Scan & Korrektur: Keulebernd
Eichenlaubträger der Kriegsmarine
Götz Freiherr von Mirbach Mirbach, am 12.9.1915 in Ber...
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Scan & Korrektur: Keulebernd
Eichenlaubträger der Kriegsmarine
Götz Freiherr von Mirbach Mirbach, am 12.9.1915 in Berlin-Charlottenburg geboren, trat 1935 in die Kriegsmarine ein. Am 1.4.1938 Leutnant z. See geworden, übernahm er die Führung eines Schnellbootes bei der 1. SBootflottille in Kiel. Er zeichnete sich bereits bei den ersten Einsätzen aus und erhielt schon am 14.8.1940 das Ritterkreuz. 1941 wurde er zur 4. S-Bootflottille versetzt, mit der er im Finnischen Meerbusen gleichfalls Erfolge erzielte. Im April 1943 übernahm er als Kapitänleutnant die 9. S-Bootflottille. Innerhalb der ersten fünf Invasionstage versenkte er 8 alliierte Landungsschiffe, beschädigte weitere zwei und torpedierte mehrere Kriegsschiffe. Als 500. Soldat der Wehrmacht wurde er am 9.(14.)6.1944 mit dem Eichenlaub ausgezeichnet. Mirbach starb am 6.8.1968. Durch den langen zeitlichen Abstand von den Geschehnissen ist es nicht immer möglich, exakte Daten z. B. hinsichtlich der Einheits-Zugehörigkeit etc. der hier gewürdigten Persönlichkeiten auszuarbeiten. Auch die Zeitpunkte der Ordens verleihung können differieren. Für dokumentarisch belegte Berichtigungen in solchen Fällen sind wir immer dankbar und selbstverständlich bereit, dieselben im »LANDSER« zu veröffentlichen.
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Mann gegen Mann Der Kampf in vorderster Linie. – Bericht eines
Infanterie-Zugführers
Ich bin Peter Sturm und war Feldwebel bei der Einheit Feldpostnummer 02 923 D. Ich marschierte in der Tschechei, in Polen, kämpfte in Frankreich, Jugoslawien, Griechenland und Rußland. Stets war ich in der vordersten Linie eingesetzt, war aber nie beim Stab oder gar bei einem Generalkommando. Es ist mir daher nicht möglich, auf strategische Fragen einzugehen, weil ich diese nicht kenne. Es gingen zwar Parolen, wie weit diese aber der Wahrheit entsprachen oder wie weit sie Dichtung waren, das entzieht sich meiner Kenntnis. Mein Vorhaben besteht nun darin, einmal davon zu erzählen, wie der einfache Landser – das Frontschwein, wie man ihn nannte – in Wahrheit lebte. Ich will kein Heldenepos schreiben, wie es in so vielen Romanen geschieht. Ich will auch nicht den »Übermenschen Soldat« zeigen, den es nicht gab. Der Soldat war ein Mensch wie du und ich, mit allen Stärken und Schwächen, allen Fehlern und Sorgen und Ängsten. Ich will den Soldaten schildern, so wie Ich ihn in all den Jahren 3
kennenlernte, wie er lebte, handelte und dachte. – Dazu fühle ich mich in der Lage. Mein dauernder Fronteinsatz an allen Kriegsschauplätzen, meine Eigenschaft als Zugführer in einer Infanteriekompanie bieten Gewähr dafür. Wer aber den sogenannten Helden kennenlernen will, der wird enttäuscht sein. Auch ich war keiner, obwohl ich Träger des »Deutschen Kreuzes in Gold« und der »Goldenen Nahkampfspange« war. Diese Auszeichnungen erhielt ich als Unteroffizier, als sie selbst der Divisionskommandeur noch nicht trug. Es liegt eine lange Zeitspanne zwischen Geschehenem und dem Zeitpunkt des Erzählens. Aber die Eindrücke waren derart nachhaltig, daß sie noch so lebendig in mir sind, als sei es erst gestern gewesen. Diese folgenden Seiten sollen ein Dank an alle jene Kameraden sein, die mit mir kämpften, die mit mir litten, und vor allem an die, die die Heimat nicht mehr sehen durften. Seit drei Wochen lagen wir nun schon in schwersten Abwehrkämpfen gegen einen weit überlegenen Gegner im Befestigungsgürtel von Sewastopol. Unsere Gräben zogen sich ostwärts der Stadt, etwa zwei Kilometer westlich von Balaklawa hin. Diese Ortschaft war ein kleiner Vorhafen von Sewastopol und schob sich in einer Bucht tief in die Krim hinein. Die beiden Fronten trennten noch nahezu 800 Meter. Wir hatten uns auf einer kleinen Höhe, die wir den »Herzogstand« nannten, eingegraben. Vor uns erstreckte sich eine langgezogene Mulde, und auf den gegenüberliegenden Höhen saßen die Russen, Angehörige des Garderegiments Nr. 1 »Josef Stalin«. Unsere Stellung war mit einer leichten Stacheldrahtsperre gesichert, und davor sollten S- und T-Minen liegen. Das Vorfeld war von vielen Granaten nahezu umgepflügt, und wenn ich nach rechts in die Tiefe blickte dann leuchtete das Schwarze Meer zu mir herauf. Wie ein blausamtener Spiegel 4
lag es da, als herrsche tiefster Friede. Es war aber nicht schwarz, wie der Name es vermuten läßt. Leichter Wind streichelte die Wellen, und schillernde Lichter tanzten wie Kobolde darauf herum. Es war der 4. Mai 1944, 5 Uhr morgens. Wieder lag eine Nacht des Grauens hinter uns. Gestern hatte ich noch 19 Mann im Zug, heute waren es nur noch 14. Drei Kameraden waren verwundet worden, zwei sind tot. Allmählich konnte ich schon an einer Hand die Tage zählen, an denen wir noch Widerstand zu leisten vermochten. Wenn das Trommelfeuer am Abend und die russischen Angriffe in der Nacht weiterhin so massiert erfolgten wie bisher, dann fand der Russe in fünf Tagen wahrscheinlich keinen Gegner mehr in den Stellungen. Jetzt aber herrschte Ruhe. Es schien, als verscheuche die aufgehende Sonne die Dämonen, denn kaum begann es zu dämmern, da zog sich der Feind zurück, und das Artillerie- und Werferfeuer schwieg. In einem alten Soldatenlied, an das ich manchmal dachte, heißt es: »Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod.« Das galt jetzt nicht mehr. Heute müßte es besser heißen: »Morgenrot, Morgenrot, heute nacht ging um der Tod.« Wie jeden Morgen, so werde ich auch nachher wieder die Stellung abgehen, mit meinen Männern sprechen und versuchen, ihre Widerstandskraft etwas zu heben. Viel Sinn hatte das allerdings nicht, das wußte ich, aber wenn der Soldat frei von der Leber schimpfen konnte, dann war es ihm leichter. Mir ging es ja genauso. Morgens mußte ich auch jedesmal beim Kompaniechef Meldung über unsere Verluste und die der Russen machen. Außerdem war die Munitionsbestandsmeldung fällig.
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Mit dem Fernglas suchte ich das Vorfeld ab und bemühte mich, festzustellen, wie viele tote Russen vor meiner Stellung lagen. Dieser da drüben war gestern noch nicht da, auch der andere nicht, der ungefähr 100 Meter vor unserem Stacheldraht gefallen war. Aber der war ja gar nicht tot! Er winkte zu uns herüber. Offenbar war er nur schwer verwundet. Immer wieder versuchte er, sich auf die Ellbogen zu stützen, immer wieder brach er zusammen. Es war schon ziemlich warm. Er aber trug die beim Russen unvermeidliche Pelzmütze, während wir in Sommeruniform, also hemdsärmelig, zu kämpfen pflegten. Ich sah den Verwundeten ganz deutlich. Er hatte mongolische Gesichtszüge, geschlitzte Augen und stark hervortretende Backenknochen. Sein Mund war vor Schmerz oder Anstrengung zu einer Grimasse verzerrt. Immer wieder hob er den Kopf, sah zu uns herüber und versuchte Zeichen zu geben. Was wollte er nur? Ich glaubte, daß er mich inzwischen bemerkt hatte. Wie beschwörend war sein Blick auf mich gerichtet. »Nein, du armer Teufel, ich kann dir nicht helfen«, murmelte ich vor mich hin. »Deine Kameraden knallen mich ab wie einen tollen Hund, wenn ich es versuchen sollte. Warum haben deine Freunde dich liegenlassen?« Was aber sollte das Winken? Endlich verstand ich seine Gesten. Er wußte anscheinend, daß er sterben mußte, daß er tödlich verwundet war. Er zeigte jetzt auf seinen Bauch. Bauchschuß also, und ich sollte ihn wohl von seinen qualvollen Schmerzen erlösen. Ich sollte ihm die Gnadenkugel geben und so seine Leiden verkürzen. Die Russen hatten ihn wohl für tot gehalten, denn seine Waffen waren von ihnen mitgenommen worden. Was sollte ich nur tun? Jede weitere Minute bedeutete für den Soldaten da draußen unnütze Qual, sinnloser Schmerz. Da griff ich nach dem Zielfernrohrgewehr und legte an. 6
Mechanisch krümmte sich der Zeigefinger um den Abzug. Jetzt konnte ich das Gesicht des Russen genau sehen. Es war ein junger Bursche. Mit dem Finger deutete er auf seinen Kopf, um mir das Ziel anzugeben. Meine Hand zitterte. Nein, ich konnte es nicht tun! Erst gestern hatte ich einen Brief von meiner Mutter erhalten. Ich konnte ihre Angst und ihre Sorgen um mich – ihren Buben – aus jeder Zeile herauslesen, und nun sollte ich … Vielleicht hatte jener da draußen auch eine Mutter, die auf ihn wartete, täglich in Liebe an ihn dachte und dafür betete, daß ihr Sohn wieder heil nach Hause kam. Vielleicht hielt er den einen Tag noch durch, dann konnten ihn seine Kameraden in der Nacht zurücktragen. Ich konnte ihm nicht helfen! Ich setzte das Gewehr ab und lehnte es an den Grabenrand, und ich wollte den Russen nicht mehr sehen. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und nicht länger zusehen, wie er litt. Deshalb ging ich in die Stellung zurück. Der Obergefreite Krönninger, mein MG-Schütze I, war der erste, auf den ich stieß. Kauend saß er im Graben und döste vor sich hin. »Nun, Krönninger, wie steht’s? Hast ja gestern Post bekommen. Es dauert nicht mehr lange, dann geht’s heim. Ich weiß das sicher.« Krönninger hob nur leicht den Kopf. »Laß mich aus mit dem Schmarren. Daß ich nicht lache. Das glaubst du doch selber nicht. Scheiße ist alles. In ein paar Tagen haben wir alle einen kalten Hintern. Dann haben wir Ruhe. Heute nacht drehe ich das Gewehr um und schieße nach hinten. – Hat ja doch alles keinen Sinn mehr. Oder willst du was anderes sagen? Dann lüg dich nur selber an. Ich habe genug.« Ich kannte Krönninger und wußte, daß es besser war, ihm recht zu geben. Ich wußte auch: Wenn heute nacht der Zauber losgeht, dann ist Krönninger der erste am MG. Solange der Soldat noch schimpft, hat er noch Widerstandskraft, bäumt er 7
sich gegen die Unbilden noch auf. Ich habe das alle Tage, all die Jahre hindurch erlebt. Daher sagte ich nichts, klopfte ihm auf die Schulter und ging weiter. Ich kam zum Gefreiten Naser. »Naser, was ist los? Du stierst ja in ein Eck, als hätten die Hühner dein Brot gefressen. – Was schreibt deine Angelika?« Naser hatte sich erst vor ein paar Monaten ferntrauen lassen. Der Gefreite starrte weiter geradeaus und zischte zwischen den Zähnen hervor: »Aus ist’s! Alles vorbei, futsch, alles im Eimer! Alle Weiber soll der Teufel holen und die meine als erste.« Dieser Gefühlsausbruch wirkte etwas grotesk. Der Jungverheiratete Mann hatte offenbar recht absonderliche Ansichten. Ich entgegnete: »Erzähl doch keinen solchen Blödsinn, Naser. Du hast doch eine so hübsche Frau, auf die du stolz sein kannst.« »Ja, stolz sein – auf dieses – dieses liederliche Weib? Wissen Sie, was die mir geschrieben hat? Wissen Sie das?« Er holte Luft und fuhr sich in den Haaren herum. »Nein, das können Sie nicht wissen. – Aber da, da lesen Sie, was die hübsche Angelika, mein Engel, schreibt. Lesen Sie nur!« Mit diesen Worten warf er mir den Brief zu. Er sah zur Seite, preßte die Fäuste gegen die Schläfen und starrte vor sich hin. Widerstrebend nahm ich den Brief und las ihn. Seine Frau, 18 Jahre alt, war BDM-Führerin (Bund Deutscher Mädchen) und schrieb ihm, daß sie einen Freund habe. Sie sei eine junge, moderne Frau und wolle kein Mauerblümchendasein führen. Es sei aber nur Kameradschaft, sonst nichts. Und da sie für Ehrlichkeit sei, sage sie ihm das gleich selbst, bevor er es von anderer Seite erfahre und falsche Schlüsse ziehe. Sobald er wieder nach Hause komme, würde diese Freundschaft natürlich zu Ende sein, doch bis dahin müsse er Verständnis für sie haben. Sie liebe ihn wie am ersten Tag und sei stolz darauf, daß er an der Front so tapfer seine Pflicht erfülle. 8
Was sollte ich dazu sagen? Was ich dachte? Nein, das durfte ich auf keinen Fall wiedergeben. Ich wich daher aus. »Na, und? Kannst du deine Frau denn nicht verstehen? Sie schreibt doch ausdrücklich, daß sie dich liebt. Und warum soll es sich nicht um Kameradschaft handeln? Das gibt es doch, oder nicht?« »Kameradschaft!« äffte Naser nach. »Ich kenne meine Angelika besser. So was gibt es auf die Dauer zwischen zwei jungen Menschen nicht. Ins Bett wird sie mit ihm steigen, pfui Teufel! Ich bin kein Kind mehr, und blöd bin ich auch nicht, Herr Feldwebel. Bei mir verfängt diese Masche nicht – und Sie, Sie glauben ja selber nicht, was Sie da sagen. Der Teufel soll sie holen! Eine moderne Frau – ha, ha, eine billige Schnalle ist sie, und sonst nichts!« Ich versuchte Naser zu beruhigen. »Wirst sehen, Naser, wenn wir erst hier herauskommen und du wieder daheim bist, dann sieht alles ganz anders aus. Du verrennst dich da in etwas, was bestimmt nicht zutrifft.« Der junge Gefreite achtete anscheinend gar nicht auf meine Worte. »Ist mir doch alles ganz egal, ob wir heimkommen oder nicht. Ich weiß, was ich zu tun hab. – Mir ist alles wurscht, verflucht noch mal! Und gerade mir muß so was passieren.« Was sollte ich da nun sagen? Mit einem »Kopf hoch, Naser! Es wird alles wieder gut«, ging ich im Graben weiter. Der nächste Soldat mußte der Obergefreite Schmid sein. Er war mein ständiges Sorgenkind, und wenn es irgendwie ging, verschonte ich ihn mit zweifelhaften Unternehmen. Er war 42 Jahre alt und Vater dreier Kinder. Schmid lag im Graben und las in einem kleinen Buch. Als er mich bemerkte, steckte er das Büchlein sofort weg. Es war ein Gebetbuch. »Guten Morgen, Schmid. Mach ruhig weiter. Laß dich nicht stören. Auch ich bete manchmal. Der Krieg hat so manchen das 9
Beten gelehrt.« Schmid sah mir in die Augen, dann zog er das Buch wieder hervor. »Ich habe es seit der ersten Kommunion. Schauen Sie, es war einmal sehr schön. Es hatte einmal Goldschnitt. Jetzt ist es halt stark abgegriffen.« Während ich das Gebetbuch betrachtete, fuhr Schmid fort: »Vorgestern habe ich wieder einen Brief von meiner Frau bekommen. Auch ein Bild von meinen Kindern war dabei. Mögen Sie es sehen?« Schmid öffnete die Brusttasche und zog den Brief hervor. Ohne ein Wort zu sagen, reichte mir der Obergefreite das Schreiben. Im Schützengraben vorn kennt wirklich jeder den anderen. Man muß sich in die Augen blicken, kann nicht ausweichen, und das eigene Leben hängt sehr oft vom Nebenmann ab. Zwischen Soldaten an der Front gibt es daher kein Geheimnis. Das Bedürfnis, sich auszusprechen, sich alles von der Leber zu reden, ist groß. Da fallen alle Hemmungen, und so kommt es, daß jeder die intimsten Verhältnisse des anderen kennt. Während ich das Bild betrachtete, sagte Schmid: »Das Kleinste – es ist ein Mädel und acht Monate alt – habe ich noch gar nicht gesehen. Und meine Frau ist eine einfache Person und nicht so schön, wie manche sind.« Ich sah Schmid wieder an. Seit drei Wochen lagen wir nun hier und verpflegten uns mit Rindfleischkonserven und Knäckebrot. Pro Tag gab es eine Feldflasche voll Wasser. Wir waren ja von der Front abgeschnitten. Odessa befand sich bereits in russischer Hand. Verpflegung und Munition wurden aus Rumänien eingeflogen. Rasieren und Waschen war zum Luxus erklärt worden, und jeder von uns trug einen ziemlich langen, üppig wuchernden Bart. Ein Landser sah wie der andere aus, ganz gleich, ob er zwanzig oder vierzig Jahre alt war. Die Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in 10
den Höhlen und hatten allen Glanz verloren. Der Mund glich einem schmalen Strich, und es schien, als habe er nie lachen gelernt. »Schmid, du kannst stolz sein auf deine Frau – und auf deine Kinder. Was bedeutet schon Schönheit? Schönheit ist vergänglich, es ist besser, wenn eine Frau gut und liebenswert ist.« Schmid freute sich über meine Worte. In diesem Augenblick schien es, als verziehe sich des Soldaten Mund zu einem kleinen Lächeln, als husche ein Sonnenstrahl über seine Züge. Ich setzte das Gespräch fort. »Deine Frau gebraucht nicht einmal das Wort Liebe, und dennoch ist dieser ganze Brief eine einzige Liebeserklärung. Man spürt, daß das Herz die Feder führt. Da ist kein Wort gesucht und gekünstelt, sondern rein und wahr. Du kannst wirklich stolz auf deine Familie sein.« Plötzlich erlosch aller Glanz in den Augen Schmids. Sein Mund preßte sich zusammen. Er flüsterte nach einiger Zeit: »Was geschieht aber, wenn ich nicht mehr heimkomme, wenn ich falle? Was soll aus den Kindern werden, aus der Frau?« »Red bloß keinen Unsinn, Schmid. Jetzt ist es bei uns die drei Jahre hindurch gutgegangen, dann wird es wohl die paar Tage, die wir noch hier sind, auch noch klappen. Ich weiß es sicher: Wir werden demnächst herausgezogen und in der Heimat aufgefrischt. Das ist doch ein offenes Geheimnis und nicht einmal der Regimentler (Regimentskommandeur) hat widersprochen, als er deshalb angeredet wurde. Dann gibt’s aber ein Wiedersehen.« Schmid schüttelte müde mit dem Kopf und entgegnete: »Schön wäre es, wenn es wahr wäre. Aber ich glaube nicht daran. Wie oft sollten wir schon herausgezogen werden! Bis zum Bug hat es geheißen, dann bis zum Dnjepr, dann noch den Durchbruch durch die Krimenge bei Perekop, dann bis zum Kuban, und jetzt werden wir wieder ›herausgezogen‹. Nein, ich 11
glaub nicht dran. Wer einmal im Dreck liegt, der bleibt drin. Ich muß jetzt den VB (Vorgeschobener Beobachter) ablösen.« »Nein, Schmid, du bleibst da. Ich löse für eine Stunde ab. Da vorn, beim vorgeschobenen Beobachter, ist es jetzt sehr schön. Während dieser Zeit schreibst du deiner Frau einen netten Brief. Dann geht er abends noch zurück. Also, nach einer Stunde löst du mich ab. Verstanden?« »Vielen Dank, Herr Feldwebel«, antwortete Schmid. Eine sentimentale Stimmung durfte jetzt nicht aufkommen. Daher sagte ich barsch: »Quatsch kein dummes Zeug! Jawohl, Herr Feldwebel! heißt es – und sonst gar nichts. Schließlich sind wir immer noch Soldaten, Schmid, und keine Waschlappen. Hast du verstanden?« »Jawohl, Herr Feldwebel!« Ich machte im Graben kehrt und ging darin den Weg zurück, bis der Laufgraben zur vorgeschobenen Beobachtungsstelle abzweigte. Dies war eine vorgetriebene Sappe, die unmittelbar hinter dem Stacheldraht endete. Von dort aus konnte man die ganze eigene Stellung wunderbar überblicken. Der Feind war 800 Meter von uns entfernt. Am Tage herrschte bisher Ruhe. Darum hatte ich tagsüber auch nur einen Beobachtungsposten aufgestellt. Die Landser schliefen im Graben. Sie wachten nicht einmal auf, wenn man über sie – und dabei auch auf sie – trat. Ich löste den Obergefreiten Dietmann ab. Dieser meldete: »Ohne Neuigkeit. Der Iwan in den Gräben schläft wohl wie wir. Ruht sich aus für heute abend.« »Schon gut, Dietmann, ruhe dich auch etwas aus. Ich löse jetzt ab.« »Wissen Sie, Herr Feldwebel, was jetzt fehlt? Die Pulle Schnaps, die ich damals vom Chef organisiert habe. Jetzt ließe ich mich damit vollaufen. Zielwasser für heute abend.« Ich mußte lächeln. 12
»Nun hau aber ab. Ich habe nichts, was man organisieren könnte.« Die Geschichte, die Dietmann soeben erwähnte, hatte sich kurz nach Ostern ereignet, als wir, von Kertsch her kommend, in Sewastopol eintrafen. Der Russe kam vier oder fünf Tage später an. Der Chef, Oberleutnant Gehring, bekam damals vom Bataillonskommandeur eine Flasche echten französischen Kognak mit der Auflage, das Getränk aufzubewahren, bis der Herr General einmal die Stellung besuche. Dann sollte ihm ein Glas angeboten werden. Gehring versteckte die Flasche mit großer Sorgfalt, da ein alter Landser bekanntlich alles findet und »organisiert«. Eines Tages ging ich mit Gehring die Stellung ab. In einem Granattrichter saßen einige Landser, darunter Dietmann, der Oberorganisator. Sie tranken und waren sehr lustig. Als wir dazukamen, lud uns Dietmann zum Trinken ein und bot jedem ein Glas an. Gehring wollte ablehnen. »Nein, Kameraden, trinkt nur ihr. Ich bin froh, wenn es euch schmeckt.« Schließlich ließ er sich aber doch überreden, was ich ihm sehr dankte. Sonst hätte ich schließlich auch nichts annehmen dürfen. Genießerisch nippte der Oberleutnant an der Flüssigkeit und stellte dann fest: »Donnerwetter, ein guter Tropfen. – Wo habt ihr den bloß wieder organisiert.« Anschließend ließ er sich zu einem zweiten Glas überreden. Dietmann entgegnete listig: »Amtsgeheimnis, Herr Oberleutnant. Der würde dem Herrn General bestimmt auch schmecken.« »Ganz gewiß, Dietmann, Sie sind ein Kenner und ein Organisator wie selten einer. Laßt es euch weiterhin schmecken! Guten Morgen.« Kurz darauf wurde der Herr General angesagt. Oberleutnant Gehring sprach mit großen Tönen vom echten französischen Kognak, und der Herr General schnalzte in Erwartung des 13
Genusses schon mit der Zunge. Aber der Kognak war verschwunden. »Sie wollen sich wohl einen Ulk mit mir erlauben«, fragte der General ziemlich sauer. Gehring betonte immer wieder, daß er sich nicht vorstellen könnte, wo der Kognak sei. Er habe aber vom Elsaß her noch eine Flasche Mirabell, Selbstgebrannten. Wenn der Herr General mit so etwas vorliebnehmen wollte? Der Herr General beliebte, zu wollen. Als er aber den ersten Schluck im Mund hatte, verzog er das Gesicht. »Trinken Sie, Herr Oberleutnant«, befahl der Divisioner. Gehring tat es, und es verschlug ihm fast den Atem. Die Flasche war mit Wasser gefüllt! Ich konnte mir damals sofort zusammenreimen, woher der Kognak stammte und wo der Mirabell geblieben war. Der Herr General verbat sich energisch, als Zielscheibe für solche albernen Späße verwendet zu werden, und Oberleutnant Gehring wurde bei den nächsten Beförderungen vergessen. – Was so eine Flasche französischen Kognaks doch nicht alles heraufbeschwören konnte! Jetzt aber war ich auf Vorposten, allerdings zu einer sehr ruhigen Zeit. Nun war ich allein und konnte träumen. Ich blickte hinunter zum Schwarzen Meer. Es glänzte azurblau. Ich suchte die Wellen ab. Die Donau mündet in dieses südöstliche Meer, und meine Heimatstadt liegt an dem gleichen Fluß. Vielleicht waren Wellen dort drüben, die an meiner Heimatstadt vorbeigeflossen waren, ja, die meine Eltern vielleicht sogar betrachtet hatten. Ich wußte, daß solche Gedanken eigentlich kindisch waren. Als Soldat aber, fern der Heimat, ist man aber für jeden Gruß dankbar und klammert sich praktisch an jeden Strohhalm, zumal wir zum Teil seit mehr als zwei Jahren keinen Urlaub mehr hatten.
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Ich nahm nun das Fernglas und sah wieder zum Russen hinüber. Alles war ruhig. Wäre der Boden nicht zerwühlt und die Baumkronen abgesplittert gewesen, man hätte sich im tiefsten Frieden wähnen können. Ich langte in meine Tasche und zog ein Stück Knäckebrot hervor. Es war knochenhart und roch nach Schimmel. Wie gut wäre jetzt ein Stück trockenes schwarzes Hausbrot gewesen. Bei mir meldete sich das Gewissen. In meiner Knabenzeit kam ich einmal hungrig vom Spielplatz heim. ›Mutter, ich habe Hunger‹, schrie ich schon an der Tür. Meine Mutter schnitt eine dicke Scheibe Brot ab und reichte sie mir. ›Was, keine Butter, keine Marmelade‹, sagte ich empört und warf das Brot auf den Tisch. Da schaltete sich der Vater ein. ›Bub, denk an diese Minute. Denk daran, wenn du einmal froh um ein Stück trockenes Brot wärest.‹ Das war einer Antwort nicht würdig. Wofür besuchte ich eine höhere Schule? Gehorchten mir nicht 100 Jungen? Und dann sollte ich mir einmal kein Brot kaufen können? Zu lächerlich, solche Gedanken. Jetzt dachte ich wieder daran. Wie froh wäre ich jetzt um jenes Stückchen Brot gewesen, das ich damals achtlos beiseite warf. Wieder nahm ich das Fernglas und beobachtete. Es war ruhig wie vorher. Ich lehnte mich daher behaglich an den Grabenrand und zog das Hemd aus. Um es ganz kurz zu sagen: Ich suchte Läuse. Davon hatten wir mehr als genug, und in einer Minute brachte ich es auf 40 sogenannte »Abschüsse«. Dabei war ich aber keineswegs Rekordhalter in unserem armseligen Haufen. So verging die Stunde, und der Obergefreite Schmid stand plötzlich vor mir. Nach dem üblichen Palaver gab er mir den Brief, den er tatsächlich geschrieben hatte. Ich nahm den Feldpostzettel mit nach hinten. Kaum war ich 100 Meter von der Stellung entfernt, als ich den Abschuß eines 16
Granatwerfers hörte, gefolgt von dem kurzen, gefährlichen Rauschen. Dieser Abschuß mußte ganz in der Nähe niedergehen. Das konnte man leicht feststellen. Es gab nur eines: Flach auf die Grabensohle werfen. Kaum hatte ich den Boden berührt, als das Geschoß auch schon detonierte. Ich wartete kurze Zeit. Doch es folgte kein weiterer Abschuß mehr. Der Russe wollte sich wohl nur in Erinnerung bringen. Es war wahrscheinlich eine blind in die Gegend gesetzte Granate gewesen. Der Rauchpilz stand aber direkt über unserer B-Stelle. Was war mit Schmid? Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Geduckt eilte ich im Graben wieder nach vorn, um zur BStelle zu kommen. Von weitem schon rief ich nach Schmid, erhielt aber keine Antwort. Nach kurzer Zeit stand ich vor dem Obergefreiten. Er lag auf dem Rücken und röchelte. »Was ist los, Schmid?« sagte ich entsetzt. Er lallte unverständliches Zeug und zeigte mit dem Finger in den Mund. Ein Splitter hatte ihm den Nackenwirbel durchschlagen. Das Sprengstück war vom Mund aus eingedrungen und hatte die Kiefer zerfetzt. Erneut gab Schmid gurgelnde Töne von sich und zeigte mit dem Finger auf die Feldflasche. Er hatte Durst. Ich nahm meine Feldflasche, öffnete sie und setzte sie ihm an den bluttriefenden Mund. Schmid versuchte zu trinken. Das Wasser rann ihm aber an den Mundwinkel wieder heraus. Ich rief nach zwei Männern mit einer Zeltplane. Wir mußten den Kameraden sofort zurückbringen. »Nun hast du es geschafft, Schmid. Jetzt kommst du heim, ein schöner Heimatschuß.« Ich kam mir bei dieser Lüge ganz erbärmlich vor; denn ich wußte, daß er diese Verletzung nicht überstehen würde. Sein Gesicht wirkte schon wächsern und spitz. Ich hatte einen 17
Kameraden angelogen, mit dem ich schon manche Zigarette gemeinsam rauchte, wenn wir kaum mehr etwas hatten, mit dem ich manches Feldpostpäckchen teilte. Ich log einen Mann an, der immer offen und ehrlich zu mir war. Konnte ich ihm aber die volle Wahrheit sagen? Nein, denn die Wahrheit kann grausamer sein als eine milde Lüge. Wir schleppten den Verwundeten zurück. Wenn wir an einen Stein stießen oder an die Grabenwand streiften, stöhnte der Obergefreite vor Schmerz auf. Als wir eine Rast einlegten, verlangte er wieder nach Wasser. Wieder setzte ich ihm die Flasche an die Lippen, aber auch diesmal rann ihm das Naß an den Mundwinkeln entlang. Endlich erreichten wir den Kompaniegefechtsstand. Es war dies der einzige Bunker im ganzen Kompanieabschnitt. »So, Schmid, jetzt ruhst du dich aus. Am Abend kommt der Arzt, dann bringen wir dich zurück.« Ich wußte, daß es wieder eine Lüge war. Der Arzt konnte erst bei Einbruch der Dunkelheit nach vorn kommen, wenn er nicht woanders benötigt wurde. Für das ganze Bataillon war nur ein einziger Arzt da; für vier Kompanien also, die täglich Verluste hatten, gab es nur einen, der in schweren Fällen helfen konnte. Aber selbst dann, wenn der Arzt gleich zu uns gekommen wäre, hätte Schmid trotzdem keine Chance mehr gehabt. Mit Schrecken stellte ich fest, daß Schmid plötzlich blau anlief. Die Augen quollen heraus, und die Halsschlagader schwoll prall an. Der Schwerverletzte rang nach Atem, verdrehte grauenhaft die Augen. Er würde sicher ersticken, wenn nicht sofort Hilfe kam. Irgendwie fühlte ich mich mitschuldig. Ich hatte die Verwundung gesehen und ihm trotzdem Wasser gegeben. Ich hätte wissen müssen, daß es den Schmutz und das Blut in den Hals des Verwundeten spülen würde, daß Schmidt daran ersticken konnte. Warum hatte ich nicht daran gedacht, 18
warum? Ich mußte nun retten, was noch zu retten war und klemmte dem Verwundeten den Mund auf. Mit dem Finger versuchte ich das geronnene Blut und die Erde aus seinem Schlund zu bekommen. Doch alles war umsonst. Schmid rang keuchend nach Luft. Er lag auf dem Rücken. Auch das war nicht richtig. Um diesen Fehler zu korrigieren, drehte ich ihn auf den Bauch, hob ihn etwas hoch und ließ ihn fallen. Vielleicht lockert sich die Luftfessel doch. Der rasende Schmerz, den er nun verspürte, war ebenfalls umsonst. Mit letzter Kraft drehte sich der Obergefreite wieder auf den Rücken. Mit klammen Fingern tastete er an die Brusttasche, konnte den Knopf aber nicht öffnen. Ich wußte, was er wollte. Daher öffnete ich ihm den Knopf und zog das Bild heraus. Seine Hand zerknüllte das Bild. Mit der anderen tastete er an seinen Hals. Er trug dort ein Medaillon, das einst seinem Vater gehört hatte. Nachdem dieser bei Arras gefallen war, hatte man es an seine Mutter zurückgeschickt. Seitdem trug Schmid das Medaillon. Jetzt führte ich ihm die Hand zu dem kleinen Gebilde. Mit letzter Kraft drückte er beide Hände zusammen, nachdem er das Kettchen abgerissen hatte. Langsam drehte er den Kopf und sah mich an. ›Hilf mir doch!‹ flehten seine Augen. Ich konnte es nicht, und ich spürte, wie es mir heiß in die Kehle stieg. Nie werde ich diesen Blick vergessen können. Plötzlich entspannte sich sein Körper. Die Verkrampfung fiel von ihm ab, und es schien, als wollte er lächeln. Ob er wohl seine Familie noch einmal vor sich sah? Dann bäumte er sich auf, und seine Arme sanken kraftlos an den Seiten herab. Bild und Medaillon glitten zu Boden. Der Obergefreite Schmid war tot! Ich rannte aus dem Bunker und auf den MG-Stand zu. Einen ganzen Gurt jagte ich hinaus. Irgendwohin, ziellos. Ich mußte 19
mir Luft verschaffen. Wie haßte ich in diesem Augenblick die Dichter. – »Eine Kugel kommt geflogen, trifft ins Herz.« Der Soldat schreit »Hurra, Viktoria!« und fällt tot um. So ist es in der Poesie. Die Wirklichkeit aber ist ganz anders. Der Heldentod ist nicht süß; nein und nochmals nein. Ich habe es erlebt, Jahre hindurch. Lagen wir auch noch so im Dreck, wir kämpften nur um das Leben; um das nackte Leben und nicht für Ideale, an die man in solcher Situation gar nicht denkt. Es ist ein Witz, wenn ein Dichter die Menschheit glauben machen will, daß es schön sei, zu sterben. Es ist grauenhaft, langsam zu ersticken, das Schicksal der ganzen Familie vor Augen, bei vollem Bewußtsein bis zum letzten Atemzug. Warum sagte man nicht die Wahrheit? Warum schmälert man durch Verschleierungen das tatsächliche Opfer der Gefallenen? Sicher bekam auch Frau Schmid einen Brief, in dem schwarz auf weiß stand, daß ihr Mann einen schnellen, schönen Soldatentod für Führer, Volk und Vaterland gestorben sei. Damals konnte ich auch nicht mehr an den Gott der Kinderjahre glauben, an den gütigen, allmächtigen, verstehenden und verzeihenden Gott. Warum ließ er das alles zu? Schmid hatte gebetet, seine Frau und die Kinder sicher auch. Er aber hatte nicht geholfen. Bei mir aber meldete sich die Stimme wieder, die mich schon so oft quälte, die immer mahnte: »Auch du, Peter Sturm, bist bald an der Reihe. Du hast viele sterben sehen, auch an dir geht der Kelch nicht vorbei. Jetzt kommst du an die Reihe, es wird nicht mehr lange dauern …« Ich wehrte mich dagegen und machte mir selbst Mut: Ich will nicht sterben, ich habe sogar Angst davor. Eine Frau wartet auf mich und ein Kind, das ich allerdings noch nicht gesehen habe. Wir nannten den Jungen Wilfried, was »der den Frieden Wünschende« heißen könnte. Auf mich warteten Vater 20
und Mutter und Bruder und Schwester … Die Stimme blieb unerbittlich. Auch Schmid hatte Frau und Kinder. Auch er mußte sterben und wollte leben. Du machst keine Ausnahme, auch du nicht, Feldwebel Sturm. Bald bist du dran, es gibt da nichts anderes. Der Heldentod, der süße, ist auch dir sicher. Keiner entgeht ihm, der zu eurem Haufen gehört! Da wurde nach mir gerufen: »Feldwebel Sturm – zum Kompaniegefechtsstand.« Richtig, ich hatte ja meine Meldung noch nicht gemacht. Noch einmal suchte ich mit meinem Fernglas das Vorfeld ab. Ich suchte den verwundeten Russen. Er lag jetzt still da und rührte sich nicht mehr. Er hatte ausgelitten. Auch er brachte das größte der Opfer für sein Mütterchen Rußland. Auch seine Frau oder seine Mutter werden einen gut und eindrucksvoll formulierten Brief vom Heldentod ihres Mannes oder des Sohnes erhalten. Langsam ging ich zum Gefechtsstand, und meine quälenden Gedanken begleiteten mich. »Feldwebel Sturm meldet sich zur Stelle.« Mit einer Handbewegung lud mich der Oberleutnant ein, auf einer Munitionskiste Platz zu nehmen. »Wieviel Tote hat der Russe?« fragte Oberleutnant Gehring. »Ungefähr fünf liegen vor meinem Abschnitt.« »Und in den Granattrichtern? Sie haben doch auch mit Gewehrgranaten geschossen? Glauben Sie, Sturm, daß in den Trichtern welche liegen?« forschte Gehring weiter. »Möglich. Ich kann aber nicht hineinsehen.« »Gut, dann notiere ich bei Ihnen zehn tote Russen.« So ging es auch bei den anderen Zugführern und den Kompanien zu. Jede wollte die größten Erfolge haben. Das steigerte sich über das Bataillon zum Regiment und zur Division. Überall wurde aufgerundet, und am Ende waren mehr Russen gefallen als angegriffen hatten. 21
Nun mußte ich die Munitionsbestandsmeldung machen und wurde wieder ermahnt, zu sparen und nochmals zu sparen. Sonst stünden wir in kurzer Zeit ohne Munition da. »Sie wissen«, betonte Gehring mit ziemlichem Nachdruck, »der Führer hat befohlen, Sewastopol unter allen Umständen zu halten. Wir müssen auf die Türkei Rücksicht nehmen. Verstehen Sie das?« »Jawohl, Herr Oberleutnant. Bitte mich abmelden zu dürfen.« »Nur nicht so eilig, lieber Sturm.« Wenn Gehring diese Redeweise gebrauchte, dann mußte man sich auf etwas gefaßt machen. Es war meistens kein gutes Omen. Er schnaufte einige Male, sah an mir vorbei und begann dann: »Wir haben einen Sonderauftrag des Bataillons durchzu führen. Letzte Nacht hat sich vor der Stellung der vierten Kompanie ein feindliches Maschinengewehr eingenistet. Diese Stellung können wir nicht einsehen. Sie liegt auf der anderen Seite des ›Herzogstandes‹. Sehen Sie den Giebel dort drüben? In der Hausruine ist das MG. Wir können den ›Herzogstand‹ umgehen, ohne einge sehen zu werden, dann kommen wir den Russen in den Rücken. Eine Verbindung zur eigenen HKL (Hauptkampflinie) hat der Vorposten offenbar noch nicht. – Daher hat das Bataillon befohlen, daß wir heute nacht den Posten ausheben. – Das machen Sie, Sturm, und es muß klappen. – Noch eine Frage?« »Jawohl, Herr Oberleutnant. Sicher greift in der Nacht der Russe an. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß wir in den Angriff hineinlaufen. Das aber wäre verdammt ungemütlich.« »Schließlich hat die Vierte den Iwan hereingelassen. Da sollte sie eigentlich auch zusehen, wie sie ihn wieder hinausbringt. Ich habe wirklich keinen Ehrgeiz, den Retter zu spielen, Herr Oberleutnant. Ich verzichte auf ein 22
Himmelfahrtskommando. Wir haben sowieso fast keine Leute mehr.« Der Kompaniechef unterbrach mich durch eine ungeduldige Handbewegung. »Es ist ein Befehl vom Bataillon, Feldwebel Sturm. Haben Sie das verstanden und begriffen? Sie suchen sich fünf Leute aus, damit basta. Um 15 Uhr Meldung bei mir. Bei Einbruch der Dunkelheit geht’s ab. Da sitzt der Russe noch in seinem Graben. – Sie können gehen.« »Zu Befehl, Herr Oberleutnant.« Ich grüßte und verließ den Gefechtsstand. Fünf Mann sollte ich bestimmen! Aber wen sollte ich da auswählen? Die Möglichkeiten hierzu waren nicht besonders groß. Vielleicht meldeten sich Freiwillige. Ich dachte immer noch an das bevorstehende Unternehmen, als ich den Zug in einem Bombentrichter sammeln ließ. Ich schilderte ihnen kurz die Lage und stellte dann die bei solchen Gelegenheiten schon zur Routine gewordene Frage: »Wer meldet sich freiwillig? Ich verspreche, daß jeder das EK (Eisernes Kreuz) bekommt. – Also, wer macht mit?« Schweigen. Betretene Gesichter. Nur einer meldete sich. Es war der Gefreite Naser. »Kommt nicht in Frage, Naser«, sagte ich sofort, »ich möchte mit den fünf Mann lebend zurückkommen, denn ich kenne deine Gründe. Hätte nie geglaubt, daß du mit solch einer Lappalie nicht fertig wirst. Auch deiner Frau ist mit einem toten Helden nicht geholfen. – Also, niemand sonst?« Ich hatte es geahnt: Es meldete sich keiner mehr! Noch einmal versuchte ich es. »Männer, jeder der mitgeht, bekommt das EK. Das verspreche ich. – Also? Niemand?« Krönninger meldete sich zu Wort. »Herr Feldwebel, wenn wir müssen, dann gehen wir, das ist klar. Freiwillig aber nicht. Das mit dem Orden zieht nicht mehr. Lieber kein EK und auch kein Eisen im Kreuz. Ich habe das Eiserne Kreuz, aber ich 23
werde es bald in die Tasche stecken. Schauen Sie die Landser da an! Seit Jahren stehen sie im Dreck, und das EK haben sie immer noch nicht. Dafür tragen es die Hitlerbuben in der Heimat. Also, darauf sind wir bestimmt nicht scharf. Freiwillig geht keiner. Der Naser ist ein Rindvieh, wenn er sich meldet.« Mir blieb daraufhin keine andere Wahl, und ich bestimmte fünf Mann. Dann entließ ich meine Leute. Auch ich suchte meine Höhle auf, um etwas zu ruhen. Der Schlaf mied mich aber, obwohl ich zum Umfallen müde war. Meine Gedanken gingen nach Hause, zu Frau und Kind. Liebte ich meine Frau? Ich wußte es nicht. Ich hatte sie geheiratet und kannte sie kaum. Bald konnte ich sie mir nicht mehr richtig vorstellen. Vorher war ich mit meiner Jugendliebe verlobt. Wir liebten uns ehrlich und gelobten, nie voneinander zu lassen. Sie schrieb mir täglich. Ich redete sie in meinen Briefen mit den zärtlichsten Ausdrücken an. Dann wurde ich verwundet und kam zum Ersatztruppenteil. Anläßlich einer Truppenbetreuung lernte ich die Sängerin Beate Kieser kennen. Im Auftrage des Unteroffizierskorps überreichte ich ihr einen Rosenstrauß. Sie lud mich zu sich nach Würzburg ein, und ich folgte der Einladung. Sie war sehr hübsch, konnte raffiniert flirten und hatte freche, spitzbübische Augen. Sie lächelte immer. Ich war nur leicht verwundet und wußte, daß ich bald wieder an die Front versetzt würde. So nutzte ich die Gelegenheit. Wer wußte, ob ich je noch einmal heimkommen würde. Die Briefe meiner Verlobten blieben eben ein paar Tage liegen. Sie wußte schließlich nichts von der ganzen Geschichte. Und übrigens würde sie mir verzeihen. Das glaubte ich bestimmt. Also verbrachte ich die drei Tage bei Beate. Frontsoldaten dachten in solchen Dingen eben anders. An das, was anschließend geschah, hatte ich natürlich nicht gedacht. Als ich längst wieder an der Front war und meiner Verlobten Briefe schrieb, dachte ich gar nicht mehr an jenes Mädchen. Es 24
war ein nettes Intermezzo gewesen, mehr aber nicht. Ein Brief meines Vaters belehrte mich allerdings eines anderen. Er teilte mir in kurzen Worten mit, daß sich ein Fräulein Kieser aus Würzburg an ihn gewandt habe. Sie sei schwanger und ich der Vater. Das Kind solle aber einmal nicht für meinen Leichtsinn büßen müssen. Wenn ich Charakter hätte, dann müßte ich auch die Konsequenzen ziehen. Anderenfalls hätte ich von ihm nichts mehr zu erwarten. Ich weigerte mich nicht, die Konsequenzen zu ziehen, hatte aber auch nicht den Mut, den Sachverhalt meiner Verlobten zu erklären. Nur eine Frage machte mir zu schaffen: Wo hatte das Mädchen meine Heimatadresse her? Ich hatte sie ihr nicht gegeben. Also ließ ich mich ferntrauen. Damit hatte ich eine Frau geheiratet, die ich fast nicht kannte. Ob ich sie überhaupt erkennen würde, wenn sie mir wieder entgegentrat? Aber ich liebte Kinder. Und in unserem Kind glaubte ich die Mutter zu lieben. Zumindest redete ich mir das so lange ein, bis ich es selber glaubte. Meine Verlobte, eine Lehrerin, gab mich frei. Meine Eltern hatten sie unterrichtet. »Möge dich der Herrgott schützen«, schrieb sie in ihrem letzten Brief, »vergessen werde ich dich nie.« In Wahrheit baute ich mir ein Kartenhaus auf. Denn ich würde Beate nie lieben können. Ein Bild des Kindes, eines Jungen, trug ich immer bei mir. Es war ein drolliger blonder Kerl, und er war mein Sohn. Ich freute mich darauf, einmal mit ihm spielen zu können. Er sollte ein guter Fußballer werden. Endlich übermannte mich der Schlaf. Ich war wie zerschlagen, als ich geweckt wurde. Es war bereits 14 Uhr. Eine halbe Stunde später kamen die zum Stoßtrupp bestimmten Männer zu mir. Wir besprachen nochmals alles, und ich zeigte ihnen im Gelände den Weg, den 25
wir wählen sollten. Schweigend hörten die Männer zu. Dann gingen wir zum Kompaniegefechtsstand. Auch Oberleutnant Gehring erklärte nochmals die Lage. Er war vom Erfolg des Unternehmens voll überzeugt. Wir waren das allerdings nicht. Was machte es dem Russen schon aus, wenn er einen oder zwei Mann verlor, ja, wenn er sogar das Maschinengewehr einbüßten sollte? Solange wir die Hausruine nicht besetzen konnten, war alles Unsinn. Und das konnten wir – schon rein zahlenmäßig – in der Tat nicht. Mir war es schon jetzt klar, daß am anderen Tag wieder ein Maschinengewehr dort stehen würde. Sollte es aber bei uns schiefgehen, dann konnte das verheerende Wirkungen haben. Wir waren auf jeden Mann angewiesen, und selbst leichtverwundete Soldaten mußten an der Front bleiben. Gehring ließ sich nun mit dem Bataillon verbinden. Dabei schmunzelte er etwas und sagte in seinem schwäbischen Dialekt: »Soldätle, jetzt werdet ihr was hören.« Er legte anschließend den Telefonhörer in das Kochgeschirr und gebot Ruhe. Der Kommandeur hatte Schallplatten und einen Plattenspieler organisiert und gab nun ein kleines Konzert. Angespannt lauschten wir den Tönen. Fast eine halbe Stunde dauerte das unverhoffte Vergnügen. Die »Lili Marlen« erklang ebenso wie das Auftrittslied des Vogelhändlers, Millöckers »Gasparone« und am Schluß der »Gefangenenchor« aus Nabucco. Sollte letzteres etwa einem gewissen Omen gleichen? Als die Musik verklungen war, wurde es ernst. Wir mußten die Soldbücher abgeben und die Auszeichnungen ablegen. Auf mich wirkte dieses Zeremoniell irgendwie beklemmend. Man war auf einmal soviel wie nichts mehr, wenigstens äußerlich. Außerdem waren diese Vorsichtsmaßnahmen zur Geheim haltung der Einheitsnummer völlig sinnlos. Der Russe wußte über unsere Bewegungen ohnehin immer früher Bescheid als wir. Als wir beispielsweise in Sewastopol eintrafen – etwa eine 26
Woche nach Ostern – und der Russe etwas später folgte, begrüßte er uns gleich mit folgender Lautsprecherdurchsage: »Soldaten der 73. Division! Wir sind wieder da. Diesmal entkommt ihr uns aber nicht. Kommt herüber zu uns! Wir haben eure Osterpakete für euch aufgehoben. Ihr könnt sie bei uns in Empfang nehmen.« Dann folgten meist namentliche Aufforderungen zum Überlaufen. Der Russe war also sehr wohl über den Gegner orientiert, so daß die auch jetzt wieder praktizierten Tarnungsmanöver angesichts dieser Sachlage lächerlich und – zumindest auf mich – eher deprimierend wirken mußten. Ich legte nun den Stahlhelm ab und setzte die Feldmütze auf. Das hatte nichts mit Angeberei zu tun. Mit dem Stahlhelm kann man nämlich sehr schlecht kriechen, denn er rutscht immer vor die Augen. Man kann damit auch sehr schlecht hören, denn es rauscht andauernd in den Ohren, als stünde man neben einem Telegrafenmast. Wir mußten uns aber vor allem auf das Gehör verlassen. Sehen konnte man im Moment noch ziemlich gut, aber nicht mehr so weit, daß uns der Russe sofort hätte ausmachen können. Ich teilte nun den Männern ihre Aufgaben zu. Zwei Mann hatten nach rechts, zwei nach links und einer nach hinten zu sichern. Ich wollte mich an der Spitze bewegen und nach vorn beobachten. Trotz der zunehmenden Dunkelheit mußten wir untereinander in Sicherheitsverbindung bleiben. Jedes Geräusch hatte zu unterbleiben. Der Rückweg mußte so schnell wie möglich erfolgen. Ich entschloß mich daher, nach dem Überfall ohne Deckung auf unsere Stellung zuzulaufen. Wir hatten dazu ungefähr 500 Meter zurückzulegen. Das mußte in kürzester Zeit zu schaffen sein. Diese Zeitspanne benötigte sicher auch der Russe, bis er begriff, was geschehen war. Immer vorausgesetzt allerdings, daß alles nach Plan klappte. Einen zusätzlichen Posten stellte ich an den Eingang zur Minengasse, damit wir nicht lange 27
suchen mußten. Der Mann hatte sich dann bei Anruf zu melden. Wir verglichen die Uhren. Handgranaten steckten im Koppel, die Maschinenpistolen waren durchgeladen und die Reservemagazine gefüllt. Noch fünf Minuten! Ich holte das Bild meines Jungen hervor und das Familienfoto, das mich mit Eltern und Geschwistern zeigte. Ob ich sie je noch einmal Wiedersehen werde? Aber vielleicht klappte es auch diesmal, denn schließlich war ich dem Tod schon unzählige Male von der Schippe gesprungen, wie man so schön zu sagen pflegte. Nochmals klopfte ich jedem meiner Männer auf die Schultern, zeigte mich guten Mutes und siegessicher, obwohl ich das innerlich gewiß nicht war. Ich bebte vor Aufregung. Oder war es Angst? Ich wußte es nicht. Nur allmählich überkam mich wieder jene grausige Routine, die in der Maxime gipfelte: ›Töten – du oder ich!‹ Endlich war es soweit. Die Nachbarkompanien waren verständigt. Es durfte keine Leuchtkugel geschossen werden. Ein einziger Nervenversager konnte alles aufs Spiel setzen, eine einzige Leuchtkugel den ganzen Plan scheitern lassen. Die feindliche Stellung war jetzt nicht mehr zu erkennen. In Reihe gingen wir durch den Schützengraben und bekamen aufmunternde Worte, Wünsche für das Gelingen des Unternehmens und auch blöde Scherze zugerufen. Nachdem wir den Graben verlassen hatten, gingen wir geduckt bis zum Stacheldraht vor. Dort nahm ich den Führungsdraht in die Hand, und einer nach dem anderen folgte mir. Es ist immer wieder ein sonderbares Gefühl, allein zwischen den Fronten zu sein, ohne den schützenden Graben, ohne die Kameraden neben sich. Jetzt waren wir ganz auf uns angewiesen. Noch schlichen wir geduckt vor, doch nach ungefähr 100 Metern mußten wir zum Kriechen übergehen. Wir konnten 28
einander noch schemenhaft sehen und uns durch Zeichen verständigen. Gute 300 Meter lagen noch vor uns. Totenstille! Kein Schuß fiel! Jetzt mußten wir um den Hügel herum. Wir gingen zu Boden und begannen zu robben. Von unserer Seite konnte uns nun nicht mehr geholfen werden. Wir waren in einem toten Winkel. Dafür konnte der Russe uns jederzeit unter Feuer nehmen. Wir schoben uns jeweils einige Meter vor und lauschten dann wieder. Die Ruhe zerrte furchtbar an den Nerven. Sollte der Iwan (Spitzname für Russen) wirklich schon so früh angreifen? Wenn nur einmal ein feindliches MG schießen würde! Dann wüßte ich wenigstens, daß der Russe noch in den Stellungen war. Wenn er angriff, konnte er nicht schießen, das war klar. Er würde sonst die eigenen Leute gefährden … Aber der Russe schwieg immer noch! Wieder gewannen wir ein paar Meter als ich ein verdächtiges Rascheln hörte. Ich gab sofort das Zeichen, volle Deckung zu nehmen. Die anderen hatten es ebenfalls gehört. Ich bekam ein Zeichen und erwiderte es. Jetzt hörte ich das Geräusch ganz genau. Jeder Muskel war angespannt. Sollte es ein russischer Spähtrupp sein? Oder begann der Iwan etwa schon mit dem Angriff? Wenn es ein Spähtrupp war, dann durfte er uns nicht bemerken. Wir mußten ihn vorbeilassen. Auf dem Rückweg war dann allerdings größte Vorsicht geboten. Immer näher kam das Geräusch, unmittelbar auf uns zu. Wie laut das Herz wieder pochte! Man mußte das doch auf Meter hin hören. Obwohl ich den Atem fast anhielt, wurde es einfach nicht besser. Das seltsame Kratzen wurde nun immer deutlicher. Da schob ich die Maschinenpistole vor und zog den Sicherungsflügel aus der Raste. Das leise Trippeln und Brechen von Gräsern war nun schon 29
überdeutlich zu hören. Wieder einmal wünschte ich mir, in die Erde hineinkriechen zu können. Wenn nur die anderen jetzt die Nerven behielten! Ganz nahe war jetzt das Rascheln. Mein rechter Finger lag am Abzug. Hoffentlich hatte die MPi keine Ladehemmung. Daran krankte sie nämlich andauernd. Jetzt mußte ich schießen. Noch einen Augenblick – und vorüber trippelte eine Igelfamilie, kaum zehn Zentimeter an meiner Nase vorbei. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Mein Atem ging auf einmal wieder ruhiger, mein Herz pochte wieder normal und nicht mehr so verrückt wie vorhin, wo ich seinen Schlag bis zum Hals hinauf gespürt hatte. Langsam, jedes Geräusch vermeidend, arbeiteten wir uns weiter vor. Nur ruhig bleiben, keinen Fehler begehen … Verflucht, da schoß doch so ein Idiot eine Leuchtkugel! Auch der Russe feuerte jetzt einen Leuchtsatz in den Nachthimmel, was mir allerdings gar nicht so unangenehm war. Jetzt wußte ich wenigstens, daß der Feind noch drüben in seinen Löchern saß. Wir konnten uns nun auch etwas schneller bewegen, denn wir hatten nur noch auf den Gegner in der Hausruine zu achten. Es war inzwischen wieder ruhig geworden. Eine lähmende Stille hatte sich über das Niemandsland gebreitet. Noch 100 Meter – noch 75 – noch 50…! Deutlich sah ich jetzt die Ruine vor mir. Vom Grabenrand hoben sich die schattenhaften Umrisse von drei Soldaten ab. Sie standen aufrecht da, ohne jede Deckung, rauchten und palaverten. Einige Meter von ihnen entfernt ragte die Hausruine in die Höhe. Die Rotarmisten mußten zur Bedienung des MG gehören. Also mußte auch das Maschinengewehr irgendwo in der Nähe stehen. Ein Russe sprang in das Erdloch oder in den Graben. Ich wußte nicht, was sie da als Deckung angelegt 30
hatten. Mit einer brennenden Zigarette und einem weiteren Russen kam er kurz darauf wieder nach oben. Der Gegner hatte uns offenbar schon völlig abgeschrieben, nachdem er sich dermaßen sorglos benahm. Im Augenblick konnte mir das freilich nur recht sein. Meter um Meter kamen wir näher heran. Es waren vielleicht noch 30 oder weniger Meter bis zur feindlichen Stellung. Ich ließ meine Männer nachkommen. In einer dünnen Linie schoben wir uns weiter vorwärts. Nur jetzt keine Leuchtkugel! Das wäre unser Verderben gewesen! Noch näher glitten wir an die Feindstellung heran. Gleich der erste Feuerüberfall mußte klappen. Zu einem zweiten Versuch durfte es nicht kommen. Der Gegner sollte keine Gelegenheit zu einem Feuerwechsel erhalten. Hoffentlich erfüllte jeder meiner Männer die ihm zugewiesene Aufgabe, wie es vorher abgesprochen worden war. Die Russen plauderten und lachten immer noch. Ich zog eine Handgranate aus dem Koppel und hob sie hoch. Hoffentlich sahen es meine Männer. Dann ließ ich deutlich hörbar den Spannschieber der MPi aus der Sicherungsraste in den Anschlag schnellen. Die Männer mußten das hören und das Zeichen verstehen. Jetzt galt es nur noch, ruhig zu bleiben; so schwer das auch fallen mochte. Auf diese Entfernung konnte normalerweise nichts mehr schiefgehen. Ich schob mich auf die Knie, legte an und gab den ersten Feuerstoß ab. Fast im gleichen Augenblick ratterten die fünf anderen Maschinenpistolen los. Die Rotarmisten hatten keine Chance. Es war furchtbar. Soeben hatten sie noch gelacht. Und dann war der Tod über sie gekommen, von einer Sekunde zur anderen. Wir warfen noch Handgranaten; jeder drei. Mehr hatten wir nicht mitgenommen. 31
Sie waren beim Kriechen zu hinderlich. Ich benutzte meistens nur Stielhandgranaten. Da war der Zünder besser gesichert. Bei den Eierhandgranaten dagegen drang leicht Feuchtigkeit in den Zünder, und bei der geringsten Verrostung brannte dieser dann im entscheidenden Moment nicht durch. Die Handgranaten detonierten, und der Lärm brandete wie ein Donnerschlag durch die Luft. Splitter flogen uns um die Ohren. Vielleicht waren auch Teile des Maschinengewehrs dabei. Wir durften jetzt keine Zeit mehr verlieren. Ich brüllte meinen Männern den Befehl zum Zurücklaufen zu, und wir rannten ohne jede Deckung unserer Stellung entgegen. Wie lange doch 500 Meter sein konnten! Keuchend hasteten wir durch die Nacht, jeden Augenblick einer hinter uns herpeitschenden Garbe gewärtig. Ich stieß in der Nähe unserer Stellung das Kennwort hervor, und ganz in meiner Nähe wurde geantwortet. Beim Posten wartete ich auf die anderen. Es dauerte nicht lange, bis sie herangehastet kamen. Einer nach dem anderen nahm den Führungsdraht in die Hand. Dann ging es zu unseren Schützengräben und unseren Kameraden zurück. Wir wurden freudig begrüßt, wie man sich vorstellen kann. Als wir auf dem Weg zum Gefechtsstand waren, fing ein russisches MG zu hämmern an. Von unserer Seite wurde sofort geantwortet, und innerhalb kurzer Zeit erstreckte sich der Feuerwechsel auf die ganze Front. Das war freilich nichts Neues, sondern etwas durchaus Übliches in solchen Fällen. Dutzende von Leuchtkugeln stiegen hoch und tauchten das Gelände in kaltes, fahlweißes Licht. Überall war jetzt die Hölle los. Leuchtspurgeschosse schwirrten wie wildgewordene Hornissen umher. Granatwerfergeschosse detonierten mit platschenden Geräuschen. Obwohl der Feind nun von seiner Stellung aus auf unsere 32
Gräben feuerte, waren wir dennoch irgendwie zufrieden. Denn die Schießerei ließ immerhin darauf schließen, daß der Russe noch in seinen Stellungen lag. Es war aber immer noch nicht 20 Uhr, und der Feind hatte also immer noch Zeit, uns anzugreifen. Geschah das nicht, dann wäre es seit drei Wochen die erste ruhige Nacht für uns. Wir wagten kaum, uns das vorzustellen. Im Gefechtsstand meldete ich den Erfolg des Unternehmens. Die Soldbücher und die Auszeichnungen wurden uns wieder ausgehändigt. Das Abnehmen der Soldbücher zum Zweck der Tarnung hielt ich auch jetzt noch für einen üblen Scherz. Wozu dieses Theater? Der Russe kannte die meisten Offiziere und Unteroffiziere beim Namen. Immer wieder forderte er uns zum Überlaufen auf. Das geschah ungefähr so: »Soldaten der deutschen Wehrmacht. Die schönsten Frauen Rußlands warten auf euch. Wir garantieren würdige Behandlung und sofortige Entlassung nach dem Kriege.« Die »würdige« Behandlung hatten wir aber am deutlichsten an den deutschen Soldaten gesehen, die dem Feind in die Hände gefallen waren. Es war vor ein paar Monaten gewesen, als der Russe zwei von mir gehaltene Häuser besetzt hatte. Die drei Mann starke Besatzung war in Gefangenschaft geraten. Nach zwei Tagen gelang es uns, die Häuser zusammen mit den Pionieren wieder zurückzuerobern. Die beiden Fronten waren damals lediglich durch eine Straße voneinander getrennt. Der Russe hatte die Stellung damals aber derart vernebelt, daß man die eigene Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte. So war ihm der Einbruch gelungen. Im Gegenstoß, nachdem der Feind weitere Häuser zu besetzen versucht hatte, fanden wir unsere Kameraden wieder. Der Anblick, den sie boten, ließ uns erbleichen, obwohl wir doch wahrhaftig allerhand gewöhnt waren.
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Das Feuer auf beiden Seiten ebbte bald wieder ab und verstummte schließlich ganz. Die Ruhe war beängstigend, die Nerven vibrierten vor Erregung. Würde der Feind nun doch angreifen? 1941 war das noch anders gewesen. Da wußten wir Stunden vorher, wann der Russe angriff. Die Rotarmisten bekamen nämlich vor jedem Angriff Schnaps. Anschließend wurde lauthals gesungen, und im Morgengrauen torkelten sie dann, gegenseitig eingehakt, über die Höhen. Wir ließen sie auf etwa 300 Meter herankommen, und was unsere Maschinengewehre dann anrichteten, war unvorstellbar. Es war, als ob eine riesige Sense die dicht gedrängten Reihen niedergemäht hätte. Heute war das nicht mehr so. Es gab anscheinend keinen Schnaps mehr, und es blieb daher ruhig. Der Russe arbeitete sich Mann für Mann vor, wie auch wir es auf dem Exerzierplatz gelernt hatten. Für ein MG mit dem hohen Munitionsverschleiß bildeten die Angreifer daher keine lohnenden Ziele mehr. Die quälende Stille hielt immer noch an. Ab und zu stieg eine Leuchtkugel hoch. Das war aber auch alles. Beim Feind rührte sich nichts. Es ging auf 23 Uhr. Es wurde 24 Uhr. Plötzlich schoß ein Vorposten eine Leuchtkugel ab. Unmittelbar darauf folgte eine rote Leuchtpatrone. Rot hieß aber heute: »Feind greift an!« Von einer Sekunde zur anderen ratterten auf der ganzen Front die Maschinengewehre. Karabinerschüsse peitschten durch die Nacht, und vereinzelt wurde auch mit Gewehrgranaten geschossen. Geduckte, braune Gestalten, mit der Pelzmütze auf dem Kopf, huschten schemenhaft im Vorfeld umher. War das der Angriff? Was geschah dort vorn, direkt vor mir? Sofort ließ ich eine Leuchtkugel hochsteigen. Zwei Russen waren am Stacheldraht und wollten ihn mit 34
einer Drahtschere durchschneiden. Keine Mine ging hoch. Der Minenplan, der dem Feind sicher bekannt war, stimmte anscheinend nicht. Vor unserem Abschnitt waren also keine Minen verlegt worden, obwohl man uns das Gegenteil versichert hatte. Im Gefühl einer lächerlichen Sicherheit ließen wir den Russen nun an unsere Stellung heran. Wir wollten ihn möglichst nahe bei uns haben, denn dann waren wir im Vorteil. Wir saßen in den Gräben, waren also sehr gut getarnt und gedeckt. Der Gegner aber mußte sich bewegen und die Deckung aufgeben, wenn er an uns heran wollte. Von der feindlichen Artillerie und den Granatwerfern, die wir am meisten fürchteten, konnte uns keine Gefahr drohen. Die Splitter hätten die Russen mehr gefährdet als uns. Die Minuten schlichen dahin, quälend langsam, wie es schien. Jetzt aber war der Russe schon verdammt nahe vor uns. Es wurde Zeit, daß etwas Entscheidendes geschah. Unsere Schüsse konnten wir jetzt nicht mehr kontrollieren, weil die Leuchtspur nicht zündete; dazu war die Entfernung zu gering. Krönninger stand wieder am MG. Mit verbissenem Gesicht jagte er Garbe um Garbe hinaus. Die beiden Russen am Stacheldraht rührten sich nicht mehr. Sie waren wahrscheinlich tot, von vielen Geschossen durchsiebt. Ich versuchte nun, mit Gewehrgranaten etwas auszurichten. Das war unsere sogenannte Artillerie. Die Geschütze hatten wir gesprengt, weil es bei unserer Ankunft in Sewastopol geheißen hatte, wir würden die Krim in 48 Stunden räumen. Der »Führerbefehl« hatte aber einen anderen Wortlaut. So standen wir also ohne schwere Waffen da, nur mit dem Allernotwendigsten an Munition versorgt. Rechts von mir hörte ich jemand schreien. War dort denn einer verrückt geworden? »Mensch, geh in Deckung!« brüllte ich hinüber. Es war aber schon zu spät. Ein Landser stieg auf den 35
Grabenrand, schoß eine Leuchtkugel und fuchtelte aufrecht mit dem Spaten umher, als ob er die herumschwirrenden Geschosse auffangen wollte. Schon kurz darauf wußte ich, wer es gewesen war. Ich hatte zwar eine ungefähre Ahnung gehabt, trotzdem war ich jetzt zutiefst erschüttert. »Meldung von rechts«, hallte es durch den Gefechtslärm, »Gefreiter Naser gefallen!« Also doch! Ich hatte es vermutet und ihn deshalb auch nicht zum Stoßtrupp mitgenommen. Er wollte nicht mehr leben. Armer, lieber Naser. – Du glaubtest vor Monaten, den Weg menschlichen Glücks zu gehen, und nun bist du bereits auf der Straße in die Schattenwelt. Statt Glück hat dir deine Ehe den Tod gebracht. Möge dir der Herrgott verzeihen, dir und deiner Frau. Denn es wäre nicht nötig gewesen, was du getan hast. Es wurde immer verbissen gekämpft. Der Russe hatte starke Verluste, ging aber keinen Zentimeter zurück. Wie lange konnten wir das noch aushalten? Wie lange reichte die Munition? Die Luft war geschwängert mit Pulverdampf. Dazu mischte sich der süßliche Geruch des Blutes aus frischen Wunden … Es ging schon dem Morgen entgegen, und immer noch peitschten die Schüsse durch die Luft, wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß wie vor ein oder zwei Stunden. Einige Russen gingen zurück. Ich sah das ganz deutlich. In einer Stunde mußte es hell werden … Da – was sollte das nun bedeuten? Die russische Artillerie begann plötzlich zu schießen. Das Feuer lag aber nicht auf unserer Stellung, der Feind legte einen Sperrgürtel hinter die eigenen Linien. Splitter sausten uns um die Köpfe, und Erdklumpen nagelten auf uns herab. Allmählich verlegte die sowjetische Artillerie das Feuer weiter vor. Sie schien damit die eigenen Leute vorwärtstreiben zu wollen. Sie mußten jetzt nämlich wieder angreifen, wenn sie 36
die eigene Feuerwalze nicht vernichten sollte. Schmerzensschreie gellten durch das Zwielicht der Nacht. Wie verstört rannten die Rotarmisten hin und her. Sie schossen nicht mehr. Mit ihrer Moral war es offenbar zu Ende. Von hinten wurden sie nun von der eigenen Artillerie zerschlagen, von vorn verrichteten unsere Maschinengewehre das blutige Werk. Tote und Verwundete lagen in Massen vor unseren Stellungen, und die Leichen türmten sich zu kleinen Hügeln. Die russische Artillerie stellte jetzt das Feuer ein. Sie hatte ihre Arbeit geleistet und die weichenden eigenen Truppen ins Feuer und somit ins endgültige Verderben getrieben. Keiner von uns empfand Erleichterung über diese unverhoffte Wendung. Vielleicht hatten wir sogar Mitleid mit den unglücklichen russischen Infanteristen. Wir konnten sie in diesen Augenblicken nicht mehr als Feinde betrachten. Genauso schnell wie das Feuer begonnen hatte, war es auch wieder verstummt. Einige Gewehre knatterten noch nach, aber sonst herrschte Ruhe. Innerhalb kurzer Zeit war es wieder totenstill geworden. Glutrot stieg die Sonne aus dem Meer empor. – Oder war sie blutrot? Ein neuer, herrlicher Tag zog herauf, und die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich in den mit dem Blut der Toten und Verwundeten benetzten Gräsern. Still und ruhig lag das weite Meer vor uns, einem endlosen, gleißenden Spiegel vergleichbar. Alles war so paradox. Noch vor einer Stunde zerrissen Granaten die Erde, spien Maschinengewehre ihre todbringen den Garben, fielen Baumkronen zersplittert zu Boden, und jetzt lachte die Sonne vom Himmel, als wolle sie die verrückte Menschheit verspotten. Es waren Gedanken, die einen immer wieder überfielen, obwohl sie in dieser verzweifelten Situation so sinnlos sein mochten wie sonst etwas. Diese Nacht hatten wir großes Glück gehabt. Nur ein Mann war gefallen, und auch er hätte nicht zu sterben brauchen, wenn 37
er es nicht selbst gewollt hätte. Der 1. Zug der 3. Kompanie hatte nur noch 12 Mann. Es war der 5. Mai 1944. Der Russe drängte auf eine Entscheidung. Er wollte hier anscheinend Schluß machen. Opfer scheute er dabei nicht. Das hatte er heute nacht wieder einmal bewiesen. Wie alle Tage zuvor, so sprach ich auch heute wieder mit meinen Männern, bei denen ich eine gewisse Gleichgültigkeit festgestellt hatte. So etwas war aber immer gefährlich. Die Landser schimpften zwar wie üblich, aber man mußte sie buchstäblich dazu reizen. Es wurde immer schwerer für mich, sie aufzumuntern und ihnen Mut zu machen. Dabei hatte ich mit mir selbst genug zu tun. Ich konnte mich aber mit keinem aussprechen, und das nagte nicht wenig an mir. Manchmal dachte ich auch an den jungen Nachersatz, der schon so oft bei uns eingetroffen war. Am Tage, wenn es ruhig war, prahlten sie meistens mit ihrem Heldenmut und schworen, den Krieg allein zu gewinnen. Griff aber der Feind an, dann verwandelten sie sich in angstgeschüttelte Kreaturen, die am ganzen Körper zitterten. Am Ende des ersten Kampftages waren die alten Landser dann meistens wieder unter sich. Der Nachersatz war weg, verwundet, tot, oder ein Nervenzusammenbruch hatte die Jungen kampfuntauglich gemacht. Wie notwendig wären jetzt jene Männer gewesen, die am Anfang des Rußlandfeldzuges sinnlos geopfert wurden, und das nur deshalb, damit Prestigeerfolge erzielt werden konnten. So, zum Beispiel, im Oktober 1941, als wir den Krimeingang bei Perekop erzwangen. Wir sollten auf Panzerunterstützung warten. Der Herr General meldete aber: »Das macht meine Infanterie ohne Panzer.« Wir waren kampfstarke Verbände, aktive Soldaten, kurz zuvor aufgefrischt durch ausgebildeten Nachersatz. Zuerst 38
wurden wir beim Tartarengraben zurückgeschlagen. Beim nächsten Angriff schafften wir es dann. Auf dem Schlachtfeld standen später 2.000 Holzkreuze, geziert mit einem deutschen Stahlhelm. Jetzt fehlten diese Kameraden. 12 Mann mußten einen Abschnitt von zwei Kilometern sichern. Gegen einen Deutschen kämpften 30 Russen. Man sagte uns, es seien einige Artilleriegeschütze herübergeschafft worden. Der Russe hatte aber mehrere Artillerieregimenter zusammengezogen. Jetzt schien es endgültig ernst zu werden. Wir hatten aber keine einzige schwere Waffe in unserem Abschnitt. Nur selten brauste ein deutscher Jäger am Tage über unsere Stellung. Wenn das einmal geschah, dann war aber sicher kein russisches Flugzeug in der Luft. Den ganzen Tag über beharkten uns dafür die feindlichen Kampfflieger, und kein deutscher Jäger störte sie. Die ruhmreiche Jagdwaffe des »Eisernen Hermann« (Göring, Reichsmarschall) war anscheinend nur noch auf dem Papier vorhanden. Wer konnte es dem Landser da verübeln, wenn er den Mut verlor? Tag für Tag, bei glühender Sonne, bei barbarischer Kälte oder peitschendem Regen, stand der Soldat im Freien, einem Kampf ausgeliefert, der inzwischen unvorstellbare Ausmaße angenommen hatte. Der letzte Heimaturlaub lag bei den meisten mehr als zwei Jahre zurück. Sie alle hatten nur noch einen einzigen Wunschtraum: Ruhe, ein Bett, ein Dach über dem Kopf und dann schlafen, schlafen und wieder schlafen. An diesem Tag gab es keine Ruhe in der feindlichen Stellung. Man konnte ein dauerndes Kommen und Gehen beobachten. Ob sie da drüben wohl schon am hellichten Tag ablösten? Wir standen machtlos da und konnten praktisch überhaupt nichts dagegen tun. Wir hatten keine Ari, und für das Gewehr war die Entfernung zu groß. Unser leichter Granatwerfer schoß 39
auch nur 500 Meter weit, und das wäre auch zu kurz gewesen. Hätten wir das gleiche gemacht wie jetzt der Iwan, dann würden wir von russischer Ari eingedeckt worden sein, daß uns Hören und Sehen vergangen wäre. Was war das für ein eigentümliches Motorengeräusch? Es kam immer näher. Hinter den feindbesetzten Höhen dröhnte es jetzt pausenlos. Panzer waren das nicht, das hätten wir sonst sofort festgestellt. Dieses Geräusch aber war uns unbekannt. Ob sie doch ihre Leute mit Kraftwagen bis an die Stellung fuhren? Wäre es so, dann könnten wir auch dagegen nichts unternehmen. Nein, der Russe löste nicht ab. Auf der gegenüberliegenden Höhe stand ein einzelner Lkw. Wir kannten diese Art. Auf der Ladefläche waren die 36 Abschußbahnen für Raketen montiert. Großer Gott, wie fürchteten wir dieses Höllending, das die Russen »Stalinorgel«* nannten, nur zu gut. Hätten wir nur eine Pak oder einen schweren Granatwerfer gehabt, dann blieben die da drüben nicht so unbehelligt. So aber mußten wir tatenlos zusehen, wie drei Russen ausstiegen, umhersahen und dann an dem Geschütz herumhantierten. Wir konnten sogar erkennen, wie die furchtbare Waffe jetzt auf uns gerichtet wurde. Und dann hörten wir die ersten Abschüsse. Das schaurige Heulen ließ uns den Atem stocken. Jede Sekunde zündeten zwei Granaten. Die Geschosse schlugen schachbrettartig ein, bald vierzig an der Zahl.** Der Russe hatte zwar die Richtung auf uns, aber die Geschosse zischten weit über uns hinweg. Früher hätte der Landser für so etwas nur ein spöttisches Lächeln übriggehabt. Heute zog er den Kopf ein und ließ den teuflischen Zauber *
Raketen-Salvengeschütz. Das (letzte) Modell 30 konnte Raketen der Kaliber 30,48 – 40,64 cm verschießen. Salvenfeuer von 54 Geschossen bei einer Schußweite von 2,74 bis 2,83 Kilometer. **
Bei diesem Geschütz handelte es sich offenbar um das Modell 3 mit den Kalibern 7,5, 7,6 und 8,2 cm, mit dem 32 bis 36 Granaten abgefeuert werden konnten.
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über sich ergehen, ohne wohl etwas Besonderes zu denken. Die physischen und psychischen Kräfte des deutschen Frontsoldaten wurden immer geringer. Über unserer Stellung führten nun auch noch die feindlichen Schlachtflieger ihren Tanz auf. Schon am Morgen hatten sie damit begonnen. Auch dagegen waren wir nahezu machtlos. Die Unterseite der IL-II-Maschinen war gepanzert, und unsere Geschosse prallten wie lästige Fliegen daran ab. Mit der Zeit hatten wir uns aber an die Spitznasen gewöhnt, genauso wie an den sogenannten U. v. D. (Unteroffizier vom Dienst). Hierbei handelte es sich um ein einzelnes Flugzeug, einen Doppeldecker, dessen Pilot in der Nacht fast auf die Minute pünktlich erschien, den Motor abstellte, der wie eine alte Nähmaschine klapperte, und dann die einzige Bombe warf, die er bei sich hatte. Es war nur gut für uns, daß die feindlichen Flieger immer wieder in ihren alten Fehler verfielen; Sie flogen nicht an der Stellung entlang, wie das unsere Jäger praktizierten, sondern griffen sie rechtwinklig an. Uns konnte das allerdings nur recht sein. Der Schaden, den sie auf diese Weise anrichteten, war unbedeutend. So verstrich der Morgen, und es wurde Mittag. Doch dann sahen wir wie auf Kommando über den Grabenrand zum Feind hinüber und lauschten angestrengt. Wir hörten ein Motorengeräusch, dumpf und röhrend, und dann das Rasseln von Ketten. Das waren Panzer, darüber gab es keinen Zweifel. Das Gelände hier war kein Hindernis für sie, und wir hatten nichts als Panzerfäuste, um sie zu bekämpfen. Dazu mußten wir sie aber bis auf rund 20 Meter herankommen lassen, was verständlicherweise eine Fülle von Gefahren in sich barg. Nach etwa einer halben Stunde krochen die Ungeheuer über die Höhe, hielten kurz an und setzten sich dann wieder in 41
Bewegung. Sie walzten genau auf unsere Stellung zu. Nun kamen sie zu den russischen Gräben, überrollten diese und stoppten erneut. Aus den feindlichen Gräben stiegen russische Soldaten und gingen hinter den Panzern in Deckung. Hinter jedem Koloß vom Typ T 34 liefen ungefähr 30 Russen. Nun setzten sich die Panzerwagen wieder in Bewegung. Sie schaukelten langsam dahin, fast im Schrittempo. Hinter ihnen, vollkommen gedeckt gegen unsere Gewehrschüsse schlichen die Rotarmisten. Unsere MG ratterten. Was sollte das aber nützen? Ich glaube, die Panzerbesatzung hörte nicht einmal ein Klopfen, wenn unsere Geschosse an die Stahlwände klatschten. Unbehelligt liefen die Rotarmisten weiter hinter den Stahlkolossen her. Da hielten die T 34 wieder an. Die Russen schmiegten sich an die Rückwände der Panzer. Die Geschützrohre wurden eingerichtet und zeigten schließlich direkt auf uns. Sekunden später ließ ein Donnern die Luft erzittern, und schon prasselten Erdfontänen auf uns herab. Jeder Tank feuerte einige Granaten auf unsere Stellung. Dann ging der Feuerüberfall zu Ende. Obwohl unzählige Splitter durch die Gegend surrten, war nichts geschehen. Kein Verwundeter, kein Toter! Kurz darauf rollten die Stahlkästen wieder weiter, und hinter ihnen schoben sich die Russen vor. Was sollte nun werden? Ich spürte mein Herz bis zum Hals hinauf schlagen, mein Mund war wie ausgedörrt. Sicher würde es jetzt bald einen Kampf Mann gegen Mann geben, und am Ende stand dann für uns wahrscheinlich der Tod – oder die Gefangenschaft. Wir wußten aber, was letzteres bedeutete. Ich griff nach einer Panzerfaust und strich darüber hinweg. Vielleicht konnte sie uns noch retten. Wenn es uns gelang, einige Panzer zu knacken, dann war es möglich, daß der Russe aufsteckte. Wir hatten das schon oft erlebt… 42
Noch einmal hielten die feindlichen Panzer an, etwa 250 Meter von unserer Stellung entfernt. Im Schutz der Kampfwagen begannen die Russen nun mit dem Eingraben. Auch dabei mußten wir untätig zusehen. Jeder Gewehrschuß vom Kaliber 7,9 mm würde mit einer Granate vom Kaliber 10,5 cm beantwortet werden. Ein solcher Kräftevergleich wäre aber unserem sicheren Ende gleichgekommen, das war uns klar. Hätten wir doch nur eine einzige 8,8-cm-Flak gehabt. Der tödliche Spuk da vorn wäre schnell beseitigt gewesen. Wir hatten vor wenigen Minuten mehrere violette Signalpatronen geschossen. Violett bedeutete: »Panzer greifen an!« Aber hinter uns blieb alles ruhig. Unsere Führung war wohl genauso ratlos wie wir. Trotzdem mußten die Beobachter die T 34 gut sehen können. Jedenfalls wurde hinten nicht reagiert, und man hoffte wohl, daß es das armselige Häuflein in den vordersten Gräben auch so schaffen würde. Wir konnten nichts tun, als den Feind beobachten. Auf jeden Gewehrlauf hätte sich sonst sofort eine Panzerkanone gerichtet. Eine gute Stunde dauerte dieses Katz-und-Mausspiel. Dann hatte sich die russische Infanterie eingegraben. Wir glaubten nun, daß die Panzer abdrehen würden, hatten uns darin aber gewaltig geirrt. Die zwölf Stahlkolosse setzten sich nämlich wieder in Bewegung. Immer schneller rollten sie auf unsere Stellung zu. Sie gingen jetzt auf volle Fahrt. Die Motoren dröhnten, die Erde zitterte und bebte. Schon knirschten die ersten Drahthindernisse unter den tonnenschweren Kampfwagen. Keine T-Mine ging hoch. Es waren offenbar keine verlegt worden. Hatte man uns belogen? Oder wußte es die Führung selbst nicht? Es lag ganz klar auf der Hand, daß die Panzer unsere Stellung überrollen wollten. Die Drahtsperre war inzwischen niedergewalzt worden. Jetzt waren sie kaum noch 30 Meter 43
von uns entfernt. Ich hatte die Panzerfaust im Anschlag, das Visier hochgeklappt. Die Waffe war schußbereit. Noch waren sie aber zu weit weg. Ich mußte den Panzer auf 15-20 Meter herankommen lassen. Auf größere Entfernung zu schießen wäre sinnlos gewesen. Jetzt hob ich das Rohr der Waffe auf meine Schulter, damit der Feuerstrahl keinen Widerstand an der Grabenwand finden konnte. Die Flamme würde sonst zurückschlagen und mich verbrennen. Mit jagenden Pulsen peilte ich durch das Visier und über den Strich auf dem Kopf der Panzerfaust den Kampfwagen an. Vielleicht betete ich in diesen Augenblicken. Ich weiß es nicht mehr. Ein ungeheurer Knall erschütterte die Luft, und ein meterlanger Feuerstrahl schoß nach hinten aus dem Rohr der Panzerfaust. Ich hörte einen Schlag. Der T 34 schien sich vorne hochzuheben und blieb etwa zehn Meter vor unserem Graben bewegungslos stehen. Schwarzer Qualm quoll aus den Luken, im Inneren des Panzers hörte ich Detonationen. Ob die russischen Tankisten noch leben, ob sie noch in der Lage waren, die Luken zu öffnen? Nein, immer dichter wurde der Qualm, der aus den Luken und Scharten herauswaberte. Drei brennende Panzer standen vor unseren Linien. Zwei andere hatten noch die Nerven behalten. Wer die Panzer abgeschossen hatte, weiß ich heute noch nicht. Sie standen sehr weit auseinander, so daß es auch die Nachbarkompanie oder zumindest der Nachbarzug gewesen sein konnte. Jeder dritte Mann hatte bei uns eine Panzerfaust. Die anderen neun Panzer überrollten nun unsere Stellung. Etwa 400 Meter hinter der HKL hielten die Panzer an, machten kehrt und richteten die Rohre auf uns. Der gefährlichere Gegner für uns war aber der Infanterist. Denn der Feind, der jetzt rund 250 Meter vor uns lag, schoß auf jede Bewegung, und er tat das verdammt genau. Offenbar 44
hatten die Russen auch Scharfschützen dabei. Beim Nachbarzug war der Sanitäter bereits in Tätigkeit. Wir waren bisher verschont geblieben. Die Panzer schossen jetzt von hinten in unsere Stellung. Zeigte einer von uns den Kopf, dann knallten die russischen Infanteristen von der anderen Seite. Es war eine Situation, in der es nicht einmal einen Sinn gehabt hätte, sich noch eine Chance ausrechnen zu wollen. Granate um Granate peitschte in unsere Linien. Wie lange das wohl so weitergehen würde? Wie viele Granaten die Panzer wohl noch bei sich hatten? Endlich setzten sich die Stahlungeheuer wieder in Bewegung. Mit Höchstgeschwindigkeit rumpelten sie auf uns zu, schwenkten unvermittelt nach rechts ab, dorthin, wo die 4. Kompanie lag. Auch diese Stellung überrollten sie. Einer der Panzer blieb brennend stehen. Eine Panzerfaust hatte ihn außer Gefecht gesetzt. Der massierte Beschuß hatte bis jetzt wenig Wirkung gehabt und die Kompanie lediglich drei Verluste gekostet. Mein Zug war wie durch ein Wunder verschont geblieben. Einige hundert Meter vor unseren Linien – hinter den mittlerweile vorgeschobenen russischen Stellungen – legten die Kampfwagen wieder einen Stop ein. Sie walzten anschließend herum und jagten noch einige Granaten herüber. Die Geschosse schlugen nahe bei uns ein, und dichter Pulverdampf wehte in die Höhe. Ein Projektil detonierte auf dem rechten Flügel meines Zuges. Schließlich drehten die Panzer ab und verschwanden hinter der Höhe. Da erreichte mich die Meldung: »Schütze Kalisch verwundet.« Mit der letzten Granate hatte es ihn also noch erwischt! Kalisch, den Volksdeutschen aus dem Banat! Ich eilte sofort den Graben entlang, um nach dem Verwundeten zu sehen. Es war ein furchtbares Bild, das sich 45
mir darbot. Kalisch lag auf dem Rücken und stöhnte. Die Augen hatte er geschlossen. Das eine Bein fehlte von der Hüfte ab ganz, das andere war zu einer blutigen, breiigen Masse zermalmt worden. Ich kniete mich zu Kalisch nieder. Er schlug die Augen auf und sah mich an. »Kalisch«, sagte ich, »sei tapfer. Du hast den Krieg überstanden. Du kommst jetzt heim. Nur die ganz schweren Fälle werden ausgeflogen. Beiß die Zähne zusammen. Der Arzt kommt gleich.« Der Sanitäter stand hilflos da und ließ die Schultern hängen. Kalisch wußte offenbar nicht, wie schwer seine Verwundung war. Ich gab dem Sanitäter ein Zeichen, ja nichts zu sagen. Kalisch sah mich wieder an. Er wollte etwas sagen, das fühlte ich. Endlich hatte er anscheinend die Kraft dazu gefunden, und in seinem mangelhaften Deutsch stotterte er: »Herr Feld-we-bel, ziehen – meine Schuhe aus. Meine Füße einschlafen.« Das Entsetzen packte mich. Er wußte also gar nicht, daß er keine Beine mehr hatte. Ich suchte verzweifelt nach Worten, nach einer neuen, mildtätigen Lüge. Und dann sagte ich: »Ist nicht schlimm, Kalisch. Wir bringen dich jetzt zum Kompaniebunker, dann geschieht alles, was geschehen muß. Sei stark!« Den Sanitäter wies ich an, sehr vorsichtig zu sein, und den Kopf des Unglücklichen so tief zu lagern, daß er nicht sehen konnte, wie fürchterlich er zugerichtet worden war. Im Bunker legten wir Kalisch auf den Boden. Unbeweglich lag er da. Sein Atem ging rasselnd und stoßweise, sein Mund war zusammengepreßt. Plötzlich griff er mit den Händen an die Oberschenkel. Mit letzter Kraft bäumte er sich auf und sah jetzt die schreckliche Verwundung. Ein markerschütternder Schrei folgte. Dann sank er kraftlos zurück. »Nein – nicht – leben – mich erschießen – bitte – ich Krüppel – mich erschießen – nicht quälen.« Seine Stimme versagte. Er röchelte nur noch. 46
Kurz darauf wurde er ruhig. Der Unterkiefer klappte herab. Die Augen wurden glasig und bekamen einen starren Ausdruck. Erschüttert beugte ich mich über den Kameraden, den »Beutegermanen«, wie wir ihn so oft genannt hatten. Kalisch war tot, und ich drückte ihm die Augen zu. Wieder würde nun ein Brief abgehen und den Angehörigen vom schmerzlosen Heldentod für das Vaterland künden. Mein Zug hatte nun noch elf Mann, die Kompanie insgesamt 28. Die Zeit verging, und die Sonne stieg auf purpurnen Wolken über den Horizont. Drüben schillerte das Meer, und Myriaden von Lichtern glitzerten auf den Wellen. Bei uns aber war die Angst vor neuer Qual und das Grauen vor dem Tod. Ein Ruf flatterte durch den Graben: »Die Zugführer zum Kompaniegefechts stand!« Ich richtete mich auf und wandte mich zum Gehen. Was würde nun wieder auf uns warten? Müde, hungrig und das furchtbare Bild noch vor Augen, ging ich zum Bunker hinüber. Als ich dort ankam, waren die anderen Zugführer schon da. Der Ausdruck »Zugführer« war stark übertrieben, denn es handelte sich um zwei Unteroffiziere, die zusammen 15 Mann befehligten, und aus diesen setzte sich die ganze 3. Kompanie zusammen. »Meine Herren«, begann der Chef, »wir werden heute herausgezogen. In einer Stunde kommt das Vorkommando. Wir werden von Rumänen abgelöst. Was mit uns geschieht, weiß ich nicht. Das ist alles. Sehen Sie zu, daß die Ablösung reibungslos vor sich geht. Die genaue Zeit kann ich noch nicht sagen. Es wird aber gegen 18 Uhr sein. – Eine Frage?« »Jawohl, Herr Oberleutnant. Werden wir ganz herausgezogen?« erkundigte ich mich. »Machen Sie sich da keine Hoffnungen. Die anderen Kompanien bleiben in den Stellungen. Ich weiß auch nicht mehr. Bis nachher!« Damit waren wir entlassen. 47
Ich ging in die Stellung zurück, trommelte meine Leute zusammen, ließ Munition und Geräte zusammenstellen und gab den Befehl, alles zum Ablösen fertig zu machen. Meine Männer nahmen die Nachricht vom Abmarsch mit großer Freude auf, doch mußte ich ihre Illusionen in jenem Maße dämpfen, wie vorhin auch die meinen zerstört waren. Die Hauptsache aber war, daß wir hier herausgezogen wurden, denn schlimmer konnte es wohl nirgendwo mehr werden. Das Vorkommando kam und wurde eingewiesen. Gegen 19 Uhr wurden wir abgelöst. Der »Herzogstand«, dieses verfluchte Stückchen umgewühlter Erde, blieb hinter uns zurück. Bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden, marschierten wir nach hinten. Was würde nun geschehen? Würden wir Nachersatz bekommen, und dazu vielleicht einige Tage Ruhe? Nachdem wir ungefähr zwei Kilometer gelaufen waren, warteten Lastwagen auf uns. Wir stiegen auf, Gerät und Waffen wurden verstaut, dann fuhren wir in die Nacht hinein. Die Laster holperten kreuz und quer durchs Gelände. Wir hatten bald jede Orientierung verloren, und als wir schließlich die Leuchtzeichen des Flugplatzes aufblitzen sahen, schlich sich eine nervöse Spannung in uns hinein. Doch die Wagen, die ursprünglich auf den Feldflugplatz zugefahren waren, entfernten sich wieder aus dieser Richtung, und unsere stumme Hoffnung schwand immer mehr dahin. Endlich, nach eineinhalb Stunden, hielten wir an. Wir befanden uns in einem großen Wald und bekamen Befehl, die Lastkraftwagen zu verlassen. In einer Schneise waren Bunker angelegt, in denen wir untergebracht werden sollten. Aus der Ferne hörten wir manchmal Schützenfeuer. Zuweilen detonierte auch eine Artilleriegranate, und der Schall drang wie Gewittergrollen zu uns herüber. Diese Nacht dürften wir hier verbringen, das wurde uns nun 48
erklärt. Also endlich einmal ruhig schlafen und ausruhen können! Wir brauchten einige Zeit, um es zu begreifen. Für die ganze Kompanie reichte ein Posten. Wir lagen auf engstem Raum in drei Erdhöhlen, denen man die Bezeichnung »Bunker« gegeben hatte. Trotzdem hatten wir das Gefühl, aus der Hölle ins Paradies gekommen zu sein. Unser Material und die wenigen persönlichen Habseligkeiten waren kaum verstaut, als in den Höhlen auch schon das tiefe Schnarchen der Männer zu hören war. Trotz der Müdigkeit konnte ich noch lange nicht einschlafen. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, und sogar das Schnarchen störte mich. Eigenartig, sonst hatte mir das doch auch nie etwas ausgemacht! Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Hatte ich Angst vor dem kommenden? Ich wußte es nicht. Meine Gedanken beschrieben weite Kreise, und ich erinnerte mich auch an die Februartage 1942, als wir ebenfalls von der Front herausgezogen worden waren. Am Miusbrückenkopf hatte eine russische Kompanie damals die Vorpostenstellung »linkes Äugle« genommen. Von dort aus konnte der Gegner die gesamte deutsche Front einsehen. Das »linke Auge« war genau in der Mitte der beiden Fronten auf einer kleinen Anhöhe gelegen. Wer diesen Hügel hatte, konnte die Bewegung des Feindes beobachten. Wir kamen damals in der Nacht an, kannten die Stellung nicht und wurden beim Morgengrauen zum Angriff angesetzt. Die Vorbereitungen waren damals aber sehr gut. Artillerie und Granatwerfer beharkten die feindliche Stellung. Als wir zum Angriff antraten, schossen links und rechts zwei schwere Maschinengewehre seitlich an uns vorbei und hielten den Gegner in Schach. 500 Meter hatten wir ungefähr noch vor uns, und der Russe kam kaum zum Schießen, so wurde er eingedeckt. Wir nahmen das »linke Auge« ohne einen einzigen Ausfall. Überdies hätten wir die feindlichen Maschinen 49
gewehre nicht so sehr zu fürchten brauchen, denn bei 20 Grad Kälte pflegten die russischen MG meist zu versagen. Nur auf eines hatten wir zu achten: möglichst schnell vorwärts zu kommen. Die russischen Granatwerfer durften nicht viel Zeit haben, um sich einzuschießen; wir mußten daher auch dauernd in Bewegung bleiben. Die Granatwerfer waren nämlich die schlimmste Waffe des Feindes gegen uns Infanteristen. Nach kaum einer halben Stunde waren wir vor dem russischen Bunker, und was ich selten erlebt hatte, trat ein: Der Feind zeigte, auf einem Bajonett aufgespießt, ein weißes Tuch. Er kapitulierte also, ohne sich sonderlich zur Wehr gesetzt zu haben. Trotzdem ließ ich den Angriff, im Gegensatz zu den anderen Zügen, fortsetzen und Handgranaten in den Bunker werfen. Ich wußte, daß das nicht rechtens war. Aber besondere Ereignisse hatten mich gelehrt, so zu handeln. Am 1. November 1941 hatten wir auf der Krim einmal die Höhen von Bachtschisaray angegriffen. Über feindliche Holzkastenminen hinweg stürmten wir vor. Als es schon dunkelte, lag noch ein einziger Bunker vor mir, aus dem eine weiße Fahne heraushing. Aus diesem Grund ließ ich das Feuer einstellen und ging auf die Feindstellung zu. In diesem Moment schoß ein russisches Bunker-MG auf meine Männer. Es stand in jenem Betonkasten, vor dem die weiße Fahne flatterte. Mein Zug hatte danach drei Tote und mehrere Verwundete. So etwas sollte mir ein zweites Mal nicht mehr passieren, das hatte ich mir damals geschworen. Ich war für meine Leute schließlich verantwortlich und ließ den Bunker daher trotz der weißen Fahne stürmen. Später verteidigte mein Zug die Vorpostenstellung drei Tage lang gegen den Angriff eines russischen Regiments, unterstützt von Panzern. Allerdings hatten wir die Stellung auch nahezu uneinnehmbar ausgebaut. Es war eine Igelstellung, sehr gut 50
gesichert mit Stacheldraht und Minen. Sie hatte nur einen Durchmesser von 50 Metern, so daß da mit Artillerie kaum etwas zu machen war. Außerdem war der Graben mit Eisenbahnschwellen und Mauersteinen derart gut abgedeckt, daß er für kleine Kaliber als beschußsicher gelten konnte. Unsere Bewaffnung bestand überdies ausschließlich aus leichten und schweren Maschinengewehren sowie Pak (Panzerabwehrkanonen). Auch daran hatte ich an diesem Abend wieder denken müssen. Unsere Lage war jetzt allerdings eine ganz andere. Wir hatten keine Artillerie, keine sMG, keine Pak. Wenn wir angreifen mußten – und daran zweifelte ich nicht –, dann würde der Kampf sicherlich im Duell Mann gegen Mann entschieden werden müssen. Wer würde in einer Woche von uns wohl noch leben? Würde ich selbst bald an der Reihe sein? Ich versuchte, diesen Gedanken zu verscheuchen, und es gelang mir auch. So unglaubhaft es übrigens klingen mag, es ist meistens aber tatsächlich so: Wenn ein Soldat sich vor dem Angriff fürchtete, wenn er gar sagte: »Ich werde es diesmal nicht überstehen«, dann trat dies auch fast mit Sicherheit ein. War es Vorahnung? Oder war der Betreffende durch eine von ihm herauf beschworene Verwirrung vielleicht selbst an seinem Schicksal schuld? Hatte er etwa im entscheidenden Moment unvorsichtig gehandelt und etwas getan, was er unter anderen Umständen nicht gemacht hätte? Wer weiß. Meine Gedanken beschäftigten sich auch mit den Kameraden am »Herzogstand«. Wenn das mit den Rumänen nur gutging. Sie waren zu unsichere Verbündete. In Kertsch hatten wir einmal rumänische Artillerie zugeteilt bekommen. Sie schoß meistens zu kurz und mehr in unsere Stellung als in die feindliche. War es Unvermögen? War es Absicht? Auch das weiß ich nicht. Ich kannte aber die Zustände bei den 51
Rumänen, und das half mir, vieles in einem anderen Licht zu sehen. Der rumänische Soldat bekam am Tag einen Lei Besoldung. Das waren damals umgerechnet zwei Pfennig. Dabei mußte er selbst für die Uniform aufkommen. In der rumänischen Armee gab es auch noch die Prügelstrafe. Jeder Offizier durfte den Untergebenen schlagen. Ich hatte in dieser Hinsicht schon üble Szenen erlebt und mich dabei geschämt, einer ihnen verbündeten Macht anzugehören. Der Rumäne hatte auch keine Feldküche. Der Soldat bekam alles in Natur. Das heißt: ungemahlenes Getreide, einen Kohlkopf, Öl, Salz usw. und mußte sich hieraus selbst sein Essen bereiten. Manchmal hatte ich den armen Teufeln sogar geholfen, Getreide mittels zweier Steine in Mehl zu verwandeln. Ob die Rumänen, deren Moral nicht gerade vorbildlich war, dem Ansturm der Russen standhalten würden? Ob die Front nun durch die Einschaltung solcher Einheiten zusammenbrach und wir alle in die Gefangenschaft wanderten? Diese Gedanken plagten mich. Aber meine Männer schliefen den Schlaf des Gerechten. Sicher hätte sogar eine Granate in unmittelbarer Nähe krepieren können, und sie wären trotzdem nicht aufgewacht. Endlich übermannte auch mich die Müdigkeit, und ich schlief ein. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich geweckt und zum Kompaniechef befohlen wurde. Fluchend wischte ich mir den Schlaf aus den Augen, gähnte und stand auf. Überall in der Nähe sah ich die bärtigen Gesichter meiner Männer. Steifbeinig stelzte ich zum Kompaniebunker, blieb manchmal stehen und erfreute mich an der Natur. Wie herrlich war es doch, anstatt detonierender Granaten das Gezwitscher der Vögel zu hören. Es war ein wunderbares Erlebnis. Aber 52
morgens schon konnte dieser Traum bereits wieder zu Ende sein. Im Bunker machte ich eine meiner Verfassung entsprechende Ehrenbezeigung und ließ mich dann auf einen Wink des Chefs hin in das Stroh fallen. Oberleutnant Gehring reichte jedem eine Zigarette. Wie lange hatte es das schon nicht mehr gegeben! Dann begann er: »Meine Herren. Heute nachmittag um 14 Uhr bekommen wir Besuch vom Herrn General. Sehen Sie zu, daß bis dahin die Waffen und die Bekleidung in etwa in Ordnung sind. Ich habe dafür gesorgt, daß wir Wasser bekommen. Die Männer sollen sich einmal schrubben und rasieren. Mehr kann ich Ihnen leider nicht mehr verraten, weil ich selbst nicht mehr weiß. Also, bringen Sie die Leute in Schwung – Das war’s für diesmal. Guten Tag.« Damit waren wir wieder entlassen. Nun stand ein schweres Stück Arbeit bevor. Ich mußte die Landser zunächst einmal wecken. Das war aber nicht so einfach. Stieß man einen in die Seite und brüllte man: »Aufstehen!« – so grunzte er nur unverständliches Zeug, drehte sich auf die andere Seite und schnarchte weiter. Als ich es mit meinen zwei Meldern endlich geschafft hatte und ihnen sagte, daß Gewehrreinigen sowie Putz- und Flickstunde befohlen sei, hob ein lautstarkes Murren an. Krönninger machte sich wieder zum Sprecher, und unser »Oberorganisator«, der Obergefreite Dietmann, unterstützte ihn dabei nach allen Regeln der Kunst. »So, Putz- und Flickstunde? Und der Herr General kommt? Na, wahrscheinlich, weil es ruhig ist. Vorn sieht man ja keinen von denen, und dafür müssen wir den Schlaf opfern. Was sollen wir denn putzen und flicken? Mit was sollen wir flicken? Mit Spucke? Die Fußlappen sind Fetzen, die Stiefel haben keine Absätze mehr. Die Zehen schauen heraus. Seit zwei Monaten haben wir Uniformen, Stiefel und Fußlappen nicht 53
mehr vom Leib gehabt. Und jetzt, weil der Herr General kommt, sollen wir zaubern.« Das war Krönninger. Der Obergefreite Dietmann schimpfte weiter. »Warum hat man uns keine Bekleidung gegeben, als wir von Kertsch zurückgingen? Ganze Lager waren gefüllt, und davor stand so ein blöder Kriegsverlängerungsinspektor (KriegsverwaltungsInspektor) mit der Pistole in der Hand, fuchtelte damit herum und brüllte: ›Wer plündert, wird erschossen.‹ Dann haben sie das Lager mit Benzin übergossen und angezündet. Erschießen hätten wir den Hund sollen. Was war in Simferopol? Ha, was war da? Auf der Straße lagen die Weinfässer, und Weinpfützen standen noch in den Rinnsteinen. Die hinten hatten zu saufen – und was hatten wir? Einen Dreck hatten wir, nichts! Was haben sie mit der SchokaKola gemacht? Ha, was denn? Es gab ja sowieso nur noch Papphüllen dafür, und darum konnte man sie auch so schön mit Benzin tränken und verbrennen. Dem Frontschwein hat man das nicht gegönnt. Der Landser darf nicht verwöhnt werden. Diese Mistviecher da hinten. Und jetzt soll dem General Sand in die Augen gestreut werden. Nein, der soll nur sehen, wie es um uns bestellt ist.« Ich wußte, daß ich jetzt nichts befehlen konnte. Ich mußte es auf andere Weise versuchen. Und ich hatte Erfolg damit. »Kameraden«, sagte ich, »wir kennen uns. Wir haben bisher zusammengehalten. Einer stand für den anderen ein. Wir haben geteilt, die letzte Zigarette zusammen geraucht. Der Chef war uns ein Kamerad. Ihr wißt, wie es war, als ihr ihm den Schnaps und den Kognak weggesoffen habt. Obwohl ihn der Kommandeur ›fertiggemacht‹ hat, hat er keinen von euch etwas spüren lassen. Wollt ihr jetzt, daß der Chef und ich auffallen? Wollt ihr das? – Also, dann ran. So gut es geht, werden die Gewehre gereinigt und die Uniformen in Ordnung gebracht. Nachher bekommen wir einen Tankwagen mit 54
Wasser. Dann wird der Bauch geschrubbt. Also, wir verstehen uns? Bis nachher!« Die Männer stimmten mir zwar nicht zu, machten sich aber ohne weitere Worte an die Arbeit. – Ich hätte ihnen diese unnütze Beschäftigung gern erspart und sie lieber schlafen lassen. – Aber der Herr General kam eben, und da war nichts zu machen. Die Zeit verging, und es wurde 14 Uhr. Die »Kompanie« war angetreten, Gewehr bei Fuß und mit Stahlhelm. »Zwei Drittel des Lebens wartet der Soldat vergebens«, heißt es in einer Landser-Weisheit. Auch diesmal war die Zeit schon längst verstrichen, und die Männer begannen zu murren. Von einem General konnte man aber schlecht verlangen, daß er pünktlich ist, höchstens von einem einfachen Soldaten. Endlich, mit einstündiger Verspätung, brummte ein Kübelwagen daher. Elastisch sprang der General heraus, schüttelte seine Beine und dehnte sich. Dann schritt er auf Oberleutnant Gehring zu, wippte auf den Zehenspitzen, legte bei der Meldung die rechte Hand lässig an den Mützenrand, während er in der linken eine Reitpeitsche hielt, mit der er leicht auf den Stiefelschaft schlug. Er wollte damit wohl kundtun, daß er einmal aus der Kavallerie hervorgegangen war. Seine Uniform war in tadellosem Zustand, messerscharf die Bügelfalten auf der Hose mit den roten Streifen. Die goldenen Achselstücke und die Spiegel sowie die goldene Mützenkordel leuchteten. Unser Divisioner machte einen hervorragenden Eindruck. Nach der Meldung wanderten seine Augen an der Front entlang, ehe er das Kommando zum Rühren erteilte! Dann setzte er zu einer Rede an. Zuvor ließ er die Peitsche hörbar an den Stiefelschaft klatschen, schaute nochmals von links nach rechts und begann dann mit lauter Stimme: »Soldaten der dritten Kompanie. Ihr seid mir als tapfere Einheit bekannt. Ich selbst habe euch ausgewählt und habe den 55
Befehl zu einem Sondereinsatz gegeben. Sewastopol darf nicht fallen. Der Führer will das, und daher wird es auch nicht fallen. Wir stehen dafür ein, und der Führer blickt auf jeden von euch. Ein Bataillon hat sich feige benommen und dem Feind ist der Einbruch gelungen. Das muß bereinigt werden. Dazu habe ich euch ausersehen. Es wird schwer werden, aber ich weiß, daß sich jeder zur Ehre des Vaterlandes einsetzen wird. Ihr bekommt Verstärkung. Dann muß es gehen. Ich habe Artillerie bereitstellen lassen, und wir werden den Feind schlagen, wo wir ihn treffen. Handelt so, als ob der Führer selbst hinter euch stünde. Ihr werdet einem anderen Regiment zugeteilt. Macht eurem Kommandeur keine Schande. – Ich selbst werde den Einsatz leiten …« Mit schnellen Schritten lief der General auf Oberleutnant Gehring zu, schüttelte ihm die Hand und schwang sich dann in seinen Kübelwagen. Es hieß, der General besitze eine solide Bunkeranlage, die von der HKL entsprechend entfernt war. Doch das waren Dinge, an die wir jetzt besser nicht dachten. Schließlich nützte uns das alles recht wenig, wenn der Teufel wieder los sein würde. Wir waren wieder einmal bedient. Ich hielt das Ganze für einen ausgemachten Blödsinn. Warum die Stellung halten? Mit was denn? Wir hatten ja Regimenter, die kaum stärker waren als zwei kampfstarke Kompanien. Ursprünglich hatte der Plan für die Räumung von Sewastopol ganz anders ausgesehen. Vier Verteidigungsgürtel waren um die Stadt angelegt worden, vier Divisionen sollten sie halten. Wurde auf den nächsten Verteidigungsring zurückgegangen, dann wurde der Kreis enger und eine Division konnte herausgezogen werden. Die Absetzbewegung sollte von links erfolgen. Wir waren am weitesten rechts und sollten den letzten Gürtel bis zuletzt halten. Über Strickleitern sollten wir die Steilküste von 56
Sewastopol verlassen. Schnellboote sollten uns aufnehmen. Das war der ursprüngliche Plan. Der Führer hatte ihn aber verworfen und den verantwortlichen General vor Gericht zitiert. Jetzt war ein Gebirgsjäger-General OB (Oberbefehlshaber). Warum aber mußte der äußerste Gürtel gehalten werden? Wir hätten Leute einsparen können, hätten wir uns zurückgezogen. Die Grabenbesatzung wäre dichter geworden und die Feuerkraft konzentrierter. Aber der Landser darf nicht denken. Das soll er den Pferden überlassen, die haben einen größeren Kopf. Nach kurzer Zeit kam ein Lkw und brachte Verstärkung. Ich war erschüttert; denn das war wirklich das letzte Aufgebot. Zunächst entstiegen vier Polizisten – in Polizeiuniform – dem Lastwagen. Sie mußten alle über 50 Jahre sein. Der eine sagte gleich, daß er nicht schießen könne, weil er auf dem rechten Auge blind sei. Der andere trug einen grauen Spitzbart und war Zugwachtmeister. Er wollte sofort kommandieren und über den Frontverlauf orientiert werden. Die anderen beiden waren mehr dick als groß und keuchten asthmatisch beim Aussteigen. Weiterhin waren vier Portepeeträger vom Divisionsstab eingetroffen, die sich wohl das EK verdienen wollten. Es stellte sich heraus, daß sie in letzter Zeit noch nie ein Gewehr in der Hand hatten. Wir sahen uns an und dachten unseren Teil. Auch unser General, der vor kurzem erst von Paris gekommen war, trug außer dem KVK (Kriegsverdienstkreuz) keine Auszeichnung. Das war für die jeweilige Division immer schlecht. Erstens bekam ein Untergebener selten eine Auszeichnung, bevor der General sie noch nicht hatte, und zweitens wurde mit »Himmelfahrtskommandos« nicht gespart, um mit einem »Handstreich« eine kriegsentscheidende Tat vollbringen zu lassen. Ob wir diesmal wieder eines dieser Opfer sein werden? 57
Nach dem Waschen ließen sich die Landser wieder ins Stroh fallen und schliefen. Einige schrieben Briefe. Auch ich schrieb einen; vielleicht den letzten. Ich konnte dieses quälende Gefühl nicht loswerden. Natürlich schrieb ich nichts, was meine Angehörigen hätte aufregen können. Alles gipfelte in dem bewährten Spruch: »Mir geht es gut, und ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen!« Der Obergefreite Ehmer meinte trocken: »Ich schreibe meiner Alten schon heute, daß ich in Zukunft nur noch teure Kinokarten kaufen werde. Im Kino und an der Front ist es gleich. Da sind hinten die besten Plätze, weil es vorn zu stark flimmert.« Vom neuen Regiment kam der Befehl, bei Einbruch der Dunkelheit nach vorn zu gehen. Da wir diese Gegend nicht kannten, wurde uns ein Unteroffizier der Fronttruppe als Einweiser zugeteilt. Also war dieser schöne Tag, an dem wir einmal richtig schlafen konnte, auch schon wieder zu Ende. Erneut nahm ich mir vor und gelobte es mir sogar, daß ich später einmal mit allem zufrieden sein wollte, wenn ich nur ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Schlafen haben sollte. Gegen 18 Uhr traf der Unteroffizier ein, und bald darauf setzte sich die Kompanie in Marsch. Die alten Polizisten mußten die Verpflegungskisten tragen, was ihnen auch schon beträchtliche Anstrengungen abnötigte. Die anderen trugen ein Gewehr und wollten immer wissen, wie es »da vorn« zugeht. Die alten Landser aber antworteten überhaupt nicht oder lediglich mit einem »Halt’s Maul! Wirst es noch früh genug sehen.« Auch Götz von Berlichingen wurde schroff zitiert. Ein Oberfeldwebel vom Stab verbat sich diesen Ton und verwies auf seinen Dienstgrad. »Wie sprechen Sie mit einem Oberfeldwebel«, herrschte er Krönninger an. »Ich werde Sie 58
zur Meldung bringen.« Krönninger hob nicht einmal den Kopf. Er brummte nur: »Dann kannst mich zweimal…!« Durch die Neuen war die Kameradschaft irgendwie gesprengt worden. Es bildeten sich zwei Gruppen. Voraus trabten die alten Landser; und hinterher marschierten die Neuen. Auf sie durften wir überhaupt nicht rechnen, dessen war ich mir bewußt. Es wäre mir fast lieber gewesen, man hätte uns mit ihnen verschont. Kreuz und quer zogen wir durch dichten Wald. Es war stockdunkel. Der Mond leuchtete, drang aber nicht durch das Gehölz. Wenn einer abirrte, war er verloren. Die Landser keuchten unter ihrer Last. Oberleutnant Gehring ließ halten und den Einweiser zu sich kommen. »Unteroffizier, wir marschieren nun schon eine ganze Stunde, und das Gewehr- und Granatwerferfeuer kommt verdammt nahe. Die Front kann also nicht mehr weit sein. Sind Sie sicher, daß wir auf dem rechten Weg sind?« Der Unteroffizier biß sich auf die Lippen. Dann entgegnete er: »Ich glaube schon. Ich habe den Weg auch nur einmal gemacht. Aber ich glaube, es stimmt.« Gehring zuckte zurück und sah ihn fassungslos an. »Mensch, was heißt das: ›Ich glaube?‹ Ich will nicht dem Russen in die Arme laufen. Links und rechts hört man das Schießen. Vor uns aber ist es ruhig. Wo ist eigentlich die Front? Mensch, sprechen Sie. Stehen Sie nicht da wie PikSieben!« »Herr Oberleutnant, da vorn war der Teufel los, als ich zurückging. Eine HKL hatten wir nicht mehr. Der Russe hat den ›Hahnenkamm‹ besetzt. Von dort kann er in unsere Stellung sehen. Wenn einer den Kopf hebt, dann ist er weggeputzt. Als ich zurückging, griff der Iwan gerade an. Wir haben nur Erdlöcher. Eine zusammenhängende Front gibt es hier nicht mehr. Wo meine Leute jetzt sind, weiß ich nicht. Ich 59
weiß auch nicht, ob sie halten konnten. Jedenfalls verläuft die Front nicht im Wald, sondern in einer baum- und strauchlosen, langgezogenen Mulde. Wir waren ungefähr 500 Meter vom Fuß des ›Hahnenkamms‹ entfernt. -Mehr weiß ich auch nicht.« »Ist schon gut«, beruhigte der Oberleutnant den reichlich niedergeschlagenen Korporal. Das konnte ja nett werden! Ein paar Landser sollten nun die Lawine aufhalten. Ob die da hinten überhaupt wußten, was da vorn gespielt wurde? Die Kompanie mußte sich nur bereitstellen, und den Einsatzbefehl gab der Herr General persönlich. Hatten wir Glück, und es gelang uns der Handstreich, dann war weiter hinten wahrscheinlich ein Ritterkreuz fällig. Anderenfalls waren eben wir schuld. Man kannte das allmählich, denn solche Sachen hatten sich schon des öfteren ereignet. Wir ließen die Köpfe hängen und trotteten weiter. »Sturm, Müller, Tanner zu mir!« befahl der Chef und ging mit uns etwas von den anderen weg. »Ihr seht, was man uns da vorgesetzt hat. Wir müssen aber so schnell wie möglich Verbindung mit einer Kompanie aufnehmen. Mir wurde gesagt, daß jede Einheit ein Funksprechgerät besitzt. Die Front ist in der Nähe, das wißt ihr genausogut wie ich. Was wir nicht wissen, ist, wer in den Löchern sitzt, wir oder der Russe. Wir müssen uns daher absichern und arbeiten uns gefechtsmäßig vor. Sturm, sie übernehmen die Spitze. Müller, Sie folgen links rückwärts hinter Sturm und sichern nach links. Ich bin in der Mitte. – Alles klar? – Gut! Macht mir keinen Krach. Es muß vermieden werden, daß Äste knacken. Haltet Augen und Ohren offen. Das war’s. Danke. Hals und Beinbruch!« Ich ordnete meinen Haufen und trat an. Von Baum zu Baum pirschten wir nach vorn. Wir sicherten uns stets gegenseitig. Wenn sich der Schützentrupp vorarbeitete, dann sicherte der MG-Trupp. Machte das MG Stellungswechsel, dann sicherten 60
die Schützen. Der frühere Drill auf dem Exerzierplatz war den Landsern in Fleisch und Blut übergegangen. Fast roboterhaft taten sie nun das, was sie daheim und später an der Front unzählige Male gemacht hatten. Nicht weit, halblinks vor uns, stieg eine Leuchtkugel hoch. Es mußte eine deutsche Signalpatrone gewesen sein. Die Front war also schon ganz nahe. Wir sahen uns um, bevor wir weitergingen. Der Wald wurde immer lichter. Vereinzelt mußten wir Waldschneisen und Blößen überwinden. Dann erreichten wir den Waldrand. Dort sollten wir uns bereitstellen und auf den Angriffsbefehl warten. Halbrechts vor uns stieg eine weiße Leuchtkugel hoch. Diesmal war es eine russische. Die russischen Leuchtpatronen brannten etwas länger als die deutschen, waren aber nicht so grellweiß, sondern hatten eine gelbliche Färbung. Ich spürte, wie meine Nerven flatterten. Schweiß rann mir von der Stirn, und die Lippen klebten aneinander. Allmählich begann es heller zu werden. Der Mond stand voll über uns und tauchte alles in ein kaltes, fahles Zwielicht. Meine Sinne begannen mich zu täuschen. Ich glaubte oft, geduckte Gestalten zu sehen, was sich aber immer wieder als eine Täuschung herausstellte. Diesmal aber war ich sicher. Vor uns hörte ich ein heiseres »Urrää«-Gebrüll, Pistolenschüsse peitschten unmittelbar vor uns durch die Nacht. Handgranaten detonierten mit grellen Schlägen. Vor uns krachten Zweige. Meine MPi war im Anschlag. Hoffentlich versagte sie nicht. Das Brechen der Zweige wurde lauter, die Geräusche kamen näher. War der Russe etwa schon durchgebrochen? Wenn wir nur nach den beiden Seiten Verbindung mit unseren Leuten hätten! Es war eine höllische Situation. Ich sollte mich vorhin nicht getäuscht haben. Plötzlich sah ich vor mir Gestalten auftauchen, etwa fünf an der Zahl. 61
Russen ohne Pelzmützen? Das kann es doch nicht geben … Trotzdem mußte ich handeln, und zwar sofort. »Hände hoch!« rief ich den seltsamen Gestalten zu. Sie kümmerten sich aber nicht darum und liefen weiter. Es waren keine Russen, sondern deutsche Landser, wie sich jetzt herausstellte. Gehring hatte die Pistole in der Hand. »Halt, oder ich schieße. – Hierher! Wer weiterläuft, den schieße ich nieder!« sagte er halblaut. Keuchend und heißen Atem von sich stoßend, kamen sieben deutsche Soldaten mit erhobenen Händen auf Gehring zu. Sie hielten uns offenbar für Russen. »Nehmt eure Pfoten herunter!« flüsterte Gehring ihnen zu. »Was ist los? Sprecht! Aber leise!« Die Männer sagten nicht viel. Sie schienen völlig fertig zu sein. »Der Russe«, stammelte einer von ihnen, »er ist durch!« Die Kompanie ging daraufhin sofort in Stellung, während Gehring sich weiterhin mit den Soldaten unterhielt. Bald wußten wir, daß der Russe eingebrochen war und die Männer aus der neuen Stellung geworfen hatte. Sie waren entweder überrascht worden oder vor Erschöpfung eingeschlafen gewesen. Der Feind, anscheinend nur ein Stoßtrupp, war unbemerkt an die Stellung herangekommen. Die zu uns gestoßenen Soldaten hatten noch fliehen können. Einmal sagte einer von ihnen: »Alle tot, alle! – Überrascht! Mit Gewehrkolben zusammengeschlagen. Alle tot. Die ganze Kompanie!« Es mochte inzwischen Mitternacht geworden sein. Oberleutnant Gehring sandte je einen Mann nach links und rechts mit dem Auftrag, Verbindung zu den Nachbar kompanien herzustellen. Ich bedauerte die Obergefreiten Dietmann und Ehmer, die diesen Auftrag erhielten. 62
Ohne Gegenrede machten sie sich auf den gefährlichen Weg. Ehmer gelang es, Verbindung aufzunehmen. Von dem anderen Kameraden hatten wir nie mehr etwas gehört oder gesehen. Nach Auskunft der fremden Soldaten, war der Russe ungefähr 300 Meter von uns entfernt. Er plante also den Angriff, und deshalb wurde vor uns weder geschossen noch eine Leuchtkugel abgefeuert. Der Überfall gelang dem Iwan meisterhaft. Was sollten wir aber nun unternehmen? Ehmer wurde noch einmal weggeschickt. Diesmal gab ihm Oberleutnant Gehring eine Meldung mit. Ehmer blieb sehr lange weg. Dann kam er aber doch wieder zu uns zurück. Gehring befahl die Unterführer zu sich. Ehmer schimpfte noch immer. »Eine Sauerei ist das. Das Telefonkabel ist gestört. Der Funkverkehr wird nur alle 15 Minuten aufgenommen. Batterie sparen, nennen sie das, diese Idioten. Als ob der Iwan gerade wartet, bis der Herr Kommandeur auf Empfang schalten läßt. Die sollen einmal vor in den Dreck. Eine Batterie kostet Geld, ein Landser ist scheinbar billiger. Der kostet bloß eine Postkarte!« »Kameraden«, begann Gehring, »wir müssen den Russen wieder herauswerfen. Die hinten wollen das so. Befehl ist Befehl. Aber wir sollen warten. Den Einsatzbefehl hat sich der Herr General vorbehalten. An das Versprechen mit der Artillerie glaube ich ebensowenig, wie wir Granatwerfer erhielten. Jede Minute ist kostbar. Wenn wir warten, dann verstärkt der Gegner die Stellung. Jetzt sind es aber nur ein paar Mann. Morgen früh sitzt sicher eine ganze Kompanie in den Löchern. Wenn wir so lange warten, sind wir verloren. Wir greifen daher sofort an. Die sieben Mann sind gerade zur rechten Zeit gekommen. Ich übernehme die Verantwortung. Ich warte den Befehl nicht ab, weil ich meine Leute nicht unnütz hinschlachten lasse. – Also, fertigmachen, ran bis zur 63
Baumgrenze, und alles andere überlassen wir dem Schicksal. Aber nur so können wir den Russen überraschen.« Müller meldete sich. »Gestatten, Herr Oberleutnant, daß ich dazu etwas sage?« Gehring sah den Unteroffizier fest an. »Sprechen Sie.« »Was Herr Oberleutnant vorhaben, ist Befehlsverweigerung. Ich bin OA (Offiziersanwärter) und habe das bei der Ausbildung gelernt. Der Angriffsbefehl wird vom Herrn General gegeben. Der Herr General wird Gründe haben, wenn er den Angriff hinauszieht. Wir bekommen Artillerieunter stützung. Ich gebe dies Herrn Oberleutnant zu bedenken. Mein Vater ist selbst Regimentskommandeur.« Eine Pause trat ein. Betretenes Schweigen herrschte. Gehring sah noch einmal den Unteroffizier an, dann auf uns. Ein eisiger Ton lag in seiner Stimme, als er erwiderte: »Ich habe es gesagt, und dabei bleibt es. Die Verantwortung übernehme ich allein. Vielleicht haben Sie recht, aber das ist mir im Moment gleichgültig. Denn ich will nicht zusehen, wie Männer, auf die wir später angewiesen sein müssen, nutzlos geopfert werden. Wir müssen angreifen, das steht fest. Unsere einzige Chance besteht darin, den Feind zu überraschen. Das gelingt aber nur jetzt – oder nie. Also: Wir greifen an. Beziehen Sie Ihre Ausgangsstellung, meine Herren. Ich danke Ihnen.« Oberleutnant Gehring wandte sich ab und blieb dann allein stehen. Ich bewunderte ihn im stillen, denn sein Entschluß war der einzig richtige. Wir arbeiteten uns bis an die Baumgrenze vor. Während des Aufenthalts in den Bunkern hatte ich bereits für die »Verstärkung unserer Feuerkraft« gesorgt. Im Nahkampf waren unsere Handgranaten denen der Russen weit unterlegen. Das lag einmal daran, daß unsere Handgranaten eine Zünddauer von 5 bzw. 7 Sekunden hatten. Stand aber der Gegner vor einem, dann war es meist zu spät, wenn die 64
Granate detonierte. In den Sekunden der Verzögerung konnte man mindestens 20 Meter laufen. Es war auch schon geschehen, daß der Russe zu früh geworfene Handgranaten zurückgeschleudert hatte, die dann im eigenen Graben detoniert waren. In einem geschlossenen Raum hatte unsere Handgranate eine beachtliche Wirkung, nicht aber im Freien. Es gab zwar einen starken Knall, die Sprengkraft war aber unerheblich. Der Stahlmantel der Handgranate war nur einen halben Millimeter dick. Ich hatte die Wirkung unserer Handgranaten selbst einmal erlebt und bin heute noch froh, daß sie so gering war. Im Winter hatte ich mich bei einem Spähtrupp irgendwie verirrt. Jedenfalls kam ich ziemlich weit nach rechts ab. Die dort liegende Kompanie war aber über unser Unternehmen nicht orientiert worden. An jenem Tag herrschte starkes Schneetreiben und Westwind. Plötzlich wurde ich angerufen und nach der Parole gefragt. Ich hatte es ganz deutlich gehört und schrie das Kennwort sofort zurück. Der Wind blies aber zu mir herüber, und der Posten konnte die Parole offenbar nicht hören. Kurz darauf detonierte neben mir eine Handgranate, und wir warfen uns in den Schnee. Ungefähr zehn weitere Handgranaten wurden auf uns geworfen, und alle zerbarsten in unmittelbarer Nähe. Keinem von uns wurde jedoch auch nur die Haut geritzt. Später erfuhr ich, daß das Maschinengewehr Hemmung hatte. Das war unser Glück gewesen. Die russische Handgranate ist dagegen gerippt, der Mantel mehrere Millimeter dick, und der Sprengkörper detoniert beim Aufschlag. Sie besitzt einen dem normalen Flaschenverschluß ähnlichen Hebel, der hochschnellt, wenn man ihn losläßt (zuvor muß ein Sicherungsstift herausgezogen werden). Berührt der Zünder einen festen Gegenstand, dann detoniert die Granate. Wir hatten im Lauf der Zeit etwas erdacht, das die 65
Überlegenheit der Handgranaten ausglich. Von einer leeren 800-Gramm-Büchse schnitten wir den oberen Deckel herunter und stellten eine Stielhandgranate hinein. Die Büchse füllten wir dann mit Granatsplittern, alten Eisenstücken, Glasscherben und Nägeln und preßten alles fest zusammen. Der abgeschnittene Deckel bekam in der Mitte ein Loch, wurde dann über den Granatenstiel gestülpt und die Büchse verschlossen. Das Ganze wurde schließlich mit Draht umwickelt. Dieser »Mörser zu Fuß« hatte eine unheimliche Splitterwirkung. Er war andererseits auch gut zwei Kilogramm schwer; und man konnte ihn daher nicht weiter als etwa 20 Meter werfen. Wir hatten diese teuflische Waffe auch verwendet, weil der Russe Dum-Dum-Geschosse benutzte und auch Gewehrmunition mit Sprengzündern verfeuerte. Beide Munitionsarten verursachten verheerende Wunden. Das Sprenggeschoß explodierte beim Aufschlag und riß die Körperstelle, die es traf, in Fetzen. Beim Dum-Dum-Geschoß war vorher die Spitze abgezwickt worden. Dadurch veränderte sich beim Flug die ballistische Richtung, und das Geschoß schraubte sich nicht vorwärts wie normal, sondern drehte sich beim Aufprall um die Längsachse. Das Einschußloch wurde dadurch um vieles vergrößert. Nun lagen wir wieder einmal in einer Ausgangsstellung, und ich versuchte, die feindlichen Stellungen auszumachen. Wieder schlug das Herz furchtbar laut. Auch jetzt wagte ich kaum zu atmen, um kein Geräusch zu verursachen. Ich steckte die Handgranaten zu recht, überprüfte noch einmal die Maschinenpistole. Eine Meldung wurde durchgegeben: »Genaue Uhrzeit: 0.17 Uhr! Angriff um 0.30 Uhr!« Die Minuten wurden nun zur Qual. Ich beobachtete feindwärts, und doch waren meine Gedanken gar nicht da. Ich dachte an meine Mutter, an meinen Vater, meine Schwester 66
und meinen Bruder, an meine Frau und das Kind. Sie alle konnten nicht ahnen, was mir bevorstand. Sicher war das kein Fehler. Ich hatte ja geschrieben, daß es mir gutginge und sie keine Sorge um mich zu haben brauchten. Meine Frau schrieb mir einmal, ich solle nicht so dumm sein und den Kopf hinhalten. Von einem toten Helden habe sie nichts. Ein lebender Feigling sei ihr lieber. Glücklicherweise war der Brief nicht zensiert worden. Ich verbot ihr aber, in Zukunft Derartiges zu schreiben. Wäre der Brief einem Zensor in die Hände gefallen, dann hätten die Folgen unabsehbar sein können. Auch ich hatte einen »Mörser zu Fuß« bei mir. Ich lud jetzt die Signalpistole nach und ordnete die Farben in der Tasche. Wen würde es heute treffen? Wer würde überleben? Die Gedanken drängten und quälten. Der Schweiß rann unter dem Stahlhelm hervor, und die Angst kroch würgend in die Kehle. 0.28 Uhr! Hinter uns brummte es am Himmel. Das Motorengeräusch kam rasch näher. Es war eine deutsche Ju 52, die mit Positionslichtern folg und mit dem Suchscheinwerfer den Boden ableuchtete. Sie war höchstens 100 Meter hoch und hielt Kurs auf den Russen. Was wollten die nur? Hatten sie sich etwa verflogen, oder wollten sie zum Feind hinüber. Auf der ganzen Front stiegen jetzt Leuchtkugeln hoch. Die Landser wollten den Kameraden da oben den Frontverlauf anzeigen. Uns taten sie damit ebenfalls einen großen Gefallen. Jetzt konnten wir uns wenigstens orientieren und kannten den ungefähren Verlauf der HKL. Das Flugzeug kreiste zweimal und flog jetzt erneut auf die russische Front zu. Diesmal dröhnte die Transportmaschine über die feindlichen Stellungen, und sofort begann die russische Flak zu schießen. Wenig später zischte eine Stichflamme aus der Ju 52. Am gegenüberliegenden Hang zerbarst sie unter einem hohen Feuerturm. 67
Aus der sowjetischen Stellung erklang Jubelgeschrei. Die Russen hatten das Schauspiel sicher mit Vergnügen beobachtet, doch das sollte uns zum Vorteil gereichen. Wir waren mittlerweile bis auf 50 Meter an den Feind herangekommen, ohne bemerkt zu werden. Jetzt mußte die Chance genutzt werden. Die »Ju« hatte eine unverhoffte Wendung herbeigeführt. Wir setzten nun Schießbecher auf unsere Gewehre. 20 Gewehrgranaten müßten eigentlich genügen, um uns den Einbruch zu ermöglichen. Als der Chef den Befehl zum Feuern gab, blieb alles stumm. Verzweifelt stellten wir fest, daß die Gewehrgranaten nicht in den Schießbecher paßten. Dieser hatte einen normalen Rechtsdrall, die Granaten aber Linksdrall, so daß sie nicht in die Führungsrillen einrasteten. Es war einfach unfaßbar. Trotzdem stürmten wir vor und brüllten unser »Hurrraaa«. Es fielen nur wenige Schüsse. Einmal warf ich mich zu Boden, um mit der MPi eine Garbe auf die feindliche Linie abzufeuern. Dann sprangen wir in die feindliche Stellung. Verdattert hoben die Russen die Arme. Einer zog die Pistole, aber ein MPi-Feuerstoß ließ ihn zu Boden sinken. Ein verwundeter Russe schrie ununterbrochen. Er schien ungeheure Schmerzen zu haben. Wir ließen die Rotarmisten im Graben und gingen sofort in Stellung. Ich erschauere noch heute, wenn ich daran denke, daß ich den Russen dabei den Rücken zeigte. Es schoß aber keiner auf mich. Erst als mit keinem Gegenstoß des Feindes mehr zu rechnen war, kümmerte ich mich um die Gefangenen und nahm ihnen die Waffen ab. Krönninger und Ehmer waren bei mir. Ich war beruhigt, daß das MG da war. Diese Waffe war für uns wichtiger als vieles andere. Der verwundete Russe war inzwischen anscheinend seinen Verletzungen erlegen. Er rührte sich nicht mehr. Ich beugte 68
mich nieder und wollte ihn auf den Rücken drehen, nachdem mir ein Gefangener das Wort »Kommissar« zugeflüstert hatte. In diesem Augenblick aber hob der angebliche Tote die Pistole und drückte ab. Haarscharf an meinem rechten Ohr zischte eine Kugel vorbei. Ich trat dem Russen mit dem Stiefel die Waffe aus der Hand, und Krönninger schlug ihm einen Munitionskasten auf den Kopf. Dann starb er. »Unteroffizier Müller gefallen!« »Oberleutnant Gehring verwundet!« »Obergefreiter Kogler verwundet!« Nacheinander trafen die Meldungen ein, die auf uns oft schrecklicher wirkten als der vorangegangene Kampf. Gehring hatte eine Stichwunde am linken Oberarm. Er ließ sich verbinden, steckte den Arm in eine Schlinge, ging aber gar nicht zum Verbandsplatz. Obergefreiter Kogler hatte einen Kolbenschlag auf den Kopf bekommen. Ein niederbayrischer Schädel hält aber allerhand aus, und nach kurzer Zeit war Kogler wieder auf den Beinen. Wo aber war unser Ersatz? Wo waren die Polizisten und die anderen vom Stab? Drei Polizisten waren verschwunden. Waren sie vor dem Angriff einfach liegengeblieben? Nur der Zugwachtmeister war da. Er hatte tapfer mitgehalten und war zusammen mit den Landsern in die russische Stellung eingedrungen. Oberfeldwebel Hartmann hatte sich selbst eine Handgranate vor die Beine geworfen. Er war in einem Trichter geblieben, hatte die Beine herausgestreckt und die Handgranate danebengelegt. Unteroffizier Tanner hatte es gesehen. Zwei andere Feldwebel waren ebenfalls mitgestürmt. Einer hatte offenbar einen Nervenzusammenbruch. Er schluchzte und zitterte am ganzen Körper. Wir mußten ihn zurückbringen. Die Verbindung mit den Nachbarkompanien war inzwischen ebenfalls hergestellt worden, und wir hingen nun nicht mehr in der Luft. Wir hatten auch einen überdachten Überstand in 69
dieser Stellung, in dem der Kompaniegefechtsstand einge richtet worden war. Die Gefangenen hatte man inzwischen zum Chef gebracht. Noch gute zwei Stunden würden wir aushalten müssen, bis der neue Tag anbrach. Unsere Augen bohrten sich in die Nacht. Der Russe schoß jetzt mit Granatwerfern auf unsere Stellung. Die Schüsse lagen aber viel zu kurz. Wir hatten wahrhaftig nichts dagegen. Im übrigen war ich jetzt davon überzeugt, daß in dieser Nacht kein Gegenstoß mehr erfolgen würde. Viele Anzeichen sprachen dafür. Der Kompanieführer hatte in der Zwischenzeit die Meldung von der Rückeroberung der Stellung durchgegeben. Zugleich hatte er Fernsprecher angefordert, die eine Leitung zur Nachbarkompanie legen sollten. Dies geschah auch sofort. Gehring ließ Tanner und mich zu sich kommen. Er zog aufgeregt an einer Zigarette und gab auch jedem von uns eine. »Kameraden«, sagte er, »was wir heute erlebt haben, ist eine große Schweinerei. Ich werde darüber berichten. Wir an der Front halten Unmenschliches aus, und die daheim sabotieren. Die Gewehrgranaten sind alle unbrauchbar. Der Drall ist verkehrt. Diesmal ist es, Gott sei Dank, noch gutgegangen. Stellt euch aber vor, der Iwan hätte angegriffen, und wir hätten uns auf die Gewehrgranaten verlassen. Nicht auszudenken. Es ist einfach nicht zu fassen. Wir werden die Gewehrgranaten als Handgranaten verwenden. (Dabei mußte nur der Fuß mit den Führungsrillen abgeschraubt werden. Dann konnte man an einer Zündschnur abziehen. Sie hatten Aufschlagzünder.) Was habt ihr dazu zu sagen?« Ich entsann mich unwillkürlich eines anderen Beispiels. »Sabotage gibt es nicht nur in der Heimat«, entgegnete ich. »Erinnern Sie sich an Kertsch. Wir hatten keine Munition. Wegen jedes Artilleriegeschosses mußte beim Regiment angefragt werden, und dann wurde meistens die Erlaubnis versagt. Kein Schuß wurde freigegeben. Sogar über jeden 70
Gewehrschuß mußten wir Rechenschaft ablegen. Und kurz vor Ostern, also kurz bevor wir uns absetzten, sprengten sie in Ssalin (20 Kilometer hinter der Front) zwei Nächte lang die Munition in die Luft. Bis dorthin war die Munition gekommen, aber die letzten 20 Kilometer schafften sie nicht mehr. Das war doch zu offensichtlich. Der Landser kann ja den Schädel hinhalten. Der Dank des Vaterlandes ist ihm immer gewiß. Er wird ihm überallhin nacheilen, aber ihn nie erreichen. So ist das!« Tanner sagte nur: »Alles beschissen.« Zum erstenmal läutete das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und meldete: »Hier ›Agathe drei!‹« »›Beate eins‹ wünscht Herrn Oberleutnant Gehring zu sprechen.« »Ich übergebe«, sagte ich. »Beate eins« war der Divisionskommandeur. Gehring meldete sich. Stumm hielt er die Hörmuschel am Ohr. Sein Gesicht wurde kreidebleich. Erst nach längerer Zeit entgegnete er: »Jawohl, wird sofort ausgeführt.« Der Oberleutnant legte den Hörer in den Halter. Er zündete eine Zigarette an und lehnte sich an die Erdwand zurück. »Ist gut, daß ihr noch da seid. Ich muß euch verlassen. Ich habe nach Ansicht des Herrn Generals Befehlsverweigerung verübt. Außerdem sei ich schuld am Tod des Unteroffiziers Müller. Ich muß sofort die Kompanie übergeben und mich bei der Division melden.« Er machte eine Pause und starrte vor sich hin. »Feldwebel Sturm«, sagte er dann, »Sie übernehmen vorläufig die Kompanie, bis ein Offizier eintrifft.« Wir konnten nichts erwidern. Gehring ging, unser Oberleutnant Gehring. Er war ein fabelhafter Kamerad. Er verstand Spaß und nahm nicht alles so tragisch. 71
Als ich 1942 als Verwundeter zum Ersatzbataillon nach Bad Mergentheim gekommen war, war Gehring Chef der Marschkompanie gewesen. Damals starb in Krautheim an der Jagst ein Unteroffizier. Ich wurde mit sechs Mann abgeordnet, im Auftrag des WBK (Wehrbezirkskommando) Tauberbischofsheim einen Kranz niederzulegen. Krautheim ist etwa 15 Kilometer von Mergentheim entfernt. Wir fuhren mit dem Fahrrad, und um 13 Uhr war die Beerdigung. Nach der Trauerfeier wollte ich nach Hause fahren. Die Landser, alte Frontsoldaten, bedrängten mich aber, zu bleiben. Auf dem Berg sei eine Gastwirtschaft, dort könnte man einen zwitschern, ohne bemerkt zu werden. Der Gefreite Dillinger war von Krautheim. Nun, wir alle würden bald wieder an die Front abgestellt werden, und warum sollte ich den Soldaten diese Freude nicht gönnen? Also ging es nachher zur Wirtschaft. Es wurde 5, es wurde 6, und es wurde schließlich 10 Uhr, und wir waren mächtig in Stimmung. Gegen 11 Uhr kam der Gefreite Dillinger mit Mädchen. Nun wurde es erst recht gemütlich. Ich rief den U. v. D. an und sagte ihm, daß wir heute nicht kommen könnten, da wir einen Defekt an verschiedenen Rädern hätten. Der U. v. D. antwortete, daß er den Defekt sehr wohl aus meiner Stimme erkenne, wir sollten aber beim Wecken dasein, damit es nicht auffalle. Ich fragte die Wirtin, ob wir später etwas auf den Bänken schlafen könnten. Sie erlaubte es. Am anderen Tag wollte ich zurückfahren. Ich war damals Unteroffizier, und das Geld war in der Heimat bei mir dauernd Mangelware. Ich sagte das den anderen. »Wird alles bezahlt!« versprachen sie. Das war immerhin ein Angebot. Wir fielen nicht auf, als wir zurückkamen. Ich war schon sehr froh darüber, denn ein ganz gutes Gewissen hatte ich schließlich nicht. Doch nach einer Woche hieß es: 72
»Unteroffizier Sturm zum Rapport; im Stahlhelm.« Da hatten wir es! Stahlhelm, das bedeutete Strafrapport. Während ich mich anzog, machte ich mir Gedanken darüber, wieviel es geben könnte. Dann war es soweit! Ich betrat Gehrings Dienstzimmer und meldete: »Unteroffizier Sturm zum Rapport befohlen.« Gehring lehnte sich zurück, wie er es immer machte, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich, verschmitzt lächelnd, an. »Na, Soldätle«, begann er, »wo warst du denn vor 10 Tagen?« Also doch! Er wußte bestimmt alles, und daher war es besser, die Sache zuzugeben. »In Krautheim, Herr Oberleutnant.« »Wie lange?« »Zwei Tage, Herr Oberleutnant!« »Weisch du, was das ischt? – Das ischt unerlaubte Entfernung von der Truppe. – Weisch du, was das gibt?« »Jawohl, Herr Oberleutnant!« »Was habt ihr da gemacht, Soldätle?« »Einen Kranz niedergelegt, Herr Oberleutnant.« »So lange? Da schau her. Das war gründlich. – Habt ihr auch Madle bei euch gehabt, Soldätle?« »Jawohl, Herr Oberleutnant.« »Das ischt natürlich mildernd. Was habt ihr aber sonst gemacht?« »Gefeiert. Wer weiß, ob wir noch einmal dazu kommen. – Sonst haben wir nichts getan, Herr Oberleutnant.« Gehring nickte ein paarmal, dann sagte er: »Deswegen bischt du da, Soldätle. Ihr habt nämlich zu wenig getan. – Da, lies einmal das Briefle.« Ich nahm den Brief und entfaltete ihn. »Gemeinde Krautheim/Jagst«, das war der Briefkopf. Ich las den Inhalt und glaubte meinen Augen nicht trauen zu dürfen. Die Landser 73
hatten doch gesagt, daß alles bezahlt sei. Und jetzt war die Rechnung an die Kompanie gekommen. Sie hatten der Wirtin erzählt, die Kompanie bezahle alles, und ich Trottel hatte den Dreh nicht durchschaut. »Was nun, Soldätle?« Ich konnte gar nichts sagen. 176.50 RM, das war die Schuld, und dazu 3,5 Kiloabschnitte an Fleischmarken. »Was glaubst du, was passiert, wenn der Kommandeur das erfährt?« Das wußte ich nicht, aber ich konnte es mir vorstellen. Ich konnte nichts sagen, mir hatte es die Sprache verschlagen. Gehring ließ mich einige Zeit zappeln. »Schau nicht so dämlich. Es gibt einen Weg. Innerhalb von 14 Tagen muß das bereinigt sein. Dann ist alles erledigt. – Überleg einmal, Soldätle, wir haben den Gefreiten Frank. Er ist lyrischer Tenor in Würzburg. Wir haben den Fleischmann, der ist Schauspieler. Wir haben ein paar gute Musiker. Ihr veranstaltet einen bunten Abend im Kursaal. Den bekommen wir. Das erledige ich. Der Fürst ist ein prima Komiker, den nimmst auch her. Das müßte hinhauen.« Und es hatte hingehauen. Frank brachte die Hälfte des Operettenensembles mit, unsere Musik erntete stürmischen Beifall, und wir mußten den Abend wiederholen. Es blieb so viel, daß wir noch einen Kameradschaftsabend, bei dem es sehr feucht zuging, starten konnten. Die Fleischmarken bekamen wir von den Urlaubern spendiert. Das war Oberleutnant Albert Gehring. Jetzt sollte er uns verlassen. Das konnte doch nicht sein. Als er mir nun sagte, daß ich die Kompanie übernehmen sollte, weigerte ich mich, es zu tun. »Sturm« sagte er mit belegter Stimme, »wir kennen uns. Ich weiß, was du denkst. Aber das ist Unsinn. Der General hat 74
mich ablösen lassen. Vielleicht hat auch Müllers Vater mitgeholfen. Ich gehe, ich habe meine Pflicht getan. Grüßen Sie mir die Kompanie. Ich kann mich nicht verabschieden. Hier geht es nicht – und außerdem – ersparen Sie mir das. Sie sind alle meine Kameraden gewesen. Kopf hoch!« Gehring schüttelte uns die Hand. Mir klopfte er auf die Schulter. »Weißt du noch, Soldätle?« Dann kroch er aus dem Loch und verschwand in der Dunkelheit. Kaum eine Minute später hörte ich einen Pistolenschuß fallen. Ich kroch aus dem Loch und robbte einige Meter zurück. Dort lag Gehring. Eine Kugel war ihm durch die Schläfe gedrungen, die Pistole hielt er noch in der verkrampften Hand. Der Lauf war noch warm. Ich glitt wieder zurück. Der Telefonhörer zitterte in meiner Hand. Dann gab ich die Meldung durch: »Oberleutnant Gehring – gefallen. Kopfschuß!« Niemand sollte erfahren, was in Wirklichkeit geschehen war. Die Nacht verging verhältnismäßig ruhig. Allmählich begann es zu dämmern. Nun konnten wir die Front richtig erkennen. Unsere Lage war alles andere als großartig. Auf dem »Hahnenkamm«, keine 300 Meter von uns entfernt, saß der Russe. Er konnte in jedes Deckungsloch sehen. Auf dem Berg hatte er Artillerie postiert. Jeder Gewehrschuß wurde von ihm mit einer Granate beantwortet. Sahen denn die Kommandeure diese fatale Lage nicht? Müssen wir uns abschießen lassen wie die Hasen? Aber der Führer hatte ja befohlen, Sewastopol zu halten. Es wäre vielleicht noch lange zu halten gewesen, aber nicht von dieser Stellung aus. Wir mußten zurück, in ausgebaute Stellungen. Dann müßte der Russe wieder angreifen. Jetzt war es aber umgekehrt; jetzt wartete der Gegner auf uns. Erfolge gelangen 75
uns in dieser Zeit meistens aber nur dann, wenn der Russe leichtsinnig war oder zu stark unterschätzt wurde. Die Sonne kam hoch. Ein wunderbares Schauspiel, wenn Frieden gewesen wäre. Im Augenblick interessierte uns aber das sehr wenig. Wir wollten nur Ruhe haben und etwas schlafen. Wieder gab es wie alle Tage zuvor Eselkonserven mit Knäckebrot. Das würde auch in der nächsten Zeit sicher nicht besser werden. Wir waren einer fremden Einheit zugeteilt, und das war selten gut für die jeweilige Truppe. Die eigenen Kompanien werden stets bevorzugt. Ich versuchte, mit meinen Leuten in Blickverbindung zu kommen. Kaum hatte ich aber den Kopf über den Rand der Deckung gehoben, als auch schon ein Geschoß haarscharf an mir vorbeizischte. Ich fühlte mich wie auf einer Hinrichtungsstätte. Wir konnten nur warten, bis der Russe zuschlug. Eine Verteidigung war hier nicht möglich. Da war es sogar am »Herzogstand« bei unserem Bataillon noch besser gewesen. Wir lagen nun am Fuß des »Hahnenkamms«, jenes Berges, den eine deutsche Einheit kampflos aufgegeben hatte, um zum Feind überzulaufen. Auf der Höhe stand feindliche Artillerie und schoß auf jede Bewegung. Ich versuchte mich so eng wie möglich an den Muldenrand zu drücken. Zischte eine Granate vorbei, so zog ich mich auf dem Boden zusammen und hielt den Atem an. Es war die Hölle. Die Hände würde ich mir blutig scharren, wenn ich in der Erde verschwinden könnte. Das ging aber hier nicht. Die Erdschicht war kaum einen halben Meter dick, dann folgte Felsgestein. Ich mußte aber beobachten, denn der Feind war kaum 100 Meter von uns entfernt. In Kertsch war die Distanz noch geringer gewesen. Nur eine Straßenzeile hatte uns getrennt. Es war aber ebenes Gelände, und wir konnten uns in die Erde wühlen. Außerdem hatten wir 76
dort durchgehende Laufgräben. Wenn ich beobachten wollte, dann ließ ich einen Soldaten einen Stahlhelm auf einen Besen stülpen und die »Heldentüre« so hoch über dem Grabenrand hin und her bewegen, daß die Rundung des Stahlhelms vom Iwan deutlich zu sehen war. In kurzer Zeit schoß der Russe dann wie verrückt auf den Stahlhelm, während ich etwa 20 Meter daneben ungestört beobachten konnte. Hier ging so etwas nicht. Der Feind saß weit höher als wir und konnte in unsere Erdlöcher schauen. Da nützte alle List nichts. Wir wurden sogar mit eigenen Waffen beschossen; denn der Feind setzte erbeutete Nebelwerfer ein. Das Aufbrüllen beim Abschuß war grausig, und ein langer Rauchschweif verriet die Abschußstelle. Hätten wir doch nur ein einziges Artilleriegeschütz gehabt. Aber wir hatten keines und mußten machtlos zusehen, wie der Russe immer weitere Kanonen in Stellung brachte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und brannte unbarmherzig auf uns herab. Der Gaumen war trocken, und die Zunge klebte im Mund. Die Lippen waren aufgesprungen, die Augen brannten. So wartete ich, bis endlich ein Volltreffer diesem grausamen Spiel ein Ende machen würde. Mehrere Soldaten waren schon gefallen. Meldungen dieser Art wurden mir immer wieder zugerufen. Im Erdloch neben mir saß der Zugwachtmeister der Polizei, an den Erdrand gelehnt, als würde er schlafen. Neben ihm stand eine angebrochene Konservenbüchse. Er war tot. Eine Gewehrkugel hatte ihn ins Herz getroffen. Meistens waren immer zwei bis drei Mann in den primitiven Deckungen. Rechts von mir, etwa 20 Meter entfernt, stöhnte Unteroffizier Tanner. Ein Granatsplitter hatte ihm den Bauch aufgeschlitzt. Er preßte die Arme auf den Leib, obwohl das so sinnlos war. Er war ein alter Soldat und wußte sicher, daß er rettungslos verloren war, wenn er nicht innerhalb von drei 77
Stunden operiert wurde. Wer aber sollte ihn zurückbringen? Wer sollte ihn operieren? Wer konnte überhaupt das Deckungsloch verlassen? Wir hatten höchstens noch 12 Mann in der Kompanie, verteilt auf fünf Löcher. Zwischen uns und der Nachbar kompanie klaffte eine große Lücke. Das russische Artilleriefeuer verstärkte sich zu einem Inferno ohnegleichen. Erdbrocken flogen durch die Luft und wirbelten uns auf Kopf und Rücken. Die Luft war grau und mit Pulverdampf geschwängert. Granatsplitter pfiffen, und Querschläger schwirrten durch die Gegend. Meistens feuerte die feindliche Artillerie in direktem Beschuß. Auf den Abschuß folgte nur ein ganz kurzes Rauschen und dann der Einschlag. Könnte ich doch beten! Vielleicht brächte mir das Erleichterung. Aber ich konnte es nicht. Hier war die Hölle, die Hölle von Sewastopol. Ich sah kurz hoch und bemerkte dabei, wie ein Volltreffer in der Stellung der Nachbarkompanie einschlug. Erdklumpen, Holzteile und menschliche Gliedmaßen flogen durch die Luft. Mitten in diesem Chaos stiegen die russischen Infanteristen aus ihren Stellungen. Das Artilleriefeuer hörte sofort auf. Wie Katzen schlichen die Rotarmisten heran, jede Deckung geschickt ausnützend. Wir hatten aber noch unser MG 42. Wenn auch die Stahlhülsen der Geschosse manchmal aufrissen und dadurch im MG-Lauf steckenblieben, so war die Wirkung dieser Waffe doch enorm. Ein Laufwechsel war eine Arbeit von höchstens fünf Sekunden. Spannschieber zurück, Laufwechselkappe gedrückt, etwas nach abwärts mit dem Schaft, dann rutschte der Lauf selber heraus. In der Kaserne hatten wir noch den Gurt herausgenommen. Jetzt machten wir auch das nicht mehr. Der Gurt blieb im Zuführer. Es wurde lediglich der Lauf eingeschoben, die Laufwechselklappe zugeschlagen und auf den Abzug gedrückt. Und schon war die Waffe wieder 78
feuerbereit. Wir machten auch nach 1.000 Schuß keinen Laufwechsel. Wir schossen, bis der Lauf weiß glühte. Auch jetzt jagten unsere Maschinengewehre ihre Garben hinaus. Der Feind lag etwas über 50 Meter vor uns und kam keinen Schritt mehr weiter. Kurz darauf setzte feindliches Artilleriefeuer ein. Die meisten Granaten detonierten hinter uns. Einige saßen aber im Ziel, und in dem rechts von mir befindlichen Deckungsloch gab es einen Volltreffer. Ich hatte auch den Eindruck, daß die linke Gruppe der rechten Nachbarkompanie, also die Nahtgruppe, ebenfalls ausgefallen war. Kein Schuß fiel von dort, und die Russen schoben sich, auf dem Bauch kriechend, immer näher heran. Für mich waren sie aber zu weit entfernt. Es wäre sinnlos gewesen, Handgranaten oder gar einen »Mörser zu Fuß« zu werfen. Dann setzten die Russen zum letzten Sprung an. Krönninger warf das MG herum und schoß in die Flanke des Feindes. Er hatte gut gezielt. Sofort lagen die Russen wieder in Deckung, als ob sie der Erdboden verschluckt hätte. Schmerzensschreie und Hilferufe drangen zu uns herüber. Im Augenblick hatten wir wieder etwas Luft, durften den Feind aber keine Sekunde aus den Augen lassen. Links von uns hielt die Front. Unsere MG feuerten fast ununterbrochen. Noch schoß die russische Artillerie, und die Salven gingen teilweise auch in ihren eigenen Reihen nieder. Der angreifende Feind schoß daraufhin rote Leuchtkugeln, und das Granatwerfer- und Artilleriefeuer wurde sofort eingestellt. Jetzt stand es sozusagen wieder pari. Nun lag dem deutschen Infanteristen der russische gegenüber, und davor hatten wir auch jetzt noch keine Angst. Mit gelindem Grauen sah ich jetzt wieder nach rechts, wo der Russe nur noch ein paar Meter von den deutschen Deckungslöchern entfernt war und sich kein Widerstand zeigte. Das war eine gefährliche Situation, da der Gegner uns jetzt von 79
der Seite packen konnte. In diesem Falle würden wir von vorn und von rechts Feuer bekommen. Wir konnten aber nur einen Feind bekämpfen … Plötzlich verspürte ich am linken Oberarm einen heftigen Schlag. Was war das? Ich hatte keine Schmerzen, lediglich das Blut lief mir warm am Arm herunter. Ich versuchte, den Arm zu heben, konnte ihn aber nicht bewegen. Das Hemd färbte sich rot. Da zog ich ein Messer heraus und schnitt den Hemdärmel auf. Krönninger ließ das MG sinken und starrte zu mir herüber. »Nicht schlimm!« schrie er nach einem schnellen Blick auf die Wunde, »Streifschuß!« Ich rutschte an das Maschinengewehr, drückte Krönninger weg und stemmte mich mit aller Gewalt dagegen. Die rechte Hand lag am Abzug. Ich versuchte zu schießen, während Krönninger mit dem Verbandspäckchen den herabhängenden linken Arm verband. Doch ich konnte das MG mit einer Hand nicht halten. Der Rückstoß war zu stark, und nach der ersten Garbe lag die Waffe, nach hinten geschleudert, auf dem Boden. Krönninger schob mich zur Seite und zeigte auf meinen Arm. »Ich hab einen Fetzen drumgewickelt. Es ist nicht schlimm. Nur nicht dran denken!« Ich fühlte immer noch keinen Schmerz, obwohl sich sekundenlang alles um mich drehte. Nach kurzer Zeit verging aber auch das. Die MPi konnte ich mit der rechten Hand noch halten, denn der Rückstoß dieser Waffe war unbedeutend. Zurück konnte ich sowieso nicht, und in Gefangenschaft wollte ich nicht, als Verwundeter schon gar nicht… Rechts vor mir saß der Russe bereits in den deutschen Stellungen. Wir bekamen schon Gewehrfeuer aus dieser Richtung. Krönninger mußte mit dem MG immer wieder in volle Deckung. Ein Stellungswechsel war aber unmöglich, weil wir 80
das Deckungsloch nicht verlassen konnten. Wieder einmal verfluchte ich dieses Sewastopol. Vor uns der Feind, hinter uns das Meer. In einem anderen Frontabschnitt hätten wir uns bestimmt schon zurückgezogen. Aber hier blieb uns keine andere Wahl. Außerdem wußten wir, was die Russen mit unseren gefangenen Kameraden gemacht hatten. Wir wollten daher lieber sterben, als in Gefangenschaft geraten. Aber zuvor würden wir unser Leben so teuer wie möglich verkaufen. Bis zur letzten Patrone würden wir kämpfen, und diesmal war das keine leere Phrase. Die letzte Kugel würde mir gehören, das hatte ich mir geschworen. Man muß das alles richtig verstehen. Wir kämpften schließlich nur um das nackte Leben und nicht etwa für Ideale. Wenn man dem Feind so nahe gegenübersteht, dann denkt man nicht an die Heimat, an Leute wie den Führer oder sonst etwas Ähnliches, sondern nur noch an das eigene Ich. Man nützt die winzigste Chance, und wehe dem, der nicht so handelt. Er wäre rettungslos verloren, denn der Krieg kennt weder Moral noch Gesetz, noch Skrupel. Nicht der Gutmütige setzt sich hier durch, sondern nur der hart, verbissen und manchmal auch hinterhältig Kämpfende. So war es auch jetzt: Kampf um Leben oder Tod! Das Feuer von rechts wurde immer stärker. Wir konnten den Kopf nicht mehr hochheben. Auch der Feind von vorn hatte uns im Visier. Kaum zeigte sich unsere MG-Mündung, da knallten die russischen Garben auch schon knapp über unsere Köpfe. Das Überschießen hört sich nämlich ganz anders an, als wenn ein Schuß vorbeigeht. Es gibt einen hellen, kurzen Knall. Der Abschuß trifft das Gehör erst etwas später. »Es geht nicht mehr, Krönninger!« schrie ich. »Wir müssen versuchen, in das linke Loch zu kommen. Dort sind zwei Mann. Es ist schon noch Platz. Dann haben wir zwei MG. Du kannst dann nach rechts schießen, damit die Iwans keinen Blödsinn machen.« 81
»Ich springe bei der nächsten Feuerpause!« brüllte Krönninger. Er hatte es geschafft. Nach einigen schnellen Sprüngen war er in dem anderen Verteidigungsloch gelandet. Ein russischer Granatwerfer schoß nur um Millimeter zu kurz. Der nächste Schuß würde sitzen, ich kannte die feindlichen Granatwerfer. Jetzt mußte ich raus, oder mein letzter Augenblick war bald gekommen. Mein linker Arm schmerzte und war stark angeschwollen. Krönninger hatte die Binde zu fest zusammengezogen. Ich kauerte mich nieder und schnellte dann aus dem Loch. Nach einigen Schritten warf ich mich wieder hin. Eine MG-Garbe zischte haarscharf an mir vorbei. Noch ein Sprung, dann würde ich es ebenfalls geschafft haben. Ich biß die Zähne zusammen, um den Schmerz zu unterdrücken. Schweiß rann mir in Strömen von der Stirn, das Hemd klebte auf dem Rücken. Noch einmal zog ich im Liegen das linke Knie an und rannte dann um mein Leben. Da verspürte ich einen fürchterlichen Schlag. Rötliche Sterne tanzten vor meinen Augen, und es war, als säße ich in der Gondel eines Riesenrades und sauste nach unten. Dann wurde es dunkel um mich. In irgendeinem Erdloch kam ich wieder zu mir. War es schon dunkel? Mir kam es so vor, als ob es bereits stockfinster sei. »Was – ist – los?« fragte ich. »Sie hat es erwischt«, antwortete eine Stimme, die unendlich weit entfernt zu sein schien. »Der Krönninger hat Sie hereingezogen.« Das hörte ich noch, dann drehte sich das bunte Karussell wieder um mich, und ich fiel in bodenlose Tiefen. Wie lange ich in dem Erdloch war, weiß ich nicht mehr. Einmal fragte ich nach der Uhrzeit. »Es wird bald dunkel«, sagte einer. Für mich war es aber schon dunkel. Ich sah keine Sonne, 82
kein Licht. Wo hatte es mich erwischt? Wo? Ich fühlte keine Schmerzen. Nur wenn ich mich bewegte, spürte ich furchtbare Stiche am ganzen Körper. »Durst!« hauchte ich manchmal, »Durst!« Später wurde ich hochgehoben und irgendwo hingelegt. Ich brüllte auf vor Schmerz. Vielleicht brachten sie mich jetzt zurück. Als ich wieder erwachte, schlug in der Nähe eine Werfergranate ein. Die Soldaten, die mich trugen, ließen mich fallen, und ich hatte das Gefühl, als steckten 100 Messer in meinem Leib. Wieder erschienen die kreisrunden Sterne vor meinen Augen, und es wurde Nacht um mich. In »Maxim-Gorki« kam ich wieder zu mir. Zuvor war ich weiter hinten auf einen Panjewagen geladen worden. Es war eine schreckliche Fahrt gewesen. Wenn der Wagen in ein Loch oder in einen Granattrichter rumpelte oder über Gräben fuhr, glaubte ich jedesmal, in einer Folterkammer zu sein. In »Maxim-Gorki«, dem großen russischen Festungswerk in Sewastopol, war es still. Kein Schuß, keine Granaten detonation. Dafür plagten mich fürchterliche Träume. Drachenartige Bestien mit blitzessprühenden Augen und feurigen Rachen drangen auf mich ein. Ich wollte davonlaufen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. Immer näher kam das Ungeheuer, und ich konnte nicht laufen. Schweiß stand auf meiner Stirn. Als das Fabelwesen mich zu packen versuchte, mußte ich laut aufgeschrien haben. Ich erwachte, und gräßlicher Schmerz durchzuckte mich. Jetzt war ich wieder klar und fühlte, daß sich jemand über mich beugte. »Sie werden sofort behandelt. Seien Sie tapfer«, sagte eine Stimme. Warum brannte denn kein Licht? War es immer noch dunkel? Ich sah überhaupt nichts. Sonst gewöhnt man sich doch an die Finsternis. Diesmal aber blieb es schwarz vor meinen Augen. 83
Wo war ich denn verwundet? Ich wußte es immer noch nicht. Bei der geringsten Bewegung schmerzte der ganze Körper. Ein Arzt untersuchte meine Augen. Ich spürte, wie er mit den Fingern die Augenlider hochzog. Ich hörte, wie er sagte: »Geben Sie mir einmal die Taschenlampe!« Und etwas später: »Danke!« »Sehen Sie etwas, Feldwebel?« Diese Frage galt wohl mir. Was sollte ich denn sehen, es war ja alles schwarz. Wieder einmal begann sich das Rad um mich zu drehen. Trotzdem hörte ich den Arzt ganz weit und verschwommen sagen: »Das rechte Auge werden wir retten können. Das linke ist verloren.« Um Gottes willen, was war das? War ich schon blind? Nein, das durfte nicht sein. Alles andere, nur nicht blind sein …! »Nein, nicht – nicht – blind!« stammelte ich. Die Sinne schwanden mir. Wie lange ich ohnmächtig war, weiß ich nicht mehr. Plötzlich aber fühlte ich, wie ich an das Bett geschnallt wurde. Was sollte das bedeuten? Ich konnte doch nicht davonlaufen, da ich ja nichts sehen konnte. Ich hatte doch nicht einmal die Kraft, den Kopf zu heben. Wieder fühlte ich einen Atem über mir. Es war der Arzt. »Mein Junge!« sagte er, »jetzt mußt du ganz tapfer sein. Wir müssen sofort operieren, sonst verlierst du beide Beine und den rechten Arm. Du bist aber Soldat und mußt stark sein, mußt mir helfen. Wir haben keine Narkosemittel mehr, und deshalb mußt du die Zähne zusammenbeißen. Es ist bald vorüber.« Ich war zwar benommen, aber bei klaren Sinnen. »Was fehlt mir alles? Wo hat es mich erwischt?« flüsterte ich. »Keine Sorge, mein Junge, wir bringen das schon wieder hin.« Und dann begann die Marter! Wenn der Arzt mit der Sonde in die Wunden stach und den Splitter berührte, konnte ich den Schmerz nicht verbeißen. Ich 84
wollte schreien, doch man hielt mir den Mund zu. Die Schmerzen machten mich fast wahnsinnig, und ich verlor wieder das Bewußtsein. Wenn ich erwachte, dann fielen die grausamen Schmerzen sofort wieder über mich her. Später erfuhr ich, daß mir in »Maxim-Gorki« 25 Wunden, jede größer als ein Fünfmarkstück, ausgeschnitten worden waren. Wie lange ich dort war, weiß ich ebenfalls nicht. Richtig zu mir kam ich überhaupt nicht mehr. Entweder ich dämmerte vor mich hin, oder ich war ganz im Trancezustand. Später wurde ich mit dem Flugzeug aus Sewastopol ausgeflogen. Wann, wie und mit welchem Typ, das kann ich nicht mehr sagen. Ich nehme aber an, daß es eine Ju 52 war. Ich kam nach Galatz in Rumänien und von dort nach Budapest. Beide Male wurde ich geflogen. Auch an die Zeit kann ich mich nicht mehr erinnern. Was damals geschah, war für mich so wirr und unwahrscheinlich, daß ich manchmal selbst daran zweifelte, ob all das nicht vielleicht doch nur ein furchtbarer Traum gewesen war. Mitte Juni 1944 kam ich nach Wien in das Allgemeine Krankenhaus in der Alserstraße. Ich hatte dabei das unsagbare Glück, daß ich zu Professor Doktor Schönbauer in Behandlung kam. Ich war am 8. oder 9. Mai 1944 verwundet worden und mußte also über einen Monat in Galatz und Budapest verbracht haben. Erinnern kann ich mich aus dieser Zeit an nichts mehr. Ich weiß nur, daß mir in Galatz einer meine Uhr vom Handgelenk genommen hatte. Meine Verwundungen kannte ich jetzt. Schmerzen hatte ich aber nur, wenn mir der Verband abgenommen und erneuert wurde. Meine beiden Unterschenkel waren gebrochen. Der linke wies eine Wunde von 17 Zentimeter Länge auf. Mein rechtes Schultergelenk war zerschossen, mein linker Unterarm gebrochen. Am rechten Oberschenkel hatte ich zwei 10 85
Zentimeter lange, tiefe Fleischwunden. An meinem rechten Jochbein war eine 8 Zentimeter lange Narbe. Außerdem hatte ich eine erhebliche Verwundung am Kopf. Die Schädeldecke war angesplittert. Noch heute habe ich einen Splitter im linken Parietalhirn, jedoch ohne motorische Ausfallerscheinungen. Den Ärzten gelang es, daß ich wieder auf dem rechten Auge sehen konnte. Wenn ich auch nur die Umrisse erkannte, so bestand doch die Hoffnung, wenigstens einen Teil der Sehkraft zu erhalten. Das linke Auge blieb blind. Ich trug eine schwarze Brille und wog zu diesem Zeitpunkt bei einer Körpergröße von 1,72 m nur noch 44 Kilo. Ich war zum Skelett abgemagert. Eines Tages diktierte ich der Krankenschwester den ersten Brief nach Hause. Ich erbat darin den Besuch meiner Eltern und meiner Frau. Es waren wunderbare Tage, und vor meinem Fenster blühte der Flieder. Der Duft erfüllte mein Zimmer. Manchmal schob man mein Bett an das Fenster, und dann konnte ich die Vögel zwitschern hören. Nachts aber quälten mich oft schreckliche Träume. Ich erlebte die Russenangriffe bis ins kleinste Detail, ich schrie und wurde dann meistens von der Schwester geweckt. Wie dankbar ich ihr dafür immer war. Ich trug einen Gipspanzer um die Brust und hatte den rechten Arm im »Stuka« (Landserausdruck für einen Winkelverband). Um den Kopf hatte ich ebenfalls einen dicken Verband, und ich muß wohl irgendwie wie ein Mann im Turban ausgesehen haben. Das rechte Bein hatte ich auch im Gipsverband, während ich um das linke nur Longuetten trug. Jeden Tag fragte ich die Schwester, was mit Sewastopol los sei. Sie wußte es nicht. Der Chefarzt sagte mir schließlich die Wahrheit. Sewastopol war also ein paar Tage nach meiner Verwundung gefallen. Ich war mit einem der letzten Flugzeuge herausgeschafft worden. Die Lazarettschiffe wurden von den 86
Russen fast ausnahmslos versenkt. Ich bat den Arzt, mir nichts mehr davon zu erzählen, denn ich konnte das nicht mehr anhören. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß keiner meiner Kameraden noch leben sollte, denn es war für mich unvorstellbar, wie ein Krönninger oder Ehmer oder Kogler die Gefangenschaft ertragen sollte. Es waren unerträgliche Gedanken für mich. Zum ersten Male seit meiner Verwundung lächelte ich oder versuchte es zumindest, als meine Eltern kamen. Was hatte ich mir nicht alles zu erzählen vorgenommen, doch als sie da waren, konnte ich nichts mehr sagen. Meine Mutter hielt meine Hand und schluchzte. Mein Vater erzählte mir von der Heimatstadt. Es interessierte mich aber nicht. Ich hatte die Bindung dazu verloren. Schließlich saßen wir nur noch da und sahen uns an. Mein linkes Auge hatte sich schon stark gebessert. Endlich fragte ich: »Was macht mein Junge? Was macht meine Frau? Warum schreibt sie nicht? Warum kommt sie nicht?« Meine Mutter preßte meine Hand und schwieg. Mein Vater erwiderte: »Peter, sie wird kommen. Sie wird dir alles selber sagen. Ich sorge dafür.« Ich ahnte nichts Gutes. »Was ist denn los mit ihr? So sagt es mir doch!« »Mach dir keine Sorgen, Peter. Sie wird es dir selber sagen. Gedulde dich!« entgegnete mein Vater. Wir schwiegen alle drei. Ich wollte nicht weiter in meine Eltern dringen, und sie waren anscheinend froh darüber. Dann gingen sie wieder, denn der Arzt hatte nur eine Besuchszeit von zwei Stunden gestattet. Es verging ein Tag, es vergingen zwei. Wenn sich die Tür öffnete, fuhr ich hoch und hoffte, Beate würde eintreten. Es war aber immer nur der Arzt oder die Schwester, und obwohl ich im stillen auf Beate wartete, atmete ich doch jedesmal 87
erleichtert auf, wenn sie es nicht war. Doch dann öffnete sich eines Tages die Tür, und Beate kam herein. Sie kam aber nicht zu mir, wie ich es mir vorgestellte hatte, sondern blieb an der Tür stehen. Ich glaubte zunächst, sie sei bei meinem Anblick erschrocken und versuchte sich zu trösten. Es schien aber nichts zu helfen. Sie stand mit gesenktem Kopf da, die Lippen zusammengepreßt, die Arme hingen schlaff herunter. Hatte das Kind sie so verändert? Sie hatte noch keinen Ton gesprochen, nicht einmal einen Gruß. Ich wollte ihr erneut behilflich sein, diese Situation zu überbrücken. »Komm doch her, Beate«, sagte ich. »Sicher sehe ich nicht gut aus, aber das wird bald wieder anders. Der Arzt hat es auch gesagt. So komm doch!« Sie machte einige eilige Schritte zum Fenster hin und blieb dann davor stehen. Ihr Blick war nach draußen gerichtet. »Willst du mir nicht wenigstens die Hand geben?« »Doch, Peter, doch!« Sie wandte sich zu mir und reichte mir die Hand. Ich spürte keinen Druck. Ihre Hand lag schlaff in meiner Linken. Sie fühlte sich kalt und feucht an. Dann wandte sie sich wieder ab. Ich wollte aber ein Gespräch in Gang bringen, und darum fragte ich sie nach einiger Zeit: »Wie geht es unserem Kind?« Sie fuhr herum und sah an mir vorbei. »Du meinst wohl, mein Kind?« Offenbar war sie zu sehr erregt, darum hatte sie mir wahrscheinlich diese seltsame Antwort gegeben. Ich versuchte, einzulenken. »Wir wollen uns doch jetzt nicht streiten, Beate. Schließlich ist es immerhin unser Kind.« »Nein, Peter!« sagte sie. »Es ist mein Kind. Verstehst du? Mein Kind!« 88
Ich versuchte, die Worte zu begreifen, es gelang mir aber nicht. Diesmal brach Beate das quälende Schweigen. »Peter, ich muß dir etwas sagen. Du hast viel mitmachen müssen, ich weiß. So wirst du auch das noch ertragen. Ich kann dich nicht länger belügen. Wilfried – ist nicht dein Kind!« Was sagte sie da? Wilfried sei nicht mein Kind? Ich mußte schlucken, denn es wurde mir eng um den Hals. Ich wollte etwas antworten, konnte aber nicht sprechen. Mein Atem ging immer schneller. Endlich fand ich die Sprache wieder. »Beate!« sagte ich. »Willst du mir das nicht erklären? Warum ist Wilfried nicht auch mein Kind?« Sie sah zu Boden und hob die Hände, um sie aber gleich wieder sinken zu lassen. Ich starrte sie an und ahnte, daß etwas Furchtbares auf mich zukommen würde. Und dann redete sie wieder. Bleischwer tropften die Worte in die Stille: »Glaub mir, Peter, es tut mir leid. Aber ich kann es nicht mehr ändern. Und ich kann vor allem nicht mehr mit dieser Lüge leben.« Sie stockte, und ihr Blick wanderte zum Fenster hinüber. Dann sprach sie weiter, mit leiser vibrierender Stimme: »Als ich damals nach Mergentheim kam, war ich bereits verlobt. Er war Leutnant in Schweinfurt bei der Panzertruppe. Wir wollten heiraten, aber über Nacht wurde er abgestellt und kam zu einem Sondereinsatz. Ich blieb Wochen ohne Post, und ich erwartete ein Kind von ihm. Du kennst aber meine Mutter. Mit einem unehelichen Kind hätte ich zu Hause nicht mehr bleiben können. Daher mußte ich – einen Vater für das Kind haben, denn ich war in einer fürchterlichen Lage. Da kamst du, und damals glaubte ich wirklich, dich lieben zu können. Du – du hättest ja auch nur nachrechnen brauchen, als das Kind geboren wurde, und du wärst von selber drauf gekommen … Und dann habe ich ihn vor einiger Zeit wiedergetroffen. Er 89
war nicht gefallen, wie ich lange Zeit geglaubt hatte. Ich liebe ihn immer noch, und er liebt mich. – Peter, ich bitte dich, gib mich frei, gib dem Kind den wahren Vater. Ich flehe dich an, hörst du?« Ich konnte nichts sagen. Das hatte ich nicht erwartet. Das nicht. Eine Welt brach für mich zusammen. Beate schaltete sich in meine Gedanken ein und unterbrach mich. »Peter, ich passe nicht zu dir. Ich habe den Arzt gefragt. Er weiß nicht, ob du nicht amputiert werden mußt. Ich tauge aber nicht als Krankenpflegerin. Du hast keinen Beruf. Nach der Schule wurdest du Soldat. Der Krieg ist verloren. Was soll später aus dir werden? Ich gehe wieder zurück in meinen Beruf. Ich kann nicht bei dir bleiben, Peter, ich kann nicht, wenn ich auch möchte. Gib mich frei. Bitte!« Es dauerte nicht lange, bis ich die Worte hervorstoßen konnte: »Weißt du, Beate, was du in mir zerstört hast? Weißt du das? Ich habe das Mädchen geopfert, das mich ehrlich liebte. Ich habe es einer gemeinen Lüge geopfert. – Ja, ich gebe dich frei. – Geh! Bitte, geh!« »Aber nicht so, Peter. Ich möchte dir danken. Ich möchte dich auch bitten, mich zu verstehen und mir zu verzeihen, wenn du kannst. Jetzt ist das Schwerste von mir genommen, die Lüge nämlich.« Sie hielt mir die Hand entgegen, und ich griff danach. »Leb wohl, Beate!« Das war alles, was ich noch zu sagen vermochte. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, drehte sich plötzlich um und eilte aus dem Zimmer. Sie sah sich nicht mehr um. Der Knall der Tür ließ mich zusammenzucken. Jetzt war ich wieder allein. All die furchtbaren Opfer waren umsonst gewesen – alles! Ich ließ mich zurücksinken, und meine Gedanken gingen auf 90
einen weiten Weg. Vor meiner Erinnerung tauchten meine Kameraden auf, die mit mir gekämpft, gehungert und gelitten hatten, und auch die vielen, die neben mir gefallen waren. Ich sah sie alle vor mir, wie wir noch vor Sewastopol lagen und gemeinsam durch die Hölle gegangen waren. Und dann kam die Frage, quälend und bohrend: Wofür hatten wir das alles erduldet, diese unmenschlichen Strapazen, dieses grenzenlose Leid? Wofür?
ENDE
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Heinkel He 70 »Blitz«
Eigentlich verdankte die spätere He 70 – in der G-Serie »Heinkel-Blitz« genannt, zu Beginn der dreißiger Jahre ihre Existenz dem Auftauchen des amerikanischen »Orion« Postflugzeuges. Diese Maschine brillierte damals mit einer konkurrenzlosen Geschwindigkeit von 260 km/h. Daraufhin gab die Lufthansa bei Heinkel ein Projekt in Auftrag mit der Zielsetzung, ein noch schnelleres Flugzeug für den Linienverkehr zu entwickeln. Nachdem die US-Orion in Europa eingesetzt worden war, entstand die He 70. Die Maschine wurde am 1. Dezember 1932 von Chefpilot Junck eingeflogen. Während des Überführungsfluges zur LufthansaBasis war die He 70 mit 377 km/h schneller als alle damals verfügbaren Jagdmaschinen, außerdem besaß sie als erstes europäisches Verkehrsflugzeug ein einziehbares Fahrwerk. Im Frühjahr 1933 flog der Lufthansa-Flugkapitän Untucht mit der He 70 acht internationale Rekorde. Von diesem Muster existierten Varianten bis zur L-Serie, die als Fernerkunder an Ungarn verkauft wurden. Die G-Serie wurde auf den innerdeutschen Fluglinien als Schnellverkehrsund Postflugzeug eingesetzt.
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Technische Daten Verwendungszweck: einmotoriges Mehrzweckflugzeug Besatzung: zwei Mann Triebwerk: BMW VI 7,3 Z mit 750 PS Spannweite: 14,80 m Länge: 11,70 m Höhe: 3,10 m Fluggewicht: 3.420 kg Geschwindigkeit: 360 km/h in Null Landegeschwindigkeit: 105 km/h Reichweite: 1.000 km Gipfelhöhe: 5.250 m Bewaffnung: ein MG 15, 7,9 mm
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Deutsche Flugzeuge
Heinkel He 170 »Blitz«
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