Schöner reicher Mann
Anne Hampson
Romana 1414 7- 01/02
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von claudia_l
1.KAPITE...
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Schöner reicher Mann
Anne Hampson
Romana 1414 7- 01/02
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von claudia_l
1.KAPITEL
Eine Viertelstunde hatte Kerry Fairclough in der Kanzlei Lee, Haslett & Grindley gesessen und in groben Umrissen ihre Lebensgeschichte erzählt. Erst dann kam sie auf den eigentlichen Zweck ihres Besuchs zu sprechen. „Ich habe kürzlich eintausend Pfund geerbt und bin bereit, die gesamte Summe zu investieren, um meine beiden Schwestern zu finden." Thomas Haslett räusperte sich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und erklärte, wobei er Kerry unter buschigen grauen Brauen ansah, dass sein Sohn gleich hier sein müsse und an ihrem Auftrag bestimmt sehr interessiert sei. „Alles, was mit Nachforschungen zu tun hat, ist genau s ein Fall", fuhr Haslett lächelnd fort. „Er hätte Kriminalbeamter werden sollen anstatt Anwalt." „Dann verlange ich also nichts Unmögliches?" fragte Kerry erwartungsvoll, und in ihren großen haselnussbraunen Augen glomm ein Hoffnungsschimmer auf. „Es ist schon so lange her, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo sie sein könnten." Kerry wandte sich um, als ein jüngerer Mann die Kanzlei betrat. Man machte sich miteinander bekannt, und nachdem er Kerry die Hand gegeben hatte, setzte Stephen Haslett sich auf den Stuhl ihr gegenüber und musterte sie dabei. „Miss Fairclough hat mir den Sachverhalt geschildert, während wir auf dich gewartet haben", sagte sein Vater. „Und, in aller Kürze, es geht um Folgendes: Vor dreizehn Jahren, Miss Fairclough war damals zehn, kamen ihre Eltern bei einem Zugunglück ums Leben. Miss Fairclough und ihre beiden Schwes tern wurden in das Pflegeheim der örtlichen Behörde gegeben. Später jedoch wurde jedes Kind von verschiedenen Ehepaaren adoptiert. Miss Fairclough, die vor kurzem etwas Geld geerbt hat, möchte, dass wir die Aufenthaltsorte ihrer Schwestern ausfindig machen." Stephen Haslett hatte die Stirn leicht gerunzelt, während sein Vater sprach. „Damals standen solche Grausamkeiten auf der Tagesordnung", bemerkte er verärgert. „Heutzutage sind die Behörden viel humaner und reißen Familien nur ungern auseinander. Bloß hilft Ihnen das nichts", fügte er hinzu, machte eine Pause und strich sich nachdenklich über das Kinn. „Ihr Auftrag interessiert mich sehr, Miss Fairclough, und ich werde mein Bestes tun, um die von Ihnen gewünschte Familienzusammenführung zu ermöglichen." Wieder machte Stephen Haslett eine Pause, fuhr dann äußerst forsch und geschäftsmäßig fort und wies Kerry darauf hin, dass die Ermittlungen keineswegs einfach seien und sie die Geduld nicht verlieren dürfe. „Bestimmt nicht", versicherte Kerry ihm und fügte hinzu: „Ich habe Avril und Michelle seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen, da kann ich es auch gut noch ein bisschen länger aushalten." Trotz dieser Beteuerung schwang Ungeduld in ihrer Stimme mit, und Stephen Haslett, dem es nicht entgangen war, lächelte. „Ich erwarte noch einen weiteren Klienten", sagte Thomas Haslett und warf einen Blick auf seine Uhr. „Führst du Miss Fairclough bitte in dein Büro?" Stephen nickte und stand auf. „Wenn überhaupt jemand Ihre Schwestern finden kann", fuhr Haslett senior fort, „dann Stephen. Wie ich schon sagte, bevor er hereinkam: Er hätte Kriminalbeamter werden sollen." Wenige Minuten später stellte Stephen Haslett Kerry viele Fragen, und jedes Wort wurde von seiner Sekretärin mitgeschrieben. Stephen wollte wissen, warum Kerry nicht schon früher Schritte unternommen habe, um den Verbleib ihrer Schwestern auszukundschaften. Und Kerry erklärte, dass sie zuvor niemals das nötige Geld dazu gehabt habe. „Meinen Adoptiveltern ging es nicht schlecht, ich selbst erhielt eine gute Ausbildung und besuchte bis vor einem Jahr die Universität. Aber meine Eltern trennten sich vor drei Jahren, und jeder hat inzwischen wieder geheiratet. Ich mochte bei keinem der beiden wohnen", fuhr sie etwas traurig fort, „und nahm daher mit einer Freundin eine gemeinsame Wohnung. Seit über einem Jahr verdiene ich meinen Lebensunterhalt selbst und habe inzwischen auch einiges gespart. Vor ein paar Monaten nun ist meine Tante gestorben - sie war die Schwester meiner Adoptivmutter", erklärte Kerry auf den fragenden Blick hin, den Stephen ihr zugeworfen hatte. „Sie hat mir das Geld vermacht, und jetzt bin ich in der Lage, Nachforschungen über den Verbleib meiner Schwestern in die Wege zu leiten." „Ich verstehe ..." Stephen Haslett wurde nachdenklich. „Haben Sie irgendeine Vermutung, wo Ihre Schwestern sein könnten?"
Kerry schüttelte den Kopf. „Ursprünglich lebten wir in Cumberland. Mein leiblicher Vater war Landarbeiter, deshalb waren wir ganz arm und wohnten in einem Gesindehaus, wie ich mich noch erinnere." „Wie kam es, dass Ihre Eltern ohne ihre Kinder auf Reisen gingen?" fragte Stephen Haslett. Kerry, die diese Frage bedeutungslos fand, sah ihn rasch an. Dennoch antwortete sie mit ihrer ruhigen, angenehmen Stimme: „Nach Michelles Geburt war es meiner Mutter nicht gut gegangen, und der Arzt hatte sie zu einem Spezialisten nach Kendal geschickt. Mein Vater begleitete sie, und die Frau des Grundbesitzers kümmerte sich währenddessen um Avril und Michelle. Ich war zu diesem Zeitpunkt in der Schule." Stephen Haslett schwieg eine Weile, dann fragte er: „Ihre jüngere Schwester wurde wohl als Erste adoptiert?" Kerry nickte. „Ja. Aber nur kurz vor Avril. Sie war damals dreieinhalb ..." Sie unterbrach sich kurz. „Ich erinnere mich noch so gut - an diese schreckliche Einsamkeit und Verlassenheit, als ich allein bei den Pflegeeltern zurückblieb, in deren Obhut man uns gegeben hatte." Stephen nickte mitfühlend. Er ist sympathisch, dachte sie, sanft, verständnisvoll und voller Anteilnahme. „Sie waren damals zehn Jahre alt. Kinder in diesem Alter adoptiert man nicht gern." „Nein. Aber am Ende wurde ich adoptiert, und zufällig hatte ich Glück mit meinen Eltern. Sie verwehrten mir nichts, und für die Erziehung und Ausbildung, die sie mir zukommen ließen, werde ich ihnen ewig dankbar sein." „Aber Sie leben jetzt nicht mehr bei ihnen." Stephen sagte es zu sich selbst, wobei er geistesabwesend mit seinem Füller auf dem Schreibtisch spielte. Bald folgten weitere Fragen, und dann erinnerte Stephen Kerry daran, dass es keine leichte Aufgabe sein würde, ihre Schwestern zu finden. „Eintausend Pfund", sagte sie. „Genügt das nicht?" „Heutzutage ist das nicht viel Geld, Miss Fairclough. Die beiden Mädchen wurden in verschiedene Elternhäuser gegeben, folglich müssen wir bei unseren Nachforschungen zwei Spuren verfolgen. Aber ich versichere Ihnen, wir werden so sorgfältig wie möglich mit dem Geld umgehen." Stephen stand auf, während er sprach, und fügte hinzu, er würde sich bei ihr melden, sobald sich der erste Hinweis ergeben habe. „Sie werden sehr gespannt sein, wie die Ermittlungen voranschreiten." Kerry stand auf, als Stephen die Tür öffnete. „Danke, Mr. Haslett." Sie trat hinaus in den muffigen, mit braunem Linoleum ausgelegten Korridor. „Ich bin sicher, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, und das Einzige, worum ich mir momentan Sorgen mache, ist, dass dazu nicht genug Geld vorhanden sein könnte." Er lächelte sie an. „Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es so weit ist - falls es so weit kommt. Auf Wiedersehen, Miss Fairclough." Kerry arbeitete in einer Zeitungsredaktion. Sie hatte sich für diesen Nachmittag freigeben lassen, um den Anwalt aufzusuchen. Und eine Stunde nachdem sie Stephen Haslett verlassen hatte, war sie zu Hause angekommen; Irene, ihre Mitbewohnerin, bereitete gerade Tee zu. „Nun, was hast du erreicht?" Irene sah sie interessiert an. „Besteht Hoffnung?" „Ja, sie waren sehr zuversichtlich, meinten jedoch, es würde höchstwahrscheinlich einige Zeit dauern." „Was du natürlich schon erwartet hast." Kerry nickte. „Trotzdem hoffe ich, es dauert nicht zu lange, denn Zeit ist Geld. Und es würde mir gar nicht gefallen, wenn das Geld ausginge, bevor man Avril und Michelle gefunden hat." Irene zögerte einen Moment, dann sagte sie: „Rechne nicht zu sehr damit, dass du sie findest - sie beide findest, meine ich." Kerry schluckte hart. „Du meinst, einer von beiden könnte etwas zugestoßen sein?" Irene runzelte die Stirn, und Kerry fuhr fort: „Daran habe ich auch schon gedacht - aber sie sind noch sehr jung. Avril wird siebzehn und Michelle erst dreizehn. Bestimmt leben beide noch." Irene blickte sie kurz an und verschwand in die Küche. Kerry hörte, wie Wasser in den Teekessel lief, dann tauchte Irene wieder auf mit einem Tablett, das sie auf dem Tisch abstellte. Kerry zog die Brauen zusammen. Sie fragte sich, ob ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt sei. So optimistisch sie eben noch gewesen war, kamen ihr nun doch Zweifel. Dreizehn Jahre waren eine lange Zeit, vieles hätte mit dem einen - oder auch beiden - Mädchen passieren können. Und falls sie die beiden
fand, würden sie auch so sein, wie sie sie sich immer vorgestellt hatte? Fröhlich und hübsch und voller Leben? Sie war sich so sicher gewesen, dass es nette Mädchen wären, verantwortungsbewusst, mit hohen Idealen. Aber heutzutage gab es so viele, die ganz anders waren - so viele Verlorene, die in den Tag hineinlebten. Angst stieg plötzlich in ihr auf, und fast wünschte sie, sie hätte diese Nachforschungen nicht in Gang gesetzt, die für sie rasch in Desillusionierung und Kummer enden konnten. Es müssen nette und gute Mädchen sein, sagte sich Kerry beinahe verzweifelt. Sie müssen es einfach sein! Kerry ahnte nicht, dass jenes Geld, das ihre Tante ihr vermacht hatte, ihr Kummer und Schmerz im Überfluss bringen sollte ... wenngleich auf eine ganz andere Art, als sie es sich hätte vorstellen können. Fast ein Monat war vergangen, da rief Stephen Haslett an. Irene meldete sich und rief dann aufgeregt nach Kerry, die gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und in ihr Schlafzimmer gegangen war. Kerry nahm den Hörer entgegen und lauschte voll ges pannter Ungeduld und mit vor Aufregung leuchtenden Augen. „Ja, ich komme morgen vorbei! Könnten wir uns vielleicht während der Mittagspause treffen?" „Sie sind berufstätig? Nun - ja, ich denke, das lässt sich einrichten. Einen Moment noch." Kerry hörte das Rascheln von Papier und dann: „Ja, kommen Sie morgen um halb zwölf." „Sie haben Michelle gefunden!" Kerry zitterte, als sie den Hörer auflegte und sich zu ihrer Freundin umwandte. „Ich kann nicht glauben, dass ich sie wirklich treffen werde! Denk dir nur, Irene, sie war erst ungefähr drei Monate alt, als ich sie zuletzt gesehen habe. Wie du ja weißt, wurde sie sehr schnell adoptiert." Schweigen breitete sich aus, dann erkundigte Irene sich nach Avril. „Mr. Haslett sagte etwas von Komplikationen, klang jedoch nicht sonderlich beunruhigt. Morgen werde ich über alles Bescheid wissen. O Irene, ich kann es kaum erwarten!" Irene lächelte, denn sie freute sich für ihre Freundin. Groß und dunkelhaarig, war sie zwei Jahre älter als Kerry und stand kurz vor ihrer Hochzeit. „Was hat er sonst noch gesagt?" fragte sie. „Hat er dir alles über Michelle erzählt? Hat er gesagt, wo sie bis jetzt gelebt hat?" „Nein, er ... er ..." Ein Schauder lief ihr über den Rücken, ehe sie verstummte. „Er hat mir überhaupt nichts gesagt." Verwundert sah sie Irene an. „Ist das nicht seltsam?" Irene runzelte die Stirn. „Hast du ihn denn nicht nach Michelle gefragt?" „Ich hatte den Ansatz dazu gemacht." Kerry schwieg und versuchte sich zu erinnern, was genau er gesagt hatte. „Ich war so aufgeregt, dass ich nur zuhören konnte. Und als ich anfing, nach Michelle zu fragen, unterbrach Mr. Haslett mich und schlug vor, ich solle morgen in sein Büro kommen." Irenes Miene wurde noch skeptischer, doch um Kerrys Befürchtungen zu zerstreuen, sagte sie wie nebenbei: „Vermutlich war er zu beschäftigt, um die Sache am Telefon mit dir zu besprechen. Morgen weißt du mehr." „Mr. Haslett hätte mir mehr sagen können, Irene, viel mehr. Er erwähnte nur, dass es Schwierigkeiten gegeben habe, Michelle aufzuspüren, man sie aber letztlich gefunden habe. Dann redete Mr. Haslett von Avril, erwähnte die Komplikationen ..." Kerrys Stimme wurde leise, als sie hinzufügte: „Warum ist er meiner Frage nach Michelle ausgewichen? Er ist ihr ausgewichen, Irene, so viel ist mir jetzt klar." Irene seufzte leise und sagte beruhigend: „Es ist bestimmt alles in Ordnung, Kerry. Mr. Haslett hätte es dir gesagt, wenn es nicht so wäre. Und jetzt mach dir darüber keine Gedanken mehr, denn vor morgen kannst du sowieso nichts tun." Pünktlich um halb zwölf erschien Kerry in der Kanzlei, ließ sich auf den Stuhl sinken, den man ihr angeboten hatte, und fragte ziemlich außer Atem: „Michelle ... geht es ihr gut?" „Ob es ihr gut geht?" Kerry sah Stephen Haslett an. Bildete sie es sich nur ein, oder lag ein Ausdruck von Betroffenheit in seinen Augen? „Sie haben gestern Abend am Telefon so wenig gesagt, da habe ich mich gefragt, ob irgendetwas nicht in Ordnung ist." „Ich habe am Telefon nicht viel gesagt, Sie haben Recht. Ich hielt es für besser, hier mit Ihnen
zu reden. Miss Fairclough, Ihre junge Schwester hat kein sehr glückliches Leben bei ihren Adoptiveitern gehabt..." „Kein glückliches Leben!" Kerry sah ihn starr an, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte immer vermutet, dass ihre beiden Schwestern ebenso viel Glück gehabt hätten wie sie selbst. „Haben Sie Michelle gesehen, Mr. Haslett?" Er nickte. „Ja, ich habe sie gesehen." Mr. Haslett schwieg einen Moment. „Zum Zeitpunkt der Adoption glaubten die Adoptiveltern Mr. und Mrs. Johnson, selbst keine Kinder bekommen zu können, und tatsächlich bekamen sie erst ein eigenes Kind, als Michelle sieben Jahre alt war." Stephen Haslett sah Kerry an, als er hinzufügte: „Zwei Jahre später bekam en sie ein weiteres Kind, danach Zwillinge. Letztes Jahr wurde noch ein Kind geboren, damit waren es fünf ... und Michelle, die jetzt dreizehn ist." Er machte eine Pause, als erwartete er Kerrys Einwand, als sie jedoch schwieg, fuhr er fort: „Vermutlich hat man vor der Adoption die erforderlichen Auskünfte über das Ehepaar eingeholt, und ich bezweifle nicht, dass sie anfangs gute Eltern waren. Was ich jedoch bei dem Mann gesehen habe, hat mir nicht gefallen. Er ist Invalide, und das mag seinen Charakter verändert haben ..." „Mr. Haslett", unterbrach Kerry ihn, „wollen Sie damit sagen, dass dieses Paar Michelle nicht gut behandelt?" Nach einer kurzen Pause antwortete er zögernd: „Ihre Schwester, Miss Fairclough, ist kaum mehr als ein Arbeitstier. Die Mutter muss arbeiten gehen, um die Familie mit dem Nötigsten zu versorgen. Der Vater kann sich gerade um die Kleinen kümmern, solange Michelle in der Schule ist. Aber sie kocht mittags das Essen, und, wie ich vermute, auch das am Abend, denn die Mutter kommt erst nach sechs Uhr von der Arbeit nach Hause. Als ich der Familie meinen Besuch abstattete - unangemeldet natürlich -, war Michelle in der Küche, umgeben von schmutziger Wäsche, die sie im Spülbecken wusch." Stephen schwieg plötzlich und beobachtete Kerry. Sie war blass geworden. „Das ist ja schrecklich. Kann ich irgendetwas tun? Ich meine -kann ich Michelle aus dieser Familie herausholen?" Stephen Haslett schüttelte den Kopf, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte. „Als ich sah, was vor sich ging, habe ich den Vorschlag gemacht, dass man ihnen die Sorge um Michelle abnimmt, aber offensichtlich ist ihnen das Mädchen von zu großem Vorteil. In etwa drei Jahren wird sie außerdem zur Arbeit gehen - und Geld nach Hause bringen." Wieder schüttelte Stephen den Kopf. „Diese Leute haben sich das alles sehr gut überlegt, Miss Fairclough. Sie können lediglich abwarten, bis Ihre Schwester alt genug ist, um von dort wegzugehen und zu Ihnen zu kommen - falls sie das möchte." „Kann ich sie besuchen?" „Man hat nichts dagegen, denn Michelle weiß, dass man sie adoptiert hat. Allerdings hat Mrs. Johnson zur Auflage gemacht, dass Sie ihr vorher schreiben und Ihren Besuch ankündigen." Schreiben ... Ein bitterer Zug legte sich um Kerrys Mund. Sie musste einen Termin vereinbaren, um ihre eigene Schwester treffen zu können. „Meine andere Schwester", brachte sie schließlich hervor. „Sie haben von Komplikationen gesprochen." „Bis heute Morgen sah es auch danach aus, denn Avril lebt im Ausland..." „Im Ausland?" Stephen Haslett zog eine Schublade auf, nahm ein Telegramm heraus, legte es auf den Schreibtisch und blickte es eine Zeit lang nachdenklich an. „Vor zwei Wochen erhielten wir die Nachricht, dass Avril von einem Ehepaar auf Barbados adoptiert worden war", sagte er schließlich. „Damals war das Paar für ein Jahr in England zu Besuch, einzig und allein zu dem Zweck, ein Kind zu adoptieren. Unser Informant konnte uns nicht mehr als das sagen, weshalb ich sofort einen jungen Freund nach Barbados schickte. Was seine intensiven Nachforschungen ergeben haben, teilt er mir in diesem Telegramm mit, das erst heute Morgen eingetroffen ist. Ihre Schwester lebt noch immer auf der Insel." Ein ironischer Zug umspielte Stephens Mund, als er den Inhalt des Telegramms noch einmal durchlas. „Avril erging es viel besser als ihrer Schwester. Ihre Eltern sind beide tot, und Avril ist jetzt eine reiche Erbin mit einem beachtlichen Vermögen." Kerry schluckte trocken. Eine Schwester eine reiche Erbin, die andere eine Sklavin! „Avril ... Sie ist noch nicht siebzehn. Kümmert sich jemand um sie?"
„Ein Onkel - der unverheiratete Bruder ihres Adoptivvaters. Er verwaltet Avrils riesige Zuckerrohrplantage zusammen mit seiner eigenen." Stephen blickte auf und fügte hinzu: „Das ist alles, was ich im Augenblick Weiß, denn der Inhalt eines Telegramms ist naturgemäß kurz gehalten. Ich hoffe, Ihnen in etwa einer Woche weitere Informationen liefern zu können." Sie nickte, und da die Erwähnung des Telegramms sie an ihre finanziellen Verpflichtungen erinnerte, sagte sie: „Diese Reise nach Barbados - dafür dürfte ein Großteil meines Geldes drauf gegangensein." „Leider ja, Miss Fairclough. Aber Sie hatten sich bereit erklärt, die gesamten eintausend Pfund zu investieren." „Ja - oh, ich beklage mich nicht, Mr. Haslett. Ich hatte nur befürchtet, das Geld könnte ausgehen." „Es ist so gut wie ausgegangen. Den Löwenanteil hat die Suche nach Avril verschlungen. Ich glaube, es sind noch etwa einhundert Pfund übrig geblieben." Er lächelte und fügte hinzu: „Gerade genug für die Überfahrt nach Barbados, damit Sie Avril besuchen können." „Aber nicht genug für die Rückreise", sagte sie leise, und Stephen Haslett zog die Brauen hoch. „Ich denke, dafür wird Ihre Schwester schon sorgen." Kerry nickte gedankenverloren. Dann schweiften ihre Gedanken zu Michelle, als sie auf den Zettel in ihrer Hand blickte. Northenhurst... ein Dorf in Kent. „Ich werde heute Abend Michelles Mutter schreiben", sagte sie und stand auf. „Danke für Ihre Arbeit, Mr. Haslett. Sie melden sich bei mir, sobald Sie Näheres über Avril erfahren?" „Selbstverständlich, Miss Fairclough. Dann rufe ich Sie sofort an." Eine Woche später erhielt Kerry eine Antwort auf ihren Brief. Michelles Mutter teilte ihr in netten Worten mit, sie könne ihre Schwester am darauf folgenden Sonntagnachmittag besuchen. Kerry zeigte Irene den Brief, den diese sorgfältig durchlas. „Die Frau ist ziemlich gebildet", lautete Irenes erste Bemerkung, als sie Kerry das Blatt reichte. „Und es ist kein unfreundlicher Brief. Vielleicht ist doch nicht alles so schlimm, auch wenn dein Mr. Haslett es in den schwärzesten Farben gemalt hat." „Ich weiß nicht." Kerry seufzte, faltete den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. „Aber bald werde ich es wissen", fügte sie hinzu. „Wie auch immer, mein ursprünglicher Plan lässt sich wohl nicht verwirklichen", sprach sie ihre Gedanken laut aus. Es war Mittwochmorgen. Sie und Irene bereiteten gerade ihr Frühstück zu, und Kerry ging in die Küche, um die Kaffeekanne zu holen. „Die große Wiedervereinigung von euch dreien, meinst du?" Irene stand vor der Anrichte und nahm Besteck aus der Schublade. „Nein, damit rechne ich vorläufig auch nicht - es sei denn, deine reiche Schwester rückt das Geld raus, damit Michelle auf dieser fantastischen Insel Urlaub machen kann." „Das wird sie sicher gern tun", erwiderte Kerry, fügte jedoch hinzu: „Ob Michelles Eltern damit einverstanden wären, steht auf einem anderen Blatt." „In der Zwischenzeit wirst du allein nach Barbados reisen?" „Ich denke schon." Kerry war ins Wohnzimmer zurückgekommen und sah Irene an, einen Anflug von Unsicherheit im Blick. „Wenn Michelles Familie so arm ist, sollte ich ihr wohl die einhundert Pfund überlassen." Irene runzelte die Stirn. „Absolut nicht. Du hast dein ganzes Erbe ausgegeben, um deine Schwestern zu finden, nur der Wiedersehensfreude wegen, und ich sehe nicht ein, weshalb du jetzt auf diese Freude verzichten solltest. Hundert Pfund sind sowieso nicht viel, wenn du sie für dich selbst verwendest. Nein, ich bin entschieden dagegen, dass du das Geld weggibst." Kerry setzte sich an den Tisch, machte jedoch keine Anstalten, etwas zu essen, während sie über die Worte ihrer Freundin nachdachte. Nein, sie würde ihre letzten hundert Pfund nur für das eine ausgeben: für ihre Überfahrt nach Barbados. Sie wollte beide Mädchen sehen. „Zuerst muss ich Avril schreiben", sagte sie nach einer Weile. „Sie wird überrascht sein." Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und Irene erwiderte es nickend. „Überrascht und glücklich. Du hast das Erbe deiner Tante für eine wunderbare Sache verwendet. Wissen deine Eltern von den Nachforschungen?" „Ich hatte beiden geschrieben und ihnen mein Vorhaben erklärt." Kerry seufzte leise.
„Keiner hat mir bis jetzt geantwortet." „ Sie sind wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt." Irene presste leicht die Lippen zusammen. „Heutzutage sind die Menschen so sehr auf sich fixiert, dass sie anscheinend beides verloren haben: die Fähigkeit und den Wunsch, sich über andere Gedanken zu machen." „Wie Avril wohl sein mag?" sagte Kerry nachdenklich. „Vermutlich ist sie sehr kultiviert und selbstsicher, da sie inmitten eines solchen Wohlstands aufgewachsen ist." „Sie ist ein kleiner Glückspilz, und das weiß sie hoffentlich auch zu schätzen." Irene schenkte Kerry Kaffee ein und füllte ihre eigene Tasse. „Dieser Onkel - er ist wohl auch ihr Vormund?" Kerry nickte und strich Butter auf ihren Toast. „Das nehme ich an." „Weißt du, wie er heißt?" „Ich kenne nur seinen Familiennamen. Avrils Vater hieß Harvey, also wird sein Bruder genauso heißen." Am Samstagnachmittag ging Kerry einkaufen. Sie besorgte Geschenke für Michelle und ihre Mutter und Süßigkeiten für die jüngeren Kinder. Die ganze Zeit über empfand sie jedoch eine wachsende Unruhe und Besorgnis. Falls man Michelle nicht gut behandelte, wie könnte sie dann zurückhaltend und schweigsam bleiben? Aber wie Irene gesagt hatte, auch wenn Mr. Haslett die Dinge in den schwärzesten Farben malte, war es vielleicht doch nicht so schlimm. Das kleine Haus lag erdrückend eng eingekeilt zwischen seinen verwahrlosten Nachbargebäuden. Der „Rasen" davor erinnerte Kerry an eine räudige Katze, die sie einmal gesehen hatte, denn der niedrige Zaun umgrenzte nicht mehr als einen lückenhaften mattgrünen Moosteppich mit ein paar spärlichen Löwenzahnbüschen. Kerry, die sekundenlang auf den Eingangsstufen stand, hörte den Schrei eines Kindes von irgendwo hinter dem Haus, dann die scharfen, unverständlichen Worte eines Mannes. Sie klopfte an. Eine etwa vierzigjährige Frau öffnete die Tür. Sie sah verhärmt aus und müde, war jedoch adrett gekleidet - für diesen Anlass, dachte Kerry, als sie die Spuren von Puder und Lippenstift und das frisch gewaschene, wenn auch ziemlich krause Haar bemerkte. Offensichtlich konnte diese Frau sich einen Friseur nicht leisten. „Miss Fairclough?" Die Frau war so verlegen, wie Kerry sich fühlte. „Kommen Sie doch herein Michelle holt gerade Brot im, Laden an der Ecke. Wir haben nicht viel, wissen Sie, bei einer so großen Familie." Mrs. Johnson machte einen Schritt beiseite, und Kerry betrat den engen Gang, von dem aus ein ziemlich geräumiges Wohnzimmer und die Küche abgingen. „Hier entlang ..." Einen Augenblick blieb Kerry an der Tür stehen und sah den Mann auf dem Sofa an. Bald war sie von Kindern umzingelt - den Zwillingen, die etwa drei Jahre alt waren, einem Mädchen von etwa vier und einem Jungen - offensichtlich dem ältesten der Johnson-Kinder - von etwa sechs Jahren. Aus dem Garten hinter dem Haus kam ein Schrei, wie Kerry ihn schon zuvor gehört hatte, und als sie zum Fenster sah, entdeckte sie den Kinderwagen. Schwerfällig erhob sich der Mann vom Sofa und streckte die Hand aus. „Freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss Fairclough. Möchten Sie sich nicht setzen?" „Vielen Dank." Die Kinder folgten ihr in den Raum, dann standen sie da und starrten sie an. Ihre Kleidung war armselig, aber sauber. Kerry ließ den Blick durch das Zimmer gleiten und schauderte. „Raus mit euch. Geht spielen!" Die strenge Stimme ihres Vaters verfehlte ihre Wirkung nicht, und die Kinder verschwanden durch die Tür zur Küche. Gleich darauf sah Kerry sie in den Garten rennen. Ihr Paket stand auf dem Boden neben dem Stuhl. Mrs. Johnson fragte, ob sie gern eine Tasse Tee hätte. „Sehr gern - vielen Dank." „Ihr Besuch ist eine große Überraschung für uns, Miss Fairclough", sagte der Mann, als er und Kerry allein waren. „Natürlich wussten wir, dass Sie zu dritt waren, aber sobald ein Kind einmal adoptiert ist, lebt es völlig abgeschnitten von seiner übrigen Familie - und so war es auch damals." Er sah Kerry an und musterte sie mit einem gewissen Interesse. Er ließ den Blick von ihrem hübschen Gesicht zu ihrem Haar gleiten, das wie Bronze schimmerte und von goldblonden Strähnen durchzogen war. Sie hatte die Stirn leicht gerunzelt, um ihre Lippen zuckte es leicht. Sie riss sich zusammen und brachte ein Lächeln zu Stande. „Sie sind kein bisschen wie Michelle", sagte der Mann endlich, und Kerry schreckte hoch. „Michelle ist ganz blond - platinblond -und hat
blaue Augen." Kerry sah ihn an. Seltsam, dass dieser Mann ihr sagen musste, wie ihre dreizehn Jahre alte Schwester aussah. Kerry blickte hinaus in den Garten. „Sie ... sie ist da ..." Das Mädchen, beinahe schon unnatürlich schlank, hatte den Garten durch das Tor auf der Rückseite betreten und kam nun auf das Haus zu, einen Laib Brot unter dem Arm, den Blick auf das Fenster gerichtet, erwartungsvoll und dennoch scheu und ein wenig unsicher. Kerry war der Mund wie ausgetrocknet, als sie die Stimme der Frau aus der Küche hörte. „Deine Schwester ist da, Michelle. Geh rein, und sag Guten Tag." Schüchtern erschien Michelle an der Tür. Kerry stand auf und trat einen Schritt vor, dann blieb sie stehen und brachte keinen Ton heraus. Dies war der lang herbeigesehnte Augenblick - ihrer Schwester gegenüberzustehen. So lange hatte sie auf diesen Moment gewartet, und jetzt stand sie bloß da. Aber sie nahm wahr, dass in Michelles Augen Tränen schimmerten, ihre Lippen bebten, während Kerry, die selbst zutiefst gerührt war, keine Worte fand. Schließlich brach Michelle das Schweigen, kam langsam herein in das triste Zimmer, streckte die Hand aus und sagte verlegen: „Guten Tag. Es freut m ich, dass ich dich kennen ... kennen lerne." Michelles Hand war rau von der vielen Arbeit, ihr Händedruck aber war warm und fest. Kerry hatte den Blick noch immer fasziniert auf das Gesicht ihrer Schwester gerichtet. Was für ein hübsches Mädchen! Gleich einer Nymphe und ätherisch, mit so zarten, feinen Gesichtszügen und diese Augen! Dieses tiefe Blau, dieser sanfte, nachdenkliche und zweifellos traurige Blick. „Michelle ..." Endlich brach es aus ihr heraus, dann lagen sich die Schwestern in den Armen. Vergessen war der Mann auf dem Sofa, war die Frau, die zur Küchentür gekommen war, um Zeugin der Begegnung zu sein. „Wie schön, dich zu sehen...!" Kerry küsste das Mädchen, hielt es auf Armeslänge von sich, lachte und weinte, als sie heiser hinzufügte: „Du erinnerst dich nicht mehr an mich, aber ich kann mich noch gut an dich erinnern. Du warst so klein und so knuddelig ..." Kerry verstummte. Dann sprach Michelle wieder, wobei sie ihre Hände mit Kerrys verschränkte. „Mutter und Vater sagten, dass ich zwei Schwestern hätte, und ich habe oft versucht, mir euch beide vorzustellen." Sie schüttelte den Kopf, dabei rollten ihr zwei dicke Tränen über die Wangen. „Du bist kein bisschen so, wie ich dachte. Ich meine", fügte sie rasch hinzu, „du bist viel hübs cher." „Hübscher?" Kerry warf kurz einen Blick zu der Frau an der Tür. Sie wäre gern eine Weile mit Michelle allein gewesen, aber sie konnten nirgendwohin - es sei denn ins Schlafzimmer. „Wie meinst du das?" „Nun ... da du zehn Jahre älter bist, hatte ich erwartet, du würdest ziemlich langweilig sein und irgendwie eingebildet. Aber du siehst so jung aus - viel jünger als dreiundzwanzig. Und du bist so hübsch ..." Michelle sah Kerry an, als könnte sie sich nicht an ihr satt sehen, und seufzte tief. „Ic h bin so froh, dass du dich entschlossen hast, mich zu finden. Vater hat mir erzählt, dass deine Tante dir etwas Geld vererbt hat." Michelles Stimme war leise und zart, ihr Lächeln zaghaft und einfach süß. „Auch ich bin froh, dass ich mich entschlossen habe, dich zu finden", erwiderte Kerry, immer noch heiser. „Du bist sehr schön, Michelle." Michelle lachte kurz auf und wischte sich die Tränen weg. „Du bist nicht enttäuscht von mir. Oh, du ahnst ja nicht, welch schreckliche Angst ich hatte!" „Sie ist ein Dummerchen", mischte sich Mrs. Johnson ein, wenngleich nicht unfreundlich. „Wir haben ständig versucht, sie zu beruhigen, aber Sie machen sich ja keine Vorstellung, wie aufgeregt sie war, seit Mr. Haslett bei uns gewesen ist." „Ich hatte Angst, Kerry würde mich kurz ansehen, finden, dass ich nicht das sei, was sie sich erwartet hatte, weggehen und ich würde sie nie wieder sehen." „Deine Schwester wäre bestimmt niemals so unhöflich", sagte Mrs. Johnson und ging wieder in die Küche, als der Kessel auf dem Ofen zu pfeifen begann. „Nein, das wäre sie nicht, jetzt weiß ich es", erwiderte Michelle. „Nie wieder werde ich deswegen Angst haben." Die beiden Schwestern standen immer noch da, die Hände verschränkt, während Kerry erzählte, dass man auc h Avril gefunden habe. Plötzlich drehte Kerry sich um, wie auf einen Befehl hin, und als sie den Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes sah, lief es ihr eiskalt über den Rücken. Mr. Haslett hatte ausdrücklich erwähnt, dass er diesen Mann nicht mochte, und Kerry zweifelte nicht an der Menschenkenntnis des jungen Anwalts. „Ganz rührend", sagte der Mann ausdruckslos. „Wirklich ganz rührend."
Michelle wurde rot und zog die Hände zurück. „Ich werde Mutter mit dem Tee helfen", sagte sie leise, und Kerry biss sich auf die Lippe, als das Mädchen in der Küche verschwand. Der Mann hatte eine Handlung unterbrochen, die Kerry leidenschaftlich gern fortgesetzt hätte. Und seine bloße Anwesenheit ließ sie schaudern. Sie sah ihn an, sah, dass er seinen f eisten Körper etwas bewegte und dringend eine Rasur brauchte. Er war Invalide, wie ihr plötzlich einfiel, aber das änderte nichts an ihrer Einstellung ihm gegenüber. Kerry setzte sich wieder, den Blick auf die Küchentür gerichtet, um jede Bewegung des reizenden Mädchens zu verfolgen, das hin und her huschte, jetzt Geschirr auf ein Tablett stellte, dann Löffel auf die Untertassen legte und danach eine Packung Kekse öffnete. Schließlich trug Mrs. Johnson das Tablett herein und stellte es auf den Tisch. Michelle war noch in der Küche, und als sie lauschte, hörte Kerry das Gespräch zwischen ihr und einem der Kinder. „Michelle, ich habe mich in den Finger geschnitten, an einem Glas - ooh, es tut weh! Machst du mir ein Pflaster drauf?" „Ja, lass mal sehen. Wir müssen die Wunde zuerst auswaschen. Halt den Finger unter den Wasserhahn ..." Kurz darauf, als Kerry ihren Tee trank, kam ein anderes Kind in die Küche. Michelle sagte dem ersten Kind gerade, es solle in Zukunft vorsichtiger sein, und fügte hinzu: „Lass das Pflaster drauf, sonst kommt Schmutz in die Wunde, und sie entzündet sich." „Michelle, ich will ein Brot!" „Ich will Wasser trinken." Das musste einer der Zwillinge sein. „Sag Tommy, er soll dir was geben. Ich mache Bridget ein Brot. Und außerdem will ich jetzt rein zu meiner Schwester." Stirnrunzelnd betrachtete Kerry die Frau, die bei ihr am Tisch saß und gerade die Teetasse an die Lippen hob. „Trinkt Michelle denn nicht auch eine Tasse Tee mit uns?" konnte sie nicht umhin zu fragen. „Doch ... natürlich. Michelle!" rief die Frau. „Komm her, und trink deinen Tee." „Sie kümmert sich um die Kleinen", sagte Mr. Johnson unvermittelt und beinah herausfordernd, wobei er den Blick auf Kerry geheftet hatte. „Michelle muss das tun, Miss Fairclough. Sie ist alt genug und durchaus dazu imstande, und weder meine Frau noch ich halten etwas davon, Kinder zu verwöhnen." Er sah sie fest an, wie um ihren Protest herauszufordern. Kerry blieb schweigsam, und ohne dass sie es wollte, schweiften ihre Gedanken zu Avril - zu Avril, die alles hatte. Michelle kam endlich herein, setzte sich an den Tisch und schenkte sich selbst Tee ein. „Füll mir meine Tasse." Ihr Vater hielt sie ihr hin. Michelle stand auf, nahm sie entgegen, goss Tee hinein, ging damit hinüber zum Sofa und warf Kerry einen Blick zu, als sie an ihr vorbeiging. Dabei lächelte sie so gewinnend, dass es Kerry beinahe zu Tränen rührte. „Darf ich Michelle zum Tee einladen?" fragte Kerry wenig später. „Ich habe ein nettes Restaurant an der Hauptstraße gesehen, als ich im Bus vorbeigefahren bin. Ich nehme an, sie haben sonntags geöffnet?" „Sie haben geöffnet, aber wie ich schon sagte, hat Michelle zu tun." Michelle räumte die Teetassen ab, stapelte sie auf dem Tablett, hielt dabei jedoch plötzlich inne und sagte flehend: „Darf ich nicht mitkommen, nur dieses eine Mal? Bitte, lass mich, Vater." „Damit deine Mutter sich um die ganzen Kinder kümmern kann? Ganz bestimmt nicht." Er blickte Kerry an. „Tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, Miss Fairclough, aber Michelle wird hier gebraucht." Nur mühsam unterdrückte Kerry eine Antwort darauf. Michelle war den Tränen nah, ihre Lippen bebten, und sie schien dem besorgten Blick ihrer Schwester absichtlich auszuweichen. Kerry fragte Michelles Eltern, ob sie die beiden allein sprechen könne. „Ist es wichtig?" Ohne eine Antwort abzuwarten, deutete Mr. Johnson mit dem Kopf zur Tür, und sofort ging Michelle hinaus. Kerry wusste kaum, wie sie anfangen sollte. Zum einen hatte Stephen Haslett schon den Vorschlag gemacht, der ihr jetzt durch den Kopf ging. Und zum ändern war es nicht sicher, ob Michelle ihre Eltern überhaupt verlassen wollte. Sie war dieses Leben gewohnt, sie kannte nichts anderes. Vielleicht, dachte Kerry plötzlich unentschlossen, war dies nicht der rechte
Augenblick. Vielleicht sollte sie warten, bis Michelle eine Zeit lang bei ihr wohnen konnte. „Sie haben uns etwas zu sagen, Miss Fairclough?" sagte Mr. Johnson endlich, und Kerry war gezwungen zu antworten. „Ich wusste gern, ob ... ob Sie Michelle erlauben würden, bei mir Ferien zu machen." Angewidert verzog er das Gesicht. „Habe ich nicht eben gesagt, dass Michelle hier gebraucht wird? Ferien? Weshalb sollte sie Ferien haben? Wir selbst hatten seit sieben Jahren keinen Urlaub mehr." „Weil wir uns gerade erst wieder gefunden haben", beantwortete Kerry seine Frage und war selbst erstaunt über ihre Ruhe und Geduld. „Es würde uns beiden gut tun, wenn wir eine Woche zusammen verbringen könnten." „Arbeiten Sie denn nicht?" „Doch, aber ich könnte mir eine Woche freinehmen." „Nicht nötig. Michelle bleibt hier." Kerry wandte sich der Frau zu. „Mrs. Johnson, hätten Sie denn etwas dagegen, wenn Michelle bei mir Ferien machen würde?" „Nun ja ... wissen Sie, Miss Fairclough, ich muss arbeiten, das habe ich ja schon Ihrem Anwalt erklärt. Deshalb muss Michelle sich um die Kleinen kümmern, denn mein Mann ist krank." Krank ...? Kerry sah ihn an, musterte sein Gesicht. „Ist es etwas Ernstes, Mr. Johnson?" „Das alte Herz. Kann keine schwere Arbeit machen, und da ich auf dem Bau gearbeitet habe, ist damit Schluss bis an mein Lebensende." „Nicht wenn wir das Geschäft übernehmen können, von dem du immer redest", mischte sich seine Frau ein, seufzend und doch zuversichtlich. „Woher sollen wir das Geld für ein Geschäft nehmen?" fuhr er sie ungeduldig an. „Na ja ... du spielst Toto, und du sagst doch immer, dass wir eines Tages noch unser eigenes Geschäft haben werden." „Könnten Sie denn ein Geschäft führen?" fragte Kerry, denn ihr war eine Idee gekommen. „Der Laden an der Ecke wird in drei Monaten verkauft. Ich könnte den Bürokram erledigen, meine Frau am Tresen arbeiten." Kerry verzog die Lippen, während ihr Plan Gestalt annahm. „Wie viel verlangen sie für den Laden?" fragte sie, und beide, Mann und Frau, sahen sie überrascht an. „Dreitausend Pfund." Dreitausend Pfund ... Und Avril war eine reiche Erbin. Es würde bestimmt nicht schwierig sein, Avril dazu zu bewegen, diese Summe zu zahlen. Den Onkel möglicherweise schon. Aller Wahrscheinlichkeit nach verwaltete er ihr Vermögen. Doch er würde es verstehen - ja, Kerry war überzeugt, dass er Avril bereitwillig erlauben würde, das Geld zur Verfügung zu stellen, das Michelle die Freiheit brachte. „Ich könnte Ihnen die Summe beschaffen. Wären Sie dann bereit, Michelle bei mir leben zu lassen - sie mir vorbehaltlos zu übergeben?" Schweigen folgte, bevor die Frau sprach. „Wir würden uns niemals von Michelle trennen ..." „Sei still", fiel ihr Mann ihr scharf ins Wort. „Miss Fairclough, ist dieses Angebot ernst gemeint?" Kerry sah ihn an, sah den gierigen Ausdruck in seinen Augen und wusste, am schwierigsten wäre es jetzt, sich ihre Verachtung nicht anmerken zu lassen. „Es war kein Angebot, Mr. Johnson, denn ich selbst habe diese Summe nicht. Aber ich könnte sie beschaffen." Sie schwieg und sah Mrs. Johnson an. Die Lippen der Frau bebten, und man merkte ihr an, dass sie Michelle irgendwie mochte. Das jedoch beeinflusste Kerry nicht, denn sie dachte einzig und allein an das Wohlergehen ihrer Schwester - an ihr Glück und ihre Zukunft -und fragte jetzt noch einmal, ob Michelle bei ihr leben dürfe. „Wenn Sie mir die dreitausend Pfund geben können - ja, dann können Sie Michelle mitnehmen." „Ich werde mein Bestes tun, Mr. Johnson." Kerry blickte zur Küchentür. „Darf ich Michelle kurz sprechen?" „Natürlich." Der Mann rief nach Michelle, die gerade das Geschirr abwusch. Seine Frau saß da mit geneigtem Kopf, und Kerry fragte sich, ob sie weinte. Kerry sah von ihr zu dem schlanken
Mädchen an der Tür, das sich gerade die Hände an einem Handtuch abtrocknete. Ihr hübsches junges Gesicht war blass, ihre Augen waren glanzlos, ihr Blick war müde. Kerry musste schlucken, als hätte sie etwas Hartes und Schmerzhaftes im Hals. „Auf Wiedersehen für heute, Michelle." Sie nahm das Mädchen in die Arme und küsste es. Fast verzweifelt klammerte sich Michelle an sie, auch dann noch, als Kerry sich von ihr lösen wollte. Michelles Eltern beobachteten die Szene, aber die beiden Schwestern nahmen sie gar nicht wahr. „Ich komme bald wieder." Unwillkürlich wandte Kerry sich dem Mann zu. „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Michelle regelmäßig besuche, oder?" „Kommen Sie, wann immer Sie möchten", sagte er eifrig und fügte bedeutungsvoll hinzu: „Können wir das Geschäft machen, Miss Fairclough?" „Ja, Mr. Johnson." Erst nachdem sie schon gegangen war, fiel Kerry ein, dass das Paket noch immer neben dem Stuhl stand. Ein Gewitter brach los, als Kerry aus dem Haus kam und zum Wartehäuschen rannte. Ungeheure Kumuluswolken verfinsterten den Himmel, und alles war in ein düsteres Grau gehüllt. „Passt genau zu meiner augenblicklichen Stimmung", sagte Kerry vor sich hin, als sie dastand und auf den Bus wartete, der m it Sicherheit Verspätung hatte. Zurück in ihrer Wohnung, war der Tee schon für Kerry vorbereitet, und während des Essens erzählte sie Irene von ihrem Besuch bei Michelle. Aber sie erwähnte nichts von ihrer Absicht, die dreitausend Pfund von Avril zu beschaffen, hauptsächlich weil zu diesem Zeitpunkt noch alles offen war. Wenn sie auf Barbados gewesen war und ihre Schwester getroffen hatte, wäre noch Zeit genug dazu. „Die armen Kinder sind schlimm dran, so viel steht fest", sagte Irene, nachdem Kerry zu Ende erzählt hatte. „Hoffen wir, dass alles stimmt, was wir von Avril gehört haben. Wenn es nicht so wäre, wünschte ich, du hättest dieses Geld niemals geerbt." Kerry schwieg. Was auch immer bei ihrem Besuch auf Barbados herauskommen mochte, wenigstens wusste sie, wo sie Michelle fand. Und selbst wenn ihr Plan fehlschlagen sollte, blieb ihr die Aussicht, dass Michelle die Johnsons eines Tages verlassen und bei ihr leben könnte. Gegen Ende der Woche erhielt Kerry eine Nachricht von Stephen Haslett, und tags darauf suchte sie ihn während der Mittagspause in seiner Kanzlei auf. Stephen erkundigte sich zunächst nach ihrem Besuch bei Michelle, und wie schon bei Irene, erwähnte sie auch diesmal nichts von ihrem Vorhaben. „Es ist tragisch, dass Avril alles im Überfluss hat und Michelle mit nichts dasteht - so ist das Leben." Er seufzte und spielte gedankenverloren mit seinem Tintenlöscher auf dem Schreibtisch. „Aber kommen wir zu dem Brief, den ich von Mick erhalten habe - er ist der Freund, der für mich Nachforschungen auf Barbados anstellt. Er bleibt übrigens noch weitere drei Wochen auf der Insel. Er hat beschlossen, dort Urlaub zu machen, und falls Sie sich entschließen sollten, sofort nach Barbados zu reisen, könnten Sie sich mit ihm treffen." „Das würde ich gern tun", antwortete Kerry eifrig, und Stephen Haslett versprach, die Begegnung zu arrangieren, sobald Kerry ihm den Tag ihrer Abreise nannte. Er sagte außerdem, dass er jetzt Avrils Adresse habe, so dass Kerry ihr gleich schreiben könne. „Sie wohnt bei ihrem Onkel Wayne Harvey auf dessen herrlichem Plantagensitz, obwohl sie ein ebenso herrliches Haus ihr Eigen nennt." Stephen gab Kerry das Blatt mit Wayne Harveys Adresse auf Barbados - Trade Winds Estate, St. Mark ... „Um Avril müssen Sie sich ganz bestimmt keine Sorgen machen", fuhr Stephen Haslett fort. „Ihr Onkel wacht sowohl über Avril als auch über ihr Vermögen - sie muss außergewöhnlich hübsch sein", fügte Stephen lächelnd hinzu. „Ihre körperliche Attraktivität und die Tatsache, dass sie eine reiche Erbin ist, ziehen natürlich viele unerwünschte Typen und jede Art von Mitgiftjägern an. Aber wer glaubt, er könne Avril das Geld abluchsen, hat Pech, sagt Mick. Avrils Onkel kennt alle Tricks." „Tricks?" wiederholte Kerry verständnislos. „Sie wissen ja selbst, wie das mit reichen, jungen Mädchen so ist. Ausgefuchste Ganoven lassen sich alles Mögliche einfallen, um sich zu bereichern. Aber Wayne Harvey wird mit diesen Burschen anscheinend sehr gut fertig." „Das freut mich", erwiderte Kerry. „Es ist beruhigend, zu wissen, dass er sich so sehr um Avril kümmert." Kerry machte eine Pause und fügte hinzu: „Ist er ihr gesetzlicher Vormund?" Stephen nickte. „Ja. Er verwaltet auch ihr Vermögen, bis sie fünfundzwanzig ist."
Gedankenverloren las er den Luftpostbrief noch einmal durch, dann sagte er: „Avrils Vormund ist Mick zufolge ein sehr gefürchteter Mann, und zwar auf beiden Plantagen - genießt aber dennoch großen Respekt." Als Kerry die Kanzlei wenig später verließ, war sie zuversichtlich, dass alles in Ordnung kommen würde. Wayne Harvey wird nur allzu bereit sein, die dreitausend Pfund zur Verfügung zu stellen, dachte sie. Am Tag ihrer Abreise erhielt Kerry einen Brief von Mrs. Johnson, und während sie ihn las, wich nach und nach alle Farbe aus ihrem Gesicht. „Stimmt etwas nicht?" Besorgt sah Irene Kerry an. „Du bekommst doch jetzt hoffentlich keine schlechten Nachrichten." Unfähig, zu sprechen, reichte Kerry ihrer Freundin den Brief. Liebe Miss Fairclough, ich muss Ihnen schreiben, da ich mir große Sorgen mache. Letzten Sonntag war mein Mann böse auf Michelle, und in seiner Wut sagte er, es wäre nur gut, wenn sie bei ihrer Schwester leben würde. Ich selbst hatte nicht die Absicht, Michelle davon zu erzählen, solange noch nichts entschieden war. Natürlich war Michelle sehr überrascht, als sie erfuhr, dass man darüber gesprochen hatte, sie könnte bei Ihnen leben. Und da sie sehr an mir hängt, erklärte sie entschlossen, sie wolle nicht von hier weggehen. Aber sie sagt oft, wie sehr sie Sie mag, und ich weiß, dass sie heute glücklicher ist als noch vor einiger Zeit, glücklich, weil sie ihre leibliche Schwester nun kennt. Im Lauf des Tages bemerkte ich einen Ausdruck auf ihrem Gesicht, den ich nie zuvor bei ihr gesehen hatte, und irgendwie wusste ich, dass sie sich vorstellte, wie anders ihr Leben bei Ihnen sein würde. Sie muss wohl sehr oft ihr Schicksal mit dem anderer Mädchen ihres Alters verglichen haben. Sie hat kein Privatleben, niemals Vergnügen, trägt keine hübschen Kleider. Da unser Haus sehr klein ist, hat sie nicht einmal ein Schlafzimmer für sich allein und muss ihres mit den Zwillingen teilen. Als sie später ungestört mit mir reden konnte, wollte sie mehr erfahren, und ich musste ihr von unserer Vereinbarung wegen des Geschäfts erzählen. Da merkte ich, dass sie bereit war, uns zu verlassen. Auch ich halte es für richtig, und das sagte ich ihr. Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen, denn bald spürte ich ihre Aufregung, ihre Freude darauf, bei Ihnen leben zu dürfen. Musste man sie jetzt enttäuschen, würde es ihr das Herz brechen - und auch mir, denn ich liebe Michelle und möchte, dass sie glücklich wird. Bitte, Miss Fairclough, versuchen Sie, dieses Geld aufzutreiben, Michelle und mir zuliebe. Bitte erwähnen Sie diesen Brief bei Ihrem nächsten Besuch nicht meinem Mann gegenüber. Mit freundlichen Grüßen Ada Johnson Irene hatte die Stirn gerunzelt, während sie den Brief gelesen hatte, und jetzt - sie hielt noch immer die Blätter in der Hand - sah sie Kerry fragend an. „Ich habe mit niemand über meinen Plan gesprochen", begann Kerry, „nicht einmal mit dem Anwalt, da ich nicht sicher sein konnte, ob ich das Geld bekomme. Irene ... angenommen, Avril ist nicht bereit, die Summe zu beschaffen?" Irene seufzte und schüttelte den Kopf. „Es wäre besser gewesen, du hättest zuerst Avril besucht und dann den Vorschlag gemacht - aber das ist dir inzwischen ja wohl selbst klar." „Allerdings. Trotzdem bin ich sicher, dass Avril helfen wird. Das glaubst du doch auch, oder? Ich meine - würdest du deiner Schwester etwa nicht helfen, wenn du so reich wie Avril wärst?" „Natürlich würde ich das tun, wie auch die meisten anderen. Aber ..." Irene verstummte, da sie Kerry nicht noch mehr Kummer machen wollte. „Lassen wir die Dinge auf uns zukommen", sagte sie schließlich. „Es hat keinen Sinn, sich unnötig Sorgen zu machen." Sie sah auf die Uhr. „Du packst jetzt besser deine Sachen fertig ein. Das Taxi ist in zehn Minuten hier." Avril nickte.
2. KAPITEL
Die Maschine landete auf der Insel um sieben Uhr abends - zu spät für einen Besuch bei ihrer Schwester. Kerry hatte Stephen Haslett gebeten, seinen Freund Mick ein Hotelzimmer für sie buchen zu lassen. Das hatte er gern getan und darüber hinaus veranlasst, dass Mick Kerry am Flughafen abholte. Zu ihrer großen Erleichterung war er hier, mit einem Mietwagen, und da Kerry allein reiste, fand er sie rasch und stellte sich vor. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich all die Mühe machen", sagte Kerry, als Mick ihre Koffer auf dem Rücksitz des Wagens verstaute. „Das Leben ist gleich viel leichter, wenn man eine solche Hilfe hat." „Das mache ich nur zu gern." Mick sah sie seltsam an, während er ihr die Tür aufhielt und darauf wartete, dass sie einstieg. „Stephen schrieb mir, dass man Ihre Briefe nicht beantwortet hat." „Das stimmt", gab Kerry sichtlich besorgt zu. „Und nun, da ich hier bin, habe ich beinah Angst davor, Avril anzurufen." Sie wandte sich ihm zu, als Mick auf den Fahrersitz glitt. „Es wäre schrecklich, wenn sie mich nicht sehen wollte." Der Gedanke war ihr erst jetzt gekommen. Jetzt, da sie die Inseln wie auf dem Meer treibende, kostbare exotische Juwelen sah, jetzt erst wurde ihr die volle Auswirkung ihres Unternehmens bewusst. Hier war sie nun, auf Barbados, und sehr bald würde sie an eine fremde Tür klopfen und darum bitten, Miss Avril Harvey sprechen zu dürfen ... dabei wusste sie gar nicht, ob Avril sich über ihren Besuch freuen würde oder nicht. „Sie wird Sie sehen wollen", erklärte Mick und startete den Motor. „Ihre Schwester sieht nicht nur fantastisch aus, sie ist auch ein sehr reizendes Mädchen." „Wirklich? Sie haben Sie kennen gelernt?" „Auf einer Party eines Abends." Mick nickte. „Mir war es gelungen, eine Einladung zu ergattern, so dass ich Ihre Schwester ein bisschen ausfragen konnte ..." Er machte eine Pause, und ein Lächeln breitete sich auf seinem runden, hübschen Gesicht aus. „Der Wachhund von Onkel ließ uns allerdings nicht lang allein. Aber irgendwie fand ich es gar nicht schlecht, dass er dabei war. Das gab mir Gelegenheit, ihn einzuschätzen." Sie waren jetzt auf dem Highway, und während der Wagen ruhig die Landstraße entlangfuhr, wurde Kerrys Aufmerksamkeit auf die Blumen gelenkt, die zu dieser Jahreszeit in voller Blüte standen. Die Gärten der noblen Villen leuchteten in exotischen Farben - im Rosa und Weiß des Oleander, im strahlenden Orange und Purpurrot der Bougainvilleen, in den großen, prachtvollen Blüten des Hibiskus, dessen Farbenskala von Zartweiß bis Rosa und Scharlachrot reichte. Die Zweige riesiger Palmen und anderer tropischer Bäume unter einem azurblauen Himmel wiegten sich sanft im Nord-Ost-Passat, der vom Meer hereinwehte. „Was für ein Mensch ist Wayne Harvey?" fragte Kerry, die die Schönheit ihrer Umgebung jetzt nur noch teilweise wahrnahm. „Nun ... Ich schätze ihn auf Mitte dreißig. Er ist sehr groß und schlank, außergewöhnlich gut aussehend, ein sehr männlicher Typ, ein Mann, auf den Frauen stehen." Mick schwieg einen Moment, warf Kerry einen kurzen Blick zu, und sie sah, wie es in seinen Augen übermütig blitzte. „Auf der Party zeigte sich sehr schnell, dass ebenso viele an Wayne interessiert waren wie an seiner Nichte - unterschiedlichen Geschlechts natürlich", fügte er lachend hinzu. „Wenn er so attraktiv ist, wundert es mich, dass er noch nicht verheiratet ist." „Er ist ein eingefleischter Junggeselle, selbstgefällig und frauenverachtend. Nein, mehr als das. Er wirkte schrecklich gelangweilt von ihrem Geschwätz und ihrer Frivolität." „Trotzdem ist er auf diese Party gegangen." „Das war mir den ganzen Abend über ein Rätsel. Dann fand ich heraus, dass er nur Avrils wegen gekommen war. Offensichtlich erlaubt er ihr nicht, ohne Begleitung auszugehen." „Haben Sie sich mit ihm unterhalten?" Der Wagen glitt ruhig eine von Palmen beschattete Auffahrt entlang, die schon zur Hotelanlage gehörte, und Kerry erblickte einen sagenhaften Swimmingpool, dahinter eine ausgedehnte Grünanlage mit Tennisplätzen. „Ein wenig." Wieder machte Mick eine Pause, runzelte die Stirn und fügte leicht amüsiert hinzu: „Ich bin sicher, er hatte so seinen Argwohn gegen mich - er hielt mich wohl für einen Mitgiftjäger, der sich Avril als Beute ausgesucht hatte. Das muss schon ein ganz cleverer Bursche sein, der Ihre Schwester einmal zur Frau bekommt." „Eines Tages wird sie ihr eigener Herr sein", erwiderte Kerry, der es nicht gefiel, dass dieser Wayne sowohl über Avril als auch über ihr Vermögen verfügte.
„Ja, eines Tages wird sie ihr eigener Herr sein", sagte Mick nachdenklich und brachte den Wagen vor dem Eingang zum Crescent Moon Hotel zum Stehen. „Trotzdem, ich habe das Gefühl, dass ihr Onkel auch dann noch großen Einfluss auf sie haben wird, denn sie liebt und achtet ihn, so viel ist sicher." „Dann war er also nett zu ihr?" Seltsamerweise hatte Kerry sich Wayne Harvey als strengen und nicht sehr geduldigen Vormund vorgestellt. „Ja, er war sogar ausgesprochen nett zu ihr. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass er auch streng sein kann und sein Wort für Avril Gesetz ist." Mick stieg aus, und sofort eilte ein Portier herbei, um Kerrys Gepäck auf ihr Zimmer zu tragen. „Darf ich Sie heute Abend zum Essen ausführen?" Mick wollte es offensichtlich gern tun, und lächelnd nahm Kerry seine Einladung an. „Gut, dann hole ich Sie in etwa einer Stunde ab. Reicht Ihnen die Zeit, um sich fein zu machen?" fragte er schmunzelnd. „So in etwa. Und danke für die Einladung." „Es ist mir ein Vergnügen. Nun werde ich meinen letzten Abend auf der Insel gründlich genießen." „Natürlich - Sie reisen ja morgen ab. Mr. Haslett sagte es mir, nur hatte ich es ganz vergessen." „Traurig bin ich schon - aber auch entschlossen wiederzukommen, wenn es die Finanzen erlauben - oder wenn eine reizende junge Dame wünscht, dass ich gewisse Nachforschungen für sie anstelle", fügte er lächelnd hinzu. „Vielleicht bis bald. Heute Abend jedenfalls bringe ich Sie ins Miramar, ein vornehmes und feines Restaurant, ein wenig formell, aber das Essen ...!" Sie hatten neben dem Wagen gestanden. Mick ließ sich auf den Fahrersitz gleiten und fuhr los. Kerry winkte ihm lächelnd nach, dann folgte sie dem Portier hinauf in ein komfortabel eingerichtetes Zimmer im vierten Stock. Es bot den Blick auf die Gärten und das dahinter liegende türkisblaue Meer. Kerry duschte, ihre Gedanken schweiften zu Wayne Harvey, und sie versuchte, sich eine Vorstellung von ihm zu machen, nach allem, was sie nun von ihm wusste. Groß und schlank und gut aussehend, der männliche Typ, ein Mann, auf den Frauen stehen - frauenverachtend, gelangweilt von ihren Trivialitäten. Ein wachsamer Vormund, ein fähiger und cleverer Geschäftsmann, wie es schien, denn er verwaltete zwei riesige Zuckerrohrplantagen, auf denen ein Heer von Arbeitern beschäftigt war. Mick wartete, in der Hotelhalle auf Kerry, als sie eine Stunde später hinunterkam. Auf der Fahrt zum Miramar machte er einen Umweg, so dass er ihr zeigen konnte, wo Avril und ihr Onkel lebten. Kerry verschlug es den Atem, als Mick angehalten hatte und ihr das palastartige Herrenhaus zeigte, das von herrlichen Gärten umgeben war. Sie stiegen aus, standen da und blickten durch das hohe schmiedeeiserne Tor. Alle möglichen exotischen Bäume zierten die Gartenanlage, ein beleuchteter Springbrunnen und sein kristallklares Wasser schufen eine fast märchenhafte Atmosphäre in einer ohnehin schon zauberhaften Umgebung. „Er hat seinen eigenen Privatstrand", sagte Mick. „Und drinnen im Haus muss es sagenhaft sein. Viele Villen auf dieser Insel sind so wie diese. Hier leben ehemalige Filmstars, Schiffseigner und natürlich die wohlhabenden Plantagenbesitzer. Zahlreiche Gebäude wurden im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert errichtet, als Pracht und Eleganz das Leben bestimmten. Den Reichtum auf diesen Inseln muss man gesehen haben, sonst glaubt man es nicht." Kerry war sprachlos, blickte voller Staunen auf den stattlichen Herrensitz und dachte dabei an Avril - und Michelle. „Meine Schwester besitzt ein solches Haus, sagten Sie?" fragte sie schließlich, und Mick nickte. „Nicht weit von hier. Beide Besitztümer grenzen aneinander, weil sie Brüdern gehörten." „Fantastisch!" „Sie sind beeindruckt, nicht wahr?" „Sehr sogar." Morgen musste sie diesen Grund und Boden betreten und sich dem Mädchen vorstellen, das inmitten dieses Reichtums lebte ... Mick fuhr zum Miramar, wo sie zu Abend aßen und tanzten. Aber sie brachen früh auf, da Kerry müde war und Mick den Mietwagen zurückbringen musste, denn sein Flug ging um vier Uhr früh. Mick schloss gerade die Wagentür auf, als zwei Paare vorübergingen, auf den Hoteleingang zu. Deshalb bemerkte er weder die Aufmerksamkeit eines der Männer noch den kurzen, aber durchdringenden Blick, mit dem dieser Sekunden später Kerry bedachte. Ihr selbst entging es nicht,
doch maß sie dem keinerlei Bedeutung bei, weshalb sie den kurzen Vorfall Mick gegenüber auch nicht erwähnte. Wenig später verabschiedete sie sich von Mick, als er sie vor dem Crescent Moon Hotel absetzte. „Viel Glück für Ihr bevorstehendes Treffen", sagte er, kurz bevor er losfuhr. „Ich hoffe, alles verläuft so, wie Sie es sich wünschen." Aber obwohl sie lächelnd sagte, dessen sei sie sich sicher, fühlte Kerry sich mit einem Mal schrecklich mutlos. Wenige Minuten nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hatte, schritt Kerry eine Allee anmutiger Palmen entlang. Dann erreichte sie das eindrucksvolle Portal zu Wayne Harveys Herrenhaus und stand einen Moment unsicher da. Schließlich griff sie nach dem Türklopfer. Ein dunkelhäutiges Dienstmädchen mit gestärkter weißer Schürze öffnete die Tür. „Ich möchte Miss Avril Harvey sprechen." Kerry lächelte. „Ihren Namen, bitte?" Das Mädchen sah sie streng an, und Kerry hatte den seltsamen Eindruck, als erwartete man sie. „Miss Kerry Fairclough." Das Mädchen nickte und bat Kerry herein. Der elegante Salon, in den man sie führte, raubte Kerry buchstäblich den Atem. „Bitte warten Sie hier", sagte das Mädchen und verschwand. Kerry stand am Fenster und blickte sich erstaunt um. Einige wunderschöne Chippendale- und Sheraton-Möbel, erlesene Gobelins mit exquisiten Farben und Mustern, feines Spode- und Wedgwood-Porzellan zeugten von einem harmonischen und guten Geschmack. Deckenhohe Glastüren führten hinaus auf eine Veranda, die den Blick auf tropische Landschaftsgärten bot. Hinter dieser farbenprächtigen Szenerie lag die saphirblaue Bucht, an der Wayne Harvey seinen Privatstrand und den Ankerplatz für seine Yacht hatte. Kerry, die plötzlich ein leichtes Kribbeln verspürte, drehte sich um. In dem massiven Türrahmen stand der Mann, der sie am Vorabend so streng und durchdringend betrachtet hatte, und zeigte sich kein bisschen überrascht, sie wieder zu sehen. Wie lange steht er schon hier? fragte sie sich, äußerst beunruhigt von seinem Schweigen und seinem forschenden Blick. Dass er Wayne Harveywar, bezweifelte sie nicht, denn fast genau so hatte sie ihn sich vorgestellt. Fast, aber nicht ganz, denn jetzt nahm Kerry den harten und arroganten Zug in seinem Gesicht wahr. Auch sein Verhalten war arrogant, die Art, wie er sie ansah, ja selbst, wie er dastand, eine schmale, sonnengebräunte Hand am Türpfosten, die andere lässig in der Hosentasche. Ohne die Höflichkeit zu besitzen, ihr einen Platz anzubieten, sagte er endlich etwas, und seine Stimme war so offenkundig unfreundlich, dass plötzliche Besorgnis Kerry befiel und sie schon fast wünschte, sie wäre nicht in dieses Haus gekommen, sondern hätte auf einem anderen Weg versucht, Kontakt mit ihrer Schwester aufzunehmen. „Ich habe Sie schon erwartet, Miss Fairclough. Sie wissen sicher, wer ich bin, also spare ich mir die Mühe, mich vorzustellen. Was kann ich für Sie tun?" Wayne Harvey hatte sie erwartet, folglich musste Avril die Briefe erhalten haben. Aber warum hatte sie nicht darauf geantwortet? Kerry sah Wayne an, der seinen durchdringenden Blick noch immer auf sie gerichtet hatte. Sie schluckte, verwirrt und bestürzt über diesen Empfang. Trotzdem war ihr klar, dass sie freundlich erscheinen musste, und so rang sie sich ein Lächeln ab und streckte die Hand aus. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Harvey. Wie Sie wissen, bin ich gekommen, um Avril zu besuchen." Kerry verstummte, denn die Gleichgültigkeit und das offensichtliche Desinteresse dieses Mannes beunruhigten sie. Was stimmt hier nicht? fragte sie sich und fügte ziemlich lahm hinzu: „Sie ist meine Schwester", woraufhin Wayne zu ihrer weiteren Verblüffung die dunklen Brauen hochzog. Langsam kam er in den Kaum. In der hellen Leinenhose und dem zartgrünen Hemd machte er eine eindrucksvolle Figur. Sein bronzefarbenes Gesicht war schmal und kantig und hatte fein geschnittene Züge. Das dunkle glatte Haar hatte er aus der hohen, aristokratischen Stirn zurückgekämmt, seine Augen waren stahlgrau wie Feuerstein - sein Blick ebenso hart. Betont herausfordernd ignorierte er Kerrys ausgestreckte Hand, beobachtete, wie sie den Arm sinken ließ, sah, wie sie, peinlich berührt von seiner Brüskierung, errötete. „Miss Harvey ist also Ihre Schwester?" fragte er in scharfem Ton und ausgesprochen verächtlich. „Und? Können Sie diese Behauptung irgendwie beweisen?" „Beweisen?" Kerry schüttelte den Kopf. „Nein ... Ich hatte Avril von meinen Nachforschungen
geschrieben. Offensichtlich hat sie meine Briefe erhalten." „Ihren ersten Brief hat meine Sekretärin zufällig geöffnet", erklärte Wayne aalglatt, „und ich habe ihn gelesen. Mit Ihrem zweiten Brief passierte das Gleiche wie mit dem ersten. Er wurde vernichtet." Kerry sah ihn ungläubig an. „Sie haben Kerry die Briefe vorenthalten!" stieß sie, plötzlich wütend, hervor. Wayne betrachtete sie unvoreingenommen und völlig ungerührt von ihrer Beschuldigung. „Miss Fairclough, welchen Vorteil haben Sie und Ihr Komplize sich von dieser List versprochen?" „Komplize?" wiederholte sie verständnislos. „Ihr Freund - Mick oder so ähnlich, der Ihnen vorauskam, um Erkundigungen über meine Nichte einzuholen und Ihnen den Weg zu ebnen." Langes Schweigen folgte diesen Worten, und nach und nach wurde Kerry deren Bedeutung bewusst. Warum habe ich nicht an diese Möglichkeit gedacht, dass Wayne Harvey mich für eine Betrügerin hält? fragte sie sich, als Gesprächsfetzen, wie Mick sie benutzt hatte, ihr durch den Kopf schössen: Mitgiftjäger ... ausgefuchste Ganoven, die sich alles Mögliche einfallen lassen, um sich zu bereichern ... Avrils Onkel kennt alle Tricks. „Ich bin nicht ganz sicher, was Sie mir vorwerfen", sagte sie schließlich. „Aber welchen Verdacht Sie auch immer haben, ich bin wirklich Avrils Schwester. Der Mann, mit dem Sie mich gesehen haben, war kein Komplize, wie Sie es nennen, sondern der Beauftragte meines Anwalts, der herausfinden sollte, wo meine Schwester lebt." Sie sah zu ihm auf und wurde wütend, denn egal, was sie auch sagte, es interessierte ihn offensichtlich nicht. „In meinen Briefen hatte ich erklärt, dass ich etwas Geld geerbt und es dazu benutzt hatte, meine beiden Schwestern zu finden. Eine lebt in England und ..." Kerrys Stimme verlor sich in einer Art frustriertem Schweigen. Beweise könnte sie beschaffen, das wusste sie, aber sie war nur eine Woche hier. „Ich muss Avril sehen", beteuerte sie mit erhobener Stimme. „Nur deshalb bin ich den weiten Weg von England hierher gekommen, und ich werde ganz bestimmt nicht abreisen, ohne sie vorher getroffen zu haben." Kerrys Worte stießen auf taube Ohren, wie es schien, denn Wayne sagte nur: „Ich glaubte, alles zu kennen, aber das ist mir neu. Jetzt frage ich Sie noch einmal: Was versprechen Sie sich davon?" Er beobachtete sie genau, und weil ihr plötzlich die dreitausend Pfund einfielen, mit denen sie Michelle freikaufen wollte, wurde Kerry rot. Als er es bemerkte, kniff er verächtlich die Augen zusammen. „Anscheinend gehören Sie nicht zu den Raffiniertesten", bemerkte er spöttisch. „Aber eins muss ich Ihnen lassen: Die Idee war originell und nicht uninteressant." Er musterte sie unverblümt, gleichzeitig griff er nach oben, um den Klingelzug zu ziehen. „Mit Betrügern habe ich noch nie meine Zeit verschwendet, und ich fange auch jetzt nicht damit an." Er ging zur Tür. „Mein Dienstmädchen ..." „Aber Mr. Harvey ...", unterbrach sie ihn eindringlich. Panik übermannte sie. „... das Geld für die Rückreise nach England - ich habe kein Geld ..." Wayne Harvey fuhr herum und sah sie geringschätzig von oben bis unten an. „Mein Dienstmädchen wird Sie hinausbegleiten!" „Mr. Harvey ..." Kerry redete mit sich selbst. Sie hörte Waynes Stimme draußen vor der Tür, dann erschien das Mädchen. „Ich soll Sie hinausbegleiten, Missy." Verzweifelt bemühte Kerry sich, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. „Miss Avril", sagte sie, „ist sie zu Hause?" „Wenn Sie mir bitte folgen, Missy", sagte das Mädchen mit ausdrucksloser Stimme. „Wie heißen Sie?" „Cecilia, Missy." „Cecilia ... würden Sie Miss Avril eine Nachricht von mir überbringen?" Das war im Grund ein Fehler, aber Kerry hielt es für gerecht in dem Krieg, den Wayne Harvey gegen sie zu führen entschlossen war. „Ich gebe Ihnen eine Telefonnummer, und bitte sagen Sie ihr, sie möchte mich anrufen ..." „Ich muss Sie hinausbegleiten, Missy." Hilflos ließ Kerry die Schultern hängen. Und dann flammte die Wut auf, die sie sonst so gut unter Kontrolle hatte. Sie verlor nur selten die Beherrschung, aber wenn es einmal geschah,
dann sah sie rot. Sie stürmte an dem erstaunten Mädchen vorbei durch die Tür und eilte weiter in die Richtung, in die Wayne Harvey kurz zuvor gegangen war. „Mr. Harvey!" rief sie. „Kommen Sie zurück. Ich muss mit Ihnen reden!" Sie lief weiter und fragte sich, durch welche Tür er wohl verschwunden sein mochte. „Mr. Harvey!" schrie sie, das Gesicht rot vor Wut. „Mr. Harvey!" „Was ...?" Das hübsche junge Mädchen, das aus einem der Zimmer herauskam, sah Kerry überrascht an. Dann ließ es den Blick zu Cecilia gleiten, die sichtlich erschrocken war, die Hände erhoben hatte und etwas in ihrer eigenen Sprache vor sich hin murmelte. „Wer sind Sie?" Kerry blickte sich rasch um, dann fragte sie mit gedämpfter Stimme: „Bist du Avril?" „Ja, aber ..." „Ich bin deine Schwester - ich habe dir geschrieben, doch dein Onkel hat die Briefe verschwinden lassen ..." „Meine Schwester?" Verblüfft und erstaunt sah das Mädchen sie an. „Wovon reden Sie", brachte es schließlich hervor. „Sie müssen verrückt sein! Ich habe keine Schwester." „Doch, ganz bestimmt - zwei sogar. Wir drei wurden von verschiedenen Eltern adoptiert, nachdem unsere eigenen umgekommen waren. Das musst du wissen ..." „Miss Fairclough!" Waynes wütende Stimme schnitt Kerry das Wort ab, als er mit großen Schritten in die Halle kam. „Cecilia!" brüllte er mit Donnerstimme, „ich hatte dir gesagt, du solltest diese Frau hinausbringen! Warum hat man meine Anordnung nicht befolgt?" Diese Frau! Kerry musste schlucken, bevor sie sprechen konnte. „Ihr Dienstmädchen hat versucht, mich hinauszubringen, aber ich war entschlossen, meine Schwester zu sehen ..." „Avril ist nicht Ihre Schwester." „Onkel Wayne", begann Avril mit zittriger Stimme und blass im Gesicht, „was hat das alles zu bedeuten?" „Diese Frau ist eine Schwindlerin ..." „Das bin ich nicht! Ich ..." Kerry verstummte, als sie den Blick von Avrils aschfahlem Gesicht zu dem ihres Onkels gleiten ließ und merkte, was sie getan hatte. Avril hatte die ganze Zeit über nicht gewusst, dass sie adoptiert worden war. „Meine ... meine Eltern ... es waren meine richtigen Eltern!" Der Mitleid erregende Protest war wie ein Messer, das man Kerry ins Herz stieß. Als sie stockend begann, eine Entschuldigung vorzubringen, wurde sie hart am Arm gefasst, grob herumgerissen und im Eilschritt durch die gesamte Halle gezerrt. „Cecilia - öffne die Tür!" Das Mädchen beeilte sich, dem Befehl seines Herrn zu folgen, und Kerry erlebte die schlimmste Erniedrigung ihres Lebens. Sie wurde im wahrsten Sinne des Wortes aus Wayne Harveys Haus geworfen.
3. KAPITEL
Kerry saß auf dem Bett, hatte den Kopf in die Hände gestützt und fragte sich, ob je ein Erbe so viel Ärger verursacht hatte wie ihres. Obwohl seit ihrem unrühmlichen Rauswurf aus Wayne Harveys Haus schon zwei Stunden vergangen waren, zitterte sie noch immer, pochten ihr noch immer ganz entsetzlich die Schläfen, „Daran hätte ich denken müssen", flüsterte sie und trocknete sich die Tränen, die gleich darauf noch heftiger flössen. „Aber Wayne Harvey hätte mir sagen sollen, dass Avril von nichts wusste. Wenn er mir nur geglaubt hätte, dann hätten wir höflich miteinander reden können, und ich wäre seinem Rat bereitwillig gefolgt." Das hätte natürlich bedeutet, dass Michelle enttäuscht worden wäre … aber dann wäre wenigstens nur eine der Schwestern verletzt worden. Kerrys traurige Gedanken wurden plötzlich vom Läuten des Telefons unterbrochen. Ein Herr sei unten und wünsche sie zu sprechen, hieß es. „Danke. Ich komme sofort." Wayne Harvey - er muss es sein, dachte sie und fragte sich, wie er sie gefunden hatte. Sie sah der Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegen. War er gekommen, um ihr Beschuldigungen an den Kopf zu werfen? Oder wollte er sie bitten, zu Avril zu gehen? Bestimmt das Letzte, dachte sie, und ihr wurde etwas leichter ums Herz. Wie sie aussah! Ein verweintes Gesicht und einen Arm mit blauen Flecken, wo Wayne sie so fest gepackt hatte. An den Beinen hatte sie überall Kratzer und kleine Schnitte, denn als Wayne ihr den letzten Stoß versetzt hatte, war sie nicht auf dem Pfad, sondern in einem Dornengestrüpp gelandet. Mit Strümpfen konnte sie die Beine bedecken, mit einer Jacke ihren Arm, aber ihr Gesicht? Da war nichts zu machen, und mit einem resignierten Schulterzucken ging sie hinaus und den Flur entlang zum Lift. „Mick!" Sosehr sie sich auch darüber freute, ein vertrautes Gesicht zu sehen, war sie doch enttäuscht. „Was ist passiert?" Er hatte sein Flugzeug verpasst, hatte verschlafen. Da er nichts zu tun hatte und die nächste Maschine erst am darauf folgenden Abend ging, war er ins Crescent Moon gekommen, obwohl er eigentlich nicht erwartet hatte, sie hier anzutreffen. Er sah sie an, während er ihr das erzählte, und bemerkte ihre Enttäuschung. „Vielleicht sollte ich Sie besser fragen, was passiert ist?" meinte er, und zu ihrer Bestürzung fing sie an zu weinen. Mick nahm sie behutsam am Arm und führte sie langsam zur Tür und hinaus vor das Hotel. Als er eine Bank an einem abgelegenen Fleckchen entdeckt hatte, ging er mit ihr dorthin, und sie setzten sich. „So, und jetzt erzählen Sie Onkel Mick alles in Ruhe." Er gab ihr ein großes Taschentuch. „Nehmen Sie das - es ist ein bisschen zerknittert, aber sauber." „Danke." Kerry sah ihn an. „Mick, es war schrecklich - Sie ahnen ja nicht, wie elend ich mich fühle. Alles ist schief gegangen." Nach und nach erzählte sie ihm die ganz e Geschichte, und nach einem kurzen Schweigen sagte Mick: „Sie wollten aus Avril dreitausend Pfund herausholen?" „So dürfen Sie es nicht sagen, Mick. Ich hatte nicht gedacht, dass Avril eine solche Summe vermissen würde." „Das ist für sie bloß ein Tropfen im Ozean", stimmte er zu. „Haben Sie Wayne Harvey wissen lassen, dass Sie hinter dem Geld her waren?" „Das vermutet er wahrscheinlich. Gesagt habe ich es nicht. Mir ging es in erster Linie darum, Avril wieder zu sehen. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut - und selbst jetzt kann ich es noch nicht glauben, dass ich sie nie wieder sehen werde." Sie biss sich auf die Lippe und versuchte verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten. „Ich hätte zuerst Wayne schreiben sollen und nicht Avril, das ist mir nun klar. Vielleicht hätte er dann alles in einem ganz anderen Licht gesehen." Mick runzelte die Stirn. „Seine Sekretärin, Rowena Blakely, ist ein ziemliches Biest. Sie hätte Avril die Briefe geben sollen, nicht Wayne." „Genau das dachte ich auch. Wenn ic h einen Brief versehentlich öffnete, würde ich ganz bestimmt dafür sorgen, dass der Adressat ihn erhält." Kerry schwieg einen Moment. „Wie kommen Sie darauf, dass sie ein Biest ist?" „Vielleicht ist sie das ja auch gar nicht", meinte er. „Aber ich mag sie nun mal nicht. Sie war auf der Party - und hat Wayne die ganze Zeit becirct wie ein ausgeflippter Teenager. Wayne muss
blind gewesen sein, wenn er das nicht bemerkt hat. Aber wie gesagt, er wirkt immer so schrecklich gelangweilt von Frauen, dass er Derartiges überhaupt nicht registriert." „Ich mache Wayne keinen Vorwurf daraus, dass er meine Briefe zurückgehalten hat", sagte Kerry und kam wieder auf das ursprüngliche Thema zu sprechen. „Natürlich sollte Avril nicht erfahren, dass sie adoptiert war. Ic h werfe ihm nur vor, dass er mir nicht sofort geantwortet und seinen Standpunkt klargemacht hat." Verwirrt runzelte sie die Stirn. „Da es ihm so wichtig war, Avril von der Wahrheit abzuschirmen, sollte man doch annehmen, dass er meinen Besuch auf dieser Insel in jedem Fall hätte verhindern müssen. Mit einem Brief an mich hätte er das erreicht." Mick warf ihr einen kurzen Blick zu. „Sie vergessen dabei etwas." „Was denn?" „Sie selbst wissen, dass Ihre Absichten ehrlich sind und Avril Ihre Schwester ist, aber Wayne Harvey weiß das nicht. In seinen Augen sind Sie eine Schwindlerin, noch so eine von diesen Betrügerinnen - nur mit einer neuen Idee, nämlich der, sich als Avrils Schwester auszugeben ..." „Wenn es mir nicht ernst wäre, wüsste ich gar nicht, dass Avril eine Schwester hat", warf Kery ungeduldig ein. „Das hätte Wayne Harvey sofort klar sein müssen." „Allmählich glaube ich, dass Wayne Harvey zwar wusste, dass Avril adoptiert war, aber nicht, dass sie noch zwei Schwestern hat. Möglicherweise hat man ihm erzählt, sie sei das einzige Kind." Kerry sah Mick erstaunt an. „Wollen Sie damit sagen, er glaubt, ich hätte gewisse Tatsachen über Avril herausgefunden und wollte aus meinem Wissen Vorteile herausschlagen?" „Dass er zu diesem Schluss gekommen ist, dürfte wohl offensichtlich sein." „Das würde alles erklären." Eine Weile schwiegen beide, dann fragte Mick Kerry, ob sie schon zu Mittag gegessen habe. „Nein, ich hätte nichts runtergebracht, so, wie ich mich gefühlt habe." „Und jetzt?" „Ich denke schon." Mick fuhr mit ihr ins Carib Inn, drei Meilen nördlich von Bridgetown und direkt am Wasser gelegen. Obwohl es schon später Nachmittag war, wurde noch Essen serviert. Ein Ober führte sie an einen Tisch auf einem Balkon. Schweigend aßen sie eine Zeit lang, dann begann Kerry zögernd, ihre finanzielle Lage zu erwähnen. „Ich hatte nur die Summe für die Fahrt von England hierher." „Sie haben kein Geld für die Rückreise?" fragte Mick ungläubig. Kerry schüttelte den Kopf. Sie erzählte ihm von ihren Erwartungen, die sie an ihren Besuch bei Avril geknüpft hatte, und sagte schließlich: „Niemals hätte ich ein solches Desaster für möglich gehalten." Mick dachte nach. Er war tief in Gedanken versunken, und Kerry störte ihn nicht. Trotz ihrer verzweifelten Situation konnte sie nicht umhin, die Schönheit dieser Koralleninsel zu bewundern - das fast unglaubliche Leuchten der üppigen, prachtvollen Bäume, das zarte Violett der Jacarandas und die herrlich duftenden weißen und rosa Oleanderblüten. Tamarinden und Fächerpalmen spendeten Schatten auf der Veranda, wo sie und Mick saßen. Über die Hotelanlage verstreut wuchsen Kalebassen-, Affenbrot- und Mangobäume sowie der gelb blühende „Stolz von Barbados". Am silbrig glitzernden Strand entlang standen hier und da Mandelbäume und Palmen. All die Farben, dazu das herrliche Blau des westindischen Himmels und das Gold der Sonne, die das weite Karibische Meer in ihr Licht tauchte. Warme Passatwinde kräuselten die Wasseroberfläche und formten aquamarinblaue, weißgekrönte kleine Wellen, die langsam auf die Küste zurollten. Ein Paradies, dachte Kerry und beobachtete die Badenden weiter unten, die am ganzen Körper braun waren. „Ich habe mir etwas überlegt", sagte ihr Begleiter schließlich 'und riss Kerry aus ihren Gedanken. „Ja?" „Wir müssen Sie aus diesem Dilemma herausholen. Nur zu gern würde ich Ihnen Geld leihen, aber ich bin selbst fast pleite, da mein Urlaub so gut wie um ist. Ich schätze, Sie brauchen mehr als einhundert Pfund." „Das Geld für die Rückreise, ja, und für die Übernachtungen im Hotel." Sie sah ihn ängstlich an. „Mick, ich habe das schreckliche Gefühl, man wird mich noch abschieben."
„Unsinn!" Mick musste lachen. „Habe ich nicht gerade gesagt, dass ich mir etwas überlegt habe? Also", fuhr er rasch fort, „wenn Sie sich kein Geld leihen können, müssen Sie sich einen Job suchen." „Einen Job? Hier?" „Im Lauf meiner Nachforschungen habe ich einen Hotelbesitzer kennen gelernt und mich mit ihm angefreundet. Er sucht für sofort eine englische Empfangsdame, da seine bisherige geheiratet hat." „Aber Mick, ich will keine Festanstellung." „Die hat er im Augenblick auch nicht anzubieten. Er wird Sie nur zu gern nehmen. In der Zwischenzeit könnte er jemand für die Dauer finden. Essen Sie auf", fügte Mick forsch hinzu. „Wir statten ihm einen Besuch ab." Kerry wurde sofort eingestellt, da ihre Sprache und ihr Äußeres Mr. Mason, den Besitzer des Beach Manor Hotels, sehr beeindruckten. Sollte sie ihre Meinung ändern, sagte er, und wünschen, doch für die Dauer zu bleiben, so würde er sich darüber sehr freuen. Wenigstens eine Sache ist gut gelaufen, dachte Kerry, nachdem sie nun schon fast zwei Wochen im Beach Manor Hotel gearbeitet hatte. Charles Mason war ein freundlicher und rücksichtsvoller Chef, und da er für Kerry s finanzielle Lage Verständnis hatte, zahlte er ihr den Lohn wöchentlich statt monatlich. Einen Teil ihres ersten Wochenlohns schickte sie Mrs. Johnson, einen anderen Michelle, zusammen mit einem langen Brief, in dem sie ihre Erlebnisse ausführlich berichtete. Kerry drückte auch ihr tiefes Bedauern aus, dass sie Michelle nun eine Zeit lang nicht sehen konnte, versprach jedoch, zu sparen und im darauf folgenden Jahr ihren Urlaub in England zu verbringen. Gegen Ende der folgenden Woche erhielt Kerry einen Luftpostbrief. Er kam von Michelle. Sie bedankte sich vielmals für das Geld und berichtete ihr eifrig, was sie sich schon alles davon gekauft hatte. Mutter lässt Dir ausrichten, dass sie sehr dankbar für Dein Geschenk ist und Dir sehr bald schreiben wird. Sie hat schon veranlasst, dass eine Frau drei Mal wöchentlich kommt, um die meiste Hausarbeit und die Wäsche zu erledigen. Ich bin glücklich, aber auch traurig, denn ich war gerade erst dabei, Dich kennen zu lernen. Ich werde Dir jede Woche schreiben, und ich weiß, Du wirst dasselbe tun. Bitte sag mir bald, wann Du kommen und mich besuchen wirst - damit ich die Wochen zählen und auf meinem Kalender streichen kann. Es ist so schön, jemanden zu haben, dem man schreiben kann. Deine Dich liebende und dankbare Schwester Michelle Es folgten zahlreiche Küsse - die geschäftliche Abmachung wurde nicht erwähnt. Michelle hatte ihre Enttäuschung sehr gut verborgen, doch Kerry wusste, wie groß diese Enttäuschung sein musste. Kerry las den Brief drei Mal, faltete ihn dann zusammen und steckte ihn in ihre Handtasche. „Wenigstens habe ich den Schaden ein klein bisschen wieder gutgemacht", sagte sie leise vor sich hin, als sie auf die Uhr sah. In fünf Minuten begann ihr Dienst. Rasch ging sie hinüber zum Frisiertisch, nahm den Kamm und hatte gerade begonnen, ihr Haar zu richten, als es an ihrer Schlafzimmertür klopfte. „Herein." Fred, einer der Portiers, betrat den Raum mit einem Brief in der Hand. „Entschuldigen Sie, Miss Fairclough, aber ich habe Ihnen nur einen Brief herauf gebracht. Den anderen habe ich gerade erst entdeckt." Er reichte ihn ihr, und Kerry nahm ihn stirnrunzelnd entgegen. „Danke, Fred." Er ging hinaus, und sie betrachtete den Brief in ihrer Hand. Er war in Bridgetown aufgegeben ... Aufgeregt öffnete sie ihn, und ihr Herz schlug schneller, als sie die Unterschrift am Ende sah. Sie begann zu lesen. Liebe Kerry, gestern habe ich mit einer Freundin im Beach Manor Hotel zu Mittag gegessen. Du warst nicht am Empfang, als wir hineingingen, aber als wir herauskamen. Du warst sehr beschäftigt und
hast mich nicht gesehen, aber nun weiß ich, dass Du dort arbeitest, und ich muss Dich sehen.
Am Mittwoch werde ich um drei Uhr im Barbados-Museum sein, an Deinem freien Tag also, wie
ich gestern Abend telefonisch vom Nachtportier erfahren habe ...
Avril
Avril... und sie unternahm etwas, ohne das Wissen ihres Onkels. Aber so besorgt Kerry darüber auch war, wollte sie sich die Gelegenheit, ihre Schwes ter zu treffen, auf gar keinen Fall entgehen lassen. Kerry nahm ein Taxi nach Garrison Savahnnah, das eineinhalb Meilen außerhalb Bridgetowns lag und Sitz des Barbados Museums war. Neben einem Schaukasten, der Fundstücke aus der Zeit der indianischen Urinsulaner enthielt, stand Avril. Als Kerry näher kam, drehte sie sich um, und einen Augenblick lang sahen sich die beiden nur an, denn keine brachte ein Wort heraus. Avril war blass und erschien Kerry dünner als beim letzten Mal, und das war erst zwei Wochen her. „Avril ..." sagte Kerry endlich und breitete die Arme aus, „... es tut mir so schrecklich Leid, was passiert ist..." Sie verstummte. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. „Du bist wirklich meine Schwester, oder?" Avril sah sich um, während sie sprach. Offensichtlich fühlte sie sich unsicher. „Ja, Avril, das bin ich", antwortete Kerry und fügte hinzu: „Ich bedauere zutiefst, dass ich dich enttäuscht habe, was deine Eltern betrifft. Ich hatte keine Ahnung, dass du es noch nicht wusstest..." Wieder versagte ihr die Stimme. Etwas verlegen fragte Avril: „Können wir irgendwo hingehen?" „Du bist auf der Insel vermutlich sehr bekannt." Kerry rang sich ein Lächeln ab. „Ja - und ich darf nicht mit dir gesehen werden", sagte Avril verzweifelt. „Ich wusste keinen einzigen Ort, an dem wir ungestört miteinander reden könnten." „Warum fahren wir nicht in einem Taxi herum?" schlug Kerry vor, und zu ihrer großen Erleichterung trat ein Leuchten in Avrils Augen. „Ja, das ist ein guter Vorschlag - oh, ich hatte gerade an ein kleines, abgelegenes Cafe in der Nähe von Bath gedacht, das liegt auf der Atlantikseite der Insel", fügte Avril hinzu. „Lass uns mit dem Taxi dorthin fahren." Während der Fahrt unterhielten sie sich angeregt, und als sie das Caf6 erreichten, wusste jede schon sehr viel von der anderen., Kerry bezahlte den Chauffeur und stellte sicher, dass es ein Taxi für die Rückfahrt gab. Als Erstes wollte Avril wissen, weshalb Kerry noch auf Barbados sei, und sie flüchtete sich in eine Lüge. „Es gefällt mir hier", sagte sie. „Und als man mir die Stelle im Hotel anbot, beschloss ich, für eine Weile hier zu bleiben." „Ich bin so froh darüber", sagte Avril begeistert, und auf Kerrys Bitte hin erzählte sie weiter von ihrem Leben bei ihren Eltern und später bei ihrer Mutter. Sie erwähnte das Haus und die Plantage, die sie besaß, und plauderte über ihr Leben mit Wayne, das zweifellos sehr glücklich war. Kerry ihrerseits erzählte von sich und von ihrem Beruf und von der Wohnung, die sie mit Irene geteilt hatte. Und natürlich von Michelle. Sie betraten das Cafe und setzten sich an einen abgeschiedenen Tisch in einer Ecke. Kerry bestellte Tee und Kuchen, den man ihnen wenig später brachte. „Wenn ich mir das vorstelle ... ich habe zwei Schwestern ..." Avril schüttelte ungläubig den Kopf und fügte schüchtern hinzu: „Michelle ist dreizehn - wie alt bist du?" „Dreiundzwanzig. Ich war zehn, als der Unfall passierte." „Es muss schrecklich für dich gewesen sein. Ich weiß, wie ic h mich fühlte, als meine Mutter starb - meine ... meine Adoptivmutter", verbesserte sie sich zögernd. „Ich habe sie sehr geliebt." Sie sah Kerry an. „Anfangs habe ich dich gehasst", gestand sie mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme. „Im ersten Moment fühlte ich mich ganz krank, und als ich Onkel Wayne fragte, ob ich tatsächlich adoptiert sei und er es bejahte, wäre ich am liebsten gestorben." Kerry biss sich auf die Lippe, und unwillkürlich legte sie ihre Hand auf Avrils. „Ich war so entsetzlich dumm. Weißt du, Michelles Eltern hatten ihr die Wahrheit gesagt, so wie die meisten Eltern adoptierter Kinder, und ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, ob du die Wahrheit kennst oder nicht. Es tut mir so Leid." Avril schüttelte den Kopf. „Mir nicht - nicht mehr. Es ist wunderbar, dich als Schwester zu
haben, und ich kann es kaum erwarten, Michelle kennen zu lernen. Aber das ist nicht möglich", fügte sie gleich hinzu, „solange Onkel Wayne in dieser Stimmung ist." „Nein, Avril, das ist nicht möglich - zumindest nicht in absehbarer Zeit." Kerry hatte sich zuvor nicht näher über die großen Unterschiede im Leben der beiden Schwestern geäußert. Und auch jetzt hielt sie sich zurück, denn sie sah keinen Sinn darin, Avril zu beunruhigen, da sie ohnehin nicht helfen konnte. Wayne Harvey würde für ein Geschenk von dreitausend Pfund niemals seine Zustimmung geben. Und so, wie die Dinge standen, durfte er von den Treffen zwischen ihr und Avril nichts erfahren. Sie mussten äußerst vorsichtig sein. Denn sollte Wayne Harvey herausfinden, dass sie noch auf der Insel war, wäre er auf der Hut. Beim Verlassen des Cafes - sie fuhren in getrennten Taxis auf Kerrys Vorschlag hin vereinbarten sie, sich am darauf folgenden Mittwoch hier wieder zu treffen. Und bei ihrer Rückkehr im Beach Manor Hotel lud Charles Mason Kerry ein, mit ihm im Sam Lord's Castle zu Abend zu essen. Sam Lord's Castle war die Sehenswürdigkeit der Insel, ein prachtvolles weißes Herrenhaus, ehemaliger Besitz eines Seeräubers aus der Regencyzeit - eben jenes Sam, der Laternen aufhängte, um damit Schiffe anzulocken und sie am Riff auflaufen zu las sen. Kerry zögerte nicht, die Einladung anzunehmen, denn sie mochte Charles, und auch wenn sie erst kurze Zeit für ihn arbeitete, hatte sich doch schon eine Freundschaft zwischen ihnen angebahnt. Es macht richtig Spaß, sich wieder einmal hübsch anzuziehen, dachte sie und nahm ein bezauberndes grünes Cocktailkleid aus dem Schrank. Erst am Morgen hatte sie sich das Haar gewaschen, und es glänzte seidig. Ihre Augen strahlten vor Glück, denn sie und Avril lernten sich nun wirklich kennen, und der Nachmittag war einer der schönsten, die Kerry je erlebt hatte. „Sie sehen bezaubernd aus." Charles ließ den Blick über sie gleiten, während er ihr sein schmeichelhaftes Kompliment machte. „Und Sie erröten sogar auf eine ganz reizende Art", fügte er mit einem Anflug von Humor hinzu, als sein Blick auf ihrem Gesicht ruhte. Kerry lachte. Charles legte eine Hand unter ihren Ellbogen und führte sie hinaus, wo ein Wagen bereitstand. Unterwegs stimmte damit etwas nicht. Und da Charles sich einige Minuten lang unter der geöffneten Kühlerhaube zu schaffen gemacht hatte, wusch er sich, kaum dass sie bei Sam's am Tisch saßen, als Erstes die Hände. Als er zurückkam, teilte er Kerry mit, dass Freunde von ihm an einem anderen Tisch sitzen würden und ihn und sie zu sich eingeladen hätten. „Mich?" Überrascht sah sie ihn an, denn außer Charles und Avril kannte Kerry niemanden auf der Insel. „Sie haben mich gefragt, und ich sagte, ich sei mit einer Freundin hier." Er winkte den Ober herbei und informierte ihn über den Platzwechsel. Während sie zu dem anderen Tisch quer durch das Restaurant gingen, bemerkte Kerry die vielen Blicke, die auf sie gerichtet waren. Es war eine dieser Gelegenheiten, bei denen sie sich ausgesprochen gut fühlte: Ihre reizvollen Kurven wurden durch den Schnitt des Kleides betont, in ihrem dichten braunen Haar glänzten goldene Strähnen, ihre Wangen waren leicht gerötet, und ein glücklicher Ausdruck lag auf ihrem hübschen Gesicht. Leute gingen umher und wurden von den Obern an ihre Plätze geführt. Kerry war ihrem Tisch schon sehr nah, da erblickte sie Wayne und seine Begleiter: ein Mädchen - Rowena Blakely, wie Charles ihr später sagte -, einen Mann mit angegrautem Haar und eine tadellos gekleidete Frau mittleren Alters, die das Quartett vervollständigte. Kerrys Nerven waren plötzlich zum Zerreißen gespannt, und sie sah sich verzweifelt um, so als suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit. Aber natürlich gab es kein Entrinnen. Ihr Chef schritt geradewegs auf Waynes Tisch zu, wie Kerry schon befürchtet hatte. Wayne, der in das Gespräch mit seinen Freunden vertieft war, lächelte. Kerry sah, wie er aufblickte, als sie und Charles sich näherten, sah, wie sein Lächeln verschwand, und beobachtete, wie er sich schnell wieder fasste, als beide, er und der Grauhaarige, sich von ihren Stühlen erhoben. Einen gespannten Augenblick lang standen Kerry und Wayne sich gegenüber. Wayne sah sie mit arroganter Miene scharf an. Kerry wirkte eindeutig entnervt von dieser unerwarteten Begegnung, aber auch verlegen, so würdelos, wie Wayne sie vor kurzem behandelt hatte. Niemand schien ihr Unbehagen zu bemerken. Das ist ein Wunder, dachte sie, um Fassung
bemüht. Was immer Wayne auch davon halten mochte, dass sie noch auf Barbados war, zeigte er sich seiner äußeren Erscheinung nach völlig unbeeindruckt, sie plötzlich vor sich zu sehen. Da er sich wegen der Anwesenheit der anderen seine Feindseligkeit nicht anmerken lassen durfte, begrüßte er sie kurz frostig und reichte ihr die Hand. Sie nahm sie, sah zu ihm auf und fragte sich, ob auch er sich jetzt an seine Brüskierung erinnerte. Wo ist Avril? überlegte Kerry. Gleichzeitig war sie dankbar, dass sie nicht hier war, denn sonst wäre die ohnehin schon geladene Atmosphäre noch angespannter geworden.
4. KAPITEL
„Bleiben Sie lange auf der Insel, Miss Fairclough?" fragte das Mädchen, nachdem sich die anderen am Tisch schon seit einer Weile über eine neue Zuckerraffinerie unterhielten, die auf Barbados gebaut werden sollte. „Das weiß ich noch nicht, Miss Blakely." Ihr strenger Tonfall ließ Rowenas dunkle Augen aufblitzen, und Kerry war überzeugt, dass sie sich eine Feindin geschaffen hatte. Kerry ließ den Blick zu Wayne gleiten. Tief in das Gespräch mit seinen Freunden vertieft, lächelte er dann und wann, und Kerry, fasziniert von seiner Wandlung, musste sich widerwillig eingestehen, dass er der bestaussehende Mann war, den sie kannte. Und der bemerkenswerteste. Mit Wayne Harvey hatte man zweifellos die Ausnahme unter den Männern vor sich. Sie betrachtete weiter sein fein geschnittenes Profil. Jetzt lächelte er gerade über eine Bemerkung, die jemand gemacht hatte ... ein sanftes Lächeln - und plötzlich ergriff eine fremde Macht von Kerry Besitz, eine Macht, die ebenso beunruhigend wie gewaltig war. Der Blick, den Wayne ihr plötzlich zuwarf, trieb ihr die Röte in die Wangen. Wayne zog fragend die Brauen hoch, was sie weit mehr beunruhigte, als jede Zurschaustellung seiner Feindseligkeit ihr gegenüber es vermocht hätte. Rasch wandte sie den Kopf zur Seite, nahm ihr Weinglas auf und blickte starr auf die Flüssigkeit, mit einer Konzentration, die absolut unnötig war. Dabei fühlte sie Rowenas Blick auf sich gerichtet und spürte, wie gründlich Rowena ihr Unbehagen genoss. Aber Rowena fand es durchaus nicht amüsant, als Wayne, nachdem. Clive seine Frau zum Tanzen aufgefordert hatte, Kerry ansah und sagte: „Darf ich bitten, Miss Fairclough?" Wenn Rowena überrascht war, so war das nichts im Vergleich zu Kerrys Verblüffung. Kerry war sichtlich erschrocken und konnte nicht glauben, dass Wayne vor ihr stand und darauf wartete, dass auch sie sich erhob. Schließlich stand sie auf. Schweigend passte sie sich beim Tanzen seinem Schritt an, dabei klopfte ihr Herz so verrückt, dass sie glaubte, er müsste es hören - oder spüren, denn plötzlich zog er sie fest an sich, als ein junges Paar fast mit ihnen zusammengestoßen wäre. Kerry wurde nicht lange im Zweifel gelassen, weshalb Wayne sie zum Tanz aufgefordert hatte. „Sie sind also immer noch auf Barbados." Die Wut, die er bisher hatte verbergen müssen, zeigte sich jetzt in dem Blick, den er ihr zuschoss. „Weshalb?" „Wie Sie sehen, bin ich noch hier. Ich glaube nicht, dass ich Ihre Erlaubnis brauche, um hier zu bleiben." „Ich habe gefragt, weshalb", fuhr er sie an. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Mr. Harvey." „Falls Sie mit dem Gedanken spielen, meine Nichte zu treffen, können Sie sich das gleich aus dem Kopf schlagen." Sie atmete tief ein. Was würde er sagen, wenn er wüsste, dass Avril und ich uns schon zwei Mal getroffen haben und für den nächsten Mittwoch wieder verabredet sind? fragte sie sich. „Vermutlich bin ich selbst schuld daran, dass Sie mich falsch einschätzen", meinte sie seufzend. „Heute weiß ich, dass ich Ih nen statt Avril hätte schreiben sollen. Andererseits, da Sie ihr die Briefe nicht gegeben haben, hätten Sie mir antworten und mitteilen können, dass Avril über ihre leiblichen Eltern nicht informiert ist." Kerry sah zu ihm auf. Fast hoffte sie, seine Züge seien nun etwas weicher. Doch erneut blitzte Wut in seinen Augen auf. „Nur zu Ihrer Information: Ihre Enthüllung hat meine Nichte zutiefst erschüttert. So sehr, dass sie einige Tage krank war." „Das tut mir Leid - wirklich", erwiderte Kerry voller Bedauern. „Wenn ich über alles Bescheid gewusst hätte, wäre ich niemals nach Barbados gekommen ..." „Das glaube ich Ihnen nicht", unterbrach er sie barsch. „Irgendwie hatten Sie herausgefunden, dass Avril eine reiche Erbin ist, und sind einzig und allein nur deshalb hier aufgetaucht, um Geld aus ihr herauszuholen." Es lag so viel Wahrheit in dem, was er sagte, dass Kerry errötete und kein Wort mehr hervorbrachte. „Ich wüsste es!" sagte Wayne, der ihre Röte bemerkt hatte, bevor sie den Kopf senken konnte. Leise fügte er hinzu: „Aber glauben Sie mir, es wäre ganz unmöglich gewesen. Zufällig verwalte ich Avrils gesamtes Vermögen, und sie bekommt nur, was ich ihr gebe." Ein langes Schweigen folgte. Kerry konnte sich nicht mehr auf ihre Schritte konzentrieren und trat
ihrem Partner mehrmals auf die Zehen. „Können wir die Tanzfläche verlassen?" fragte sie schließlich. „Ich .... ich möchte zurück zu den anderen." „Nein, das tun Sie nicht, nicht solange ich mit Ihnen zu reden habe!" Und anstatt zurück zum Tisch führte er sie zur Tür. Wenig später ging sie neben ihm unter dem sternenübersäten Himmel, über den kleine, im silbrigen Mondlicht leuchtende Wolken jagten. Kerry sah zu Wayne auf. In seinen Augen lag ein harter Ausdruck, um seinen Mund ein strenger Zug - und da sie nicht den geringsten Wunsch verspürte, bei ihm zu bleiben, blieb sie stehen und war entschlossen, zu den ändern zurückzukehren. „Charles ..." begann sie und wurde sofort unterbrochen. „Ich könnte mir denken, dass er ein paar Minuten auch ohne unsere Gesellschaft auskommt!" Kerry wurde wütend, und zwei rote Flecken bildeten sich auf ihren Wangen. Sie rührte sich nicht von der Stelle, als er weiterging. Er blieb stehen, kam einige Schritte auf sie zu, und im nächsten Moment packte er sie am Arm und zerrte sie unsanft mit sich, doch war sein Griff nicht annähernd so schmerzvoll wie bei der letzten Gelegenheit. „Da drüben ist eine Bank ..." Wayne deutete auf eine Baum gruppe. Dort angekommen, machte er wieder eine Handbewegung und schnipste mit den Fingern, für sie der Befehl, dass sie sich setzen sollte. „Ich möchte nicht..." Weiter kam sie nicht. Sie wurde auf die Bank gedrückt, bebte leicht und war den Tränen nah. „Und jetzt", sagte Wayne, als er sich mit etwas Abstand neben sie setzte, „reden wir!" „Worüber?" „Über Sie und Avril natürlich ..." „Dann glauben Sie jetzt also, dass wir Schwestern sind?" unterbrach sie ihn atemlos. Er beachtete ihre Frage nicht, aber Kerry nahm dies als Zustimmung. „Als Erstes will ich wissen, weshalb Sie noch auf der Insel sind." „Wie ich Ihnen schon sagte: Ich hatte kein Geld für die Rückreise nach England. Deshalb muss ich jetzt arbeiten." „Sie hatten tatsächlich nur eine einfache Fahrt gebucht?" Er schüttelte empört den Kopf. „Hatten Sie überhaupt die Absicht, jemals wieder nach England zurückzukehren?" „Aber natürlich", antwortete sie überrascht. „Ich habe dort - ich hatte dort eine Arbeitsstelle." „Und wie hatten Sie sich vorgestellt, nach Hause zu kommen?" Nervös verschränkte Kerry die Finger ineinander. „Ich kann es Ihnen nicht verübeln, dass Sie mich verdächtigen ..." „Beantworten Sie meine Frage!" Kerry neigte den Kopf. „Ich hatte gehofft, Avril würde mir die Rückfahrt bezahlen." Schweigen. Dann sagte Wayne: „Was hatten Sie sonst noch von Avril erhofft?" Kerry schüttelte den Kopf und wagte es nicht, Wayne anzusehen. „Sie verstehen das nicht", flüsterte sie. „Aber - aber es ist nicht so schlimm, wie Sie denken." „Was hatten Sie sonst noch von Avril erhofft?" wiederholte er verächtlich. „Wenn ich es Ihnen doch nur erklären könnte", begann sie. „Wenn Sie doch nur bereit wären, mir zuzuhören." „Erklären Sie es ruhig. Ich bin äußerst gespannt, zu erfahren, was Sie mir zu sagen haben." Sie sah ihn an. Klang seine Stimme jetzt etwas sanfter? Es war schwer zu sagen. „Zunächst einmal: Ich bin wirklich Avrils Schwester." Sie wartete einen Moment, und da er keine Bemerkung machte, fuhr sie fort: „Ja, ich wollte Avril um Geld bitten, aber nicht für mich, sondern für meine andere Schwester, für Michelle. Sehen Sie, sie hatte noch nicht einmal so viel Glück wie ich. Ihre Eltern sind sehr arm - ihr Vater ist arbeitslos. Und da ihre Mutter arbeiten geht, muss Michelle im Haushalt schuften. Ihr Vater will das Geld, um einen Laden zu kaufen, und zum Austausch dafür lässt er Michelle bei mir leben ..." Kerry verstummte und verfiel in ein nachdenkliches Schweigen, während sie Wayne betrachtete. Er glaubte ihr nicht. „Erzählen Sie weiter", forderte er sie auf. „Das ist die interessanteste Story, die ich je gehört habe." Wieder spürte sie Wut in sich aufsteigen. „Ich denke nicht, dass Sie wirklich noch mehr hören wollen", erwiderte sie angespannt.
Wayne schüttelte den Kopf. „Ganz im Gegenteil. Wir haben noch nicht über das Wichtigste gesprochen, nämlich darüber, welche Summe Sie sich von diesem Betrug versprochen haben mit dieser rührseligen Geschichte über eine angeblich zweite Schwester." Die Ungerechtigkeit in seinen Worten traf sie tief, mehr konnte sie nicht ertragen. In ihrer Wut vergaß sie, dass Avril diesen Mann liebte und ihm vertraute, war sie blind für die Tatsache, dass ihr Wutausbruch Waynes Hass auf sie unweigerlich verschlimmern würde. „Sie sind der arroganteste, unausstehlichste Mensch, der mir je begegnet ist!" schrie sie ihn an. „Sie halten sich für so clever und meinen, eine Person oder eine Situation mit einem Blick einschätzen zu können. Aber in beiden Fällen haben Sie sich geirrt. Ich bin keine Betrügerin, und die Situation ist nicht so, wie Sie denken. Eines Tages werden Sie schon noch merken, dass Sie nicht der brillante Detektiv sind, für den Sie sich halten. Aber kommen Sie mir dann bloß nicht mit einer Entschuldigung, denn ich will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben ...!" Eine schreckliche Stille folgte auf ihre letzten Worte, und ihr wurde klar, wie dumm sie waren. Wayne Harvey und sich entschuldigen? Das war undenkbar! Nach einer Weile wagte Kerry, ihn verstohlen unter halb gesenkten Lider anzuschauen. Selbst im Mondlicht konnte sie die Wut in seinen Augen aufblitzen sehen. Sie befeuchtete sich die Lippen, denn schon bedauerte sie ihren Wutausbruch und wünschte nichts mehr, als dass sie alles zurücknehmen könnte. Das Schweigen dauerte schier endlos und stellte ihre Nerven auf eine harte Probe. Sie lehnte sich auf der Bank zurück und versuchte, nicht mehr an Wayne zu denken, solange er schwieg. Die Schönheit ihrer Umgebung kam ihr dabei zu Hilfe, die Schatten der Bäume, die einen seltsamen Frieden verströmten. Vom dunklen Korallenmeer wehte der Passatwind herüber, wiegte sanft die Zweige der Kokosnusspalmen und Kasuarinen und erfüllte die Nachtluft mit exotischem Blütenduft. Blaue Tamarindenbäume hoben sich gegen den purpurnen Himmel ab, und in der Nähe stand, von drei Mangobäumen umgeben, ein kleiner Pavillon in silbriges Mondlicht getaucht. Von seinen Mauern fielen Bougainvilleen kaskadenförmig herab und verrankten sich mit Zweigen süß duftender Oleanderblüten. Die Nacht war klar. Der Mond beleuchtete eine Bahn von irgendwo weit draußen auf dem Meer bis zu der palmengesäumten Küste mit ihrem glänzenden weißen Sand. Eine Stimme, leise und doch gefährlich, brachte Kerry aus dem tropischen Paradies in die unliebsame Wirklichkeit zurück. „Da nun jeder gesagt hat, was er vom anderen hält, gibt es nichts mehr zu sagen." Wayne stand auf, während er sprach, und wandte sich Kerry zu. Er stand so dicht vor ihr, dass sie den schwachen Duft seines After Shaves wahrnehmen konnte - einen Duft, der sie an wildes Heidekraut und eine weite offene Moorlandschaft erinnerte, die der Wind durchkämmte. Sie neigte den Kopf nach hinten. Ihre Blicke trafen sich. Sein Blick war furchterregend und, sie täuschte sich nicht, kalt und überheblich. Kerry betrachtete seine sinnliche Unterlippe. Er war ein ungewöhnlich männlicher Typ, wie Mick ja auch gesagt hatte. „Wissen Sie schon, wann Sie die Insel verlassen?" fragte Wayne schließlich, und Kerry hob das Kinn. „Ich werde abreisen, wann es mir passt, Mr. Harvey - und keinen Tag früher." Seine Augen glitzerten gefährlich, und Kerry fragte sich, ob sich ihm je ein Mensch widersetzt hatte - und wenn ja, wie es ihm danach ergangen sein mochte. „Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen", sagte er in eisigem Ton. „Aber wagen Sie es ja nicht, Kontakt mit meiner Nichte aufzunehmen. Verstanden?" Kerry schluckte. Zu gern hätte sie ihm jetzt die Wahrheit ins Gesicht geschleudert, dass Avril und sie sich schon getroffen hatten - auf Avrils Bitte hin. Aber natürlich wagte sie es nicht. Und sie wagte es auch nicht, mit ihm zu streiten, denn wenn sie es tat, würde sie bestimmt etwas Indiskretes äußern und damit seinen Argwohn wecken. Das musste sie unbedingt vermeiden, deshalb sagte sie nur: „Ich habe sehr gut verstanden, Mr. Harvey." Wie jeden Mittwoch hatten Kerry und Avril sich auch diesmal wieder in Garrison Savannah in ihrem Cafe" getroffen. Nachdem sie das nächste Treffen vereinbart hatten, wollten sie wie immer jeder in einem anderen Taxi zurückfahren. „Bald sehen wir uns in Onkel Waynes Haus", sagte Avril zuversichtlich, als sie in den Wagen stieg. „Ich weiß, ich sollte dankbar sein, dass ich dich jede Woche hier treffen kann, aber das ist nicht genug. Onkel Wayne wird dich hoffentlich bald bitten, zu uns zu kommen und bei uns zu wohnen."
Bei Avril wohnen. Das wäre wunderschön. Doch Kerry wusste, sie könnte niemals glücklich sein, solange sie für Michelle nichts erreicht hatte. Wenn Wayne doch nur endlich zur Vernunft käme, ihr glauben und Avril das Geld überlassen würde, um Michelle freizukaufen. Michelle käme dann nach Barbados, und eine Zeit lang wären sie alle zusammen, bis Kerry beschloss, nach England zurückzukehren. Ein Wiedersehen der drei Schwestern - genau das hatte sie geplant, als sie das Geld von ihrer Tante geerbt hatte. Wenn Wayne sich doch nur überzeugen ließe, dann wäre diese Hoffnung zu erfüllen. Das Taxi mit Avril fuhr los, Kerry stand neben ihrem und winkte, bis der Wagen mit Avril hinter einer .Wegbiegung aus der Sichtweite verschwunden war. „Zum Beach Manor Hotel." Kerry lächelte den farbigen Fahrer an, als sie im Begriff war, in den Wagen zu steigen. „Ja, Missy ..." „ Sie brauchen dieses Taxi nicht!" Die männliche Stimme, in der unterdrückte Wut mitschwang, jagte Kerry einen eisigen Schauder über den Rücken. „Im Augenblick fahren Sie nirgendwohin." „Mr. Harvey!" Kerry wäre fast gestolpert, als sie aus dem Wagen zurückwich. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht verschwunden. „Wie lange - ich meine, wissen Sie ...?" Was für eine dumme Frage! Natürlich wusste er. Sein Ausdruck war geradezu mörderisch, und instinktiv machte Kerry einen Schritt zur Seite, da wandte sich Wayne, seinen zornigen Blick noch immer auf sie gerichtet, an den Fahrer. „Wie viel?" „Die Lady möchte zum Beach Manor Hotel..." „Ich habe gefragt, wie viel!" Wayne hatte schon die Hand in der Tasche, und sobald der andere Mann den Preis genannt hatte, war er auch schon bezahlt. „Sie können losfahren. Wir brauchen Sie nicht." „Ja, Sir." Der Mann sah Kerry etwas seltsam an, dann verschwand er mit seinem Taxi in der Richtung, die Avrils genommen hatte. Kerry stand im Vorhof des Cafes, allein mit dem wütenden Vormund ihrer Schwester. Wütend? Das ist milde ausgedrückt, dachte sie, als sie die Blässe unter dem bronzefarbenen Teint bemerkte und das langsame Pulsieren eines Muskels in seiner Wange. Er sieht aus, als wäre er zu einem Mord fähig, durchfuhr es sie, und in einer unfreiwilligen Geste legte sie sich die Hand an die Kehle. Das angespannte Schweigen wurde so unerträglich, dass sie etwas sagen musste. „Sie hatten kein Recht, mein Taxi wegzuschicken ..." „Wie lange schon täuscht mich meine Nichte?" So leise hatte er es gesagt ... und doch so voller Wut. Kerry bebte und brachte kaum ein Wort heraus. „Nicht lange - ich meine, Avril und ich ..." Sie verstummte, als sie den Cafebesitzer erblickte, der herausgekommen war, nun auf der Treppe stand und sie neugierig beobachtete. „Wir haben uns immer mittwochs getroffen." Wayne presste die Lippen zusammen, und Kerry hatte das Gefühl, dass er sie jetzt am liebsten geschlagen hätte. „Ich habe gefragt, wie lange schon!" „Avril..." begann sie. Sie wich seiner Frage nicht absichtlich aus, hatte aber Angst um ihre Schwester. In seiner jetzigen Verfassung wäre Wayne zu allem imstande. „Was haben Sie mit ihr vor - was wollen Sie ihr sagen?" „Eine ganze Menge!" versetzte er barsch. Wayne ließ den Blick zu dem Mann auf der Treppe gleiten, dann deutete er auf eine nicht einsehbare Stelle hinter dem Cafe und befahl: „In meinen Wagen!" Kerry hob den Kopf. „Keine Widerrede", sagte Wayne gefährlich ruhig, „sonst bringe ich Sie gewaltsam in das Auto." „Gewaltsam?" Ungläubig kam ihr das Wort über die Lippen, wobei sie seinem Blick begegnete. „Sie würden mich zwingen?" „Werden Sie jetzt nicht theatralisch. Ab in den Wagen. Er steht hinten." Kerry gehorchte wohlweislich, weil ihr Kampfgeist beinahe erloschen war. Dieser Mann war zu überwältigend, zu dominant, und sie eilte neben ihm her, als er mit großen Schritten auf die Ecke des Hauses zuging.
5. KAPITEL
Schweigend steuerte Wayne den Wagen, während Kerry neben ihm saß und zum Fenster hinaussah. Ihr Ziel kannte sie nicht. Sie fuhren an der Westküste der Insel entlang, der Platinum Coast mit ihren ruhigen Sandstränden am klaren blauen Wasser des Karibischen Meers. Zur Rechten wogten die langen grünlichen Blätter hoher Zuckerrohrstauden auf ausgedehnten Feldern und beugten sich im Wind. In leuchtenden Farben gekleidete Männer und Frauen arbeiteten dort und sangen dabei, hin und wieder hob einer die dunkle Hand und winkte herüber. Aber erst als das stattliche Herrenhaus mit dem Säulengang davor in Sicht kam, wusste Kerry, dass die Plantage, durch die sie fuhren, tatsächlich Wayne gehörte. „Wohin fahren wir?" fragte sie atemlos, denn plötzlich fiel ihr ein, dass Wayne sie mit in sein Haus nehmen könnte. „In mein Büro - wo wir ungestört reden können", antwortete er und machte damit ihre Hoffnungen zunichte. „In Ihr Büro?" wiederholte sie beinahe ängstlich, denn der Gedanke, mit einem Mann, der sie so sehr hasste, allein zu sein, gefiel ihr nicht. Wayne sah kurz zu ihr und sagte: „Was dachten Sie denn?" Dann war sein Blick wieder nach vorn gerichtet, wo inmitten tropischer Bäume und Sträucher auf einer leichten Anhöhe das prächtige Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert stand. Das neu errichtete Gartenhaus glänzte im Licht der Sonne, denn es war aus Korallenstein gebaut und hatte eine wunderschöne natürliche Patina. „Ich dachte, wir würden in Ihr Haus gehen", antwortete Kerry schließlich. „In mein Haus, ja?" Er zog die dunklen Brauen hoch. „Sie geben die Hoffnung wohl nie auf, wie?" „Ich bin Avrils Schwester, das wissen Sie." „Selbst wenn Sie es sind, glaube ich immer noch nicht, dass Sie mit Ihrem Besuch hier ehrliche Absichten verfolgen." „Warum verurteilen Sie mich von vornherein?" „Weil ich Frauen wie Sie kenne, deshalb." Wayne bog von der Straße ab auf einen betonierten Streifen vor einem niedrigen Gebäude. Er hielt an und wandte sich Kerry zu. Sie zuckte nur hilflos die Schultern. Wayne stieg aus und holte einen Schlüssel aus der Tasche. Kerry schlug die Wagentür unnötig heftig zu, nur um ihn daran zu erinnern, dass er nicht den Anstand besessen hatte, sie ihr aufzuhalten. Er runzelte die Stirn. „Hier entlang." Wayne stieß die Eingangstür auf, und Kerry ging ihm voraus in ein luxuriöses Büro, bei dessen Einrichtung Geld offensichtlich keine Rolle gespielt hatte. „Setzen Sie sich." Er zeigte auf einen Sessel, doch Kerry blieb stehen. „Ist das nötig? Was Sie mir zu sagen haben, kann doch nicht so lange dauern." Sie musste Mut zeigen, sonst würde dieser Mann sie noch völlig überrumpeln. „Vielleicht darf ich zuerst eine Frage stellen? Darf ich erfahren, wie Sie dazu gekommen sind, Avril und mich bespitzeln zu lassen? - Dass Sie es getan haben, nehme ich doch an", fügte sie hinzu. Er presste die Lippen zusammen, und sie sah, wie er die Hand zur Faust schloss und wieder öffnete. „Seien Sie vorsichtig", warnte er sie. „Sie sind hier, um Fragen zu beantworten, nicht, um sie zu stellen. Vergessen Sie das nicht, wenn das Gespräch keine unangenehme Wendung nehmen soll." Kerry kochte vor Wut. Wie konnte sie ihm gegenüber höflich sein? Und doch musste sie es, Avril zuliebe. Auch Wayne blieb stehen, aber sie sah ihn nicht an. In Gedanken war sie noch bei der Frage, die sie ihm gerade gestellt hatte. Aber sie hätte sich ja denken können, dass Wayne früher oder später herausfinden würde, dass sie sich mit Avril traf. Barbados war eine kleine Insel. Die Plantagenarbeiter hatten überall Verwandte, und wahrscheinlich hatte auch der Taxifahrer, der Avril vom Sehen kannte, einen Bruder oder Cousin, der in irgendeiner Form bei Wayne beschäftigt war. Klatsch machte schnell die Runde, und so hatte Wayne schließlich erfahren, dass Avril sich jeden Mittwoch mit einem Mädchen in einem Cafe traf, das eigentlich nicht vornehm genug für sie war. Ja, so einfach war das zu erklären, ebenso einfach wie Waynes Erscheinen im Cafe. Kerrys abschweifende Gedanken wurden vom harschen Tonfall ihres Gegenübers
unterbrochen. Wayne wollte wissen, seit wann sie und Avril sich schon getroffen hatten. Als sie ihm sagte, seit sechs Wochen nach ihrer ersten Begegnung, donnerte er los. „Sechs Wochen! Dann haben Sie sich schon regelmäßig mit ihr getroffen, als ich Ihnen verboten habe, auch nur den Versuch zu unternehmen?" Kerry nickte. „Und die ganze Zeit über hat Avril mich getäuscht ..." Sein wütender Gesichtsausdruck war geradezu erschreckend, und Kerry wappnete sich bereits gegen das, was nun kommen musste. „Zuerst fügen Sie meiner Nichte unsägliches Leid zu, und dann ermutigen Sie sie zum Betrug! Ist Ihnen eigentlich klar", fuhr er fort und kam ihr dabei bedrohlich nah, „dass Avril weder mich noch ihre Eltern jemals getäuscht hat, bevor Sie Einfluss auf sie nahmen? Wer hatte die Treffen vorgeschlagen?" fragte er. Kerrys Zögern allein war ihm schon Antwort genug. Doch anstatt diesen Strohhalm zu ergreifen, sagte sie in ihrem Bemühen, Avril zu beschützen: „Es war meine Idee, Mr. Harvey." „Wirklich? Und wie haben Sie Kontakt zu ihr aufgenommen?" In der Eile und in ihrer Verwirrung fiel Kerry nur eine Antwort ein, und sie sagte, sie habe Avril angerufen und sie um ein Treffen gebeten. „Sie haben sie also angerufen, das stimmt doch, oder?" Die Frage erschien ihr überflüssig, dennoch antwortete Kerry: „Ja, so ist es." „Miss Fairclough, Sie lügen! Seit Ihrem Besuch in meinem Haus wurden alle eingehenden Telefongespräche abgehört, auch dann noch, als ich davon ausging, dass Sie die Insel längst verlassen hätten." „Sie haben sie tatsächlich bespitzeln lassen!" sagte Kerry leise. „Und jetzt erfahre ich vielleicht die Wahrheit. Avril hat Kontakt mit Ihnen aufgenommen, richtig?" Kerry biss sich auf die Lippe und sah ihn an. „Mr. Harvey - Sie werden Avril doch nicht bestrafen?" flüsterte sie und blinzelte die Tränen weg. Warum habe ich bloß jemals dieses Geld geerbt? fragte sie sich verzweifelt. Warum - wenn es doch nur Ärger und Kummer bringt, mir und anderen? Wayne stand vor ihr, sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, und ohne auf ihre Bitte einzugehen, hielt er ihr erneut vor, welch schlechten Einfluss sie auf seine Nichte habe. „Glauben Sie mir", fuhr er wutentbrannt fort, „nur das Gesetz hält mich davon ab, Sie dafür zu bestrafen. Frauen wie Sie gehören ausgepeitscht!" Das Blut schoss Kerry ins Gesicht, und sie setzte zu einem Vergeltungsschlag an. „Zweifellos haben Sie Ihre sadistische Ader, die Sie mit Ihrer gewünschten Strafmaßnahme demonstrieren, von Ihren Vorfahren, den Sklavenhändlern, geerbt! Wie schade, dass sich die Zeiten geändert haben und Ihnen derartige Freuden, wie Ihre Bediensteten auszupeitschen, untersagt sind." Schweigen folgte. Habe ich bei ihm einen wunden Punkt berührt? fragte sich Kerry und suchte in seinem Gesicht nach einem Zeichen von Betroffenheit. Ja, sie musste ihn getroffen haben, denn natürlich hatten sich auch seine Vorfahren auf Kosten der Sklaven bereichert Männer, Frauen und Kinder, denen ihre habgierigen weißen Herren das Leben zur Hölle gemacht hatten. Waynes Herrenhaus und sein Garten, seine Plantage und eigentlich sein gesamter Besitz waren das Ergebnis von Sklavenarbeit. Kerry betrachtete noch immer Waynes Gesicht: Seine Züge waren grimmig und angespannt, sein Ausdruck aber war rätselhaft und verriet nichts. Kerry wartete und rechnete schon mit einem fürchterlichen Wutausbruch. Doch seine Reaktion überraschte sie. Er ignorierte ihre rachsüchtigen Anspielungen völlig und hielt sie offensichtlich mit keiner Silbe für beachtenswert. „Wie ich schon sagte, Miss Fairclough, würde es nicht gegen das Gesetz verstoßen, so würde ich dafür sorgen, dass Sie für den Schaden, den Sie angerichtet haben, ordentlich bestraft würden. Und würde es nicht gegen meine Grundsätze verstoßen, so würde ich Sie dafür bezahlen, dass Sie diese Insel verlassen ..." „Bezahlen? Sie?" Kerry blickte überrascht auf. „Mr. Harvey, Sie sind unerträglich! Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich Geld annehmen könnte, um Barbados zu verlassen?" Er zog die Brauen hoch. Seine Wut war Verachtung gewichen. „Sie sind hierher gekommen in der Absicht, sich von meiner Nichte Geld zu beschaffen. Weshalb also sollten Sie nicht ebenso bereit sein, Geld anzunehmen, um wieder abzureisen? Aber wie ich schon andeutete: Bestechung widerstrebt meinen Grundsätzen, und deshalb biete ich ihnen kein Geld an. Ihr Chef allerdings ist ein Freund von mir, und ich werde veranlassen, dass er Ihnen kündigt." „Sie wollen mich rauswerfen lassen? Sie glauben, Sie hätten das Recht, zwei Schwestern zu
trennen?" „Unter den gegebenen Umständen - ja. Meiner Meinung nach ist Avril ohne Sie besser dran." Er sah Kerry fest an. „Wie Sie selbst zugegeben haben, sind Sie hier, um durch Avril an Geld zu kommen - das schon allein beweist, dass Avril vor Ihnen beschützt werden muss." Kerry biss sich auf die Lippe. „Mr. Harvey ..." Sie sah zu ihm auf, den Tränen nah. „Das habe ich nicht verdient - wirklich nicht. Meine Absichten waren nicht schlecht. Wenn ich Geld von Avril haben wollte, dann nur, um damit ihrer anderen Schwester zu helfen." Ohne den Blick von ihm zu wenden, fuhr sie fort: „Sie hören niemals zu - egal, was ich auch sage ..." „Im Gegenteil. Ich habe mir alles, was Sie ges agt haben, interessiert und geduldig angehört." „Na schön, Sie hören zu, aber es berührt Sie nicht. Sie haben mich als Betrügerin abgestempelt, und ich kann tun und sagen, was ich will, nichts ändert sich an Ihrer Meinung." Sie schwieg einen Moment, und als er nichts darauf erwiderte, fuhr sie fort: „Mr. Harvey, mein Aufenthalt auf dieser Insel kann Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Mir jedoch - und anderen - bedeutet er sehr viel. Bitte lassen Sie mich meinen Job nicht verlieren." Ihn so anzuflehen ging ihr gewaltig gegen den Strich, aber Kerry dachte an Michelle. Sie musste ihr weiterhin Geld schicken, sonst musste sie annehmen, Kerry würde kein einziges von ihren vielen Versprechen halten. Denn dann wäre es bereits das zweite Mal, dass sie Michelle enttäuschte. Sollte sie Wayne sagen, dass sie Michelles Eltern jede Woche Geld schickte? Aber nein. Sie konnte reden, so viel sie wollte, er glaubte ihr sowieso nicht. „Sie ... Sie lassen mich nicht meinen Job verlieren?" brachte sie stockend hervor, und Tränen glänzten in ihren Augen. „Wenn .... wenn ich verspreche, Avril nicht mehr zu treffen ..." Kerry verstummte. Wie konnte sie so etwas versprechen, da sie ihre Schwester doch gerade erst kennen gelernt hatte? Sie mochten sich doch schon so sehr und hatten sich auf den Tag gefreut, an dem sie sich gemeinsam in aller Öffentlichkeit zeigen konnten. „Ich ... ich kann nicht." Kerry brach in Tränen aus. Sie barg das Gesicht in den Händen, und es war ihr egal, dass sie sich vor Wayne so gehen ließ. „Sie sind herzlos - Sie haben überhaupt kein Gefühl!" stieß Kerry hervor, öffnete ihre Handtasche und suchte zwischen Briefen, Puderdose, Lippenstift und anderen Utensilien nach einem Taschentuch. „Sie sind unfähig zu Gefühlen, Empfindungen - oder Verständnis! Kein Wunder, dass Sie nicht verheiratet sind - Sie wüssten gar nicht, was Sie tun sollten ...!" Entsetzt verstummte sie. Wie, um Himmels willen, hatte sie so etwas sagen können? Endlich kam das Taschentuch zum Vorschein, und Kerry hielt es sich vors Gesicht, schrecklich verlegen und beschämt wegen ihres unüberlegten Redeschwalls. Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie das Taschentuch sinken ließ, aber Wayne erlaubte nicht, dass sie seinem Blick auswich. Ungewöhnlich sanft legte er ihr einen Finger unter das Kinn und hob ihren Kopf, so dass sie ihn ansehen musste. Sein Ausdruck verriet, wie ungerührt ihre Tränen ihn ließen. „Und wie", begann er langsam, „können Sie sich dessen so sicher sein?" Kerry wusste nicht mehr weiter. Die unerwartete Sanftheit seiner Berührung, die Frage an sich hatten sie sprachlos gemacht. Sie konnte ihn nur schweigend ansehen, einen langen Augenblick, in dem sie sich ihrer unerklärlichen Gefühlsverwirrung bewusst wurde. „Ich habe Sie was gefragt, Miss Fairclough", erinnerte Wayne sie leise und hatte noch immer den Finger unter ihrem Kinn. Kerry schüttelte den Kopf. „Ich hätte das nicht sagen sollen", antwortete sie schließlich fast unhörbar. In ihren großen Augen glänzten noch immer Tränen. Traurigkeit lag in ihrem Blick, und ihre schönen Lippen bebten leicht. In Waynes Augen blitzte es seltsam auf, dann sah er sie an, neugierig und forschend. Das Schweigen im Raum war spannungsgeladen. Eine unbestimmbare Veränderung schien in Wayne vorzugehen ... Es war, als würde er sie plötzlich in einem neuen und ganz anderen Licht sehen. Kerry bewegte sich und blickte zum Fenster. Die Szene draußen war wunderschön und exotisch: Zuckerrohrfelder, in denen Männer und Frauen ihrer Arbeit nachgingen und dabei sangen, in der Ferne die Kolonie der mit Palmzweigen gedeckten Hütten, in denen sie wohnten. Mahagonibäume beschatteten eine nahe gelegene Terrasse, um deren glänzende Korallensäulen sich Weihnachtssterne und Hibiskus rankten. Kerry ließ den Blick weiter in die Ferne schweifen zu den anmutigen Königspalmen, die mit ihren enorm hohen Stämmen und massigen Fiederblättern sich beinahe geheimnisvoll gegen den tropischen Himmel abhoben.
Auf der silbrigen Wasseroberfläche des Karibischen Meers tänzelte das Sonnenlicht, und die Wellen rollten gleichmäßig an die von Palmen bestandene Küste mit ihrem weißen Sand. Eine unruhige Bewegung im Raum lenkte Kerry von dem überwältigenden Panorama draußen ab. Waynes Gesicht zeigte einen Ausdruck von Unschlüssigkeit, und sie hatte den seltsamen Eindruck, dass sich ein Gedanke in ihm herauskristallisierte. Lange hielt sie seinem Blick stand. Wie ungeheuer attraktiv er doch war! Vom ersten Moment an hatte sie das so empfunden. Groß und aufrecht, geschmeidig und schlank, hatte er die stolze und stattliche Haltung eines Herrn. Plötzlich und ohne Vorwarnung fühlte Kerry sich in den Strudel seiner Anziehungskraft gezogen, gefangen in einem Bann, der ihr Herz schneller schlagen ließ und sie völlig durcheinander brachte. Eine zarte Röte überzog ihre Wangen, und ein Glanz trat in ihre Augen, der nichts zu tun hatte mit dem Tränenschleier, der sie noch überzog. Waynes durchdringender Blick ruhte auf ihr ... und nichts entging ihm ... „Ich bin also unfähig zu Gefühlen?" Waynes Stimme klang merkwürdig sanft. „Und wenn ich verheiratet wäre, wüsste ich gar nicht, was ich tun sollte?" Er ließ die Hand sinken, als Kerry sich vor Verlegenheit von ihm abwandte und sich in einiger Entfernung von ihm neben den Schreibtisch stellte. „Wissen Sie, Miss Fairclough", fuhr er ebenso sanft fort, „ich habe gute Lust, Ihnen zu zeigen, ob ich zu Gefühlen fähig bin oder nicht." Kerry sah ihn wieder an. Was meinte er damit? Und in welche Situation war sie da hineingeraten? Als er sie hierher brachte um ungestört mit ihr zu reden, wie Wayne gesagt hatte -, hatte sie damit gerechnet, seine Wut zu spüren zu bekommen. Sie hatte auch erwartet, dass er ihr verbieten würde, Avril noch einmal zu sehen. Aber an eine Szene wie diese hatte sie nicht im Entferntesten gedacht. Aufmerksam sah s ie ihn an. Der träge Blick seiner grauen Augen stand im Widerspruch zu seiner subtilen Drohung, dennoch gewann Kerry den Eindruck, dass er trotz seines ziem lich abwesenden Blicks in Wirklichkeit durch ihre beleidigende Äußerung sehr gekränkt war. Und das war nur zu verständlich. Wie hatte sie auch nur so etwas Dummes sagen können? Mit einem Mal wirkte Wayne äußerst amüsiert. Sein Lachen durchbrach die Stille, und die trügerische Sicherheit, in der sie sich plötzlich fühlte, ließ Kerry ihn wieder ansehen. Eine wundersame Wandlung hatte sich in seinem Gesicht vollzogen. Wayne sah plötzlich menschlich aus, und ein unfreiwilliges Lächeln umspielte Kerrys Lippen. „Ja ... ich habe gute Lust, es Ihnen zu zeigen ..." Sein Lachen verklang, und Kerrys Lächeln verschwand. Zu spät wurde sie sich der Gefahr bewusst, und sie hatte kaum zwei Schritte auf die Tür zugemacht, da wurde sie gepackt und zurückgerissen. „Eine solche Behauptung muss ich widerlegen." „Lassen Sie mich los ...!" Kerrys Protest wurde von seinem KUSS erstickt. Instinktiv wehrte sie sich gegen seine Heftigkeit, doch bald schon hielt sie inne und musste sich die Sinnlosigkeit ihres Widerstands eingestehen. „Nun ...?" Nach einer Ewigkeit, wie es schien, hielt er sie von sich, sah mit einem süffisanten Lächeln auf ihr gerötetes Gesicht. Er schien zu warten - vermutlich auf die wütenden Vorhaltungen, die sie ihm mit gutem Grund hätte machen können, aber, so unvorstellbar es auch war, sie hatte die Sprache verloren. „Sind Sie jetzt bereit, Ihre Behauptung zurückzunehmen?" „Zu... zurücknehmen?" wiederholte sie heiser. Ihre Lippen waren geschwollen, ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Wayne hatte eindeutig sein Ziel erreicht und ihre töricht dahingesprochene Vermutung, er sei zu keinen Gefühlen fähig, Lügen gestraft. „Die Beleidigung, meine Liebe", erwiderte er leise. „Nehmen Sie sie zurück ... sonst..." Sie überhörte seine Drohung. Bis ins Tiefste aufgewühlt, schloss Kerry die Augen. „Wenn … wenn es sonst nichts mehr zu sagen gibt", brachte sie schließlich hervor, „könnten Sie mich vielleicht irgendwo absetzen, wo ich ein Taxi erreichen kann." „Sehen Sie mich an", befahl er, ohne auf ihre Bitte einzugehen. Kerry öffnete langsam die Augen, hielt aber den Kopf abgewandt. Wayne hob ihr Kinn an und sah ihr triumphierend in die Augen, die verklärt waren von dem erwachten Verlangen. „Sie haben meine Bitte noch nicht befolgt." „Befolgt?" Kerry versuchte, etwas Hochmut in ihre Stimme zu legen, doch es misslang ihr gründlich, Eindruck auf Wayne zu machen, der nur spöttisch den Mund verzog. „Ich bestehe darauf, dass Sie Ihre Beleidigung zurücknehmen."
Sie blitzte ihn wütend an und ballte die Hände zu Fäusten. Wayne ließ den Blick von ihrem Gesicht hinunter zu ihren Händen gleiten, und sein Lächeln vertiefte sich. Was für ein unausstehlicher, rechthaberischer Mensch er doch war! Sie wünschte, sie hätte die Kraft und den Mut, ihm einen solchen Schlag zu versetzen, dass er es so bald nicht vergessen würde. „Ich habe schon zugegeben, dass ich es nicht hätte sagen sollen." „Und jetzt wissen Sie, dass Sie es nicht hätten sagen sollen." Kerry antwortete nicht darauf, und der Druck auf ihre Arme wurde stärker. Sollte das eine Warnung sein? Vermutlich ja, dachte Kerry, und ihre Lippen bebten. Ihr Blick flehte ihn an, sie loszulassen. Wayne atmete tief ein und ignorierte ihre stumme Bitte. „Wenn Sie mich weiterhin so ansehen ..." Als sie plötzlich seine sinnlichen Lippen auf ihrem Mund spürte, war es, als würde eine sanfte, kühle Brise sie streifen ... aber Sekunden später hatte er ihre Lippen wieder ganz in Besitz genommen, und die Sanftheit wurde überflutet von einer Welle der Leidenschaft und des Verlangens, die Kerry gnadenlos mit sich riss. Als er sie zum zweiten Mal von sich hielt, war sie völlig außer Atem und erstaunt, wie unbeeindruckt und ruhig er war. „Nehmen Sie es zurück", sagte er leise. „Seien Sie einmal in Ihrem Leben ehrlich." Einmal im Leben ehrlich? Musste er ihr ständig Beleidigungen an den Kopf werfen? Eine Vergeltung wäre angebracht gewesen, aber Kerry war noch zu aufgewühlt von der Art, wie er sie behandelt hatte, und auch von der Faszination, die Wayne auf sie aus übte. „Es tut mir Leid, dass ich das gesagt habe", brachte sie schließlich hervor. „Ich war verärgert und wütend ..." Kerry verstummte und sah in sein regungsloses Gesicht. „Ich habe Sie nicht um eine Entschuldigung gebeten, sondern darum, Ihre Behauptung zurückzunehmen." Seine sanft vorgebrachte Erinnerung versetzte Kerry erneut in Wut. Jedes Mal, wenn sie diesem Mann begegnete, wurde sie von ihm auf die eine oder andere Art gedemütigt. Wenn sie sich nicht gegen ihn behauptete, würde er noch erreichen, dass sie auf den Knien vor ihm rutschte. „Warum sollte ich sie zurücknehmen! Sie haben mich unmöglich behandelt..." „Unmöglich?" „Die Art, wie Sie mich eben - geküsst haben", sagte sie stockend. „Wie können Sie es wagen, mich zu behandeln, als wäre ich ... als wäre ich ..." Verlegen verstummte sie. Wayne lachte, warf ihr einen amüsierten Blick zu und sagte: „Es scheint Ihnen ganz gut gefallen zu haben." „Gefallen!" wiederholte Kerry wütend. „Es war mir zuwider! Zuwider, Mr. Harvey. Und hören Sie schon auf, so zufrieden und triumphierend zu grinsen!" Wieder lachte er laut auf. Die Röte schoss Kerry ins Gesicht, und sie hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst. „Das ist absolut nicht überzeugend", sagte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte. „Die Frau, der die Aufmerksamkeit eines Mannes nicht gefällt, muss ich erst noch kennen lernen." „Mr. Harvey", sagte sie mit rauer Stimme, „da mag etwas Wahres dran sein, aber in meinem Fall betrifft es zufällig einen ganz bestimmten Mann. An Ihrer Aufmerksamkeit kann ich keinen Gefallen finden. Darin werden Sie mir wohl zustimmen." „Ich gebe zu, dass es bisher nicht gerade erfreulich für Sie war, aber etwas anderes konnten Sie auch nicht erwarten, oder? Trotzdem bleibe ich dabei..." Wieder lächelte er amüsiert. „... dass Sie unser kurzes Intermezzo eben ausgiebig genossen haben. Es genossen haben, festzustellen, dass ich tatsächlich zu Gefühlen fähig bin ... und sie wecken kann, Miss Fairclough." Außer sich vor Wut, konnte Kerry ihn nur sprachlos ansehen, und er fuhr fort: „Ich warte immer noch darauf, dass Sie diese Beleidigung zurücknehmen." Er machte eine Pause. Kerry senkte den Blick, sah auf ihre Hände und überlegte, was sie sagen sollte. Sie beschloss, diese verdammte Geschichte ein für alle Mal hinter sich zu lassen, hob den Kopf und sagte fast unhörbar: „Ich ... ich nehme alles zurück, Mr. Harvey." Eine merkwürdige Stille folgte. Kerry sah, wie sich seine sinnlichen Lippen zu einem leichten Lächeln verzogen. Aber wo blieb der Triumph, der spöttische, selbstzufriedene Ausdruck, der jetzt eigentlich auf diesem hübschen Gesicht erscheinen sollte? „Sie sind sehr klug, Miss Fairclough", sagte er jedoch nur. Kerry blickte nur schweigend vor sich hin, dann fügte er hinzu: „Ich bringe Sie zurück in Ihr Hotel." „Es reicht, wenn Sie mir ein Taxi besorgen."
„Ich fahre Sie zum Hotel." Kerry schluckte und war kurz davor, erneut in Tränen auszubrechen. Aus einem sehr seltsamen Grund. Denn warum sollte sie weinen, nur weil Wayne plötzlich ganz menschlich geworden war? So als würde er sie nicht mehr verachten. Der Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen, und ohne zu überlegen, sagte sie: „Mr. Harvey, bitte veranlassen Sie nicht, dass man mich entlässt." Mit ihren schönen Augen sah sie ihn flehend an. Wayne, der schon auf dem Weg zur Tür war, blieb stehen und drehte sich stirnrunzelnd um. „Vorläufig, Miss Fairclough, lasse ich die Dinge, wie sie sind." „Oh ... vielen Dank!" Und nach einer kurzen Pause fragte sie: „Avril? Darf sie ... dürfen wir uns manchmal treffen?" Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. „Mal sehen." Mehr sagte er dazu nicht, und Kerry musste sich damit zufrieden geben.
6. KAPITEL
„Wir sind da", sagte Wayne und riss Kerry aus ihren Gedanken. Erst jetzt merkte sie, dass sie schon auf der breiten Zufahrt zum Hotel waren und unter dem Blätterdach dicht stehender Bäume entlangfuhren. Hin und wieder fiel ein Sonnenstrahl in das Wageninnere. Weit im Westen zog die Sonne ihre tiefe Bahn zum Horizont, und die vom Passatwind getriebenen Kumuluswolken wechselten wie durch ein Wunder immer wieder ihre Farben: Grauweiß löste sich in Lila auf, leuchtete atemberaubend und vermischte sich mit Safrangelb und Kupfergold. „Haben Sie sich Ihrem Arbeitgeber schon anvertraut?" fragte Wayne und fuhr einen weiten Bogen, als er das Ende der langen Limettenallee erreicht hatte. „Anvertraut?" „Haben Sie ihm Ihr Problem geschildert? Für gewöhnlich ergreifen Frauen die erstbeste Gelegenheit, um ausführlich zu werden. Ich finde sie entsetzlich unbeherrscht." Kerry wurde mit einem fragenden Blick bedacht. „Sie haben offensichtlich eine sehr schlechte Meinung von Frauen, Mr. Harvey. Aber da Ihre Meinung mich absolut nicht interessiert, verschwenden Sie nur Ihre Zeit damit, sie zu äußern." „Ich habe lediglich eine Tatsache festgestellt." Mit einem Mal wirkte er gelangweilt. „Haben Sie Charles erzählt, weshalb Sie hier sind?" „Zufällig", antwortete sie eisig, „gehöre ich nicht zu den Frauen, die die erstbeste Gelegenheit ergreifen, um ausführlich zu werden. Normalerweise kann ich meine Privatangelegenheiten sehr gut für mich behalten." Wieder lachte Wayne, wobei er langsam abbremste und den Wagen vor dem Haupteingang des Hotels sanft zum Stehen brachte. „Dann beglückwünsche ich Sie, Miss Fairclough." Es klang zwar noch spöttisch und belustigt, aber nicht mehr feindselig. Überrascht wandte sie sich ihm zu und sah ihn an. Er begegnete ihrem Blick. „Ich ... verstehe Sie nicht", sagte sie leise und schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Dazu gibt es auch nicht die geringste Veranlassung, Miss Fairclough." Wayne schnipste mit den Fingern, und die Wagentür schwang auf. Er stieg aus und ging um das Auto herum, um Kerry die Tür aufzuhalten, aber Charles war schneller. Schweigend ließ er den Blick von Wayne zu Kerry gleiten und zog dabei fragend die Brauen hoch. „Ich habe Miss Fairclough nur hergefahren", sagte Wayne. „Wie laufen die Geschäfte?" „Ein bisschen ruhig zurzeit", antwortete Charles. „Aber in zwei Wochen sind wir ausgebucht." „Tatsächlich?" fragte Kerry erstaunt. „Wir erwarten die Pauschalurlauber aus England, aber damit ist das Hotel nicht voll belegt." „Heute sind zwei weitere Anmeldungen eingegangen. Eine für eine Gruppe von zehn, die andere von acht Personen. Außerdem hat ein Paar auf Hochzeitsreise sich bei uns angemeldet. Und damit sind wir so gut wie ausgebucht." „Flitterwöchner?" fragte Wayne mit eindeutig spöttischem Unterton. „Da macht sich wieder so ein armer Teufel zum Narren." Charles lachte über diese Bemerkung. „Immer noch der alte Zyniker. Eines Tages, Wayne, wirst du das noch zurücknehmen. Warum glaubst du, gegen die Ehe immun zu sein?" „Ich habe einen eingebauten Schutzmechanismus - darüber hinaus verfüge ich über Weitblick und einen gesunden Menschenverstand." Er ließ den Blick zu Kerry gleiten und auf ihrem Gesicht ruhen. „Aber zum Glück sind nicht alle Männer wie ich", gab er fröhlich zu. „Sonst würde die Menschheit aussterben." Kerry sagte dazu nichts, hauptsächlich weil sie sich an die jüngsten Ereignisse in Wayne Harveys Büro erinnerte. Wayne unterhielt sich weiter mit Charles, und Kerry verabschiedete sich und ging hinauf in ihr Zimmer. Auf der Frisierkommode lagen zwei Briefe. Gespannt nahm Kerry sie in die Hand. Der eine kam von Michelle, der andere von Irene. Irene heiratete in zwei Wochen, hatte den Mietvertrag für ihre Wohnung bereits gekündigt und wohnte bis zu ihrer Hochzeit bei ihren Eltern. Kerry öffnete zuerst den Brief von ihrer Schwester, und während sie die Seiten durchlas, bildeten sich Stirnfalten auf ihrem hübschen Gesicht. Auf den ersten Eindruck wirkte der Brief
heiter und voller Neuigkeiten. Warum hatte sie dann bloß diese seltsame Vorahnung? Dieses nicht greifbare Unbehagen und die Befürchtung, dass irgendetwas mit ihrer Schwester nicht stimmte? Nachdenklich faltete Kerry die Bögen zusammen und schlug sie dann noch einmal auf. Mit keinem Wort wurde erwähnt, was Michelle mit dem Taschengeld gemacht hatte, das Kerry ihr geschickt hatte ... Auch letzte Woche schon war nichts darüber geschrieben worden, wie Kerry sich jetzt erinnerte. Vorher hatte Michelle stets ausführlich und begeistert berichtet, wofür sie ihr Taschengeld ausgab. Kerry schüttelte den Kopf. Kein Grund zur Besorgnis. Michelle hatte es eben nicht für nötig gehalten, das zu erwähnen. Anfangs war es neu für sie, Geld geschickt zu bekommen, inzwischen war sie daran gewöhnt und machte sich nicht mehr die Mühe, darauf einzugehen. Kerry nahm den zweiten Brief. Sie war überrascht und erfreut, als sie ihn überflog. Irene bedankte sich zunächst für Kerrys Hochzeitsgeschenk, dann schrieb sie weiter: Du wirst sehr überrascht sein, wenn Du meine Neuigkeiten erfährst. Wie Du weißt, hatten wir keine Flitterwochen geplant, da uns die Haussanierung so viel gekostet hat, aber letzte Woche hat Tante Chrissy im Toto gewonnen und spendiert uns nun von ihrem Gewinn eine Hochzeitsreise. Es sollte etwas Besonderes sein, und natürlich dachte ich dabei gleich an die Karibik! Und damit an Dich! Nun haben wir eine Pauschalreise nach Barbados gebucht - und was glaubst Du? Wir wohnen im Beach Manor Hotel! Ich kann es noch gar nicht fassen - eine traumhaft schöne Hochzeitsreise, die uns nichts kostet, und noch dazu werde ich Dich treffen. Im Augenblick geht alles drunter und drüber. Einkäufe in letzter Minute und was sonst noch erledigt werden muss. Ich habe Neuigkeiten, die Michelle betreffen, aber die erzähle ich Dir lieber, wenn ich Dich sehe. Liebe Grüße, Irene Neuigkeiten, die Michelle betreffen ... und Irene wollte sie ihr erst mitteilen, wenn sie sie traf! Irgendwie schienen damit Kerrys Befürchtungen gerechtfertigt, dass mit Michelle etwas nicht in Ordnung war. Die alte Besorgnis kehrte zurück, und diesmal ließ sie sich nicht abschütteln. Kerry wurde am nächsten Morgen von den Sonnenstrahlen geweckt, die durch die Jalousienritzen ins Zimmer fielen. Sie setzte sich auf und runzelte die Stirn. Warum fühlte sie sich so teilnahmslos, so müde? Hatte sie nicht lange genug geschlafen? Es musste an den bedrückenden Ereignissen liegen, die auf ihr lasteten. Werde ich jemals wieder meinen Seelenfrieden finden? fragte sie sich. Während sie so dasaß und nachdenklich vor sich hin blickte, wünschte sie, niemals dieses Erbe gemacht zu haben. Dann wäre sie jetzt zu Hause in ihrer Wohnung, würde leise eine Melodie vor sich hin summen und sich Frühstück zubereiten. Sie würde eine kurze, aber angenehme Bahnfahrt machen und dabei die Morgenzeitung durchblättern. Sie käme ins Büro zu ihren netten Kollegen. Mittags ginge sie mit einigen aus dem Büro in den Silver Grill zum Essen und würde kurz durch die Geschäfte bummeln, bevor sie sich wieder an die Arbeit machte. Ihre Abende verbrachte Kerry meist geruhsam und beschaulich, vor allem seit Irene mit Stanley ausging, doch sie traf sich regelmäßig mit zwei Freunden, und manchmal verbrachte sie das Wochenende bei den Eltern. Ja, dieses Leben war nicht gerade aufregend gewesen, aber angenehm und sorgenfrei, und jetzt...? Kerry fragte sich, ob sie das Geld für einen anderen Zweck verwenden würde, wenn sie noch einmal die Gelegenheit dazu hätte. Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie würde es auch dann dafür ausgeben, ihre Schwestern zu finden. Der Tag zog sich schier endlos in die Länge, als Kerry an der Rezeption saß und halb darauf wartete, dass Avril sie anrief oder Wayne Harvey. Mit jeder Stunde, die verging, wurde sie lustloser. Was war nur mit ihr los? Als Neville zur Nachtschicht erschien, um sie abzulösen, war Kerry zum Umfallen müde. „Stimmt was nicht, Kerry?" fragte Neville besorgt. „Du siehst so müde aus." „Das bin ich auch - total erschöpft. Ich gehe wohl gleich ins Bett." Sie fuhr sich zittrig durchs Haar. Ihre Stirn fühlte sich feucht an, und ihre Kopfschmerzen waren höllisch. „Ja, mach das", meinte Neville. „Glaubst du, du brauchst einen Arzt?" Kerry brachte ein leises Lachen zu Stande, dann schüttelte sie den Kopf. „Natürlich nicht. Ich bin nur müde. Morgen bin ich wieder fit."
Als Kerry die Treppe hinaufging, fragte sie sich, ob sie am nächsten Morgen wirklich fit sein würde, so, wie sie sich momentan fühlte. Warum hatte Avril nicht angerufen? Hatte Wayne sie daran gehindert? Er hatte nicht ausdrücklich Nein gesagt, als sie ihn gefragt hatte, ob sie und Avril sich wieder treffen könnten. Aber der Tag war vergangen, und sie hatte weder von Avril noch von Wayne gehört. Nachdem sie gegen sechs Uhr am folgenden Abend noch immer ohne Nachricht war, hatte Kerry zu nichts mehr Lust. Auch körperlich ging es ihr schlechter, und nach der Arbeit wollte sie nur noch ins Bett. Sie kam in ihr Zimmer, setzte sich hin und sah blicklos in den Raum. Diesen Zustand der Ungewissheit ertrug sie nicht länger. Plötzlich spielte sie mit dem Gedanken, Trade Winds Estate anzurufen. Dann raffte sie sich auf, fasste Mut und griff zum Telefonhörer. Da sie aus trauriger Erfahrung wusste, wie verhängnisvoll es war, Wayne zu übergehen, beschloss sie, nach ihm statt nach Avril zu fragen. Rowena Blakely meldete sich. Kerry nannte ihren Namen und bat darum, Mr. Harvey sprechen zu dürfen. „Mr. Harvey? Was wollen Sie von ihm? Er ist im Augenblick sehr beschäftigt!" Die Arroganz dieser Person machte Kerry wütend, und sekundenlang herrschte Schweigen. „Ich denke", begann Kerry schließlich, „dass Mr. Harvey für mich Zeit hat, wenn Sie ihm sagen, dass ich ihn sprechen möchte." „Mr. Harvey hat Anweisung gegeben, dass er nicht gestört werden möchte." Stimmte das? Vielleicht, dachte Kerry, denn wer zwei Zuckerplantagen verwaltete wie Wayne, hatte viel zu tun. Aber um diese Zeit arbeitet er doch sicher nicht mehr, dachte sie mit einem Blick auf die Uhr. Nur, was sollte sie tun? „Avril ... ist sie da?" Zögernd kam Kerry die Frage über die Lippen. Rowena antwortete nicht gleich, dann sagte sie herrisch und kurz angebunden: „Was wollen Sie von Miss Harvey, wenn ich fragen darf?" Kerry beherrschte sich nur mühsam. „Wenn meine Schwester im Haus ist, Miss Blakely, dann holen Sie sie jetzt bitte ans Telefon." Wieder herrschte Schweigen. „Miss Harvey ist nicht da." „Sie ist nicht da?" „Genau das habe ich gesagt, Miss Fairclough." Kerry biss sich auf die Lippe. Sagte Rowena die Wahrheit? Sie konnte es nicht überprüfen, und nach kurzem Zögern beendete sie das Gespräch. „Danke, Miss Blakely." Sie legte den Hörer auf und ging ins Bad. Dort war sie keine zwei Minuten, als das Telefon klingelte und Neville ein Gespräch für sie anmeldete. Im nächsten Moment hörte sie die Stimme ihrer Schwester. „Avril, ich bin so froh, dass du anrufst. Hast du es vorher schon mal versucht?" „Gestern nicht, weil ich Onkel Wayne noch nicht rumgekriegt hatte." „Rumgekriegt?" wiederholte sie erstaunt und fragte dann: „Wo bist du?" „Zu Hause, wo sonst?" „Ich hatte gerade angerufen, und Miss Blakely sagte mir, du seist nicht da." Avril ließ ein Schimpfwort los. „Sie ist fies! Den ganzen Nachmittag über wollte ich dich schon anrufen, aber sie ist hier ständig irgendwo, und ich musste befürchten, dass sie das Gespräch von Onkel Waynes Büro aus abhört. Deshalb habe ich gewartet. Jetzt ist sie gerade im Bad, und Onkel Wayne ist im Garten -schon seit einer Stunde - und entspannt sich." Also war Wayne im Garten, ruhte sich aus und war nicht beschäftigt, wie Rowena behauptet hatte. „War dein Onkel dir böse?" fragte Kerry. „Er hat sich ganz furchtbar aufgeführt. Er sagte, er hätte dich gleich zur Rede gestellt, nachdem ich gegangen war. War es sehr schlimm, Kerry?" Schlimm? Aus irgendeinem Grund hatte sie seinen Wutanfall vergessen und erinnerte sich nur noch an das amouröse Zwischenspiel, das er ihr in seinem Büro geboten hatte. „Ich hab es überlebt", sagte Kerry nur. „Ich hatte solche Angst um dich, aber ich wusste ja, dass er dir nichts tun würde, deshalb habe ich auch nicht gleich angerufen. Weißt du, da war ich noch dabei, ihn zu bearbeiten. Aber ich
fang besser ganz von vorn an. Er war fürchterlich böse, als er mich zusammenstauchte, doch ich merkte gleich, dass nicht unsere Treffen schuld daran waren, sondern mein Täuschungsmanöver. Das machte mir wieder Hoffnung, nur musste ich geschickt vorgehen. Ich habe geweint und geschluchzt und völlig zerknirscht getan. Dabei ließ ich die ganze Zeit durchblicken, dass im Grunde alles nur seine Schuld sei. Ich hab ihn gefragt, wie es ihm wohl gefallen hätte, von seinem Bruder getrennt zu werden - er und Daddy mochten sich nämlich sehr -, und ich wusste, dass ich ihn damit traf. Weißt du, Onkel Wayne ist total süß, und er mag mich - und das war meine Waffe." Avril lachte kurz auf, dann sagte sie: „Er konnte nicht mit ansehen, wie unglücklich ich war, hat mich in den Arm genommen und getröstet. Weißt du, Kerry, im Grunde sind alle Männer gleich. Alle haben diesen angeborenen Beschützerinstinkt, vermutlich noch aus der Zeit der Höhlenbewohner, als der Mann die Frau beschützen musste. Wenn ihnen eine Frau hilflos erscheint, werden sie schwach. Ich habe es mir für gestern aufgespart und gesagt, ich würde sterben, wenn ich dich nicht für immer haben könnte. Und am Ende hörte er auf die Stimme der Vernunft. Ach du meine Güte, er klettert aus der Hängematte", sagte Avril rasch. „Er muss jeden Moment hereinkommen. Er und Rowena gehen heute zu einer Abendgesellschaft. Hör zu, Kerry. Wie gesagt, er ist echt süß, wirklich, und hat so ein weiches Herz. Hast du was gesagt?" „Nein", antwortete Kerry, „ich hab nur nach Luft geschnappt." Ein perlendes Lachen erklang. „Du wirst deine Meinung über Onkel Wayne schon noch ändern, wenn du ihn erst besser kennen lernst." „Soll ich das denn?" „Deswegen rufe ich ja an. Er ist jetzt ganz nachgiebig. Ich habe Vorarbeit geleistet..." Einen Moment herrschte Schweigen. „Onkel Wayne ist nicht mehr im Garten. Wo er bloß steckt? Egal, er wird schon nicht mithören. Das hoffe ich jedenfalls. Um wieder auf den Punkt zu kommen: Ruf ihn an, sobald ich aufgelegt habe, denn er geht gleich auf diese alberne Gesellschaft. Ich habe mich strikt geweigert mitzugehen, weil sich da sowieso bloß lauter alte Käuze treffen und übers Geschäft reden. Ruf Onkel Wayne an, Kerry. Zieh eine große Schau ab. Spiel die Unterwürfige und Ergebene. Entschuldige dich dafür, dass du mich zum Schwindeln angestiftet hast. Sag, es sei alles deine Schuld und du musstest ihn anrufen, um ihm das zu sagen. Sei ganz Frau - hilflos und schwach. Es wirkt Wunder. Ich muss es wissen, denn ich habe es schon ausprobiert. Bitte ihn um Entschuldigung ..." „Bitten!" „Bitte, Kerry. Es ist schrecklich wichtig! Ruf an - jetzt gleich, solange Rowena weg ist. Onkel Wayne und ich haben uns heute lange unterhalten. Er gibt jetzt zu, dass du meine Schwester bist, nur, irgendetwas passt ihm nicht, doch er wollte nicht darüber reden. Aber wenn er dich einmal kennt, wird er dich bestimmt mögen ..." Wieder herrschte Schweigen. „Ich weiß nicht, wo er steckt, Kerry. Wenn er in seinem Büro ist, braucht er nur den Hörer abzunehmen. Ich mach jetzt lieber Schluss. Ruf ihn gleich an. Er ist momentan in genau der richtigen Stimmung. Garantiert wird er dir ein Treffen für ein Gespräch vorschlagen." „Avril, ich kann mich nicht so sehr erniedrigen und ihn um Entschuldigung bitten. Was du verlangst, ist unmöglich - Avril, bist du noch dran?" Schweigen. Langsam legte Kerry den Hörer auf die Gabel. Wayne um Entschuldigung bitten ... Niemals! Nach allem, was er ihr angetan hatte, musste er sie um Entschuldigung bitten. Sie würde es nicht tun! „Ganz bestimmt nicht! Vor einem Mann zu Kreuze zu kriechen. Niemals!"
7. KAPITEL
Kerry ging nervös im Zimmer auf und ab. Es gab eine Grenze -und die war erreicht! Wayne Harvey um etwas bitten - undenkbar. Minuten vergingen. Avril wartete. Rowena war weg aber nicht für lange. Wieder vergingen ein paar Minuten, dann wählte Kerry die Nummer von Trade Winds Estate. „Trade Winds. Wayne Harvey am Apparat." Schweigen. Kerry brachte kein Wort heraus. Warum hatte sie sich nicht vorher überlegt, was sie sagen sollte? „Wer ist da?" „ Ke... Kerry Fairclough ..." „Ach?" Kerry blickte starr auf den Hörer. Wenigstens hatte er nicht gleich aufgelegt, womit sie eigentlich schon gerechnet hatte. „Mr. Harvey... ich rufe an wegen Avril. Waren Sie sehr... böse mit ihr?" Kerry ärgerte sich über sich selbst. Was war bloß mit ihrem Wortschatz passiert? „Avril würde das wohl für sehr milde ausgedrückt halten", antwortete Wayne. „Ich rufe an, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Es tut mir sehr Leid, dass ich Avril dazu ermutigt habe, Sie anzuschwindeln. Ich hoffe, Sie lassen es ihr noch einmal durchgehen ... Ich meine ... es tut mir wirklich sehr Leid." Wayne antwortete nicht sofort, und Kerry dachte schon, mit der Verbindung stimme etwas nicht. Aber endlich, fing er an zu reden, und Kerry fiel beinahe der Hörer aus der Hand. „Wenn Sie so freundlich wären, zu mir zu kommen, könnten wir uns aussprechen." „Ja, Mr. Harvey. Wann?" „Heute Abend. Ich erwarte Sie in ungefähr einer halben Stunde." In einer halben Stunde? Avril hatte doch gesagt, er würde zu einer Abendgesellschaft gehen. Anscheinend hatte er nicht viel Zeit für sie eingeplant. Es wäre besser, ich würde mich für einen anderen Tag mit ihm verabreden, dachte Kerry, zumal ihr auch nicht nach Weggehen zu Mute war. Während der letzten vierundzwanzig Stunden war es ihr zunehmend schlechter gegangen. Ihr war, als hingen Bleiklötze an ihren Schenkeln. Die Beine drohten manchmal unter ihr nachzugeben. Und sie fühlte sich insgesamt sehr schwach, was ihr am meisten Sorgen machte. Es war keine bloße Müdigkeit, und es lag auch nicht an der Hitze. Sie überlegte schon, ob sie nicht einen Arzt aufsuchen sollte. „Mr. Harvey ..." begann sie, wurde jedoch unterbrochen. „Ich hab es mir anders überlegt. Ich schicke Ihnen einen Wagen. Er wird in etwa einer Viertelstunde vor dem Beach Manor Hotel sein." Wayne legte auf. Genau eine halbe Stunde später wurde Kerry die Auffahrt entlanggefahren, die zu dem prächtigen Herrenhaus auf der Anhöhe hinaufführte. Der Wagen hielt vor dem breiten, mit Säulen bestandenen Eingang, und Kerry stieg aus. Die Nacht war traum haft schön, und der Mond, dessen Scheibe viel größer war als sonst, verströmte sein silbriges Licht über Haus und Land bis in unbestimmte Ferne. Von irgendwo in der Nähe wehte der schwere Duft von Rosen und Oleander herüber und der betörende von Jasmin. Zwischen Bäumen und tropischen Büschen hindurch schimmerte da und dort verlockend das silbrig glitzernde Meer. Eine wahrhaft paradiesische Insel, dachte Kerry. Der Chauffeur klingelte, und nahezu sofort wurde die Tür geöffnet. Cecilia lächelte - eine Cecilia, die sich sehr von dem verängstigten kleinen Mädchen unterschied, das vor kurzem Zeugin von Kerrys Demütigung geworden war. „Wenn Sie mir bitte folgen, Missy?" Kerry folgte ihr durch die geräumige Halle mit ihren Kostbarkeiten, sagenhaften Kunstwerken und wunderschönen Gemälden in einen dahinter liegenden Raum, den sie schon kannte. „Ich sage Massa Harvey Bescheid, dass Sie hier sind." Kerry zögerte, sich hinzusetzen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, und blieb mitten im Raum stehen. Wayne kam herein, und sie sah ihn an, in der Hoffnung, einem freundlichen Gesichtsausdruck zu begegnen, wurde jedoch enttäuscht. Seine Züge waren streng und unerbittlich. Kalt blickte er sie an, bevor er auf einen Sessel deutete. „Nehmen Sie Platz, Miss Fairclough." Dankbar folgte Kerry seiner Aufforderung. Dann bemerkte sie, dass Wayne noch nicht für die Dinnerparty gekleidet war. Es wird uns wohl kaum Zeit zum Reden bleiben, dachte sie und
wünschte, sie hätte einen anderen Termin vorgeschlagen. Wayne sah zur Tür. „Cecilia!" rief er. Sofort erschien das Mädchen und betrat lautlos den Raum. „Ja, Massa Harvey?" „Sieh zu, dass ich nicht gestört werde - von niemandem." „Ja, Massa Harvey, ich sehe zu." Wayne setzte sich und lehnte sich völlig entspannt zurück. Ganz anders als Kerry, die auf der Sesselkante saß, obwohl sie es sich am liebsten auf der so bequem aussehenden Couch gemütlich gemacht hätte. „Und jetzt, Miss Fairclough", begann Wayne in kühlem, geschäftsmäßigem Ton, „könnten wir uns unterhalten." Sie sah ihn nur abwartend an, und Wayne fuhr fort: „Sie werden sich freuen, zu erfahren, dass ich Ihre Verwandtschaft zu meiner Nichte jetzt anerkenne und damit einverstanden bin, dass sie sich gegenseitig besuchen." Er sagte es kalt und ohne Gefühlsregung. Nur der selbstbewusste Wayne Harvey konnte dieses Eingeständnis machen, ohne das Gesicht zu verlieren. Er wird überhaupt niemals das Gesicht verlieren, dachte Kerry und blickte ihn unter halb gesenkten Lidern an. Wieder empfand sie diesen inneren Gefühlsaufruhr. Wie leicht wäre es, sich in diesen Mann zu verlieben, dachte sie. Viele Frauen müssen es schon getan haben. Und unwillkürlich schweiften ihre Gedanken zu Rowena Blakely. „Dafür kann ich Ihnen nur danken, Mr. Harvey ..." Ihre Stimme verlor sich, als eine plötzliche Teilnahmslosigkeit sie überfiel. Wenn sie sich doch nur hinlegen könnte! Ich muss zurück ins Hotel, durchfuhr es sie, und sie erhob sich halb von ihrem Sessel. „Mr. Harvey, wenn Sie bitte entschuldigen. Leider kann ich nicht länger bleiben ..." Kerry ließ sich zurück auf den Sessel sinken und sah Wayne Harvey bedauernd an. „Stimmt etwas nicht, Miss Fairclough?" fragte er gleichgültig, aber eindeutig amüsiert. „Ich fühle mich nicht wohl..." Was sollte sie nur machen? Sie fühlte sich nicht einmal imstande, mit dem Taxi zum Beach Manor Hotel zurückzufahren. „Es tut mir so Leid ... dass mir das jetzt passieren muss." Zu ihrem Erstaunen unterdrückte Wayne nur ein Gähnen, lehnte sich tiefer in seinem Sessel zurück, machte es sich noch etwas bequemer und sah sie gespielt besorgt und leicht belustigt an. Verblüfft erwiderte sie seinen Blick. Er hatte doch bestimmt bemerkt, dass es ihr nicht gut ging. Ja, natürlich. War er denn so völlig gefühllos, dass er sein Gespräch fortsetzen wollte, ohne sich auch nur im Geringsten betroffen zu zeigen? „Er ist süß und hat ein weiches Herz", hatte Avril gesagt... „Mr. Harvey ... würden Sie mir bitte ein Taxi rufen?" Kerry fuhr sich mit zittriger Hand über die Stirn und sah dabei Wayne verwundert an, denn er machte noch immer keine Anstalten, ihrer Bitte nachzukommen. „Das Theater können Sie sich sparen", sagte er leicht verächtlich. „Je eher Sie die Rolle der Hilflosen und - was war es gleich noch? Ach ja - Schwachen aufgeben, desto eher können wir uns ernsthaft unterhalten. Ich will die ganze Geschichte hören, denn weder mein Bruder noch seine Frau hat jemals erwähnt, dass Avril eines von drei Kindern war. Hören Sie auf mit dieser Tour, Miss Fairclough!" Also hatte er das Telefongespräch mitgehört. Was für eine Ironie! Da hatte sie nicht die geringste Absicht gehabt, die Show abzuziehen, die ihre kleine Schwester ihr vorgeschlagen hatte. Und nun fühlte sie sich tatsächlich so schwach und hilflos, dass es so aussah, als würde sie Theater spielen. Er wartete darauf, dass sie etwas sagte, sein Blick war jetzt etwas milder, aber auch nur, weil Belustigung in seinen Augen aufblitzte. Resigniert schüttelte Kerry den Kopf. „Mr. Harvey, wenn Sie mir kein Taxi kommen lassen, haben Sie es selbst zu verantworten, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereite." Erstaunt sah er sie an, plötzlich hellwach. Im nächsten Moment war er schon aufgestanden. „Es geht Ihnen nicht gut?" „Ich fühle mich nicht wohl, ehrlich." Er stand dicht vor ihr, und sie sah zu ihm auf mit blassem Gesicht und vor Müdigkeit schweren Lidern. „Ich muss nach Hause." Wayne runzelte die Stirn, beugte sich über sie, zog die Haut unter einem Auge nach unten und sah ihr sekundenlang in die Pupille. Dann legte er ihr die Hand auf die Stirn. Sein Verhalten überraschte und erstaunte sie, aber Kerry hatte einen Punkt erreicht, an dem sie viel zu
lethargisch war, um etwas anderes als Gleichgültigkeit zu empfinden. „Wie lange sind Sie schon in diesem Zustand?" Wayne hatte die Hand zurückgezogen, stand aber immer noch neben ihr und beobachtete sie genau. „Es kann nicht gerade erst angefangen haben", stellte er fest, fast so, als wüsste er, was nicht mit ihr stimmte. „Nein, es fing schon vor einigen Tagen an." „Salzen Sie Ihr Essen sehr stark?" fragte er. Kerry schüttelte den Kopf. „Nicht sehr." „Nehmen Sie Salztabletten?" „Nein - warum sollte ich?" Wayne atmete tief ein. „Sie schwitzen und sind nicht an unser Klima gewöhnt. Haben Sie noch niemals daran gedacht, dass Sie den Salzverlust Ihres Körpers ausgleichen müssen?" „Ich wüsste gar nicht, dass es Salztabletten gibt", antwortete sie schwach, und wieder atmete Wayne tief ein. Er ging hinüber zum Klingelzug und zog daran. Wie durch ein Wunder erschien Cecilia. Kerry hatte den Eindruck, dass sie die Tür bewacht hatte, um die Anweisung ihres Herrn aufs Wort zu befolgen und darauf zu achten, dass niemand ihn störte. „Ja, Massa?" „Bring mir bitte die Packung mit den Salztabletten und ein Glas Wasser." „Ja, Massa." Nach einem kurzen Blick in Kerrys Richtung eilte Cecilia aus dem Raum. „Es fing schon vor einigen Tagen an, sagten Sie?" Wieder stand er neben ihrem Sessel. „Vermutlich haben Sie sich schon vorher lustlos gefühlt, dem aber nicht viel Bedeutung beigemessen. So etwas kommt langsam, und anfangs bemerkt man es gar nicht." „Ich bin nicht krank - nur fürchterlich schlapp." Nachdenklich nickte er, während sie sprach. „In ein oder zwei Tagen sind Sie wieder fit - aber Sie müssen Salztabletten einnehmen, solange Sie hier sind. Wer nicht an unsere Hitze gewöhnt ist, schwitzt sehr stark und verliert infolgedessen sehr schnell das wichtige Salz." Er blickte auf und runzelte die Stirn. „Was ist, Rowena? Ich habe Anweisung gegeben, dass ich nicht gestört werden will." Rowena, die ein schwarzes Cocktailkleid trug, stand an der Tür. Sie hatte die Lippen zusammengepresst und sah Kerry feindselig an. „Cecilia sagte, Miss Fairclough sei hier und es gehe ihr nicht gut. Was hat sie?" „Nichts Ernstes. Cecilia holt gerade Salztabletten." Kerry blickte von Rowena zu Wayne. Um seinen Mund lag ein entschlossener Zug, und Kerry dachte: Wenn er einen Befehl gibt, erwartet er, dass man ihn ausführt, unter welchen Umständen auch immer. Er war eindeutig verärgert über Rowena, die, da sie seinen Charakter kannte, sein Missfallen wissentlich erregt haben musste. Und das bedeutete, dass Rowenas Neugier stärker gewesen war als ihre Angst vor Waynes Wut. Sie musste einfach hereinplatzen und mit eigenen Augen sehen, was vor sich ging. „Kann ich irgendetwas tun?" Die Frage kam sehr zögernd, so als hätte Rowena sie gestellt, nur um überhaupt etwas zu sagen. „Nichts - oder doch. Ruf Roger an, und entschuldige mich für heute Abend ..." „Wir gehen nicht auf die Party?" fragte Rowena scharf und warf Kerry dabei einen fast bösartigen Blick zu. „Wir können Roger nicht enttäuschen." „Nichts hält dich davon ab hinzugehen", erwiderte Wayne ziemlich gleichgültig. „Ich komme bestimmt nicht mit. Miss Fairclough muss nach Hause gebracht werden - später, wenn es ihr besser geht. Also bleibt mir keine Zeit, mich fertig zu machen." „Dazu hast du Zeit genug. Miss Fairclough kann ein Taxi nehmen ..." „Ruf Roger an, und entschuldige mich", fiel Wayne ihr leise ins Wort, und mit hochrotem Gesicht stürmte Rowena hinaus. Kerry sah zu Wayne auf. „Mr. Harvey, bitte machen Sie sich meinetwegen keine Umstände. Wenn Sie mir ein Taxi rufen, ist mir schon sehr geholfen." „Ich selbst bringe Sie zurück ..." Er verstummte, als Kerry, die sich nicht länger aufrecht halten konnte, sich in das Polster sinken ließ. „Es tut mir so schrecklich Leid ..." „Sie können nichts dafür." Seine Stimme klang rau. Er blickte auf, als Cecilia mit einer kleinen Schachtel und einem Glas Wasser hereinkam. „Danke, Cecilia."
„Kann ich sonst noch etwas tun, Massa?" fragte Cecilia, und ihre strahlend weißen Zähen blitzten. Wayne nahm die Tabletten aus der Packung. „Ja. Sie richten am besten ein Zimmer für Miss Fairclough her. Sie wird heute Nacht hier bleiben." „Ja, Massa", antwortete Cecilia mit ausdrucksloser Stimme. „Aber Sie müssen wirklich nicht ..." begann Kerry, doch er brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. „Sie kennen mich inzwischen hoffentlich gut genug, um jetzt nicht mit mir zu streiten." Er reichte ihr die Tabletten. „Nehmen Sie die, mit einem Schluck Wasser." „Danke." Kerry brachte ein mattes Lächeln zu Stande. Zu ihrer Überraschung wurde es erwidert. Doch im nächsten Moment runzelte er die Stirn, dieses Mal, weil seine Nichte an der Tür erschien. „Ach Onkel Wayne." Obwohl sie mit ihm sprach, eilte sie zu Kerry. „Cecilia sagt, dass es dir nicht gut geht! Und - und dass du heute Nacht hier bleiben musst. Onkel Wayne, was ist mit ihr los? Ist sie sehr krank?" Tränen glitzerten an Avrils hübschen Wim pern. Sie wirkte bewundernswert weiblich, als sie ihren Onkel ansah - weiblich und schwach. „Deine Schwester ist nicht ernsthaft krank, Avril. Aber sie kann heute Abend mit Sicherheit nicht nach Beach Manor zurück." „Kerry ..." Avril schluchzte leise auf, trotz der beruhigenden Worte ihres Onkels. Kerry wagte ein Lächeln. Das Verhältnis zwischen Onkel und Nichte amüsierte und faszinierte sie zugleich. Avril, die so genau wusste, wie sie mit Wayne umzugehen hatte - und Wayne, der das Spiel durchschaut hatte, das sie mit ihm trieb. „Geht es dir schlecht?" Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte Avril sich ihrem Onkel zu. „Wenn ... wenn ich sie je... jetzt ver...liere ..." Die zarte Stimme verlor sich in einem verzweifelten Schluchzen. Und Wayne sah Avril ausdruckslos an. „Das ist höchst unwahrscheinlich", versicherte er ihr trocken. „Wenn du dich nützlich machen willst, dann besorge deiner Schwester ein Nachthemd, und bring es in das Zimmer, das Cecilia für sie herrichtet." „Ja, Onkel Wayne. Kerry bekommt das allerschönste Nachthemd." Und schon war sie draußen. Wayne und Kerry tauschten Blicke. Dann sagte er: „Sie kommen gut an bei Avril, aber schließlich weiß sie auch nicht, dass Sie auf ihr Geld aus sind." Er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht, während er sprach. „Ich habe es Ihnen ja schon gesagt", erwiderte sie müde. „Das Geld wollte ich für meine andere Schwester." „Michelle", sagte Wayne nachdenklich. „Avril hat sie erwähnt." Kerry sah auf, und ihr Herz schlug plötzlich viel zu schnell. „Dann ... dann glauben Sie mir also, dass wir noch eine Schwester haben?" Wayne streckte die Hand aus und nahm Kerry das Glas ab. „Das weiß ich nicht. Ich werde Ihre Version hören, sobald Sie in der Lage sind, sie mir zu erzählen." Seinem forschenden Blick entging nicht das hoffnungsvolle Leuchten in Kerrys Augen und das zaghafte Lächeln auf ihren Lippen. „Betrachten Sie nichts als selbstverständlich, Miss Fairclough. Ob Sie nun noch eine Schwester haben oder nicht, Sie werden niemals auch nur einen Penny von Avrils Geld bekommen. Mein Bruder hat mich zum Treuhänder von Avrils Vermögen bestimmt und zu ihrem Vormund, und diese Aufgaben werde ich gewissenhaft erfüllen." Kerrys Lächeln verschwand, und sie blickte auf ihre Hände. Der Traum von Michelles Befreiung verflog ebenso schnell, wie er entstanden war. „Das Zimmer ist hergerichtet, Massa", sagte Cecilia, die plötz lich an der Tür erschienen war. „Danke, Cecilia." Wayne wurde von seinem Dienstmädchen mit einem Lächeln bedacht, bevor es wieder verschwand. „Sie können gleich auf Ihr Zimmer gehen", sagte er zu Kerry. „Es hat keinen Zweck, noch länger aufzubleiben. Sie werden sich viel besser fühlen, wenn Sie sich hinlegen." „Ja." Kerry schaffte es, aufzustehen, doch das Gehen strengte sie zu sehr an. Als sie das Zimmer halb durchquert hatte, blieb sie stehen und schüttelte entschuldigend den Kopf. „Ich verstehe nicht, dass es mich so erwischt hat..." Ehe sie sich's versah, wurde sie hochgehoben und in ihr Zimmer hinaufgetragen. Avril war da und legte gerade das Nachthemd auf das Bett. Als sie Kerry auf Waynes Armen sah, wurden ihre Augen ganz groß vor Staunen. Sie sagte jedoch nichts und zog nur eine Braue hoch, als Kerry ihr einen Blick zuwarf. Also glaubte auch Avril, dass sie Theater spielte.
Sanft wurde Kerry auf dem Bett abgesetzt. „Machen Sie sich keine Gedanken", sagte Wayne und betrachtete ihr Gesicht. „Das wird bald vorbei sein. In ein paar Tagen sind Sie wieder auf dem Damm." „Bleibt Kerry einige Tage bei uns?" fragte Avril erwartungs voll. Er lächelte und nickte. „Das geht nicht", rief Kerry aus. „Ich muss morgen früh um neun Uhr zur Arbeit erscheinen." „Nein, Sie arbeiten morgen nicht und auch nicht übermorgen. Ich rufe Charles an und sage ihm, wo Sie sind." Wayne wandte sich seiner Nichte zu. „Hilf deiner Schwester beim Ausziehen, und lass sie dann allein ..." „Darf ich nicht noch eine Weile bei ihr bleiben, Onkel Wayne?" „Sie wird, fünf Minuten nachdem ich ihr das Mittel gegeben habe, einschlafen." Kerry schwieg, denn ihr war alles gleichgültig, alles und jeder. Sie glaubte nicht, dass sie das Mittel brauchte, das Wayne ihr verabreichen wollte, sagte jedoch nichts, da es ohnehin nur Zeitverschwendung gewesen wäre. Nachdem Wayne gegangen war, führte Avril einen kleinen Freudentanz im Zimmer auf, wirbelte herum und drehte Pirouetten. „Bin ich nicht schlau? Aber du - ach Kerry, du warst einfach großartig! Ich wollte wirklich nicht, dass du so weit gehst -aber ich bin froh, dass du es getan hast. Onkel Wayne trägt dich die Treppe herauf - er trägt dich tatsächlich! Wenn doch nur Rowena hier gewesen wäre. Sie wäre grün geworden vor Neid. Oder sie hätte einen Anfall bekommen. Ja, ganz bestimmt sogar. Und stell dir bloß vor: Wir konnten meinen Onkel so leicht hereinlegen!" „Avril", sagte Kerry, als sie endlich Gelegenheit dazu hatte, „ich spiele kein Theater, auch wenn dein Onkel das anfangs glaubte. Weißt du, er hat unser Telefongespräch mit angehört wenigstens teilweise ..." „Er hat es mitgehört? O nein!" Avril wurde ein bisschen blass. „Warum hat er mir dann nichts davon gesagt?" „Als ich ihm sagte, es gehe mir nicht gut, war er äußerst amüsiert und meinte, ich könnte mir das Theater sparen. Also hat er ganz offensichtlich mitgehört." „Ach du liebes bisschen!" In ihrer Verzweiflung sah Avril richtig komisch aus, und Kerry musste lächeln. „Dann ... dann war ich ja gar nicht so schlau." Avril sah Kerry stirnrunzelnd an. „Warum ist er dann nicht sauer auf mich?" „Er hat wohl seine Gründe." Nach einer nachdenklichen Pause fügte sie hinzu: „Er ist erstaunlich tolerant dir gegenüber, Avril. Jetzt verstehe ich auch, weshalb du sagtest, er sei sehr nett." „Du änderst tatsächlich deine Meinung über ihn?" Avril wartete die Antwort nicht ab. Besorgt fragte sie: „Geht es dir sehr schlecht, Kerry? Ist es etwas Ernstes?" „Dein Onkel meinte, nein. Du hast ja gehört, was er zu mir gesagt hat: dass ich in ein, zwei Tagen wieder auf dem Damm sei." Avril half Kerry beim Ausziehen und ließ sie dann allein, wie Wayne ihr gesagt hatte. Zehn Hinten später kam Wayne ins Zimmer und gab Kerry das Schlafmittel. „Sie sind sehr nett", sagte sie aus einem Impuls heraus. Wayne stand neben dem Bett Und wartete darauf, dass sie das Glas leerte. „Nett?" Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. Und da hatte sie es wieder, dieses allmächtige Gefühl, das ihr nun schon sehr vertraut war. „Diese Bemerkung ist das Letzte, was ich von Ihnen erwartet hätte." Kerry reichte ihm das leere Glas und lehnte sich in die Kissen zurück. Die Situation, in der sie sich befand, erschien ihr unwirklich, ja beinahe unmöglich. Nach allem, was zwischen ihr und Wayne passiert war, befand sie sich nun hier in s einem Haus, in einem seiner Räume, und wurde sogar von ihm selbst umsorgt, obwohl er ebenso gut Cecilia damit hätte beauftragen können. Oder Avril. „Sie werden bald schlafen, und morgen fühlen Sie sich bestimmt schon viel besser." Wayne ging hinüber zum Fenster, durch das helles Mondlicht vom Osthimmel hereinflutete, und zog die Vorhänge zu. Dann kam er zurück zum Bett, stand da und sah eine ganze Weile herab auf Kerrys blasses Gesicht, mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. Er schien jede Einzelheit aufzunehmen, jede bezaubernde Linie und Kontur, jede Bewegung ihrer Lippen, jeden zarten Schatten unter ihren langen dunklen Wimpern. Kerry ihrerseits lag da und sah zu ihm auf, bemüht, ihre beunruhigenden Gefühle zu unterdrücken. Gleichzeitig wurde sie s ich erneut der
gefährlichen Attraktivität dieses Mannes bewusst. Gefährlich? Für manche Frauen könnte sie verhängnisvoll sein ... für Frauen, die unvernünftig genug waren, sich in ihn zu verlieben. Frauen langweilten ihn, hatte Mick gesagt und hinzugefügt, dass Wayne auch sehr menschliche Züge habe. Schlaf überkam sie, und Kerry konnte die Augen nicht länger offen halten. Als ihr die Lider zufielen, sagte Wayne leise und fast zärtlich: „Gute Nacht, Kerry." Kerry ... Zum ersten Mal war ihm ihr Vorname über die Lippen gekommen. Mit diesem einen Wort hatte er sie endgültig in die Familie aufgenommen. Freude durchflutete sie, unbeschreibliche Freude. Sie zeigte sich in dem zaghaften Lächeln und dem flüchtigen Leuchten in ihren Augen. „Gute Nacht, Mr. Harvey - und vielen Dank ..." „Wofür?" Einen kurzen Moment hob sie die Lider und sah zu ihm auf. „Dafür, dass Sie so nett sind." „Und wofür noch?" „Dafür, dass Sie mich akzeptieren." Eine seltsame Stille folgte, dann sagte Wayne leise: „Dafür, dass ich dich akzeptiere ..." Wäre Kerry im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen, hätten sein Ton und sein Verhalten sie sehr gewundert. So aber lächelte sie glücklich zu ihm auf und kämpfte gegen den Schlaf an. „Sie vergessen nicht, Charles anzurufen?" murmelte sie, als Wayne sich von ihr ab wandte. „Nein, ich werde dran denken." Sein plötzlich veränderter Tonfall, seine Förmlichkeit waren erschreckend, und Kerry spürte einen Stich im Herzen. Zog er, was ihr Verhältnis zu Charles betraf, die falschen Schlüsse? Zwei Mal hatte Wayne sie getroffen, als sie mit Charles ausgegangen war. „Er soll nur wissen, wo ich bin", sagte sie leise. „Das wird er als Erstes erfahren." „Was wollen Sie ihm sagen? Bis jetzt weiß er noch gar nichts." Wayne zögerte kurz, dann zuckte er die Schultern und antwortete: „Am besten die Wahrheit." „Dass ich Avrils Schwester bin?" „Ja. Warum nicht?" Dann ging er zur Tür, knipste das Licht aus und verschwand.
8. KAPITEL Um neun Uhr am nächsten Morgen brachte Cecilia Kerry das Frühstück ans Bett. „Miss Avril wollte zu Ihnen, aber Massa Harvey hat Nein gesagt. Er sagt, Sie müssen erst frühstücken und sich dann wieder ausruhen. Ich hole noch ein Kissen, damit Sie sitzen können." „Danke, Cecilia." Kerry, die sich schon viel besser fühlte, blieb nur ungern noch länger im Bett, wollte sich Wayne aber nicht widersetzen. Nachdem sie gefrühstückt hatte, stellte sie das Tablett beiseite, zog das zweite Kissen unter ihrem Rücken hervor und legte sich wieder hin. Zehn Minuten später schlief sie. Als sie aufwachte, war es halb zwölf, und sie fragte sich, ob ihr Durst sie geweckt hatte. Sie läutete, und Cecilia erschien. „Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?" „Ja, Missy. Ich bringe es sofort." Zu Kerrys Überraschung brachte Wayne das Glas Wasser, zusammen mit den Salztabletten. „Haben Sie gut geschlafen?" fragte er. „Wunderbar, danke." Kerry fühlte sich unbehaglich, wie sie da in dem großen Bett lag, Wayne neben sich, der ihr Gesicht betrachtete, wie um sich zu versichern, dass sie auch die Wahrheit gesagt hatte. „Setzen Sie sich auf", befahl er, und Kerry gehorchte, ohne nachzudenken. Erst als sie seinen Blick bemerkte, wurde sie sich ihrer spärlichen Bekleidung bewusst. Das Oberteil von Avrils Nachthemd bestand aus wenig mehr als zwei Trägern, die Kerrys verführerische Kurven kaum verdeckten. Während er ihren Anblick sichtlich genoss, errötete sie und legte sich verstohlen eine Hand auf die Brust. Er lächelte nur spöttisch, und in seinen Augen blitzte es belustigt auf. „Nehmen Sie Ihre Tabletten." „Danke." Kerry schob sie sich in den Mund, bevor sie das Was serglas von Wayne entgegennahm, damit sie die andere Hand lassen konnte, wo sie war. Nach einem kräftigen Schluck gab sie Wayne das Glas zurück, und er stellte es auf den Tisch neben dem Bett. „Möchten Sie jetzt mit mir reden oder lieber später?" Sich ihrer Halb-Nacktheit zutiefst bewusst, schüttelte Kerry den Kopf und sagte, sie würde lieber später mit ihm reden, woraufhin Wayne aufstand, Avrils Neglige von einer Stuhllehne nahm und es Kerry reichte. Dankbar legte sie es sich um die Schultern und zog es vorn zusammen. „Möchten Sie immer noch erst später mit mir reden?" fragte er, und wieder blitzte es in seinen Augen belustigt auf. Sie lachte leise. „Jetzt fühle ich mich viel wohler. Nein, ich würde gern gleich mit Ihnen reden, Mr. Harvey." Zufrieden nickend, zog Wayne sich einen Stuhl heran und setzte sich. Kerry nahm sich das zweite Kissen und schob es sich hinter die Schultern. „Am besten fangen Sie ganz von vorn an", forderte Wayne sie auf und beobachtete sie genau, während sie ihre Geschichte erzählte. Am Ende zog er die Stirn in Falten. Schuldbewusst? fragte sie sich. Dieser Eindruck verstärkte sich, als er endlich sprach. „Sie haben also Ihr ganzes geerbtes Geld dafür ausgegeben, Ihre beiden Schwestern zu finden?" „Alles, bis auf die einhundert Pfund für meine Fahrt hierher. Mr. Harvey, mir ist jetzt klar, dass ich die Sache ganz anders hätte angehen sollen. Ich meine, ich hätte die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass Avril von ihrer Adoption nichts wusste. Sie können sich nicht vorstellen, wie bestürzt ich war, als mir bewusst wurde, was ich getan hatte. Anscheinend hat das Erbe uns nur allen Unglück gebracht." Wayne nickte zustimmend. „Dazu kann ich nur sagen, dass Sie von Ihrem Anwalt sehr schlecht beraten waren. Erstens hätte er damit rechnen müssen, dass eine oder auch beide Schwestern über ihre tatsächlichen Eltern nicht informiert waren ..." „In Michelles Fall", warf Kerry ein, „wäre es nicht wichtig gewesen. Mr. Haslett schrieb ihren Eltern und besuchte sie. Hätten sie Michelle im Ungewissen gelassen, dann hätten sie es ihm erzählt, und ich hätte mich nach ihren Wünschen gerichtet. Da aber mit Michelle alles geregelt war, bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass es bei Avril anders sein könnte." „Nein, daran haben Sie nicht gedacht, weil Sie sich so sehr darauf gefreut haben, Avril kennen zu lernen: Aber dieser Haslett hätte daran denken müssen." Kerry nickte. „Ja, vermutlich." Dann fügte sie hinzu: „Dass Avril im Ausland lebte,
verkomplizierte die Sache." „Da bin ich anderer Meinung. Nachdem Ihr Anwalt herausgefunden hatte, dass Avril einen Vormund hat, wäre es seine Aufgabe gewesen, diesem Vormund zu schreiben. Ein Brief von einem Rechtsanwalt hätte einen ganz anderen Eindruck gemacht als die beiden Briefe, die Sie an meine Nichte geschickt haben und die ich ihr vorenthielt, weil ich damals glaubte, es sei in ihrem Interesse." Nachdenklich blickte Kerry auf ihre Hände. Sein Misstrauen erschien ihr im Nachhinein durchaus verständlich. Schließlich hatte er nie zuvor von der Existenz zweier Schwestern gehört. „Seltsam, dass Ihr Bruder Ihnen nichts von Michelle und mir erzählt hat." Sie sah zu ihm auf. „Es war der wunde Punkt meiner Schwägerin, dass Avril adoptiert war. Sie konnte keine eigenen Kinder bekommen, und das machte ihr sehr zu schaffen." Wayne schwieg plötzlich. Irgendetwas beschäftigte ihn. Es war, als überlegte er, wie viel - oder wie wenig - er sagen sollte. Nach einer Weile begann er zu sprechen, und Kerry erfuhr Dinge, von denen ihre Schwester keine Ahnung hatte. „Ich war weg, als mein Bruder und seine Frau mit Avril aus England zurückkehrten, denn damals lebte mein Vater noch, und dies war sein Grundbesitz. Als ich nach Hause kam, um die Geschäftsführung von Trade Winds zu übernehmen - mein Vater war krank -, sah ich Avril zum ersten Mal. Damals war sie viereinhalb ..." Er schwieg, und Kerry sah ihn fragend an. Ein merkwürdig sanfter Zug lag um seinen Mund, und .Kerry erinnerte sich an Avrils Beteuerung, dass Wayne Kinder sehr möge. „Ihre Schwester war ungewöhnlich hübsch, schon als Kind war sie das." Wieder machte er eine Pause. Es überraschte Kerry, dass er so ausführlich mit ihr sprach. Aber es ängstigte sie auch, dass er so mit ihr redete, da er sie anfangs doch nicht gemocht hatte. Sie lehnte sich zurück. In reizvoller Unordnung breitete sich ihr Haar auf dem Kissen aus. Ihre Bewegung lenkte Wayne sogleich von seinen Gedanken ab, und er sah sie an. Dann lächelte er, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie sich einmal mehr im Stillen eingestehen musste, wie atemberaubend attraktiv er doch war. „Das Erste, was mir nach meiner Rückkehr auffiel, war, wie zurückhaltend meine Schwägerin sich über die Adoption äußerte", fuhr Wayne schließlich fort. „Ich gewann den Eindruck, dass sie fest entschlossen war, Avril als ihr eigenes Kind zu betrachten. Auch mein Bruder schwieg sich darüber aus, vermutlich weil er den Wunsch seiner Frau respektierte, die Adoption niemals zu erwähnen. Wie gesagt, Näheres hat man mir nie erzählt, und unter diesen Umständen fragte ich auch nicht nach. Ich hatte keine Ahnung, dass es drei Schwestern gab. Möglicherweise hat man diese Tatsache auch meinem Bruder und seiner Frau bei der Adoption vorenthalten." Kerry runzelte die Stirn. „Ein solches Versehen kann doch nicht möglich sein, oder?" „Vielleicht war es kein Versehen, sondern Absicht. Ich kenne die Adoptionsbestimmungen nicht, glaube jedoch, dass man den Adoptiveltern immer nur das Allernötigste sagt." „Kein Wunder, dass Sie mir gegenüber misstrauisch waren. Natürlich mussten Sie mich für eine Betrügerin halten. Bei Michelle war alles ganz einfach gegangen, und da dachte ich, bei Avril würde es genauso sein. Mit diesen Schwierigkeiten hatte ich niemals gerechnet." „Mit der Schwierigkeit, auf einen Vormund zu treffen, zum Beispiel?" fragte Wayne trocken. „Mr. Harvey, ich gebe zu, dass ich die Absicht hatte, Avril um Geld zu bitten - als ich erfuhr, wie sehr sich ihre gesellschaftliche Stellung von der Michelles unterschied -, aber meine Absichten waren ehrlich. Niemals war ich auf einen persönlichen Vorteil aus, außer natürlich, dass ich mir wünschte, Michelle bei mir zu haben." Wayne sagte dazu nichts, und Kerry fuhr fort: „Ich gebe zu, ich war sehr voreilig in meinen Erwartungen. Ich habe mir Sorgen um Michelle gemacht und es für selbstverständlich gehalten, dass Avril diese Sorge mit mir teilen würde und nur zu bereit wäre, ihrer Schwester zu helfen." „Eine sehr schwierige Situation", meinte Wayne nach langem Schweigen. „Und die Schuld daran gebe ich Ihrem Anwalt. Es war seine Pflicht, mir zu schreiben und den Sachverhalt so ausführlich wie nötig darzulegen, dann ich hätte ich eine Entscheidung getroffen." „Darf ich fragen, wie Sie sich entschieden hätten, Mr. Harvey?" fragte sie neugierig. Wayne schwieg, in Gedanken versunken, und sie fügte hinzu: „Vermutlich hätten Sie sich geweigert, Avril ihre Illusionen zu rauben." Wayne zog die Brauen hoch. „Die Entscheidung wäre mir sehr schwer gefallen, aber sie wäre
wohl nicht so ausgefallen, wie Sie es vermuten." Wieder machte er eine Pause, als sie ihm, einen überraschten Blick zuwarf. „Mit Sicherheit hätte ich auf einem Aufschub bestanden, weil Avrils Mutter erst vor knapp einem Jahr gestorben ist." „Und Sie hatten die Absicht, Avril eines Tages die Wahrheit zu sagen?" „Ja", antwortete er nach kurzem Nachdenken. „Es wäre ein Fehler gewesen, ihr zu verschweigen, dass sie zwei Schwestern hat." Sein Eingeständnis überraschte sie, obwohl Wayne seine Haltung ihr gegenüber geändert hatte und jetzt freundlich mit ihr umging. „Wie ich schon sagte, ich hätte mich an Ihre Entscheidung gehalten, egal, wie sie ausgefallen wäre." Das war ein unbeabsichtigter Hinweis auf ihre beiden Briefe, die er abgefangen hatte. „Und wie ich gerade sagte, hätte ich einen Brief von Ihrem Anwalt bekommen, wäre vieles anders verlaufen als nach Ihren beiden Briefen. Da ich sehr geschäftsmäßig bin, erwarte ich von anderen wohl das Gleiche. Einen Brief von Ihrem Anwalt hätte ich für echt gehalten im Unterschied zu Ihren beiden Briefen." „Vielleicht hat Mr. Haslett Ihnen nicht geschrieben, weil das Geld ausgegangen war", vermutete Kerry. Wayne schüttelte den Kopf. „Sie hatten noch einhundert Pfund übrig", erinnerte er sie. „Nein, dieser Mr.. Haslett hat es einfach übersehen - und damit viel unnötigen Ärger verursacht." „Viel mehr als das", sagte Kerry, und wieder ließ ein Lächeln Waynes Züge weicher erscheinen. „Ihr Aufenthalt auf Barbados war für Sie bisher kein Vergnügen." Kerry fragte sich, ob er dabei auch an den Vorfall in seinem Büro dachte. Bei der Erinnerung daran senkte sie den Kopf und begann nervös, mit dem Spitzensaum am Neglige zu spielen. Wayne beobachtete sie dabei mit zusammengekniffenen Augen. Bald konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen, sah Wayne unter halb gesenkten Lidern an und bemerkte sein Interesse an ihr, an jeder noch so kleinen Bewegung, die sie machte. Sie zwang sich, die Hände ruhig zu halten. Die Atmosphäre war angespannt, und einen gefährlichen Augenblick lang stellte sie sich vor, dass er sie wieder in die Arme nahm. Aus dieser letzten Begegnung war sie mit der Überzeugung hervorgegangen, nie wieder so in Versuchung zu geraten, wie es nur bei einem Mann wie Wayne Harvey geschehen konnte. Und nun fand sie sich in einer ähnlich gefährlichen und zweifellos viel wehrloseren Situation als damals. Unabsichtlich rückte Wayne seinen Stuhl weiter vor, und sie fuhr erschocken zusammen. „Was beunruhigt Sie, Kerry?" fragte er leicht amüsiert. „Wie?" „Vor wem haben Sie Angst? Vor mir oder vor sich selbst?" „Fragt so ein Gentleman?" erwiderte sie, ohne zu zögern. Zu ihrem Erstaunen sah Wayne sie gespielt enttäuscht an. „Man hat mich betrogen", sagte er und überging ihre Frage. „Ich hatte gehofft, Sie ein bisschen durcheinander zu bringen." Verblüfft sah sie ihn an. „Sie sind ein merkwürdiger Mensch", sagte sie, so als würde sie ihre Gedanken laut aussprechen. „Schwer zu fassen, meinen Sie?" So könnte man es nennen, dachte Kerry, als sie sich daran erinnerte, wie viele Facetten seiner Persönlichkeit sie schon entdeckt hatte. „Ja. Ich verstehe Sie überhaupt nicht." „Seltsamerweise verstehe ich Sie auch nicht, denn niemals verhalten Sie sich in einer Situation so, wie ich es erwarte." Kerry runzelte die Stirn und fragte, wie er das meine. „Nun ja, nachdem ich Sie aus meinem Haus geschickt hatte, hätten Sie mir eigentlich schreiben und mir die Situation erklären sollen." „Nachdem Sie mich aus Ihrem Haus geschickt hatten? Nachdem Sie mich hinausgeworfen hatten, meinen Sie wohl", konnte Kerry nicht umhin zu sagen. „Ich bin mitten in einem Dornengestrüpp gelandet." „Tatsächlich?" Ungewohnt sanft fügte er hinzu: „Erwarten Sie, dass ich mich dafür entschuldige?" „Wenn es so wäre, würden Sie es tun?" forderte sie ihn heraus, und er schüttelte langsam den Kopf. „Dann verhalten Sie sich im Unterschied zu mir genau so, wie ich es von Ihnen erwarte." „Das war jetzt frech.“ Er lachte. „Sie haben wohl keine gute Meinung von mir." Dann fragte er sie
noch einmal, warum sie ihm nicht geschrieben habe. „Ich war zu sehr mit meiner finanziellen Situation beschäftigt und mit der Frage, wie ich nach England zurückkommen sollte. Bald darauf traf ich Mick - er ist der junge Mann, der die Nachforschungen angestellt hat", fügte sie erklärend hinzu. Aber Wayne nickte schon, und Kerry erzählte weiter, wie sie die Stelle im Beach Manor Hotel gefunden hatte. „Aha ..." Nachdenklich verstummte er. „Und jetzt können Sie natürlich nicht sofort zurückkehren, weil Sie sich vorgenommen haben, Michelles Eltern Geld zu schicken?" Sie nickte nur, und er wechselte das Thema. Er kam auf eine andere Situation zu sprechen, in der sie sich auch nicht so verhalten hatte wie von ihm erwartet, und fragte geradeheraus, warum sie ihm keine Ohrfeige verpasst habe, als er sie in seinem Büro geküsst hatte. Wieder schoss ihr die Kote in die Wangen, und rasch wandte sie sich ab. „Das hätte ich wohl tun sollen", meinte sie dann leise. „Ich denke, es hat Ihnen sehr gefallen." Sie schwieg nur, und mit einem Anflug von Spott wiederholte er: „Nein, Kerry, Sie verhalten sich niemals so, wie man es von Ihnen erwartet." „Einen Tages werde ich es vielleicht tun - dann sind Sie hoffentlich nicht enttäuscht." „Wir sind wohl ein wenig vom Thema abgekommen", sagte Wayne. „Kommen wir wieder auf Sie und Avril zu sprechen. Was genau haben Sie als Nächstes vor?" „Ich habe noch keinen konkreten Plan - noch nicht. Vorläufig wird alles weitergehen wie bisher." Ihr fiel der Abschnitt in Irenes Brief ein, jene Passage, in der sie schrieb, sie habe ihr etwas über Michelle mitzuteilen. Aber es wäre sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen, solange sie nicht wusste, um was es ging. „Sie erlauben, dass Avril und ich uns regelmäßig treffen?" fragte sie und sah ihn an. Dabei war sie sich nicht bewusst, wie sehr sie Waynes Sinne erregte. Und sie bemerkte auch nicht, wie er tief einatmete. „Ich habe nichts dagegen." Er überlegte einen Moment, dann fragte er: „Sagen Sie, welche Summe hatten Sie sich von Avril erhofft?" Es dauerte eine Weile, bis Kerry ihm darauf antwortete. Aber warum zögerte sie? Wayne würde auf einer Antwort bestehen. Also sagte sie: „Dreitausend Pfund ..." „Dreitausend!" Kerry schluckte und wandte sich ab. „Es kam mir nicht als sehr viel vor - bei dem Reichtum, über den Avril verfügt. Ich kann nicht erwarten, dass Sie das verstehen, denn Sie kennen Michelle nicht." Sie rechnete schon mit der Bemerkung, dass dies wohl keinen Unterschied mache, und war erstaunt über das, was sie dann hörte. „Dreitausend ..." sagte er nachdenklich. Dann sah er sie so merkwürdig an, dass ein ungutes Gefühl sie beschlich. Wäre die Vorstellung nicht so lächerlich gewesen, hätte sie tatsächlich vermutet, dass er irgendetwas im Schilde führte. „Dreitausend!" wiederholte er, und dieses Mal ging ihre Befürchtung über jedes Maß hinaus. „Das ist nicht wichtig", sagte sie rasch und wusste selbst nicht, warum, denn natürlich war es wichtig, vor allem wenn Wayne tatsächlich in Erwägung zog, Avril das Geld vorzustrecken. Ohne auf ihren Einwand zu achten, fragte Wayne: „Dieser Laden - steht er noch zum Verkauf?" „Ja." Warum verspürte sie keine Begeisterung? Warum klopfte ihr Herz vor Aufregung nicht schneller? Dann merkte Kerry, dass es schneller schlug ... aber nicht vor prickelnder Vorfreude. Was war der Grund für diese gefährliche Erregung? „Es ist nicht wichtig", sagte sie noch einmal und diesmal eindringlich. „Ich ... ich werde einfach so weitermachen wie bisher." Er sah sie scharf an. Irgendwie hatte Kerry den Eindruck, dass ihre Erklärung ihm absolut nicht gefiel. „Dann möchten Sie Ihre Schwester also nicht länger aus diesem Milieu herausholen, in das sie nicht hineingehört?" Er verwirrte sie immer mehr. Sie konnte nicht guten Gewissens Nein sagen - aber aus irgendeinem seltsamen Grund war sie auch nicht bereit, Ja zu sagen. „Vieles ist anders, als ich es erwartet hatte", sagte sie schließlich, und zu ihrer Erleichterung bohrte Wayne nicht weiter. „Haben Sie Avril gegenüber diese dreitausend Pfund erwähnt?" „Nein, natürlich nicht." „Damit hatte ich auch nicht gerechnet." Nach einer bedeutungsvollen Pause fügte er hinzu:
„Tun Sie es auch nicht, Kerry, verstanden?" Sie nickte. „Ja." „Sie sehen müde aus." Wayne stand auf und trug den Stuhl auf seinen ursprünglichen Platz an der Wand zurück. „Schlafen Sie noch ein wenig, dann können Sie zum Abendessen aufstehen." „Darf Avril zu mir kommen?" fragte Kerry, als Wayne schon auf dem Weg zur Tür war. Er zögerte kurz, nickte und sagte: „Für ein paar Minuten. Aber nicht länger. Sie brauchen Schlaf." Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. „Ich darf nur zehn Minuten bleiben", erklärte Avril kurz darauf und schnitt ein Gesicht. Sie saß auf einem Stuhl, den sie ans Bett heranzogen hatte. „Onkel Wayne hat mir schon gesagt, dass alles in Ordnung ist und dass ich dich zu uns einladen darf, wann immer ich will. Aber erzähl mir noch mehr - erzähl mir alles, was er gesagt hat!" Kerry lächelte reuevoll, dann erzählte sie Avril so viel wie nötig - und ziemlich viel ließ sie aus. „Ich wusste, er war reif für die Kapitulation", bemerkte Avril, nachdem Kerry ihre Schilderung beendet hatte. Und mit einem raschen Seitenblick auf Kerry setzte sie hinzu: „Hast du jetzt deine Meinung über ihn geändert, wie ich es dir vorhergesagt habe?" „Zum Teil." Mehr gestand sie nicht ein, denn schon spürte sie wieder diese unbestimmte Gefahr, diese scheinbar absurde Vorahnung auf etwas Namenloses und nicht Greifbares. „Findest du ihn nicht auch wahnsinnig attraktiv?" Kerry lächelte. Zweifellos bewunderte Avril ihren Vormund. „Ja, ich muss zugeben, er sieht sehr gut aus." „Er ist echt süß, wenn du ihn erst mal kennst. Ich kenne ihn schon, seit ich denken kann. Er war immer zu einem lustigen Spiel aufgelegt, hat mich in die Luft geworfen und wieder aufgefangen, und er war es auch, der mir Schwimmen, Tennisspielen und Tanzen beigebracht hat. Ich mag ihn sehr, und ich fand es ganz schrecklich, als es eine Zeit lang so aussah, als würdet ihr beide euch niemals anfreunden können." Sie sah auf die Uhr. „Meine zehn Minuten sind um. Wenn ich nicht bald unten bin, wird Onkel Wayne sauer sein. Es hat auch keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Ich weiß, wie ich mit ihm fertig werde, aber ich weiß auch, wann ich nachgeben muss. Onkel Wayne hat gern das Sagen - meistens jedenfalls." „Nicht immer?" Avril schüttelte den Kopf. „Das überrascht mich." Sie sagte es so trocken, dass Avril lachen musste. „Ich nehme an, dein Onkel hat dich wegen des Telefongesprächs zur Rede gestellt. Er wusste, dass du mir geraten hattest, ihm etwas vorzugaukeln." „Er hat mich zusammengestaucht und gesagt, ich sei ein Satansbraten. Ich habe ihm geantwortet, dass er kein Recht hat, meine Telefongespräche mit anzuhören. War das nicht köstlich! Genau zu dem Zeitpunkt warst du wirklich krank, und Onkel Wayne war überzeugt, dass du ihm etwas vorspielst..." Avril verstummte plötzlich. „Natürlich wollte ich nicht, dass du krank wirst." „Aber es kam dir trotzdem ganz gelegen", vermutete Kerry und war selbst amüsiert. „Es hat geklappt, schneller als alles andere." Avril sah Kerry an und schüttelte ungläubig den Kopf. „Dass er dich tatsächlich die Treppe herauf getragen hat! Ich wünschte, Rowena hätte es zufällig beobachtet." „Warum magst du Rowena nicht?" „Sie ist so eingebildet - aber das ist es nicht." „Nein? Was dann?" „Ich bin eifersüchtig", gestand Avril nach einer kleinen Pause. „Ich würde wohl jede Frau hassen, die eine Chance hätte, Onkel Waynes Ehefrau zu werden." „Hat Rowena diese Chance?" „Weiß ich nicht. Ich denke, die beiden haben eine Affäre - und Onkel Wayne geht ziemlich oft mit ihr aus. Aber irgendwie glaube ich nicht, dass er Rowena heiraten wird - aus zwei Gründen. Erstens gehört er zu den Männern, die eine Frau wie sie im Grunde verachten, wenn du verstehst, was ich meine. Und zweitens ist sie knallhart und überheblich. Ich stelle mir Onkel Wayne immer mit einer Frau vor, die sanft und nachgiebig ist und ihn wahnsinnig liebt." Kerry dachte darüber nach. Wie verhängnisvoll musste es sein, einen Mann wie Wayne wahnsinnig zu lieben. Diese Frau musste mehr als nachgiebig sein. Sie musste sich allen seinen Wünschen unterordnen und sich völlig von ihm vereinnahmen lassen.
„Rowena", fragte Kerry, „glaubt sie, dass Wayne sie heiraten wird?" „Ich denke schon. Erst neulich war sie anmaßend wie noch nie, so als würde sie schon mal ihre Rolle als Herrin von Trade Winds üben." Kerry wechselte rasch das Thema und fragte, ob Wayne etwas über Michelle gesagt habe. „Nein. Aber als Nächstes muss ich ein bisschen Geld bei ihm lockermachen, damit Michelle in den Ferien hierher kommen kann." Kerry dachte auch darüber nach. Michelles Vater wäre bestimmt ganz entschieden dagegen, enttäuscht, wie er war, da er die dreitausend Pfund für das Geschäft nicht bekommen hatte. Außerdem wäre es für Michelle nicht unbedingt gut, nach Barbados zu kommen. Denn damit würde man ihr die Tür zum Paradies öffnen und sie ihr gleich wieder vor der Nase zuschlagen. Dann nämlich, wenn sie in ihre trostlose Umgebung zurückkehren müsste und ständig das Bild von Avril in all ihrem verschwenderischen Luxus vor Augen hätte. Und da Michelle noch so jung war, würde sie neidisch auf ihre Schwester werden. Bisher hatte sie sich die erträumte Zusammenkunft nur in den rosigsten Farben ausgemalt und diesen Aspekt nicht beachtet. Jetzt kam sie zu dem Schluss, dass es geradezu grausam wäre, Michelle nach Barbados zu bringen selbst wenn ihr Vater es erlauben sollte. „Ich würde Wayne jetzt noch nicht darum bitten", riet Kerry. Avril nickte. „Wir müssen langsam vorgehen." Nach einer kleinen Pause sagte sie: „Du sprichst so selten von Michelle. Du hast mir erzählt, wie sie aussieht und wo sie lebt, hast ein bisschen über ihre Eltern und Geschwister geredet, aber ..." Avril verstummte und wurde nachdenklich. „Ist mit Michelle alles in Ordnung?" Kerry, die geglaubt hatte, sie hätte die wahren Verhältnisse erfolgreich verschwiegen, war sehr überrascht über diese Frage. „Was meinst du damit?" wich sie aus. „Ist sie glücklich?" „Sie hatte weniger Glück als ich", antwortete Kerry nach langem Schweigen. „Ihre Eltern sind ziemlich arm." „Das dachte ich mir schon, nach dem, was du erzählt hast. Ich meine, ist sie glücklich mit ihren Adoptiveltern?" Wieder herrschte Schweigen. Wayne wäre nicht erfreut, wenn Avril plötzlich anfinge, sich Sorgen um Michelle zu machen. Das wusste Kerry. Aber was sollte sie Avril auf ihre Frage antworten? „Ich muss zugeben, dass ich viel über Michelle nachgedacht habe", sagte Avril in das Schweigen hinein. „Und zwar, weil du jedem längeren Gespräch über sie ausweichst. Es würde mir wehtun, wenn Michelle unglücklich wäre. Sie ist so jung. Sie ist noch ein kleines Mädchen, und wenn sie nicht nur arm, sondern auch noch unglücklich wäre..." Avril verstummte, denn die Tür wurde geöffnet. Kerry atmete erleichtert auf, als sie Wayne auf der Schwelle stehen sah - in einem tadellosen weißen Leinenanzug und mit ernster, strenger Miene. „Avril, hast du vergessen, was ich gesagt habe?" „Tut mir Leid, Onkel Wayne. Ich ... ich wollte gerade gehen." Er kniff die Augen zusammen. „Ich habe dir zehn Minuten gegeben - und das war vor zehn Minuten." „Tut mir Leid", sagte Avril noch einmal und ließ den Kopf hängen. Wayne wandte sich Kerry zu. „Sie freuen sich vielleicht, zu hören, dass Ihre Abwesenheit Charles keine großen Unannehmlichkeiten macht. Er hat eben angerufen und sich erkundigt, wie es Ihnen geht. Dabei hat er auch erzählt, dass die junge Frau, die bei ihm wegen ihrer Heirat aufgehört hatte, gestern Abend mit ihrem Mann in seinem Hotel eingecheckt hat. Als sie erfuhr, dass Charles kurzfristig ohne Empfangsdame ist, bot sie ihm an, für eine Woche auszuhelfen." „Eine Woche!" riefen Kerry und Avril gleichzeitig, jede mit einem anderen Gesichtsausdruck. „Ich kann nicht eine Woche von der Arbeit wegbleiben ..." „Bleibt Kerry eine ganze Woche bei uns?" redete Avril aufgeregt dazwischen. „Aber Mr. Harvey, das geht nicht!" Kerry schwieg. Die Art, wie Wayne Avril ansah, nahm ihr den Atem. Dass er fähig war zu lieben, war mehr als offensichtlich. Und wenn es auch nur die Liebe eines Onkels zu seiner Nichte war. „Möchtest du das denn, Schatz?" fragte er, und wie es schien, war Kerrys Protest völlig an ihm abgeprallt.
Anstatt zu antworten, hakte Avril sich bei ihm ein, sah zu ihm auf, dankbar und glücklich. „Du bist der beste Onkel auf der ganzen Welt", flüsterte sie. „Und mit diesem schmeichelhaften Kompliment wollen wir jetzt deine Schwester allein lassen, damit sie sich ausruhen kann." Wayne ließ den Blick von Avrils lebhaftem Gesicht zu Kerry gleiten, die etwas sagen wollte und es dann doch bleiben ließ. „Wenn Sie jetzt nicht ein bisschen schlafen, werden Sie heute Abend zu müde sein." Er zog Avrils Arm unter seinem hervor und ging zur Tür. Minuten später lag Kerry auf dem Bett, körperlich entspannt, aber mit aufgewühlten Sinnen. Eine ganze Woche hier mit Avril .... und Wayne ... Sie hätte wirklich heftiger dagegen protestieren sollen, denn irgendetwas warnte sie, dass sie damit das Unglück herausforderte.
9. KAPITEL
Vogelgesang und Blütenduft... eine leichte, milde Brise, das Rascheln von Palmblättern im Wind und der salzige Geschmack nach Meer, das farbenprächtige Spiel des Sonnenuntergangs ... Kerry saß allein an Waynes Privatstrand, spärlich bekleidet und sonnengebräunt im Kontrast zum silbrig-weißen Sand, und fühlte sich wie berauscht von der überwältigenden Schönheit der sie umgebenden Natur der Koralleninsel. Die Sonne neigte sich langsam zum Horizont, aber ihre Strahlen waren noch heiß, und Kerry stützte sich auf die Ellbogen und seufzte zufrieden auf. Vier Tage waren seit ihrer Ankunft auf Trade Winds Estate vergangen und ihrer anschließenden Unpässlichkeit, die allem Anschein nach die Probleme zwischen ihr und Wayne gelöst hatte. Es war eine idyllische Zeit des Nichtstuns, des Schwimmens im warmen tropischen Meer, des Sonnenbadens am menschenleeren Strand, eine Zeit köstlicher Mahlzeiten und sorgenfreier Gespräche mit Avril und ihrem Onkel. Avril hatte sie mit in ihr eigenes Haus genommen - einem Herrenhaus aus der Regencyzeit, das dem von Wayne sehr ähnlich war, genauso vornehm und geräumig im Innern, - mit den gleichen Veranden und deren kannelierten Säulen aus feinen ockerfarbenen Korallen. In den Gärten blühten Weihnachtssterne, Bougainvilleen und Hibiskus. Mango- und Papayabäume standen zwischen Brotfruchtbäumen und Palmen. So weit das Auge reichte, erstreckte sich die Plantage, auf deren Zuckerrohrfeldern Männer und Frauen emsig bei der Arbeit waren. Kerry war glücklich, weil sie bei ihrer Schwester sein durfte. Das redete sie sich ständig ein. Aber zweifellos trug auch Waynes verändertes Verhalten ihr gegenüber zu ihrem neu gefundenen Seelenfrieden bei. Immer freundlich und charmant, lächelte er Kerry oft an, lachte hin und wieder über sie und schien ungleich bemüht, eine harmonische Beziehung zu ihr aufzubauen. Kerry ihrerseits kam ihm dabei entgegen. Rowena entging nichts, und je freundlicher Wayne Kerry gegenüber wurde, desto feindseliger wurde sie. Wann immer sie mit ihr allein war, behandelte sie Kerry von oben herab und erinnerte sie damit daran, dass sie, Rowena, Waynes Freundin war und ihm seine Aufmerksamkeit für Kerry zu Recht verübelte. Rowena jedoch war nur selten in Waynes Büro. An diesem Nachmittag war Kerry allein, denn Avril hatte einen Termin bei ihrem Friseur in Bridgetown. Sie sollte eigentlich gleich zurück sein und Kerry am Strand Gesellschaft leisten. Eine Bewegung ganz in der Nähe erregte Kerrys Aufmerksamkeit und lenkte ihren Blick von der wogenden See zum Herrenhaus. Zwischen den Bäumen hindurch unterhalb Waynes Gartenanlage war eine große, sonnengebräunte Gestalt zu erkennen, die nur eine Badehose trug. Wayne blieb stehen, als er Kerry erreichte, und sah auf sie herab, sah sie an, als gäbe es für ihn nichts Interessanteres auf der Welt als ihren Körper. Kerry errötete. Ein amüsiertes Lächeln umspielte Waynes Lippen, als er sich auf das Handtuch setzte, das sie zum Trocknen auf dem Sand ausgebreitet hatte. „Du bist wunderschön, Kerry", sagte er leise, die Lippen dicht an ihrem Ohr. „Bis vor kurzem glaubte ich noch, kein schöneres Mädchen als deine Schwester zu kennen." Kerry fehlten die Worte. Natürlich hatte sie schon früher Komplimente gehört, aber noch niemals von einem Mann wie Wayne, und sie fühlte sich unbeholfen und sprachlos in einem Maße, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. „Ich glaube nicht, dass ich hübscher als Avril bin", sagte sie verlegen und bereute es sogleich, denn Wayne zog spöttisch eine Braue hoch. „Sehr weiblich", bemerkte er, und wieder ließ er den Blick über sie gleiten. In seinen Augen jedoch lag ein Lächeln, und Kerry erwiderte es, wenn auch nur mit Mühe. Scheu blickte sie zu ihm auf, nahm den bronzenen Teint seiner Haut wahr, sein dichtes, gekräuseltes Brusthaar und das auf seinen Unterarmen, seine kräftigen Schultermuskeln. Sie schluckte trocken und war so betroffen, dass sie sich abwandte, damit er ihre Gefühle nicht erriet. Ihre Gefühle ...? Was waren es für Gefühle? Verzweifelt bemühte sie sich, der Antwort auszuweichen ... aber da kam sie schon über sie herein, wie eine Flut, die sie mit sich riss. Ich liebe ihn nicht, versuchte sie sich einzuhämmern: Nein, ich liebe ihn nicht! „Warst du schon im Wasser?" Träge hob Wayne eine Muschel auf, ein zauberhaftes Gebilde aus rosa Perlmutt, hielt sie in der Hand und bewunderte sie. „Ja - zwei Mal schon." War das ihre Stimme? Sie klang gebrochen und heiser, aber Wayne bemerkte es nicht, und sie war erleichtert.
„Hast du Lust, noch mal zu schwimmen?" Kerry zögerte. Im Wasser wäre sie viel sicherer als hier. „Ja, ich würde gern noch einmal reingehen." Aber dann fügte sie hinzu: „Ist Avril noch nicht zurück?" Wayne sah sie spöttisch an. „Brauchen wir einen Anstandswauwau?" fragte er. „Natürlich nicht." Er stand auf und streckte ihr die Hand hin. „Dann komm." Er hatte seine Finger um ihre geschlossen, während sie auf das Ufer zugingen. Seine Berührung jagte ihr Schauer durch den Körper. Er ließ sie erst los, als sie weit genug ins Wasser gewatet waren, um schwimmen zu können. War sie wirklich in einer so hoffnungslosen Lage? Angenommen, er würde sie - wie durch ein Wunder - mögen? Auf diese eine ganz bestimmte Art mögen? Die Vorstellung nahm ihr den Atem, und sie machte sich nicht die Mühe, neben Wayne zu schwimmen, sondern beobachtete ihn verträumt, während sie auf dem Rücken lag und sich auf dem Wasser treiben ließ. Wayne wendete und schwamm zurück. Er neckte sie, nannte sie träge, und sie lachte. Was auch immer dabei herauskam, dieser Augenblick war herrlich. Sie vergaß alles und genoss ihn in seiner ganzen Fülle. „Träge - das bin ich auch", erwiderte sie, weil ihr in ihrer Verlegenheit nichts anderes einfiel. „Dann komm mit raus, und faulenze am Strand." Seine Stimme klang rau und ließ Kerry erschauern. Sie folgte Wayne, der auf das Ufer zuschwamm. Auf dem Weg zu ihrem Platz, wo das Badetuch lag, hielt er wieder ihre Hand. Dort bückte er sich, hob das Tuch auf und wickelte es ihr um das Haar. Überrascht sah Kerry ihn an, ihre Wangen röteten sich unter der frischen Bräune, und sie öffnete leicht die Lippen, so als würde sie um einen KUSS bitten. Waynes Augen wurden dunkel vor Verlangen. Er bewegte die Hände, und Kerry fühlte, wie das Handtuch über ihren nassen Rücken herunterglitt und auf den Sand fiel. Es war verrückt, sie wusste es, aber sie war unfähig, sich zu wehren, als sie sanft in eine Umarmung gezogen wurde und Waynes kühlen, frischen Atem auf ihrem Gesicht spürte, bevor er seine Lippen auf ihre presste. Einzelne Wolken zogen über den strahlenden Himmel hoch über ihnen, der Meer und Sand seinen Glanz verlieh und Baumkronen in einen scharlachroten Schleier hüllte. Überwältigt von dem exotischen Schauplatz und der Ausstrahlung des Mannes, der sie in den Armen hielt, verlor Kerry sich im Zauber ihres eigenen Verlangens. „Kerry ..." Wayne hielt sie von sich, und sein Blick war jetzt zärtlich, zärtlich und sanft wie seine Küsse. Ein leiser Seufzer drang über ihre Lippen, die warm und rosig waren von seinem Kuss. „Was hast du mit mir gemacht?" Unglaubliche Worte! Eine Liebeserklärung, was sonst? Tief waren ihre Empfindungen, als sie sich schweigend an ihn presste und seine Schultern streichelte. Wieder suchte und fand er ihre Lippen, küsste sie, verlangend, besitzergreifend. Eine Weile standen sie so da, die einzigen Menschen am Strand, gefangen im Zauber der Leidenschaft und des Gefühls, in heißem Verlangen und kühler Beherrschung. Jedes Mal, wenn Wayne sie kurz freigab, sah sie zu ihm auf und schüttelte den Kopf, wie um den immer mächtiger werdenden Bann zu brechen. „Was ist?" Sein Blick war strahlend und liebevoll, ihrer verlegen und halb verborgen von langen Wimpern, die zarte Schatten auf ihre Wangen warfen. „Wie schön du bist!" Er presste die Lippen auf ihre seidiges Haar, dann auf ihren Nacken. Er ließ sie zu ihren Schultern gleiten und noch tiefer bis zu jener reizvollen und verführerischen Rundung, die dazu verlockte, erkundet zu werden. Kerrys Puls raste, gleichzeitig gerieten ihre Sinne in Aufruhr. Es war, als hätte die Welt aufgehört zu existieren und als würde sie hinauskatapultiert in die atemberaubende Schwerelosigkeit des Alls. Aber irgendwie gelang es ihr, eine Hand zwischen seine Lippen und dem begehrten Objekt zu legen. Und er schob sie nicht gleich weg, was er so leicht hätte tun können, sondern hob nur ein wenig den Kopf und sah Kerry fragend an. Sie lächelte, so erleichtert war sie, doch ihre Augen zeigten unverhohlen ihre Liebe. Waynes triumphierendes Lachen durchbrach die Stille, die sie umgab. „Wir müssen zurück ..." flüsterte er an ihrer Wange, bevor er sie küsste. „Der Wind frischt auf - und es wird dunkel." Er bückte sich nach dem Handtuch und legte es ihr fürsorglich um die Schultern. Kerry stand vor dem Spiegel, als Avril an die Tür klopfte und fragte, ob sie hereinkommen könne. „Natürlich." Sie drehte sich um. „Kerry!" Avril stand wie angewurzelt da und sah ihre Schwes ter bewundernd an. „Du siehst
hinreißend aus! Was hast du bloß mit dir gemacht?" Unwillkürlich drehte Kerry sich um und betrachtete sich erneut im Spiegel. Hat das die Liebe bewirkt? fragte sie sich im Stillen. Hat die Liebe dieses Leuchten in deine Augen gezaubert und diese Röte auf deine Wangen? „Dein Kleid, Avril. Es liegt an diesem Kleid, das du mir für heute Abend geliehen hast." Das teure Designermodell in Hellgrün mit kurzem Rock, eng anliegendem Oberteil und tiefem Ausschnitt brachte Kerrys Figur vorteilhaft zur Geltung. Aber Avril schüttelte den Kopf. „Es ist nicht das Kleid. Du siehst aus, als hättest du einen Haupttreffer im Lotto gelandet." „Ich bin einfach nur glücklich." Kerry lachte. Avril kam weiter in das Zimmer herein und lächelte sie liebevoll an. „Meinetwegen - oder wegen Onkel Wayne?" „Onkel Wayne?" Avril konnte es doch nicht erraten haben, oder? „Weil er jetzt nicht mehr böse auf dich ist." Kerry atmete tief ein. „Ja, auch deshalb." „Und weshalb noch?" „Deinetwegen natürlich. Es ist wunderschön, hier bei dir zu sein." „Für mich auch. Wir haben noch drei Tage vor uns, und danach werden wir uns oft sehen." „Ganz bestimmt", sagte Kerry zuversichtlic h. Ihre Gedanken schweiften zu Wayne, und sie dachte an die wunderbare neue Beziehung, die sich zwischen ihnen angebahnt hatte. Sie würde tiefer und fester werden ... und dann ... Als sie und Avril hinunterkamen, saßen Wayne und Rowena auf der Terrasse und waren in ein Gespräch vertieft. Wayne stand gleich auf und holte zwei Stühle nach vorn. „Du bist schöner als je zuvor", flüsterte er Kerry ins Ohr, als sie sich setzte. Sie sah zu Rowena. Die hatte die Augen zusammengekniffen, und ein Ausdruck tiefer Feindseligkeit lag auf ihrem Gesicht. Ihre Eifersucht war ganz offensichtlich. Leise Schuldgefühle stiegen in Kerry auf und trübten ihre Freude über Waynes Kompliment. Rowena war Waynes Freundin. Wie Avril vermutete, hoffte sie, ihn eines Tages zu heiraten. Plötzlich erschien es Kerry nicht richtig, dass Wayne ein anderes Mädchen küsste, noch dazu so, wie er sie vor kurzem geküsst hatte. Seine Küsse zuvor hatten nichts zu bedeuten gehabt. Er hatte sie ihr aufgedrängt, um ihr eine Lektion zu erteilen. Aber unten am Strand hatte Wayne mit seinen Küssen seine zärtliche Liebe gezeigt. Avril plauderte munter drauflos, und Wayne lächelte nachsichtig, während er ihr zuhörte. Kerry wandte ihre Aufmerksamkeit dem großen Schwarzen zu, der gerade dabei war, ein besonderes Getränk zuzubereiten. „Das wird ein Cocktail", erklärte Wayne, der sie beobachtet hatte. „Er schmeckt herrlich. Nur Medvil kriegt ihn so hin." Avril lächelte Medvil an, der sich sichtlich geschmeichelt fühlte. Er erwiderte das Lächeln, und zwei Reihen makelloser weißer Zähnen wurden sichtbar. Medvil gab die geschälten Limetten in die Schüssel, dann die Limonenschale und etwas Muskatnuss. Es folgten Zucker und Wasser und zum Schluss weißer Rum. Das Ganze wurde mit dem Sektquirl kurz gemixt, und fertig war der Cocktail. „Schmeckt er dir?" Avril beobachtete Kerry, die an ihrem Glas nippte. „Ja ... ich denke schon." „Sie scheinen sich nicht sehr sicher zu sein, Miss Fairclough." Rowenas sarkastischer, herablassender Tonfall entging den anderen nicht. Wayne und Avril drehten sich um und sahen sie an. Wayne blickte zu Kerry, die lachend meinte, dass man sich an den Geschmack erst gewöhnen müsse. Niemand sagte etwas, dann erschien plötzlich Cecilia und kündigte an, das Abendessen sei bereit. Viele der aufgetischten Speisen waren Nationalgerichte. Zum ersten Mal kam Kerry in den Genuss der köstlichen Landesspezialitäten. Statt Kartoffeln wurden ihr Beignets, eine Art Krapfen aus Brotfrüchten, serviert. Die schmeckten ähnlich wie Kartoffeln, leicht und sehr lecker. Nach dem Abendessen zog man sich wie gewohnt auf die Veranda zurück. Es war schon spät geworden, und nachdem sie sich noch etwa eine halbe Stunde mit den anderen unterhalten hatte, entschuldigte Kerry sich und sagte, sie wolle schlafen gehen. „Jetzt schon?" Wayne sah sie stirnrunzelnd an, und Rowenas Lächeln, das eben noch Wayne gegolten hatte, verschwand. „Es ist spät", erinnerte Kerry ihn. Möchte er, dass ich noch bleibe? Anscheinend, dachte sie mit
einem Anflug von Freude. „Ich gehe dann wohl auch." Avril erhob sich aus ihrem Korbstuhl und gab ihrem Onkel einen Kuss. „Gute Nacht." Sie wandte sich Kerry zu. „Kommst du?" Kerry nickte und sah Wayne an. Er zögerte kurz, dann zuckte er die Schultern. „Gute Nacht." Er ließ den Blick von Kerry zu Avril gleiten. Kerry verabschiedete sich und folgte ihrer Schwester ins Haus. „Ich war mir nicht sicher, ob ich so gehässig sein und bleiben sollte", sagte Avril, sobald sie außer Hörweite waren. „Dann dachte ich min Lass sie doc h damit weitermachen!" „Womit?" „Miteinander schlafen - ich nehme an, dass sie das tun, wenn sie allein sind." Kerry war die Kehle plötzlich wie zugeschnürt. Dann fielen ihr wieder die Szene am Strand und Waynes zärtliche Worte ein: „Was hast du m it mir gemacht?" „Ich ... ich glaube nicht, dass dein Onkel in Rowena verliebt ist." Sie stiegen die Treppe zur Galerie hinauf, die zu den Schlafzimmern führte. Kerrys Zimmer lag am Ende, Avrils in der Mitte. Vor einem hohen Fenster mit Blick auf die Zuckerrohrfelder blieben sie stehen. „Das habe ich auch niemals behauptet." Kerry war erleichtert und wechselte rasch das Thema. Dann wünschte sie Avril eine gute Nacht und ging weiter zu ihrem Zimmer. Allzu bald schon kam der Sonntag. Gleich nach dem Aufwachen dachte Kerry daran, dass dies ihr letzter Tag auf Trade Winds Estate war. Morgen in aller Frühe würde man sie in ihr Hotel zurückfahren, wo sie ihre Arbeit wieder aufnehmen würde. Aber der melancholische Augenblick verflog rasch, und ein tiefes Glücksgefühl durchflutete Kerry, denn sie dachte an Wayne und daran, wie sehr sein Verhalten sich ihr gegenüber geändert hatte. Liebte er sie? Kerry war sich dessen sicher. Immer noch betrachtete sie seine Bemerkung am Strand als Liebeserklärung. Aber warum hatte er es ihr nicht direkt gesagt? Vielleicht wollte er es gestern tun, dachte sie, und rief sich noch einmal den köstlichen Augenblick ins Gedächtnis, als Wayne mit ihr allein gewesen war, sie in die Arme gezogen und so leidenschaftlich geküsst hatte, dass es sie überwältigte und ängstigte zugleich. „Kerry, mein Liebling! Ich will dich so sehr!" Ich darf es nicht zulassen, durchfuhr es sie, während sie ihn ein ums andere Mal glühend küsste. Nichts durfte ihre Zukunft ... oder ihre Hochzeitsnacht ... trüben. „Darling, willst du...?" Und zu Kerrys grenzenloser Enttäuschung war in diesem Moment Avril in den Salon hereingekommen. Gerade noch rechtzeitig hatten sie sich voneinander gelöst. Als Avril hereinkam, berührte Kerry eine prachtvolle Vase aus der Sung-Dynastie. Wayne stand am Kamin, eine Hand lässig auf dem Sims. Hatte Wayne ihr einen Heiratsantrag machen wollen? Das fragte Kerry sich auch jetzt, als sie in ihrem großen, luxuriösen Bett lag und das Sonnenlicht durch das Fenster hereinflutete. Ja, natürlich! Was sonst hätte er ihr in diesem Augenblick größter Intimität sagen wollen? Nichts anderes als das. Kerry setzte sich auf und stieg aus dem Bett. Ihr Haar war zerzaust, ihr Blick verträumt - aber nicht vom Schlaf. Das Frühstück nahm man auf der schattigen Veranda ein, dann gingen sie, Wayne und Avril hinunter an den Strand. Kurz darauf gesellte sich auch Rowena zu ihnen, in einem aufreizenden Bikini, das Haar offen bis zu den Schultern, in einer Hand ein Badelaken, in der anderen eine Bademütze. „Warst du schon im Wasser?" Rowena lächelte Wayne an, als wären sie beide allein. Wayne nickte abwesend, ohne sie auch nur anzusehen. „Sieht sie das denn nicht?" bemerkte Avril verächtlich und wischte sich einen Wasserfleck vom Bein. Rowena ging ins Wasser, und nach einer Weile ging auch Wayne noch mal hinein und ließ Kerry und Avril allein zurück. „Ich habe nachgedacht", sagte Avril mit Blick auf die beiden, die jetzt ins tiefere Wasser wateten. „Wenn Onkel Wayne diese Frau heiratet, bestehe ich darauf, wieder in meinem Haus zu leben. Du könntest dann bei mir wohnen. Und ich würde Onkel Wayne nicht so vermissen." Sie nahm eine Hand voll Sand und ließ ihn langsam durch die Finger rieseln. „Was findet er nur an ihr?" „Sie ist sehr schön." „Aber hart, wie ich dir schon gesagt habe. Nein, er wird sie nicht heiraten", fügte Avril
entschieden hinzu. „Wie gesagt, ich kann mir Onkel Wayne nur mit einer sanften und nachgiebigen Frau vorstellen, die ihn wahnsinnig liebt." Beide schwiegen eine Weile. „Sie kommen zurück. Jetzt sieh dir nur mal an, wie sie ihn mit den Blicken verschlingt. Es ist widerlich!" „Widerlich?" Kerry runzelte verdutzt die Stirn. Wenig später wusste sie genau, was ihre Schwester meinte. Wayne trocknete sich mit einem Handtuch ab, und Rowena konnte den Blick nicht von ihm loseisen. Anzüglich ließ sie ihn über seinen ganzen Körper gleiten - von seinen kräftigen, sonnengebräunten Beinen hinauf zu seinen Schenkeln, dann zu seiner dicht behaarten Brust. Nur sein Gesicht sah sie seltsamerweise nicht an. Aber Kerry betrachtete es, allein um seine Reaktion zu beobachten. Entweder hatte er nicht bemerkt, dass er das Objekt von Rowenas obskurer Begierde war, oder er war fest entschlossen, es zu ignorieren. Was immer er auch für Rowena empfinden mochte - Liebe war es ganz bestimmt nicht. Kerry musste lächeln. Wie konnte er Rowena lieben, wenn seine Liebe ihr gehörte? Wayne fing Kerrys Blick auf und lächelte zärtlich. Sie hörte Avril neben sich nach Luft schnappen. Was wird sie jetzt denken? fragte Kerry sich und brachte es nicht fertig, sich umzudrehen und ihre Schwester anzusehen. Dann war es Zeit zum Mittagessen. Sie verließen den Strand und schlenderten durch den blühenden, duftenden Garten zurück zum Haus. „Hast du bemerkt, wie Onkel Wayne dich angesehen hat?" fragte Avril, sobald sie mit Kerry allein war und vor ihrer Schlafzimmertür stand. „Hast du es bemerkt, Kerry?" Wie sie es schaffte, überrascht zu tun, wusste sie selbst nicht. „Was meinst du damit, Avril?" Verwundert schüttelte Avril den Kopf. „Bis jetzt war er immer nur an Rowena interessiert. Er hat dich angesehen ... angesehen, als ... Kerry, ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass Onkel Wayne sich in dich verlieben könnte?" Sie tat erstaunt. „Dein Onkel - mich lieben?" Avril musterte Kerrys Gesicht, als würde sie es zum ersten Mal sehen, und Bewunderung leuchtete in ihren Augen auf. „Das könnte er, glaub mir. O ja, das könnte er tatsächlich!" „Wenn ich mich recht entsinne, hast du mir vor kurzem erklärt, dass du jede Frau, die dein Onkel heiraten könnte, hassen würdest", erinnerte Kerry ihre Schwester. „Dabei hatte ich nicht an dich gedacht." Zu Kerrys Erleichterung ertönte die Glocke, die zum Mittagstisch rief. Sie gingen in ihre Zimmer und zogen sich um. Nach dem Essen machten Avril und Rowena wie gewohnt Siesta, Kerry und Wayne ruhten sich auf dem Rasen aus. Die Sonne über ihnen schien von einem strahlend blauen Himmel, über den der Passatwind hin und wieder vereinzelte Wolken jagte. Die Luft war erfüllt vom schweren Duft exotischer Blumen, deren farbenprächtige Blüten in ihrer Leuchtkraft zu wetteifern schienen. Auf einer Seite des Rasens prangten Weihnachtssterne, auf der anderen grellbunte tropische Blumen mit Jacaranda und Hibiskus im Hintergrund. Das Meer war indigoblau und von Kokosnusspalmen gesäumt, deren Zweige sich sanft im Wind wiegten. Wayne sagte gerade, dass er Kerry am darauf folgenden Mittwochabend zum Essen ausführen wolle. Aber wie sich herausstellte, hatte er später die Pläne geändert. Er sagte es ihr erst, als sie das Beach Manor Hotel bereits verlassen hatten und im Auto saßen. „Wir essen heute Abend bei mir zu Hause. Avril besucht Freunde und bleibt für ein paar Tage bei ihnen. Da auch Miss Blakely heute Abend ausgegangen ist, sind wir ganz allein." Eine Welle der Erregung durchflutete Kerry, doch sie äußerte sich nicht dazu, und den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück. Sie aßen an einem Tisch, der von Kerzenlicht beleuchtet war, und bekamen köstliche westindische Speisen und Weine von einem schweigsamen Diener serviert. Danach überraschte Wayne Kerry mit dem Vorschlag, sich nicht wie gewohnt auf die Veranda zurückzuziehen, sondern in den Salon. Unsicher und leicht beklommen ging Kerry hinüber, wo die wunderschöne Vase aus der Sung-Dynastie stand, und blickte darauf. Wayne beobachtete sie dabei mit unergründlicher Miene, und nach einer Weile ging er zu ihr und zog sie in die Arme. Aber er sagte nichts, und er versuchte auch nicht, sie zu küssen. Nach langen Sekunden des Schweigens sah sie mit ängstlichem, flehendem Blick zu ihm auf. Er war viel zu gut aussehend, viel zu attraktiv, um nur einer Frau zu gehören. Welche Chance hatte sie da?
„Liebling! Wieso machst du denn so ein Gesicht?" Seine feste Umarmung gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, und Kerry lachte leise, bevor sie ihm verlegen antwortete: „Es ist nichts, Wayne. Das heißt, nichts von Bedeutung." „Du denkst jetzt hoffentlich nicht an so banale Dinge wie Geld." „Natürlich nicht. Warum sollte ich?" „Ich dachte nur, vielleicht machen deine finanziellen Probleme dir Sorgen." Plötzlich war alles ruhig. Nur nicht Kerrys Herz. Es hämmerte wie verrückt gegen ihre Rippen. „Darüber mache ich mir keine Sorgen", kam es schließlich über ihre blassen Lippen. „Das musst du auch nicht, denn von jetzt an hast du keine finanziellen Probleme mehr." „Aber ... aber ..." Wayne zog sie fest an sich und küsste sie, bis auch ihre letzten Ängste sich in nichts aufgelöst hatten. „Wir m üssen uns um das Geld kümmern, das du für Michelle brauchst." „Michelle!" Sie strahlte ihn an. „Wayne, interessierst du dich wirklich für Michelle?" „Alles, was dich interessiert, interessiert von jetzt an auch mich. Du wirst diese dreitausend Pfund bald haben - sehr bald." Kerry seufzte erleichtert und ließ den Kopf an seine muskulöse Brust sinken. „Du hast Avril noch nichts gesagt", flüsterte sie zwischen seinen Küssen, „sie hat mir gegenüber noch kein Wort davon erwähnt." „Du bekommst das Geld von mir." „Von dir ...?" Kerry wand sich in seinen Armen, um etwas Abstand zwischen sich und Wayne zu schaffen und zu ihm aufzusehen. Liebe und Dankbarkeit sprachen aus ihrem Blick. „Du bist ein guter Mensch, das hat Avril schon von dir gesagt." „Das musste natürlich Avril dir erst sagen." Er lachte. Und weil sie sich seiner so sicher war, machte sie einen Schmollmund und sah beleidigt und gekränkt aus. „Du hast mich verletzt", beklagte sie sich. „Sehr?" „Meinen Stolz vor allem." „Es tut mir Leid, mein Schatz. Wie konnte ich dir das nur antun?" Kerry wollte nicht weiter darüber reden und schmiegte sich eng an ihn. Lange Zeit flüsterte Wayne ihr zärtliche Worte zu. Plötzlich wurde seine Stimme rau, wurden seine Küsse leidenschaftlich und fordernd. Überwältigt von seiner Stärke und der Heftigkeit ihres eigenen Verlangens, kämpfte Kerry gegen ihre plötzliche Hilflosigkeit an. Wie ist nur der Mythos von Eva entstanden? fragte sie sich. Denn es war doch der Mann - immer war es der Mann, der in Versuchung führte, aus dem einfachen und urzeitlichen Grund, dass er ohne hemmende Angst liebte. „Wayne, lass mich los!" Sie standen dicht bei der Couch. War das ein Schachzug von ihm? Kerry begann, sich ernsthaft zu wehren. „Liebling, bitte!" rief sie mit zittriger Stimme. „Erst wenn wir verheiratet sind. Es würde nur alles verderben ..." „Verheiratet!" Wayne ließ abrupt die Arme sinken. „Verheiratet?" wiederholte er und starrte sie ungläubig an. „Wer hat denn etwas von Heiraten gesagt?" Fassungslos sah Kerry ihn an, wie ein Kind, dem man alle Illusionen geraubt hatte. Sie hatte sich die Faust vor den Mund gepresst, damit das Beben ihrer Lippen aufhörte. „Dann war es kein Heirats... kein Heiratsantrag ...?" Verzweifelt klammerte Kerry sich an ihre Überzeugung, dass Wayne sie liebte, und wollte nicht wahrhaben, was sie mit eigenen Ohren gehört hatte. Aber dann kehrten all ihre früheren Bedenken zurück, ihre dunklen Ahnungen und jetzt wurde ihr alles klar. Doch zurück kam auch die Erinnerung an jene Szene am Strand, als sie hätte schwören können, dass das Leuchten in Waynes Augen aus Liebe entstanden war. Wayne stand noch immer dicht neben ihr, und obwohl ihre Knie weich wie Wachs waren, schaffte sie es, von ihm wegzugehen. Schweigen hing im Raum wie eine drohende Gefahr. „Kann ich ... kann ich meinen Mantel haben ...?" Die Demütigung war zu groß. Kerry wandte sich von ihm ab und ging auf die Tür zu. „Komm zurück, Kerry!" Wayne hielt sie wieder in den Armen. Doch diesmal befreite sie sich, riss sich mit aller Kraft von ihm los. „Fass mich nicht noch einmal an!" Sie war wütend geworden, und ihre Wut wich glühendem Zorn, als sie den Spott in seinen Augen bemerkte. „Jetzt verstehe ich. Jetzt weiß ich, dass ich
für dich nur eine von vielen bin. Aber du bist für mich - du bist für mich - der Abschaum! Wo ist mein Mantel?" Sein Ausdruck veränderte sich. Nun blitzten seine Augen gefährlich. „Was soll das ganze Theater auf einmal? Ich wollte nur großzügig sein. Du sollst die dreitausend Pfund haben ..." „Dreitausend! Mr. Harvey, ich bin nicht käuflich - wie all Ihre anderen Frauen!" Mit Tränen in den Augen sah sie ihn voller Verachtung an. „Dreitausend! Warum so viel? Dafür könntest du dir einen ganzen Harem halten." Sie war außer sich und dachte nicht an Avril und daran, dass er ihr nach dieser Szene nie wieder erlauben würde, sie zu sehen. In diesem Moment schwor Kerry sich, die Insel mit dem nächsten Flugzeug zu verlassen. „Ich habe um meinen Mantel gebeten!" „Ein Harem, ja?" begann er und ignorierte ihre Bitte. „Ein Harem, soso!" Kerry antwortete ihm nicht. Eine Weile stand er da und betrachtete sie schweigend mit einem neugierigen Ausdruck. Jede Einzelheit an ihr schien er zu registrieren - ihre blassen Wangen, ihre bebenden Lippen, ihre tränenfeuchten Augen. Wortlos sah sie ihn an, ließ den Blick von seiner gerunzelten Stirn über seine Brauen zu seinem Mund gleiten und zu der heftig pulsierenden Ader an seinem Hals. „Wie bist du auf die Idee gekommen, ich könnte an eine Ehe denken?" fragte er leise, ohne den Blick von ihr zu wenden. „Das frage ich mich auch", versetzte sie, „da dein schmutziger Ruf auf der ganzen Insel verbreitet ist." „Mein ...?" Seine Augen glitzerten gefährlich. „Das wirst du mir jetzt bitte erklären!" Es war unmöglich, denn in ihrem Drang zurückzuschlagen hatte sie übertrieben und - gelogen. Aber sie würde nichts zurücknehmen. Mit einer raschen Bewegung, mit der Wayne nicht gerechnet hatte, zog sie am Klingelzug. „Wenn du meinen Mantel nicht holst, dann wird es eben jemand anders tun." Jetzt klang ihre Stimme schon ruhiger, trotz ihres inneren Aufruhrs. „Willst du abstreiten, dass du mir den Eindruck vermittelt hast...?" „Welchen Eindruck?" Kerry sah ihn starr an. Dann fiel ihr ein, dass sie sich mehr als einmal so verhalten hatte, dass Wayne hätte glauben können, sie sei ein leichtes Mädchen. „Oh, das hängst du mir nicht an!" Aufgeregt blickte sie um sich. In ihrer grenzenlosen Wut war sie taub für Waynes Warnung, als sie nach der Sung-Vase griff. „Du sagtest, meine Reaktionen hätten dich immer enttäuscht. Na schön, ich hoffe, dieses Mal bist du es nicht." „Kerry, stell sie hin! Stell sie sofort hin! Du weißt nicht, wie wertvoll sie ..." Blitzschnell streckte er die Hand aus, als die Vase, die tausend Jahre überstanden hatte, quer durch den Raum flog. Sie traf auf den Glasschirm der Stehlampe. Es klirrte und schepperte, dann fielen die Scherben geräuschlos auf den Teppich. In der schrecklichen Stille, die nun folgte, nahm Kerry nur eines wahr: das Blut, das aus Waynes Handgelenk spritzte, und die dunkle Gestalt, die an der Tür erschien. Cecilia betrat den Salon und stand eine Weile sprachlos da. „Massa Harvey", sagte sie endlich, „Sie sind verletzt - aber die Vase! Die wunderschöne Vase, die Sie erst letzten Monat gekauft haben! Und von der Sie gesagt haben, dass nur Cecilia sie abstauben darf ..." Sie durchquerte den Salon, kniete sich hin und hob Scherben der zerbrochenen Keramikvase auf. Waynes Verletzung war vergessen. „Die Vase, von der Missy Avril sagte, sie hätte beinahe zweitausend Pfund gekostet..." „Zwei... zweitausend Pfund?" Erschrocken fasste Kerry sich an die Wange. „Was ist geschehen, Massa Harvey? Dass Sie unvorsichtig waren, sehe ich." Kerry blickte verängstigt zu Wayne. Er hatte ein Taschentuch herausgeholt und verband sich damit notdürftig die Wunde. Dabei ließ er Kerry nicht aus den Augen. Der Bruch der Vase schien ihn so kalt und ungerührt zu lassen, dass sie sich schon fragte, ob Cecilia sich mit dem Preis geirrt habe. Sie sah Cecilia an und bat sie, ihr ihren Mantel zu holen. Auf die ruhig vorgetragene Bitte hin richtete Cecilia sich auf, sah zuerst Kerry, dann Wayne an und schließlich die blauen Scherben der zerbrochenen Vase, die über den Teppich verstreut herumlagen. Dann ging ihr ein Licht auf, und ihre Augen wurden groß. „Missy", sagte sie geschockt, „Missy hat die Vase nach Massa geworfen!" Wayne blickte über Cecilias Kopf hinweg, und Kerry drehte sich um. Die Röte schoss ihr in die Wangen, als sie Rowena auf der Türschwelle stehen sah und ihr bewusst wurde, dass sie Cecilias letzte Bemerkung gehört haben musste.
„Wayne! Was ist denn hier los? Die Sung-Vase ... Du hattest sie erst einen Monat und wolltest sie doch noch so lange haben. Was ist passiert?" Sie bemerkte Kerrys erhitztes Gesicht und den behelfsmäßigen Verband an Waynes Handgelenk. Kerry presste die Lippen zusammen. Rowena genoss die Situation sichtlich. „Wozu die Frage, Miss Blakely? Sie haben doch gehört, was Cecilia eben gesagt hat." Cecilia hatte, wie Kerry erst jetzt bemerkte, den Raum verlassen. Gleich darauf kam sie mit Kerrys Mantel zurück. „Danke, Cecilia." Sie nahm ihn entgegen und ging hinaus. Sekunden später schloss sich die Haustür leise hinter ihr.
10.KAPITEL
Gleich nach dem Frühstück am folgenden Morgen schickte Kerry ihrem Vater ein Fax. Er sollte inzwischen wieder in England sein und würde ihr sicher das Geld für die Rückreise leihen. Mit etwas Glück hätte sie in wenigen Tagen die Insel verlassen. Zwar gefiel es ihr nicht, ohne Abschied von Avril wegzugehen, dennoch hoffte sie, bei Avrils Rückkehr auf Trade Winds Estate nicht mehr da zu sein. Es bliebe dann Wayne überlassen, Kerrys plötzliche Abreise zu erklären. Wie er das bewerkstelligen würde, ohne dabei sein niederträchtiges Verhalten bloßzulegen, wusste Kerry nicht, und es war ihr auch egal. Aber dass er sich wegen der verschwundenen Sung-Vase irgendwie herausreden würde, daran zweifelte sie nicht. Ebenso überzeugt war sie, dass er Rowena und Cecilia verbieten würde, den Streit zu erwähnen, der zwischen ihr, Kerry, und ihm stattgefunden hatte. Ihre Vermutung bestätigte sich später, als sie einen Anruf von Wayne erhielt. Beim Klang seiner Stimme klopfte ihr das Herz bis zum Hals, denn einen verrückten Moment lang glaubte sie, er habe angerufen, um sich zu entschuldigen und ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. „Miss Fairclough am Apparat... Kerry ..." „Es geht um Avril. Ich möchte nicht, dass sie von unserer ... Meinungsverschiedenheit erfährt", sagte er kalt und unfreundlich. „Es liegt an Ihnen, ihr das zu erklären, Mr. Harvey. Ich verlasse Barbados noch vor Avrils Rückkehr." „Du reist ab?" fragte er scharf. „Du verlässt die Insel?" „Das habe ich vor." „Avril ..." Jetzt wirkte er beunruhigt, und aus seiner Stimme war die feindselige Schärfe verschwunden. „Sie wird traurig sein, wenn du gehst." „Ich werde ihr von zu Hause schreiben." Langes Schweigen folgte. „Wie willst du Avril deine überstürzte Abreise erklären?" „Wahrscheinlich sage ich ihr die Wahrheit. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass sie erfährt, wie du wirklich bist! Ja, ich schreibe ihr einen langen Brief und führe ihr vor Augen, was für ein elender Schuft du bist." Kerry ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen, sagte, sie habe noch viel zu tun, und legte auf. Wird er noch einmal anrufen? fragte sie sich. Bis zum Nachmittag merkte sie, das er ihre Drohung nicht ernst genommen hatte. Eines hatten sie beide gemeinsam: Keiner wollte Avril absichtlich verletzen, und Wayne wusste, dass Kerry sich eine Ausrede für ihre Abreise einfallen lassen würde. Mit diesem Problem war sie in den folgenden Tagen beschäftigt, aber seine Lösung sollte ihren Sorgen noch eine weitere hinzufügen. Die Reisegruppe mit Irene und Stan traf am späten Nachmittag ein. Alle Neuankömmlinge drängten sich ins Hotel, und Kerry war viel zu beschäftigt, um mit Irene sprechen zu können. Es blieb nur Zeit für eine kurze Begrüßung. Irene und Stan verabredeten sich mit Kerry für nach dem Abendessen in der Lounge, dann wurden sie auch schon von dem wartenden Portier auf ihr Zimmer geführt. Jetzt, da Irene hier war, hielt Kerry es vor Ungeduld kaum mehr aus, und die Zeit schien sich endlos hinzuziehen. Schließlich durchquerte Kerry die Lounge und ging auf den Tisch am Fenster zu, an dem Irene und Stan saßen. Als sie ihn erreicht hatte, stand Stan auf und fragte, was sie trinken möchte. Noch während er die Bestellung aufgab, begann Kerry atemlos zu sprechen, denn der ernste Gesichtsausdruck ihrer Freundin hatte sie sehr betroffen gemacht. „Michelle ... du hast mir etwas Wichtiges von ihr zu berichten?" „Nicht von Michelle, sondern von ihrem Vater", antwortete Irene sofort. „Ich nehme an, sie hat dir geschrieben, dass er im Krankenhaus liegt." „Er liegt im Krankenhaus?" Kerry schüttelte den Kopf. „Nein, das hat sie nicht erwähnt." „Wahrscheinlich wollte sie dich nicht beunruhigen." „Ist es etwas Ernstes?" Irene und Stan tauschten Blicke. „Ernster könnte es nicht sein." Der Ober brachte die Getränke an den Tisch, und sie schwiegen, bis er wieder gegangen war. „Man braucht sich keine Hoffnungen mehr zu machen."
Kerrys Herz setzte einen Schlag aus. „Wird er sterben?" „Vor drei Wochen hat man ihm noch einen Monat gegeben - höchstens einen Monat." Kerry brauchte einen Moment, um diese Nachricht zu verdauen. „Aber... das ist ja schrecklich!" Sie war ganz blass geworden. Stan beugte sich über Irene, nahm Kerrys Glas und hielt es ihr hin. „Hier, trink einen Schluck. Du siehst aus, als könntest du ihn gebrauchen." „Danke." Kerry nahm das Glas von Stan entgegen und hob es an die Lippen. „Es ist sehr seltsam, dass Michelle so schreiben konnte. Ich spürte zwar, dass etwas nicht stimmte, aber nichts in ihren Briefen deutete auf eine Tragödie hin." „Damals wusste weder Michelle noch ihre Mutter, wie ernst die Situation war. Und vielleicht weiß Michelle es auch heute noch nicht." Dann erzählte Irene, wie sie zu dieser Information gekommen war. Sie hatte eine Freundin, Rosemary Hall, im Bus getroffen. Rosemary hatte vor kurzem ihre Ausbildung beendet und arbeitete jetzt als Krankenschwester im Baronsfield Hospital. Da sie ganz neu in dieser Stelle war, hörte sie gar nicht mehr auf, davon zu reden. Sie beschrieb die einzelnen Fälle und ganz besonders das Schicksal einer armen Frau mit sechs Kindern, die kurz davor stand, Witwe zu werden. Ihr Mann lag mit Herzbeschwerden im Hospital. „Ich hatte der ganzen Sache kaum Beachtung geschenkt", gab Irene zu und begründete es mit ihren Hochzeitsvorbereitungen. „Als dann aber der Name des Mannes fiel - Mr. Johnson -, wurde ich aufmerksam, wie du dir denken kannst. Ich stellte Rosemary ein paar Fragen, und bald wusste ich, dass dieser Mr. Johnson Michelles Vater war. Ich fragte, ob Mrs. Johnson von der Gefahr wisse, und Rosemary antwortete, das habe man ihr noch nicht gesagt, da bis zum Tag davor die Ärzte noch gehofft hätten, Mr. Johnsons Leben zu verlängern." Irene trank einen Schluck, und abwesend ließ Kerry den Blick zu Stan gleiten. Ihn hatte man aus dem Gespräch ausgeschlossen, und da fiel Kerry plötzlich ein, dass dies der erste Abend in seiner Ehe war und er sie wahrscheinlich zum Teufel wünschte. „Ich habe dir nichts davon geschrieben", sagte Irene gerade, „weil ich irgendwie das Gefühl hatte, es würde dir nicht so einen Schlag versetzen, wenn du es von mir selbst hörst." „Ich bin froh, dass du es im Brief nicht erwähnt hast;." Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Ich möchte wissen, was die arme Mrs. Johnson jetzt tun wird." „Wenigs tens wird sie keine Babys mehr bekommen", warf Stan trocken und leicht belustigt ein. „Ich dachte mehr an ihre finanzielle Lage", stellte Kerry bekümmert fest. „Man wird Mrs. Johnson die Beihilfe kürzen. Und sie werden ärmer als je zuvor sein." „Erzähl mir von Avril", forderte Irene sie auf, in der offensichtlichen Absicht, über etwas Erfreulicheres zu sprechen. Aber zu ihrem Erstaunen schimmerten plötzlich Tränen in Kerrys Augen. „Da gibt es auch Probleme." Kaum war es ausgesprochen, bedauerte Kerry es auch schon. Sie sollte Irene an ihrem Hochzeitsabend nicht mit ihren Sorgen belasten. Aber es war zu spät. Irenes Interesse und Neugierde waren geweckt, und selbst das leise Stöhnen ihres Mannes hielt sie nicht davon ab zu sagen: „Was soll das heißen? Nach deinem letzten Brief hatte ich den Eindruck, dass alles in bester Ordnung sei." Kerry schüttelte den Kopf. „Kerry, was ist los?" „Das kann ich dir nicht erzählen, Irene. Heute ist dein Hochzeitstag. Oh, ich denke nur an mich!" Sie wollte aufstehen, aber Irene legte ihr die Hand auf den Arm und hinderte sie daran. „Ich bin deine Freundin, Kerry. Auch wenn heute mein Hochzeitstag ist, was macht das schon? Wenn du Lust hast zu reden - ich höre dir zu." „Stan..." flüsterte sie. Er unterbrach sie und sagte leise: „Kümmere dich nicht um mich, Kerry. Sprich dir von der Seele, was dich bedrückt. Dann fühlst du dich gleich besser." Er lächelte seine Frau an. „Ich sehe mich hier ein bisschen um, wenn du nichts dagegen hast?" „Danke, Schatz. Lass uns nur zehn Minuten allein, ja?" Kerry sah ihn weggehen und versuchte, dabei nicht an Wayne zu denken ... daran, was hätte sein können. Aber warum sollte sie an das Unmögliche denken? Wayne war ein überzeugter Junggeselle - und selbst wenn er das nicht wäre, würde er ein Mädchen wie sie, Kerry, niemals heiraten. Er würde sich eine Frau von Eleganz und Charme suchen, mit einer Persönlichkeit, die
seiner eigenen entsprach. „Heraus damit, Kerry", ermutigte Irene sie, und nach kurzem Zögern erzählte Kerry die ganze Geschichte von Anfang an. Dabei veränderte Irenes Gesichtsausdruck sich mehrere Male, und am Ende war sie verärgert und entrüstet. „Er hat dich wirklich glauben lassen, er würde dich heiraten?" „Ich weiß nicht. Einmal sagte er zu dem Hotelbesitzer hier, er habe einen eingebauten Schutzmechanismus, der ihn vor der Ehe bewahre. Das habe ich wohl nicht ernst genug genommen." „Einen eingebauten Schutzmechanismus?" Irene zog die Brauen hoch. „So ein Wichtigtuer. Wenn er jemals heiratet, dann hoffentlich einen richtigen Drachen, der ihm das Leben ordentlich zur Hölle macht, wie er es verdient. Das muss ja ein schrecklicher Typ sein! Und, ehrlich gesagt, ich verstehe gar nicht, wie du auf ihn hereinfallen konntest." Kerry musste lächeln. „Du hast ihn nicht gesehen, Irene." „Und das will ich auch nicht. Das heißt, wenn ich es mir recht überlege, würde ich ihn sogar ganz gern sehen - nur um diesem Schuft gehörig meine Meinung zu sagen." Nach einer Weile bat Kerry: „Erzähl Stan bitte nichts davon. Ich möchte nicht, dass sonst noch jemand von meiner Dummheit erfährt." „Kein Wort geht über meine Lippen." Irene machte eine Pause und musterte dabei besorgt Kerrys Gesicht. „Was hast du jetzt vor?" „Ich habe meinem Vater ein Fax geschickt und ihn um das Geld für meine Rückreise gebeten." „Wo willst du wohnen?" Verärgert schüttelte Irene den Kopf. „Wenn ich die Wohnung nur nicht aufgegeben hätte. Kannst du vorläufig bei deinen Eltern bleiben?" „Ja, bei meinem Vater, eine Woche, so lange, bis ich ein Zimmer gefunden habe." „Ein Zimmer! Ein einziges Zimmer? So weit kommt es noch!" „Ich will Mrs. Johnson so viel geben wie nur möglich." „Ihre Probleme sind nicht deine, Kerry", sagte Irene sanft. „Natürlich tue ich es für Michelle. Ich muss versuchen, ihr das Leben leichter zu machen." Irene atmete tief durch. „Ich wünschte, du hättest dieses verdammte Geld nie gesehen! Es hat dein Leben ruiniert!" „Nicht ganz", erwiderte Kerry, wenn auch etwas lahm. „Ich werde über Wayne hinwegkommen, und alles andere ergibt sich mit der Zeit." „Das kann lange dauern! Und wenn ich offen sein darf, von Avril bin ich absolut nicht begeistert. Wenn sie es wirklich wollte, könnte sie Michelle helfen. Selbst zum jetzigen Zeitpunkt könnte sie die dreitausend Pfund herausrücken, um den Laden zu kaufen ..." „Wozu sollte das jetzt noch nützen?" „Mrs. Johnson könnte das Geschäft führen - mit einer bezahlten Hilfskraft." „Ja, natürlich. Daran habe ich noch gar nicht gedacht", entfuhr es ihr, dann wurde ihr klar, dass sie sich ihre Bemerkung hätte sparen können. Die dreitausend Pfund würden jetzt niemals kommen. Sie dachte an Waynes Angebot, daran, was er für sein Geld als Gegenleistung von ihr erwartet hatte. „Wenn du mich fragst", fuhr Irene fort, als hätte Kerry nichts gesagt, „Avril ist ausgesprochen egoistisch ..." „Nein, Irene, das ist sie nicht. Aber Wayne verwaltet ihr gesamtes Vermögen. Sie hat nur den rechten Augenblick abgepasst, um Wayne um das Geld für Michelles Flugticket zu bitten, damit sie Ferien auf Barbados machen kann. Du musst wissen, sie hatte keine Ahnung, was sich zwischen Wayne und mir anbahnte." „Geld für das Flugticket?" wiederholte Irene. „Ist das alles? Warum nicht die dreitausend Pfund?" „Davon wusste Avril nichts. Ich habe Wayne davon erzählt, aber nicht Avril. Du täuschst dich in ihr. Avril ist ein Schatz, wirklich." Irene ging nicht darauf ein. „Weiß sie, dass du die Insel verlässt?" „Noch nicht." Kerry erklärte, dass Avril für einige Tage verreist war. „Ich hatte mir schon eine Ausrede für meine plötzliche Abreise überlegt. Aber jetzt kann ich ihr aus England schreiben, dass Michelles Vater der Grund dafür war." „Sie wird erwarten, dass du zurückkommst." „Ja. Aber das macht nichts. Ich werde es hinauszögern."
„Mit anderen Worten, es macht dir nichts aus, wenn du den Kontakt zu Avril letzten Endes ganz verlierst?" Kerry seufzte. „Das möchte ich nicht, Irene, aber ja, irgendwann werde ich ganz aufhören, ihr zu schreiben. Das ist am besten. Weißt du, Avril hängt sehr an Wayne. Sie kennt ihn schon von klein auf. Mich ..." Kerry zuckte die Schultern. „... mich kennt sie nicht lange genug, um mir wirklich nahe zu stehen." „In deinen Briefen hat sich das aber anders angehört", erinnerte Irene sie. „Es hatte den Anschein gehabt, aber jetzt - Ach, ich weiß nicht." Kerry seufzte verzweifelt. „Ich weiß nicht, wie das alles noch enden soll." „Dieses Erbe!" rief Irene verächtlich aus. „Es hat mir Michelle gebracht." „Michelle", wiederholte Irene ungeduldig. „Es sieht so aus, als würde sie dir für lange Zeit zur Last fallen. Oh, ich würde nichts sagen, wenn ihr gemeinsam aufgewachsen wärt. Aber wenn ich daran denke, dass du sie vor ein paar Monaten noch gar nicht gekannt hast. Und jetzt hast du Ärger und Sorgen vor dir, die du nicht haben müsstest." „Michelle ist ein Schatz, Irene." „Wie Avril", bemerkte sie sarkastisch. „Du wärst auch sehr gut ohne die beiden ausgekommen!" Stan kam zurück, und Kerry stand sofort auf. „Gute Nacht", sagte sie. Sie lächelte und war schon verschwunden, noch bevor die beiden ihr geantwortet hatten. Michelle öffnete die Tür und warf sich Kerry in die Arme. „Oh, ich bin so froh, dass du wieder da bist. Ich dachte schon, ich würde dich nie wieder sehen, und dann kam gestern Morgen dein Brief. Warum hast du dich entschlossen zurückzukommen? Hattest du Heimweh?" Kerry nickte nur. Das war eine Entschuldigung, so gut wie jede andere. „Komm doch rein", fuhr Michelle fort und strahlte vor Aufregung. „Was mach ich bloß, lass dich hier im Flur stehen!" Sie lachte und weinte gleichzeitig, und Kerry selbst brannten Tränen in den Augen, als sie Michelle ins Wohnzimmer folgte. „Wo sind die anderen?" fragte Kerry vorsichtig, denn angeblich wusste sie ja nicht, dass Mr. Johnson im Krankenhaus lag. „Die Kleinen, wo sind sie?" „Janice von nebenan ist mit ihnen in den Park gegangen. Ich hatte ihr erzählt, dass du kommst, und ihre Mutter meinte, da wären wir doch sicher gern eine Stunde für uns allein. War das nicht nett von ihr? Überhaupt waren die Nachbarn ganz wundervoll, während ... während ..." Michelle verstummte und wurde rot. „Kerry, ich hab es dir nicht geschrieben, weil ich dich nicht aufregen wollte - aber Vater ist im Krankenhaus." Gespannt beobachtete sie Kerry, die sofort lächelte, und atmete erleichtert auf. „Mutter ist gerade bei ihm. Sie besucht ihn immer Samstag und Sonntagnachmittag - und mittwochs." Michelle war aufgeregt, aber nicht übermäßig besorgt. Offenbar hatte man sie nicht aufgeklärt darüber, wir schlimm es um ihren Vater stand. „Setz dich, Kerry, ich mache uns Tee. Und während wir ihn trinken, erzählst du mir von Avril. Glaubst du, dass ich sie irgendwann einmal besuchen kann?" Kerry schluckte hart. „Natürlich, Michelle." „Wir beide - du und ich - reisen in den Ferien zu ihr." Ihre Augen leuchteten vor Vorfreude. Kerry wurde schwer ums Herz, als sie sich Michelles Zukunft vorstellte. Dennoch sagte sie leise und sanft: „Ja, Michelle, irgendwann reisen wir zusammen dorthin." Sie setzte sich, und Michelle verschwand in der Küche. „Kann ich dir helfen?" fragte Kerry. „Nein. Ich hatte den Kessel schon aufgesetzt, und das Wasser kocht gleich. Möchtest du Kuchen oder Kekse?" „Kekse, bitte. Kommt die Frau zum Saubermachen noch zu euch?" fragte Kerry und blickte sich um. „Nur noch zwei Mal die Woche." Michelle erschien mit einem Tablett auf der Türschwelle. „Weißt du, wir mussten einen Teil des Geldes für Vater ausgeben. Da waren die Fahrtkosten für das Krankenhaus zum Beispiel. Aber wenn Vater entlassen wird, kommt Mrs. Furness wieder öfter, sooft wir es uns leisten können." Also glaubte Michelle, dass ihr Vater bald nach Hause käme.
Kerry seufzte und erkundigte sich, wer denn jetzt tagsüber auf die Kinder aufpasse. „Ich bin heute nicht zur Schule gegangen." Kerry runzelte die Stirn. Wie sollte das werden, wenn Mr. Johnson starb? „Der Tee ist fertig." Michelle strahlte, und sie so glücklich zu sehen war Balsam für Kerrys geschundene Seele. „Soll ich den Tee einschenken?" fragte Kerry, als Michelle das Tablett auf den Tisch stellte und sich setzte. „Ja, bitte. Und erzähl mir von Avril!" drängte sie und sah sie erwartungsvoll an. „Wie lebt sie? Dass sie schön ist, weiß ich von den Fotos, die du mir geschickt hast. Aber du hast mir keines von ihrem Haus geschickt. Hast du ein Bild davon?" „Ja, Michelle." Sie holte das Foto aus ihrer Handtasche und legte es vor Michelle auf den Tisch. „Ein Herrenhaus!" rief Michelle beinahe ehrfürchtig und konnte den Blick nicht von dem Foto lösen, das sie jetzt in die Hand nahm. „Gehört es ihr ganz allein?" „Ja, Michelle. Ihre Eltern waren sehr reich." Nach einer Weile legte sie das Bild wieder auf den Tisch. „Ich würde zu gern dort sein und es selbst s ehen", sagte sie mit verträumtem Blick. Keine Spur von Neid, nur ein Anflug von Traurigkeit und Sehnsucht. „Es wird wohl noch viele Jahre dauern, bis ich nach Barbados reisen kann, was meinst du, Kerry?" „Vielleicht wird es noch eine Weile dauern", stimmte Kerry zögernd zu und sagte dann: „Aber eines Tages werden wir dort sein. Das haben wir doch beschlossen, oder?" Michelle wurde wieder fröhlich. Ihre Augen glitzerten wieder wie damals, als Kerry zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war. „Natürlich, und ich freue mich schon darauf." Michelle sah auf die Uhr, schon zum dritten oder vierten Mal. „Wo Mutter nur bleibt?" „Wann kommt sie denn gewöhnlich zurück?" „So gegen vier. Am Samstag ist von zwei bis drei Uhr Besuchszeit. Jetzt ist es schon Viertel vor fünf." „Na ja, mach dir keine Sorgen, Michelle. Es wird schon nichts passiert sein." Aber Kerry war selbst beunruhigt. Sie half Michelle beim Abwasch. Dann war es halb sechs, und die Kinder rannten quer durch den kleinen Garten hinter dem Haus. Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen stellte den Kinderwagen ab, trat auf den Bremsfußhebel und kam herüber ans Fenster. „Dann ist deine Schwester also da", bemerkte sie unnötigerweise und sah Kerry an. „Ja. Komm rein, damit ich dich ihr vorstelle." „Das kannst du auch am Fenster tun." Michelle blickte ihre Schwester entschuldigend an und machte Kerry und Janice miteinander bekannt. „Ich nehme die Kleinen morgen für eine Stunde, wenn du deinen Vater besuchen möchtest", wandte Janice sich wieder an Michelle. „Danke, Janice. Ja, ich besuche ihn morgen.'' „Wie geht es ihm heute? Mum wird es wissen wollen." „Weiß ich nicht. Mutter ist noch nicht zurück." „Noch nicht? Ich dachte, sie nimmt immer den Bus um halb vier." „Normalerweise, ja. Ich hab keine Ahnung, was los ist." „Wahrscheinlich hat sie den Bus verpasst. Tschüs." „Wiedersehen - und danke, Janice." „Gern geschehen." Das rostige Eisentor quietschte in den Angeln, als Janice es hinter sich zuzog. Die vier Kinder kamen hereingestürmt und waren völlig ausgehungert. „Ich hole ihnen Tee." Wieder warf Michelle Kerry einen bedauernden Blick zu. „Setz dich - auf den großen Stuhl. Dann kann ich sie am Tisch versorgen." „Lieber würde ich dir helfen." „Nein, ich schaff das schon allein." „Es geht schneller, wenn ich dir etwas abnehme." Kerry stand schon in der Küche und sah sich um. „Was sollen die ..." Sie verstummte plötzlich, als sie Mrs. Johnson durch das Tor kommen sah. „Deine ... deine Mutter ist zurück", flüsterte sie. Die Frau ging unsicher und hielt sich ein Taschentuch vor die Augen ...
Innerhalb einer Woche hatte Kerry eine Stelle gefunden. An ihrem dritten Arbeitstag saß sie vormittags am Schreibtisch, als das Telefon klingelte. Stephen Haslett meldete sich und fragte, ob sie um drei Uhr nachmittags in seiner Kanzlei sein könne. Kerrys Herz schlug schneller. „Ist etwas nicht in Ordnung? Was ...?" „Sie erfahren von mir keine Einzelheiten am Telefon, Miss Fairclough, das wissen Sie doch. Ich erwarte Sie dann also um drei." Er habe ihre Telefonnummer von Michelle erfahren, fügte er noch rasch hinzu, bevor er auflegte. Zehn vor drei - Kerry hatte sich den Nachmittag freigeben lassen - erschien sie in der Anwaltskanzlei und wurde sofort in Stephen Hasletts Privatbüro geführt. „Was gibt es?", fragte sie atemlos, noch bevor Haslett die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Kein Grund zur Beunruhigung, Miss Fairclough. Setzen Sie sich..." „Aber..." „Um drei Uhr wird Ihr Gast hier eintreffen. Da mir bis dahin noch etwas Zeit bleibt, kann ich Ihnen einige Informationen vorab geben." Er blieb stehen, zeigte noch einmal auf den Besuchersessel, und Kerry ließ sich darin nieder. „Wayne Harvey, der Onkel und Vormund Ihrer Schwester, schrieb mir, dass er nach England komme, und bat mich, ein Treffen zwischen Ihnen und ihm in die Wege zu leiten. Meine Adresse hatte er übrigens von Ihren Freunden, die zurzeit auf Barbados Urlaub machen. Ich hatte besagten Brief kaum gelesen, da riefen Mr. Harvey und seine Nichte an. Wir redeten ziemlich lang..." „Worüber?" unterbrach Kerry ihn. Stephen Haslett lächelte seltsam. „Wir unterhielten uns ziemlich lang, Miss Fairclough, lassen wir es dabei. Also weiter: Ich hatte Mr. Harvey bereits gesagt, dass Ihre Adresse in England mir nicht bekannt sei, ich sie jedoch von Mr. Johnson erfahren könne. Ich dachte, er hätte Ihre Anschrift, denn ich ging davon aus, dass Sie Michelle gleich nach Ihrer Rückkehr besuchen würden. Mr. Harvey überraschte mich dann, als er ankündigte, mich zu begleiten, um diesen Mr. Johnson kennen zu lernen. Die Gründe dafür erfuhr ich erst später von ihm." Haslett setzte sich in den schwarzen Ledersessel Kerry gegenüber. „Nun, wir hatten bei den Johnsons kaum an die Tür geklopft, als eine Nachbarin auftauchte und uns mitteilte, dass Mr. Johnson tot sei, Mrs. Johnson arbeite, die Kinder von einer anderen Nachbarin betreut würden und Michelle in der Schule sei. Sie nannte uns den Namen dieser Schule, wir fuhren hin, und ..." Er machte eine Pause und sah Kerry lächelnd an. „... im Direktorat fand die ersehnte Zusammenkunft statt - bei der auch ein paar Tränen flössen", fügte er mit trockenem Humor hinzu. „Sogar die hartgesottene Direktorin war nervlich völlig am Ende. Die beiden starken Männer schluckten vor Rührung und seufzten erleichtert auf, als die Schulleiterin vorschlug, Michelle mit nach Hause zu nehmen. Das taten wir dann auch." „Sie haben Mr. Harvey in dieses Haus gebracht?" „Michelle machte uns Tee, wir blieben eine Weile und unterhielten uns. Dann sind Mr. Harvey und ich gegangen." „Wo ist Avril jetzt?" „Immer noch dort. Mr. Harvey sagte, er wolle sie später abholen. Er möchte Michelles Mutter kennen lernen." Eine Zeit lang schwieg Kerry. Das alles musste sie erst einmal verdauen. Steckte Avril dahinter - oder Wayne? Falls Wayne es war - was wollte er dann von ihr? Beim schweren Schlagen der Wanduhr zuckte Kerry zusammen, und sie stand auf. „Mr. Haslett, ich möchte nicht ..." Das Telefon klingelte, und Stephen nahm den Hörer ab. „Führen Sie ihn herein", sagte er abrupt, und Kerry machte einen Schritt auf die Tür zu, die Stephens Büro von dem seines Vaters trennte. „Ich möchte nicht ..." Sie verstummte, als Wayne hereinkam. Stolz und beherrscht wie immer, stand er einen Augenblick an der Tür. Jetzt bemerkte Kerry die leichte Blässe unter seiner Bräune. „Ich lasse Sie nun allein", sagte Stephen und drehte sich um. „In einer Stunde erwarte ich den nächsten Klienten", fügte er hinzu und schloss die Tür hinter sich. Eine Ewigkeit, wie es schien, standen Wayne und Kerry da und sahen sich nur an. Kerry brachte kein Wort heraus. Endlich brach Wayne das Schweigen. „Kerry ... Kerry, mein Liebling, kannst du mir verzeihen?"
„Verzeihen? Dann willst du also, dass wir wieder Freunde sind - Avril zuliebe? Es ist doch wegen Avril, oder?" Wie ein verwirrtes Kind sah sie ihn an, ihre Augen glänzten viel zu sehr, ihre Lippen bebten. „Nicht wegen Avril." Er machte einen Schritt auf sie zu und blieb stehen. „Ich war ein Dummkopf, Kerry. Eine ganze Woche lang, nachdem du Barbados verlassen hattest, trug ich einen inneren Kampf mit mir aus. Eine Ehe sei nichts für mich, und ich brauche meine Freiheit - das stand für mich seit langem fest." Er kam zu ihr und nahm ihre Hände in seine. Sie betrachtete sein fein geschnittenes Gesicht, erschauerte bei seiner Berührung und war überwältigt von seiner starken Ausstrahlung und der Macht, die er über ihre Gefühle hatte. Wayne sah ihr tief in die Augen und sagte: „Jetzt weiß ich, dass Freiheit das Letzte ist, was ich mir wünsche." Er ließ ihre Hände los und legte die Arme um Kerry. „Willst du meine Frau werden, Kerry?" Beinahe flehend fügte er hinzu: „Sag Ja, mein Liebling, denn ich kann ohne dich nicht leben!" Nach diesen Worten hatte sie sich gesehnt, und dennoch durchlief sie jetzt ein Frösteln, und sie schauderte in seinen Armen. „Weil ich nicht... weil ich nicht ..." Kerry verstummte. Trotz ihrer Verlegenheit schaffte sie es, ihm in die Augen zu sehen. „Nur weil du mich körperlich begehrst, oder?" „Du glaubst, ich hätte dir niemals einen Antrag gemacht, wenn ich dich auch so in mein Bett bekommen hätte?" „Ja." Ohne den Blick von ihr zu wenden, sagte Wayne: „Kerry, mein Liebling, das ist nicht der Grund, weshalb ich dich heiraten will. Ich gebe zu, dass ich dachte, es würde genügen, obwohl mir bewusst war, dass ich dich liebte ..." „Dass du mich liebtest?" Verblüfft sah sie ihn. „Aber du hast mich nicht geliebt." „Doch, Kerry, das habe ich. Und ich war mir sicher, dass auch du mich liebtest und eine Beziehung zwischen uns von Dauer wäre. Deshalb sagte ich ja, du müsstest dir keine Sorgen um deine finanziellen Probleme mehr machen. Aber ich verdammter Idiot dachte, ich könnte gut auf eine Ehe verzichten. Jetzt weiß ic h: Ich kann es nicht. Schließlich bin ich auch nur ein Mensch." Er hielt sie von sich, und sie erschauerte, als sie die Zärtlichkeit in seinen Augen sah. „Liebling, du hast mir noch nicht verziehen." Lächelnd berührte Kerry seine Lippen mit den Fingern. „Das alles ist jetzt vorbei", flüsterte sie, aber Wayne umfasste ihre Hand und Legte sie an seine Brust. „Ich muss es hören, Schatz. Sag, dass du mir mein abscheuliches Verhalten verzeihst." „Muss ich das wirklich?" Liebevoll lächelte sie ihn an. „Na schön, ich verzeihe dir." „Ich schwöre, ich werde dir nie wieder wehtun", versprach er leidenschaftlich. „Niemals, mein Liebling!" „Ich weiß, dass du das willst. O Wayne, dabei tust du mir jetzt schon weh!" Ihr Protestschrei verhallte ungehört, als Wayne sie so fest in die Arme nahm, dass er sie fast zerdrückte. Sein Kuss war hart und besitzergreifend. „Ich besorge uns eine Ehedispens, dann können wir sofort heiraten", erklärte er. „Ist dir das recht?" „Sehr sogar." Sie lachten, und wieder zog er sie in die Arme. Sie barg das Gesicht an seiner Schulter. „Wie hast du es Avril erklärt?" wollte Kerry wissen. „Ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Sie hatte schon vermutet, dass ich dich liebe, und ihre eigenen Schlüsse daraus gezogen. Dann warf sie mir vor, überängstlich zu sein, was die Verwaltung ihres Vermögens betrifft. Und sie verlangte das Geld, um dich und Michelle nach Barbados zu holen. Offenbar wusste sie noch nichts von dem Geschäft, das sie finanzieren sollte, und ich erzählte ihr davon. Ich sagte auch, dass ich nach England fliegen und dir einen Heiratsantrag machen würde. Und natürlich wollte sie mitkommen." Am Ende sagte Wayne Kerry noch, dass Rowena gekündigt und sein Haus verlassen habe. „Sie ist nach England zurückgekehrt", schloss er ziemlich unbeteiligt. Jetzt würde sie wohl nie erfahren, ob an den Gerüchten über Wayne und Rowena etwas Wahres gewesen war. Aber das wollte sie auch gar nicht wissen. Nach einer Weile kam Kerry auf Michelle zu sprechen und erfuhr, dass Wayne praktisch alles geregelt hatte. Er hatte Stephen Haslett beauftragt, sich um den Kauf des Ladens für Mrs.
Johnson zu kümmern. „Das heißt", meinte er, „falls sie ihn überhaupt noch haben will, jetzt, da ihr Mann ihr nicht mehr helfen kann." „Sie will ihn immer noch", versicherte Kerry ihm und fügte hinzu, dass Mr. Johnson sowieso keine große Hilfe gewesen wäre. „Heißt das, wir können Michelle mit zu uns nehmen?" fragte Kerry, und Wayne nickte. „Avril ist ganz begeistert von ihr, und sie werden sich gegenseitig sehr gut tun. Wenn Avril älter ist, wird sie natürlich in ihr eigenes Haus ziehen, und vielleicht möchte Michelle dann mit ihr gehen. Bis dahin bleiben beide bei uns." Er sah sie zärtlich an. „Bist du glücklich?" Kerry nickte. „Danke, Wayne", sagte sie leise, und er zog sie beschützend in die Arme. -ENDE