakau möchte ich noch eine kritische Bemerkung zu deren Gehalt anbringen. Es scheint mir so zu sein, dass Matthäus durchgängig einem Laienpublikum unterstellt, dass es von den gleichen Sorgen erfüllt ist wie die Menschen vom geistlichen Fach. Hier sei an die obige Bemerkungen zur nocturna pollutio erinnert. Er sucht die Laien nicht in ihrer eigenen Welt auf. – Ein Gegenbeispiel liefert hier Heinrich von Bitterfeld, der in seinem ‚Regimen vitae‘ nicht seine Lehren von der häufigen Laienkommunion vorgetragen hat, sondern versucht hat, sein Publikum, in diesem spezifischen Falle ein Frauenpublikum, im Bereich seiner irdischen Sorgen aufzusuchen. Das führt zu so banalen Dingen, dass er versucht, den Frauen die rechte Art züchtigen Gehens und rechter Kleidung zu vermitteln. Man mag das als ein Herausfallen aus der geistlichen Rolle interpretieren; der Versuch des Matthäus, das Laienpublikum mit den Sorgen der geistlichen Menschen zu beschäftigen, kann aber nicht als eine fruchtbarere Perspektive angesehen werden. Gewiss könnte man sagen, dass das auf Luther vorausweist, der bei seinem Publikum voraussetzte, dass seine eigene Kernfrage: wie erhalte ich einen gnädigen Gott, auch die Zentralsorge seines Publikums war. Es gibt eine Tübinger Schule der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung, begründet durch den Niederländer Heiko Augustinus Oberman, der später in den USA wirkte, fortgesetzt durch Christoph Burger und Berndt Hamm und jetzt schon in dritter Generation durch Sven Grosse, einen Schüler von Berndt Hamm. Dessen Dissertation ‚Heilsungewissheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie‘, gedruckt Tübingen 1994, war für mich von besonderer Bedeutung. Diese Schule leugnet es zwar meistens, ist letzlich aber auf der Suche nach Reformatoren vor der Reformation oder, mit einem anderen Titel der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung, auf der Suche nach testes veritatis. Christoph Burger hat dies kürzlich in einem Aufsatz eingestanden.34 In die Heilsungewissheit
34 Christoph Burger, Transformation theologischer Ergebnisse für Leser im späten Mittelalter und bei Martin Luther, in Hans-Jörg Nieder/Maral Nieder (Hgg.), Praxis Pietatis, Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Festschrift Wolfgang Sommer, Stuttgart 1998, S. 47–64, spez. S. 64.
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wurden die Leser des Eucharistietraktats des Matthäus von Krakau und von dessen deutsche Übersetzungen sowie von ‚De puritate conscienta‘ und der einzigen Übersetzungsfassung dieses Textes von Matthäus von Krakau durchaus eingeübt. Man könnte Matthaeus von Krakau wohl in die Frömmigkeitstheologierichtung des spätmittelalterlichen Schrifttums einordnen, wenn der Terminus Frömmigkeitstheologie nicht fragwürdig wäre. Als Urheber der Frömmigkeitstheologierichtung wird von der Tübinger Schule normalerweise Johannes Gerson angesehen. Dies führt zur Schlussfrage: Ist Matthäus von Krakau ebenfalls von Gerson beeinflusst? Zeitlich gäbe es hier keine Schwierigkeiten. Die Lebenszeit Gersons wird üblicherweise von 1363 bis 1429 angesetzt. Das Geburtsjahr des Matthäus von Krakau wird normalerweise auf 1335 gelegt. Beifuss hat das Geburtsjahr auf 1345 korrigiert, indem er einem Hinweis des Historikers Peter Moraws aufgriff;35 gestorben ist Matthäus bekanntlich 1410. Die Einflussrichtung zwischen Gerson und Matthäus von Krakau scheint eher umgekehrt verlaufen zu sein. Matthäus von Krakau hat nicht Gerson rezipiert, umgekehrt hat Gerson Matthäus rezipiert – er kannte die beiden Werke, die als pastoraltheologische Hauptwerke des Matthäus in diesem Referat behandelt werden. ‚De puritate conscientiae‘ kannte er als eine Schrift des Bonaventura (der Text ist öfter auch unter dem Namen des Thomas von Aquin überliefert worden).36 Den ‚Dialogus rationis et conscientiae‘ des Matthäus hat er einem befreundeten französischen Kartäuser, Oswald de Corda aus Lyon, empfohlen. Dieser hatte brieflich bei Gerson angefragt, welches Maß an indevotio beim Gang zur Messfeier zu dulden sei, und dabei auf die Schrift des Matthäus verwiesen. Gerson antwortete: „Ich freue mich, dass jener Traktat des Matthäus von Krakau euch zur Kenntnis gekommen ist, wenn es jener Dialog ist, den ich kopieren ließ, als ich in Deutschland war, denn jene Lehre ist heilsam und sicher (salubris et secura).“37
35 Peter Moraw, Beamtentum und Rat König Ruprechts, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 116 (1969), S. 59–126, spez. S. 112. 36 Zu ‚De puritate‘ als Werk Bonaventuras in der Auffassung Gersons vgl. Zénon Kalevca, Matthias de Cracovie, Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique Bd. X (1980), Sp. 804–808, spez. Sp. 808. 37 Se ko/Szafra ski [Lit.-Verz.], S. 355f.
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Breslauer Fassung Nicht eyn cleyne clage ist / undir vil menschin beide der pristir vnnd der leyen / vnd eyn gros bekumerniss vnd eyn czwyfilhaftige froge / wy sy sich haben sollin / eyn messe sprechen adir yn der enphovnge gotes lichnam wenne is / tawg hen czugehen wy dy czu gehende sollen geubit adir geschickit seyn. Adir mit welchin bewegvnge vnnd vnschickvngen sich do von haltin sollin ¶ Adir ap is bessir ist ofte czu enphon gotis lichnam / adir selden / odir steticlich / von den notzen vnnd auch notdarftigin materien hab ich vil gefrogit vnd bin gefragit vnd habe machirlei antwort gehart vnd auch gegeben / vnd doch noch nicht der ynne rolich Sundir ich krigete vnd streit ofte mit mir selbir Iczunt wold ich hen czugen / iczunt wold ich nicht. Von dem wart ich hen czu geczogin / von desin von dan. Iczunt werde ich dirschreckt / mit forchte der dorftigen gewissin adir dez strengin gerichtis / daz ich is losse vnd also weis ich nicht was gote bas gevellit / vn mir notzir ist.
Prager Fassung Vil menschen pryster und leyen. gelort vnd vnd vngelort, vrowen vnd manne. klagen gröslich vnd bekvmmern sich swerlich vnd fragen czweyfellich. wi sy sich halten süllen in messe sprechen. Ader enphahen den wirdigen leichnam unsers herren Jhesu Christi vnd wen sy süllen hin czu geen wi si süllen geübt ader geschickt sein. daz sy mugen hyn czu geen. mit waz ader vnbereytikeit si süllen davon enthalden vnd ab pesser sey oft gotes leichnam czu enphahen. ader selden. Ader eynczikleich. von der nutzen vnd auch notturftigen materie habe ich vil gefroget. vnnd pyn gefraget worden. und hab mangerlei antwurt gehort vnd auch gegeben. vnd pyn doch noch nicht also gerngig Sunder ich krig vnd streit oft mit mir selber yczunt wil ich hyn czu geen. yczunt wil ich nicht von dem werd
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Textwiedergabe nach der oben S. 184 genannten Arbeit von Helmut Beifuss.
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ich hyn czu geczogen. von disem hyn dan. Nu von hofnung gotleichen gnaden werd ich gekreftit. daz ich es tv Nu von der forcht meiner armen gewissen. vnd dez strengen gerichtes. werde ich erschreckt daz ich is vorlase. vnd also weis ich nicht waz got paz gevellet vnd mir nüczer ist.
Nürnberger Fassung ES clagen vil menschen werntlich und gaistlich sy wißen nicht wy sie sich halten sullen in dem enpfahen dez leichnams unsers herrn Ihesu Christi ob es bezzer sey das sie in oft enpfahen oder selten Wann sie furchten enpfahen sy in nicht So müßen sy tragen ein ein tote sel in irm leib Do von das Christus spricht Wer mich nicht izzet der hat kein leben in ym Do wider spricht Paulus Wer den leichnam Christi vnwirdiclich enpfeht im selber ein ewigs vrtail Vnd do von erschrickt der mensch ofte von den herten vrteil. So wirt auch etwen dar zu gezogen von gotlicher mynne vnd da von waiß er doch nicht gentzlich was er tun schol. Vnd da von mayn ich das ich wolle euch mit der hilff gotes. ein vnderschaidung geben nach allem neynem vermugen ob ir es tun oder lassen schult
LATEINISCHE UND DEUTSCHE PREDIGTEN IM UMFELD VON UNIVERSITÄT UND HOF IN HEIDELBERG UM 1420 Christoph Roth
Ausgangspunkt für folgende Überlegungen war nicht ein Autor, ein Werk, eine Handschrift. Ins Auge gefaßt wurde vielmehr die Suche nach einem Phantom, dem Phantom einer volkssprachlichen Heidelberger Predigtsammlung nach der Art des Jahrespredigtzyklus und des Tractatus-octo-Zyklus des Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktors oder des Jahrespredigtzyklus des Minoriten Johannes Bischoff aus Wien. Die österreichischen Werke waren zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstanden im Umfeld von Universität und Fürstenhof in Wien unter Anschub der kirchlichen Reformanstrengungen mit ihrer programmatischen Popularisierung von theologischem Wissen, als deren prominentester Vertreter Heinrich von Langenstein (1363– 1429) zu gelten hat.1 Müßte es nicht in Heidelberg Ähnliches gegeben haben, da doch das Umfeld in beiden Städten derart ähnlich war? Universitätsgründungen waren hier wie dort erfolgt,2 Universitätslehrer aus Paris und Prag unterrichteten in Wien und Heidelberg, unter ihnen befanden sich mit Heinrich von Langenstein und Konrad von Gelnhausen hier wie dort eifrige Konzilsverfechter, die Landesfürsten selbst engagierten sich hier wie dort für die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern, d. h. auf allgemeinen Konzilien wie auch im eigenen Territorium.3 Verlängert man die Fragestellung über
1 Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch die hohe Wertschätzung, die Jean Gerson der Predigt einräumt. Sie sei „die schwierigste und heiligste Aufgabe der Kleriker“ und habe vor allem der „Vermittlung von Katechismuswissen“ und der Auferbauung der Zuhörer zu dienen. Christoph Burger, Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor und Kanzler der Universität Paris, Tübingen 1986, S. 49f., 55, 123 (zit.), 155 (zit.). 2 Wien: Rudolf IV. 1358–1365 und (Neugründung) Albrecht III. 1365–1395; Heidelberg: Ruprecht I. 1353–1390. 3 Wien: Albrecht V. (1404–1439), vgl. Gerda Koller, Princeps in ecclesia. Untersuchungen zur Kirchenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich, Wien 1964 (Archiv für österreichische Geschichte 124); Heidelberg: Zu Ludwigs III. (1410–1436) Rolle als Protektor des Konzils von Konstanz vgl. Arnold Scheuerbrandt, Heidelbergs
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christoph roth
die Predigt hinaus, stößt man somit auf die Merkwürdigkeit, daß es in Wien eine ‚Wiener Schule‘ volksprachlicher Vermittlung geistlicher Literatur gab, nicht aber in Heidelberg eine entsprechende ‚Heidelberger Schule‘. Oder gab es sie doch, und man hat sie mangels entsprechender Fragestellung nur nicht wahrgenommen?
I. Überlieferung deutschsprachiger Predigten in der Palatina Eine Durchsicht der Predigthandschriften in der Palatina ergab folgendes Bild: Von den 20 Nummern, die sich unter den Stichworten ‚Predigten‘, ‚Evangelien durch das Kirchenjahr‘ und ‚Perikopen‘ im Katalog Heidelberger Handschriften von K. Bartsch sammeln lassen,4 finden sich zahlreiche, die von vornherein auszuscheiden sind, weil sie entweder nur die Evangelien ohne Glosse oder gar nur Wegweiser durch die Perikopen des Kirchenjahrs bieten (Cpg 62, 64, 571), weil sie zu spät (nach 1430) entstanden sind (Cpg 570, 583, 793 [zudem Augsburg]), weil sie nicht mit der Ruperto-Carola oder dem Fürstenhaus in Heidelberg in Verbindung zu bringen sind (Cpg 537 [schwäb. Mua.], 617, 637 [Fugger-Bibliothek], 675) oder der Predigtanteil schlicht zu geringfügig ist (Cpg 172 [überwiegend Fürstenlehre], 696 [u.v.a. eyn gute Predig Sanctus Augustinus]). So bleiben acht Codices, die belegen, daß das Fürstenhaus, das als Auftraggeber und Initiator von Literatur vielfach in Erscheinung trat,5 auch an Predigten interessiert war. Dazu kommt eine weitere Handschrift, die auf unbekannten Wegen in die lateinische Reihe der Vaticana gelangte (Cod. Vat. lat. 8966).
Aufstieg und Niedergang in kurpfälzischer Zeit, in: Elmar Mittler (Hg.), Heidelberg. Geschichte und Gestalt, Heidelberg 1996, S. 48–87, hier S. 58 in aller Kürze, aber mit weiterführender Literatur im Anhang (S. 85–87), sowie die bekannte Illustration aus der Richental-Chronik, ebd. S. 244. 4 Katalog der Handschriften der UB in Heidelberg, Bd. I. Die altdeutschen Handschriften. Verzeichnet und beschrieben von Karl Bartsch, Heidelberg 1887. 5 Vgl. Jan-Dirk Müller (Hg.), Wissen für den Hof. Der spätmittelalterliche Verschriftlichungsprozeß am Beispiel von Heidelberg im 15. Jh., München 1994 (Münstersche Mittelalterschriften 67) und Backes [Lit.-Verz.].
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1. Cpg 24 und 35 Die beiden Handschriften von 259 bzw. 105 Bll. Umfang enthalten Bruder Bertholds ‚Deutsche Predigten‘6 und dienten Pfeiffer und Strobl für ihre große Berthold-Edition als ‚Leithandschriften‘. Cpg 24, geschrieben 1370 im Auftrag der Pfalzgräfin Elisabeth von Namur († 1382),7 stellt zugleich – nach der 1365 für ihren Gemahl Ruprecht I. angefertigten Abschrift der ‚Weltchronik‘ des Rudolf von Ems – die zweitälteste literarische Handschrift dar, von der man sicher weiß, daß sie in kurfürstlichem Auftrag entstanden ist. Ob das Werk von einem der beiden Schreiber hergestellt wurde, welche die Pfalzgräfin testamentarisch bedachte,8 ist nicht zu eruieren. Denkbar ist m. E., daß die Abschrift von Bertholds Predigten durch das Franziskanerkloster in Heidelberg angeregt wurde. Das Fürstenhaus muß nämlich engen Kontakt dorthin gehabt haben, da Elisabeth von Namur im Kloster „als Wohltäterin ein Grabmal errichtet“ wurde.9 M. Backes sieht Cpg 24 in einem Umfeld, in dem „Kapläne oder andere Kleriker häufig religiöse Werke für Damen des Hofes niedergeschrieben oder aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt haben.“10 Außerdem stellt sie in diesen Zusammenhang auch die Widmung von Martins von Amberg ‚Gewissensspiegel‘, einer „komprimierte[n] Erläuterung christlicher Glaubensgrundsätze“ an die Pfalzgräfin Elisabeth von Namur,11 sowie das in Cpg 61 überlieferte Elisabethleben deutsch gewandelt vß dem latin getreulich von wort zu wort der durchleuchtigen frawen elyzabeth hertzogin von beyern (hier gemeint: Elisabeth von Hohenzollern, Gemahlin Ruprechts III. 1358–1411) von einem irem getruwen capplan zu irer beßerunge vnd zu merend ir andacht.12 Woher Cpg 35 stammt, eine
6 Cpg 24 mit Einsprengseln von Predigten des St. Georgener Predigers, vgl. Karl Rieder (Hg.), Der sogenannte St. Georgener Prediger aus der Freiburger und Karlsruher Handschrift herausgegeben, Berlin 1908, S. XVIII. 7 Die edele frauwe Elizabeth von Namen pfalntzgrevinne bij Rin vnd hertzoginne in beigern hat gez%get diz b%ch daz do vollenbraht wart in dem Jar da man zalte von cristi geb%rte. M.ccc.lxx. iar [. . .]; zit. nach Dieter Richter, Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg. Untersuchungen zur geistlichen Literatur des Spätmittelalters, München 1969 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 21), S. 6. 8 Richter [Anm. 7], S. 8. 9 Anneliese Seeliger-Zeiss, Heidelberger Kirchenbaukunst, in: Mittler [Anm. 3], S. 202–227, hier 207. 10 Backes [Lit.-Verz.], S. 48. 11 Backes [Lit.-Verz.], S. 173. 12 Zit. nach Backes [Lit.-Verz.], S. 173; Weiteres zur religösen Atmosphäre, S. 174–176.
200
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Berthold-Abschrift, die dem bayerischen Überlieferungszweig des Werkes zuzuordnen ist und die erst 1439 von einem konrat hug niedergeschrieben wurde, ist nicht auszumachen. Einen unsicheren Hinweis auf die Provenienz gibt nur die ostschwäbische Mundart.13 2. Cpg 54 und Cod. Vat. lat. 8966 Cpg 54 aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bietet die ‚Schwarzwälder Predigten‘ der ‚Vulgatfassung‘ in rheinfränkischer Mundart. Es handelt sich um eine Abschrift, von der H.-J. Schiewer annimmt, „daß sie zur alten Schloßbibliothek gehörte, also entweder im Auftrag des pfalzgräflichen Hauses entstand oder später von ihm erworben wurde.“14 Die opulente Ausstattung von Cpg 54 (breitrandiges Pergament, kalligraphische Schrift, Ausschmückung mit Drolerien) stütze die Zuordnung zum Fürstenhaus und belege mit Cpg 24 und 61 zusammen das Interesse der Pfalzgrafen an deutschen Predigten. Aus dem Umstand, daß auch eine noch ältere Handschrift des führenden „deutschsprachigen Predigthandbuchs franziskanischer Provinienz“ aus einem Territorium der Wittelsbacher stammt (A, Cgm 9, Herzogtum Bayern), leitet Schiewer eine „Affinität der bayrischen Wittelsbacher zu den Franziskanern“ ab.15 Noch kostbarer zeigt sich die Ausstattung eines weiteren Exemplars der ‚Schwarzwälder Predigten‘, das aufgrund ungeklärter Umstände vom geschlossenen Bestand der Palatina-Handschriften geschieden wurde und sich daher trotz des volkssprachlichen Inhalts heute noch in der Bibliotheca Vaticana in Rom befindet: Cod. Vat. lat. 8966.16 Die Papierhandschrift, welche 13 Seiten mit Drolerien aufweist, die teilweise sogar figürliche Darstellungen einschließen, enthält neben der Postilla vber etliche Spruche auß den Euangelijs (‚Schwarzwälder Predigten‘,
13 Möglicherweise ist der genannte Konrad Hug verwandt mit dem Schreiber Johannes H%g von Cod. II.1.2° 9 der UB Augsburg, geschrieben im dortigen Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra. 14 Hans-Jochen Schiewer, ‚Die Schwarzwälder Predigten‘. Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Sonntags- und Heiligenpredigten, Tübingen 1996 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 105), S. 171, Abb. ebd. S. 173. 15 Schiewer [Anm. 14], S. 175. 16 Entdeckt von Nigel F. Palmer, publiziert von Helgard Ulmschneider, Eine bisher unbekannte deutsche Handschrift aus der Heidelberger Bibliotheca Palatina in Rom, Bibliothek und Wissenschaft 32 (1999), S. 112–132 mit sieben Abb. Ich selbst verdanke den Hinweis auf die Handschrift Herrn Prof. Dr. Freimut Löser, Augsburg.
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Bl. 1–240)17 auf den verbleibenden 76 Blättern noch Bertholds von Regensburg ‚Auslegung der Messe‘, Marquards von Lindau ‚Eucharistietraktat‘, ein Kapitel aus Seuses ‚Büchlein der ewigen Weisheit‘, ein gereimtes Beichtbuch, den ‚Lucidarius‘ und eine Mariensequenz. Obgleich auch andere Antworten auf die Provenienzfrage von H. Ulmschneider für möglich gehalten werden, ist doch die Entstehung in einer Heidelberger Werkstatt im Auftrag der Kurfürsten nicht unwahrscheinlich. In den Kontext des gesteigerten Interesses an Predigttexten zur Amtszeit von Kurfürst Ludwig III. (1410–1436) würde der Codex natürlich trefflich passen (vgl. Zeittafel im Anhang). Eine heute in Schaffhausen befindliche Handschrift der ‚Schwarzwälder Predigten‘ (Ministerialbibliothek in der Stadtbibliothek, Min. 116) stammt aus dem Vorbesitz oder der Vermittlung des Heidelberger Juristen Johannes de Noët († 1428).18 Dies ist für die hiesige Fragestellung insofern von Bedeutung, als sich daraus ablesen läßt, daß die Predigtsammlung, die Ende des 13. Jahrhunderts in Franziskanerkreisen entstanden war, gut hundert Jahre später Angehörigen der Heidelberger Universität noch immer akzeptabel und diskutabel (vgl. die lateinischen Marginalglossen) erscheint und auch weitervermittelt wird: Reportata sunt hec a venerabili ac eximio sacrorum canonum doctore domino venerando Johane de Noet ordinarij studij heidelbergensis.19 Als Mangel dieses Corpus der ‚Schwarzwälder-Predigten‘ wurde andernorts offensichtlich ihre dürftige Ausstattung mit Fastenpredigten empfunden.20 Im Zisterzienserinnenkloster Lichtenthal, wo man einen Textzeugen der ‚Schwarzwälder Predigten‘ ebenfalls von einem Weltgeistlichen bekommen hatte,21 wurde diese Lücke beispielsweise mit einer gezielten Abschrift von Bischoffs deutschem QuadragesimaleZyklus gefüllt.22 Dieser Textzeuge von Bischoffs Predigtwerk ist der 17 Titel der Handschrift aus dem 16. Jh., zit. nach Ulmschneider [Anm. 16], S. 114. 18 Schiewer [Anm. 14], S. 257–263, zum „Lebensraum“ der Predigten, ebd. S. 323–327. Zum selben Vorgang nochmals ders., Universities and Vernacular Preaching. The Case of Vienna, Heidelberg and Basle, in: Jacqueline Hamesse u.a. (Hg.), Medieval Sermons and Society: Cloister, City, University, Louvain la Neuve 1998, S. 387–396, hier 390–392. 19 Zit. Schiewer [Anm. 14], S. 257. 20 Zwei Fastenpredigten ‚in toto‘, Predigten zu Fastensonntagen 1–5 und Palmsonntag. 21 Schiewer [Anm. 14], S. 180–184, Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Lichtenthal 64. 22 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Lichtenthal 61. – Daß im Spätmittelalter ein gesteigerter Bedarf an Fastenpredigten auch außerhalb der Klöster bestand,
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bislang einzig bekannte, der die Grenzen des bairischen Sprachraums überschritten hat. 3. Cpg 39 und 55 Der De-tempore-Teil der glossierten Perikopen des von Palmer sogenannten ‚Heidelberger Typs‘23 ist in der Palatina zweifach überliefert: Cpg 39 (1. Viertel 15. Jh./Mitte 15. Jh.)24 ist deutlich älter als Cpg 55 (15. Jh., 1455), beide weisen (süd)rheinfränkische Mundart auf, werden also im Raum Heidelberg entstanden sein. Auch der älteste Textzeuge (um 1400, heute Mainz, StB, Hs I, 93) weist diesen Sprachstand auf. Wegen dieses relativ hohen Alters, aber auch wegen der Überlieferungsdichte und der Schlüsselstellung des ‚Heidelberger Typs‘ als Vorlage für die ‚Niederdeutschen Perikopenglossen‘ und den ‚Spiegel menschlicher behaltnis‘ (Druck)25 sollte man m. E. die von Palmer postulierte Priorität des ‚Stuttgarter Typs‘ noch einmal überdenken. Es spricht doch einiges dafür, daß der ‚Heidelberger Typ‘ die ältere Fassung der Perikopen repräsentiert. Von Cpg 55 kennt man sogar den Schreiber, einen Heidelberger Deutschherren namens Heinrich Lieber de Heydelberga (99va). Der ‚Heidelberger Typ‘, dem bislang keine lateinische Quelle zugeordnet werden konnte, weshalb Palmer annimmt, daß es sich um einen „ursprünglich in deutscher Sprache konzipierte[n] Text“ handelt,26 umfaßt 56 Glossen zu den Sonntags- und wenigen Festtagsevangelien. Seine zweite Hälfte (Predigten 34–56) ist identisch mit Predigt 30–52 des ‚Stuttgarter Typs‘. Cpg 55 bietet eine Erweiterung um das Sanctorale (66ra–102ra) in Form der schon im 12. Jahrhundert entstandenen ‚Mitteldeutschen Predigten‘, die hier dann freilich um die Festtagspredigten reduziert und zu einem Legendar umgearbeitet wurden.27 „Anhaltspunkte, die es erlauben würden, den theolobelegt der Umstand, daß z. B. Geiler von Kaisersberg als städtischer Prädikant in Straßburg während der Fastenzeit zu täglicher Predigt verpflichtet war. 23 Nigel F. Palmer, Deutsche Perikopenhandschriften mit der Glosse. Zu den Predigten der spätmittelalterlichen deutschen Plenarien und Evangelistare, in: Heimo Reinitzer (Hg.), Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters, Bern, Berlin, Frankfurt, New York, Paris 1987/88 (Vestigia Bibliae 9/10), S. 273–296. 24 „1. Viertel 15. Jh.“ nach Karin Zimmermann, die mir freundlicherweise ihre Katalogisate zu den einschlägigen Codices Palatini Germanici im Typoskript zur Verfügung gestellt hat; „Mitte 15. Jh.“ Palmer. 25 Palmer [Anm. 23], S. 278. 26 Palmer [Anm. 23], S. 277. 27 Palmer [Anm. 23], S. 281 und S. 296, Anm. 27 (nach Werner WilliamsKrapp).
lateinische und deutsche predigten
203
gischen Standpunkt des Verfassers oder das von ihm anvisierte Publikum genauer zu bestimmen, scheinen in dieser Sammlung zu fehlen“.28 Doch stellt die Handschrift wohl eine Musterpredigtsammlung für Geistliche dar, die aber – wie auch andernorts zu beobachten – später einen Funktionswandel hin zum Lesetext für interessierte Laien erleben konnte, wie dies etwa eine Handschrift belegt, die 1460 „im Auftrag eines Kölner Bürgers“ entstand.29 Der Titel des Werkes in beiden Codices, Hie hebet sich an alle ewangelio mit den glosen durch das gancze jar vff die sondage (Cpg 39, f. 3*vb) bzw. Hie hebent sich ane die ewangelijo[!] z% duschem mit dem text vnd mit der glose durch daz gantze jare (Cpg 55, 1r) entspricht genau dem Unternehmen des Minoriten und Hofpredigers Johannes Bischoff aus Wien: Er kündigt ein Buch an, darinn die ewangelij mit aller auzlegung geschriben stent, daz ich ze dewtsch pracht han.30 In Cpg 39 ist die Predigtsammlung ebenso mit Marquards von Lindau Dekalogtraktat zusammenüberliefert wie der Winterteil von Bischoffs Predigtzyklus in Codex Vindobonensis 2827. Den schwerwiegendsten Unterschied zwischen beiden Werken stellt der unterschiedliche Umfang dar: Bischoffs Jahreszyklus umfaßt 106 Predigten (bedingt v. a. durch den Ausbau des QuadragesimaleKreises auf 48 Predigten),31 während die Perikopen des ‚Heidelberger Typs‘ insgesamt nur 56 Stücke enthalten. Bischoffs Predigten sind zudem, bedingt durch ihren komplexen drei- bis viergliedrigen Aufbau, bestehend aus Vorrede, Evangelium, Homilie und ggf. Themenpredigt, durchwegs auch im einzelnen umfangreicher als die Heidelberger Vergleichspredigten.32 Dennoch ist durch die Perikopenglossen des ‚Heidelberger Typs‘ dieselbe Grundversorgung mit Predigthandreichungen gesichert, wie sie Bischoff im Auge hatte, ein neuerliches Übersetzungswerk dieser Art war im Heidelberger Raum also – abgesehen von einem Ausbau des Quadragesimale-Teils [s. o. bei Anm. 22] – im Grunde gar nicht notwendig.
28
Palmer [Anm. 23], S. 279. Köln, Hist. Archiv, Cod. GB fol. 47, (f. 94r–153vb), Palmer [Anm. 23], S. 281. 30 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2827, f. 53ra. 31 Im ‚Heidelberger Typ‘ sieben Predigten: fünf Fastensonntage, Palmsonntag, Gründonnerstag, dazu für Karfreitag die Passion nach Mt und ein Passionstraktat. 32 Vgl. zu dem ganzen Komplex Christoph Roth, Wie not des ist, daz die frummen layen selber pücher habent. Zum Predigtzyklus des Johannes Bischoff aus Wien (Anfang 15. Jahrhundert), Zeitschrift für deutsches Altertum 130 (2001), S. 19–57. 29
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christoph roth
4. Cpg 61, 68 und 105 Einzelne Predigten sind in Sammlungen kurzer geistlicher Texte enthalten, die wahrscheinlich für die zweite Gemahlin Ludwigs III., Mechthild von Savoyen, angefertigt wurden, evtl. aber schon von Ruprechts III. Gattin, Elisabeth von Hohenzollern (verh. 1374), initiiert worden waren. Kristallisationspunkte der Sammlungen sind in Cpg 105 und Cpg 61 nämlich jeweils verschiedene Fassungen deutscher Elisabeth-Viten, deren Entstehung aus der Verehrung der Namenspatronin durch die Pfalzgräfin Elisabeth gespeist sein dürfte. Cpg 105 (Elsaß, 1. Viertel bis Mitte 15. Jh.) eröffnet mit „eine[r] freie[n] obd. Umformung einer um zahlreiche legendäre Züge vermehrten lat. Vitengruppe aus franziskanischer Tradition“ (Bl. 1–36).33 Ansonsten enthält der Band von insgesamt 96 Bll. ein Stück aus Marquards von Lindau ‚Eucharistietraktat‘, einige Kapitel aus Seuses ‚Büchlein der ewigen Weisheit‘, eine umfangreiche Sammlung von Kurztexten, Exempeln, Sprüchen über das Leiden Christi, das Leiden der Menschen, das Beten, den Tod, den Reichtum usw.,34 sowie an Predigten Taulers Nrr. 32, 57, 77, 39, 60c35 und die ‚Feigenbaumpredigt‘ des Thomas von Straßburg (Bl. 96v).36 Die Pergamenthandschrift Cpg 61 schließt mit einem „noch dem 14. Jh. zugehörende[n] stilistisch sehr selbständige[n], wenngleich D[ietrich von Apolda] im Aufbau genau folgende[n] E[lisabeth]Leben“ (Bl. 60r–99v).37 Davor befindet sich eine Sammlung geistlicher Texte (Bll. 1r–59v): Unter den insgesamt 21 Stücken, die schwerpunktmäßig um die Themen Maria, zukunfft Christi, Tod ( Joh.
33 Helmut Lomnitzer, Dietrich von Apolda, in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 2 (1980), Sp. 104–110, hier 108. 34 Darunter auch ‚Sprüche der fünf Lesemeister‘, vgl. den entsprechenden Artikel von Betty C. Bushey in: Verfasserlexikon [Lit.-Verz.] 9 (1995), Sp. 192–195. 35 Bl. 52–57, 61–76, 90–92, Zählung nach Ferdinand Vetter, Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Hs. sowie aus Schmidts Abschriften der ehem. Straßburger Hss., Berlin 1910 (Deutsche Texte des Mittelaters 11). 36 Vgl. Dietrich Schmidtke, Die ‚Feigenbaumpredigt‘ eines Straßburger Augustinereremiten, Zeitschrift für deutsches Altertum 108 (1979), S. 137–157, hier 138. 37 Vgl. Lomnitzer [Anm. 33], S. 107: weitere Überlieferung Cpg 448 (2. Hälfte 14. Jh., Dedikationsexemplar?). Autor sei ein Kaplan der Herzogin Elisabeth von Bayern. Vgl. auch Hans Fromm, Eine mittelhochdeutsche Übersetzung von Dietrichs von Apolda lateinischer Vita der Elisabeth von Thüringen, Zeitschrift für deutsche Philologie 86 (1967), S. 20–45.
lateinische und deutsche predigten
205
Baptista, Petrus, Paulus, Ars moriendi) und Passion kreisen, befinden sich fünf, die expressis verbis als predig bezeichnet sind oder den predigttypischen Aufbau aufweisen (Stück 1: Mariae Verkündigung; 2: Mariae Himmelfahrt I; 3: Mariae Himmelfahrt II; 5: Vom Empfangen Christi I, Si quis diligit me, sermonem meum [ Jo 14, 23, Pfingstevangelium]; 10: Vom Empfangen Christi II, Daz hutige ewangelium lernt vnd gibt vns tzu verstehn). Bei weiteren Stücken kann man nur vermuten, daß sie aus ehemaligen Predigten heraus umgearbeitet wurden: Text 4 etwa, Von vierlei zukunfft vnsers hern Ihesu Cristi, klingt ganz nach einer Adventspredigt. Der ‚Predigtteil‘ (K. Zimmermann [Anm. 24]) der Hs. (Bll. 1r–59v) ist mit einem aussagekräftigen Kolophon versehen, der Angaben über den Schreiber sowie Datum und Ort der Abschrift macht: Diß buch ist volendet durch die hant Johannis richartsson von Ammerbach In dem iar alz man czalt noch cristi geburt virczehen hundert iar vnd sex vnd czwenczig iar off samstag vor dem sondag oculi in der fasten daz waz der dritte tag deß merczen et cetera etc. vff der burg czu heydelberg etc. etc. (Nachtrag, evtl. von anderer Hand): Wirczberger bistums. K. Zimmermann [Anm. 24] erwägt die Identität des Schreibers „mit dem 1416 in Heidelberg als Chorknabe beziehungsweise Chorsänger (choralis) immatrikulierten Johannes Richardi de Ambelbach dyoc. Herbipol.“38 Cpg 68 ist eine getreue Abschrift des ‚Predigtteils‘ von Cpg 61 (d. h. ohne Elisabeth-Leben) und unterstreicht somit das Interesse, das man dieser auf bedenckenn, betrachten und mercken ausgerichteten Sammlung am Heidelberger Hof entgegenbrachte. Hinweise auf die Funktion dieser erneuten Abschrift fehlen uns aber leider völlig.
II. Die deutschen Predigten in Cpg 61 Nachdem der Bestand mittelalterlicher deutscher Predigten in der Palatina skizziert ist, wende ich mich nun einer Detailanalyse ausgewählter Predigten des Cpg 61 zu. Die Fragen, die ich exemplarisch an die Marienpredigten des ‚Predigtteils‘ (also Stück 1: Verkündigung, Stück 2 und 3: Himmelfahrt) stelle, sind diese: 1. Lassen die Predigtaufzeichnungen von 1426 Abhängigkeit von den älteren Heidelberger Sammlungen, also von Berthold (Cpg 24), von 38
Vgl. auch Backes [Lit.-Verz.], S. 50.
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den Evangelien mit Glossen (Cpg 39) oder den ‚Schwarzwälder Predigten‘ (Cpg 54) erkennen? 2. Lassen die Predigten Rückschlüsse auf ihren Autor oder Redaktor, evtl. auf einen der in Heidelberg unterrichtenden und predigenden Universitätslehrer zu? In Betracht gezogen werden vor allem solche Universitätslehrer oder andere Theologen, Priester, Klosterleute, die nachweislich Kontakt zum Fürstenhaus hatten und als Prediger bekannt sind. Ausgeschlossen bleiben feierliche Universitätsansprachen (Collationes)39 oder politisch motivierte Reden der Art, wie sie etwa Johannes von Frankfurt zur Begrüßung Mechthilds von Savoyen als Braut Ludwigs III. 1418 gehalten hat.40 Hier zunächst ein tabellarischer Überblick über die in Frage kommenden Heidelberger Prediger der Zeit bis um 1430, geordnet in die Kategorien A (Keine Predigttätigkeit bekannt), B (Predigttätigkeit bezeugt, keine Predigten überliefert), C (Einzelne Predigten überliefert), D (Mehrere Predigten überliefert), E (Predigtreihen überliefert):41 Prediger
Leben
in Heidelberg
Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung
A Marsilius von Inghen
ca. 1330–1396
1386 aus Paris, Rektor 1386–92 und 1396, Repräsentant der Heidelberger Universität in Rom 1389
keine
39 Sammlungen in Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 4215, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 17485 und 5411, vgl. Franz [Lit.-Verz.], S. 103 mit Anm. 1; die Anrede in diesen Collationes laute meist: Venerabiles patres ac domini doctores, magistri ceterique. 40 Bulst-Thiele [Lit.-Verz.], S. 139. 41 Die Zusammenstellung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Ausgewertet wurden nur Ritter [Lit.-Verz.] und Franz [Lit.-Verz.] sowie daneben einschlägige Artikel aus Elmar Mittler (Hg.), Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8. 7. bis 2. 11. 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg, Heidelberg 1986 und aus dem Verfasserlexikon [Lit.-Verz.].
lateinische und deutsche predigten Prediger
Leben
keine
1386 als Dr. iur. can. aus Prag, Rektor 1394 u. ö., Kanoniker am Speyrer Dom, jurist. Pfründe am Kapitel der Heiliggeistkirche
keine; vermittelte aber eine Abschrift der ‚Schwarzwälder Predigten‘ nach Schaffhausen (ins Benediktinerkloster Allerheiligen?)
1408, M. A. 1411, Lic. theol. 1431, Rektor 1426/7 und 1437/8, Kanoniker des Heiliggeiststiftes
keine
† 1447
1387 als B. A. aus Paris, dann Bologna, Dr. utriusque iuris; Notar in den Kanzleien Ruprechts III., Ludwigs III. und Bischof Rabans von Speyer ab 1400; Teilnahme an den Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel; wohnhaft in Hd. bis 1423; Mitwirkung an den Prozessen gegen deutsche Hussiten
keine eigenen Predigten, verfaßte aber ‚Epilogaciones‘ zu Hohelied- und anderen Predigten Bernhards von Clairvaux: Stuttgart, LB, HB VII 53, 24–190 und Cod. Vind. 5099;42 Übersetzung von Bernhards ‚De laude novae militiae‘ 1421
†1427
Rektor 1400/01 und habe Predigten ver1411/12; dann OCart faßt laut J. Monikhausen bei Trithemius.43 Arnheim
† 1428
Wilhelm Ryke von Lier † 1443
Job Vener
Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung
1386 aus Paris, 1388 Köln
Reginald von Alna OCist Johannes von Noët
in Heidelberg
207
B Heinrich von Altendorf (Heinrich von Hessen)
42
Vgl. Heimpel [Lit.-Verz.], Nrr. 5 und 6. Johannes Trithemius, Catalogus scriptorum ecclesiasticorum sive illustrorum virorum, Köln (Quentel) 1521. 43
christoph roth
208 Prediger
Leben
Konrad Köler von Soest †1437
in Heidelberg
Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung
immatr. 1387, Lic. theol. 1407, Rektor 1397, 1401, 1410, Kanonikus am Heiliggeiststift; Teilnahme an den Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel; Bischof von Regensburg 1428–1437
habe Predigten verfaßt laut Trithemius [Anm. 43], Plures sermones elegantes nicht aufzufinden44
C Nikolaus Otto Weber
†1434
immatr. 1402, M. A. 1405, Bac. theol. 1415, Lic. theol. 1426, Rektor 1424
eine Predigt zum 6. Sonntag nach Epiphanie über Confiteor tibi pater (Lc 10, 21) in: Wroclaw Archiwum Archidiecezjalne 40, f. 27v
Johannes Muratoris
aus Eichstätt
immatr. 1399, Rektor 1415
vor Magistern und Scholaren abgehaltene Collatio in: Erfurt, UB, Cod. fol. 67, f. 283 und Bibl. Vat., Cpl 593, f. 13: Qui manducat hunc panem
Johannes Plate
† 1438
immatr. 1401, M. A. 1405, Bac. theol. Paris, Hd. wieder ab 1412, Prof. theol. 1420, Rektor 1414, 1424/5, 1434
Predigten in: Wroclaw Archiwum Archidiecezjalne 40 (eine Predigt); Erfurt, UB, Cod. fol. 67, ff. 290, 297 und 305 (von 1422, 1423, 1426); die erste der Predigten nochmals überl. in Bibl. Vat., Cpl
44 So Johannes B. Schneyer, Eine Sermonesreihe des Konrad von Soltau († 1407) in Cod. Vat. Pal. lat. 123, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 112 (1965), S. 497–516, hier S. 499.
lateinische und deutsche predigten Prediger
Leben
in Heidelberg
209 Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung
593, f. 1; zwei Collationen zu Epiphanie und Allerheiligen in München, BSB, Clm 5411, f. 27 und 18447, f. 100 Gerhard Brant
1400 als M. A. aus Paris, Medizinstudium, Lic. theol. 1421, Rektor 1409/10, 1418, 1425; Teilnahme an den Konzilien von Konstanz, Basel und Pavia
„Konzilsprediger“, überliefert: Konzilsreden, Rektoratsreden, Synodalrede, Fünf Festtagscollationen aus Hd. in Trier, Stadtbib. Cod. 182, Bibl. Vat., Cpl 608 und Erfurt, UB, Cod. fol. 67
Hermann Heylmann von Heidelsheim
immatr. 1404, Lic. art. 1409, Lic. theol. 1422(?), Rektor 1419
ein Sermo zu Mariae Geburt, gehalten vor Magistern und Scholaren 1422 in: Erfurt, UB, Cod. fol. 67, f. 301–304 unter dem Namen Henricus de Hedinsheym:45 Orietur stella ex Iacob (Num 24, 17)
Bernhardus baptizatus ord. s. Ben.
capellanus serenissimi principis Palatini
vier Predigten: Erfurt, UB, Cod. fol. 67, f. 43 (3. S. n. Ostern?) und f. 46 sowie Bibl. Vat., Cpl 593, f. 149 und 15946
45 Franz [Lit.-Verz.], S. 88 und 91 hält die Identifizierung der Person für unzweifelhaft. 46 Nachricht von diesem Prediger m. W. nur bei Franz [Lit.-Verz.], S. 88, Anm. 3.
christoph roth
210 Prediger
Heinrich Gouda,
Leben
+1428
in Heidelberg
Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung
immatr. 1410, Lic. theol. 1427
drei Universitätsreden Bibl. Vat., Cpl 608
1382, 1383 (von Worms aus?), 1387–1390
77 Predigten aus Bibl. Vat., Cpl 606 und 99147
D Konrad von Gelnhausen ca. 1320/ 22–1390 Johannes Marquard von Wallstadt
† 1429
immatr. 1400; M. A. 1405, Rektor 1413 und 1422, Lic. theol. 1425
Prediger bei Heiliggeist: Wroclaw Archiwum Archidiecezjalne 40 (21 Predigten); Trier, Stadtbibliothek/ Stadtarchiv 60/1022 8° (62 Predigten)
Nikolaus Magni von Jauer
† 1435
1402 als Prof. theol. aus Prag, Rektor 1407, Teilnahme am Konzil von Konstanz und Basel
Prediger schon seit 1392 in Prag; Prediger an der Heiliggeistkirche; Überliefert: Passionspredigt Prage predicatus Clm 23863; Predigtzyklus zu Sonn- und Festtagen aus Hd.: Trier, Stadtbibliothek/Stadtarchiv 60/1022 8° (17 Predigten), Wroclaw Archiwum Archidiecezjalne 40 (9 Predigten), Wormser Synodalpredigt Cod. Vind.
47 Zusammengestellt bei: Dorothea Walz, Die Predigten Konrads von Gelnhausen († 1390), erscheint demnächst in: Volker Mertens, Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Predigt im Kontext, Fachtagung Berlin 1996; die Manuskriptfassung wurde mir von der Verfasserin freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
lateinische und deutsche predigten Prediger
Leben
in Heidelberg
211 Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung
4215, scriptus in alma universitate Heydelbergensi (im Codex weitere Predigten von Heidelberger Magistern), Berlin Mgq 166, f. 307v– 319v ‚Vom Gebet‘ und Mgq 206, 348r–367r ‚Von der Liebe Gottes‘, je gehalten Dominikaner Basel 1434, während des Konzils Johannes (Lagenator) von Frankfurt
† 1440
1401 als M. A. aus Paris, Prof. theol. 1416, Rektor 1406, 1416, 1428/9, Hoftheologe Ludwigs III., den er auf der Pilgerfahrt 1427 nach Jerusalem begleitete48
Prediger am Heiliggeiststift ab 1413; Predigten aus den Prozessen gegen Johannes Drändorf und Peter Turnau (Heiliggeistkirche 1425) seien nicht erhalten; überliefert sind insgesamt 16 Sermones in: Trier Stadtbibliothek, Stadtarchiv 60/ 1022 von 1426,49 Wroclaw Archiwum Archidiecezjalne 40,50 Stuttgart,
48 Zum Leben ausführlich: Bulst-Thiele [Lit.-Verz.]; zum Werk: dieselbe (Hg.), Johannes von Frankfurt, Opuscula: Itinerarius, Arenga, Collatio, Heidelberg 1986 (Editiones Heidelbergenses 22) und Johannes von Frankfurt [Lit.-Verz.], v. a. die Übersichten S. 243–283. 49 Zum 7. So. nach Pfingsten, Mo. nach 1. Fastenso., So. nach Mariae Geburt, zu St. Pauli Bekehrung, Martin, Weihnachtsvesper, Johannes von Frankfurt [Lit.Verz.], S. 258. 50 4. Advent, 5. So. nach Epiph., 3. und 4. Fastensonntag.
212 Prediger
christoph roth Leben
in Heidelberg
Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung Württembergische LB, HB I 225,51 Aschaffenburg, Hofbibliothek Pap. 32 (204–213 Auserwählung), Bibl. Vat., Cpl 434 (206–207 Mariae Himmelfahrt) und Synodalpredigt ‚Ad clerum’ in München, BSB, Clm 4511; drei im Jahre 1424 deutsch gehaltene, ins Lateinische übersetzte Predigten in Bibl. Vat., Cpl 474, f. 33–75;52 (nach Walz [Anm. 48] nicht von J. v. F.: ‚Sermones perbreves, sed multum notabiles et formales de tempore‘, Ulm ca. 1478 unter seinem Namen, vgl. Hain 7352)
E Konrad von Soltau
ca. 1350– 1407
1387 aus Prag, Rektor 1393, Bischof von Verden 1399, mehrfach in diplomatischen Missionen für die Universität in Rom, noch 1401, 1404 u. ö.
‚De-sanctis‘-Zyklus; ‚De-tempore‘-Zyklus in Cod. Vat., Cpl 123, Lübeck 58, f. 59ra–81vb (‚Figurae de tempore et de sanctis‘), Clm 1104053
51 Teils wie in der vorhergenannten, dazu Kreuzauffindung, Kirchweih St. Peter, Michael, Simon und Judas. 52 Mariae Geburt, Mariae Verkündigung, Schutzengelfest. 53 Schneyer [Anm. 44], S. 497–516; es handelt sich eigentlich um eine Zusammenstellung von Exempelmaterial für Predigten, entstanden in Rom.
lateinische und deutsche predigten Prediger
Leben
in Heidelberg
Matthäus von Krakau
ca. 1345–1410 1394 als M. A. und Prof. theol. aus Prag, Rektor 1396/7, Angehöriger des Rats von Ruprecht III., Bischof von Worms 1405, weiterhin Ratgeber und Beichtvater des Königs, Teilnehmer am Konzil von Pisa 1409
Winand von Steeg
1371–1453
Johannes Wenck von Herrenberg
† 1460 in Hd. immatr. 1426 als Pariser Magister und Priester der Diözese Speyer, Schüler von Nikolaus Magni von Jauer, Prof. theol., Rektor 1435, 1444, 1451
54
immatr. 1394, B. A. 1396, Bac. iur. 1401, Lic. iur., Dr. iur. Würzburg 1403–1411, Nürnberg 1411–1420; am Hof König Sigismunds; Bacherach 1421; Koblenz 1439; auch während der Abwesenheit Verbindung zu Pfalzgrafen in Hd.
Übersicht bei Se ko/Szafra ski [Lit.-Verz.], S. 109–129.
213 Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung
namhafter Prediger schon in Prag, Sermonesreihen ‚De tempore‘ und ‚De sanctis‘,54 sowie ‚De passione‘ und Einzelpredigten, reformorientierte Synodalpredigten, „Recht der freien Kanzelwahl“ in Heidelberg 1396 Gedächtnispredigt für König Ruprecht im Würzburger Dom 1410; Musterpredigtsammlung ‚De tempore‘ (I, 1–2 1414) und ‚De sanctis‘ (II, 1–4, 1443), zusammengefaßt unter dem Titel ‚Lapis angularis‘, teilweise überliefert: Kassel, Hess. LB, Ms. theol. fol. 18, 19 und 20 (I, 1 und 2); Koblenz, Landeshauptarchiv, Bestand 701, Nr. 178 und 221 (II, 2 und 4) Predigt ad universitatem heydelbergensem in presencia ducis ludovici comitis palatini zu Christi Himmelfahrt 1432; Grabrede auf Ludwig III. 1437; 136 Predigten ‚De tempore‘ und ‚De
214 Prediger
christoph roth Leben
in Heidelberg
Nachricht über Predigten, ggf. Überlieferung sanctis‘ werden unter dem Titel ‚Memoriale divinorum officiorum‘ zusammengefaßt: Bibl. Vat., Cpl 486, 1–205; Mainz, StB, Cod. I 372, 2–226; Karlsruhe, BLB, Cod. 1036; München, BSB, Clm 8868, 1–175 (1445); Sammlung von 86 Predigten (1430–1432) in Tübingen, UB, Cod. Mc 31 (1r–101v, 136v, 143r–149v), teilweise (14v, 50v) mit deutschen Textpassagen durchsetzt, Einzelpredigten
In einem ersten Zugriff kann hier aus der Fülle des Materials nur ein stichprobenartiger Vergleich zwischen den deutschen Marienpredigten in Cpg 61 und einschlägigen lateinischen Sermonen vorgenommen werden:55 Predigt 1: Mariae Verkündigung (Cpg 61, 1r–5r) Die Sammlung wird eröffnet durch eine stark allegorisch gehaltene Predigt über Mariae Verkündigung: Daz ist ein predig von der kundigunge vnsers hern Jhesu cristi in dem grusz marie irer botschafft. Der Sermo hat kaum homiletische Züge. Eine ausführliche Vorrede schildert die Freude dieses Heilstages und betont die Unsäglichkeit dieser Freude:
55 Berücksichtigt sind lateinische Predigten nur, sofern sie in modernen Publikationen erschlossen sind oder von Heidelberg aus erreichbar waren. Mittel für Handschriftenreisen und Bestellungen von Filmabzügen standen mir nicht zur Verfügung.
lateinische und deutsche predigten
215
Sie gleiche der eines Vogels, der, mag er auch noch so schlecht singen, doch irgendwie tichtet vnd quidelt ym ynant etwasz in ym sich selbe zu erlusten vnd besunder wand die wunniglichen tag dez maien vnd dez sumers zu kummen (1r). Ziel der Predigt sei es, zu erklären, wie eß czu gegangen ist vnd waß die bewegung (der „Beweggrund“) sie, daz die gotlich ere vns erschinen ist vnd mit vns in dem elende gewonet/habe (1v/2r). Der Hauptteil der Predigt folgt nun mit deutlicher Angabe der Quelle einer Predigt des hl. Bernhard zum Festtag Mariae Verkündigung über Psalm 84, 10–11.56 Dabei wird die ausführliche Besprechung des Psalmverses aus der Predigt Bernhards ganz übergangen, jedoch der Kerngedanke, die Trennung der genannten Tugenden beim Fall Adams und ihre Wiedervereinigung bei der Inkarnation des Heilands breit ausgeführt. Die Personifikation der Tugenden und ihre Diskussionen beim himmlischen Gericht vor der Herabkunft des Erlösers wird in der deutschen Predigt ganz so beibehalten, wie es in der lateinischen Vorlage vorgeprägt war. Wahrscheinlich wurde die Bernhard-Predigt von einem Redaktor direkt für diese geistliche Sammlung aufbereitet und mit dem genannten originellen Prolog von den jubelnden Vögeln versehen, denn keiner der im folgenden zusammengetragenen Vergleichstexte hat diesen ‚Prolog im Himmel’ als zentrales Element aufzuweisen: A) Keinerlei Verwandtschaft besteht mit dem Predigtgerippe zum entsprechenden Festtag in Cpg 55: Das Thema der Predigt von vnser lieben frawen, als ir der engel die bottschaffte brachte (73v–74v), aus dem passional von den lieben helgen durch das gantz jare57 ist Ier 31, 22, Ecce dominus fecit novum,58 [. . .] waz die geburt bezeichet Alsz vnser liebe frawen gebar vnsern heren (73va/b). In fortgesetzter Apostrophe an das Auditorium (lieben kinder) werden alttestamentarische Präfigurationen für die Verkündigung der Heilsbotschaft an Maria aufgezählt: Der brennende, aber vom Feuer nicht verzehrte Dornbusch; der blühende Mandelzweig, dessen Frucht mit der harten Schale und dem süßen Kern menschliches und göttliches Wesen Christi verbildlicht; die Himmelspforte aus Ez 44, 1–3, die mit Maria als dem Weg der Menschen zum Heil gleichgesetzt wird usw. B) Eine Verkündigungspredigt des Konrad von Gelnhausen in Cpl 56 [. . .] wie daz sye zu betrachten lernt sant Bernhart in einer predig von dieser gegenwertigen hochcijt, da er die vorgeschriben wort [Ps 84, 10–11 Ut inhabitet gloria in terra nostra, misericordia et veritas obviaverunt sibi, iustitia et pax osculatae sunt] handelt; S. Bernardi Opera ed. J. Leclercq, Vol. V, Rom 1968, S. 13. Auch Patrologia latina 183, Sp. 383. 57 ‚Mitteldeutsche Predigten‘, 66ra–102ra. 58 Recte: quia creavit Dominus novum super terram/femina circumdabit virum.
216
christoph roth
606, Bl. 208r/v, gehalten 1383 in Heidelberg ad minores,59 geht vom Tagesevangelium, Lc 1, 38, Fiat mihi secundum verbum tuum, aus. Über ein Wort des hl. Iacobus mündet die Predigt in eine Abhandlung über die vier Kardinaltugenden iustitia, prudentia, fortitudo und temperancia. In der deutschen Predigt ist in nur teilweiser Übereinstimmung damit und in Anlehnung an das Thema aus Ps 84 von misericordia (barmherczikeit), veritas (worheit), iustitia (gerechtikeit) und pax ( fride) die Rede. Auch fehlt dem deutschen Text ein exemplum de rege, das laut lateinischem Entwurf hier einzubringen sei, dem lateinischen Text hingegen fehlt jeglicher Hinweis auf den hl. Bernhard, so daß eine Verwandtschaft der beiden Predigten trotz singulärer Berührungspunkte auszuschließen ist. C) Naheliegend wäre auch ein Einfluß des Johannes von Frankfurt, der 1424 als Kaplan und Beichtvater Ludwigs III. fungierte und 1413–23 sowie 1431–35 das Predigeramt an der Heiliggeistkirche bekleidete. Auch sei Bernhard der Lieblingsautor von Johannes von Frankfurt gewesen.60 Auf Mariae Verkündigung gemünzt ist die zweite von drei Predigten, die er 1424, also nur zwei Jahre vor der Entstehung von Cpg 61, zu deutsch gehalten und dann im Auftrag von Kurfürst Ludwig III. ins Lateinische übersetzt habe.61 Überliefert ist die Predigtgruppe in Cpl 474 (f. 33r–75r) zwischen einer Aufstellung der typologisch auf Christi Leben auslegbaren Präfigurationen des Alten Testaments, Concordancie decursus vite Christi ex veteri et nouo testamento alias ‘Malleus iudeorum’ (f. 1r–31r), einem Brief des Johannes von Frankfurt an den Kurfürsten de pecuniis, quas dominus de Thynsberg accepit a studentibus (f. 32a) und einem Exzerpt de talmut judeorum (Theobald von Sézanne, ‘Pharetra fidei contra Iudeos’ f. 76r–77r).62 Sowohl die ‘Concordantiae’ wie auch die ersten beiden Predigten sind mit ausführlichen Widmungen an Kurfürst Ludwig versehen. Die dritte Predigt überliefert in einer mittelalterlichen Beischrift nur kurz den Autor und das Abfassungsdatum des Werkes: Sermo factus De angelis anno domini 1424 per magistrum Johannem de Francfordia (60r). Der Prologus ante rem zur Predigtgruppe (z.T. gleichlautend mit dem zu den ‚Concordantiae‘ 1r/v) nennt als Adressaten Kurfürst Ludwig III., 59
Vgl. Walz [Anm. 47], Predigt Nr. 46. Johannes von Frankfurt [Lit.-Verz.], S. IX und XV. 61 Predigt 1: De nativitate BMV; Predigt 3: De angelis. Erwähnt auch bei Backes [Lit.-Verz.], S. 81f. und 111. 62 Johannes von Frankfurt [Lit.-Verz.], S. 248 mit Abb. S. XXV, XXVIII und XXIX. Die Hs. sei teilweise Autograph, es handle sich um das Dedikationsexemplar für Ludwig III. 60
lateinische und deutsche predigten
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Illustri principi potenti et magnifico domino domino duci ludowico, comiti palatino reni, sacrorum[!] jmperij electori et archidapifero ducique bauarie [. . .], als Autor in topischer Bescheidenheit einen quidam seruorum suorum indignus, als Grund für die Übersetzung der ursprünglich deutsch abgehaltenen Predigten (sermones [. . .], quos coram vestra dominacione wlgari lingwa [. . .] feci, 33v) empfangene Wohltaten (tot beneficiencie munera) und Ludwigs III. Interesse an Wissenschaft und Büchern (desiderij scientiarum et librorum). Der Predigt zu Mariae Verkündigung (Bl. 52r–59v) stellt Johannes von Frankfurt noch einen kleinen Prolog voran.63 Für die Predigt selbst wählt er drei Themen: 2. Rg 18, 26 (Et iste bonus est nuntius), 4. Rg 7, 9 (Haec est dies boni nuntii) und Lc 15, 31 (Fili, tu semper mecum es et omnia mea tua sunt).64 Sodann beschäftigt sich der Prediger mit der Frage nach den vier unabdingbaren Eigenschaften guter Boten ([. . .] sciendum, quod ad bonum nuncium requiruntur quattuor condiciones: Verständnis, Emsigkeit, adäquates Handeln, Zuverlässigkeit), den vier Voraussetzungen für die richtige Art der Vermittlung der Botschaft (Gruß, Zuverlässigkeit, Empfehlung der Botschaft, Aufnahmebereitschaft fördern),65 und dem richtigen Zeitpunkt einer Botschaft. Die Annunciacio felicissima an Maria sei Ausgangspunkt für vier weitere, begleitende Verkündigungen, die Verkündigung der rechtgläubigen Wahrheit in der Predigt, der Beinahe-Sünde im Bekenntnis, der Sünden im Tadel, des Gotteslobs im Erzählen von dessen Großtaten (56r). Daher müssten wir der Jungfrau auf viererlei Weise nachahmend folgen: 1. Wir sollen nicht leichtgläubig sein wie Eva, 2. wir sollen nicht geschwätzig sein, 3. wir sollen uns der Heimsuchung nicht widersetzen, 4. in der Erkenntnis sollen wir uns nicht verhärten. Sodann werden Beispiele für weitere gute Boten (außer Gabriel) angeführt, da es ja in der zitierten Textstelle geheißen hatte Et ille nuncius bonus est [. . .]. Hier zeigt sich exemplarisch der trockene
63 [. . .] Anno domini millesimo quadringentesimo vicesimo quarto in die annunciationis virginis [. . .] feci coram vestra nobilissima potestate [? Wasserrand] vnum sermonem in wlgari, quem a me [. . .] mandastis in latinum conscribi [. . .]. 64 Soll aus dem Tagesevangelium stammen (ex ewangelio eiusdem diei ). Das entspricht wohl dem Mainzer Ritus, denn im Missale Romanum wäre Lc 1, 26–38 der zutreffende Evangelienabschnitt. 65 Allesamt aufgezeigt am Beispiel der Verkündigung des Engels Gabriel an Maria. Der Autor argumentiert dabei typologisch (Tag der Verkündigung sei der gleiche wie derjenige der Erschaffung Adams, wie derjenige der Verführung durch die Schlange, wie derjenige der Vertreibung aus dem Paradies, wie derjenige der Kreuzigung Christi usw.) oder etymologisch (Nazareth: floriditas, viriditas, unctio, consecratio).
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christoph roth
und penible Stil der Predigt. In ähnlicher Art wird auch das dritte Thema, fili, tu semper mecum est[!] et omnia mea tua sunt (57r) aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn (ex evangelia hodierna Lc 15,3) abgehandelt: Filius könne ausgelegt werden 1. als Christus in seinem göttlichen Wesen, 2. als Christus in seinem menschlichen Wesen, jeweils angesprochen von Gott, oder 3. Christus in seinem Wesen als Sohn Mariens, angesprochen von seiner Mutter: Dabei würden drei Dinge zum Ausdruck gebracht: 1. die wahre Mutterschaft Mariens, 2. ihr gemeinsames Wohnen auf Erden und im Himmel, 3. ihr gemeinsames Streben nach tugendhaftem Wesen. Die ganze Argumentation wird natürlich von einer Unzahl von Belegen aus der hl. Schrift (v. a. Psalmen) sowie mit Stellen aus Dionysius, Augustinus, Bernhard, Athanasischem Glaubensbekenntnis, Iohannes Damascenus untermauert und mündet in die übliche Schlußanrufung an Maria mit der Bitte um Fürsprache bei ihrem Sohn: tuus tibi hodie denunciatus in tuo virginali utero homo factus deus super omnia glorificandus et benedictus Amen (59v). Mit der Verkündigungspredigt in Cpg 61 verbindet diese lateinische Predigt nichts. D) Dasselbe dürfte für den entsprechenden Sermo des Konrad von Soltau gelten, denn der geht von Gn 2, 9, Ubi Dominus plantavit lignum vitae in medio paradisi (quod signat beatae virginis corpus), aus.66 E) Die wenigen Informationen zu einer Annuntiationspredigt des Matthäus von Krakau bei Se ko und Szafra ski [Anm. 54, S. 116] lassen keine Verwandtschaft mit unserer Predigt zu Mariae Himmelfahrt erkennen: Der Sermo geht von Locutus est Dominus ad Achar, Is 7, Sepe contingit aliquem principem liberalem [. . .] aus. Weitere Vergleichsmöglichkeiten böten evtl. Winands von Steeg ‘De sanctis’-Predigten, sofern eine Assumptionspredigt in dem übriggebliebenen Koblenzer Codex (s. o. Tabelle, Rubrik E) enthalten sein sollte, des weiteren Johannes Marquard von Wallstadt (Rubrik D), Johannes Wenck von Herrenberg ‘Memoriale divinorum officiorum’ (Rubrik E) und Job Vener (Rubrik A), der ja Zusammenfassungen von Bernhard-Predigten verfaßt hat. Unter den wenigen Proben, die Heimpel aus Cod. Vind. 5099 veröffentlichte [Anm. 42], befinden sich keine Marienpredigten. Nebenbei sei noch bemerkt, daß auch die entsprechenden Marienpredigten Johannes Bischoffs67 und des ‚St. Georgener Predigers‘ voll66
Schneyer [Anm. 44], S. 506. Predigt 2 des Winterteils, Predigtzyklus in Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2827 über Prov 26 Candor est lucis eterne. 67
lateinische und deutsche predigten
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kommen anders ausgerichtet sind als unsere Vorlage in Cpg 61: In ersterer geht es um Marias Heiligkeit, die Art der Heiligkeit, Zahl der Heiligungen und – nach einem Exkurs über die Erbsünde im allgemeinen – um die Frage, ob Jesus Maria vor dieser Sünde bewahren konnte. Der Aufbau ist scholastisch gliedernd. Der ‚St. Georgener Prediger‘ handelt von den sieben Tugenden Marias: Sant Lucas lobet únser vrowen an siben sunderlichen tugenden [. . .].68 Diese sind Keuschheit, Behütetheit, Erfüllung mit göttlicher Gnade, Schamhaftigkeit, Vorsicht, Demut, Gehorsam. Dargestellt werden alle Tugenden an Marias Verhalten gegenüber dem englischen Gruß, Hauptautorität ist der hl. Bernhard. Predigt 2: Mariae Himmelfahrt I (Cpg 61, 5r–17v) Diese Predigt wird durch eine deutlich topisch gehaltene Vorrede eröffnet: Es sei unmöglich, Maria würdig zu preisen, doch sei der Lobpreis nach Maßgabe der Möglichkeiten dennoch anzustimmen. Der Sermo selbst ist in die drei Abschnitte vom Abschied (schidunge), vom Begräbnis (begrebniß) und von der Himmelfahrt Mariens (geleite zu den ewigen freuden) gegliedert. Vor allem der erste Abschnitt ist deutlich dialogisch-dramatisch gestaltet, was F.J. Mone dazu bewogen haben dürfte, die Predigt aus dem Heidelberger Cpg 61 als Vergleichstext zu einem Himmelfahrtsspiel 1841 in seinem Band ‘Altteutsche Schauspiele’ abzudrucken.69 Nach der Aufforderung, das Folgende nicht wörtlich, sondern allegorisch aufzufassen, entspinnt sich im weiteren Verlauf der Predigt ein Gespräch zwischen den Engeln und Maria, zwischen den Engeln und Christus im Himmel sowie zwischen Christus und Maria, wobei die Gottesmutter immer wieder auch Worte aus dem Hohen Lied gebraucht, wie beispielsweise in der Anrede an die Engel: ich weiß wol, daß ir syt die hymelischen fr$nd mynes brutegames, ich kan myn hymelichs begirde und die gruntsenunge myns herczen nymmer verbergen, saget ym, daß er mich kuße mit dem kuße synes mundes (Mone [Anm. 69], S. 187f.). Das Inzipit der eigentlichen Predigt (nach der Vorrede) bringt uns auf die Spur des Textes, der
68
Rieder [Anm. 6], S. 221–228, hier 221. Quedlinburg und Leipzig (Bibliothek der gesammten dt. National-Lit. 21); es soll nachgewiesen werden „wie die teütsche Predigt [. . .] mit dem alten Schauspiel übereinstimmt“. 69
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christoph roth
Vorlage für den ersten Teil der deutschen Predigt (von der schidunge) gewesen sein dürfte: Vom ersten schribt sant Bernhart in einer predige dißer hochczyt, die sich anehebt mit dem spruch der liebe also: ir techter von Jherusalem verkundet myne liebe, daz ich von liebe fechte (Ct 5, 8; Mone [Anm. 69], S. 185). Gemeint ist hier aber – das ergab die Durchsicht einer großen Bernhard-Ausgabe von 1687 – eine Predigt des Bernhard-Schülers D. Guerricus (Werricho), Abt von Igny.70 Die hier eingestellte Übersicht zeigt, daß der deutsche Bearbeiter seiner Vorlage ziemlich getreu folgt: Ein predig von der schidunge Guerrici In assumptione beatae der hymelkonigynne (Mone 1841, Mariae sermo II, 1687, S. 62f. S. 185ff.) Von der hochwirdigsten und aller gnaden richsten, mynniglichsten und allerliebsten, edelsten und barmherczigsten iunckfrawen und muter Jhesu [. . .]. Wie sie aber zu den freuden und eren kummen sie in irer schidunge, uns zu betrachten und czu vorderunge geistlicher freuden und ynnekeit in diser geschicht der hochwirdigen hochzyt sollen wir merken dreu: daz erste von ir schidunge, daz ander von irer begrebniß, das dritte von irem geleite zu den ewigen freuden. Vom ersten schribt sant Bernhart in einer predige dißer hochczyt, die sich anehebt mit dem spruch der liebe also: ir techter von Jherusalem verkundet mynne liebe, daz ich von liebe vechte. Und ee ich da von schribe, ist eyns zu mercken. als sant Bernhart in der egenanten predig schribt, wenne wir lesen oder horen von dem gek∂se der engel
Filiae Hierusalem nunciate dilecto, quia amore langueo.
VEerba[!] ista quae a nobis hac nocte cantata sunt qualiter ad Assumptionem Beatae Mariae possint videri pertinere, volumus, si placet, cum vestra charitate tractare. Id autem eo genere sermonis faciendum videtur quo non modo secularium, sed etiam Ecclesiasticarum auctores litterarum nonnunquam usi sunt:
70 D. Guerrici abbatis In assumptione b. Mariae virginis Sermo II, in: Sancti patris Bernardi abbatis primi Clarevallensis operum appendix, seu tomus sextus, Lyon 1687, 62f.
lateinische und deutsche predigten mit den selen, bedarff man nicht achten, ob daz lyplich genczlich also geschehen sie mit solichen worten, sunder ob lyplich wort nicht also gar ge[186]schehen sin, daz noch der worte laute noch unser verstendikeit in irem gem$te oder begirde ist gewesen oder czu dem mynsten also noch e semlicher wyse m∂chte in irer begirde gegen enander sin, als uns die wort l$ten und bedeuten, und in der wyse zu versten schribt sant Bernhart und spricht: Maria, da sie solde scheiden uß disem elende, da begunde sie zu sychen, als daz gewonlich ist menschlicher swacheit. nemet war, da komen die tochter der hymelißchen Jherusalem, die heiligen engel, und besuchten sie ir zu dinste und wol zu gevallen irem lieben kinde. und noch irem gewonlichen gruß, als sie ir erschinen lieplichen, mochten sie liblich sprechen oder noch vorgeschribenem synne:
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maxime in tractandis Canticis, unde haec sunt sumpta. Hoc namque genus sermonis, salva veritate quadam ampliori utitur libertate, cum videlicet sumpto themate causae, ut beatus Hieronymus, ait, non tam loquitur quae revera facta vel dicta sint, quam ejusmodi fuisse negotium ostendit; ut ea quae dicuntur, et si facta vel dicta non fuerint, fieri tamen vel dici potuisse, aut etiam in affectu facientis, vel dicentis fuisse non absurde credi possint. Maria igitur migratura a corpore decumbebat, ut est humana infirmitas. Porro filiae Hierusalem quae sursum est, id est angelicae virtutes scientes nimirum quia obsequiis matris captanda est gratia Filii, visitabant satis officiose Dominam suam, Matrem Domini sui. Et fortasse aliquid hujusmodi primo post salutationis officia locuti sunt ei Angeli: sicut speciem humano vultui, ita sermonem humano nimirum conformantes affectui „o waz ist dir, du aller wirdigste vel usui. frauwe, daz du wirst gesehen Quid est obsecro mi Domina, kranck mit sicht$me, wie bistu so quod sic aegra videris et lanungewonlich als gerugt und guida? Quid est quod praeter trege, daz du von gestern und e solitum tristis et pigra ab heri et gestern noch dyner gewonheit nudiustertius sicut solebas non nicht hast bes$cht die heiligen sancta revisis loca, quorum stete, von der gesichte din lip contemplatione amorem tuum tegelich zu nam pascebas? [. . .] [. . .] . . . ich wil dich kußen nicht mit munde zu munde lyplich sunder [63] . . . Non imprimam labia mit ewiger sußer vereinunge labiis, sed spiritum spiritui osculo dynes geystes mynem geyste perpetuo et indissolubili: Quia [189] mit dem (un)endlosen und concupivi speciem tuam; etiam ewigen kuße und eynunge, wann desiderantius quam tu meam, ich han dyner sch∂ne serer nec satis glorificatus videbor mihi e begert den du der myner, und donec tu conglorificeris
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christoph roth acht auch, wie ich nicht volkomlich gekl‰ret sie, ich werde den geklaret in dir hie by mir in den ewigen eren.“ Deß sagte danck alles hiemelichs here und sprach: „lob und ere sie dir herre ane ende.“
Gloria tibi Domine Jesu, subintulit chorus Angelorum. Gloria tibi Domine Jesu, ingeminet coetus fidelium. Glorificatio Matris tibi proficiat ad gloriam, nobis ad veniam: te praestante cui est honor et gloria, per omnia saecula saeculorum. Amen.
Da lest eß n$ sant Bernhart, aber sant Augustinus schrıebet furbaß, wie eß ergangen sie biß zu irer schiedunge und spricht, daß sich die muter gots icht betr$bte [. . .].
Der Rest des ersten Teils (s. Paralleldruck) und der zweite Teil seien, so der Kompilator, nach einer Augustinus-Predigt gearbeitet: Zu dem andern teil diser predige ist zu mercken, daz alle czwolff b∂ten, die iczunt geteilt waren in alle werlt, wurden gesament in ire [sc. Mariens] begrepniß von dem heiligen geiste, als sant Augustinus schribt furbaß in der egenanten predige. (Mone [Anm. 69], S. 190). Der Hauptquelle folgt der Redaktor während des gesamten Abschnitts, was dem Leser bzw. Hörer durch Formeln wie Augustinus schribt furbaß, als Augustinus spricht u.ä. immer bewußt gehalten wird. Daneben werden kürzere Dicta von Dionysius, (Iohannes) Damascenus und Albertus magnus eingeflochten. Dem kürzeren dritten Abschnitt, von dem ersammen geleite irer heiligen sele, stellt der Kompilator ein Thema aus dem Tagesevangelium voran,71 und er folge, so sagt er, nun wieder einer Predigtvorlage des hl. Bernhard (da von rett sant Bernhart, dar umb schribt sant Bernhart u.ä.).72 Im Mittelpunkt des gesamten Abschnitts steht, daß Marias hochwürdiger Empfang im Himmel dem Empfangen des Gottessohnes in ihrem Leib entspreche: und als daß erste enpfenckniße unußsprechlich wirdig ist, also auch daß ander, daß hutige (Mone [Anm. 69], S. 193).
71
Maria hat das allerbeste teil erwelet und erkorn (Lc 10, 38–42, hier 42). Konnte ich nicht verifizieren: Das Thema entspricht zwar Werrichos ‚De assumptione sermo IV‘, inhaltlich jedoch eher dessen ‚De assumptione sermo I, 5–7‘ oder Bernhards ‚Sermo de assumpitone beatae Mariae virginis I‘. 72
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Die Frage bei der Umschau auf die älteren deutschen Predigtsammlungen und die lateinischen Predigten Heidelberger Theologen lautet: Ist diese großflächige Kompilation in einem der Vergleichstexte vorgeprägt? In der Art der Darstellung stimmt die Predigt zwar mit dem entsprechenden Abschnitt der ‘Legenda aurea’ des Iacobus de Voragine überein (ed. Graesse; Cap. CXIX), der sich seinerseits auf ein apokryphes Buch des Evangelisten Johannes beruft. Der Predigt fehlt aber die Szene mit dem Angriff der Juden auf den Trauerzug. A) Entsprechend nah, weil seinerseits mit der ‘Legenda aurea’ verwandt, liegt die Darstellung des Evangelistars mit den Glossen von Cpg 55 Von vnser lieben frawen als sie z% h%mel[!] fure Exaltata est. Wir begen hude den tag (Bl. 86ra–87ra aus den ‘Mitteldeutschen Predigten’).73 Erzählt wird vom Rückzug Mariens aus der Welt, von ihrem Bittgebet um Versammlung der Aposteln bei ihr in ihrer Todesstunde, von ihrer Bekleidung mit dem göttlichen Gewand, von ihrem Tod, vom Begräbnis und der Störung der Zeremonie durch die Juden, deren Bestrafung sowie der Himmelfahrt Mariens in unversehrtem Leib und unversehrter Seele. Die Darstellung ist (wie auch in der ‘Legenda aurea’) kürzer gehalten als in Cpg 61, die Erzählung ist, abgesehen von den Gebetspassagen, nicht dialogisiert. B) Der Heiligenpredigtenteil der ‘Schwarzwälder Predigten’ sei „größtenteils verdeutscht aus der Legenda aurea des Jacobus de Voragine“.74 Demnach ist auch von dieser Seite kein Einfluß auf die deutsche Mariae-Himmelfahrts-Predigt in Cpg 61 zu erwarten. C) Bertholds Predigten in ihrer Andersartigkeit bieten ohnehin kein Vergleichsmaterial zu unserer Vorgabe. D) Keinerlei Übereinstimmung besteht aber auch mit Himmelfahrtspredigten des Matthäus von Krakau: Ein Sermo zum entsprechenden Festtag, den er wohl in Krakau gehalten hat, setzt sich Lc 16, 9, Facite vos amicos, zum Thema75 und handelt über die sinnvolle Verwendung der meist „auf unrühmliche Weise erworbenen Reichtümer
73 Abgeschlossen wird die Predigt mit dem Bittruf: So ruffen wir hude vnser lieben frawen an, daz sie ir liebes kint vor vnß biede [bitte], daz wir ewiglichen m%ssen b m bliben. daz helff vns allen got. Amen. 74 Schneider, die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Cgm 201–350, Wiesbaden 1970, S. 279. 75 Tagesevangelium nach Pariser Meßritus? Vgl. Walz [Anm. 47], zu Predigt 8 des Konrad von Gelnhausen.
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der Welt“.76 Zwei weitere von Se ko und Szafra ski nachgewiesene Predigten ‘De assumptione BMV’ gehen von In omnibus requiem quesivi, Eccli 24, Beatus Jeronimus in sermone presentis festivitatis dicit [. . .] und Intravit Jesus in quoddam castellum, Lc 10., Ubi notandum secundum cronicam Syghardi [. . .] aus,77 von wo eine Einmündung in die hiesige Darstellung undenkbar erscheint. E) Von Konrad von Gelnhausen finden sich in der von Walz erstellten Übersicht [Anm. 47] mehrere einschlägige Predigtentwürfe oder -skizzen, je zwei zur Vigil und zum Fest Mariae Himmelfahrt. Doch bieten auch sie keine Anhaltspunkte für Einfluß auf unsere Kompilation: Die in Heidelberg 1382 gehaltene Predigt (Walz, [Anm. 47], Predigt 27, Cpl 606, 131r mit zweiter introductio 131v) über Veni coronaberis (Ct 4, 8) argumentiert auch im weiteren Verlauf überwiegend entlang des Hohen Liedes (Ct 7, 6; 1,9), nimmt im übrigen Textstellen aus Esther, Judit und Jesaia auf und ist ausschließlich auf den Lobpreis Mariens gestimmt. Hinsichtlich ihrer Autoritätenzitate und ihres gliedernden Aufbaus passen auch die beiden Predigten zur Himmelfahrtsvigil aus Liberau bei Worms 1378 und aus Paris 1379 (über Ct 4, 8 und Lc 16, 6) nicht zu unserem Ausgangstext. F) Eine ganz andere Richtung nimmt wiederum Konrads von Soltau Predigt zu Mariae Himmelfahrt, die von 2. Rg 6, Ubi David archam de domo Aboth duxit in domum suam, ihren Ausgang nimmt.78 G) In Cpl 434, Bl. 206v–207r, findet sich eine mit ‘De assumptione’ betitelte Predigt, die Johannes von Frankfurt zugeschrieben wird. Tatsächlich handelt es sich aber wohl um einen Sermo zum Fest ‘Sieben Schmerzen‘, denn der entsprechenden Tageslesung ist das Thema Benedictus dominus (Iud 13, 24) entnommen. Die Predigt handelt von den sieben Todsünden und bietet dementsprechend kein Vergleichsmaterial für die Predigt 2 aus Cpg 61. Unvorgreiflich weiterer vergleichender Untersuchungen ist somit festzuhalten, daß ein Einfluß von aktuell in Heidelberg gehaltenen Predigten auf die ‚Marienpredigten‘ allem Anschein nach nicht zu beobachten ist. In Betracht zu ziehen ist hingegen auch die Möglichkeit, daß die ersten beiden ‚Predigten‘ unseres Cpg 61 gar nicht zuerst für diese Handschrift angefertigt, sondern fertig übernommen wurden. 76 Gustav Sommerfeldt, Zu Matthäus de Cracovias kanzelrednerischen Schriften, Zeitschrift für Kirchengeschichte 32 (1911), S. 92–98, zit. S. 92. 77 Zit. Se ko und Szafra ski [Anm. 54], S. 119 und 127. 78 Schneyer [Anm. 44], S. 507.
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Beide finden sich nämlich in derselben Paarung in drei weiteren Codices, die allesamt aus Frauenklöstern im nordbairisch-ostfränkischen Raum stammen und ähnliche Sammlungen geistlich erbaulicher Texte enthalten: Berlin, Mgo 137 aus dem Dominikanerinnenkloster St. Katharina in Nürnberg (1. Hälfte 15. Jh.),79 Dresden, LB, Msc. M 244 aus dem Augustinerinnenkloster Pillenreuth bei Nürnberg80 und München, BSB, Cgm 230 aus dem Benediktinerinnenkloster Kühbach bei Aichach in der Diözese Augsburg (16. Jh.)81. Cpg 61 stellt allem Anschein nach den ältesten Textzeugen dar, doch ist damit seine Rolle als gebender Teil natürlich nicht erwiesen. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß sich die oben schon hervorgehobene Einleitung zur Verkündigungspredigt mit dem “zwitschernden Vöglein” auch als Initium eines Sendbriefes findet in München, UB, 8° Cod. ms. 277, 1. Dieser Codex stammt aus dem Besitz einer gaistlichen swester [. . .] czu meding82 (1. Hälfte 15. Jh.):83 Item daz her nach geschriben stet daz ist ein sant prif [. . .] Lybe tochter Es ist yczund selten kein fogel [. . .].84 Predigt 3: Mariae Himmelfahrt II (Cpg 61, 17v–19v) Das Stück ist mit Item eyn ander Predig von der schidunge der hymelkonigynne überschrieben. Es handelt sich aber nicht um eyn ander Predig
79 Kurzes Verzeichnis der germanischen Hss. der Preußischen Staatsbibliothek von Hermann Degering, III: Die Hss. im Octavformat, Leipzig 1932, S. 54f. Die beiden Predigten finden sich auf den Bll. 47rff. und 67vff. 80 Katalog der Hss. der königl. öffentl. Bibliothek zu Dresden, bearbeitet von Franz Schnorr von Carolsfeld, Leipzig 1883 (ND 1981: Kat. der Hss. der Sächs. Landesbib. II), S. 509–511. In dieser Hs. Parallelüberlieferung zu Cpg 61, 1, 2, 3, 4, 11 und 12 (Cpg 61, Bll. 1–22 und 31–40 entsprechen Dresden, M 244, Bll. 51–93!); die Stücke 4 und 11 werden hier abweichend von Cpg 61 noch als predig bezeichnet. 81 Beschreibung der Handschrift von Schneider [Anm. 74], S. 97–100: Teil 1 der Handschrift sei erheblich älter und umfaßt zwei Texte, die sich von der Wiener Schule ableiten lassen, W. Kydrers ‘Von klösterlichen Tugenden und Lastern’ und T. Peuntners ‘Büchlein von der Liebhabung Gottes’. Zwischen den beiden Predigten ist in dieser Hs. ein Exzerpt aus der ‚Legenda aurea dt.‘ eingefügt: Von der fr∂lichen aufferstehung Jesu Christi. 82 Das ist das durch Margareta Ebner berühmt gewordene Dominikanerinnenkloster Maria Medingen bei Dillingen an der Donau. 83 Den Hinweis auf dieses Werk verdanke ich Herrn Prof. Dr. Schmidtke, Heidelberg, der im Artikel ‚Wurzgarten des Herzens‘, in: Verfasserlexikon [Lit.Verz.] 10 (1999), Sp. 1460–1461, auch auf die entsprechenden Predigten hinweist, denen er hinsichtlich des Prologs Priorität einräumt. 84 Zitiert nach: Die deutschen mal. Hss. der UB München, beschrieben von Gisela Kornrumpf und Paul-Gerhard Völker, Wiesbaden 1968, S. 288–291, hier 290.
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im eigentlichen Sinne. Es wird im Grunde dasselbe Material unter Zuziehung annähernd derselben Autoritäten ausgebreitet wie in Predigt 2 (Bernhard, daneben Augustinus, Dionysius und Hieronymus).85 Während in dieser die Dramatisierung im Dialog das bestimmende Merkmal darstellte, ist Predigt 3 von einer deutlichen Gliederung und der Zuwendung an das gegenwärtige Publikum zum Schluß eines jeden Abschnitts geprägt. Auf eine neuerliche Einleitung verzichtete man ganz und kommt nach dem Titel gleich zur Sache: Uon der lobelich hochcijt der schidung marie der hymelkonigin sullt ir mercken funff stuck.86 (1) Das erste stuck betrifft die Armseligkeit (ir großes elende 17v) ihrer irdischen Existenz nach der Himmelfahrt Christi. Sie sei aber hier geblieben zu troste vns jomerigen menschen, wofür wir ihr Dank schuldeten. (2) Das zweite stuck, die Sehnsucht nach ihrem Sohn, war auch im Dialog der vorhergehenden Predigt schon angesprochen worden (Mone [Anm. 69], S. 186f.). Die Angaben über ihren Wohnort, übernommen von Bernhard nach Hieronymus (Mone [Anm. 69], S. 186, Z. 19ff.), sind hier fast wörtlich wiederholt und in der Folge, bei der Aufzählung der Marterstätten Christi, die Maria besucht, noch ausgebaut. Zur Beschreibung ihrer Sehnsucht werden zuletzt zwei Stellen aus Hld (1, 3) und Weish (9, 15?) eingebracht. (3) Das dritte stuck, die lypliche vnd lustige schydunge ierer seln von irem lichnam (18r), berührt sich zu Beginn wieder aufs engste mit dem entsprechenden Abschnitt der zweiten Predigt. Auffälligerweise ist aber auch hier die Übereinstimmung nicht wörtlich, so daß man annehmen muß, daß der Text nicht schlankweg abgeschrieben, sondern evtl. nach einer lateinischen Vorlage oder aus dem Gedächtnis nochmals erarbeitet wurde. Ein Beispiel mag den Verwandtschaftsgrad der Texte veranschaulichen:87
85 Predigt 2 dazu noch Iohannes Damascenus und Albertus Magnus, Predigt 3 Beda vnd die andern lerer (18r). 86 Dieser Text ist in der Pillenreuther (Dresdner) Hs. ebenfalls überliefert, vgl. Anm. 80. 87 Ähnlich sähe ein Vergleich der Passagen aus, welche die Versammlung der Jünger um Marias Sterbelager beschreiben, vgl. Mone [Anm. 69], S. 190, Z. 5–23 mit Cpg 61, 18r, Z. 22 bis 18v, Z. 6.
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Predigt 2 nach Mone [Anm. 69], Predigt 3 nach Cpg 61, 18r, Z. 6ff.: S. 191, Z. 2–6: O wie billich schied sie ane pyn vß disem elend, wann sie hat todes not wol und gar swerlich und bitterlich gegolten, da sie sich so bitterlich scheiden muste von irem lieben kinde, da daß swert Symeonis durch gieng ir sele in der durchdringlichen bitterkeit der sychunge ires lieben kindes.
. . . vnd daz waz wol billich, sint daz sie vor hat vergolden deß todes bitterkeit in der schydunge ires aller lybsten kindes an sinem tode, da sie größ smerczen vnd großern smerczen enpfing wen der lyplich tod ist.
Sodann wird in Predigt 3 – in der vorhergehenden Predigt fehlt dieser Gedanke – der Nachweis versucht – als beda vnd die andern lerer vßlegen –, daß all denen ein sußes ende bereitet werde, die sich getreulich halten zu synem heilgen lyden. Deutlich auch hier wieder die Wendung an das anwesende Publikum am Schluß des Abschnitts: O weren wir auch ires lieben kindes iungern vnd syne d ner, so mochten wir sie auch wol biten, als wir auch thun sullen, daz sie vns auch erfreuwe an vnser schydunge (18v, 11–14). (4) Das vierte stuck, ir lyplich geleite zu dem ewigen leben, weicht insofern von Predigt 2 ab, als hier je ein Hinweis auf einen Festhymnus und ein Gebet des Breviers eingeflochten wurde: Vnd darumb singet man von ir in der meße: Waz achtet ir, mit waz wirdikeit wirt sie geeret in dem hymel die iunckfraw, die den hern der hymel hat geherbergt in dem sarche ires heiligen lichnams (19r, Z. 6–10).88 Vnd daz bekennet öffenlich die cristenheit in eym gebete, daß man list zu dißer lobelich hochczijt: O maria re ne vnd ewige iunckfrauwe vnd wirdige muter gotes, hilff vns gnediglich, hilff vns an der vereynunge der sele mit vnserm lichname am iungsten dag frölich auch ersteen zu den ewigen freuden (19r, Z. 29–35).89 (5) Das letzte stuck, [. . .] daz sie in der großen wirdikeit, da sie zu komen ist, vnser nit vergessen mag, bringt an neuen Gedanken nur das aus der Kunst der Zeit bekannte Bild von Marias Darstellung ihrer Brüste gegenüber Christus im Himmel, zu erbarmen uber den sunder. Ins Schema der Predigt paßt eine ausführliche, zehnzeilige Schlußapostrophe, die in einer emphatischen Aufforderung zum
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Hymnus Quem terra, pontus, sidera colunt? Predigt 2 zitiert in Abschnitt 2 (von irer begrebniß) ausführlich ein Gebet des hl. Augustinus, das mit dem vorliegenden Gebet nur gemein hat, daß es ein Mariengebet ist (vgl. Mone [Anm. 69], S. 192, 5–35). 89
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Gebet gipfelt: [. . .] klagen vnd we nen wir elende kinder Eue vnd sprechen: Salue regina, o gutige, o milde, o suße iünckfrawe maria. Amen. Ein neuerlicher Vergleich mit den anderen Heidelberger Predigten erübrigt sich wegen der Nähe zu Predigt 2, er ergäbe vice versa dasselbe Bild.
III. Abschließende Fragestellung und Ergebnisse Um zu den eingangs gestellten Fragen zurückzukehren: Der Fürstenhof in Heidelberg war über lange Jahre hinweg an deutschen Predigtaufzeichnungen lebhaft interessiert. Ein Schwerpunkt des Interesses liegt im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts während der Regierungszeit Ludwigs III. (vgl. Zeittafel im Anhang). Eine Sammlung von Evangelien mit Glossen (‘Heidelberger Typ’, Cpg 39 und Cpg 55) könnte nach Ausweis der Mundart der ältesten Handschriften sogar im Heidelberger Raum entstanden sein. Damit war eine Grundversorgung der Geistlichen mit Hilfestellungen für die Erfüllung ihrer Predigtpflicht und auch von Laien mit Lesetexten durch das Kirchenjahr, wie sie Bischoff mit seinem Predigtzyklus anstrebte, exakt auch hier gewährleistet. Wo einzelne Predigten Eingang in Sammlungen geistlicher Meditationstexte fanden, sind diese Texte selbst nach altbewährten Vätern wie Bernhard von Clairvaux oder Augustinus gearbeitet. In die fürstliche Bibliothek wurden sie möglicherweise aus Frauenklöstern des nordbairisch-ostfränkischen Raums vermittelt. Einfluß von aktuell in Heidelberg gehaltenen Predigten, von denen wir zahlreiche lateinische Skizzen und Protokolle besitzen, ist, soweit das nach den oben dargestellten Stichproben gesagt werden kann, nicht festzustellen. Als Grund für das Fehlen von darüber hinaus gehenden Bemühungen auf diesem Gebiet (vgl. die umfangreichen deutschen Predigtsammlungen des Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktors und des Johannes Bischoff im Wiener Raum) kann man folgende Defizite erwägen: Fehlten hier Reformklöster im Hinterland (vgl. die Rolle von Melk!)? Fehlten Mäzene von der Art eines Reinprecht von Wallsee, also hohe fürstliche Beamte mit entsprechendem geistlichen Engagement? Kein Mangel bestand allem Anschein nach an entsprechend tätigen Theologen an der hiesigen Universität und an deren Interaktion
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mit dem Hof (s. den Übersetzungsauftrag an Johannes von Frankfurt). Auch an Kontakt zwischen dem Hof und hier ansässigen Klöstern (in diesem Fall Franziskanerkloster unterhalb des Schlosses) kann es nicht gefehlt haben. Ebenso wenig scheint mir der Überlieferungszufall, also Verlust einschlägiger Handschriften, für bezeichnete Defizite verantwortlich gemacht werden zu können, obwohl über den Verbleib des Buchbestandes aus dem eben genannten Franziskanerkloster gänzliche Unwissenheit herrscht. Es ist aber kaum vorstellbar, daß entsprechende Textsammlungen, wenn sie denn vorhanden waren, nicht auch Eingang in die Bibliotheca Palatina gefunden hätten.
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ANHANG: ZEITTAFEL ‚DEUTSCHE PREDIGTEN IN HEIDELBERG VON CA. 1350 BIS CA. 1450‘ • Erste Hälfte 14. Jh.: Cpg 54, ‚Schwarzwälder Predigten‘, rhfrk., i. A. des pfalzgräfl. Hauses (?) 1350
• 1370: Cpg 24, Berthold von Regensburg, srhfrk., für Pfalzgräfin Elisabeth von Namur († 1382) – bis 1390 Ruprecht I. (*1309, Pfalzgraf ab 1329, Kurfürst ab 1353, verh. 1. Elisabeth von Namur) – bis 1398 Ruprecht II. (*1325, verh. Beatrix von Sizilien) 1400 – bis 1410 Ruprecht III. (*1352, König 1400, verh. Elisabeth von Hohenzollern, † 1411)
• Erstes V. 15. Jh.: Cpg 105, Sammlung geistl. Texte mit TaulerPredigten und Elisabeth-Leben, els. • Erstes V. 15. Jh.: Cpg 39, Evangelistar mit Glossen (‚Heidelberger Typ‘), srhfrk. • 1426: Cpg 61, Sammlung geistl. Texte mit Predigten und Elisabeth-Leben, obd./ alem. für Elisabeth von Hohenzollern • nach 1426: Cpg 68, Abschrift des ‚Predigtteils‘ von Cpg 61, obd./ bair. • 2. Viertel bis gegen Mitte 15. Jh.: Cod. Vat. lat. 8966, ‚Schwarzwälder Predigten‘ u. a., srhfrk./ nwalem. – bis 1436 Ludwig III. (*1378, verh. 1. Blanca von Engl., 2. Mechthild von Savoyen, † 1438)
• 1439: Cpg 35, Berthold von Regensburg, oschwäb. – bis 1449 Ludwig IV. (*1424, verh. Margarete von Savoyen, † 1479) 1450
• 1455: Cpg 55, Evangelistar mit Glossen (‚Heidelberger Typ‘), Mitteldeutsche Predigten, srhfrk. – bis 1476 Friedrich I., der Siegreiche (*1425, Kurfürst ab 1451) 1500
DER WIDERRUF DES PETER VON UNI OV VOR DER PRAGER UNIVERSITÄTSGEMEINDE (1417) Václav Bok und Freimut Löser
Seit dem Spätherbst 1416 war die Prager Universität Schauplatz von mehreren heftigen und wichtigen Diskussionen und Ereignissen, die im Frühjahr 1417 (genau: am 10. März) in das feierliche Bekenntnis der Universität zur Kommunion unter beiderlei Gestalt mündeten. Damit lehnte sich die Universität gegen die diesbezüglichen Dekrete des Konstanzer Konzils auf.1 Man bezog nun eindeutig Position und beendete damit in den Reihen der akademischen Gemeinde eine seit Monaten dauernde Auseinandersetzung; sie war Teil der dramatischen Ereignisse, die sich in Böhmen seit der Verbrennung von Magister Johannes Hus in Konstanz Anfang Juli 1415 überstürzt hatten. Die Autorität der Prager Universität wurde im September 1415 durch die Versammlung des böhmischen Adels gestärkt, als dieser ihr die Stellung des Schiedsrichters in Glaubenssachen übertrug.2 Das Bekenntnis der Universität zum Laienkelch kam nach langwierigen Konflikten mit dem Prager Erzbischof und den katholischen Magistern der Universität zustande, deren Widerstand in den ersten Monaten des Jahres 1417 schwächer wurde und von denen einige die Universität und die Stadt verließen. Unser Beitrag gilt einem Dokument, das drei Tage nach dem Bekenntnis der Universität zum Kelch im Karlskolleg der Prager Universität feierlich verkündet wurde. Dieses Dokument spiegelt die Verhältnisse wider und enthält in nuce die Debatten der damaligen Zeit. Es ist der Widerruf des Dominikaners Peter von Uni ov, durch
1 Die gründlichste Darstellung dieser Auseinandersetzungen bringt Ji®í Kej®, Deklarace pra ské univerzity z 10. b®ezna 1417 o p®ijímání pod obojí a její historické pozadí [Die Deklaration der Prager Universität vom 10. März 1417 über die Kommunion unter beiderlei Gestalt und ihr historischer Hintergrund], Sborník historick 8, 1961, S. 133–156. 2 Vgl. z.B. Franti ek mahel, Husitská revoluce [Hussitische Revolution] 2, Praha 1993, S. 284–285; Ji®í Sp vá ek, Václav IV. 1361–1419, Praha 1986, S. 528 u.a. Der Text ist abgedruckt in Archiv esk 3, 1844, S. 193–195, Nr. 7.
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den er sich öffentlich von seiner bisherigen feindseligen Einstellung gegenüber dem Wyclifismus lossagt und sich insbesondere von seiner aktiven Tätigkeit gegen Johannes Hus und Hieronymus von Prag distanziert. Gleichzeitig bittet er die Universität um Verzeihung und Bestrafung, da er ihr als ihr Absolvent und Mitglied juristisch untersteht. Dieser Widerruf wird in der Fachliteratur zwar erwähnt, sein Text ist jedoch bis jetzt nicht gründlicher untersucht worden. Für uns gewinnt er dadurch an Interesse, dass seine Niederschrift in drei sprachlichen Fassungen vorliegt, in einer lateinischen, einer tschechischen und einer deutschen. Die deutsche Fassung wurde bisher nicht publiziert.3 Dabei ist sie der letzte deutsch geschriebene Text, der die Ereignisse an der Prager Universität vor der Hussitenrevolution reflektiert. Die spärlichen Angaben über das Leben und Wirken Peters von Uni ov, die hier rekapituliert werden sollen, sind von der historischen Forschung längst zusammengetragen worden und in den Kreisen tschechischer Historiker bekannt.4 Doch sind auch die in der tschechischen Fachliteratur angeführten Fakten in einigen Punkten zu ergänzen.
3
Den tschechischen Text veröffentlichte nach der Hs. XI E 3, f. 96r–97v der Nationalbibliothek Prag Vincenc Brandl, Osv d ení Petra z Uni ova, kter m d®ív j í kázání svá proti echám, Husu, Jeron mu a proti p®ijímání pod obojí odvolal. 13. b®ezna 1417. [Die Proklamation P. v. U., durch die er seine früheren Predigten gegen Böhmen, Hus, Hieronymus und gegen die Kommunion unter beiderlei Gestalt widerrufen hat. 13. März 1417], asopis Matice moravské 11, 1879, S. 95–105, hier S. 98–101; den lateinischen Text publizierte Johann Loserth, Hus und Wiclif. Zur Genesis der hussitischen Lehre, Prag-Leipzig 1884, Beilage Nr. 10, S. 296–298, und zwar nach der Hs. III G 16 der Nationalbibliothek Prag, jedoch mit einigen Auslassungen des Textes. Den Text der deutschen Fassung zitieren wir nach der Handschrift der Nationalbibliothek Prag IX E 3, f. 98r–99v. 4 Biografische Angaben über Peter sind in mehreren Artikeln zusammengefasst worden, von denen hier nur die ergiebigsten erwähnt werden: Brandl [Anm. 3]; Jan Sedlák, Petr z Uni ova (als Teil der umfangreichen Studie Po átkové kalicha [Die Anfänge des Kelchs]), asopis katolického duchovenstva 55 (80), 1914, S. 315– 322, sowie die bei Jaroslav Kadlec jeweils fast gleich lautenden Angaben: Katoli tí exulanti e tí doby husitské [Tschechische katholische Emigranten der Hussitenzeit], Praha 1990 und Derselbe: Husovi odp%rci [Die Widersacher von Hus] in: Jan Hus na p®elomu tisíciletí. Mezinárodní rozprava o eském reformátoru 15. století a o jeho recepci na prahu t®etího milénia. Pape ská lateránská universita ÒRím 15.–18. prosince 1999 [ J. H. an der Jahrtausendwende. Internationale Diskussion über den tschechischen Reformator des 15. Jh. und über seine Rezeption an der Schwelle des dritten Milleniums. Päpstliche Lateran-Universität Rom, 15.-18.12. 1999], in: Husitsk Tábor, Supplementum 1, hg. von Milo Drda – Franti ek J. Hole ek – Zden k Vybíral, Tábor 2001, S. 325–342, hier S. 333–335.
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Peter stammte aus der mittelmährischen Stadt Uni ov [Mährisch Neustadt]. Er war Mitglied des Dominikanerordens, studierte in Prag an der artistischen Fakultät und später wirkte er an dieser Fakultät. Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt wurde er Priester. Er war deutscher Prediger in der Dominikanerkirche zu St. Kliment, in der Nähe der Prager Brücke, der heutigen Karlsbrücke. Am dortigen Generalstudium der Dominikaner war er auch Lektor der Theologie. Die Akten des dominikanischen Generalkapitels von Genua enthalten folgende Aussage: Conventui Pragensi provincie Boemiae damus in regentem fr. Petrum de Morovio sacre theologie magistrum. Bei Peter handelte es sich also seit dem Generalkapitel von Genua (1413) und dessen Beschluss um den regens studii der Prager Dominikaner. Ein zweites Zeugnis bringt die Wertschätzung dieses Generalkapitels für Peter zum Ausdruck und bezeugt, dass er sein Baccalaureat in Köln abgelegt hatte und dass er den Pariser Magistern gleichgestellt war.5 Soweit zur akademischen Laufbahn und zur Position im Dominikanerorden. Peter war aber auch ein eifriger und aktiver Gegner der Reformbewegung, gegen die er alle ihm zu Gebote stehenden Mittel einsetzte. Ein Teil der Forschung hält es für möglich, dass er bereits in den Jahren 1407–1409 mit Hus disputierte.6 Als der Prager Erzbischof
5 Vgl. Stephanus L. Forte, Acta Capituli Generalis Celebrati Genuae Anno 1413, Archivum Fratrum Praedicatorum 26, 1956, S. 291–313, hier S. 304 und 307: Item denuntiamus fratribus nostri ordinis universis quod reverendissimus magister ordinis autoritate literarum apostolicarum coram nobis et toto capitulo generali lectarum et publicatarum in hac parte sibi commissa de omnium nostrum unanimi consensu et concordi approbatione sacre theologie magistrorum in rigoroso examine vocatorum consueto magistravit et doctoravit in sacra pagina fratres Bartholomeum de Udino, lectorem Ianuensem provincie sancti Dominici, Michaelem de Boleris, bachalarium sacri palatii conventus Avinionensis provincie Provincie, Petrum de Moradia, provincie Boemie bachalarium Coloniensem, qui omnes vigore suprascriptarum literarum gaudere debent omnibus gratiis, privilegiis et exemptionibus ac si Parisius fuissent magistrati. 6 Vgl. Matthew Spinka, John Hus. A Biography, Princeton 1968, S. 57: „Hus lectured for two years 1407–1409 . . . it was customary when there were several doctoral candidates at this stage of their theological course to group them in teams for the purpose of holding disputations with which each book of the Sentences was introduced. During the first year Hus disputed with Stephen Pálec, Nicholas Stoer, and the friars John de Monte and Peter Mangold (the latter probably identical with Peter of Uni ov, later lector in the Domincan monastery of St. Clement).“ Gegen die Identifizierung von Peter Mangold und Peter von Uni ov spricht sich Jaroslav Kadlec aus, ÚReholní generální studia p®i Karlov universit v dob p®edhusitské [Die Ordensgeneralstudien an der Karls-Universität in der Zeit vor der Hussitenbewegung], Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 7, 1966, Heft 2, S. 63–108, hier S. 77, allerdings mit dem schwachen Argument, dass Mangold Mitglied der Teutonia war, während Peter von Uni ov Mitglied der
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im Jahre 1408 befahl, dass die Besitzer von Wyclifs Schriften diese ausliefern sollten, prangerte Peter von der Kanzel öffentlich diejenigen an, die das Gebot missachtet hätten.7 Bei einem Aufenthalt im Zentrum der Dominikaner in Bologna forderte er schon 1410, allerdings erfolglos, die Eröffnung eines Prozesses gegen Hus. In dem hier vorgestellten Widerruf nimmt er darauf Bezug: Ipsumque magistrum Iohannem Hus procurassem citari personaliter ad curiam Romanam, si superiores mei mihi ad ipsum non inhibuissent. So gesehen erscheint Peter als persönlicher Gegner von Hus, den seine vehemente Polemik und Propaganda sogar in Konflikt mit seinen Ordensoberen bringt. Im Juli 1412 nahm Peter an der großen Versammlung des Klerus und der Prager Universität teil, die auf Geheiß König Wenzels 45 Artikel Wyclifs verurteilte. Möglicherweise war es eben Peter, der zu Beginn des Jahres 1414 gegen die von Magister Jacobellus von Mies [ Jakoubek ze St®íbra] aufgestellte Forderung nach der Kommunion unter beiderlei Gestalt als erster auftrat, aber sein Traktat ‚Auctoritates contra utraquem speciem‘ ist verschollen.8 Im November 1414 ging Peter nach Konstanz und war hier einer der Zeugen gegen Hus, der ihn laut Peter von MladoÏnovice als seinen führenden und großen Feind bezeichnete.9 Gegen die böhmische Reformbewegung trat Peter zu einem unbekannten Zeitpunkt auch in Breslau auf, wo er sogar zum
Bohemia war. Sonst aber würden u. E. die über Peter Mangold bekannten Tatsachen die Identifizierung mit Peter von Uni ov unterstützen: Mangold studierte in Bologna, von wo er 1400 abberufen wurde, 1402 war er magister studencium in Köln, 1407–1408 konkurrierte er mit Hus, als dieser die ersten zwei Bücher von Lombardus’ Sentenzen auslegte, und später taucht der Name Mangold in den Quellen nicht mehr auf. 7 Dies erwähnt Anfang September 1410 Nicolaus Czungl, Pleban im niederösterreichischen Berndorf, der im Wiener Prozess gegen Hieronymus von Prag aussagt. Czungl kann sich zwar nicht mehr an alle von Peter genannten Namen genau erinnern, an einige aber doch, wie im Protokoll über ihn gesagt wird: Et nominavit [sc. Peter], ut credit [sc. Czungl], vere tamen nesciat, quatuor specialiter, videlicet Huss, Jeronimum et Jesnicz ac Stanislaum, vgl. Ladislav Klicman, Processus iudiciarius contra Jeronimum de Praga habitus Viennae A. 1410–1412, Praha 1898, S. 23. 8 Vgl. noch Johann Loserth, Der älteste Katalog der Prager Universitätsbibliothek, Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 11 (1890), S. 310–318, hier S. 313: P12: Jacobi de Missa (sic) De sacramento et sub utraque specie laicorum communione. Replica magistri Andree de Broda. Replica magistri Jacobelli: Posicio magistri Jacobelli contra Petrum de Uniczow. Auctoritates predicti Petri contra utramque speciem. Omelia Augustini pro utraque specie vulgo. Posicio magistri Jacobelli super illo utrum nolens sacerdos ministrare sub utraque specie sid seductor. Posicio eiusdem contra monachum. 9 Petrus monachus a sancto Clemente, cui Magister dixit, ut ipse retulit ibidem, ipsum esse principalem et magnum inimcum suum, vgl. Petri de Mladoniowicz relatio de Magistro Johanne Hus, in: Fontes rerum Bohemicarum 8 (hg. Václav Novotn ), Praha 1932, S. 41.
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Kreuzzug gegen Böhmen aufgerufen haben soll. 1415 oder 1416 kehrte er nach Prag zurück und war weiterhin gegen die Reformbewegung tätig. Am 3. Januar 1417 begann an der Prager Universität das Quodlibet des Magisters Prokop von Kladruby. Am Vorabend des Quodlibets erschien an manchen Stellen ein anonymes Flugblatt, mit Magistri de Constantia unterzeichnet. Darin wurde die Frage gestellt: Utrum licet magistris studii pragensis illa diffinire et approbare, que auctoritate tocius orbis dampnatur?10 Höchstwahrscheinlich war der Verfasser des Textes Peter von Uni ov, wie moderne Forscher auch annehmen.11 Wohl im Zusammenhang mit dem Flugblatt steht seine Verhaftung unter nicht näher bekannten Umständen.12 Die Chronologie der Ereignisse ist in manchen Punkten unklar. Peters Verhaftung muss zwischen Januar und Mitte März 1417 erfolgt sein, aber einige Tage vor seinem Widerruf war er bei einer Verhandlung der Universität anwesend. Man forderte: Peter, ein entschiedener Gegner der Eucharistie unter beiderlei Gestalt, sollte sich für diese aussprechen; er verlangte jedoch einen Beweis dafür, dass der Laienkelch von Christus eingesetzt wurde, und wollte dagegen disputieren. Wohl Ende Februar 1417 oder auch früher, hatte Jacobellus die ‚Posicio pro informatione monachi praedicatoris s. Clementis‘ vorgelegt.13 Peter konnte sich in der Universität zwar diese Positio anhören, durfte aber zu diesem Thema nicht disputieren und konnte nur eine Stellungnahme abgeben. In dieser schwächte er seine Einwände schon ab und wies nur noch darauf hin, dass die Ansicht eines einzelnen Magisters für ihn nicht maßgebend sei. Wenn sich aber die ganze
10 Über das Flugblatt Jan Sedlák, N kolik text% z doby husitské X. [Einige Texte aus der Hussitenzeit], Hlídka 28, 1911, S. 396–398; der Textabdruck befindet sich auf den Seiten 397–398. Neuer Abdruck in: Miscellanea husitica Ioannis Sedlák, hg. von Jaroslav Polc/Stanislav P®ibyl, Praha, Univerzita Karlova 1996, S. 256–258, Text des Flugblattes S. 257–258. 11 Vgl. Howard Kaminsky, A History of the Hussite Revolution, Berkeley/Los Angeles 1967, S. 226. 12 Kej® [Anm. 1], S. 149, sagt, dass die Universität Peter verhaften ließ; Jaroslav Mezník, Praha p®ed husitskou revolucí [Prag vor der Hussitenrevolution], Praha 1990, S. 192, meint, dass der Stadtrat von Alt-Prag an dieser Verhaftung irgendwie beteiligt war. Das tschechische Lied [vgl. weiter unten, Anm. 16] erwähnt die Gefangennahme Peters im Rathaus. 13 Sedlák [Anm. 4], S. 319–320, reproduziert den Inhalt von Jacobellus´ Positio und zitiert einige ihrer Stellen aus der Wiener Hs. ÖNB 4488. Über die Positio vgl. Franti ek Michálek Barto , Literární innost M. Jakoubka ze St®íbra [Die literarische Tätigkeit des M. Jacobellus von Mies], Praha 1925, S. 39, Nr. 46.
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Universität samt dem Rektor dieser Meinung anschlösse, wolle er als Mitglied der Universität davon nicht abweichen. Wahrscheinlich rechnete Peter damit, dass die Universität als Ganzes einen solch radikalen Schritt nicht wagen würde.14 Doch am 10. 3. bekannte sich die Universität mit dem Rektor Jan Kardinal von Rejn tejn an der Spitze tatsächlich zum Laienkelch, und Peter musste am 13. März feierlich seinen Widerruf leisten, um den es nun gehen soll. Die Instanz, an die sich Peter wendet, vor der er seine Vergehen bekennt und um Vergebung bittet, ist die Universitätsgemeinde, von der er schließlich Buße und Strafe erbittet. In diesem Zusammenhang wird zwar vom Rektor gesprochen, der allerdings nicht namentlich genannt wird.15 Der offizielle Kanzler der Universität, der Prager Erzbischof, wird nirgendwo erwähnt, was durch die damalige Situation in Prag bedingt ist: Die Macht des Erzbischofs war schon dadurch empfindlich geschwächt, dass er in der Frage des Kelchs seinen Kampf gegen die Universität bereits verloren hatte. Vielleicht sollte dieser jüngste Sieg der Universität über den Erzbischof und seine Anhänger gerade durch den groß inszenierten Widerruf Peters von Uni ov noch bekräftigt werden. Peter wurde offenbar gezwungen, die Ansichten zu widerrufen, die er früher öffentlich verkündet hatte und von deren Richtigkeit er sicherlich auch noch zur Zeit des Widerrufs überzeugt war. Denn dass Peters Widerruf unter beträchtlichem Druck entstand, legen die Formulierungen des Dokuments selbst nahe, wo die Freiwilligkeit des Widerrufs auffällig deutlich und häufig hervorgehoben wird. Dass Peter zu diesem Widerruf gezwungen wurde, behauptet die anonyme antihussitische Schrift ‚Planctus super civitatem Pragensem‘, die wohl im Jahre 1421 verfasst wurde. Ihr Autor ist möglicherweise Andreas von Brod, der langjährige gelehrte Gegner von Hus und seinen Anhängern, zur Entstehungszeit des ‚Planctus‘ schon außer Landes. In der Schrift, die anklagend den Verfall Prags und der Universität in der Hussitenzeit schildert, werden einige Zeilen auch dem Fall
14
Sedlák [Anm. 4], S. 320–322. Eine gewisse Unklarheit bildet gegen Ende des Widerrufs die Erwähnung des Vizerektors, von dem Peter die Strafe erbittet. Der Vizerektor übernahm die Geschäfte nur bei Abwesenheit des Rektors, aber dieser wird zu Beginn des Widerrufs sowie dann in der Abjuration Peters erwähnt. Die Erwähnung des Vizerektors ist also wohl nur ein Textverderbnis, obwohl wir eher geneigt wären, sie für die ‚lectio difficilior‘ zu halten und in ihr die Widerspiegelung von Tatsachen zu sehen. 15
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Peters von Uni ov gewidmet. Der Autor behauptet, dass Peter gefoltert wurde und dass er nur die Wahl zwischen Widerruf und Tod hatte.16 Ähnliches beklagt auch ein anonymes tschechisches Gedicht, das wahrscheinlich schon vor November 1420 entstand und das für Peter Partei nimmt; dort heißt es, Peter sei so grausam gefoltert wurde, dass er kaum am Leben geblieben sei. Man könne es ihm daher nicht verübeln, dass er – um sein Leben zu retten – verlesen habe, was man ihm vorschrieb und vorzulesen gebot. Auch habe er später seinen Widerruf rückgängig gemacht.17 Obwohl die beiden Nachrichten von Gegnern der Hussiten stammen, stimmen sie in manchem überein und werden in der Behauptung einer Gewaltanwendung gegen Peter nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt sein. Welch große Bedeutung dem Widerruf Peters von Uni ov beigemessen wurde, zeigt sich schon darin, dass sich dazu am 13. März 1417 nicht nur die akademische Gemeinde versammelte, sondern dass dabei auch zahlreiche Vertreter der Prager Öffentlichkeit anwesend waren. Es war zwar nicht zum ersten Mal, dass die Prager
16 Jaroslav Kadlec, Planctus super civitatem Pragensem a jeho autor [P. s. c. P. und sein Autor], Studie o rukopisech 25, 1986, S. 47–73. Durch diese kritische Ausgabe an Hand von acht Handschriften ist der alte Abdruck von Constantin Höfler, Geschichtsschreiber der hussitischen Bewegung II, (Fontes rerum Austriacarum 6), Wien 1865, S. 311–319, der zur Grundlage nur die Melker Hs. hatte, überholt. Der Kritiker der Hussiten schrieb hier: Et ut magis intellegas ea, que patenter in te acta sunt, ad memoriam revocabo: Petrus et Iohannes prodeant in exemplum. Petrus, professor theologie, frater monasterii sancti Clementis de Praga, et Iohannes de Grecz, in artibus liberalibus magister, ferant hi duo testimonium, ut alios non occupem, quibus armis et qualibus et an magistralibus tui, de quibus te iactitatis, magistri cum eis et aliis confligebant. Certe non armis magistralibus sed materialibus, non argumentis, sed tormentis, non auctoritatibus Scripture sed cruciatibus licture, non locorum loycalium sedibus, sed cipporum popularium et laycalium compedibus, non racionibus sed coaccionibus arguebant. Nam captivo fratre Petro iam dicto post afflicciones varias unum e duobus eligere coegerunt, ut vel revocet, que contra eosdem magistros vel contra Wiclef Anglicum predicaverat, vel in eorum manibus ultimum debitum mortis exsolvat. Pauper homo volens tantam crudelitatem evadere, veritatem a se pluries predicatam coram astantibus in collegio Karoli Prage revocavit. – Kadlec, S. 61. 17 Das Gedicht wurde von Václav Nebesk veröffentlicht, Ver e na husity. (Ze za átku XV. století) [Verse über die Hussiten. Vom Beginn des 15. Jh.], asopis eského musea 26, 1852, S. 141–151. Das insgesamt 483 Verse umfassende Gedicht wird vom Editor, S. 141, in die Zeit vor dem Tod des Bischofs Hermann von Nikopolis († 13.11.1420) datiert. Peter betreffen die Verse 187–215 – Nebesk , S. 145–146. Sedlák [Anm. 4], S. 318, druckt einige dieser Verse nach, jedoch nicht die Stelle über die Rücknahme des Widerrufs: To co jest bezd ky odvolal/to zase p®ivolal. [Das, was er gegen seinen Willen widerrufen hat, hat er wieder verkündet] – V. 213–214, Nebesk , S. 146.
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Öffentlichkeit einer wichtigen Verhandlung der Universität beiwohnte; doch geschah dies selten und nur im Ausnahmefall. Zu Beginn des Widerrufs spricht Peter neben den Mitgliedern der Universitätsgemeinde weitere Anwesende an: Coram vobis venerabilibus viris et dominis rectore . . . et omnibus aliis Christi fidelibus hic presentibus. In den Überschriften zum Text werden in allen Handschriften als Anwesende die Geschworenen und Gemeinden aller Prager Städte erwähnt; so heißt es in der Hs. III G 16 der Prager Nationalbibliothek, der Widerruf geschah sabbato ante dominicam oculi 1417 in collegio Caroli coram tota universitate studii Pragensis et in praesentia scabinorum et consulum ac communitatum omnium civitatum Pragensium.18 Darüber hinaus gibt es in dieser Handschrift noch eine Notiz, die die Menge der Anwesenden hervorhebt und berichtet, diese seien nicht nur im Haus, sondern auch im Hof gestanden: Facta est in collegio magno assistente magna multitudine populi secularium et spiritualium tota universitate Pragensi, magistris civium et iuratis civitatum Pragensium et consilio regis in pavimentis stancium et vulgo in curia.19 Unter den weltlichen Personen können wir uns weiter Mitglieder des Adels vorstellen, die positiv zur Hussitenpartei standen, und dann natürlich Schaulustige aus allen Schichten der Prager Bevölkerung; unter den Geistlichen werden vor allem diejenigen gewesen sein, die in den Prager Städten im Sinne der Reformpartei wirkten, eventuell aber auch Beobachter der schon schwachen Gegenpartei. Der Widerruf Peters von Uni ov besteht aus mehreren Teilen, die nicht als einzelne Artikel verfasst sind, sich aber dieser Struktur nähern. Nach der Nennung der Instanz, vor der der Widerruf geschieht, setzt dieser relativ unvermittelt ein mit der Darstellung von Peters ‚irrigen Einwänden‘ gegen die Kommunion unter beiderlei Gestalt. Die Nennung seiner Vergehen beginnt dann jeweils mit ‚Item‘. In einer der Handschriften werden sie durchnummeriert. Es sind insgesamt drei Absätze, in denen sich Peter schuldig bekennt, und zwei Absätze, in denen er um Vergebung bittet. Eine der Handschriften enthält zusätzlich die Abschwörformel Peters. In dem offenbar von Peters Gegnern verfassten Widerruf steht am
18
Höfler [Anm. 16], III (Fontes rerum Austriacarum 7), S. 164. Loserth [Anm. 3], Beilage 10, S. 296. Vgl. auch Höfler [Anm. 16], II, S. 62: A.D. 1417 Petrus professor de domo S. Clementis Sabbato ante oculi in collegio Caroli coram Symone de Rokyzano et aliis magistris baccalaureis et studentibus nec non consulibus antiquae civitatis revocavit solempniter benivole et sine aliqua coercione quod Boemi sunt haereticie et alia multa. (Nach Prag, Nationalbibl. XIV C 26). 19
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Anfang die wichtigste Frage – die der Kommunion unter beiderlei Gestalt, deren Approbation durch die Universität ja drei Tage zuvor verkündet worden war. Peter bittet um Vergebung und bekennt, dass er gegen die Kommunion unter beiderlei Gestalt in seinen Predigten vehement aufgetreten sei; er habe diejenigen, die sie spendeten und empfingen, als Ketzer verdammt und zu ihrer Bestrafung aufgerufen. Dies habe er sowohl im Königreich Böhmen als auch in anderen Ländern, insbesondere aber in Prag getan. Seine damaligen Ansichten bezeichnet er nun als temerarie, stulte et infundabiliter docta asserta et predicata. Er betrachtet jetzt die Spendung der Kommunion unter beiderlei Gestalt an die Menschen beiderlei Geschlechts als lex ewangelica, instruccio Christi, doctrina apostolorum et praxis ab observancia ecclesie primitive et concors sanctorum doctorum sentencia. Hier wird also der Standpunkt der Universität, fast im Wortlaut von deren Erklärung vom 10. März, reproduziert. Dieser Satz mit den Argumenten der Reformbewegung (es sei Gebot Christi, Gesetz des Evangeliums, urkirchliche Praxis usw.), die hier wie auch sonst immer von Neuem wiederholt und verfochten werden, erhält jedoch hier im Widerruf eine überraschende Fortsetzung: Es wird nämlich suggeriert, dieses Prinzip stehe mit der Entscheidung des Konstanzer Konzils in Einklang: et presertim patens et notoria recognicio et professio Constanciensis concilii huic regno Boemie et precipue Luthomislensi ipsorum legato sub ipsorum bulla patenti transmissa et publicata. Dass es sich dabei nicht etwa um eine verderbte Stelle des Textes handelt, beweisen auch die volkssprachlichen Fassungen – in der deutschen heißt es: ein offenbar bekentnuß vnd beczeugnuß des Concilium zu Costnitz, disem konigreich zu Beheim vnd zu vordirst dem Bischoff von Leuthmisl Irem legaten vnder yrer offenbar Bullen gesendet vnd geoffenbaret, in der tschechischen: zvlá t zjevné a ohlasné vyznání a osv d ení Konstantského sboru tomu eskému království a zvlá t Litomy lskému biskupu jich poslu z tisíce vybranému, pod svú zjevnú bullú poslané ohlá ení. Die Berufung auf den Bischof von Leitomischl (Litomy l) und die angebliche Zustimmung des Konstanzer Konzils zum Laienkelch steht im krassen Widerspruch zu den Tatsachen. Die Kommunion unter beiderlei Gestalt, die im Frühjahr 1415 in Prag von Magister Jacobellus von Mies eingeführt wurde und zu der Hus aus Konstanz nach einem gewissen Zögern seine Zustimmung gab, war vom Konzil von Anfang an bekämpft worden. Bereits in einem Dekret vom 15. Juni 1415 äußerte das Konzil seine ablehnende Haltung dazu.20 Aus der 20
Kej® [Anm. 1], S. 151.
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Formulierung des Widerrufs stimmt nur die Tatsache, dass der Bischof von Leitomischl Jan elezn , der sich seit Anfang 1415 als einer von Hus’ schärfsten Gegnern in Konstanz befunden hatte, Ende August 1415 vom Konzil nach Böhmen geschickt wurde – allerdings in der Mission, gegen Wyclifismus und Ketzerei energisch einzuschreiten. Doch die Lage in Böhmen war nach der Verbrennung von Hus so angespannt, dass der sonst als energisch bekannte Bischof (sein Beiname bedeutet ja ‚der Eiserne‘) kaum öffentlich aufzutreten wagte und dass seine Güter von böhmischen Adligen geplündert wurden. Erst mehr als ein Jahr später, in einem in Leitomischl am 29. Oktober 1416 datierten Dokument, verkündete Jan elezn das Dekret des Konstanzer Konzils gegen die Kommunion unter beiderlei Gestalt für die Diözesen Prag, Leitomischl und Olmütz,21 was am 10. Januar 1417 auch der Prager Erzbischof Konrad für seine Erzdiözese tat.22 Diese Verkündigungen, die nur wenige Monate vor der Verhandlung gegen Peter von Uni ov erlassen wurden, müssen noch in gutem Gedächtnis gewesen sein. Warum im Widerruf die so augenscheinliche Unwahrheit steht, dass dem Bischof von Leitomischl (in der tschechischen Fassung noch in seiner Bedeutung positiv hervorgehoben: jich poslu z tisíce vybranému [ihrem aus Tausenden auserkorenen Boten]) vom Konzil eine Bulle mit Anerkennung der Kommunion unter beiderlei Gestalt zugestellt worden sei, war uns zunächst unerklärlich. Das Ganze ließ sich dann aber durch einen Textvergleich erhellen: Im Text des Widerrufs heißt es: tam dare quam recipere venerabile sacramentum corporis et sanguinis domini nostri Jesu Christi sub utraque specie panis et vini utriusque sexus hominibus est lex ewangelica, instruccio Christi, doctrina apostolorum et praxis ab observancia ecclesie primitive et concors sanctorum doctorum sentencia et presertim patens et notoria recognicio et professio Constanciensis concilii . . .
Das Dekret der Universität über den Laienkelch besagt: presens Constanciense Concilium predictam formam comunionis sub utraque specie asserat fuisse a Christo institutam et ministratam atque sic in primitiva ecclesia diutine et katholice practisatam.23
21 Johann Loserth, Beiträge zur Geschichte der Hussitischen Bewegung, Archiv für österreichische Geschichte 82, 1895, S. 327–418, ediert als Nr. 16, S. 378–381. 22 Loserth [Anm. 21], Nr. 17, S. 382–383. 23 Die lateinische Fassung der Verlautbarung der Universität ist bei Hardt, Magnum oecumenicum Constantiense concilium Bd. 3, S. 761, abgedruckt, nach dem Original
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Dagegen findet sich im Dekret des Konzils tatsächlich der folgende Wortlaut: Concilium . . . definit, quod licet Christus post cenam instituerit et suis apostolis ministraverit sub utraque specie panis et vini hoc venerabile sacramentum, tamen hoc non obstante sacrorum canonum auctoritas laudabilis et approbata consvetudo ecclesie servavit, quod huiusmodi sacramentum non debit confici post cenam . . . Quod licet in primitiva ecclesia huiusmodi sacramentum reciperetur a fidelibus sub utraque specie, tamen postea a conficientibus sub utraque specie et a laicis tantummodo sub specie panis suscipiatur.24
Die Interpretation des Sachverhaltes ist so sofort einleuchtend: Die Utraquisten beriefen sich auf diese Erklärung und unterdrückten dabei einfach die zu ihren Ungunsten lautenden Stellen.25 Man könnte meinen, die Universitätsgemeinde hätte sich dadurch wenigstens bei einem Teil der Öffentlichkeit den Schein der Rechtlichkeit verschaffen wollen, aber der entgegengesetzte Sachverhalt war ja allgemein bekannt und die offizielle Erklärung vom 10. März 1417, durch die sich die Universität für den Laienkelch aussprach, bedeutete faktisch die Leugnung der Autorität des Konzils und die Missachtung seines Dekrets.26 Dass es aber an der Universität auch Bestrebungen gab, in der Frage des Kelchs doch noch eine positive Haltung des Konzils zu erreichen, zeigt sich darin, dass die Universität sich im Juni 1417 durch Vermittlung Kaiser Sigismunds an das Konzil mit dem Gesuch wandte, die Rechtgläubigkeit der Eucharistie unter beiderlei Gestalt anzuerkennen. Die dazu vorgelegten Dokumente waren die Deklaration vom 10.3.1417, sowie eine Begründung des Kelchs durch die Bibel und durch die Kirchenväter. Die Beurteilung durch die Konzilgelehrten war allerdings negativ und änderte an der früheren Ablehnung nichts.27 Wohl im Sommer oder Herbst 1417 hat das Konzil die Rechte der Prager Universität suspendiert28 und sie somit in eine internationale Isolation gestellt.
des Archivs der Prager Universität bei Josef T®í ka, V b r ze star í pra ské univerzitní literatury [Auswahl aus der älteren Prager Universitätsliteratur], Praha, Univerzita Karlova 1977, S. 13–17, die tschechische in Archiv esk 3, 1844, S. 203–205, Nr. 11. 24 Zitat bei Vladimír J. Koudelka, Zur Geschichte der böhmischen Dominikanerprovinz im Mittelalter. III: Bischöfe und Schriftsteller, Archivum Fratrum Praedictorum 27, 1957, S. 39ff, hier Anm. 60. 25 Ebenda. 26 Kej® [Anm. 1], S. 151. 27 Kej® [Anm. 1], S. 151–152. 28 Über das Problem der Datierung der Suspension und seine Lösung vgl. Kej® [Anm. 1], S. 152–153.
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Zurück zu Peters Widerruf: In den weiteren Passagen bittet Peter dafür um Vergebung, dass er gegen das Gebot Gottes und gegen die Nächstenliebe gehandelt habe, indem er Johannes Hus und seine Anhänger im In- und Ausland beschuldigt habe, ketzerische Lehren zu predigen, dadurch die Menschen zu verführen und das Königreich Böhmen vom Gehorsam zur römischen Kirche abzubringen. Auch habe er zur Bestrafung Hus’ und seiner Anhänger aufgefordert und sie auch sonst verleumdet. Peter von Uni ov muss auch seine Schmachworte ausdrücklich widerrufen, die er an die Adresse der Verfechter der Reformbewegung gerichtet habe: sic cognoscuntur et cognosci debent, quod habent acutos nasos et palidas facies et sunt clamorosi et ebriosi, currentes ad communionem corporis et sanguinis domini sine omni reverencia et rubore – sollen also derkant werden, das sie haben spiczige nasen vnd bleich antlicz vnd helle stimme vnd sint große vuller vnd lauffen offt zu emphahen den heiligen leichnam, vnd das heilige blut vnsers herren Jhesu Cristi an alle scham vnd ersamkeit.29
Das alles widerruft Peter jetzt und bekennt sich schuldig, dass er dadurch Zwistigkeiten unter den Bewohnern des Königreichs Böhmen und insbesondere unter den Pragern anstiften und fremde Völker gegen das Königreich Böhmen aufhetzen wollte: . . . erronea falsa stulta et scandalosa per me stulte temerarie et erronee asserta; docmatisata predicata et publicata ad dissensiones scismata lites guerras et scandala inter Christi fideles huius regni et civitatis Pragensis generanda, suscitanda ac exteras naciones contra ipsum regnum commovendas et incitandas . . . – das ich torlich, freulich, irrsamlich gelert vnd offenbar gepredigt habe zu erbecken die czweyung, krig, verirrung vnd lesterung zwischen den Cristenluten dicz konigreichs vnd der Stat zu Prag, zu bewegen vnd reiczen das auslenderisch volk wider das obgenant konigreich zu Behem.
29 In dem erwähnten etwa drei Jahre jüngeren antihussitischen Gedicht [Anm. 17] finden sich interessanterweise einige ähnliche Vorwürfe – der über die bleichen Gesichter (soll damit vielleicht auf das asketische Aussehen der Reformprediger hingewiesen werden?): Varuj s ka d nového proroka . . . Poznáte je s tvá®í bledú [Hüte sich jeder vor dem neuen Propheten . . . Ihr erkennt sie am blassen Gesicht], Nebesk , S. 146, Vers 241 bzw. 245, sowie der über das Tragen von Waffen bei der Predigt: Chodíte kázat s rukavicemi i s me i,/Strojíce lid v dycky k se i;/Také s kordy i s dlúh mi sudlicemi,/s velik mi o t py i palicemi [Ihr geht predigen mit Handschuhen und Schwertern, das Volk immer zum Kampf bereitend, auch mit Degen und langen Hellebarden, mit großen Speeren und Keulen] – Nebesk , S. 148, Vers 335–338. Bei der letzteren Stelle muss allerdings die veränderte Situation in der Zeit der Entstehung des Gedichtes (spätestens im November 1420) in Betracht gezogen werden – das Land befindet sich schon im Abwehrkampf gegen die Kreuzheere.
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Sehr signifikant scheint uns hier die Bewertung von Gewalt. Peter nämlich sieht sich auch gezwungen, zu bekennen, er habe Hus und die Seinen verleumdet, sie seien teuflisch lewt vnd tragen lange meszer. Sie schlahen vnd töten die leut an alle vorcht. Dies geht offenbar auf eine tatsächliche Begebenheit zurück: „Already in 1410 John Hus had been accused of declaring to his flock in Bethlehem that‚ it would be necessary, as Moses commanded in the Old Law, that whoever wanted to defend the Law of God should gird on his sword and be ready; the Dominican master Peter of Unicov had publicly called this sermon a summons to the people to take their swords and strike their fathers and mothers dead.“30 Dieser Vorfall um eine Predigt Peters, in der er Hus Gewaltanwendung vorgeworfen hatte, wird auch gespiegelt in einem Zusammentreffen mit dem Freund des Hus, Petr von MladoÏnovice, in Konstanz: Petrus vero Mladonouicz altercabatur cum monacho domino Petro, quondam praedicatore ad sanctum Clementem in Praga iuxta pontem, de quodam sermone dicens: ‚Domine Petre! ubi fuit illa pugna, de qua predicastis, scilicet quod aliquis predicasset Pragae, ut quilibet accingeret se gladio et percuciat patrem et matrem‘. Qui dixit: ‚Ego nescio, quid dicis‘.31
Im Widerruf nun bezeichnet Peter seine früheren Reden als valsche, torliche, irsame und lesterliche red vnd lere, sagt sich davon los und erklärt feierlich, dass die Bewohner des Königreichs, insbesondere die Mitglieder der Universität und die Bewohner der Stadt Prag, rechtgläubig sind und ein christliches Leben führen: esse bone semper et probate vite ac laudabilis fame ac integri status, sanam et approbatam doctrinam fidei catholice et ewangelice veritatis verbo et opere ac scriptis salubriter predicantes et docentes, errores et hereses ac omnem perversam doctrinam constanter detestando.
Weiter heißt es, die Prager seien sancte Romane et apostolice ecclesie in omnibus licitis et honestis semper obedientes. Die wichtige Einschränkung des Gehorsams (in omnibus licitis et honestis) begegnet übrigens in der böhmischen Reformbewegung von Anfang an. Des Weiteren betont dann die Universität durch den Mund Peters, dass er in den Zeiten seines Aufenthaltes in Prag keine ketzerische Lehre gehört habe, insbesondere nicht von Hus und Hieronymus von Prag; vielmehr hätten diese immer Richtiges gelehrt und gepredigt: 30 31
Kaminsky [Anm. 11], S. 88. Fontes rerum Bohemicarum 8 [Anm. 9], S. 39–40.
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václav bok und freimut löser nunquam veridice audivi vel intellexi aliquem viventem hominem tam spiritualem, quam secularem et presertim honorabiles magistrum Iohannem Hus et magistrum Ieronymum de Praga docuisse tenuisse legisse predicasse vel asseruisse hereses perversam doctrinam vel quemcunque errorem sed legem dei ewangelicam et apostolicam ac sanctorum doctorum doctrinam misericordiam et veritatem, caritatem iustitiam atque pacem – nye gehort hab nach vornamen, das indert ein mensch, geistlichs ader wertlichs vnd besunderlich die Ersamen Meister Johannes Hus vnd Jeronimus von Prag hetten gelert, gehalden, gelesen vnd gepredigt keczerey vnd ander vorkarte lere Sunder genczlich hab ich gehort, das sie das gebot gotes vnd die ler der heiligen lerer, vnd czu vorderst der heiligen czwelfpoten, die barmherczikeit, libe, die gerechtikeit vnd den frid zu aller czeit, offenbar gekundigt, gelert vnd gepredigt haben.
Einen stärkeren Affront gegen das Konzil kann man sich nicht vorstellen. Denn mit diesen Formulierungen stellt sich der Widerruf in die Nähe des bekannten, an das Konzil gerichteten Protestbriefes des böhmischen Adels von Anfang September 1415 gegen die Verbrennung von Hus. Peters nachfolgende Bitte um Vergebung richtet sich an verschiedene Instanzen, die nicht alle zu Beginn des Widerrufs angesprochen worden waren. Die Bitte um Verzeihung wird zuerst an Gott gerichtet, dann an König Wenzel, an seine Adligen und an seine Räte, erst dann an die Universität und schließlich an die Geschworenen der Prager Städte: rogo humiliter omnipotentem deum et dominum nostrum Iesum Christum, ut propter suam magnam misericordiam parcat et indulgeat michi omnia premissa peccata iniquitas et delicta supplicoque instantissime serenissimo principi et domino domino Wenceslao Romanorum regi semper Augusto et Boemie regi baronibus nobilibus cum fidelibus dominis conciliariis ac alme matri mee universitati studii pragensis et precipue dominis consulibus et communitatibus civitatum pragensium, ut omnes et singuli dent et tribuant mihi filio et alumpno ipsorum prodigo veniam et graciam . . .
Die Nennung weltlicher Würdenträger vom König bis zu den Geschworenen der Prager Städte in einem vor der Universitätsgemeinde abgelegten Schuldbekenntnis und Widerruf ist ungewöhnlich und zeugt davon, dass die Angelegenheit nicht nur einen Triumph der Universität darstellen sollte, sondern dass sie einen tieferen politischen Hintergrund hatte. Wir sind überzeugt, dass die Formulierungen des Widerrufs und dieser selbst schon aus diesem Grund gewichtiger sind, als bisher angenommen wurde. Die Sicht auf dieses Dokument war zudem dadurch verstellt, dass Loserth eine ihm unwichtig erscheinende Stelle der lateinischen Version nach der Nennung von König Wenzel nicht
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abdruckte und sie nur mit der Bemerkung abtat: „Werden wieder die verschiedenen Würdenträger etc. genannt.“32 Peter erbittet eine heilsame Strafe und die Wiederaufnahme in die Universitätsgemeinde. Im abschließenden Satz des Widerrufs bittet Peter von Uni ov (d.h. wohl die Universität, die den Text vorbereitet hatte) ausdrücklich um die schriftliche Verbreitung seines Widerrufs, damit dies gegen ihn benutzt werden könnte, sollte er rückfällig werden oder behaupten, er wäre zum Widerruf gezwungen worden: Ne autem hanc meam protestacionem erogacionem et revocacionem compulsus fecisse videar aut coactus, peto publice dominos notarios hic presentes sponte et libere ipsorum officium invocans, quatenus premissis omnibus et singulis michi unum vel plura publicatum seu publicata conficiatur et faciant instrumentum seu instrumenta.
Schon aus der ausdrücklichen Erwähnung der anwesenden Notare ist ersichtlich, wie alles vorbereitet und inszeniert wurde und dass es Zweck der Aktion war, die Kunde von diesem Sieg über einen bekannten Widersacher möglichst weit zu verbreiten. Dass dies in der Tat geschah, bezeugt die verhältnismäßig reiche33 Überlieferung dieses Dokuments – uns sind zur Zeit 6 lateinische,34 2 deutsche35 und 2 tschechische36 Niederschriften bekannt. Im Zusammenhang mit dem Widerruf stehen noch zwei Dokumente – eine kurze Abschwörformel Peters (bisher unveröffentlicht und in der Fachliteratur nicht erwähnt)37 und ein Verzeihbrief des Rektors der Universität (bisher nur unvollständig publiziert).38 Weder 32 Loserth [Anm. 3], S. 298, Anm.1. Irreführend ist hier auch noch das Wort ‚wieder‘, etwas Ähnliches kommt im Widerruf vorher nicht vor. 33 Vgl. die Einschätzung Kaminskys [Anm. 11], S. 239f.: „The recantation was ordered to be copied many times in Czech, German, and Latin, and the many surviving texts show that it was regarded as quite important in spite of what everyone must have known, that its protestations of having been made freely were false.“ 34 Prag, Nationalbibliothek III G 16, f. 73r–74v; VIII G 13, f. 180v–182v, X F 10 f. 25v–27v; Prag, Metropolitankapitel Cod. O 73, f. 144v–147r; Brünn, Mährisches Landesarchiv XII G 20; Wien, ÖNB, cod. 4937, f. 39r–42r. 35 Prag, Nationalbibliothek IX E 3, f. 98r–99v; Wien, ÖNB, cod. 4937, f. 36v–38r. 36 Prag, Nationalbibliothek IX E 3, f. 96r–97v; Wien, ÖNB, cod. 4937, f. 43r–45r. 37 Erhalten in der Prager Nationalbibliothek, Cod. X F 10, f. 27v. 38 Loserth [Anm. 21], S. 384–385, Nr. 19. Loserth hat allerdings mehrere Stellen des Textes ausgelassen, den Grund (möglicherweise schlechte Lesbarkeit) gibt er nicht an. Brandl [Anm. 3], S. 101, Anm. 4, erwähnt, er habe die Rede auf zwei Blättern gefunden, die in die Hs. H.h.12 des Klosters Raigern [Rajhrad] eingelegt und mit ‚Oratio panegyrica, qua orator testatur Petri doctoris postliminio in integrum restitutionem‘ überschrieben waren. Es handelt sich, wie einige Textvarianten zeigen, um einen anderen Textzeugen als den bei Loserth veröffentlichten. Auch Sedlák [Anm. 4],
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die Abschwörformel noch der Verzeihbrief, von denen man sich wohl keine so große propagandistische Wirkung wie vom Widerruf erhoffte, sind – nach unserer Kenntnis – in die Volkssprachen übersetzt worden. In der Abschwörformel wendet sich Peter sowohl an den Rektor der Universität als auch an König Wenzel und seine Räte. Wieder scheint uns nicht ganz gewöhnlich, dass außeruniversitäre Würdenträger erwähnt werden; vielleicht stehen sie hier deshalb, weil Peters vorherige Tätigkeit als Schädigung des guten Namens des Königreichs Böhmen angesehen wurde. Auch der Verzeihbrief greift dies auf: totum regnum Boemie et dehonestavit et infamavit. Dieser Verzeihbrief, von dem nicht klar ist, ob er vor dem Widerruf oder danach verlesen wurde,39 schöpft aus dem biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn. Man hat bemerkt,40 dass dieser Brief versucht, Peters akademische Würden in Misskredit zu setzen, indem hier sein Magistertitel nicht ernstgenommen wird. Peter wird eingeführt als frater de ordine s. Clementis et praedicator ibidem, sacrosancte theologie, ut presumitur, professor.41 Im Brief werden die wichtigsten Vorwürfe gegen Peter aufgezählt – seine Beschmutzung des Königreichs Böhmen und der Prager Universität, seine Aktivitäten gegen Hus und Hieronymus und seine Verdammung des Laienkelchs – aber es wird auch Freude darüber zum Ausdruck gebracht, dass dieser verlorene Sohn wieder heimgekehrt ist. Peter von Uni ov erlangte die Verzeihung der Universitätsgemeinde; von einer Strafe, die er im Widerruf verlangte, ist hier nicht die Rede. Man begnügte sich wohl damit, den aktiven Gegner vor einer riesigen Menschenmenge zerknirscht widerrufen zu sehen; der propagandistische Zweck des Unternehmens war erreicht und man konnte eine gewisse Großzügigkeit an den Tag legen. Weil
zitiert in Anmerkungen auf S. 315–317 einige Passagen aus dem Text, gibt aber seine Signatur nicht an. Sedlák verwendete ebenfalls eine andere Handschrift als Loserth, es kann aber nicht festgestellt werden, ob er die gleiche wie Brandl benutzte. Die Hs. ist möglicherweise verschollen; bei Vladislav Dokoupil, Soupis rukopis% knihovny benediktin% v Rajhrad [Verzeichnis der Handschriften der Benediktinerbibliothek in Raigern], Praha 1966, wird sie jedenfalls nicht registriert. 39 Sedlák [Anm. 4], S. 315, Anm. 203 sowie S. 316, Anm. 207, spricht – jeweils ohne Erläuterung – wie selbstverständlich darüber, dass die Rede des Rektors vor dem Widerruf stattgefunden hat. 40 Koudelka [Anm. 24], Anm. 43. 41 Im Widerruf, wo eine Herabsetzung wirkungsvoller gewesen wäre, bezeichnet sich Peter allerdings unwidersprochen als sacre theologie professor – vgl. Prag Nationalbibliothek III G 16 f. 73r u.a – Loserth hat diese Stelle nicht abgedruckt und seine Auslassung durch Punkte angezeigt.
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weder hier noch in den beiden antihussitischen Schriften, die Peters Behandlung beklagen, über seine Bestrafung gesprochen wird, scheint es, dass von ihr wirklich Abstand genommen wurde. Peter, über den weitere Nachrichten fehlen, wird wohl bald das gefährliche Böhmen verlassen haben. Wenn man dem antihussitischen Gedicht von 1420 glauben will, hat er seinen Widerruf – wohl nur im Kreise seiner Getreuen – wieder widerrufen. Das Original des Widerrufs war in Latein abgefasst. Die deutsche und die tschechische Fassung sind Übersetzungen, die bald nach dem Ereignis entstanden sind. Es ist wenig wahrscheinlich, dass auch sie schon vorher vorbereitet waren und den versammelten Laien in der jeweiligen Volkssprache verlesen wurden. Die tschechische Fassung war für die zahlreichen Laien in Prag und wohl auch außerhalb der Stadt bestimmt. Die deutsche Fassung war höchstwahrscheinlich in erster Linie für die deutschen Ratsherren der Prager Städte gedacht, die an der Versammlung teilnahmen oder über das Geschehnis informiert werden wollten. Unter den Namen von Prager Ratsherren – obwohl sie bekanntlich kein zuverlässiges Kriterium für die Nationalität bieten –, befinden sich in dieser Zeit immer noch einige deutsche,42 in den Prager Stadtbüchern erscheinen deutsche Eintragungen neben anderssprachigen noch bis 1419. Ein weiterer intendierter Adressat der deutschen Fassung war wohl auch die deutsche Einwohnerschaft Prags, unter der sich sowohl Gegner als auch Anhänger der Reformbewegung befanden. Vielleicht dachte man besonders an diejenigen Deutschen, für die Peter als deutscher Prediger bei St. Kliment gewirkt hatte. Mit einer Fernwirkung wurde wohl nicht gerechnet, und bis jetzt sind auch keine weiteren Textzeugen aufgetaucht. Die beiden volkssprachlichen Texte des Widerrufs folgen in beiden Handschriften (Prag, Wien) unmittelbar aufeinander. Die Unterschiede der volkssprachlichen Texte zum lateinischen sind nicht groß und bringen kaum sachliche Veränderungen. Interessant ist jedoch, dass die beiden volkssprachlichen Versionen eine Stelle übereinstimmend in Abweichung vom Lateinischen wiedergeben, was wohl durch eine misszuverstehende Formulierung des Vorlagetextes
42 Die Listen der Ratsherren von Prager Städten aus den Jahren 1348–1436 befinden sich bei Wácslav Wladiwoj Tomek, D jepis m sta Prahy [Geschichte der Stadt Prag] 5–6, Praha 1881, Seite 64–82 (für unsere Zeit bes. S. 67 und 68), Ergänzungen dazu Mezník [Anm. 12], S. 254–263.
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bedingt sein kann: peto publice dominos notarios hic presentes sponte et libere – Bitte ich offenbar mit freyem willen die offenbaren schreiber – Prosím zjevn ted’ p®ítomn ch obecn ch písa®óv svobodn a dobrovoln [Ich bitte nun öffentlich die hier anwesenden öffentlichen Schreiber frei und freiwillig]. Den volkssprachlichen Fassungen zufolge handelt es sich um öffentliche Notare, also nicht direkt zur Universität gehörende. Dass die deutsche Fassung des Widerrufs in Prag entstanden ist, wird durch die für Böhmen und Prag typische Mischung von ostmitteldeutschen und bairischen Merkmalen der Schreibsprache deutlich bestätigt. Es zeigt sich, dass der deutsche Übersetzer ein gewandter Stilist war, der Erfahrungen mit dem Kanzleistil hatte. Er hat den lateinischen Text selbständig behandelt, indem er manche Satzteile umgestellt oder mit einer anderen syntaktischen oder lexikalischen Konstruktion wiedergegeben hat (z.B. Iohannis Hus et sui fautores ac adherentes – Hus vnd seine gunner). Manchmal hat er für einen lateinischen Ausdruck zwei Synonyme gewählt (defenderent – werten vnd hilden; recipientes – das da van in nymt vnd emphecht), die lateinische Reihe, die aus drei oder vier Synonymen bestand, gab er Wort für Wort wieder (z.B. scismata lites guerras et scandala – czweyung, krig, verirrung vnd lesterung). Eine größere religiöse Ehrfurcht des Übersetzers zeigen die manchmal erweiternden Wiedergaben von religiösen Ausdrücken (currentes ad communionem corporis et sanguinis domini – lauffen offt zu emphahen den heiligen leichnam, vnd das heilige blut vnsers herren Jhesu Cristi). Auf den Kanzleistil weist unter anderem die Übersetzung hin: in regno Boemie – in dem egenanten konigreich zu Beheim, contra ipsum regnum – wider das egenante konigreich zu Behem und Ähnliches. Der Übersetzer kannte sich in den Gegebenheiten des Königreichs aus: Für Peters Herkunftsort Uni ov, der im lateinischen und tschechischen Text so genannt wird, setzte er richtig die entsprechende deutsche Variante des Stadtnamens ein, obwohl es sich um eine nur mittelgroße, von Prag recht weit entfernte mährische Stadt handelte – Peter von der Neun stat (die spätere deutsche Variante des Stadtnamens Uni ov war Mährisch Neustadt). Beim letzten Artikel des Bekenntnisses Peters von Uni ov heißt es im lateinischen Text nur Item profiteor publice et expresse modo et forma quibus supra, im deutschen Text wird wieder mehr die angebliche Freiwilligkeit des Widerrufs betont – Item Ich bekenne offenbar als vor vnd vmbetwungen. Die tschechische Fassung hält sich lexikalisch und syntaktisch viel näher an das Original. Nur selten erscheint der Ersatz eines Wortes durch ein Synonympaar: si . . . non inhibuissent – By . . . byli nezapov d li
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a neobránili [wenn sie es nicht untersagt und verwehrt hätten] bzw. umgekehrt: famosissime et nobilissime civitatis – najslovútn j ího m sta [der berühmtesten Stadt]. Auch die tschechische Übersetzung ist flüssig, das lateinische Original schimmert nicht augenfällig durch. Der Übersetzer vermag, wenn nötig, lateinische Konstruktionen mit natürlich klingendem Tschechisch zu umschreiben: Iohannis Hus et sui fautores ac adherentes – Jana Husi a t ch, ji to se jeho dr í a jemu p®ejí [des Johannes Hus und derjenigen, die sich an ihn halten und ihm wohlgesonnen sind]. Was die sachlichen Unterschiede betrifft, findet sich hier neben der schon oben erwähnten Hervorhebung des Bischofs von Leitomischl die Bemerkung, dass sich Peter von seinen geschriebenen falschen Ansichten distanziert (an der entsprechenden Stelle steht im lateinischen Text ja nur docta) – die Stelle Que omnia et singula sic per me temerarie stulte et infundabiliter docta asserta et predicata – wird nämlich übersetzt mit: které to v ci skrze m psané, tak skrze m vokotr n , nemúd®e a bez zalo ení u ené, tvrzené a kázané [welche Dinge, durch mich geschrieben und verwegen, unweise und ohne Begründung behauptet und gepredigt . . .]. Ob der tschechische Übersetzer tatsächlich die Schriften Peters von Uni ov in Sinne hatte oder diese Erwähnung nur als stilistische Ergänzung bringt, lässt sich schwer entscheiden. Der Übersetzer kannte die Gepflogenheiten der tschechischen Rechts- bzw. Kanzleisprache, wenn er z.B. floskelhaft und erweiternd übersetzt: Item profiteor publice et expresse et spontanea voluntate durch Op t vyznávám a osv d uji zjevn a v hlasn dobrú a svobodnú vólí [Wiederum bekenne und bekräftige ich öffentlich und ausdrücklich, mit gutem und freiem Willen]; ähnlich geht er vor bei der Übersetzung von premissa omnia et singula als ty v echny svrchupsané v ci [alle die oben geschriebenen Sachen] sowie noch in drei weiteren ähnlichen Formulierungen. Vielleicht war er mit der Rechtssprache doch nicht so vertraut wie der deutsche Übersetzer, denn die juristische Wendung et ex nunc prout ex tunc et ex tunc prout ex nunc hat er nie übersetzt, obwohl sie im Text an zwei Stellen vorkommt und in der deutschen Fassung wenigstens annähernd wiedergegeben wird (nu zu dieser czeit und allewege). Die Wendung utriusque sexus hominibus gibt der tschechische Übersetzer durch v emu obecnému lidu [allem gemeinen Volk] wieder. Sowohl bei der deutschen als auch bei der tschechischen Fassung handelt es sich freilich um relativ genaue Übersetzungen, von denen jede, wie gezeigt, ihr eigenes Profil hat. Wir besitzen erstaunlicherweise keine detaillierte Schilderung dieses Aufsehen erregenden Ereignisses in den Chroniken, die über die
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Hussitenzeit berichten.43 Man sucht vergeblich nach einer Nachricht darüber in der anonymen Chronik der Prager Universität oder bei Vav®inec [Laurentius] von B®ezová, in den sog. Alttschechischen Annalen [Staré letopisy eské], in den Schriften von Andreas von Regensburg oder bei Eneas Silvius Piccolomini. Vielleicht kann man dies so deuten, dass diese Angelegenheit von Mitte März 1417, damals vielleicht sensationell, bald durch wichtigere Ereignisse verdrängt wurde – für die Universität durch die offizielle aber nicht respektierte Suspension bald darauf, für das Land durch die Versammlungen der Menschenmengen auf den Bergen, durch den Fenstersturz Ende Juli 1419, den Tod König Wenzels und weitere. Durch all diese Begebenheiten wurde der Widerruf überdeckt, hat an Bedeutung verloren und ist in Vergessenheit geraten.
43 Es existieren allerdings zwei kurze Notizen über diesen Widerruf in der Handschrift der Prager Nationalbibliothek, die Höfler [Anm. 16], S. 62, abgedruckt hat.
‚DIE WYCLIFSCHE‘. FRAUEN IN DER HUSSITENBEWEGUNG Alfred Thomas
Ich möchte in diesem Vortrag Fragen zum lateinischen und volkssprachlichen Schrifttum in Bezug auf eine spezifische weibliche Leserschaft der Bibel und anderer umstrittener Bücher im Böhmen des 15. Jahrhunderts ansprechen. In jeder Diskussion über die Beziehung zwischen akademischer und Laien-Lehre stellt das Geschlecht eines der zentralen Themen dar, nicht zuletzt da die akademische Erziehung im späteren Mittelalter auf Männer beschränkt war. Doch das allmähliche Erscheinen volkssprachlicher Übersetzungen heiliger und scholastischer Texte – ein Korpus, das zuvor auf Hochschulen beschränkt war – erlaubte zumindest bestimmten Frauen eine limitierte Teilnahme an aktuellen Debatten über die angemessene Rolle der Kirche im Krisenzeitalter. Eines der schwierigsten Probleme, mit welchen man bei der Rekonstruktion der historischen Rolle der weiblichen Leser in der hussitischen Bewegung konfrontiert wird, ist die antifeministische Neigung vieler Quellen. Es gibt nicht nur relativ wenige objektive Beweise bezüglich böhmischer Frauen, die eine aktive und dynamische Rolle in der Reformbewegung übernahmen, sondern auch in den noch existierenden Dokumenten ist es schwierig, manchmal unmöglich, zwischen traditionellem klerikalem Verhalten gegenüber Frauen, orthodoxen Häresie-Ängsten und der tatsächlichen sozialen Rolle der Frau zu unterscheiden. Ein typisches Beispiel dieser Ambiguität zwischen Rhetorik und Realität ist die antihussitische, auf tschechisch verfasste Satire ‚Viklefice‘ (‚Die Wyclifsche‘). Eine Abschrift davon ist in einem Manuskript der Wittingauer Stadtbibliothek aus dem frühen 15. Jahrhundert überliefert worden (MS A 7, Blatt 155).1 Beide Formen, Viklefice und eine Variante davon, Viklefka, welche einige Male in demselben Text erscheinen, sind von dem Eigennamen des Oxfordschen Theologen
1
Staro eská lyrika, herausgegeben von Jan Vilikovsk , Prag 1940, S. 120–22.
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John Wyclif (1330?–1384) abgeleitet, dessen Werke in der Prager Universität und ihrem Umfeld weit verbreitet waren.2 In Bezug auf eine andere antifeministische tschechische Satire, ‚Bekyn ‘ (‚Die Beginen‘), schreibt der Herausgeber der ‚Wyclifschen‘, Jan Vilikovsk : „Diese [Satire] ist speziell gegen eine gewisse Gruppe von Frauen gerichtet, nämlich die Frauen, die versuchten, ein inniges und wahrlich religiöses Leben zu führen und deren Zahlen seit Militschs Aktivitäten anstiegen.“3 In diesem Vortrag werde ich die Annahme, dass ‚Die Wyclifsche‘ und andere verwandte antifeministische Texte die soziale Realität in einer direkten, unmittelbaren Art widerspiegeln, in Frage stellen und argumentieren, dass die Repräsentation der promiskuitiven Frau nicht nur von dem üblichen klerikalen, antifeministischen Diskurs der Hochschulen, sondern auch von den (damals) aktuellen Ängsten, dass sich die Häresie aus der geschlossenen Welt der Prager Universität auf die Laien im allgemeinen übertragen könnte, nicht zu trennen ist. Diese Besorgnis würde sicherlich erklären, warum die Satire auf tschechisch statt auf latein verfaßt wurde. Der populäre Ton bedeutet jedoch nicht, dass der Autor ungebildet war, im Gegenteil, die klerikale Belesenheit läßt darauf schließen, dass der Autor zum mindesten ein Absolvent der Universität war. In diesem Sinn ist das Gedicht paradigmatisch für die Schwierigkeit, die tatsächliche Literarizität von Frauen im Mittelalter festzustellen, vor allem klar zwischen Frauen als selbständigen, lesenden Subjekten und Frauen als Objekten in den von Männern verfassten Schriften zu unterscheiden. Dieses hermeneutische Problem ist für die Situation in Böhmen so akut wie überall sonst im frühen 15. Jahrhundert. Alle zugänglichen böhmischen Quellen, die sich mit weiblicher Lese- und Schreibfähigkeit befassen, involvieren Männer (wie Jan Hus oder Tomá von títné), die speziell für ein weibliches Publikum von Zuhörern schreiben, oder sind Berichte aus zweiter Hand über Frauen als Leserinnnen und Schreiberinnen, wie zum Beispiel ‚Kní ky‘ (‚Kleine Bücher‘), ein Werk, das absichtlich auf tschechisch von einer anonymen Frau, die Hus gegen den Antichrist verteidigt, verfasst wurde, oder der 1378 dokumentierte Vorfall, in welchem ein Dienstmädchen
2 K.B. McFarlane, John Wyclif and the Beginnings of Nonconformity, London 1952. 3 Vilikovsk [Anm. 1], S. 191.
‚die
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der Familie Sternberg namens Ka ka (Katja) von Prager Kirchenobrigen verhört wurde, weil sie zu oft die Hostie erhalten hatte, predigte und ihre eigenen Gebete verfasste.4 Sogar die lateinischen, an den Anti-Papst Johann XXIII. adressierten Episteln, die gegen das Verbot der Wyclifschen Bücher protestieren und traditionell der Königin Sophie von Wittelsbach, Ehefrau Wenzels IV., zugeschrieben wurden, werden seit kurzem als spätere Werke von Männern statt als unmittelbare Produkte einer weiblichen Autorenschaft eingestuft.5 Es scheint, ebenso wie im zeitgenössischen England, als ob die Mehrheit der böhmischen Frauen kein Latein konnte. Sie waren daher hauptsächlich gewohnt, zu hören, statt zu lesen (in großen oder in kleinen Gruppen), und sie bekundeten ein starkes Interesse an der traditionellen Verehrung von Heiligenbildern, eine orthodoxe Praxis, die von Hus selbst für diejenigen, die nicht lesen konnten, gutgeheißen und befürwortet wurde. Darüber hinaus hatten die Hussiten sicher nicht das Monopol, für weibliche Laien zu schreiben und zu predigen. Die böhmischen Dominikaner, historisch bereits vor der offiziellen Gründung mit der Prager Universität verbunden, hatten seit dem 13. Jahrhundert spezifisch für Frauen geschrieben (ob für Nonnen oder Laien, auf latein und in der Volkssprache) und setzten diese Tradition fort, bis die Hussitenkriege dem ein Ende bereiteten. Mit der Behauptung, dass diese Satiren mehr über die Ängste vor der Häresie aussagen als über die wirklichen Aktivitäten der damaligen Frauen, argumentiere ich, dass die traditionelle Ansicht, der Hussitismus sei ein Zufluchtsort für unabhängig denkende Frauen, in der tschechischen Geschichtsschreibung wohl überbewertet wurde. Dieses Argument kann von Franti ek Palack s Veröffentlichungen des 19. Jahrhunderts bis zu T.G. Masaryks einflussreicher Ansicht, dass ein entscheidender Grundzug der tschechischen Geschichte die unveränderte Verpflichtung zu humanistischen Werten wie Wahrheit, Toleranz und Demokratie sei, nachgewiesen werden. Anna Císa®ováKolá®ovás bahnbrechende Studie ‚Frauen in der Hussitenbewegung‘ (1915) ist ein typisches Beispiel dieser Herangehensweise.6 Erst vor
4 Alfred Thomas, Anne’s Bohemia. Czech Literature and Society, 1310–1420, Minneapolis, London 1998, S. 46–47. 5 Bo ena Kopi ková/Ane ka Vidmanová, Listy na Husovu obranu z let 1410–1412. Konec jedné legendy? Prag 1999. 6 Anna Císa®ová-Kolá®ová, ena v husitském hnutí, Prag 1915.
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kurzem argumentierte John Klassen, dass sich tschechische Frauen des Mittelalters in ihren Worten und Taten mit mythischen Vorbildern, die auf den alten Legenden der Libu e, Vlasta und der böhmischen Jungfrauen basieren, identifizierten.7 Wenn Císa®ová-Kolá®ovás Abhandlung das Nationalbewusstsein des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts reflektiert – und besonders die wahrgenommene Rolle der Frau innerhalb dieser Mentalität –, scheint mir Klassens Ansicht über die tschechischen Frauen des Mittelalters vom nordamerikanischen Feminismus der 70er Jahre, welcher die Betonung auf die vernachlässigten Erfahrungen der Frauen legt, geprägt zu sein. Meine eigene Herangehensweise erhebt keinen Anspruch darauf, eine ideologisch neutrale Position zu beziehen, sondern geht von einem späteren Feminismusmodell aus, welches einräumt, dass das häufige Fehlen der Frauen bei kulturellen Aktivitäten ebenso signifikant und ein legitimes Objekt einer wissenschaftlichen Untersuchung ist wie ihre positive Einwirkung auf die menschliche Kultur. Ich beginne eine detailliertere Betrachtung dieser Fragen, indem ich zunächst eine wörtliche Prosa-Übersetzung des Gedichts ‚Die Wyclifsche‘ zur Verfügung stelle.
‚Die Wyclifsche‘: Text Es war einmal, Vielleicht an einem Feiertag wie diesem, Dass eine Wyclifsche Einen Jüngling zu sich nach Hause einlud, Um ihn den rechten Glauben zu lehren.
5
Sie sagte: „Um Jesu willen Komm heimlich zu mir. Ich möchte dich den Glauben lehren, Und wenn du zuhören willst, Werde ich dir die Heilige Schrift offenbaren.“
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Der Jüngling antwortete der Wyclifschen Und sah sie liebevoll an. Er sagte: „Ich bin gern bereit, alles zu tun, Falls du mich unterrichten willst Und deinem Orden beitreten lässt.“
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7 John Klassen, Warring Maidens. Captive Wives and Hussite Queens: Women and Men at War and Peace in Fifteenth-Century Bohemia. Boulder, Colorado 1999.
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Die Wyclifsche sagte: „Sieh mich an, Mein Jüngling, komm zu mir, Wenn alles ruht, Wenn niemand wacht, und Ich werde dir die Heilige Schrift offenbaren.“ Ohne Umschweife tat der Jüngling, Wie sie ihm befohlen. Nach dem Abendessen am Sonntag, Als die Zeit reif war, Kam er heimlich zu ihr.
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Die Dame sagte begierig: „Willkommen, mein lieber Gast, Welchen ich schon so lange begehrt habe, Nach welchem meine Seele verlangte! Bitte komm herein Und setze dich eine Weile zu mir. Ich möchte die Heilige Schrift interpretieren Und auch aus der Bibel lesen. Du wirst reichlich finden, Um dich zu beschäftigen.“
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Hier nun breitete das Weib Zwei Kapitel der Bibel aus, Schön und wohlgerundet; Sie waren wie Birnen Und auch sehr weiß.
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Der Jüngling sagte ohne Furcht: „Gib sie her, meine Liebe.“ Und er begann die Bibel zu untersuchen Und die Kapitel zu interpretieren Vom Abend bis zur Morgendämmerung.
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Und als es langsam Tag wurde, Wollte der Jüngling gehen. Aber die Wyclifsche ergriff ihn Und sagte: „Du musst bleiben Und die Morgenandacht mit mir halten.“
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Sie begannen das Te Deum zu singen, Wie es sich für den Hof ziemt, ... ... und sie begannen den Diskant zu singen.
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Als sie die Morgenandacht beendet hatten, umarmten sie einander nett mit Gottes Liebe und Gnade.
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256 Es gab keinen Groll, Den ich entdeckt hätte.
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Nun, ihr Jünglinge Und ihr hübschen Höflinge, die ihr dem Orden beitreten wollt, Ihr müsst die Beginen fragen Und von ihnen lernen.
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Sie sind vertraut mit den Evangelien, Dem Buch der Könige und Salomon Und den Psalmen Davids Mehr als die meisten Priester. Mit Freuden solltet ihr ihnen dienen.
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Sie haben süße Auslegungen, Komplett und ohne Fehler. Wer auch immer sich von ihnen benutzen lässt, Wird sehr glücklich sein. Gott gewähre ihnen Fruchtbarkeit!
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‚Die Wyclifsche‘: Kontext ‚Die Wyclifsche‘ wurde in einer Gesellschaft verfasst, in der sich die Orthodoxie bereits in einer Verteidigungsposition befand und Häresie die Vorherrschaft hatte. Vier Jahre nach Hus’ Exekution in Konstanz im Jahre 1415 führte der Tod König Wenzels IV. (Regierungszeit 1378–1419) zu einem 17–jährigen Interregnum, in dem die hussitischen Reformatoren das Regiment führten und es ihnen gelang, die päpstlichen und imperialen Armeen, die gesandt worden waren, um die böhmische Ketzerei auszurotten, zurückzuschlagen und erfolgreich zu besiegen. In Böhmen selbst wurden katholische Kirchen gebrandschatzt und dem Erdboden gleichgemacht und Klöster geplündert, während Kleriker – sowohl säkulare als auch klösterliche – ihren Lebensunterhalt und manchmal sogar ihr Leben verloren. Ein tschechisches Klage-Gedicht, von dem noch ein Manuskript des Klosters Rajhrad existiert, drückt die Situation sehr eloquent aus. Geschrieben aus der Sicht eines enteigneten Klerikers (wahrscheinlich eines Mönchs des Rajhrader Klosters selbst), benutzt dieser Text die Gattung der Klageschrift, um zu zeigen, dass Katholiken Außenseiter geworden waren und ihre Gemeinden von den ‚Wyclifschen‘ ausgeraubt und niedergebrannt wurden (‚Viklefuov‘, Zeile 5). Der anonyme Autor rügt speziell diejenigen Frauen (Zeilen 45–46), die
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dafür verantwortlich sind, dass Männer überhaupt solch ketzerische Ideen angenommen haben.8 ‚Die Wyclifsche‘ gehört derselben Tradition an, die Frauen für schlechte politische Situationen verantwortlich macht. Das Gedicht behält die Form eines höfisch-höhnischen Tagelieds (alba) bei, in welchem die Anhängerin des englischen Reformators einen jungen Gutsherrn im Schutze der Dunkelheit in ihr Haus lockt, um diesen mit volkssprachlichen Lektüren der Heiligen Schrift zu verführen. Die Satire untergräbt geschickt die loci communes des Tagelieds, in welchem der Liebhaber seine Dame heimlich bei Sonnenuntergang aufsucht und sie kurz vor Sonnenaufgang verlässt, und besteht aus einer Reihe geschickter Zweideutigkeiten, die Laienbildung mit weiblicher Promiskuität und unerlaubtes Lesen der Heiligen Schrift mit zwanglosem Sex gleichsetzen. Der anonyme Autor vermengt und popularisiert hier zwei Gattungen, die in besonderem Maße aus den lateinischen und volkssprachlichen Reimgedichten des 14. und 15. Jahrhunderts hervorragen: die antifeministische Satire, beispielhaft veranschaulicht durch das Gedicht ‚Die Beginen‘, und die Tagelieder wie das tschechische ‚Mil jasn dni‘ (‚Lieber strahlender Tag‘).9 Die Vertrautheit unseres anonymen Autors mit den Konventionen des Tagelieds (alba) ist an schablonenhaften Phrasen wie „mit Freuden solltet ihr ihnen dienen“ ebenso ersichtlich wie an dem Dialog zwischen einer Frau und einem Studenten, welcher das böhmisch-lateinische Lied ‚Filia, si vox tua‘ und seine tschechische Variante ‚Mil áku‘ (‚Lieber Student‘) parodiert, in welcher eine Jungfrau (virgo) und ein Kleriker (clericus) einander ihre verbotene Liebe gestehen.10 Im Verlauf des Gedichts nimmt die Anhängerin Wyclifs die falsche Rolle eines Predigers und Pfarrers an und stellt ihre lieblichen weißen Brüste zur Schau mit einer Geste, die an das priesterliche Ritual erinnert, die geöffneten Evangelien zu zeigen oder die Hostie während des Gottesdienstes vor der Gemeinde hochzuheben. Demzufolge würde das Gedicht dann im Grunde als antifeministische Satire auf das unverfrorene Verlangen religiöser Frauen erscheinen, sich die Rolle des Predigers und Pfarrers anzumaßen, also Tätigkeitsbereiche,
8 9 10
Vilikovsk [Anm. 1], S. 123–24. Vilikovsk [Anm. 1], S. 58–60. Vilikovsk [Anm. 1], S. 68–69.
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die ihnen durch den hl. Paulus selbst verweigert wurden und Anlass zu aufwendigen doktrinalen Rechtfertigungen katholischer Schriften waren, die bis zu Peter Lombards ‚Libri Sententiarum‘ zurückreichen, welche sich gegen 1223/1227 als dominantes Textbuch in der Pariser Theologie-Fakultät etabliert hatten und bald darauf auch an anderen Universitäten, einschließlich der Prager Universität, ein kanonischer Text wurden.11 Unsere Satire benutzt wie diese Schriften eine seit ebenso langer Zeit bestehende Assoziation der fehlerhaften Lehre mit den sündhaften Verlockungen des weiblichen Körpers und der Predigt mit der Prostitution, die in den orthodoxen Polemiken gegen die Waldensische Häresie des 12. und 13. Jahrhunderts kulminierte.12 Der konventionelle Zusammenhang zwischen Frauen und Häresie war besonders im Böhmen und im England des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts verbreitet, wo Frauen oft von der Obrigkeit mit dem Wunsch zu predigen und sich sogar die Rolle des Priesters anmaßen zu wollen, assoziert wurden. Die offizielle eidesstattliche Erklärung des Lollarden Walter Brut im October 1393 macht diese Parallele deutlich.13 Diese phantastische Assoziation hat ihren Ursprung im biblischen Mythos des Gartens Eden, in welchem Eva Adam mit der verbotenen Frucht des Baums der Erkenntnis verführt, worauf auch ein Detail weist, nämlich die explizite Parallele der birnenförmigen Brüste der Wyclifschen, die diese dem Jüngling anbietet. Die antiketzerische Satire im Böhmen des 15. Jahrhunderts war nicht nur auf volkssprachliche Schriften beschränkt. Da die erhaltenen tschechischen Texte in der Tat die gleichen Werte und Vorurteile vertreten wie die umfangreichere lateinische Literatur, führt dies zu dem Schluss, dass alle Werke, ungeachtet, in welcher Sprache sie verfasst wurden, von einer an der Universität ausgebildeten Autorenschaft stammen.
11 Alastair J. Minnis, De impedimento sexus: Women’s Bodies and Medieval Impediments to Sexual Ordination. In: Medieval Theology and the Natural Body, hg. v. Peter Biller und A.J. Minnis, York 1997 (York Studies in Medieval Theology 1), S. 109–39. 12 Beverley Mayne Kienze, The Prostitute-Preacher: Patterns of Polemic against Medieval Waldensian Women Preachers. In: Women Preachers and Prophets through Two Millennia of Christianity, hg. von Beverley Mayne Kienze und Pamela J. Walker, Berkeley, Los Angeles, London 1998, S. 99–113. 13 Margaret Aston, Lollards and Reformers: Literacy and Imagery in Late Medieval England, London 1984, S. 52.
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Eine antihussitische lateinische Satire des frühen 15. Jahrhunderts, bekannt als ‚Der wyclifsche Gottesdienst‘, parodiert die Genealogie Christi zu Beginn des Matthäusevangeliums, indem sie den Ursprung der hussitischen Ketzerei auf deren Stammvater John Wyclif zurückführt: Liber maledictionis omnium haereticorum, filiorum diaboli, filiorum Wiklef, und fortfährt, dass Wiklef autem genuit Joannem Hus in Bohemia, Joannes Hus genuit Corandam, Coranda genuit Capkonem.14 Diese Liste wird mit Namen der berühmtesten akademischen Anhänger der hussitischen Häresie in Böhmen fortgesetzt und schließt mit dem Bedauern, dass diese Fehler sich nun von den literati auf die Laien verbreiten würden, und drückt die Hoffnung aus, dass deren Augen von der Wahrheit erleuchtet würden.15 Obwohl die religiöse Parodie eigentlich beabsichtigte, eine humorvolle Reaktion zu erzeugen, signalisiert sie offensichtlich eine bestehende Besorgnis über die instabilen Beziehungen zwischen orthodoxen und ketzerischen Praktiken im Böhmen des frühen 15. Jahrhunderts. Veranschaulicht werden solche Bedenken, wenn die Wyclifsche die aktive Rolle des Priesters im Gottesdienst und somit die Autorität Jesu annimmt. Diese Annahme wird durch die Tatsache unterstützt, dass der ‚Dienst‘, den sie verrichtet, an einem Sonntag stattfindet. Da sie sich auf diese Weise die Autorität Christi und seiner Kirche widerrechtlich anzumaßen scheint, wird die Wyclifsche mit dem Namen Wyclif synonym, der in Böhmen der Inbegriff ketzerischer Lehren war, über die ganze Spannbreite der die Lehre betreffenden doktrinalen Punkte hinweg, von den Sakramenten bis zur umstrittenen Autorität des Papstes und seiner Bischöfe. Die Tatsache, dass Wyclifs Ruf, ketzerische Lehren zu betreiben, und die konventionelle Assoziation der eigensinnigen Frauen mit sexueller Promiskuität im Gedicht vermischt werden, ist natürlich Teil der satirischen Pointe, alte Geschlechteransichten mit neuen Gedanken über die Ketzerei gleichzusetzen. Wyclif wurde in Böhmen als ein Advokat der Verwendung der Volkssprache angesehen, wahrscheinlich der sogenannten Wyclifschen
14 Franti ek Palack , Urkundliche Beiträge zur Geschichte des Hussitenkrieges, Prag 1873, Band 1, S. 521–22. 15 Novissimus autem temporibus non tantum literati phantasticis heu Wiklef insistebant erroribus, verum et laici universaliter singuli sequaces Hussonis, obtusos habentes oculos, quos deus ob individuam suam trinitatem et ob ferventem nostrum deprecationem illuminet luce claritatis, et ut ecclipsis fidei ipsorum radicitus exstirpetur. Palack [Anm. 14], S. 522.
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Bibel wegen. Anne Hudson hat darauf hingewiesen, dass es Hus war, der behauptete, Wyclif habe die ganze Bibel ins Englische ( per Anglicos dicitur) übersetzt, obwohl diese Behauptung selten von Wyclifs eigenen Landsmännern aufgestellt wurde.16 Deswegen setzt der anonyme Dichter der ‚Wyclifschen’ den Namen Wyclifs nicht nur mit gefährlichen Frauen, sondern auch mit dem Lesen der mit einem klerikalen Kommentar versehenen volkssprachlichen Bibel gleich. Nachdem sie den Gutsherren in ihr Haus gelockt hat, verweist die Wyclifsche ausdrücklich in Zeile 33 des Gedichts auf das Lesen der Bibel. Am Ende des 14. Jahrhunderts war es mehr und mehr üblich, dass Laien die Bibel lasen. In England verfasste Richard Rolle einen mit englischen Kommentaren versehenen Psalter. Die Dominikaner übersetzten im Jahre 1384 einen großen Teil des Neuen Testaments für den französischen König Johann den Guten; und im Jahre 1390 wurde eine neue deutsche Bibel für König Wenzel von Böhmen verfasst.17 Laut Wyclifs ‚De Triplici Vinculo Amoris‘ besaß die Halbschwester des Königs, Anna von Böhmen, Königin von England (1382–94), lateinische, deutsche und tschechische Ausgaben des Neuen Testaments.18 In fast allen diesen Fälle wurden diese Übersetzungen zur Vorsicht mit Kommentaren übertragen, um so die Interpretation der Evangelien durch Laien zu kontrollieren. Am Ende des Jahrhunderts wurde jedoch der Ruf nach einer unkommentierten Bibel laut. Dieses Trachten wurde in Böhmen synonym mit der Wyclifschen Bibel. Wenn auch orthodoxe Autoren das gefährliche, unkommentierte Lesen der Schrift mit den Lockungen des weiblichen Körpers gleichsetzten, so waren die Reformatoren kaum positiver gegenüber der Frau eingestellt. In einem von dem Höfling Woksa von Waldstein geführten Protestmarsch gegen das Verkaufen von Indulgenzien (vom Jahre 1412) hat sich ein Prager Student als Prostitutierte verkleidet, indem er seine nackte Brust mit päpstlichen Bullen behängte. Unsere Satire könnte sogar als Reaktion auf solche Protestmärsche gegen die Kirchenobrigen gesehen werden, auch wenn der Text die gleiche
16 Anne Hudson, „Wyclif and the English Language.“ In: Wyclif in his Times, hg. von Anthony Kenny, Oxford 1985, S. 85–103 (S. 87). 17 Margaret Deanesly, A History of the Medieval Church 590–1500, London, New York 1994, S. 225. 18 Anne Hudson, The Premature Reformation: Wycliffite Texts and Lollard History, Oxford 1988, S. 30.
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Identifizierung weiblicher Promiskuität mit religiöser Aktivität aufweist. Wie Franti ek mahel herausstellt, waren die tschechischen vorhussitischen Reformatoren nicht eben radikal in ihrer Haltung den Frauen gegenüber.19 Sogar Hus’ soziale Ansichten waren eher konventionell. In seinem letzten Brief aus Konstanz identifiziert sich Hus mit der heiligen Katharina von Alexandrien, der Verkörperung der Orthodoxie und der Schützerin der Universität. ‚Dcerka‘ (‚Die Tochter‘), Hus’ Abhandlung für seine weiblichen Anhänger der Bethlehem-Kapelle, die er während seines Prager Exils 1412 geschrieben hat, besteht ferner auf traditionell klösterlichen Vorstellungen weiblichen Gehorsams den Obrigen gegenüber und der Annahme, dass die Frau von Natur aus sündig sei.20 Die Tatsache, dass Hus’ weibliche Anhängerinnen eine weniger aktive Rolle spielten, als ihre orthodoxen Kritiker ihnen zuschrieben, sagt, so befürchte ich, mehr über den orthodoxen Diskurs über den weiblichen Körper aus als über die historische Rolle der hussitischen Frauen. Schließlich war die Assoziation von Beten und Prostitution selbst, personifiziert durch Maria Magdalena, die angeblich mit den Jüngern Christi für dessen Auferstehung gebetet hat, ein Produkt der traditionellen katholischen Lehre.21 Ironischerweise waren die leidenschaftlichsten antiketzerischen Sprecher dieser Tradition die Dominikaner, diejenigen, die einerseits Magdalena als die apostolorum apostola idealisiert und andererseits weibliche Prediger aufs heftigste kritisiert haben. Der dominikanische Predigtschreiber Humbert von Romans (gest. 1277) nennt in seiner Schrift ‚De eruditione praedicatorum‘ vier Gründe, warum Frauen nicht predigen sollten. Einer davon ist, dass sie mit ihrer Predigt Lust provozierten. Es ist wahrscheinlich signifikant, dass der vorhussitische Priester Jan Militsch von Kremsier, der sich intensiv um das geistliche Wohl der Prostituierten der Prager Altstadt bemühte, ebenso ein Mitglied des Domikanerordens war. Um so ironischer ist es, dass ‚Die Wyclifsche‘ auf tschechisch geschrieben wurde, da ketzerische Frauen sehr eng mit dem Lesen volkssprachlicher Texte assoziiert wurden. Im späten 14. und 15.
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Franti ek mahel, Husitská revoluce, Prag 1993, Band III, S. 39–40. Jan Hus, Sebrané spisy eské, hg. von Karel Jaromír Erben, Prag 1868, Band III, S. 104–30. 21 Katherine Ludwig Jansen, „Maria Magdalena: Apostolorum Apostola.“ In: Women Preachers and Prophets, S. 57–96. 20
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Jahrhundert wurde, wie Anne Hudson für die englische Sprache aufzeigt, das volkssprachliche Schrifttum der effektivste Weg für die Kirche, die Unterstützung der Laien im Kampf gegen die ketzerischen Ideen der Lollarden zu erhalten.22 Unter diesen erbaulichen Werken befanden sich Nicholas Loves’ ‚Mirror of the Blessed Jesus Christ‘ (‚Spiegel des gesegneten Jesus Christus‘), eine freie Adaption der ‚Meditationes Vitae Christi‘, welche offiziell von Erzbischof Arundel zum Einsatz gegen die Lollardenbewegung gutgeheißen wurden, und das mittelenglische pseudo-augustinische ‚Soliloquium‘ (datiert zwischen 1365 und 1425), welches einen antiwyclifitischen Kommentar enthielt.23 Das Haus der Dame mit einem geheimen Platz für unerlaubte Lesungen und mit einem Haus schlechten Rufes gleichzusetzen, ist eine weitere Art, Rhetorik und Realität in ‚Die Wyclifsche‘ zu vertauschen. Um 1415 gab es in Prag mindestens 18 Laienhäuser, in denen Beginen zum Gebet und zu Wohltätigkeiten zusammenkamen.24 Wie die tschechische Satire ‚Die Beginen‘ deutlich macht, wurden solche Frauen von orthodoxen Autoren mit größtem Argwohn betrachtet. Es wurde angenommen, dass diese Frauen Leserinnen der volkssprachlichen Bibel waren, eine Annahme, die auf das frühe 14. Jahrhundert zurückdatiert werden kann, als die Begharden und Beginen des Languedoc und Kataloniens mit Veröffentlichungen in Kontakt kamen, die in der Sprache der jeweiligen Region verfasst waren.25 Der Autor dieser Satire betont, dass diese Frauen streitsüchtig und geschwätzig waren und kein Latein konnten. Argwohn gegenüber Laienversammlungen, die der Diskussion über religiöse Texte dienten, ist ebenso charakteristisch für englische Texte. Rita Copeland zitiert zum Beispiel das Kirchenbuch von Henry Wakefield, Bischof von Worcester (1375–95), welches den Fall der Norwicher Lollarden-Anhängerin Margery Baxter schildert, die angeblich ihre Nachbarin, Joan Cliffland, und Joans Dienstmädchen ein-
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Anne Hudson, Laicus litteratus: the Paradox of Lollardy. In: Heresy and Literacy, 1000–1500, hg. von Peter Biller und Anne Hudson, Cambridge 1994 (Cambridge Studies in Medieval Literature 23), S. 222–36 (S. 234–35). 23 Cultures of Piety: Medieval English Devotional Literature in Translation, hg. von Anne Clark Bartlett und Thomas H. Bestul, Ithaca, London 1999, S. 41–63. 24 John Klassen, Women and Religious Reform in Late Medieval Bohemia, in Renaissance and Reformation 5/4 (1981), S. 203–21 (S. 205). 25 Robert E. Lerner, Writing and Resistance among Beguins of Languedoc and Catalonia. In: Heresy and Literacy, S. 186–204.
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geladen hat, „heimlich und nachts zur Kammer der besagten Margery” zu kommen (secrete in cameram dicte Margerie noctantem), wo ihr Ehemann im Schutze der Dunkelheit von dem Gesetz Christi lesen würde.26 Auf diese Gleichsetzung ketzerischer Frauen mit geheimen Treffen wird in ‚Die Wyclifsche‘ angespielt, wenn die Dame darauf besteht, dass der Herr „heimlich“ und erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn niemand in der Nähe ist, zu ihrem Haus kommen soll. Die Konvergenz besteht hier nicht nur zwischen weiblichem Geschwätz und ketzerischem Diskurs, sondern ebenso zwischen diesen Kategorien und der orthodoxen Praxis der Priester, Beichten abzunehmen. So gesehen, hat die geheimnistuerische Einladung des Jünglings durch die Wyclifsche eine gefährliche parodistische Ähnlichkeit mit dem Sakrament, welches dem Sünder in der Kirche bei der Beichte gespendet wird. In ihrem Buch ‚Covert Operations‘ drückt Karma Lochrie dies folgendermaßen aus: „Confession and gossip are closer in nature than the medieval church would have liked, in spite of the elaborate system of regulations devised for the sacrament following the Fourth Lateran Council.“27 Die gespenstische Bedrohung des Priesters durch die Frau, eine Bedrohung, welche aus der „unterdrückten“ Tradition der Frühkirche, die Priestern erlaubte zu heiraten, entstand, erweckt weitere klerikale Ängste vor der Verschmelzung von orthodoxen und ketzerischen Praktiken in ‚Die Wyclifsche‘. Dyan Elliott hat hervorgehoben, wie das Verlangen der Kirche, die Kluft zwischen dem Klerus und der Laienschaft zu vertiefen, während des 11. Jahrhunderts zu einer „erasure of the female“ führte, einem Prozess, bei dem Ehefrauen von Priestern an den Rand der Gesellschaft verbannt wurden.28 Elliott geht weiter und zeigt, wie in der Folge die Autoren der Heiligenviten sich damit abquälten, die Ehefrauen der verheirateten Heiligen zu diskreditieren. In einigen Fällen wurden die Ehefrauen von Priestern gänzlich weggelassen. Ein gutes Beispiel dafür liegt im ‚Leben des Heiligen Prokop‘ vor, einer tschechischen Prosavita des 14. Jahrhunderts von einem anonymen Dominikaner, der im Auftrag Kaiser Karls IV. arbeitete. 26 Rita Copeland, Pedagogy, Intellectuals, and Dissent in the Later Middle Ages. Lollardy and Ideas of Learning, Cambridge 2001, S. 12. 27 Karma Lochrie, Covert Operation. The Medieval Uses of Secrecy, Philadelphia 1999, S. 56. 28 Dyan Elliott, Fallen Bodies, Pollution, and Demonology in the Middle Ages, Philadelphia 1999, S. 80–85.
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Eliott hat überzeugend argumentiert, dass das unterdrückte Motiv der Priesterehefrau mit der freudschen ‚Teilung‘ der Frau in Gut und Böse zurückkam, um die spätmittelalterliche Kirche zu plagen.29 Die gute Imago wurde durch die Jungfrau Maria personifiziert und die böse Imago immer öfter durch die weibliche Schänderin oder Diebin der Hostie, eine negative Rolle, die oft auch den Hexen und Juden zugeschrieben wurde. Es gibt entscheidende Beiweise dieser Aufspaltung der Frau in ‚Die Wyclifsche‘. Wenn sie ihrem jungen Besucher ihre nackten Brüste anbietet, deutet ihre Geste sowohl auf Marias Tätigkeit des Stillens als auch auf die sündige Einladung, Unzucht zu begehen, hin. Elliott drückt dies folgendermaßen aus: „Woman’s reproductive capacity rendered her additionally ripe for uncanny insemination.“30 In den weitverbreiteten geistlichen Geschichten von dämonischen Nachkommenschaften werden Frauen die körperlichen Agenten der teuflischen Reproduktion (des „dämonischen Samens“), die gewöhnlich nachts stattfindet, wenn das weibliche Opfer träumt. Eine interessante Variation dieses Themas ist der bekannte höfische Lai Maries de France, ‚Yonec‘, über eine wunderschöne Frau, die in einer sterilen Ehe gefangen ist. Elliott schildert diese übernatürliche Fabel folgendermassen: „In her loneliness, she [the lady] fantasises about the perfect lover, whereupon a huge bird flies through her window and promptly transforms itself into a handsome knight (V. 91–115).“31 Obwohl Maries Lai die klerikale Misogynie untergräbt, da er die Phantasie positiv bewertet und beschreibt, ähnelt er der ‚Wyclifschen‘, indem er ein klerikales Beispiel von einem dämonischen Samen mit einer höfischen Erzählung einer unerlaubten Liebe vereint und den Umfang enthüllt, in dem eine Erzählstrategie für die ideologischen Interessen der Obrigkeit wiederverwertet wird. Im Fall der ‚Wyclifschen‘ wird das klerikale Motiv des „dämonischen Samens“ in der spöttischen Betrachtung in der letzten Zeile des Gedichts, dass Gott weibliche Ketzerinnen fruchtbar machen solle, zum Ausdruck gebracht. Diese ironische Folgerung verrät die tiefverwurzelten klerikalen Phantasien, welche sündige, Ungeheuer gebärende Frauen produzieren, Befürchtungen, die ebenso in dem zuvor genannten lateinischen 29 30 31
Elliott [Anm. 28], S. 114. Elliott [Anm. 28], S. 56. Elliott [Anm. 28], S. 59.
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‚Wyclifschen Gottesdienst‘ aufleben, in welchem Wyclif als Vorfahre einer langen Nachkommenschaft von böhmischen Ketzern dargestellt wird. Wenn diese parodistische Inversion die Abstammung Christi von König David und die des englischen Urhebers der Häresie mit Antichristus gleichsetzt, assoziiert sie auch implizit die irrige Lehre mit der unkontrollierten weiblichen Sexualität und Zeugung. Die Ambiguität in ‚Die Wyclifsche‘ zwischen einem klerikalen Antifeminismus, orthodoxer Rhetorik und ketzerischer Praxis aufzuzeigen, schließt die Frage ein – bereits angesprochen aber noch nicht beantwortet –, warum der anonyme Autor das höfische Tagelied als Gattung für seine antiketzerische Satire gewählt hat. Warum, kurz gesagt, ist die alba, welche traditionell die unerlaubten Freuden der fin’ amor (Hohen Minne) feiert, benutzt worden, um unerlaubte religiöse Praktiken anzuprangern? Was sagt die Verwendung eines Tagelieds in dem ideologischen Kampf gegen Häresie über die Beziehung zwischen der Kirche, der Universität und dem Hof im frühen 15. Jahrhundert aus? Im Böhmen des 14. Jahrhundert wurden oft tschechische höfische Lieder benutzt, um ihre religiösen Aussagen einem Laienpublikum schmackhafter und zugänglicher zu machen. Seit dem späten 13. Jahrhundert war der höfische und klerikale Diskurs in der Tat im heimlichen Einverständnis mit offiziellen Texten in Böhmen (vgl. z.B. ‚Das Gebet von Kunigunde‘, um 1290). Nach dem Tod des Kaisers jedoch und dem Ausbruch des Schismas im Jahre 1378 begann diese harmonische Fusion des klerikalen und höfischen Diskurses zu versiegen. Eine wichtige Konsequenz dieser Spaltung zwischen Kirche und Hof war eine unvorhersehbare Welle des Antifeminismus und antihöfischer Satiren in der Volkssprache. Eine mögliche Ursache für diesen geschlechtsspezifischen rhetorischen Versuch war die Bindung gewisser Damen des Hofes an die Bethlehem-Kapelle, unter denen Königin Sophie von Wittelsbach sicherlich die prominenteste und einflussreichste war. Die Witze auf Kosten des Hofes deuten eventuell an, dass mit der Figur der Wyclifschen auf Königin Sophie und mit ihrem jungen Liebhaber auf ihren schwachen Ehemann, König Wenzel, angespielt wurde. Aber selbst hier bewegen wir uns auf unsicherem Boden, wenn wir versuchen, Frauen zu aktiv in der Reformbewegung anzusiedeln. Wie bereits vorher angesprochen, wurde kürzlich aufgezeigt, dass Königin Sophies angebliche Korrespondenz mit dem Papst, die gegen das Verbot der Wyclifschen Bücher in Böhmen protestiert,
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das spätere Werk von Universitätsmitgliedern und nicht der Königin selbst war.32 Aber selbst wenn die Briefe, die normalerweise Königin Sophie zugeschrieben werden, erst nach 1410–1412 geschrieben wurden, bleibt die Frage, warum sie ihr überhaupt zugeschrieben wurden. War dies der Fall, weil Sophie tatsächlich in die Hussitenbewegung involviert war oder weil die Studenten, die die Briefe schrieben, um die ars dictaminis zu veranschaulichen, Frauen automatisch mit abtrünnigen religiösen Praktiken gleichsetzten? Wie groß ist der Unterschied zwischen dem orthodoxen und dem ketzerischen Diskurs tatsächlich, wenn man die Assoziation der Frauen mit der Ketzerei betrachtet? Die höhnischen Warnungen am Anfang der 13. Zeile der ‚Wyclifschen‘ an die „hübschen Hofleute“ (nádobné pano e), die Wyclifsche Sache zu unterstützen, ebenso wie die ironische Bezugnahme auf den Hof (dvór) in der erotischen Abschiedsrede der Wyclifschen an ihren Liebhaber scheinen eindeutig zu suggerieren, dass der königliche Hof eines der Ziele der Satire ist. Manche Hofleute haben sich mit der Hussitenbewegung identifiziert. Einige waren ja Frauen, z.B. Eli ka Krava®, die Ehefrau von Heinrich von Rosenberg, Anna von Mochov, die Ehefrau von Johann von Kamenice und Anna von Frimburk, die Ehefrau von Peter Zmrzlík von Svoj ín.33 Aber nicht alle waren Frauen. Der prominenteste der hussitischen Hofleute war Woksa von Waldstein, der den schon erwähnten Protestmarsch vom Jahre 1412 gegen die Kirchenobrigen angeführt hat. Deswegen ist es hier schwierig, zwischen den klerikalen Phantasien in Bezug auf den weiblichen Körper und der sozialen Realität zu unterscheiden. Seit dem Hochmittelalter hatten klerikale Schreiber traditionell die Exzesse des höfischen Lebens beanstandet und waren besonders über die Tatsache bekümmert, dass die höfische Kleidung die Unterschiede zwischen den konventionellen Geschlechterrollen verwischte. Ritter wurden kritisiert, sich zu weiblich zu kleiden, während Frauen verspottet wurden, wenn sie eben diesem Beispiel folgten. Jane E. Burns weist in Bezug auf die Kritik in einer 1273 gehaltenen Predigt des französischen Dominikaners Gilles von Orleans an der weiblichen höfischen Mode darauf hin, dass klerikaler Schimpf in der absurden
32 33
Siehe Kopi ková [Anm. 5], S. 282 (deutsche Zusammenfassung). mahel [Anm. 19], Band III, S. 39–40.
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Schlussfolgerung resultierte, dass Frauen gleichzeitig „zu ritterlich und zu verführerisch“ seien.34 Wenn ‚Die Wyclifsche‘ ein ähnliches Bild der Geschlechterinversion präsentiert, in welchem die Frau die dominante männliche Rolle einnimmt und der Ritter passiv weiblich ist, könnte diese auf den Kopf gestellte Welt die Krise Böhmens im 15. Jahrhundert widerspiegeln, in welchem die hussitische Besetzung der Prager Universität und des königlichen Hofes auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden kann. So gesehen, können die klerikalen Phantasien über einen verführerischen weiblichen Körper als eine konventionelle Metapher für weitere aktuelle Ängste vor einer wuchernden, ungehinderten Häresie betrachtet werden, welche den Staatskörper infiziert. Dass solch gefährliche Praktiken die Form eines verführerischen weiblichen Körpers annehmen, ist gänzlich im Einklang mit der spätmittelalterlichen Anschauung von der christlichen Gesellschaft als zusammengehörigem männlichem Körper Christi – dem corpus christianum.35 Dies steht ebenso im Einklang mit meiner Behauptung, dass ‚Die Wyclifsche‘ und andere antihussitische auf tschechisch geschriebene Satiren keine direkten Spiegel der sozialen Realität sind, sondern ambig zwischen der erlernten männlichen Rhetorik der Universität und den konkreten Erfahrungen der gesamten Laienschaft vermitteln.
34 Jane E. Burns, Refashioning Courtly Love: Lancelot as Ladies’ Man or Lady/Man? In: Constructing Medieval Sexuality, hg. von Karma Lochrie et al., Minneapolis, London 1997, S. 111–34 (S. 128). 35 Sarah Beckwith, Christ’s Body: Identity, Culture, and Society in Late Medieval Writings, London 1993.
LIEBESLIEDER IM UNIVERSITÄTSMILIEU Fritz Peter Knapp
Der Lehrbetrieb an den Universitäten Prag, Wien und Heidelberg schöpft um 1400 aus einem gemeinsamen Fundus europäischen akademischen Wissens. Lehrende und Lernende teilen aber auch an allen drei Orten in etwa dieselbe halbgeistliche Lebensform, die einerseits kanonischem Recht unterliegt und mit kirchlichen Aufgaben belegt ist, andererseits trotz aller Verbote ganz weltliche Freizeitbeschäftigungen keineswegs verabscheut. Daß sie eifrig die Dienste der Venusdienerinnen in Anspruch nahmen und auch Bürgertöchter zu verführen trachteten, ist bekannt. Diesen werden sie wohl manches Ständchen gebracht, sich ebenso aber auch im geselligen Kreis selbst an Liebesliedern erfreut haben. Welches Liedgut hier in Gebrauch war, ist aber meines Wissens bisher kaum erforscht. Vor oder um 1400 wurde der Codex Latinus Monacensis 7543 geschrieben.1 Für eine Entstehung in dem Kloster Indersdorf nördlich von München, woher der Codex in die königliche Bibliothek kam, gibt es keinerlei Hinweise. Wir sind somit auf den Inhalt verwiesen, die ‚Postilla studencium sancte universitatis Pragensis‘ des aus Österreich kommenden berühmten Prager Predigers Konrad von Waldhausen († 1369).2 Vermutlich zu Anfang des 15. Jahrhunderts wurde auf der zuvor leer gebliebenen Seite 126v eine deutsche Liedstrophe eingetragen, zuerst allein die Melodie, dann die mit Text unterlegte Melodie, dann der Text allein. Die Schreibungen bey und bin würden kaum zu einem mittelbairischen Schreiber der Zeit passen, wohl jedoch zu einem mittelböhmischen. Sichereren Boden betreten wir beim Codex Palatinus Latinus 1260 der Biblioteca Apostolica Vaticana. Der uns hier interessierende Teil
1 Alle folgenden kodikologischen Angaben nach Christoph März (Hg.), Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg, Tübingen 1999, S. 91ff. (Clm 7543), S. 87ff. (Cpl 1260), S. 105ff. (Hs. Michaelbeuern). 2 Vgl. Fritz Peter Knapp, Böhmisch-österreichische Literaturbeziehungen zur Zeit Kaiser Karls IV., Wolfram-Studien 13 (1994), S. 28–41.
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II der später zusammengebundenen Handschrift enthält im wesentlichen lateinische medizinisch-pharmazeutische Schriften und stammt, wie die Untersuchungen von Ludwig Schuba3 nahelegen, höchstwahrscheinlich aus Heidelberger Universitätskreisen. Auf frei gebliebenen Seiten und Seitenrändern (fol. 303r, 315r–316r) hat dieselbe Hand, welche in diesem Codex mehrere lateinische und deutsche Rezepte, Regimina, medizinische Traktate und ein Lob der Philosophie schrieb und auch in etlichen anderen Heidelberger Handschriften zu erkennen ist, vielleicht die eines schwäbischen Arztes, drei Lieder eingetragen, davon zwei mit Text und Melodie, eines nur mit Text, und zwar um 1410–1415 in südrheinfränkischer Mundart. Ebenfalls aus Universitätskreisen, jedoch der Alma Mater Rudolphina, dürfte die Papierhandschrift (Man. Cart.) 10 der Bibliothek der Benediktinerabtei Michaelbeuern mit der ‚Lectura Mellicensis‘ des Nikolaus von Dinkelsbühl stammen. Sie wurde vermutlich vor der Mitte des 15. Jahrhunderts geschrieben und gebunden. Als Spiegel für Vorder- und Hinterdeckel hat man aber ein vorher beschriebenes Pergamentblatt verwendet, das Teil einer jüdischen Tora-Rolle und den Christen wohl bei der Wiener Gesara von 1420/21 in die Hände gefallen war. Die Rückseite ist hebräisch beschrieben. Auf der Vorderseite stehen Text und Melodie eines deutschen Liedes in mittelbairischer Mundart. Beide Texte haben starke Einbußen erlitten, als man das Blatt zum Einbinden zerschnitten hat. Alle fünf in diesen drei Handschriften (mit den Siglen In, He und Mi) enthaltenen deutschen Lieder werden dem Mönch von Salzburg zugeschrieben. Diese bemerkenswerte Gemeinsamkeit in der Überlieferung ist nun erstmals durch die neue kritische Ausgabe der weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg von Christoph März erkennbar geworden. Welcher Art sind nun die Lieder? In der Prager Universitätshandschrift (In) findet sich Lied W 6, ein vertonter Neujahrsgruß an die Geliebte in der Ferne Mein traut gesell, mein höchster hort. Es enthält die üblichen Beteuerungen der Liebe, Sehnsucht und Treue. Die allein hier aufgezeichnete Strophe 1 beschränkt sich überhaupt fast ganz auf Glückwunschformeln bis
3 Ludwig Schuba, Universitätsbibliothek Heidelberg. Die medizinischen Handschriften der Codices Palatini Latini der Vatikanischen Bibliothek Wiesbaden 1981 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 1), S. 323–327.
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auf die Schlußzeilen: wy ich bey dir nicht mag gesein,/so pin ich doch all zeit das dein.4 Die erotische Komponente ist äußerst schwach ausgeprägt. Durchaus anders ist es da um des Mönchs deutsche Kontrafaktur der französischen Chace Umblemens vos pri merchi aus dem 14. Jahrhundert, das dreistimmige Lied W 31 Jv, ich jag nacht vnd tag bestellt, welches die Wiener und die Heidelberger Universitätshandschrift (Mi bzw. He) enthalten. Das sinnliche Begehren kommt in dem Text ganz deutlich zum Ausdruck, am deutlichsten in der Schönheitsbeschreibung von Kopf bis Fuß, die auch die dem gotischen Ideal entsprechenden tütlein klain geswollen, hertt gedrollen (V. 37f.) nicht ausläßt. Auch dieses Lied klagt über die Trennung von der Geliebten und fleht am Ende Fortuna an, doch der klaffer schawren, die Abschirmung der Geliebten durch die Verräter, zu beseitigen (V. 69), ein beim Mönch immer wiederkehrendes Hindernis, das sowohl aus dem traditionellen Heimlichkeitsgebot der Minne im klassischen Minnesang abgeleitet als den realen Verhältnissen an einem geistlichen Hof wie dem des Salzburger Erzbischofs entsprungen sein könnte. Die Heidelberger Universitätshandschrift (He) bringt noch zwei weitere Lieder, und zwar recht prominente, W 2 Gar leis in senfter weis wach, libste fra und W 50 Seint röslein, plüemlein maniger lay. W 2, des Mönchs berühmtes Taghorn, ist ein heiteres, lebensfrohes Tagelied ohne die tragische Abschiedsstimmung des älteren Gattungstyps. Die hier keinesfalls fehlende erotische Note erscheint in W 50 noch wesentlich gesteigert, ohne freilich in obszöne Direktheit zu verfallen. Gleichwohl handelt dieses Lied unter Blumenmetaphern im Grunde ausschließlich von den Genitalien. Die Magister oder Scholaren, die diese Liedaufzeichnungen eintrugen oder benutzten, waren also wahrlich keine Kostverächter. Darf man darauf die folgende Stelle aus der Polemik des Wiener Hofkaplans Ulrich von Pottenstein gegen die Minnelieder aus dem ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts beziehen? Von der sache wegen schikchten vnd ordenten die maister der natur in Chriechen land, daz die poeten, die da newe geticht von puelschaft machten, schölden vertriben werden aus den steten, in den man natürleiche chunst vnd chunst der weishait vnd güter siten lernet. Wann si wedachten, hörten die studenten söliche geticht, si würden da mit geczogen von fleissiger übung der hohen vnd edeln chünste.5 4
Text nach der Ausgabe v. März [Anm. 1], W 6, V. 9f. Ulrich von Pottenstein, Dekalog-Auslegung. Das erste Gebot. Texte und Quellen, hg. v. Gabriele Baptist-Hlawatsch, Tübingen 1995, S. 64 Z. 29–34. 5
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Welchen praktischen Gebrauch die Magister und Studenten damals in Wien und anderswo von den Liebesliedern machten, wissen wir freilich nicht. Aber einen kleinen Einblick in das universitäre Leben außerhalb der gelehrten Disputationen mögen sie uns vielleicht vermitteln.
Nachwort
RÜCKBLICK EINES HISTORIKERS AUF EINE INTERDISZIPLINÄRE TAGUNG1 Jürgen Miethke
Zweieinhalb Tage haben wir hier im Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg zusammengesessen und mehr als 10 Referate von internationalen Spezialisten gehört. Als Rahmenthema ist formuliert: „Das lateinische und volkssprachliche Schrifttum im Umkreis der Universitäten Prag, Wien, Heidelberg am Ende des 14. und am Beginn des 15. Jhs.: Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Wechselbeziehungen“. Auf dem Programm ist für Samstag Nachmittag lapidar verzeichnet: „ Jürgen Miethke: Ergebnisse des Symposions“. Es wäre freilich, so möchte ich meinen, ein vermessener Gedanke, wenn ich das wörtlich nähme, als könnte ich in wenigen Minuten gleichsam den eingedickten Extrakt so vieler verschiedener Hervorbringungen, angefangen von einer musikalischen Einlage, die uns einige an den drei Universitäten verwendete Lieder vorstellte, bis zu den einzelnen jeweils rund 45 Minuten andauernden Berichten über die Arbeitsergebnisse und die Forschererfahrung von ebenso vielen ausgewiesenen älteren und jüngeren Fachleuten berichten und damit über sie richten, als könnte ich in meiner Sentenz festhalten, was aere perennius für alle Zukunft aus unseren Gesprächen Dauer gewinnen und im Gedächtnis bleiben wird, Ergebnis wissenschaftlichen und menschlichen Gesprächs, Resultat unserer Diskussionen, umrissene Gestalt künftigen Wissens an der Forschungsfront. Das alles möchte ich wahrlich lieber dem Richter des Jüngsten Tages – oder doch den Lesern und Benutzern des Berichtbandes – überlassen. Diese Beschreibung soll verdeutlichen, worum es mir hier nicht gehen kann: es ist mir vielmehr allein möglich, erinnernd als einen Anstoß für unsere abschließende Aussprache einige Probleme zu
1 Der am 6. April 2002 im Internationalen Wissenschafts-Forum Heidelberg vorgetragene Text wurde für den Druck durchgesehen, aber nicht wesentlich geändert. Literaturhinweise erschienen mir nur dort angebracht, wo explizit oder implizit im Text darauf verwiesen wurde. Eine Dokumentation des Forschungsstandes ist nirgendwo beabsichtigt.
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bezeichnen, die in einzelnen Berichten als gemeinsame oder als besondere „Denkwürdigkeiten“ im Hinblick auf das Gesamtthema aufschienen, und sie aus meiner – gewiß sehr subjektiven – Perspektive zu beleuchten. Daß dabei die Berichte von heute Nachmittag kurz, zu kurz kommen, versteht sich für jeden Kundigen von selbst. Deshalb ändere ich in eigener Machtvollkommenheit die Überschrift und sage nur, daß Sie von mir nicht mehr erwarten dürfen als einen „Rückblick eines Historikers auf eine interdisziplinäre Tagung“. Die Universitätsgeschichte hat in den vergangenen vier Jahrzehnten, schon länger wirksame Tendenzen aufgreifend und verstärkend, jene in der älteren Forschung vorherrschende Frage nach den institutionellen Gemeinsamkeiten und den differentia specifica der jeweils eigenen alma mater sowie der Universitätslandschaften verlassen und sich auf die Suche nach der sozialen Realität des in diesen Verfassungsgehäusen gelebten Lebens gemacht. Nichts kann schlagender diese Behauptung belegen als ein Vergleich zwischen den beiden Standardwerken, die jeweils für ihre Zeit als typisch genommen werden dürfen. Einerseits meine ich hier die 1936 von Frederick Maurice Powicke und Alfred Brotherstone Emden überarbeitete und auf den damals maßgebenden Forschungsstand gebrachte umfassende dreibändigen Darstellung der europäischen Universitätsgeschichte des Mittelalters von Hastings Rashdall.2 Andererseits denke ich an die von einer internationalen Forschergruppe unter der Hauptherausgeberschaft Walther Rüeggs erarbeitete ‚History of the University in Europe‘, deren erster, der Mittelalterband, von Hilde de RidderSymoens herausgegeben, in englischer Sprache erstmals 1992 erschienen ist.3 Das Rashdallsche Buch lieferte eine präzise Aufnahme der Verfassungsorgane und der Institutionen der einzelnen europäischen Universitäten und verfolgte deren Entwicklung durch die Zeiten, wobei die drei Bände geographisch gegliedert sind und sich gewissermaßen Universität für Universität nacheinander vornehmen. Dagegen gewährt das neue europäische Handbuch, das im Titel nicht umsonst
2 3
Rashdall [Lit.-Verz.]. Rüegg [Lit.-Verz.].
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den Singular „University“ gebraucht, einen Überblick über einen gewissermaßen einheitlichen Gegenstand, fast einen Idealtypus im Weberschen Sinn. Das Buch geht dabei so vor, daß es in verschiedenen, von verschiedenen Verfassern stammenden Großkapiteln Aspekte universitären Lebens vorstellt: „Themes and Patterns“ (Gründungslegenden; Erwartungen der Umwelt; Erwartungen der Mitglieder; Reformen); „Stuctures“ (Verhältnis zu den Autoritäten in Kirche und Staat; Management und Finanzierung; Lehrkörper), „Students“ (Immatrikulation, Studentisches Leben; Graduierung und Karrieren, Mobilität) und „Learning“ (nach den einzelnen Fakultäten aufgeteilt). Auch dieser hier nur grob wiederholte Aufriß zeigt, daß in diesem Buch allenfalls exemplarisch individualisiert werden soll – es kommt hier vielmehr an auf die Rahmenstrukturen, auf das Gemeinsame, das allem bunten Einzelnen zugrunde liegt und das die überraschende Gleichförmigkeit europäischer Universitätsentwicklung vom 12. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts verständlich machen kann. Unsere Tagung suchte einen etwas anderen, einen individualisierenden Zugang, ohne die allgemeinen Strukturen aus den Augen verlieren zu wollen. Wir wollten aber nicht zuerst nach dem Produktionsprozeß mittelalterlicher Wissenschaft und seinem sozialen Gehäuse fragen, sondern nach dem Produkt oder richtiger den einzelnen Produkten wissenschaftlicher Beschäftigung, den Texten, die an den Universitäten entstanden sind und die uns damit Zeugnis von dem Leben dieser Institutionen ablegen. Dabei hatten wir nicht jene Absicht, die Jakob Burkhardt mit seiner Behauptung meinte, Geschichte mache nicht klüger für morgen, sondern weise für immer, wir wollten nicht auf die Suche nach „Weisheit“ gehen, sondern in der „positiven“ ( ja vielleicht sogar positivistischen) Rekonstruktion historischer Analyse die Umstände der universitären Textproduktion ergründen. Wir suchten bei den Universitätsangehörigen selbst oder bei der Umwelt der Universität nicht so sehr nach dem Bildungserfolg als jenem Ertrag der Zeit, die sie an den Universitäten verbracht hatten, wir fragten auch nicht sozialgeschichtlich nach den Karrieremustern oder Karrierechancen konkreter oder typischer Universitätsbesucher auf ihrem späteren Lebensweg, sondern wir beschränkten unsere Neugier auf die schriftlich erhaltenen gewissermaßen petrifizierten Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit, indem wir dem Textausstoß der Institution Universität innerhalb ihrer selbst und in Richtung auf ihre Umgebung nachgehen wollten. Wir waren interessiert an Fachprosa und katechetischen Texten in ihrer doppelten
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sprachlichen Gestalt, an Texten in Latein, der Sprache der Gelehrten und der Welt der Gelehrten, und an Texten in der jeweiligen Volkssprache, geschrieben für diejenigen, die des Lateinischen nicht mächtig waren, für die aber diese Produkte universitärer Tätigkeit eigentlich bestimmt waren.4 Mit solchem Vorhaben hätte sich jede Tagung überfordert, die dieses Ziel in der globalen Ausrichtung der allgemeinen „Themes and Patterns“ der neueren Universitätsgeschichte angegriffen hätte. Herr Knapp hat am Anfang unserer Tagung die Themenformulierung sehr präzise umrissen und auch in einzelne Fragen ausführlich auseinandergelegt. Exemplarisch sollten drei Universitäten Gegenstand der Untersuchungen sein, um die Konkretion des historischen Gegenstandes nicht in Abstraktionen zu verflüchtigen, freilich sollten diese Universitäten gewissermaßen stellvertretend für die mittelalterliche Universität überhaupt befragt werden. In jenem zeitlich durch die jeweiligen Gründungsumstände, regional durch die geographische Lage zueinander und zusätzlich auch durch enge persönliche Beziehungen mit einander verflochtenen Dreieck der ersten drei Universitätsgründungen auf dem Boden des Römischen Reiches nördlich der Alpen, der Universitäten Prag (gegründet 1347/48), Wien (gegründet 1365/1384) und Heidelberg (gegründet 1385/1386), wollten wir unsere Fragen stellen und auf die Probe stellen, nicht freilich, um im Sinne einer Nadlerschen5 Literaturgeschichte der deutschen Stämme, abgewandelt für die Fachprosa des Universitätsschrifttums, deutsche Stammes- oder Volkseigentümlichkeiten zu entdecken, sondern um in aufmerksamer Aufnahme der konkreten Texte und ihrer Entstehungsbedingungen eine Konkretion unserer Kenntnis von den Produk-
4 Die Literatur dazu ist fast überreich, vgl. nur z. B. Horst Brunner und Norbert Richard Wolf (Hg.), Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter 13); zu dem Wiener Theologen Ulrich von Pottenstein und seinem Kreis vgl. neben Egino P. Weideniller, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters, München 1965 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 10), auch etwa Dieter Harmening, Katechismusliteratur, Grundlagen religiöser Laienbildung im Spätmittelalter, in: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter, Perspektiven ihrer Erforschung, hg. v. Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1987 (Wissensliteratur im Mittelalter 1), S. 91–102 (mit Lit.). 5 Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 1–3, Regensburg 11912–1914; vgl. die 4. Auflage: Literaturgeschichte des deutschen Volkes, Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, Berlin 1939–1941.
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tionsbedingungen an spätmittelalterlichen Universitäten zu erreichen. Jene drei ersten deutschen Universitäten waren durch zahllose Fäden individueller Karrieren untereinander verknüpfte Personengruppen, die voneinander wußten und bei allen besonderen Ausprägungen ihrer jeweiligen Rahmenbedingungen einander auch konstant im Auge behielten, von einander lernten, sich auch ihre Lehrer teilweise gegenseitig abwarben, auch – bei aller Selbstbehauptung – einander nachahmten und so in der für Universitäten typischen Weise mit einander wetteiferten. Nicht alle möglichen Themen des inneren Verkehrs zwischen diesen Universitäten, erst recht nicht die des Verkehrs dieser drei Universitäten mit der universitären und der nichtuniversitären Außenwelt konnten dabei auf unserer Tagung aufgegriffen und behandelt werden. Daß wir nicht Krakau, Köln und Erfurt, Leipzig und Löwen ausdrücklich auf die Agenda setzten, war gewiß auch Willkür, aber es war doch auch aus zeitökonomischen und gesprächstaktischen Gründen eine bittere Notwendigkeit. Paris, die Mutter aller mittelalterlichen deutschen Universitätsimaginationen, oder Bologna, das doch wenigstens für Prag noch ausdrücklich ein zusätzliches Muster abgegeben hatte, drängten sich ohnedies immer wieder gewissermaßen durch die Ritzen der Berichte als Referenzstationen der Argumentation. Und auch Oxford und Orléans oder Padua wurden bisweilen wie selbstverständlich erwähnt. Die Ausgrenzung unserer drei deutschen Hauptuniversitäten war nötig, um die Materialfülle zu bändigen und ein hantierbares Exempel zu gewinnen, aber gewiß war sie nicht exklusiv, nicht alle anderen Exempel exkludierend möglich. Sie sollte und wollte das Gemeinsame mit zahlreichen anderen vorbildlichen und auch mit eher nachahmenden Einrichtungen anderwärts nicht verdecken. Eine genauere Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen Universitäten ist ohnedies hoch problematisch. Es ist nämlich nicht genug, „Einflüsse“ aufzuspüren. „Einflüsse“ sind nur eine schlechte und unsichere Metapher, die ihre gedankliche Unschärfe nur allzu leicht vergessen macht und deren gedankenloser Gebrauch analytisch nur sehr begrenzt Erkenntnis bringt. Was fließt nicht alles hierhin oder dorthin? Wie haben die Mittel für die Wirkung im einzelnen ausgesehen, wie sind die Grenzen des im Flusse Mitgeführten zu konkretisieren? Es sind zudem von einer Universität zu einer anderen nicht immer nur unmittelbare Fernwirkungen zu beobachten. Gewiß gab es durchaus solch angebbare direkte Effekte, wenn wir
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auf die biographische Kohärenz der einzelnen Gelehrten achten, die als Träger und Mitwirkende an universitären Entscheidungen bisweilen das Spiel wechselseitiger „Beeinflussung“ inszenierten. William J. Courtenay hat schon vor Jahren in einer Untersuchung des Sentenzenkommentars des Marsilius von Inghen festgestellt,6 daß der Heidelberger Theologe in diesem Text inhaltlich Pariser Diskussionen aus der Zeit ihres Autors als Artistenmagister ganz unmittelbar weiterführte, also gewissermaßen in eine Disputation eintrat, die zwanzig Jahre zuvor in Paris aktuell gewesen war. War das ein später Einfluß der Pariser Theologie auf die Heidelberger Fakultät? Die Sentenzenvorlesung des Marsilius von Inghen konnte definitiv erst in Heidelberg vorgetragen werden, weil Marsilius erst hier sein Theologiestudium mit der Promotion kurz vor seinem Tode 1396 abgeschlossen hat, der ersten theologischen Promotion in Heidelberg überhaupt. Auch mündlicher Gedankenaustausch bleibt in Einzelfällen möglich, wie der vielgereiste Matthäus von Krakau bezeugt,7 der zwischen Prag, Heidelberg und Krakau Verbindungen knüpfte und persönlich aufrecht erhielt, oder wie für die Vorgeschichte der Gründung einer Universität in Wien erst kürzlich nachgewiesen werden konnte.8 Freilich bleiben die positiv nachweisbaren Kontinuitäten und Kontakte, die konkrete Wirkungen für die Zukunft der einzelnen Institutionen hatten, doch rar. In unserem Kolloquium haben wir auch versucht, die alte Vorstellung von „Schulen“ an Beispielen zu konkretisieren. Spezifische „Schulen“ und ihre wechselseitigen Einflüsse wurden auf verschiedenen Gleisen gewissermaßen hin und herge-
6 William J. Courtenay, Marsilius of Inghen as Theologian, in: Marsilius of Inghen, Acts of the International Marsilius of Inghen Symposium Organized by the Nijmegen Center for Medieval Studies (CMS), Nijmegen, 18–20 december 1986, edd. Henri A.G. Braakhuis, Maarten J.F.M. Hoenen, Nijmegen 1992 (Artistarium, Supplementa 7), S. 39–57 [dtsch. u.d.T.: Marsilius von Inghen (†1396) als Heidelberger Theologe, Heidelberger Jahrbücher 32 (1988), S. 25–42]. Zur Prosopographie aller Heidelberger Universitätsangehörigen sind jetzt zu vergleichen die sorgfältigen Aufstellungen von Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon, 1386–1651 [Lit.-Verz.], zu Marsilius vgl. S. 373f. 7 Zur Biographie vgl. demnächst die Dissertation von Mathias Nuding, die (in der Reihe Spätmittelalter und Reformation NR) 2004/5 erscheinen soll. Vorerst siehe Drüll [Lit.-Verz.], S. 378f. 8 Harald Berger, Albertus de Saxonia († 1390), Conradus de Waldhausen († 1369) und Ganderus (recte: Sanderus) de Meppen († 1401/06), Eine Begegnung in Prag im Jahre 1364, MIÖG 106 (1998), S. 31–50.
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schoben: Gab es eine böhmische „Übersetzerschule“ in Prag, eine deutsche in Wien? Wo bleibt da das Heidelberger Pendant? Doch diese Suche spielte – mit der Ausnahme einer einzigen kurzen Diskussion im Plenum – nicht eigentlich eine eigene Rolle in unseren Verhandlungen. Das Bild einer „Schule“, typisch für die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts, hat gewiß heuristische Bedeutung, zumal es anonyme Texte zu regionalen Gruppen zusammenzuschließen erlaubt. Wie bei der Universitätsentstehung im Frankreich des 12. Jahrhunderts sich die sogenannte „Schule von Chartres“ neuerlich als Schemen, als bloßes Gedankenkonstrukt herausgestellt hat,9 wie auch die sogenannte „Übersetzerschule“ von Toledo nicht wirklich real existiert hat (wie in der Diskussion Christoph Flüeler betonte), so haben auch die „Schulen“ von Übersetzungsbemühungen an den deutschen Universitäten nur cum granis non modicis salis als wirkliche Personengruppen existiert, vielleicht am ehesten noch real wahrnehmbar in Wien, wie die Diskussion um eine deutsche „Wiener Schule“ (einen festen Fachbegriff der Germanistik) erneut deutlich machte. Der Schulbegriff hat auch in Anwendung auf deutsche Übersetzungstexte nur ein sehr marginales Erklärungspotential und ist von geringem eigenen Wert. In Wirklichkeit dürften sich solche „Schulen“ meist in örtlicher Nachahmung und gegenseitiger Anregung erschöpft haben, können und dürfen nicht als eigentliche Institutionen und feste Gruppengrößen imaginiert werden. Eher schon ließ sich, wie schon gesagt, in einzelnen Biographien von Universitätslehrern eine intensive peregrinatio academica ausmachen, nicht immer in einer so unerklärlich chaotischen Folge wie bei Konrad von Gelnhausen, der zuerst in Bologna in der juristischen Fakultät promoviert worden war, um dann etwa ein Jahrzehnt später noch in Paris die Graduierung zum Artistenmagister zu suchen10 – das war, wenn diese Auffassung der Forschung korrekt ist, jedoch in dieser Anordnung und Reihenfolge anscheinend ein absoluter Sonderfall. Sonst aber sind Wanderungen Graduierter (der verschiedenen Stufen
9 Zusammenfassend Richard W. Southern, The Schools of Paris and the School of Chartres, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, edd. Robert Louis Benson/Giles Constable, Oxford 1982, S. 113–137. 10 Zusammenfassend zuletzt etwa Jürg Schmutz, Juristen für das Reich, Die deutschen Rechtsstudenten an der Universität Bologna, 1265–1425, Bd. 2, Basel 2000 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitätsgeschichte 2), 389 nr. 453; und vor allem Drüll [Lit.-Verz.], S. 91f. ( jeweils mit weiterer Lit.).
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von den Bakkalaren angefangen bis zu den Doktoren) zwischen den drei Universitäten (und meist von Prag weg zu Wien und Heidelberg und/oder darüber hinaus) eher die Regel als die Ausnahme. Marsilius von Inghen aus Paris, Matthäus von Krakau oder Konrad von Soltau aus Prag (kurz angesprochen wurde auch Hieronymus von Prag) und viele andere mehr,11 etwa das Freundespaar Heinrich Totting von Oyta und Heinrich von Langenstein in Prag und Wien, wären hier im einzelnen zu nennen. Sie alle sind in unseren Diskussionen gegenwärtig gewesen. Verständlicherweise aber wurde solche WandervogelExistenz erst in den späteren Jahrzehnten um die Mitte des 15. Jahrhunderts von örtlichen oder richtiger ortsfesten Karrieren abgelöst, zu einer Zeit also, die nicht mehr unbedingt Fokus der Bemühungen dieser Tagung gewesen ist. In dem durch vielfache individuelle Wanderungen gleichsam verflüssigten Dreieck Prag-Wien-Heidelberg entstand eine sehr mannigfaltige und auch vielschichtige Literatur. Die üblicherweise bzw. zeitgemäß zu großen enzyklopädischen Wälzern angewachsenen Sentenzenvorlesungen und Bibelkommentare der Theologen – fünf Bände ein Lukas-Kommentar in Heidelberg, zwei Bände die GenesisVorlesung (zu Kap. 1–3) des Heinrich von Langenstein in Wien –, daneben auch etwa die Quodlibethandbücher und Quodlibetreportationen in Prag und die Aristoteleskommentare in Quaestionenform der Artisten in Wien, die Dekretalenvorlesungen, Prozeßrechtseinführungen und Formularbehelfe der Juristen wurden hier sichtbar. Die Mediziner wurden nicht eigens von uns aufgesucht, sie kamen nur durch ihre – wenn auch chronologisch spätere – Freude an der deutschen Lyrik gewissermaßen durch die Hintertür ins Gespräch. Aber medizinische Fakultäten waren in unserer Berichtszeit ohnedies nur winzig klein und bestanden etwa in Heidelberg damals nur aus einem einzigen Professor! Diese ganze Literatur war, um es etwas massiv auszudrücken, gewissermaßen Hausmannskost von Gelehrten für Gelehrte – Auszubildende selbstverständlich einbegriffen –, sie bestand aus Texten, wie sie vielfach auch überall sonst an Universitäten verfaßt und hergestellt wurden und wie sie in diesem allgemeinen Sinn auch heute noch hergestellt werden: Gebrauchsliteratur des aka11 Eine prosopographische Übersicht über die Wanderungen von Prag an deutsche Gründungen im 14. Jahrhundert bei Sabine Schumann, Die „nationes“ an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien, Ein Beitrag zur älteren Universitätsgeschichte, Phil. Diss. FU Berlin 1974.
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demischen Betriebs, die (damals noch mehr als heute) auch den Zweck hatte, Informationen zu sammeln und gesammelt, unangesehen ihrer Originalität, überhaupt erst einmal zur Verfügung des Nutzers zu stellen, die also zugleich auch Nachweis- und Präsentationsfunktionen zu erfüllen hatte, was manche „enzyklopädische“ Ausführlichkeit und die stoßweise Übernahme „fremder“ Materialien und Formulierungen erst eigentlich verständlich macht. Freilich, Herr Stelzer hat es uns ausdrücklich noch einmal in Erinnerung gerufen und an vielen anderen Stellen ist es ebenfalls immer wieder deutlich demonstriert worden, an dem hohen Niveau von Schriftlichkeit mittelalterlicher Universitäten und ihrer Besucher ist gewiß keinerlei Zweifel erlaubt, aber trotzdem ist der schriftliche Niederschlag universitären Lebens in weiten Bereichen absolut unbefriedigend. Zwar mochten mittelalterliche Universitätsbesucher bei ihren Mitschriften sich einer geradezu tachygraphischen Kursive bedienen (die dann heute nur mit großen Schwierigkeiten zu entziffern ist). Sie haben uns auch aus ihrer eigenen Werkstatt oft Manuskripte in einer littera quasi inintelligibilis hinterlassen, wie das schon Zeitgenossen von den Autographen des Thomas von Aquin zu sagen wußten (was der Handschriftenkenner Martin Grabmann zu litterae desparatae lectionis subjektiviert hat), die heute noch selbst für die paläographischen Spezialisten nur äußerst schwer zu entziffern sind.12 Diese selbstverständliche Schriftfertigkeit und damit Schriftlichkeit von allerhöchstem Niveau haben die Universitätsgelehrten auch für ihre Alltagsgeschäfte (und d.h. eben auch für ihre schriftlichen und mündliche Textproduktion) stets eingesetzt: Vorlesungsankündigungen, Einladungen, Artikelreihen, Irrtumslisten, Prüfungsauflagen, Mitschriften, Konzepte, Protokolle, all das hat in weitem Umfang und hohem Maße früher einmal existiert, wie an einzelnen erhaltenen Stücken heute noch in zahlreichen Archiven sichtbar ist. In der überwiegenden Zahl der Fälle haben diese Materialien jedoch eine Bibliotheksheimat oder eine Archivtruhe nicht erreicht, weil dorthin vor allem „Aufbewahrenswertes“ gelangte und so eine i.a. zukunftssichernde Aufnahme fand, d. h. Privilegien, normative Gemeinschaftsordnungen (wie insbesondere immer wieder die Statuten und statutarischen Beschlüsse der
12 Abbildung etwa in: San Tommaso e San Bonaventura nella Biblioteca Vaticana, Mostra in occasione del VII centenario (1274–1974), Biblioteca Apostolica Vaticana 1974, Abb. 1 (mit den Bemerkungen S. 13f.).
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Universitätsversammlungen) hatten diese Überlieferungschance, nicht dagegen die alltägliche Zettelflut. Daher ist die schriftliche Überlieferung auch aus den Universitäten des Mittelalters zwar relativ reichlich, wenn man sie mit anderen Lebensräumen der Zeit (etwa dem Fürstenhof, einer Stadt, gar einer ländlichen Grundherrschaft) vergleicht, sie bleibt aber einseitig und selektiv und hält keineswegs Antworten auf alle Fragen des Historikers bereit. Zusätzlich ist zu beachten, daß nicht allein die Differenz zwischen Norm und Praxis, zwischen Programm und Ausführung, zwischen Statut und Verhalten bei der Erforschung des Alltags einer mittelalterlichen Universität Beachtung verlangt, auch bereits die Distanz zwischen der Norm des Statuts und dem Brauch der allgemein geübten consuetudo oder des usus (welcher ja in vielen Fällen auch ein abusus war) bleibt wichtig. Bei der historischen Rekonstruktion vergangenen Lebens ist darauf vor allem immer wieder Rücksicht zu nehmen. Leider sind und bleiben, allen Bemühungen zum Trotz, wie immer wieder deutlich wurde, unsere Kenntnisse der Alltagspraxis universitärer Lehre und universitären Lebens mehr als dürftig. Teils aus den z. T. strikt unterrichtsinternen Texten selbst, wie den Sophismata der Artisten in Paris oder Oxford,13 teils aus normativen Satzungen und externen Berichten hat eine emsige Forschung dazu durchaus einiges ermittelt, so daß wir über die Quodlibets der Universitäten, ihre Vorlesungen und die Disputationen der Artisten, Theologen und Juristen heute besser Bescheid geben können als noch vor 30 Jahren.14 Freilich steht uns noch immer ein allzu geringes Detailwissen zu
13
Vgl. etwa John E. Murdoch, Mathematics and Sophisms in Late Medieval Natural Philosophy, in: Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales. Définition, critique et exploitation, hg. v. Robert Bultot, Léopold Génicot, Louvain-la-Neuve 1982 (Université Catholique de Louvain, Publications de l’Institute d’Etudes Médiévales II.5), S. 85–100; Edith Dudley Sylla, The Oxford Calculators, in: Cambridge History of Late Medieval Philosophy, hg. v. Norman Keretzmann, Anthony Kenny, Jan Pinborg, Cambridge, New York [u.a.] 1982, S. 540–563; eine besonders erfolgreiche Sophsimata-Sammlung gaben heraus Norman Kretzmann und Barbara Ensign Kretzmann (edd.), The Sophismata of Richard Kilvington, Oxford 1990 (Auctores Britannici Medii Aevi 12); dieselben haben zuvor eine kommentierte Übersetzung vorgelegt: The Sophismata of Richard Kilvington, Introduction, Translation and Commentary, Cambridge, New York [u.a.] 1989. 14 Zusammenfassend Bernardo C. Bazan, John F. Wipfel, Gérard Fransen u. Danielle Jacquart, Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de medecine, Turnhout 1985 (Typologie des sources du moyen âge occidental 44–45).
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Gebote, teils weil hier direkte Quellen weithin fehlen, teils weil bisher auf indirekte Hinweise in den Texten unzureichend geachtet worden ist. Auf unserem Kolloquium sind einige Schlaglichter auf diesen Spalt zwischen Norm und Wirklichkeit gefallen: Der Spott des Juristen Enea Silvio Piccolomini über den Wiener Theologen Thomas Ebendorfer, der 22 Semester lang seine Hörer mit einer JesaiaVorlesung beglückt habe und doch in seiner Kommentierung über das erste Kapitel des Textes nicht hinausgekommen sei, wurde von Frau Walsh eindrücklich mit den über zehn Jahre lang währenden Bemühungen Heinrichs von Langenstein in Wien konfrontiert, der seine „enzyklopädische“ Genesis-Vorlesung auch nur bis zum 3. Kapitel führen konnte, weil er wie die Frühscholastiker Thierry von Chartres oder Wilhelm von Conches hier seinem naturphilosophischen Steckenpferd die Sporen gab und ihm so freizügig Auslauf gewährte, daß ein solch ungefüges Werk entstand. Langensteins Text wurde im Autorenexemplar, zwei mächtigen Folianten in der „moles“ der Österreichischen Nationalbibliothek (wie Winfried Stelzer es prägnant ausgedrückt hat) mit Registern und Findbehelfen später einer leichteren Konsultation erschlossen. Noch deutlicher trat diese Möglichkeit, den Textproduzenten gewissermaßen „über die Schulter zu schauen“ (wie Herr Löser es in der Diskussion nannte), in jenen Fällen zu Tage, wo die erhaltene Überlieferung bei eng genug geführter Untersuchung eine Rekonstruktion des Entstehungsprozesses des materiellen Textträgers und damit des Verschriftlichungsprozesses des Gedankens selbst aus der Mündlichkeit des Vortrags möglich macht. Ich möchte meinen, daß dies Sternstunden unseres Kolloquiums waren, als aus schwierig zu hantierenden Überlieferungsmassen von sachlich und ihrem Inhalt nach z. T. recht weit von einem unmittelbaren Interesse entfernten Handschriften die Lebenswirklichkeit vergangener Textproduktion konkret zu erheben war. Die Faszination der Urkundenlehre, die durch Kanzleigeschichte und durch äußere Kritik der originalen Diplomata zu einer Darstellung ihres Entstehungsprozesses führen kann, wiederholte sich hier, als Franti ek mahel uns den Ablauf der Prager Quodlibetdiskussionen und ihrer Verschriftlichung aus genauer Hinsicht auf die Quellen eines durch bittere Konflikte der Prager Artisten aufgewühlten Jahrzehnts deutlich machen konnte. Die abstrakten allgemeinen statutarischen Vorschriften gewannen erhöhte praktische Anschaulichkeit in ihrer üblichen, von sehr verschiedenen Temperamenten im wesentlichen
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gleich gehandhabten Routine der Vorbereitung, Durchführung und Dokumentation einer feierlichen artistischen Prager QuodlibetVeranstaltung. Die Rolle des von der versammelten Fakultät speziell beauftragten oder gewählten (mit entsprechenden taktischen Maßnahmen gar auch manipulativ bestimmten) Quodlibetarius und seine schriftlichen Unterlagen, insbesondere sein persönliches „Handbuch“, das er mit Hilfe eines seiner Bakkalare führte, wurden plastisch. Universitätsroutine und historischer kairÒw des Prager Universalienstreites gewannen zuvor ungeahnte Anschaulichkeit. In vergleichbarer Weise ließ Christoph Flüeler die Alltagsroutine eines Wiener Studienjahres (1439) am Beispiel der Lehrveranstaltungen zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles Gestalt gewinnen. Eine vierstündige Vorlesung über 30 Unterrichtswochen, dann eine ebenfalls viermal wöchentlich stattfindende (teils mehrstündige) Übung in Quaestionenform (anhand von als Vorgabe eingebrachten 120 Quaestionen des Pariser Magisters Johannes Buridan, der um 1360, also mehr als zwei Generationen zuvor bereits gestorben war) wurden vor allem aufgrund von nicht weniger als fünf Handschriften aus diesem einen Jahr, darunter zwei erhaltenen Mitschriften zu ein und derselben Veranstaltung, in ihrem Ablauf lebendig.15 Offen freilich blieb dabei die Frage des Charakters der parallel angebotenen Quaestiones breves, und insbesondere die Bedeutung der Notiz: reportate magistri Thome de Buldersdorf pro parte. War das der Niederschlag von Auftragsveranstaltungen, die ein Bakkalar für den Magister mit dessen Teildiktaten absolvierte, indem er sich dann eben teilweise auf schriftliche Vorlagen des Magisters stützen konnte oder mußte? Derartige Vorlagen freilich sind bisher nicht bekannt geworden. Auch das Phänomen, daß allein die Quaestionen der (privaten) exercitia verschriftlicht wurden, nicht aber die Vorlesungen, die ordinarie an derselben Universität gehalten worden sind, fand keine allseits befriedigende Erklärung, da darüber alle Quellen bisher schweigen. Theologen und Juristen faßten in kürzeren Traktaten ihre Auslegung
15 Drei Exemplare von Buridans Quaestionen-Kommentar zur Nikomachischen Ethik, die alle in Prag am selben Tag (21. Sept. 1382) beendet wurden, gehen offenbar ebenfalls auf eine gemeinsame Nach- oder Mitschrift zurück: Mss. Basel, Universitätsbibliothek F V 3; Leipzig, Universitätsbibliothek 1447; Melk, Stiftsbibliothek 542, darauf hat hingewiesen Michael [Lit.-Verz.], hier Bd. 2, S. 842f.
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einzelner besonderer Autoritäten zusammen: Resumptiones der Kanonisten, Traktate wie der Wiener juristische Kommentar zu Omnis utriusque sexus [= X 5.38.12], den Herr Stelzer nannte, oder jener Traktat (lectura heißt er ausdrücklich, d. h. Vorlesung!) des Konrad von Soltau aus Prag/Heidelberg zu Firmiter [X 1.1.1],16 den Frau Nechutová vorgestellt hat, sind dafür allgemein bekannte, aber weiterhin untersuchungswerte Beispiele. Man mag diese Texte als späte Wiederaufnahme traditioneller Unterrichtsformen oder als Abwandlungen der zeitgenössischen ausufernden Vorlesungspraxis, und in beiden Fällen damit als didaktische Experimente verstehen, welche die immer gigantischer geratenen Vorlesungen auf ein knapperes übersichtlicheres Maß zurückführen wollten und das durch entschlossene Reduktion des Grundtextes ihrer Kommentarbemühungen auch erreichten, originell nicht so sehr in ihren Gedanken, als vielmehr in ihren Vermittlungsanstrengungen und in ihrer didaktisch motivierten Bemühung um Übersichtlichkeit. Eine weitere Stufe der „Vermittlung“ universitären Wissens sowie der Verbreitung der in den Textcorpora der einzelnen Wissenschaften bereitliegenden universitären Traditionen wurde in jenen Texten erreicht, die über den internen Schulbetrieb der Hochschule hinaus aus der Universität auf eine breitere Öffentlichkeit zielten. Freilich sind die Grenzlinien zwischen den beiden Bereichen fließend, da allein schon der theologische Lehrbetrieb normalerweise drei klassische Formen kannte: lectio, quaestio und sermo. Die aus Universitätsmilieu überlieferten sermones können also auch ausschließlich gelehrte Aktivitäten, gezielt auf ein gelehrtes Publikum, schriftlich fixieren. Es kann sich um Texte handeln, bestimmt für die Studenten und die gelehrten Kollegen. Doch bereits wenn der Prediger bei den Festen der Universität und ihren offiziellen Akten die Kollegen oder den Fürsten, vielleicht auch einen feierlich empfangenen Gast ansprach, weitete sich dieser Kreis. Das Publikum eines Predigers konnte sich auch in einer Pfarrkirche versammeln, die Hofgesellschaft (oder doch wichtige ihrer Angehörigen) konnte vom Schloß in eine Ordenskirche eilen, ein Gastprediger konnte in einer fremden Stadt mehr oder weniger feierlich eine ihm mehr oder weniger bekannte Gemeinde finden. Frau Nechutová hat hier Konrads von Soltau Predigten gegen
16
Zu Konrad von Soltau zuletzt Drüll [Lit.-Verz.], S. 100f.
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Klerussünden erwähnt, Matthäus von Krakau wurde in Prag vom Erzbischof mehrmals darum gebeten, auf Diözesansynoden den Klerus schulgerecht zu ermahnen und zu „reformieren“. Konrad von Gelnhausen hat in San Domenico in Bologna, der zentralen Kirche des Dominikanerordens, der damaligen (und heutigen) Grablege des Ordensgründers, des Heiligen Dominikus selbst, zum Fest des Ordensgründers im Jahre 1383 eine Predigt gehalten. Dorothea Walz hat in zwei ursprünglich Heidelberger Handschriften (die heute im Vatikan liegen) Autographen des Wormser Dompropstes und Kanzlers der Heidelberger Universität Konrad von Gelnhausen identifiziert,17 die dieser als „Predigttagebuch“, wie sie es nannte, geführt hat. Neben neuen Auskünften zu den Lebensdaten des Autors gewährt uns diese Handschrift auch Einblicke in das farbige Leben dieses Mannes, zeigt ihn in Bologna und Eßlingen, in Paris, Heidelberg und Worms als Prediger tätig. Nicht endgültig zu klären war freilich auch hier die Frage nach dem eigentlichen Charakter der Notate: Sind sie als Konzepte oder als spätere Berichte aufzufassen oder handelt es sich um eine Mixtur beider Formen? Als genauer Zweck der Eintragungen ist durch die Referentin mit dem Stichwort „Itinerarprotokoll“ oder „Predigttagebuch“ ein plausibles Verständnisangebot präsentiert worden, das diese Alternative noch offen läßt, dessen Tragfähigkeit jedoch noch zu prüfen wäre. Ebenfalls auf einer fließenden Mitte zwischen inner- und außeruniversitärer Wirkungsrichtung stehen Texte universitärer Gelehrter, die sich einer „Modegattung“ bedienten, sich also gewissermaßen um die Deckung eines unmittelbar entstandenen Bedarfs bemüht haben. Matthias Nuding hat ein Beispiel im Zusammenhang an verschiedenen Traktaten vorgestellt, nämlich verschiedene Schriften, die sich einem Hauptproblem spätmittelalterlicher Wirtschaftsethik widmeten, wenn sie ausführlich auf Zinsnahme und Rentenkauf, Kapitalleihe und Termingeschäfte eingingen. Odd Langholm hat der mittelalterlichen ökonomischen Theorieentwicklung bereits mehrere monographische Untersuchungen gewidmet und die Herkunft der ökonomischen Theorie aus der Moraltheorie und Beichtstuhlpraxis der Theologen
17 Dazu ist in absehbarer Zeit zu erwarten: Walz, Konrad von Gelnhausen [Lit.Verz.]. Zu Konrad von Gelnhausen zuletzt Drüll [Lit.-Verz.], S. 91f.
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verständlich gemacht.18 Ihrer Gattung nach durchaus unterschiedliche Texte von Theologen aus Prag, Wien und Heidelberg wurden vergleichend vorgestellt, nach Absicht, Zusammenhang, nach Wirkung und Rezeption untersucht. Meist ‚De contractibus‘ überschrieben, können sie als eine eigene Gruppe von Traktaten angesehen werden, wobei insbesondere dem Traktat des Matthäus von Krakau eine Schlüsselstellung zuzuerkennen ist, von dem glaubhaft berichtet wird, es sei ihm ein (mündlicher) Austausch mit den Wiener Kollegen Heinrich Totting von Oyta und Heinrich von Langenstein vorangegangen, ohne daß nachweisbare wörtliche Übereinstimmungen mit deren Texten eine literarische Abhängigkeit über den gemeinsamen Fundus an Autoritäten hinaus sichtbar werden lassen. Wie bisher schon bekannt war, hat auch der Dominikanertheologe Johann Nider das Thema weithin wirksam behandelt. Nicht so genau bekannt war, daß dieser Traktat den älteren Text des Matthäus von Krakau häufig wörtlich und weit stärker ausgeschlachtet hat, als das bisher deutlich werden konnte (da die Editio princeps von Matthäus von Krakau erst im Jahre 2000 vorgelegt wurde),19 auch wenn Nider selbst seine Anleihen – freilich mittelalterlicher Zitationspraxis entsprechend etwas verschlüsselt – klar bekannt gibt. Der kleinere Text des Heidelberger Theologen Johannes Lagenator aus Dieburg bei Frankfurt am Main,20 der 1401 aus Paris nach Heidelberg gekommen war und also Matthäus von Krakau (+ 1410) noch kennengelernt haben könnte, will dagegen nichts anderes als eine Umwandlung des gängigen Stoffes in kleine
18 Odd Langholm, Wealth and Money in the Aristotelian Tradition, Oslo 1979; Odd, Economics [Lit.-Verz.]; ders. The Merchant in the Confessional, Trade and Price in the Pre-Reformation Penitential Handbooks, Leiden, Boston 2003 (Studies in Medieval and Renaissance Thought 93). 19 Matthäus von Krakau, De contractibus [Lit.-Verz.]. Die Studie von Matthias Nuding, Krakau – Prag – Heidelberg. Die Gelehrtenkarriere des Matthäus von Krakau im Großen Schisma (Phil. Diss. masch. Heidelberg 2004) ist derzeit gerade mitten im Verfahren. Sie wird voraussichtlich 2004/2005 veröffentlicht werden. 20 Johannes von Frankfurt: De contractibus/Manigerley Händel, Traktat über die Kaufverträge (vor 1423), hg. v. Angelika Häse und Kathrin Pfister in: Johannes von Frankfurt [Lit.-Verz.], S. 166–213 [seitenparallel lateinisch/deutsch].
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Münze für die Beichtstuhlpraxis in Heidelberg, was der Text selbst auch nicht verhehlt. Bezeichnend genug ist dieser theoretisch harmlose Traktat dann von einem quantitativ durchaus beachtlichen Erfolg begleitet worden (29 Handschriften sind erhalten, mindestens neun weitere sind zusätzlich bezeugt, aber verloren oder verschollen. Das ist eine wahrhaft stattliche Überlieferung!). Lateinisch verfaßt, hat der kleine Traktat noch im 15. Jahrhundert eine in einer Straßburger Handschrift (aus dem Jahre 1488) überlieferte deutsche Übersetzung in fränkischer Mundart erhalten. Johannes von Frankfurt hat übrigens in Heidelberg bei der Verfolgung von Hussiten als theologischer Fachmann und beauftragter Inquisitor des Wormser Bischofs gewirkt.21 Hier sind die teilweise desaströsen, nicht ausschließlich positiven Wirkungen der praktischen und katechetischen Interessen einer universitären Theologie deutlich zu greifen. Die Ketzerverfolgung wird aus theologischem Spezialwissen heraus gestützt: das ist eine ständige mittelalterliche Praxis. Dietrich Schmidtke hat dieser Seite der Praxis des Heidelberger Theologen eine eigene kurze deutschsprachige Beichtformel des Matthäus von Krakau gegenüber gestellt, die die katechetischen Intentionen des Prälaten auf ihrem eigentlichen Felde aufsucht. Dabei wurde auch klar, daß hiermit dem sein deutsches Publikum in deutscher Sprache auch durchaus theologisch korrekt bedienenden Theologen dann auch frühe deutsche Übersetzungen seines weitverbreiteten seelsorgerlichen Traktats über die Häufigkeit der Kommunion früh zum Ausgriff in die Welt über die Universitätsgrenzen (Heidelbergs) hinaus verholfen haben. Für Philologen und Historiker besonders faszinierend sind jene Bemühungen, lateinischen Universitätstexten von anderen Gelehrten durch eine Übersetzung in die Volkssprache eine weitere und zusätzliche Verbreitungschance zu geben. Damit ändern sich die Rezeptionsbedingungen der Texte radikal, weil gewissermaßen die zweisprachigen
21 Vgl. nur die Quellenpublikationen: Hermann Heimpel (Hg.), Zwei Wormser Inquisitionen aus den Jahren 1421 und 1422, Göttingen 1969 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philol.-Histor. Klasse III.73); ders. (Hg.), Drei Inquisitions-Verfahren [Lit.-Verz.]; Dazu vgl. jetzt auch Heimpel, Die Vener [Lit.-Verz.], S. 396–406.
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Prozesse im Bewußtsein des Autors, der (wie Konrad von Gelnhausen) seine eigene volkssprachliche Predigt lateinisch notieren mochte, nun gewissermaßen zu einem Zweipersonenstück gemacht werden, das dann auch bildungsfernen und dem Autor ganz unbekannten Laien einen Zugang zu den Wahrheiten der Universität öffnen konnte. Die Forderung nach Kirchenreform war so etwa in der Schismazeit in Predigttexten immer wieder erhoben worden. Solche „katechetische“ Vermittlung ist auf dem Kolloquium an deutschen und tschechischen Beispielen von Germanisten und Bohemisten verfolgt worden. Aus Wien ist diese Art von Textvermittlung auf dem Kolloquium zur Sprache gekommen: Der von der Altgermanistik in der Regel sogenannte „Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor“ war ein extrem fleißiger und gewaltig produktiver Übersetzer. Mehr als 1000 ManuskriptSeiten mit von ihm redigierten Übersetzungen sind überliefert. Dieser Mann hat anscheinend aus eigenem Antrieb und wohl nicht aufgrund eines ausdrücklichen Magisterauftrags seine Texte erarbeitet, denn nirgendwo beruft er sich auf solchen Anlaß. Es ist bisher freilich nicht gelungen, dem mit seinem Kunstnamen nur teilweise identifizierten Anonymus mit einer konkreten Gestalt, ob an der Universität oder außerhalb ihrer, zu verknüpfen. Ob Ulrich von Pottenstein mit diesem Anonymus identifiziert werden darf, bleibt vor allem aus chronologischen Gründen weiterhin höchst unwahrscheinlich, wenn der ganze Vorschlag nicht gänzlich unmöglich ist. Die Komplexitätsreduktion, die diese These zu eröffnen scheint, warnt ebenfalls vor einer Zustimmung. In der Diskussion wurde zusätzlich auf quantitative Probleme hingewiesen, und es fanden sich auch weitere Argumente gegen diese Identifizierung. Daher wird man wohl weiterhin den Anonymus in seinem Versteck lassen müssen, wird freilich deshalb sein Oeuvre nicht übergehen dürfen, wenn man sich um die volkssprachliche Vermittlung universitärer Diskussionen an die unmittelbare Umgebung der Hochschule bemüht. Am zweiten Tag des Colloquiums standen weiterhin Überlegungen zu volkssprachlichen Texten im Zentrum der Überlegungen. Es sei dem Nichtphilologen und Historiker gestattet, nur relativ kurz darauf einzugehen, ohne die einzelnen Beiträge voll würdigen zu wollen. Ein Problem, auf das auch Universitätslehrer der drei von uns behandelten Hochschulen stoßen mußten, wurde von Alfred Thomas ins Auge gefaßt. Sein Vortrag zu einem satirischen tschechischen
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Gedicht, das „die Wyclifsche“ verspottet, zeigt in seiner von der gegenwärtigen Gender-Forschung der Vereinigten Staaten geschärften Sicht auf den Text, daß der Versuch einer genaueren Fixierung des weiblichen Publikums wyclifscher Religiosität in Böhmen anhand solcher Texte schwierig bleibt, wenn er nicht dauerhaft unmöglich ist. Die Ambiguität des Frauenbildes dieser Literaturgattung hat der Vortrag scharf herausgestellt. Ich halte es zwar grundsätzlich nicht für richtig, einen „orthodoxen“ und einen „ketzerischen Diskurs“ von einander von vornherein zu unterscheiden, denn Ketzer sind Ketzer ausschließlich in den Augen derjenigen, die sich selbst als rechtgläubig verstehen. Niemand nennt sich selbst einen Ketzer (es sei denn auf der Folter)! Aber die in dem Referat vorgestellte Satire ist auch abseits einer etwas gepreßten Interpretation eine amüsante Dichtung, die Interesse verdient, weil sie gewissermaßen universitäre Wirkungen indirekt „im Volkston“ widerspiegelt. Der Widerruf, den der Dominikanertheologe Peter von Uni ov am 13. März 1417 vor der versammelten Universität Prags (in collegio magno) und in Anwesenheit auch der Bürgermeister sowie des Rates der Altstadt, in Gegenwart von Vertretern des königlichen Hofes und eines (offenbar weit gefaßten und nicht näher bestimmbaren) vulgus, also auch vor einem Publikum aus den kleinen Leuten der Stadt, leisten mußte, wurde von Václav Bók und Freimut Löser gemeinsam vorgestellt. Eine – ungewöhnlicherweise dreisprachige – Aufzeichnung hält fest, wie der Theologe der Prager Universität einen öffentlichen Widerruf leistet, und zwar, wie wahrscheinlich gemacht wurde, nach einer Folterung und unter Todesdrohung. Hier handelten die kirchlichen Autoritäten also ganz, wie es im späteren Mittelalter in Verfahren gegen Ketzer üblich geworden war. Daß hier nicht die später in Europa als amtskirchliche Autorität sich durchsetzende „orthodox“ katholische Kirche, sondern die Hussiten handelten, ändert an dieser Aussage nichts, zumal für die Prager offenbar noch nicht endgültig ausgemacht war, daß die Hussiten von Konzil und Kurie im Ketzerabseits belassen bleiben würden: Jan Hus war zwar am 6. Juli 1415 in Konstanz verurteilt und am selben Tage auch verbrannt worden und ein knappes Jahr später, am 30. Mai 1416, war auch Hieronymus von Prag in der Konzilsstadt den Feuertod gestorben, man verfuhr in Prag aber offenbar ganz nach dem auch sonst in Europa üblichen Schema der Behandlung „gelehrter Ketzereien“, nun freilich gegen aus heutiger Sicht wohl eher als „orthodox“ eingestufte Meinungen.
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Die „Mäßigung“, die normalerweise die Verfolgung „gelehrter Häresie“ zeigt, ist hier nicht zu beobachten, auch wenn die Prager Position sich von den Festlegungen des Konstanzer Konzils bis zum diametralen Gegenteil entfernt hat.22 Peter von Uni ov mußte antiwyclifitische Positionen widerrufen, die er zuvor offen und öffentlich vertreten hatte. Damit beugte er sich schließlich dem Druck der Utraquisten, wie gesagt, fast zwei Jahre nach der Verbrennung Hussens und ein Jahr nach dem Tod des Hieronymus von Prag. Dieser erstaunliche Vorgang macht eine eigentümliche Rückwirkung der Umwelt auf das Meinungsklima in und an der Universität sichtbar, und zeigt darüber hinaus auch, wie Lehrpositionen an der Universität in einer deutlichen Abhängigkeit von diesem Klima der Umgebung standen, zumindest in Prag nach Hussens Tod. Allein die Tatsache, daß der Text, der uns allein Zeugnis von dem Vorgang gibt, in lateinischer, deutscher und zusätzlich auch in tschechischer Sprache überliefert ist, genauer in einer lateinisch-deutsch-tschechischen Drillingsfassung, beweist das Interesse an dem Geschehen jenseits der engen Grenzen des Universitätsbereichs. Denn offenbar wollte die Aufzeichnung dazu helfen, den Vorgang auch den des Lateinischen nicht kundigen Personen bekannt zu machen. Durch diesen durch Folter erzwungenen demonstrativen Akt des öffentlichen Widerrufs sollte offenbar die Öffentlichkeit der Stadt auf die utraquistische Position der Universitätsmehrheit hin gelenkt und verpflichtet werden, die die Universitätsorgane Prags definitiv erst drei Tage zuvor feierlich eingenommen hatten. Es steht also zu vermuten, daß die Universität hier in einer besonders ausgeprägten und demonstrativen Weise alle Mittel, die ihr herkömmlich zur Verfügung standen, dazu einsetzte, ihre eigene (mehrheitliche) Positionsnahme in ihre Umwelt zu vermitteln und durch die ausnahmslose Verpflichtung ihrer Angehörigen diese ebenfalls zu einer gleichen Haltung zu ani-
22 Zur „gelehrten Häresie“ vgl. etwa Jürgen Miethke, Gelehrte Ketzerei und kirchliche Disziplinierung. Die Verfahren gegen theologische Irrlehren im Zeitalter der scholastischen Wissenschaft, in: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, II. Teil: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters, 1996 bis 1997, hg. v. Hartmut Boockmann (†), Ludger Grenzmann, Bernd Moeller, Martin Staehelin, Göttingen 2001 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse III. Folge, Bd. 239), S. 9–45 [jetzt in: Miethke, Studieren an mittelalterlichen Universitäten, Chancen und Risiken, Gesammelte Aufsätze, Leiden, Boston 2004 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 19), S. 361–405].
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mieren, ein gewiß extremes, aber vielleicht doch auch anderwärts zu beobachtendes Verfahren, das aller Aufmerksamkeit wert scheint. Auch sonst wurde freilich immer wieder deutlich, daß nicht ausschließlich die Stadt- und die Laiengemeinde des universitären Predigers das von uns gesuchte Publikum bzw. die Zielgruppe einer angestrebten universitären Außenwirkung gewesen sind, sondern daß für alle Universitätslehrer wie für Rektor und Dekane immer wieder auch der jeweilige Fürst, seine Familie und der Hof des Landesherren ein wichtiges Ziel des Wirkungswillens bleiben mußte. Das Amtsbuch des Rektors der Heidelberger Universität läßt daran keinen Zweifel.23 Die Texte der Kanzler des Habsburger Hofs in Wien, auf die Herr Stelzer hingewiesen hat, und ebenso die Beziehungen der Prager Universitätslehrer zum Hof des Luxemburger Königs Wenzel IV., auf die mehrfach Franti ek mahel zurückkam, liefern immerhin ausreichende Belege für diese Stoßrichtung und Aufmerksamkeit der Mitglieder aller drei von uns behandelten Universitäten, die sich auf den jeweils nahen Hof richtete. Wolfgang Eric Wagner hat sich davon inspirieren lassen, umgekehrt schon gleich zu Beginn des Kolloquiums das komplexe Verhältnis von verschiedenen Mitgliedern einer Fürstenfamilie – von jeweils recht unterschiedlichem Bildungsniveau im einzelnen – zu „ihrer“ Universität und deren Gelehrten näher zu beleuchten. Ich persönlich halte freilich, das sei angemerkt, die Selbstaussage Ruprechts I., er sei ein einfacher Ritter (miles) und müsse in der Schismafrage erst seine Gelehrten befragen, für vorwiegend diplomatisch bedingt (wie das Herr Wagner ja auch in Erwägung gezogen hat). Damit ist diese Nachricht wenig aussagekräftig, wenn es darum geht, den eigenen „Bildungsgrad“ des Kurfürsten zu ermessen, auch wenn dieser Bildungsgrad gewiß nur ein Laienbildungsgrad sein konnte und gewesen ist. Sicherlich konnte und kann man den Fürsten im strikten Sinn „illiterat“ nennen, doch sollte man seine Bildung und sein Bildungsinteresse damit auch nicht unterschätzen: Intelligente, potente und entscheidungsfähige Analphabeten, das waren
23 Vgl. die zahlreichen Einträge, die sich auf den Pfalzgrafen und seinen Hof beziehen – sie lassen sich über die Register auffinden – in: Acta universitatis Heidelbergensis, Tomus I (simul Acta facultatis iuridicae, tomus I), (1386–1410), curantibus Heiner Lutzmann, Hermann Weisert, adlaborantibus Andreas Dafferner, Susanne Degenring, Norbert Martin, Matthias Nuding, Thomas Pleier, Ludwig Schuba, Tomus II (1421–1451), curante Heiner Lutzmann, adlaborante Andreas Dafferner, Heidelberg 1986/1990/1999 bzw. 2001/2003 (Libri actorum Universitatis Heidelbergensis/Die Amtsbücher der Universität Heidelberg A I. 1–3 und II. 1–2).
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die Laien des Mittelalters bis weit ins Spätmittelalter hinein, das war auch Ruprecht I. ohne jeden Zweifel. Christoph Roth hat ausführlicher die Predigtsammlungen in Heidelberg auf das Fürstenhaus bezogen. Konrads von Gelnhausen Wappenpredigt, die Frau Walz vorgestellt hatte, wurde in der Diskussion plausibel auf die Hofgesellschaft bezogen, obwohl das Autograph die „Uraufführung“ dieses Textes ad Minores (also in der Franziskanerkirche Heidelbergs) lokalisiert hat. Die Pläne des Hofgesindes, nach dem Tode Konrads von Gelnhausen eine Prädikatur zu stiften, die erst später vom Kurfürsten aus eigenem Engagement zum Ziel geführt werden sollten, hat Wolfgang Eric Wagner in der Diskussion zusätzlich als Argument eingebracht. Die Frage, wie der Hof als Interessentenkreis die Textproduktion einer Universität animierte, ist freilich bei der Analyse von Schriften und Texten durch das Problem belastet, wie man eine Widmung von Schriften an hochgestellte Gönner jeweils im einzelnen zu bewerten hat. Hier ist dem fast allgemein üblichen Überschwang, der in einer Widmung bereits ein inniges Verhältnis von Schriftinhalt und Widmungsadressaten voraussetzt, doch der nüchterne Hinweis entgegenzuhalten, daß eine Widmung zunächst doch nichts anderes besagt, als daß der Verfasser eines wie immer gearteten Textes, den er mit einer Widmung an hochmögende mögliche Gönner übersendet, sich für seine (vielleicht zuvor durch Anfrage ausdrücklich gestattete) Widmung einen entsprechenden Dank des Geehrten erwartet hat und wohl dem allgemeinen Brauch entsprechend auch erwarten durfte. Solche Förderung aber konnte durchaus nicht nur verschieden motiviert sein, sie fiel auch im Ergebnis höchst unterschiedlich aus. Aus purer Begeisterung für das Widmungswerk braucht sie jedenfalls nicht zu rühren. Das sei hier aber nicht weiter verfolgt, auch wenn es zu weiteren unterschiedlichen Explorationen Anregung geben könnte. Was kam – aus der Sicht des Historikers gefragt – auf unserem Kolloquium zu kurz oder gar nicht vor? Ich würde sagen: die zeitgeschichtliche Situation der Autoren und ihr Versuch, sich damit in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen. Gewiß ist das Verhältnis theoretischer Texte, auch solcher katechetischer Paränese, zur erlebten und erlittenen Geschichte der Zeitgenossen stets prekär, aber wir haben zwar erwogen, auch mehrfach erwähnt, daß wir uns an allen unseren drei Universitäten mitten in der Zeit des sogenannten Großen Abendländischen Schismas bewegten. Namen wie Heinrich von Langenstein oder Konrad von Gelnhausen sind ja nicht ohne Seiten-
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blick auf ihren „Konziliarismus“ (wenn dieses unklare Wort erlaubt ist) vorstellbar. Ebenso sind der Reformbedarf und sein Ausdruck in Predigt und Katechese immer wieder zur Sprache gekommen. Daß eine ganze Gruppe von Universitätsschriften, angefangen von den sogenannten Heidelberger Postillen, die in Heidelberg unter der Federführung des Konrad von Soltau im Interesse der Position König Ruprechts von der Pfalz niedergeschrieben und dann durch Deutschland verbreitet worden sind,24 bis hin zu den Gutachten, die die Basler Konzilsväter aus den verschiedenen Universitäten für ihre Landesherren verfaßt haben,25 einen erheblichen Teil der Zeit der Magister und Doktoren in Anspruch genommen haben müssen, daß die Absetzung König Wenzels in Heidelberg und Köln ebenso vorbereitet wurde26 wie die Wahl Ruprechts von der Pfalz, und zwar in juristisch mit fundierten Allegationen gespickten und theologisch geprüften Schriftsätzen,27 das wurde hier nirgendwo deutlicher bewußt. Gewiß hätte uns das gezwungen, eine andere Textsorte, ein wirkliches êllon g°now intensiver zu betrachten. Universitätsschrifttum, das über die Universität hinaus zu wirken bestrebt war, ist jedoch all 24 Dazu vgl. nur Klaus Wriedt, Der Heidelberger Hof und die Pisaner Kardinäle. Zwei Formen des Konzilsgedankens, in: Aus Reichsgeschichte und nordischer Geschichte, Festgabe für Karl Jordan, Stuttgart 1972 (Kieler Historische Studien 16), 272–288; vor allem aber Heimpel, Die Vener [Lit.-Verz.]. 25 Eine zusammenfassende Behandlung dieser Schriften und ihrer internen Diskussion fehlt m. W., vgl. aber zur Vorgeschichte während der Schismazeit Robert N. Swanson, Universities, Academics and the Great Schism, Cambridge, London [u.a.] 1979 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought III. 12); sowie – chronologisch etwas weiter reichend, dafür aber auf Deutschland beschränkt – Klaus Wriedt, Die deutschen Universitäten in den Auseinandersetzungen des Schismas und der Reformkonzile (1378–1449). Kirchenpolitische Ziele und korporative Interessen, Teil I: Vom Ausbruch des Schismas bis zu den Anfängen des Konzils von Basel (1378–1432), Habil.-Schrift (masch.) Kiel 1972. Ansonsten muß man in das mare magnum der Literatur zum Basler Konzil eintauchen, für das einen brillanten Führer zur Verfügung gestellt hat Johannes Helmrath, Das Basler Konzil, 1431–1449, Forschungsstand und Probleme, Köln, Wien 1987 (Kölner Historische Abhandlungen 32) [zu den Universitätsgutachten sehr knapp hier 143f.]. 26 Helmut G. Walther, Der gelehrte Jurist als politischer Ratgeber: Die Kölner Universität und die Absetzung König Wenzels 1400, in: Die Kölner Universität im Mittelalter, hg. v. Albert Zimmermann, Berlin [u.a.] 1989 (Miscellanea mediaevalia 20) S. 467–487. 27 Wiederum Heimpel, Vener [Lit.-Verz.]. Vgl. auch Helmut G. Walther, Das Problem des untauglichen Herrschers in der Theorie und Praxis des europäischen Spätmittelalters, Zeitschrift für historische Forschung 23 (1996), S. 1–28. 28 Dazu jetzt allgemeiner der Sammelband: Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Political Thought in the Age of Scholasticism, Essays in Honour of Jürgen Miethke, hrsg. von Martin Kaufhold, Leiden, Boston 2004 (Studies in Medieval and Reformation Thought).
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das auch gewesen.28 Ich habe diese Gutachten hier nur aufrufen können, konnte und wollte sie freilich nicht im Detail vorstellen. Ebensowenig wurde hier näher eingegangen auf Häresieverfolgung, auf den Konstanzer Hus-Prozeß,29 die Hussitenfurcht in Heidelberg30 und die Einstellung zu Ketzern in Wien.31 Dabei war Johannes von Frankfurt als offiziell beauftragter Inquisitor seines Bischofs tätig und hat an der Verbrennung von Ketzern mitgewirkt. Wiener Theologen haben in der Polemik gegen die Juden und ihrer brutalen Verfolgung ohne jeden Zweifel eine wichtige Aufgabe gesehen und sich an der Verfolgung und Auflösung der Judengemeinde Wiens (1421/22) beteiligt. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele pastoraler Toleranz und großzügigen Verständnisses, wie es etwa in Heidelberg der Theologe Matthäus von Krakau gegenüber dem vom Mainzer Inquisitor verfolgten preußischen Wanderprediger Johann Malkaw aufbrachte.32 Aber das ändert nichts an dem auffälligen Befund: Pastorale Intentionen, auch Seelsorge als bereitwillig übernommene Aufgabe konnten sich also durchaus in eine Richtung auswirken, die uns heute weniger einsichtig ist, wenn sie sich mit dem Bewußtsein des Universitätsintellektuellen verband, die Wahrheit, wenn nicht gepachtet zu haben, so doch zumindest richtig erkennen, ableiten und verbindlich feststellen und den Laien auferlegen zu können. Die These von 29 Aus der reichen Literatur sei hier nur auf die folgenden neueren Studien hingewiesen: Franti ek Graus, Der Ketzerprozeß gegen Magister Johannes Hus (1415), in: Macht und Recht, Große Prozesse in der Geschichte, hg. v. Alexander Demandt, Müchen 1991 [31993] S. 103–118, 299f.; Ferdinand Seibt, Nicht überführt und nicht geständig. Der Hus-Prozeß in Konstanz (1415), in: Große Prozesse. Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, hgg. Uwe Schutz, München 1996, S. 89–102; Walter Brandmüller, Hus vor dem Konzil, in: Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen, hg. v. Ferdinand Seibt unter Mitw. von Zdenek Dittrich, Karl Josef Hahn, Franti ek J. Hole ek, Norbert Kotowski, Zden k Ku era, Jan Lá ek, Willem Rood (†), München 1997 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 85), S. 235–242; vgl. ebenda auch Jerzy Misiurek, Zur „Rechtssache Hus“, in: Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen; oder Jürgen Miethke, Die Prozesse in Konstanz gegen Jan Hus und Hieronymus von Prag, ein Konflikt unter Reformern?, in: Vorzeitige Reformation und Häresie, hg. v. Franti ek mahel, München 1998 (Schriften des Historischen Kollegs/Kolloquien 39), S. 147–167; Tilmann Schmidt, König Sigmund und Johannes Hus, in: Das Zeitalter König Sigmunds in Ungarn und im Deutschen Reich, hg. v. Tilmann Schmidt und Péter Gunst, Debrecen 2000, S. 145–159. 30 Besonders dazu Heimpel, Drei Inquisitions-Verfahren [Lit.-Verz.]. 31 Dazu vgl. Karl Ubl, Die österreichischen Ketzer aus der Sicht zeitgenössischer Theologen, in: Handschriften, Historiographie und Recht. Winfried Stelzer zum 60. Geburtstag, hg. v. Gustav Pfeifer, Wien, München 2002 (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 42), S. 190–224. 32 Dazu etwa Ritter [Lit.-Verz.], S. 271f.
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Michael Shank,33 die Frau Walsh „dahingestellt sein lassen“ wollte und die andere vorsichtig übernahmen, nach welcher die große Judengemeinde Wiens bestimmte angebbare Wirkungen auf die Theorieentwicklung der Wiener Theologie gehabt habe, was dann schließlich zu jener Vernichtungspolitik beigetragen habe, die in der Judenvertreibung der zwanziger Jahre des 15. Jahrhunderts in Wien gipfelte, ist nach meiner Überzeugung in dieser krassen Form nicht haltbar, denn auch in Köln, Heidelberg und Erfurt gab es um die Wende zum 15. Jahrhundert Judenverfolgungen und Judenvertreibungen, ganz unabhängig von der Größe und Struktur der jeweiligen Judengemeinde und unabhängig von den theologischen Schulströmungen an der jeweiligen Universität. Judenvertreibungen sind darüber hinaus damals auch in Städten vorgekommen, die keine oder noch keine Universität in ihren Mauern hatten, man denke nur an Speyer (1405/ 1435), Trier (1418), Mainz (1420), Freiburg (1424), um nur Städte an der Rheinschiene zu benennen. Auch hier, so ließe sich sagen, verhielten sich die Universitätsleute gemäß einer Zeitströmung, reagierten nicht auf ein lokales Skandalon. Doch genug mit dem Versuch einer „Fehlanzeige“, die künftigen Symposia Vorgaben liefern könnte: Was bleibt, was bleibt offen, wenn wir aus Heidelberg abreisen, wenn das Buch durchgelesen und abgearbeitet ist? Wir mußten einsehen, daß sich wohl in Einzelfällen neue Fenster in die Verschriftlichungspraxis der Universitäten im Falle unserer Beispiele Prag-Wien-Heidelberg überraschend öffneten und ganz neue Einsichten erschlossen. Es bleiben aber selbst in diesen hier behandelten Fällen noch viele Fragen offen, die sich nicht abschließend positivistisch klären ließen und wohl auch in Zukunft nur in Ausnahmefällen klären lassen. Die Texte, aus der Spannung mündlichen Vortrags mit schriftlich fixierten Autoritäten34 im Blick auf unterschiedliche Leserschaften verschriftlicht, in routinemäßigem Verfahren produziert, in unterschiedlichen Situationen in die Volkssprachen übersetzt und damit über die Schwelle der sozialen und
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Shank [Lit.-Verz.]. Vgl. nur Jürgen Miethke, Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort, Historische Zeitschrift 251 (1990), S. 1–44 [abgedrückt in: Miethke, Studieren an mittelalterlichen Universitäten (wie Anm. 25), S. 453–91]; jetzt auch Daniel Hobbins, The Schoolman as Public Intellectual: Jean Gerson and the Late Medieval Tract, The American Historical Review 108 (2003), S. 1308–1337. 34
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sprachlichen Universitätsgrenzen gehoben, entziehen sich einem generellen, überall gültigen Schematismus, so wie sich auch die einzelnen Berichte des Kolloquiums nicht über einen Kamm scheren ließen und lassen. Wir haben hier den weit verbreiteten Schematismus der „Einbahnstraßen“ zwischen den „geschlossenen Öffentlichkeiten“ der einzelnen Universitäten Prag, Wien und Heidelberg in Zweifel gezogen und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß jeder, der diese Metapher gebrauchen will, die Beweislast für ihre Anwendbarkeit zu tragen hat. Das alles aber macht das Feld weit, die Farben bunt, die Arbeit verheißungsvoll, die vor uns liegt und die aus den Erfahrungen unseres Treffens manche Anregung erhalten kann.
ABGEKÜRZT ZITIERTE LITERATUR
Die in diesem Verzeichnis aufgeführten Titel erscheinen in den einzelnen Beiträgen mit dem Hinweis [Lit.-Verz.].
1. Ausgaben Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis 1385–1416, nach der Originalhandschrift hg. v. Paul Uiblein, Graz, Wien, Köln 1968 (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung VI, 2). Denifle, Henricus, u. Aemilius Chatelain (Hgg.), Liber procuratorum Nationis Anglicanae (Alemanniae) in Universitate Parisiensi, Paris: Bd. 1, Ab anno 1333 usque ad annum 1406, 1894; Bd. 2, Ab anno 1406 usque ad annum 1466, 1897; Bd. 3, Ab anno 1466 ad annum 1492, 1935. Editio nova 1937 (Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis 1–3). Heimpel, Hermann (Hg.), Drei Inquisitions-Verfahren aus dem Jahre 1425. Akten der Prozesse gegen die deutschen Hussiten Johannes Drändorf und Peter Thurnau sowie gegen Drändorfs Diener Martin Borchard, Göttingen 1969 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 24). Johannes von Frankfurt, Zwölf Werke des Heidelberger Theologen und Inquisitors, hg. v. Dorothea Walz, Heidelberg 2000 (Editiones Heidelbergenses 29). Matthäus von Krakau, De contractibus. Erstausgabe, hg. v. Matthias Nuding, Heidelberg 2000 (Editiones Heidelbergenses 28).
2. Repertorien und Lexika Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hrsg. v. Kurt Ruh, Burghart Wachinger [u.a.], Berlin, New York: Bd. 1–10, 1978–1999; Bd. 11: Nachträge, Lfrg. 1–4: Abbas de Dobrana – Prunner, Erhard, 2000–2004. Drüll, Dagmar, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651, Berlin [u.a.] 2002. Se ko, W adys aw, u. Adam Ludwig Szafra ski, Mateusza z Krakowa, Opuscula theologica, Warschau 1974. Spunar, Pavel, Repertorium auctorum Bohemorum provectum idearum post Universitatem Pragensem conditam illustrans. Tom. I–II, Warschau [u.a.] 1985–1995 (Studia Copernicana 25–35). T®í ka, Josef, ivotopisn slovník p®edhusitské pra ské university (Repertorium biographicum Universitatis Pragensis praehussiticae) 1348–1409, Prag 1981.
3. Sekundärliteratur Aschbach, Joseph, Geschichte der Wiener Universität im ersten Jahrhunderte ihres Bestehens, Wien 1865. Aschbach, Winfried, Die Literatur des Mittelalters in Böhmen, München, Wien 1978.
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abgekürzt zitierte literatur
Backes, Martina, Das literarische Leben am kurpfälzischen Hof zu Heidelberg im 15. Jahrhundert, Tübingen 1992 (Hermaea N.F. 68). Baumann, Winfried, Die Literatur des Mittelalters in Böhmen. Deutsch-lateinischtschechische Literatur vom 10. bis zum 15. Jahrhundert, München 1978 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 37). Bulst-Thiele, Marie Luise, Johannes von Frankfurt († 1440). Professor der Theologie an der Universität Heidelberg, Rat des Pfalzgrafen und Kurfürsten Ludwigs III., in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, hg. v. Wilhelm Doerr [u.a.], Berlin [u.a.] 1985, Bd. 1, S. 136–161. Franz, Adolph, Der Magister Nikolaus Magni de Jawor. Ein Beitrag zur Literaturund Gelehrtengeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1898. Gerwing, Manfred, Theologie im Mittelalter. Personen und Stationen theologischspiritueller Suchbewegungen im mittelalterlichen Deutschland. Für Ludwig Hödl zum 75. Geburtstag, Paderborn [u.a.] 2000. Heimpel, Hermann, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447, Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel, 3 Bde., Göttingen 1982 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 52/I–III). Kadlec Jaroslav, ÛReholní generalní studia p®i Karlov Universit v dob p®edhusitské, Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 7.2 (1966), S. 63–108. Lang, Albert, Heinrich Totting von Oyta. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Universitäten und zur Problemgeschichte der Spätscholastik, Münster i. W. 1937 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters Bd. 37, Heft 4/5). Langholm, Odd, Economics in the Medieval Schools. Wealth, Exchange, Value, Money and Usury according to the Paris Theological Tradition 1200–1350, Leiden [u.a.] 1992 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 29). Lhotsky, Alphons, Die Wiener Artistenfakultät 1365–1497, Wien 1965 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte Bd. 247, Abh. 2). Michael, Bernd, Johannes Buridan: Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters, Bd. 1–2, Berlin 1985 (Dissertationsdruck). Rashdall, Hastings, The Universities of Europe in the Middle Ages, Oxford 11895, 2nd edition, by Frederick Maurice Powicke and Alfred Brotherstone Emden, 3 vols., Oxford 1936 (u.ö.). Ritter, Gerhard, Die Heidelberger Universität. Ein Stück deutscher Geschichte, Bd. I: Das Mittelalter (1386–1508), Heidelberg 1936; Neudruck 1986. Rüegg, Walter (Ed.), A History of the University in Europe, vol. I: Universities in the Middle Ages, ed. Hilde de Ridder-Symoens, Cambridge, New York [u.a.] 1992; dtsch.: ders. (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. I: Mittelalter, München 1993. Shank, Michael H., „Unless you believe you shall not understand“. Logic, University and Society in Late Medieval Vienna, Princeton UP 1988. Walz, Dorothea, Konrad von Gelnhausen, Dompropst von Worms und erster Kanzler der Universität Heidelberg (ca. 1320–1390), Phil. Habil.-Schrift (masch.), Heidelberg 1995.
REGISTER DER PERSONENNAMEN
Aufgenommen wurden die Namen historischer Personen und neuzeitlicher Forscher, soweit sie in den Abhandlungstexten genannt sind. Fußnoten wurden nicht berücksichtigt. Namen aus Anhängen sind erfaßt, soweit es sich nicht um bloße Literaturhinweise handelt. Die Namen mittelalterlicher Personen bis um 1500 wurden in der Regel einheitlich unter dem Vornamen erfaßt. In Ausnahmefällen erfolgt unter dem Vornamen ein entsprechender Verweis. Adalbert Ranconis ix Adolf von Nassau, Erzbischof von Mainz 173 Aegidius von Lessines 42 Aeneas Silvius Piccolomini s. Pius II. Alanus ab Insulis (Alain von Lille) 102 Al(h)ardus de Gelria (Alardus) 135 Albert von Sachsen 131 Albertus Magnus xxvii, 93, 96f., 112, 121, 222 Albrecht Dürer s. Dürer, Albrecht – V., Herzog von Österreich, röm.-dt. König (A. II.) 174–177 Alexander de Villa Dei 169 Allaci, Leone 185 Andreas von Brod ix, 73, 83, 236 – de Gräcz 109 – de Langenstein de Hassia 135 – de Perchtolsdorf 108 – de Pottenbrun 137, 138 – von Regensburg 250 – (von) Schärding 121, 129, 131, 138 – Wall von Walsheim 118, 120–121, 128, 137 – de Weitra 136 Angelo Poliziano 93 Anna von Böhmen, Königin von England 260 – von Schweidnitz und Jauer, dt. u. böhm. Königin 155 Aristoteles 6, 33, 36, 42, 51, 56, 57, 92–138, 282 Aschbach, Joseph x Augustinus, hl. 18, 226, 228 – von Weilheim 113, 117, 118, 119, 120, 125 Augustus, Gaius Octavius, röm. Kaiser 158
Backes, Martina xxv, xxvii, 199 Barnabas de Tissavassan 136 Bartholomäus von Jaslo 45, 49 Bartsch, Karl 198 Baumann, Winfried xxi, xxiii Beatrix von Berg 38 Beifuss, Helmut 183–188 Benesch Krabice von Weitmühl 151, 170 Bernhard baptizatus 209 Bernhard von Clairvaux xxviii, 207, 215, 216, 218, 219, 222, 226, 228 Bero de Ludosia 108, 138 Berthold von Regensburg 199, 201, 205, 223 Bertholdus Deichsler 136 Blanca (Margarethe) von Valois, dt. und böhm. Königin 160 Blasius Posteriorum 108 – Vlk 77, 78 Boethius 102, 112 Bok, Václav 186, 187, 292 Boková, Hildegard 186, 187 Bonaventura, hl. 14, 186, 194 Brandt, Hans-Jürgen 3 Brant, Sebastian 141, 142, 147, 177 Brigitta von Schweden xxi Burger, Christoph 193 Burghard, Propst von Wischegrad 155 Burkhardt, Jakob 277 Burns, Jane E. 266 Cato der Ältere 157, 159 Châtelain, Émile Louis Marie (Aemilius) 30 Christian von Hürben 108, 137 Císa®ová-Kolá®ová, Anna 253, 254 Clemens VI., Papst 151 – VII., Papst 27, 28, 173
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register der personennamen
Colomannus de Nova Villa (von Neudorf ) 133, 135 C(h)unradus s. Konrad Copeland, Rita 262 Courtenay, William J. 280 Christian von Traunstein 136 Culley, David E. 30 Cyprianus, hl. 18 Denifle, Heinrich (Henricus) 30 Dietrich von Apolda xxvii, 204 Dionysius Areopagita 222, 226 Dominikus, hl. 39, 288 Dorothea von Montau xxii Drüll, Dagmar 30 Duns Scotus 59 Dürer, Albrecht 141, 177 Eckhart (Meister E.) 192 Egidius Sprenger 138 Elisabeth von Hessen, Pfalzgräfin (Gemahlin → Ludwigs VI.) 185 – von Hohenzollern, Gemahlin Ruprechts III. 199, 204 – von Namur, Pfalzgräfin, Gemahlin Ruprechts I. xxvii, 37, 199 – von Sachsen, Pfalzgräfin (Gemahlin → Johann Casimirs) 185 Elliott, Dyan 263, 264 Emden, Alfred Brotherstone 276 Enea Silvio Piccolomini s. Pius II. Erhard von Gersten 136 Erhardus de Newnburga 136 Ermolaus 187 Ernestus Putrich 137 Euklid 106 Eustratius 97 Flüeler, Christoph 286 Franke, Franz xix Franz von Prag 151 – von Retz xi Franz, Adolph xviii Friedrich I., der Siegreiche, Pfalzgraf bei Rhein 155, 156, 176, 185 – III., Kaiser, röm.-dt. König 164, 165, 176, 177 – von Drosendorf xiii – Wagner von Nürnberg xiii, xiv, xxvi
Gabriel, Astrik L. 64 Gauthier, René Antoine 92, 94, 95, 103 Georg (Geor[g]ius) – Apphentaler 133 – de Giengen 138 – de Herczogenburga 108 – de Pabenberga 108 – de Rotenburg 109 – Tüdel 108 – von Wels (de Walse) 108 – Wetzel von Horb 67 – Zynkk von Braunau 133 Gerhard (Gerardus) – Brant 209 – Groote 7 – von Hus(s)en 135 – Odonis 93, 97, 121 Gerhardt Kijkpot von Kalkar xiii, 25 Gerlach von Nassau, Mainzer Erzbischof 23 Gerwing, Manfred xv–xviii, 7 Gilles von Orléans 266 Grabmann, Martin 64 Gradus Sellder de Ratenack 138 Gregor IX., Papst 8, 12, 13, 15 Grosse, Sven 193 Guerricus (Werricho) von Igny 220 Guido Terrena 93 – Vernani 93 Haimo von Halberstadt 13 Hamm, Berndt 193 Hans Ernst Landschad von Steinach 156 Heimpel, Hermann 218 Heinrich (He[i]nricus) – II., König von England 35 – de Almania 129 – von Altendorf (Heinrich von Hessen) 182, 207 – von Bernstein xiii – von Bitterfeld ix, xxii, xxiii, 179, 182, 190, 193 – von Friemar 93 – Gouda 210 – de Haslach 135 – von Homberg xii, xiii, xx, 73, 82 – von Langenstein xi, xiii–xvii, xx, xxiii, 43, 45, 47, 48, 52–56, 61, 62, 197, 282, 285, 289, 295
register der personennamen – – – – –
Lieber von Heidelberg 202 von Ribnitz 73, 82, 87, 88 von St. Gallen xxiii, 73 Seuse 201, 204 Strömberger von Dorffen 127, 128 – Totting von Oyta x, xi, xiii–xviii, xxii, 3, 5, 7, 11, 15, 43, 45–48, 52, 53, 56, 61, 282, 289 – von Wildenholz 188 Henry Wakefield, Bischof von Worcester 262 Hermann(us) – de Chiczing 108 – Heylmann von Heidelsheim 209 – von Sachsenheim 185 Hieronymus (Ieronimus) –, hl. 191, 226 – von Prag 71, 77, 79, 232, 243, 244, 246, 292, 293 – de Reichenburga 134 – de Sancto Hieronymo 24 Hödl, Ludwig 14 Hohmann, Thomas xxiv Hudson, Anne 260, 262 Huetus von Viviers 150 Humbert von Romans 261 Innozenz VI., Papst 30 Isidor von Sevilla 33, 35 Iacobellus von Mies 71, 234, 235, 239 Jacques Lefèvre d’Étaples 94 Jakob ( Jacob, Jacobus) – de Baden 135 – de Fladnicz (Flednicz) 137, 138 – von Soest ix – Stob de Ulma 137 – de Stockstal (Stokstal) 136 – Twinger von Königshofen 161 – de Ulma 109 – de Voragine 223 – Wimpfeling xxvi, 157–159, 167, 168 – von Wuldersdorf 134, 137, 138 Jakoubek ze St®íbra s. Jacobellus von Mies Jan Hus 69, 72, 73, 74, 84, 231–234, 236, 239, 240, 242–244, 246, 248, 249, 252, 253, 256, 260, 262, 292, 293, 297
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– Kardinal von Rejn tejn 236 – Mili z Krom ®í e (von Kremsier) xxi, 261 – elezn , Bischof von Leitomischl (Litomy l) 239, 240, 249 Joan Cliffland 262 Job Vener xxvii, xxviii, 59, 207, 218 Jodok ( Jodocus, Judocus) Gartner 108, 137 – von Heilbronn 108, 137 – von Nürnberg 109, 137 – de Uberling 136 – Weiler 120, 127 Johann, König von Böhmen 148, 149 – II., Pfalzgraf und Herzog von der Pfalz-Simmern 185 – der Gute, König von Frankreich 260 – Arsen von Langenfeld 68, 72, 73, 77, 83, 88 – Berwart von Villingen xi – von Bremen xi – Casimir, Pfalzgraf bei Rhein 185 – Hoffmann von Meißen ix – Hübner 69, 73, 83 – von Jenstein, Erzbischof von Prag 182 – Malkaw 297 – Müntzinger ix – von Maigen xi – von Speyer 174 – von Viviers 150 – Volkmar 187 Johannes XXI., Papst 105, 108, 109 – XXIII., Gegenpapst 252 – XXIII., Papst 71 – Damascenus 222 – (Giovanni) von Legnano 24 – Andreae (Giovanni d’Andrea) 24 – Angrär (Anger, Angreri) de Müldorff (Müldorf ) 136 – Argyropoulos 92, 94 – Berwart (Berwardi) 135 – Bischoff xxiv, 197, 201, 203, 218, 228 – von Braunau (de Prawnaw) 108 – von Bremen xiii – de Buczbach 135 – Buridanus 5, 78, 97, 112, 118, 121, 122, 128, 132, 133, 134, 286 – Cuspinian 158, 159, 168, 169 – de Chünighofen 108 – von Dinkelsbühl 108, 136, 190
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register der personennamen Drändorf 211 Duns Scotus 46 von Elbing 9 de Farenpach 137 Fluk (Flück, Flük) 123, 135 Fortis 109 von Frankfurt xiii, xxvi, xxvii, 44, 45, 47, 57, 58, 61, 206, 211, 216, 217, 224, 228, 289, 290, 297 Gerson 193, 194 (Grössel) de Tittmanning (Tyttmanning) 108, 109, 136, 137 de Hamelburg 135 Harrer von Heilbronn 138 Himel 135, 136 H$ber (Hübär) 109 Isner 49 Kalb 109 Kirchen 59 Knaber von Albersdorff 138 Marienwerder ix, xxii Marquard von Wallstadt 210, 218 de Medling 137 Mekelburg 9 Merswein de Argentina (Merswin) 135 von Mistelbach 108, 136 von Neumarkt 181, 187 Muratoris 208 Nider 44, 46, 47, 58, 59, 61, 62, 289 von Noët 201, 207 de Otting de Pawngarten 136 Plate 208 de Prüsia 135 Reuter 52 Richardi de Ambelbach 205 Rochel 135 Rothe 146 Sachs de Nürnberga 136 Sansensund de Nürnberga 109 de Straubinga (de Strawbinga) 109 Stuckler (Stukler) von Passau xiii, 136 Tauler 204 von Tepl 184, 187 Trithemius 207, 208 von Trutzenbach xii Versoris 94 von der Ygla xxiii
– Wenck von Herrenberg xxviii, xxix, 213, 218 – de Wisenstain 108 John Wyclif 4, 7, 69, 71, 81, 234, 252, 259, 260, 265 Judocus s. Jodok Kadan, Rudolf xi Kadlec, Jaroslav 5, 7 Karl IV., Kaiser, röm.-dt. König 30, 148–155, 160–162, 166, 167, 170, 171, 176, 177, 263 – V., Kaiser, röm.-dt. König, König v. Spanien (K. I.) 20, 27, 28 – IV., der Schöne, König von Frankreich 148, 150 – V., König von Frankreich 166, 171–174 – VI., König von Frankreich 29 Kasimir III., der Große, König von Polen 49 Kaspar Schlick 165 Katharina von Alexandrien, hl. 261 –, Tochter Karls V. von Frankreich 173 Kej®, Ji®í 15, 75 Kerth, Thomas 185 Klapper, Joseph 181, 188 Klassen, John 254 Knapp, Fritz Peter 278 Knoch, Wendelin xv Konrad (C[h]on-, C[h]un-, C[h]ün-, C[h]%nradus) – Cadossis de Amerkingen 108 – de Chrälshaim 109 – Chrewczer 136 – von Ebrach xiii–xv, 43, 45, 47, 50–52, 60 – de Emerkchingen 109 – von Gelnhausen xii, xvii, xxv, 30–39, 197, 210, 215, 224, 281, 288, 291, 295 – de Hallstat 136 – Hug 200 – Kindlin (Puer) von Ulm xx – Koler de Susato (von Soest) xii, 43–45, 47, 56–58, 60, 95, 97, 208 – Mülner von Nürnberg 108, 137 – de Rotenburg 135 – Sälder 109 – Seglauer 103, 135 – von Soltau xii, xvi–xviii, 3–19, 212, 218, 224, 282, 287, 296
register der personennamen – von Staufen, Pfalzgraf bei Rhein 38 – von Vechta, Erzbischof von Prag 231, 233, 236, 240 – von Waldhausen 268 – Propst von St. Paulus zu Worms 30 Ladislaus V. Postumus, König von Ungarn 166 Lambert Sluter von Geldern xi Lang, Albert xiv, 3, 5, 11, 14, 15 Langholm, Odd 288 Laurentius (Vav®inec) von B®ezová 250 Leo (von Ungarn) Üppig 135 Leonardo Bruni 92 Leonhard (Leonhardus, Leonardus) – von Berching 109 – Foring 131 – de Hallstat 108 – von Kärnten xiii, xiv – de Schlüsselfeld 108 Leopold von München (de Monaco) 109 Libu e 254 Liethardus 108 Lochrie, Karma 263 Löser, Freimut 285, 292 Loserth, Johann 244 Ludowicus Schleicher von Ulm 137, 138 Ludwig III., Pfalzgraf bei Rhein xxvi, xxvii, 157–159, 176, 201, 204, 206, 207, 211, 213, 216, 217, 228 – IV., Pfalzgraf bei Rhein 156, 176 – VI., Pfalzgraf bei Rhein 185 Lukas, hl. 282 – von Wielki Ko<min 49 Luther, Martin 193 Maierù, Alfonso xiv Margarethe von Sizilien, Gemahlin Pfalzgraf Rudolfs II. 38 Margery Baxter 262, 263 Maria Magdalena, hl. 261 Marie de France 264 Markowski, Mieczyslaw 96 Marquard von Lindau 201, 204 Marsilius von Inghen xii, xvii, xx, xxiv, xxv, 29, 97, 131, 132, 206, 280, 282
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Martin(us) – von Amberg xxiii, 199 – de Chlosenburg 109 – de Egenburga 136 – de Hallis 109 – Haincze de Memming 132 – Hämerl 108 – Luther s. Luther, Martin März, Christoph 269 Masaryk, Thomá G. 253 Matthäus von Königsaal x – von Krakau ix, x, xvi–xix, xxi, xxii, xxv, xxvi, xxvii, 5, 43–49, 52–56, 58–62, 178–196, 213, 218, 223, 280, 282, 288–290, 297 Mat(t)hias – Folz von Sobernheim 173 – von Janov ix, x, 182 – von Knin, genannt Pater 70, 73, 84 – von Legnitz 73, 82, 87 – von Weinsberg 138 Maximilian I., Kaiser, röm.-dt. König 158 Mechthild von Savoyen xxvi, 204, 206 Michael Lochmayr 131, 132 – von Malenitz 72, 73, 79, 80, 85 – de S. Georio 137 – de S. Nicolao 137 – Schrägel von Wien 133 – Suchenschatz xi, xiii – I. von Wertheim xxix Michel Beheim 155–157 Mithridates VI. Eupator, König von Pontus 164 Mönch von Salzburg 269, 270 Mone, Franz Joseph 219, 220, 222, 226, 227 Moraw, Peter 194 Nadler, Josef 278 Narcissus Hercz de Perching (N. de Berching) 136 Nechutová, Jana x, 287 Neidhart 184–185 Nicholas Love 262 Nico de Sittania 138 Nicodemo della Scala, Bischof von Freising 165 Niklas I. Muffel 162–163 Niklas III. Muffel 162–164 Nikolaus (Nicolaus), s. auch Nicholas, Niklas
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register der personennamen
– – – –
de Argentina 108 de Auln 108, 136 Biceps 4 von Dinkelsbühl xi, xv, xvi, xxiv, 135, 269 – von Dinkelsbühl-Redaktor xxiv, 197, 228, 291 – von Erfurt xxiii, 181 – de Gotesbrunn (Gottesprun) 136 – de Grecz 136 – de Honhortzkirhen (Honharczchirhen) 135 – von Louny ix – Magni von Jauer/Jawor ix, xiii, xviii, xix, 5, 59, 60, 73, 82, 210, 213 – Mäkkel 108 – Otto Weber 208 – Prowin 62 – de Weysenburga 137 Nuding, Matthias 288 Obermann, Heiko Augustinus Oswald de Corda 194
193
Palack , Franti ek 253 Palmer, Nigel 202 Paulus de Frauleiten 136 – de Giengen 136 – de Huning 138 – (Leubmann) von Melk 123 – Troppauer 136 – de Wienna (Wyenna) 136 – de Wolfsperg 108 – de Zylich 138 Peter (Petrus) – de Augusta 108, 137 – Deckinger (Dekkinger) von Wien xiii, 135 – de Francenspurck 136 – Hyspanus s. Johannes XXI. – Lombardus 4, 8, 13–18, 258 – von MladoÓnovice 234, 243 – de Novo foro 109 – von Nürnberg 109 – Nützel 187 – Pachmulner 136 – de Pirch(in)wart (Pirchunwart) 136 – von Pulkau s. Peter Zäch von Pulkau – de Rehingen 136 – Reicher von Pirawarth xi – Schad de Wallsee 132
– Stugel – Turnau 211 – von Uni ov 231–250, 292, 293 – Zäch von Pulkau (de Pulka) xi, 103, 135 – von Zittau 149, 151, 160 Pfeiffer, Franz 199 Philipp der Aufrichtige, Kurfürst von der Pfalz 157 – von der Pfalz, Bischof von Freising, Administrator von Naumburg 157 – VI. von Valois, König von Frankreich 150, 151 Philippe de Mézières 27, 28 Philippus de Znoyma 135 Piccolomini, Enea Silvio s. Pius II. Pierre Roger s. Clemens VI. Pius II., Papst 158, 159, 164, 165, 166, 177, 250, 285 Placentinus, Kardinal 168, 169 Plinius der Ältere 33–36 Podlaha, Antonín 78 Porphyrios 6 Powicke, Frederick Maurice 276 Priscianus 168 Prokop von Kladrau (Kladruby) 72, 73, 86, 87, 235 Raban, Bischof von Speyer 207 Rashdall, Hastings 276 Reginald von Alna (O. Cist.) 207 Reginaldus (O. P.) 138 Richard Kilvington 97 – Rolle 260 Ridder-Symoens, Hilde de 276 Ritter, Gerhard xii, xviii Robert Grosseteste 93 Roth, Christoph xxiv, 295 Rudolf II., Pfalzgraf bei Rhein 38 – von Ems 174, 199 – von Rohr (Rudolfus de Ror) 108 Rüegg, Walther 276 Ruh, Kurt 192 Ruprecht, Erzbischof von Köln 155, 176 – I., Pfalzgraf bei Rhein xxiv, xxv, 20, 26, 30, 31, 36–38, 171–174, 176, 199, 295 – II. der Blinde, Pfalzgraf bei Rhein xxvi, 30, 38, 39 – Pipan, Erbprinz von der Pfalz 173
register der personennamen – von der Pfalz, röm.-dt. König u. pfälz. Kurfürst (R. III.) xx, xxv, xxvi, 4, 38, 39, 199, 204, 207, 213, 296 Rutgerus de Rarimunda 123, 135 Schiewer, Hans-Jochen 200 Schmidtke, Dietrich 290 Schmitz, Ludwig 3, 5, 8, 10, 11, 28 Schnell, Bernhard xxiv Schuba, Ludwig 269 Sebastian Bacmeister 159 – Brant s. Brant, Sebastian Seboldus (Messner) de Wallsee (Waldsee) 120, 123, 135 Seifridus (Seyfridus) de Hailprunna 137, 138 Se ko, W adys aw 218, 224 Shank, Michael H. xiv, 298 Siegmund (Sigismund, Sigismundus) –, Kaiser, röm.-dt. König 158, 159, 167–170, 175, 176, 213, 241 –, Herzog von Österreich 165 – de Lengenfeld 138 Sigboldus s. Seboldus Sigismund(us) s. Siegmund Silvester, Bischof von Chiemsee 165 Simon (Symon) –, Bakkalar in Wien 113, 117, 119, 120, 126 – de Asparnn (Asparn) 108, 137 – von Bruck (de Prukka) xiii, 135 – von Ti nov 72, 73, 85 – Weissempacher von Leobersdorf (de Lewbersdarf ) 108 mahel, Franti ek 4, 260, 285, 294 Sommerlad, Theodor xix, 190 Sophie von Wittelsbach, Königin von Böhmen 252, 265, 266 Spunar, Pavel ix, x St. Georgener Prediger 218, 219 Stammler, Wolfgang 184, 186 Stegmüller, Friedrich 16 Stelzer, Winfried 283, 285, 287, 294 Stephan(us) de Brugen 129 – von Eg(g)enburg/de Egenburga 108, 109, 136 – de Eßlinga (Essling[en]) 136 – von Kolin 73, 83 – Molitoris von Brugk/de Prukk/Brugen 108, 121, 129, 138
309
Strobl, Joseph 199 Sygelo von Oppenheim 26, 39 Szafra ski, A.L. 218, 224 Theobald von Sézanne 216 Theodericus de Hamelburg 135, 136 Thierry von Chartres 285 Thomas von Aquin xiv, 42, 46, 56, 59, 93, 97, 112, 121, 194, 283 – Arundel, Erzbischof von Canterbury 262 – Bragwardin(us) (Bradwardine) 110 – Ebendorfer/de Has(e)lbach/ -pach xi, 120, 124, 136, 175, 285 – de Krembs 138 – Teufl de Landshut 129 – (Tomá ) von títné xxi, 19, 252 – von Straßburg 5, 15, 204 – Wölfel von Wuldersdorf/de Bulderstorf 96, 108, 110, 113, 117, 120–122, 124–127, 137, 286 Thomas, Alfred xxi, 291 Tidmannus von Kalmar 108, 137 Tomá s. Thomas T®í ka, Josef ix, 5, 87 Trusen, Winfried 58 Uiblein, Paul 101 Ulmschneider, Helgard 201 Ulrich (Ulricus, Udalricus) –, Subnotar, s. U. von Falkenau – von Falkenau 186, 187, 189 – Greymolt von Weilheim/de Weylhaim 113, 122, 125, 126 – von Landau/Keyerl de Landaw 118, 128 – de Patavia 135 – von Pottenstein 270, 291 – de Weissenburga 136 Urban(us) VI., Papst 28, 29, 171–172 – de Em(m)erstorff (Emmestorf, Emersdorff ) 136 – von Melk/de Mellico 96, 120, 124, 133, 136 Valentius, Kaiser 37 Valerius Maximus 36 Vav®inec von B®ezová s. Laurentius von B®ezová Vilikovsk , Jan 252
310 Vincentius Waller Vlasta 254
register der personennamen 136
Wagner, Wolfgang Eric 294, 295 Walsh, Katherine 298 Walter Brytte 258 – Harrasser 69 – Map 34, 37 Walz, Dorothea 224, 288, 295 Wartislaus IX., Herzog von Pommern 158, 159 Wasmod (Wasmuth) von Homberg xii, xx Weijers, Olga 64 Wenzel, röm.-dt. König, König von Böhmen (W. IV.) 4, 20, 68, 70, 154, 155, 162–164, 166, 171, 234, 244, 246, 250, 252, 256, 260, 265, 294, 296 – (I.), hl. 148 – von Mirovice (Wenzeslaus de Mirobicz) 108 Wilhelm de Auvergne 15 – von Conches 285
– Ryke von Lier 207 Wilhelmus Spann de Weissenhorn 136 William von Malmesbury 146 Williams, Ulla xxiv Winand von Steeg xxvi, xxviii, 59, 213, 218 Wisniewski, Roswitha 184 Witte, Karl-Heinz 192 W adyslaw II. Jagie o, König von Polen 49 Woksa von Waldstein 260, 266 Wolfgang(us) – de Chnütelfeld 108 – de Egenburga/Eggenburg 108, 138 – Federkiel ex Darffen 129 – (Kydrer) von Salzburg/de Salczburga 113, 122, 127 – de Stain 108 Worstbrock, Franz Josef xxii Zacharias Ridler 133, 135 Zimmermann, Karin 205
EDUCATION & SOCIETY IN THE MIDDLE AGES & RENAISSANCE ISSN 0926-6070
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