Christie Golden
Ravenloft Band 01 Schloß der Vampire
scanned by dawn corrected by Yfffi Unumschränkt herrscht Graf Str...
131 downloads
989 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Christie Golden
Ravenloft Band 01 Schloß der Vampire
scanned by dawn corrected by Yfffi Unumschränkt herrscht Graf Strahd von Zarovitsch, der Letzte derer von Rabenhorst, über das schattenverhangene Barovia. Unsägliche Bluttaten beflecken den einst so strahlenden Namen des Geschlechts. Eines Nachts bringt ein magischer Nebel den Vampirelfen Jander Sonnenstern nach Barovia. Ihn beseelt allein der Gedanke an Rache für den Tod seiner Geliebten. Ein Duell zwischen den beiden mächtigen Geschöpfen der Finsternis scheint unausweichlich... ISBN 3442245842 Originaltitel: »Ravenloft™/Vampire of the Mists« Aus dem Amerikanischen von Andreas Decker Goldmann Verlag, Deutsche Erstveröffentlichung 11/93 Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Clyde Caidwell
Ravenloft-Bücher im Goldmann Verlag: Christie Colden Schloß der Vampire (24584) James Lowder Ritter der schwarzen Rose (24585) Christie Golden Reigen der Toten (24586) J. Robert King Die Stunde der Wölfe (24599) Elaine Bergstrom Hort des Bösen (24600) J. Robert King Die Maske des Teufels (24601)
Dieses Buch ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Diesen Roman widme ich in aller Dankbarkeit meinen Eltern James R. und Elizabeth C. Golden, die immer an mich geglaubt haben, obwohl sie nicht an Elfen und Vampire glauben. Weiterer Dank gebührt Veleda und Robert, die immer alles gelesen haben, und denen es meistens auch gefallen hat. Und schließlich danke ich TSR, daß sie einer Anfängerin gestattet haben, ihren dunklen Schatten über Ravenloft zu werfen, und meinem Lektor Jim Lowder für seine Geduld, seine Anleitung und seine Unterstützung.
Er, der des Todes spottet, wie wir wissen; er, der inmitten von Seuchen gedeiht, die ganze Menschengeschlechter dahinraffen! Wenn Gott ein solch begabtes Wesen schaffen würde, und nicht der Teufel, welche Ströme des Guten könnten von ihm ausgehen. Brom Stoker, Dracula
Prolog Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die bunten Fenster der Schloßkapelle und schufen verblassende Lichtinseln auf dem Steinboden. Die einzige andere Lichtquelle bestand aus einer glimmenden Kohlenpfanne, die auf dem Altar stand. Der Erste Hohe Priester von Barovia fuhr mit seiner Tätigkeit fort, bis seine vom Alter geschwächten Augen kaum noch etwas erkennen konnten. Schließlich legte er das Amulett beiseite und zündete - voller Groll über die notwendige Unterbrechung - einige Kerzen an, damit er fortfahren konnte. Der warme Schein der dünnen Wachslichter erhellte den Altar, ließ den Rest der Kapelle jedoch in Schatten versinken. Der niedrige Holzaltar war kein Ort heiliger Symbole und Riten mehr; man hatte ihn zu einer Werkbank umfunktioniert. Überall lagen Werkzeuge für feine Metallarbeiten herum: kleine Hämmer, Zangen, der glattpolierte Amboß eines Juwelenschmiedes und Wachsklumpen für Gußformen. Der weißhaarige Priester zündete die letzte Kerze an und eilte zu dem Amulett zurück. Es verlangte seine ganze Aufmerksamkeit; sein klagender Ruf nach Vollendung hallte in seinem Inneren wider. Der Erste Hohe Priester arbeitete nun schon seit vielen Wochen an dem Amulett, und jetzt, wo er sich der Vollendung seines Werkes näherte, ließ die fieberhafte Anstrengung, mit der er sich dieser Aufgabe gewidmet hatte, keine Ruhepause zu. Doch er war ja nicht müde. Durch seine Adern pulste jene Kraft, die auch seine unbeholfenen, für diese Aufgabe nicht ausgebildeten Hände führte. Das Amulett erschuf sich selbst. Seine verkrümmten Finger waren nur die Werkzeuge. Schuldgefühle kamen in ihm hoch. Er vernachlässigte seine Pflichten als Priester und Tröster eines verängstigten Volkes. Die Angriffe der Goblins wurden immer heftiger, und er schickte seine Helfer aus, um den Todesopfern, deren Zahl sich -5-
jeden Tag erhöhte, die letzte Ehre zu erweisen. Die Stimme des Amuletts versicherte ihm, daß er eine wichtigere Aufgabe zu erfüllen hatte. Er schuf hier weit mehr als nur ein Stück Geschmeide. Das Amulett würde eine Waffe sein, wie diese erbärmliche Welt sie noch nie zuvor gesehen hatte. Der Feind, zu dessen Bekämpfung der Talisman erschaffen wurde, war weitaus schlimmer als die Goblins - es handelte sich um einen Feind, der Barovia erst später mit seiner Finsternis überziehen würde. Der Erste Hohe Priester hielt inne. Seine Hände zitterten unter der Belastung, und er rieb die blutunterlaufenen Augen, bevor er mit der Arbeit fortfuhr. Er hatte die Anweisungen seiner inneren Stimme befolgt und aus zwei alten Gegenständen einen neuen erschaffen. Der Kristall war das Geschenk der Erde. Das Platin, an dem er befestigt wurde, stammte ebenfalls aus seinen Tiefen. Allerdings hatte der alte Mann das kostbare Metall mit den Runen der Liebe versehen und nicht mit den Symbolen der Gewalt. Der Anhänger war wie eine Rosette geformt, und als der Kristall in der Mitte befestigt worden war, glich er in seiner strahlenden, lichterfüllten Schönheit einer kleinen Sonne. Der alte Priester gravierte sorgfältig die letzte Rune ein … blinzelte den Schweiß aus den Augen und betrachtete sein Werk genau. Nun war nur noch eins zu tun. Er legte sich den Anhänger um den Hals und steckte ihn in sein Gewand, damit ihn niemand sehen konnte. Er klopfte auf die Tasche am Gürtel, um sich zu vergewissern, daß sich der Brief, den er vor einigen Tagen geschrieben hatte, noch an Ort und Stelle befand, und lächelte verkniffen. Die ungewöhnliche Kraft erfüllte ihn noch immer, und er verließ den Altar und eilte mit der Schnelligkeit und dem sicheren Schritt eines bedeutend jüngeren Mannes durch die langen, von Fackelschein erleuchteten Korridore des Schlosses. Einer der Diener des Herrschers hörte, wie er durch die Tür der Kapelle stürmte. Der Mann hatte Schwierigkeiten, mit dem -6-
alten Mann Schritt zu halten. »Was jetzt, Euer Heiligkeit?« fragte der Diener. »Ein Pferd«, befahl der Erste Hohe Priester kurz angebunden, ohne dem Mann auch nur einen Blick zu widmen. Der Diener verlor kein weiteres Wort und lief unverzüglich voraus, um dem Befehl des Priesters nachzukommen. Bevor der Schloßherr in den Krieg gezogen war, hatte er die Dienerschaft angewiesen, alle Wünsche Seiner Heiligkeit zu erfüllen. Der Diener beeilte sich, und doch mußte der Priester einige Minuten lang nervös vor dem mit prächtigen Schnitzereien versehenen Eingang des Schlosses auf und ab schreiten, bis ein Stallbursche das Pferd brachte. Der alte Priester sprang förmlich in den Sattel, riß den Kopf des Reittiers ruckartig zur Seite und galoppierte vom Hof. Sein Ziel war der Kreis; dort mußte er den göttlichen Auftrag vollenden. Als der Priester auf seinem Pferd die Alte-Svalitsch-Straße entlangritt, trieben die ersten Nebelschwaden durch die Nachtluft. Mensch und Pferd wurden durch aufgeworfene Lehmklumpen beschmutzt, doch der Reiter bemerkte es nicht. Auf Drängen des Amuletts trieb er das Tier zu höherem Tempo an. Voller Ungeduld verließ er die Straße und begab sich in den Svalitsch-Wald. Der Talisman flüsterte ihm eine verborgene Abkürzung zu, die ihm unbekannt war. Schließlich erreichte er sein Ziel - ein aus großen Felsen bestehender Kreis direkt hinter den Dorfgrenzen Barovias. Der Erste Hohe Priester wollte absteigen, das Amulett hervorholen und in die Mitte des Kreises laufen. Doch er wollte alles gleichzeitig tun, und so verfing sich sein Fuß in den Falten seines Gewandes, und er stürzte schwer zu Boden. Viel hat dieser alte Körper nicht mehr zuzusetzen, dachte er grimmig, als er sich wieder erhob. Er ließ sich im Mittelpunkt des Steinkreises direkt neben einem großen, flachen Felsen niedersinken und legte den Talisman ehrfürchtig auf den Boden. Der letzte Segen, und alles ist erledigt, dachte er… -7-
Der junge Novize fand den Priester spät am nächsten Morgen an derselben Stelle. Das Antlitz des alten Mannes war voller Frieden; der Tod hatte seine Gesichtszüge nicht verzerrt. Die grauen Lippen verzogen sich zu einem eher angedeuteten, friedvollen Lächeln. Die eine Hand hielt den rosettenförmigen Anhänger, die andere eine Nachricht. Der junge Mann mußte sich erst mehrmals die Tränen aus den Augen wischen, bevor er die letzten Worte des Priesters lesen konnte. Hier ist das Geschenk der Götter an ein Land voller Unruhe. Benutze es wohlüberlegt und mit Ehrfurcht, doch sorge dafür, daß das Geheimnis nur von Priester zu Priester weitergegeben wird. Das Geschlecht derer, die den Raben im Wappen tragen, wird über uns kommen, und dies soll ihr heiliges Symbol sein. Seine Macht ähnelt der Sonne: es spendet Licht und Wärme. Es ist die letzte Hoffnung, um die Schatten zurückzudrängen, die sich auf dieses bedauernswerte Reich senken werden. Die Stolz der Königin aus Immerdar schaukelte ruhig auf dem tiefschwarzen Wasser des Hafens von Tiefwasser. Eine sanfte, nächtliche Brise brachte die Taue des Auslegerbootes spielerisch zum Erzittern und ließ sie in der Stille der späten Stunde lautstark gegen das Schiff schlagen. Der Wind nahm zu und brachte die Flagge zum Flattern, das wappenförmige Abbild eines goldenen Baumes, in dessen Hintergrund sich ein dunkelblauer, sternübersäter Himmel abzeichnete. In der Ferne klingelten die Glöckchen der Bojen und machten leise jedermann auf die lauernden Gefahren aufmerksam. Der Geruch nach Fisch und Salzwasser hing schwer in der kühlen, feuchten Luft. Eine einsame Gestalt schaute aus der Sicherheit einer Gassenmündung sehnsüchtig auf das Auslegerboot. Selunes Licht verlieh der Haut und den Haaren des Goldelfen einen milchigen Schein und verwandelte das Blau seines abgetragenen Gewandes in ein Grau, das der Farbe seines Umhangs und seiner Kniebundhosen ähnelte. Obwohl die silbernen Stickereien auf -8-
dem Obergewand verblaßt waren, fingen sie dennoch die hellen Strahlen des Mondlichts ein. Jander Sonnenstern war hochgewachsen für sein Geschlecht; er war einen Meter fünfundsiebzig groß und schlank. Die Erfahrungen und die Qualen der Vergangenheit hatten den ausgeprägten Gesichtszügen etwas von ihrer Schärfe genommen. Die Ohren des Elfen liefen in anmutigen Spitzen aus, die sich hinter dem lockigen, goldfarbenen Haar verbargen. Die Stiefel, deren Sohlen auf den vom Meerwasser aufgequollenen Bohlen der Pier kein Geräusch verursachten, waren aus geschmeidigem, grauem Leder gefertigt und reichten bis zu den Oberschenkeln. An der linken Hüfte steckte ein einfacher Dolch in seiner Scheide. In Janders silberfarbenen Augen lag ein Ausdruck tiefer Traurigkeit. Wie viele Jahrzehnte war es her, daß er ein Schiff aus dem glorreichen Immerdar, dem Land der Schönheit und der Harmonie, gesehen hatte? Er würde die Heimat nie wiedersehen. Die schlanken, langen Finger schlossen sich um den Saum der Kapuze und zogen ihn enger zusammen, um das Gesicht vor neugierigen Blicken zu verbergen. Der Elf konnte es nicht mehr ertragen. Er wandte sich ab und entfernte sich leise von dem Pier, um sich ins Zentrum der Stadt zu begeben, der die Menschen den Namen Tiefwasser verliehen hatten. Dieser Ort hatte eine Zeitlang als sein Zuhause gedient, bevor ihn die Wanderlust ins Unheil getrieben hatte. Jander stattete der Stadt nur noch selten einen Besuch ab. Für seinen Geschmack gab es hier mittlerweile zu viele Menschen. Er lebte in einer kleinen Höhle jenseits der Stadtgrenze, wo man noch Bäume und Stille fand. Dort frönte er der den Elfen angeborenen Liebe zur Schönheit und Natur; er hatte einen kleinen Blumengarten angelegt, in dem nur Nachtschattengewächse wuchsen. In dieser Nacht hatte ihn allerdings ein unstillbares Verlangen dazu getrieben, sich in den Hafenbezirk zu schleichen. Er bewegte sich völlig lautlos mit -9-
tödlichen Absichten; die grauen Lederstiefel verursachten kein Geräusch auf den Pflastersteinen. Jander ignorierte die Schenken, die Läden und die Lagerhäuser. Sein Ziel war der verrufenste Teil der Stadt, wo die gequältesten Seelen Torils sich über ihr bedeutungsloses Leben in Elend und Schmerz ausweinten. Der Elf bog an einer Ecke ab, und der graue Umhang bauschte sich hinter ihm auf; seine scharfgeschnittenen Gesichtszüge waren vor Hunger ganz ausgemergelt. In Tiefwasser konnte man für Geld jede Art von Heilung kaufen. Es gab Priester, die Wunden behandelten, und Zauberer kümmerten sich um das persönliche Glück. Manchmal hörten die Götter allerdings nicht auf die Gebete ihrer Priester, und manchmal ging ein Zauber schief. Und das auf schreckliche Weise. Früher hatte man die Unglücklichen, deren Geisteskrankheiten nicht mit Magie geheilt werden konnten, in Keller eingeschlossen oder auf die Straße gejagt. Einige besonders bösartige Menschen hatten sogar dafür gesorgt, daß ihre lästigen, dem Wahnsinn ve rfallenen Angehörigen einfach »verschwanden«. Heutzutage, im zivilisierten Jahr 1072, gab es für die unheilbar Geisteskranken ein Haus. Als sich Jander dem großen, aus Steinen und Holz errichteten Gebäude näherte, zuckte er zusammen. Sogar hier draußen bereiteten die Mißklänge, die hinter den Mauern tobten, seinem empfindlichen Gehör Schmerzen. Irrenhäuser waren für ihn Stätten von größerem Schrecken als verwunschene Schlösser; hier erlebte man tatsächlich das Gekreische der Verdammten. Es bereitete ihm kein Vergnügen, sich hier das zu holen, wozu ihn sein Hunger zwang, und er tat es auch nur alle paar Jahre, wenn sich der größte Durst nicht mehr durch das Blut von Tieren stillen ließ. Jander stellte sich auf die Schrecken ein, die ihn erwarteten, und trat zur Tür. In dem Irrenhaus gab es zwei große Gemeinschaftszellen; eine für Männer und eine für Frauen. Man hatte diejenigen, die -10-
zu gewalttätig waren, um zusammen mit den anderen eingesperrt zu sein, in kleinen Einzelzellen untergebracht; das galt auch für die armen Seelen, deren Geschlecht durch ihre Krankheit so verunstaltet worden war, daß man sie nicht mehr auseinanderhalten konnte. Jander hatte es sich zur Regel gemacht, die Zellen niemals zu betreten. Er war zwar ein Vampir, doch auch er konnte nur ein bestimmtes Ausmaß an Schmerz und Häßlichkeit ertragen. Vor dem Frauenkerker verwandelte er sich in dichten Nebel und zwängte sich durch die Spalten der Holztür. Der Nebel wurde von blauen, silbernen und goldenen Farbtönen durchsetzt, und im nächsten Augenb lick stand dort eine Gestalt, die manche Menschen unter Umständen mit einem Engel verwechselt hätten. In Halteringen steckende Fackeln sorgten für ausreichendes Licht; man hatte sie hoch oben außerhalb der Reichweite der Eingekerkerten angebracht. Auf das Licht konnte man nicht verzichten, denn viele Wahnsinnige fürchteten sich vor der Dunkelheit. Der Boden war mit vermodernden Strohlagern bedeckt. Es gab Nachttöpfe, doch sie wurden nur selten benutzt. Alle paar Wochen kamen die von der Stadt ernannten Aufseher und ließen die Erbarmungswürdigen aus der Zelle, die dann mit einigen Eimern Wasser gereinigt wurde, doch diese Säuberungsaktion richtete in dem schmutzigen Saal kaum etwas aus. Jander bahnte sich mit katzengleicher Geschmeidigkeit einen Weg durch die Masse der Wahnsinnigen und nahm den Eindruck in sich auf. Einige Geistesgestörte wichen bei seiner Annäherung zurück und kauerten sich wimmernd in die Ecken. Andere ignorierten ihn. Ein paar streckten sogar ihre Hände nach ihm aus und hielten ihn fest. Er löste sich sanft von ihnen. Es war etwa ein halbes Jahrhundert her, daß er zuletzt hier gewesen war, und er kannte keine der Frauen. Manche sahen ganz normal aus; alte Frauen, deren Geist nachgelassen hatte -11-
und schließlich ganz geschwunden war. Manche waren verunstaltete Monstrositäten; die Opfer gescheiterter oder sogar mit bösartiger Absicht gewirkter Zauber, die zusammengekrümmt in den Ecken hockten und ihre Qualen hinausschrien. Am traurigsten jedoch waren die nur leicht gestörten; sie hätten mit etwas Hilfe draußen leben können, doch ihre Angehörigen wollten sich nicht mit ihnen belasten. Tiefwassers Bevölkerung hatte sich in den letzten Jahrzehnten stetig vermehrt, was dazu geführt hatte, daß Anzahl und Vielfalt der Eingekerkerten gestiegen war. Die meisten waren Menschen, doch Jander entdeckte hier und da die untersetzten Gestalten von Zwergen und Halblingen. Allerdings gab es keine Elfen, wofür er den Göttern dankte. In einer Ecke des feuchten, kühlen Kerkers riß eine Frau ununterbrochen mit der schuppenbedeckten Hand an ihrem blutenden Armstumpf. Die reptilartigen Beine endeten in krallenbesetzten Zehen. Das ausdruckslose Gesicht war völlig menschlich. Vor dem Vampir lag eine Frau auf dem Boden, die den Kopf in den Armen verbarg. Als Jander über sie hinwegstieg, veränderte sie die Position. Er zuckte zusammen. Das Gesicht bestand aus einer konturlosen Fläche, in der sich ein klaffender, roter Mundschlitz öffnete. »Sie kommen, hörst du!« rief eine Stimme. »Die vielen Augen auf den Tentakeln, die dir zuwinken, und die Schlünde, diese Schlünde…« Das Gestammel der Verrückten wurde völlig unverständlich, und sie schob die Finger in den Mund und sog dran. Jander schloß die Augen. Er verabscheute diesen Ort. Er würde schnell seine Nahrung suchen und gehen. Diese Art der Nahrungsaufnahme fügte den Frauen nur geringen Schaden zu. Jander nahm in der Zelle wieder Elfengestalt an, trank soviel von dem roten Lebenssaft wie unbedingt nötig und verschwand dann wieder, bis sein Hunger das nächste Mal menschliches Blut verlangte. Er trank sogar so wenig von dem kostbaren Naß, daß sich sein Opfer am nächsten Morgen nur selten schwindlig -12-
fühlte. Die Aufseher hatten keinen Grund, sich die Kehlen ihrer Schützlinge anzusehen. Deshalb waren die kleinen, unauffälligen Male nie bemerkt worden. Im hinteren Teil der steinernen Zelle - abseits von den restlichen Wahnsinnigen - lag eine Frau zusammengekrümmt auf einem schmutzigen Strohlager. Auf den ersten Blick schien sie sich kaum von den übrigen Verrückten zu unterscheiden. Das lange, schwarze Haar war verfilzt, und die blassen Arme und Beine waren schmutzig. Sie trug den häßlichen, braunen Kittel, mit dem alle in diesem Höllenloch bekleidet waren. Es war kaum mehr als ein Fetzen Stoff, der nur wenig Schutz gegen die feuchte Kälte dieses Ortes bot und die Trägerin hilflos der Fummelei der Geistesgestörten aussetzte. Die Frau, kaum älter als ein Mädchen, mußte seinen Blick gespürt haben, denn sie schaute auf. Sie war von einer unglaublichen Schönheit, und Jander entfuhr ein leiser, erstaunter und gequälter Aufschrei. Das schmutzige Haar mußte einst einen bezaubernden, kastanienbraunen Schimmer gehabt haben. Die Augen waren groß und glänzten feucht, und noch während der Elf zusah, lösten sich zwei Tränen und zogen eine Spur durch den Schmutz auf der blassen Haut. Die rosaroten Lippen, perfekten Rosenknospen in einem Porzellanantlitz gleich, bebten leicht. Es war schon lange her, daß der Vampir solcher Schönheit begegnet war, und er hätte bestimmt nicht erwartet, sie an diesem Ort zu finden. Fasziniert ging er zu ihr und kniete neben ihr nieder. Ihre strahlenden, braunen Augen erwiderten seinen Blick. »Ich grüße dich«, sagte er, und seine Stimme klang melodisch und anmutig. Die Frau erwiderte nichts, schaute ihn aber weiterhin aus großen, sanften Augen an. »Ich heiße Jander«, sagte er leise. »Wie ist dein Name? Wo kommst du her?» Ihre Lippen bewegten sich. Jander verharrte hoffnungsvoll, doch kein Laut ertönte. Enttäuscht stand er wieder auf. Sie schaute -13-
noch immer vertrauensvoll zu ihm auf. Ihr Götter, diese Schönheit… Wer konnte sie nur an diesen schrecklichen Ort gebracht haben? »Ich wünschte, ich könnte dich hier herausholen«, sagte er traurig, »doch ich könnte mich tagsüber nicht um dich kümmern.« Er wandte sich von ihr ab. Sie stöhnte auf und streckte die Arme nach ihm aus, wobei sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. »Herr!« schluchzte sie. Jander wußte nicht, was er tun sollte. Es war ganze fünf Jahrhunderte her, daß eine schöne Frau sich dazu herabgelassen hatte, ihn zu berühren, und nun streckte diese tragische Schönheit die Arme nach ihm aus. Er zögerte, dann setzte er sich neben sie und nahm sie zögernd in den Arm. »Pst«, beruhigte der Vampir die Frau, als wäre sie ein Kind. Er hielt sie, während sie sich in den Schlaf weinte, und legte sie dann auf das Strohlager. Er stand auf, wobei er sich Mühe gab, sie nicht wieder aufzuwecken, und stillte seinen Hunger woanders. Sein Herz war so unbeschwert wie schon seit vielen langen und inhaltslosen Jahren nicht mehr. Jander hatte an einem höllischen Ort etwas Schönes gefunden; etwas, das keine Angst vor ihm hatte. So etwas mußte gehegt werden. Er wußte, daß er in der kommenden Nacht zurückkehren würde. Und das tat er dann auch, und diesmal brachte er Essen mit gebratenes Fleisch vom Feuer eines Reisenden und Brot und Obst, das er einem unachtsamen Ladenbesitzer gestohlen hatte. Vampire waren ausgezeichnete Diebe, wie Jander entdeckt hatte, obwohl es die wenigsten ihrer Art nötig hatten, diesen Beruf auszuüben. »Da bin ich wieder«, begrüßte er die Frau. Sie starrte zu ihm auf, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem vorsichtigen, flüchtigen Lächeln. Das Herz des Elfen setzte für einen Schlag aus, und er lächelte zurück. Dann setzte er sich neben sie und -14-
gab ihr das Essen. Sie starrte die Mahlzeit verwirrt an. »Es ist etwas zu essen«, erklärte Jander. »Du sollst es essen.« Er tat so, als wollte er sich das Brot in den Mund stecken. Die Frau verstand noch immer nicht. Jander hätte einen Bissen gegessen, um es ihr zu zeigen, doch er selbst konnte außer Blut nichts zu sich nehmen. Ein schlurfendes Geräusch hinter ihm brachte ihn auf eine Idee. Eine alte Frau starrte hungrig auf das Brot. »Sieh zu«, sagte er und riß ein Stück Brot ab. Die alte Frau packte es und schlang es hungrig herunter. Die dunkelhaarige Wahnsinnige lächelte und nickte, daß sie verstanden hatte. Sie richtete sich entschlossen auf und verteilte die Lebensmittel, die er mitgebracht hatte, an die anderen Frauen, wobei sie ihn immer wieder ansah und dabei glücklich lächelte. Jander mußte lachen, obwohl er sich ärgerte. Sie brauchte Nahrung; sie war sichtlich abgemagert. Sie hätte die Sachen, die er ihr gebracht hatte, nicht an andere verteilen sollen … Er richtete sich kerzengerade auf. Die wunderschöne Wahnsinnige bewegte sich mit wohlüberlegtem Zielbewußtsein unter den anderen Geisteskranken und verteilte das Essen mit geübter Anmut. Als hätte sie sich bereits früher um solche Leute gekümmert, dachte Jander. Im nächsten Augenblick stand er neben ihr und drehte sie um, damit sie ihn ansehen konnte. »Ihr Götter«, flüsterte er, »du bist gar nicht von Geburt an so?« Sie lächelte ihn heiter an und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Er war erschüttert und verspürte plötzlich eine unbeschreibliche Hoffnung. Falls sie früher geistig gesund gewesen war, konnte sie dann nicht wieder so werden? Konnte es ihm dann womöglich gelingen, sie aus dem Abgrund des Wahnsinns zurückzuführen? Eines war sicher. Er mußte es versuchen. Bevor Jander auf seine »Blume« gestoßen war, hatte er bloß von einer Nacht zur nächsten vegetiert und sich mit Tierblut am -15-
Leben erhalten. Er hatte seinen Nachtgarten gepflegt, und die Arbeit in den Beeten und der Anblick der blühenden Pflanzen hatte ihm Trost gespendet. Seit er zu einem Vampir geworden war, führte er das Leben eines Ausgestoßenen, dem all jene Dinge verwehrt waren, die er als Lebender geliebt hatte. Doch die geheimnisvolle junge Frau in diesem Irrenhaus störte sich nicht an seiner untoten Existenz. Sie freute sich stets über seine Besuche, auch wenn sie kaum mehr als Wortfragmente von sich gab, die er nicht verstand. Im Verlauf der kommenden Wochen brachte Jander sie schließlich dazu, daß sie wieder aß, und sie nahm langsam an Gewicht zu. Eines Nachts gegen Herbstanfang saßen sie wieder zusammen. Plötzlich versteifte sie sich, löste sich aus seiner Umarmung und verzog besorgt die Lippen. »Was ist?« fragte Jander. Die junge Frau schien ihn nicht zu hören. Sie stand abrupt auf und horchte noch immer in sich hinein. Nun machte sich Jander Sorgen; er streckte die Hand aus, um sanft an ihrem Kittel zu zupfen. Da schrie sie gellend auf, und der Schrei veranlaßte die anderen Wahnsinnigen, sich ihr anzuschließen, so daß ein höllisches Gekreische losbrach. Sie rang die Hände, und jeder Muskel in ihrem dünnen Körper schien vor blankem Entsetzen angespannt zu sein. Dann blickte sie sich gehetzt um, als wolle sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit umsehen. Sie stieß ein tiefes Stöhnen aus - der Aufschrei eines in der Falle sitzenden Tieres -, warf sich gegen die Wand, kratzte über den rauhen Stein und hämmerte schließlich mit beiden Fäusten gegen die unnachgiebige Oberfläche. »Nein!« rief Jander. Im nächsten Augenblick stand er an ihrer Seite und zog sie von ihrem zielstrebigen Tun fort. Seine starken Hände schlossen sich fest um ihre Handgelenke. Ein paar Augenblicke lang wehrte sie sich mit einem kläglichen -16-
Wimmern gegen ihn, dann sank sie an seiner Brust zusammen. Die Steinwand war mit blutigen Handabdrücken übersät, und eine warme Feuchtigkeit tropfte auf die langen Finger des Elfen. Die junge Frau hatte sich ziemlich böse geschnitten, und Handflächen und Unterarme waren blutüberströmt. Jander leckte sich über die Lippen. Sein Hunger war geweckt, und sein silberfarbener Blick konzentrierte sich auf die brennende Fackel. Dann sah er wieder in ihre Augen. Was er dort in ihren Tiefen erblickte, rührte ihn. Dort flackerte etwas wie eine Kerzenflamme. Es war so schnell vorbei, daß er kaum glauben konnte, es wirklich gesehen zu haben, doch er hatte sich nicht geirrt. Ein Funken von Verstand war aufgeblitzt, so klar und hell wie Sonnenschein auf Wasser. »Meine Kleine«, sagte Jander mit zitternder Stimme, »was ist nur mit dir passiert?« Es war das erste Mal, daß er Zeuge ihrer geheimnisvollen Tobsuchtsanfälle geworden war, und es sollte noch öfter passieren. Der Kontrast zwischen ihrem elenden Zustand und der Heiterkeit, die sie die meiste Zeit über zeigte, schmerzte den Elfen. Mehrere Tage ging es ihr gut; manchmal sogar Wochen oder Monate. Dann zerbrach ihre innere Ruhe ohne Vorwarnung, und in dem verzweifelten Bemühen, dem nur in ihrem gestörten Geist existierenden Schrecken zu entkommen, versuchte sie sich erneut einen Weg durch den unnachgiebigen Stein zu graben. Jander tat alles, was in seiner Macht stand, um sie davor zu bewahren, daß sie sich wieder Schmerzen zufügte. Er hielt ihr die Arme hinter dem Rücken oder an den Seiten fest, und manchmal mußte er sie mit aller Kraft packen, damit sie sich nicht bewegen konnte. Irgendwann wurde sie ruhiger und verwandelte sich wieder in die gelassene Blume, die sie vor dem Anfall gewesen war. Eines Nachts hielt Jander sie fest, während -17-
die Anspannung aus ihrem Körper floh. Er erlaubte es sich, den Kopf auf ihrem Haar ruhen zu lassen, und war froh, daß sie nicht länger gegen ihn ankämpfte. Sie rückte ein Stück von ihm ab und blickte zu ihm hoch; ihre Lippen bewegten sich stumm. Jander verkrampfte sich. Sie legte die Hand auf ihr Herz und stammelte eine unverständliche Aneinanderreihung von Tönen. Er schüttelte den Kopf, denn er konnte sie nicht verstehen. Wieder ertönte zusammenhangloses Gestammel, und dann sagte sie verständlich: »Anna.« Jander war wie vom Donner gerührt. »Ist das dein Name? Anna?« Sie nickte, und ihr Blick war ganz klar. »Ich bin Jander«, sagte er und war überrascht, wie sehr er sich wünschte, seinen Namen von diesen süßen, roten Lippen zu hören. Anna hatte sich jedoch wieder in sich zurückgezogen, und der stumpfsinnige Schimmer verlieh diesen so ausdrucksvollen Augen einen leblosen Blick. Heute nacht würde sie nichts mehr sagen. Das bedrückte den Vampir jedoch nicht. Es würde noch viele Nächte geben, in denen er Annas Vertrauen gewinnen und - wie er hoffte - ihre geistige Gesundheit wiederherstellen würde. Der Winter war für die Eingekerkerten eine schwere Zeit. Jander stahl ein paar Wolldecken und versuchte dafür zu sorgen, daß Anna es so warm wie möglich hatte. Er wünschte, er hätte die wärmenden Decken bei ihr lassen können, doch die Aufseher hätten sie bemerkt und wären mißtrauisch geworden, was ihre Herkunft betraf. Erst im darauffolgenden Frühling errang er seinen nächsten Sieg. Das letzte Licht der Abenddämmerung war gerade in der Finsternis versickert, als Jander in der Zelle Gestalt annahm. Sein Garten stand in voller Blüte, und er hatte für Anna einen kleinen Blumenstrauß gepflückt. Vielleicht konnten die Blumen das strahlende Lächeln hervorrufen, das er schon ein paarmal -18-
gesehen hatte. Sie erkannte ihn erst, nachdem sich der Nebel zu seiner schlanken Gestalt verfestigt hatte, und begrüßte ihn mit einem Lächeln, das ihr Gesicht erstrahlen und sie wieder gesund erscheinen ließ. Sie streckte die Arme nach ihm aus, ganz wie ein Kind, das sich nach der Umarmung eines geliebten, viel zu lange abwesend gewesenen Elternteils sehnte. Er drückte das duftende Geschenk in die blassen Arme. »Für dich, meine Liebe«, sagte er leise. Anna vergrub das Gesicht in den Blumen, und richtete dann ihre großen, sanften Augen auf ihn. »Herr!« rief sie glücklich, ließ die Blumen auf den Steinboden fallen und umarmte ihn fest. Voller Freude erwiderte er die Umarmung. Und während er sie liebevoll hielt, wurde ihm langsam bewußt, daß sich die Gefühle, die er ihr entgegenbrachte, verändert hatten. Bis zu diesem Augenblick war sie in seinen Augen wie ein verwundetes, junges Tier des Waldes gewesen, das Zuneigung und Pflege brauchte. Er hatte ihr diese Einstellung entgegengebracht und so die Wahrheit unterdrückt, die sich nun mit aller Macht Bahn brach. Jander hatte sich verliebt, ob er es nun wollte oder nicht. Anna umarmte den Elfen noch fester, als habe sie den in ihm vorgehenden Wandel gespürt, und ihre kleine Hand spielte mit den weichen, goldenen Locken in seinem Nacken. Plötzlich erwachten seine Gefühle zu neuem Leben, waren sie doch bis zu diesem Augenblick so tot wie sein Körper gewesen. Leidenschaft vermischte sich heftig mit dem Hunger des Vampirs; der Geruch ihres Blutes war überwältigend. Jander ließ seinen Gefühlen freien Lauf und küßte stöhnend Annas Kehle; seine Eckzähne wuchsen und erreichten schnell ihre volle Länge. Dennoch war er ganz sanft, als sie in die Haut ihres Halses eindrangen. Er umarmte sie wie ein Geliebter und nicht wie ein Jäger. Und obwohl sie unter dem ersten, kurzen Schmerz aufstöhnte, wich sie nicht zurück. -19-
Jander wollte sich gerade in Nebel verwandeln, um in das Irrenhaus zu gelangen, als die Stimmen an sein Ohr drangen. Er drückte sich gegen die Tür, ein blauer und grauer Schatten, und lauschte aufmerksam. »So ein hübsches Ding«, sagte die eine Stimme. Sie war sanft und warmherzig. »Aye, das ist sie«, erwiderte die andere. Jander erkannte sie; sie gehörte einem Aufseher. »Sie ist schon seit über hundert Jahren in diesem Zustand. Mein Großvater hat schon hier gearbeitet, und sie hat sich seitdem nicht verändert.« »Tatsächlich? Das arme Kind. Sieh nur! Ich glaube, sie versteht, was ich sage!« »Ach was, das sieht nur so aus. Die kriegt nichts mit. Und das schon seit hundert Jahren.« »Ja, das hast du bereits gesagt.« Die Stimme klang bedeutend kühler als zuvor. Jander grinste. Jedermann, der sich auf Annas Seite schlug, war sein Freund. Er veränderte seine Position und legte ein spitzes Ohr an den Stein. Die Worte des Aufsehers bereiteten ihm Unbehagen. War sie tatsächlich seit über einem Jahrhundert hier gefangen, ohne sich zu verändern? Er ging im Geist die Jahreszeiten durch. Einem Vampir bedeutete die Zeit nichts, doch er war überrascht, als ihm bewußt wurde, daß er Anna bereits seit einem Jahrzehnt besuchte. Die freundliche Stimme fuhr fort. »Lathander ist der Gott der Hoffnung, und die Hoffnung erwacht jeden Tag mit der Morgendämmerung aufs neue. Vergiß das nicht, mein Sohn. Was hat die Leiden dieser Frau verursacht?« »Wir glauben, es war Magie, Herr. Niemand bleibt so lange in diesem Zustand, ohne sich zu verändern, falls nicht irgendeine Art von Magie im Spiel war.« Jander verkrampfte sich, und seine Hände ballten sich -20-
automatisch zu Fäusten. Magie! Das würde eine ganze Menge erklären. Er unterdrückte nur mit Mühe den Zorn, der durch die Erwähnung zauberischer Künste in ihm aufstieg. Der Vampirelf haßte Magie. Einst war sie ein Teil von ihm gewesen. Sogar jetzt gebot er noch über einen kleinen Teil seiner Elfenmagie; sein Geschick mit den Pflanzen war dafür nur ein Beispiel. Allerdings hatte es die Magie im Verlauf der Jahre nicht geschafft, ihm bei wirklich wichtigen Angelegenheiten zu helfen. Jetzt vertraute er ihr nicht einmal, wenn sie von einem guten Menschen ausgeübt wurde, und es versetzte ihn in Wut, hören zu müssen, daß Anna möglicherweise einem bösen Zauber zum Opfer gefallen war. Er zwang sich mühsam zur Ruhe, um weiter zu lauschen. »Hat jemand den Versuch unternommen, den Zauber aufzuheben?« »Nein. Sie hat keine Familie, keinen, der dafür zahlen könnte.« Jander kaute nervös auf der Unterlippe. Wenn der Priester des Lathander den Versuch unternahm, Anna von der Magie zu befreien, die sie all die Jahre am Leben erhalten hatte, führte er unter Umständen damit ihren Tod herbei. Anscheinend hatte der Priester denselben Gedanken. »Ich würde den Versuch wagen, doch ich schrecke davor zurück. Es könnte gefährlich sein.« Der Aufseher lachte häßlich. »Was für ein Leben führt sie denn jetzt? Der Tod wäre eine Erlösung.« Janders Augen verengten sich wütend. »Wenn du dich besser um deine Schützlinge kümmern würdest, wäre dieser Ort auch nicht so ein Saustall«, sagte der Priester eisig. »Ich werde mit deinem Oberen sprechen.« Als der Vampir hörte, wie sich die Zellentür öffnete, verschmolz er mit dem Schatten. Er sah, wie der Priester des Lathander hinaustrat und dankbar die frische Luft einatmete. Der Mensch war noch jung, etwa in seinen Dreißigern, und -21-
bewegte sich mit einer stillen Anmut. Er trug sein braunes Haar lang, und sein Gewand war schlicht, obwohl es mit prächtigen goldenen und roten Farbtönen versehen war. Der Priester hatte Jander durch seine Haltung und seine Worte im Irrenhaus beeindruckt. Außerdem war der Elf schon immer der Lehre Lathanders, des Fürsten des Morgens, des goldhäutigen Gottes der Morgendämmerung und des Weltenanfangs gefolgt zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als ihn die große Dunkelheit verschlungen und ihm für alle Zeiten die Aussicht auf die Morgendämmerung verwehrt hatte. Jander wartete, bis der Aufseher wieder seine Position vor der Frauenzelle eingenommen hatte, dann verwandelte er sich in Nebel und drang ein. Er ging sofort zu Anna, nahm sie in den Arm und hielt sie fest. »Magie. Das hat dir Magie angetan. Oh, Anna.« Plötzlich überwältigte ihn das Mitleid. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie - und zuckte durch einen überraschenden Schmerz zurück. Unwillkürlich fuhr seine Hand zu der Stelle an seiner Lippe, wo sie zugebissen hatte. Anna war ihrem Anfall völlig ausgeliefert und schlug schreiend gegen die Wand. Wie immer war Jander bei ihr und beruhigte sie. Als es vorüber war und sie ihn anschaute, lag tiefes Bedauern in ihrem Blick. Jander umarmte sie zögernd voller Erleichterung und überbrückte sanft die Kluft, die er unbewußt verursacht hatte. Nie wieder unternahm er den Versuch, sie zu küssen. Irgendwie hatte dieser Liebesbeweis den Anfall in ihrem wahnsinnigen Geist ausgelöst. »Wer hat dir das angetan, meine Geliebte?« flüsterte er und hielt sie zärtlich in den Armen. Eine Erwiderung erwartete er nicht. »Barovia«, sagte sie da deutlich. Doch das war auch schon alles, was sie preisgab. Barovia. Das Wort hallte lange im Ohr des Vampirs nach. War es der Name einer Person oder eines Ortes, oder handelte es -22-
sich vielleicht um ein Wort ihrer seltsamen Sprache, mit der ein Geschehen oder eine Vorstellung bezeichnet wurde? Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß jemand oder etwas, das im Zusammenhang mit dem Wort »Barovia« stand, für Annas derzeitigen Zustand verantwortlich war. Er würde herausfinden, was es war. In Tiefwasser nahm das Leben seinen Gang. Ein Jahr verrann, und dann noch eins, doch für den Untoten und die unter einem Fluch leidende Wahns innige hatte die Zeit ihre Bedeutung verloren. Annas Zustand besserte sich nur wenig. Doch Jander verfügte über die Geduld der Toten, und jeder noch so kleine Fortschritt machte ihm neuen Mut. Mitten im Winter, fast drei Jahrzehnte, nachdem der Elf Annas Bekanntschaft gemacht hatte, neigte sich diese Zeit ihrem Ende zu. Jander erschien im Kerker, sobald sich die Nacht über das Land ausgebreitet hatte; er trug Essen und Wolldecken. Anna lag zusammengekrümmt in der Ecke und verzichtete auf das warmherzige Lächeln, mit dem sie ihn gewöhnlich begrüßte. »Anna?« Sie rührte sich nicht bei dem Klang seiner Stimme. Von plötzlicher Angst erfüllt, eilte Jander an ihre Seite und strich sanft mit der Hand über ihr Haar. »Anna, meine Geliebte, was ist mit dir?« Vorsichtig drehte er sie um, und ihm wurde schwer ums Herz. »Ihr Götter«, keuchte er. Annas Gesicht, sonst wegen des Mangels an Sonnenlicht so blaß, war gerötet. Er legte ihr die Hand auf die Stirn und spürte besorgt die brennende Hitze und Trockenheit. Ihr Atem ging schnell und flach, und ihre Augen waren von unnatürlichem Glanz erfüllt. Jander spürte, wie sein Inneres von der eisigen Hand der Furcht zusammengepreßt wurde. Es war so lange her, daß er mit einer Krankheit zu kämpfen gehabt hatte, daß er schon lange vergessen hatte, was in solch einem Fall zu tun war. Ein Fieber. -23-
Wie behandelte man ein Fieber? Der Vampir zitterte. Wütend zwang er sich dazu, nicht die Ruhe zu verlieren. Er wickelte seine Geliebte in eine Decke und hielt sie die ganze Nacht über in den Armen, während sie zitterte und stöhnte. Das Fieber ließ nicht nach. In den nächsten vier Nächten kümmerte er sich auf diese Art um sie, flößte ihr Wasser ein und sprach zu ihr, bis sein Hals ganz trocken war. Das Gewicht, das sie durch seine Bemühungen gewo nnen hatte, schwand wieder dahin, doch das Fieber ließ noch immer nicht nach. Jander traf eine Entscheidung. Seine Liebe allein würde nicht ausreichen, um sie zu heilen. Er mußte jemanden finden, der sich in den Heilkünsten auskannte. Den Aufsehern an diesem Ort waren ihre Schützlinge offensichtlich so gleichgültig, daß sie nicht einmal den Versuch unternahmen, einem erkrankten Wahnsinnigen zu helfen. Jander glaubte, eine Person zu kennen, die es versuchen würde. Er lief durch die verlassenen Straßen von Tiefwasser, und diesmal bemühte er sich nicht einmal darum, im Schatten zu bleiben. Er eilte durch das schmierige Hafenviertel und kam zu dem feineren Schloßbezirk. Die Einwohnerzahl stieg ständig, und die Stadt war beträchtlich gewachsen, seit sich Jander zuletzt in diesem Bezirk aufgehalten hatte. Einen Augenblick lang ließ er sich durch die neuen Gebäude verwirren, doch schließlich fand er, wonach er Ausschau hielt. Der Turm des Morgens war noch immer ein anziehendes Gebäude. Als Jander vor etwa hundert Jahren hier gestanden hatte, war er brandneu gewesen; nun hatte der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen. Das Gebäude war aus Stein errichtet worden, und in die hölzerne Tür hatte man mit großer Kunstfertigkeit Lathanders Abbild hineingeschnitzt. Der Gott war in Gestalt eines hübschen jungen Mannes dargestellt worden, der mit fließenden Gewändern bekleidet war und in dessen Rücken die Sonne aufging. Jander zögerte, dann klopfte -24-
er drängend. Niemand antwortete. Voller Ungeduld pochte er ein zweites Mal gegen die Holztür. Über ihm öffnete jemand die Fensterläden und schaute zu ihm hinunter. Jander konnte den Sprecher nicht erkennen, doch die Stimme war voll schläfriger Belustigung. »Es ist nicht nötig, daß du die Tür einschlägst, mein Freund. Sie ist allen geöffnet, die eintreten wollen. Komm herein!« Es war Jander unmöglich, ein heiliges Haus zu betreten, selbst wenn man ihn dazu einlud. »Das kann ich nicht!« rief er nach oben. »Meine Botschaft ist zu wichtig. Im Irrenhaus ist jemand krank. Werdet Ihr kommen?« Der Priester zögerte nicht. »Natürlich. Laßt mir nur …« Doch Jander war bereits wieder weg und lief schnell zu dem Irrenhaus zurück. Der Priester traf eine halbe Stunde später mit verschiedenen Kräutern und gesegneten Amuletten dort ein. Jander erkannte ihn wieder: Es handelte sich um den jungen Mann, den er vor dreißig Jahren bei der Unterhaltung mit dem Aufseher belauscht hatte. Er war nun Anfang Sechzig, sah aber noch immer gut aus. Sein Haar war weiß, doch noch immer so lang und dicht, wie es der Elf in Erinnerung hatte, und obwohl sein Gesicht von vielen Falten gezeichnet war, verriet es Anteilnahme und Freundlichkeit. Jander ließ ihn hinein. »Dort hinten«, sagte er dem mit einem roten Gewand bekleideten Priester. »In der Ecke. Sie hat Fieber.« Der weißhaarige Priester kniete neben der jungen Frau nieder und untersuchte sie vorsichtig. Die Falten um seine braunen Augen vertieften sich. »Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?« »Seit vier Tagen.« »Warum hat man mich nicht früher geholt?« -25-
»Das weiß ich nicht.« Der Geistliche warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du bist einer der Aufseher, du hättest…« »Nein, das bin ich nicht. Ich bin bloß… ein Freund. Könnt Ihr ihr helfen?« Der Priester schien noch etwas sagen zu wollen, doch Janders beunruhigter Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab. »Ich werde es versuchen, mein Sohn.« Die Stunden zogen quälend langsam dahin. Der Priester betete, stimmte Gesänge an, verabreichte Kräuter und badete die bewußtlose Frau mit Weihwasser, doch seine Bemühungen zeigten keinen Erfolg. Schließlich schüttelte er mit einem müden und verstörten Gesichtsausdruck den Kopf und packte seine Utensilien wieder ein. »Es tut mir aufrichtig leid. Ihr Schicksal liegt nun in der Hand der Götter. Ich habe getan, was in meiner Macht stand.« Jander schüttelte verständnislos den Kopf. »Nein. Ihr seid ein Priester. Ihr müßt doch etwas tun können!« »Ich bin nicht der Fürst des Morgens«, sagte der Priester. Er lächelte traurig. »Obwohl du es schon sein könntest. Jedesmal, wenn ich einen Sonnenelfen erblicke, stockt mir der Atem. Ich frage mich, ob deine Rasse nicht dem Gott näher steht als wir Sterblichen, wo ihr ihm doch so ähnlich seht.« »Das hat man mir schon öfter gesagt«, fauchte Jander, »doch glaubt Ihr etwa, ich würde sie sterben lassen, wenn ich ein Gott wäre?« Der Priester war nicht beleidigt, sondern blickte den Elfen voller Mitleid an. »Diese Krankheit übersteigt meine Möglichkeiten. Ich glaube, sie ist magischer Natur. Vielleicht hat es damit zu tun, daß sie nicht altert. Wenn ich noch mehr versuche, könnte ich sie damit umbringen.« Jander hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Er blickte Anna -26-
gequält an. »Magie«, flüsterte er. »Alle Magie soll verdammt sein!« »Komm, mein Sohn«, sagte der Priester sanft, legte eine Hand auf Janders Schulter und versuchte, ihn zur Tür zu schieben. »Du könntest selbst erkranken. Du bist schon ganz kalt.« Der Vampir schüttelte die Hand des Priesters ab. »Nein«, sagte er. »Ich bleibe hier.« »Aber…« Jander fixierte den alten Mann mit seinem silberfarbenen Blick. »Nun, vielleicht hast du recht«, gab der Priester nach. »Ich bin davon überzeugt, daß sie des Trostes bedarf.« Er ging zur Kerkertür und drückte sie auf. »Herr…« Der alte Mann blieb stehen, »Ja, mein Sohn?« »Vielen Dank.« Der Priester lächelte traurig. »Ich werde für sie beten. Und für dich«, fügte er hinzu, dann war er fort. Nun war Jander wieder mit der Wahnsinnigen allein, und er ließ sich neben der Frau auf den Boden sinken, um die er sich dreißig Jahre lang gekümmert hatte. Annas Fieber war noch immer nicht gesunken, und obwohl sie nun wieder bei Bewußtsein war, erkannte sie ihn offensichtlich nicht. Jander legte die Wange auf ihr Haar und packte sie fest mit der grabkalten Hand an der Schulter. Er traf die tödliche Entscheidung, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Es war die einzige Möglichkeit, die ihm blieb. Anna lag im Sterben, und Jander konnte den Gedanken nicht ertragen, von ihr getrennt zu werden. »Anna, meine Geliebte«, sagte er leise, »wenn es für uns doch nur einen anderen Weg gäbe…« Er strich ihr mit der schlanken Hand über die heiße und -27-
trockene Wange, deren Rötung von ihrem heißen Blut verursacht wurde. Dann konnte er sich nicht länger zurückhalten und küßte die Wange. Leichenkalte Lippen fuhren weiter zu ihrem Hals und preßten sich gegen die pulsierende Ader. Er hätte ein Gebet für den erfolgreichen Ausgang dieser nächtlichen Unternehmung gesprochen, wäre er davon überzeugt gewesen, daß es irgendeine Gottheit interessiert hätte. Sein Vorhaben barg gleichermaßen Gefahren wie Möglichkeiten. Er spürte den vertrauten, bittersüßen Schmerz im Mund, als sich seine Fangzähne vorschoben, dazu bereit, weiche Haut zu durchbohren, damit er das sprudelnde Blut trinken konnte. Jander biß tief in Annas Kehle, und er tat es schnell, bevor ihn der Mut verließ. Er biß tiefer als jemals zuvor, und die Haut bot ihm kaum Widerstand. Dann gab sie nach, und ein Schwall heißer Flüssigkeit ergoß sich über sie. Anna stöhnte und kämpfte gegen den Schmerz an. Der Vampir besaß übermenschliche Kräfte, und sie konnte seinem Griff nicht entkommen. Langsam wurden ihre Bewegungen schwächer, dann erschlaffte sie. Jander trank gierig; die warme, nach Kupfer schmeckende Flüssigkeit rann seine Kehle hinab. Die in ihr liegende Lebenskraft durchdrang seinen Körper, erneuerte seine Kräfte und entflammte seine Sinne aufs neue. Es war lange her, seit er sich solch ein Festmahl gegönnt hatte, und er hatte die freudige Erregung und die Wärme vergessen, die ein richtiges Mahl hervorrief. Er lieferte sich dem Vergnügen aus und bemerkte nur verschwommen, daß der Geschmack schal und aschig wurde. Abrupt hörte er auf. Er war beinahe zu weit gegangen; in seinem Hunger hatte er sie fast leergesaugt. Schnell schlitzte er mit einem krallenähnlichen Fingernagel eine tiefe Öffnung in seine Kehle, wobei er Annas schlaffe Gestalt noch immer in seinem kräftigen Arm hielt. Neues Blut - Annas Blut - wurde aus der Wunde gepumpt. Jander bewegte sie wie eine Puppe und hielt ihren Mund an seinen Hals. »Trink, Geliebte«, sagte er -28-
heiser, »trink und werde me ine Gefährtin!« Sie rührte sich nicht. Mit plötzlicher Angst drückte er ihr Gesicht gegen die Wunde. »Anna, trink!« Sie versuchte kraftlos, ihn abzuwehren, und er blickte sie fassungslos an. Sie lächelte voller Frieden und schaute ihn mit ihrem blutverschmierten Gesicht ganz klar an. Nur wenige Herzschläge vom Tod entfernt, hatte die gepeinigte Frau einen Teil ihres Verstandes zurückerlangt, als sei ihr ein göttlicher Segen widerfahren. Einen Augenblick lang hatte sie die Herrschaft über ihren Geist zurückerlangt und eine Wahl getroffen. Sie verweigerte das Dasein des ewig existierenden Untoten, das er ihr aufzwang. Ihre Kräfte verließen sie, doch sie brachte noch genug Energie auf, um die kleine Hand zu heben und sein goldfarbenes Gesicht zu berühren. Sie war mit ihrer Entscheidung zufrieden, wenn nicht sogar glücklich. »Herr«, flüsterte sie, und eine einzelne Träne rann die bleiche Wange hinunter. Die wunderschönen Augen schlossen sich zum letztenmal, dann fiel ihr lebloser Kopf auf seinen zitternden Arm hinab. »Anna?« Natürlich war sich Jander darüber im klaren, daß sie tot war, doch er wiederholte benommen immer wieder ihren Namen. Kurz vor Einbruch der Morgendämmerung kam er wieder zu Sinnen. Als er sich seiner Umgebung bewußt wurde, hatte er die Augen geschlossen. Zuerst fiel ihm die Stille auf. Kein einziges Stöhnen und auch kein Seufzer drang an seine Ohren. Kein Atmen, kein Geraschel, überhaupt kein Geräusch. Dann nahm er den Geruch wahr - einen heißen, an Kupfer erinnernden Gestank, der ihm so vertraut wie sein Name war. Er lag auf dem kalten Steinboden. Als er aufstehen wollte, entdeckte er, daß er die letzten Stunden in Wolfsgestalt zugebracht hatte. Jander hielt die Augen auch weiterhin -29-
geschlossen, leckte sich mit der roten Zunge über die Schnauze und schmeckte die Flüssigkeit, die den kupfernen Duft absonderte. Was hatte er getan? Er wollte es gar nicht wissen, doch er mußte sich seinen Taten stellen. Langsam öffnete der Wolf mit dem goldenen Pelz die silberfarbenen Augen. Er hatte keine der Unglücklichen am Leben gelassen. Der Anblick des Massakers erinnerte stark an die obszöne Darbietung einer Gauklertruppe. Die geisteskranken Frauen lagen auf ihren Strohlagern und dem Boden des Kerkers verstreut wie die achtlos fallen gelassenen Spielzeuge eines Kindes. Ihre aufgeschlitzten Kehlen sahen aus wie zusätzliche Münder. Dazwischen lagen die verstümmelten Leichen der Aufseher, die törichterweise den Versuch unternommen hatten, das Blutbad zu verhindern. Die vorherrschende Farbe war nicht mehr das Schiefergrau der Steine, sondern ein tiefes Rot. Man konnte den Eindruck gewinnen, als hätte dasselbe Kind, das die Leichen gleichgültig zur Seite geworfen hatte, danach eimerweise rote Farbe ausgeschüttet. Jander entfuhr ein leises Stöhnen. Der Vampir konnte sich nicht einmal daran erinnern, die Menschen angegriffen zu haben. Er hatte schon zuvor getötet, und das sogar oft. Gelegentlich hatte es ihm sogar Vergnügen bereitet, jemanden umzubringen. Es war ihm allerdings nicht bewußt gewesen, daß er zu so einer Schlachterei fähig war. Die Menschen, die nun verkrümmt in schrecklichen Blutlachen lagen, waren keine Feinde gewesen. Sie hatten nicht einmal Nahrung für seinen unnatürlichen, verfluchten Hunger dargestellt. Das hier war mutwilliger Mord gewesen, und der Teil Janders, der noch immer an seiner Elfenherkunft festhielt, der Teil, der noch immer Licht, Musik und Schönheit liebte, war sprachlos vor Entsetzen. Das ganze Ausmaß des Entsetzens darüber, was er angerichtet hatte, legte sich über Jander wie Staub über einen Grabstein. Diejenigen, die von einem Vampir getötet wurden, waren dazu -30-
verdammt, selbst als Vampire von den Toten aufzuerstehen. Er war sich nicht sicher, ob das auch bei diesen armseligen Frauen der Fall sein würde - schließlich hatte er sie einfach in Stücke gerissen und ihnen nicht das Blut bis zum letzten Tropfen entzogen, dachte er mit grimmigem Humor. Dennoch war es ein Gedanke, der jedes Herz erstarren lassen würde: Einhundert dem Wahnsinn verfallene Vampire, die die nächtliche Schwertküste unsicher machen würden. Jander richtete seinen entsetzten Blick auf Anna. Er verwandelte sich, die schlanken Wolfsglieder verflüchtigten sich zu Nebel, der sich dann anmutig zu seiner Elfengestalt verfestigte. Er nahm die abgemagerte Leiche in den Arm und hielt sie ein paar Minuten lang fest umklammert. Dann legte er sie sanft auf das Stroh und säuberte ihr blutiges Gesicht so gut, wie er konnte. Er hatte versucht, Anna zu seiner Gefährtin zu machen, doch sie hatte sein Blut nicht trinken wollen. Wenn sie nun in ein paar Nächten wieder als Untote auferstand, würde sie lediglich eine schwache, unterwürfige Blutsaugerin sein: seine Sklavin. Sie würde nie mehr sein, und das für alle Ewigkeit, denn Vampirsklaven konnten nie zu echten Individuen werden, solange ihr Schöpfer noch existierte. »Oh, Anna, ich habe nie gewollt, daß dir dieses Schicksal widerfährt«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Der Tod wäre besser gewesen.« Der Vampirelf erhob sich langsam und müde, dann schaute er sich unter den Leichen um, bis er gefunden hatte, was von den Aufsehern übriggeblieben war. Er durchsuchte die blutigen Überreste, bis er einen Schlüsselring gefunden hatte, schloß die schwere Holztür auf und ging in den Männerkerker. Einen kurzen Augenblick lang überlegte er, ob er auch das Richtige tat, doch dann schob er sein Zögern beiseite. Jander steckte den großen Schlüssel in das Schloß, drehte ihn zweimal um und drückte die Tür auf. Die Mehrzahl der Wahnsinnigen nahm keine Notiz von ihm, doch ein paar schlichen ängstlich zur Tür -31-
und schauten vorsichtig hinaus. Mit einem lauten Schrei stürmte der Elf in die große Zelle, winkte mit den Armen und trieb die Kranken der Freiheit entgegen. Als auch der letzte draußen war, ging Jander zu den Einzelzellen und öffnete auch sie. Jetzt war das Irrenhaus leer - bis auf die Toten. Der Vampir kehrte in den Frauenkerker zurück und kniete ein letztes Mal neben Anna nieder. Er gestattete sich einen Abschiedskuß, ein Geschenk, vor dem sie zuviel Angst gehabt hatte, um es ihm im Leben zu gewahren. Dann nahm Jander eine Fackel aus einem Stander an der Wand und warf sie auf das Stroh, mit dem der Zellenboden bedeckt war. Es fing schnell Feuer, und der Elf verharrte ein paar Minuten lang zögernd an Ort und Stelle. Er führte eine erbärmliche Existenz. Es war verführerisch, sie hier und jetzt zu beenden, gemeinsam mit Anna zu verkohltem Fleisch zu verbrennen. Der Gedanke war dem unglücklichen Vampir in den letzten Jahrhunderten schon mehrmals gekommen, doch er hatte sich immer gegen Selbstmord entschieden. Es gab schlimmere Wesen als Vampire, und er würde nach seinem Tod zu einem von ihnen werden. Der Rauch wurde schwarz und dicht, bevor der Elf nach draußen an die frische, kalte Nachtluft eilte. Er wollte nicht zusehen, wie Annas Körper verbrannte, doch er wußte, daß es die einzige Möglichkeit war, ihre gemarterte Seele der letzten Ruhe zuzuführen. Jander ging leise nach Westen und zog den Umhang fest um die schlanke Gestalt. Die Kälte der Winternacht bereitete ihm kein Unbehagen. Die Berührung eines Vampirs war kalt, wenn er sich nicht gesättigt hatte, doch die Untoten selbst spürten diese Kälte nicht. Als er durch die leeren Straßen zur Stadtgrenze ging, vernahm er, wie sie hinter ihm lebendig wurden. Er hoffte, daß keine Hilfe eintreffen würde, bevor Annas Le ichnam völlig zerstört war. Der Vampirelf ließ Tiefwasser hinter sich und ging auf den -32-
Schutz des Waldes zu. Das Gras unter seinen Füßen war mit Frost bedeckt, doch es gab unter dem Gewicht seiner grauen Stiefel keine Geräusch von sich. Die großen Bäume waren kahl, und ihre schweigsamen, massiven Formen luden nicht zur Berührung ein. Dennoch lehnte sich der Elf mit dem Rücken an einen Stamm und blickte in den Himmel. Der Halbmond verblaßte unter dem blaßlila und rosaroten Schein des heraufziehenden Morgens. Allerdings blieb dem Elfen noch eine gute halbe Stunde, bevor er die dunkle Zuflucht seiner Höhle aufsuchen mußte. Der verzweifelte Vampir empfand die Schönheit der Zeit vor dem Sonnenaufgang eher als schroffe Abweisung denn als Beruhigung. Er war untot. Für ihn gab es keine Hoffnung, irgendwo auf der Welt mit Freundschaft aufgenommen zu werden. Sogar Anna hatte den Zustand des lebenden Todes zurückgewiesen, den er ihr angeboten hatte. Dreißig Jahre lang hatte sie die einzige Hoffnung dargestellt, die sein Dasein erträglich gemacht hatte. Nun gab es nichts mehr. Wer konnte schon Mitleid für die schwierige Lage eines Vampirs aufbringen? »Ich habe dieses Dasein nicht gewählt!» schrie Jander wütend dem leeren Himmel entgegen. »Ich habe nichts verbrochen! Ich habe das nicht verdient! Habe ich nicht unter diesem Zustand gelitten? Gibt es für jemanden wie mich keine Gnade?« Die Nacht schwieg. Sie gab ihm keine Antwort. Er ballte die Fäuste. »Anna!« wehklagte er, und seine Stimme zerriß die Stille. Er fiel auf die Knie. »Anna …« Er hatte das Wesen getötet, dem seine ganze Liebe gegolten hatte. Es machte keinen Unterschied, daß es nicht seine Absicht gewesen war. Vielleicht hast du sie ja befreit. Der Gedanke kam wie ein Flüstern. Der Vampir klammerte sich an diese Hoffnung. Er zwang sich dazu, sich an ihren träumerischen Wahnsinn zu erinnern, und der Zorn, der auf ihn selbst und seinen untoten Zustand gerichtet gewesen war, fand ein neues Ziel. Ihre -33-
Schönheit hatte sein Leben berührt und ihm einen Grund gegeben, sein Dasein fortzusetzen, jetzt hatte er einen neuen Grund: Rache. Jander war davon überzeugt, daß jemand Anna etwas Schreckliches angetan und dieses Erlebnis sie schließlich in den Wahnsinn getrieben hatte. Es gab eine größere Sünde als das, was er getan hatte. Voll neuer Entschlossenheit hob er die Arme in den sich aufhellenden Himmel, »Hört mich an, ihr Götter! Hört mich an, ihr Mächte der Dunkelheit und des Schmerzes! Falls es jemanden gibt, der ihr Schaden zugefügt hat, werde ich ihn aufspüren. Ich werde ihn vernichten. Bestraft mich, wenn ihr wollt, denn meine Hände sind nicht rein. Doch verweigert mir nicht meine Rache!« Jander hatte weder in den fünfhundert Jahren als Untoter noch in den zweihundert Jahren davor als Sterblicher mit solcher Inbrunst gesprochen. Sein Haß vergiftete die Worte, und die gute, saubere Erde Torils zuckte vor Abscheu zusammen. Aber da waren noch andere Mächte, weitaus verderbter als alles, was auf Toril existierte, und sie labten sich an Janders unreinem Fluch wie an Nektar. Nebel war in Tiefwasser nichts Ungewöhnliches, denn schließlich handelte es sich um eine Hafenstadt. Doch noch Jahre später erzählten die Bewohner der Docks nur flüsternd von dem bösartigen Nebel, der plötzlich in jener Morgendämmerung auftauchte. Er kam wie ein Geisterschiff von der See. Er war feucht und kühl wie jeder Nebel, doch haftete ihm etwas Ungewöhnliches an. Diejenigen, die bereits ihr Tagwerk begonnen hatten, hasteten in ihre Häuser zurück oder kauerten in ihren Booten, bis er weitergezogen war. Die Gesichtszüge derjenigen, die noch in ihren Betten lagen, verzerrten sich im Schlaf zu Grimassen, als sich Träume in Alpträume verwandelten. Der Nebel kam, als würde er gesteuert, und wälzte sich durch die Straßen des Viertels nach Westen. Er ließ die Docks schnell hinter sich und machte einem trüben Morgen Platz. Die Mittagssonne brannte die letzten Spuren des -34-
seltsamen Nebels fort, und der Sonnenuntergang an jenem Abend war atemberaubend. Jander bemerkte den Sonnenuntergang auf Toril nicht, und auch nicht die klare Nacht, die darauf folgte. Der plötzlich auftretende Nebel hatte ihn völlig eingehüllt. Sein Geist war durch die heißen Rachegedanken so getrübt wie der Wald durch den seltsamen Nebel, dennoch, plötzlich geistesgegenwärtig, erkannte er, daß ihm kaum Zeit blieb, um seine Höhle zu erreichen. Er nahm die Gestalt einer Fledermaus an und flog auf die feuchte Erdhöhle zu, die er sein Zuhause nannte. Der Nebel verhinderte jede normale Sicht. Fledermäuse orientieren sich jedoch an hohen Tönen, die sie unhörbar für Menschen ausstoßen und deren Echos ihre empfindlichen Ohren wieder aufnehmen. Jander flatterte mit seinen lederartigen Schwingen, und es überraschte ihn, daß seine schrillen Schreie von nirgendwo zurückgeworfen wurden. Doch entschlossen flog er weiter und unterdrückte grimmig jeden Gedanken daran, daß er in diesem dichten, grauen Nebel die Orientierung verlieren könnte. Als er nach einer alarmierend langen Zeit noch immer kein Echo empfangen hatte, flog Jander zu Boden und verwandelte sich zurück in einen Elfen. Der Nebel lichtete sich. Genauso schnell, wie er entstanden war, löste er sich auf und enthüllte eine so fremdartige Landschaft, daß Jander zuerst seinen Augen nicht trauen wollte. Es schien ihm, als sei er vor der Morgendämmerung geflohen. Nach der Position des Mondes zu urteilen, war es nicht einmal Mitternacht. Der Elf runzelte die Stirn. Mit dem Mond stimmte noch etwas nicht. Bei seinem Aufbruch hatte eine Sichel am Firmament gestanden. Jetzt strahlte er voll und rund. Selbst die Sterne hatten keine Ähnlichkeit mit der Konstellation, die ihm durch jahrhundertelange Beobachtung -35-
vertraut geworden war. Alles war fremd. Was geschah hier? Einen Augenblick lang zweifelte Jander, ob er möglicherweise zu viele Nächte unter den Wahnsinnigen verbracht hatte. Verlor auch er jetzt den Verstand? Welche Erklärung es auch dafür gab, soweit seine Sinne es feststellen konnten, befand er sich nicht mehr in Tiefwasser. Nach den unbekannten Sternen zu urteilen war er nicht einmal mehr auf Toril. Ihn fröstelte, obwohl die milde Luft nach Frühling roch. Magie. Der Mond versteckte sich immer wieder hinter Wolkengebirgen, und abwechselnd beleuchtete und verbarg er Janders neue Umgebung. Der Elf entdeckte, daß er statt auf gefrorenem Gras auf einer Straße stand, die zwar in gutem Zustand war, jedoch offensichtlich selten benutzt wurde. Die Schatten der großen Bäume, die sie zu beiden Seiten säumten, waren tief und schienen über ihm zu schweben. Es handelte sich um voll erblühte Apfelbäume, und sie ließen Blüten auf den Boden fallen, wenn eine Brise sie erfaßte. Die Straße führte zu einem vor ihm liegenden Hügel und fiel dann steil ab. Jander ging bis zur Hügelkuppe und blickte hinunter ins Tal. Genau in dessen Mitte schwebte ein großer Ring aus dichtem Nebel. Jander konnte von seiner erhöhten Stellung aus sehen, daß der Ring ein Dorf umgab. Nördlich der Straße erhob sich über dem Dorf ein unheilvoll aussehendes Schloß wie der Horst eines Geiers. Klagendes Heulen zerschnitt die Stille, und schnell stimmten ein Dutzend weitere Stimmen ein. Jede Minute näherte sich der Chor. Jander sorgte sich wegen des Wolfrudels nicht. Es war kein Lykanthroph, aber das Gefühl, auf vier Pfoten durch die Hügel zu streifen und die Witterung des Opfers heiß in den Nüstern zu spüren, war ihm nur allzu vertraut. Kein Tier war ihm bisher begegnet, das sich nicht seinem Befehl unterworfen -36-
hätte. Das Heulen wurde lauter. Jander warf den Kopf in den Nacken, spürte die leichte Brise, schnupperte und nahm den wilden, moschusartigen Geruch wahr. Als das Rudel über den kleinen Hügel kam, fing sich das Mondlicht in den strahlenden Augen. Sie waren gewaltig - riesige, zottelige Bestien aus Schatten und Dunkelheit. Jander erwiderte den Blick des Rudelführers. Wolf und Vampir musterten sich einen Augenblick lang. Dann wechselte der Anführer kurze Blicke mit seinen Geführten und wandte sich wieder Jander zu. Er legte den Kopf schief, und seine Ohren zuckten, während er überlegte. Der Elf war überrascht. In der Vergangenheit hatte man ihm stets sofort gehorcht. Janders Augen verengten sich, als er sich stärker konzentrierte. Geh!, befahlen seine Gedanken den Wölfen. Er spürte ihren Willen, ihre Verschlagenheit und Bedrohlichkeit, doch sie machten keinerlei Anstalten, ihm zu gehorchen. Geh! Schließlich stahlen sich die mächtigen Bestien fort und wurden von der Nacht verschlungen. »Lebt wohl, Brüder«, sagte Jander. Er war wieder allein. Eine Wolke schob sich vor den Mond. Von einer Sekunde zur nächsten veränderte sich die Atmosphäre der Nacht. Das Weiß der Apfelblüten nahm die Farbe fahler Leichentücher an. Die Straße aus festgetretener Erde schlängelte sich wie eine Schlange. Mochte sich Jander auch nach der Sonne sehnen, so blieb er doch ein Bewohner der Dunkelheit, der sich darüber im klaren war, daß er von dieser nichts zu befürchten hatte. Dennoch spürte er einen Schauder, der ihm wie eine eisige Hand das Rückgrat hinunterschlich. Als in seinen Adern noch warmes Blut geflossen war, war ihm diese Furcht vor den Schatten vertraut gewesen. Allerdings hatte er sic h schon damals nicht vor der Dunkelheit an sich gefürchtet, sondern vor dem, was sich in ihren Tiefen verbarg. Nun war er ein Teil dieser verborgenen Dinge. Trotzdem, vor der Nacht in diesem -37-
seltsamen Land fürchtete sich Jander. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich nicht so an, wie er sollte. Er hatte die Wölfe »Brüder« genannt, doch das war aus Gewohnheit geschehen, nicht weil er sich mit ihnen verwandt gefühlt hätte. Mit diesen Wölfen hatte er nichts gemein. Er wußte genau, ohne seine Willensanstrengung, sie fortzuschicken, wären sie nur des Vergnügens willen über ihn hergefallen und hätten ihn in Stücke gerissen. Die Wölfe in Faerun waren mit wenigen Ausnahmen nichts anderes als wilde Tiere, Reisende unter dem dunklen Himmel, die lediglich auf der Suc he nach Nahrung waren. Doch diese großen, zotteligen Bestien, die ihn haßerfüllt angestarrt hatten, waren bösartig gewesen. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den einzigen Anzeichen der Zivilisation zu, die er finden konnte, doch auch die beruhigten ihn nicht. Der unnatürliche Nebelring schien das Dorf gefangenzuhalten. Das Schloß erhob sich über ihm, als wollte es die Siedlung mit etwas Schrecklichem bedrohen. Jander seufzte. Er hatte keine Vorstellung, wo er sich befand oder wie er hierhin gekommen war. Die einzigen, die ihm darüber etwas erzählen konnten, lebten in dem Dorf und dem Schloß. Der Elf entschied sich für das Dorf, denn dort würde er sich eher unauffällig bewegen können. Plötzlich bemerkte er seine Kleidung, die mit dem Blut der unschuldigen Opfer aus dem Irrenhaus getränkt war. So konnte er sich in dem Dorf nicht sehen lassen. Jander warf einen Blick auf sein Gewand um zu prüfen, wie schlimm die Flecken tatsächlich waren, und erschrak erneut. Seine Kleider waren völlig sauber. Der oder das, was ihn an diesen Ort gebracht hatte, hatte gleichzeitig dafür gesorgt, daß er sich problemlos unter die hier Ansässigen mischen konnte. Der Elf lächelte grimmig. Er wurde das seltsame Gefühl nicht los, daß er beobachtet wurde. Dann werde ich meinen Beobachter wissen lassen, daß man mich nicht einschüchtern kann, beschloß er. Er schlug die Kapuze des Umhangs zurück -38-
und schüttelte das Haar frei. Er hatte geschworen, Rache zu üben, und falls es an diesem Ort sein sollte, auch gut. Voller Erinnerungen an Anna ging er mit festem Schritt die Straße entlang auf das vom Nebel umgebene Dorf zu. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Haus zur Ruhe kam. Anastasia zog die mit Stickereien verzierte Decke bis ans Kinn, tat so, als würde sie schlafen, und versuchte, ihr wie verrückt pochendes Herz zu beruhigen. Durch die Spalten in den Fensterläden drang Mondlicht in das geräumige, großzügig möblierte Zimmer und legte ein streifenförmiges Muster auf die Gesichtszüge von Anastasias schlummernder Schwester. Ludmillas sonst spitzbübisches Gesicht sah im Schlaf friedlich aus, und ihr dunkles Haar lag ausgebreitet auf dem weißen Kissen. Das Kind war erst zehn Jahre alt, und da es sich nun das Zimmer mit Anastasia teilen mußte, hatte die Siebzehnjährige Probleme, das zu tun, was sie die letzten paar Wochen getan hatte. Anastasia bewegte sich. Das Rascheln der kostbaren Laken hörte sich in der Stille des Zimmers ohrenbetäubend laut an; deshalb entschied sie, noch zu warten. Als endlich kein Geräusch mehr zu hören war - weder aus dem Schlafzimmer der Eltern noch aus den Quartieren der Dienstboten im Erdgeschoß stand sie voll bekleidet auf. Sie trug ihre einfachsten Kleidungsstücke, eine Leinenbluse und einen schmucklosen Rock. Anastasia griff nach dem Band, das auf dem Tisch neben ihrem Bett lag, band ihr Haar zurück und schlüpfte in die Stiefel. Ihre Handflächen fühlten sich feucht an, als sie unter der Matratze nach dem Seil tastete, das sie dort versteckt hatte. Ludmilla stöhnte im Schlaf. Anastasia erstarrte zur Salzsäule doch das Kind wachte nicht auf. Sie schloß erleichtert die Augen. Dann band sie ein Ende des Seils mit einem festen Knoten um den schweren Bettpfosten, öffnete Fensterläden und Fenster so leise, wie sie nur konnte, und ließ das Seil in die -39-
Tiefe fallen. Sie holte tief Luft, sandte ein Stoßgebet zum Himmel, nahm all ihren Mut zusammen und kletterte hinab. Sie hatte gehofft, daß Petya sie erwartete, doch zu ihrer Enttäuschung löste sich seine schlanke Gestalt nicht aus den Schatten. Anastasia fluchte lautlos, während sie auf und ab ging; ihr blasses Gesicht war angespannt und nervös. Es war gefährlich, so nahe am Haus zu warten. Ihr Vater könnte auf die Idee kommen, den Kopf aus dem Fenster zu stecken, um ein bißchen frische Luft zu schnappen. Ohne Frage würde er ihr bei lebendigem Leib die Haut abziehen, falls er sie hier erwischte. Sie konnte ihn förmlich vor sich sehen, wie sein kahler Kopf vor Schweiß glänzte und die dicken Wangen empört erzitterten. »Vergiß nicht, wer du bist! Du bist die Tochter des Bürgermeisters und keine gewöhnliche Dirne!« Nein, wenn sie länger hier stehenblieb, forderte sie das Schicksal heraus. Anastasia wollte nicht weiter warten, sie lief die dunklen Dortstraßen entlang. In ihren schwarzen Urnhang gehüllt, konnte sie ihre Identität verbergen, falls sie jemandem begegnete. Doch das war sehr unwahrscheinlich. Nachts traf man kaum jemanden auf der Straße. Die Tochter des Bürgermeisters beeilte sich, wußte sie doch, daß sie im Mondlicht gut zu erkennen war. Trotzdem, sie war dankbar, daß sie wenigstens sehen konnte, wohin sie ihre Füße setzte. Sie verließ die Straße und betrat einen überwucherten Pfad. Ihm folgte sie - wobei sie gelegentlich stolperte - bis zu den Felsen auf dem Hügel, die dort kreisförmig angeordnet standen. An dieser Stelle hatte sie sich bereits früher mit Petya getroffen. In der Nacht erschien alles viel bedrohlicher. Bäume wurden zu mürrisch dreinschauenden Riesen, Felsen zu mißgestalteten Zwergen. Die Dorfältesten erzählten oft von der Zeit, als Barovia des Nachts fast so sicher wie am Tag gewesen war. »Damals war in der Nacht der Misthaufen am gefährlichsten, weil man den im Dunklen nicht sehen konnte.« Das hatte Frau Yelena erzählt. -40-
Anastasia mußte ihrer Angst zum Trotz lächeln, als sie den Kreis erreichte und sich im Schatten eines Felsen zu Boden sinken ließ. Sie dachte daran, wie ihre Mutter Yelena böse angeschaut und dann fortgescheucht hatte. Doch die Frau hatte Anastasia nur belustigt. Jetzt verblaßte das Lächeln des Mädchens allerdings wieder. Die guten Zeiten, von denen Yelena geschwelgt hatte, waren bereits vor der Geburt der alten Frau Vergangenheit gewesen. Nun barg die Nacht Dinge, an die Anastasia nicht einmal denken wollte. Man hatte Menschen gefunden, die von Wolfsrudeln buchstäblich in Stücke gerissen worden waren. Andere sprachen von Leichen, denen das Blut fehlte. Die Leute murrten sogar gegen Graf Strahd. Graf Strahd. Der Wind schien den Namen zu flüstern und ließ ihn durch die Baumwipfel rascheln. Apfelblüten flatterten geistergleich zu Boden. Anastasia zitterte und zog den Umhang fester zusammen. Sie lehnte sich gegen den großen Felsen, seine unverrückbare Gegenwart wirkte beruhigend. Gerüchten zufolge war dies einst ein heiliger Ort gewesen, nun war davon nur ein Ring von Felsen geblieben. Anastasia versuchte, die Gedanken auf ihren Liebhaber vom Volk der Zigeuner zu richten. Ihre verbotene Liebe war gefährlich - und aufregend. Die Vistani hatten etwas Geheimnisvolles an sich, und das machte den jungen, prahlerischen Petya für Anastasia so anziehend. Seine dunklen Augen waren voller Magie, seine Berührungen erfahren und geschickt. Jeder seiner Schritte verbreitete ein Gefühl der Freiheit, und Anastasia, die von ihrem Vater und der geduckten Lebensweise eines ganzen Dorfes so lange eingeschüchtert worden war, saugte es auf wie ein Schwamm das Wasser. Manchmal fragte sie sich sogar, was sie wohl mehr liebte: die Lebensweise der Zigeuner oder ihren Petya. Das Heulen eines Wolfes unterbrach ihr angenehmes Sinnieren. Anastasias Herz schlug schneller. »Beeil dich, Petya«, flüsterte sie. -41-
Die Wölfe waren Strahds Geschöpfe. Das wurde zumindest allgemein behauptet. Anastasia war Barovias Herrscher nur ein einziges Mal begegnet - und das hatte ihr für alle Zeiten gereicht. Es war erst ein paar Nächte her. Der Graf hatte das jährlich stattfindende Frühlingsfest, bei der ihr Vater als Gastgeber fungierte, mit seiner Anwesenheit beehrt. Strahd war groß und schlank, hatte sorgfältig frisiertes Haar und tiefsitzende schwarze Augen. Er war tadellos gekleidet gewesen. Das aufwendig geschneiderte, schwarze Gewand hatte hellrote Verzierungen aufgewiesen, die wie Blutstropfen aussahen. Als der Bürgermeister ihm seine älteste Tochter vorstellte, zeigte der Graf ein seltsames Lächeln, und sein abschätzender Blick hatte Anastasia großes Unbehagen eingeflößt. Als er ihr die Hand küßte, hatte sie ihre ganze Willenskraft zusammennehmen müssen, um nicht aufzuschreien; die Berührung seiner Lippen war wie Eis gewesen. Gerüchten zufolge beschäftigte sich der Graf mit Magie. Andere Leute flüsterten wiederum, daß die Damen, die sein Gefallen fanden, dazu neigten, vom Antlitz der Erde zu verschwinden. Anastasia stöhnte leise auf, als in der Nacht ein Geräusch ertönte. Mit zitternder Hand hielt sie den Umhang zusammen und versuchte, in den Felsen zu kriechen. Das Geräusch ertönte erneut - es waren langsame und bedachtsam ausgeführte Schritte. Sie kamen direkt auf sie zu. Soviel zu dem Schutz des Kreises. Unwillkürlich mußte sie an die Mahnungen ihres Vaters denken, der von blutleer aufgefundenen Leichen erzählt hatte. Eine Hand legte sich auf ihren Mund. Anastasias Herz blieb beinahe vor Schreck stehen, dann setzte sie sich gegen den Angreifer zur Wehr. Sie trat und kratzte, und die Angst verlieh ihr zusätzliche Kräfte. Der Mond brach abrupt durch die Wolken, und sie erkannte, daß es Petya war, der noch -42-
breiter grinste als sonst. Das Mondlicht verlieh seinem dunkelhäutigen Gesicht eine matte Helligkeit und ließ die Farbe der hellen, perlenverzierten Weste und der großen roten Pluderhose verblassen. »Du …« Anastasia rang keuchend nach Luft, während Petya vor Lachen brüllte. Sie warf sich auf ihn und trommelte mit ihren kleinen Fäusten gegen seine schlanke Brust. Dann fielen sie zusammen auf den Boden. Als Petya sie unter sich begrub, kämpfte sie noch immer mit vor Verlegenheit gerötetem Gesicht gegen ihn. Sie schaute ihn böse an, doch ihr Zorn schwand schnell. »Du verrückter Vistani- Teufel!« zischte sie neckisch. Er verzerrte spielerisch das Gesicht zu dem eines Bösewichts, wie man ihn von fahrenden Schauspielern her kannte, und zog die dichten Augenbrauen zusammen. Dann küßte er sie. Als Anastasia den Kuß erwiderte, stellte sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, fest, daß die Nacht nun bei weitem nicht mehr so kalt war. Eine Stunde später verabschiedete sich Petya zögernd von Anastasia und beobachtete dann, wie sie mit der Grazie eines beladenen Packpferdes das Seil zu ihrem Schlafzimmer hinaufkletterte. Er seufzte und schüttelte den Kopf. Man konnte nicht sagen, daß er die Tochter des Bürgermeisters liebte. Er fand sie zwar sehr anziehend und würde sie vermissen, wenn er mit seiner Sippe weiterreiste, doch sie paßte genausowenig in seine Welt wie er in ihre. Der Bürgermeister würde nie sein Einverständnis geben, daß seine Tochter einen Zigeuner he iratete, und die sippenbewußten Vistani würden niemals erlauben, daß er eine Giorgio ins Lager brachte. Nun ja. So war das Leben. Er roch die frische Luft und schüttelte die Melancholie ab, wie sich ein Hund Wasser aus dem Pelz schüttelt. Es war Frühling, und außer Frauen gab es -43-
noch viele Dinge, die genossen werden wollten. Petya warf den schweren Leinensack über die Schulter. Obwohl er vom Körperbau eher schmächtig war, verfügte er doch über erstaunliche Kräfte. Mit schwungvollem Schritt marschierte Petya auf die Wolfsgrube zu. In der Schenke würden sich viele Stammgäste aufhalten, die nur darauf warteten, sich von seiner Geschicklichkeit unterhalten zu lassen. Selbst zu den besten Zeiten konnte man die Wolfsgrube nicht gerade als einen freundlichen Ort bezeichnen. Es handelte sich um ein weißgetünchtes, dreistöckiges Gebäude, dessen Dachrinne mit Blumenmustern verziert war. Allerdings unterstrich die helle Fassade eher die Düsterkeit der Einrichtung. Es gab nie genug Lampen, so daß die Schankstube stets im Dämmerlicht lag. Das widerwillig im Kamin brennende Feuer beleuchtete den Raum nur unzureichend und wärmte ihn kaum. Die Schenke konnte eben von den paar Leuten leben, die sich nach Einbruch der Nacht noch auf die Straße trauten, und bot deshalb einen traurigen Anblick. Der Wirt war ein mürrischer, dürrer und hochgewachsener Kerl. Da die meisten Dorfbewohner untersetzt und kleinwüchsig waren, schien er nicht zu ihnen zu passen. Er bediente die ihm bekannten Leute mit der nötigen Freundlichkeit; Fremden begegnete er stets mit tiefem Mißtrauen. Ihr Geld nahm er allerdings an, wenn auch nur unter der Voraussetzung, daß er die Währung kannte. Wäre Petya etwas erfahrener gewesen, hätte er die subtile Veränderung gespürt, die sich bei den anwesenden Zechern vollzog, als er pfeifend die Schenke betrat. Er war erst siebzehn, doch es hätten bereits ein paar Jahre ausgereicht, und er wäre so lange geblieben, wie die Höflichkeit es erforderte, um sich dann wieder in die Sicherheit seiner Sippe zu begeben. Doch Petya war jung und unerschütterlich davon überzeugt, daß ihm die Welt gehörte. Der Vistani war eine ungewöhnliche Gestalt, ein grellbunt gekleideter Fuchs, der sich unter eine Meute dunkler, mürrischer -44-
Hunde mischte. Er klopfte einem Mann auf die Schulter, begrüßte einen anderen und warf dem stirnrunzelnden Wirt eine Münze zu. »Ein Glas von deinem Besten, um die Jahreszeit zu feiern.« Der Wirt stellte wortlos einen Becher vor Petya. »Auf eure Gesundheit, meine Herren!« Petya nahm einen tiefen Schluck, ganz durstig von den Vergnügungen der vergangenen Stunde. Sein funkelnder dunkler Blick fuhr zum Eingang, wo eine Gestalt scheinbar zögernd verharrte. »Tritt ein, mein Freund!« rief Petya dem Mann zu. In seinem Überschwang über diese Nacht der Eroberungen schloß er sogar einen Fremden in die Arme. »Kein Mann sollte allein sein, wenn ein guter Trunk auf ihn wartet!« »Das ist richtig, junger Herr«, erwiderte der Fremde, trat endgültig ein und setzte sich neben Petya. Die leise geführten Unterhaltungen verstummten, als die Stammgäste den Fremden, der goldfarbene Haut hatte, mit offenstehenden Mäulern betrachteten. Ein paar von ihnen machten das Zeichen gegen den bösen Blick und eilten hinaus. Andere starrten ihn bloß an. Der Rest begegnete dem Eindringling mit offener Feindseligkeit. Jander zuckte innerlich zusammen. Sein ursprünglicher Plan, möglichst unauffällig Informationen zu sammeln, würde offensichtlich nicht funktionieren. Seit Dolchtal war ihm nicht mehr soviel Feindseligkeit entgegengebracht worden. Glücklicherweise war der schwatzhafte junge Zigeuner an seiner Seite nicht so zurückhaltend wie der Rest der Zecher. »Du hast offensichtlich einen langen Weg hinter dir«, sagte Petya, »Darf ich dir ein Glas Tuika ausgeben? Das ist eine barovianische Spezialität.« Barovia. Jander konnte seine Freude nur mit Mühe verbergen. Dieser merkwürdige Ort war also das Land, aus dem Anna gekommen war. »Nein, vielen Dank«, sagte er höflich. »Ich -45-
würde gern wissen, ob man in dieser Schenke ein Zimmer mieten kann.« »Da mußt du mich fragen und nicht diesen Vistani-Hunci«, sagte der Wirt grollend und warf dem ungerührten Petya einen ausgesprochen wütenden Blick zu. »Geh und verdiene deinen Wein, Petya, oder scher dich in dein Lager.« Petya beugte sich zu dem Elfen herüber. »Das Angebot mit dem Wein bleibt bestehen, falls du es dir anders überlegen solltest. Ich weiß, wie es ist, wenn man in diesem Dorf ein Außenseiter ist«, flüsterte er. Dann glitt er von dem Hocker, widmete dem Wirt eine spöttische Verbeugung und marschierte erhobenen Haup tes in die Ecke. Er kramte in dem Sack herum und holte mit einem strahlenden Lächeln eine erstaunliche Vielzahl von Bällen, Keulen und Fackeln hervor. Dann hielt er die Fackeln nacheinander in die Flammen der Fackeln, die an der Wand befestigt waren, wo sie sich mit einem zischenden Auflodern entzündeten. Er warf die verschiedenen Gegenstände nacheinander geschickt in die Luft und jonglierte jauchzend mit ihnen. »Der Junge ist talentiert«, bemerkte der Elf. »Ich heiße Jander.« Der Wirt schenkte ihm einen unfreundlichen Blick. »Tut mir leid. Ich kann dir für die Nacht kein Zimmer geben.« »Ist nichts mehr frei?« »Oh, freie Zimmer habe ich genug, doch wir nehmen nach Einbruch der Nacht keine Gäste mehr auf.« »Ein Wirtshaus, das keine zahlenden Reisenden aufnimmt?« Jander runzelte die Stirn, und seine Lippen verzogen sich zu einem geringschätzigen Lächeln. »Komm morgen abend wieder, dann können wir darüber reden. Wir nehmen nach Einbruch der Nacht keine Gäste auf.« Jander musterte den Wirt. Hinter seiner rauhen Sprechweise -46-
und seinem abweisenden Verhalten verbarg sich der metallische Gestank der Angst. Jander konnte sie förmlich riechen. Er fühlte sich in seiner Einschätzung dieses Landes bestätigt. Das kleine Dorf wurde terrorisiert. Der Elf begab sich in eine dunkle Ecke des Raumes und zog die Kapuze seines Umhangs über die hellen, blonden Locken. Mit angespannten Sinnen belauschte er unauffällig die leise geführten Unterhaltungen der anderen Gäste und konnte ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen. »Dieser Teufel … müssen im Haus bleiben … Strahd.« Der Name tauchte in verschiedenen Unterhaltungen auf, und jedesmal nahm Jander den Geruch der Angst wahr. Nachdem er mehrere Gespräche verfolgt hatte, konzentrierte er sich auf die Unterhaltung, die direkt in seiner Nähe stattfand. Ein ziemlich junger Mann mit einem schwarzen Vollbart trank einen Schluck Ale. Sein grauhaariger Gefährte starrte ausdruckslos auf seinen unberührten Krug. »Ich hätte nicht gehen dürfen«, sagte der ältere Mann leise, und in seiner Stimme lag ein tiefer Schmerz. Der junge Mann legte eine Hand auf den Arm seines Gegenübers. »Es ist richtig. Man muß Vorsicht walten lassen wenn es sich um das Fieber handelt«, sagte er besänftigend »Das weißt du genausogut wie ich, Vater. Keiner kann sagen wie ansteckend es ist.« Der Mann nickte, doch seine Augen waren noch immer voller Qual. »Sie war so jung, so schön«, flüsterte er verzweifelt. Seine traurigen braunen Augen wurden feucht. »Meine kleine Olva, mein armes Kind.« Die Gesichtszüge des Sohnes verrieten Schmerz, Mitleid und eine Wut, die Jander seltsam fehl am Platz schien. »Hat es ihm denn noch keiner gesagt?« Der trauernde Vater wischte sich mit den stämmigen Fingern über die Augen. »Nein. Keiner wagt es, eine solche Nachricht zum Schloß zu bringen.« -47-
»Ich wette, er wird es bald erfahren. Der Graf hat seine Möglichkeiten, herauszubekommen, was er wissen muß.« Der Gesichtsausdruck des Vaters wechselte abrupt von Leid zu Haß. »Ich bin froh, daß sie tot ist«, sagte er heftig »Ich bin froh, daß sie tot ist, so kann er sie nicht mehr bekommen und sie mit seinen kalten Händen berühren …« »Vater!« zischte der Junge und versuchte, ihn zu beruhigen. Der ältere Mann fing an, laut zu schluchzen, und zwei Männer vom Nebentisch halfen dem Sohn, seinen gebrochenen Vater zur Tür zu führen. Die restlichen Gäste sahen schweigend zu. Jander bemerkte, daß der Zigeunerjunge Petya nicht mehr jonglierte. Seine ganze Ausgelassenheit war verschwunden, und ihm entging nichts. Der Junge ist nicht der Clown, für den er sich ausgibt, dachte Jander. Petya hatte sich ein paar Schritte von seinem auf dem Boden liegenden Leinensack entfernt, um den Vater mit seinem Sohn besser sehen zu können, und während der Vampir ihn noch betrachtete, ging einer der Gäste an dem Vistani vorbei und ließ eine kleine Geldbörse in den Sack fallen. Der schnurrbärtige Mann, der kleine, tückisch blickende Augen und einen grausamen Mund hatte, bestellte noch einen Krug Ale und ging dann wieder zu seinem Platz zurück. Jander wollte etwas sagen, doch dann zögerte er. Es war besser, nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er würde abwarten, bis das Spiel seinen Lauf nahm. Die Zecher setzten sich und führten die leisen Unterhaltungen weiter. Petya griff nach seinen Fackeln und jonglierte weiter. »Dieb!« Der Schrei ertönte nur einen Augenblick später. Mehrere Männer ergriffen den verblüfften Jungen mit einer Geschwindigkeit, die Jander ihnen gar nicht zugetraut hätte, rissen ihm die Arme auf den Rücken und malträtierten seinen Magen mit schmerzhaften Schlägen. Petyas Fackeln fielen zu Boden, und einige der Männer beeilten sich, sie auszutreten, -48-
bevor sie die Schenke in Brand setzen konnten. Die Tür wurde aufgestoßen. Ein großer, stämmiger Mann mit dicken Wangen und buschigem Schnurrbart stürmte herein. Seine Kleider waren viel kostbarer als die Hemden und Westen der anwesenden Zecher, und er verfügte über die Ausstrahlung eines Mannes, der gewohnt war, daß man seinen Befehlen gehorchte. »Bürgermeister Kartov!« rief ein schmieriger kleiner Mann aus. »Wir haben den Vistani hier dabei erwischt, wie er Andrei bestohlen hat!« Andrei, der Mann mit dem tückischen Blick und dem grausamen Mund, nickte eifrig. Kartov starrte den Jungen, der nun sichtlich Angst hatte, wütend an. Trotzdem biß der Vistani die Zähne zusammen und erwiderte den Blick. »Der Mann lügt«, sagte er gelassen. Seine Stimme verriet nichts von der Angst, die Jander riechen konnte. »Ich habe nur jongliert, um mir ein paar Münzen zu verdienen. Man hat mich fälschlicherweise beschuldigt. Und wenn ich die Geldbörse gestohlen hätte«, fügte er mit einem höhnischen Grinsen hinzu, »wäre es ihm gar nicht aufgefallen.« Kartov schlug zu. Petyas Kopf wurde zur Seite gerissen, und Blut tropfte von seinen Lippen. Ein schriller Schrei durchschnitt die Luft, und eine junge Frau stürmte von draußen herein und warf sich auf den Bürgermeister. »Nein! Vater! Hör auf!« Jander sah mit unparteiischer Unberührtheit, daß auch ihr Gesicht von Schlägen gezeichnet war. Ihr Vater schüttelte sie einfach ab, ohne sie richtig wahrzunehmen. Sein glühender Zorn konzentrierte sich auf den Vistani. »Meine Leute werden es nicht untätig hinnehmen, wenn du mir etwas antust«, warnte Petya mit leiser Stimme. Das war offensichtlich keine leere Drohung. Jander entging nicht, daß sich einige der Männer unbehaglich ansahen. Anscheinend war es nicht wünschenswert, die Rache der Vistani -49-
heraufzubeschwören. Kartov war jedoch keinen Vernunftsgründen mehr zugänglich. »Wir sehen nicht untätig zu, wenn man ehrliche Leute beraubt!« brüllte er zurück. »Hängt den Bastard auf!« rief eine Stimme aus der Menge. Jander konnte nicht erkennen, wer die Worte zuerst geäußert hatte, doch der Mob nahm den Ruf schnell auf. Kartov beugte sich zu Petya vor. Nur der Zigeuner und der Vampir konnten die Worte verstehen, die der rasende Vater zischte. »Wenn wir mit dir fertig sind, wirst du dir wünschen, du wärst auf Schloß Rabenhorst. Ich weiß, was du mit meiner Tochter getrieben hast!« Man konnte sehen, wie Petya unter seiner von Natur aus dunklen Hautfarbe erbleichte. Aha, dachte Jander mit plötzlichem Begreifen. »Vater, nein!« schrie die junge Frau. »Es war nicht seine Schuld!« Kartov warf ihr einen wütenden Blick zu. »Hast du noch nicht genug?« fauchte er. Jander sah angewidert zu. Der Elf verabscheute Tyrannen, und dieses Dorf wurde offensichtlich von einem ausgesuchten Exemplar dieser Gattung beherrscht. Er fragte sich, ob dieser leicht reizbare Mann mit dem geheimnisvollen »Er« identisch war, vor dem sich der verzweifelte Vater gefürchtet hatte. »Um dich kümmere ich mich später, Anastasia«, fuhr Kartov fort. »Jetzt kannst du erst einmal zusehen, wie dein Geliebter stirbt!« Anastasia schluchzte auf. »Petya! Nein!« Einer der Männer, die Kartov begleitet hatten, nahm sie und hielt sie mit einem festen Griff. Jander mußte die Haltung des Jungen bewundern. »Kartov von Barovia«, sagte der Zigeuner und verfiel in einen singenden -50-
Tonfall. »Du sollst die Taten dieser Nacht bereuen. Boris Federovich Kartov, ich verfluche dich …« Er würgte, als ihm jemand einen schmutzigen Lumpen in den Mund zwang. Obwohl der Fluch noch nicht vollendet war, zögerten einige der Männer nun, ihrem Bürgermeister zu helfen. Andere waren jedoch um so dankbarer für die Gelegenheit, die ständige Angst, mit der sie leben mußten, in Handeln umsetzen zu können. Sie rissen Petyas Arme wieder auf den Rücken und benutzten seinen bunten Schal als Fessel. Dann stießen sie den Jungen johlend und von Flüchen begleitet aus der Tür. Er stolperte über die Schwelle und stürzte hart auf das Kopfsteinpflaster, da er sich mit seine n gefesselten Händen nicht abfangen konnte. Die Menge brach in rauhes Gelächter aus. Kartov packte Petyas seidiges, schwarzes Haar und riß ihn wieder auf die Füße. Der Junge heulte vor Schmerzen. Das Licht fiel durch die offene Wirtshaustür auf den Marktplatz. Der gelbe Schein bildete einen scharfen Kontrast zum gedämpften Mondlicht. In den Häusern rund um den Platz wurde es hell. Fensterläden wurden einen Spalt breit geöffnet, und die Bewohner spähten neugierig heraus, wobei sie ihre Vorsicht nicht vergaßen. Der Mob trampelte, von einem gemeinschaftlichen Begeisterungstaumel angetrieben, in die Nacht hinaus. Der hilflose Vistani wurde halb getragen und halb gestoßen. Sie brachten ihn zu dem Galgen am anderen Ende des Platzes. Andrei, der Kriecher, war vorausgelaufen und hatte das Henkersseil für ihre Opfer vorbereitet, jetzt wartete er mit einem gemeinen Grinsen auf die Menge, die sich in seine Richtung bewegte. Man zerrte Petya die Stufen zum Schafott hoch. Als der Mann ihm die Schlinge um den Hals legte, setzte er sich noch immer zur Wehr. Niemandem war aufgefallen, daß sich der Fremde vom Geschlecht der Elfen von der Menge getrennt hatte und wie ein Schatten in der Nacht verschwunden war. Keinem entgingen -51-
allerdings die Wolfsrudels.
unheimlichen
Laute
des
heranstürmenden
Ihr Lied eilte ihnen voraus wie die Klänge der Jagdhörner den Jägern. Die schrille, ausgelassene Melodie zerriß die Stille der Nacht, und sie konnte einem das Blut in den Adern erstarren lassen. Die Wölfe hatten sich niemals zuvor ins Dorf gewagt. Allerdings geschahen in Barovia viele Dinge, deren Ursprung man lieber nicht auf den Grund ging. Die Dorfbewohner reagierten bei ihrer Flucht genau wie schon zuvor in ihrer Blutrünstigkeit wie ein Mann: sie stoben vor den heranstürmenden Bestien auseinander. Die Menge löste sich mit angsterfüllten Schreien auf, und jeder versuchte, die Sicherheit seines kleinen Hauses zu erreichen. Das Heulen näherte sich immer mehr. Anastasia nutzte aus, daß der Griff des Mannes, der sie festgehalten hatte, nachließ, und riß sich los, um die Stufen zum Schafott hochzulaufen. Sie ignorierte ihre Angst und zwang die zitternden Finger dazu, Petyas Fesseln zu lösen. Der Mann, der ihn gefesselt hatte, hatte seine Arbeit gut erledigt. Der Schal hatte sich tief in die Haut eingeschnitten, und sie mußte die Knoten geradezu herausgraben. Als sie die Fesseln gerade so weit gelockert hatte, daß Petya den Rest allein erledigen konnte, schloß sich die Hand ihres Vaters um ihren Arm. »Anastasia, komm schon! Los!« In diesem Augenb lick löste sich eine gewaltige, zottelige Gestalt aus den Schatten und sprang auf die Holzplattform. Sie landete auf Kartov. Ihr Rachen blieb geschlossen, doch das Gewicht des großen Körpers brachte den Bürgermeister ins Taumeln. Er stürzte zusammen mit dem Wolf auf die harten Pflastersteine. Die Bestie sprang mit derselben Schnelligkeit, mit der sie ihn -52-
angefallen hatte, von seinem Rücken, schnappte nach seinen Füßen und trieb ihn die Bürgermeisterstraße entlang auf sein Haus zu. Kartov brauchte keine weitere Aufmunterung Es war durchaus möglich, daß er seine Tochter liebte, sich selbst liebte er jedoch noch mehr. Die acht Wölfe jagten über den Platz, und ihr Heulen vermischte sich mit den Entsetzensschreien ihrer möglichen Opfer. Sie verfolgten die flüchtenden Dorfbewohner, kratzten wütend an verriegelten Türen und sprangen mit ihrer tierhaften Wildheit gegen verschlossene Fenster. Ein Tier verbiß sich mit seinen riesigen Kiefern in eine Fensterbank. Das Holz barst splitternd mit einem lauten Krachen; der Wolf wurde von dem plötzlichen Schmerz in seiner Schnauze überrascht und jaulte auf. Keine der großen Bestien griff seltsamerweise Petya oder Anastasia an. Anastasia kämpfte weiter mit den Knoten, und Petya konnte sich befreien. Er ergriff ihre Hand, und sie stolperten die Stufen hinunter. Eine große, graue Wölfin bemerkte die Bewegung und wandte den beiden knurrend den Kopf zu Petya sprang auf einen knorrigen Knüppel zu, den einer der Männer aus der Schenke hatte fallen lassen, und zerrte Anastasia hinter sich. Mit zusammengebissenen Zähnen hob er den Prügel. Die Wölfin kam langsam näher. Sie spannte ihre Beinmuskeln an, und die Haare auf ihren breiten Schultern sträubten sich. In ihren Augen funkelte bernsteinfarbenes Licht. »Das ist unnötig, Petya!« erklang eine tadelnde Stimme. Petya keuchte. Jander trat mit einem leichten Lächeln auf ihn zu. »Das Rudel hört auf meine Befehle.« Er wandte sich der Bestie zu. Ganz ruhig, Schwester, ganz ruhig … Die graue Wölfin war sichtlich unzufrieden, setzte sich jedoch. Allerdings knurrte sie noch immer und hatte die Ohren angelegt. -53-
Jander sah sich um, suchte den Blickkontakt mit dem Rest des Rudels und gab lautlose Befehle, die befolgt wurden, auch wenn nur zögernd. Ich danke euch, meine Brüder. Ihr dürft wieder gehen. Die Wölfe sprangen davon und verschwanden im Schatten; dabei schüttelten sie die Köpfe, um den Menschengestank aus der Nase zu bekommen. Innerhalb weniger Sekunden war der Spuk vorbei. Petya und Anastasia starrten Jander an. Dann begann die junge Frau leise zu weinen, als die Geschehnisse des Abends sie schließlich einholten. Der Zigeunerjunge legte einen Arm beschützend um sie, doch seine dunklen Augen blieben auch weiterhin auf Jander gerichtet. »Was bist du?« fragte er in einem Tonfall, der wieder nichts von der Furcht verriet, die Jander riechen konnte. Jander runzelte die Stirn und tat so, als sei er gekränkt. »Ich bin lediglich ein Fremder aus einem anderen Land. Ich habe dir heute abend das Leben gerettet, Petya. Was muß ein Fremder noch tun, um dein Vertrauen zu gewinnen? Du hast mir gesagt, du weißt, wie es ist, wenn man hier ein Außenseiter ist. Hast du das vergessen?« Petya errötete. »Ich bin noch nie so jemandem wie dir begegnet. Du wirst mir vergeben, falls ich noch immer mißtrauisch bin. Allerdings stehen wir in deiner Schuld«, gab er zu. »Wie können wir das wieder gutmachen?« »Indem wir hier verschwinden, bevor der Rest der Dorfbewohner mißtrauisch wird.« Der Vampir wandte sich dem Mädchen zu. »Anastasia«, sagte er freundlich, »am besten verabschiedest du dich nun von Petya. Er wird dem Dorf nie wieder einen Besuch abstatten können, nicht bei der Begrüßung, die er hier zu erwarten hat.« Anastasia hatte die Tränen bezwungen und warf ihren Liebhaber einen verzweifelten Blick zu. »Unser Retter hat recht, mein Liebling«, sagte Petya, wobei er Jander noch immer -54-
mißtrauisch betrachtete. »Das ist der Abschied. Ich fürchte, meine Sippe wird schneller als geplant weiterziehen.« Er grinste reumütig. »Mein Vater wird mich bestimmt noch vor Morgengrauen wegen des Geldes prügeln, das ihm diese Abreise kosten wird.« Mit ehrlicher Zuneigung nahm Petya die junge Frau ein letztes Mal in die Arme und hielt sie fest, während sie an seiner Brust schluchzte. Er drückte ihr zärtlich einen Kuß aufs Haar. Schließlich löste sich Anastasia von ihm und fuhr sich mit der Hand über das feuchte Gesicht. Sie holte tief Luft, um wieder ihr Gleichgewicht zu finden. »Edler Herr, ich kenne Euren Namen noch nicht, um Euch auf angemessene Weise zu danken«, sagte sie förmlich. Ihre Stimme zitterte leicht. Jander blickte sich auf dem Platz um, denn er befürchtet, daß die Dorfbewohner wieder aus ihren Lochern krochen. Doch anscheinend hatte sein kleiner Trick ausgezeichnet funktioniert. Alle Fenster und Türen blieben fest verschlossen. »Ich bin Jander Sonnenstern.« »Dann, Jander Sonnenstern, gelobe ich Euch meine Freundschaft. Ich werde nie vergessen, was Ihr heute für uns getan habt.« Die Tränen drohten sie zu überwältigen und sie biß sich auf die Unterlippe. Sie wollte kein zweite Mal ihrer Verzweiflung nachgeben, und so lief sie los, den Haus ihres Vaters entgegen. Petyas Blick folgte ihr mit ungewöhnlichem Ernst. »Deine wahre Liebe?« Jander hatte nicht sarkastisch klingen wollen, doch die Worte hörten sich unweigerlich so an. Allerdings ließ sich Petya nicht ärgern; er schüttelte lediglich den Kopf. »Nein. Aber ich mag sie gern und möchte nicht, daß ihr Leid widerfährt. Sie hat Temperament, und das ist in diesem Dorf selten.« Er wandte sich wieder Jander zu und stemmte die Fäuste in die Hü ften. Für seine schmächtige Gestalt war Petya -55-
überaus selbstsicher. Sein Gesicht war verschwollen und blutig, doch er ignorierte den Schmerz. »Ich schulde dir mein Leben. Wir Vistani nehmen so eine Schuld nicht auf die leichte Schulter. Jander Sonnenstern, wer auch immer du bist, du hast mir heute nacht deine Freundschaft bewiesen. Ich biete dir das gleiche an.« Er schwieg und befeuchtete sich die Lippen. »Ich lade dich ein, mit in unser Lager zu kommen. Dort können wir dir die Ehre erweisen, die du verdienst.« Er machte eine tiefe Verbeugung. Jander lächelte innerlich. Sein Plan, das Vertrauen des Zigeuners zu gewinnen, war erfolgreich gewesen. »Petya von den Vistani, es ist eine Ehre für mich, euer Lager besuchen zu dürfen.« Petya war über die huldvolle Erwiderung erfreut. »Dann laß uns gehen«, lächelte er. »Hier lang«, sagte er, und nahm die nach Westen führende Straße. Jander schloß sich ihm an. Das Licht des Dorfes blieb hinter dem Vampir und dem Zigeuner zurück, und die Nacht nahm sie auf. Die meisten Gebäude befanden sich innerhalb des Dorfes, doch Jander sah ein paar vereinzelte Gehöfte, die hier und da am Straßenrand standen. Eine kleine Schafherde hob sich geistergleich vom dunklen Grün des Grases ab. »Erzähl mir von dir, Jander Sonnenstern. Ich glaube nicht, daß du hier geboren wurdest.« Jander blickte auf seinen Gefährten hinunter. »Wie kommst du darauf?« »Alle, die hier leben, sehen wie die Dorfbewohner aus.« »Dein Volk lebt auch hier, und ihr habt nur wenig mit den Barovianern gemeinsam«, sagte Jander. »Wir sind Reisende.« »Nun, das bin ich auch.« Petya lächelte, und seine weißen Zähne blitzten im Mondlicht. -56-
»Vielleicht. Wie heißt dein Volk?« »Ich bin ein Elf«, antwortete Jander. Die Bezeichnung veranlaßte den Zigeuner zu einer unerwartet begeisterten Erwiderung. »Ich freue mich, dich kennengelernt zu haben! Ich habe noch nie einen Elfen gesehen.« Dann fügte er mit einer Spur Überheblichkeit hinzu: »Allerdings kenne ich die Geschichte über sie.« Jander mußte lächeln. Er hätte viel dafür gegeben, genau zu erfahren, was für Geschichten man Petya erzählt hatte. »Dann muß dich der Nebel gebracht haben.« Das überraschte Jander. Er erinnerte sich natürlich an den Nebel, der ihn eingehüllt hatte, doch er wäre nie auf die Idee gekommen, daß er auf diese Weise nach Barovia transportiert worden war. »Geschieht das oft?« »Nein, doch man hört gelegentlich davon. Unser Volk reist auch mit dem Nebel. Allerdings hält sich unsere Sippe erst seit kurzer Zeit hier auf.« Er blieb stehen und streckte die Hand aus. Vor ihnen waberte die geheimnisvolle Nebelwand, die Jander vorhin auf dem Weg ins Dorf durchschritten hatte. Es war eine dicke, graue Barriere, die sich in ständiger, pulsierender Bewegung befand, als wäre sie von einem eigenständigen, bösartigen Leben erfüllt. Jander hatte sich vorhin nur mit Widerwillen in sie hineinbegeben. Immerhin hatte sie ihm in keiner Weise etwas getan. Petya schob die Hand in eine der vielen großen Taschen seiner roten Hose und holte zwei kleine Phiolen hervor, die mit einer purpurfarbenen Flüssigkeit gefüllt waren. »Gut, daß ich sie hier aufbewahrt habe und nicht in meinem Leinensack, was?« Er warf Jander eine Phiole zu, entkorkte die andere und leerte sie mit einem Zug. Jander betrachtete das kleine Fläschchen und fragte sich, was er machen sollte. Er konnte die Flüssigkeit jedenfalls nicht trinken, soviel war sicher. »Komm schon!« wurde er von Petya getadelt. »Dieser Trank -57-
läßt dich den Nebel unbeschadet passieren.« »Warum, ist er denn gefährlich?« Petya starrte ihn an, dann zuckte er mit den Schultern. »Du bist ja unversehrt durch den Nebel gekommen, also kannst du es nicht wissen. Das ist Todesnebel. Er ist giftig.« Er hielt die leere Phiole hoch. »Das hier macht dich immun.« Jander zögerte, dann tat er so, als würde er die Flüssigkeit trinken. Doch er spuckte sie in dem Augenblick, in dem sie in die Nebelwand hineintraten, und Petya ihn nicht mehr sehen konnte, wieder aus. Der Nebel hatte ihm nicht geschadet, weil er nicht atmete. Das Gift konnte einem, der bereits tot war, nicht schaden. Der Nebel hieß sie willkommen und nahm sie mit seiner feuchten Umarmung auf, fuhr mit Schwaden über ihre Gesichter und liebkoste ihre Rücken. Ohne seine Nachtsicht hätte Jander den Vistani nach den ersten Minuten aus den Augen verloren. Er konzentrierte sich auf den roten Schein, den der ihm vorausgehende Petya durch seine Körperwärme abgab. Nach wenigen Minuten lichtete sich der Nebel und verschwand dann völlig. »Das ist… ungewöhnlich«, sagte der Vampir. »Vieles in Barovia ist ungewöhnlich«, erwiderte der Zigeuner ernst. »Ja, erzähl mir von Barovia. Ich …« Jander verstummte mitten im Satz. Der giftige Nebel hatte sie völlig von ihrer Umgebung abgeschnitten, sogar von den Geräuschen der Nacht. Jetzt vernahm der Elf das Plätschern fließenden Wassers in der Nähe und sah den Pfad hinunter. Er führte direkt zu einer kleinen Holzbrücke, die einen etwa fünfzehn Meter breiten, schnell fließenden, dunklen Fluß überspannte. Der Pfad führte auf der anderen Seite weiter und verschwand im Wald. Janders sicherer Schritt wurde langsamer; seine Gedanken rasten. Als Vampir konnte er unmöglich das fließende Wasser überqueren. Petya hielt ihn noch immer für ein lebendes Wesen - zwar für -58-
einen Elfen, also einen Angehörigen einer fremden Rasse, aber lebendig. Das fröhliche Plätschern des fließenden Wassers schien ihn zu verhöhnen. »Stimmt was nicht?« Sie näherten sich dem Wasser. »Ich … ich muß etwas gestehen. Ich wäre als Kind beinahe im Fluß ertrunken. Seit jenem Tag habe ich eine Todesangst vor Flüssen. Gibt es keinen anderen Weg in euer Lager?« Petya sah skeptisch aus. »Die Brücke ist sicher, das kann ich dir versprechen. Sieh her.« Der junge Mann lief bis zur Brückenmitte und kam geschwind wie ein Hase zurück. »Ich führe dich sicher herüber.« Ein gerissenes Lächeln umspielte seine Lippen. »Du hast mich gebeten, dir zu vertrauen, und ich bin allein in Begleitung eines Fremden in die barovianische Nacht gegangen! Jetzt ist es an dir, mir zu vertrauen.« Der Elf schaute in das wirbelnde Wasser, wobei er darauf achtete, daß Petyas sein fehlendes Spiegelbild nicht bemerkte. Der Fluß strömte unter der Brücke her, das Dilemma des Vampirs hatte für ihn keine Bedeutung. Selbst in seiner Wolfsgestalt wäre der Fluß noch immer zu breit, um ihn mit einem Sprung zu überwinden. Nein, entschied Jander, er konnte das Wasser nicht überwinden. Er hatte es vor ein paar hundert Jahren einmal versucht und sich vor Schmerzen gekrümmt. Doch wenigstens mußte er den Versuch unternehmen, und sei es nur, um Petya davon zu überzeugen, daß seine vorgeschobene Angst ihn tatsächlich lahmte. Der Elf streckte langsam den Arm aus und ergriff Petyas angebotene Hand. Der Junge legte ihm noch als zusätzliche Unterstützung den anderen Arm um den Rücken. Dann machten Zigeuner und Vampir einen zögernden Schritt auf die Brücke zu. Jander stöhnte vor Schmerz auf und trat schnell auf den Boden zurück. Er konnte es nicht. Bevor er allerdings begriff, wie ihm geschah, hatte Petya ihn sich auf den Rücken geladen. -59-
»Petya…« »Eine Schuld ist eine Schuld, Giorgiol« Der schlanke Junge war überraschend stark. Er überquerte die Brücke mit schnellem, sicherem Schritt und trug Jander mühelos. Der Elf schaute nach unten und sah, wie sich das Mondlicht im Wasser spiegelte. Petya erreichte das andere Ufer, und Jander stellte sich wieder auf die eigenen Füße. »Du bist sehr freundlich«, sagte er zu dem Jungen. Petya tat das Kompliment mit einem Schulterzucken ab. »Es ist gut, daß du dich mir angeschlossen hast«, sagte der Vistani, als sie weitergingen. Der Wald wurde schnell dichter, und Jander fiel auf, daß sich Petya fast so geräuschlos bewegte wie er. »Du hättest die Dorfbewohner bald in Angst und Schrecken versetzt. Ich nehme an, du bist ein Magier?« Jander stöhnte innerlich auf; immerhin war es eine gute Möglichkeit, seine Macht über die Wölfe zu erklären. »Das kann man so sagen.« »Ich habe für solche Dinge Verständnis. Doch die Dorfbewohner sind einfach zu ängstlich. Deine Art der Magie wird meistens von den Akara ausgeübt.« Jander war der Begriff fremd, und er runzelte fragend die Stirn. »Akara?« wiederholte er. »Nosferatu«, erklärte Petya, »Vampire. Die Untoten, die sich vom Blut der Lebenden ernähren.« Er machte schnell ein Schutzzeichen über dem Herzen. Obwohl Jander es ebenso wenig kannte wie die Bezeichnung, die Petya benutzt hatte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Glücklicherweise fiel es Petya nicht auf. »Ich verstehe«, erwiderte Jander. »Du hast recht. Ich habe tatsächlich Glück gehabt, daß wir uns kennengelernt haben Erzähl mir mehr von dieser Welt. Ist Barovia der Name des Dorfes?« -60-
»Ja, und gleichzeitig der Name des ganzen Landes.« Sie gingen unter ein paar verkrüppelten Apfelbäumen her, deren wunderschöne Blüten einen scharfen Gegensatz zu ihrem krummen Wuchs boten. Petya blieb einen Augenblick stehen, dann sprang er hoch und ergriff einen Ast, der mit Blüten übersät war. Die Stille der Nacht wurde von dem Geräusch des Berstens zerrissen, und ein Regen aus Blütenblättern ergoß sich über den Zigeuner. Er riß stärker, und der Ast brach ab. Der Junge inhalierte den Duft mit einem Lächeln. »Für meine Schwester«, erklärte er. »Blumen lassen die Wut der Damen verrauchen, stimmt’s?« Sein Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen, als er Jander durchtrieben zu zwinkerte. »Hast du eine Herzensdame, Jander? Sie können für äußerst angenehme Gesellschaft sorgen, nur manchmal reden sie zuviel.« Jander wurde ungeduldig. Der Junge war amüsant, und es war viel zu lange her, daß Jander sich über etwas amüsiert hatte. Allerdings hatte er Petyas Hals gerettet, weil er Informationen haben wollte und nicht, um sich zu unterhalten. »Ich habe in der Schenke den Namen Strahd gehört; es wurde auch ein Schloß Rabenhorst erwähnt.« Petyas sich ständig veränderndes Mienenspiel offenbarte nun tiefen Ernst, und Jander roch wieder Angst. »Wir sollten über solche Dinge nicht im Dunklen sprechen«, sagte er schnell. »Wir können uns morgen darüber unterhalten.« »Jetzt«, drängte Jander. Etwas im Ton des Elfen veranlaßte Petya, sein Gegenüber genau ins Auge zu fassen. »Also gut«, sagte der Junge langsam, »obwohl es besser ist, wenn man über solche Themen nicht im Dunkeln spricht. Graf Strahd von Zarovitsch ist der Herrscher dieses Landes. Schloß Rabenhorst ist sein Heim. Er war einst ein mächtiger Krieger, doch nun erzählt man sich, er würde sich der Magie widmen.« -61-
Magie! Würde er denn nie davor Ruhe haben? Jander unterdrückte das Verlangen, verächtlich auszuspucken. Es war wirklich Pech, daß der Herrscher dieses traurigen Landes ein Magier war. »Glaubst du, es ist die Wahrheit? Das mit der Magie?« »Es muß so sein. Er herrscht schon viel länger, als es einem Sterblichen erlaubt sein sollte.« »Und wie lange ist das?« Petya zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Wir sind keine Barovianer. Wir interessieren uns nicht besonders für die Geschichte dieses Landes.« Jander dachte kurz über die merkwürdige Umgebung nach. »Der Nebel gehorcht ihm, stimmt’s?« »Nur der Nebel, der das Dorf umgibt. Er steht unter seiner Kontrolle. Doch der Nebel, der dich in dieses Land gebracht hat, gehorcht niemandem.« »Wer ist Olya?« Petya sah ihn erneut an, und diesmal zeigte sich in seinem Blick eine Spur Mißtrauen. »Ein Mädchen, das gestorben ist, wie du offensichtlich gehört hast. Das sollte dich nicht interessieren.« Ein schrilles Zwitschern ließ Jander aufsehen. Ein kleiner, grauweißer Vogel, der sich im Schlaf gestört fühlte, schaute ihn mit seinen hellen Augen an, bevor er es sich wieder bequem machte. »Merke dir diesen Vogel gut, Jander. Das ist ein Vista Chiri. Wenn du einen von ihnen siehst, dann weißt du, daß Vistani in der Nahe sind. Unsere kleinen Freunde folgen uns. Man sagt, sie seien die Geister unserer Vorfahren, die ein Auge auf uns haben sollen. Komm, hier verlassen wir den Pfad. Ich kenne eine Abkürzung.« Petya ging in den Wald. Jander folgte ihm. Es war ziemlich dunkel, da die stämmigen Bäume, die sich über ihnen erhoben, das Mondlicht fast völlig abschirmten. Der schattige Waldboden -62-
wurde von gewaltigen Wurzeln durchzogen. Petya durchquerte das unsichere Terrain mit sicherem Schritt, wobei er völliges Selbstvertrauen ausstrahlte. »Die Dorfbewohner scheinen die Nacht zu fürchten«, sagte Jander, »doch du schreitest daher wie ein Held, Petya. In diesem Land gibt es Wölfe. Hast du keine Angst?« »Du kannst mit den Wölfen sprechen, Jander, und kein Bandit, der etwas von sich hält, würde einen Vistani angreifen.« Er grinste über die Schulter zurück. »Jeder Vistani ist des bösen Blickes mächtig. Und was die Gefahren angeht, die von den weniger sterblichen Wesen ausgehen, so können mir die Mächte dieses Ortes nichts anhaben. Darum kann Strahd …« Er verstummte und murmelte einen Fluch. »Du hast meine Zunge gelockert, Elf, und das ist nicht unbedingt von Vorteil. Ich habe genug gesagt, vielleicht sogar schon zuviel. Komm, erzähl mir etwas von deiner Heimat.« »Ich wurde in einem Land namens Immerdar geboren, ein Ort, an dem nur mein Volk lebte. Ich kann dir nicht sagen, wie schön es dort war. Ich habe Flöte gespielt und gesungen und im Sommer hat man sich auf den Waldlichtungen zum Tanz versammelt. Seither habe ich nichts Vergleichbares gesehe n.« Janders Stimme wurde härter. »Und du kannst mir glauben, Petya, daß ich viel gesehen habe.« Petya warf ihm einen fragenden Blick zu. »Ich glaube dir, Elf«, sagte er leise und ehrlich. »Vielleicht findest du in dieser Nacht einen Balsam, der deiner Seele Linderung bringt.« Jander und sein ungewöhnlicher Verbündeter suchten sich ihren Weg durch die bedrückende Finsternis von Barovias Wäldern, und der Elf erzählte noch mehr über Immerdar. Petya schwieg respektvoll und hörte zu. Vielleicht rührte ihn der deutlich hörbare Anflug von Leid, der in der melodischen Stimme des Elfen mitklang. Die meiste Zeit hielten sie sich rechts vom Fluß, obwohl sein Rauschen gelegentlich lauter wurde, wenn sie tiefer in den Wald kamen. Schließlich wurde -63-
das Rauschen des Flusses von anderen Geräuschen übertönt Pferde wieherten, Hunde bellten, und man hörte menschliche Laute. Sie traten aus den Schatten der Bäume, und Jander konnte in der Ferne Feuerschein sehen. Die enorme Sehkraft des Elfen, die noch durch seine Fähigkeiten als Vampir verstärkt wurde, versetzte ihn in die Lage, die mehreren Dutzend Wohnwagen zu sehen. Die Wagen waren bunt mit strahlenden Farben bemalt und mit phantasievollen Schnitzereien bedeckt. Am Rand des Lagers drängten sich Pferde sowie Ziegen und Hühner, das Vieh der Zigeuner. Schemenhafte Gestalten bewegten sich im Schein des Feuers. Der Elf nahm dieses einladende Bild nur am Rand wahr. Im Norden des Lagers erhob sich ein steiler Berg. Der Himmel war dunkel und mit kalten, winzigen Lichtpunkten durchsetzt, doch die Silhouette, die sich gegen ihn abhob, war noch dunkler. Die Klippe wurde von einem drohenden Schloß gekrönt. Jander erkannte es als das Gebäude, das er bei seinem Eintreffen in Barovia von der Straße aus gesehen hatte. Da hatte er sich bereits seine Gedanken darüber gemacht. Jetzt kannte er dessen finstere Identität. Petya folgte seinem Blick. »Ja«, sagte er leise, »das ist Schloß Rabenhorst. Dort wohnt Graf Strahd.« Maruschka mochte keine Kinder. Doch als Lara sie darum bat, auf das Baby aufzupassen, während sie tanzte, konnte sie schlecht ablehnen. Nun saß die junge Vistani-Frau auf dem unbequemen Holzstuhl und hielt das unglückliche Kind mit finster gerunzelter Stirn, während Lara anmutig mit ihrem Mann tanzte. Im flackernden Feuerschein konnte Maruschka sehen, daß das Baby die Rübensuppe erbrochen hatte, die sie ihm mit Mühe und Not eingeflößt hatte. Als der quengelnde Säugling dann versuchte, sich das Ende ihres dicken schwarzen Zopfes in den rosigen Mund zu stopfen, -64-
entschied sie, daß auch Freundschaft ihre Grenzen hatte. Mit zornig funkelnden Augen bahnte sie sich einen Weg durch die Tänzer zu Lara und hielt ihr das Baby hin. »Nimm ihn«, fauchte sie in der Sprache der Vistani. »Er spuckt mich heute abend kein zweites Mal voll.« Lara und ihr Mann lachten und drückten das Baby an sich, als Maruschka ging. »Die Götter würden einen Fehler machen, wenn sie ihr ein Kind schenken würden«, kicherte Lara und schaute ihrer Freundin mit bedauernder Zuneigung nach. »Aye«, stimmte ihr Mann zu, nahm sein Kind und drückte einen Kuß auf die weiche Wange. »Es ist besser, wenn sie in die Fußstapfen ihrer Großmutter tritt.« Das Baby krähte und schlief prompt in den Armen des Vaters ein. Maruschka lief in ihrem Jähzorn bis zu dem Rand des Feuerscheins, der das Zigeunerlager abgrenzte. Sie warf den Zopf über die Schulter, blickte den Pfad entlang und schaute zu den Sternen hoch. Ihr kleiner Bruder Petya war vor vier Stunden aufgebrochen, und wie immer hatte er den starken Mann markiert und angegeben. Vier Stunden waren für ihn mehr als genug, um sich in Schwierigkeiten zu bringen. Maruschka hatte das Gefühl, daß etwas Schlimmes passiert war. Sie hörte immer aufmerksam zu, wenn ihre innere Stimme zu ihr sprach, denn für gewöhnlich behielt sie recht. Viele der Vistani des Lagers besaßen bis zu einem gewissen Grad das zweite Gesicht. Lara zum Beispiel konnte mit Hilfe der Karten wahrsagen, und Keva hörte manchmal Stimmen, die die Zukunft ganz genau vorhersagten. Maruschka verfügte jedoch in vollem Umfang über das zweite Gesicht; sie war die einzige Person ihrer Generation, die damit gesegnet war - oder verflucht. Sie konnte auf jeder glatten Oberfläche in die Zukunft sehen, sei es eine Tasse Wasser, eine Kristallkugel oder ein Spiegel. Die Karten verrieten ihr immer das Schicksal des Fragestellers, -65-
genauso wie die Teeblätter. Maruschka konnte auch in der Handfläche und im Gesicht lesen, und manchmal traf sie das Wissen um Schicksale wie ein Blitzschlag. Die Sippe brachte ihr wegen dieser Macht Respekt entgegen, trotzdem sehnte sich das hochgewachsene, schlanke, zwanzigjährige Mädchen manchmal danach, lediglich eine gewöhnliche Vistani zu sein. Nun verriet ihr das zweite Gesicht, daß sich Petya in Schwierigkeiten gebracht hatte. »Er ist bald wieder da, Kind. Reg dich nicht auf«, ertönte eine heisere Stimme hinter ihr. Maruschka zuckte zusammen, dann lächelte sie und nickte Madame Eva zu. Die alte Frau hatte die beunruhigende Eigenschaft, sich unbemerkt von hinten anzuschleichen. Es war besser, wenn man nicht hinter ihrem Rücken über sie redete. Manche behaupteten,, es war besser, hinter ihrem Rücken nicht einmal an sie zu denken. Maruschka war der Meinung, daß diese Leute recht hatten. Niemand konnte sagen, wie alt Madame Eva genau war, und sie erzählte es auch keinem. Sie hielt sich noch immer gerade, doch ihr Körper war gebrechlich, und das Gesicht war verdörrt wie eine barovianische Pflaume, die man zu lange in der Sonne hatte liegen lassen. Sie trug ihr weißes Haar lang und offen, und es floß wie Mondlicht über ihren Rücken. Ihren strahlenden Augen entging nichts, und ihr zweites Gesicht war noch immer zuverlässig. Obwohl sie fast alle Zähne verloren hatte und hauptsächlich von Haferbrei lebte, war sie die mächtigste Person der ganzen Sippe, und keiner wagte es, sie zu übergehen. Maruschka vervollkommnete ihre hellseherischen Fähigkeiten unter Evas strenger Anleitung, und sie wußte, daß sie die Seherin der Sippe werden würde, wenn die alte Zigeunerfrau das zweite Gesicht verlor. Maruschkas Besorgnis ließ etwas nach. Sie wußte, daß Petya nichts geschehen würde, wenn Eva behauptete, daß er gesund -66-
nach Hause zurückkam. »Aye, Petya hat das Glück der Götter, das stimmt. In der Hälfte der Dörfer, die wir besucht haben, hätten die Bewohner seinen Kopf nur zu gern auf einen Pfahl ge spießt«, erzählte sie Eva. Die Alte lachte krächzend. »Trotzdem mache ich mir jedesmal wieder Sorgen«, fügte die junge Frau hinzu. »Er zieht die Schwierigkeiten an, wie er all diese Mädchen anzieht. Er geht so dumme Risiken ein.« »Es gibt Leute, die das auch von mir behaupten, Kind«, erinnerte Eva sie. »Ich glaube, ich kann mich da an ein gewisses Mädchen erinnern, das überzeugt war, daß ich Schloß Rabenhorst niemals lebend verlassen würde.« Nun mußte Maruschka lachen. »Nun, Strahd ist der Teufel, Großmama.« »Wie dem auch sei, unser Volk hat er immer gut behandelt. Daran solltest du lieber denken, Kind, falls deine Treue jemals auf die Probe gestellt wird. Daß wir in diesem Land ohne Furcht in unseren Betten schlafen können, haben wir Strahds Großzügigkeit zu verdanken.« Plötzlich verspürte Maruschka eine Woge überschäumender Liebe für die alte Zigeunerfrau, und sie umarmte ihre Großmutter. »Wieder etwas, das wir der Klugheit meiner Großmama zu verdanken haben!« Eva zeigte ihr zahnloses Lächeln. »Das auch«, stimmte sie zu. Unvermittelt runzelte die alte Frau die Stirn. »Petya kommt«, sagte sie, »und er bringt jemanden mit.« »Sicher wieder eine seiner jungen Damen«, schnaubte Maruschka und schaute den Pfad entlang. Und da näherten sich auch schon zwei Gestalten dem Lager, doch Petya war nicht in Begleitung irgendeines hübschen Mädchens. Die Vistani hatte noch nie so eine Person wie diesen Fremden zu Gesicht bekommen. -67-
Eva holte überrascht tief Luft. »Einer vom Anderen Volk«, sagte sie leise. Maruschka war der Begriff unbekannt, den Eva benutzt hatte. Doch bevor sie ihre Großmutter danach fragen konnte, lief Petya ihnen stürmisch entgegen. Maruschka stöhnte auf, als sie sein geschundenes Gesicht sah. Der Junge blieb stehen, als er Eva erkannte. »Sei gegrüßt, Großmama«, sagte er höflich und machte eine tiefe Verbeugung. Eva ignorierte ihn; sie ließ den schlanken Fremden nicht aus den Augen, der ein Stück weiter hinten abwartend stehengeblieben war. »Warum kommt der Elf nicht mit dir?« wollte sie wissen. »Petya, was ist passiert?« rief Maruschka aus. Der Junge ignorierte beide. »Zuerst, Großmama, erinnerst du dich noch, daß du mir befohlen hast, ein Auge auf Olya Ivanova zu haben? Sie ist heute abend am Fieber gestorben.« Nun blickte Eva ihren Enkel an, und ihre Augen verengten sich. »Bist du sicher?« »Ihr Vater und ihr Bruder waren in der Schenke. Der alte Ivan hat vor Kummer fast den Verstand verloren.« Eva sah plötzlich müde aus. Petya entging der veränderte Gesichtsausdruck nicht. »War es richtig, es dir zu sagen?« fragte er besorgt. Eva nickte. »Ja, Kind. Obwohl es keine gute Nachricht ist, ist es gut, darüber Bescheid zu wissen.« Sie straffte sich. »Und jetzt sag mir, was es mit dem Giorgio auf sich hat.« »Er sagt, bei seinem Volk sei es unhöflich, ohne Einladung näherzutreten.« »Ich habe noch nie gehört, daß es bei den Tel'Quesir eine solche Regel gibt«, erwiderte Eva. »Auf jeden Fall ist er ein Giorgio und als solcher nicht willkommen.« »Bitte, Großmama, er hat mir heute abend das Leben gerettet!« bat Petya. »Petya, was hast du angestellt?« Maruschka runzelte die Stirn. -68-
Petya erzählte ihnen schnell und ziemlich verlegen die Ereignisse, die sich am Abend zugetragen hatten. Eva sah ihn nachdenklich an, als er Janders Kräfte beschrieb, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Nun gut«, sagte sie unerwartet. »Er soll kommen.« Petya grinste trotz seines verschwollenen Gesichts, und er ging zurück, um seinen Begleiter zu holen. »Du scheinst über die Giorgios Bescheid zu wissen«, sagte Maruschka. »Er ist ein Goldelf, die man auch Sonnenaufgangselfen nennt, und kommt aus einer Welt namens Toril. Man muß das Volk der Elfen respektieren und ehren. Ich frage mich allerdings, aus welchem Grund er hier ist. Wie dem auch sei, Petya hat recht. Er hat eins unserer Kinder gerettet, und deshalb ist er willkommen allerdings nur für diese Nacht.« Sie legte den bunten Schal über ihre dünnen Schultern. »Es ist spät. Gute Nacht, Kind.« »Großmama, möchtest du den Fremden nicht begrüßen?« Eva schüttelte den weißhaarigen Kopf. »Nein. Ich muß diese alten Knochen ins Bett bringen. Erzähl ihm von der Höhle neben dem Wasserfall«, fügte sie hinzu. Maruschka nickte, obwohl sie nicht verstand. Dann wendete sie ihre Aufmerksamkeit auf Petyas seltsamen neuen Freund, der mit der Geschmeidigkeit und der Lautlosigkeit einer Katze auf sie zukam. Er war von durchschnittlicher Größe und schlank. Seine Gesichtszüge waren fein geschnitten und zart; die silberfarbenen Augen groß und zwingend. Maruschka faszinierte seine Hautfarbe, und sie ertappte sich dabei, wie sie ihn anstarrte. Sie konnte nichts dagegen machen. Dieser Giorgio war das schönste Wesen, das sie je gesehen hatte. »Jander Sonnenstern, das ist meine Schwester Maruschka«, sagte Petya. Jander verbeugte sich höflich. »Meine Dame, ich fühle mich geehrt.« -69-
Maruschka errötete, was für sie sehr ungewöhnlich war. Dieser Fremde gab ihr das Gefühl, als sei sie der Mittelpunkt der Welt. Sie hatte nicht viel mit Giorgios zu tun und war an die Umgangsformen der Vistani gewöhnt, die rauhe Zuneigung mit subtiler Ehrerbietigkeit verbanden. Der Charme des Elfen war etwas Neues, und das gefiel ihr. Ihre Gedanken wurden unvermittelt von einem Ruf unterbrochen, der vom Lagerfeuer kam, und bevor sie sich versah, hatte sich eine große Menge hinter ihr versammelt. »Wer ist der Giorgio?« fragte ihr Vater in der Sprache der Vistani. »Das ist ein Elf, Vater. Er hat Petya heute abend vor dem Erhängen bewahrt. Großmama hat gesagt, wir sollen ihn willkommen heißen.« Aufgebrachtes Gemurmel ertönte, doch Evas Befehle wurden stets befolgt. Die Menge teilte sich zögernd, um Jander in ihrer Mitte aufzunehmen. Der Vampir hatte sich gefragt, welchen Empfang man ihm bereiten würde. Nun waren die dunklen Gesichter der Zigeuner zwar reserviert, doch zeichnete sich auf ihnen nicht die Feindseligkeit ab, die ihm bei den Barovianern begegnet war. Petya sprach einige Worte in ihrer Sprache zu ihnen, und Jander sah, wie ihre Gesichter erst Überraschung und dann Freude zeigten. Die abschätzenden Blicke verwandelten sich in freundliches Lächeln. Jander erwiderte es zurückhaltend. Man hakte sich bei ihm unter und führte ihn mit viel Gelächter und Geplapper zu einem Ehrenplatz am Feuer. Als sich die Kinder zu seinen Füßen versammelten, begriff der Elf, daß er jetzt den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bildete. Ohne jede Scheu griffen sie nach seinem grauen Umhang, fuhren mit ihren kleinen, klebrigen Fingern durch seine goldfarbenen Locken und zogen an den spitzen Ohren. Ihr Ansturm kam völlig überraschend, und Jander wich instinktiv zurück und stieß die Jungen und Mädchen beiseite. Maruschka erteilte den Kindern einen Verweis, und sie stoben -70-
davon. Die Unerschrockenen unter ihnen blieben stehen und schlichen zurück, um sich ein Stück entfernt von dem Giorgio mit der goldfarbenen Maut niederzulassen. »Ich wollte sie nicht erschrecken«, entschuldigte sich Jander. »Ich habe mich in den letzten Jahren nicht viel unter Menschen aufgehalten, und erst recht nicht unter Kindern.« Maruschka nahm neben ihm auf der Holzbank Platz und zuckte mit den Schultern, dabei verrutschte die Bluse und enthüllte eine dunkelhäutige Schulter. »Ich halte sie auch nur für ein Ärgernis«, vertraute sie ihm mit einem leisen Lachen an. »Tiere sind besser. Die kann man wenigstens dressieren.« Jander hörte ein dezentes Husten und blickte auf. Er sah direkt in die Augen eines älteren Mannes, der sich ziemlich unbehaglich zu fühlen schien. »Herr, ich möcht Euch danken für das Leben meines Sohnes«, sagte der Mann. Diese ehrerbietige formelle Anrede stand eigentlich nur Adligen und Höhergestellten zu. »Obwohl die Götter wissen, daß ich ihm manchmal selbst gern den Hals umdrehen würde.« Er verbeugte sich und ging dann zu Petya hinüber, der sein Publikum mit der Geschichte seiner Flucht unterhielt. Zu Janders Kummer packte der Vater Petya mit der einen Hand am Ohr und schnallte mit der anderen den breiten Ledergürtel ab. Petya heulte auf, riß sich los und lief auf den Wald zu. Sein Vater war schneller, und einen Augenblick später waren beide in eine hitzige Auseinandersetzung verwickelt. Der Junge hatte anscheinend recht gehabt, daß ihn hier eine Strafe erwarten würde. »Wird dein Vater ihn wirklich verprügeln?« Maruschka grinste verschwörerisch. »Sieh zu.« Vater und Sohn schrien noch immer aufeinander ein, und ihre Bewegungen wurden hitziger. Plötzlich packte der ältere Mann den Jungen und umarmte ihn mit aller Kraft. Petya erwiderte die Umarmung seines Vaters. Als sie sich voneinander lösten und der Vater anfing, Petyas Verletzung zu untersuchen, hatten beide Tränen in den Augen. -71-
»Unsere Kinder schlagen?« fragte Maruschka mit einem Lächeln. »Jander, für unser Volk sind die Kinder das kostbarste Gut auf der Welt. Na ja, nicht unbedingt für mich, stimmt's?« berichtigte sie sich mit einem Lachen. »Du mußt wissen, daß wir nur wenige sind. Wie dem auch sei, eines Tages wird auch Petya erwachsen werden.« Maruschka seufzte. »Wünsche dir diesen Tag nicht zu schnell herbei«, sagte Jander leise. Er hatte in den sieben Jahrhunderten seiner Existenz zu viele Blumen erblühen und dann verdorren gesehen. Der Gedanke, daß der schelmische Petya eines Tages alt und verbraucht sein würde, machte ihn traurig. Maruschka bemerkte die Veränderung und sah ihn einen Augenblick lang fragend an. »Würde es dir gefallen, wenn ich dir die Zukunft vorhersage?« fragte sie dann ernst. Diese Vorstellung fand Jander noch ernüchternder. »Die kenne ich selbst«, erwiderte er schroff. »Für mich gibt es keine Überraschungen, und ich hätte kein Vergnügen daran, wenn du eine falsche Zukunft für mich erfindest.« Wäre Jander nicht offensichtlich so niedergeschlagen gewesen, hätte Maruschka ihm die angedeutete Beleidigung ihrer Fähigkeiten übel genommen. »Ich bin eine echte Seherin«, behauptete sie stolz, »und vielleicht kenne ich die Antworten, die du suchst.« Er wandte sich ihr zu und blickte sie forschend an. »Vielleicht kann ich dir sagen, warum du hier bist, Sonnenaufgangself von Toril.« Die silberfarbenen Augen verengten sich zu katzenhaften Schlitzen. »Woher weißt du das?« »Meine Großmama hat es gewußt. Madame Eva ist die Seherin und Anführerin unserer Sippe, und sie kennt dein Land. Auf ihren Befehl hin haben wir dich willkommen geheißen. Ich soll dir auch sagen, daß es hier ganz in der Nähe eine Höhle gibt, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum dich das interessieren sollte.« -72-
Jander war verwirrt. Wußte diese Madame Eva etwa, daß er ein Vampir war? Warum sollte er sonst eine Höhle brauchen? Vielleicht nur als Unterkunft. Trotzdem war es interessant, daß Eva von Toril wußte. »Darf ich deine Großmutter kennenlernen, Maruschka? Falls sie mein Land besucht hat, könnten wir uns vielleicht darüber unterhalten.« »Sie ist schon zu Bett gegangen. Sie ist sehr alt und wird schnell müde.« Sie schürzte die roten Lippen und machte einen spöttischen Schmollmund. »Warum willst du deine Zeit mit einer alten Frau verbringen, wo ich dir Gesellschaft leisten kann? Komm, Jander Sonnenstern. Laß mich dir die Zukunft weissagen. Normalerweise verlange ich für diesen Dienst einen hohen Preis. Du willst mich doch nicht beleidigen, indem du es ausschlägst?« fragte sie kokett. Jander erinnerte sich an die hohe Kunst des Flirts, und es rief nostalgische Gefühle in ihm hervor. Auch diese harmlose Koketterie und der amüsante Disput zwischen den Geschlechtern waren ihm seit Jahrhunderten verwehrt geblieben. Das war vorbei, wie so vieles aus seiner Vergangenheit… »Also gut. Ich nehme das Angebot an.« »Komm mit in unseren Wagen. Da habe ich meine Karten.« Jander mußte lächeln. »Ist es denn nicht gefährlich, daß du einen Fremden allein in dein Zuhause einlädst?« Maruschka lachte, schüttelte den dicken, schwarzen Zopf mit einem Ruck auf den Rücken und zeigte die weißen, gleichmäßigen Zähne. »Hey, Giorgio, die Vistani wissen auf sich acht zu geben!« Sie klopfte auf den breiten, schwarzen Ledergürtel, der ihre schmale Taille umgab, und er sah den kleinen Dolch, der einsatzbereit dort steckte. Dann führte die Zigeunerin den Elfen zu den Wagen ihrer Familie. Wie es sich für die Familie der Madame Eva schickte, handelte es sich bei den Vardos um reichverzierte Gefährte. Maruschka führte den Elfen zu einem kleinen, wunderschönen -73-
Wagen. Im schwachen Feuerschein war es schwierig, die Farben auseinanderzuhalten, doch Jander konnte erkennen, daß man eine Waldlandschaft mit Hirschen und Hasen auf die Seite gemalt hatte. Ein scheckiges Pony stand angebunden hinter dem Wagen und döste zufrieden. Als Jander und Maruschka näher kamen, erwachte das Tier. Seine Ohren richteten sich wachsam auf, und die rosigen Nüstern weiteten sich, als sie die Witterung des Untoten aufnahmen. Das Pony wieherte wie verrückt, stieg auf die Hinterbeine und riß an seinem Strick. Maruschka ging zu ihm und versuchte, es zu beruhigen, doch das Tier war von seinem Entsetzen gefangen. Jander konzentrierte sich. Er übermittelte dem panikerfüllten Tier einen lautlosen Befehl, damit es sich beruhigte. Beruhige dich, kleiner Freund … Der Schecke gehorchte, obwohl er immer noch zitterte und mit den großen braunen Augen rollte. Maruschka runzelte die Stirn und blickte zu Jander hinüber, während sie den Hals des Ponys streichelte. Der Vampir lächelte in einer, wie er hoffte, beruhigenden Weise. »Petya hat dir doch von den Wölfen erzählt. Zweifellos kann das Pony an mir noch ihren Geruch wahrnehmen.« »Ja, das muß es sein«, stimmte Maruschka zögernd zu. Sie stiegen die paar hölzernen Stufen zur Tür des Vardos hinauf. Maruschka öffnete sie und ging hinein, um ein paar Lampen anzuzünden. Jander blieb draußen stehen, denn er konnte nicht eintreten, bis sie ihn hineingebeten hatte. Ein paar Sekunden später steckte die Seherin den Kopf aus der Tür. »Worauf wartest du? Tritt ein!« Jander gehorchte und mußte wegen der niedrigen Türschwelle den Kopf einziehen. Der Vardo war nicht besonders geräumig, und die vielen Gegenstände, mit denen Maruschka ihn ausgestattet hatte, ließen ihn noch enger erscheinen. Auf dem Boden lagen fünf große, mit farbigen Stickereien verzierte -74-
Kissen. Sie formten einen Kreis um die große Kristallkugel, die auf einem mit phantasievollen Mustern versehenen Metallständer ruhte. Holzregale trugen eine Sammlung aus Steinen, Perlen, Knochen und anderem Krimskrams, den eine Zigeunerin zum Wahrsagen brauchte. Ein kleines Strohlager am anderen Ende des Vardos diente Maruschka als Bett; es war mit Wolfsfellen und einer Wolldecke bedeckt. Drei Lampen, die an in der runden Decke befestigten Haken hingen, sorgten für ausreichende Beleuchtung. »Setz dich schon mal hin. Ich muß nur noch meine Karten suchen«, sagte Maruschka einladend. Als sich Jander auf den überraschend bequemen Kissen niederließ, ließ ihn ein plötzliches Krächzen überrascht aufsehen. In einer Ecke stand ein riesiger Käfig, der einen großen schwarzen Vogel beherbergte. Das Tier fixierte den Elfen mit seinen aufmerksamen schwarzen Augen. Jander sandte ihm einen seiner lautlosen Befehle, und der Vogel schlummerte ein, bevor er erneut krächzen konnte. »Das ist Pika. Sein Name bedeutet ›Störenfried‹. Ich lasse ihn gelegentlich raus, und manchmal bringt er die merkwürdigsten Dinge mit. Ah, da sind sie ja.« Maruschka hatte unter ihrem Bett gewühlt und hielt nun ein übergroßes Kartenspiel in der Hand. »Petya hat sie vor ein paar Monaten gemacht und sie mir zum Geburtstag geschenkt«, sagte sie. »Du wirst sie bestimmt wunderschön finden.« Sie reichte Jander die Karten. »Du mußt sie mischen.« »Wie oft?« Maruschka zuckte mit den Schultern. »Bis es sich richtig anfühlt.« Jander stöhnte innerlich auf und mischte die Karten. Es war Zeitverschwendung, doch vielleicht konnte er das Mädchen dazu bringen, etwas über Strahd zu erzählen. Er wußte instinktiv, daß Maruschka viel mehr über das Land und seinen -75-
Herrscher wußte als der unbekümmerte Petya. Allerdings hegte er auch die Vermutung, daß es schwieriger sein würde, ihr Antworten zu entlocken. Maruschka setzte sich auf das Kissen gegenüber dem Vampir und schob die Stallkugel vorsichtig zur Seite. Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen an. Plötzlich wußte er, was sie mit ihren Worten gemeint halte. Die Karten fühlten sich »richtig« an. Es war, als hätten sie ihm eine Botschaft mitgeteilt. Das reicht, leg uns hin. Er war überrascht. Er hatte Zigeuner immer für Schwindler und Gaukler gehalten, die nur über wenig oder gar kein magisches Wissen verfügten. Die Vistani waren offensichtlich einer anderen Kategorie zuzuordnen. Er legte die Karten auf den Tisch. »Verteile sie«, sagte Maruschka. Ihre Stimme hatte sich verändert; sie klang nun tiefer und erwachsener. Ihr Gesicht schien älter geworden zu sein. Jander tat, was sie ihm aufgetragen hatte. »Jetzt mußt du sechs Karten auswählen.« Sie nahm ihm die Karten ab und legte den Rest beiseite Dann drehte sie die erste Karte um. Das Bild zeigte eine wunderschöne Sternschnuppe in den Farben des Regenbogens, die von einer gleichermaßen schönen Frau gehalten wurde. Es überraschte Jander, daß der scheinbar so oberflächliche Petya über einen derart fe inen Sinn für Schönheit verfügte. »Diese Karte symbolisiert deine ferne Vergangenheit.« Maruschka lächelte. »Es ist die positivste Karte des Spiels, voller Sanftheit, Hoffnung und Versprechen. Was hattest du damals für eine wunderschöne Seele, Jander Sonne nstern.« Der Elf konnte ihren Blick nicht erwidern. Maruschka drehte die zweite Karte um, und auf ihrem Gesicht zeigte sich Trauer. Jander war verwirrt. Die Karte schien eigentlich nichts Böses zu verkünden. Sie zeigte ein Liebespaar, das sich an den Händen hielt und in einem grünen Wald spazierenging. Der Mann hatte eine verdächtige Ähnlichkeit mit Petya. »Das sieht doch gar nicht so schlecht aus«, sagte Jander. -76-
Maruschka schüttelte den Kopf. »Das ist sie eigentlich auch nicht. Man nennt diese Karte die Liebenden, und normalerweise symbolisiert sie etwas Gutes. Doch wie du sehen kannst liegt sie verkehrt herum. Das bedeutet, es hat eine Trennung stattgefunden. Das ist die nahe Vergangenheit - du hast sie geliebt und verloren.« Jander zog die Möglichkeit, daß diese Frau tatsächlich die Zukunft vorhersagen konnte, nun ernsthafter in Betracht. Maruschka drehte die dritte Karte um. Eine blinde Frau hielt eine Waage. »Du suchst Gerechtigkeit.« Sie runzelte die Stirn und berührte die Karten sanft. Ihr Blick wurde nachdenklich. »Du suchst Rache«, berichtigte sie sich leise. Die nächste Karte erschreckte Maruschka etwas. Ein sensenschwingendes Skelett blickte ihr entgegen. Sie schaute zu Jander auf und bemerkte zu ihrem Entsetzen, daß der Elf sarkastisch lächelte. »Das bist du«, stieß sie hervor. »Ich meine, das ist deine Gegenwart. Die Karte steht eigentlich für eine Veränderung, und nicht für den Tod.« »Meine Liebe, ich glaube, in diesem Fall bedeutet das Bild genau das, was es zeigt« Mit diesem Elfen stimmt etwas nicht dachte Maruschka. »Bist du denn ein Krieger?« »Ja, das war ich. Vor langer Zeit. In gewisser Weise bin ich es noch. Bitte mach weiter. Du hast mein Interesse geweckt.« Maruschka konnte sich mit dem Lächeln des Elfen nicht anfreunden. Es war bitter und voller Spott über die eigene Person; doch gleichzeitig war es gefährlich. Jander hatte ihr besser gefallen, als er sich in seine Melancholie vergraben hatte und die einzigartigen silberfarbenen Augen voll tiefer Trauer gewesen waren. Maruschka wurde klar, daß dieser kultivierte Giorgio auch über eine gefährliche Seite verfügte. Allerdings war er zierlich, und sie war davon überzeugt, daß sie sich in einem Kampf gegen ihn behaupten konnte. Trotzdem tastete sie -77-
mit der rechten Hand verstohlen nach dein Messer im Gürtel. Sie drehte die nächste Karte mit der Linken um und schloß die Augen, als sie das Bild erkannte. Die meisten Leute ließen sich von der Todeskarte erschrecken, doch jeder Wahrsager haßte es, wenn diese Karte auftauchte. Es war der Turm. Petya ha tte einer Laune nachgegeben und ihn so dargestellt, daß er Schloß Rabenhorst ähnelte. Die Abbildung zeigte, wie er von unsichtbaren Gewalten zerstört wurde und Menschen in den Tod stürzten. »Das ist eine schlimme Karte«, murmelte Maruschka. »Sehr schlimm …« Ihre Hand schloß sich um den Dolchgriff. »Nur ein Grund mehr, um an die Wahrheit deiner Wahrsagekunst zu glauben«, erwiderte Jander sanft. »Und Maruschka, nimm die Hand vom Dolch. Ich habe nicht vor, dir etwas anzutun.« Erschrocken schaute sie auf und erwiderte den Blick aus den silberfarbenen Augen, die nun wieder voll sanfter Trauer waren. Die Vistani-Seherin schämte sich. Sie wollte sich entschuldigen, doch er winkte ab. »Was verrät mir diese unheilverkündende Turmkarte?« »Der Turm ist das Symbol für das Chaos, für die Zerstörung. Diese Situation erwartet dich in der Zukunft.« »Nett.« Maruschka machte eilig weiter. Sie drehte die letzte Karte um und lächelte erleichtert. Es war die Sonne, ihre Lieblingskarte im ganzen Spiel. Ein kleines, etwa dreijähriges Kind streckte die rundlichen Arme nach der glühenden Scheibe aus, die sich ein kleines Stück außerhalb seiner Reichweite befand. »Die Sonne symbolisiert Erfolg und Sieg. Sie hat viel mit Kindern zu tun. Wenn du deine Gerechtigkeit erlangen solltest, wird es mit Hilfe der Sonne und der Kinder geschehen.« Sie blickte erneut zu Jander und war zuversichtlich, daß sie ihm mit der letzten Karte etwas Freude gebracht hatte. Doch sein Gesicht war trauriger als -78-
je zuvor und zeigte nichts als Müdigkeit und Resignation. »Die Sonne ist eine sehr gute Karte«, wiederholte sie. »Vielleicht für die meisten Menschen. Doch nicht für mich. ich danke dir, daß du dir die Zeit genommen hast, Maruschka. Es war … interessant. Ich muß jetzt gehen.« Er erhob sich anmutig. »Du hast von einer Höhle gesprochen?« Maruschka konnte es nicht ertragen, daß er in diesem Zustand gehen wollte, so ohne jede Hoffnung. Schließlich hatte sie und nicht er darauf bestanden, ihm die Zukunft vorherzusagen, und Jander schien wegen des düsteren Ergebnisses des Kartenlegens so niedergeschlagen zu sein. »Bleib doch noch bei uns und sieh dem Tanz zu. Es passiert nur sehr selten, daß wir Giorgios erlauben, ihn anzusehen, und obwohl du über eine so lange Lebensspanne verfügst, wirst du vermutlich nie wieder dazu Gelegenheit haben.« Die Wahl ihrer Worte reizte Jander zum Lachen. Seine »Lebensspanne«. In der Tat. Doch es würde ihm keinen Vorteil bringen, wenn er unhöflich war. Diese Leute waren so frei, wie es in Barovia anscheinend sehr selten war, und wer konnte schon sagen, wann er ihr Wissen und ihre Fähigkeiten wieder benötigte. »Wie du möchtest. Es ist lange her, daß ich Gelegenheit hatte, so etwas Anmutiges wie einen Tanz zu sehen.« Er gestattete ihr, ihn nach draußen zu führen. Sie gingen an dem Pony vorbei zu dem Kreis, der vom flackernden Feuerschein erhellt wurde. Rauch stieg in den pechschwarzen Nachthimmel, der von jauchzendem Geigenspiel und dem untermalenden herzschlagähnlichen Dröhnen eines Bodhrans erfüllt wurde. Schlanke Silhouetten zeichneten sich gegen den Feuerschein ab; Hände klatschten rhythmisch, und es wurde fröhlich gelacht, gelegentlich ertönte in einer fremden Sprache ein heller Gesang. Jander nahm das Bild begierig und voller Neid in sich auf. -79-
Sehnsüchtig wünschte er sich, dazugehören zu können. Er mochte Petya. Ihm gefiel das beiläufige Geplauder des Jungen, das mit scharfsichtigen Einsichten kombiniert und mit schlüpfrigen und lebendigen Kommentaren über Frauen, guten Wein und die vagabundierende Lebensart seines Volkes gewürzt war. Ihm gefiel die schöne Seherin und die schrille Musik, die so fröhlich war und ihn erfreute. Jander erkannte traurig, daß er sich an der lebendigen, temperamentvollen Natur dieser Menschen labte, als würde es sich um eine andere Art von Blut handeln. Er zuckte zusammen, als er Maruschkas federleichte Berührung an seinem Arm spürte, und versuchte zu lächeln. Ihr Blick war so verführerisch, und er sah, daß sie den langen Zopf gelöst hatte. Ihr schwarzes Haar flutete wie eine ebenholzfarbige Welle über die dunkelhäutigen Schultern, und sie reihte sich mit einem neckenden Lächeln in den Kreis der Tänzer ein. Sie machten Platz, und Maruschka fügte sich mühelos in den Rhythmus ein. Jander gestattete sich nun, von Herzen zuzusehen, und die Wildheit und Schönheit der tanzenden Zigeuner versetzte ihm einen Stich. Die Frauen waren einfach gekleidet; sie trugen luftige, weiße oder cremefarbige Baumwollblusen und lange, farbenprächtige Röcke. Wenn sie sich dem Rhythmus der Musik hingaben, wurden die Röcke in die Höhe gewirbelt und enthüllten lange, wohlgeformte Beine. Langes Haar fiel bis auf die Rücken. Sie lachten, und das klang so natürlich und ungezwungen wie das Plätschern eines Flusses. Schmerz und Freude ließen Jander die Augen schließen. So etwas hatte er seit fast siebenhundert Jahren nicht mehr gesehen; damals war es der Tanz in den heimatlichen, magieerfüllten Lichtungen Immerdars gewesen. Unwillig eilten seine Gedanken zu diesen Tagen einer unglaublichen Unschuld zurück, als es in seinem kleinen, freundlichen Universum nichts Häßliches gegeben hatte und Vampirismus nur eine obskure Legende gewesen war, die man erzählte, um Kinder zu erschrecken. -80-
Maruschka trat vor ihn und griff nach seiner goldfarbenen Hand. Sie zog sanft und drängte ihn dazu, aufzustehen und ihr als Gefährte zum Feuer zu folgen. Jander zögerte einen Augenblick und gesellte sich dann wie von den Flammen angezogen zu ihr. Sein Körper war seit fünf Jahrhunderten untot, doch er erinnerte sich noch, wie er auf Musik zu reagieren hatte. Der Vampir und die Seherin wirbelten zusammen im Kreis; schwarze und silberfarbene Augen hielten Blickkontakt; ein goldfarbener Körper preßte sich an einen dunkelhäutigen. Jander gab sich dem Augenblick hin, und plötzlich tanzte er nicht mehr mit Maruschka, sondern mit Anna. Anna, die ihm gesund und liebevoll zulächelte … Der Vampir konnte es nicht länger ertragen. Die Schönheit der Musik, der Rausch, wieder unter Menschen zu sein und die Erinnerung an das tote Mädchen, das er geliebt hatte, überwältigte ihn einfach. Zu seinem Entsetzen spürte er, wie Tränen in seinen Augen brannten. Er murmelte eine Entschuldigung und ging vom Feuer in die schützenden Schatten des nächsten Vardo. Maruschka folgte ihm. »Jander, was ist?« »Nichts, bloß … laß mich für ein paar Minuten allein, bitte. Mir geht es gut.« Er hatte das Gesicht von ihr abgewandt. Sie ging zögernd. Nun stand Jander wieder einmal allein da, und er wischte die Tränen aus Blut fort, die ihm in die Augen geschossen waren. Eine hatte eine rote Spur auf seiner Wange hinterlassen. Er hoffte, daß es in dem flackernden, rötlichen Feuerschein niemandem aufgefallen war. Neben seinen Füßen fiel ein feuchtes Taschentuch zu Boden. »Wisch dir das Gesicht ab, Vampir«, sagte eine barsche Stimme. Jander schaute ruckartig auf. Alle tanzten noch. Nur diese alte Frau schien die Tränen bemerkt zu haben. Er tat wie geheißen, -81-
ließ sie dabei aber nicht aus den Augen. »Du hast mich in der Hand. Was wirst du unternehmen?« Die alte Frau zuckte unentschlossen mit den Schultern, doch Jander spürte, daß sie über einen stahlharten Willen verfügte. »Im Augenblick nichts. Du bist unser Gast, und wir werden die Bräuche unserer Vorfahren nicht entehren. Außerdem waren es die Tränen, die dich verraten haben. In diesem Land kommt so etwas selten vor, und für eine untote Kreatur ist das äußerst ungewöhnlich. Du darfst gehen, ohne daß man dir ein Leid zufügt, Jander Sonnenstern, um der Person willen, die du einmal gewesen bist. Du kannst den morgigen Tag über in der Höhle neben dem Tser- Teich schlafen. Wir werden dich in Ruhe lassen.« Dann fügte sie mit widerhallender und eindringlicher Stimme hinzu: »Aber von da an bist du unser Feind. Unter den Lebenden ist kein Platz für dich. Geh jetzt, und zwar schnell.« Jander machte eine höfliche Verbeugung. »Ich bitte dich um einen Gefallen, Madame Eva; ich nehme doch an, daß du es bist? Sage Petya und Maruschka nichts von meiner wahren Natur.« Eva runzelte die Stirn, und der Vampir konnte im Blick der alten Frau eine Spur von Maruschkas Temperament entdecken. »Ich muß sie warnen. Es sind meine Enkel.« Jander sah zu den Tänzern hinüber. Maruschka hatte sich ihnen wieder angeschlossen und wirbelte, vom Schwung der Musik erfaßt, ausgelassen im Kreis. Petya stand grinsend mitten in einer Gruppe junger Frauen und gestikulierte wild. »Ich hatte ausreichend Gelegenheit, ihnen etwas anzutun, falls das meine Absicht gewesen wäre. Sie haben nichts von mir zu befürchten.« Eva musterte ihn nachdenklich. Dann verlor ihr faltiges Gesicht etwas von seiner Härte. »Ich werde es ihnen nur dann sagen, wenn ich es für nötig halte«, gestand sie leise zu. »Aber geh nun.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Frisches Wasser -82-
und helles Lachen.« Das war ein traditioneller Abschiedsgruß der Elfen, und Jander verbeugte sich tief. Dann tauchte er schnell in die Nacht hinein. Eva sah ihm nach und richtete die Aufmerksamkeit dann wieder auf ihre Enkel. Maruschka war gerade stehengeblieben, um zu verschnaufen, und sie sah, daß der Vampir ging. Ihrem Gesicht war deutlich die Enttäuschung anzusehen. In diesem Augenblick lief Petya zu seiner Großmutter hin. »Großmama! Du hast ihn doch nicht fortgeschickt, oder?« Seine Stimme klang verletzt, und er blickte sie vorwurfsvoll an. Eva seufzte. »Hol deine Schwester«, befahl sie. Er zögerte, blickte Jander hinterher und gehorchte dann. Eva ließ sich auf die nächste Bank sinken. Du bist zu alt, Eva, dachte sie mit einem reuigen Kichern. Du bist zu alt für solche Angelegenheiten. »Du wolltest uns sprechen, Großmama?« Eva sah zu ihren Enkeln hoch. Beide waren prächtige junge Menschen, die ihrer Sippe und ihr zur Ehre gereichten. Sie tat das Richtige. Sie klopfte auf die Bank, und die beiden setzten sich gehorsam zu ihrer Rechten und Linken hin. Die alte Zigeunerin schwieg einen Augenblick. »Das hier ist kein glückliches La nd«, sagte sie dann. »Wir lagern hier, weil ich mit dem Herrscher Barovias einen Pakt geschlossen habe, einen Pakt, der für unser Volk von Vorteil ist.« Sie verstummte und suchte nach den richtigen Worten. Petya rutschte nervös auf seinem Platz hin und her, denn er hatte es eilig, zu den jungen Frauen zurückzugehen, die ihn so bewunderten. Maruschka saß geduldig da. »Das bedeutet nicht, daß es hier für uns ungefährlich ist«, fuhr Eva fort. »Manchmal kann man die Gefahr nur schwer erkennen, und manchmal verbirgt sie sich hinter der Schönheit.« Maruschka verstand als erste, obwohl sie sich innerlich dagegen sträubte. »Jander ist gefährlich?« -83-
Eva legte ihre faltige Hand auf die ihrer Enkelin. »Aye, Liebes. Sogar sehr gefährlich.« Maruschka runzelte die Stirn. »Nein«, rief sie aus, »das kann ich nicht glauben. Er ist nicht böse.« »Ich habe nicht gesagt, daß es sein Wunsch war. Es gibt Zeiten, da hat der Mensch nicht die Möglichkeit, zwischen Gut und Böse entscheiden zu können.« »Großmama, er hat mir das Leben gerettet!« Nun war auch Petya wütend auf sie. Eva wünschte, sie wäre nicht gezwungen gewesen, es ihnen zu sagen, doch Petya bewunderte den Elfen, und Maruschka war von ihm hingerissen. »Ja, das hat er getan, doch du darfst ihn nie wiedersehen. Und das gilt auch für dich«, wandte sie sich an ihre Enkelin, die sie mürrisch ansah. Eva entfaltete das feuchte Taschentuch. »Er hat sich hiermit das Gesicht abgewischt.« Petya nahm das Tuch und blickte seine Großmutter vorwurfsvoll an. »Du hast ihn gehen lassen, obwohl er verletzt war?« »Nein, mein Junge«, erwiderte Eva sanft. »Das waren die Tränen, die er geweint hat.« Maruschka stöhnte mit weit aufgerissenen Augen auf. »Nein«, hauchte sie. »Er ist kein… Er kann kein…« »Er kann kein Akara sein«, vollendete Petya den Satz. Er stand abrupt auf. »Entschuldige mich, Großmama, doch ich muß ins Dorf zurück.« Eva runzelte die Stirn. »Ich will von so einem Unsinn nichts hören, nicht nach dem, was dir heute abend dort zugestoßen ist.« »Aber Großmama …« Man konnte seinem Gesicht ablesen, daß seine Gefühle miteinander im Widerstreit lagen. »Nein, und das ist mein letztes Wort.« Sie erhob sich verärgert. So sehr sie Petya und Maruschka auch liebte, teilte sie doch die Ansichten ihrer Enkelin über Kinder, und die -84-
Auseinandersetzung mit ihnen stellte ihre Geduld auf eine harte Probe. »Ich habe euch alles Nötige gesagt; jetzt gehorcht.« Sie ging zu ihrem Vardo. »Maruschka, ich brauche deine Hilfe«, sagte Petya, als seine Großmutter außer Hörweite war. »O nein, ich will nichts damit zu tun haben …« »Meine … Freundin aus dem Dorf. Auch sie vertraut Jander. Wir haben ihm beide die Freundschaft gelobt. Sie muß wissen, was mit ihm los ist!« Ihm war die innere Qual deutlich anzuhören. Maruschka hatte ihn noch nie so ernst gesehen und war etwas überrascht. »Na gut, doch ich werde alles abstreiten, falls man dich erwischt«, warnte sie ihn. Ihr Bruder strahlte. »Ich darf also dein Pferd nehmen?« Anastasia lag auf dem Bauch und achtete nicht auf die Tränen, die aufs Kissen tropften. Die roten Strie men auf ihrem Rücken brannten und schmerzten unablässig. Ihr rechter Arm war eingeschlafen, doch sie bewegte sich nicht, da sie befürchtete, daß der Schmerz dann nur schlimmer wurde. Ludmilla hatte alles verschlafen, und Anastasia beneidete sie darum. Ihr Götter, weinte sie, wenn Vater doch nur erlaubt hätte, daß Mutter Heilsalbe aufträgt. Eine Handvoll Kies prasselte gegen das Fenster. Anastasia fuhr mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch. Sie biß die Zähne zusammen, und irgendwie schaffte sie es, langsam aufzustehen und zum Fenster zu humpeln. Als sie den Arm hob, um die Fensterläden aufzustoßen, hätte sie fast das Bewußtsein verloren; sie blinzelte heftig und kämpfte gegen die drohende Schwärze an. Dann öffnete sie langsam mit einem Stöhnen das Fenster. Unten stand Petya, ein aufgeregter Schatten im Mondlicht. Er gab keinen Laut von sich und deutete ihr mit heftigen -85-
Handbewegungen an, daß sie nach unten kommen sollte. Anastasia hätte nichts lieber getan, doch sie glaubte nicht, daß ihr mißhandelter Körper es zuließ. In diesem Augenblick zerriß ein zorniger Aufschrei die Stille der späten Stunde. Anastasia mußte entsetzt mit ansehen, wie die Diener ihres Vaters aus dem Haus stürzten. Zwei ergriffen Petya an den Armen, während die anderen mit Schwertern herumfuchtelten. »Anastasia, was ist denn …«, ertönte Ludmillas schlaftrunkene Stimme hinter ihr. Doch sie hatte jetzt keine Zeit für ihre Schwester. Sie bewegte sich zur Tür und stolperte die Treppen so schnell hinunter, wie es ihre zerschundenen Glieder zuließen. Als sie endlich die Eingangshalle durchquert und die schwere Tür zu dem gepflasterten Hof aufgezogen hatte, keuchte sie vor Erschöpfung. Wind war aufgekommen, und die Temperatur war gefallen. Kalte, feuchte Luft schlug ihr entgegen. Petya stand nicht mehr auf den Füßen. Eigentlich hätte er leblos auf den Pflastersteinen liegen müssen, doch sein Körper wurde von Kartovs Dienern, von denen jeder einen Arm festhielt, aufrecht gehalten. Der Bürgermeister schlug persönlich mit der Reitpeitsche zu, die er zuvor bei seiner Tochter benutzt hatte. Er grunzte bei jedem Schlag, und trotz der plötzlich hereingebrochenen Kälte perlte der Schweiß wie Wassertropfen von ihm ab. Er hatte den unglücklichen Vistani bereits mehrmals geschlagen, und Petyas Rücken verwandelte sich in eine rote Masse. Das rhythmische Klatschen, das entstand, wenn die Peitsche aufs Fleisch traf, bildete einen scharfen Gegensatz zum dumpfen Grollen des herannahenden Sturms. Anastasias Kehle wurde trocken, und einen Augenblick lang verschwamm alles vor ihren Augen. Dann sammelte sie ihre ganze Kraft. »Nein!« schrie sie mit einer Lautstärke, von der sie gar nicht wußte, daß sie ihrer mächtig war. -86-
Kartov hielt inne und warf ihr einen mörderischen Blick zu, doch Anastasia ließ sich nicht einschüchtern. Der Schmerz ließ nach und wurde von einem langsam anschwellenden Zorn in ihrer Brust ersetzt. »Ich habe nein gesagt«, wiederholte sie in einem Tonfall, der so leise und tödlich wie das tiefe Knurren einer Wölfin klang. »Ivan«, fauchte sie den Diener ihres Vaters an, »laß ihn los!« Ivan zögerte und schaute vom Vater zur Tochter. Der grauhaarige Diener war seinem Herrn noch nie ungehorsam gewesen, doch Anastasia hatte etwas an sich, das ihn nervös machte. Sie stand aufrecht da, und das schwarze Haar wurde in ihr bleiches Gesicht geweht. »Herr?« fragte Ivan. Der Bürgermeister würdigte ihn keines Blickes. Anastasia ging mutig zu ihrem Vater und überbrückte die Entfernung zwischen ihnen mit langsamen, sicheren Schritten. Kartov hob die Reitpeitsche, dazu bereit, ihr ins erhobene, verschwollene Gesicht zu schlagen. Da imitierte Anastasia spöttisch das Geheul der Wölfe. Kartov wurde leichenblaß. Es donnerte erneut, diesmal nur lauter. »Warum erzählst du Ivan nicht, wie du heute abend vor den Wölfen geflohen bist?« fragte Anastasia. Sie griff selbstbewußt und von kaltem Haß erfüllt nach der blutigen Reitpeitsche und nahm sie ihrem Vater resolut aus der Hand. Kartov ließ es reglos geschehen. »Ich bin nicht geflohen«, sagte sie leise. Sie wandte sich dem Zigeunerjungen zu. »Und er auch nicht. Ivan, du darfst ihn jetzt loslassen«, wiederholte sie und sah den Gesindevorstand kalt an. Der verwirrte Ivan gehorchte wie betäubt. Die anderen Diener schlossen sich ihm an, und sie zogen sich so schnell zurück, wie sie nur konnten, ohne gleich panisch loszulaufen. Petya fiel bewußtlos auf die Pflastersteine, dennoch kümmerte sich Anastasia nicht sofort um ihn. Sie blickte ihren Vater eisig und anklagend an. Kartov konnte den Blick nicht erwidern. Er hatte -87-
sich in dieser Nacht als Feigling entlarvt, und seine Tochter würde ihn das nie vergessen lassen. Mit einem heiseren Fluch stürmte er ins Haus zurück und warf die Tür hinter sich zu. Anastasia wandte sich nun ihrem verletzten Geliebten zu. Sie ignorierte den schmerzenden Rücken, kniet sich neben ihn hin und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Sie streichelte liebevoll sein seidenes, schweißverklebtes Haar, und er schlug die Augen auf. »Anastasia«, krächzte er, »Jander...« »Psst, sag nichts. Ich nehme dich mit ins Haus, dort können wir deinen Rücken richtig behandeln. Glaubst du, du kannst gehen?« »Hör mir zu!« sagte Petya mit verzweifelter Dringlichkeit. »Der Elf … wir haben uns doch … heute abend Freundschaft gelobt. Erinnerst du dich?« Anastasia nickte verständnislos. »Er ist ein Vamp ir … wir können nicht …« Die Anstrengung war zu viel für ihn, und er brach bewußtlos in ihren Armen zusammen. Anastasia spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken fuhr, die nicht von der Kühle der regenschweren Luft verursacht wurde. Das Wesen mit der goldfarbenen Haut, das sie gerettet hatte, war eine tote Kreatur, die vom Blut anderer lebte? Das schien unmöglich zu sein. Aber wäre Petya ins Dorf zurückgekehrt, wenn es nicht sehr wichtig gewesen wäre? Sie warf wieder einen Blick auf seinen Rücken, und in ihrem Herzen erwachte erneut der Haß auf ihren Vater. Vielleicht war Jander Sonnenstern tatsächlich ein Vampir. Doch im Angesicht des Werks ihres Vaters kam der Bürgermeistertochter der Gedanke, daß sie eher die Partei der untoten Kreatur ergreifen würde als die ihrer Familie. Ein Blitz erleuchtete den Hof, so hell, daß Anastasia zusammenzuckte. Der unmittelbar darauf folgende Donner war ohrenbetäubend, und sie spürte, wie der Boden erzitterte. Dichter Regen prasselte aus dem Himmel, und die kleinen Tropfen trafen ihren wunden Rücken hart. Der Regen weckte -88-
Petya auf; er hustete schmerzerfüllt und stöhnte. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, auf die Füße zu kommen, und sie stolperten zusammen auf die Tür zu. Anastasia erblickte die schlanke Silhouette ihrer Mut ter, die sich hinter dem lichterfüllten Fenster abzeichnete, und sie mußte lächeln. Der nächste Blitz zuckte, und der rollende Donner folgte ihm auf dem Fuße. Gerüchten zufolge beherrschte Strahds Magie auch das Wetter. »Der Nebelring, der das Dorf umgibt, gehorcht seinen Befehlen«, hatte die alte Frau Yelena Anastasia vor langer Zeit erzählt. »Er ist da, damit wir nicht alles sehen können. Der Wind und der Regen sind sein Zorn, und der Blitz ist sein Schwert der Rache.« Der kalte Regen fiel so dicht, daß Anastasia kaum etwas sehen konnte und unkontrollierbar zitterte, während sie sich mühsam zum Haus kämpfte. Falls der Sturm Strands Zorn darstellte, dachte sie mit einem Aufflackern schwarzen Humors, muß er eine sehr schlechte Nachricht erhalten haben. Das Land erlaubte Jander, einen Traum zu haben. Er betrat die Traumwelt nicht auf die gleiche Weise wie ein Mensch; Elfen brauchten nur sehr wenig Schlaf, und wenn sie sich ausruhen oder erfrischen mußten, kontrollierten sie den Grad ihrer Entspannung. Doch an seinem ersten Tag in Barovia träumte Jander, als er auf den Einbruch der Nacht wartete. Er hatte die Höhle, von der Eva gesprochen hatte, problemlos gefunden. Sie war tief und finster; der perfekte Ruheort für jemanden, dem das Sonnenlicht den Tod brachte. Der Elf vertraute Madame Evas Worten, aber er wollte nur dösen und nicht schlafen. Sollte es sich als Falle erweisen, würden die überraschten Vistani einen wachen Vampir vorfinden. Er würde ihnen mehr als nur gewachsen sein. Nun saß Jander tief unter der Erde weit vom Höhleneingang entfernt. Er zog die Knie an die Brust und umfing sie mit den Armen. Dann lehnte er den Kopf an den rauhen Stein und schloß -89-
die Augen. Er gab sich seinem Lieblingsspiel hin: der Erinnerung an das Licht der Sonne. Er stellte sich vor, wie der goldene Schein von der Höhlenöffnung aus auf ihn zukam. Das Sonnenlicht würde sich in den Löchern im Boden sammeln und über die Steine kriechen, und bei dieser Vorstellung spürte der Elf einen Schmerz in seinem Inneren. Diesem Spiel hatte er sich schon Tausende von Tagen hingegeben - viel zu oft. Er würde vom Sonnenlicht träumen und sich fragen, ob heute der Tag war, an dem er genug Mut fand, um in den Glanz hinauszutreten. Nicht die Furcht vor dem Tod hielt ihn zurück; er fürchtete sich vor dem, was die Sonne ihm antun würde. Auf Toril gab es eine Kreatur mit dem Namen Roter Tod. Dieses schreckliche, gasartige Monster, das sich von Blut ernährte, wurde in den Legenden mit den Vampiren in Zusammenhang gebracht. Es wurde behauptet, der Rote Tod sei nichts anderes als die Seele eines vernichteten Vampirs, der zu dieser Existenz verdammt war. Der Gedanke, sich in solch ein Wesen zu verwandeln, veranlaßte Jander, sich fern von der geliebten Sonne in dem Schoß der Nacht und der Schatten aufzuhalten. Seine Familie war nach dem Licht benannt worden. Der goldene Schein veränderte die Farbe eines jeden Gegenstands, auf den er fiel, und stellte für Jander das Schönste dar, das er je gekannt hatte. Als Lebender hatte er sich am Tag erfreut und seine warme Berührung und die heiße Helligkeit genossen. Als Heranwachsender hatte Jander in Immerdar die Morgenröte mit seiner Flöte begrüßt. Seine Freunde hatten sich immer darüber lustig gemacht. »Fürchtest du, die Morgendämmerung würde ausbleiben, wenn du sie nicht herbeiflötest, Jander?« hatten sie gescherzt. Nun war er für alle Ewigkeit dazu verdammt, das Licht und seine Berührung nur in seiner Erinnerung erleben zu können. -90-
In seinem Traum schaute der Vampir zum Höhleneingang. Ein Schatten blockierte das Licht. Jander wich zurück, zur Verteidigung bereit. Die Gestalt kam nahe genug heran, daß er sie erkennen konnte. Es war Anna. Sie war nicht mehr mit dem schrecklichen braunen Kittel des Irrenhauses bekleidet, sondern trug Mieder und Rock, die ihre Schönheit und ihre wohlgeformte, gleichzeitig mädchenhafte Figur betonten. Sie schien völlig real zu sein, doch Jander erkannte sofort, daß sie nur in seinem Bewußtsein lebte. Anna schaute ihn an und lächelte, wobei sich ihre Augen in dem Dämmerlicht verengten. »Warum kommst du nicht mit?« Weil es ein Traum war und er sich wünschte, ihr Gesellschaft zu leisten - diese Empfindung war stärker als alles, was ersieh in siebenhundert Jahren gewünscht hatte -, erhob sich der Traumjander und schritt in den strahlenden, barovianischen Morgen. »Das ist doch viel schöner, oder?« Annas kleine, geschmeidige Finger nahmen ihn bei der Hand, und sie schaute lächelnd zu ihm auf. Ihr Götter, sie war so wunderschön. Ihr von der Sonne liebkostes Gesicht trug einen lebhaften Ausdruck, ihr Mund war zu einem Lächeln bereit, und die Augen strahlten in einem warmen Rehbraun. Als sie noch lebte, hatte er sie nie so gesehen. Das dem Wahnsinn verfallene Mädchen mit der bleichen Haut und den starren Gesichtszügen, an das er sich erinnerte, war nur ein Schatten dieses lebendigen Wesens. Er war so von ihr in Anspruch genommen, daß ein paar Minuten vergingen, bevor er sich des Wunders bewußt wurde. Er konnte ihr Blut nicht mehr riechen. Irgendwie hatte er in diesem deliriumähnlichen Traumzustand aufgehört, ein Vampir zu sein, und war nur noch Jander Sonnenstern, der Goldelf. Er spürte die Sonnenwärme auf dem Haar, und als er sich Anna -91-
zuwandte, kniff sie die Augen zusammen und schaute weg. »Die Sonne auf deinem Haar ist zu grell!« lachte sie blinzelnd. Er mußte ebenfalls lachen, und es war ein sorgloses, melodisches Lachen, wie es nur einer lebenden Kehle entstammen konnte. Er küßte ihren roten Mund und wollte allein seine Süße schmecken, bis in sein Innerstes darüber entzückt, daß er kein Verlangen nach ihrem Blut hatte. Sie erwiderte den Kuß mit einer Hingabe, die ihn überraschte. »Anna«, flüsterte er und strich mit den langen, dünnen Fingern durch ihr dichtes Haar. »Ich wollte dir nicht weh tun, Geliebte, es tut mir so leid…« Sie schüttelte mit einem glücklichen Lächeln den Kopf, und ihr Blick war warm und lebendig. »Jander Sonnenstern, glaubst du etwa, das wüßte ich nicht? Obwohl mich der Wahnsinn in seinen Krallen hatte, konnte ich deine Absichten erkennen.« »Anna«, sagte er und hielt ihre Hand fest, »sag mir, wer dir das angetan hat.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Du mußt herausfinden, wer meinen Verstand zerstört hat. Das ist deine Prüfung.« »Prüfung? Ich verstehe nicht…« Plötzlich war sie fort, und Jander saß allein in der Höhle. Ein rauhes Wiehern schreckte ihn aus seinem Traum auf. Die Höhle war stockfinster; nur die Öffnung zeichnete sich als ein etwas helleres Oval ab. Jander mußte feststellen, daß er zitterte. Er hatte seinen Teil an Träumen und Alpträumen erlebt, doch dieser Traum hatte etwas von beidem gehabt. Es hatte weh getan, Anna wiederzusehen, selbst wenn es nur in seiner sehnsüchtigen Vorstellungskraft gewesen war. Trotzdem hoffte er, daß sie sich wieder begegnen würden. Das Pferd draußen wieherte erneut und scharrte über den Boden. Dann wieherte ein zweites Tier. Er konnte den warmen Tiergeruch riechen, der sich mit dem Duft geölten Leders, Metalls und des süßen Heus vermischte, das die Pferde -92-
gefressen hatten. Warum standen dort Pferde? Am besten, ich schaue nach, dachte Jander und schnupperte erneut. Menschen waren nicht zu riechen. Er trat vorsichtig aus der Höhle. Abgesehen von der völligen Schwärze ihres Fells war an den beiden Pferden nichts Ungewöhnliches, Die dunkle Farbe wurde von keiner Blesse entstellt, allerdings funkelten ihre Nüstern rosa auf, als sie Jander witterten. Die Pferde standen offensichtlich unter dem Bann einer mächtigen Magie, denn sie zitterten nicht einmal, als der Vampir näher kam und einem der Rappen die anmutige Hand auf den schlanken Hals legte. Einst hatte er Pferde geliebt und sie ihn, und nun vermißte er sie schmerzlich. Mit einem letzten, zögernden Tätscheln ließ Jander das Pferd los und wandte seine Aufmerksamkeit dem Gefährt zu, das die Rappen zogen. Es war eine große, elegante und geräumige Kutsche, die von Meistern ihres Fachs gebaut worden war. Das Innere bestand aus feinem roten Feder, und die Fenster bestanden tatsächlich aus Glas. Nur ein sehr reicher Mann konnte so viel Geld für eine Kutsche verschwenden. Jander ging langsam um das Gefährt herum und begutachtete die Qualität des Holzes und die Symmetrie der Räder. Vorn gab es einen Kutschbock. Doch es war kein Kutscher da. Die Zügel waren ordentlich zusammengelegt und über den Sitz drapiert. Ein fester weißer Briefumschlag hob sich von dem Schwarz und Rot ab. Jander nahm ihn und fühlte sofort, daß es sich um edles Papier handelte. Der Umschlag war mit rotem Wachs versiegelt, den ein Abdruck in der Form eines Vogels zierte; er war zu klein, als daß Jander die Gattung hätte erkennen können. Er brach das Siegel und las. An den Besucher meines Landes, Jander Sonnenstern. Graf Strahd von Zarovitsch, Herrscher über Barovia entsendet seinen Gruß. -93-
Geehrter Herr, ich würde mich freuen, wenn Ihr meine bescheidene Gastfreundschaft akzeptiert und mir die Ehre gebt, heute abend mit mir auf Schloß Rabenhorst zu speisen. Ich habe viele Fragen an Euch, so wie ich sicher bin, daß Ihr viele Fragen an mich habt. Ich werde mich bemühen, Eure verständliche Neugierde über dieses Land zu stillen, so gut es mir möglich ist. Die Kutsche wird Euch sicher zum Schloß bringen. Ich bitte Euch dringend, meine Einladung anzunehmen, und erwarte Eure Ankunft mit Freude. Graf Strahd von Zarovitsch Jander faltete den Brief nachdenklich zusammen. Er hätte wissen müssen, daß die Vistani dem Herrscher des Landes die faszinierende Neuigkeit, daß sich ein Elf nach Barovia verirrt hatte, mitteilen würden. Das konnte er ihnen nicht übelnehmen. Stärker beschäftigte ihn sein Zögern, die Einladung anzunehmen. Hatte er sich nicht gerade das gewünscht? Wer konnte seine Fragen ausführlicher beantworten als der Herrscher dieses elenden Ortes? Jander entfaltete den Brief aufs neue und las ihn ein zweites Mal, wobei er versuchte, eine verborgene Bedeutung herauszulesen. Mit entblößter Kehle würde er sich in den Wolfsbau begeben, aber es war durchaus möglich, daß der Wolf eine böse Überraschung erleben würde. Er hatte keine Wahl. Denn Strahd würde ihn schließlich so oder so aufspüren, davon war er überzeugt. »Nun«, sagte Jander zu den Pferden, die die Ohren in seine Richtung wandten. »Sehen wir zu, daß ihr wieder in euren Stall kommt und ich euren Herrn kennenlerne.« Als er sich der Kutschentür näherte, öffnete sie sich. Er zögerte, stieg dann aber ein. In dem Augenblick, in dem er die Tür hinter sieh schloß, trabten die Pferde entschlossen los. Jander lehnte sich zurück in die unglaublich bequemen Kissen und beschloß die Fahrt zu genießen, egal, was ihn an ihrem -94-
Ende erwartete. Die Pferde folgten dem Pfad und wurden dann schneller, als sie auf die Straße abbogen. Die Straße überquerte den Fluß, und diesmal hatte Jander einen atemberaubenden Blick auf einen Wasserfall. Die Kutsche passierte ihn so nah, daß die Fenster von der Gischt getroffen wurden. Sie wurden von dem mittlerweile vertrauten Ring aus Giftnebel eingehüllt, der Jander eindringlich an den Nebel erinnerte, der ihn von Tiefwasser nach Barovia gebracht hatte. Er ertappte sich dabei, daß er das Gesicht gegen die Fensterscheibe drückte und sich der vergeblichen Hoffnung hingab, daß dieser seltsame Nebel wieder aufgestiegen war, um ihn nach Hause zu bringen. Der Nebel durchmaß vielleicht hundert Meter und löste sich dann so schnell auf, wie er gekommen war. Jander schaute durch das kleine Fenster in der Rückwand auf die graue Masse und schüttelte den Kopf. Die Pferde fanden einen bequemen, schnellen Rhythmus und bewegten sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit nach Norden. Als die Steigung der Berge begann, wurden die Tiere langsamer, behielten ihre gleichmäßige Bewegung aber bei. Die Straße bog nach Osten ab und gabelte sich nach einiger Zeit. Jander schaute die Straße entlang, die zu seiner Linken abbog. In der Ferne erhob sich ein gewaltiges Tor. Es war sehr massiv, bestand anscheinend aus Eisen und wurde zu beiden Seiten von großen Statuen aus Stein flankiert. Den beiden Statuen schienen die Köpfe zu fehlen. Momentan war das Tor geöffnet. Geschlossen blockierte es jedoch die einzige Straße, die von Westen ins Dorf führte. Das ständige Klappern der Pferdehufe ertönte weiter, und kurz darauf konnte Jander Schloß Rabenhorst sehen, das sich vor ihnen erhob. Ein eiskalter Schauder der Angst fuhr über seinen Rücken. Für den Vampir war das eine fremde Empfindung, hatte er doch seit Jahrhunderten von keinem -95-
Wesen, egal ob tot oder lebendig, mehr etwas zu befürchten gehabt. Immerhin, hier konnte einer der Schlüssel zu Annas Wahnsinn verborgen sein. Die schöne und verletzliche Anna, die durch jemandes Grausamkeit in den Wahnsinn getrieben worden war… von jemandem, der diese Welt seine Heimat nannte. Jander ballte die Fäuste. Vielleicht würde der Herr von Schloß Rabenhorst ein paar Antworten wissen. Die Pferde brachten ihn bis vors Tor, dann hielt die Kutsche an. Jander stieg aus und blickte zum Schloß hoch. Es war klar, warum die Pferde stehengeblieben waren. Zwischen zwei verfallenen, steinernen Wachhäusern befand sich der Eingang zum Schloß - eine wenig vertrauenswürdig aussehende hölzerne Zugbrücke, die an alten und verrosteten Ketten hing. Der Abgrund endete viele hundert Meter tiefer in einer von Nebel erfüllten Schlucht. Zwei Gargyle schauten von ihrem ewigwährenden Platz auf den Steinmauern auf den Elfen hinab. Es waren schrecklich anzusehende Monstren. Der Elf tätschelte die Pferde ein letztes Mal; er tat dies für sich, denn für die verängstigten Tiere konnte es kaum eine angenehme Erfahrung gewesen sein. Dann galoppierten sie los und zogen die wie verrückt hin und her schaukelnde Kutsche hinter sich her. Jander schaute sich die Zugbrücke genau an. Sie machte keinen begehbaren Eindruck. Es gibt Zeiten, da hat es seine Vorteile, wenn man ein Vampir ist, dachte er, als er sich in eine Fledermaus verwandelte und sicher über den Abgrund flatterte. Auf der anderen Seite nahm er seine Elfengestalt wieder an und ging weiter. Er passierte den überdachten Durchgang und war auf einen Angriff vorbereitet. Das Mauerwerk war feucht und roch nach Verfall. Nichts geschah. Das Fallgitter am Eingang war hochgezogen; es erweckte den Eindruck, als befände es sich -96-
schon seit langer Zeit in dieser Stellung. Auch hier war das Holz verfault. Der enge Durchgang führte in einen großen, dunklen Hof, und Jander blickte zu Schloß Rabenhorst empor. Es war beeindruckend. Die geschlossene Tür war riesig und mit kunstvoll gearbeiteten Schlachtszenen verziert, die so realistisch wirkten, als seien sie von Leben erfüllt. Die Schnitzereien waren zugleich elegant und kühn, und ihre Lebendigkeit wollte nicht zu der dunklen, vernachlässigten Festung passen. Rechts und links neben der Tür steckten zwei große, brennende Fackeln, die im Wind flackerten. Die Türklopfer bestanden aus Messing; wären sie poliert gewesen, hätten sie zweifellos prächtig geglänzt. So waren sie stumpf und mattbraun. Sie besaßen die Form von Rabenköpfen, deren Augen aus funkelnden Edelsteinen bestanden. Jander zögerte, ergriff dann einen der Klopfer und schlug ihn dreimal gegen das Holz. Das Geräusch hallte mit dunklem Dröhnen nach, das lange in der Luft hing. Ein paar angespannte Minuten lang gab es bis auf das Heulen des Windes in Janders Rücken keine Antwort. Er zwang sich zur Gelassenheit, dennoch steigerte sich seine Nervosität von Minute zu Minute. Dann schwangen die Türflügel mit einem leisen, tiefen Knarren auf. Sie bewegten sich nur langsam und protestierten über jeden Zentimeter, den sie nachgaben. Warmer Lichtschein drang auf den Hof. Jander blieb draußen stehen; das Mondlicht verlieh seinem Haar einen silbernen Glanz. «Graf?« rief er, und seine Stimme klang dünn und furchterfüllt. Er schalt sich im Geiste »Euer Exzellenz, ich bin Jander Sonnenstern«, rief er erneut und zwang sich dazu, stark und selbstsicher zu klingen. »Ich bin Eurer Einladung gefolgt, aber ich werde erst eintreten, wenn Ihr mich darum bittet.« Seine Erklärung wurde mit Schweigen gegrüßt, doch -97-
irgendwie wußte Jander, daß man ihn gehört hatte. Und plötzlich ertönte aus den Tiefen der von Fackeln erhellten Eingangshalle eine tiefe, honigsüße Stimme. Es war der schönste und zugleich erschreckendste Laut, den Jander je vernommen hatte; diese Stimme schmeichelte seinen Ohren, doch er erkannte ganz deutlich die Gefahr, die sie verhieß. »Tretet ein, Jander Sonnenstern. Ich bin Graf Strahd von Zarovitsch, und ich heiße Euch willkommen.« Strahds Stimme ließ Jander einen Augenblick wie gelähmt dastehen. Dann riß er sich wütend zusammen, holte im Geiste tief Luft und wappne te sich gegen alles, das ihn hier erwarten mochte. Er überschritt die Schwelle von Schloß Rabenhorst. Der Hallenboden bestand aus poliertem grauen Stein, der den Eindruck erweckte, als hätte man ihn in einem Stück aus dem Berg herausgeschnitten. Generationen von Schloßbewohnern hatten ihn mit ihren Schritten abgewetzt. Die massiven Wände waren von Fackeln gesäumt, deren Hitze sich mit der leuchten Lull vermischte; sie warfen ein flackerndes Licht auf die unter ihnen stehenden, verrosteten Rüstungen, die dort reglos Wache hielten. Jander konnte seinen Gastgeber nicht entdecken und sah sich um. »Graf von Zarovitsch?« rief er. »Tretet ein, mein Freund«, antwortete die melodiöse, tödliche Stimme. Der Elf war etwa fünf Meter in die Halle hineingegangen, als eine zweite Tür vor ihm aufschwang. Er verharrte einen Augenblick und ging dann weiter. Da bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung und zuckte zusammen, instinktiv entblößte er die plötzlich hervortretenden Fangzähne und fauchte. Allerdings erkannte er einen Moment später mit einiger Verlegenheit, daß es sich um eine durch das Licht verursachte Sinnestäuschung gehandelt hatte. Vier Drachenstatuen starrten drohend auf ihn herab; ihre Augen bestanden aus Juwelen, genau wie es bei dem Türklopfer der Fall gewesen war. Die -98-
kostbaren Steine hatten das Licht der Fackeln reflektiert. Jander ging weiter, und ein Teil seiner Anspannung legte sich. Er durchschritt noch eine Tür, die sich bei seiner Berührung öffnete und betrat einen weiten Raum. Es handelte sich um die eigentliche Vorhalle. Zu seiner Linken führte eine breite Treppe in die finstere Höhe. Der Rand der kuppelförmigen Decke war mit Gargylen verziert: sie waren von der gleichen Art, die ihn am Tag willkommen geheißen hatten. Er schaute zu der von ihnen bewachten Decke hinauf und vergaß angesichts des dort befindlichen atemberaubenden Kunstwerks einen Augenblick lang seine Bedenken. Die Decke war mit prächtigen Fresken bedeckt, Janders Blick wanderte von Jagdgesellschaften zu Schlachten, von hier zu ritterlichen Taten. Betrüblicherweise waren die Fresken dem Verfall preisgegeben. Offensichtlich schien dem Herrn von Schloß Rabenhorst nicht viel daran gelegen zu sein, das Gebäude und die ihm innewohnende Schönheit zu erhalten. Direkt vor ihm befand sich eine aus zwei Flügeln bestehende Bronzetür. Jander hatte gerade einen Schritt in ihre Richtung gemacht, als plötzlich die schmeichelnde Stimme wieder ertönte. »Ich freue mich über Euren Besuch. Willkommen in meinem Haus.« Jander drehte sich um. Sein Gastgeber schritt die mit Teppich ausgelegte Treppe hinunter. In der Hand hielt er einen Kandelaber. Graf Strahd von Zarovitsch war über einen Meter achtzig groß, und sein Körper war geschmeidig und offensichtlich sehr kräftig. Er war dem Anlaß entsprechend gekleidet, trug schwarze Hosen mit dazu passendem Umhang, eine weiße Weste und ein Hemd. Die scharlachrote Schleife um seinen Hals hob sich wie ein Blutspritzer davon ab, doch sie paßte zu dem großen roten Juwel, das an seiner Kehle funkelte. Seine Haut war außerordentlich bleich, man konnte sie praktisch als -99-
knochenweiß bezeichnen. Die Augen des Grafen boten einen scharfen Kontrast, denn sie waren dunkel, und ihr Blick war durchdringend. Ihnen entging nichts, als sie Jander von Kopf bis Fuß mit einem Hauch Neugier musterten und schließlich den silberfarbenen Blick des Elfen gelassen erwiderten. Das dichte, sorgfältig frisierte schwarze Haar konnte die etwas spitzen Ohren des Grafen nicht ganz verbergen. Strahd sah den Elfen freundlich an, doch das einladende Lächeln schien doppeldeutig zu sein. Jander verbeugte sich, als Strahd näherkam. »Ich danke Euch für die Einladung, Graf. Es ist eine Ehre, von Barovias Herrscher empfangen zu werden.« Strahds Lächeln wurde breiter, diesmal eindeutig mit einem Anflug von Bosheit. »Ich bin erfreut, daß Ihr so empfindet, Jander Sonnenstern. Nur wenige würden mein Schloß als eine einladende Umgebung bezeichnen.« »Oh, vielleicht haben sie keine so freundliche Einladung erhalten.« Es war eine herausfordernde Bemerkung, und in den Tiefen von Strahds schwarzen Augen glomm ein rötliches Flackern auf. Er akzeptierte die Spitze lächelnd. »Wie wahr. Wie ich sehe, gehört Ihr nicht zu denen, die sich hinter bedeutungslosen Schmeicheleien verstecken. Das ist gut. Ich habe Euch tatsächlich aus eige nnützigen Gründen hergebeten, und ich bin davon überzeugt, Ihr seid aus den gleichen Motiven erschienen. Trotzdem ist mein Willkommensgruß ernst gemeint. Das möchte ich Euch versichern.« Sie standen sich einander abschätzend gegenüber, und alle Welt hätte sie für zwei Wölfe gehalten, die sich lauernd umkreisten. Keiner war bereit, sich auf den Rücken zu weilen und Unterlegenheit einzugestehen. »Ihr dürft mich Strahd nennen«, sagte der Graf schließlich. »Ich kenne Eure Stellung nicht, doch offensichtlich steht Ihr mir viel näher als diese -100-
ekelhaften Bauern oder meine hirnlosen Diener.« Er lächelte kalt. »Gut. Bitte folgt mir. Wir haben es anderswo viel bequemer, außerdem habe ich so selten Besuch, daß ich gern die Pracht meines Hauses zeige.« Er drehte sich um und stieg die Stufen hoch. »Ich nehme an, Ihr wundert Euch, woher ich wußte, wo Ihr zu finden wart.« »Nein. Offensichtlich steht Ihr mit den Vistani im Bunde.« »Ja, meine Landsmänner, die Zigeuner. Eine gänzlich bessere Klasse von Menschen als die Dorfbewohner.« Sie hatten einen Treppenabsatz erreicht, und Jander sah sich um. Hier gab es weitere der kunstvoll gearbeiteten Fresken, die er eben schon bewundert hatte. Die Bilder zeigten eine Belagerung des Berges, auf dem das Schloß stand. Auch sie befanden sich in einem schlechten Zustand, Jander konnte die Reste einer Inschrift lesen: D OBL NKÖ L T V R ER M CHT SH Ll NTL MAVN RAB N T. Strahd betrat den nächsten Treppenabsatz, und der Elf schloß sich ihm an. »Ist Euch bei Eurem Eintreffen der Nebel aufgefallen?« fragte der Graf. »Ja, der Nebelring um das Dorf ist recht seltsam.« »Wie gut, daß Ihr nicht mehr atmen müßt, mein Freund, der Nebel schwebt dort, weil ich es ihm befohlen habe. Er ist giftig. Ich habe den Zigeunern für ihre Dienste das Wissen um einen bestimmten Trank gewährt, der sie dazu befähigt, den Nebel zu passieren, ohne daß sie einen Schaden erleiden. Sie machen ein hübsches Vermögen, indem sie Passagen durch den Nebel verkaufen, und ich habe immer eine gut gefüllte Speisekammer. Ein gutes Geschäft, nicht wahr?« Sie kamen in einen riesigen Saal. Durch ein Fenster zu ihrer Rechten strömte Mondlicht herein. Der Saal schien durch seine Leere noch an Größe zu gewinnen. Am weit entfernten anderen Ende stand ein riesiger Thron, und das war auch schon alles. »In anderen Zeiten war das -101-
hier der Audienzsaal. Wie Ihr Euch vermutlich denken könnt, wird er heute nicht mehr oft benutzt.« Jander und der Graf gingen weiter. Sie passierten eine mit kunstvollen Schnitzereien versehene Tür und betraten einen kleinen Korridor. Zwei Rüstungen standen in fast verdeckten Nischen einsam Wache. Strahd blieb vor einer Nische stehen, machte mit seinen schlanken Fingern eine Bewegung, die Jander nicht ganz nachvollziehen konnte, und es entstand der Umriß einer Tür. Der Graf drückte leicht dagegen, und sie schwang auf. Jander versteifte sich. Die Gerüchte über Strahd entsprachen der Wahrheit. Der Herrscher über dieses Land war ein Magier. Der Elf schluckte seinen Widerwillen herunter und folgte Strahd gehorsam, als dieser ihn die nächste Treppe hinaufführte. Mittlerweile hatte Jander etwas die Orientierung verloren. Dieses Gebäude war ein Labyrinth. »Lebt Ihr allein, Strahd?« »O nein. Es gibt da ein paar Diener - zumindest könnte man sie so bezeichnen -, und die Dorfbewohner versorgen mich mit allem, was nötig ist oder was ich haben möchte. Sie sind recht fügsam, und wie bereits erwähnt haben die Zigeuner und ich eine Übereinkunft getroffen. Es ist gut, daß Ihr ihnen nichts angetan habt. Ich muß Euch zu Eurer Selbstbeherrschung gratulieren.« »Warum sollte ich ihnen etwas antun?« Strahd blieb abrupt stehen und drehte sich um. Er lächelte verschwörerisch, und seine roten Lippen gaben die weißen Zähne frei. Schockiert sah Jander, wie Strahds Eckzähne länger und spitzer wurden. »Der Durst kann sehr gebieterisch sein, nicht wahr, Jander Sonnenstern?« Der Elf starrte ihn fassungslos an. Kein Wunder, daß Strahd ihn hatte sehen wollen! Kein Wunder, daß die Menschen des belagerten Dorfes solche Angst hatten. Strahd erfreute sich an der Überraschung seines Gastes. Der Graf war offensichtlich zufrieden, daß er den impertinenten Elfen auf seinen Platz -102-
verwiesen hatte. Dann drehte er sich mit rauschendem Umhang um und ging weiter. Die Stufen endeten in einem großen Saal. Ein klaffendes Loch in der Decke ließ Mondlicht hineinströmen, das eine lange Reihe von Statuen beleuchtete. »Meine edlen Vorfahren«, sagte Strahd trocken. »Ich habe mein Bestes getan, sie in Wut zu versetzen, sie zu ignorieren oder mich ihnen entgegenzustellen. Ihr müßt wissen, daß einige von ihnen noch nicht ganz … in die andere Welt hinübergegangen sind.« Jander konnte sehen, daß einige der Statuen verzweifelt in die Welt zu blicken schienen, während andere die üblichen steinernen Gesichter hatten. Einer Statue fehlte der Kopf, und neugierig versuchte Jander, den Namen am Sockel zu entziffern. »Jander!« sagte Strahd gebieterisch, und der Elf beeilte sich, zu seinem Gastgeber aufzuschließen. Sie passierten noch einen kurzen Korridor, dann öffnete der Graf die Tür zu einem Raum, dem nur wenig von dem Verfall anzusehen war, der große Teile von Schloß Rabenhorst heimgesucht hatte. »Meine Bibliothek«, sagte Strahd mit mehr Wärme in der Stimme, als Jander bis jetzt von ihm gehörte hatte. Im Kamin brannte ein großes, heimeliges Feuer, dessen rötlicher Schein den Raum mit Licht und Wärme versorgte. Die Wände waren mit Hunderten von Büchern bedeckt, und Jander roch den Duft sorgfältig geölten Leders. Offensichtlich schätzte Strahd Literatur. Jander folgte dem anderen Vampir. Hier gab es keinen nackten Stein; der Fußboden wurde von einem wunderbaren Teppich bedeckt. Der Graf setzte sich auf einen der großen, scharlachrot gepolsterten Sessel und bedeutete Jander, ihm gegenüber Platz zu nehmen. »Bitte nehmt Platz. Das ist mein Lieblingszimmer. Ich habe viel Zeit zur Muße und zum Nachdenken.« Jander setzte sich gehorsam, und die beiden Männer schwiegen einen Augenblick lang und genossen die Gemütlichkeit des Raumes. -103-
»Ich habe gehört«, sagte Strahd schließlich, »daß Ihr gestern abend einen Vistani gerettet habt.« Jander nickte. »Ihr seid ein richtiger Wohltäter, was?« In Strahds wohlklingender Stimme schwang Verachtung mit. Jander fuhr zornig hoch. »Gibt es Elfenblut in Eurer Familie, Strahd?« fragte er abrupt. »Ihr habt spitze Ohren.« Strahd hob eine Hand, als wolle er ein Ohr berühren, dann faltete er bedachtsam die Hände. »Eigentlich nicht«, gab er zu, »obwohl ich gelegentlich dieses Gerücht verbreite.« Seine Augen verengten sich, und als er weitersprach, tat er es mit einer lässigen, aber dennoch unmißverständlichen Bedachtsamkeit. »Keiner kennt meine wahre Natur, von meinen Sklavinnen und ein paar der Vistani einmal abgesehen, ich hätte gern, daß es so bleibt, und ich wäre sehr ungehalten, wenn ich erfahren müßte, daß jemand mein Geheimnis enthüllt hat. Ich habe beschlossen, Euch ins Vertrauen zu ziehen, weil ich der Meinung bin, daß wir voneinander lernen können.« Also kommen wir zum wahren Grund dieser Einladung, dachte Jander. Die ganze übertrieben höfliche Konversation und die umständliche Führung durch das Schloß waren nur die erste Runde in einem kaum verhüllten Test gewesen, und nun wurde es ernst. Jander schlug die Beine übereinander und machte es sich bequem. Er hielt Strahds Blick stand. »Geheimnisse sind etwas Unberechenbares«, sagte er. »In den falschen Händen werden sie zu guten Handelsobjekten.« »Ich hoffe«, sagte Strahd langsam, und diesmal war die Drohung unmißverständlich, »daß dieses Geheimnis in Euren Händen bewahrt wird.« Jander gestattete sich ein Lächeln. »Nehmen wir einmal an, es ist nicht so. Nehmen wir an, ich würde aufdecken, daß Ihr in Wahrheit zu den Untoten gehört. Wir ›Akara‹ sind keine besonders gesellschaftsfähige Gruppe. Was würdet Ihr mit mir machen?« -104-
Strahd ließ alle vorgetäuschte Höflichkeit fallen, und das rote Funkeln, das sich in den Tiefen seines Blickes verbarg, leuchtete auf. »Ich würde Euch vernichten.« »Und wie soll das vor sich gehen? Wollt Ihr mich zu Eurem Sklaven machen?« Jander beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ich bin nicht hier, um mich Euch entgegenzustellen. Ganz im Gegenteil. Ich stimme Euch zu, daß wir viel von unserem Wissen austauschen könnten, und ich hoffe, daß wir Verbündete werden. Ich bin weder ein Bauerntrottel, noch gehöre ich zu Euren fügsamen Untertanen. Ihr seid zwar der Herrscher dieses Landes…« »Ich bin das Land!« Die tiefe Stimme hatte sich zu einem Donnern gesteigert, und Strahds Augen blitzten wütend rot auf. Jander fragte sich, ob er zu weit gegangen war, ob Strahd etwa über eine geheimnisvolle Macht verfügte, die ihn vernichten konnte. »Ich bin Barovia!« tobte Strahd. »Es hat mir die Macht verliehen, und ich gebe ihm, was es verlangt.« Seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. »Ich bin der Erste Vampir. Im Gegensatz zu Euch und allen anderen Untoten brauche ich keine Einladung, um ein Gebäude betreten zu können. Hier ist jedes Haus mein Haus. Alle Geschöpfe unterstehen meiner Macht, und ich kann mit ihnen verfahren, wie ich will.« Er sank in den Sessel zurück, und seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. Jander hörte, wie Krallen über den Steinboden kratzten, und drei große Wölfe trabten in die Bibliothek. Sie hechelten freudig und rollten sich zu Strahds Füßen zusammen. »Das sind meine Kinder«, sagte der Graf stolz. »Sie gehorchen jeder meiner Launen.« Ein Wolf erhob sich, und seine Haltung war angespannt und aufmerksam. Er bewegte sich steif zu dem steinernen Kamin, legte sich dort auf den Rücken und entblößte seine Kehle. Er -105-
wimmerte, und Jander konnte seine Furcht riechen. Ein zweiter Wolf kam mit den gleichen ungelenken Bewegungen auf die Pfoten. Er schlich zu seinem Gefährten hinüber und verbiß sich plötzlich tief in dessen Kehle. Das aufspritzende Blut befleckte die Tiere und den Kamin. Der Wolf bäumte sich auf und trat wild um sich, doch sein Gegner biß einfach stärker zu. Das Tier zuckte und starb. Sein Mörder ließ los und leckte sich die Schnauze. Mit tief gesenkten Kopf kroch er auf dem Bauch zu seinem Herrn. Strahd strichelte ihm müßig über den Kopf. Der dritte Wolf hatte sich, zusammengekrümmt und zitterte. Jander machte Anstalten, protestierend aufzustehen, nur etwas in Strahds Blick hielt ihn davon ab. Der selbsternannte »Erste Vampir« hatte ihn durch seine Tat herausgefordert, Schwäche zu zeigen und gegen das sinnlose Abschlachten des Tieres zu protestieren. Jander ließ sich wieder in die Polster sinken, wobei er keinen Augenblick den Blickkontakt abbrach. Die gleichgültige Grausamkeit des Grafen hatte den tierliebenden Elfen tatsächlich in Wut versetzt, aber es gab eine bessere Methode, sie zu zeigen. Er fixierte die beiden überlebenden Wölfe und berührte dann sanft das Bewußtsein des Tieres, das gerade getötet hatte. Schlafe. Die graue Bestie schloß die Augen und gehorchte, rollte sich zusammen und schlief schnell ein. Dann übermittelte Jander dem anderen Tier, einer Wölfin, beruhigende und beherrschte Gedanken. Komm, meine Freundin. Komm zu mir. Sie stieß ein leises Bellen aus und spitzte die Ohren. Dann näherte sie sich Jander mit einem seltsamen Geräusch, einer Mischung aus einem Knurren und einem Wimmern. Das Tier unternahm den lächerlichen Versuch, auf seinen Schoß zu kriechen, und er lächelte leicht, als er sie sanft zurückstieß. Die Wölfin legte sich zu seinen Füßen nieder und blickte ihn bewundernd an, dazu bereit, jede nur erdenkliche Laune ihres neuen Herrn zu erfüllen. Der Elf tätschelte ihren Kopf. Er blickte zum Grafen hinüber -106-
und gestattete sich ein Lächeln. Strahd war zornig, das konnte er sehen, doch das kalte Gesicht verriet auch Bewunderung. »Beeindruckend«, sagte der Graf grollend. »Wirklich sehr beeindruckend. Die Wölfe haben immer nur allein meinem Ruf gehorcht. Es ist offensichtlich, daß der Beherrscher dieses Landes etwas von dem Besucher lernen kann.« Er nickte andeutungsweise. Eine subtile Veränderung war eingetreten. Irgendwie wußte Jander, daß Strahd ihn gerade neu eingeschätzt hatte. Er hoffte, daß das gut für ihn war. »Das war ja auch der eigentliche Grund, warum ich Euch heute abend zu mir eingeladen habe«, fuhr der Graf fort. »Das habe ich mir gedacht.« Diese Bemerkung sollte ein Test sein. Strahd runzelte leicht die Stirn und rümpfe die Habichtsnase, doch er reagierte nicht auf die Herausforderung. »Eva hat mir gesagt, daß Eure Welt Toril heißt«, sagte er dann. »Ich interessiere mich sehr für fremde Länder. Ich würde gern Eure Geschichte hören.« Für den Moment war die Gefahr gemeistert. Jander entspannte sich etwas. »Bevor ich die Fragen beantworte, möchte ich gern selbst ein paar stellen.« Strahd winkte gönnerhaft mit der Hand und machte klar, daß Jander fortfahren sollte. »Gab es in diesem Land eine Frau namens Anna?« Strahd lächelte. »Das ist ein weit verbreiteter Name. Ihr müßt schon etwas präziser sein.« Jander bemerkte, daß er nun, wo er damit angefangen hatte, einen heftigen Widerwillen verspürte, die Einzelheiten zu erzählen. Irgendwie erschien es obszön, Annas Zustand einem Fremden zu enthüllen, doch er unterdrückte diese Gefühle. Das hier war seine einzige Möglichkeit, die Antworten zu finden, die er so verzweifelt suchte. »Sie war wahnsinnig«, sagte er leise. »Sie war hochgewachsen und braungebrannt; sie hatte langes, rotbraunes Haar. Sie war sehr schön. Ich hielt sie für das Opfer -107-
einer bösen Magie. Ihr müßt wissen, daß ich sie viele Jahre lang kannte, und sie nicht älter wurde.« Strahd schüttelte den Kopf. »Bedauerlicherweise fällt mir niemand ein, auf den diese Beschreibung zutrifft. Das muß nicht unbedingt bedeuten, daß so eine Person nicht im Dorf gelebt hat. Das trifft auch für Vallaki zu, ein Fischerdorf in der Nähe. Wahnsinn ist hier nicht ungewöhnlich. Was die Magie angeht, bin ich meines Wissens nach der einzige, der in Barovia diese Kunst ausübt. Und Jander, mein Freund, ich habe nie eine Frau namens Anna mit einem Zauber belegt. Ich gebe Euch mein Wort.« Seine Stimme klang vollkommen ehrlich, und Jander glaubte ihm, wie er zu seiner eigenen Verblüffung feststellte. »Ich weiß, wie das ist, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat - diesen bitteren Kelch habe ich mehr als einmal geleert.« Plötzlich sah Strahd müde aus. Janders Hoffnungen schwanden dahin. Irgendwie hatte er angenommen, daß Strahd über Anna Bescheid wußte und ihm sagen konnte, wer den Willen der schönen, jungen Frau gebrochen hatte. Vielleicht war er ja zu voreilig gewesen, »Sonst noch Fragen?« Man konnte aus Strahds Tonfall die Hoffnung heraushören, daß das nicht der Fall war, doch Jander bedrängte ihn weiter. »Wie kann ich mehr über sie herausfinden?« »Ihr könnt gern die Bücher meiner Bibliothek benutzen«, bot Strahd an und machte eine weitschweifige Geste. »Allerdings befinden sich alle anderen Aufzeichnungen in der alten Kirche unten im Dorf, und ich bezweifle, daß Ihr Euch dort hinbegeben werdet.« Strahd hatte wieder zu der vertrauten Herrschsüchtigkeit zurückgefunden und lächelte Jander verschlagen an. Jander mußte ebenfalls lächeln, doch bei ihm schwang eine gewisse Traurigkeit mit. »Ihr habt recht. Eben habt Ihr einen Ort namens Vallaki erwähnt. Wo ist das? Was für Menschen leben dort? Was für Aufzeichnungen haben sie …« -108-
Strahd runzelte die Stirn und machte eine ungeduldige Geste. »Das kann ich Euch natürlich alles sagen, doch müßt Ihr Euer kleines Rätsel unbedingt noch in dieser Nacht lösen?« Da hatte Strahd durchaus recht, und Jander konnte sehen, daß der Graf schnell das Interesse verlor. »Das stimmt. So sehr wie ich mich für dieses Land interessiere, interessiert Ihr Euch sicher für mich. Meine Ankunft in Barovia ist ein Rätsel. Einer der Vistani hat gesagt, daß mich der Nebel hergebracht hat.« »Ah, der Nebel, der Nebel«, sagte Strahd nachdenklich und blickte ins Feuer. »Wie es scheint, hat er schon viele geholt. Vor Jahren ist er meinetwegen gekommen - sogar wegen meines ganzen Reiches. Damals wurde ich zu dem, den Ihr seht.« Er lächelte und enthüllte die langen weißen Reißzähne - er hatte sich nicht die Mühe ge macht, sie wieder verschwinden zu lassen. »Ein Geschenk der Mächte dieses Landes - das ewige Leben.« Der Elf nahm an, daß Strahd in gewisser Weise recht hatte. Jander hatte sich im Gegensatz zu den Menschen nie nach einem »ewigen Leben« gesehnt. Elfen hatten eine Lebenserwartung von mehreren Jahrhunderten. Vermutlich gab es aus diesem Grund nur wenige untote Elfen. Ihrem Wesen nach waren sie nicht sonderlich für diese Art von Existenz geeignet; Elfen neigten nicht zu diesem verzweifelten Verlangen nach Dingen, die ihnen das Schicksal verweigerte. Als Jander zum Vampir wurde, hätte er es vorgezogen, von eigener Hand zu sterben statt in seinem jetzigen Zustand weiterexistieren zu müssen, doch die Legende vom Roten Tod verwehrte ihm diesen einfachen Ausweg. Diese dunkle Wendung seiner Gedanken bereitete ihm Unbehagen, darum wechselte er das Thema. »Ihr sprecht von Barovia, als würde es sich um ein lebendiges Wesen handeln. Auch die Vistani haben von der Macht des Landes gesprochen. Was genau ist Barovia? Warum schickt es den Nebel aus, um Leute herzuholen?« -109-
Strahd antwortete nicht sofort. Er stand auf, ging zum Feuer und legte eine Hand auf den verzierten Kaminsims. »Ich werde Eure Fragen später beantworten. Schließlich haben wir alle Zeit der Welt, nicht wahr?« fügte er mit einem grimmigen Lächeln hinzu. Er schwieg einen Augenblick lang. »Ich möchte jetzt speisen. Habt Ihr Lust, Euch mir anzuschließen? Es wird in Barovia ständig schwieriger, nach Einbruch der Nacht jemanden zu finden, der sich draußen aufhält. Ich halte immer einen Vorrat bereit.« Jander zuckte innerlich zusammen. Er stellte sich einen Kerker voller halbtoter Menschen vor, die wie Vieh gehalten wurden, um dem Herrscher, der über eine düstere Eleganz verfügte, als Nahrung zu dienen. Doch hatte er überhaupt das Recht, so ein Verhalten zu verurteilen, wo er selbst jahrelang vom Blut der Wahnsinnigen gelebt hatte? »Nein, danke. Ich ziehe das Blut von Tieren vor, bis ich mich mehr mit der Gegend vertraut gemacht habe.« Strahd lachte schallend. Es war ein furchteinflößendes Geräusch, und Jander wartete geduldig, bis es vorbei war. »Ah, Jander, wenn ich Euch so nennen darf, Ihr könnt hier nicht von Tierblut leben.« »Ihr vielleicht nicht, Euer Exzellenz, doch ich schon. Es tut mir leid, falls Euch das stören sollte.« »Nein, nein, es amüsiert mich. Der Wald steht zu Eurer Verfügung, doch ich glaube kaum, daß die Tiere des SvalitschWaldes Euren Durst stillen werden. Ihr werdet sie kaum … angemessen finden. Vielleicht werde ich Euch aufsuchen, wenn Ihr zurück seid. Jander, ich bin hier der Herrscher«, sagte Strahd barsch. »Ihr seid mein Gast, solange Ihr es wünscht.« »Und falls ich Euch sage ›Vielen Dank, Euer Exzellenz, doch ich möchte noch heute abend gehen‹?« »Darauf würde ich erwidern: ›Niemand hält Euch hier fest. Doch Eure Fragen würden unbeantwortet bleiben‹.« -110-
Nun mußte Jander schallend lachen, und sogar Strahds Lächeln war etwas wärmer als gewöhnlich. »Graf, meine Neugier ist die beste Kette, die es auf der Welt gibt. Ich danke Euch. Ich nehme Eure Gastfreundschaft an.« »Was benötigt Ihr für Eure Ruhe? Unter uns gibt es verschiedene Grüfte, und Ihr könnt gern …« »Nein danke. Ich brauche nur wenig Schlaf und keinen Sarg. Mit Eurer Erlaubnis würde ich mich während der Stunden des Tageslichts über gern frei im Schloß bewegen dürfen. Solange ich mich vor der Sonne schütze, wird mir nichts passieren.« Jander bemerkte mit einem Anflug von Selbstgefälligkeit, daß er Strahd damit völlig überrascht hatte. Einen Augenblick lang verrieten die dunklen Augen Erschütterung. Der Graf hatte sich schnell wieder gefangen, doch Jander wußte, daß er wieder etwas in der Achtung des liebenswürdigen Herrn von Schloß Rabenhorst gestiegen war. »Mein Haus soll Euer Haus sein, mit einer Ausnahme«, sagte der Graf, streckte einen lange n, dünnen Finger aus und zeigte auf eine Holztür am anderen Ende des Raumes. »Dort ist Euch der Eintritt verwehrt. Was ich dort verberge, ist meine Sache, Solltet Ihr den Versuch unternehmen, gegen meinen Willen zu handeln, werdet Ihr die Tür magisch versiegelt vorfinden. Ich bitte Euch, meinen Wunsch zu respektieren.« Jander war neugierig, doch er hatte natürlich kein Recht, weiter in das Thema zu dringen. Wenn der Graf ein Zimmer haben wollte, das nur für ihn zugänglich war, so war das seine Sache. Schließlich hatte er ein Recht auf seine Privatsphäre. »Selbstverständlich.« »Dann wünsche ich Euch eine gute Nacht - und eine gute Jagd.« Jander bewegte sich langsam und so leise wie ein Wolf über den Wildpfad, auf den er im Wald gestoßen war. Seine Nachtsicht und das durch die Blätter gefilterte Mondlicht -111-
verwandelten die Umgebung in einen lebendigen Teppich, der aus Schatten und wehendem Bodennebel bestand. Um ihn herum ertönten die leisen Geräusche und Bewegungen des Lebens und der kaum wahrnehmbare Geruch warmen Blutes. Über seinem Kopf huschte ein Eichhörnchen einen Ast entlang und sprang mit waghalsiger Anmut auf einen benachbarten Baum hinüber. Eine graue Füchsin, deren Fell durch die Schatten gescheckt aussah, erstarrte einen Meter vor ihm in einer Insel aus Mondlicht. Die beiden Jäger sahen sich einen Moment lang an. Dann verschwand die Füchsin im Unterholz und überließ Jander ihr beabsichtigtes Opfer. Da ist es, dachte Jander, als er mit Hilfe seiner Nachtsicht die Wärme des großen, braunen Hasen erspähte, der zwischen den Wurzeln und unter den tiefhängenden Zweigen einer prächtigen Eibe hockte. Der Elf beruhigte das Tier ganz langsam mit der gleichen Willensanstrengung, mit der er schon den Wölfen befohlen hatte. Der Fuchs ist fort, und alles ist sicher. Es war ganz still. Nur der Wind wehte sacht über den unebenen Waldboden und versetzte die vertrockneten, abgefallenen braunen Blätter in Bewegung und ließ die Tannennadeln rascheln. Der Hase zuckte kaum merklich zusammen, als sich die langfingerigen, starken Hände um seine Ohren und Unterläufe schlossen. Die Zähne, die seine Kehle aufrissen, waren spitzer als die Reißzähne des Fuchses. Der Hunger setzte sich gegenüber dem seltsamen Geschmack des Blutes durch, und Jander schluckte gierig. Er warf den ausgesaugten Kadaver zu der Stelle hinüber, an der die Füchsin verschwunden war, und runzelte die Stirn, als er sich den Mund abwischte. Das Hasenblut hatte einen scharfen Beigeschmack gehabt, eine Art rauchiger Süße. Plötzlich geriet sein Magen in Aufruhr, und ihm wurde -112-
schwindelig. Seine Knie gaben nach; er fiel auf alle viere und erbrach das Blut, das er gerade getrunken hatte, bis nichts mehr übrig war. Zitternd setzte er sich. Der Hase war krank gewesen, das war alles, und er würde sich einfach ein neues Opfer suchen müssen. Diesmal befahl Jander einen Hirsch zu sich. Die gesunde Hirschkuh fixierte ihn mit traurigen braunen Augen, als er ihren Lebenssaft aussaugte. Es schmeckte erneut widerwärtig, und wieder wollte das Blut nicht unten bleiben. Jander konnte es nicht verstehen. Obwohl er gelegentlich menschliches Blut brauchte, hatte er sich in Tiefwasser jahrelang nur von Tieren ernährt. Vom Augenblick seiner Ankunft hatte er gespürt, daß an diesem Land etwas nicht stimmte. Vielleicht hatte ihn der Nebel irge ndwie verändert, so daß er kein Tierblut mehr vertragen konnte. Es war die einzige Erklärung, die ihm einfiel, obwohl sie jeder Logik entbehrte. Strahd hatte es gewußt und einen halbherzigen Versuch unternommen, ihn zu warnen. Der Herr von Rabenhorst hatte ihm zwar den Sieg über die Wölfe zugestanden, doch vermutlich hatte er sich gleichzeitig an dem Wissen vergnügt, daß sich der Elf hilflos erbrechen würde, nachdem er das unverdauliche Blut zu sich genommen hatte. Nun stand es im Machtkampf mit Strahd wieder unentschieden. So sehr Jander die Vorstellung auch verabscheute, würde er in Barovia menschliches Blut finden müssen, wenn er überleben wollte. Der goldhäutige Vampir verbrachte die nächsten vier Stunden mit der ergebnislosen Suche nach unvorsichtigen Menschen. Er nahm Wolfsgestalt an und lief viele Meilen; seine angespannten Sinne hielten nach potentiellen Opfern Ausschau. Ein paarmal stieß er auf einige von Strahds Sklavinnen: scharfgesichtige Vampirinnen, die ihn mit verzerrten Gesichtern anfauchten, bevor er sich in eine Fledermaus verwandelte. Er -113-
spielte mit der Idee, das Zigeunerlager anzugreifen, doch dann ließ er den Gedanken sofort fallen. Die Vistani waren gerissener als die Dorfbewohner, und obwohl Jander stets sehr elegant vorging, würden den aufmerksamen Zigeunern die kleinen Wunden nicht entgehen. Außerdem war Jander im Augenblick Strahds »Gast«, und eine Verletzung der Abmachung würde den Grafen mit Sicherheit verärgern. In den Wäldern waren keine Menschen aufzuspüren, und ein schneller Rund gang durch das Dorf erbrachte nur den Beweis, daß sich die Barovianer in der Sicherheit ihrer Häuser verbargen. Jander wechselte hungrig, müde und frustriert von der Wolfs- in die Fledermausgestalt und flog zum Schloß. Der Vampir würde Strahds Einladung annehmen müssen, so widerwärtig ihm diese Vorstellung auch war. Jander landete auf dem Laufgang, der fast das ganze Schloß umgab. Er verwandelte sich zuerst in Nebel, aus dem dann seine Elfengestalt hervorging, und suchte den Weg zu Strahds Bibliothek. Das Gemäuer gefiel ihm, obwohl er stets offene Flächen engen Räumen vorgezogen hatte. Doch die Bibliothek schien etwas weniger einsam als die anderen Teile des Schlosses zu sein, und in diesem Augenblick hatte Jander keine Lust, an seine Einsamkeit erinnert zu werden. Als er den Raum betrat, roch er einen süßen, quälenden Duft. Menschenblut. Mit stechendem Hunger folgte der Vampir dem Geruch durch die Doppeltür. Neben der Bibliothek befand sich ein geräumiges und verschwenderisch ausgestattetes herkömmliches Schlafzimmer. Das mit dicken, roten Samtvorhängen bedeckte, einzige Fenster stand nun geöffnet, um das flüssige Mondlicht hineinzulassen. Es verlieh dem Raum einen silbrigen Schimmer und verstärkte das matte Glänzen der kunstvollen, mit Patina bedeckten Kandelaber. Außerdem enthüllte das Licht kunstvoll geschreinerte Tische und andere Möbel. Das Bett war zweifellos einmal ein luxuriöser Traum gewesen; jetzt war das kostbare -114-
Leinen verrottet und der Baldachin von Motten zerfressen. Doch Jander nahm die Einrichtung kaum wahr. Er starrte traurig auf die Gestalt, die das Mondlicht in ein schlankes, junges Gespenst verwandelt hatte. Sie stand vor dem Fenster und blickte verlangend auf die dunkle Landschaft. Eine Träne, die im Mondlicht wie eine Perle auf Alabaster aussah, rann über ihre Wange. Die junge Frau schien verängstigt zu sein. Jander näherte sich ihr verstohlen, und zuerst nahm sie seine Gegenwart nicht wahr. Er sah zu, wie sie sich vom Fenster abwandte und sich aufs Bett setzte. Sie war eine verlockende Mischung aus Mädchen und Frau. Der Schwung ihrer Hüften und Brüste verriet eindeutig, daß sie erwachsen war. Doch ihr bleiches, rundes Gesicht war das eines Kindes; große, angsterfüllte Augen waren mit langen, dunklen Wimpern versehen. Die Röte ihrer Wangen und die kirschähnliche Tönung ihres süßen Mundes entfachten Janders Blutdurst. »Meine Dame«, sagte er. Sie keuchte und wich zurück. Instinktiv versuchte sie sich zu bedecken, doch dann senkte sie die Bettdecke mit einer bewußten Anstrengung. Sie war nur mit einem dünnen Hemdchen bekleidet. Sie holte tief Luft, nahm all ihren Mut zusammen. »Seine Exzellenz, Graf Strahd von Zarovitsch, hat mich geschickt, damit ich Euch zu Diensten bin«, sagte sie mit einer jungen, süßen Stimme. »Ich soll Euch sagen, daß ich hier« - sie legte einen Finger an die Kehle - »und hier« sie bedeckte den sanften Hügel in ihrem Schoß mit den Händen - »noch unberührt bin.« Ihre Wangen röteten sich, und sie senkte den Blick; das lange schwarze Haar fiel ihr ins Gesicht und machte es unkenntlich. »Das ist das Geschenk meines Herrn an seinen neuen Freund.« Die liebliche Stimme zitterte. Janders Lust bekam einen bitteren Beigeschmack. Fr wußte, daß die meisten Vampire an ihren wehrlosen Opfern eine -115-
Vielzahl von Gelüsten stillten. Strahd bereitete es offen sichtlich Vergnügen, mit seinen Opfern zu spielen, doch Jan der verabscheute diese Praxis. Es war schon schlimm genug, die Unschuldigen ihres Blutes zu berauben; man mußte sich nicht auch noch an ihren Seelen und ihren Körpern vergehen. Er verspürte den verzweifelten Wunsch, diese junge Frau zurück in die Sicherheit ihrer Familie zu bringen, doch sein Oberkiefer schmerzte, und die Fangzähne wuchsen, durch den süßen Blutduft angeregt, bereits zu ihrer vollen Länge heran. Der Hunger peinigte ihn, und wie immer kapitulierte sein Gewissen vor dem unnachgiebigen Verlangen, sich an dem roten, lebensbringende Saft zu stärken. Er ließ sich auf dem Bett nieder und klopfte auf die Stelle neben ihm. »Wie heißt du, Kleines?« sagte er bewußt leise. »Natascha«, erwiderte sie und wich noch immer seinem Blick aus. »Komm her, Natascha«, bat er sie sanft. Sie kroch neben ihn, und der Duft ihres Blutes wurde von dem metallischen Geruch ihrer Angst überlagert. Er strich ihr zärtlich und mit großer Trauer das Haar aus der Stirn. Sie schloß die Augen und zitterte unkontrolliert. »Wie hat Strahd geschafft, daß du gekommen bist?« Natascha befeuchtete sich die Lippen. »Er hat seine Kutsche ins Dorf geschickt«, erwiderte sie. »Er kannte mich und hat meinem Vater befohlen, mich zu schicken. Wir müssen unserem Herrn in allen Dingen gehorchen.« »Weißt du, warum er wollte, daß du herkommst?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich zerbrach ihre Selbstbeherrschung, »ja! Ihr Götter, bitte, bitte tut mir nichts! Laßt mich nach Hause gehen! Ich werde tun, was Ihr verlangt, doch macht mich nicht zu Euresgleichen, bitte, bitte…« »Du armes Kind«, murmelte er. »Sieh mich an, Natascha.« -116-
Sein ruhiger Befehl durchdrang ihre Hysterie, und sie erwiderte seinen hypnotischen silberfarbenen Blick. »Nun fürchtest du dich nicht mehr, oder?« »Nein«, sagte sie und verlor sich in seinem Blick. »Gut. Vertraust du mir, Natascha? Glaubst du mir, daß ich dir keinen größeren Schmerz als unbedingt nötig zufügen werde?« Natascha nickte. Jander nahm ihr bleiches Gesicht in die goldfarbenen Hände und drückte ihren Kopf zur Seite. Nun war die Halsschlagader entblößt, und sie schlug rhythmisch in dem silbrigen Licht, das den Raum durchflutete. Er entblößte seine Reißzähne und versenkte sie in der einladenden Haut ihres Halses. Sobald sein Körper das Blut schmeckte, übernahm er die Kontrolle. Jander trank lange; er vergaß die reine Unschuld der jungen Frau und nahm nur die durchdringende Hitze und die Erstärkung seiner Kräfte wahr, die ihr Blut ihm gewährte. Es kostete ihn eine gewaltige Selbstbeherrschung, sie nicht leerzusaugen. Er leckte die klebrige Flüssigkeit von den Lippen und legte das Mädchen dabei auf die Kissen. Sie atmete nur noch flach und war fürchterlich blaß, aber sie lebte noch. Er erhob sich und ging zum Fenster. Plötzlich flatterte ein Schwarm Fledermäuse durch die Luft, und der Vollmond, der bald abnehmen würde, sorgte für einen gespenstischen weißen Hintergrund. Jander betrachtete die aus dunkelgrünen und purpurroten Farbtönen bestehende Landschaft, schloß die Fensterläden und vergewisserte sich, daß sie sicher verschlossen waren. Nachdenklich setzte er sich wieder aufs Bett. In Tiefwasser hatte ein Hase ausgereicht, um seinen Hunger für eine Nacht zu stillen. Nun hatte er deswegen fast eine junge Frau getötete. Jander hatte sich dem auf ihm liegenden Fluch jahrhundertelang entziehen können - der Jagd nach dem Blut der Menschen. Auf seine ihm eigene Weise hatte er sich diesem Trieb verweigert -117-
und so getan, als wäre er, indem er sich hauptsächlich von Tieren ernährte und Menschen nur soviel Blut entzog, wie es eben nötig war, weniger böse als andere Vampire. Nun konnte er nicht länger vor sich weglaufen und verspürte Ekel vor sich selbst. Selbst diese schreckliche Empfindung änderte nichts an seinem unstillbaren Hunger. Dieses Wissen ruhte schwer in seinem Herzen, und er vergrub mit einem tiefen, sehr menschlichen Seufzer das Gesicht in den Händen. »Anna«, stöhnte er leise, »Anna, ich vermisse dich so sehr.« »Tatsächlich?« Die Sonne stand hoch am Himmel, und Jander lag ausgestreckt auf dem Bett. Er schaute auf, um zu sehen, wer da gesprochen hatte, und erblickte Anna, die ihn liebevoll ansah. Sie hatte die gebräunten Hände in die Hüfte gestemmt und das kastanienbraune Haar, dem die Sonne einen rötlichen Schimmer verlieh, fiel ihr über den Rücken. Ihre Augen waren von einer warmherzigen Heiterkeit erfüllt. »Vermißt du mich wirklich?« fragte sie ihn erneut. Jander war sich seines Traumzustandes bewußt, trotzdem mußte er antworten. »Mehr als das Leben, Geliebte.« Da kam sie zu ihm und hüllte ihn in die Wärme ihrer Umarmung ein. Er roch den angenehmen Duft von Seife und Sonne auf ihrer Haut. Anna ging zum Fenster und öffnete mit einer übertriebenen Geste die Fensterläden. Das herrliche Sonnenlicht drang herein und schlug wie eine Woge über Jander zusammen. So wirklich, dachte er im stillen, auf so schöne Weise wirklich. Er bemerkte, daß die heruntergekommenen Zimmer nun wie durch Zauber hell und fröhlich, die Möbel poliert und die Bilder in gutem Zustand waren. Die beiden Liebenden gingen Hand in -118-
Hand die Treppen hinunter und blieben gelegentlich stehen, um einen Blick in die Zimmer zu werfen, die beredt von der liebevollen Sorgfalt kündeten, die ihne n zuteil geworden war. Draußen wurden sie von zwei prächtigen, schneeweißen Pferden erwartet. Als Jander sich einem der Tiere näherte, stupste es ihn voller Zuneigung an. Der Elf entdeckte, daß er einen Apfel in der Hand hielt, und gab ihn dem Tier, das ihn dankbar fraß. Jander und Anna saßen auf und galoppierten durch den schönen, spätherbstlichen Nachmittag. Er blickte über die Schulter, und Schloß Rabenhorst erschien ihm als ein prächtiges Zuhause; es war der Sitz einer großen und edlen Familie. Einige selige Stunden später tränkten sie ihre durstigen Reittiere am Tser-Teich. Während die Tiere tranken, lagen Jander und Anna zusammen unter einem großen Baum, rochen den Duft des frischen Erdreiches und genossen die von den Blättern gefilterte Sonne. Jander lauschte der Melodie des plätschernden Wassers und der zwitschernden Vögel. »Warum besuchst du mich auf diese Weise?« fragte er dann. Sie hatte den Kopf auf seine Brust gelegt und drehte den Kopf, um ihn ansehen zu können. Sie blickte ihn nachdenklich an. »Möchtest du, daß ich damit aufhöre?« »Nein! Nur handelt es sich hierbei nicht um die Wirklichkeit.« »Wer bestimmt, was wirklich und was eine Illusion ist? Wir sind zusammen. Reicht das nicht? Außerdem möchte ich nicht, daß du mich vergißt«, neckte sie ihn. Er nahm ihre Hand an die Lippen und küßte jede Fingerspitze. »Das wird nie passieren.« »Und doch hast du es. Du kennst den Ort, an dem deine Suche beginnen muß, doch du hast es nicht getan. Jander, mein Geliebter, räche mich.« Sie hatte sich verändert; ihre bezaubernden Augen waren mit Tränen gefüllt. »Räche mich für all das, was wir wegen meines Wahnsinns verloren haben. … -119-
Räche mich!« Jander erwachte mit einem Ruck und völlig desorientiert aus dem Traum. Ihm war unangenehm warm, außerdem erfüllte ihn eine leichte Übelkeit. Nachdem er Nataschas Blut getrunken hatte, war er in dem Schlafzimmer eingeschlafen. Die fest verschlossenen Fensterläden verwehrten dem tödlichen Sonnenlicht zwar den Eintritt, dennoch drang genug Helligkeit durch, um ihm Unbehagen zu bereiten. Jander verfügte wieder über seine geschärften Sinne, und die Tatsache, daß er sich wieder in seiner düsteren Wirklichkeit befand, ließ ihn gequält die Augen schließen. Der Elf vergewisserte sich, daß Natascha friedlich schlief, dann ging er in die Bibliothek, um sich eingehend mit Strahds umfassender Büchersammlung zu beschäftigen. Die ungeheure Anzahl der vorhandenen Bücher war entmutigend. Jander hatte jahrelang wie ein Einsiedler in der Höhle gelebt und sich sonst viel unter den Wahnsinnigen aufgehalten, von deren Blut er sich ernährt hatte. Nun kam er sich an einem Ort, an dem dermaßen viel Literatur und Geschichte zu finden war, fehl am Platz vor. Die Bücher waren so schön. Jander nahm sich einen Augenblick Zeit, die Prägung der Ledereinbände zu bewundern. Einige waren mit einem Wappen versehen, vermutlich das des Grafen ein großer schwarzer Rabe. Doch nicht alle trugen dieses Symbol. Ein anderes war ebenfalls häufiger vertreten und zeigte die verblüffend schöne Darstellung einer riesigen aufgehenden Sonne. »Nun, fangen wir einfach am Anfang an«, murmelte Jander, suchte sich ein Regal aus und las langsam die Titel. Die Wappen derer von Zarovitsch. Haut und Stahl: Eine Geschichte der Ba'al Verzi. Legenden aus dem Kreis. Geschichten der Nacht. Die Kunst des Kalimar Kandru. Barovia: Vom Jahr 15 bis zur Gegenwart. Jander war von der Mannigfaltigkeit entzückt und holte eine Handvoll Bücher aus dem Regal. Beladen errichtete er neben -120-
einem der Sessel einen hohen Stapel und nahm den erstbesten Band. Haut und Stahl: Eine Geschichte der Ba'al Verzi. Den Umschlag zierte ein blutiger Totenschädel. Der Elf runzelte die Stirn. Er bezweifelte, hier einen Hinweis auf Anna zu finden. Doch andererseits, warum nicht? Er schlug den Band auf, atmete den staubigen Duft des alten Buches ein und fing an zu lesen. In diesen zivilisierten Zeiten, schrieb der seit langem nicht mehr unter den Lebenden weilende Autor, können wir uns nur schwer die Art von Gesellschaft vorstellen, in der Meuchelmörder einen offenen und blühenden Teil der Gemeinschaft darstellen. Im turbulenten achten Jahrhundert unseres Landes war der gesellschaftliche Stand eines Meuchelmörders oder Ba'al Verzi mit dem eines Politikers oder eines angesehenen Künstlers vergleichbar. Man konnte seinen Preis bestimmen und tat es auch; oft zahlten Individuen große Summen für Schutz. Die Ba'al Verzi trugen farbenprächtige und schmückende Kleidung, auf der ihr Symbol - der blutende Totenschädel abgebildet war. Ihre Waffe war eine Klinge von großer Schönheit und hatte eine furchteinflößende Herkunft. Denn der Griff war mit der Haut des allerersten Opfers eines Ba'al Verzi umwickelt und wurde von dem Meuchelmörder selbst hergestellt. Dieses erste Mordopfer mußte eine Person sein, die dem Ba'al Verzi persönlich bekannt war. Das wurde von der Tradition so verlangt, um alle bis auf die Mutigsten davon abzuschrecken, die Geheimnisse der Ba'al Verzi zu lernen und sich ihren Schutz zu verdienen… Jander durchlief ein Schauder, und beinahe hätte er das Buch auf den vom Teppich bedeckten Boden geworfen. Er griff nach dem nächsten Band mit dem Titel Worte der Weisheit und vertiefte sich darin, um das Bild des Ba'al- Verzi- Dolches aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Die Taktik hatte Erfolg, hier handelte es sich um eine Sammlung he iliger Dichtung für einen seit langem vergessenen Gott. -121-
Denn Sonne und Mond sind mein, wie auch Liebe und Licht; denn Morgen und Mittag sind mein, wie auch Tag und Nacht. Hört mich an, Töchter und Söhne: Vernehmt die Weisheit der Ströme. Lauscht dem Gelächter des Flusses: Dem Frieden und der Freude seines Genusses. Die ziemlich einfachen Gedichte gaben dem Elfen keinen Hinweis auf das Schicksal, das seine geliebte Anna erlitten hatte. Allerdings nahmen sie ihm die Anspannung und erinnerten ihn daran, daß es in diesem düsteren Land, in das ihn der tückische Nebel verschlagen hatte, trotz allem etwas Schönes gab. In der Bibliothek gab es keine Fenster; deshalb konnte Jander nicht sagen, wieviel Zeit verstrichen war. Als er nach dem Mädchen sah, bemerkte er überrascht, daß es schon weit nach Sonnenuntergang war. Natascha schlief, als würde sie bereits zu den Untoten gehören. Als er sich hinabbeugte, um sie zu untersuchen, stöhnte sie im Schlaf auf und drehte sich um. Ihr Hals war grün und blau, doch langsam erhielten ihre Wangen wieder Farbe. »Sie sehen alle so anziehend aus, wenn sie schlafen«, sagte eine aalglatte Stimme neben seinem Ohr. »Ich hoffe, sie war Euch angemessen.« Strahd stand neben ihm und lächelte dünn. »Ein bißchen jung für mich; andererseits ist es schwer, ein passendes Alter zu finden, wenn man siebenhundert Jahre hinter sich hat«, spottete Jander. Er hatte sich erschreckt, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Er war so lange allein gewesen, daß er ganz vergessen hatte, wie lautlos sich Vampire bewegten. Strahd runzelte leicht die Stirn. »Siebenhundert Jahre?« Offensichtlich hielt er es für einen Scherz. »Ah - ich verstehe. Ihr zählt die Jahre wie ein Lebender.« »Nun ja«, gab Jander zu, »doch das waren nur zweihundert Jahre. Ich bin seit fü nfhundert Jahren ein Vampir.« Strahd schwieg. »So etwas kann ich mir kaum vorstellen«, -122-
sagte er schließlich. »Ich bin nicht einmal hundert Jahre alt. In Eurer Gegenwart fühle ich mich wie ein Kind. Wieviel ich noch von Euch lernen muß!« Als Jander die Gier nach Wissen in Strands Blick sah, war er sich nicht sicher, ob er an diesem Ort den weisen, alten Mann verkörpern sollte. Glücklicherweise wechselte Strahd das Thema. »Habt Ihr Hunger, mein Freund?« Der Blutdurst meldete sich. »Ja«, erwiderte Jander. In jener Nacht jagten sie gemeinsam; die erste von zahllosen Nächten, die sie derart verbrachten. Einer der Zigeuner hatte eine kleine Gruppe unerschrockener - oder dummer - Reisender entdeckt, die zu spät eingetroffen waren, um ein Zimmer in der Schenke zu bekommen. Jander erinnerte sich an den mürrischen Wirt und seine Weigerung, nach Einbruch der Dunkelheit Übernachtungsgäste aufzunehmen. Natürlich gewährte ihnen auch keiner der ängstlichen, fremdenfeindlichen Dorfbewohner Unterkunft. Also hatte die kleine Gruppe - drei Männer, zwei Frauen und ein Kind - in der Nähe der Brücke über dem Ivlis ihr Lager aufgeschlagen. Jander und Strahd hatten sich aus praktischen Erwägungen und der Schnelligkeit wegen in Wölfe verwandelt. Drei echte Wölfe und zwei Sklavinnen in Wölfinnengestalt schlossen sich ihnen an, als sie vom Verlangen getrieben durch den SvalitschWald jagten. Die Nacht war klar und kalt und gerade feucht genug, um Gerüche unverfälscht zu transportieren. Sie entdeckten die kleine Gruppe in einiger Entfernung. Das große, schwarze Tier, in das sich Strahd verwandelt hatte, begann zu schimmern und verwandelte sich in Nebel, der sofort weiter seine Form veränderte, bis schließlich ein Mensch dort stand. Jander folgte dem Beispiel seines Gastgebers und nahm wieder die Elfengestalt an. Sie bewegten sich lautlos und schlichen sich an ihre nichtsahnenden Opfer an. Die Wölfe und Strands Sklaven umrundeten die kleine Lichtung, um jede Rückzugsmöglichkeit abzuschneiden. -123-
Jander und Strahd griffen nicht sofort an. Sie warteten geduldig, bis eine Eule zweimal schrie und der Mond ein kleines Stück weitergewandert war. Erst dann stürzten sie sich in der feuchten, kühlen Stille auf sie. Die Fremden waren leichte Beute, eine leichtere, als die Vampire eigentlich erwarten durften. Ein großer, haariger Mann, der anscheinend die Wache übernommen hatte, lehnte schnarchend an einem Baum; das gezogene Schwert war ihm aus der schlaffen Hand gefallen. Er mußte als erster sterben. Strahd erschien wie aus dem Nichts vor ihm, packte ihn am Gewand und vergrub sofort die Fangzähne in seinem Hals. Der Mann schlug die Augen auf, und sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, doch Strahd saugte ihn schnell leer, und bald schlossen sich die Augen wieder. Während sich Strahd an ihm labte, übernahm Jander den anderen Mann. Er konnte nichts gehört haben - Strahd und Jander waren leiser als die Stille -, doch plötzlich saß er kerzengerade da und rief eine Warnung. Vielleicht hatte ihn ein innerer Instinkt gewarnt. Jander gab einem der Wölfe, die sich den Vampiren angeschlossen hatten, einen lautlosen Befehl, und das Tier sprang. Es drückte den Mann, der beileibe nicht klein war, problemlos mit seinem Gewicht zu Boden. Von da an übernahm Jander. Er bewegte sich lautlos und schnell und schlug die weißen Zähne in die Kehle des Opfers. Eine schwarzhaarige Sklavin lungerte fauchend in der Nähe herum und wartete darauf, das zu bekommen, was der Elf übrigließ. Der Vampir biß nicht nach der Halsvene, sondern direkt nach der Halsschlagader. Dies war nicht die Zeit für ein gemächliches Blutsaugen - Janders untoter Körper verlangte Nahrung. Als seine Zähne in den entblößten Hals sanken, sprudelte Blut, das direkt vom Herzen kam. Der Vampir schluckte hastig die warme, salzige Flüssigkeit hinunter. Er fragte sich mit einem Hauch makaberen Humors, ob Vampire am Blut ihrer Opfer ertrinken konnten. -124-
Der dritte Mann schrie. Er war groß, dünn und bleich vor Angst. Als er zitternd nach der Waffe griff, schloß sich Strahds Hand um sein Gelenk und brach es mühelos. Dann stärkte er sich erneut an dem scharlachroten Lebenssaft, während zwei Wölfinnen den fliehenden Frauen hinterherstürmten. Strahd ließ den Bewußtlosen wie ein Spielzeug fallen und wandte seine Aufmerksamkeit den Frauen zu. Seine Sklavinnen waren ihm zuvorgekommen, doch obwohl sie von einem verzweifelten Hunger erfüllt waren, fügten sie sich ihrem Herrn. Die Vampirinnen ergriffen die Frauen und hielten sie dem Grafen hin. Die sterblichen Frauen waren beide etwa Mitte Dreißig; sie waren schlank und trugen einfache Männerkleidung. Eine hatte langes, flammendrotes Haar und starrte Strahd trotzig an, während sie sich gegen den Griff der Vampirin zur Wehr setzte. Die andere war blond und trug das Haar kurzgeschnitten. Die zweite Vampirin hatte sie fest gepackt, doch der kleine Junge der Frau, der vor Angst schrie, klammerte sich an der Taille seiner Mutter fest. Das schrille Geräusch schmerzte in den empfindlichen Vampirohren. Strahd ging drohend auf den Jungen zu. »Im Namen Torrns des Wahren, habt Gnade; er ist doch noch so klein…« Jander hatte sein gräßliches Mahl beendet und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, als er das Flehen der Frau hörte. Er schaute überrascht zu ihr hinüber. Torrn der Wahre auch der Narr oder Mutige genannt - war ein Gott seiner Heimat. Seine Kleidung und sein Gesicht waren blutverschmiert, und seine Bemühungen hatten die Flüssigkeit nur verteilt. Er erhob sich und war schrecklich anzusehen, ein Bild aus Rot und Gold, ein Guter aus einem Märchen, der plötzlich und unerklärlicherweise die Rolle des Bösen übernommen hatte. Der kleine Junge schrie noch immer. Strahd runzelte die Stirn. -125-
Fauchend entblößte er die Fangzähne und griff mit der langen, schlanken Hand nach dem Jungen. »Martyn, lauf!« schrie die Frau. Mit einer letzten, verzweifelten Kraftanstrengung, wie sie nur eine Mutter aufbringen konnte, die ihr Kind verteidigte, riß sie sich von der Vampirin los und warf sich Strahd entgegen. Ein Wolf sprang anmutig aus dem Stand und riß ihr die Kehle heraus, bevor sie zwei Schritte zurückgelegt hatte. Blut tränkte ihr Gewand. Die blonde Frau brach tot zu Füßen ihres Sohnes zusammen. »Nein!« schrie die Rothaarige und warf Strahd einen entsetzten und haßerfüllten Blick zu. Er entgegnete den Blick ohne Scheu und bemühte seinen mächtigen Willen. »Sie hat es verdient, oder etwa nicht?« Die Rothaarige blinzelte. »Nein, sie hat doch bloß…« »Nein«, fuhr Strahd ganz ruhig und beschwörend fort. »Sie hat versucht, sich mir entgegenzustellen. Das ist ein schweres Vergehen. Findest du nicht auch?« Die Rothaarige befeuchtete die trockenen Lippen. »Das ist ein schweres Vergehen«, wiederholte sie schwerfällig und ganz dem Bann des Vampirs verfallen. »So ist es besser.« Strahd wandte seine Aufmerksamkeit dem Jungen zu, der sich zitternd neben der Leiche der Mutter zusammenkauerte. Das Kind war in einen Schockzustand verfallen. »Er ist zu klein, als daß es lohnen würde, ihn mitzunehmen. Außerdem habe ich meinen Hunger gestillt. Wollt Ihr ihn haben, Jander?« fragte er und deutete auf das Kind. Janders Hunger war gestillt. Der Elf sah den Jungen an, und plötzlich überkam ihn Schwermut. Er wollte das Kind nicht. Er wollte diesen Ort verlassen. Er wollte nach Hause. Er wollte zu Anna. »Nein«, sagte er leise. »Doch überlaßt ihn nicht ihnen«, fügte er hinzu und wies auf die hitzigen, halbverhungerten Vampirinnen. »Der bärtige Mann am Baum lebt noch. Sie können sich an ihm laben.« »Wie Ihr wünscht«, sagte der Graf, und seine Sklavinnen -126-
stürzten sich auf den Bewußtlosen. Strahd wandte sich der Rothaarigen zu, die noch immer die Leiche ihrer Freundin anstarrte. Er streckte eine Hand aus. »Komm, meine Liebe«, sagte er in seinem leutseligsten Ton. »Du wirst mich auf Schloß Rabenhorst begleiten.« »Und der Junge?« ließ Jander nicht locker. Strahd schenkte dem Jungen einen mehr als flüchtigen Blick. »Macht mit ihm, was Ihr wollt. Ich bin nicht hungrig.« Mit der Frau an seiner Seite machte sich Strahd auf den langen Weg zurück nach Schloß Rabenhorst. Jander sah sich die drei Männer an. Sie lebten noch, obwohl ihre Existenz am seidenen Faden hing. Der Elf tötete seine Opfer nie, weil er kein Leben nehmen wollte, und Strahd hatte sie verschont, weil er es vorzog, die Adern von Frauen leerzusaugen und sich auf diese Weise noch mehr ihm sklavisch ergebene Vampirinnen zu erschaffen. Der Junge blinzelte und sah sich verwirrt um. Er schaute Jander aus seinen blauen Augen an. Der Elf konnte den Blick des unschuldigen Kindes nicht ertragen, drehte sich auf dem Absatz um und ließ den Jungen mit unverletzter Kehle zurück. Augenblicke später sagte der Junge etwas. »Fürst des Morgens«, flüsterte er. Als Jander am nächsten Nachmittag nach wenigen Stunden unruhigen Schlafes erwachte, beschloß er, die verschlungenen Korridore von Schloß Rabenhorst zu erkunden. Eigentlich hätte er sich in die Bibliothek begeben und weiterlesen sollen, doch konnte er seiner Neugier auf das Schloß nicht länger widerstehen. Es war unter anderem sein unstillbarer Wissensdurst gewesen, die den Elfen dazu veranlaßt hatte, dem Frieden und der Schönheit seiner Heimat den Rücken zu kehren. Rabenhorst war eine Sammlung kleinerer architektonischer Wunder, Kunstfertigkeiten von der Geschichte und Zeit verwüsteter Schönheit, und Jander konnte es kaum erwarten, das Gebäude zu -127-
erforschen. Als er den Audienzsaal betrat, hatte er seinen ersten Zusammenstoß mit einem von Strahds »Dienern«. Der Elf hatte behutsam auf dem mit Verzierungen übersäten Thron Platz genommen und mit einer Mischung aus Bewunderung und Empörung bemerkt, mit welcher Geschicklichkeit das Holz bearbeitet und im Lauf der Jahrzehnte dem Verfall preisgegeben worden war. Plötzlich versteifte er sich. Hinter ihm hatte es leise geklirrt. Er sprang kampfbereit vom Thron. Fünf Skelette starrten ihn mit leeren Augenhöhlen an. An den getrockneten Knochen hingen noch Fleischfetzen, und alle trugen verrottete Uniformstücke. Jander vermutete anhand der übereinstimmenden Muster und der Schwerter, die sie in der Hand hielten, daß er Schloß Rabenhorsts früheren Wachen gegenüberstand. Sie ignorierten ihn völlig, marschierten als Parodie einer Patrouille durch den Saal und nahmen in der nebenan befindlichen Wachstube ihre Posten ein. Jander sah ihnen traurig zu. Knochenmänner hatten ihm schon immer leid getan. Sie waren nicht von Natur aus böse, und er hatte großes Mitleid mit Seele n, denen die ihnen eigentlich zustehende Ruhe verwehrt blieb. Jander vermutete, daß der Graf in den ersten Tagen seines Aufenthalts auf Rabenhorst diese und andere »Wächter« von ihm ferngehalten hatte, damit er den Skeletten befehlen konnte, dem einzig freiwilligen Schloßgast nichts anzutun. Unwillkürlich fragte sich der Elf mit nicht geringem Unbehagen, welche anderen Ungeheuer noch innerhalb dieser dunklen, kalten Mauern hausten. Er beschloß, es herauszufinden. Jander durchschritt den großen Saal bis zum anderen Ende, an dem sich hinter einem Durchgang ein langer Balkon anschloß. Dort wurde er von zwei weiteren Thronsesseln erwartet, die ihm ihren Rücken zuwandten. Eine Sekunde lang fragte er sich, -128-
ob auf diesen Sitzen wohl ein Skelett oder etwas noch Schrecklicheres auf ihn lauerte. Er ärgerte sich über seine Nervosität, ließ den Gedanken fallen und schritt auf die Sessel zu. Er streckte eine leicht zitternde Hand aus und tastete vorsichtig über den Sesselrücken. Dann schloß er peinlich berührt die Augen. Der verzierte Thron war leer. Der Staubschicht nach zu urteilen, hatte schon seit Jahren hier niemand mehr gesessen. Es war lächerlich, daß er sich überhaupt Sorgen gemacht hatte. Was hätte ihm eine von Strahds Kreaturen schon antun können? Der Elf trat vo r, legte jeweils eine Hand auf die Thronlehnen und schaute von dem Balkon in die Tiefe. Was er dort sah, versetzte seiner schönheitsliebenden Natur einen schweren Schlag. Das unten liegende Gemach bot einen traurigen Anblick. Es war einst Schloß Rabenhorsts Kapelle gewesen, und wie alles hier war sie einst verschwenderisch und wunderschön ausgestattet gewesen. Nun waren die buntbemalten Glasfenster verrammelt, obwohl an einigen Stellen vielfarbene Lichtstrahlen eindrangen. Die Kirchenbänke waren umgeworfen, und es hatte den Anschein, als hätten lange, scharfe Krallen tiefe Furchen in das Holz gekratzt. Einige der Bänke waren zerbrochen. Eine Schicht Staub bedeckte alles wie ein Leinentuch, und der Altar war entweiht worden. Jander konnte sogar auf diese Entfernung erkennen, daß es hier nichts Heiliges mehr gab. Das erstaunte natürlich einen nicht in einem Schloß, dessen Herr ein Vampir war. Mit einem bedauernden Kopfschütteln setzte Jander seine Erkundung fort. Er ging in den Audienzsaal zurück, schritt die breite Treppe hinunter und betrat den großen Empfangssaal. Am Fuß der Stufen hielt er sich links und schritt durch einen langen, staubigen Korridor. Er war mit Statuen gesäumt. Jander las im -129-
Vorbeigehen einige der Inschriften. Ein paar der Namen waren ihm aus dem Buch Legenden aus dem Kreis vertraut. Im Gegensatz zu den Figuren, mit denen der Raum eine Etage über ihm bestückt war, schienen diese Statuen eher Personen aus Literatur und Mythologie darzustellen statt bestimmte historische Persönlichkeiten. Jander gefiel gar nicht, daß die Statuen ihn bei seinem Gang durch den Korridor mit Blicken zu verfolgen schienen. Sein Ziel war die Kapelle. Als er noch lebendig gewesen war, hatte es ihm stets Freude bereitet, heiligen Stätten einen Besuch abzustatten, vorausgesetzt, sie wurden von ehrlichen Priestern geführt, die einem guten und gerechten Gott dienten. Seiner Meinung nach kamen solche Stätten der Gnade der Götter fast so nah wie die Natur. Fast, jedoch nicht ganz. Seit er zum Untoten geworden war, hatte er keinen heiligen Ort mehr besucht. Da die Kapelle jedoch geschändet worden war, hoffte er, Einlaß zu bekommen. Er streckte eine Hand aus, um beide Türflügel aufzustoßen, als hinter ihm ein leises Klappern ertönte und ihn innehalten ließ. Er drehte sich um und stand einem Knochenmann gegenüber. Das Skelett trug weder Rüstung noch Uniform, sondern die Reste eines kostbaren Gewandes mitsamt Schmuck. Offensichtlich bewachte es die Kapelle, und Jander vermutete, daß es sich um die Überreste des Priesters handelte, der dieser Kapelle einst vorgestanden hatte. Er rührte sich nicht, doch der Knochenmann machte keine weiteren Anstalten, ihm den Weg zu versperren. Jander hatte die Verwüstung bereits vom Balkon aus gesehen. Doch als er das einstige Heiligtum nun betrat, wurde ihm das ganze Ausmaß der Zerstörung deutlich. Er schritt durch die Trümmer, trauerte um die verlorene Schönheit und fuhr mit den Fingern durch den uralten Staub. Vor dem Altar blieb er stehen. -130-
Respektlose Hände hatten obszöne Bilder und haßerfüllte Runen in die dicke Staubschicht gemalt. Von plötzlicher Wut erfüllt, fuhr Jander über die Beleidigungen und löschte sie aus. Er war ein Vampir. Die gesegneten Stätten der Götter verwehrten ihm den Zutritt, wie er hatte entdecken müssen. Er war ein Ausgestoßener, und das galt für alle Dinge, die er geliebt hatte - die Natur, das Sonnenlicht und die Tempel und Kirchen. Das konnte er akzeptieren; er konnte sogar akzeptieren, daß das Böse ein Teil seiner Welt geworden war. Doch die vergangenen fünf Jahrhunderte hatten Jander noch immer nicht beigebracht, die Zerstörung schöner Dinge unbewegt hinzunehmen, und er fragte sich, ob er nichts tun konnte, um die frühere Pracht des Schlosses wiederherzustellen. Er setzte sich einige Zeit auf eine der unzerstörten Kirchenbänke und dachte nach. Er war so in seine Gedanken vertieft, daß ihm das allmähliche Nachlassen des Tageslichts gar nicht auffiel. »Habt Ihr Euch vielleicht ins Gebet versenkt?« ertönte die kalte Stimme des Grafen. Jander blickte auf. »Vielleicht. Wie geht es Euch heute abend?« »Sehr gut, danke. Allerdings habe ich Hunger. Habt Ihr Lust, meine Errungenschaft der vergangenen Nacht zu kosten?« Jander zuckte innerlich zusammen, doch er bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen. Eine Errungenschaft. Mehr stellte die Frau für Strahd nicht dar. Sie war für ihn kein menschliches Wesen … »Nein, ich glaube, ich muß ablehnen. Ich verspüre den Drang, heute abend die Wälder allein zu erforschen, falls Ihr nichts dagegen habt.« »Keinesfalls. Übrigens stehen in der Empfangshalle Speisen für Eure junge Dame bereit. Alle paar Tage lasse ich mir frische Vorräte liefern. So vermeide ich, daß im Dorf neue Gerüchte entstehen, und sorge dafür, daß die Bewohner etwas zu tun haben. Sonst betrinken sie sich nur den ganzen Tag lang. -131-
Außerdem müssen unsere Schützlinge bei Kräften bleiben, wenn sie uns etwas nutzen sollen, nicht wahr?« Der Graf drehte sich um und ging mit einer unnatürlichen Lautlosigkeit davon. Jander folgte ihm eilig, denn er war darauf erpicht, der kleinen Natascha eine vernünftige Mahlzeit zukommen zu lassen. Er hatte den schwachen Trost, daß es für ihrer beider Wohl war. Er häufte köstliches Rindfleisch, Gemüse und Obst auf einen Teller. Als er ihr Gemach betrat, bemerkte er, daß ihre Wangen wieder an Farbe ge wonnen hatten. Sie sah ihm teilnahmslos zu, wie er den Teller vor sie hinstellte. »Guten Abend, Natascha.« Sie gab keine Antwort. »Ich habe dir etwas zu essen gebracht. Du mußt hungrig sein.« »Nein«, sagte sie leise. Er hörte einen Augenblick damit auf, ihr das Fleisch zu schneiden, und fing ihren Blick ein. »Ich glaube, du wirst entdecken, daß du in Wirklichkeit sogar sehr hungrig bist, und das hier ist genau das, was du brauchst.« Ihm gefiel nicht, daß er sie zum Essen zwingen mußte, doch sie brauchte die Stärkung. Plötzlich wurde er von einem grimmigen Gedanken heimgesucht. Nein, Jander, du bist derjenige, der die Stärkung braucht. Er ignorierte die Stimme in seinem Inneren und beschäftigte sich weiter mit ihrem Essen. Sein »Vorschlag« hatte Erfolg. Natascha schnupperte anerkennend und versuchte sich aufzusetzen. Er half ihr und legte ihr ein stützendes Kissen in den Rücken. Sie war zu schwach, um mit dem Besteck zurechtzukommen, also fütterte der Elf sie. Er mußte flüchtig und voller Qual an Anna denken. Räche mich. Morgen würde er in die Bibliothek zurückkehren. Als Natascha fertig war, blickte sie ihn neugierig an. »Wie ist Euer Name?« »Jander«, erwiderte er, erfreut, daß sie ihn gefragt hatte. -132-
»Ihr seid anders als der Graf.« Jander lächelte schmal, als er den schmutzigen Teller und das Besteck einsammelte. »Ja, das glaube ich auch.« »Ihr werdet mich nicht in …« Ihre Stimme versagte ängstlich. »In einen Vampir verwandeln? Nein. Allerdings darf ich dich nicht gehen lassen. Du weißt zuviel und könntest mir schaden. Verstehst du das?« Die junge Frau nickte, doch ihr Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an. Sie berührte die kleinen Wunden an ihrem Hals und blickte den Elfen wieder an. Er erwiderte ihren Blick traurig. »Ich muß genau wie du Nahrung zu mir nehmen«, sagte er leise und deutete auf die Mahlzeit, die er ihr gebracht hatte. »Kannst du das verstehen?« Sie nickte langsam. Mit noch mehr Selbstverachtung als gewöhnlich nahm Jander das Mädchen in den Arm und stärkte sich an ihrem Blut, beschränkte sic h jedoch auf das absolute Minimum, das er brauchte. Als er fertig war, legte er sie wieder auf das Bett, deckte sie zu und erlaubte sich, ihr das Haar glattzustreichen, bevor sie die Augen schloß. Der Elf öffnete die Fensterläden und spürte die kalte Nachtluft im Gesicht. Er mußte aus dem Schloß heraus, hinein in die Wälder, fort von Natascha. Er verwandelte sich schnell in grauen Nebel, der sich zu einer Fledermaus zusammensetzte, die einen kurzen Augenblick auf der Fensterbank hockte, bevor sie sich in die Luft schwang. Jander flog etliche Meilen und betrachtete die unter ihm vorbeiziehende Landschaft. Er genoß alle seine verschiedenen Gestalten. Zwar zog er natürlich seinen Elfenkörper vor, doch es sprach vieles für die grenzenlose Freiheit des Wolfes mit dem goldfarbenen Pelz, der wild und lautlos durch die grünen Wälder jagte oder für die fliegende Anmut der kleinen braunen Fledermaus. Unter ihm wand sich der funkelnde Ivlis schlangengleich durch die Wälder und Felder. Der wirbelnde -133-
und pulsierende Nebelring um das Dorf war deutlich zu sehen. Jander konnte das winzige rote Flackern erkennen, das das Vistani-Lager kennzeichnete. Im Westen lag das kleine Fischerdorf Vallaki. Bald würde er sich eines Nachts dort hinbegeben müssen. Vielleicht hatten die dort lebenden Menschen keine so große Angst vor Fremden. Die Fledermaus stürzte sich in die Tiefe und landete flatternd auf einem kleinen Hügel, der sich zwischen dem Wald und dem Fluß befand. Jander nahm seine Elfengestalt an und legte sich in das weiche, grüne Gras. Der Tau störte ihn nicht, und die beruhigende Berührung des Erdbodens in seinem Rücken hatte etwas Tröstliches an sich, selbst wenn es sich um die Erde Barovias und nicht die seiner Heimat handelte. Jander runzelte die Stirn. Da war noch eine Sache. Er war ohne seine Heimaterde hierhergekommen, hatte jedoch dadurch keine nachteiligen Beschwerden gehabt. Das Stirnrunzeln verwandelte sich in ein bitteres Grinsen. Anscheinend war nun Barovia seine Heimat. Er schloß die Augen und setzte seine wild rasenden Gedanken dem Frieden der Lichtung aus. Mit der Hand tastete er über das feuchte Gras und streichelte sanft und ehrfurchtsvoll über die Halme. Der Wind säuselte durch die Bäume, und er konnte die unzähligen Lieder der Wesen hören, die die Nacht mit ihrem Gesang erfüllten. Sie machten eine wunderschöne Musik. Auch Jander hatte früher Musik gemacht und mit der Flöte Freude und Trauer, Lachen und Liebe ausgedrückt, und sein Herz war auf den durchdringenden Melodien dahingetrieben. Könnte er doch nur seine Melancholie wieder mit Hilfe dieser süßen Laute lindern. Da kam ihm ein Gedanke. Er schaute zum nächsten Baum. Der wiegte sich raschelnd im Wind und hatte alle Blüten verloren. Ein Apfelbaum - eine gute Wahl. Der Elf zögerte, dann zog er den Dolch und schnitt einen Ast ab. Er setzte sich ans Flußufer, arbeitete die ganze Nacht durch und bearbeitete den -134-
Ast, wie er es schon hunderte Male zuvor getan hatte. Obwohl es Jahrhunderte her war, daß er zuletzt eine Flöte geschnitzt hatte, erinnerten sich seine Hände genau an die nötigen Bewegungen. Als Jander bemerkte, daß der Sonnenaufgang kurz bevorstand, war seine Arbeit fast beendet. Er runzelte die Stirn. Wenn er sich in eine Fledermaus oder einen Wolf verwandelte, veränderte sich die Kleidung mit ihm. Würde sich auch die Flöte mitverwandeln, wenn er sie in den Gürtel steckte? Im Angesicht des anbrechenden Morgens konzentrierte er sich und wurde zur Fledermaus. Die Flöte stellte kein Problem dar. Die Fledermaus namens Jander flatterte schnell zum Schloß zurück. Jander verbrachte den größten Teil des Tages in der Schloßkapelle, wo er die Sonnenstrahlen nicht zu fürchten brauchte, und vertiefte sich in die Herstellung des Instruments. Gegen Mittag fielen ihm die Augen zu, und er streckte sich auf einer Kirchenbank aus. Er würde ein kleines Nickerchen machen, sagte er sich, als er den Kopf in die Armbeuge legte und die fast fertiggestellte Flöte fest umklammerte. Nur ein paar Augenblicke; er wollte nur einen Moment die Augen ausruhen … »Warum hast du nie im Irrenhaus für mich gespielt?« ertönte eine Stimme, die so süß wie das Sonnenlicht war. Jander riß die Augen auf. Anna saß neben ihm auf der polierten Kirchenbank und begutachtete interessiert die wunderschön geschnitzte Flöte an. Das Sonnenlicht, das durch die Kapellenfenster strömte, ließ Jander blinzeln. Alle Farben des Regenbogens waren vertreten und verwandelten die Kapelle in die Palette eines Malers. Der Altar war für eine Messe vorbereitet, und die auf Hochglanz polierten, aus Silber gefertigten sakralen Gegenstände funkelten in dem violetten und blauen Licht der Fenster. Der Raum war von Frieden und einer stillen, gezügelten Freude erfüllt. Jander fiel eine Zeile aus einem der Gedichte ein: Deine Liebe nicht nur -135-
eine Farbe, sondern ein ganzer Regenbogen; sind doch die Freuden deiner Anbeter unendlich. »Sie ist wunderschön, Jander«, sagte Anna; auf ihrem geliebten Gesicht lag ein entzücktes Lächeln. Sie hielt sie ihm hin. »Spiel mir etwas, ja?« Er hatte seit Jahrhunderten nicht mehr gespielt. Er hatte sich nicht dazu durchringen können. Doch hier, in der lichtdurchfluteten Kapelle, in der Anna ihn aufmunternd ansah, fand Jander den Mut, die Flöte an den Mund zu heben. Er holte Luft, spitzte die Lippen und blies. Ein mißtönendes Pfeifen ertönte, ein Geräusch, wie es vielleicht ein unvorstellbares Wesen ausgestoßen hätte, das unter einem entsetzlichen zerstörerischen Schmerz litt. Die Flöte wand sich in seinen gefühllosen Händen und verwandelte sich in einen widerlichen, schwarzen, zuckenden Wurm, der ein Fauchen ausstieß. Entsetzt ließ Jander ihn fallen, und er schlängelte sich davon. Der ganze Raum wurde nun von einer schrecklichen Finsternis eingehüllt, die viel bösartiger als eine gewöhnliche Nacht war. Die Schatten waren von nicht näher identifizierbaren Dingen erfüllt, und selbst Jander mit seiner Nachtsicht konnte nicht mehr als rot funkelnde Augen wahrnehmen. Er griff nach Anna, doch seine Hand schloß sich um lederartiges Fleisch. Das monströse, in sich zusammengekrümmte Ungeheuer in Annas Kleidern lachte ihn aus, und der Gestank aus ihrem klaffenden, reißzahnbesetzten Schlund ließ ihn würgen. »Jetzt siehst du die Welt so, wie ich sie über ein Jahrhundert lang sehen mußte! Wie gefüllt dir der Wahnsinn, Jander Sonnenstern?« Der Vampir fuhr mit einem Aufschrei auf. Er befand sich allein in der zerstörten Kapelle. Der Tag ging in die Abenddämmerung über. Nichts hatte sich verändert. Zitternd blickte Jander auf die Flöte. Trotz des Alptraums war er entschlossen, sie zu vollenden. »Anna«, flüsterte er, »Ich habe nicht gewußt, was du für Qualen erleiden mußtest… vergib -136-
mir.« Eine Stunde später hatte er die Flöte fertig. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit dem verzierten Instrument aus seinem Alptraum, wofür Jander im stillen dankbar war. Er hatte noch immer Angst, sie an die Lippen zu setzen. Seine Feigheit versetzte ihn in Rage; er schob das Instrument in seinen Gürtel und stieg die Treppe hinunter. Er betrat die Empfangshalle und ging weiter, bis er in einen großen Raum kam, der seines Erachtens nur der Hauptspeisesaal sein konnte. Dort stand ein großer, staubbedeckter Tisch mit Dutzenden von Stühlen. Er wurde von zwei kunstfertig gezimmerten Anrichten flankiert. Doch Janders Interesse wurde von dem großen, mit einem Laken bedeckten Objekt am anderen Ende des Raumes geweckt. So etwas hatte er noch nie gesehen, und er trat neugierig näher. Er entfernte das Laken. Das Objekt setzte sich aus vielen hundert kleinen Teilen zusammen. Oben wurde es von einer Vielzahl von Pfeifen gekrönt, und viele aus Elfenbein bestehende Tasten lagen nebeneinander wie Zähne. Direkt davor stand eine Bank, und unter ihm befand sich eine weitere Reihe von Gegenständen. »Wie ich sehe, habt Ihr mein Spielzeug entdeckt«, erklang Strahds Stimme. »Was ist das?« fragte Jander fasziniert. »Ein Musikinstrument«, erklärte Strahd. Jander spürte, daß sein Gegenüber zögerte, und runzelte fragend die Stirn. »Man nennt es eine Orgel. Die Musik, die sie entstehen läßt, ist sehr schön, sehr klangvoll und sehr … mächtig. Ich war früher sehr virtuos darauf. Das ist allerdings schon lange her.« Er griff nach dem Laken, doch Jander hielt ihn ab. »Könntet Ihr etwas für mich spielen?« fragte er. »Auch ich habe einst Musik geliebt. Diese Räume sind so still. Ich würde gern hören, wie Ihr spielt.« Strahd schien unentschlossen zu sein. Jander konnte genau -137-
sehen, daß sich ein Teil von ihm danach sehnte, das Instrument wieder einmal zu liebkosen und es nach all der Zeit zum Klingen zu bringen. Doch in dem Spiel lag offensichtlich auch Schmerz. Strahd zögerte so lange, daß Jander überzeugt war, er würde sich weigern. »Nun gut«, sagte der Vampir zu seiner Überraschung. »Ich möchte Euch nur bitten, mir die falschen Töne nachzusehen, die ich vermutlich produzieren werde. Es ist sehr lange her.« Strahd setzte sich vor die Orgel, als sei es Jahrhunderte her, daß er es zum letztenmal getan hatte. Er legte die Rockschöße seines schwarzen Gewandes mit einer schwungvollen Bewegung über die Sitzbank. Seine langen Finger zuckten wie Spinnenbeine, als er sie auf die Tasten legte. Jander spürte, wie sich die Anspannung, die von dem anderen Vampir ausging, auf ihn übertrug. Die Orgel erwachte mit einem schmetternden Ton, der den Hörnern der Götter hätte entstammen können, zu majestätischem Leben. Die Klänge wogten in mächtigen Wellen durch den Saal und ließen Jander bis in den Kern seines Wesens erbeben. Die Musik, die Strahds Händen entströmte, war heimsuchend, anspruchsvoll und wunderschön - und noch mehr. Diese Orgelmusik war großartig, sie rührte Jander an. Strahd spielte ein von Schmerz und Würde erfülltes Stück, das in seiner Wucht Ehrfurcht erregte. Jander lauschte, schloß die Augen, um sich besser konzentrieren zu können und erlaubte seinem Körper, sich so weit wie nur möglich dem Sog der Musik hinzugeben..Das Lied endete, doch Strahd hatte sichtlich keine Lust, das Instrument loszulassen, und seine Finger wanderten ständig über die Elfenbeintasten. Janders Hand tastete zum Gürtel und der Holzflöte. Der Alptraum verfolgte ihn noch immer und forderte ihn heraus, den Versuch zu wagen. Der Elf verspürte eine seltsame Angst, als er das Instrument an die Lippen hob. -138-
Als Untoter brauchte er nicht zu atmen. Das Sprechen verlangte ein bewußtes Luftholen, doch Jander hatte die Lungen seit Jahrzehnten nicht mehr so gefüllt, wie er es in diesem Augenblick tat. Er atmete ein und setzte die Lippen an das Mundstück der Flöte. Ein süßer, klarer Ton erklang, der sich, verglichen mit dem wasserfallähnlichen Toben von Strahds Orgel, wie Vogelgezwitscher anhörte. Der Graf sah auf, und auf seinem bleichen Gesicht vermischte sich Überraschung mit einer Art Entzücken. Spontan musizierten die Vampire gemeinsam. Die klaren Töne der Flöte tanzten und glitten wie Sonnenstrahlen über die tiefen Akkorde der Orgel. Manchmal war die Musik sanft, plätschernd und friedlich. Dann wiederum schwoll sie an und brach sich wie Wellen, die gegen die Küste anrannten; eine vampirische Musik, die die inneren Qualen ihrer Schöpfer reflektierte: Harmonien der Verdammten. Sie beendeten ihr Spiel gleichzeitig, und die Stille war bedrückend. Sie wechselten einen Blick, und Jander konnte in Strahds dunklen Augen seinen eigenen Schmerz wiedererkennen. Sie konnten Musik machen, nur nicht die Musik der Lebenden. Sterblichen würde es niemals gelingen, ihre unschuldigen Instrumente mit so wildem Schmerz und brutalem Triumph zu erfüllen, den er und Strahd gerade in ihrem Duett erschaffen hatten. Einen Augenblick lang hatten sie ihren Schmerz verloren, indem sie ihn ausgedrückt hatten. Die Musik hatte sie aus ihrem untoten Dasein entführt, und sie hatten in diesem Gefühl triumphiert. Strahd nahm in der unbehaglichen Stille die Hände von den Orgeltasten und faltete sie im Schoß. Er sah auf sie hinunter und musterte die langen, scharfen Nägel mit einer Gelassenheit, die die Gefühle Lügen strafte, die Jander unter der Oberfläche gespürt hatte. Strahd war bewegt gewesen, und zwar durch etwas anderes als Mord, Macht, Wut oder Trauer. Es war -139-
Schönheit gewesen,, die ihn berührt hatte, und einen Augenblick lang waren er und der Elf verwandte Seelen gewesen. Die Augen des Grafen erwiderten Janders Blick, und nun war in ihnen bloß die kalte Berechnung zu sehen, die der Elf langsam so gut kannte. Der eine Augenblick war vorbei, doch er war nicht vergessen. Strahd schien zu spüren, daß er einen verletzlichen Teil seiner Seele offenbart hatte, und wechselte brüsk das Thema. »Genug davon«, sagte er und warf mit einem, wie Jander es empfand, unnötigen Nachdruck das Laken über das Instrument. »Wir wollten miteinander reden, nicht wahr? Laßt uns in die Bibliothek gehen, wo Ihr - das ist mir nicht entgangen - viel Zeit verbracht habt. Ihr könnt mir dort erzählen, wie Euch mein Zuhause bis jetzt gefällt.« »Ich muß noch viele der Bücher lesen, Euer Exzellenz, doch die, die ich bis jetzt gesehen habe, waren … interessant. Mir is t aufgefallen, daß ein paar in einer seltsamen Kurzschrift verfaßt worden sind«, bemerkte Jander, als sie die Treppe hinaufgingen. »Ah, ja. Das sind meine persönlichen Aufzeichnungen. Die Kurzschrift ist meine Erfindung.« »Man kann sie nur schwer entziffern. Könnt Ihr sie mir beibringen?« Strahd warf dem Elfen einen Blick zu. »Warum?« fragte er scharf. »Ich suche immer noch nach einer Aufzeichnung über meine Dame«, sagte Jander. »Ich habe gehofft, etwas zu finden, das mir weiterhilft, aber bis jetzt war ich erfolglos.« »Ah, das tut mir leid. Natürlich werde ich sie Euch beibringen«, bot Strahd an. »Vorausgesetzt …«, er schwieg kurz, und sein Tonfall verschärfte sich, »… Ihr bringt mir endlich etwas bei. Ich habe viel allein über Vampirismus lernen können, ohne jede Hilfe. Aber Ihr könnt mir sicher noch mehr darüber erzählen.« Sie waren in der Bibliothek angelangt, und -140-
Strahd ließ sich in einen der Sessel sinken und bot Jander den anderen an. »Jetzt ruft die Wölfe herbei«, befahl der Graf. Jander ärgerte sich über Strahds Ton, doch er unterdrückte seinen Groll. Er schloß die Augen und ließ sein Bewußtsein nach einem Wolfshirn umhertasten. Sanft berührte er einen Wolf, der sich am Haupteingang aufhielt. Komm und besuche mich, mein Freund, befahl er. Dann spürte er ein zweites Tier auf, das in Nataschas Zimmer Wache hielt, und befahl es ebenfalls zu sich hin. Augenblicke später trotteten ein grauer und ein schwarzer Wolf in die Bibliothek und ließen sich zu Füßen des Elfen nieder. Die dünnen Lippen des Grafen verzogen sich zu einem Lächeln. »Jetzt werde ich sie rufen.« Er legte die Spitzen seiner Finger zusammen und kniff die dunklen Augen zusammen. Die Wölfe legten die Köpfe schief und blickten in seine Richtung, und einer wimmerte. Sie erhoben sich und gingen zu ihm. Einer kratzte an seinem Sessel. Jander konzentrierte sich wieder. Diesmal war es viel schwieriger, zu dem Wolf durchzudringen. Er konnte Strahds Gegenwart in ihrem Bewußtsein spüren. Jander schloß die Augen und bündelte seine Gedanken. Die Wölfe wurden wieder unruhig und legten die Ohren eng an, während sie von Strahd zu Jander blickten. Schließlich krochen sie geduckt und offensichtlich unter Schmerzen zu Jander. Strahd riß die Augen auf, und in ihren Tiefen loderte der Zorn. »Wie habt Ihr das geschafft?« wollte er wissen. Jander blieb ganz ruhig. »Die Kontrolle über Tiere und Menschen gründet sich auf die Willensstärke des Vampirs. Ich habe bloß…« »Wollt Ihr damit andeuten, ich sei willensschwach?« »Nein, Euer Exzellenz«, antwortete Jander etwas bestürzt. »Ihr seid jünger als ich und hattet weniger Zeit zum Üben. Ich war viele Jahre lang ein Sklave. Ich habe gelernt, was ich heute -141-
kann, weil es die einzige Möglichkeit war, um meinem Herrn zu entkommen. Überleben und Freiheit sind ein guter Ansporn, vie l eher als das Verlangen, irgendwelche billigen Kunststücke mit Tieren zu vollführen.« Strahd blickte Jander einen Augenblick lang finster an, dann nickte er langsam. »Das will ich Euch zugestehen.« Er lehnte sich in den Sessel zurück und legte die Füße auf die niedrige Bank, die vor ihm stand. Jander machte es ihm etwas verwirrt nach. Das Feuer prasselte im Kamin, und die beiden Wölfe dösten zufrieden in seiner Wärme. Jander konnte sich der gemütlichen Normalität dieses Bildes nicht entziehen, die nur insofern verzerrt war, daß die beiden »Zechgenossen« statt Wein eben Blut tranken. Schließlich brach Jander das Schweigen. »Warum kann ich mich hier nicht länger von Tierblut ernähren?« fragte er. »Es ist mir fünfhundert Jahre lang gut bekommen. Doch hier macht es mich krank.« Strahd ließ sich mit der Antwort Zeit. »In Barovia ist alles anders.« »Nun, das ist ziemlich offensichtlich, doch aus welchem Grund? Ihr behauptet, das ›Land‹ zu sein, Strahd. Was geschieht hier?« Der Graf biß die Zähne aufeinander. Jander hatte einen Nerv getroffen. Er mußte das tun; er würde nur Antworten erhalten, wenn er den Vampir unablässig herausforderte. »Wir in Barovia sind unsere eigene Welt«, sagte der Graf langsam. »Doch gleichzeitig sind wir keine Welt. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir uns hier auf einer einzigartigen Existenzebene befinden. Ich glaube nicht, daß Ihr Barovia auf irgendeiner Karte finden würdet. Zumindest nicht mehr.« Er schlug die Augen auf und sah seinen Gast an. Er wirkte verbittert. »Würdet Ihr mir glauben, daß ich einst ein edler, gerechter Krieger war, Jander?« Jander hatte diese Wendung der Unterhaltung nicht erwartet. -142-
Seine Verwirrung mußte sichtbar gewesen sein, denn Strahd lächelte schmal. »Wie ich sehe, habt Ihr mit dieser Vorstellung Eure Schwierigkeiten. Ihr braucht keine Angst zu haben, mich zu beleidigen; es fällt mir selbst schwer, es zu glauben. Die Dinge verändern sich, nicht wahr? Wenn Ihr Euren Zweifel unterdrücken könntet, dann stellt Euch vor, ich würde folgende Rolle verkörpern. Ich war ein Krieger, und meine Sache war gerecht. Ich habe viele Länder geeint; ich habe meine Untertanen verteidigt. Ich habe anständig und gut gekämpft, und mein Heer war einzigartig. Ich wuchs mit dem Schwert in der Hand auf und stand so oft am Rand des Todes, daß ich es nicht einmal mehr zählen kann. Dann war der Kampf vorbei und plötzlich gab es für mich keinen Platz mehr. Ich war überflüssig geworden. Es war mir gegeben, Heere zu führen, aber nicht über gewöhnliches Volk zu herrschen, und obwohl ich von einer langen Reihe von Herrschern abstammte, verspürte ich keinen Wunsch, ein Land zu regieren. Meine Eltern waren gestorben, und ich war der Älteste. Mir blieb keine Wahl. Und so war ich auf einmal der Herrscher über Barovia.« Strahd erhob sich und ging umher. Doch seine Gesichtszüge verrieten keinen inneren Aufruhr. »Zu jener Zeit gehörte Barovia zu …« Seine melodische Stimme brach mitten im Satz ab, und er schaute verwirrt drein. Er lachte leise. »Wißt Ihr, daß ich mich nicht einmal mehr an den Namen meiner richtigen Heimat erinnern kann?« Er schwieg, blickte ins Leere und versuchte sich zu erinnern. Dann zuckte er mit den Schultern. »Egal. Es ist nicht wichtig. Zweifellos wünscht das Land, daß ich es vergesse.« Trotz der Hitze des Feuers fröstelte Jander plötzlich. Das Land wollte, daß Strahd seine Heimat vergaß? Ihr Götter, verfügte dieser Ort tatsächlich über ein eigenständiges Leben? Er fand die Vorstellung erschreckend, daß er Tiefwasser und Immerdar vergessen könnte. So schmerzhaft diese Erinnerungen -143-
auch sein mochten, sie hielten ihn dennoch aufrecht. Da durchzuckte ihn ein anderer Gedanke. Angenommen, das Land wollte, daß er Anna vergaß? Er schwor sich, daß er die Erinnerung an sie bewußt bewahren würde - nicht zu vergessen die Mission der Rache, die er ihretwegen unternahm. »Es reicht, wenn ich sage, daß ich das Gesetz, war, und meine Gesetze waren streng.« Strahds einschmeichelnde Stimme riß Jander aus seinen Gedanken, und er wendete dem Grafen wieder seine Aufmerksamkeit zu. »Eines Morgens wachte ich auf und entdeckte, daß meine Jugend vorbei war«, fuhr Strahd fort. »Sie war einfach weg, und nichts war davon geblieben.« »Sicherlich haben Euch Eure Siege Trost gespendet«, meinte Jander. Strahds Lippen verzogen sich verächtlich. »Trost? Das Volk haßte mich, und mir war es völlig gleichgültig. Es gab keinen Trost. Nur der Tod wartete auf mich. Und dann … gab es eine zweite Chance, meine Jugend zurückzugewinnen.« Etwas Seltsames geschah. Strahds Stimme wurde leise und so sanft, wie Jander es niemals von ihm erwartet hätte. Auch sein Blick verlor seine berechnende Strenge und wurde fast menschlich. Sein ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen entspannte sich bei der Erinnerung. »Ich lernte sie kennen. Ihr Name war Tatyana, und sie kam aus dem Dorf. Jemand trat zwischen uns und zerstörte jede Möglichkeit, daß wir zusammen glücklich werden konnten. Ich verzweifelte. Wie konnte ich gegen diese Jugend ankämpfen, gegen diesen strahlenden jungen Krieger, der mir das einzige stahl, das ich je geliebt hatte?« Strahds Maske war gefallen, und Jander wußte, daß er nun den sterblichen Mann sah, der vor langer Zeit gelebt hatte. »Ich betete um Hilfe, um Rache. Und meine Gebete wurden erhört. Der Tod selbst erschien mir und schloß mit mir einen Handel - einen Pakt, der mit dem Blut meines Rivalen besiegelt -144-
wurde, den ich an seinem Hochzeitstag erschlug. Er hatte Tatyana so verzaubert, daß sie ihm freiwillig in den Tod folgte. Die Wachen versuchten mich zu töten, doch ihre Pfeile prallten von diesem Körper ab, ohne Schaden anzurichten. Der Tod hatte auf mich keinen Anspruch erhoben, doch das Leben hatte mich im Stich gelassen. So wurde mein Pakt mit dem Tod besiegelt, und ich erhielt meine Belohnung. Irgendwie war das Land nicht länger nur Barovia, sondern dieses seltsame, veränderte Reich, in das es Euch zu Eurem Unglück verschlagen hat. Ihr seht also, Jander Sonnenstern, mein Freund, ich kann Euren Verlust verstehen. Auch ich bin hier gefangen. Ich habe die Grenze des Nebels nicht übertreten; meine Schritte führen mich stets zu diesem Schloß und seinen Erinnerungen zurück.« Jander fühlte, daß etwas in Strahds Geschichte unausgesprochen geblieben war. An irgendeiner Stelle hatte er gelogen. So verderbt die Ereignisse auch gewesen waren, die tatsächliche Wahrheit mußte wesentlich entsetzlicher sein. Als Jander noch unter den Lebenden geweilt hatte, war er eines Tages auf eine Leiche gestoßen, die lange Zeit an einer Stelle gelegen hatte. Die Haut schien straff und fest zu sein, aber als der Elf sie zaghaft mit dem Schwert anstieß, platzte sie auf und entließ einen Strom zuckender Maden. Dieses Bild drängte sich ihm jetzt auf, als Strahd mit seiner Geschichte fertig war. Wie die Leiche damals erschien die Geschichte widerwärtig, doch von außen unversehrt und menschlich. Jander wußte, wenn er tiefer bohrte, würde die finstere Wahrheit der Geschichte wie Maden aus einer Leiche explosionsartig ans Licht schießen. »Es tut mir leid, Anna, doch ich habe nichts gefunden.« In seinem Traum lehnte Jander an dem verzierten Kaminsims in der Bibliothek. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und den Blick auf den Teppich gerichtet. Der Elf wollte Anna nicht ansehen. Irgendwie konnte er das Gefühl nicht -145-
unterdrücken, daß er sie im Stich gelassen hatte, obwohl er in den letzten beiden Wochen jeden Nachmittag damit verbracht hatte, über jedem Buch zu brüten, das er lesen konnte. »Es ist schon gut, mein Geliebter.« Doch sie klang traurig, und als sich Jander umwandte, saß sie reglos in einem roten Samtsessel. »Es ist nicht deine Schuld.« Sie erwiderte seinen Blick und lächelte, obwohl in ihren Augen die nicht vergossenen Tränen schimmerten. Ihm brach das Herz, und er ging zu ihr, um den goldgelockten Kopf in ihren Schoß zu legen. Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. »Ich habe alles ge lesen, was hier zu finden war. Strahd hat mir sogar beigebracht, wie ich seine Kurzschrift entziffern muß. Es gibt keine Aufzeichnungen, keine Dokumente - nichts, das ich mit dir in Verbindung bringen kann.« »Doch du lernst die Geschichte meines Landes kennen.« Jander verzog das Gesicht und preßte es gegen die kühle Wolle ihres blauen Rocks. Das war allerdings richtig, obwohl Barovia keine erfreuliche Vergangenheit hatte. »Vielleicht sind die Antworten hier im Schloß zu finden«, fuhr sie fort. »Vielleicht sogar ganz in der Nähe.« Jander hob den Kopf und schaute auf. »Warst du denn auf Schloß Rabenhorst?« Sie lächelte geheimnisvoll und gab keine Antwort. »Anna, warst du hier?« Der Elf erwachte in der Bibliothek, und seine Glieder waren steif, weil er auf einem Stuhl eingeschlafen war. Er streckte sich, stöhnte leise und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Bemühungen blieben erfolglos, und sein traumerfüllter Schlaf hatte ihn kaum erfrischt. Er erhob sich erschöpft. Sein Blick fiel zufällig auf die Tür zu Strahds verschlossenem Zimmer. Einen Augenblick lang fragte er sich, was der Graf so -146-
argwöhnisch magisch versiegelt dahinter verbarg. Leider hatte Jander seinem Gastgeber das Versprechen gegeben, dort nicht herumzusuchen. Er rieb sich die Augen, stellte das Buch, in dem er gelesen hatte, als er eingeschlafen war, zurück ins Regal und ging. Wenn Anna von ihm verlangte, den Rest des Schlosses zu erkunden, würde er das auch tun. Nach Einbruch der Nacht begab er sich in den Raum mit den Statuen. Es war Neumond, und das matte Sternenlicht, das durch die Reihen hoher, bogenförmiger Fenster hineinfiel, konnte nur wenig gegen die Dunkelheit ausrichten, so daß die reglosen Gestalten kaum erhellt wurden. Jander hielt die Fackel, die er mitgebracht hatte, seitlich in die Höhe, damit ihr Licht ihn nicht blendete, und ging von einer Statue zur nächsten. Die von Zarovitschs waren eine Familie mit ungewöhnlich schönen Gesichtern gewesen, selbst wenn man die Schmeichelei der Künstler berücksichtigte. Strahd hatte Jander gewarnt, daß einige seiner Vorfahren keinesfalls in Frieden ruhten. Das nahm ihm nicht das Unbehagen, als die verzweifelten Geister, die an ihre Statuen gefesselt waren, sich zu rühren und auf seine Neugier zu reagieren schienen. Zorn, Enttäuschung, Wut und Wahnsinn - die gefangenen Geister schienen ihm die schwachen Echos ihrer menschlichen Gefühle entgegenzuschleudern. Überwältigendes Leid, Verrat und Kummer: wieder jemand, dem das ruhevolle herrliche Leben nach dem Tod verwehrt geblieben war. Es handelte sich um die Statue, die ihm bereits in der ersten Nacht auf Schloß Rabenhorst aufgefallen war; die Statue, deren Kopf zu ihren Füßen lag. Jander kniete sich in den Staub und hob den Steinkopf vorsichtig in die Höhe, um ihn anzuschauen. Warum war diese Statue entstellt? Die anderen waren nur vernachlässigt. Zwischen ihren Gliedern hingen unzählige graue Spinnweben, die auch ihre Gesichter einhüllten, doch allein diese war vorsätzlich beschädigt worden. Welcher Zorn hatte sich an diesem steinernen Kopf ausgelassen? Welche -147-
Schuldgefühle waren der Grund, daß man den Kopf an den Füßen der Statue abgelegt hatte, statt den letzten Hinweis auf seine Identität zu tilgen? Jander wischte den Staub und die Spinnweben aus dem Gesicht und hielt die Fackel seitlich, damit er es besser studieren konnte. Die Gesichtszüge waren ansehnlich und maskulin, doch in ihnen lag eine Sanftheit, die Jander auf eine nicht zu beschreibende Weise an Anna und ihren Gesichtsausdruck in den wenigen, erschütternd kurzen Augenblicken der geistigen Normalität erinnerte. »Welcher Zauber hält dich hier gefangen?« fragte Jander den Steinkopf und erhob sich. Er versuchte, den Kopf auf den Halsstumpf zu setzen, den noch immer ein steinernes Medaillon schmückte. Der Steinkopf wackelte unsicher. Es war einfach zuviel Zeit vergangen, und er paßte nicht mehr auf seinen angestammten Platz. »Ich würde dich erlösen, wenn ich könnte«, sagte Jander leise und ließ sich auf ein Knie nieder, um den Kopf wieder abzusetzen, »und in die Neun Höllen mit Strahd.« Der Elf hielt die Fackel schräg und betrachtete die Inschrift auf dem Statuensockel. Ihre abgeblätterten und fehlenden Buchstaben verrieten ihm nicht mehr als in jener ersten Nacht, als Strahd seine Untersuchung so herrisch unterbrochen hatte. Er richtete sich auf und klopfte den Staub von der Hose. Er zitterte leicht. Irgendwie schien es angebracht, daß in dieser Nacht Schloß Rabenhorsts Verlies sein Ziel war. Eine schwere Eichentür, die von breiten, angelaufenen Messingbändern zusammengehalten wurde, gestattete ihm den Zugang zu einer Treppe. In Schloß Rabenhorst gab es Treppen in Hülle und Fülle, doch diese war so abgetreten, daß sogar Janders sicherer Schritt gelegentlich in den Vertiefungen ausglitt. Die Treppe führte in die Dunkelheit, und Jander war froh, eine Fackel zu haben. Mit der freien Hand stützte er sich an der feuchten Mauer ab, während er unter den leeren Fackelhaltern -148-
vorbeiging. Es wurde ein langer Abstieg, der schließlich an einer Stelle endete, die entweder ein kleiner Raum oder ein sehr großer Treppenabsatz zu sein schien. Er fühlte sich gefangen: Im Rücken lag die undurchdringliche Dunkelheit der Treppe, während von den vor und seitlich liegenden Türen eine stumme Drohung ausging. Jander hob die Fackel ein Stück höher, und das flackernde Licht fing sich in den höhnisch verzerrten Gesichtszügen der Gargylen, die bösartig von den Wänden heruntergrinsten. Jander schreckte unwillkürlich zurück, doch das versetzte ihn dermaßen in Wut, daß er die langen Fangzähne entblößte und zurückfauchte. Er öffnete die Tür vor sich und fand sich in einem kurzen Gang, den ein blutroter Samtvorhang begrenzte. Der Elf schlug ihn zur Seite und vor ihm lag ein Balkon, der mit der im ganzen Schloß üblichen Pracht ausgestattet war. Vor der Brüstung standen zwei Thronsessel. Was in aller Welt hatten die Schloßherren von hier aus sehen können? Er trat näher heran. Unten befand sich ein Raum, der einem kleinen Amphitheater ähnelte. Kreaturen, die einst Menschen gewesen waren, schlurften in dem Dämmerlicht in einem stummen Dause Macabre zwischen den Folterinstrumenten umher, die ihr Leben beendet hatten. Der Fackelschein spiegelte sich rötlich auf den elfenbeinfarbigen Gebeinen eines Skelettes wider, das unablässig eine neunschwänzige Katze durch die Finger zog, als würde es sich an den Geräuschen erfreuen, die Leder und Metall auf den blanken Knochen machten. Daneben zerrte ein Zombie wie eine Parodie auf eine erschöpfte Gegenwehr an den eisernen Fesseln, die ihn an der Wand festhielten; das rostige Eisen schälte Streifen verrottenden Fleisches ab. Überall in dem großen Verlies spielten die Toten Strahds witzige Einfalle nach und verspotteten ihr eigenes Ende, indem sie schwerfällig die Instrumente instand hielten, die sie gefoltert und umgebracht hatten. -149-
Jander schüttelte seinen Ekel ab und sprang über den Balkon. Er kam federleicht auf - die zerschmetterten Zombies boten den perfekten Gegensatz zu seiner geschmeidigen, goldfarbenen Anmut - und rümpfte die Nase über den Gestank. Den begleiteten Laute, die von irgendwo herkamen - leises Stöhnen und erstickte Schreie, die ihn an das alptraumhafte Kreischen versklavter Seelen und die Schreie der wahnsinnigen Frauen erinnerten, die seine Tage und Nächte mit Anna heimgesucht hatten. Er verzog das Gesicht und ging weiter. Zu seiner Linken befand sich ein Durchgang, der sich auf der Wand nur als ein dunkler Schatten abzeichnete. Die Schreie wurden mit jedem seiner Schritte lauter. Als er die Tür öffnete und den dunklen Gang betrat, wurde er von einem Getöse begrüßt, das ihn noch stärker an das Irrenhaus erinnerte. Von allen Seiten des Zellengangs drangen Geschluchze, Gestöhne und mitleidserregende Gebete auf ihn ein. Seine nicht erwartete Gegenwart brachte Bewegung in die Gestalten. Einige kauerten sich in die Schatten, andere wiederum eilten nach vorn und streckten Hände und Arme durch die Gitterstäbe, damit sie um Hilfe oder Gnade betteln konnten oder um Erlösung. Das also war Strahds »Speisekammer«. Jander blieb einen Augenblick lang stehen und hörte gequält zu. Er hatte kein Recht, die Gefangenen freizulassen. Er war nur ein Gast in diesem Schloß - Strahds Gast. Jander war erleichtert, daß Natascha seiner Obhut übergeben und nicht an diesem finsteren Ort des Schreckens eingeschlossen worden war. Er wollte den Geräuschen des Leides schnell entkommen und stieg eilig die gegenüberliegende, gewundene Treppe hinauf, wobei er den Blick starr geradeaus gerichtet hielt, damit ihm der Anblick der Gesichter der Verzweifelten erspart blieb. An dieser Treppe befand sich alle paar Meter eine Fackel. Oben befand sich eine Tür, doch in dem Raum, in den sie führte, -150-
herrschte eine so totale Finsternis, daß nicht einmal Janders Augen sie durchdringen konnte. Er hob die Fackel hoch. Er hatte den Kerker der Sterbenden verlassen. Nun befand er sich in der Halle der Toten. Vor ihm wurde die Gruft derer von Zarovitsch sichtbar. Er trat zaghaft vor. Einige Dutzend von Strahds illustren Vorfahren schliefen hier ihren letzten Schlaf. Zumindest nahm Jander an, daß sich die meisten mittlerweile in Staub verwandelt hatten. Dennoch wurde er den Verdacht nicht los, daß einige dieser Sarkophage Bewohner beherbergten,, deren Schlaf sehr unruhig war. Geräusche, die das menschliche Ohr nicht mehr wahrnehmen konnten, machten ihn auf die Gegenwart Tausender Fledermäuse aufmerksam. Sie bedeckten Decke und Wände und bewegten sich träge, um die fast blinden Augen vor dem ungewohnten grellen Licht zu schützen, das von Janders Fackel ausging. Einige, die sich besonders gestört fühlten, ließen sich von ihrem Ruheplatz fallen und fla tterten wie verrückt um den Elfen herum, wobei sie ihre schrillen Schreie ausstießen. Sie landeten auf der gegenüberliegenden Wand und drängten sich zwischen ihre Gefährten. Der Boden und die Deckel der einzelnen Sarkophage waren mit dicken Schichten von Fledermausexkrementen bedeckt. Sterbliche würden diesen Ort nur mit Entsetzen betreten, dachte Jander. Er verspürte nur Trauer. Er drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war, und die Verzweiflung hatte sich wie ein Kloß in seinem Elals festgesetzt. Immerdar! Immerdar! Heimat der Unseren, Reich der lieblichen Magie, Land des Lichts; Lang habe ich deine Wälder nicht mehr betreten, Lang sind die Schatten, aus denen die Nacht entsteht. Immerdar! Immerdar! Der Wind kommt aus Osten, -151-
der den Duft deiner Küsten mit sich trägt, und bald wird die Erinnerung an die Reiche verblassen, wenn dein verlorener, eigensinniger Sohn nach Haus zurückgekehrt ist. Natascha verfügte zwar nicht über die schöne Stimme der Elfenfrau, von der Jander dieses Lied gelernt hatte, doch das störte den Vampir nicht. Es erfüllte ihn mit Freude, in diesem finsteren Land jemanden die Lieder seiner Heimat singen zu hören. Er hatte Natascha die Melodie auf seiner Flöte vorgespielt. Sie hatte sich nach dem Lied erkundigt, und er hatte es ihr zusammen mit anderen beigebracht. So verbrachten sie viele Stunden: Jander spielte auf der Flöte, und Natascha begleitete ihn mit ihrer lieblichen, traurigen Stimme. Obwohl sie in den grauen Mauern Schloß Rabenhorsts eine Gefangene war, wurde sie gut behandelt. Jander hielt sie bei Kräften, so gut er konnte. An den Tagen, an dem es ihre Gesundheit erlaubte, begleitete sie ihn auf seinen Spaziergängen durch das Schloß. Dann folgte sie ihm wie ein stiller, kleiner Geist mit bleichem und angespanntem Gesicht, der dennoch gelegentlich lächeln konnte. Sie sprach ihn auch nicht mehr mit Herr an. Nun schwieg sie und sah auf ihre Hände. Dem Elf war nicht entgangen, wie ihre Stimme bei der Zeile »wenn dein verlorener, eigensinniger Sohn nach Haus zurückgekehrt ist« gebebt hatte. Besorgt setzte er sich neben sie auf das Bett und nahm ihre farblose Hand. »Bist du krank, Kleines?« fragte er sanft. »Habe ich dir zuviel von deinem Blut geraubt?« Sie schüttelte den Kopf. In den vergangenen zwei Monaten hatte sie ge lernt, ihm zu vertrauen und vielleicht sogar, ihn zu mögen. Er hoffte es jedenfalls. »Nein, Jander, es ist…« Sie kaute auf der Unterlippe. »Jander, kannst du mich nicht nach Hause gehen lassen? Bitte?« Jander wollte gerade etwas darauf erwidern, als er von einer -152-
kalten Stimme unterbrochen wurde, die von der Tür her dröhnte. »Du bist Gast auf Schloß Rabenhorst«, sagte Strahd leise und drohend. »Es wäre sehr unhöflich von uns, dir nicht unsere Gastfreundschaft zu erweisen, soweit sie in unserer Macht steht. Stimmt Ihr mir zu, Jander?« Der Elf spürte Zorn in sich aufsteigen, doch wie immer in Strahds Gegenwart vermied er es, dem Gefühl nachzugeben »Ihr seid der Gastgeber, Euer Exzellenz. Natürlich ist es Eure Entscheidung, wem Ihr Gastfreundschaft gewährt.« »Hm, allerdings. Jander, kommt in die Bibliothek. Wir haben lange nicht miteinander geredet.« Er ging mit dem sicheren Bewußtsein, daß Jander folgen würde. Der Elf schenkte der ängstlichen Natascha ein, wie er hoffte, aufmunterndes Lächeln und beeilte sich, den Grafen einzuholen. Als er die Bibliothek betrat, erhoben sich die vier Wölfe, die vor dem Kamin herumgelungert hatten, mit steifen Gliedern. Sie legten langsam die Ohren an und entblößten die scharfen, gelben Zähne. Jander hatte nicht mit dieser Reaktion gerechnet und sandte ihnen einen stummen Befehl. Meine Freunde, ich bin es nur. Beruhigt euch! Zu seiner Überraschung wich keiner der Wölfe zurück, Er versuchte erneut, ihr Bewußtsein zu berühren und stieß auf eine Barriere. Er sah zu Strahd hinüber. Der Graf saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in seinem Sessel und hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt. Auf seinem hageren Gesicht lag ein außerordentlich selbstzufriedenes, raubtierhaftes Grinsen. Man hätte Strahd durchaus der Prahlerei beschuldigen können, hätte der elegante Vampir diese primitive Gefühlsäußerung nicht verabscheut. »Sehr gut, Strahd«, meinte Jander etwas unbehaglich. »Sie stehen völlig unter Eurer Kontrolle. Wenn Ihr sie jetzt zurückrufen würdet, damit ich mich zu Euch gesellen kann?« Eine Weile rührten sich weder Strahd noch die Wölfe. Dann -153-
nahmen die vier großen Tiere in synchronen Bewegungen wieder vor dem Feuer Platz. Sie ignorierten Jander völlig, der sich zu seinem Sessel begab und Platz nahm. »Ich habe an meiner Willensstärke gearbeitet«, bemerkte Strahd trocken. »Ihr seid ein ausgezeichneter Schüler.« »Ah, das liegt aber nur daran, daß Ihr ein guter Lehrer seid. Und doch«, fuhr Strahd fast bedauernd fort, »muß ich mir erlauben, Euch einen Rat zu geben, falls es gestattet ist?« Stirnrunzelnd wartete er auf Janders Erlaubnis, fortfahren zu dürfen. Der Vampirelf nickte. »Ihr solltet Eure kleine Freundin töten. Auf diese Weise würdet Ihr über eine Sklavin verfügen, die Eure Dinge erledigt, statt über eine Kranke, die Ihr bedienen müßt.« »Darüber wollte ich sowieso mit Euch sprechen, Strahd. Ihr erschafft zu viele Sklavinnen«, erwiderte der Elf. Zu seiner Überraschung lachte der Graf. »Kann es überhaupt so etwas wie zu viele Sklavinnen geben?« »Mit Sicherheit. Wir Vampire gewinnen an Kraft, je älter wir werden. Wir lernen. Falls Ihr glaubt, es würde auch nur einen Sklaven geben, egal, ob es sich nun um einen Vampir handelt oder nicht, der sich nicht nach seiner Freiheit sehnt, unterliegt Ihr einem gewaltigen Irrtum. Außerdem begebt Ihr Euch dadurch in Gefahr.« »Ich danke Euch für Eure Besorgnis. Ich kann Euch versichern, daß meine Sklavinnen keine Bedrohung für mich darstellen. Ihr unterschätzt meine Fähigkeit, den Frieden zu erhalten, um es einmal so auszudrücken.« Sein Lächeln erinnerte an das einer Katze, die mit einer Maus spielt. Jander zuckte mit den Schultern. Er dachte nicht daran, sich auf Strands Spiel einzulassen. »Wie Ihr wünscht. Ich teile Euch nur meine Erfahrungen mit. Greift sie auf oder laßt es bleiben. Übrigens habe ich eine Frage. Ihr haltet diesen Raum hier so in -154-
Ordnung. Warum laßt Ihr zu, daß der Rest Eures Schlosses dem Verfall preisgegeben ist?« »Was mir etwas wert ist, behandle ich mit Sorgfalt«, erwiderte der Graf schlicht. »Ich schätze meine Bücher. Der Rest bedeutet mir nicht viel. Im Leben war ich ein Krieger, Jander. Ich habe stets edle Waffen in Ehren gehalten, doch im Laufe der Zeit habe ich gelernt, daß Bücher, und insbesondere Zauberbücher, ein begehrtes Gut sind. Außerdem, was kann mir der Luxus schon geben?« »Schönheit ist ihr eigener Lohn«, erwiderte Jander. Strahd verzog verächtlich die Lippen, enthielt sich aber eines Kommentars. »Falls Ihr es mir erlaubt«, fuhr Jander behutsam fort, »würde ich gern Teile von Schloß Rabenhorst restaurieren.« »Ihr werdet niemanden hierher bringen«, sagte Strahd kategorisch, und seine hypnotische Stimme erstarrte zu Eis. Die Wölfe am Feuer bemerkten den Wechsel in der Atmosphäre und hoben aufgeschreckt die Köpfe. »Natürlich nicht«, erwiderte Jander. Es ärgerte ihn, daß Strahd so etwas denken konnte. »Ich könnte hier selbst arbeiten. Es würde mir viel Vergnügen bereiten.« »Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll.« Jander rieb sich mit der Hand übers Kinn und suchte nach den richtigen Worten. »Ich bin nicht für die Finsternis geboren. Schönheit, Musik, Natur - diese Dinge stellen einen großen Trost für mich dar. Sie helfen mir dabei zu vergessen, was ich bin. Soweit ich das überhaupt vergessen kann. Der Tod beendet nicht die Sehnsucht nach diesen Dingen, Strahd.« Er sah dem Grafen in die Augen. »Ich war dabei, als Ihr musiziert habt. Ich habe gesehen, wie sehr es Euch berührt hat. Wir sind Vampire. Unsere Existenz … unnormal. Das heißt aber nicht, daß wir uns nicht einen Augenblick lang in etwas Schönem verlieren können. -155-
Etwas schätzen zu können, einfach weil es schön, natürlich und richtig ist und in Harmonie mit seiner Umgebung existiert, ist ein Geschenk, an dem auch wir uns noch erfreuen können.« Die Stimme des Elfen wurde hart. »Ich habe nicht vor, solche kleinen Freuden aus meiner Welt zu verbannen. Sie ist auch so schon von genug Finsternis und Einsamkeit erfüllt.« Strahd sah ihn lange Zeit sehr aufmerksam an. Jander erwiderte den Blick, ohne auszuweichen. Schließlich brach Strahd in Gelächter aus. »Was seid Ihr doch für ein Rätsel, Jander Sonnenstern! Ihr lebt von Menschenblut, gleichzeitig betrauert Ihr das Leben, das Ihr nehmt. Ihr seid ein Wesen aus Schatten und Finsternis, gleichzeitig sehnt Ihr Euch danach, von Schönheit umgeben zu sein. Ihr seid tot, könnt jedoch den Verfall nicht ertragen. Was seid Ihr eigentlich? Ihr könnt kein richtiger Vampir sein!« »Wie dem auch sei«, sagte Jander traurig, doch ohne jedes Selbstmitleid, »das ist genau das, was ich bin.« Strahd schwieg. »Nun gut, Ihr könnt soviel am Schloß arbeiten, wie Ihr Lust habt«, sagte er dann und stand plötzlich auf. »Ihr werdet mich entschuldigen.« Jander blieb in der Bibliothek sitzen und verwendete die nächsten Stunden darauf, eine historische Abhandlung über Barovias Heer zu Ende zu lesen. Anscheinend basierte Strahds Äußerung, ein mächtiger Krieger gewesen zu sein, auf der Wahrheit. Vor etwa hundert Jahren war er dank seines gut gedrillten Heers, seiner geschickten taktischen Fähigkeiten und den innigen Gebeten des örtlichen Priesters ein Held von großem Ansehen geworden. In der neunten Nacht des Angriffs ritt unser Retter durch die Balinok-Berge heran. Sein Name war Strahd von Zarovitsch, und sein Heer umfaßte Tausende tapferer Männer. Von Zarovitschs Heer kämpfte die ganze, lange Nacht lang. Man sagt, der Graf sei überall zugleich auf dem Schlachtfeld -156-
gewesen, und in der ersten Stunde habe er höchstpersönlich Hunderte von Feinden erschlagen. Der Erste Hohe Priester von Barovia, ein junger Mann namens Kir, hatte das Volk zum Gebet versammelt. Genau um Mitternacht zog er sich in die Schloßkapelle zurück, um dort zu meditieren und um Unterweisung zu beten. Es wurde ihm erlaubt, den Heiligen Talisman von Rabenhorst gegen den Goblinkönig zum Einsatz zu bringen. Während der Graf kämpfte und seine Männer zum Sieg führte, wurde gleichzeitig insgeheim der Heilige Talisman beschworen. Danach verbarg der Erste Hohe Priester Kir den Talisman an einem geheimen Ort. Niemand weiß, welche Form der Heilige Talisman hat oder wo er verborgen wurde. Bis zum heutigen Tag ist es keinem anderen Priester gelungen, sein Versteck zu finden oder seine Macht zu beschwören. Es ist jedoch unbestritten, daß seine mächtige Magie unseren edlen Grafen Strahd bei seinem wohlverdienten Sieg unterstützt hat. Jander sah skeptisch auf. Der ganze Abschnitt hörte sich an wie barovianische Propaganda. Für die Menschen des Dorfes war Strahd jedenfalls mit Sicherheit nicht ihr edler Graf und Retter. Der Vampir stellte das Buch pedantisch ins Regal zurück und kehrte in sein Gemach zurück. Er wurde von einem Anblick begrüßt, der ihn bis ins Mark erschütterte. Natascha lag ausgestreckt auf dem Bett. Ihr Gesicht war weißer, als er es je gesehen hatte, und zu einem Ausdruck des Entsetzens erstarrt. Sie war tot. »Wenn Ihr sie heute abend noch begrabt«, ertönte die kalte, glatte Stimme, »wird es nur einen Tag dauern, bis sie sich wieder erhebt. Sie wird eine nette, kleine Vampirin abgeben, findet Ihr nicht?« Jander wandte sich zornig dem Grafen zu. »Dafür sollt Ihr verdammt sein!« Strahd sah den Elfen überrascht an. »Ich habe Euch das -157-
Mädchen überlassen. Sie wurde älter und verlor ihre Blüte. Nun wird sie in diesem Zustand bleiben, solange es Euch gefällt. Das hattet Ihr doch mit Sicherheit vor, oder etwa nicht?« Jander wußte genau, was diese Handlung zu bedeuten hatte. Sie war eine Provokation; Strahd zog eine Linie und forderte ihn heraus, sie zu überschreiten. Was seid Ihr eigentlich? Ihr könnt kein richtiger Vampir sein! Einen kurzen Augenblick lang bohrte die hochmütige Bemerkung des Grafen in Jander. Strahd hatte in gewisser Weise recht. Der Elf sah zu Natascha und erinnerte sich an ihre liebliche Stimme und ihr Flehen, sie nicht zu seinesgleichen zu machen. Doch genau das machte einen Vampir aus: er saugte den Lebenden das Blut aus und erschuf weitere seiner Art. Jander überwältigte der Ekel vor sich selbst. Er wandte sich Strahd wieder zu und bedachte ihn mit jenem schmalen Lächeln, von dem er genau wußte, daß es den Grafen in Wut versetzte. »Aber natürlich, Strahd«, sagte er freundlich. »Da Ihr sie nun zum Vampir gemacht habt, ist sie Eure Sklavin, nicht meine. Ihr habt sie mir weggenommen. Steht mir nicht das Recht zu, deshalb auf Euch wütend zu sein?« Strahd runzelte die Stirn. Gegen diese Logik konnte er nichts einwenden. »Ihr habt recht. Ich entschuldige mich. Ich werde eine andere für Euch finden und es wieder gutmachen«, sagte er, ohne seine Fangzähne zu verbergen. Er verbeugte sich und ging. Jander ließ sich angewidert auf das Bett sinken. Es blieb ihm Zeit genug, um Nataschas Leiche so zu verstümmeln, daß sie nicht als Untote wiederaufstand, und sie dann zu begraben. Verflucht, Strahd hat immer das letzte Worte, dachte er. Unter der Kapelle gab es einen Garten, der aufgrund der fehlenden Pflege verwildert war. Ein paar traurige Blumen setzten sic h tapfer gegen das sie erstickende Unkraut zur Wehr. Hier und da konnte Jander ein paar wuchernde Rosenbüsche erkennen. Ein kleiner, aus Steinplatten bestehender Pfad führte -158-
durch den Garten zu einem Balkon, von dem aus man einen atemberaubenden Blick in den tausend Meter tiefen, steinigen Abgrund hatte. Jander bestattete Natascha in dem sterbenden Garten. Er nahm ein abgebrochenes Brett und grub ein Loch in die harte Erde. Als er damit fertig war, setzte er sich neben das frische Grab. Sein Blick fiel auf eine wunderschöne, kleine Blume, die neben seinem Fuß wuchs. Sie war rosarot und gelb, und ihre Blüte war kaum größer als sein Fingernagel. Er pflückte die Blume und atmete ihren süßen Duft ein. Plötzlich lächelte er. Hier, in diesem Garten, konnte er damit anfangen, wieder einen Hauch Schönheit in seine Welt zu bringen. Dieser Ort brauchte lediglich ein wenig Pflege und Mühe. Jander hielt die Blume fest, erhob sich und musterte die Gewächse abschätzend. Die Rosenbüsche waren zwar verwildert und vernachlässigt, doch nicht abgestorben. Es würde nicht viel Arbeit machen, den Garten wieder zum Leben zu erwecken. Vielleicht nur eine Nacht oder zwei. Jander spazierte bis zu der niedrigen Steinmauer, die die Anlage umgab, und schaute in die Tiefe. Einige hundert Meter tiefer wogte ein dicker Nebel, der den Blick auf den Grund der Felsspalte verwehrte. Allerdings konnte der Elf das Dorf südöstlich vom Schloß erkennen. Morgen abend würde er ins Dorf gehen und versuchen, den verschlossenen Menschen ein paar Informatio nen zu entlocken. Oder er würde sich in das entfernter liegende Vallaki begeben. Schließlich wußte er nicht mit Sicherheit, ob Anna aus dem Dorf stammte. Im Osten wurde es heller, und die Finsternis verwandelte sich in ein dunkles Grau. Jander wurde von Melancholie ergriffen, und die kurze Freude, die der Garten ihm gewährt hatte, schwand dahin. Es wurde Zeit, vor der von ihm so geliebten Sonne Schutz zu suchen. -159-
Einige Meilen entfernt beobachtete die Tochter des Bürgermeisters den herannahenden Sonnenaufgang. Sie lehnte auf der Fensterbank und schaute zu dem bedrohlichen Schatten Schloß Rabenhorsts hinauf. Anastasia seufzte, und ihr Blick fiel auf den mit Pflastersteinen ausgelegten Hof unter ihr. Es war nun drei Monate her, daß Petya sein Leben riskiert hatte, um sie vor dem Vampir zu warnen, und Anastasia sich ihrem Vater entgegengestellt und ihn mit seiner eigenen Furcht beschämt hatte. Seit jener Nacht war das Leben für alle Frauen der Familie Kartov viel angenehmer geworden. Dennoch konnte sich Anastasia, die mit geistesabwesendem Blick in den trüben, barovianischen Sonnenaufgang starrte, nicht von dem düsteren Gedanken befreien, daß kein Mitglied des Haushalts die Nachricht, daß sie schwanger war und ein Zigeunerkind unter dem Herzen trug, freudig begrüßen würde. Janders Versuche, das Vertrauen der Barovianer zu gewinnen, scheiterten kläglich. Viele Monate lang stattete er mit einer Börse voller Gold mehrere Male die Woche der Wolfsgrube einen Besuch ab, man begegnete ihm jedoch stets nur mit Mißtrauen. Er nahm in der dunkelsten Ecke Platz und blieb in der Hoffnung für sich, daß er mit dieser Taktik mehr Informationen sammeln würde, als wenn er einen der mißtrauischen Dorfbewohner in ein direktes Gespräch verwickeln würde. Der Vampir konnte tatsächlich vie l Neues aufschnappen, doch darunter war nichts, das er hören wollte. Vlad Soundsos Tochter war auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Mikhail Soundso hatte einen Wolf heulen hören und am Morgen den Kadaver einer Kreatur auf der Türschwelle vorgefunden, die halb Mensch und halb Tier war. Irina von der anderen Dorfseite hatte irgendein Ding zur Welt gebracht; niemand war sich sicher, was es genau gewesen war; als man die kleine Leiche verbrannte, hatte sie sich in eine klebrige Masse verwandelt und einen fürchterlichen Gestank verbreitet. -160-
Es hieß, Irina hätte den Verstand verloren, und man prostete ihrem armen Mann Igor aufmunternd zu… Jander hörte die Dinge, die sie beschrieben, und sie machten ihn krank. Es war kein Wunder, daß ihm niemand vertraute. Er ließ eine Handvoll Münzen auf dem Tisch liegen und stand auf. Dabei entging ihm nicht, daß Stille in den Raum einkehrte und sich jedermann umdrehte, um ihn anzustarren. Der Elf zog den grauen Umhang fester um seine schlanke Gestalt und eilte zur Tür hinaus. »Man erzählt sich, daß Ihr dann und wann hierher kommt«, sagte eine weibliche Stimme. »Ich habe mich gefragt, ob es mir gelingen würde, Euch abzupassen.« Jander drehte sich überrascht um, als er die junge Frau erblickte, die neben der Tür stand. Der schwarze Umhang verhüllte ihren hochschwangeren Leib nur unvollkommen, und das Licht aus der geöffneten Schenkentür beleuchtete ihr erhobenes Gesicht. Zu ihren Füßen wurden abgestorbene Blätter über das Pflaster geweht und verursachten ein trockenes Rascheln. In gebührender Entfernung standen zwei Diener ein Mann und eine Frau - und warteten geduldig. Jander schloß schnell die Tür, damit die Zecher nicht merkten, daß sie sich unterhielten. »Anastasia, richtig?« »Ja, ich bin es.« Sie sah, daß er zu den Dienern hinüberblickte. »Stört Euch nicht an ihnen. Es sind nur meine Zofe und der Kammerdiener meines Vaters. Ich wollte Euch von … nun …« Die Tochter des Bürgermeisters blickte auf ihren dicken Leib hinab und lächelte verlegen. »Es ist von Petya. Ich behalte es. Ich habe es ihm nicht … Er weiß nichts davon.« Jander sagte kein Wort, sondern wartete darauf, daß sie fortfuhr. »Papa ist nicht mehr die Landplage, die er einmal war. Dafür haben Eure Wölfe gesorgt.« Sie mußte lachen, und auch der Elf konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich habe daran gedacht, das Baby den Zigeunern zu überlassen, doch mir ist -161-
klar, daß sie es nicht nehmen werden. Außerdem wird es mich immer an Petya erinnern. Ergibt das einen Sinn? Ich rede dummes Zeug, ich weiß, doch …« Sie geriet ins Stocken und schaute dann ernst zu ihm auf. Ihre Augen waren von dunklen Ringen umgeben. »Ihr habt viel für mich und Petya getan, mehr, als Euch bewußt ist. Dieses Kind« - sie strich sich mit ihrer schützenden, liebevollen Hand über den Leib - »ist dafür eine Art Symbol für mich. Ich werde ihm alles über Euch erzählen, und Ihr werdet die Freundschaft meines Kindes besitzen, so wie auch meine und Petyas.« Sie wartete auf eine Reaktion. Jander war gerührt. »Meine Liebe«, sagte er leise und mit einem Hauch überraschter Verwunderung, die ihn sie als Gleichgestellte ansprechen ließ, »Ihr erweist mir mit Euren Worten eine Ehre. Ich hoffe wirklich, daß sich für Euch und Euer Kind alles zum Guten wenden wird.« Anastasia lächelte ihn erleichtert an. »Es strampelt gerade wie verrückt«, sagte sie impulsiv. »Wollt Ihr es einmal fühlen?« Der Vampir wollte ablehnen, doch die Vorstellung, ein neues, winziges Leben zu berühren, war zu verführerisch. Behutsam legte er eine Hand auf den Leib des Mädchens. Anastasia ergriff die Hand und führte sie über ihren Bauch. »Da!« rief sie triumphierend und beobachtete die Reaktion des Elfen. Janders Augen weiteten sich, als er spürte, wie sich das kleine Wesen bewegte. Er nahm die Hand schnell weg, ballte sie zur Faust und drückte sie ans Herz. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er gehetzt und mied ihren Blick. »Entschuldigt mich.« Er zog den Umhang enger und schritt mit weit ausholenden Schritten über den Platz auf den Pfad zu, der zum Schloß Rabenhorst führte. Anastasia sah ihm nach. Eine Wolke gab den Mond frei, und sein milchiges Licht überflutete den Platz. Sie keuchte leise und schüttelte dann den Kopf, erstaunt über ihre Verwegenheit. -162-
Petya hatte die Wahrheit über den Elfen gesagt - Jander warf keinen Schatten. Instinktiv faltete sie die Hände um das ungeborene Kind. »Kleines«, sagte sie leise, »du bist vermutlich das einzige Kind in Barovia, das einem Vampir die Freundschaft gelobt hat.« Sobald Jander außer Sichtweite war, wurde sein Körper zu Nebel, aus dem ein Wolf mit silberfarbenen Augen und goldenem Pelz wurde. Er lief durch den Svalitsch-Wald, der ihm kühlen Trost spendete, und konzentrierte sich auf seine Bewegungen und das Spiel der starken Muskeln unter dem zotteligen Fell. Die körperliche Anstrengung sollte ihn vergessen lassen, wie sehr er sich danach sehnte, wieder zu den Lebenden zu gehören.
II In der Zeit, die der Begegnung mit Anastasia folgte, wurde der Garten Janders Trost. Es waren fast zehn Jahre seit seinem Zusammentreffen mit der Schwangeren vergangen, als er eines Nachts daran arbeitete, die Rosenbüsche auf den Winter vorzubereiten, indem er sie beschnitt. Die anderen Pflanzen ruhten bereits, doch er konnte unter der behütenden Erde ihr Leben spüren. Im Frühling würde der Garten voller duftender Blüten sein. Jander erhob sich und wischte sich die schmutzigen Hände ab. Er schaute zum Himmel hoch. Die Morgendämmerung zog heran. Der Elf hatte ein Buch über die Restauration von Möbeln gelesen und es in der Bibliothek zurückgelassen. Als er es holte, stieß er beinahe mit Strahd zusammen, der aus seinem Zimmer -163-
trat. »Jander! Ich dachte, Ihr hättet Euch heute abend ins Dorf begeben«, sagte Strahd überrascht und hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Er hielt eine Fackel in der rechten Hand und trug ein Buch unter dem linken Arm. Schnell steckte er sich das Buch unter den rechten Arm und zog die Tür hinter sich zu. Dabei verhinderte er jeden Blick in den Raum. »Das war ich auch. Die Sonne geht bald auf. Ihr habt die Zeit vergessen.« »Anscheinend. Nun, ich muß vor Sonnenaufgang in meinem Sarg sein.« Er drehte sich um, steckte die Fackel in den Halter an der Wand und murmelte einen Zauberspruch, der die Tür magisch versiegelte. »Sind in diesem Raum auch Bücher?« fragte Jander. »Ich würde gern nachsehen, ob Aufzeichnungen dabei sind, die mir …« Strahd erstarrte und drehte sich dann langsam um. »Ihr werdet mich das nie, nie wieder fragen«, sagte er leise. »Habt Ihr verstanden? Ich bin der Herr dieses Schlosses, und es ist allein meine Sache, was ich verborgen halte. Ich habe meine Gründe, und Ihr werdet sie niemals in Frage stellen!« Er preßte das Buch an die Brust. »Laßt mich allein!« In keiner ihrer zweikampfähnlichcn Unterhaltungen hatte der Graf auf diese ausfallende Art seinem rasenden Zorn nachgegeben, und Jander fühlte sich dementsprechend gedemütigt. Er nickte knapp und machte sich auf den Weg in seine Gemächer. Strahd sprach ein rauhes, kehliges Wort, und die Bibliothekstür fiel hinter dem Elfen krachend ins Schloß. Jander ging in sein Gemach, den Raum, in dem Natascha gestorben war. Er hatte seit damals das Fenster verbarrikadiert und die Ritzen mit Pech versiegelt, damit er hier den Tag über bequem schlafen konnte. Er war müde und sehnte sich danach, sich auf die neue -164-
Daunenmatratze niederzulegen, die Strahd auf seine Bitte hin aus dem Dort besorgt hatte. Doch der Hunger nagte an ihm. Zögernd verließ er das bequeme Gemach und begab sich in den Kerker, der Strahds »Speisekammer« darstellte. »Hast du schon herausgefunden, wer ich war, Jander Sonnenstern?« ertönte Annas neckende Stimme. Jander tat in seinem Traum so, als würde er noch schlafen, und als sich Anna über ihn beugte, packte er sie und zog sie zu sich auf das Bett herunter. Sie lachte, stieß ihn zuerst halbherzig von sich, um ihn dann mit aller Kraft zu umarmen. Der Elf bedeckte ihr schönes Gesicht mit Küssen. »Nein, mein Schatz, das habe ich nicht«, erwiderte er auf ihre Frage. »Anscheinend hat es dich hier nicht gegeben. Weder in Barovia noch in Vallaki gibt es Irrenhäuser. Die Barovianer pflegen ihre Wahnsinnigen in der Familie oder setzen sie aus. Oder sie sterben«, fügte er melancholisch hinzu, »was für sie in diesem Land wohl das Beste ist.« »Vielleicht«, sagte Anna und streichelte mit ihrer kleinen Hand über Janders Brust, »war ich gar nicht im Irrenhaus.« Er starrte sie an und kam sich sehr dumm vor. Natürlich. »Hast du im Dorf gewohnt? Warst du verheiratet? Anna, zu welcher Familie gehörst du? Was …« »Jander, mein Freund, Ihr quält Euch!« ertönte da eine kalte Stimme, die auf keinen Fall Anna gehörte. Jander öffnete die Augen und bemerkte, daß er das Daunenkissen an die Brust drückte. »Vielleicht bekommt Euch dieses Gemach nicht, wenn Ihr solche Alpträume habt«, fügte Strahd hinzu und sah den Elfen an. Jander machte sich nicht die Mühe, darauf etwas zu erwidern, sondern setzte sich bloß auf und rieb sich mit der Handkante über die Augen. »Guten Abend, Strahd«, murmelte er. -165-
Der Graf zog sich einen Stuhl heran und nahm schwungvoll Platz. »Ich habe ein Geschenk für meinen Freund.« Eine mürrische Sklavin trat ein und brachte einen aus Mahagoni angefertigten Kasten, der etwa einen mal anderthalb Meter groß und zwölf Zentimeter tief war. Strahd nahm ihn entgegen und öffnete ihn. Jander machte große Augen. In dem mit Samt ausgeschlagenen Kasten lagen die Utensilien eines Künstlers. Kleine Flaschen mit farbigem Pulver warteten darauf, gemischt zu werden. Mit den drei verschiedenen großen Sticheln, die über silberne Spitzen verfügten, konnte man schnitzen oder gravieren. Es gab auch diverse kleine Hammer und Meißel. »Die sollen nur Euren Appetit wecken. Laßt mich bitte wissen, was Ihr sonst noch für Eure Arbeit benötigt, und ich werde es Euch beschaffen.« »Das sind Werkzeuge eines Meisters, Strahd«, sagte Jander ehrlich. »Ich danke Euch. Ich werde heute abend mit der Arbeit anfangen.« »Ich habe heute abend für Euch etwas… anderes geplant. Natürlich nur, wenn Ihr mich begleiten möchtet.« »Seht die Ankunft des Fürsten des Morgens!« Martyn Pelkar, der den ungeduldigen Barovianern im Verlauf der letzten zehn Jahre eher unter dem Name n Bruder Martyn der Verrückte bekannt geworden war, stand auf dem hölzernen Podium, das er mit eigenen Händen gezimmert hatte, und sprach jeden an, der sich in Hörweite befand. Der selbsternannte Priester eines Gottes, den er Lathander, den Fürsten des Morgens nannte, war schlaksig und hochgewachsen, hatte blondes, lockiges Haar und hellblaue Augen, die stets ziemlich entrückt in die Welt schauten. Er streckte die Arme in den Himmel und wandte sich dem Osten zu, als sich die Sonne langsam über den Horizont schob. »Jeden Morgen«, murrte der Bäcker Vlad Rastolnikov, der sich gerade mit dem letzten Schub Brot beschäftigte, der an -166-
diesem Morgen in den Backofen wandern sollte. Der große Mann schlug auf den Teig ein, der auf dem großen Tisch lag, und reagierte so seine Wut ab. »Er kann einfach nicht den Mund halten, oder? Nein, er muß herkommen und jeden sturen.« Die letzten Worte murmelte er in seinen buschigen, schwarzen Bart. Die Bäckerei war ein kleines Gebäude, und der große Ofen im hinteren Teil beanspruchte fast den ganzen Raum. Da das Feuer des Ofens für genug Helligkeit zum Arbeiten sorgte, brannten vorn nur ein paar Kerzen. Es gab einen langen Tisch, auf dem Rastolnikov das Brot knetete, und einen tiefen Schrank für die Schüsseln und Pfannen. Kolya, Rastolnikovs Lehrjunge, würde die frischgebackenen Brotlaibe auf dem Marktplatz verkaufen. Kolya, ein dicker Junge, der eine übertriebene Schwäche für die Produkte seines Herrn hatte, erschien an Rastolnikovs Seite. »Sind die schon für den Ofen bereit, Herr?« fragte er. Der Bäcker hielt inne; seine Unterarme waren bis zu den Ellbogen mit Mehl bedeckt. Er hatte dichte, schwarze Augenbrauen, die sich nun über den gleichermaßen dunklen Augen drohend zusammenzogen. »Was glaubst du eigentlich, was ich hier gerade mache?« Kolya wich geduckt zurück. »Na, geh ein paar Minuten an die frische Luft, Kolya. Die Hitze ist dir zu Kopf gestiegen.« »Vielen Dank, Herr«, erwiderte Kolya und eilte auf den Platz hinaus. Er zitterte in der Morgenluft und wünschte sich, er hätte einen Umhang mitgenommen. In der Bäckerei war er vor Hitze umgekommen, doch nun war er der feuchten Kühle ausgesetzt. »Sei rechtzeitig für den letzten Schub wieder da!« brüllte ihm sein Dienstherr hinterher. Kolya ging die Marktstraße entlang auf die alte Kirche zu. Hinter ihm war Martyn, dessen rotgoldenes Gewand einen auffälligen Kontrast zum grauen Himmel bot, noch immer mit seiner Sonnenaufgangspredigt beschäftigt: »Wir danken dir, o Fürst des Morgens, für diesen -167-
wunderschönen Sonnenaufgang und die Pracht deines neuen Tages …« »Wird auch Zeit, daß du kommst.« Kolya keuchte erschrocken auf und schloß erleichtert die Augen, als er sah, daß es sich um Sascha Petrovitsch, den Enkel des Bürgermeisters handelte, der an einem leerstehenden Haus lehnte und durchtrieben grinste. Er war mit einem einfachen Baumwollhemd und braunen Hosen bekleidet, und über seinen Schultern hing ein Umhang. »Ich habe mich schon gefragt, oh du es jemals schaffst, dem alten Griesgram zu entkommen. »Sascha, du weißt doch, daß ich es nicht mag, wenn du meinen Herrn so nennst«, protestierte Kolya halbherzig. »Hier.« Er reichte dem anderen Jungen die Hälfte eines frisch gebackenen Brotlaibes. Sascha streckte die Hand aus und nahm das angeboten«, Brot gierig. Er schnupperte erst anerkennend den Geruch, bevor er ein Stück abbiß. »Der Griesgram macht gutes Brot«, gab er mit vollem Mund zu. »Wir müssen uns beeilen«, drängte Kolya. »Martyn steht schon auf dem Platz.« »Weiß ich, doch er ist genauso langatmig wie mein Großvater. Vor allen Dingen, wenn es nicht regnet.« Sie hatten das Ende der Marktstraße erreicht und blickten zur Kirche hoch. Das Gebäude war alt und verwittert. Es war langsam verfallen, bis es »Martyn der Verrückte« für seinen Gott Lathander in Beschlag genommen hatte. Die Anstrengungen des jungen Priesters hatten subtile Veränderungen bewirkt: die Tür hing nicht mehr schief in den Angeln, die Fenster waren von Spinnweben befreit, und neue Scheiben funkelten im Licht. Die Gänge waren gekehrt, und neue Dachziegel hoben sich durch ihre andere Farbe vom Rest des Spitzdaches ab. Die Beweise der kürzlich erfolgten Inbesitznahme waren selbst für den draufgängerischen Sascha etwas entmutigend. Die alte Kirche -168-
war wieder ein heiliger Ort. »Ich kann einfach nicht glauben, daß ich mich von dir hab überreden lassen, etwas aus einer Kirche zu stehlen«, jammerte Kolya. »Wir stehlen nicht, wir … leihen uns bloß etwas aus.« Sascha überwand sein momentanes Zögern und riß an der Doppeltür. Die Türflügel öffneten sich zögernd und quietschend nach außen. Die beiden Jungen gewöhnten sich blinzelnd an das im Inneren herrschende Dämmerlicht. Der schmale Mittelgang wurde beidseitig von Kirchenbänken gesäumt. In der Luft lag Staub, doch der gegenüber befindliche Altar war gewissenhaft sauber gehalten. Sascha und Kolya entdeckten in seiner Mitte einen kleinen Stapel roter Holzscheiben - Symbole Lathanders und ein paar einfache, auf Hochglanz polierte Kerzenhalter, in denen bis zur Hälfte niedergebrannte Wachskerzen steckten. Neben dem Altar stand ein großes Becken auf einem Sockel. Ein verstohlener Sonnenstrahl funkelte auf dem Wasser. »Da ist es«, grinste Sascha triumphierend. Er lief den Mittelgang entlang, wobei seine Stiefel überraschend wenig Lärm verursachten. »Nun komm schon, Kolya!« Der andere Junge folgte zögernd. Sascha gab ihm mehrere kleine Flaschen. »Du füllst sie mit dem Weihwasser, und ich schnappe mir die Holzscheiben.« »Sascha, wir kriegen bestimmt Schwierigkeiten«, murmelte Kolya, als er das erste Fläschchen ins Becken tauchte und sich auf der spiegelnden Wasseroberfläche Luftblasen bildeten. »Kolya, du bist derjenige, der sich im Dunkeln fürchtet.« »Tu ich nicht!« »Tust du doch. Du hast gesagt: ›Oh, Sascha, ich habe Angst, dort ohne jeden Schutz hinzugehen!‹ Und jetzt sind wir hier, damit du etwas bekommst, mit dem du dich vor den Geschöpfen der Nacht schützen kannst. Also halt bloß den Mund, ja? Was bist du nur für ein Feigling! Kolya, der Feigling, so werde ich -169-
dich von nun an nennen.« Sascha schob die roten Scheiben verärgert in den Sack. Er nahm vorsichtshalber auch gleich die Kerzenständer mit. »Ich kann uns Lampen und Decken besorgen. Du kümmerst dich um die Spiegel und den Knoblauch, in Ordnung?« Kolya antwortete nicht. »In Ordnung?« Kolya hörte nicht zu. Er starrte entsetzt aus einem der Löche r in der bemalten Fensterscheibe. »Sascha, er kommt!« Der dunkelhaarige Junge griff mit der Geschwindigkeit eines flüchtenden Hasen mit der einen Hand seinen Jutesack und mit der anderen den Kragen seines Freundes. Kolya stolperte, fand jedoch sofort das Gleichgewicht wieder, und die beiden kleinen Diebe stürmten gemeinsam den Mittelgang entlang. Sascha stieß die schwere Tür noch im Laufen auf, und sie traf Bruder Martyn voll vor der Brust. Der Priester fiel rückwärts zu Boden. Sascha und Kolya fielen ebenfalls hin, rappelten sich jedoch sofort wieder auf und liefen so schnell los, wie sie nur konnten. Der junge Martyn blieb keuchend auf den Stufen liegen, bis er wieder Luft bekam. Stöhnend richtete er sich auf. Er öffnete die Tür und sah sofort, daß der Alt ar am anderen Ende völlig leer war. Zuerst war Martyn entsetzt, doch dann mußte er lächeln. Die Handlungen seines Gottes waren dem etwas verrückten Priester stets ein Rätsel. Jedoch wußte er eins mit Sicherheit: wenn die beiden Jungen die heiligen Symbole so dringend brauchten, daß sie gewillt waren, sie aus einer Kirche zu stehlen, sollten sie auch den Schutz genießen, den ihnen die Symbole geben konnten. Martyn wußte aus erster Hand, was in Barovias Nächten lauerte. Sascha und Kolya ließen sich in sicherer Entfernung am Fuß einer dicken Eiche zu Boden fallen. Sascha prustete hysterisch los, und sein ausgelassenes Gelächter steckte sogar den von panischer Angst erfüllten Kolya an, der zuerst lächelte und dann mitlachte. »Also gut«, sagte Sascha schließlich, wischte sich die -170-
Tränen aus dem Gesicht und legte eine Hand auf den vom Lachen schmerzenden Bauch. »Du mußt zu dem alten Griesgram zurück. Wir treffen uns bei Sonnenuntergang am Laden der Näherin. Das gibt einen Spaß!« Kolya war zwar nicht so überzeugt davon, doch er nickte trotzdem. Der Tag verlief wie gewöhnlich. Kolya verspätete sich in der Bäckerei, und sein Lehrherr versetzte ihm eine kurze Tracht Prügel, bei der das Mehl nur so staubte. Sascha Petrovitsch hatte den Unterricht geschwänzt und wurde von seiner Mutter erwischt, als er sich zurück ins Haus schleichen wollte. Sie saß auf der Treppe und wartete auf ihn. Ihr Gesicht war verhärmt und traurig. Sie musterte ihn einen Augenblick, bevor sie etwas sagte. »Alexei Petrovitsch, warum tust du das?« Sascha zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.« »Gefällt es dir nicht, etwas zu lernen? Ein kluger Junge zu werden?« »Nicht im Sommer.« Er schaute sie mit seinen kohlrabenschwarzen Augen an. Anastasia mußte lachen. »Setz dich neben mich«, lud sie ihn ein. Sascha stieg gehorsam die paar Stufen zu ihr herauf. Sie nahm ihn in den Arm, und er lehnte sich an sie. »Sascha, ich habe dir von deinem Vater erzählt, und warum ich so viel Wert darauf lege, daß du dich gut benimmst. Uns kümmert es nicht, daß du ein Halbzigeuner bist, doch im Dorf gibt es einige Menschen, denen das nicht egal ist. Nur wenn du etwas lernst, können wir sicher sein, daß du hier einen Platz finden wirst, wenn ich mal nicht mehr bin.« Sascha wurde unruhig. Es behagte ihm gar nicht, wenn seine Mutter ernst wurde. Immer, wenn sie davon sprach, daß sie eines Tages sterben würde, saß ein dicker Kloß in seiner Kehle. »Darf ich trotzdem heute abend zu Kolya?« Anastasia strich mit den Fingern durch sein seidiges Haar und blickte aus dem Fenster. »Ich weiß nicht. Es wird schon dunkel. -171-
Beeil dich und pack deine Sachen zusammen, dann sehen wir weiter.« Sascha stürmte die Treppe mit einer Geschwindigkeit hoch, die seine Mutter ihm nicht zugetraut hätte, und suchte seine Sachen für den »Übernachtungsbesuch« zusammen. Er hatte mittlerweile sein eigenes Zimmer. Es war zwar klein, doch es gehörte ihm allein: ein Bett, ein kleines Fenster und eine Truhe, in der seine Kleidung und sein Spielzeug verstaut waren. Der Zehnjährige durchwühlte sie auf der Suche nach seinem Jutesack. Seine Tante Ludmilla, eine gertenschlanke, attraktive junge Frau, die gerade zwanzig Jahre alt geworden war, steckte den Kopf durch die Tür und hätte ihn beinahe mit der Handvoll roter Holzscheiben erwischt. »Beeil dich lieber, kleiner Hase«, neckte sie ihn mit einem Lächeln. »Nenn mich nicht so!« »Es wird spät, kleiner Hase«, fuhr Ludmilla fort und ignorierte seinen Protest. »Wenn es dunkel wird, kommen die Wölfe aus ihrem Versteck. Grrr!« Er streckte ihr die Zunge entgegen, und sie ging lachend weiter zu dem Zimmer, das sie sich mit Anastasia teilte. Als Sascha hinuntereilte, stand seine Mutter an der offenen Tür und suchte unruhig den Himmel ab. Es war ein prächtiger Sonnenuntergang, wie es ihn nur im Sommer gab. Am wolkenlosen Himmel kämp ften Rot und Orange um die Vorherrschaft, und über dem Horizont konnte man bereits die geisterhafte Scheibe des Mondes erkennen. Die Vögel zwitscherten einander etwas zu, als sie sich auf den Schlaf vorbereiteten. An jedem anderen Ort würden nun Liebespärchen auf einer Wiese am Hügel sitzen und den Anblick mit Ehrfurcht und Erwartung beobachten. Die gehetzten Bewohner Barovias konnten jedoch die Schönheit des Sonnenuntergangs nicht genießen. Für sie bedeutete er die letzten sicheren Minuten vor -172-
Einbruch der gefürchteten Nacht mit all dem, was in ihr lauerte. »Vielleicht solltest du doch lieber nicht bei Kolyas Familie übernachten«, sagte Anastasia leise. »Mama, du hast es versprochen!« »Ich weiß, doch die Kalinovs wohnen auf der anderen Seite des Dorfes, und es ist fast schon dunkel.« »Ich beeile mich!« versicherte Sascha seiner Mutter. »Wenn ich sofort aufbreche, reicht die Zeit allemal!« Anastasia zögerte. Ihr war nur zu bewußt, daß die Zeit gnadenlos verging. »Nun gut. Warte!« Sie nahm eine Kette vom Hals und legte sie ihrem Sohn um. Der Junge rollte mit den Augen, denn er fand, daß seine Mutter es mit ihrer Besorgnis übertrieb. Er war in seinem ganzen Leben noch keinem Wesen begegnet, das auch nur annähernd einem Vampir oder einem Werwolf geähnelt hatte. Das galt erst recht für den Vampir, der seinen Eltern das Leben gerettet hatte. Sascha hoffte insgeheim sogar, daß Kolya und er in dieser Nacht dem mysteriösen goldhäutigen Vampirelfen begegneten. Der Junge machte sich nicht einmal die Mühe, sich den Anhänger anzusehen. Er wußte, wie er aussah - eine einfache Silberscheibe mit eingeritzten Schutzrunen. »Beeil dich«, bat Anastasia ihren Sohn, gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die breite Stirn und schickte ihn mit einem Klaps auf den Po los. Sascha lief, begeistert von seiner Freiheit, los. Anastasia sah ihm nach, und auf ihrem abgehärmten Gesicht lag ein trauriges Lächeln. »O Petya, er ist dir so ähnlich«, flüsterte sie leise. Dann sprach die Tochter des Bürgermeisters ein kurzes Gebet für ihr eigensinniges Kind, schloß die schwere Holztür und schob den Riegel vor. Kolya erwartete ihn wie versprochen. Er schaute verdrossen drein. »Ich hatte schon Angst, daß du nicht kommst«, begrüßte Sascha seinen Freund. Kolya warf ihm bloß einen bösen Blick -173-
zu und ging dann neben ihm über den überwucherten Pfad, der durch den Wald zu dem Hügel führte, auf dem die hohen Felsen standen. Der pausbäckige Junges stolperte einige Male über die hohen Wurzeln, und schließlich blieb Sascha stehen und zündete eine Laterne an, damit sie besser sehen konnten. Saschas Eltern hatten seinerzeit im Kreis der Steine ein paar Minuten für sich gehabt, darum stellte er für den jungen etwas Besonderes dar. Außerdem wirkte Gerüchten zufolge an diesem Ort ein mächtiger, guter Zauber. Sascha legte eine Holzscheibe vor jeden Felsen und plazierte dann den Rest auf dem großen, flachen, waagerecht liegenden Felsen in der Mitte. Kolya entzündete die Lampen und Kerzen, und dann schlüpften die Jungen unter die Decken, die sie mitgebracht hatten. Kolya zog seine Decke bis ans Kinn und beobachtete die Schatten, die sich direkt außerhalb des Scheins der rauchigen Öllampen drohend erhoben. Der starke Geruch der Knoblauchkette um seinen Hals bereitete ihm allmählich Übelkeit, »Ich will nach Hause, Sascha«, stöhnte er. Sascha warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Sieh mal, wir sind hier absolut sicher. Dieser Ort ist verzaubert, und wir haben alle möglichen Dinge, die uns schützen.« Plötzlich hörten sie ein Geräusch. Kolya kreischte, warf sich auf den Stapel mit den sakralen Gegenständen und schwang einen Spiegel in die Richtung, aus der das Geräusch ertönt war. »Trottel«, sagte Sascha kopfschüttelnd. »Du hast gerade den Angriff eines untoten Hasen abgewehrt. Ich gratuliere dir.« Tatsächlich verschwand ein weißer Hasen Schwanz in der Dunkelheit. Kolya wurde knallrot. Sascha ignorierte seine Verlegenheit, nahm statt dessen ein mitgebrachtes Buch und blätterte darin herum. »Da ist es«, sagte er triumphierend. Er machte es sich auf der rechten Seite bequem, legte das aufgeschlagene Buch vor sich hin und stellte -174-
die Lampe vorsichtig daneben. Eine Eule schrie unheilvoll. Sascha grinste. Dann begann er laut zu lesen und machte seine Stimme so tief und bedrohlich, wie es einem zehnjährigen Jungen möglich war. »Es war einmal ein Junge namens Pavel Ivanovitsch, der vor vielen Monden in dem Dorf Vallaki lebte. Er war kein gewöhnlicher Junge. Er war der Erbe der Sonne, und sein Lebensinhalt war es, die Dunkelheit in ihre Schranken zu verweisen. Sein Vater hatte ihm ein Stück der Sonne geschenkt, doch es war Pavel aus der Wiege gestohlen worden. Die Dunkelheit hatte es weit, weit entfernt verborgen. Als Pavel zum Mann heranwuchs, erkannte er eines Tages, daß er das Stück der Sonne zurückbekommen mußte. Also begab er sich in das Land der Dunkelheit. Er ging allein und auf sich selbst gestellt zu der finsteren Weide, wo die Alpträume grasen und der Fluß des Vergessens fließt, und dort traf er auf den ersten Wächter der Dunkelheit. Das war ein großer, bleicher Mann mit spitzen Zähnen und Klauen. ›Halt!‹ sagte der Nosferatu, denn Pavel wußte, daß es sich um einen solchen handelte. ›Bleib stehen, damit ich dein Blut trinken und durch deinen Tod leben kann.‹ Da sagte Pavel zu dem Nosferatu: ›Du kannst mich nicht aufhalten, denn ich bin der Erbe der Sonne, und ich werde dir das Böse zeigen, das du verkörperst.‹ Pavel hielt einen Spiegel hoch. Als der Nosferatu sah, wie böse er tatsächlich war, schrie er schmerzerfüllt auf und löste sich auf wie der Nebel im morgendlichen Licht der Sonne …« Kolya umklammerte die Knie und versuchte, die Geistergeschichte zu ignorieren. Er war davon überzeugt, daß er in dieser Nacht nicht eine Minute schlafen würde. Vermutlich war es ja nur seine Einbildungskraft, doch er wurde das Gefühl nicht los, daß sie von jemandem beobachtet wurden. Graf Strahd von Zarovitsch lachte leise auf, zog sich vor dem Steinkreis zurück und tauchte in den Schatten unter »Es würde -175-
sich allein deshalb schon lohnen über sie herzufallen, um ihre Gesichter zu sehen«, sagte er zu Jander. »Doch. die Jungen sind so klein, daß sie kaum als Vorspeise reichen würden.« Jander hielt diese Behauptung für recht überheblich. Strahd war die mächtige Magie dieses Ortes garantiert nicht entgangen. Die großen grauen Felsblöcke beschützten die beiden leichtsinnigen Kinder so sicher, als würde es sich um eine Festung handeln. Andererseits gehörte dieses Reich dem Grafen. Der Elf warf den drei Sklavinnen einen beunruhigten Blick zu. Sie standen stumm hinter ihrem Herrn; drei Vampirinnen, die in ihrem Leben stattliche Schönheiten gewesen waren und nun eiskalten Gehorsam ausstrahlten. Die drei waren typische Vertreterinnen der Art von Frau die Strahd attraktiv fand. Alle waren von überdurchschnittlicher Größe und hatten dunkles, rotbraunes Haar und dunkle Augen. Sie waren schlank, worin sie sich von den meisten barovianischen Frauen unterschieden, die zur Fülle neigten Sie ähnelten Anna so sehr, daß Jander jedesmal an seine Liebe denken mußte, wenn eine der Sklavinnen erschien, es quälte ihn. Strahd warf Jander einen Blick zu. »Was haltet Ihr davon?« Jander zuckte mit den Schultern. »Wie Ihr schon gesagt habt, ihr Blut reicht wohl kaum für uns alle. Außerdem bin ich davon überzeugt, daß Ihr den Schutz spüren könnt, den sie griffbereit haben. Ich glaube nicht, daß diese Kinder die Mühe wert sind.« Strahd musterte den Elfen einen Augenblick lang, dann nickte er. »Kommt«, sagte er. »Ich kenne einen Ort, an dem uns ein Festessen erwartet.« Er streckte die Hand mit den scharfen Nägeln aus und streichelte einer Sklavin über die Wange. »Hast du Hunger, meine Liebe?« Die Sklavin entblößte die langen Fangzähne und nickte mit leuchtenden Augen. Auch Jander verspürte einen rasenden Hunger, der wie ein Fieber in seinem Inneren brannte und verlangte, gestillt zu werden. Allein der Geruch der Kinder -176-
reichte aus, daß er erwartungsvoll sabberte. Er fragte sich, wohin Strahd sie führte. Gab es in der Nähe eine Gruppe abenteuerlustiger Reisender oder gar einen Söldnertrupp? »Dann laßt uns speisen. Nehmt Wolfsgestalt an, meine Schönen, dann begeben wir uns ins Dorf.« Gehorsam verwandelten sich die Vampirinnen in schlanke, braune Wölfinnen. Ihr Herr, der wie immer etwas Besonderes darstellen mußte, nahm die Gestalt einer monströsen, schwarzen Bestie an. Jander schloß sich ihnen an. Das Rudel folgte Strahd mit aufgerichtetem Schweif und angelegten Ohren in das nichtsahnende Barovia. Als sie unbemerkt an der Wolfsgrube vorbeiliefen, sah Jander, daß nun eine Kette aus Knoblauchzehen an der Tür hing. Er hatte im Dorf sowieso wenig Glück gehabt, Opfer zu finden, doch die Schenke hatte noch die beste Gelegenheit geboten. Er fluchte in Gedanken. Nun würde er öfters Vallaki einen Besuch abstatten müssen; dort war man nicht so vorsichtig. Der Elf folgte Strahd und den Wölfinnen über den Marktplatz; sie waren lautlose Schatten in der Dunkelheit. Er bemerkte, daß sie den Bürgermeisterweg entlangliefen, wo die höhergestellten Familien des Dorfes wohnten. Jander verspürte eine erste böse Vorahnung. Hier stimmte etwas nicht. Strahd bewegte sich mit einem sorgfältig gezügelten Enthusiasmus, der dem Elfen instinktiv nicht gefiel. Jander war schockiert, als sie vor dem Haus des Bürgermeisters innehielten. Der Anblick erfüllte den Elfen mit Sorge; er hatte Anastasia vor langer Zeit versprochen, daß sie durch ihn kein Leid erfahren würde. Der schwarze Wolf bäumte sich auf und nahm schimmernd wieder Strahds menschliche Gestalt an. Er bedeutete den anderen, es ihm gleichzutun. »Was wird hier gespielt?« verlangte Jander flüsternd zu wissen, sobald er wieder der Sprache mächtig war. Strahd ignorierte bedächtig Janders respektlosen Ton und -177-
antwortete: »Kartov hat mich betrogen. Er hat den Bauern in meinem Namen harte Steuern auferlegt, nur habe ich kein einziges Kupferstück erhalten.« Strahds eiskalter Tonfall ließ Jander das Schlimmste befürchten. »Was bedeutet Euch schon Geld, Euer Exzellenz?« fragte er in dem Bemühen, das abzuwenden, was nun folgen würde. »Es geht nicht um das Geld, sondern um die Tatsache, daß dieser arrogante Sterbliche denkt, mich betrügen zu können.« Jander hatte keine Schwierigkeiten, in der bedrückenden Finsternis das rote Feuer in Strahds Blick zu erkennen. »Ich werde ihm eine Lektion erteilen.« Er ging auf die Tür zu, blieb dann aber stehen. »Ich dachte, Ihr hättet Hunger«, sagte er leutselig. Jander suchte verzweifelt nach einem Ausweg. »Sie werden Euch zu dieser Stunde nicht einlassen.« Strahd lächelte. »Ich brauche keine Erlaubnis. Erinnert Ihr Euch nicht mehr?« Jander fiel jetzt wieder ein, wie er zum erstenmal Zeuge von Strahds abgrundtiefem Zorn geworden war, als der Graf gebrüllt hatte: Ich bin das Land! jedes Haus ist mein Haus. Strahd will die Familie des Bürgermeisters in ihrem eigenen Haus töten? Ein Vampir kann doch nicht einfach aus einer Laune heraus ein Dorf verwüsten! Strahds Existenz gründet sich auf Geheimhaltung, und das gilt auch für seine Sklaven. Der Graf weiß das. Er muß es wissen, dachte der Elf verzweifelt. Strahd begann mit melodischer, kaum hörbarer Stimme zu singen. Jander zuckte zusammen. Sein Abscheu vor Magie ließ sich auch nicht von seinem Blutdurst verdrängen. Die Tür glühte auf und strahlte einen hellen Glanz aus. »Sie ist geschützt«, sagte Jander. Strahd blickte ihn mit offener Verachtung an. »Was ist schon ein einfacher Abwehrzauber gegen den Beherrscher des Landes?« erwiderte er, und in seiner tiefen -178-
Stimme schwang ein amüsierter Unterton. Er sang erneut, bis der blaue Schein verschwand. Der Körper des Grafen löste sich in einen feinen Nebel auf, der unter der Türritze durchsickerte. Ein Riegel wurde zur Seite geschoben, dann schwang die Tür auf. »Tretet ein«, bat Strahd sie lächelnd herein. Die drei Sklavinnen eilten ins Haus. Jander folgte ihnen langsam. »Erinnert ihr euch an meine Befehle?« fragte Strahd die Vampirinnen. Sie nickten ausdruckslos. Die einzige Regung war der Hunger, der in ihrem Blick tanzte. »Ausgezeichnet. Ihr dürft euch bedienen, wo ihr Lust habt.« Sie sind wie Hunde, die eine Witterung aufnehmen, dachte Jander, als er die schönen untoten Frauen dabei beobachtete, wie sie Witterung aufnahmen. Allerdings ging es ihm genauso: auch er fand den Geruch der vielen Menschen, die sich in dem Haus aufhielten, sehr aufregend. Zwei Sklavinnen eilten in die Dienstbotenquartiere im Erdgeschoß. Die dritte Untote lief lautlos die breite Treppe hinauf. Jander und Strahd schlossen sich ihr an. Oben schlich sich der Elf in das erste Schlafzimmer, an dem er vorbeikam. Strahd ging weiter. Jander fand in dem kleinen Zimmer lediglich ein kurzes Bett und ein paar Möbelstücke. Das nächste Schlafzimmer war groß und prächtig möbliert. Hier standen zwei Betten, zwischen denen sich ein wunderschön gedrechselter Tisch befand. Hier schlief friedlich ein zwanzig Lenze zählendes Mädchen. Einen Augenblick lang dachte Jander, es handelte sich um Anastasia. Er trat näher heran und schaute sie an, sah das regelmäßige Atmen und die langen, schwarzen Wimpern, die auf vom Schlaf geröteten Wangen ruhten. Nein, bei dem Mädchen handelte es sich nicht um Anastasia, obwohl eine starke Ähnlichkeit bestand. Jander vermutete, daß es ihre Schwester war. Er setzte sich neben sie aufs Bett. Mit der Zärtlichkeit eines Liebhabers legte er eine goldfarbene Hand auf -179-
ihr dunkles Haar. Mit einem Biß von der Sanftheit des Kusses eines Sterblichen ritzte er ihre Kehle auf. Ein Blutfaden floß über die Haut; er leckte ihn ab und genoß die nahrhafte Flüssigkeit. Dann preßte er die Lippen auf die Wunde, nahm die junge Frau in den Arm und trank. Trotz des Hungers, der in seinen Eingeweiden wütete, ließ er sich Zeit. Sie würde nicht aufwachen, und er hatte keine Eile. Als er einige lange Minuten später fertig war, legte er sie wieder zurück aufs Kissen. Er roch den heißen Geruch vergossenen Blutes erst, als er wieder im Korridor stand und leise die Tür hinter sich schloß. Ein Schrei zerriß die Luft. Er kündete von Angst und Schrecken. Schneller als ein Gedanke folgte Jander dem Geruch bis zu dem größten Schlafzimmer, das am Ende des Korridors lag, und stieß die Tür auf. »Strahd!« Eine Vampirin beugte sich über den am Boden liegenden Körper eines älteren Mannes. Es war Bürgermeister Kartov. Seine Kehle war aufgeschlitzt, als hätte die Vampirin ihre Fangzähne wie einen Dolch benutzt. Die klaffende Wunde erinnerte an ein schreckliches, sich an der falschen Stelle befindendes Grinsen, und das Blut, das der barbarischen Schönheit entgangen war, verschmierte ihr Gesicht oder sickerte langsam in den tiefen, blaugoldenen Teppich. Die Frau des Bürgermeisters war auch tot und lag mit grotesk verkrümmten Armen und Beinen auf dem Bett. Sie sah aus, als hätte man ihr jeden Knochen im Leib gebrochen. Strahd hielt eine junge Frau in einem Griff, aus dem es kein Entkommen gab. Dem Grafen hatte es offensichtlich Spaß gemacht, seinen Hunger zu stillen, denn er hatte sich dabei Zeit gelassen. Die Frau lebte noch, obwohl sie schrecklich blaß und sehr schwach war. Der Lärm der gegen die Wand prallenden Tür veranlaßte sie, den Kopf in Janders Richtung zu drehen. Der Elf riß die Augen -180-
auf. »Anastasia!« schrie er. »Du hast es versprochen«, flüsterte sie mit bebender Stimme. Jander warf sich auf Strahd. Der Graf wurde von seiner wilden Wut völlig überrascht. Jander entriß ihm die sterbende Anastasia und schleuderte den größeren, viel kräftigeren Mann zu Boden. Die drei Vampirsklavinnen reagierten sofort auf die überraschte Wut ihres Herrn und stürzten sich auf Jander. Doch der Elf war uralt, seine Willensstärke stand der des Grafen in nichts nach, und er wußte sie besser einzusetzen, In seinem Inneren tobte ein wilder Zorn, der durch sein Entsetzen noch geschürt wurde. Er schüttelte die Sklavinnen ab wie ein Wolf, der sich dreier Füchsinnen erwehrt, und nahm Anastasia in die Arme; dabei starrte er Strahd haßerfüllt an. Der Graf erhob sich langsam und mit Würde. Er strich sich über das zerzauste schwarze Haar und glättete es. Seine Augen glühten rot. »Wie könnt Ihr es wagen, Euch zwischen mich und mein Opfer zu stellen?« »Ein Opfer ist eine Sache. Das hier ist ein Massaker!« »Es sind doch bloß Menschen. Sollte mich das stören? Ihr seid weichherzig, Jander, und das wird Euer Untergang sein!« Seine Wut verwandelte sich in bösartigen Humor. »Es sei denn, Ihr wolltet sie für Euch haben.« Seine blutverschmierten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und entblößten die langen und spitzen Fangzähne. Jander wich Strahds Blick nicht aus. Anastasia erzitterte ein letztes Mal in seinen Armen, dann erschlaffte sie mit einer schrecklichen Endgültigkeit. Der Elf zwang sich dazu, seine Trauer und sein Entsetzen zu zügeln, und als er sich wieder Strahd zuwandte, zeigte sein Gesicht die gleiche kalte Arroganz -181-
wie das des Grafen. »Ihr seid derjenige, der den Tod herausfordert, Strahd«, sagte Jander kühl. »Diese Menschen fürchten Euch, ja, doch Ihr solltet nicht ihren Zorn entfachen. Wir sind verwundbar, Ihr noch mehr als ich. Ich kann die Tiefe meines Schlafes kontrollieren. Ihr nicht.« Der Elf lachte, und seine Gefühle verliehen der sonst so melodischen Stimme einen häßlichen und wilden Klang. Er legte dem Grafen Anastasias blutleere Leiche zu Füßen. »Ein Bauer mit einem Pflock, Strahd, und Ihr würdet Euch durch nichts von ihr unterscheiden - Ihr würdet sogar etwas noch Geringeres darstellen, denn Ihr würdet Euch nicht als Sklave erheben! Erinnert Euch bei Sonnenaufgang daran, wenn Euch der Schlaf übermannt.« Strahds rote Augen zogen sich zu wütenden Schlitzen zusammen, doch er beherrschte sich und sagte kein Wort. Jander wußte, daß er zuhörte. »Habt Ihr jemals eine aufgebrachte Menschenmenge gesehen?« fuhr der Elf bitter fort. »Ich schon, und ich habe auf beiden Seiten gestanden. Es ist eine schreckliche, furchteinflößende Angelegenheit. Ihr könnt einzelne Menschen terrorisieren, doch wenn Ihr einer Gruppe gegenübersteht, die zu weit getrieben wurde, wird sie Euch aufspüren und Ihr könnt nichts unternehmen, um sie davon abzuhalten, Euch zu vernichten.« Die Vampirin neben Strahd fauchte voller Haß und hob die Klaue. Der Graf hielt sie mit einer Fingerbewegung zurück. »Laß ihn.« »Ich habe es erlebt«, fuhr Jander fort. »In meiner Heimat hatte eine Gruppe von Vampiren ein ganzes Dorf unter Kontrolle. Sie wurden hochmütig und richteten ein Massaker an. Die Dorfbewohner rotteten sich zusammen und vernichteten sie. Danach war es keinem Vampir mehr möglich, einen Fuß in dieses Dorf zu setzen. Diese Menschen bringen allen Fremden nur noch Haß entgegen, und das für alle Zeiten - fast so wie in -182-
Barovia. Graf versucht, ein bißchen mehr Vorsicht walten zu lassen. Nicht jeder in diesem von den Göttern verlassenen Höllenland ist ein Narr.« Zu Janders Erstaunen war das rote Funkeln in Strands Augen verblaßt; der Graf schien nachzudenken. »Jander Sonnenstern«, sagte er langsam, »Ihr habt recht … bis zu einem gewissen Punkt. Das ist mein Land. Ich mache hier, was ich will, und heute nacht wollte ich in den Kartovs die schwarze Bestie des Entsetzens wecken.« Er lächelte kalt. »Das habe ich getan. Nun werde ich Euren Vorschlägen zuhören, wie wir unsere, wie soll ich es ausdrücken, Spuren verwischen können.« Der Elf wußte nicht, was er sagen sollte. Strahd hatte seine Argumente auf meisterhafte Weise zu seinen eigenen gemacht und Jander nachgegeben, ohne einen Schritt von seiner Position zu weichen. Und als könne er die Gedanken des Elfen lesen, lächelte Strahd nun. »Also, zuerst müßte man die Leichen vernichten.« Jander warf der neben ihm stehenden Vampirin einen Blick zu. »Ihr habt sowieso schon zu viele Sklavinnen.« Er dachte, daß der Graf ihm in diesem Punkt widersprechen würde, doch Strahd nickte. »Bringt sie alle nach unten«, befahl er den Vampirinnen. Wortlos hob jede der schönen Untoten eine Leiche auf und trug sie schweigend durch den Korridor. »Was soll ich Eurer Meinung nach nun tun?« »Wir sollten das Haus niederbrennen. Es wie einen Unfall aussehen lassen. Wenn wir alle Beweise zerstören, wird es keinen Grund für Verdächtigungen geben.« Jander hatte vor, bis zum letztmöglichen Moment abzuwarten und dann die junge Frau, deren Blut er getrunken hatte, nach draußen zu tragen. Man trug die Leichen im Wohnzimmer zusammen. Die kräftigen Blutsaugerinnen zerbrachen mühelos die Möbel und errichteten in der Mitte des Zimmers einen Scheiterhaufen, auf -183-
den man die Toten legte. Jander konnte es nicht ertragen, ihnen dabei zuzusehen; es beschwor eine jahrhundertealte Erinnerung. Strahd hielt vorsichtig eine Fackel in das noch brennende Kaminfeuer, entzündete sie und steckte sie in den Scheiterhaufen. Dort qualmte sie zuerst vor sich hin, dann fing das Holz Feuer. Schwarzer, rußiger Rauch stieg in die Höhe. Jander bewegte sich unbemerkt auf die Treppe zu. Plötzlich vernahmen die Vampire einen lauten Ruf, in den andere einfielen. »Feuer! Feuer im Bürge rmeisterhaus!« Strahd fluchte und löste sich in eine Nebelwolke auf, die aus einem der offenstehenden Fenster schwebte. Jander zögerte und warf einen besorgten Blick auf die Stufen. Er bemerkte ärgerlich, daß er in eine Blutpfütze getreten war und feuchte, rote Fußabdrücke hinterlassen hatte. Die Schläge gegen die Tür nahmen ihm die Entscheidung ab. Die zur Hilfe geeilten Dorfbewohner würden das oben liegende Mädchen schon finden. Jedoch würden sie unglücklicherweise auch über die Leichen stolpern. Die Schläge wurden immer heftiger. Die Tür würde jeden Augenblick nachgeben. In einem letzten Versuch, die Tragödie zu vertuschen, schnappte sich Jander einen brennenden Holzscheit und hielt ihn an die Vorhänge, die sofort in Flammen aufgingen. Er warf den Scheit zurück ins Feuer, verwandelte sich in eine Fledermaus und flatterte genau in dem Augenblick, in dem der Türriegel brach, an den lodernden Vorhängen vorbei aus dem Fenster. Der Elf ließ die blutige Szene hinter sich und entkam in die willkommene, feuchte Kühle der Nacht. Seine bitteren Gedanken beschäftigten sich mit dem Vorfall. Strahd haßte Schwäche; Jander wußte genau, daß er die ganze Sache nur seinetwegen inszeniert hatte. Seine Augen füllten sich mit blutigen Tränen, und er versuchte die Erinnerung an Heitertal und die entsetzlichen -184-
Geschehnisse zu unterdrücken, die sich dort vor so vielen Jahrhunderten abgespielt hatten. Natürlich trug die Erinnerung den Sieg davon. Die Abenteurer, die sich die Silbernen Sechs nannten, hatten den roten Drachen des Tales zur Strecke gebracht. Heitertal behandelte seine Helden dementsprechend und gewährte ihnen in der Schenke Zum Sinkenden Schwan freie Kost und Logis. Jander und seine Gefährten - Gideon von Tiefwasser, Trumpfas Hohlhügel, Lyria die Liebliche, Kellian Grauwolke und Alinora Malina - waren überrascht und freuten sich über den Empfang. Als Jander den Vorschlag gemacht hatte, sich in dem gastfreundlichen Tal auszuruhen, bevor sie neuen Abenteuern entgegenzogen, hatte keiner etwas dagegen gehabt. Das war vor drei Tagen gewesen. Seitdem hatte Trumpfas Probleme mit den Ordnungshütern bekommen, weil er das Stehlen nicht lassen konnte. Allerdings war es dem Halbling gelungen, sich aus der Sache herauszureden. Lyria mit den goldenen Locken hatte zwei Heiratsanträge und andere Angebote erhalten, und sie fand diese Aufmerksamkeiten so nervtötend, daß sie dem letzten Freier gedroht hatte, ihn in ein Leucrotta zu verwandeln. »Dein Atem stinkt auch so schon genug«, hatte sie dem gedemütigten jungen Mann mit auf den Weg gegeben. Die schüchterne, dunkelhaarige Alinora und der noch reserviertere Ranger Kellian lernten sich besser kennen, und Jander machte in Begleitung des Priesters Gideon das Dorf unsicher. An jenem Abend hatten sich die Silbernen Sechs in der Schenke zu einem gemütlichen Abendessen getroffen. Drei Musikanten spielten neben dem Feuer, das behaglich und wärmend in dem großen Kamin prasselte. Das fröhliche Geplauder der erleichterten Dorfbewohner füllte den Raum mit einem tröstlichen Hintergrundgeräusch. Die Dienstmagd war schnell, höflich und hübsch anzuschauen. Es war eine idyllische -185-
Umgebung für einen angenehmen Abend unter guten Freunden. Trumpfas hatte vergnügt für zwei gegessen, und auch die anderen genossen die vorzügliche Mahlzeit. Kellian bildete jedoch eine Ausnahme; er hatte dunkle Ringe unter den blauen Augen, und sein sonst so gebräuntes Gesicht erschien unnatürlich blaß. »Tut dir der Hals noch immer weh?« fragte Alinora besorgt. Schüchtern legte sie ihre rauhe Kriegerinnenhand auf die seine. Kellian nickte teilnahmslos und rührte mit dem Löffel in der Fleischbrühe herum, die Jander ihm bestellt hatte. Der Ranger klagte nun schon seit einigen Tagen über einen wunden Hals, und er wurde mit jeder Stunde schwächer. »Vermutlich hast du dir was durch diese Wanzenstiche eingefangen«, sagte Trumpfas mit vollem Mund und zeigte mit einer Hähnchenkeule auf die beiden winzigen Einstichwunden an Kellians Hals. »Es tut mir leid, Jander, aber ich kriege es nicht runter«, sagte der Ranger tonlos und schob die Schüssel beiseite. Lyria runzelte die Stirn, und ihre jadegrünen Augen verengten sich, doch sie sagte nichts. »Versuch es wenigstens«, drängte Jander ihn. »Wie soll dein Körper die Krankheit denn besiegen, wenn er keine Nahrung bekommt?« Kellian schaute den Elfen fahrig an. »Ich habe nur keinen Hunger, das ist alles«, murmelte er. »Ich gehe schlafen. Morgen früh bin ich wieder in Ordnung. Ich brauche bloß eine Nacht Schlaf.« Jander wollte Kellian wieder die Suppe hinschieben. Dabei kam er mit dem Handgelenk seines Freundes in Berührung. Er verbarg sein Erschrecken. Obwohl Jander den Tisch genommen hatte, der dem großen Kaminfeuer am nächsten stand, war Kellians Haut eiskalt. Der Ranger war am nächsten Morgen tot, und Jander fiel die Aufgabe zu, die Gefährten zu info rmieren. Alinora brach es das -186-
Herz. Auch Lyria konnte die Tränen nicht unterdrücken, und sogar der Halbling Trumpfas war ungewöhnlich still. Das Begräbnis fand noch am Nachmittag statt. Jander begleitete seinen Freund mit der Flöte in den ewigen Schlaf, und die freundlichen Menschen Heitertals, die den trauernden Fremden ihr Beileid aussprachen, wollten auch für die Bestattung des unglücklichen Kellian kein Kupferstück annehmen. Am darauffolgenden Morgen erwachte Alinora mit einem wunden Hals. Sie war blaß und hatte die gleichen Insektenstiche am Hals wie Kellian. Jander machte sich Sorgen. Er zog im Dorf Erkundigungen ein und entdeckte, daß ein Viertel der Bevölkerung an der geheimnisvollen Krankheit litt. »Das gefällt mir nicht«, sagte Gideon, als sie in der Schenke zum Mittagessen einkehrten. »Das ist keine normale Krankheit.« Jander nahm einen Schluck Wein. In der Schenke hielten sich nur wenige Leute auf. Das lag an der Krankheit, die im Dorf grassierte. Gideon, ein Bär von einem Mann, der bis zu dem Tag, an dem einer der Götter ihn in seine Dienste gerufen hatte, Krieger gewesen war, starrte in das gelbliche Ale, das vor ihm stand. »Bei Alinora hat meine Behandlung nicht angeschlagen«, sagte er leise und sah traurig auf. Jander versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Gideon war trotz seines rauhen Benehmens ein Priester, der über große Fähigkeiten verfügte, die mit Einfühlungsvermögen verbunden waren. Jander hatte noch nie erlebt, daß jemand nicht wieder gesund wurde, nachdem Gideon um seinetwegen zu Ilmater gebetet hatte. »Vielleicht ist sie gar nicht so krank«, meinte er und wußte, wie lahm sich die Entschuldigung anhörte. Er mied Gideons Blick. Ilmater war der Gott der Märtyrer, Schutzherr all derer, die gelitten hatten. Es war unvorstellbar, daß er sich weigerte, Alinoras Schmerzen zu lindern. Als Alinora in dieser Nacht im Schlaf starb, war Gideon verzweifelt. Diesmal akzeptierten die Talbewohner Geld für das -187-
Begräbnis; es hatten sich zu viele Tote angesammelt, als daß sie es sich leisten konnten, darauf zu verzichten. Die schlanke, hübsche, spitzbübische Alinora wurde in einem schäbigen Sarg beerdigt, den man hastig zusammengezimmert hatte, und in Gideons Augen glänzten Tränen, als Jander für die zweite gestorbene Gefährtin auf der Flöte ein Klagelied anstimmte. Als sie wieder in der Schenke waren, entging dem Elfen nicht, daß viele der Zecher, die ihnen noch vor ein paar Tagen Ale ausgegeben hatten, sie jetzt mit verstohlenen, feindseligen Blicken bedachten. »Ich glaube, wir sind hier nicht mehr willkommen«, sagte er leise zu Lyria. Die Magierin strich das lange blonde Haar aus dem makellosen Gesicht. »Ich stimme Jander zu. Wer ist dafür, daß wir morgen weiterreisen?« »Ich«, sagte Trumpfas. »Sobald man mir das Bier nicht länger bezahlt, bin ich weg.« Jander wandte sich Gideon zu. Der Priester starrte düster ins Kaminfeuer. Sein buschiger, brauner Vollbart verbarg die aufeinandergepreßten Lippen. »Gideon?« fragte der Elf. »Ich habe zugehört«, sagte Gideon kurz angebunden, doch der grobe Ton konnte seinen Schmerz nicht verbergen. »Ja. Verlassen wir diesen Ort.« Jander warf Lyria einen Blick zu. Beide wußten, daß die Tragödie den Priester am härtesten getroffen hatte. Am nächsten Morgen stand das Dorf unter Quarantäne, und die Gefährten mußten mindestens noch eine weitere Woche bleiben. Die Bevölkerung starb mit einer überwältigenden Schnelligkeit dahin; es waren zu viele, um sie zeremoniell zu begraben. Jemand schlug vor, die Toten zu verbrennen, um die Ausbreitung der Krankheit einzuschränken. Diejenigen unter den Dorfbewohnern, die zum Aberglauben neigten, konnten durchsetzen, daß man die kürzlich begrabenen Toten wieder ausgrub und an der Seite der frisch Verstorbenen verbrannte. -188-
Man entzündete einen riesigen Scheiterhaufen und stapelte die Leichen - einige noch warm, andere bereits ein paar Tage alt darauf. Verschiedene Priester kamen und sprachen ein paar passende Worte. Die Überlebenden warfen den vier Fremden nervöse Blicke zu, und Janders scharfe Elfenohren schnappten feindseliges Gemurmel auf. Da wurde die Andacht der Trauernden von einem wuterfüllten Schmerzensschrei erschüttert, wie Jander ihn noch nie in seinem Leben vernommen hatte und hoffentlich nie wieder hören mußte. Er keuchte und riß vor Entsetzen und Erstaunen die silberfarbenen Augen weit auf. Die Leichen auf dem Scheiterhaufen regten sich. Mit zielgerichteten Bewegungen versuchten sie, den Flammen zu entfliehen. Einige waren bereits teilweise verbrannt und schrien ihren Schmerz, heraus; sich ruckartig bewegende Monstrositäten aus verwesendem und verkohlendem Fleisch. Andere waren noch völlig unversehrt und warfen sich auf die Trauernden. Jander stürmte zur Schenke, um sein Schwert zu holen, während Lyria einen Zauber wob. Als er die Stufen hinunterpolterte und auf die Straße stürmte, kam er rutschend zum Stehen. Alinora wartete auf ihn. Ihre Unschuld hatte sich in Wollust verwandelt, und ihre wohlproportionierte Gestalt hatte jegliche Attraktivität verloren. Das kurze, dunkle Haar war blut- und schmutzverklebt. Sie öffnete den roten Mund, und Jander konnte die langen spitzen Fangzähne sehen. Dann warf sie sich auf ihn. Er hieb mit dem Schwert nach ihr und brachte ihr am Oberkörper eine tiefe Wunde bei. Alinora kreischte schmerzerfüllt auf, doch die Verwundung fachte ihre Wut nur noch an. Sie griff mit den langen, durch den Schwertkampf gestählten Armen zu und packte den Elfen. In den roten Augen glühte nackter Haß, doch Janders Elfenblut schützte ihn vor der Hypnose. Der Goldelf setzte sich weiter zur Wehr, zumindest -189-
die Vorstellung, im Kampf zu sterben, erfüllte ihn mit Erleichterung. Die Vampirin verfügte über unglaubliche Kräfte, und Jander wußte, daß er sich aus ihrem Griff nicht befreien konnte. Alinora bleckte die Zähne, um sie in seinen Hals zu schlagen. Da ertönte hinter ihm ein lauter Ruf. »Weiche, Dämon!« Alinora kreischte auf und zuckte zusammen. Sie entließ den Elfen abrupt aus ihrem unnatürlichen Griff, und er stürzte zu Boden. Die Vampirin fauchte wütend. Ihre Pläne waren durchkreuzt, und sie verwandelte sich in Nebel. Dann war sie verschwunden - zumindest für den Augenblick. Der Elf schaute zu seinem Retter hoch. Die Straße wurde von flackernden Fackeln gesäumt, und in ihrem Licht erkannte er Gideons unverwechselbare Gesichtszüge. Der Priester hielt ein Medaillon ausgestreckt, in das die gekreuzten Hände Ilmaters eingraviert waren. »Danke, alter Freund«, keuchte der Elf und ließ zu, daß man ihm aufhalf. Gideon untersuchte mißtrauisch Janders Hals und Handgelenke. »Hat sie…?« Jander schüttelte den Kopf. »Gut. Jander, verstehst du, was hier vor sich geht und was wir tun müssen?« Jander nickte ernst. »In Heitertal sind Vampire eingefallen. Wir müssen ihre Seelen erlösen.« Es hörte sich nach einem mutigen und edlen Unterfangen an, und vielleicht war es das sogar, doch der Elf entdeckte, daß er kein einziges Mittel gegen diesen unsagbaren Schrecken wußte, den die Vampire verbreiteten. Man konnte sich leichter mit dem Bösen auseinandersetzen, wenn es sich in einer häßlichen, unmenschlichen Kreatur manifestierte und nic ht die Gestalt eines Freundes angenommen hatte. Seite an Seite machten sich die Elfen-Krieger und der zum Priester geläuterte Kämpfer zögernd auf den Weg zum nächsten -190-
Tempel. Obwohl sich ein Haus der Glücksgöttin Tymora direkt um die Ecke befand, brauchten sie für den Weg quälend lang. Die Nachtluft war von überirdischen Lauten erfüllt: Schreie und Stöhnen und ein bösartiges, beinahe menschliches Gelächter, das von allem vermutlich noch am schrecklichsten war. Einige Untote versuchten näherzukommen, doch dann fauchten sie wütend und überrascht auf, wenn Gideon ihnen die Macht seines Märtyrer-Gottes in den Weg stellte. Ein paar der Dorfbewohner hatten Tymoras Tempel vor den Helden erreicht und den Eingang sicher vor den Kreaturen der Nacht verschlossen. Gideon und Jander pochten mit wachsender Verzweiflung und Furcht gegen die massive Eichenholztür. Da ertönte auf der Straße eine vertraute Stimme. »Geht zur Seite und deckt mich!« befahl Lyria. Entschlossen murmelte sie etwas Unverständliches und klatschte dreimal in die Hände. Die Tür schwang auf und gab den Blick auf Dutzende angsterfüllter Dorfbewohner frei, die sich im Inneren verbargen. »Los, worauf wartet ihr?« rief Lyria ihren Gefährten zu und warf die blonden Zöpfe über die Schulter. »Nur Vampire brauche n eine Einladung!« Sie eilten hinein und schlugen die Tür hinter sich zu. Lyria und ein anderer Zauberer versiegelten die Tür mit Magie, während Gideon nach Tymoras scheuer Priesterin suchte. »Ich habe mich schon gefragt, wann ihr endlich kommt«, wurde Jander von Trumpfas begrüßt. Er gab sich völlig ungerührt, doch als er dem Elfen die Hand schüttelte, spürte dieser die kameradschaftliche Zuneigung, die in seinem Griff verborgen lag. Als die Sonne nach einer schlaflosen, von Schrecken beherrschten Nacht den Horizont berührte, machten Jander und seine Gefährten Jagd auf die Vampire. Die Talbewohner, die die Silbernen Sechs irgendwie für ihr plötzliches Unglück -191-
verantwortlich machten, waren eher eine Behinderung als eine Hilfe, obwohl ihre Priester und Soldaten viele Untote erlösten. Der muntere Trumpfas, dem nie etwas entging, spürte die Särge der Kreaturen auf. Manche Verstecke waren offensichtlich; man fand etliche frisch aussehende Leichen mit blutverschmierten Mündern auf Friedhöfen und in Grüften. Der Halbling fand allerdings auch Vampire an etwas ungewöhnlicheren Orten, zum Beispiel im Weinkeller der Schenke Zum Sinkenden Schwan. »Der Name paßt«, meinte Trumpfas, als Jander einen Pfahl in das Herz eines Vampirkindes trieb. Als die Seele des kleinen Mädche ns befreit wurde, legte sich ein friedlicher Ausdruck auf ihr Gesicht, und der Elf schluckte seinen Ekel hinunter und zog aus dieser Tatsache soviel Erleichterung, wie es eben möglich war. Er wischte sich seufzend die schweißnasse Stirn ab, setzte sich auf den kalten Stein und lehnte den schmerzenden Rücken gegen ein Weinfaß. Er war erschöpft. Die vier Gefährten hatten fünfzehn dieser schrecklichen Wesen getötet. »Ich fühle mich, als würde ich das schon ein Jahr lang tun«, stöhnte er. »Wie spät ist es eigentlich?« Plötzlich durchbrachen kräftige weiße Arme das Weinfaß, an dem Jander lehnte, und der blutrote Wein ergoß sich über ihn. Der Elf konnte kaum so schnell reagieren, wie sich die eiskalten Vampirhände um seine Kehle schlossen. Er zog die Kreatur mit aller Kraft nach vorn über die zersplitterten Faßdauben. Das scharfe Holz zerschnitt dem Monster den Leib, und es heulte zuckend auf. Einen Augenblick lang lockerte sich der wilde Griff. Das genügte Gideon. Der Priester des Ilmater zerrte seinen Freund mit der einen Hand aus dem Weg und pfählte den Vampir mit der zerbrochenen Faßdaube, die er in der anderen hielt. Die Kreatur keuchte und trat wild um sich, während sich Wein mit Blut vermischte. Sie zuckte noch einmal zusammen, spuckte Blut und lag still. -192-
Jander umarmte Gideon mit aller Kraft. Beide Männer holten keuchend Luft. »Meine Herren…« sagte Lyria, und ihre Stimme war schriller als gewöhnlich. »Was ist, Lyria?« fragte Gideon. Die schöne Magierin deutete mit bleichem Gesicht auf den Vampir, den sie gerade vernichtet hatten. Jander schloß voller Mitgefühl die Augen, als er erkannte, daß es sich bei der weingetränkten Leiche um Kellian handelte. In dieser Nacht schafften sie es nicht mehr bis zum Tempel. Gideon zeichnete einen Kreis auf den Boden, in dessen Schutz sie abwechselnd dösten. Der nächste Tag ähnelte dem vorangegangen, nur mit dem Unterschied, daß sie sich aufteilten. Lyria und Gideon übernahmen die eine Seite der Stadt, Jander und Trumpfas die andere. Dem Elfen hatte die Idee nicht besonders gefallen. »Unsere Stärke liegt in unserer Zahl, Lyria«, hatte er protestiert, doch seine Gefährten hatten dem Plan zugestimmt. Diesmal schafften es Jander und Trumpfas vor Sonnenuntergang zu Tymoras Tempel. Es war fast schon Mitternacht, als sich Lyria zu ihnen gesellte. Ihr lavendelfarbenes Gewand war blutverschmiert und zerrissen, und in ihrem Blick lag etwas Unstetes. »Diesmal haben sie uns fast erwischt«, keuchte sie, als Jander sie vorsichtig auf eine Bank setzte und Trumpfas sich geschickt um ihre Kratzer kümmerte. Der Elf untersuchte ihren Hals und die Handgelenke; anscheinend war sie nicht gebissen worden. Lyria schloß die Augen und legte den Kopf in Janders Schoß. Sie stand offenbar kurz vor dem Zusammenbruch. »Wo ist Gideon?« fragte der Elf. Lyria schlug die Augen auf, und in ihren jadegrünen Tiefen erkannte Jander Furcht. »Er ist nicht hier?« Trumpfas enthielt sich ausnahmsweise jeden Kommentars und konzentrierte sich statt dessen auf Lyrias Schnitte und -193-
Kratzer. Jander fing zu zittern an. »Nein, hier ist er nicht …« »Es gibt noch mehr Tempel, die den Schutzsuchenden offenstehen«, sagte Lyria und ergriff Janders goldfarbene Hand. »Ich bin sicher, daß er …« »Und wenn nicht?« Janders Worte klangen wie ein Aufschrei, und mehr als nur ein paar Köpfe wandten sich in seine Richtung. Dem Elfen war das egal. Gideon und er waren seit über zehn Jahren befreundet. Seine Gedanken wanderten zu den Tagen zurück, als sie den Höllenreitern von Elturel angehört und Tiamat in seinem Heim bekämpft hatten. Damals hatte sich Gideon der Gott Ilmater offenbart, und der mächtige Krieger hatte sein Schwert mit Begeisterung beiseite gelegt. Seitdem waren die beiden Freunde unzertrennlich gewesen. Jander merkte nicht, daß er lautlos weinte und kristallklare Tränen seine scharfgeschnittenen Gesichtszüge hinunterliefen. Er nahm auch nicht wahr, daß Lyria den Arm um ihn legte, seinen Kopf an ihre Brust zog und ihn in einen unsteten Schlaf wiegte, der von blutroten Sonnenuntergängen und Leichen heimgesucht wurde, die dem Tod entflohen. Man ließ ihnen keine Gelegenheit herauszufinden, was mit Gideon geschehen war, denn am nächsten Morgen jagte man die drei Fremden aus der Stadt. Es war kaum eine Woche her, daß man sie hier als Helden gefeiert hatte. Heitertal war seit Jahrhunderten der Inbegriff der Gastfreundschaft gewesen. Es hatte keine Schlösser an den Türen gegeben, und kein Fremder hatte je hungern müssen. Nun schickten die Bewohner Heitertals jeden in die Verbannung, der nicht zu ihnen gehörte, damit sie sich den Gefahren der Nacht stellen konnten. Von den Silbernen Sechs waren nur noch drei traurige Gestalten übriggeblieben, die es bis zur nächsten Stadt schafften, wo sich ihre Wege trennten. Heitertal war von einer Horde bösartiger, kluger Vampire verwüstet worden, die mit voller Absicht den Ruf des Tals berechnend ausgenutzt hatten. Die Einwohner erholten sich nie -194-
mehr davon. Sie errichteten eine große Mauer um die Stadt, und Jander hörte später, daß man jede Schenke symbolisch niedergebrannt hatte. Die Gewohnheit der Heitertaler, ständig einen Dolch im Gürtel zu tragen, führte in anderen Ländern zu einem geflügelten Wort. Heitertal, die einst gastfreundlichste Ansiedlung Faeruns, wurde fremdenfeindlich, und man nannte es nur noch Dolchtal. Kolya war trotz seiner Angst eingeschlafen und schnarchte laut. Auch Saschas Augenlider drohten zuzufallen, doch er war fest entschlossen, die ganze Nacht über Wache zu halten. Nach Sonnenaufgang war noch genug Zeit, um zu schlafen. Er hatte in dieser Nacht nichts gesehen, das aufregend oder interessant gewesen wäre, und er wollte verdammt sein, wenn … Der Junge runzelte die Stirn. Der Steinkreis stand auf einem kleinen Hügel, der so hoch war, daß Sascha im Dorf einen hellen Schein sehen konnte, wo eigentlich keiner sein durfte. Die Neugier verscheuchte die Schläfrigkeit, und Sascha stand auf, um mehr erkennen zu können. Doch er hatte noch immer keine freie Sicht, deshalb kletterte er auf einen Stein. Er streckte beide Arme aus, um das Gleichgewicht zu bewahren, und schaute zum Dorf hinüber. Ja, da war auf jeden Fall ein Licht und die Straße war von vielen Menschen bevölkert. »He, Kolya, wach auf!« »Hm?« murmelte der Junge. Sascha verschwendete keinen Blick auf ihn, sondern behielt den Aufruhr im Dorf im Auge. »Da ist was im Gange. Sehen wir mal nach.« »O nein.« Kolya war jetzt hellwach, und da er sich wieder bewußt war, wo er sich aufhielt, rührte er sich nicht von der Stelle. »Ich gehe hier nicht weg, bevor es Morgen ist.« Sascha schaute ihn böse an. »Auch gut. Ich gehe. Du kannst ja -195-
den Rest der Nacht hier allein verbringen. Kolya, der Feigling.« Er sprang von dem Stein hinunter und verstaute seine Habseligkeiten in dem Jutesack. Kolya murmelte zwar etwas Unverständliches, schloß sich ihm dann jedoch an, und kurz darauf liefen die beiden Jungen los. Sascha konnte nur noch an die seltsame Aufregung im Dorf denken, und sofort schien die Nacht irgendwie weniger bedrohlich zu sein. Als die beiden Freunde die Marktstraße erreichten, fanden sie die Häuser beleuchtet vor; überall liefen Leute herum, die noch ihre Nachtgewänder trugen. Einige hielten Eimer in den Händen. Die Näherin Christina stieß die Fensterläden auf und rief jemandem auf der anderen Straßenseite etwas zu. Das braune Haar, das normalerweise streng nach hinten frisiert war, hing ihr zerzaust auf die Schultern, und ihr spitzes Gesicht verriet große Besorgnis. Hier stimmte etwas nicht, und die beiden Jungen schlossen sich den dahereilenden Dorfbewohnern an »Die Bürgermeisterstraße!« rief Sascha und lief wie von Sinnen die Straße entlang, die zu seinem Heim führte. Kolya folgte ihm mühsam. Die vierhundert Meter von dem Platz bis zu dem in Flammen stehenden Haus kamen Sascha als die längste Entfernung vor, die er in seinem kurzen Leben je hatte laufen müssen. Vor ihm erhob sich ein Bild wie aus einem Alptraum; die gelbroten Flammen züngelten über die Wände des einstöckigen Gebäudes wie die Zunge eines Hundes, der sabbernd einen Knochen ableckt. Saschas Beine wurden weich und sein Hals rauh, weil er ununterbrochen »Mama! Mama!« schrie. Dabei flehte er die Götter an, seinen Beinen mehr Kraft zu verleihen, obwohl er wußte, daß er nicht mehr rechtzeitig dort eintreffen würde. Rastolnikov packte ihn am Arm. »Ruhig, Junge, ruhig«, brüllte er in einem Tonfall, der zumindest von der Absicht her beruhigend sein sollte. Sascha weinte, und die Tränen wurden -196-
gleichermaßen von seiner Angst als auch von dem beißenden, schwarzen Rauch verursacht, der in den Augen biß und seine Lungen füllte. Er hustete, und es fühlte sich so an, als müßte er bei jedem quälenden Atemzug die Lungen aus dem Leib würgen. Rastolnikov hielt ein Taschentuch vor Saschas Mund. »Das hält die Asche ab«, erklärte er dem Jungen. Sascha rieb sich wild die Augen, um erkennen zu können, was geschah. Das Feuer war gelöscht, doch die Flammen hatten einen Teil des Hauses zerstört. »Wo ist meine Familie?« Er versuchte, erwachsen und befehlsgewohnt zu klingen, aber trotz seiner Anstrengungen hörte er sich bloß jung und verängstigt an. »Wir … werden uns morgen früh um sie kümmern, Sohn. Dort drinnen herrscht eine böse Magie, die zu mächtig ist, als daß einer von uns ihr heute nacht entgegentreten könnte«, sagte der Bäcker rätselhaft. »Ist das der Junge?« ertönte eine wütende Stimme. Rauhe Hände packten Sascha und rissen ihn von dem Bäcker fort. »Er ist es!« Sascha legte den Kopf in den Nacken und erkannte Andrei, den Metzger, der ihn haßerfüllt anblickte. »Das ist alles deine Schuld!« Dem verblüfften Jungen verschlug es die Sprache. »Die Rache der Vistani!« schrie eine schrille Frauenstimme. »Dieser Zigeuner, mit dem Anastasia angebandelt hat. Kartov hat ihm eine Abreibung verpaßt, und jetzt schaut euch das an! Wißt ihr noch, wie der Zigeuner Kartov verflucht hat? Wißt ihr noch? Und habt ihr gesehen, was ihnen passiert ist? Ihr Götter, ihre Kehlen …« Die Frau fing an zu weinen. Die Leute in Saschas Nähe wichen zurück, murmelten Gebete und machten Zeichen gegen den bösen Blick. Sascha sah wieder zu dem verbrannten Haus hinüber. »Ich -197-
gehe hinein«, sagte er jedem, der zuhören wollte. Dann wandte er sich Kolya zu, der ihn endlich eingeholt hatte. »Kommst du mit?« Kolya schaute zu Rastolnikov auf, der den Kopf schüttelte. Der Junge blickte wieder zu seinem Spielgefährten hin und sah dann zur Seite. »Nein, Sascha. Ich glaube, ich bin zu feige.« Sascha starrte seinen Freund an. »Das glaube ich auch, Kolya«, sagte er langsam, obwohl er es sich nicht vorstellen konnte. Er band sich das Taschentuch fest vor den Mund, damit er die Hände frei hatte. Es sollte soviel Rauch wie möglich abhalten. Dann ging Sascha allein auf die Ruine zu, die noch kurz zuvor sein Heim gewesen war. Die wütenden, dennoch verängstigten Leute machten ihm raunend den Weg frei. Der Junge ging durch das offenstehende Eisentor, überquerte den nassen, gepflasterten Hof und stieg die Stufen zur Tür hinauf. Die Eimerbrigade hatte sie aufgebrochen, um ins Haus zu kommen, und die Flammen hatten das dicke Holz, rußgeschwärzt. Der Junge trat vorsichtig durch das gezackte Loch, das die Helfer geschlagen hatten, und zog den Kopf ein, um sich nicht an den scharfen Holzsplittern zu verletzen. Das Holz war feucht, doch Sascha spürte trotzdem noch die Hitze. Als er so gebückt eintrat, die Augen auf den Boden gerichtet, entdeckte er gleich die roten Fußspuren. Für einen kurzen Augenblick waren sie deutlich zu sehe n und wurden dann wieder von dem noch immer dichten, schwarzen Rauch verhüllt, der träge durch den Raum quoll. Die Abdrücke stammten von einem Stiefelpaar und führten die Treppe hinab bis zur Tür. Die von seiner Großmutter so geliebten Teppiche waren blutverschmiert. Saschas Herz pochte mit einem Mal ganz unregelmäßig und schien seine Brust so auszufüllen, daß er kaum noch atmen konnte. Hier war etwas Schreckliches passiert. In dem Augenblick, in -198-
dem Sascha auf die blutigen Fußabdrücke starrte, sehnte er sich so sehr nach seiner Mutter wie noch nie in seinem Leben. Er wollte sie umarmen und spüren, wie ihre Hände sein Haar glattstrichen. Sascha holte tief Luft, richtete sich auf und schaute sich um. Er stieß ein Wimmern aus. Seine Mutter war da, und auch seine Großeltern. Doch sie waren halbverkohlte Leichen, die auf einem qualmenden Holzstoß lagen und den grauenhaften Gestank verbrannten Fleisches absonderten. Seine Knie gaben nach. Es gelang ihm gerade noch, das Taschentuch wegzureißen, bevor er sich würgend übergab. Er weinte und keuchte, dann gelang es ihm, sich zusammenzureißen. Er atmete die vergleichsweise kühle Luft ein, die am Boden zirkulierte, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und band sich schließlich das Taschentuch wieder davor. Seine Mutter hatte ihm einmal etwas erzählt, das ihm nun einfiel und ihm wie ein Gebet Trost spendete: Du stammst von einer stolzen Ahnenreihe ab. Du bist sowohl der Enkel des Anführers unseres Dorfes als auch das Kind eines starken, freien Volkes, das über die Magie gebietet. Wenn die anderen Kinder dich wegen der Illegitimität deiner Geburt verspotten, mußt du im Inneren lächeln und dich an diese Worte erinnern. Sascha stand wieder auf. Obwohl er es eigentlich gar nicht wollte, näherte er sich den qualmenden Leichen. Seine Familie war ermordet worden, soviel stand fest, doch wie war die Tat ausgeführt worden? Und von wem? Sascha konnte nur drei Tote entdecken - seine Großeltern und seine Mutter. Als er ihre zerfetzten Kehlen sah, wurde ihm wieder übel, nur diesmal schluckte er es herunter. Die Art ihres Todes warf weitere Fragen auf. Falls sie von Wölfen getötet worden waren, wie es den Anschein hatte … wer hatte dann den Versuch unternommen, die Leichen zu verbrennen? Die Dorfbewohner mit Sicherheit nicht. Und wo waren die restlichen Personen des Haushaltes? -199-
Obwohl Saschas Knie durch die Übelkeit und den Rauch noch immer weich waren, öffnete er die Tür, die zu den Dienstbotenräumen führte. Er stöhnte und lehnte sich nach Halt suchend gegen die Tür. Die in ihren Haltern flackernden Fackeln sorgten für eine ausreichende, wenn auch auf unheimliche Weise verzerrte Beleuchtung. Auch hier gab es Anzeichen für Mord. Ivan, der Kammerdiener des Bürgermeisters, lag ausgestreckt auf dem Steinboden. Obwohl ihm die Gurgel herausgerissen worden war, hatte er irgendwie seine Würde nicht verloren. Es war nur sehr wenig Blut zu sehen. Sascha riß sich von dem Anblick los und fand schnell heraus, daß auch die Kehlen der Mägde, Köche, Diener und Stallburschen zerfleischt worden waren. Ein Teil seines Bewußtseins schrie ihm förmlich zu, sich der Panik hinzugeben und zu trauern; schließlich hatte er diese Menschen so sehr geliebt. Ein anderer Teil von ihm war jedoch wie erstarrt und berechnend, und Sascha klammerte sich daran wie an einem Rettungsanker fest, als er den schrecklichen Rundgang beendete. Bis ins Mark erschüttert verließ der Halbzigeuner die Dienstbotenräume, entschlossen, mit seiner Untersuchung fortzufahren. Noch fehlte eine Person: seine Tante Ludmilla. Er ging mit abgewandtem Blick an den auf dem Scheiterhaufen liegenden Leichen vorbei und blieb am Fuß der breiten Treppe stehen. An der Wand neben den Stufen brannte noch eine Fackel. Sascha zog sie vorsichtig aus dem Halter und umklammerte sie. Er verweilte einen Augenblick, wappnete sich und ging nach oben. Der Fackelschein warf seltsame Schatten. Sein Herz schlug noch schneller, und er mußte die plötzlich schweißnassen Handflächen an der Hose abwischen. Die kalte Beherrschung bröckelte, und er konnte spüren, wie sich die Panik in seine verwundete Seele drängte und darauf lauerte, das Sagen zu übernehmen. -200-
Er erreichte das obere Treppenende und blieb stehen, um in den dunklen Korridor zu spähen. Hier war der Qualm dichter als in dem unteren Stockwerk, und er bewegte sich in trägen grauen und schwarzen Wirbeln, die seine Sicht behinderten und seine Augen tränen ließen. Im Geiste konnte er die Dinge sehen, die sich hinter dieser schützenden Wand aus Rauch verbargen… Er zügelte wütend seine Vorstellungskraft und betrat fast herausfordernd mit vorgehaltener Fackel sein Zimmer. Hier war nichts angerührt worden. Sein kleines Bett war noch immer ordentlich gemacht, und sein Spielzeug und seine Kleider waren außer Sicht in der großen Truhe verstaut. Doch hatte sich für den Bewohner dieses Zimmers in den letzten Stunden die Welt verändert. Sascha schloß die Tür und trat wieder auf den Korridor. Der nächste Raum war das Schlafzimmer seiner Tante Ludmilla, das sie sich mit seiner Mutter geteilt hatte. Er wußte, was seiner Mutter zugestoßen war, und einen Augenblick gewann das Entsetzen die Oberhand. Wieder kämpfte Sascha die Furcht nieder. Er blieb einen langen Moment zitternd vor der Tür stehen und fragte sich, was ihn auf der anderen Seite erwarten mochte. Dann ergriff er die Türklinke, drückte sie so leise, wie er nur konnte, nach unten und gab der Tür einen sanften Stoß. Mondlicht strömte durch das geöffnete Fenster und versilberte das Zimmer. Auf Tante Ludmillas Bett lag eine Gestalt. Sie bewegte sich. Sascha verlor fast die Kontrolle. Was lag auf dem Bett? Ein leises Wimmern entschlüpfte ihm, und er biß sich fest auf die Unterlippe. Die Gestalt auf dem Bett seiner Tante verharrte nun reglos. Sascha bewegte sich auf unsicheren Beinen auf die Gestalt zu, und das Zittern seiner Hand ließ die Fackel wie verrückt tanzen. Er blieb neben dem Bett stehen. Die Gestalt hatte sich mit einer Wolldecke zugedeckt. Bevor er es sich -201-
anders überlegen konnte, machte der Junge einen Sprung, riß die Decke fort und sprang außer Reichweite. Seine Tante Ludmilla schlief friedlich. Sascha konnte das rhythmische Heben und Senken ihrer Brust sehen. Er stieß die Luft aus, die er angehalten hatte. »Tante Ludmilla!« schrie er und streckte die Hand aus, weil er sie wachrütteln wollte. Da erst fiel ihm auf, wie blaß sie war; ihre Haut war fast weißer als die Laken, auf denen sie lag. Als er sie dann in dem verzweifelten Bemühen schüttelte, sie aufzuwecken, rollte ihr Kopf auf die Seite und das dunkle Haar gab den Blick auf ihren Hals frei. Dort waren zwei kleine, blutleere Löcher zu sehen. Er war ein großer, bleicher Mann mit spitzen Zähnen und Klauen. ›Halt!‹ sagte der Nosferatu, denn Pavel wußte, daß es sich um einen solchen handelte. ›Bleib stehen, damit ich dein Blut trinken und durch deinen Tod leben kann.‹ Nosferatu, dachte Sascha entsetzt. Der erste Wächter der Finsternis. Vampir. Diesmal setzte sich die Panik durch. Ein Schrei stieg in seiner Kehle hoch und blieb dort aus einem unerfindlichen Grund stecken. Es war ein kleines Wunder, daß Sascha die Fackel nicht fallen ließ. Er taumelte rückwärts gegen die Tür, die sofort zufiel. Einen unkontrollierten Augenblick hämmerte Sascha dagegen, bis ihm sein Verstand sagte, daß es dort eine Klinke geben mußte. Er drückte sie hinab und stürmte auf den Korridor. Es war allein seine m Glück zuzuschreiben, daß er auf der blutverschmierten Treppe nicht stürzte. Als er sich durch die aufgebrochene Eingangstür warf und die süße Nachtluft einatmete, löste sich der Knoten in seiner Kehle, und er konnte endlich einen Laut ausstoßen. »Hilfe!« Rastolnikov hatte draußen auf ihn gewartet und half ihm durch die Tür. Sascha klammerte sich an dem Bäcker fest und stammelte unverständliches Zeug. »Beruhige dich, junge. -202-
Beruhige dich und sprich deutlich«, sagte Rastolnikov mit seiner dröhnenden Stimme. »Nosferatu!« keuchte Sascha. »Sie starben alle von Hand eines Nosferatu! Kommt, wir müssen, wir müssen…« Er hatte die Legenden vergessen, in denen von Pfählen im Herzen und abgeschnittenen Köpfen die Rede war. Der Junge brach zusammen, und der Bäcker nahm ihn vorsichtig und mit einer Sanftheit, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, in die Arme und hob ihn auf. »Kein Nosferatu«, rief eine böswillige Stimme aus der Menge. »Das ist Vistani- Rache! Überlaßt den Jungen den Schrecken, die seine Familie über uns gebracht hat!« »Vladimir!« sagte die Frau des Bäckers, »du kannst den Jungen nicht aufnehmen.« »Er hat keine Familie mehr!« erwiderte Rastolnikov. »Dann soll er wie die Verlorenen umherwandern, oder die Vistani sollen ihn aufnehmen«, sagte seine Frau und stützte die dicken Hände in die ausladenden Hüften. »Keiner wird mehr unser Brot kaufen, wenn du diesen Unglücksbringer in unser Haus aufnimmst!« Der stämmige Bäcker befeuchtete die trockenen Lippen. Seine Frau hatte recht. Von einem Bastard, der zur Hälfte Zigeunerblut in den Adern hatte, würde nichts Gutes kommen. Seine Frau hatte stets die Meinung vertreten, daß Bürgermeister Kartov seine Tochter Anastasia hätte verstoßen oder zumindest dafür sorgen sollen, daß sie ihr Kind den Vistani übergab. Rastolnikov wußte nur zu gut, daß Sascha mehr Unfug angestellt hatte als drei andere Jungen zusammen. Doch das Kind, das besinnungslos in seinen Armen lag, erregte sein Mitleid. Ohne den belebenden Funken seiner Persönlichkeit verfügte der Zehnjährige scheinbar über die Zartheit eines kleinen Vogels, und die Knochen unter der dunklen Haut erschienen so zerbrechlich. -203-
Mit einem tiefen Seufzer legte Rastolnikov den Jungen wieder auf dem Boden ab. Saschas Lider zuckten und öffneten sich dann. Der Blick aus den schwarzen Augen haftete sich auf das Gesicht des Bäckers. »Du wirst mir nicht helfen, stimmt’s?« Rastolnikovs Frau hustete. »Nein, Junge, ich kann nicht«, sagte der Bäcker, und in seiner Stimme lag ehrliches Bedauern. Saschas Unterlippe zitterte, und dann strömten Tränen über sein Gesicht. Er hätte schwören können, daß er seinen Vorrat an Tränen aufgebraucht hatte, doch irgendwie flossen sie weiter. »Bitte«, bettelte er mit bebender Stimme, »wenn du mir nicht hilfst, werden sie mich auch holen!« »Aye, und das sollten sie auch, Zigeunerbastard!« rief jemand. Spucke traf Saschas Gesicht. Der Junge wischte sie mit der Würde eines Mannes ab und stand unsicher auf. »Geh zu deinem Volk zurück!« Weitere Verwünschungen folgten, Sascha ignorierte sie. Er ging steif zu der Stelle, an der er den Jutesack hatte fallen lassen, und wühlte darin herum. Er ließ sich Zeit, und einige der Leute, die ihm gehässig zusahen, verloren das Interesse und kehrten in die Sicherheit ihres Heimes zurück. Dann prasselte plötzlich ein heftiger Sommerregen los, der auch die letzten vertrieb. Schließlich war Sascha bei seinen Vorbereitungen allein. Eine halbe Stunde später stand der Junge vor der aufgebrochenen Tür seines Elternhauses. Er sah wie die Karikatur eines Vampirjägers aus. Bis auf die Haut durchnäßt, klebte ihm das seidige Haar am Schädel. Er hatte sich sowohl Kolyas als auch seine Knoblauchkette um den Hals gehängt, der zusätzlich von Lathanders Symbol, den roten Holzscheiben, geschmückt wurde. Die verkorkten Fläschchen mit dem Weihwasser steckten griffbereit in seinen Hosentaschen. Eine seiner kleinen Hände umklammerte einen unbeholfen angespitzten Holzpflock; die andere hielt den Hammer, der fast -204-
zu schwer für sie war. »Bist du sicher, daß du weißt, was du zu tun hast?« Sascha blickte überrascht zur Seite. Neben ihm stand der hochgewachsene und dünne Bruder Martyn. Das rotgoldene Gewand, das der Priester trug, schien viel zu groß für seine hagere Gestalt zu sein, und in seinen Augen leuchtete religiöser Eifer. Doch das Lächeln, mit dem er den Jungen betrachtete, war sanftmütig. Er trug eine Vielzahl geweihter Amulette und hielt eine Tasche in der Hand, in der es bei jeder seiner Bewegungen hölzern klapperte. »Soll ich nicht lieber den Hammer nehmen?« fragte der Priester. Sascha starrte ihn noch immer ungläubig an. Er konnte es nicht fassen, daß in diesem Alptraum jemand für ihn Partei ergriff. Seine Familie war nicht besonders religiös gewesen. Das war in Barovia nicht selten; wegen der schrecklichen Dinge, die in diesem verfluchten Land passierten, glaubten nur noch wenige an die alten Götter. Als Bruder Martyn vor einigen Jahren etwas über den Fürsten des Morgens stammelnd aus dem SlavitschWald getaumelt war, hatte ihm niemand Glauben geschenkt, immerhin hatte man ihm jedoch gestattet, in der verlassenen Kirche zu wohnen, so lange er keines der dörflichen Gesetze verletzte. Sascha war immer der Meinung gewesen, daß Martyn ein bißchen verrückt war. Jetzt schien das keine Rolle mehr zu spielen. Sascha brach erneut in Tränen aus, nur diesmal waren es Tränen der Hoffnung, und er umarmte den Priester mit aller Kraft. Martyn zögerte, dann strich er zaghaft über Saschas Haare. »Lathander ist mit uns«, sagte er leise zu dem Kind. »Er wird uns dabei helfen, unsere Feinde zu vernichten.« Als sich Sascha Petrovitsch wappnete, wieder einen Fuß in das Totenhaus zu setzen, das einst sein Elternhaus gewesen war, betete er inbrünstig. Sie traten ein. Es hatte sich nichts verändert. Die geheimnisvollen, blutigen Fußspuren führten noch immer die -205-
Treppe hinab. Die Luft war noch immer von einer bedrückenden, erwartungsvollen Stille erfüllt. Martyn untersuchte kurzentschlossen die Leichen, und der Anblick schien ihm nichts auszumachen. »Man hat ihnen das Blut ausgesaugt«, sagte er kalt. »Wenn man sie begräbt, werden sie als Untote wieder auferstehen. Gib mir einen Pfahl und etwas Knoblauch.« Der Priester zerrte die erste Leiche von dem geschwärzten Holz herunter. Sascha wandte sich mit rebellierendem Magen ab. Es handelte sich um seine Mutter. Ihr rechter Arm war verkohlt, ihr Kleid fast vollständig verbrannt. Die rechte Gesichtshälfte war ebenso wie das Haar angesengt. Martyn legte sie auf den Teppich. Er schaute zu Sascha hinüber, der sich auf den Boden gesetzt und die Beine an die Brust gezogen hatte. »Du wirst es tun.« Die Augen des Jungen weiteten sich vor Abscheu. »Nein!« »Doch«, erwiderte Martyn beharrlich. Er ging zu dem Jungen und kniete sich neben ihn hin. »Sie ist deine Mutter. Der Schlag, der sie befreit, sollte von demjenigen geführt v/erden, der sie am meisten geliebt hat.« »Aber sie … Nein, Martyn, nein. Ich kann es nicht!« »Du mußt. Wenn du es tust, wird ihre Ruhe viel friedlicher sein. Vertrau mir, Sascha.« Er drückte dem Jungen den Pfahl in die verkrampfte Hand und schloß seine Finger darum. »Vertrau mir.« Sascha erhob sich wie jemand, der in einem Traum gefangen ist, und näherte sich der Leiche seiner Mutter. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie sie im Leben gewesen war anmutig, anständig, liebevoll, immer etwas traurig. Er kniete sich neben ihr hin, blinzelte die Tränen aus den Augen und hielt das angespitzte Ende des Pfahls direkt unter den Brüsten über ihr Herz. Dann hob er den Hammer und senkte ihn sofort wieder. »Ich kann es nicht, Martyn.« -206-
»Damit läßt du deine Mutter im Stich«, erwiderte der Priester mit ausdruckslosem Gesicht. Sascha warf ihm einen hitzigen, wütenden Blick zu. »Du verweigerst ihr den Frieden und verdammst sie zu einer schrecklichen Existenz.« »Tu du es doch.« »Nein.« Martyn setzte sich auf den Boden und sah Sascha an. »Das ist deine Aufgabe.« Der Junge erkannte, daß es dem etwas verrückten Priester damit ernst war. Wenn er den Pfahl nicht durch ihr Herz trieb, würde Martyn sie ihrem Schicksal überlassen. Das machte Sascha wütend, und der Zorn verwandelte sich in Stärke. Er biß die Zähne zusammen und ließ den Hammer mit der ganzen Kraft, über die er als Zehnjähriger verfügte, niedersausen. Es reichte aus. Der Pfahl drang tief in die Brust ein. Es hätte Sascha nicht gewundert, wenn Martyn sich verschätzt und die Leiche sich aufgerichtet hätte, doch sie erbebte nur unter der Wucht des Schlages. Sascha hieb ein zweites Mal zu. Das noch in dem leergesaugten Körper befindliche Blut quoll aus Anastasias Mundwinkel. Beim dritten Schlag traf die Pflockspitze auf den Steinboden unter der Leiche. Anastasia hatte sich zwar noch nicht in einen Vampir verwandelt, doch ihre Seele war gefangen gewesen. Als Sascha seiner Mutter wieder ins Gesicht sah, hatten sich ihre Züge sanft verändert, und der Junge spürte, wie der Hauch des Wunders flüchtig seine Seele berührte. Die Legenden entsprachen der Wahrheit. Der Geist fand seinen Frieden wieder. So schrecklich die Aufgabe gewesen war, soviel Gutes hatte sie gebracht. Seine Hand zitterte, als er sich den Schweiß aus den Augen wischte, doch sein Kindermund zeigte Entschlossenheit. Er erhob sich und ließ den Pfahl in Anastasias Herz zurück. »Gut gemacht, mein Junge«, sagte Martyn und legte die bleichen Hände sanft auf Saschas Schultern. »Du hast heute eine große und gute Tat vollbracht.« -207-
Der Junge bekam plötzlich weiche Knie, und er lehnte sich gegen Martyn, um den Halt nicht zu verlieren. »Ich verstehe, Martyn. Ich danke dir. Es war schwer, aber … Danke.« »Ich werde den Rest des Rituals vollziehen«, bot Martyn an. Sascha zuckte zusammen, denn er wußte, was der Priester mit dem Leichnam seiner Mutter machen mußte, um das schreckliche Ritual zu vollenden. Er würde den Kopf abtrennen und den Mund mit Knoblauch füllen. Erst dann konnte man sicher sein, daß sie im Grab ihren Frieden fand. »Wirst du es auch bei den anderen armen Menschen schaffen?« Sascha starrte die Leichen seiner Großeltern an, dann nickte er langsam. »Ja, Martyn.« Sie arbeiteten den ganzen Tag. Als Saschas Arme müde wurden, befahl ihm Martyn, die Münder der Leichen, um die sich der Priester noch nicht gekümmert hatte, mit Knoblauch zu füllen, während er das blutige Werk selbst vollendete. Als sich die Dämmerung über das Land legte, zitterten der Junge und der Priester vor Erschöpfung. Ihre Arme schmerzten, und ihre Kleidung war mit Blut getränkt, das sich nicht mehr abwischen ließ, nachdem es getrocknet war. Martyn verspürte dennoch eine besondere Fröhlichkeit. Er war davon überzeugt, daß es ihn in dieses Land verschlagen hatte, um Lathanders Gebote zu vollstrecken. Zwar war es eine blutige Arbeit gewesen, die er gerade beendet hatte, doch sie hatte ihn nicht im geringsten aus dem Gleichgewicht gebracht. Sascha hingegen war völlig am Ende. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Martyn legte mitfühlend einen Arm um die Schultern des Jungen, als sie sich auf die Stufen setzten. »Ich will dir eine Geschichte erzählen, mein Sohn, die dir vielleicht hilft, in all dem einen Sinn zu erkennen«, sagte der Priester und zeigte auf die enthaupteten Leichen. »Es war einmal ein kleiner Junge, etwa so alt wie du, der glücklich mit seiner Familie lebte. Sie befanden sich auf der Reise in ein -208-
anderes Dorf, als sie plötzlich von einem Nebel umhüllt wurden. Sie machten für die Nacht halt. Als der Nebel verschwand, fanden sie sich in einem ihnen völlig unbekannten Wald wieder. Die Menschen, die in einem in der Nähe befindlichen Dorf lebten, waren kalt und unfreundlich; sie verweigerten den Reisenden Unterkunft für die Nacht. Da sie sonst nirgendwo hingehen konnten, wollten sie die Nacht im Wald verbringen.« Martyn legte eine lange Pause ein, und seine Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. »Bruder Martyn?« fragte Sascha. Martyn kam wieder zu sich und fuhr fort. »Mitten in der Nacht erwachte der Junge und sah sich einem schrecklichen Anblick gegenüber. Das kleine Lager wurde von hundert Wölfen umringt, die doppelt so groß wie normale Wölfe waren. Wunderschöne Frauen küßten die Onkel des Jungen, doch als sie ihre Köpfe hoben, konnte er sehen, daß sie in Wirklichkeit nur das Blut ihrer Opfer tranken. Natürlich begann der Junge zu schreien, als er das sah. Ein großer Mann, so weiß wie der Tod und so schwarz wie die Nacht, blickte ihn mit funkelnden roten Augen an. Er kam langsam auf ihn zu, und der Junge wußte, daß er jetzt sterben würde. Seine Mut ter bettelte den bösen Mann an, doch er befahl seinen Wölfen, sie zu fressen. Er wollte gerade den Jungen töten, als plötzlich der Fürst des Morgens erschien.« Martyn war in einer ekstatischen Trance versunken und hatte Sascha völlig vergessen. Als er mit seiner Erzählung fortfuhr, wurde sein Gesicht von einem inneren Licht erhellt. »Der Junge hatte Bilder von dem Gott gesehen, und so erkannte er ihn an seinem wunderschönen Antlitz und der goldfarbenen Haut und den Haaren. Auch Lathanders Gesicht war blutverschmiert, doch er hielt den schwarzen Mann davon ab, das Kind zu töten. ›Du sollst den Jungen nicht bekommen‹, sagte der Fürst des Morgens mit seiner melodischen Stimme. ›Und du wirst auch -209-
nicht zulassen, daß sich deine bösen Frauen an ihm vergreifen. Laß ihn gehen, denn er steht unter meinem Schutz und unter meiner Führung‹.« Und der böse, schwarze Mann beugte sich der Macht des Gottes, und der Junge erlebte den nächsten Sonnenaufgang.« »Bist du dieser Junge?« fragte Sascha. Martyn sah ihn an und nickte. »So wahr ich lebe, ich schwöre, daß sich diese Geschichte so abgespielt hat.« »Wenn der Fürst des Morgens das Gute verkörpert, warum war dann sein Gesicht blutverschmiert?« »Das habe ich mich schon oft gefragt. Ich glaube, dieses Land ist so finster, daß hier nichts völlig Gutes existieren kann. Als Lathander nach Barovia kam, hat er sich verändert. Ein kleiner Teil von ihm ist dem Bösen erlegen, denn dieses Land selbst ist böse. Dennoch ist er in der Hauptsache ein Gott des Guten, der Hoffnung und der Erne uerung. Er hat mich gerettet.« Martyn sah den Jungen durchdringend an. »Und, Sascha, ich bin davon überzeugt, so schrecklich diese Erfahrung auch für dich war, du mußtest sie nicht umsonst machen. Ich glaube, der Gott hat dich gerufen. Du hast keine Familie mehr. Willst du nicht mit zu mir kommen und in Lathanders Haus leben? Ich würde dich erziehen und dich den einzig wahren Weg lehren.« Sascha sah Martyn fragend an. Konnte das sein? Gab es in diesem Dorf, das ihm soviel Ablehnung entgegenbrachte, tatsächlich einen Platz für ihn? »Sascha?« sagte da plötzlich eine leise Stimme hinter ihnen. Der Junge und der Priester wirbelten wie ein Mann herum. Ludmilla stand am Fuß der Treppe. Sie sah aus wie ein Geist. Das Nachthemd lag wie ein Leichentuch um ihre Schultern, und sie war so blaß, daß sich ihre braunen Augen dunkel von dem Weiß ihrer Flaut abhoben. Martyn war wie vom Donner gerührt. Wie konnte ein Vampir im Tageslicht leben? Er tastete nach dem Fläschchen mit -210-
geweihtem Wasser. Dann stürmte der Priester die Treppe empor und schrie: »Stirb, Dämon!« Er packte Ludmillas Handgelenk und schüttete die Flüssigkeit über ihren Oberkörper. Ludmilla blickte auf ihr feucht gewordenes Nachthemd und bedeckte sich. »Bruder Martyn, was machst du da?« Sascha fing an zu lachen. Ludmilla war gar nicht tot! Er lief die Treppe hoch und schloß sie in die Arme. Die Jahre, die dem Überfall auf das Bürgermeisterhaus folgten, verflogen für Jander auf Schloß Rabenhorst wie Minuten, und die Zeit schmälerte die Heftigkeit seines Verlange ns nach Vergeltung. Schließlich hatten fünfzehn Jahre keine große Bedeutung für ein Wesen, das bereits als Sterblicher über eine jahrhundertelange Lebenserwartung verfügt hatte, und einer untoten Kreatur, die traurig der Unsterblichkeit entgegensah, bedeuteten sie noch weniger. Bei den sterblichen Bewohnern Barovias war das ganz anders. Der herbstliche Himmel zeigte sich wolkenlos und hellblau, und die roten und rostfarbenen Blätter bildeten einen angenehmen wohlriechenden Duft feuchter Erde. Leisl atmete den frischen Geruch tief ein, strich eine widerspenstige Locke ihres mausbraunen Haares aus dem Gesicht und biß fest in den Apfel, den sie gerade von dem Obstwagen gestohlen hatte. Für einen Dieb kam der Markttag im Herbst einem Paradies gleich. Es war so viel los, und es gab so viele Sachen zu stehlen, daß die Beutelschneiderin, die unter dem Namen Kleine Füchsin bekannt war, sich zuerst gar nicht entscheiden konnte, wo sie anfangen sollte. Doch der Apfel schien ein guter Start gewesen zu sein, und sie biß noch einmal zu, während ihre haselnußbraunen Augen, denen nichts entging, umherschweiften. -211-
Zusätzlich zu den Waren, die auch sonst angeboten wurden Kolyas Kuchen, Andreis frische Fleischwaren, Christinas Stoffe -, kamen im Herbst die Bauern der umliegend en Gegend ins Dorf. Überall lagen ihre glänzenden, frisch geernteten Äpfel aus. Karren waren bis zum Rand mit Kartoffeln, Kohlköpfen und Rüben gefüllt. Auf anderen stapelten sich Kürbisse. Ein Fischer traf ein. Auf seinem Wagen hingen an Schnüren eingesalzene Forellen. Leisl lief das Wasser im Mund zusammen. Sie aß gern Forelle. Zusammen mit Knoblauch, Zwiebeln und Pfeffer in der Pfanne gebraten… Hinter ihr ertönte das Stampfen von Pferdehufen, und sie drehte sich um. Ein bunt bemalter Zigeunerwagen fuhr ratternd auf den Platz. An ihm waren zwei Dutzend blökender Schafe festgemacht, die Mühe hatten, hinterherzukommen. Der Vistani auf dem Kutschbock pfiff fröhlich vor sich hin, doch der neben ihm sitzende Schäfer blickte finster drein. Kleine Füchsin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, das ihre scharf geschnittenen Gesichtszüge weich erschienen ließ. Vermutlich fluchte der Schäfer über die zehn Goldstücke, die der Vistani von ihm verlangt hatte, um ihn sicher durch den giftigen Nebel zu bringen. Leisl aß ihren Apfel auf. Sie warf das Kerngehäuse in einen provisorischen Schweinestall, den ein Bauer gebaut hatte, um seine rosige, grunzende Ware auszustellen. Eine große Sau trippelte zu dem Apfelkern hinüber und schnupperte daran. Weitere Pferde kamen über den lehmigen Pfad, der zu den Bauernhöfen führte, und Leisl glaubte, ein junges Fohlen mit dunklem, goldgelbem Fell und flachsblonder Mähne zu sehen. Handelte es sich tatsächlich um einen Rotfuchs? Kaum jemand in Barovia züchtete Rotfüchse. Leisl entging nicht, daß sich der Vistani auf dem Kutschbock aufrichtete und die näherkommenden Pferde abschätzend musterte. Auch Leisl wollte einen genaueren Blick auf das drei Monate alte Fohlen -212-
werfen und kletterte auf den Schweinestall. »He! Junge! Runter da, bevor du reinfällst!« Leisl wußte, daß es sich nur um den Schweinebesitzer handeln konnte, und sie drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln zu ihm um. »Es tut mir leid, Herr, ich wollte mir bloß - huch!« Leisl ruderte wie wild mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Erschrocken starrte sie auf den schmutzigen Schweinestall. Der Bauer streckte ihr murrend den kräftigen Arm entgegen, um sie zu stützen, und half ihr dann herunter. »Vielen Dank, Herr«, entschuldigte sie sich. »Ich wäre nur zu unge rn dort hineingefallen.« »Aye, stell dich eben nicht auf die Sachen anderer Leute, dann passiert so etwas auch nicht«, fuhr der Bauer sie kopfschüttelnd an. Leisl tippte höflich an ihre Mütze, ging weiter und mischte sich unauffällig in den Strom der Menschen und Tiere, die sich auf dem Platz bewegten. Kleine Füchsin steckte die Hände in die Taschen und berührte die Münzen, die sie dem Schweinezüchter gerade gestohlen hatte. Anhand Größe und Form vermutete sie, daß es sich um zwei Kupfer- und eine Silbermünze handelte. Das war nicht schlecht, doch sie konnte mehr bekommen und das würde bis Sonnenuntergang auch geschehen sein. Leisl war neunzehn Jahre alt, schlank und athletisch gebaut und wurde oft für einen Jungen gehalten. Für sie war das nur von Vorteil, und sie unterstützte die Illusion, indem sie Männerkleidung trug. Wegen des unnatürlich warmen Wetters trug sie ein locker fallendes Baumwollhemd mit aufgerollten Ärmeln, braune Kniebundhosen und braune, kniehohe Lederstiefel. Die kleine, schwarze Mütze auf dem Kopf verbarg den kurzen Pterdeschwanz. Ihre ganze Erscheinung war durchschnittlich. Man konnte Leisl wie folgt beschreiben: -213-
durchschnittliche Größe, schlanke Figur, mausbraune Haare und trübe, haselnußbraune Augen. Die Inkarnation der Unauffälligkeit - an Leisl gab es nichts Auffälliges. Dazu kam noch die ungewöhnliche Fähigkeit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und über flinke Finger zu verfügen. Das alles hatte Kleine Füchsin zu einer erfolgreichen Diebin gemacht. Sie hatte den »Beruf«, wie ihn die kleine Gruppe ihrer Kollegen nannte, aus Not angenommen. Nach zwölf Jahren des Stehlens war Leisl eine Meisterin ihres Fachs. Sie hatte zu erkennen gelernt, wer leichtgläubig war und von wem man sich fernhalten mußte, wer viel Geld bei sich trug und wer nicht, und … Sie sah genauer hin. Und wer in einer Stadt fremd war. Der gutaussehende, junge Zigeuner auf dem Rücken des schlanken schwarzen Pferdes war mit einem breiten Grinsen auf den Platz galoppiert. Eine hübsche junge Frau klammerte sich an ihm fest. Sie blickte sich furchtsam mit großen, sanften rehbraunen Augen um. Der temperamentvolle Gaul war noch nicht zum Stehen gekommen, als der Vistani von seinem Rücken sprang und die Arme ausstreckte, um der jungen Frau beim Absteigen zu helfen. Leis l schnaubte spöttisch, als sie zusah, wie der Zigeuner es bewerkstelligte, das üppig gebaute Mädchen öfter als nötig fest an sich zu drücken. Das dumme Mädchen schien so unschuldig zu sein, daß es ihm nicht einmal auffiel. Leisl lehnte sich gegen die Mauer der Wolfsgrube und sah amüsiert zu. Das hier war besser als das Schauspiel bei der Sommersonnenwende. Anscheinend bedankte sich das Mädchen bei dem Zigeuner und suchte in seiner Geldbörse nach einer angemessenen Bezahlung. Der Vistani tat tief beleidigt und lehnte die Münzen energisch gestikulierend ab. Dann beugte er sich ungewöhnlich lange über ihre Hand und machte sich zögernd davon. Als er wieder auf das schwarze, mit Glöckchen geschmückte Pferd stieg, rief ihm jemand etwas zu, doch Leisl konnte nicht -214-
verstehen, was es war. Der Zigeuner hatte es jedoch verstanden und erwiderte etwas, wobei er die Beleidigung durch eine Geste unterstrich, die in Anwesenheit einer Dame gegen jeden Anstand verstoßen hätte. Dann ritt er auf den Pfad zu, der ihn zu seinem Lager brachte. Das Mädchen sah sich hilflos um, bevor es mit seinem schweren Bündel auf die Wolfsgrube zuhielt. Kleine Füchsin schlenderte unauffällig ein paar Schritte zur Seite und schien sich sehr für die Waren des Kohlbauers zu interessieren. Das Mädchen legte das Bündel ab, strich die langen, dunklen Locken zurecht und klopfte an die Tür. »Haut ab«, rief der Schankwirt. »Wir haben erst ab Mittag geöffnet.« »Bitte, Herr«, sagte das Mädchen mit einer lieblichen, zitternden Stimme. »Ich wollte fragen, ob Ihr eine Hilfe gebrauchen könntet. Ich würde gern als Schankmaid arbeiten.« Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann hörte Leisl die schweren Schritte des Wirtes. Die Tür öffnete sich quietschend, und der Wirt streckte mißtrauisch den Kopf nach draußen. Er musterte die junge Frau kritisch. »Nun, hübsch bist du ja. Ich glaube schon, daß man was mit dir anfangen kann. Wer ist dein Vater?« Das Mädchen leckte sich nervös über die Lippen. »Bitte, Herr, ich stamme nicht aus diesem Dorf. Ich komme aus Vallaki. Mein Vater war Fischer, doch er ist im Sommer ertrunken. Mama verdient mit ihrer Näherei nicht genug, um uns alle ernähren zu können, und …« Der Schankwirt knallte die Tür vor der Nase der Fremden zu. Das laute Geräusch ließ sie zusammenzucken, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie bückte sich langsam, um das Bündel wieder aufzunehmen. »Kann ich dir behilflich sein«, ertönte eine klare, männliche Stimme hinter Leisl. Sie blinzelte überrascht und zog sich noch -215-
weiter hinter den Wagen mit dem Kohl zurück. Kleine Füchsin kannte diese Stimme. Sie gehörte dem jungen Priester, Bruder Sascha. Leisls Herz schlug schmerzhaft schneller. Sie wurde immer nervös, wenn sie sich in der Nähe des gutaussehenden Priesters befand. »Vielen Dank, Herr«, sagte die Fremde und strahlte ihn an. Sascha erwiderte das Lächeln und hob das Bündel trotz seiner dünnen Gestalt mühelos auf. Sein rosarotes Gewand war mit goldenen Streifen verziert und wurde in der Mitte von einer gelben Schärpe zusammengehalten. Die feinen Pastellfarben standen in starkem Gegensatz zu seinem schwarzen Haar und der dunklen Haut. »Wohin soll ich es bringen, meine Dame?« »Oh, bitte nennt mich Katya. Ich habe keinen Ort, an dem ich es unterbringen könnte. Vielleicht wißt Ihr jemanden, der meine Hilfe gebrauchen könnte? Ich mache alles … das heißt …« Sie wurde rot und schaute zu Boden. »Alles, was … Ihr wißt schon, was ehrbar ist. Ich kann kochen und saubermachen und Kleider flicken. O bitte, Herr, könnt Ihr mir helfen?« Bruder Sascha lächelte. »Es tut mir leid, daß du keine Arbeit gefunden hast. Das Dorf behandelt Fremde mit großem Mißtrauen. Ich sag dir was. Bruder Martyn und ich schaffen es nicht, die Kirche sauberzuhalten, und keiner von uns kann kochen. Hättest du Lust, für uns zu arbeiten? Natürlich werden wir einen Platz finden, an dem du wohnen kannst«, fügte er hinzu. »Wir müssen auf die Schicklichkeit achten. Es kommt nicht in Frage, daß eine schöne junge Dame bei zwei alten Junggesellen wohnt, auch wenn wir Priester sind.« Sascha grinste freundlich. Leisl spürte in ihrem Versteck eine innere Wärme, die sich kribbelnd bis in die Zehenspitzen zog. Katyas braune Augen wurden feucht, und ihr voller, roter Mund bebte. Sie fing an zu weinen. »Oh, Herr, Ihr seid so freundlich. Ich hatte solche Angst …« -216-
»Bitte weine nicht, mein Kind, und nenn mich nicht Herr. Ich bin einfach Bruder Sascha.« Er lud sich das Bündel auf die eine Schulter, legte die freie Hand unter ihr Kinn und hob es an. Er musterte kritisch ihr Gesicht. »Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?« Katya zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, vor zwei Tagen.« »Zwei Tage! Komm. Wir sehen zu, daß du etwas zu essen bekommst, und dann suchen wir Vater Martyn. In Ordnung?« Sie gingen zusammen zu Kolyas Laden, und die lauschende Leisl konnte den Rest ihrer Unterhaltung nicht mehr verstehen. »Willst du was kaufen, oder stehst du nur hier rum und verscheuchst die anderen Kunden?« fauchte der aufgebrachte Kohlbauer. »Entschuldigung«, murmelte Leisl, schob die Hände tief in die Taschen und schlenderte weiter. Ohne den genauen Grund zu kennen, wünschte sie sich plötzlich, daß sich der Himmel bewölkte und der Regen wieder niederprasselte. Jander schlug die silberfarbenen Augen auf. Er hatte wieder einmal den ganzen Tag traumlos geschlafen. Das war eine Erleichterung, doch gleichzeitig auch eine Folter. Nachdem vor ein paar Jahren alle Nachforschungen im Sand verlaufen waren, hatte er aufgehört, von Anna zu träumen … Der Elf war traurig zu dem Schluß gekommen, daß das wunderschöne, gequälte Mädchen zu den »Verlorenen« gehört hatte, wie sie von den Bnrovianern genannt wurden. Das waren Männer oder Frauen, die von den Schrecken, die sie erlebt hatten, in die Verzweiflung getrieben worden waren. Sie wanderten auf der Suche nach Barmherzigkeit verloren von Dorf zu Dorf. Wo auch immer sich Jander nach Anna erkundigt hatte, kannte niemand eine Frau mit diesem Namen, die seiner Beschreibung entsprochen hätte. Außerdem hatten die Leute oft -217-
mißtrauisch die Frage gestellt, warum sich der Elf eigentlich nach einer Frau erkundigte, die bereits seit über hundert Jahren tot sein mußte? Jander konnte es ihnen nicht sagen. Er konnte ihnen lediglich danken und seine Nachforschungen fortsetzen. Er erhob sich, streckte sich und sah sich in seinem Gemach um. Zumindest hier zeigten seine Bemühungen einen gewissen Erfolg: das Schlafgemach war wiederhergestellt. Es verfügte zwar nicht unbedingt über seine alte Pracht, doch es war bequem. Das Mobiliar war sauber, und das Bett verfügte über himmelblaue und indigofarbene Vorhänge. Die Ecke neben dem Fenster, dessen versiegelte Läden von anmutigen Stoffen verborgen wurden, wurde von einem bequemen Lesesessel geschmückt. Jander blickte sehnsüchtig auf das Fenster. Heute nacht mußte Vollmond sein. Also genau die richtige Zeit, um seinem Garten einen Besuch abzustatten. Der wuchernde, sterbende Garten, den Jander vor fast einem Vierteljahrhundert entdeckt hatte, gehörte der Vergangenheit an. Er hatte ihn emsig gehegt, eine Vielzahl verschiedener Blumenarten angepflanzt und mit ihnen experimentiert. Jetzt war der Garten eine üppige, grüne Oase, ein Ort der Schönheit, der allein durch seine Bemühungen wieder erblüht war. Der Vampir setzte sich auf die Mauer, betrachtete glücklich die Blumenpracht und fand dabei wie immer etwas Frieden. Wieder einmal war der Herbst eingekehrt, und es wurde Zeit, mit dem Beschneiden anzufangen, um die Pflanzen auf den Winterschlaf vorzubereiten. Jander kniete vor dem weißen Rosenbusch nieder, der neben der Kapellentür wuchs, und musterte ihn kritisch. Eine Rose blühte noch, und der Glanz des Mondlichts ließ sie wie eine überirdische Erscheinung wirken. Der Elf beugte sich langsam vor, um den sauberen, süßen Duft zu riechen und die weichen Blütenblätter, die in ihrer Sanftheit an Annas Wangen erinnerten, auf seinem Gesicht zu spüren. Er schloß die Augen, sog die Luft tief in sich hinein und lächelte -218-
traurig. Als er die Rose von der Nase nahm, öffnete er die Augen und betrachtete die Blume. Sein Lächeln floh. Die Rose, die noch vor Sekunden in voller, stolzer Blüte gestanden hatte, war verwelkt. Ihre roten Blätter fielen mit einem stummen Vorwurf zu Boden. Jander wich voller Entsetzen und Verblüffung vor dem Rosenbusch zurück. Neben seinem Fuß wuchs eine Gruppe nachtblühender Veilchen. Er streckte langsam und ängstlich einen Finger aus und berührte die purpurroten Blüten. Sie verwelkten vor seinen Augen, und das Braun des Todes kroch weiter in die grünen Blätter. Diesmal spürte er den winzigen Tod der Blume wie einen Dolchstoß in den Leib. Was war mit ihm passiert? Seine zärtliche Berührung war ohne jede Vorwarnung für diese Blumen zum Verhängnis geworden. Der Vampir ballte die Fäuste und drückte sie auf die Brust, als wollte er verhindern, daß noch mehr der unschuldigen Flora dem von ihm ausgehenden Bösen zum Opfer fiel. Er stützte sich auf die Mauer, dankbar für das kühle, harte Gefühl, das seine goldfarbenen, todbringenden Hände den leblosen Steinen nichts antun konnten. Den Tränen nahe blickte er über die niedrige Mauer in den mondhellen Nebel, der langsam durch den Abgrund wogte. Gelegentlich riß er an einigen Stellen auf und gab die Sicht auf zerklüftete, spitze Felsklippen frei. Einen Moment lang überlegte Jander, sich hinunter in den Nebel zu stürzen. Er verwarf die Idee sofort wieder. Das würde seinen Schmerz nicht lindern. Er konnte nicht sterben. Plötzlich wurde ihm bewußt, wie sehr er doch die Farben des Tages vermißte. Zwar war das Spektrum der Nacht wunderschön, gleichzeitig jedoch sehr begrenzt. Er konnte nur noch das Indigo und die tintige Schwärze des Himmels und der Erde, das Perlenweiß des Mondscheins und das dunkle Grün der -219-
Felder und Wälder wahrnehmen. Was war mit dem Blau des Himmels? Oder dem Rot und Blauviolett und all den anderen feinen Tönen des Tages? Sie alle blieben ihm verwehrt. Der Vampir schloß die Augen und versuchte sich die Farben des Tages ins Gedächtnis zurückzurufen. »Anna«, sagte er laut, »bitte komm zurück. Ich vermisse dich so sehr.« Er konnte nicht sagen, welche Hoffnungen er damit verknüpfte, ob sein Verlangen die schmerzlichen, freudigen Träume zurückbringen konnte, in denen er und seine Geliebte prächtige Sonnenaufgänge und lichterfüllte Nachmittage erlebten. Er konzentrierte sich und schuf in Gedanken Annas Bild. Hochgewachsen und wunderschön; die Mähne lockigen, kastanienbraunen Haares fiel ihr bis auf den Rücken, die braunen Augen voll verhaltenen Lachens … Anna. Jander öffnete die Augen und keuchte überrascht auf. Vor ihm stand eine Frau, die all diese Merkmale in sich vereinigte. Einen kurzen Moment lang schrie sein Bewußtsein Annas Namen, dann floh der Gedanke, als er die junge Frau näher betrachtete. Sie hatte tatsächlich dunkle Augen und kastanienbraune Locken, doch ihre schmale Gestalt war zu klein, als daß es sich um Anna hätte handeln können. Die Augen besaßen die richtige Farbe, nur der Ausdruck stimmte nicht. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem sardonischen Lächeln, als sie ihn musterte. »Ah, Jander«, sagte Strahd vergnügt und stellte sich neben die Frau. »Darf ich Euch meine neue Bekanntschaft vorstellen, Katrina Yakovlena Pultschenka. Trina, das ist Jander Sonnenstern, ein Besucher aus einem fernen Reich.« Einen kurzen Augenblick lang hielt Jander die junge Frau an Strahds Arm für eine weitere Vampirin, die vor kurzer Zeit erschaffen worden war. Doch sie verströmte einen seltsamen Geruch, der etwas Lebendiges in sich barg. Als Strahd besitzergreifend eine Hand auf Trinas Schulter legte, überragte -220-
er sie buchstäblich. Sie trug die Tracht der Dorfbewohner, die jedoch offensichtlich nicht für sie angefertigt worden war. Ihre schmächtige Gestalt schien darin zu versinken. Allerdings spiegelte weder ihr Benehmen noch ihr Gesichtsausdruck Verletzlichkeit wider. Ihre Augen funkelten lebhaft und erfaßten ihre Umgebung geschwind. Sie schien keine Furcht zu haben; in Barovia war dieser Charakterzug bemerkenswert. »Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Jander«, sagte sie mit einer angenehmen Stimme, in der jedoch zuviel Selbstzufriedenheit mitschwang, um anziehend zu sein. »Strahd hat mir viel von Euch erzählt.« Sie tätschelte die Hand des Grafen, die noch immer auf ihrer Schulter lag. »Darf ich …?« Strahd nickte. Trinas Lächeln nahm einen grausamen Zug an, als sie plötzlich wie von einem tiefen, inneren Schmerz gepackt den Rücken krümmte. Erstaunlicherweise rie fen die Verrenkungen keinen Schmerzensschrei hervor, und der Elf beobachtete entsetzt und zugleich fasziniert, wie sich Mund und Nase zu einer Wolfsschnauze streckten und sich ihre Gliedmaßen in schlanke Wolfsbeine verwandelten. Ihre Finger und Zehen schrumpften zu Klauen, während aus den Nägeln harte Krallen wurden. Kräftige Muskeln schwollen an und bahnten sich einen Weg durch die einengende Kleidung. Nicht einmal eine volle Minute war vergangen, da hatte eine graubraune Wölfin Trinas Platz eingenommen, die mit der nun überflüssigen Kleidung behangen war. Die Zunge hing aus dem Maul heraus, während sich die Augen verengten und die Ohren entspannten. »Trina lebt im Dorf, wo sie von einem ziemlich leidenschaftlichen Verehrer bestürmt wird. Sie hat nur wenig Zeit und zieht es deshalb natürlich vor, bei Besuchen auf dem Schloß ihre Wolfsgestalt anzunehmen«, erklärte Strahd. Die Wölfin schaute beide Männer an und schlüpfte dann aus dem Kleid. Sie trottele zu dem Elfen hinüber und schnupperte -221-
neugierig mit weit geöffneten, schwarzen Nüstern. »Sie ist die erste Sterbliche, die sich seit über hundert Jahren freiwillig auf Schloß Rabenhorst begeben hat«, sagte Strahd. »Ich kann ihr Blut nicht trinken. Der Wolfsgeschmack macht es für meinen Gaumen ungenießbar.« »Warum gebt Ihr Euch dann mit ihr ab?« Strahd machte eine zur Vorsicht mahnende Geste. »Paßt auf, Jander. Sie versteht jedes Eurer Worte!« Trina bellte scharf, um es zu bestätigen. »Ich genieße ihre Gesellschaft, und zwar mehr als die meiner Sklavinnen. Sie ist fast so gewissenlos wie ich. Es ist nicht einfach, in nur zehn Jahren so zu werden!« Er lachte humorlos. »Sie findet die Vorstellung von Gut und Böse äußerst interessant, doch sie gleicht dem Wolf aus den Wäldern - sie kennt keine Skrupel. Sie ist eine aus gezeichnete Spionin und eine vergnügliche Bettgefährtin.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Wölfin zu. »Komm, meine Liebe. Ich war beim letzten mal dein Gast. Nun ist es Zeit, die Gastfreundschaft zu erwidern.« Jander sah ihnen zu, als sie gingen - der hochgewachsene, elegante Vampir und die berechnende, unmoralische Werwölfin, die im Fackelschein im Schloß verschwanden. Er schüttelte bei dem Anblick den Kopf. Was werden Strahds Sklavinnen wohl von Trina halten, fragte er sich, und wie wird die Werwölfin auf sie reagieren? Hunger wurde in ihm wach, doch der Vampir ignorierte ihn. Er war diesen Ort so leid. Seine Ausflüge nach Vallaki und in das Dorf boten ihm nur wenig Trost, und die Vorhaben, an denen er die letzten paar Jahre gearbeitet hatte, erschienen ihm ohne jeden Wert. Er setzte sich auf den kalten Stein über dem Abgrund und lehnte den Kopf an die Mauer. »Du hast mich vergessen«, ertönte die liebliche, kalte Stimme, nach der sich Jander so gesehnt und die er gleichzeitig so gefürchtet hatte. -222-
Der Elf traute sich nicht, die Augen zu öffnen; er hatte Angst, daß er wach war und ihm nur sein Bewußtsein einen Streich spielte. »Ihr Götter, Anna, niemals. Das weißt du doch«, flüsterte er. Kleider raschelten, und er roch den Duft ihres Parfüms, als sie sich neben ihn setzte. Der Vampir hielt die Augen noch immer geschlossen. »Sieh mich an, mein Geliebter.« Ihre Stimme war leise und sanft, so wie das Geräusch des Windes in den Baumwipfeln an einem warmen Sommernachmittag. »Nein. Ich kann nicht.« »Fürchtest du dich vor dem Anblick, den deine Achtlosigkeit mir angetan hat?« Diese vorwurfsvolle Bemerkung ließ Jander einen leisen, gequälten Aufschrei ausstoßen. Er drehte sich langsam und zögernd zu ihr um und öffnete die silberfarbenen Augen. Und schrie erneut auf, doch diesmal vor Entsetzen. Anna sah noch schlimmer aus als damals im Irrenhaus. Ihr schimmerndes Haar war schmutzig und verfilzt. Ihr Gesicht war schmutzig, und ihr Kleid stank nach Moder. Ihr Blick war klar und voller Qual, und das machte dem Vampir am meisten zu schaffen. »Anna«, flüsterte er, und die Schuld drohte ihn zu überwältigen, »habe ich dir das angetan?« »Ich kann nicht ruhen, bis du mich gerächt hast«, sagte sie leise, und ihre schmerzerfüllten Augen füllten sich mit Tränen. »Du bist meine einzige Hoffnung. Warum hast du mich in den vergangenen zehn Jahren nicht besucht?« Am liebsten hätte er den Blick abgewendet, doch er konnte es nicht. »Weil es so schmerzt«, murmelte er. Ihre Hand streichelte seine Wange. »Glaubst du denn, ich würde keinen Schmerz verspüren, Geliebter? Das Leben als Wahnsinnige hat auch mir Qualen bereitet. Wo sind sie hin, Jander? Ich hatte ein Bewußtsein, Gedanken, Träume - wo sind sie hin, als ich den Verstand verlor?« -223-
Jander rückte von ihr ab. »Ich weiß nicht, wie ic h dir helfen soll!« schrie er, und sein Zorn richtete sich genauso gegen sie wie auch gegen seine Ohnmacht. Er stand auf, tat ein paar Schritte und drehte ihr den Rücken zu. »Niemand scheint dich zu kennen. Ich habe nicht den geringsten Hinweis gefunden!« »Du mußt die Spuren finden. Dann hast du auch denjenigen gefunden, der mich vernichtet hat«, sagte sie freundlich. »Das Wissen, das du brauchst, ist näher, als du glaubst.« Er wirbelte voller Fragen herum und entdeckte, daß sie verschwunden war. Der Elf blinzelte; die plötzliche Erscheinung hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Am Himmel zeigte sich das Grau des nahenden Morgens. Eine Sekunde lang wollte Jander dort einfach stehenbleiben und nach Osten blicken, während sich die Sonne in all ihrer Pracht und Schönheit und ihrem Schmerz erhob. Das würde alles beenden … doch es würde ihre Probleme nicht lösen. Das Gewicht der Entscheidung lastete schwer auf ihm. Jander schloß kurz die Augen, dann ging er ins Schloß. Trina langweilte sich. Jander konnte das den ständigen Seufzern und dem nervösen Scharren entnehmen, das sich hinter seinem Rücken abspielte, doch er ließ sich nicht stören und konzentrierte sich weiter auf seine Arbeit. Er stand auf einer Leiter und kratzte mit einem besonders feingeschliffenen Meißel den Dreck weg, der sich im Lauf der Jahrzehnte in den eingemeißelten Buchstaben unter dem Fresko angesammelt hatte. Teile der Inschrift waren bereits wieder lesbar. Nun stand dort: DER GOBLINKÖNIG FLIEH VOR DER M HT S H Ll N T L MA V N RAB N T. Jander nahm sich mit der Geduld, über die nur die Toten -224-
verfügen, das T des Wortes Flieht vor. Das Fresko befand sich in einem traurigen Zustand, doch man konnte noch eine mächtige Gestalt erkennen, die mit ausgebreiteten Armen auf einem Hügel vor einer Horde sich duckender Ungeheuer stand. Jander vermutete, daß dieses Fresko darstellte, wie Strahd die Geschöpfe der Finsternis vernichtete, die einst Barovia bedroht hatten. »Ihr Götter, Jander, wie könnt Ihr Euch nur mit so etwas beschäftigen?« Trina schaute zu ihm hoch. Obwohl sie ihn nun schon einige Monate kannte, sprach sie ihn genau wie Strahd noch immer wie einen Adligen an. Sie hatte menschliche Gestalt angenommen und verzog angewidert die kecke, kleine Nase. »Kleine Wolfsschwester«, erwiderte er leicht amüsiert, »ich beschäftige mich lieber mit etwas Vernünftigem, statt aus Langeweile Unschuldige zu jagen.« Strahd hätte so eine Bemerkung nicht unwidersprochen hingenommen; Katrina nickte lediglich. »Das ist aber unsere Natur. Ich bin ein Werwesen.« »Nicht alle Werwesen gehören dem Bösen«, meinte Jander abwesend und blickte genauer hin, als das F unter seiner vorsichtigen Berührung Gestalt annahm. »Zumindest nicht in meiner Heimat.« Sie lachte und klatschte vor Begeisterung über seinen Witz in die Hände. »Das ist lustig!« »Es ist wahr.« »Nein! Ehrlich?« »Auf Toril gibt es Wereulen und Werbären und sogar Werdelphine. Und manche davon sind rechtschaffene, liebevolle Kreaturen, die das Gesetz achten und danach streben, es aufrechtzuerhalten. Ich habe einmal mit einem Werdelphin Freundschaft geschlossen. Er hat mir das Leben gerettet.« -225-
»Was ist ein Werdelphin?« Jander war zuerst überrascht, dann zuckte er mit den Schultern. Barovia schien nur von Land umgeben zu sein, deshalb hatte Trina natürlich noch nie einen Ozean gesehen. Er bedauerte sie deswegen, und plötzlich verspürte er ein Verlangen nach den herrlichen Gestaden Immerdars. »Ein Delphin ist etwas Ähnliches wie ein großer Fisch. Es sind Warmblüter, und ihre Jungen entschlüpfen keinen Eiern, sondern werden lebend geboren. Werdelphine verwandeln sich von Delphinen in Menschen.« Trina war erstaunt. »Das müssen aber ganz merkwürdige Tiere sein. Stand dieser Werdelphin in Eurer Schuld?« »Nein. Er bemerkte, daß ich in Schwierigkeiten war und kam mir zur Hilfe.« Trina runzelte die Stirn. »Wie dumm von ihm«, sagte sie nachdenklich. »Ihr hättet Eure Notlage doch vortäuschen können, um ihn einzufangen und zu verkaufen.« Jander unterbrach seine Tätigkeit lange genug, um ihr einen unwirschen Blick zuzuwerfen. »Nicht jeder denkt so wie du«, sagte er kurz angebunden. »Das ist auch gut so«, schnurrte sie. Jander arbeitete weiter und nahm den nächsten Buchstaben in Angriff. »Erzählt mir, wie Ihr hierher gekommen seid.« »Der Nebel hat mich gebracht. Das ist nicht ungewöhnlich.« »Das geht jedem so. Kommt eigentlich niemals jemand mit Hilfe von Magie her?« Gelegentlich genoß Jander das Geplapper der Werwölfin, doch nun hatte sie das Thema angesprochen, das er am wenigsten mochte, und seine Geduld war bald erschöpft. »Trina, ich weiß nichts über Magie. Warum fragst du nicht Strahd?« Sie antwortete nicht sofort, und als sie es dann tat, klang ihre -226-
Stimme beleidigt. »Ich rede nicht mit ihm. Er hat die vergangene Nacht mit Irina verbracht. Schon wieder.« Trina trat wütend nach den Stufen und gab dann eine Reihe von Flüchen von sich, die einem Seemann alle Ehre gemacht hätte. O ja, nun erinnerte sich Jander an Irina, Strahds neueste »Errungenschaft«, die zur Zeit noch ein Mensch war, aber nicht mehr lange einer sein würde. »Warum bist du dann hier?« fragte er Trina. Sie zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich weiß nicht.« Plötzlich wurde ihre Stimme tiefer und heiser. »Vielleicht bin ich gekommen, um Euch zu sehen.« Jander schaute sie an. Die Werwölfin hatte einen nackten Fuß auf die erste Leitersprosse gesetzt und lächelte ihn an. Ihr Blick war durchdringend, und ihre Lippen waren rot und einladend. Der Elf empfand echtes Mitleid für sie und stellte sich so hin, daß er sie besser sehen konnte. »Trina, du bist ein sehr attraktives Mädchen, doch ich bin nicht interessiert. Außerdem, wenn du glaubst, ich würde auch nur daran denken, mich mit einer von Strahds Damen einzulassen, dann …« »Eine von denen!« Sie schaute ihn böse an. »Ich gehöre nicht zu Strahds Damen!« Jander enthielt sich eine r Antwort. Trina gab sich weiter ihrem Zorn hin. »Ich habe es satt, mir das ständig anhören zu müssen. Warum kann er sich nicht einfach nur mit mir zufriedengeben? Warum muß er unbedingt diese hirnlosen Sklavinnen haben, die nicht über einen Funken eigenen Willen verfügen? Er sagt, ihm gefiele meine Selbständigkeit!« »Das glaube ich ihm«, erwiderte Jander. »Warum muß…« -227-
»Trina, Strahd mag deine Unabhängigkeit. Aber er mag auch das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Laß ihm doch seine Sklavinnen. Sie sind für ihn nur ein … Zeitvertreib.« Er erwähnte nicht, daß Trina seiner Meinung nach für Barovias Herrscher ebenfalls nicht viel mehr als ein Zeitvertreib war. »Das gefällt mir nicht«, murmelte sie, setzte sich auf die Steinstufen und stützte das Kinn auf die Hände. Ihr hübsches Gesicht spiegelte ihr inneres Leid wieder. Trina konnte trotz ihrer gleichgültigen Gewalttätigkeit manchmal wie ein einsames Kind aussehen. Jander stieg die Leiter hinab, verstaute seine Werkzeuge in der Tasche, die er selbst hergestellt hatte, und setzte sich neben sie. Die Werwölfin sah ihn nicht an, und als der Elf ihr sanft die Hand unter das Kinn legte und ihr Gesicht zu sich drehte, schlug sie die Augen nieder. Sie weinte. Er legte ihr kameradschaftlich den Arm um die Schulter. »Ich ertrage die Art, wie er mich behandelt, nur wegen der magischen Künste«, sagte sie mit bebender Stimme. »Wie Ihr wißt, ist er mein Lehrer. Ich habe schon viel gelernt. Ich werde warten, bis ich genug gelernt habe. Dann kann ich dafür sorgen, daß er nur noch mich will.« »Nur deshalb wollen die Menschen über Magie gebieten, nicht wahr?« rief Jander, und sein Mitleid verwandelte sich in Zorn. »Magie. ›Ich kann reich werden, ich kann jemanden dazu bringen, daß er sich in mich verliebt, ich kann die Welt beherrschen. ‹ Ihr Götter!« »Ihr haßt Magie?« Trina schüttelte überrascht den Kopf. »Magie kann soviel bewirken. Da wäre zum Beispiel dieses Fresko, an dem Ihr schon seit ewigen Zeiten arbeitet. Ihr brauchtet Strahd nur darum zu bitten, daß er einen kleinen Zauber wirkt, und es wäre in Sekunden wieder wie neu.« »Es bereitet mir Vergnügen, an dem Fresko zu arbeiten. Seine Schönheit erwacht unter meinen Händen zu neuem Leben. Die -228-
Magie nimmt einem nur die Freude an so etwas. Außerdem hätte Strahd nichts für eine Sache übrig, aus der er keinen sofortigen Nutzen ziehen kann«, fügte er hart hinzu. »Das ist nicht wahr!« »O doch, das ist es. Wenn du jemanden suchst, der dich liebt, nimm doch den jungen Burschen aus dem Dorf, mit dem du angeblich eine Romanze hast.« »Der? Macht Euch doch nicht lächerlich! Ich habe nur zugelassen, daß er mich besucht, weil Strahd es für eine gute Idee hielt, wenn ich jemanden aus dem Dorf kenne. Die Menschen begegnen mir so mit weniger Mißtrauen.« »Also tust du, was Strahd dir sagt. Du bist nicht besser als seine Sklavinnen. Du bist sogar noch schlimmer, weil du ihm freiwillig gehorchst.« Trina öffnete den Mund zu einer Erwiderung, erstarrte dann jedoch, als sie sich der Wahrheit von Janders Worten bewußt wurde. »Nein«, flüsterte sie, »ich bin nicht sein Spielzeug. Das ist nicht wahr. Er liebt mich.« Sie sah so jung und verzweifelt aus und hatte so große Ähnlichkeit mit einem jungen Mädchen, das im Schmerz seiner großen Liebe gefangen war, daß Jander gerührt war. Er hielt sie tröstend im Arm und spürte die unglaubliche Anspannung, die ihren kleinen Körper erfaßt hatte. Ihre schmalen Schultern zuckten, als sie schluchzte, und ihre kleinen Hände krallten sich in sein blaues Gewand. Ihre Affäre mit dem Herrscher des Landes würde kein glückliches Ende nehmen. »Was haben wir denn hier für ein hübsches Paar!« Jander und Trina fuhren auseinander wie zwei Kinder, die man bei etwas Verbotenem erwischt hatte. »Strahd …«, sagte Jander. Der Gesichtsausdruck des Grafen ließ seine Worte gegenstandslos werden, bevor er sie aussprechen konnte. In Strahds Augen loderte rotes Feuer, und -229-
seine Züge hatten sich vor Wut verfärbt. Er hob drohend die Hände, und seine Lippen verzerrten sich zu einer schmalen Linie reinen Hasses. Der Elf war einen Augenblick lang davon überzeugt, daß er es diesmal zu weit getrieben hatte und der Vampir die Geduld verlieren und ihn nun vernichten würde. Dann verblaßte der rote Schimmer, und Strahds Blick nahm wieder seinen kalten und leicht abwesenden Ausdruck an. Er senkte die Hände, und Jander schloß erleichtert die Augen. »Jander Sonnenstern, mein alter Freund«, sagte Strahd leise und zugleich bedrohlich, »Ihr mögt Magie nicht billigen. Jedoch solltet Ihr ihre Macht respektieren … und die Macht derjenigen, die sie benutzen.« Der Graf wandte seine Aufmerksamkeit der Werwölfin zu. Trina hatte sich in ihrer Angst verwandelt. Sie war an die gewölbte Wand der Treppe gekrochen und wimmerte leise. Menschliche Augen blickten furchterfüllt aus einem wölfischen Gesicht, und lange, haarige Klauen drückten sich an den Stein. Strahd lächelte gewinnend. Er hielt dem furchtsamen Geschöpf eine starke, mit scharfen Nägeln versehene Hand hin. »Trina, meine Liebe!« lockte er sie. »Hab keine Angst. Alles ist bereits vergeben und vergessen. Ja, das ist meine Trina!« lobte er die Frau, als sie - nun völlig zur Wölfin geworden - zu ihm kam und glücklich vor seinen Füßen tänzelte. Der Vampir tätschelte sie liebevoll. »Vielleicht habe ich dich vernachlässigt, meine Liebe.« Der Graf und die Werwölfin schritten die Stufen hinauf. Strahd blieb in der Mitte stehen und drehte sich langsam um. Jander erwiderte seinen dunklen Blick gelassen. »Mein alter Freund«, sagte der Graf mit einem eiskalten Tonfall, der die Wärme der Worte Lügen strafte, »wir haben uns schon lange nicht mehr zusammengesetzt und geplaudert. Ich werde Euch morgen nach Sonnenuntergang besuchen. Wir -230-
werden zusammen unseren Hunger stillen und uns dann wie früher unterhalten, hm?« Er wartete nicht auf eine Erwiderung, sondern ging weiter. Jander sah ihm aufgewühlt nach. Er überlegte, weiter an dem Fresko zu arbeiten, gab den Gedanken dann jedoch auf. Er war viel zu aufgewühlt, um konzentriert arbeiten zu können. Hätte Trino doch bloß nicht das finstere Thema Magie angesprochen! Ein Großteil der schmerzvollen Erfahrungen, die Jander in den langen Jahren seiner Existenz gemacht hatte, waren durch Magie verursacht worden. Sogar im magischen Toril hatten die Beherrscher der zauberischen Künste nichts gegen den Fluch der Untoten ausrichten können, der auf ihm lastete. Das alles brachte qualvolle Erinnerungen zurück, obwohl sich Jander gegen sie wehrte. Der Elfenvampir lehnte sich vor Erschöpfung zitternd gegen das niedrige Eisengitter. Er blickte den blumengeschmückten Pfad zurück, der vor dem Landhaus endete. Jetzt, wo er endlich sein Ziel erreicht hatte, zögerte er und fragte sich, ob er den Mut hatte weiterzumachen. Jander hatte in seinem geschwächten Zustand viele Wochen gebraucht, um nach Tiefwasser zu gelangen. Er war in der Nacht gereist und hatte am Tag geschlafen. Seit er Cassiar, seinen Herrn, vernichtet hatte, hatte er bewußt darauf verzichtet, menschliches Blut zu sich zu nehmen, obwohl sein untoter Körper danach verlangte. Es machte ihm sogar zu schaffen, wenn er das Blut der Waldgeschöpfe trank, deshalb hatte er sich dazu gezwungen, seinem Durst nur nachzugeben, wenn es unumgänglich war. Aus trotzigem Stolz hatte er nicht einmal die Gestalt verändert, um die Reise zu beschleunigen. Ein Wolf oder eine Fledermaus hätte Tiefwasser viel schneller erreicht, doch Jander klammerte sich mit aller Gewalt an seine Elfenherkunft. Er -231-
machte die Reise zu Fuß - auf zwei Beinen. Er hatte Lyria die Liebliche schon lange für tot gehalten und angenommen, daß sie bereits vor einem Jahrhundert oder mehr zu Staub zerfallen war. Als er dann erfuhr, daß sie sich mit Hilfe ihrer magischen Künste am Leben erhalten hatte und ausgerechnet in Tiefwasser wohnte, schöpfte er neue Hoffnung. Nun holte er im Geist tief Luft, öffnete das kleine Tor und legte die geringe und doch so große Distanz bis zur Tür seiner einstigen Kameradin zurück. Er benutzte den Türklopfer, um seine Anwesenheit zu verkünden. Zuerst rührte sich in dem Landhaus nichts. Jander klopfte erneut. In einem der oberen Zimmer flackerte ein Lichtschein auf, und sein übermenschliches Hörvermögen vernahm das Knarren von Stufen, die jemand hinunterstieg. »Es ist schon spät. Um diese Zeit berechne ich das Doppelte.« Jander mußte lächeln. »Laß mich rein, du rundohriges Bauernmädchen«, erwiderte er und versuchte so unbeschwert zu klingen wie vor hundert Jahren. Einen Augenblick später wurde der Riegel zurückgeschoben. Die Tür öffnete sich quietschend. »Nur eine Person auf der ganzen Welt nennt mich Rundohr, du Zweigfinger«, sagte Lyria fröhlich. Sie hatte sich kaum verändert. Welche Zaubertränke sie auch immer einnahm, auf jeden Fall taten sie ihre Wirkung. Ihr Haar hatte zwar nicht mehr die Farbe der Sonne und war schneeweiß geworden, doch es stand ihr gut. Die sagenhaften grünen Augen waren von Falten umgeben, doch ihr Körper, der in ein buntes Gewand gehüllt war, das sie ihr »Regenbogenkleid« genannt hatte, war so schlank und straff wie früher. Sie stieß einen Freudenschrei aus und umarmte den Elfen stürmisch. Jander zögerte, bevor er die Umarmung erwiderte. Sie rückten voneinander ab und sahen sich an. »Lyria, die Liebliche«, sagte Jander voller Zuneigung. »Du bist so schön wie eh und je.« -232-
»Die Elfen waren schon immer die größten Schmeichler«, erwiderte sie spöttisch. »Gut gesagt, alter Freund. Komm rein, komm rein! Deine Hände sind eiskalt!« Sie führte Jander herein und benahm sich wie eine Henne, die sich um ihr einziges Küken sorgte. Der Raum paßte zu ihr; er war zugleich einladend und elegant. Ein Feuer flackerte in einem großen Kamin und hielt die Feuchtigkeit von den hohen Bücherregalen ab, die ihn flankierten. Zwei tiefe Sofas, die mit burgunderfarbenen Kissen ausgestattet waren, standen sich gegenüber; zwischen ihnen befand sich ein niedriger, getäfelter Holztisch. Darauf stand ein graviertes Silbertablett mit einer Karaffe dunklen Weins und vier anmutigen, handgeblasenen Gläsern, die so prächtig schimmerten wie Luftblasen an der Oberfläche eines Flusses. Lyria bat Jander, auf einem der Sofas Platz zu nehmen, und deutete dann auf die Karaffe. »Ein Glas Wein zum Aufwärmen?« »Nein, danke«, sagte Jander viel zu hastig, »ich trinke keinen Alkohol mehr.« »Wie bitte?« Lyria lachte, und sogar Jander mußte lächeln. Auch er erinnerte sich an seine Wettkämpfe mit Trumper Hillhollow. Gewöhnlich hatte der Halbling den Sieg davongetragen, doch Jander war es zumindest zweimal gelungen, Trumper unter den Tisch zu trinken. »Hundert Jahre können eine Person wohl doch verändern.« Sie goß sich lächelnd von der roten Flüssigkeit ein. »Vielleicht etwas anderes? Du frierst doch, Jander, und du hast schon einmal besser ausgesehen. Hast du Probleme?« Jander spürte, wie die Last, die er trug, wieder auf seinen schmalen Schultern niederdrückte, als wäre sie etwas Greifbares. »Lyria… wie sehe ich aus?« Jander war nun schon fast hundert Jahre ein Vampir, dem es nicht möglich war, sein Spiegelbild wahrzunehmen. -233-
Lyria runzelte die Stirn. »Das ist aber eine seltsame Frage. Warte, ich hole dir einen Spiegel, dann kannst du…« »Nein!« Bevor ihm bewußt wurde, was er da tat, hatte der Elf schon die Hand der Magierin ergriffen, und er mußte sich dazu zwingen, sie wieder loszulassen. »Nein, sag mir … sag mir einfach, was du siehst.« Lyria wurde nachdenklich. Sie unterzog den Elfen einer kritischen Musterung. »Mal sehen. Dein Haar hat noch immer dieselbe prächtige Farbe, um die ich dich stets so beneidet habe, wie ein blühendes Weizenfeld im Sonnenschein. Deine silberfarbenen Augen … wirken nun eher eisengrau, würde ich sagen. Eigentlich hat sich nur deine Haut verändert. Sie verfügt nicht mehr über diesen tiefbronzenen Ton, sondern hat einen Strich ins Lohfarbene bekommen. Du bist schrecklich abgemagert, Jander, und so kalt.« Der Elf blickte zu Boden. Wie sollte er es nur in Worte fassen? Lyria erhob sich und ging im Raum umher, doch der Elf war so in seinen Kummer vertieft, daß es ihm gar nicht auffiel. »Meine alte Freundin«, sagte er schließlich und schaute auf, »ich …« Er kreischte vor Schmerzen auf und fiel vom Sofa. Dabei riß er mit einem zuckenden Arm zwei der Glaser vom Tisch, die klirrend auf dem Boden zerschellten. Lyria hatte einen Spiegel genommen und auf ihn gerichtet. Die Magierin starrte entsetzt auf den sich am Boden windenden Elfen. »Es ist doch nur ein …« Dann blickte sie in den Spiegel - und verstand in jähem Begreifen. Der Spiegel zeigte das Sofa und die burgunderroten Kissen, die zerbrochenen Gläser auf dem Boden und die Steinwände des Landhauses. Nur Jander war nicht zu sehen. »Oh, mein armer Freund«, stöhnte Lyria voller Mitleid. »Mein armer, bedauernswerter Freund.« Jander schaute die Frau an. Er zitterte noch immer. Sein Blick spiegelte die innere Qual -234-
wider, und eine einzelne blutige Träne rann ihm die Wange hinunter. Lyria half ihm mit sanften Händen wieder aufs Sofa. Dann zog sie sich einen Stuhl heran und nahe gegenüber dem Elfen Platz. »Wie?« fragte sie nur. Jander lachte humorlos. »Ich befand mich nicht einmal auf Abenteuersuche. Ich war auf dem Rückweg nach Tiefwasser. Ich hatte genug vom Wanderleben und wollte das nächste Schiff nach Immerdar besteigen. Nur zwei Tage von der Heimat entfernt. Ich war …« Er unterbrach sich mitten im Satz und fragte sich, ob er ihr den schrecklichsten Teil der finsteren Geschichte erzählen sollte. Als er ihre Anteilnahme sah, entschied er sich dagegen. Es gab keinen Anlaß, ihr noch mehr Schmerz zuzufügen. »Erzähl weiter«, ermunterte sie ihn. Er befeuchtete sich die Lippen und fuhr fort. »Ich wurde im Schlaf von einem Vampir überrascht. Der Herr der Gruppe von Untoten, Cassiar, war von mir fasziniert. Er hatte noch nie einen Elfen gesehen, der zum Vampir geworden war, also ließ er mich lange Zeit in Ruhe. Für ihn war ich etwas Neues. Ich habe fast ein Jahrhundert gebraucht, bis ich ihn vernichten konnte. Dann faßte ich den Entschluß, dich zu suchen. Falls es jemanden gibt, der den Fluch von mir nehmen kann, bist du es. Es hat eine lange Zeit in Anspruch genommen, bis ich hierher gefunden habe.« Plötzlich ergriff er Lyrias Hände. »Ich habe mich gar nicht so sehr verändert, Lyria. Ich bin ein Elf geblieben. Meine Blässe rührt daher, weil ich seit Monaten kein Menschenblut getrunken habe; ich habe sogar seit Tagen kein Tierblut mehr zu mir genommen. Den Göttern bin ich gleichgültig; sie haben mich nicht gerettet. Doch du kannst es, denn du beherrschst die Magie. Du kannst mich doch heilen, oder?« -235-
Nun war es Lyria, die betreten zur Seite blickte. Sie drückte Janders eiskalte Hände, erhob sich und ging auf und ab. Etwas im Leib des Elfen verkrampfte sich. Er kannte die Magierin gut genug, um zu wissen, daß es ein schlechtes Zeichen war, wenn sie umherging. »Lyria …« Sie winkte ungeduldig ab, und er schwieg. »Jander Sonnenstern, ich kann mich noch erinnern, wie wir uns kennengelernt haben, bevor wir die Silbernen Sechs wurden. Du hast mir alles über deine Heimat Immerdar erzählt, und daß du schon immer Faerun kennenlernen wolltest. Du hast vor Enthusiasmus geglüht. Ich kann mich gut erinnern, wie ich versucht habe, dir etwas Magie in diesen erdverbundenen Schädel einzuhämmern, der mit Magie nichts anlangen wollte. Wir haben soviel zusammen durchgemacht: der Drache, Dolchtal …« Ihre Stimme brach, und ihre Augen wurden feucht. »Du weißt, wenn es in dieser oder jeder anderen - jeder - Welt einen Weg geben würde, dir zu helfen, würde ich ihn beschreiten.« Der Schmerz in Janders Innerem wurde stärker. »Das hört sich wie ein Nein an.« Tränen entwichen ihren Augen und rannen über ihr Gesicht. Sie wischte sie mit dem Handrücken fort. »Das liegt daran, weil ich nichts tun kann, alter Freund. Es gibt nur eine Möglichkeit, Vampirismus zu heilen, und das ist der Tod. Der Tod befreit einen von allen Krankheiten.« Janders Gedanken rasten. »Konntest du mich nicht töten und dann wieder zum Leben erwecken?« »Oh, das könnte ich mit Sicherheit. Nur würde ich wieder einen Vampir zum Leben erwecken, denn das bist du nun. Es gibt keine Magie, die dir helfen kann.« Jander schien alles nur noch wie durch einen roten Nebel wahrzunehmen. »Nein … nein … Ich bin ein Elf. Ich bin ein Elf!» Nervös fing er an, die Scherben aufzuheben. »Ich kann -236-
unmöglich einer von ihnen … ich war in Dolchtal dabei. Ich weiß, was Vampire machen. Ich weiß, was sie sind. Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Lyria, bitte, ich flehe dich an, sag mir, daß ich kein …« Er bemerkte, wie er sich einen langen Glassplitter ins Fleisch bohrte, als er die Hand zur Faust ballte. Doch da war kein Schmerz. Ohne sich richtig bewußt zu sein, was er da machte, zog er den Splitter wieder heraus. Die Wunde blutete nicht. »Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, doch du hast dich an das geklammert, was du einst warst. Das ist etwas, worauf du stolz sein und aus dem du Kraft ziehen solltest. Es gibt für dich keine magische Heilung, doch das muß nicht heißen, daß du zu einem dieser schrecklichen Blutsauger wirst, wie wir sie in Dolchtal kennengelernt haben. Vielleicht kannst du ja …« Lyrias Stimme erstarb, als sie den verzweifelten Blick sah, den Jander ihr zuwarf. »Es gibt keine Hoffnung«, flüsterte Jander. Er vergrub das Gesicht in den Händen. Lyria legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Keine Magie kann dich retten. Es gibt nur eine Möglichkeit, den Fluch zu beenden. Solltest du den wahren Tod suchen, mein lieber, edler Jander, dann komm zu mir, und ich werde dich sanft erlösen. Es ist besser, von der Hand eines Freundes zu sterben.« Jander sprang mit einem Aufschrei vom Sofa und warf sich auf sie. Allerdings war die Magierin schneller und wich zur Seite. Sie stöberte mit verzweifelter Hast in einem Kästchen herum, bis sich ihre Finger um einen bestimmten Gegenstand schlossen. Dann wirbelte sie herum und hielt ihn Jander vors Gesicht. Der Vampir taumelte zurück, riß die Arme hoch und verbarg sein Antlitz. »Lyria!« schrie er mit versagender Stimme. »Du verspottest meinen Schmerz!« Dann verschwand er, und Lyria -237-
war wieder allein, Nach Luft ringend, musterte die Magierin den Gegenstand, der den untoten Elfen vertrieben hatte. Es war eine kleine, rote Holzscheibe - das Symbol Lathanders, des Fürsten des Morgens. Lyria schloß voller Mitleid für ihren Freund die Augen. Jander war einst Anhänger des schönen Gottes der Morgendämmerung mit der goldfarbenen Haut gewesen. Sascha wurde von dem melodischen Trommeln des Regens geweckt, der gegen die Fensterscheibe prasselte. Er blieb noch ein paar Augenblicke in seinem kleinen, gemütlichen Bett liegen, genoß die träge Schläfrigkeit und war dankbar für den Regen. So konnten Martyn und er auf ihr tägliches Ritual verzichten, die Morgendämmerung auf dem Marktplatz zu begrüßen. Das bedeutete natürlich nicht, daß Sascha ein gottloser Mensch gewesen wäre. Seit jener schrecklichen Nacht vor vierzehn Jahren hatte er den Fürsten des Morgens zum Mittelpunkt seines Lebens gemacht. Und natürlich würden Bruder Martyn und er auch am heutigen Tage ihre private Morgendämmerungszeremonie in der Kirche abhalten und die Tür für jeden öffnen, der sich ihnen vielleicht anschließen wollte. Sascha konnte sich lediglich einfach nicht mit der Tatsache anfreunden, daß es ihnen nicht gelungen war, mehr als eine Handvoll Barovianer von Lathanders Wahrhaftigkeit zu überzeugen. Es war entmutigend, wenn man über eine Stunde am Marktplatz auf dem Podium stand und es keinen interessierte, was man zu sagen hatte. Entfernter Donner ließ Sascha die Augen aufschlagen. Er gähnte zögernd und streckte sich, dann schwang er die Beine über die Bettkante und zog das Gewand an, damit es ihm wärmer wurde. In dem kleinen, kalten Zimmer herrschte noch immer tiefe Dunkelheit, und der junge Mann zündete eine Kerze an. Er breitete den Gebetsteppich auf dem Boden aus und setzte -238-
sich, um sich für sein persönliches Gebet an den Fürsten des Morgens zu sammeln. Bruder Martyn bereitete unten schon den Altar vor. Er summte leise bei der Arbeit vor sich hin und breitete dabei ein sauberes, weißes Tuch über den Altar und stellte die Kerzenhalter andächtig an Ort und Stelle. Er war jetzt Mitte Dreißig und hatte sich äußerlich nur wenig verändert. Doch Martyns Inneres wurde vom Schwarzen Fraß verschlungen. Er wußte schon seit einiger Zeit über die Krankheit Bescheid und hatte sie als Lathanders Willen akzeptiert. Aus diesem Grund hatte er sie Sascha gegenüber auch niemals erwähnt. »Es tut mir leid, daß ich zu spät komme, Bruder Martyn, doch der Regen hat mich aufgehalten«, sagte Katya, und ihre liebliche Stimme hallte in dem leeren Kirchenschiff wider. Sie blieb an der Tür stehen und schüttelte das feuchte Haar, woraufhin Tropfen in alle Richtungen spritzten. Sie zitterte etwas und nahm schnell den dunkelgrünen Wollumhang ab, um ihn auf einem der Kirchenbänke zum Trocknen auszubreiten. »Keine Angst, meine Liebe. Sascha liegt noch faul im Bett; ich habe ihn heute morge n noch nicht zu Gesicht bekommen.« Katya lachte fröhlich. »Ich habe etwas zu essen mitgebracht, dem sogar du nicht widerstehen kannst, Bruder«, neckte sie ihn und kam mit einem zugedeckten, regenbefleckten Weidenkorb unter dein Arm auf den Altar zu. »Dein Leibgericht - ein Pflaumenkuchen. Ich habe auch etwas Brot, etwas Käse und ein paar getrocknete, gezuckerte Äpfel.« Der Priester war gerührt. »Katya, wie sind Sascha und ich jemals ohne dich zurechtgekommen? Aber ich fürchte, daß ich noch nicht sehr hungrig bin. Teil dir doch mit Sascha den Pflaumenkuchen. Ich werde ein paar Bissen von den gezuckerten Äpfeln essen«, fügte er hinzu. Katya stemmte die Hände in die schmalen Hüften und schaute -239-
ihn streng an. »Und was noch?« »Und ein Stückchen Käse.« »Und?« Martyn lachte. »Gnade, ich bitte dich!« protestierte er scherzhaft. Ein Geräusch am Kircheneingang ließ beide aufsehen. Die Näherin Christina eilte herein. Sie hatte sich in einen schwarzen Umhang gehüllt, der sowohl sie vor dem Regen schützen als auch ihre Identität verbergen sollte. Ihr spitzes Gesicht war gerötet, und die dunklen Augen spähten in alle Richtungen, als sie zum Altar eilte. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch kommen kann, Bruder Martyn«, sagte sie mit leiser, bebender Stimme. »Wenn mein Mann herausfindet, daß ich …« »Schwester«, sagte Martyn freundlich und nahm ihre starken Hände, »Lathander wird sich deiner annehmen. Ich wünschte nur, der Fürst des Morgens hätte Ivar ebenfalls berührt.« »Ich grüße euch, Schwester Christina, Schwester Katya«, rief Sascha, als er eintrat. Er trug das formelle Gewand aus besticktem, rotem Satin. Christina hatte es letztes Jahr für ihn genäht, und er trug es mit Stolz und Freude. Die verhärmt aussehende Näherin lächelte flüchtig, als sie ihn in dem Gewand erblickte. »Ich grüße dich, Bruder Sascha«, murmelte Katya, die es plötzlich eilig hatte, die Kerzen im Kirchenschiff zu entzünden. Sascha sah sie an, denn es verlangte ihn mehr nach ihrem Anblick als nach dem Essen, das sie gebracht hatte. Das Mädchen war vor sechs Monaten ins Dorf gekommen, und Sascha hatte es seither jeden Tag zu Gesicht bekommen. Es fiel ihm immer schwerer, seine wachsende Verliebtheit in sie zu verbergen. Zuerst hatte er sich in ihr Aussehen verliebt. Wer würde das -240-
nicht? Keiner konnte Katyas Schönheit mit den dunklen Locken, der prächtigen Figur und den ausdrucksvollen Augen entziehen. Außerdem war Sascha zur Hälfte ein Vistani, und ein barovianisches Sprichwort besagte, daß ein Vistani sein Auge immer auf das hübscheste Mädchen warf. Allerdings hatte Katya mehr als nur ein hübsches Aussehen vorzuweisen. Am Ende war es ihre sanftmütige Art gewesen, die Saschas Herz endgültig für sie eingenommen hatte. Er sah ihr zu, wie sie mit einem brennenden Wachslicht von Kerze zu Kerze ging und sich reckte, um die dicken Talgkerzen zu entzünden. Jedesmal, wenn der Docht Feuer fing, erhellte er ihre Gesichtszüge mit einem warmen, freundlichen Schein. Sascha traf eine Entscheidung. Er tippte Martyn auf die Schulter. »Bruder, kann ich dich mal sprechen?« »Aber natürlich, Sascha. Was ist?« Der junge Mann nahm Martyn beim Ärmel und führte ihn ein Stück von Christina fort. »Ich habe in den letzten Monaten viel nachgedacht«, sagte er leise zu dem Priester. »Ich habe mich dabei gefragt … Wir haben nie darüber gesprochen, aber … können Lathanders Priester heiraten?« So, jetzt war es ausgesprochen. Sascha fühlte sich erleichtert, daß er es endlich zur Sprache gebracht hatte, ganz gleich, was Martyn sagen würde. Der Priester lächelte und blickte von Sascha zu Katya. »Sie ist es, nicht wahr?« Der junge Mann nickte und lächelte etwas einfältig. »Solange deine Braut zu den Gläubigen gehört, gibt es keinen Grund, warum du nicht heiraten solltest.« Seine Stimme wurde ernst. »Allerdings gibt es da ein Hindernis, das dir noch den Weg versperrt, mein Junge.« Sascha sah ihn besorgt an. »Was denn?« »Sie muß dir noch das Jawort geben.« Martyn war noch immer ganz ernst, doch in seinen hellblauen Augen lag ein Funkeln. Der junge Priester blickte wieder zu Katya herüber. Sie hatte -241-
ihre Arbeit beendet und saß nun neben Christina auf der ersten Kirchenbank. Die beiden Frauen, die eine älter und abgehärmt, die andere jung und voller Leben, hatten die Köpfe eng zusammengesteckt. Katya drückte impulsiv Christinas Hände. Sie spürte Saschas Blick, schaute auf und lächelte ihm schüchtern zu. Der Priester lächelte zurück, dabei war er trunken vor Glück. Er würde sie noch heute fragen, direkt nach dem Morgendämmerungsritual. »Es ist fast an der Zeit, und wir sind noch nicht mit den Vorbereitungen fertig«, schalt Martyn ihn. Sascha verzog entschuldigend das Gesicht und eilte los, um Martyn zu helfen, den Altar vorzubereiten. Ein paar mit hektischer Tätigkeit ausgefüllte Augenblicke später ging die Sonne auf, die den grauen Himmel heute nur schwach erhellte. Nur wenige Dorfbewohner bemerkten den Unterschied, doch die vier Menschen, die sich in der Kirche zusammenkauerten, neigten die Köpfe, um für den Sonnenaufgang zu danken. Der Fürst des Morgens hatte die lange barovianische Nacht besiegt. Er hatte all die Schrecken verjagt, die die Dunkelheit als schützenden Mantel benützten. Das war keine geringe Tat. Die Gläubigen reichten den Sonnenkelch weiter, einen mit Weißwein gefüllten, goldverzierten Kelch, und jeder trank einen Schluck. Sascha begann mit dem Gebet an den Fürsten des Morgens, und danach sangen sie ein Danklied für eine weitere sicher überstandene Nacht. Saschas Tenorstimme war noch draußen zu hören. Der Regen fiel dichter und durchnäßte die kleine, jungenhafte Gestalt, die neben der Kirchentür kauerte. Kleine Füchsin konnte das Lied durch die einen Spalt geöffnete Tür hören, und ihre kalten Lippen bewegten sich, als sie die Worte lautlos mitsprach. Leisl wischte einen Tropfen aus dem Gesicht; sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es Regen oder eine Träne war.
-242-
Jander hatte Strahd schon früher zornig erlebt, doch noch nie so wutentbrannt. Der schwarzhaarige Vampir brüllte seinen Zorn in die Eingangshalle, und der unheilvolle Donner draußen sorgte für ein widerhallendes Echo. Der Graf rühmte sich seiner Haltung, doch Jander hatte schon immer gewußt, daß unter der glatten Oberfläche eine leicht erregbare, abgrundtiefe Wut lauerte. Der von Blut und Regen durchtränkte Strahd hielt eine tropfende Leiche in den Armen und war außer sich. »Wer hat es gewagt?« schrie der Graf, an keine bestimmte Person gewandt. »Wer?« »Was ist geschehen?« fragte Jander. Trina, die aufgrund des Aufruhrs die Treppe heruntergeeilt kam, blieb stehen und lächelte verhalten, als sie sah, worum es ging. Strahd warf die Leiche wütend auf den Boden. Sie gab einen dumpfen, klatschenden Laut von sich, als sie aufprallte, und Jander sah, daß ihr der Kopf fehlte und sie ein großes Loch in der Brust hatte. Strahd zitterte vor Empörung. »Jemand hat eine meiner Sklavinnen getötet!« Jander verkniff sich eine Erwiderung. Das war vorhersehbar gewesen. Hatte er nicht den Versuch unternommen, den Grafen von der Erschaffung zu vieler Sklavinnen abzuhalten? Allerdings hielt er es in diesem Moment nicht für angebracht, Strahd daran zu erinnern. »Er soll verdammt sein, ich war mit ihr noch nicht fertig!« Strahd richtete seine Aufmerksamkeit auf den überraschten Elfen. »Könnt Ihr Euch vorstellen, welche dieser armseligen Kreaturen aus dem Dorf die Unverschämtheit besitzt, so etwas zu tun?« Jander schüttelte den Kopf. »Sie haben alle Angst vor Euch, Eure Exzellenz. Mütter warnen ihre Kinder vor dem ›Teufel Strahd‹. Vielleicht waren es Neuankömmlinge.« Der Graf schritt auf und ab, dabei ballte er unablässig die Fäuste. »Nein, die Vistani haben mir schon seit langer Zeit keine -243-
Wanderer mehr gemeldet.« »Der Nebel könnte jemanden gebracht haben, der den Zigeunern aus dem Weg gegangen ist«, meinte Trina. Sie schritt die letzten Stufen hinunter und ging auf Strahd zu. Der Graf blieb stehen und sah Trina nachdenklich an. »Das stimmt«, gab er zu. »Ich werde es herausfinden.« »Was ist mit den Priestern?« fragte Jander. Trina prustete los. »Was, Martyn der Verrückte und sein dürrer, kleiner Schüler? Nein, Jander, die beiden stellen keine Gefahr dar.« »Es gibt da jemand anders; jemand aus dem Dorf will sich mir entgegenstellen.« Strahd lächelte grausam, und seine Fangzähne funkelten im Fackelschein. »Er wird es bitter bereuen. Jander, was würdet Ihr mit so einer Person machen?« »Es gibt eine Möglichkeit, bei der diese Person Euch garantiert nicht mehr belästigen wird«, erwiderte der Elf. »Allerdings glaube ich nicht, daß sie Euch zusagt. Wartet seinen Tod ab.« »Das wäre die Handlung eines Feiglings!« rief Strahd verächtlich aus. »Ihr schlagt vor, daß ich, der Herrscher Barovias, einem sterblichen Emporkömmling erlaube, meine Kreaturen zu töten?« »Genau das schlage ich vor. Im Moment gibt es keinen Hinweis, der Euch mit den Vampirinnen in Verbindung bringt. Wenn Ihr nun die Barovianer für die Angriffe bestraft, spielt Ihr dem Jäger nur in die Hände. Ignoriert es, Strahd. Laßt ihn Eure Sklavinnen vernichten, wenn er unbedingt will. Er kann Euch nichts anhaben, und in ein paar Jahren ist er sowieso gestorben, und Ihr werdet keinen Nachteil erlitten haben.« Strahd war deutlich anzusehen, daß ihm diese Vorstellung mißfiel. »Ihr hattet recht, Jander. Dieser Plan gefällt mir zwar nicht, ich muß allerdings zugeben, daß er seine Vorzüge hat, und -244-
ich werde darüber nachdenken.« Er warf einen Blick auf die Leiche und schüttelte den Kopf. »Arme, kleine Irina. Jander, befehlt einem der Zombies, die Überreste wegzuschaffen.« Er streckte die leichenblasse Hand aus »Du, Trina, mein Liebling, kommst mit mir.« Er ging zusammen mit der Werwölfin die Treppe hoch, und das einzige Geräusch auf dem Stein wurde von Katrinas Füßen verursacht. Jander musterte die kopflose Leiche, die einst eine schöne Frau gewesen war. Er hob den Kadaver mühelos auf und trug ihn in den wildwuchernden Garten vor der Kapelle, der vom Mondlicht erhellt wurde. Dann begrub er Irina im strömenden Regen mit eigener Hand. Der Elf stand am nächsten Abend früh auf und ging in die Kapelle. Dort stellte et sich an ein zerbrochenes Fenster und starrte ins Zwielicht. Der Regen der letzten Nacht hatte sich im Verlaut des Tages zu Schnee verwandelt. Die Farben des Sonnenuntergangs waren gerade am entfernten Horizont verblaßt, und der frischgefallene Schnee ließ Irinas und Natashas Grabhügel fast völlig verschwinden. Strahd erschien ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, dennoch drehte sich Jander geschmeidig um, so daß er dem jüngeren Vampir seinen Gruß entrichten und den grauen Wollumhang auffangen konnte, den der Graf ihm zugeworfen hatte. Strahd verzog die Lippen zu einem Lächeln. Anscheinend war er prächtiger Laune. Jander verspürte eine leichte Anspannung und achtete sorgfältig darauf, sich nichts anmerken zu lassen. Er teilte Strands Vorstellung von Vergnügen in keiner Weise. »Kommt, mein Freund«, sagte Strahd, als Jander den Umhang unschlüssig in der Hand hielt. »Wir haben heute abend etwas zu erledigen!« »Jagen wir nicht als Wölfe?« fragte Jander vorsichtig. Zwar hatten er und der Herr über Schloß Rabenhorst im Lauf der -245-
Jahre immer seltener zusammen gejagt, doch hatten sie bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich ihre Wolfsgestalt angenommen. Fell war wesentlich unauffälliger als Umhänge. »Es handelt sich um eine Überraschung. Wir müssen jemandem im Dorf einen Besuch abstatten«, sagte Strahd. Mehr wollte er nicht verraten. Er drehte sich um und ging durch das Schloß voraus. Schließlich gelangten sie in den Schloßhof, wo sie von den Rappen erwartet wurden, die vor Strahds prächtige Kutsche gespannt waren. Jander war beruhigt. Strahd würde mit Sicherheit nicht die Kutsche nehmen, wenn er wieder so eine »Disziplinierungsmaßnahme« wie das Massaker an der Bürgermeisterfamilie geplant hatte. Die mitternachtsschwarzen Pferde machten sich auf die lange Fahrt über die steile Straße hinab ins Dorf. Frühling lag in der Luft, doch die Erde war noch immer vom Schnee bedeckt. In wenigen Tagen würde Vollmond sein, und sein Licht sorgte für beträchtliche Helligkeit. Die beiden Vampire saßen sich eine Zeitlang schweigend gegenüber. Jander fragte sich, was der Graf vorhatte. Offenbar sollte er wieder einmal eine von Strahds kleinen »Prüfungen« erdulden. Dem Elfen entging keinesfalls die Ironie der Situation. Hier saßen sie nun, zwei der vermutlich mächtigsten Exemplare ihrer Art, die dieses finstere Land, das sie anscheinend auch noch mächtiger werden ließ, wider Willen zusammengebracht hatte. Sie hätten ein unschlagbares Gespann sein können, doch sie waren zu verschieden, um jemals Verbündete zu werden, die einander vertrauen konnten. Der Graf verfügte über viele Eigenschaften, die der Elf bewunderte. Er war mit seinen Konversationskünsten und seinem umfa ssenden Wissen auf vielerlei Gebieten zweifellos ein interessanter Gefährte. Doch für Janders Geschmack war Strahd auf eine nicht näher definierbare Weise zu hungrig. Sie waren keine Freunde, obwohl der Graf ständig diesen Begriff benutzte. Man konnte sie vielleicht als Waffengefährten -246-
bezeichnen, die durch ihre untote Natur miteinander verbunden waren - doch sie waren keine Freunde. Jander bemerkte, daß Strahd ihn eingehend musterte, und mußte lächeln. »Ich wünschte, Ihr würdet mir verraten, was Ihr vorhabt.« »Und meine Überraschung verderben? Niemals! Wenn einen Jahrhunderte erwarten, kann nur noch die Überraschung die Sinne schärfen. Man kann den Geist nur beweglich halten, wenn man ständig mit dem Unerwarteten rechnet. Seid Ihr nicht auch dieser Meinung?« Sie passierten den Nebelring, fuhren polternd über die Brücke und setzten den Weg fort. Nach kurzer Zeit erreichten sie die ersten Häuser des Dorfes. Bleiche Gesichter versteckten sich furchterfüllt hinter Gardinen. Die Pferde trotteten weiter, bogen scharf nach rechts ab und überquerten den Marktplatz, bevor sie die erste Straße links nahmen. Schließlich hielten sie vor einem kleinen Laden an. Sein Schild - zu verwittert, um lesbar zu sein - pendelte quietschend im Wind. Die anderen Läden waren alle dunkel - entweder geschlossen oder aufgegeben. Hier brannte jedoch ein Licht im Fenster. Strahd sprang aus der Kutsche und schritt zum Eingang. Wie immer wollte er einen vornehmen Eindruck machen, und er sah liebenswürdig und eindrucksvoll aus. Er klopfte mit Nachdruck. Einen Augenblick herrschte Stille. »Wer ist da?« ertönte schließlich eine eingeschüchterte Stimme. »Dein Lehnsherr!« rief Strahd. »Dir wurde mitgeteilt, mich zu erwarten.« Wieder kehrte die Stille ein, und Jander roch die Furcht hinter der Tür. Der Riegel wurde zurückgeschoben und die Tür einen Spalt geöffnet. Ein spitzes Frauengesicht schaute hinaus, dann schwang die Tür ganz auf. -247-
Die Frau machte einen Knicks und senkte den Kopf. Sie verharrte in dieser Stellung, vielleicht, um ihre Angst zu verbergen. »Guten Abend, Herr Graf«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Mein Name ist Christina. Es ist alles für Euren Besuch vorbereitet.« »Ausgezeichnet, meine Liebe!« sagte Strahd erfreut. Er bedeutete ihr mit ausgestreckter Hand, wieder aufzustehen, und sie erhob sich und trat zurück. Sie bat Strahd und Jander in ein winziges, fast leeres Wohnzimmer. Der Elf sah sich um. Die Stühle waren unbequem und abgenutzt, doch die dazwischen stehenden alten Tische waren sauber poliert. Die Wände waren dicht mit gerahmten Porträts von Männern und Frauen in Abendgarderobe bedeckt. Es war das einzige, das diesem Raum einen Hauch Privatsphäre verlieh. Strahd nahm Jander am Arm und führte ihn in die Mitte des Zimmers. Christina folgte ihnen. »Das ist mein Gefährte Jander Sonnenstern«, sagte der Graf. »Er ist es, um den du dich kümmern mußt.« Die Frau sah Jander furchtsam an, kam jedoch gehorsam näher. Sie streckte eine Hand nach dem Elfen aus, als wollte sie ihn berühren, und er wich überrascht einen Schritt zurück. Er warf dem lächelnden Strahd einen fragenden Blick zu. Christina trat ein zweites Mal an den Elfen heran und tastete mit langsamen Bewegungen über seine Schultern und Arme, um sich sein Gewand näher anzusehen. »Es dürfte überhaupt kein Problem sein, Euer Exzellenz«, sagte sie. Der Elf verstand mittlerweile überhaupt nichts mehr, wie seine scharfgeschnittenen Gesichtszüge verrieten. Der Graf mußte lachen. »Christina, wir verwirren unseren Freund! Jander, Christina ist Näherin, ich habe den Bürgermeister gebeten, der besten Näherin in diesem Dorf Bescheid zu sagen, daß wir ihre Dienste brauchen. Eure Kleider sind kaum für das Frühlingsfest geeignet.« -248-
»Das was?« fragte Jander, der noch immer nicht verstand. Strahd ignorierte ihn und wandte sich wieder Christina zu, die scheinbar etwas entspannter war. »Hast du bereits eine Auswahl an Stoffen und Farben zusammengestellt, wie ich es verlangt habe?« »Das habe ich, Herr«, erwiderte sie und führte sie durch eine Tür in einen viel größeren Raum. Hier befanden sich die Utensilien ihres Handwerks, Scheren und Kleiderpuppen, dicke Nadelkissen und Garnrollen in allen Farben und Stärken, mit denen man auch Verzierungen sticken konnte. Auf einem Tisch lag eine Auswahl verschiedener Stoffe. »Ich hoffe nur, es ist etwas dabei, das Euer Gefallen findet.« Christina entspannte sich etwas, als sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte. Sie war Anfang Vierzig und hatte ein verhärmtes Gesicht, doch ihre Augen funkelten lebendig, wenn sie von ihrem Handwerk sprach. Sie hatte eine bewundernswerte Auswahl feiner Stoffe zusammengestellt. Jander trug gern kräftige Farben wie Blau und Rot und wählte goldfarbene Seide und indigofarbenen Samt aus. Dazu nahm er blutroten Wollstoff und gold- und silberfarbenen Besatz. »Gefällt euch mein Stil nicht, Jander? Ich glaube, er wird Euch prächtig stehen«, schlug Strahd vor und zeigte auf die aufwendig geschneiderten Kleidungsstücke, die er trug. »Nein, Euer Exzellenz, ich glaube, da gibt es zu viele Knöpfe für meinen Geschmack. Neue Kleider von dem Schnitt meines jetzigen Gewandes waren schön. Und Handschuhe«, fügte der Elf plötzlich hinzu, und Trauer verdüsterte sein Gesicht. »Mehrere Paar Handschuhe.« Vielleicht konnte er wieder im Garten arbeiten, wenn sich der Stoff als Barriere zwischen seiner zerstörerischen Berührung und den zarten Blumen befand. »Ich wünschte, ich könnte das Fest auch besuchen«, sagte Christina. »Ich würde gern all die Leute in ihren hübschen -249-
Kleidern sehen! Wartet einen Augenblick. Ich hole einen Spiegel, dann könnt Ihr sehen, wie sich die Farben von Eurer Haut abheben.« »Ah, nein danke«, sagte Strahd. »Wir haben noch eine Verabredung, und es ist schon spät. Wann sind die Gewänder fertig?« Christina dachte einen Augenblick nach. »Ich kann sie gegen Ende der Woche schicken.« Strahd runzelte die Stirn. »Drei Tage.« Die Näherin wurde blaß, doch sie nickte. »Was immer Eure Exzellenz wünschen.« »Für deine Bemühungen«, sagte der Graf und warf gleichgültig eine Handvoll Goldstücke auf den Tisch. Als die schockierte Christina sie endlich alle eingesammelt hatte, bemerkte sie, daß ihre Kunden bereits verschwunden waren. Sie setzte sich zitternd auf einen Stuhl. Es wurde viel über Graf Strahd von Zarovitsch geflüstert; alle Gerüchte waren phantastisch, und die meisten unheilvoll. Auch der seltsame Fremde mit der goldfarbenen Haut, der sich in seiner Begleitung befunden hatte, machte einen geheimnisvollen Eindruck, obwohl er freundlich zu sein schien. Christina drückte die Münzen an die Brust. Es handelte sich um mehr Geld, als sie in ihrem ganzen Leben auf einem Haufen gesehen hatte. Graf Strahd war äußerst großzügig gewesen, und sie würde nie wieder etwas gegen ihn oder seinen Freund sagen. Und wenn es sie das Leben kosten würde. »Ihr haltet bei diesem Frühlingsfest nach jemandem Ausschau, nicht wahr?« fragte Jander, als Strahd drei Nächte später die neuen Gewänder vorbeibrachte. Strahds Kopf fuhr ruckartig herum, und er sah den Elfen durchdringend an. »Wie kommt Ihr darauf?« fragte er leise und drohend. -250-
Der Elf vermochte nicht zu sagen, welche Schublade er nun wieder in Strahds finsterer Seele aufgezogen hatte, doch er versuchte es vorsichtig in der eingeschlagenen Richtung weiter. »Ihr wollt sehen, ob Ihr etwas über den Vampirtöter in Erfahrung bringen könnt.« Der Graf entspannte sich wieder, und die Schärfe seines Blicks milderte sich. »Ah. Ja, richtig. Euer Ratschlag war gut, doch ich muß meine Nachforschungen fortführen. Außerdem ist es schon viel zu lange her, daß ich in Barovia einen öffentlichen Auftritt hatte. Ich möchte vermeiden, daß die Leute mich vergessen.« »Ich kann mir kaum vorstellen, daß dies geschehen könnte«, sagte Jander. »Aber warum soll ich Euch begleiten? Ich würde lieber darauf verzichten.« Der Graf runzelte mit leichter Ironie die Stirn. »Aber Jander, nach all den Jahren, die Ihr Euch auf Schloß Rabenhorst verkrochen habt, wird es Zeit, daß das Volk erfährt, daß Ihr mein Gast seid, damit es Euch dementsprechend behandelt. Habe ich von Euch in den letzten Jahren so viele Gefälligkeiten verlangt, daß Ihr mir nun die Freude Eurer Gesellschaft verweigern wollt?« »Nein, aber…« »Gefallen Euch Eure neuen Gewänder nicht, die ich für Euch anfertigen ließ? Seid Ihr über sie aufgebracht? Soll ich sie Christina zurückgeben und mein Geld zurückverlangen?« Jander fluchte innerlich. Strahd würde es tun, und der Gedanke an Christina, die ihr hart verdientes Geld verlieren würde, erfüllte den Elfen mit Zorn. »Die Gewänder sind wunderschön, Strahd«, sagte er müde, »und ich werde sie auf dem Fest tragen.« »Ich werde es schon hinbekommen, daß Ihr wie ein Edelmann ausseht«, meinte der Graf. Als Jander eine halbe Stunde später das Gefühl der feinen -251-
Stoffe auf seiner Haut genoß, mußte er zugeben, daß der Graf recht gehabt hatte. Er hätte sich nur zu gern in einem Spiegel betrachtet, denn er wußte, daß die Kleidungsstücke hervorragend geschneidert und eindrucksvoll waren. Das Baumwollhemd unter der kurzärmeligen, indigofarbenen Samtweste saß wie angegossen. Die Weste war mit goldenen Stickereien verziert. Auch die goldfarbenen Kniebundhosen aus Seide paßten gut und liefen in einem Paar weicher, weißer Lederstiefel aus. Christina hatte gehorsam mehrere Paar Handschuhe mitgeliefert, die ebenfalls aus dem milchweißen Leder gefertigt worden waren. Als Strahd eintrat, blieb er stehen und musterte den Elfen von Kopf bis Fuß. »Dreht Euch um«, befahl Strahd nachdenklich. Jander gehorchte zögernd. Als er sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte, konnte er in den dunklen Augen des Grafen Zustimmung lesen, die mit einem Hauch Selbstzufriedenheit vermischt war. »Nun, jeder Zoll ein würdiger Gefährte des Herrschers von Barovia«, sagte Strahd und fügte dem Kompliment eine leichte Verbeugung hinzu. In dieser Nacht bestiegen sie erneut die Kutsche und fuhren ins Dorf hinab, wie zwei Falken, die sich aus dem Himmel auf ihr Opfer stürzen. Das Fest fand im Bürgermeisterhaus statt. Jander fühlte sich ausgesprochen unbehaglich, denn er mußte unwillkürlich an das letzte Mal denken, als er dieses Haus betreten hatte. Allerdings waren die beschädigten Räume im Laufe der Jahre renoviert worden. Der neue Bürgermeister schien entschlossen zu sein, keine Mühe zu scheuen, um den Vorfall aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit zu streichen. Der Hof war voller Kutschen; natürlich waren sie im -252-
Vergleich mit Strahds prächtigem Gefährt armselig, doch sie waren das Beste, das sich die alles andere als reichen Barovianer leisten konnten. Auch ihre Gewänder waren bei weitem nicht so aufwendig wie das des Grafen und seines Begleiters, und der Elf hatte plötzlich den Wunsch, nicht in einer Weise gekleidet zu sein, die den Reichtum des Grafen derart zur Schau stellte. Er lächelte reuevoll. Nicht, daß er jemals hoffen konnte, in der Menge unterzutauchen. Die Barovianer waren ein einsiedlerischer Haufen, und in diesem unglücklichen Reich brachte man sogar einem fremden Mciixlicn Mißtrauen entgegen. Jander gehörte offensichtlich einer fremden Rasse an, und allein das machte ihn verdächtig. Auch die Kleidung würde ihre bösen Befürchtungen nicht beschwichtigen. Außerdem war er ein Freund des »Teufels Strahd«. Die Kutsche fuhr durch das offenstehende Eisentor. Die beiden Rappen hielten vor der Haustür an, und ein Diener trat vor, um die Tür zu öffnen. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, war allerdings bemerkenswert blaß. Strahd sprang aus der Kutsche. Er wurde mit Schweigen begrüßt. Erst nach einem langen Augenblick murmelten die Mutigeren unter den ebenfalls gerade eintreffenden Gästen ein »Guten Abend, Herr Graf.« »Es ist tatsächlich ein schöner Abend, mein geliebtes Volk«, erwiderte Strahd freund lich. Er drehte sich um und gab Jander ein Zeichen, der beträchtlich zurückhaltender als der andere Vampir ausstieg. Ein paar Leute starrten daraufhin nicht mehr ihren Lehnsherren an, sondern seinen Begleiter. »Kommt«, sagte Strahd kaum hörbar, nahm Jander am Ellbogen und führte ihn zielbewußt durch die Menge. Der Elf spürte, wie sich die Blicke in seinen Rücken bohrten, und fühlte sich ausgesprochen unwohl. Sie stiegen die Stufen hoch. Dort warteten der Bürgermeister und seine Frau, um die Gäste zu -253-
begrüßen. Der Bürgermeister war Anfang Vierzig, hochgewachsen, hatte dunkles Haar und einen sauber gestutzten Bart. Falls es ihn beunruhigte, daß Grat Strahd von Zarovitsch und sein geheimnisvoller Freund dem Fest ohne Vorankündigung einen Besuch abstatteten, zeigte er es nicht. »Euer Exzellenz, Ihr erweist meinem Haus eine große Ehre durch Euren Besuch«, sagte er mit fester Stimme und verbeugte sich tief. »Erlaubt mir, Euch meine Frau Ludmilla vorzustellen.« Ludmilla war eine ansehnliche, stattliche Frau Mitte Dreißig. Sie machte einen tiefen Knicks und blickte zu Boden. Jander hatte das Gefühl, sie zu kennen. »Ich schließe mich dem Willkommensgruß meines Mannes an, Euer Exzellenz«, sagte sie. »Ludmilla Kartov, nicht wahr?« fragte Strahd, als er sich verbeugte und seine kalten Lippen auf ihren Handrücken drückte. »Das ist allerdings richtig, Euer Exzellenz. Zumindest bis zu meiner Heirat.« »Mein Mitgefühl für das Dahinscheiden Eurer Familie, Madame. Ich gratuliere Euch zur Wiederherstellung Eures Hauses.« »Dadanke, Euer Exzellenz.« Jander zuckte innerlich zusammen. Jetzt wußte er, woher er Ludmilla kannte. Strahds Unverfrorenheit raubte ihm den Atem. »Bürgermeister Radavitsch«, fuhr der Graf fort, »erlaubt mir, Euch meinen Freund Jander Sonnenstern vorzustellen. Er ist ein Besucher aus einem fernen Land, wie zweifellos zu sehen ist.« »Mein Herr, meine Dame«, sagte Jander. »Es ist mir eine Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen. Auch ich entbiete Euch mein Beileid für Euren Verlust.« »Danke«, sagte Radavitsch hastig und drückte verstohlen die -254-
Hand seiner Frau. »Bitte kommt herein.« Jander und Strahd gingen an dem Bürgermeister und seiner Frau vorbei. Der Graf nahm die Ehrerbietungen seines Volkes entgegen, als er mit Jander an der Seite langsam die kleine, elegante Empfangshalle durchschritt. Dann betraten sie einen Raum, den man nur als Saal bezeichnen konnte. Es bestand wenig Ähnlichkeit zwischen dem Totenhaus, aus dem Jander geflohen war, und diesem eleganten, sorgfältig ausgestatteten Gemach. Offensichtlich hatte man einige der vom Feuer angegriffenen Wände einfach eingerissen und aus drei oder vier ziemlich dunklen Zimmern einen großen, hellen Raum gemacht. Die ausgedehnte Decke war mit weißem Stuck in der Form von Apfelblüten verziert und wurde von mit Schnitzereien versehenen Holzpfeilern getragen. In vier mehrarmigen Kronleuchtern brannte ein kleines Vermögen an Kerzen. Man hatte die aus schmucklosem Eisen bestehenden Halter weiß angestrichen, damit sie zur Decke paßten, und so hatte es den Anschein, als würden die Kerzenflammen frei im Raum und den Schatten schweben. Kerzenständer und elegante Öllampen sorgten für zusätzliches Licht; sie standen auf dem großen Kaminsims zwischen Girlanden aus Apfelbaumblüten und wildwachsenden Frühlingsblumen, deren Duft die leise Musik einer einzelnen Flöte und das Gemurmel der zusammengekommenen Dorfbewohner ergänzte. Da es ein milder Frühlingsabend war, hatte man zwar im Kamin Holz aufgeschichtet, jedoch vorerst darauf verzichtet, es anzuzünden. Die breite Doppeltür zum Garten stand weit offen. An den Bäumen hingen Laternen, deren sanftes gelbliches Licht auf die Blüten fiel. Jander fragte sich, ob es in Barovia noch Liebespaare gab, die mutig genug waren, sich an einem abgeschiedenen Ort unter dem Nachthimmel zu treffen. -255-
»Fürst des Morgens!« Der Mann, der dies ausgerufen hatte, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er war hochgewachsen, etwa Mitte Dreißig, und hatte hellblaue Augen, in denen das Feuer eines Eiferers brannte. Das formelle rot- und goldfarbene Gewand, das ihn als Priester kennzeichnete, flatterte um seine dürre Gestalt, als er vor Jander auf die Knie sank und den Kopf in tiefster Ergebenheit senkte. »Fürst des Morgens, endlich seid Ihr zu uns gekommen!« Dem Elfen wurde schlecht. Es war nicht das erste Mal in seinem langen Leben, daß man seine Ähnlichkeit mit dem Gott Lathander, dem Fürsten des Morgens, bemerkte. Doch wie hatte der Priester von dem Gott aus Faerun erfahren? Vielleicht war er auch ein Opfer des seltsamen Nebel des Bösen. »Werter Herr«, sagte Jander entschlossen, »bitte erhebt Euch. Ich bin nicht der Fürst des Morgens. Seht in mein Gesicht.« »Nein, nein. Ihr seid der Fürst des Morgens, der gekommen ist, um in diesem verfluchten Reich die Nächte des Schreckens zu beenden!« »Laß den Elfen in Ruhe, Narr!« brüllte Strahd. Der Priester stammelte jedoch weiter vor sich hin, schlang die Arme um Janders Beine und drückte das Gesicht gegen die weißen Lederstiefel. Jander war hilflos und konnte spüren, daß Strahds Geduld schwand wie Dunst unter heißer Sonne. »Komm, lieber Bruder«, ertönte eine helle Stimme. Sanfte Hände griffen zu und halfen dem Priester auf die Füße. Der junge Mann legte voller Mitleid einen Arm um die Schultern des Lathander-Priesters. Sein Gewand ähnelte dem des Verrückten, war jedoch viel schlichter. »Der Fürst des Morgens ist nicht gekommen. Noch nicht.« Der schlanke junge Mann, der etwa Anfang Zwanzig war, verbeugte sich anmutig vor Strahd und Jander. »Entschuldigt -256-
Bruder Martyns Benehmen. Er ist etwas verwirrt. Allerdings hat der edle Elfenherr tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gott. Euer Exzellenz, können wir auf Eure Vergebung für diesen Ausbruch zählen?« Die Stimme des jungen Priesters war selbstbewußt, und er hielt den Blick höflich abgewandt. Strahd war erfreut und winkte großzügig ab. »Wir feiern heute den Frühling und nicht die Strenge des Winters. Ich kann großzügig zu den Höflichen sein. Bringt ihn fort.« »Mein edler Lehnsherr ist zu gütig.« Der junge Mann führte den Priester weg. Die Unterhaltung wurde wieder aufgenommen, und Jander bemerkte erleichtert, daß er nicht mehr im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand. Strahd beobachtete den Elfen, und in den Tiefen seiner dunklen Augen funkelte überschäumende Belustigung. »Ihr verweist mich in den Hintergrund!« Jander zuckte mit den Schultern. »Kulte kommen und gehen. Lathander wird mit seinem Priester sterben. Ihr, Graf Strahd, werdet jeden Gott des Tageslichts überdauern.« Das ließ Strahd laut auflachen. Jander hielt sich für den Rest des Abends zurück, beobachtete alles und nahm an nichts teil. Strahd jedoch drängte sich der Menge auf. Er wählte die schönsten Frauen als Tanzpartnerinnen aus und führte die Schritte der komplizierten barovianischen Tänze mit katzengleicher Anmut aus. Jander lehnte an einer Tür, die in einen kleinen Garten führte, und ihm entging nicht, daß die ursprüngliche Furcht der Frauen beim Tanz mit dem Grafen Schüchternheit wich, die sich schließlich in hingebungsvolle Faszination verwandelte. Der Vampirelf schüttelte traurig den Kopf. Zweifellos entfachte der Graf Begierden in ihren Seelen. Im Verlauf der nächsten zwei Wochen würde eine Frau nach der anderen nach Schloß Rabenhorst aufbrechen. Ihre Familien würden sie nie -257-
wiedersehen. »In meiner Hand ist ein Anhänger, der dir große Schmerzen bereiten wird, falls ich dich damit berühre. Außerdem würde er jeder der Anwesenden deine wahre Natur verraten. Ich glaube nicht, daß das in deinem Sinne wäre.« Jander stand einen Augenblick lang ganz still. Dann drehte er sich langsam zu der Person um, die es gewagt hatte, ihn so mutig anzusprechen. Es war der junge Mann, der vorhin dem Priester geholfen hatte. Er beobachtete den Elfen, vermied aber den direkten Blickkontakt. »Was meinst du mit meiner ›wahren Natur ‹?« fragte der Vampir leise. »Du bedrohst einen Gast des Bürgermeisters deines Dorfes und Graten Strahd von Zarovitsch.« Der junge Priester hielt seinen Blick weiterhin abgewandt und lächelte schmal. »Ich glaube nicht, daß du das Risiko eingehen wirst, Nosferatu. Dreh dich langsam um und komm mit in den Garten.« Der Priester weiß also, was er da tut, dachte Jander. Er hat recht - bei der ersten falschen Bewegung würde er den Dorfbewohnern meinen Vampirismus enthüllen. Der Elf wußte genau, daß ihre Reaktion vorhersehbar und gewalttätig sein würde. Also gehorchte er dem Priester, doch er plante, den jungen Mann in die Schatten zu locken. »Bleib im Licht der Tür stehen.« »Wie du willst.« Der Priester hatte etwas ungewöhnlich Vertrautes an sich. Er war zwar ziemlich schmächtig, doch die Art, wie er die Schultern hielt - ganz zu schweigen von der Gewandtheit, mit der er sich Jander entgegengestellt hatte - wies auf eine durch nichts zu erschütternde Willenskraft und innere Stärke hin. Er hatte ein ansehnliches Gesicht mit fein geschnittenen Zügen, das man fast als hübsch bezeichnen konnte, doch das scharfe Kinn und die durchdringenden -258-
schwarzen Augen machten klar, daß es sich bei ihm nicht um einen Schwächling handelte. Er schien eine tiefe Trauer in sich zu tragen, gleichzeitig ging von ihm eine feste Entschlossenheit aus. »Also gut. Du hast mich«, sagte Jander ruhig. »Du bist nicht so dumm, wie du es die Dorfbewohner gern glauben läßt, nicht wahr? Was willst du nun tun?« Die dunklen Augen musterten den Elfen fast hungrig. »Ich weiß mehr über dich, als du denkst, Nosferatu. Du bist Jander Sonnenstern. Du bist ein Elf aus einer anderen Welt. Du bist vor fast fünfundzwanzig Jahren nach Barovia gekommen. Dann hast du einen Zigeunerjungen vor der aufgebrachten Menge gerettet. Ein Mädchen, die Geliebte des Jungen, hat dir die Freundschaft ihrer Familie gelobt.« Jander wartete aufmerksam ab. »Ich suche dich schon sehr lange. Mein Name ist Alexei Petrovitsch. Im Dorf nennen sie mich Sascha. Ich hin Anastasias Sohn. Du hast damals meinem Vater das Leben gerettet.« Seine Stimme klang ganz ruhig, und der tiefsitzende Zorn und Schmerz waren nur zu erahnen. Jander staunte über die Selbstbeherrschung des Jungen. »Du bist in vielerlei Hinsicht ein sehr glücklicher junger Mann, Sascha Petrovitsch. Wie bist du dem Schicksal deiner Familie entkommen?« »Ich war an jenem Abend nicht zu Hause, sondern habe die Nacht zusammen mit einem Freund draußen verbracht. Als ich am nächsten Morgen zurückkam, fand ich…« Er verstummte. »Du hast innerhalb des Steinkreises ein Buch gelesen«, erinnerte sich Jander laut. »Es war sehr klug von dir, dort das Lager aufzuschlagen. Das ist tatsächlich ein heiliger Ort. Die Untoten verfügen nur selten über die Macht, geheiligten Boden zu betreten.« Sascha fuhr zusammen, und Jander erkannte, daß er einen Fehler ge macht hatte. »Woher weißt du das?« -259-
Jander antwortete nicht. Saschas Lippen verengten sich zu einem schmalen Strich, und seine Hand schloß sich wieder um das Medaillon. Er hob es an, um Jander damit zu konfrontieren. Der Elf wand das Gesicht ab. »Woher weißt du das?« wollte Sascha erzürnt wissen. »Wir waren da«, gab Jander zu. »Du und dein Freund, ihr seid dem Tod nur um Haaresbreite entgangen. Falls meine … Gefährten hungrig genug gewesen wären, hätten wir der Unberührbarkeit des Kreises getrotzt, um euer Blut zu bekommen.« Saschas Gesicht verzerrte sieh vor innerer Qual. »Hast du …?« Jander wußte, was der Junge dachte. »Nein. Ich habe deine Familie nicht getötet. Du ähnelst Petya sehr, Sascha. Ich habe deine Eltern nicht sehr gut gekannt, doch es schienen gute Menschen zu sein.« Er sprach mit unbewegter Stimme weiter. »Ich habe den Tod deiner Mutter betrauert, und sie ist nicht durch meine Hand gestorben. Das schwöre ich dir.« Endlich stellte sich der junge Mann Janders Blick. Er entspannte sich etwas. »Du hast zwar meinen Vater gerettet, doch du hättest … es … meiner Mutter trotzdem antun können. Ich möchte dir glauben, doch du bist ein …« »Ein Vampir? Ja, und das schon seit mehreren Jahrhunderten. Das heißt aber nicht, daß mich ein Massaker nicht mit Trauer erfüllen kann. Sascha, du hast mir eben vertraut, als du mir in die Augen gesehen hast. Du hast gewußt, daß es gefährlich ist. Ich habe mich dazu entschlossen, dir nichts anzutun, so wie du dich dazu entschlossen hast, mich nicht zu verraten.« Sascha schluckte. »Meine Mutter hat mir von dir erzählt. Ich habe geschworen, dir niemals etwas anzutun, sollte ich dir jemals begegnen. Das hat nichts mit einer freien Entscheidung zu tun, Vampir. Wenn ich könnte, würde ich dich vor der Menge da drin bloßstellen, doch ich bin durch mein Wort gebunden.« -260-
»Es ist schon viele Jahre her, seit ich das letzte Mal atmen mußte. Ich habe mehr vergessen, als die meisten Sterblichen in ihrem Leben erfahren, doch meine Ehre habe ich bewahrt«, sagte Jander bedächtig. »Sohn Petyas, ich werde weder dir noch deiner Familie etwas antun. Mehr kann ich nicht sagen.« Eine Brise brachte die Nachtluft in Bewegung, und Sascha fröstelte. Er schwieg einen Moment, und Jander respektierte sein Schweigen. Augenblicke vergingen. »Ich bin in diesem Haus zur Welt gekommen«, sagte Sascha schließlich. »Das Dorf ist meine Heimat. Ich bin ein Teil von ihm, und es ist egal, ob mich seine Bewohner akzeptieren oder nicht. Es gibt schlimmere Dinge als den Tod, Jander Sonnenstern, und du und deine Artgenossen verkörpern diese Dinge. Wie kann es sein, daß du so eine Ähnlichkeit mit dem Fürsten des Morgens hast und zugleich sein schlimmster Feind bist? Wie kann es sein, daß du einem fremden Jungen das Leben gerettet hast und zugleich vom Blut der Menschen lebst? Ich kann es nicht einmal im Ansatz verstehen. Vielleicht ist es den Sterblichen nicht vergönnt, solche Dinge zu verstehen. Ich werde den Pakt ehren, den meine Eltern an mich weitergegeben haben. Mehr kann ich nicht tun.« Er verschwand so leise, wie er gekommen war, und verschmolz fast so mühelos wie ein Vampir mit den Schatten der Nacht. Jander bewunderte diese Fähigkeit; vielleicht hatte Sascha sie von seinen Zigeunervorfahren geerbt. Mit einem tiefen Seufzer ging der Elf zurück ins Haus und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Menge. Im Verlauf des Abends fiel Jander eine junge Frau auf, die ihm aus dem Schutz ihres Fächers ziemlich eindeutige Blicke zuwarf. Sie war recht attraktiv, hatte blondes Haar und warmherzige braune Augen. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte sie einladend. Jander hielt den Blickkontakt. Er krümmte den Finger und lud -261-
sie ein, zu ihm zu kommen. Die Frau verbarg ihr Kichern mit dem Fächer und tauschte wissende Blicke mit ihren Freundinnen aus, die sie mit schüchternem Lächeln in Janders Richtung drängten. Janders Mund fing an zu schmerzen, und er stellte fest, wie hungrig er war. Es war an der Zeit, den Hunger zu stillen. Sascha war auf den Hof gegangen, um dort seine aufgewühlten Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Er atmete die kühle Nachtluft, die den wohlriechenden Duft der Apfelbäume und zahlreicher Blumen mit sich trug, tief ein. Er konnte nicht glauben, was er gerade getan hatte. Er hatte sich mit einem Vampir unterhalten. Der Priester blickte auf. Katya ritt mit wehendem Umhang auf ihn zu. »Sascha«, sagte sie besorgt, »es geht um Martyn. Ich glaube, du solltest dich lieber beeilen.« Sascha fühlte, wie ihm das Herz schwer wurde. Er hatte Katya gebeten, Martyn in die Kirche zurückzubringen, doch anscheinend war etwas passiert. Er hielt sich nicht damit auf, sein Pferd zu holen, sondern stieg vor dem Mädchen auf, griff nach den Zügeln und lenkte das Tier in Richtung Kirche. Das Haus des Bürgermeisters war nicht weit davon entfernt, doch dem besorgten Sascha erschien der Ritt endlos. »Was hat er denn?« fragte er Katya. »Es sieht so aus, als verliere er völlig den Verstand. Dabei hat er große Schmerzen. Ich weiß nicht genau, was los ist.« Als sie die Kirche erreichten, sprang Sascha vom Pferd und half Katya herunter. Sie öffneten die Tür. Drinnen herrschte fast vollständige Finsternis. »Martyn?« rief Sascha blinzelnd. Eine einsame Kerze auf dem Altar sorgte für etwas Licht. Saschas Blick fiel auf die zusammengekrümmte Gestalt neben dem Holztisch. »Martyn!« Er lief durch den Mittelgang auf den Priester zu. Katya eilte ihm hinterher und zündete eilig weitere -262-
Kerzen an, damit Sascha mehr sehen konnte. Martyn stöhnte leise und hielt sich die Seite. Sein blasses, schmerzverzerrtes Gesicht verriet entsetzliche Qualen, doch als Sascha ihn berührte, schlug er die Augen auf und lächelte. »Sascha, du warst wie ein Sohn für mich«, keuchte er. »Ich werde dich vermissen, wenn ich gehe, doch ich habe den Fürsten des Morgens gesehen, und Er hat mich gerufen!« »Martyn«, sagte Sascha sanft, »das war nicht der Herr des Morgens. Das war ein Elf, aber kein göttliches Wesen. Bitte laß mich dich heilen!« Martyn schüttelte den Kopf, verkrampfte sich vor Schmerz, und hielt sich die Seite noch fester. »Nein, mein Junge. Verschwende kein Gebet für mich. Er hat mich gerufen, und ich muß gehen. Ich sage dir, es war der Fürst des Morgens. Ich erinnere mich an ihn. Ich erinnere mich, daß sein Gesicht blutverschmiert war…« Sascha fröstelte. Auch Martyns Familie war von Vampiren getötet worden. Doch ein Wesen, das Martyn für den Fürsten des Morgens hielt, hatte ihn verschont. Es mußte Jander gewesen sein. Der Junge begann zu zittern. Dann … war alles eine Lüge? Gab es in Wahrheit außer Jander keinen Herrn des Morgens? Das durfte nicht sein, es durfte einfa ch nicht sein. »Martyn, bitte, stirb nicht, ich kann dich heilen…« »Nein!« protestierte Martyn mit überraschend kräftiger Stimme. Seine hellblauen Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. »Aye, Herr des Morgens, ich höre dich … Ich komme … Ah!« Er stöhnte vor Schmerz und gleichzeitig vor Freude auf und streckte einen dünnen, zitternden Arm nach etwas aus, das Sascha nicht sehen konnte. Der Arm senkte sich, der Priester nahm einen letzten Atemzug, bäumte sich auf und lag dann still. Sascha konnte ihn ein paar Augenblicke nur verständnislos anstarren. Schließlich legte er der Leiche die Hände auf die -263-
eingefallene Brust und schloß die hellblauen Augen. Er konnte seine Tränen nicht mehr unterdrücken. Martyn war fast fünfzehn Jahre wie ein Vater zu ihm gewesen. Ludmilla und ihr Mann hatten Sascha und Martyn freundlich behandelt, doch der Halbzigeuner hatte immer gewußt, für wen sein Herz schlug für Martyn und den Fürsten des Morgens. Und nun kamen ihm die ersten Zweifel. Katya kniete sich neben ihn hin und nahm ihn sanft und tröstend in den Arm. Sascha löste sich mit der gleichen Sanftheit von ihr. »Mir geht es gut«, sagte er und berührte ihre weiche Wange liebevoll. »Ich werde mich nachher um Martyn kümmern. Kannst du mich eine Weile alleinlassen? Im Moment muß ich mit meinem Gott allein sein. Ich habe viele Fragen an ihn.« Jander war wieder in den Kerker gegangen, weil er weder den geistlosen Skeletten und Zombies noch den bösartigen Vampirinnen vertraute, daß sie die neueste Gefangene mit vernünftigem Essen versorgten. Er schloß die Tür mit dem Eisenschlüssel auf, der an der Wand hing, und sie öffnete sich quietschend. Das kleine Mädchen schaute mit großen Augen zu ihm auf. »Hier«, sagte Jander und stellte das Tablett ab. »Iß.« Das Mädchen sah auf das Essen, rümpfte die Nase, und richtete seinen Blick wieder auf ihn. Er wollte schon wieder gehen, als das Kind zaghaft nach ihm griff und an seiner Hose zupfte. Sein Gesicht war ernst, als er vor ihm in die Hocke ging. Der Elf sah die entzündeten stecknadelkopfgroßen Bißwunden an ihrem Hals. Jander hatte gelernt, wie er Menschen unauffällig das Blut aussagen konnte, ohne große Spuren zu hinterlassen, wenn er es für angebracht hielt, und Strahd die Technik gelehrt. Doch die von Strahd erschaffenen Vampire waren alle blutrünstig und wild. Der Graf hielt sie für austauschbar, und -264-
sogar Jander nahm kaum Anteil an ihrem wahren Tod, wenn Strahd ihrer müde wurde. Die Sklavinnen waren bösartig; dieses Kind würde keine zweite Nacht überleben. »Möchtest du wieder nach Hause, kleine Dame?« fragte er, ohne zu wissen, wie er darauf kam und mehr als nur ein wenig verärgert über seine Schwäche. »Ja, bitte, Herr«, sagte das Mädchen mit zitternder Stimme. Janders Vorhaben grenzte an Tollkühnheit, doch er hatte zu viele Jahre untätig zugesehen. Was konnte Strahd schon ein kleines Kind bedeuten? Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hob Jander das Mädchen hoch. Es schlang die Arme um seinen Hals und legte den Kopf mit einer Selbstverständlichkeit an seine Schulter, als wäre er seine Amme. Ein paar Minuten später schlief es fest. Jander ging vorsichtig bis zur Eingangshalle und horchte dabei auf jedes Geräusch, das ein anderer Vampir verursacht haben konnte. Er begegnete ein paar Skeletten, doch die Sklavinnen waren anscheinend alle auf der Jagd. Strahd befand sich ebenfalls nicht im Schloß. Er verschwand in letzter Zeit fast jede Nacht, ohne ihm etwas über seine Pläne mitzuteilen. Er lud Jander oder Trina auch nie ein, ihn zu begleiten. Wie dem auch sei, falls eine der Sklavinnen eine Beme rkung über das Kind fallenließ, konnte Jander noch immer behaupten, daß er es in ein anderes Gemach brachte, um dort in Ruhe seinen Hunger stillen zu können. Als er den Hof betrat, wurde er nur von der kühlen Nachtluft begrüßt. Der Elf schloß erleichtert die Augen. Ein scharfes Bellen ließ ihn zusammenzucken, und er sah sich um. Eine der Wölfinnen, die Schloß Rabenhorst zu ihrem Zuhause gemacht hatten, saß direkt neben seinen Füßen auf den Pflastersteinen und wedelte mit dem Schwanz. Jander war vorsichtig, denn mittlerweile waren fast alle Wölfe zu Strahds Kreaturen geworden. Doch als er versuchsweise nach ihrem -265-
Bewußtsein tastete, spürte er nichts Feindlicheres als die Bitte nach Gesellschaft. Schon gut, mein Mädchen, teilte Jander der Wölfin in Gedanken mit, laufen wir ein Stück gemeinsam. Trotz der schlummernden Last lief der Elf schnell. Die Wölfin atmete hechelnd. Dennoch war es bereits eine Stunde vor Sonnenaufgang, als sie das Dorf erreichten. Jander blieb vor der Brücke stehen. Der braune Ivlis floß schnell dahin. Die kürzlich niedergegangenen Gewitter hatten ihn stark anschwellen lassen. Es war nicht ratsam, in den Fluß zu fallen. Der Elf schaute die Brücke nachdenklich an. Vor fünfundzwanzig Jahren war es ihm nicht gelungen, sie aus eigener Kraft zu überqueren; Petya hatte ihn tragen müssen. Seitdem hatten Strahd und er das Dorf in Fledermaus- oder Wolfsgestalt immer von der anderen Seite betreten oder waren von einer Kutsche über die Brücke transportiert worden. Janders Kräfte hatten sich verändert, seit er Barovia das erste Mal betreten hatte. Das Land hatte seine Verbindung mit der Natur auf grausame Weise unterbunden und dafür gesorgt, daß seine Berührung für alle Blumen tödlich war. Außerdem war ihm aufgefallen, daß er hier weniger Schlaf als in Faerun benötigte und über viel größere Körperkräfte verfügte. Er fragte sich, was wohl passieren würde, wenn er den Versuch unternahm, die Brücke zu überqueren. Bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, stand er schon auf der Brückenmitte. Das Kind schlief noch immer friedlich auf seinem Arm. Er fühlte Begeisterung in sich aufsteigen, als er sich dem anderen Flußufer näherte, und in dem Augenblick, da seine Füße wieder festen Boden berührten, hätte er am liebsten einen Freudensprung gemacht. War es möglich, daß er noch anderes tun konnte, was ihm bis jetzt verwehrt geblieben war? Was war mit dem Tragen gesegneter Amulette? Oder einem Blick in den Spiegel? War es vielleicht sogar möglich, ins Licht der Sonne sehen zu können? -266-
Seine Gedanken wurden von dem leisen Knurren seiner Wolfsgefährtin unterbrochen. Das Tier verharrte, und seine Ohren richteten sich auf. Mit einem dumpfen Bellen verschwand es in den Schatten und schlug die Richtung zum Schloß ein. Jander sah nach, was die Wölfin aufgeschreckt hatte. Seine Nachtsicht enthüllte ihm eine große Gestalt, die am Wegesrand wartete. Der Elf verlagerte das schlafende Bündel auf seinem Arm und bewegte sich lautlos vor. Der nächste Blick enthüllte dem Vampirelfen, daß es sich bei der Gestalt um den jungen Priester Sascha handelte, und Jander glaubte zu wissen, was der Junge vorhatte. Diesmal hatte er sein rotgoldenes Gewand zu Hause gelassen und war völlig schwarz gekleidet. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und sein Gesicht war blaß und angespannt. Über der Schulter trug er einen blutbeflecken Sack. »Hallo mal wieder, Sascha Petrovitsch«, rief Jander und benutzte den traditionellen Gruß aus Faerun. Er klang leicht amüsiert. »Du bist also derjenige, der die Untoten zur Strecke bringt. Das habe ich mir bereits gedacht.« Sascha zuckte zusammen, wirbelte herum und war im Begriff, ein geweihtes Medaillon hervorzuholen, als er erkannte, wer ihn da angerufen hatte. Er entspannte sich etwas. Als er allerdings sah, was der Vampir trug, war er entsetzt. »Laß sie sofort fallen!« befahl er. Jander lächelte humorlos. »Die Kleine wird eine häßliche Beule davontragen, wenn ich das mache. Es ist nicht so, wie du denkst. Ich bringe sie zurück von … dem Ort, wo ich sie gefunden habe.« Sascha blieb mißtrauisch. »Bei den Zöpfen Sunes, Junge, glaubst du denn, ich würde mich dir auf diese Art zeigen, wenn ich dem Mädchen das Blut aussaugen wollte?« Sascha ignorierte die Bemerkung, ließ den Sack fallen und kam mit ausgestreckten Armen auf den Elfen zu. »Gib sie mir.« Jander rührte sich nicht. »Du vertraust mir noch immer nicht.« -267-
»Du bist ein Vampir! Wie kann ich dir vertrauen?« »Würdest du mir vertrauen, wenn ich um die Kleine feilsche?« Sascha wurde zornrot. »Was willst du, Nosferatu?« »Du wohnst in der Kirche, dem einzigen Haus im Dorf, in dem es Bücher und Aufzeichnungen gibt. Ich suche nach einer Frau namens Anna, die um das Jahr 333 des barovianischen Kalenders geboren wurde. Sag mir, wenn du etwas über sie findest.« »Warum willst du das wissen?« Jander wurde wütend. »Bestimmt nicht, um etwas Böses zu planen. Sascha, du weißt kaum noch, was Vertrauen oder Lachen ist. Was ist aus dem Jungen geworden, der Geistergeschichten erzählt hat? Ich vermisse ihn!« Sascha wurde immer ungeduldiger. »Der Junge hier in diesem Sack ist heute nacht gestorben, zusammen mit seiner Familie. Ich habe wenig Anlaß zum Lachen.« Etwas zerbrach in dem Elfen, und zwar mit einer Plötzlichkeit, die sowohl den Priester als auch Jander selbst überraschte. »Wenig Anlaß? Du lebst. Du bist jung. Du mußt keinen Unschuldigen töten, um überleben zu können!« rief Jander erzürnt. Er hielt ihm das Mädchen mit einer Heftigkeit entgegen, die es aufweckte. »Du kannst die Sonne auf der Haut spüren, die Liebe einer Frau und die Zuneigung deiner Mitmenschen erleben … Ihr Götter! Wenn ich du wäre, Sohn des Petya, würde ich jeden Tag auf den Knien meinem Schicksal danken und jede Minute lachen!« Das Mädchen fing an zu weinen. Sascha riß die Kleine dem Elfen aus den Armen und drückte sie an sich. Sobald der junge Mann das Kind entgegengenommen hatte, verwandelte sich Jander in einen Wolf und lief mit angelegten Ohren und hoch erhobenem Schweif los. -268-
Sascha war von dem Ausbruch des Elfen völlig überrascht worden. Doch Jander hatte recht. Es gab so viel, das er für selbstverständlich nahm, und er schämte sich, daß ein untotes Geschöpf ihn darauf hinweisen mußte. »Wo ist der goldene Mann hin?« fragte das Mädchen. »Du bist nun in Sicherheit, meine Kleine. Ich bringe dich nach Hause.« »Ich will zu dem goldenen Mann. Und ich will runter.« »Du darfst runter, sobald wir wieder im Dorf sind, hm?« Sascha hörte nicht auf das Geplapper des Mädchens, denn er mußte über den seltsamen Vampirelfen nachdenken. Er hatte die Hälfte des Heimwegs zurückgelegt, als er plötzlich die Geräusche hörte; ein leises Stöhnen, dem ein tiefes, kehliges Lachen folgte. Verlegenheit ließ ihn für einen Augenblick rot werden, da er glaubte, ein junges Liebespaar überrascht zu haben. Doch dann merkte er, daß in dem Stöhnen kein Vergnügen gelegen hatte und das Gelächter voller Grausamkeit gewesen war. Er stellte das kleine Mädchen schnell auf die Füße. »Was tust du da?« fragte es. Er legte ihr sein Lathander-Medaillon um den Hals und holte einen Strick aus der Tasche. »Ich komme sofort zurück, mein Kleines. Doch ich werde dich hier festbinden, damit du nicht in den Nebel läufst und dich verirrst, einverstanden?« »Nein!« protestierte das Kind, und seine Lippen verzogen sich zu einem Schmollen. Die Lautstärke ließ Sascha zusammenzucken. »Wir spielen etwas, in Ordnung?« flüsterte er. »Es heißt das Spiel des Schweigens. Und das kleine Mädchen, das ganz still sein kann, bekommt hinterher getrocknete Zuckeräpfel.« Die Laune des Mädchens hatte sich beträchtlich gebessert, als er es an den Baum gebunden hatte. Es legte einen Finger an die -269-
Lippen, und er machte es ihm nach. Dann suchte er nach dem Ursprung der Laute. Eine schöne Frau beugte sich gerade über den Körper einer jüngeren Frau. Sie preßte die Lippen auf den Hals ihres Opfers und saugte mit aller Kraft. In ihrer Gier entging ihrem hungrigen Mund ein schmaler Blutfaden, der dem Opfer über den Hals rann und im Kragen versickerte. Neben der Vampirin lungerte eine graubraune Wölfin mit halb geschlossenen Augen und hechelnder Zunge. Glücklicherweise näherte Sascha sich gegen den Wind, und so bemerkten ihn die Kreaturen der Nacht nicht. In Sascha stieg ein wohlbekannter Zorn empor. Ihr Götter, wie er diese Monster haßte. Er verspürte auch die Angst, die ihn stets begleitete, doch wie immer bezwang er sie. Er zielte genau und warf der Vampirin eine Phiole Weihwasser an den Kopf. Das dünne Glas zersplitterte, und der sich ausbreitende Inhalt verbrannte ihr Fleisch und blendete sie. Die Blutsaugerin stieß ein unmenschliches Heulen aus. Die Wölfin sprang mit gesträubtem Fell auf die Beine und knurrte drohend. »Dämon der Finsternis!« rief Sascha mit mächtiger Stimme. »Im Namen Lathanders, des Fürsten des Morgens, befehle ich dir, von diesem Ort zu weichen!« Er riß die rote Holzscheibe, die er in beiden Händen hielt, in die Höhe, und die Entschlossenheit auf seinem jungen Gesicht ließ ihn viel älter als seine vierundzwanzig Sommer erscheinen. Die Vampirin stieß ein Fauchen aus. Aus ihrem verzerrten Antlitz war jede Spur von Schönheit gewichen; es hatte sich in eine blutige und verbrannte Maske verwandelt. Sie wand sich jammernd, dann verschwand sie einfach. Die Wölfin, die sie begleitet hatte, schnappte mit den scharfen Zähnen in die Luft und zog sich dann in die alles verhüllende Nacht zurück. Sascha sandte ein stummes Dankgebet an Lathander, während er auf die am Boden liegende Dorfbewohnerin zueilte. Die junge Frau atmete flach, doch sie lebte noch. Flink und -270-
geübt säuberte Sascha die Bißwunde mit Weihwasser, drückte die Wundränder vorsichtig zusammen, um die Blutung zu stoppen, und verband sie. Wenn er die Frau in Sicherheit gebracht hatte, würde er zu Lathander beten, um sie zu heilen. Im Augenblick wollte er jedoch keine Zeit verschwenden. Er deckte die unglückselige Dorfbewohnerin mit seinem Umhang zu und ging dann zu dem Kind zurück. »Ich bin ganz still gewesen«, flüsterte es laut, als er die Fesseln löste. »Ich weiß, meine Kleine«, flüsterte Sascha zurück, »und ich bin sehr stolz auf dich.« Als sie gemeinsam zum Ort des Kampfes zurückkehrten, versuchte die junge Frau gerade, sich aufzusetzen. Sie sah Sascha und wollte nach dem Dolch in ihrem Stiefel greifen. Doch sie schaffte es nicht, und ihre Finger glitten kraftlos von dem Griff ab. »Ruhig, ganz ruhig«, murmelte Sascha. »Du wirst noch eine Zeitlang ziemlich schwach sein.« Ihr Blick klärte sich, und sie musterte Sascha. Der Priester bemerkte zu seinem Entsetzen, daß er vergessen hatte, die Kapuze wieder aufzusetzen. Wußte die Frau, daß er der Vampirjäger war? Hatte sie bei dem Angriff auf die untote Kreatur zugesehen? Er hatte viel Mühe darauf verwandt, daß alle Welt ihn nur für einen schüchternen Priester hielt, und diese Tarnung würde auffliegen, falls er sie nicht davon überzeugen konnte, sein Geheimnis zu wahren. »Wwas ist passiert?« fragte die Frau. »Eine Vampirin hat dich angegriffen.« »Du bist der Priester.« »Ja., das stimmt.« »Und du hast sie fortgejagt?« Sascha zögerte. »Nun…« -271-
»Ich kann dir helfen.« Die junge Frau war schwach, doch sie meinte ihr Angebot offensichtlich ernst. Sie blinzelte benommen; vermutlich stand sie noch unter dem Schock des Angriffs, dachte Sascha. »Ich heiße Leisl«, sagte sie und ihre Stimme wurde wieder schwächer. »Ich kann dir helfen. Ich fürchte mich nicht vor diesen … Kreaturen, und es gefällt mir nicht, daß die Nacht für einen ehrlichen Dieb nicht mehr sicher ist.« Ihr Blick wurde trüb. »Du weißt, daß du es auf die Dauer nicht allein schaffen kannst. Was ist, wenn du … verletzt …?« Leisl verlor das Bewußtsein. Die Anstrengung und der Blutverlust verlangten ihren Tribut. Sascha war gerade noch schnell genug an ihrer Seite, um sie aufzufangen. Leisl spürte wohlige Wärme im Gesicht. Sie blinzelte schläfrig und war geblendet. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, schaute sie sich um. Das goldgelbe Sonnenlicht drang durch ein kleines Fenster, das offenstand, um die frühsommerliche Wärme einzulassen, und Kleine Füchsin vermutete, daß es schon später Nachmittag war. Sie lag auf einem schmalen, bequemen Bett und war mit einer Wolldecke zugedeckt. Der Raum war klein, und die Wände waren seltsam schräg. Es handelte sich wohl um eine Art Dachkammer, entschied sie. Außer dem Bett gab es nur noch einen Stuhl und einen Tisch mit einer Waschschüssel und einem Kerzenhalter. Als Leisl den Kopf drehte, um sich umzusehen, zuckte sie zusammen. Ihr Hals schmerzte, und als sie mit den Fingern danach griff, ertastete sie einen Verband. Dann dämmerte ihr langsam, was geschehen war, und sie fragte sich, wo sie war. Plötzlich öffnete sich die Tür, und eine junge, attraktive Frau trat ein. Als sie sah, daß Leisl aufgewacht war, zeigte sie ein strahlendes Lächeln. »Wo ist Sascha?« wollte Leisl wissen. Das schien die Frau etwas zu irritieren, doch sie lächelte weiterhin. »Du bist wach. Das ist gut. Ich heiße …« -272-
»Katya. Weiß ich. Wo ist Sascha?« Katya runzelte überrascht die Stirn. »Er ist im Moment nicht da. Er hat mir aufgetragen, nach dir zu sehen. Du bist in seinem Zimmer in der Kirche. Fühlst du dich stark genug, um etwas zu essen?« Der Gedanke an Essen bereitete Leisl Übelkeit, und nur um Katya für ein paar Momente loszuwerden, sagte sie: »Ja, ich würde gern etwas essen.« »Gut. Ich bin sofort wieder da. Du bleibst hier liegen und ruhst dich aus.« Katya tätschelte schwesterlich Leisls Hand und ging. Sie schloß die Tür hinter sich. Das ist wirklich toll, dachte Leisl sarkastisch. Ich liege im Bett des Mannes, den ich liebe, und werde von seiner Verlobten versorgt. Einfach toll. Leisl richtete sich vorsichtig auf und bemerkte, daß ihr jemand andere Kleidung angezogen hatte. Sie trug ein Männerhemd - und sonst nichts. Leisl errötete. Es klopfte an der Tür. Kleine Füchsin zog die Decke bis zum Kinn hoch. »Komm herein. Du hast aber schnell gekocht, Kat… Oh.« Es war Sascha. Er trug sein Priestergewand und sah besorgt aus. »Guten Morgen. Leisl, nicht wahr? Geht es dir besser?« Sie nickte, »ja, danke.« »Hör mal«, sagte er, nahm den Stuhl und setzte sich neben sie, »wir müssen miteinander reden.« Leisl ließ sich auf das Kissen zurückfallen und faltete die dünnen Arme auf der Brust. »Ja?« »Du hast in der vergangenen Nacht behauptet, eine Diebin zu sein.« In ihrem Inneren krampfte sich alles zusammen. Hatte sie das tatsächlich gesagt? »Du beleidigst mich. Du nennst mich eine Diebin, obwohl du nicht einmal weißt…« -273-
»Du hast es gesagt, Leisl«, wiederholte Sascha müde. »Du warst schwach und hast nicht klar denken können, doch ich weiß, daß es die Wahrheit ist.« Leisl schaute weg. »Wirst du mich ausliefern?« Das hätte zur Folge, daß man sie zumindest auf dem Marktplatz auspeitschen würde. Falls der Bürgermeister besonders schlechte Laune hatte, gab er vielleicht sogar den Befehl, ihr die Hände abzuschlagen. Sascha schüttelte den Kopf. »Ich will mit dir einen Handel machen. Niemand weiß, womit ich … meine Nächte verbringe. Ich muß es geheimhalten.« »Das ist verständlich. Wir werden sehr diskret sein.« »Du kannst mich nicht begleiten.« »Warum nicht?« »Es ist zu gefährlich.« Leisl schnaubte. »Hör zu, Sascha, du weißt doch gar nicht, was Gefahr überhaupt …« »Wie ich sehe, unterhaltet ihr euch gut«, sagte Katya, als sie mit einem Tablett in den Händen eintrat. Obwohl Leisl bei dem Gedanken an Essen eben noch Übelkeit verspürt hatte, schnupperte sie jetzt anerkennend. Katya hatte eine kleine Schüssel heißen Haferbrei, Brot und Butter, Spiegeleier und einen großen Krug frischer Milch gebracht. »Ich glaube«, sagte Leisl, als Katya ihr das Tablett auf den Schoß stellte, »daß ich das hier sehr schnell verputzt haben werde.« »Gut«, sagte Katya. »So kriegst du wieder etwas Fleisch auf die Rippen.« Leisl schaute sie böse an, doch Katya schien sich nicht daran zu stören. »Soll ich euch beide allein lassen, damit ihr euch unterhalten könnt?« »Bitte«, erwiderte Priester. Katya beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Ruf mich, wenn du etwas brauchst«, sagte sie zu Kleine -274-
Füchsin, als sie ging. Ein unbehagliches Schweigen machte sich breit. Leisl widmete sich hungrig den Eiern. »Die sind wirklich gut. Möchtest du mal probieren?« fragte sie mit vollem Mund. Sascha verzog das Gesicht. »Nein danke.« Leisl zeigte mit der Gabel auf die Tür. »Weiß sie über deine … nächtlichen Aktivitäten Bescheid?« »Nein, und ich möchte auch, daß es so bleibt. Ich habe ihr erzählt, daß ich dich heute am frühen Morgen auf der Türschwelle gefunden habe.« Er verstummte. »Ich danke dir für dein Angebot, doch es ist schon für einen allein gefährlich. Bei zweiten Leuten, besonders, wenn eine Frau dabei …« Leisl warf ihm einen mörderischen Blick zu. »Seit meinem siebten Lenz verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt durch Stehlen, Sascha Petrovitsch«, fauchte sie, »und ich habe mich aus Situationen herausgewunden, in denen dein schwarzes Haar weiß geworden wäre. Dein süßes Mädchen da wäre vermutlich überfordert, doch für mich gilt das noch lange nicht. Also komm mir nicht mit diesem Schwachsinn, daß ich als Frau nicht dazu imstande bin, klar?« »Du hast eine besondere Art, dich bei jemandem zu bedanken, der dir das Leben gerettet hat«, sagte Sascha leise. Leisl senkte den Blick. »Tut mir leid. Du hast recht. Ich bin eben in diesem Punkt sehr empfindlich.« Sie aß weiter. »Katya kocht sehr gut«, mußte sie gestehen. »Also, ich kann mich darauf verlassen, daß du mein Geheimnis nicht verrätst?« Leisl strich Butter auf das Brot. »Ja. Ich halte den Mund, vorausgesetzt, du tust es auch.« »Vielen Dank, Leisl. Du kannst gern so lange hier bleiben, bis es dir besser geht.« Er erhob sich und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Leisl sah ihm nach, und in ihrem Blick lag -275-
eine Sanftheit, die Sascha sicher überrascht hätte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Katyas ausgezeichnete Mahlzeit. Kleine Füchsin hatte nicht vor, die Kirche zu verlassen, bevor sie sie verzehrt hatte. Die Vampirin schnüffelte, und langsam breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht aus. Menschenblut. Die Wölfin in ihrer Begleitung nahm den Geruch auch wahr und knurrte leise vor Gier. Die beiden Räuber der Nacht machten sich bereit, ihr Opfer zu erlegen. Der in Schwarz gekleidete, schlanke Mann würde ihnen keine Probleme bereiten. Er stand am Ufer des schnell daherfließenden Ivlis und warf ziellos Kiesel in die dunklen Fluten. Die Blutsaugerin näherte sich ihm völlig lautlos, doch dann war sie diejenige, die überrascht wurde. In dem Augenblick, in dem sie die Hände auf seine Schultern legte, wirbelte er herum, schlang die Arme um sie und warf sich mit ihr ins Wasser. Die Vampirin kreischte auf, und das pechschwarze Flußwasser schoß ihr in den Mund und füllte ihre Nase. Sie sanken wie ein Stein in die Tiefe, denn die Blutsaugerin war nicht in der Lage, sich in fließendem Wasser zu bewegen. Der Junge versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, und sie packte fester zu. Wenn sie schon sterben mußte, würde sie ihn wenigstens mit sich in den Tod nehmen … Kleine Füchsin sah aus ihrem Versteck auf dem hohen, knorrigen Baum am Flußufer besorgt zu. Sie hatte alles genau beobachten können; Sascha war ohne jeden Zweifel der dümmste Mann, dem sie je begegnet war. Und sie hatte eine Menge dummer junger Männer kennengelernt. Allerdings mußte sie zugeben, daß er sich anscheinend genau überlegte, was er tat. Schließlich hatte er sie vor einem Vampir gerettet. -276-
Als eine Reihe Luftblasen mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch an der Oberfläche zerplatzten, machte sich Leisl allmählich Sorgen. Sie steigerten sich, als weitere Luftblasen ausblieben. Einige lange Sekunden später fluchte sie aus vo llem Herzen und sprang ins Wasser. Bei den Göttern, das Wasser war kalt, obwohl es doch Sommer war. Beinahe hätte sie die kostbare, angehaltene Luft durch den Schock des Eintauchens wieder ausgestoßen, doch sie kämpfte mit aller Kraft gegen den Impuls an und tauchte noch tiefer. Da berührte sie nachgebendes Fleisch. Die Vampirin war tot, doch ihr Gewicht und ihr Todesgriff verhinderten, daß sich Sascha befreien und auftauchen konnte. Es war zu finster, als daß Kleine Füchsin etwas sehen konnte, doch sie ging einfach von der Annahme aus, daß es sich bei der hektisch zappelnden Gestalt um Sascha handelte, und zerrte die leblosen Hände von seinem Hals. Die gnadenlose Strömung schälte Fleischfetzen von den Knochen der Untoten, die Leisl entgegentrieben. Sascha setzte sich ein paar kostbare Sekunden gegen seine Retterin zur Wehr, doch dann schwamm er nach oben. Sie folgte ihm. Einen Augenblick später durchbrachen sie die Oberfläche. Sie keuchten und rangen wie zwei Schwindsüchtige nach Luft, dann hielt Sascha aufs Ufer zu. Beide zitterten unkontrolliert, nachdem sie wieder an Land standen, und Sascha suchte seinen Umhang und hielt ihn Leisl hin. Sie akzeptierte die Wärme dankbar und wünschte sich, ihre Zähne würden aufhören, vor Kälte zu klappern. »Du hättest mir nicht folgen sollen«, sagte Sascha. »Du hättest verletzt oder sogar getötet werden können. Meine Arbeit ist gefährlich.« Kleine Füchsin schnaubte. »Offensichtlich. Ohne mich wärst du eertrunken.« Sie öffnete den Umhang. »Ckomm schon her. Wenn du dich nicht aufwärmst, holst du dir doch noch den -277-
Tod.« Sascha zögerte, und Katyas Bild huschte durch seinen Kopf. Er ignorierte es. Man konnte Leisl nur mit Wohlwollen als Frau bezeichnen, und sie würde Katyas Platz in seinem Herzen mit Sicherheit nicht schmälern. Sie rückte näher, als er den Umhang schloß, um sie warm zu halten. Eine Zeitlang gingen sie schweigend in Richtung Dorf. Leisl war fast so groß wie der Priester und hielt mit seinem weit ausholenden Schritt mit. »Also«, sagte sie schließlich, »wann gehen wir das nächste Mal auf Jagd?« Sascha blieb stehen und starrte sie aus einer Entfernung von zehn Zentimetern an. »Wie kommst du auf den Gedanken, daß ich dich mitnehme?« »Oh, das wirst du.« Sie grinste verschlagen. »Denn sonst werde ich deiner kostbaren Katya verraten, was du des Nachts so treibst.« Sascha trieb es die Zornesröte ins Gesicht. Er schämte sich seiner Vampirjagd zwar nicht im geringsten, doch er wollte seine unschuldige Braut auf keinen Fall in seine gefährlichen Aktivitäten verstricken. Sollte man seine Identität aufdecken, hatte sie mehr als nur den Tod zu fürchten. Außerdem hatte Katya in ihrem kurzen Leben bereits genug mitmachen müssen. Er wollte nicht, daß diese Last noch größer wurde, indem er ihr Grund gab, sich um ihn sorgen zu müssen. Kleine Füchsin sah ihn fragend an. »Nun? Wie entscheidest du dich? Willst du eine Partnerin oder eine vor Angst wahnsinnige Verlobte haben?« Er hatte keine Wahl, und das wußte sie genau. Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihr eine Antwort zu geben, sondern riß ihr den Umhang von den Schultern und eilte voraus. »He!« rief sie und lief ihm nach. »Du wirst Lathander, dem Fürsten des Morgens, die Treue schwören müssen«, sagte Sascha, ohne sie anzusehen. »Nur so -278-
kann ich mich mit dir im Dorf sehen lassen.« »Das ist schon in Ordnung. Außerdem gefällt er mir sowieso irgendwie.« »Du wirst meine Befehle entgegennehmen müssen, ohne sie in Frage zu stellen.« »Auch das geht in Ordnung.« »Und du wirst das Stehlen aufgeben. Ich werde nicht mit jemandem zusammenarbeiten, der sich den Lebensunterhalt durch Stehlen verdient.« Leisl öffnete den Mund, um zu protestieren. Dann schloß sie ihn wieder. »Einverstanden. Also bin ich dabei?« Jetzt sah er sie an, und Verzweiflung kämpfte mit Belustigung. »Du bist eine echte Landplage. Weißt du das?« Kleine Füchsin grinste. »Euer Zug«, sagte Strahd aalglatt. Jander schaute sich das Brett mit gerunzelter Stirn genau an. Sie spielten ein Spiel mit dem Namen Falke und Hase, das Strahd erfunden hatte. Natürlich bestand der Herrscher Barovias stets darauf, der Falke zu sein. Nachdem der Elf die Feinheiten des Spiels begriffen hatte, setzte er Strahd allerdings einigen Widerstand entgegen. Es gab eine lange Pause, in der das prasselnde Kaminfeuer das einzige Geräusch war. Schließlich bewegte Jander seinen Hasen zwei Felder nach rechts. »Ich kann in fünf Zügen meinen Bau erreichen«, verkündete er. Nun war Strahd derjenige, der die Stirn runzeln mußte, und sein dunkler Blick huschte völlig in das Spiel vertieft über das Brett. »Nicht, wenn ich meinen Gänsefalken ins Spiel bringe«, sagte er selbstzufrieden, und sein Spielstein »stürzte« sich auf Janders Hasen. Er nahm den grauen Spielstein vom Brett und legte ihn zu dem Stapel, den er dem Elfen während des Spielverlaufs bereits abgenommen hatte. »Jander, Ihr vergeßt -279-
immer, Euren Rücken zu decken.« »Und Ihr«, sagte Jander zufrieden, »verliert immer die Einzelheiten aus dem Blick.« Er ließ seine Häsin zwei Felder vorwärts hoppeln. »Das Weibchen hat den Bau erreicht. Den Regeln zufolge darf ich jetzt« - er zählte die übriggebliebenen Spielsteine - »fünf junge Hasen ins Spiel bringen.« Seine silberfarbenen Augen funkelten vergnügt, als er nach dem Stapel aus grauen Spielsteinen griff und fünf Stück aussuchte. »Ihr spielt defensiv«, bemerkte Strahd. »Ich bin der Hase. Das wird von mir erwartet.« »Mir ist langweilig«, maulte Trina, die schon den ganzen Abend den Kopf hängen ließ. Strahd war des Abends nur noch selten da, und Trina gefiel es gar nicht, daß der Graf mit Jander spielte, statt sich mit ihr zu beschäftigen. Sie lag vor dem Kamin auf dem Boden und hatte einen Arm um den großen, grauen Wolf geschlungen, der dort döste. »Sei still«, knurrte der Graf. Da klopfte es an der Tür. »Herein.« Es war eine von Strahds Sklavinnen. »Exzellenz, einer der Vistani wünscht Euch zu sprechen. Er behauptet, es sei wichtig.« Strahd wandte der Sklavin seine ganze Aufmerksamkeit zu; das Spiel hatte er völlig vergessen. »Ich komme. Jander, Trina ich bin gleich wieder da.« Er erhob sich, blieb stehen, zog eine Figur und schenkte Jander ein kaltes Lächeln. »Euer Weibchen ist tot.« Schwarze und rote Seide raschelte, als er sich mit Schwung davonmachte. Trina ließ sich auf dem Sessel nieder, aus dem er aufgestanden war. »Bringt mir das Spiel bei, Jander.« Sie betrachtete die runden, polierten Steine. »Heute nacht nicht.« Er schwieg einen Moment. »Weißt du, wo Strahd in den vergangenen Monaten hingegangen ist?« -280-
fragte er schließlich. Sie runzelte die Stirn, »Nein. Früher hat er mich immer mitgenommen. Das tut er nicht mehr. Er hat gesagt, er würde jemanden suchen. Warum sind diese Steine grau und all die anderen bunt?« Jander hörte der Werwölfin nicht zu. Seine Gedanken beschäftigten sich mit dem Grafen, und er fragte sich, ob Strahd selbst schon aufgefallen war, wie sehr er sich verändert hatte. Also suchte er »jemanden«. Das überraschte den Elfen nicht. Er fand es eher überraschend, daß Strahd auf der Jagd nach seinem unbekannten Feind die Bevölkerung nicht methodisch abschlachtete. Statt dessen beschränkte sich der Graf darauf, immer mal wieder für eine Woche oder so zu verschwinden, um seine diskreten Nachforschungen voranzutreiben und gleichzeitig das Netz seiner Spione dichter zu knüpfen. Allerdings bedeutete Strahds Zurückhaltung nicht, daß er sein Schicksal ohne weiteres akzeptierte. Jander war sich im klaren darüber, daß die Falle um Sascha irgendwann zuschnappen mußte. Er wünschte dem Jungen in Gedanken Glück. »Die Vistani haben wieder eine meiner Sklavinnen gefunden«, verkündete Strahd und riß Jander aus seinen Gedanken. Der Graf stand auf der Schwelle zur Bibliothek und bebte vor unterdrückter Wut. »Was ist diesmal passiert?« fragte Jander. »Er hat sie ertränkt. Es war Marya. Er soll verdammt sein!« Jander erinnerte sich an Marya, Strahds neueste Errungenschaft. Der Graf war von der üppigen Frau mit den großen, hypnotischen Augen recht angetan gewesen. Kein Wunder, daß er diesmal besonders aufgebracht zu sein schien. »Ich habe einen ungewöhnlichen Feind! Ich habe meinen Sklavinnen wieder und wieder gesagt, daß sie nicht allein umherstreifen sollen. Sie sind gewarnt. Dennoch gelingt es ihm, sie zu überraschen und zu vernichten. Er hat Shura geblendet, -281-
damit sie ihn nicht identifizieren kann. Langsam frage ich mich, ob es sich bei diesem geheimnisvollen Gegner überhaupt um einen Sterblichen handelt.« Strahd lächelte verschlagen. »Es ist gut, daß ich über neue Zauberformeln verfüge, mit denen ich ihn bekämpfen kann.« Trina schob abwesend die Spielsteine auf dem Brett herum und murmelte etwas. Strahd runzelte die Stirn. »Was war das, meine Hübsche?« Trina schürzte die Lippen. »Nichts«, sagte sie mürrisch. Der Graf verlor die nur mit Mühe aufrechterhaltene Beherrschung. Er stand mit einem Satz neben ihr, packte ihr Haar und riß ihren Kopf in den Nacken. »Vergiß nicht, wer dein Herr ist, kleine Wölfin«, fauchte er und rückte nahe an ihre Kehle heran. »Ich kann zwar dein Blut nicht trinken, doch ich kann dich töten. Was hast du gesagt?« »Strahd«, sagte Jander. »Schweig!« kreischte der Vampir und ließ dem Befehl ein paar unverständ liche Worte folgen. Jander wollte trotzdem etwas sagen, doch plötzlich mußte er feststellen, daß er stumm war. Er griff sich an den Hals, als könnte er die Worte herauspressen. »Sprich!« befahl Strahd der Werwölfin. Trina weinte mittlerweile, sowohl aus Wut als auch vor Schmerz. »Ich habe gesagt, wenn du nicht so viele dumme Sklavinnen erschaffen würdest, würdest du sie auch nicht verlieren!« Strahd ließ sie mit einem verächtlichen Grunzen los. Trina rutschte aus dem Sessel und nahm zuckend Wolfsgestalt an. Der Graf warf einen Blick auf das Spielbrett, und sein Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. »Trina, du hast meine Steine verschoben. Ich habe dir doch befohlen, sie niemals anzurühren!« Trina hatte ihre Verwandlung beendet, bevor Strahd sie noch mehr bestrafen konnte. Sie schoß auf allen vieren und mit eingeklemmten Schwanz zur Tür hinaus. -282-
»Eifersüchtige kleine Hexe«, sagte der Graf, und seine Wut verwandelte sich in selbstgefälligen Humor. »Sie kann es nicht leiden, wenn ich meine Aufmerksamkeit jemandem anderen entgegenbringe. Sie wird bald wie ein geprügelter Hund wieder angekrochen kommen. Ich werde sie so lange haben können, wie ich will. Sie sehnt sich nach meinem magischen Wissen und nach mir.« Er schaute Jander an und erlöste ihn von dem Schweigezauber. »Ich habe Euch gesagt, daß ich Magie verabscheue, Strahd!« brüllte Jander wütend. »Warum könnt Ihr das nicht respektieren? Die vergeudeten Leben, die begangenen Greueltaten - und wofür? Eine Verletzung der Naturgesetze! Magie kann Euch keinen Frieden bringen, oder?« Strahds Augen funkelten rot. »Haltet Eure Zunge im Zaum, Freund Jander«, sagte er gefährlich leise. »Vergeßt nicht, wessen Gast Ihr seid. Und vergeßt auch nicht, daß Ihr selbst eine Verletzung der Naturgesetze darstellt.« Der Elf erstarrte wie vom Schlag getroffen. Strahd ignorierte ihn und ordnete die Spielsteine. »Wollen wir weiterspielen?« Jander stürmte wortlos aus der Bibliothek. Er brauchte den Trost des Waldes. Der Rückenwind, der ihn während des ganzen Fluges begleitete, trug die Düfte des Sommers mit sich. Als der Elf in den Schutz des Waldes eingetaucht war, holte er seine Flöte hervor und spielte eine wilde Melodie. Seine Finger tanzten über das Instrument, als er einen Teil seiner Wut in der Musik ausließ. Eine Verletzung der Naturgesetze. Ja, das bin ich, dachte Jander bitter, und doch bin ich mehr als das und stehe für Dinge, die Strahd niemals verstehen wird. Einen Augenblick lang überlegte er, dem ganzen Dorf die Verbrechen des Grafen zu verkünden, doch die Vorstellung, ein Verräter zu sein, machte ihm zu schaffen. In Toril hatte ihn ein Verrat alles gekostet: sein Leben, sein Glück und vielleicht sogar seine unsterbliche Seele. -283-
Der Gedanke an die Taten des Verräters verbannte den Zorn aus seinem Herzen, und er wurde von einer tiefen Traurigkeit ergriffen, als die Erinnerungen an.die damaligen Geschehnisse in ihm aufstiegen und er sich in ihnen verlor. Jander warf einen Armvoll trockener Zweige auf das rotorange Herz des Lagerfeuers und trat einen Schritt zurück, als die prasselnden Flammen einen Schauer winziger Funken Spiralenförmig aufsteigen ließen, um danach sofort wieder zur Ruhe zu kommen und ein fröhliches Glühen zu verbreiten. Der Elf war alles andere als fröhlich. Er war sehr müde, und die Reise würde noch einige Ta ge in Anspruch nehmen. Sein Pferd graste zufrieden ein paar Meter entfernt und horchte gelegentlich in die Richtung seines Herrn. Jander breitete eine Decke aus und kramte in seinem Bündel herum. Er suchte etwas, mit dem er seinen knurrenden Magen beschwichtigen konnte. Er verzog das Gesicht. Von seinem Proviant waren nur noch ein Stück gesalzenes, praktisch ungenießbares Schweinefleisch und etwas trockenes Reiterbrot übriggeblieben. So kaute er lustlos auf dem harten Brot herum und dachte darüber nach, daß es eigentlich angebracht wäre, sich aufzuraffen und Schlingen auszulegen, mit denen er einen Hasen fangen konnte. Der Gedanke, endlich wieder die Heimat zu sehen, ließ sein Herz einen Schlag schneller schlagen. Zweihundert Jahre der Wanderschaft in Faerun, in denen er gegen das Böse gekämpft, Freunde gewonnen und auf dem kalten, harten Boden geschlafen hatte - das reichte sicherlich aus, um jedermann zu zermürben. Er war dem Ruf der Familie derer von Sonnenstern zu jeder Zeit gerecht geworden. Immerdar sang nun in seiner Seele und rief ihn nach den Jahren der Unrast zurück in die Heimat. Immerdar, Immerdar, Heimat der Unseren … Allein mit der Nacht griff Jander nach der Flöte. Er hatte sie -284-
in Immerdar eigenhändig geschnitzt, und sie hatte ihn auf all seine n Reisen begleitet und war ihm stets ein treuer Gefährte gewesen. Er wickelte das Instrument vorsichtig aus dem schützenden Tuch und setzte es an die Lippen. Die einzigartige, beinahe schon magische Musik füllte die Luft, und sie war so lieblich wie Vogelgezwitscher und so eindringlich wie das ewige Rauschen der Wellen. Janders Pferd unterbrach für einen Augenblick sein Grasen, um den Tönen zu lauschen. Gideon hatte immer behauptet, daß die Tiere des Waldes bei Janders Flötenspiel jede wie auch immer geartete Tätigkeit einstellten und ihm zuhörten. Der Elf vermochte nicht zu sagen, ob dem tatsächlich so war; jedenfalls half ihm die Musik, wenn ihn die Melancholie überkam. Der reine Ton schwang noch in seinem Herzen nach, als er die Flöte schon längst abgesetzt hatte. »Es gibt niemanden auf Toril, der die Flöte so zu spielen versteht, wie du es kannst, alter Freund«, ertönte eine Stimme. Jander hielt einen Herzschlag später das Schwert in der Hand. »Wer ist da?« rief er, und die Tatsache, daß er das Anschleichen des Fremden nicht gehört hatte, beunruhigte ihn. Statt zu antworten kam der Fremde näher an den Feuerschein heran. Seine massige Größe hätte eher zu einem Krieger als zu einem Priester gepaßt, doch der hochgewachsene, bärtige Mann trug das Gewand eines Geistlichen. Jander stockte der Atem, und einen Augenblick blockierten die Gefühle alle Worte. »Gideon«, sagte er leise. »Ich habe dich in Dolchtal für verloren geglaubt!« »Das wäre ich auch gewesen, hätte llmater nicht ein Wunder bewirkt. Ich bin gesegnet. Der Gott ist zu mir gekommen und hat den Schmerz genommen.« Jander hatte von llmaters Wundern gehört. Wenn ein frommer Priester große Schmerzen erleiden mußte, nahm der Gott der Märtyrer gelegentlich Gestalt an und litt anstelle seines Schützlings. Das war bei weitem kein alltägliches Ereignis, doch -285-
der Elf kannte niemanden, der diese Ehre eher als Gideon verdient hätte. Jander schob das Schwert in die Scheide zurück und warf es auf die Decke, dann ging er mit ausgestreckten Armen auf seinen Freund zu. Gideon kam ihm mit einem breiten Grinsen entgegen und zerdrückte ihn fast in seiner Umarmung. »Oh, Ihr Götter habt Dank …« Janders Gebet verwandelte sich in einen erstickten Aufschrei, als eine brennende Glut an zwei Stellen in seinen Hals eindrang und sich gleichzeitig sowohl in seine Seele als auch sein Fleisch bohrte. Der heiße Schmerz fuhr in seinen Leib hinein, und dann fühlte es sich so an, als würde man seine Seele durch die zwei kleinen Wunden in seiner Halsschlagader saugen. Er spürte dunkel, wie ihm sein eigenes Blut den Hals hinablief und das blaue Gewand beschmutzte. Der Elf versuchte, Gideon wegzustoßen, doch er war zu schwach. Seine Hände stemmten sich kraftlos gegen die breite Brust des Priesters. Der Vampir fuhr gnadenlos fort, seinen Durst zu stillen, und Janders Bewußtsein zerschmolz zu einem kleinen Lichtpunkt, bis es schließlich völlig schwand. Er erwachte einige Zeit später. Sein Gesicht war mit einer kühlen und feuchten Masse bedeckt, der ein lehmiger Geruch entströmte. Er bewegte sich und versuchte, die Erde wegzuwischen; erst da bemerkte er, daß sie auch den Rest seines Körpers bedeckte. Er lag in einem flachen Grab. Voller Panik ruderte er wie wild mit den Armen, um sein Gesicht von der Erde zu befreien und sich dann einen Weg an die Oberfläche zu bahnen. Die Angst verlieh Jander neue Kraft, und er kroch auf allen vieren von der flachen Grube fort. Dann brach er zusammen. Er konnte nur auf den Graben starren - einen häßlichen Riß im Waldboden - und für seine knappe Rettung ein Dankgebet ausstoßen. -286-
»Guten Abend, Jander«, sagte eine knirschende Stimme. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen.« Es folgte ein nervöses Kichern. Jander setzte sich auf und drehte sich mühsam in die Richtung, aus der die Stimme ertönt war. Ein schlanker, junger Mann trat aus dem Schatten eines Baumes. Er war sehr blaß, und sein Haar war eine Masse kupferfarbiger Locken. Eine Strähne hing auf die milchige Stirn hinab. Seine Augen waren groß, und in ihnen lag ein verträumter Ausdruck. Er kaute nervös auf der Lippe herum, während er ein Paar vornehme Lederhandschuhe in den bleichen Händen verdrehte. Auch die restliche Kleidung, von den Lederstiefeln bis zum Leinenhemd, war sehr vornehm. »Wer…«, wollte Jander sagen, brachte jedoch nur ein heiseres Krächzen zustande. Er befeuchtete die trockenen Lippen und versuchte es erneut. »Wer seid Ihr? Wo ist Gideon?« Der Junge lachte wieder; es war ein kurzes und schroffes Bellen. »Dein Freund hat Sehnsucht nach dir, Priester.« Der ehemalige Priester trat in Janders eingeschränktes Sichtfeld. Seine Augen glühten in einem unheimlichen Rot, und als er lächelte, zeichneten sich in dem blutverschmierten Bart weiße, spitze Zähne ab. Jander begriff mit kaltem Abscheu, daß das Blut auf Gideons Gesicht von ihm stammte. »Du bist nun einer von uns, Jander«, sagte Gideon, und sein Tonfall erinnerte in keiner Weise an die lebhafte immer etwas traurig klingende Stimme, die dem Elfen so vertraut gewesen war. Nun hörte Jander einen harten, höhnischen Unterton darin. Du bist nun einer von uns. Jander griff sich an den Hals. Die Haut war makellos und unverletzt. Er schloß erleichtert die Augen. Sie hatten ihn noch nicht zu einem der ihren gemacht, also konnte er … »Nein, Jander Sonnenstern«, sagte der rothaarige junge Mann. »Du bist ein Vampir. Fühl deinen Pulsschlag. Du bist schon seit einem Tag tot.« -287-
Jander ließ Gideon und den Fremden nicht aus den Augen, während er langsam an seinem Handgelenk tastete. Er runzelte die Stirn und suchte an einer anderen Stelle. Es gab keinen Pulsschlag. Der noch immer auf dem Boden liegende Elf verdrehte den Kopf, um zu dem seltsamen, jungen Mann hinaufzuschauen, der ihn abschätzend musterte. »Er gefällt mir ausgesprochen gut, Gideon. Das hast du gut gemacht. Bring ihm etwas, damit er seinen Hunger stillen kann. Jander, ich heiße Cassiar und bin nun dein Herr.« »Nein«, flüsterte Jander. »Gideon … wir waren Freunde!« »Gideon der Sterbliche war dein Freund«, fuhr ihn der Priester an. Er kam auf Jander zu, und der Elf erkannte, daß er ein strohblondes Kind auf dem Arm hielt. »Ich bin Gideon der Vampir, und die Dinge der Vergangenheit bedeuten mir nichts. Cassiar ist nun mein Herr, und ich gehorche.« »Du bist sehr hungrig, Jander, nicht wahr?« fragte Cassiar sanft. Plötzlich wurde sich der Vampirelf eines bohrenden Hungers bewußt, und er erkannte, daß sein untoter Körper nach dem heißen Blut aus dem Hals des kleinen Jungen verlangte. Er konnte das Blut riechen und verspürte in seinem Oberkiefer ein seltsames Gefühl. Der Blutgeruch sorgte dafür, daß ihm Fangzähne wuchsen, und neues Entsetzen übermannte ihn. »Nein!« rief er und vergrub das Gesicht in den Armen. »Ihr könnt mich nicht dazu zwingen, einem Kind etwas anzutun!« Cassiar runzelte die Stirn, und sein jungenhafter Mund verzog sich ärgerlich, »Du hast nichts zu bestimmen. Du wirst mir gehorchen, und ich sage: trink!« Jander war als Vampir noch zu schwach und unerfahren, um sich dem Befehl seines Herrn entgegenstellen zu können. Voller Ekel biß er linkisch in den weißen Hals des Jungen. Sein goldfarbenes Gesicht wurde von Blut benetzt. Sein Bewußtsein wurde von Abscheu über diese Tat überwältigt, doch sein -288-
Körper trank gierig und in tiefen Zügen. Hinterher schaute er zu Cassiar auf, und seine silberfarbenen Augen waren voller Haß. Und eines Tages gelang es ihm dann, seinen bösen Herrn zu vernichten, obwohl er fast ein Jahrhundert brauchte, bis er dazu stark genug war. Dieser Akt der Rebellion gestattete ihm zwar, seinen eigenen Weg zu schmieden, doch seine Seele wurde dadurch kaum von dem Fluch befreit, den ihm sein verräterischer Freund auferlegt hatte. Sascha beugte sich über die Leiche seines letzten Opfers und mußte plötzlich entsetzt feststellen, daß er am ganzen Leib zitterte. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und kniete dann auf den Waldboden nieder. Doch selbst nach dieser kurzen Pause brauchte er zwei Anläufe, bis er es geschafft hatte, der Vampirin den Holzspeer aus der Brust zu ziehen. Als er dann Knoblauch in den schönen Mund stopfte, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Trotzdem ignorierte er stur Kleine Füchsin, die neben ihm stand und beobachtete, wie er sich quälte. Er griff nach dem kleinen Beil, um den Kopf abzuschlagen. Doch seine Hände zitterten jetzt so stark, daß er es nicht schaffte. »Ich übernehme das«, sagte Leisl. Dankbar überließ er ihr das Beil und sah voller Bewunderung zu, wie sie die Leiche ohne jede Regung enthauptete, als würde sie so etwas täglich machen. Sie benahm sich eiskalt - ihre Hände zitterten nicht, und sie vergoß keine Träne. Sascha fragte sich nicht zum erstenmal, ob sie überhaupt so etwas wie ein Herz hatte. Die Vampirin war erst vor wenigen Wochen zur Untoten gemacht worden. Der Gestank nach Blut und Verwesung stieg in Saschas Nase, und sein Gesicht nahm eine leicht grünliche Farbe an. Taumelnd kam er auf die Füße und schaffte es gerade noch bis zum nächsten Baum, wo er sich würgend übergab. Leisl ignorierte ihn und konzentrierte sich auf ihr Werk. -289-
Der Priester kämpfte darum, das Zittern zu unterdrücken. Er lohnte sich gegen den Baum und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Natürlich hatte er Angst. Er hatte jedesmal Angst. Nur ein Narr würde diesen mächtigen, verschlagenen Wesen keinen Respekt entgegenbringen. Ein Narr oder das impulsive, unschuldige Kind, das er in jener Nacht vor so langer Zeit gewesen war, als er sich so unüberlegt der Dunkelheit entgegengestellt hatte, und in der er gleichzeitig seine Familie verloren hatte. Die Angst störte ihn nicht. Diese plötzliche Schwäche schon. Da sah er in den Augenwinkeln etwas Weißes flattern. Der Schreck verlieh ihm neue Kräfte, und seine Sinne waren alarmiert. Noch eine Blutsaugerin? Er drehte sich der Erscheinung entgegen und erkannte sie. »Katya!« Sein Ruf ließ die tiefe, alles umfassende Stille des spätsommerlichen Waldes zerbersten. Ohne nachzudenken, folgte er ihr. »Sascha, warte!« rief Leisl. Fluchend sammelte sie mit den blutgetränkten Händen ihr Werkzeug zusammen und lief ihm hinterher. Sie holte ihn mühelos ein, denn Katya - oder wer auch immer es gewesen war - hatte sich in Luft aufgelöst. Der Priester rang keuchend nach Atem, und in seinem Gesicht zeichnete sich eine fast greifbare Angst ab. Er blickte Leisl gequält an. »Katya!« sagte er, als würde dieses eine Wort alles erklären. Leisl spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. Sie kannte das Ziel. Sascha legte in seiner Sorge ein schnelles Tempo vor, und als sie das Dorf erreicht hatten, keuchten sie beide. Er hämmerte verzweifelt gegen die Tür von Katyas kleiner Hütte. »Katya? Liebling, ich bin es. Bitte mach die Tür auf.« -290-
Nichts rührte sich. Saschas Gesicht spiegelte seine Seelenqual wider, als er mit dem Daumennagel nervös über einen aus dem Türpfosten vorstehenden Holzsplitter strich. Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt, und Katya blickte ängstlich hinaus. Ihre kleine Hand klammerte sich um das Lathander-Medaillon, das sie um den Hals trug. »Sascha? Oh, Sascha!« Aufschluchzend warf sie sich ihm entgegen. Er hielt sie. »Liebling, was hast du? Was ist geschehen? Ich dachte, ich hätte dich …« - er konnte sich noch gerade rechtzeitig beherrschen »… draußen gesehen.« »O Sascha, vielleicht hast du das auch. Das ist ja das Schreckliche!« Sie schaute zu ihm hoch, und ihre großen, braunen Augen waren tränenfeucht. »Ich … bin eine Schlafwandlerin«, gestand sie flüsternd. Sascha hatte das Gefühl, seine Eingeweide würden zu Eis erstarren. Wer in Barovia schlafwandelte, forderte das Unheil heraus. Der Priester wußte es besser als jeder andere, wie gefährlich das war. Plötzlich strich er ihr das volle, braune Haar beiseite, denn er hatte auf einmal die schreckliche Befürchtung, die beiden verräterischen, winzigen Bißwunden zu entdecken. Doch die Haut ihres Halses war makellos, und er atmete erleichtert auf. »Ich habe diese schrecklichen Träume«, fuhr sie fort. »Träume von Blut, und daß mich jemand in den Schatten verfolgt. Dann wache ich auf und weiß nicht, wo ich bin!« Wieder flossen Tränen, und sie vergrub das Gesicht an Saschas Brust. »Und dann wünsche ich mir … ich weiß, daß es nicht richtig ist, aber … dann wünsche ich mir, daß du bei mir bist, wenn ich schlafe, nur damit ich weiß, daß ich nicht allein bin.« »He, ihr beiden, hier wird es langsam kalt, und ich würde gern noch etwas Schlaf bekommen«, mischte sich Leisl ein. Sascha zuckte zusammen. Katyas Verzweiflung hatte ihn so verstört, daß er Kleine Füchsin vergessen hatte. -291-
»Natürlich«, schniefte Katya und rückte mit schamrotem Gesicht von dem Priester ab. »Es tut mir so leid, Leisl. Mir geht es wieder gut.« Das war gelogen, und beide Besucher wußten das. Katyas Augen waren noch immer weit aufgerissen, und ihre Unterlippe zitterte. »Hier«, sagte Sascha, nahm sein Lathander-Medaillon ab und hing es Leisl um den Hals. »Geh zurück zur Kirche. Ich sehe dich dort morgen früh. Die Vorstellung, Katya jetzt allein lassen zu müssen, behagt mir nicht.« Katya entfuhr ein leises, dankbares Aufstöhnen, und sie klammerte sich mit aller Kraft an seiner Hand fest. »Na gut«, fauchte Leisl. »Dann sehen wir uns dort.« Sie sah Katya an und wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Diesmal war ein schneller Rückzug einer spöttischen Bemerkung vorzuziehen; wäre sie noch länger stehengeblieben, hätten die beiden ihre Tränen gesehen. Sie konnte Katya nicht hassen. Das Mädchen war einfach zu nett dafür. Trotzdem verspürte Leisl eine rasende Eifersucht, und sie schluckte hart, als ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Der besorgte Sascha sah ihr nach. Kleine Füchsin verblüffte ihn immer wieder. Was hatte sie denn nun schon wieder? Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Katya zu. »Heute nacht wird es keine schlechten Träume mehr geben, meine Geliebte. Das verspreche ich dir.« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange. Ihre Hütte war klein und bestand aus zwei Zimmern, die einfach möbliert waren. Sascha kontrollierte sorgfältig die Schlösser an den Türen und den beiden Fenstern. »Bei Sonnenaufgang, wenn Lathanders Macht am stärksten ist, werde ich die Türen mit einem Schutzzauber versehen. Jetzt geh zu Bett.« Katya gehorchte und zog die Decke bis zum Kinn. Sie sah ihm mit ihren großen, schläfrigen Augen zu, während er einen Stuhl neben das Bett stellte und sich setzte. »Danke, daß du bei mir bleibst«, murmelte sie und gähnte. -292-
»Das tue ich doch gern. Jetzt sieh zu, daß du etwas Schlaf bekommst.« Sascha hatte sich fest vorgenommen, bis zum Sonnenaufgang Wache zu halten. Doch er mußte wohl müder gewesen sein, als er gedacht hatte, denn einige Zeit später schreckte er aus einem tiefen Schlaf auf. Katya wand sich auf dem Bett und griff sich an den Hals. »Nein, nein«, rief sie mit geschlossenen Augen. Sascha eilte sofort an ihre Seite und hielt ihre Arme in dem verzweifelten Bemühen fest, sie wieder zu beruhigen. Sie wachte auf. Ihr Blick war voller Angst. »Sascha!« »Du hast einen bösen Traum gehabt. Das ist alles.« Er nahm sie zärtlich in den Arm und hielt sie fest, bis sie sich wieder beruhigt hatte. »Sascha«, sagte sie erneut, doch diesmal lag ein anderer Unterton in ihrer Stimme. Er sah sie an. Ihre Augen waren dunkel, und ihre Lippen schienen sehr rot zu sein. »Sascha.« Plötzlich ließen ihn all die guten Absichten im Stich, und er küßte sie, und ihre Schönheit und die unerwartete Leidenschaft vertrieben seine finsteren Gedanken. Jander richtete sich auf und streckte sich. Er war mit seiner Arbeit zufrieden und las erneut die Inschrift unter dem Fresko. DER GOBLINKÖNIG FLIEHT VOR DER MACHT DES H Ll N T L MA V N RAB N T. Er war fast fertig und, wie er eingestehen mußte, sehr neugierig, was der Rest der Inschrift besagte. Eine Tür schlug zu, und Füße trippelten über den Steinboden. »Jander? Jander, wo seid Ihr?« »Vor dem Fresko, Trina«, rief er. Sie eilte zu ihm hinauf. Ihre Augen strahlten mit kindlicher Freude, und sie hielt ein riesiges Buch im Arm. »Seht doch mal, Strahd hat mir erlaubt, in seiner Abwesenheit -293-
dieses Buch zu studieren!« Sie hielt es ihm entgegen. Es handelte sich um irgendein Zauberbuch. Der Elf versuchte, seinen Widerwillen zu verbergen. »Das ist großartig, Trina.« »Da stehen alle möglichen magischen Formeln drin. Hört: Ein Zauber, um schwere Verletzungen zu heilen. Ein Zauber, um Dinge zu sehen, die auf magische Weise unsichtbar gemacht wurden. Ein Zauber, um magisch versiegelte Türen zu öffnen…« Jander hörte gar nicht hin. Ein Zauber, um geschwätzige Werwölfinnen zum Schweigen zu bringen, dachte er und mußte lächeln. Ein Zauber, um … »Was war das letzte?« fragte er und versuchte gelassen zu klingen. »Ah… hier ist es. Ein Zauber, um magisch versiegelte Türen zu öffnen.« »Soviel ich weiß, ist das sehr schwer. Du solltest besser noch die Finger davon lassen.« Christina sah ihn gekränkt an, genau wie er gehofft hatte. Sie saß mit dem aufgeschlagenen Buch auf den Knien auf der Treppe. »Wenn es da steht, kann ich es auch schaffen. Ihr verabscheut die Magie. Dabei wißt Ihr gar nicht, wieviel mir Strahd im Verlauf der letzten Monate beigebracht hat.« »Das mag schon sein, doch das sagt nichts darüber, ob du diesen Zauber zustande bringst«, hielt Jander ihr entgegen. »Zeigt mir eine magisch versiegelte Tür, und ich werde sie für Euch öffnen«, sagte sie prahlerisch. Jander tat so, als müßte er nachdenken. »Da fällt mir jetzt natürlich keine … Moment mal. Es gibt eine Tür, die magisch versiegelt ist.« Er eilte mit Trina in die Bibliothek. Jander war nervös und freudig erregt. Er verspürte schon seit langer Zeit den -294-
dringenden Wunsch, sich einmal in Strahds geheimnisvollem Zimmer umzusehen. Die Nachforschungen über Anna hatten an keinem Ort etwas ergeben. Er wußte, daß sich in dem Raum Bücher befanden, und vielleicht gab es dort etwas, das ihm mehr über die Frau verraten würde, die er liebte. Sie stiegen die Treppen hinauf, und Jander zeigte auf die betreffende Tür. »Ich glaube, die ist versiegelt. Versuch es einmal.« Trina legte das Buch auf den polierten Tisch in der Mitte der Bibliothek und beschäftigte sich ein paar Minuten lang mit dem Zauberspruch. Jander täuschte Gelassenheit vor und tat so, als würde er einige der in den Regalen stehenden Buchtitel lesen. »Jander, das müßt Ihr sehen«, prahlte Trina. Sie stellte sich vor die Tür und schloß die Augen. Dann hob sie die Hände, breitete die Finger aus und murmelte eine Reihe langer, unverständlicher Worte. Der Türrahmen sonderte ein kaum wahrnehmbares, blaues Licht ab, das abrupt verschwand. Es ertönte ein leises Klicken, und die Tür schwang einen Zentimeter weit auf. »O Trina, du bist so klug«, sagte Jander anerkennend. Sie grinste breit und war offensichtlich sehr mit sich zufrieden. »Was kannst du denn noch?« Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas mit solch einer Dringlichkeit gewollt hatte, wie er nun dieses Zimmer mit seiner lockenden, offenstehenden Tür betreten wollte. Doch zuvor mußte er dafür sorgen, daß die Werwölfin nicht mißtrauisch wurde. Also heuchelte er Interesse für ihre neuen Fertigkeiten und sah eine Stunde lang zu, wie sie Gegenstände bewegte, ohne sie zu berühren, das Feuer im Kamin auflodern und wieder zu einem schwachen Glimmen zusammenfallen ließ und andere Demonstrationen mühelos erlernbarer Zauberkunst vollbrachte. »Ein Zauber, um wie eine Feder zu fallen«, las sie mit vor Staunen weit aufgerissenen -295-
Augen. »Ist das so etwas Ähnliches wie Fliegen?« »Ich weiß nicht, doch am besten studierst du diesen Spruch erst intensiv, bevor du von den Schloßmauern springst.« Trina lachte. »Das werde ich.« »Kannst du mir noch etwas anderes zeigen?« fragte der Elf in der verzweifelten Hoffnung, daß Trina ihre magischen Spielereien bis zur Neige erschöpft hatte. Die Werwölfin überflog schnell die magischen Formeln und schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht.« »Nun, hättest du dann etwas dagegen, deine Übungen an einem anderen Ort zu machen? Ich muß noch etwas erledigen.« Sie warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Was denn?« Einen schrecklichen Augenblick wußte Jander nicht, was er sagen sollte. »Ich will die Regale mit Öl polieren«, sagte er dann. »Sie sind so schön, doch Strahd hat sich leider nicht die Zeit genommen, den Glanz dieses kostbaren Holzes richtig zum Vorschein zu bringen…« »Aber sicher, Jander. Das könnt Ihr gern machen«, sagte Trina hastig und trat angesichts dieser langweiligen Arbeit schnell den Rückzug an. »Ich werde dieses ›Fallen wie eine Feder‹ ausprobieren. Bis später.« Sie schloß das Buch, klemmte aber einen Finger zwischen die betreffenden Seiten, um die Stelle zu markieren, und verließ die Bibliothek. Endlich war der Elf allein. Er schloß hinter ihr die Tür und verriegelte sie vorsichtshalber. Dann wandte er sich Strahds Zimmer zu, und sein Mund war vor Aufregung und Nervosität ganz trocken. Er war schon seit Jahren nicht mehr so verwegen gewesen wie in diesem Augenblick, doch Strahd hatte das Schloß erst kürzlich verlassen und würde mindestens ein paar Tage fortbleiben. Was verbarg Strahd, das Jander um keinen Preis sehen durfte? Der Elf hatte nicht die geringste Ahnung, -296-
und seine Phantasie reichte auch nicht aus, es sich vorzustellen. Er verspürte ein leises Bedauern. Schließlich hatte er dem Grafen sein Wort gegeben, daß er diesen Raum nicht betreten würde. Einen Augenblick lang kämpfte Ehre mit Neugier und der verzweifelten Hoffnung, hier endlich etwas über Anna in Erfahrung bringen zu können. Dann ging Jander auf die Tür zu. Leicht beklommen streckte er die Hand aus und gab der Tür zögernd einen Schubs. Sie schwang quietschend nach innen auf und enthüllte einen geräumigen, großen Raum. Es roch nach Verfall, und er rümpfte die Nase. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, dennoch nahm er die Fackel, die an der Wand zu seiner Linken hing, und entzündete sie im Kamin der Bibliothek. Derart ausgerüstet, trat er ein. Vor ihm stand ein langer Tisch. Wie so vieles auf Schloß Rabenhorst mußte er einst ein sehr kunstvolles Möbel gewesen sein. Nun wurde er vo n einer dicken Staubschicht bedeckt. Das war nicht ungewöhnlich; doch unter dem Staub standen einige Gegenstände auf dem Tisch, und die fand Jander nun doch überraschend. Der Tisch war für eine Mahlzeit gedeckt, die niemals eingenommen worden war. Genau in der Mitte stand eine ekelerregende, verfaulte Masse. Jander beugte sich vor und hob die Fackel, um mehr erkennen zu können. Es war ein Kuchen gewesen - eine Hochzeitstorte, wie man aus den vielen Schichten und der weißgekleideten Frauenfigur auf der Spitze schließen konnte. In der Luft lag noch immer ein schwacher Hauch von Furcht. Jander konnte es deutlich riechen. Hier war etwas passiert, und auf keinen Fall etwas Gutes. Jander wich einen Schritt vom Tisch zurück und trat auf einen harten Gegenstand. Er sah nach unten, und seine bösen Vorahnungen verdichteten sich. Es war die andere Hälfte der Tortendekoration - die winzige Figur des Bräutigams. Dem kleinen Mann fehlte der Kopf. -297-
Jander wandte seine Aufmerksamkeit dem Rest des Raumes zu. Der Tisch und die Überreste der Torte legten die Vermutung nahe, daß es sich einst um einen Speisesaal gehandelt hatte, der zugleich als Bildergalerie diente. Der Elf war von den Bildnissen der Familie derer von Zarovitsch umgeben. Einige der Namen klangen vertraut, während andere ihm gänzlich unbekannt waren. Er blieb vor dem Porträt eines ansehnlichen jungen Pärchens stehen. Der Aufschrift am unteren Bildrand zufolge handelte es sich um Barov und Ravenovia von Zarovitsch. Das Bild war entstanden, als sie jung vermählt waren, und die beiden gaben ein schönes Paar ab. Dem Datum des Bildes und der verblüffenden Ähnlichkeit mit Strahd nach zu urteilen, handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Eltern des Grafen. Barov hatte seinem Sohn seine Gesichtszüge vererbt; die schwarzen Augen, die edle Nase und die hohen Wangenknochen waren fast identisch mit denen des Grafen. Ravenovia war eine Schönheit gewesen, und es war dem begabten Künstler gelungen, die Intelligenz und das Temperament einzufangen, die sich in ihren großen, dunklen Augen widerspiegelten. Das nächste Bild zeigte drei Männer. Einer davon war Strahd. Er saß in einem plüschigen, roten Samtsessel. Der Graf hatte sich seit der Entstehung des Bildes kaum verändert, und Jander vermutete, daß es kurz vor seiner Verwandlung in einen Vampir fertiggestellt worden war. Zu einer Linken befand sich ein Mann, der etwa finde Dreißig war und hinter dem Sessel stand. Er war ziemlich untersetzt, hatte jedoch ein freundliches, gütiges Gesicht und war zweifellos ein naher Verwandter. Rechts neben dem Grafen kniete einer der ansehnlichsten jungen Männer, den Jander je gesehen hatte. Er hatte einen Arm auf die Sessellehne gelegt und wies ebenfalls eine große Ähnlichkeit mit Strahd auf, doch seine Gesichtszüge waren ganz anders. Sie trugen den Ausdruck jugendlicher Vitalität und zeigten eine seltsame Mischung aus Kraft, Selbstachtung und Unschuld. Der Mann -298-
war höchstens Anfang Zwanzig. Merkwürdigerweise kam er Jander seltsam vertraut vor. Er und Strahd trugen Uniformen, die allerdings einen unterschiedlichen Rang verrieten. Der junge Mann trug einen eindrucksvollen, sonnenförmigen Anhänger. Strahds Brust war mit Orden geschmückt. Jander las die Namen: Strahd, Sturm und Sergei von Zarovitsch. Der Maler der drei stolzen Brüder war zwar weniger scharfsichtig gewesen und hatte Strahds düstere Miene nicht bis ins letzte entlarvende Detail herausgearbeitet; dennoch blickte der Graf grimmig drein. Er hatte die Augen eines Mannes, der seiner Umgebung keine Freude oder Schönheit abgewinnen konnte, und sein Mund war humorlos verkniffen. Strahd war offensichtlich auch im Leben, als ihn Blut und Atem noch an die sonnenerfüllte Welt der Sterblichen gebunden hatten, ein unglücklicher Mann gewesen; daran hatten auch die Verdienste nichts ändern können, von denen die Orden auf seiner Brust kündeten. Es gab noch andere Bilder. Die Gewänder veränderten sich mit dem Lauf der Jahre; einige bestimmte Rüstungen und Juwelengeschmeide waren allerdings immer wieder zu sehen. Vermutlich handelte es sich um Familienerbstücke oder herrschaftliche Insignien. Jander wanderte ziellos umher und schaute sich einige der Porträts an. Am anderen Ende des Raums hatte man einen kleinen Tisch aufgestellt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Möbeln auf Schloß Rabenhorst war er peinlich sauber. Er war mit einer weißen Decke bedeckt, auf der man einige Schmuckstücke ausgelegt hatte: eine Halskette, Ohrringe und ein Armband. Zwei Kerzen steckten in auf Hochglanz polierten Ständern, davor lagen zwei in Leder eingebundene Bücher. Eines war offensichtlich sehr alt und oft gelesen. Das andere schien viel jüngeren Ursprungs zu sein. Jander nahm es und blätterte ziellos darin. Strahd hatte die Seiten mit seiner seltsamen Kurzschrift gefüllt, doch der Elf -299-
hatte in den letzten Jahrzehnten genug Zeit gehabt, sie entziffern zu lernen. Er legte das Buch wieder auf den Tisch und machte sich nicht die Mühe, den anderen Band anzusehen. Über dem Tisch hing ein weiteres Porträt. Es wurde von einem weißen Tuch verhüllt. Jander runzelte die Stirn. Warum wurde das Bild den Blicken entzogen? Er zog das Tuch mit einer schnellen Bewegung herunter und starrte entsetzt auf die beiden Menschen, die dort abgebildet waren. Ein Mann und eine Frau posierten glücklich in ihren Hochzeitsgewändern. Doch hatte jemand ein Messer genommen und das Gesicht des Mannes mit mehreren wütenden Schnitten entstellt. Doch das war es nicht, das Jander bis ins Mark traf. Es war das Gesicht der Frau. Es war Anna. Es konnte niemand anderes sein. Sie lächelte den nun gesichtslosen jungen Mann strahlend an. Ihr Gesicht verriet grenzenloses Glück, und in ihren Augen leuchtete Liebe. Sie trug ein wunderschönes weißes Kleid und hielt ein Blumenbouquet. Ihre kastanienbraunen Locken wurden von einem Spitzenschleier bedeckt. Also war es ihre Hochzeit gewesen, die man in diesem Raum gefeiert hatte. Jander starrte das Porträt mehrere Minuten lang an und versuchte, dem Unfaßbaren einen Sinn zu geben. Schließlich fiel sein Blick auf den Namen des Pärchens: »Sergei von Zarovitsch und Tatyana Federovna bei ihrer Hochzeit im Jahre 351.« Der Elf taumelte am ganzen Körper bebend zurück. In seinem Kopf drehte sich alles, als er den verzweifelten Versuch unternahm zu verstehen, was hier passiert war. Also handelte es sich nicht um Anna, sondern um eine Frau namens Tatyana. Eine Schwester? Vielleicht sogar eine Zwillingsschwester? Sein Blick fiel wieder auf die Bücher. Möglicherweise gaben sie Aufschluß über Tatyana. Er nahm das neuere Buch und schlug es auf. Es trug den Titel »Das Buch von Strahd«. Trotz seines aufgeregten Zustands konnte Jander ein spöttisches -300-
Schnauben nicht unterdrücken. Es war typisch Strahd, so etwas Prahlerisches niederschreiben. Der Elf setzte sich vor Tatyanas Schrein, legte Das Buch von Strahd auf den Schoß und fing begierig und ängstlich zugleich an zu lesen. Ich bin der Begründer, ich bin das Land. Meine Anfänge liegen im Dunkel der Vergangenheit verschollen. Ich war der Krieger, ich war gerecht und gut. Ich zog über das Land wie der Zorn eines gerechten Gottes, doch die Jahre des Krieges und die Jahre des Tötens hatten meine Seele zermürbt, so wie der Wind den Stein zu Sand zerreibt … Jander runzelte die Stirn. Das hier war keine Chronik der Vergangenheit. Hier handelte es sich um Strahds Propaganda; auf diesen Seiten schrieb er die Geschichte nieder, wie er sie sehen wollte - wie die mit Halbwahrheiten gespickte Geschichte über den Tag, als der Nebel nach Barovia gekommen war. Es war Jahre her, daß er sie Jander erzählt hatte. Eine wilde Geschichte über einen Rivalen, eine Frau und eine … Jander blickte verblüfft zu dem Bild hoch. Handelte es sich bei diesem prächtigen jungen Mann um Strands Rivalen, der Tatyana »verzaubert« und dem Grafen »gestohlen« hatte? Nichts davon entsprach der Wahrheit, das wußte er nun genau, obwohl er nicht zu sagen vermochte, woher. Man konnte sich unmöglich zwei Menschen vorstellen, die sich mehr liebten als das Paar auf dem Bild, und es war genauso unmöglich, sie sich in der Rolle von Herrscher und Höriger vorzustellen. Der Elf legte das Buch angewidert nieder und griff nach dem anderen. Er war sich bewußt, wie brüchig die Seiten waren, und deshalb öffnete er es mit aller Vorsicht. Die Seiten waren vergilbt und drohten bei jeder Berührung zu Staub zu zerfallen. Die Schrift war kaum noch zu erkennen, und die Kurzschrift erschwerte es Jander, so schnell zu lesen, wie er wollte. Es handelte sich wohl um ein Tagebuch, das bis ins Jahr 349 des barovianischen Kalenders zurückreichte - fast 250 Jahre in die Vergangenheit. -301-
Bevor Strahd zum Vampir wurde. Jander erschauderte. Er drückte das Buch an seine Brust und ging zurück in die Bibliothek. Er hatte noch einige Stunden bis Sonnenaufgang, und niemand würde ihn stören. Er steckte die Fackel zurück in ihre Halterung, setzte sich in einen viel zu weichen Sessel und las. Zwölfter Mond des Jahres 347. Der Krieg ist endlich vorüber. Der Feind wurde dezimiert, vernichtet oder vertrieben. Ich habe ein Tal entdeckt, das am Fuß des feindlichen, nur noch aus Ruinen bestehenden Schlosses liegt. Ich habe auf beides Anspruch erhoben … Sechster Mond des Jahres 348. Der Frieden nagt an meiner Seele. Er sagt mir nicht zu. Barovias Bewohner verabscheuen mich. Doch es ist mir gleichgültig … Dritter Mond des Jahres 349. Die Arbeiten am Schloß gehen voran. Zu Ehren meiner Mutter werde ich es Rabenhorst nennen. Es wird ein Heim, wie es denen von Zarovitsch zusteht … Elfter Mond des Jahres 349. Alles ist bereit. Ich werde meine Familie kommen lassen und diesen kalten Ort in ein Heim verwandeln … Vierter Mond des Jahres 350. Sie sind da und haben Sergei mitgebracht, meinen jüngsten Bruder, den ich bei dieser Gelegenheit das erste Mal gesehen habe. Wie jung er doch ist, sowohl in Körper wie in Geist! Wenn er mich heute morgen beim Übungskampf nicht beinahe besiegt hätte, würde ich ihn einen Sommersoldaten nennen, doch wenn ich ehrlich bin, ist sein Können verblüffend. Wir sind schnell sowohl gute Freunde als auch durchs Blut verbundene Soldaten geworden. Er ist in einer Weise für dieses neue Zeitalter des Friedens geeignet, wie ich es, der die Kälte des Todes in den Knochen spürt und den Geschmack des Krieges noch auf der Zunge hübe, niemals sein werde. Was -302-
würde ich dafür geben, wenn ich er sein könnte, so jung und sorglos und mit diesem guten Aussehen, das die Damen so verzaubert. Welch eine Ironie, daß er, da er der jüngste Sohn ist, den Familiengesetzen nach Priester werden muß! Ich glaube, ich werde alt - wie die kalte Nacht in ihrer sinnlosen Suche nach dem Beginn des neuen Tages. Ich habe mir bis heute nie eine Familie gewünscht. Doch nun, wo Sergei da ist, ertappe ich mich dabei, wie ich mich der Vorstellung hingebe, eine Frau an meiner Seite und ein Kind auf den Knien zu haben… Sechster Mond des Jahres 350. Der Erste Hohe Priester Kir ist plötzlich gestorben, und Sergei hat darauf bestanden, daß ich einen Tag der Trauer verkünde. Sergei muß nun die Stelle des Ersten Hohen Priesters einnehmen, und diese Ehre hat den jungen ziemlich bescheiden gemacht. Es ist ihm noch nicht gestattet, die Gewänder eines Priesters zu tragen, da er die Priesterweihe noch nicht erhalten hat, doch die Kirchenoberen haben ihm gestattet, das Priester-Medaillon zu tragen, ein wirklich hübsches Spielzeug, dem Sergei einen großen, gefühlsmäßigen Wert entgegenbringt - vielleicht sogar einen zu großen Wert … Nach dem barovianischen Kalender schrieb man das Jahr 350, und als Graf Strahd von Zarovitsch auf den Fluß Ivlis schaute, der sich seinen Weg durch die Berge und den Svalitsch-Wald schlängelte, tat er es in dem Bewußtsein, daß er hier der absolute und unumschränkte Herrscher war, soweit sein Auge reichte. Der Gedanke bereitete ihm keine Freude. Das tat dieser Tage nur wenig. Vor ein paar Jahren hatte ein ängstlicher Bürgermeister eine Bewegung ins Leben gerufen, um den Geburtstag des Grafen in einen nationalen Feiertag umzuwandeln. Die armseligen Steuererträge des Dorfes hatten Strahds Mißfallen erregt, und -303-
der Bürgermeister hatte sich Hoffnungen gemacht, es auf diese Weise aus der Welt zu schaffen. Er hatte die falsche Taktik gewählt. Strahd feierte seinen Geburtstag nie. Er hatte ihn einmal scherzhaft als den »Todestag« bezeichnet. Nun wurde er nicht einmal mehr erwähnt. Strahd hatte seine Jugend mit Kampf und Töten verschwendet, und sie war für alle Zeiten dahin. Der unglückliche Bürgermeister hatte den Tod gefunden; man hatte ihm den Kopf mit einem sauberen Schwerthieb vom Rumpf abgetrennt. Über den gräflichen Geburtstag hatte nie wieder jemand ein Wort verloren. Strahd kehrte an jenem Tag in seine Bibliothek zurück und nahm das Tagebuch auf, das er nach der Eroberung dieses Landes begonnen hatte. Ich hasse die Barovianer! Sie wissen nicht, wann es angebracht ist, einen in Ruhe zu lassen. Er verharrte und schrieb dann weiter. Hat Sergei diesen Charakterzug übernommen? Er hat es zu einer beunruhigenden Gewohnheit werden lassen, sich ins Dorf zu begeben, um, wie er es ausdrückt, den Versuch zu unternehmen, »diesen Menschen etwas Gutes zu tun«. Er wird dort behandelt wie eine Art junger Gott. Die Menschen werfen Blumen vor die Hufe seines Pferdes und jubeln so laut, daß der Junge fast taub wird. Daraus kann nichts Gutes entstehen. Sergeis Platz ist hier auf Schloß Rabenhorst über dem Volk, wo er ein richtiger von Zarovitsch sein kann. Er sollte sich nicht im Staub der Bauern suhlen. Es klopfte stürmisch an der Bibliothekstür. »Herein«, rief Strahd abwesend. Es war Sergei. Sein hübsches Antlitz glühte, und seine dunklen, lockigen Haare hingen zerzaust herunter. »Oh, Strahd, ich muß dir erzählen, was heute passiert ist!« »Tatsächlich?« erwiderte sein Bruder, als er das Buch zögernd auf den Tisch legte. »Solltest du in diesem armseligen Dorf -304-
etwas gefunden haben, das für einen von Zarovitsch von Interesse sein könnte?« Strahd runzelte die Stirn, als Sergei einen Stuhl heranzog. Er hatte immer die Meinung vertreten, daß sich Sergejs Enthusiasmus und sein offenes Wesen für die Herrscherfamilie nicht schickte. Heute benahm sich sein Bruder wie ein ausgelassener junger Hund. Es mußte sich in der Tat etwas Außergewöhnliches ereignet haben. »Ich habe ein Mädchen kennengelernt.« Strahd wartete, doch offensichtlich war das schon die ganze Botschaft. Etwas verärgert wandte er sich wieder dem Tagebuch zu. »Ihr Götter, Sergei, wenn du jetzt jedesmal hereingestürmt kommst, wenn du eine der Dorfhuren ›erretten‹ willst, dann …« »Wärest du nicht mein Bruder, würde ich dich dafür töten!« Sergej war wütend aufgesprungen. »Ich habe sie bei meiner Arbeit im Dorf kennengelernt. Sie hilft den Menschen, sie … Du kennst sie nicht. Ich werde sie bald aufs Schloß bringen, und dann kannst du sie selbst sehen.« »Du wirst dieses Haus nicht durch Dirnen entehren!« »Du wirst nicht in dieser Weise über Tatyana sprechen!« »Oho, die Schlampe hat sogar einen Namen!« Sergej mußte sich sichtbar anstrengen, um seine Wut zu bezwingen. Er nahm wieder in aller Ruhe Platz, und sprach leise weiter. »Bruder, du kennst die Liebe, die ich dir entgegenbringe. Ich bitte dich, Tatyana nicht als Dirne oder Schlampe oder sonst etwas in der Art zu bezeichnen, sondern ihr die Höflichkeit entgegenzubringen, die ihr zusteht. Es stimmt, daß sie von niederer Geburt ist, doch sie ist die Vollkommenheit in Person. Mir ist noch nie eine so reine Seele begegnet. Und sie wird meine Frau werden, Strahd. Ich will sie heiraten.« »Das kommt gar nicht in Frage! Erstens hat sie nicht die richtige gesellschaftliche Stellung. Und zweitens bist du jemand anderem versprochen.« Strahd berührte Sergejs Priester-305-
Medaillon, »Hast du das schon wieder vergessen?« »Du weißt genau, daß Mutter und Vater keinen besonderen Wert darauf gelegt haben, daß ich meiner Berufung folge. Der Brauch, daß der jüngste Sohn ein Priester wird, ist eben nichts anderes als ein Brauch. Es ist kein Gesetz!« »Du schienst dafür gut geeignet zu sein.« Dem mußte Sergej zustimmen. »Das war ich. Und bin es noch. Wäre es mir bestimmt gewesen, diesen Weg weiter zu verfolgen, hätten die Götter mit Sicherheit nicht zugelassen, daß ich Tatyana so sehr liebe. Auch du wirst sie mögen, wenn du sie erst einmal kennengelernt hast. Außerdem, was spielt es denn für eine Rolle, ob ich heirate? Du bist der Erbe, und nach dir kommt die Sintflut. Wie du siehst, kann es von Vorteil sein, wenn man der jüngste Sohn ist.« Er zeigte das vertraute Grinsen, das der Welt verkündete, daß alles in bester Ordnung war. »Sergej«, sagte Strahd, der mit seiner Geduld fast am Ende war, »heirate, wen du willst. Es ist mir egal. Wenn du einen zerlumpten Bauerntrampel aus dem Dorf kennengelernt hast und sie so weit säubern kannst, daß sich die Diener nicht beschweren, kannst du sie von mir aus schon morgen heiraten. Jetzt geh. Ich bin beschäftigt.« Sergej runzelte die Stirn. Er sah Strahd nachdenklich an. »Ich weiß, daß uns viele Jahre trennen, und ich weiß auch, daß du mich für unglaublich jung und unreif hältst. Ich habe dich immer bewundert, Bruder, doch ich habe nie verstehen können, wieso du so verbittert geworden bist, wo du so viel erreicht hast und dir so viele Möglichkeiten offenstanden.« »Sergej!« »Verdammt, Strahd, keiner weiß besser als ich, was du alles für uns getan hast. Du hast einen Krieg beendet, der schon Generationen im Gange war! Du hast uns Frieden gebracht. Deine Arbeit ist getan, und du hast sie vorbildlich erledigt. Ich habe in meinem Leben nichts zustande gebracht, auf das ich mit -306-
Stolz zurückblicken könnte. Ich kann keinen Krieg gewinnen. Ich kann nur in diesen friedlichen Zeiten leben und das tun, was ich für richtig halte.« Er erhob sich. »Es tut mir leid, daß du deine Jugend auf dem Schlachtfeld verbringen mußtest, doch das ist nicht meine Schuld.« Strahd sah ihm kopfschüttelnd nach. Es gab Zeiten, da hatte er für Sergej bereits jede Hoffnung aufgegeben, doch dann wiederum bewunderte er seinen Bruder mehr als jeden sonstigen Menschen. Sergej war die letzte und prächtigste Rebe des von Zarovitsch-Weinstocks gewesen. Er hatte seinen Eltern Liebe und Trost gebracht, während Strahd in der Ferne eine Schlacht nach der anderen schlug, und Sturms Interessen ihn aus dem Schoß der Familie geführt hatten. Sergej war zum Mann herangewachsen, ohne seinen ältesten Bruder zu kennen, und als sich Strahd in Barovia niedergelassen und seine Familie zu sich gerufen hatte, waren sich die beiden Brüder zum ersten Mal begegnet. Es war Bruderliebe auf den ersten Blick. Offensichtlich verehrte Sergej den stattlichen Kriegshelden Strahd, der dieses Gefühl tatsächlich erwiderte. Und warum auch nicht? Sergej hatte so viele bewundernswerte Eigenschaften: er war intelligent, besaß Humor und war beim Kampf ein ausgezeichneter Übungsgegner. Strahd liebte seinen Bruder so, wie das einem alternden Krieger möglich war. Schloß Rabenhorst war alles andere als ein Paradies. Strahd wollte seine Jugend zurückerlangen. Nicht nur, daß er seinen Bruder liebte, er wollte Sergei sein - dem mit siebenundzwanzig Jahren noch das ganze Leben bevorstand. Es breitete sich wie ein Bankett vor ihm aus, das man bis zur Neige auskosten wollte. Strahd hatte seine Jugend dem Boden des Schlachtfeldes geweiht, um die Götter des Krieges freundlich zu stimmen, und -307-
nun, im Alter von fünfundvierzig Jahren, besaß er nur wenig, woran er sich erfreuen konnte. Er hatte keine Familie und keine engen Freunde. All das Gute, das er einst scheinbar vollbracht hatte, hatte sich irgendwie der Zweckdienlichkeit gebeugt; kein von ihm erlassenes Gesetz hatte die Welt verändert, und er hatte auch kein Land annektiert, das ihm ein ne ues Leben gebracht hätte. Es geschah Sergej ganz recht, mit der Tochter irgendeines Kohlbauern gestraft zu werden, dachte Strahd bitter. Er nahm die Schreibfeder wieder auf und schrieb in großen, energischen Buchstaben: All der Liebe zum Trotz, die zwischen mir und Sergej besteht, versetzt er mich von Zeit zu Zeit in Wut. Als Sergejs Verlobte fünf Tage später aus der Kutsche stieg und sich schüchtern umsah, verspürte Strahd eine tiefe Verzweiflung. Sie war wunderschön - die Vollkommenheit in Person, wie ihm Sergej versichert hatte. Sie war hochgewachsen und hatte langes kastanienbraunes Haar, das ihr in Locken auf den Rücken fiel. Das einfache Kleid umschmeichelte ihre vollen Brüste und die schmale Taille, und ihre Haut war von der Sonne gebräunt. Sergej hielt ihre Hand umklammert und strahlte vor Stolz und Liebe. Und als Tatyana zu ihrem zukünftigen Mann aufsah, verkündete ihr Blick eine glühende Hingabe. Irgendwie überstand Strahd die Vorstellung und das lange, formelle Essen am Abend. Doch er hatte sein Herz an dieses liebliche Juwel aus dem Tal verloren. Ihre von Herzen kommende Liebenswürdigkeit machte es ihm noch schwerer, die Sache zu ertragen. Sie hakte sich oft bei Strahd unter, wenn sie spazierengingen, und nannte ihn mit großem Respekt »Bruder« oder »Schwager«. Woher sollte sie auch wissen, daß der Neid dabei war, sein Herz zu vergiften? Manchmal gab sich der Graf dem Eindruck hin, daß sie auch ihm ihre Liebe entgegenbrachte, doch diese trügerische Selbsttäuschung zerbrach sofort, wenn sie Sergej anb lickte. -308-
Denn erst dann wurde sie richtig lebendig. Jedermann, der das junge Paar zusammen sah, hatte Vergnügen an ihrer Liebe, so ehrlich und so offensichtlich war ihre gegenseitige Zuneigung. Jedermann. Bis auf Graf Strahd von Zarovitsch. Er gab sich weiterhin dem Traum hin, daß sie sich eines Tages in ihn verlieben würde, und als die Monate ins Land zogen und der Hochzeitstermin immer näher rückte, nahm dieser Traum eine immer finstere Gestalt an. Strahd vergrub sich in diverse Zauberbücher, doch er konnte nichts finden, das sich für seine Zwecke eignete. Er wurde immer jähzorniger, blieb oft bis zum Morgengrauen wach und suchte nach einem Weg, mit dem er sein Problem lösen konnte - um jeden Preis. Eines Nachmittags versuchte er sich abzulenken und spielte auf der Orgel. Das gelang ihm auch für eine Weile, und er vertiefte sich in die widerhallende Musik, die die Seele berührte. Seine Finger flogen förmlich über die Tasten und entlockten ihnen Akkorde, in denen sich seine Qual ausdrückte, die ihm jedoch gle ichzeitig Erlösung verschafften. Geräusche aus der Eingangshalle rissen ihn aus seiner Konzentration, und er stellte das Spiel ein. Der brüchige Frieden, den er gefunden hatte, war zerstört. Er runzelte ungehalten die Stirn und erhob sich, um der Quelle des Lärms auf den Grund zu gehen. Anscheinend sollte es kein ruhiger Nachmittag werden. Die bis dahin stillen Gemächer waren plötzlich von Gelächter und fröhlichem Geplauder erfüllt, als die Jagdgruppe mitsamt der Hunde den Speisesaal betrat. Die Krallen der Tiere verursachten auf dem Steinboden schabende Geräusche. »Strahd!« Sergej winkte seinem Bruder zu. »Du hast eine tolle Jagd verpaßt!« »Das stimmt, Bruder. Sogar du hättest vor Freude gelacht, wenn wir dich von deinen Büchern hätten weglocken können«, fügte Tatyana hinzu und schenkte dem Grafen ein warmherziges -309-
Lächeln. Strahd erwiderte das Lächeln; allerdings mußte er sich dazu zwingen. »Bücher leisten einem gute Gesellschaft. Die Fuchsjagd ist nichts als Zeitverschwendung.« »Ah, die hätte dir gefallen. Und du wirst niemals erraten, was danach in der Wolfsgrube passiert ist!« Sergej nahm seinen Bruder am Arm und drängte ihn zum Tisch, an dem unauffällige Diener staubige Flaschen entkorkten und Kristallgläser füllten. Sergej drückte seinem Bruder geschickt ein Glas mit einer rubinroten Flüssigkeit in die Hand. »Sergej!« Tatyanas Gesicht nahm die Farbe des Weines an, und sie drückte mit leisem Gelächter den Kopf an Strahds Brust, ohne sich dabei etwas zu denken. »Bitte sorg dafür, daß er aufhört, Schwager. Ich möchte nicht, daß diese Geschichte erzählt wird!« Strahd schloß die Augen und mußte alle Selbstbeherrschung aufbringen, damit er die innere Qual nicht verriet. Oh, Tatyanas Kopf so an der Brust zu spüren und ihre Liebe nicht besitzen zu können! Er konnte nicht verhindern, daß er seinen Arm um sie legte und sie an sich zog. Plötzlich war die geliebte Wärme an seiner Brust verschwunden. Sergej hatte seine Verlobte spielerisch aus seinem Griff befreit und war fleißig damit beschäftigt, sie trotz ihrer schüchternen Proteste zu küssen. »Sie hat mir eine richtige Lektion beigebracht, Strahd.« »Die Götter allein wissen, daß du noch viel zu lernen hast«, sagte der Graf mit kaum unterdrücktem Zorn, und in seinem Inneren brandete Eifersucht wie eine vergiftete Flutwelle auf. »Wir haben in der Schenke zusammen mit den Dorfbewohnern ein Glas Ale getrunken. Da kam plötzlich dieser große, haarige Kerl an und griff sich die arme Tatyana. Er hat sie einfach so gepackt. Und bevor wir etwas tun konnten, unternahm er schon den Versuch …« -310-
»Was?« Strahd spie das Wort förmlich aus. Er verspürte einen unbezwingbaren Zorn. Die anderen Mitglieder der Jagdgruppe wichen einen Schritt zurück. Der Graf war nicht gerade tut seine freundliche, zuvorkommende Art bekannt, doch diese rasende Wut, die sein Gesicht nun verzerrte, ging weit über das hinaus, das die Unglücklichen unter ihnen, die seinen Zorn einmal erregt hatten, jemals zu spüren bekommen hatten. Sogar Tatyana hatte plötzlich Angst und drückte sich naher an ihren Verlobten. Nur Sergej, der seinem Bruder eine grenzenlose Liebe entgegenbrachte, war nicht betroffen, Er erzählte seine Geschichte ungerührt weiter. »… ihr den Kopf auf die Theke zu schlagen«, vollendete et den Satz. »Natürlich habe ich ihn zusammen mit ein paar dieser guten Burschen von ihr fortgerissen, sobald wir die Überraschung abgeschüttelt hatten. Wir wollten ihn an die frische Luft setzen und ihm Prügel verpassen, die er so schnell nicht wieder vergessen würde, doch Tatyana ließ es nicht zu.« Strahd blickte sie überrascht an. Ihr Gesicht war noch immer gerötet, doch sie erwiderte seinen Blick, ohne zurückzuschrecken. Ihr Götter, diese Augen! »Sie hat uns gesagt, daß sie diesen Mann kennt und sie zusammen aufgewachsen sind. Er sei nur wütend, weil sie das Glück habe, einen von Zarovitsch zu heiraten, während seine Familie hungern müßte. Und weißt du, was meine Taube dann getan hat?« Sergej lächelte Tatyana stolz an und drückte sie noch fester an sich. »Sie hat allen Schmuck, den sie trug, abgenommen und diesem Mann gegeben. ›Kaufe davon Essen für deine Kinden‹, hat sie zu ihm gesagt. ›So lange ich lebe, wird deine Familie niemals Hunger leiden müssen.‹ Und dieser grobe Kerl, dieser riesige Bursche von der Statur eines Bären, brach wie ein Kind in Tränen aus und küßte Tatyanas Hände. Kannst du dir so etwas vorstellen, Strahd? Ist sie nicht wunderbar?« -311-
Die Jäger stießen ein Jubeln aus und brachten einen Trinkspruch auf Sergejs Braut aus. Sie strahlte glücklich. »Tatyana, du bist eine Närrin«, sagte Strahd grob. Sie starrte ihn entsetzt an. Strahd ignorierte sie und wandte sich Sergej zu. »Und du, Bruder, bist noch etwas viel Schlimmeres. Du hast gerade den Familiennamen durch den Schmutz dieses dreckigen Dorfes gezogen. Du hättest diesen Hund für seine Unverschämtheit sofort töten müssen. Wenn sich einer meiner Diener so benehmen würde, wie du es heute getan hast, würde ich ihn blutig peitschen lassen. Dein Glück, daß du mein Blutsverwandter bist! Glaub mir, ich bedauere das sehr. Ihr werdet mich entschuldigen.« Er warf das Glas zu Boden, ging aus dem Speisesaal und hinterließ verblüffte Sprachlosigkeit. Jedermann war peinlich berührt, doch keiner wußte, was er sagen sollte. Tatyana brach als erste das Schweigen. »Der arme Strahd. Ich glaube, er braucht unser Mitgefühl und unsere Zuneigung mehr als Yakov aus dem Dorf.« »Meine Liebe«, sagte Sergej leise und gab ihr einen Kuß aufs Haar, »ich glaube, du hast vermutlich recht.« Strahd ließ seine Wut an seinem Tagebuch aus und schrieb wie ein Besessener. Ich muß etwas finden, einen Zauberspruch, einen Trank, der diesen Engel mein werden läßt. Ich muß einfach! Es gibt nichts, das ich nicht geben würde, um diese Frau zu gewinnen! Noch in den frühen Morgenstunden war Strahd wach. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und rieb sich die müden Augen. Jeder Teil seines erschöpften Körpers schrie ihm zu, die Suche abzubrechen und sich auszuruhen - zumindest für den Rest dieser Nacht. Der Graf schüttelte mit einer großen Willensanstrengung seine Lethargie ab. Sollte er keinen Zauberspruch entdecken, mit dem er Tatyana für sich gewinnen konnte, würde es noch -312-
viele Nächte geben, die er allein in seinem Bett verbringen konnte, sagte er sich streng. Er griff mit vor Erschöpfung zitternden Händen nach dem nächsten Zauberbuch, ließ sich schwer in seinen Sessel fallen und konzentrierte sich auf den Text. Er wollte gerade weiterblättern, als er feststellte, daß zwei Seiten zusammenklebten. Er runzelte die Stirn. Warum war ihm das nie zuvor aufgefallen? Welche Geheimnisse verbargen sich zwischen diesen beiden Seiten, die noch zu enthüllen waren? Plötzlich verspürte er eine Aufregung, die ihn vollends wieder wach werden ließ. Er trennte die beiden Seiten mit äußerster Vorsicht, denn er wollte das alte Pergament auf keinen Fall beschädigen. Ein Lächeln zeichnete sich in seinem Gesicht ab, denn er konnte kaum glauben, was er dort mit eigenen Augen sah. Die vergilbten Seiten waren mit einer schwungvollen Schrift bedeckt, die von einem seit langem vergessenen Zauberer stammte. Ein Zauber, um den Herzenswunsch zu erfüllen. Er las sich den Zauber schnell durch. Er war eigentlich recht gewöhnlich und verlangte im Prinzip recht normale magische Zutaten. Fledermauswolle … Ihr Götter, an die kam man an diesem elenden Ort mit Sicherheit problemlos ran. Gemahlenes Horn vom Einhorn … Wenn er sich recht erinnerte, hatte er irgendwo noch etwas von diesem kostbaren Pulver herumliegen. Da geschah etwas Seltsames. Einen Augenblick lang verschwamm alles vor seinen Augen. Ungeduldig rieb er sie sich erneut. Als er sich wieder auf den Zauber konzentrierte, hatte sich die Liste der Zutaten verändert. »Was?« murmelte er verblüfft. Die Buchstaben wurden plötzlich lebendig und formten neue Worte. Erschrocken ließ Strahd das Buch auf den Tisch fallen. Es landete mit einem lauten Geräusch. -313-
Das ist ein sehr altes Buch. Du solltest damit sorgfältiger umgehen, ertönte eine Stimme, bei deren Klang sich Strahds Nackenhaare sträubten. Sein Kopf fuhr hoch, und er sah sich schnell in dem Raum um. Er war allein in der Bibliothek: »Wer ist da?« rief er. Das müßtest du eigentlich wissen, sagte die Stimme. In ihr schwang ein unterdrückter, schmieriger Frohsinn mit, und sie schien aus allen Ecken des Raums gleichzeitig zu kommen. Sie erinnerte Strahd an vertrocknete Blätter, die der Wind über das Dach eines Mausoleums trieb. Du hast mich gerufen. Ich habe deinen Haß vernommen. Ich bin hier, um dir deinen Herzenswunsch zu ermöglichen. »Zeige dich«, verlangte Strahd. Die Stimme lachte trocken. Du würdest den Anblick nicht ertragen. Plötzlich glaubte der Graf dieser flüsternden, eiskalten Stimme, und ein Teil seines Inneren bettelte ihn geradezu an, sofort die Bibliothek und die tote Stimme, die wie ein schleichendes Gift in seine Eingeweide drang, zu verlassen. Sollte Tatyana doch seinen Bruder heiraten. »Nein«, flüsterte Strahd. »Sie wird mir gehören.« Sollen wir anfangen? »Ich … ich habe noch nicht einmal mit dem Ritual begonnen«, stammelte der Graf und versuchte, seine fahrigen Gedanken zu ordnen. Das brauchst du auch nicht. Der Zauber sollte nur … dein Interesse wecken. Wie du zweifellos bemerkt hast, ändert er sich ständig. Genau wie der Wille eines Sterblichen. »Was bist du?« Als die Stimme diese Frage vernahm, wurde sie laut wie der Wind in einer stürmischen Nacht. Sie lachte und schwoll zu einer ohrenbetäubenden Lautstärke heran, die sich wie ein Joch -314-
auf den Grafen niederdrückte. Ich bin jeder Alptraum, den irgendeine Kreatur jemals gehabt hat. Ich bin der dunkle Gedanke des Mordes und des Verrats, der Angst und der Lust und der Obszönität und der Gewalt. Ich bin das verletzende Wort, das die Seele tötet, und das blutige Messer, das den Körper tötet. Ich bin das Gift auf dem Grund des Bechers, die Schlinge um den Hals des Diebes, der Aufschrei derjenigen, denen man Unrecht angetan hat, und der schrille Schmerzensschrei der Gefolterten. Ich bin die Lüge. Ich bin der schwarze Abgrund des Wahnsinns. Ich bin der Tod und alle Dinge, die noch schrecklicher sind. Du kennst mich, Graf Strahd von Zarovitsch. Du und ich, wir sind alte Freunde. »Bist du gekommen, um … mich zu holen?« fragte er in einem beherrschten Tonfall, obwohl er am ganzen Leib zitterte. Ich bin deinetwegen gekommen, flüsterte die Friedhofsstimme nun wieder so leise wie der letzte Seufzer eines Sterbenden. Du hast mir gut gedient. Es ist an der Zeit, daß du deine Belohnung bekommst. Du verzehrst dich nach der Verlobten deines Bruders, nach deiner verlorenen Jugend. Ich werde deinen Rivalen aus dem Weg räumen, und du wirst von Stunde an alterslos sein … falls du tust, was ich dir auftrage. Der Graf zögerte einen Augenblick. Dieses Wesen versuchte ihn mit einer Verlockung, die jenseits aller Vorstellungskraft war. Tatyana. Strahd nickte. »Was muß ich tun?« Ihr Götter! Ihr Götter! Was für Schrecken und Wunder haben sich heute hier abgespielt! Meine Hand zittert, während ich dies schreibe, doch ich vermag nicht zu sagen, ob vor Freude oder Kummer. Ich werde mich bemühen, die Ereignisse so genau wie möglich niederzuschreiben, damit ich sie später nachlesen kann, wenn meine Gedanken wieder in ruhigen Bahnen verlaufen. Dann kann ich versuchen, den Sinn herauszufinden, der in all dem verborgen liegt … -315-
Eine Stunde vor der Hochzeitszeremonie klopfte Strahd leise an Sergejs Tür. Es war kurz nach Einbruch der Dämmerung. »Herein«, rief der junge Mann. Strahd trat lächelnd ein. Sergej sah prächtig aus. Seine hellblaue Uniform war mit Schulterstücken und Orden geschmückt und extra für den Anlaß gereinigt und aufgebügelt worden. Seine schwarzen Stiefel waren gewienert, und das aus Platin bestehende Priester-Medaillon leuchtete bei jeder Bewegung auf. Sergej hatte gerade das Schwert an den Gürtel geschnallt und zupfte vor dem Spiegel nervös an seiner Uniform. Er sah auf, um zu sehen, wer gekommen war. Als er Strahd erkannte, grinste er breit. »Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest!« rief er aus, drehte sich um und breitete die Arme aus, um seinen Bruder zu umarmen. »Ich wußte nicht, ob du noch immer wegen des Zwischenfalls mit Tatyana und dem Dorfbewohner wütend bist.« »Aber nicht doch, kleiner Bruder. Ich war zu voreilig und grausam. Ich bin gekommen, um dich um Entschuldigung zu bitten.« Sergej kamen die Tränen. »Es gibt Menschen in diesem Land, die behaupten, daß nichts Gutes in dir steckt«, sagte er heiser, »doch ich habe immer gewußt, daß der ›Teufel Strahd‹ über die Seele eines Engels verfügt.« »Tritt einen Schritt zurück und laß mich dich ansehen«, sagte der Graf enthusiastisch. Die gefühlsmäßige Wendung dieser Unterhaltung bereitete ihm Unbehagen. Sergej gehorchte und lächelte schüchtern. Strahd stieß ein spöttisches Pfeifen aus, und sein Bruder versetzte ihm einen spielerischen Fausthieb. »Du wirst heute einige Herzen brechen«, sagte der Graf. »Ich gehe jede Wette ein, daß es im Dorf zu Selbstmorden kommen -316-
wird. Jede Dame dieses Landes wird das Ende von Barovias begehrtestem Junggesellen betrauern.« »Ah, doch ich glaube, daß sie kurz darauf die Gläser auf den glücklichsten frischgebackenen Ehemann der ganzen Welt erheben werden!« Eine kalte, träge Wut quoll durch Strahds Adern. Er hatte sich eigentlich schon entschieden, den Handel nicht zu besiegeln, den er mit der geheimnisvollen, finsteren Wesenheit abgeschlossen hatte. Sergejs offensichtliche Liebe zu ihm und die Freude über sein Erscheinen hatten ihn darin noch bestärkt. Doch als Sergej nun vor Freude über die bevorstehende Heirat strahlte, rührte sich in Strahd das dunkle Gespenst der Eifersucht. Er berührte Sergejs Medaillon mit dem Finger. Es funkelte hell, und der Kristall in seiner Mitte fing das Licht ein, als es hin und her schwang. »Du wirst das hier aufgeben müssen, das ist dir klar?« Sergej nahm das Medaillon in die Hand. »Ja, ich weiß. Ich kann nicht heiraten und gleichzeitig Priester sein. Obwohl ich das eigentlich immer für unfair gehalten habe. Man kann den Göttern pflichtbewußt dienen und trotzdem eine Familie haben. Die Liebe für die einen schließt doch nicht die Liebe für die anderen aus.« »Ein Sakrileg!« rief Strahd in gespieltem Entsetzen aus. »Du wirst deine eigene Religion gründen müssen, Sergej.« Das brachte den jungen Mann zum Lachen, und er ließ das Platinamulett los. »Vielleicht mache ich das sogar, wenn ich das dafür behalten darf. Es war in einigen langen, dunklen Nächten eine Quelle des Trostes, das kann ich dir sagen.« In der Seele des Grafen gärte es, und zur Eifersucht gesellte sich der Zorn. Was wußte denn dieses Kind schon von langen, dunklen Nächten? Welche Hölle hatte dieser verwöhnte Jüngling denn schon durchschritten? Sergej hatte in seinem -317-
kurzen Leben noch nie für etwas kämpfen müssen! Vom Luxus verwöhnt aufgezoge n, kämpfte er nur zum Vergnügen oder zur Körperertüchtigung, nicht etwa um Leben oder Land. Die Frauen umschwärmten ihn, und närrisch wie er war, hatte er sie stets mit einer höflichen Entschuldigung abgewimmelt. Er war ein ausgezeichneter und mutiger junger Kämpfer, doch er war dazu bestimmt gewesen, Priester zu werden, verdammt noch mal. Was hatte Sergej schon getan, daß er Tatyana verdient hatte? Und was hatte er getan, daß man sie ihm verweigerte? »Du hättest jede Frau der Welt haben können«, sagte Strahd unvermittelt. »Warum gerade sie?« Sergei schaute ihn überrascht an. »Oh, Strahd«, flüsterte er dann, und in seinem Tonfall schwang deutlich Mitleid mit, »weißt du das denn nicht?« Natürlich wußte Strahd es in der Tiefe seines Herzens, und er wußte auch, was Sergej mit der Frage hatte sagen wollen. Es handelte sich lediglich um die rhetorische Frage eines Liebenden, der in seiner grenzenlosen Verliebtheit davon überzeugt war, die ganze Welt müßte seine Braut so sehen, wie er selbst. Doch Eifersucht und Verbitterung verzerrten diese an sich so harmlosen Worte. Weißt du das denn nicht? Diese einfache Frage verwandelte sich in Strahds vergifteter Seele in blanken Hohn. Zur Hölle mit ihm! Sergej wußte genau, daß er, Strahd, Tatyana liebte, und heiratete sie nur, um seinen älteren Bruder zu demütigen! Irgendwie gelang es Strahd, seinen Zorn zu zügeln, und er hörte, wie Sergej etwas sagte. »Mein Glück ist vollkommen. Doch ich wünschte mir nur, du hättest so jemanden wie Tatyana.« Strahd ignorierte die Bemerkung. »Ich habe ein Geschenk für den Bräutigam«, sagte er. Er übergab Sergej einen Gegenstand, der sorgfältig in ein besticktes Tuch eingewickelt war »Es ist ein -318-
magischer Gegenstand von beträchtlichem Alter. Er paßt ausgezeichnet zu diesem Tag.« Sergej packte das Geschenk mit einem Lächeln aus. Es war ein kleiner Dolch, dessen Griff rote, schwarze und goldene Verzierungen aufwies. Die Dolchscheide bestand aus einem seltsamen Leder mit einer merkwürdigen Farbe. Sergej blickte Strahd verständnislos an. »Wie ich sehe, erkennst du den Dolch«, sagte Strahd. »Es handelt sich um die ehrwürdige Waffe der Meuchelmörder von Ba'al Verzi. Die Scheide ist aus Menschenhaut gefertigt, die gewöhnlich vom ersten Opfer der Waffe stammt. Die Schnitzereien auf dem Griff sind Runen der Macht.« Sergej war schockiert. Der Graf nahm ihm die Waffe seelenruhig aus der Hand und tat so, als würde er sie genau ansehen. Er zog die Klinge aus der Scheide, und ihre spiegelblanke Oberfläche fing das Kerzenlicht ein. »Den Legenden zufolge bringt es Unglück, wenn man den Dolch zieht, ohne ihn in Blut zu tauchen. Ich bin eigentlich nicht abergläubisch, doch ich glaube, es wäre in dieser besonderen Situation nicht sehr klug, das Schicksal herauszufordern. Findest du nicht auch?« Und Strahd stieß seine m wie erstarrt dastehenden Bruder die Klinge ins Herz. Blut besudelte die Hand des Mörders. Er begegnete Sergejs letztem, fragendem Blick mit wildem Triumph. Der junge Mann starb, ohne ein Geräusch von sich zu geben, und brach in Strahds Armen zusammen. Er hatte bis zum letzten Augenblick nicht begriffen, was geschehen war. Der Graf legte die Leiche auf den Boden und machte sich schnell an die Arbeit. Er zog den Dolch aus der Wunde - genau, wie es die Wesenheit verlangt hatte. Dann blickte er auf das Blut, das von der langen Klinge tropfte, holte tief Luft und leckte sie ab, wobei er die Übelkeit unterdrücken mußte, die in ihm aufstieg. Er verzog das Gesicht, riß die Uniformjacke und -319-
das weiße Hemd auf, mit dem der Tote bekleidet war, und enthüllte die kleine Wunde, aus der noch immer helles Blut quoll. Trink von dem Blut. Zuerst von dem, das die Klinge benetzt, und dann von dem Kelch direkt, hatte die Wesenheit befohlen. Strahd kniete sich neben die noch warme Leiche seines Lieblingsbruders, drückte die Lippen auf die Wunde und trank. Er würgte und mußte husten. Deshalb entging ihm ein Teil der kostbaren Flüssigkeit. Seine Schwäche erfüllte ihn mit Wut. Er mobilisierte die Disziplin, die aus ihm einen erfolgreichen Krieger gemacht hatte, und zwang sich dazu, an den Wundrändern zu saugen und mehr von dem nach Kupfer schmeckenden Blut zu schlucken. Es fiel ihm immer leichter, und schließlich genoß er den Geschmack sogar. Kraft durchströmte ihn. Sein Tastsinn war plötzlich viel ausgeprägter, und er konnte die genaue Zusammensetzung von Sergejs kostbarer Kleidung spüren. Er konnte das Blut und den Schweiß riechen, die die Leiche seines Bruders bedeckten. Er hörte die Stimmen der Gäste, obwohl sie sich in einem anderen Teil des Schlosses aufhielten. Aus einer Laune heraus hob er den Toten mit einer Hand hoch, einfach, weil er dazu imstande war. Das war großartig! Er lachte laut und warf die Leiche unbekümmert zu Boden. Sie blieb verkrümmt liegen, und plötzlich begriff Strahd, was überhaupt geschehen war. Er fing am ganzen Körper an zu zittern, fiel neben seinem Bruder auf die Knie und berührte das bleiche, reglose Gesicht fast zärtlich. Dann riß er die Leiche mit einem lauten Aufschrei in die Arme, und seine Trauer war nicht gespielt. »Sei verdammt, Sergej. Das ist alles nur deine Schuld! Es war nie vorgesehen, daß du jemals heiraten solltest! Du warst der jüngste, also solltest du Priester werden … Warum hast du nicht einfach das getan, wozu du auf die Welt gekommen bist?« Strahds Hände krallten sich in das dichte, lockige Haar seines -320-
Bruders, und er drückte seine gerötete Wange gegen das tote Gesicht. Auf dem Korridor ertönten eilige Schritte, und Anton, Sergejs persönlicher Diener, stieß die Tür auf. Er starrte entsetzt auf das blutige Bild, riß dann den Blick von Sergejs Leiche los und schaute statt dessen den Grafen flehentlich an. Strahd hielt das Ba'al- Verzi-Messer hoch. Anton erkannte die Waffe und riß, wenn das überhaupt möglich war, die Augen noch weiter auf. »Sergej ist tot«, sagte der Graf mit bebener Stimme. »Es muß eben erst passiert sein. Befiehl den Wachen, sofort das Schloß abzuriegeln. Wir müssen den Mörder meines Bruders finden!« Der Diener nickte, wobei er noch immer schockiert auf den blutüberströmten Sergej starrte. Seine Augen füllten sich mit Tränen; wie jedermann auf Schloß Rabenhorst hatte er den jungen Herrn sehr gemocht. Dann rannte er los. Strahd war erstaunt. Es war so einfach gewesen. Er hatte noch nie zuvor gelogen; wozu auch, schließlich brachte man ihm als Beherrscher des Landes absoluten Gehorsam entgegen, und in den Tagen seiner Feldzüge war das nicht anders gewesen. Er hatte bezweifelt, daß er den Mord an seinem eigenen Bruder frech auf einen anderen abwälzen konnte, doch es war ihm gelungen, und es hatte ihn nur eine kleine Lüge gekostet. Er fragte sich, ob diese mühelose Verschlagenheit ein weiterer Teil des dunklen Geschenks war. Plötzlich wurde ihm eiskalt. Er hatte Sergejs Blut getrunken. War denn sein Mund nicht mit der Flüssigkeit verschmiert gewesen, als Anton gekommen war? Er stand schnell auf und ging zum Spiegel, um dort nachzusehen. Als er in das Glas schaute, erlebte er einen nachhaltigen Schock. Sein Spiegelbild wurde durchsichtig. Er griff sich an die Brust und war erleichtert, als seine Hand auf feste Materie traf. Es bedurfte einer mächtigen Willensanstrengung, die Angst zu besiegen, die plötzlich in ihm -321-
emporstieg, doch er war noch nie willensschwach gewesen. Und so bezwang er stur die Angst und wusch sich Gesicht und Hände. Das Wasser in der Schüssel verfärbte sich rot. In der Kapelle ertönte ein schriller Aufschrei der Verzweiflung, gefolgt von Rufen und Schluchzen. Die Tür zu Sergejs Zimmer wurde erneut aufgestoßen, und vier Wachen traten mit gezogenen Schwertern ein. »Euer Exzellenz«, sagte der Befehlshaber, »wir haben alle Ausgänge versperrt, wie Ihr befohlen habt. Wir können uns einfach nicht vorstellen, wer die Tat begangen hat, doch keiner wird das Schloß verlassen, bis Ihr die Identität des Mörders erfahren habt.« Strahd nickte. Er hatte sich wieder völlig in der Gewalt. »Ausgezeichnet. Haltet alle entweder in der Kapelle oder im Speisesaal fest, was gerade am nächsten ist.« »Aye, Euer Exzellenz.« Die Wachen wollten wieder gehen. »Einen Augenblick.« Strahd hatte das Blutgeld bezahlt. Es war Zeit, die versprochene Belohnung in Empfang zu nehmen. »Wo ist Tatyana?« »Draußen im Garten vor der Kapelle. Sie weigert sich, jemand in ihre Nähe zu lassen.« »Mich wird sie nicht zurückweisen«, sagte Strahd mit einem dünnen Lächeln. »Sie kann nicht anders.« Er begab sich dorthin und ignorierte die Tränen und Fragen der niedergeschmetterten Gäste. Die Kapelle wurde von Dutzenden von Kerzen beleuchtet, und ihr Licht reichte aus, daß die bemalten Glasfenster einen farbigen Schatten auf das engelsgleiche Mädchen warfen, das völlig verzweifelt im feuchten Gras des Gartens kauerte und sich nicht rührte. Tatyana war leichenblaß. Ihr schien völlig egal zu sein, daß das wunderschöne, mit solcher Perfektion geschneiderte Brautkleid von der Erde und dem Gras beschmutzt wurde. Sie schaute nicht auf, als Strahd näherkam. Er ging neben ihr in die Hocke. -322-
»Komm, meine Liebe«, sagte er sanft und nahm sie in den Arm. Sie blieb noch einen Augenblick stocksteif sitzen, dann kehrte Leben in ihre Glieder zurück, und sie fing an zu weinen. Ihr schlanker Körper erbebte bei jedem Schluchzer, und sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an den Grafen. Strahd drückte sie noch fester an sich, und seine neuen Sinneskräfte berauschten sich an dem Geruch ihrer Haut und ihrer Haare, der Wärme ihres jungen Körpers und der weichen, weißen Seide ihres Kleides. Er murmelte leise beruhigende, tröstende Worte. Endlich ließ ihr Schluchzen nach. »Wwarum nur? Ich vverstehe es nicht!« sagte sie in gebrochenem Tonfall. »Wer würde - wer könnte so etwas tun? Oh, Strahd!« Sie schluchzte von neuem los und klammerte sich verzweifelt an ihm fest. »Psst. Ich weiß, daß das jetzt für dich sehr schwer ist, Liebling, doch bald wird alles wieder gut sein. Aus großem Schmerz entsteht große Freude, und bald wirst du dich für die glücklichste aller Frauen halten.« Sie erstarrte, dann rückte sie ein Stück von ihm ab und schlug ihn ins Gesicht. Ihr Blick war voller Qual. »Bruder«, flüsterte sie, »er ist tot. Wie kannst du so etwas sagen?« »Weil du jetzt frei bist. Du kannst jetzt mich heiraten. Er hat unserem Glück im Wege gestanden, doch das ist nun vorbei, meine Liebe, für alle Zeiten. Tatyana, meine Geliebte, ich kann dir…« »Nein!« Ihr Schmerz verwandelte sich in Abscheu, und sie versuchte, dem Mörder ihres Verlobten zu entkommen. Doch Strahds Griff war nicht zu brechen. Ihre Undankbarkeit versetzte ihn plötzlich in Wut. Wenn sie nur aufhören würde, gegen seine Umarmung anzukämpfen, ihn erklären lassen würde, welche Wunder geschehen waren, und das alles nur wegen ihr - allein wegen ihr. Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küßte sie. Ihre Lippen waren süß, und in ihm wuchs ein neuer Hunger. Er wollte mehr von ihr als nur -323-
einen Kuß. Da schrie er schmerzerfüllt auf und ließ sie automatisch los. Er faßte sich an den Mund, und seine Hand kam blutig zurück. Seine Unterlippe pochte schmerzerfüllt; sie hatte ihn gebissen. Tatyana saß nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt und starrte ihn an. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Entsetzen ab; sie sprang auf die Füße, raffte das lange Kleid bis über die Knie hoch und lief los, als wäre ihre Seele in Gefahr. Und vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht. Strahd brüllte seine Wut heraus, und der Laut hallte durch das ganze Schloß. Dann kam auch er wieder auf die Füße und verfolgte die entsetzte Frau mit einer unnatürlichen Schnelligkeit und Lautlosigkeit. Tatyana floh mit pochendem Herzen. Schweiß rann über ihr Gesicht und brannte in ihren Augen. Ihre Sicht verschwamm, doch sie lief weiter. Ihr Kleid blieb an den Rosendornen hängen, und sie fragte sic h in aufflammender Panik, ob Strahd sogar den Pflanzen befehlen konnte. Eigentlich war ihr Fluchtversuch sinnlos. Doch das erkannte sie in ihrer Verwirrung nicht, außerdem wäre es ihr gleichgültig gewesen. Nur eins war wichtig: Strahd zu entkommen, dem einsamen, alten Krieger zu entkommen, der sich aus einem unerfindlichen Grund in eine Schreckensgestalt verwandelt und Sergej getötet hatte. Tatyana hörte, daß er näherkam. Er rief ihren Namen und befahl ihr, stehenzubleiben. Doch sie hatte gesehen, welch entsetzliche Kreatur mit blutverschmierten Fangzähnen aus ihm geworden war, und sie würde nicht zulassen, daß er sie jemals wieder berührte. Sie wurde nicht einmal langsamer, als sie die niedrige Steinmauer erreichte. Strahd packte den Saum ihres Kleides, doch sie riß sich mit einer Kraft von ihm los, die ihn völlig überraschte. Tatyana warf sich mit ausgestreckten Armen über die -324-
Gartenmauer, als würde Sergej sie auffangen. Doch unter ihr wogte nur der Nebel. Als sie den Hunderten von Metern in der Tiefe wartenden Felsklippen entgegenstürzte, schrie sie auf, doch es handelte sich weniger um einen Schrei der Verzweiflung als um ein Jubeln, daß sie Strahd entkommen war. Die Hände des Grafen griffen in die Luft, und er hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Er mußte zusehen, wie ihre Gestalt einem sterbenden Schwan gleich in die Tiefe stürzte und vom Nebel und der Finsternis verschlungen wurde, was ihm gnädigerweise den Anblick ersparte, wie ihr Körper auf den Felsen zerschmetterte. Der Vampir schlug in ohnmächt igem Zorn mit beiden Fäusten auf die Mauer, riß voller Qual den Kopf nach oben und schrie. Sein Schrei wurde von dem klaffenden, nebelverhüllten Abgrund wie ein spöttisches Echo zurückgeworfen. Ein Pfeil zischte an seinem rechten Ohr vorbei Strahd wirbelte herum und sah wutentbrannt auf das Schloß. Mittlerweile war die Identität von Sergejs Mörder allen klar, und die Wachen kannten ihre Pflicht. Die Bogenschützen hatten ihre Posten eingenommen und schossen durch die Schießscharten in der Schloßmauer. Plötzlich war die Luft von einem wütenden, surrenden Geräusch erfüllt, als Dutzende von Pfeilen ihr Ziel trafen und sich in den Grafen bohrten. Doch Strahd starb nicht. Er schaute auf die Pfeile herunter, die aus seiner Brust und seinem Leib ragten. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er zog gelassen und in aller Ruhe einen Pfeil nach dem anderen aus seinem Körper. Er wußte genau, was für ein Entsetzen dieser Anblick bei den Schützen auslösen würde - und genoß es. Er nahm das dicke Bündel Pfeile, das er gesammelt hatte, in die eine Hand und hielt es hoch, um es dann mit der anderen mühelos wie einen Zweig zu zerbrechen. Dann -325-
ging er zum Schloß zurück - und seine Absichten waren schrecklich. Strahd von Zarovitsch war das einzige verweigert worden, das er jemals wirklich gewollt hatte, und er würde jeden auf Schloß Rabenhorst für diesen Verlust bezahlen lassen. Vielleicht sogar jeden, der innerhalb Barovias Grenzen lebte. Jander zitterte am ganzen Körper. Es gab keine Worte, mit denen er das Mitleid und Entsetzen hätte beschreiben können, das in seinem Inneren wütete. Welch ein Sündenfall! Welch ein Massaker an Unschuldigen! Er mußte sich dazu zwingen, an dieser Stelle weiterzuleben. Zehnter Mond des Jahres 400: Sie ist zurückgekommen, zu mir zurückgekommen! Man hat mir eine zweite Chance gegeben! Meine geliebte Tatyana ist in Gestalt einer Dorfbewohnerin namens Marina wiedergeboren worden. Diese Marina sieht meiner geliebten Tatyana zum Verwechseln ähnlich; allerdings ist da etwas, das sich an ihr verändert hat. Ich weiß nicht, was es ist. Doch spielt das eine Rolle? Ich habe damit begonnen, ihr den Hof zu machen. Diesmal wird sie mit Sicherheit mir gehören … Zwölfter Mond des Jahres 400: Ich hin verflucht wie kein zweiter: Meine geliebte Tatyana ist ein zweites Mal gestorben, diesmal durch die Hand ihres Vaters. Der Narr sagte, er sähe sie lieber tot, als daß sie meine Braut würde. Natürlich habe ich ihn auf der Stelle getötet. Ich habe die ganze Familie getötet und bin dann in diese Gefängnis mauern zurückgekehrt, um mich meinem Schmerz hinzugeben. Geliebte Tatyana, werde ich dich jemals in den Armen halten können und wirst du mich voller Liebe ansehen? Vierter Mond des Jahres 475: Tatyana ist erneut zurückgekehrt. Ich glaube, dieses schreckliche Land will mich auf die Probe stellen damit ich meine Liebe zu ihr beweise. -326-
Diesmal heißt sie Olya, doch ich kenne die Wahrheit. Sie hat das Gesicht meiner Geliebten, obwohl sie sich ganz anders als Tatyana benimmt. Es ist, als würde diesem ansonsten in jeder Hinsicht perfekten Kunstwerk ein Teil von Tatyana fehlen, als wäre Olya ein Kind, bei dem die letzten Pinselstriche fehlen. Doch wie zuvor ist mir das gleichgültig, und ich werde dafür sorgen, daß sie sich in mich verliebt … Vierter Mond des Jahres 475: Ich kann diese Folter nicht länger ertragen! Fast hätte ich sie gehabt, nur, um dann zusehen zu müssen, wie sie mir erneut entgleitet! Sie sagen, Olya wäre einem Fieber erlegen. Sie sagen, man hätte nichts tun können. Doch keiner von ihnen hat sich an mich gewandt, um herauszufinden, ob ich nicht etwas hätte tun können! Jander war wie betäubt vor Entsetzen, doch das Datum ließ ihn aufhorchen. Der vierte Mond des Jahres 475. Etwa um diese Zeit war er nach Barovia gekommen! Der Name Olya kam ihm irgendwie bekannt vor. Der Elf konzentrierte sich, und dann fiel es ihm wieder ein: Olya war das Mädchen, das in der Nacht, in der er Barovia betreten hatte, am Fieber gestorben war; außerdem handelte es sich um dieselbe Nacht, in der die an Fieber erkrankte Anna durch seine Hand gestorben war. Konnte es sein, daß die beiden Frauen auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden gewesen waren? Hatte es sich etwa um ein und dieselbe Person gehandelt? Anna hatte etwas Fürchterliches durchlebt und war nur noch dazu fä hig, Wortfragmente zu stammeln. Anna - Tatyana. Sie hatte Jander immer »Herr« genannt. Klang das nicht so ähnlich wie Sergej! Tatyana hatte sich so verzweifelt danach gesehnt, Strahds alles beschmutzendem Bösen zu entkommen, daß ein Teil von ihr in der Nacht, in der sie in den Nebel gesprungen war, auf mystische Weise nach Tiefwasser entkommen war. Sie war nur noch eine gebrochene, unvollständige Seele mit ein paar Erinnerungsfetzen gewesen, die jeder für eine Verrückte gehalten hatte. -327-
Jander wollte mehr wissen und las weiter. Er stockte, als er seinen Namen sah. Ein Fremder hat mein dunkles Reich des Unglücks betreten. Wie ich ist er ein Untoter: wie ich sehnt er sich nach dem Leben; doch im Gegensatz zu nur unternimmt er keinen Versuch, seine Träume und Ziele in die Tat umzusetzen. Er ist so schlicht wie ein Neugeborenes, hat Gefühle, die verletzbar sind, und ein Gewissen, das ihn sogar daran hindert, seine Opfer bis auf den letzten Tropfen zu leeren. Wie konnte so eine Person so lange als Untoter überleben? Doch was viel wichtiger ist, wie kann es sein, daß so eine Person so weise erscheint? Denn dieser Elf aus einem anderen Land namens Jander Sonnenstern verbirgt viel Wissen in seinem goldgelockten Kopf. Ich sehne mich nach diesem Wissen. Warum gelingt es mir dann nicht, ihm seine Geheimnisse zu entlocken? Er hält sich für einen Gast. Er glaubt, ich sei sein Freund. So leicht zu hintergehen, doch andererseits so schwierig auszuloten. Er ist der weiseste Narr, der mir je begegnet ist. Ich werde ihn hierbehalten und so viel von ihm lernen, wie ich nur kann … Dritter Mond des Jahres 500: Die Frauen haben eine neue Generation geworfen, und die Brut ist erwachsen geworden. Es ist an der Zeit, die Suche nach Tatyana wieder aufzunehmen. Es ist durchaus möglich, daß ich sie weder in diesem noch im nächsten Jahr finde, doch ich kann das Risiko nicht eingehen, sie zu verlieren. Ich muß nach ihr suchen. Also deshalb war Strahd zeitweise wochenlang verschwunden. Er hatte gar nicht nach dem Mörder seiner Sklaven gesucht. Barovias Herr suchte nach seiner Liebe. Er wollte Tatyana beziehungsweise Anna wiederfinden, damit er den nie enden wollenden Tanz der gegenseitigen Folter fortführen konnte. Damit mußte Schluß sein. Jander war nach Barovia gebracht -328-
worden, um sein Verlangen nach Rache stillen zu können, und genau das würde er jetzt tun. Mehr noch, er würde es genießen. Der Elf fing wieder an zu zittern, und der rote Nebel der Berserkerwut senkte sich wie ein Vorhang über sein Bewußtsein. Sascha war wieder zehn Jahre alt und betrat erneut das Totenhaus. Eine rote Flüssigkeit floß die Treppe hinunter und tränkte den Teppich, der auf dem Boden lag. Das Kind stieg - wie gegen seinen Willen - die Stufen hinauf, die in die lauernde Finsternis führten. Obwohl er nicht schwer war, bogen sich die Stufen knarrend unter seinen Schritten durch. Seine Mutter erwartete ihn am Treppenabsatz. Das lange, braune Haar fiel ihr auf den Rücken. Sie sah besorgt aus. »Wo bist du gewesen?« Ihre Stimme hallte durch den Korridor und schuf gespenstische Echos. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Sie packte ihn mit ihren langen Armen und riß ihn an die Brust, dann verdrehte sie die gelben Augen und ließ die weißen Fangzähne aufblitzen. Mutter! Mutter! Sascha fuhr mit einer solchen Gewalt hoch, daß er beinahe aus dem Bett gefallen wäre. Schweißgebadet rang er nach Luft, während sich seine Sinne von dem Alptraum lösten. Kaltes Mondlicht drang durch das Fenster. Sein Herzschlag wurde wieder normal, und er ließ sich auf das Kissen zurückfallen. Die quälenden Alpträume hatten ihn schon oft aufwachen lassen, denn genau wie die langen barovianischen Nächte kamen sie immer wieder. Doch ihre Häufigkeit linderte in keiner Weise das lähmende Entsetzen, das sie verursachten. Guter Lathander, wie viele Vampire mußte er denn noch vernichten, bis die Träume aufhörten und er wieder seinen Frieden fand? Er holte tief Luft, stand auf und ging mit nackten Füßen zu -329-
dem kleinen Tisch. Er schüttete Wasser in die Schüssel. Dann tauchte er das erhitzte Gesicht in das kühle Naß und zwang sich dazu, wieder ruhiger zu werden. Es klopfte leise am Fenster. Sascha war sofort alarmiert und lauschte angespannt. Das Geräusch ertönte wieder - ein leises, vorsichtiges Klopfen, das seinen Ursprung auf jeden Fall in der Realität und nicht etwa in seinen Träumen hatte. Eine Gestalt bewegte sich vor dem Fenster. Sascha sah von ihr zu dem mondlichtüberfluteten Boden. Es war kein Schatten zu sehen. Sascha wußte, was das bedeutete. Draußen lauerte ein Vampir, der anscheinend auf ihn wartete. Der Priester lächelte grimmig. Dieser Untote hatte sich das falsche Opfer ausgesucht. Wenn er seiner Seele den Frieden zurückgegeben hatte, würde er zwanzig Vampire erlöst haben. Mit diesem Gedanken suchte er sich schnell und leise sein Handwerkszeug zusammen: eine Knoblauchkette, die er sich um den Hals hängte; eine Phiole mit Weihwasser, die er sich diesmal auf ehrliche Weise vom Altar genommen hatte, und Lathanders Symbol, die rote Holzscheibe. Er sprach ein kurzes Gebet, holte tief Luft und bereitete sich auf den Kampf vor. Es klopfte erneut. Diesmal lauter, als würde das schreckliche Geschöpf langsam ungeduldig werden. Trotzdem verlor der Untote nicht das Interesse und flog weg. Sascha schlich langsam zum Fenster, wobei er dem Mondlicht auf dem Boden auswich. Dann schrie er »Lathander!« und riß mit einer fließenden Bewegung den Vorhang beiseite, öffnete den Riegel und stieß das Fenster auf. In der freien Hand hielt er die rote Holzscheibe, die Lathanders Macht symbolisierte, doch als er den Vampir erkannte, senkte er den Arm. Jander riß automatisch eine Hand schützend hoch, klammerte sich jedoch dabei weiter an der Kirchenmauer fest. Seine behandschuhten Finger und die in Stiefel steckenden Füße fanden ihren Halt in Kitzen, die jedem Sterblichen verwehrt gewesen wären. -330-
»Jander!« zischte Sascha wütend. »Was tust du hier?« Der Vampir warf ihm einen Blick zu, der ihn bis ins Mark erschütterte, und Sascha erkannte erst jetzt, daß der Elf blutüberströmt war. Er unterdrückte einen Schrei und trat voller Ekel einen Schritt zurück. »Ich muß mit dir sprechen, Sascha. Ich … brauche deine Hilfe.« Der Priester schüttelte den Kopf. »Wie kommst du auf die Idee, ich würde dir helfen?« Er konnte den Blick nicht von dem gräßlichen Anblick losreißen, den der Vampir bot. Das Mondlicht verwandelte das Blut auf Janders Kleidung in schwarz schimmernde Flecken, und sein Gesicht war mit der klebrigen Flüssigkeit verschmiert. »Es ist kein Menschenblut«, sagte Jander schnell, als er begriff, wie er aussehen mußte. »Triff mich in zehn Minuten auf dem Friedhof. Dort ist es unauffälliger. Bring eine Schüssel Wasser mit.« Plötzlich wurde Janders Gestalt von einem unnatürlichen Glühen umgeben; er wurde zu einer Nebelwolke, die sich wiederum zu einer kleinen, braunen Fledermaus verdichtete. Das geflügelte Nachttier flatterte in die Nacht hinein. Sascha zitterte am ganzen Körper und ein Teil von ihm hätte nichts lieber getan, als sich wieder ins Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu ziehen. Was schuldete er dieser Kreatur, daß er sich in der Nacht auf den Friedhof schleichen sollte? Das Leben seines Vaters. Sascha seufzte und stellte die Wasserkanne in die Schüssel. Er klemmte sich beides unter den Arm und stieg leise die Stufen hinunter, denn er wollte Leisl nicht aufwecken, die im Nebenzimmer schlief. Eine Stufe knarrte laut, und er blieb stehen und lauschte. In dem Zimmer der kleinen Diebin rührte sich nichts. Sascha ging weiter. Jander erwartete den Priester am Grab der Familie Kartov. -331-
Der Herbstwind trieb raschelnd Blätter um die Füße des Vampirs. Eine Wolke gab den Mond frei, und er badete die schlanke Gestalt in seinem Licht. Wieder verspürte Sascha eine Mischung aus Entsetzen und Verständnis. Der Vampir bot einen prächtigen Anblick; die goldfarbene Haut der hoch aufgerichteten Gestalt nahm im Mondlicht einen magischen Glanz an. Sascha gab ihm die Schüssel und die Wasserkanne. Jander stellte beides wortlos auf den Boden und kniete sich nieder. Er zog die weißen Lederhandschuhe aus, goß etwas Wasser in die Schüssel und bespritzte sein blutiges Gesicht. Sascha hatte auch ein Handtuch mitgebracht, das er dem Vampir nun gab. Jander nahm es in die zitternden Hände und begrub das Gesicht darin. Sascha blieb mit verschränkten Armen stehen. »Sag, was du zu sagen hast«, erklärte er ausdruckslos. »Ich habe geschworen, daß ich dich verschonen werde, doch das ist auch schon alles. Ich sollte eigentlich nicht einmal hier sein.« Als Jander den Kopf hob und ihn voller Qual ansah, hätte er seine Worte fast bereut. »Was ist passiert?« »Würdest du bitte zuerst den Knoblauch entfernen, Sascha? Es riecht widerlich. Ich habe dir doch versprochen, dir nichts zu tun.« Sascha rührte sich nicht. Da sprang Jander mit einer Schnelligkeit auf, die sich Sascha nie hätte träumen lassen, riß ihm die Knoblauchkette vom Hals und warf sie in die Nacht. Der Priester griff nach seiner ungeschützten Kehle, doch Jander rührte sich nicht mehr. »Du dürftest gar nicht in der Lage sein, so etwas zu können!« sagte Sascha mit bebender Stimme. Jander lächelte humorlos. »An diesem Ort gibt es eine Menge Dinge, die ich tun kann, obwohl sie mir eigentlich nicht erlaubt sind. Vergiß das nicht, Sascha. Dieses Land hält sich nicht an die Regeln.« Das Lächeln verblaßte und wurde wieder von -332-
diesem traurigen Ausdruck ersetzt, der dem Priester schon bei ihrer letzten Begegnung aufgefallen war. Der Vampir setzte sich ins Gras und schlug einen Augenblick lang die Hände vors Gesicht. Als er dann wieder das Wort ergriff, war seine Stimme von einem tiefen Schmerz erfüllt. »Ich hatte dich gebeten, in den Aufzeichnungen nach einer Frau namens Anna zu suchen. Erinnerst du dich?« »Ja. Es tut mir leid, Jander. Ich habe nachgesehen, doch es gab keine …« »Nein, konnte es auch nicht geben. Ich habe diese Anna geliebt, kannst du dir das vorstellen? Sie war wahnsinnig, doch ich habe sie geliebt. Dann wurde sie krank, und ich wußte, daß sie im Sterben lag. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ohne sie leben zu müssen, also habe ich versucht, aus ihr einen Vampir zu machen.« Er wartete ab, wie Sascha darauf reagieren würde. Der Priester war entsetzt. Genau, wie Jander es sich gedacht hatte. »Das war keine Liebe, sondern die selbstsüchtigste … Bei der Herrlichkeit des Fürsten des Morgens, du bist ein Teufel!« Der Elf ignorierte Saschas Ausbruch und erzählte weiter. »Sie hatte keine Angehörigen, niemand kümmerte sich um sie. Sie hat mich gebraucht. Weißt du überhaupt, wie wunderbar dieses Gefühl ist, gebraucht zu werden? Ich habe sie geliebt. Ich hätte mich für alle Ewigkeit um sie gekümmert. Darum wollte ich ihr die Möglichkeit bieten, eine Art Unsterblichkeit zu erlangen. Ich habe so gehofft, daß sie wieder gesund werden würde, wenn ich ihr Zeit ließ und meine Liebe gab.« Jander seufzte und schüttelte traurig den Kopf. »Sie weigerte sich, mein Blut zu trinken, und starb wegen dieser Entscheidung.« Sein Tonfall wurde eiskalt. »Als mich der Nebel nach Barovia gebracht hatte, konnte ich nur an eines denken: an Vergeltung! Ich wollte den Mann finden, der Annas Geist zerstört hatte. Heute nacht habe ich herausgefunden, wer es -333-
war.« Er verstummte. »Manchmal erfüllt mich ein großer Zorn, und heute hat er die Kontrolle übernommen. Das Blut, das du siehst, stammt von einer Schafherde. Ich habe alle Tiere getötet. Es ist gut, daß dein Volk nach Einbruch der Dunkelheit in seine n Häusern bleibt, Sascha, denn ich hätte bestimmt jeden umgebracht, der das Pech gehabt hätte, meinen Weg zu kreuzen.« Jander griff in den Beutel an seinem Gürtel und holte eine Handvoll kleiner Gegenstände hervor, die im Mondlicht glitzerten. Er gab sie Sascha. »Gib das dem Besitzer der Herde. Sag ihm, es sei eine Wiedergutmachung der Götter oder einen ähnlichen Unsinn. Das wird er eher glauben, als wenn du ihm die Wahrheit erzählst. « Er lächelte traurig. Sascha wußte nicht, was er sagen sollte. Jander wechselte abrupt das Thema. »Hast du jemals von einer Erscheinung gehört, die man den Roten Tod nennt?« Sascha schüttelte den Kopf. »Vielleicht tragt sie hier einen anderen Namen. Es ist eine gasförmige Kreatur in der Gestalt eines Manschen. Sie lebt wie ein Vampir von Blut und bietet einen fürchterlichen Anblick. Wenn der Rote Tod Blut trinkt, verändert er seine ursprüngliche, blaßweiße Farbe und leuchtet rot. Außerdem nimmt er feste Gestalt an. Nur dann kann man ihn töten, und das auch nur mit magischen Waffen.« Sascha verzog angewidert das Gesicht. »Es wird behauptet, daß der Rote Tod nichts anderes als der Geist eines Vampirs ist; wenn man einen unserer Art vernichtet, werden wir angeblich zum Roten Tod.« Jander sah den Priester prüfend an. »Du hast so viele von uns getötet. Hast du jemals eine Kreatur gesehen, wie ich sie beschrieben habe?« »Niemals.« »Du mußt dir ganz sicher sein.« »Das bin ich. Jander, ich weiß vermutlich mehr über die Dämonen Barovias, als sie über sich selbst.« -334-
»Gib nicht so an, Junge.« Jander konnte ein flüchtiges Lächeln nicht unterdrücken. »Obwohl es durchaus möglich ist, daß wir deine Prahlerei auf die Probe stellen müssen. Wie schon gesagt, ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche.« Sascha sah ihn skeptisch an. »Das kann ich nur schwer glauben.« Jander schwieg einen Augenblick. »Ich habe mit Strahd eine Rechnung zu begleichen«, sagte er dann. Sascha versteifte sich. »Ich bringe dem Herrscher keine Liebe entgegen, doch ich werde nicht nur auf dein Wort hin meine Hand gegen ihn erheben.« »Sascha, denk nach! Wann bist du mir zum erstenmal begegnet? Ich war der Ehrengast des Grafen beim Frühlingsfest. Du weißt, was ich bin. Was glaubst du denn, was er ist? Er ist ein Vampir!« Sascha wurde blaß. »Nein«, flüsterte er. Jander nickte. »Alle Vampire dieses Landes gehorchen ihm. Nur ich nicht. Ich bin der einzige Vampir in Barovia, der über einen freien Willen verfügt. Und ich bin der einzige, der stark genug ist, um Strahd zu besiegen.« »Dann mach es doch. Wozu brauchst du mich?« »Er beherrscht die Kunst der Magie. Ich nicht, sieht man einmal von jenen Fertigkeiten ab, die ich im Zuge meiner Verwandlung bekommen habe. Außerdem bin ich ein Untoter. Ein Sterblicher, vor allem, wenn es sich um einen Priester handelt, kann Dinge tun, die mir verwehrt sind.« Sascha leckte sich nervös über die Lippen, und sein Blick huschte hin und her wie ein gefangenes Tier. Er mußte an die Übelkeit denken, die ihn überfallen hatte, als er das letzte Mal einen Vampir zur Strecke gebracht hatte. »Jander, ich habe Verpflichtungen übernommen, was das Dorf angeht. Ich bin der einzige ausgebildete Priester, den es nach Martyns Tod noch -335-
gibt. Katya und ich wollen im Sommer heiraten. Ich kann nicht einfach …« »Mich interessieren deine Verpflichtungen nicht«, sagte Jander wütend. »Deine Verlobte ist mir egal. Glaubst du etwa, Strahd würde davon absehen, seinen Durst mit ihrem Blut zu stillen, wenn er eines Tages dazu Lust hat? Oder mit dem Blut deiner Kinder, und dann schließlich ihrer Kinder? Welche Verpflichtungen hast du gegenüber solch einem Dämon? Ihr Götter, was glaubst du denn, wer vor vierzehn Jahren deine Familie umgebracht hat?« Saschas Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, und er begrub das Gesicht in den Händen. Jander stand auf und ging auf und ab; sein Drang nach Vergeltung trieb ihn an, doch er versuchte, seine Wut zu kontrollieren. »Du mußt eins wissen«, fuhr er fort. »Ein Pakt mit einer dunklen Wesenheit hat ihn zu dem gemacht, was er ist, ein Pakt, der mit dem Blut seines eigenen Bruders besiegelt wurde. Er hat eine wunderschöne junge Frau mit seinem rücksichtslosen Verlangen verfolgt und sie dadurch in den Selbstmord getrieben. Er ist davon überzeugt, daß sie tot ist, doch ich bin da anderer Meinung. Zumindest ein Teil von ihr lebt noch.« Er konnte seinen Zorn nicht länger bezwingen. Er packte Sascha am Hemd, riß ihn auf die Füße und fixierte ihn mit seinem durchdringenden Blick. »Ich glaube, daß ein Teil von ihr entkommen konnte und durch eine Art Tor in meine Welt verschlagen wurde. Als ich sie kennenlernte und mich in sie verliebte, fehlte ihrer Seele ein wichtiger Teil. Strahd hatte ihren Verstand vernichtet. Wir haben sie beide verloren, dieses arme Kind, das keinem Menschen jemals etwas Böses angetan hat.« Er schleuderte Sascha zu Boden und ballte die Fäuste. Die Berserkerwut stieg wieder in ihm hoch, der Drang, sich auf alle viere fallen zu lassen und zu töten. Doch er bezwang ihn. Als er -336-
weitersprach, hatte er sich etwas beruhigt. »Dafür ist der Herrscher dieses Landes verantwortlich. Aber das ist noch nicht alles. Anscheinend wird Anna, Tatyana oder wie auch immer ihr richtiger Name lautet, alle paar Generationen wiedergeboren. Er peinigt sie und deine Mitbürger immer weiter, und erschafft einen Vampir nach dem anderen.« Der Elf schwieg erneut und holte tief Luft. »Sascha Petrovitsch, ich habe nie einen Vampir erschaffen, und ich lege jetzt den Schwur ab, daß ich es auch niemals tun werde. Vernichte Strahd, und du hast alle in Barovia existierenden Vampire vernichtet. Kannst du mir deine Hilfe verweigern, wenn ich so ein Ziel verfolge?« »Sag mir nur eins.« Sascha zögerte, und er sah Jander ins Gesicht. »Was … was war das für ein Gefühl?« Jander schwieg lange und erwiderte nachdenklich Saschas Blick. »Warum willst du das wissen?« fragte er schließlich, und seine Stimme klang unendlich müde. »Du gehörst dem Licht. Sei dankbar, daß du so wenig über die Geheimnisse der Dunkelheit weißt!« »Ich muß es wissen. Wie war es, zu sterben und doch nicht tot zu sein? Was ist das für ein Gefühl, wenn man …?« »Wenn man anderen das Leben nehmen muß, um selbst zu überleben?« Janders Gesicht verschloß sich. In seiner Brust stritten gegensätzliche Gefühle um die Oberhand, und so viele Worte drängten danach, Gehör zu finden - Worte der Angst, des Zorns, des Verlangens und der Vorsicht -, daß er fast an ihnen erstickt wäre und lange schwieg. »Das Verlangen nach Blut läßt sich mit keinem anderen Durst vergleichen«, sagte er schließlich. »Der Mann, der sich in der Wüste verirrt hat, dessen Zunge angeschwollen und dessen Kehle vor Durst ganz rauh ist, und der sich nach dem kleinsten Tropfen Wasser sehnt, um den Schmerz in seinem ausgetrockneten, wie mit Wolle ausgestopften Mund zu lindern -337-
das ist nichts verglichen mit dem Durst, den ich verspüre. Ein Gefangener im Verlies, der tagelang nichts zu essen bekommen hat, wird von seinem leeren Magen gequält; er denkt darüber nach, ob nicht die Ratten, die sein Gefängnis teilen, oder das schmutzige Stroh, auf dem er schläft, oder sogar seine eigenen Glieder als Nahrung dienen könnten - dennoch kann er nicht einmal annähernd erahnen, wie mein Hunger ist. Und wir erwachen jede Nacht so.« Er zeigte auf die Grabsteine. »Wir schleichen uns aus unseren Särgen, unseren Grüften, unseren Höhlen und den Orten, an denen wir uns unter den Toten verbergen, denn wir sind tot und leben doch. Wir stürzen uns aus den Schatten oder locken vertrauensselige Wanderer zu uns, und dann berauben wir sie, doch unsere Beute ist viel kostbarer, als es ein materieller Gegenstand je sein könnte. Wir sind Fremde, doch wir halten unser Opfer fest und vollziehen einen Akt, der viel intimer ist als derjenige, den Liebende miteinander teilen. Wir nehmen ihr Blut und leben davon, Sascha. Kannst du auch nur im Ansatz nachvollziehen, wie furchtbar dieses Tun ist? Und mögen mir alle Götter vergeben, es ist ein wunderbares Erlebnis!« Sascha hörte stumm zu, als Jander zum erstenmal in seiner Existenz einem anderen Wesen von seinen inneren Qualen erzählte, und er war vor Mitleid und Entsetzen wie gelähmt. Die Augen des Elfen hatten einen abwesenden, nach innen gerichteten Blick angenommen, der etwas galt, das der Priester niemals würde sehen können. »Die Braut, die sich ihrem Geliebten zum erstenmal hingibt, erlebt nur einen Schatten unserer Ekstase. Der Künstler, der sein Meisterwerk beendet, verspürt nur einen Hauch unserer Befriedigung. Blut ist Leben, und es gibt nichts Schöneres, als es sich einzuverleiben, fühlen zu können, wie es in einen hineinfließt, so als wäre man ein leeres Gefäß, das endlich gefüllt wird. Es ist ein hohles Entzücken, und das wissen wir wir wissen es genau -, und doch hören wir nicht damit auf. -338-
Dann ist der Augenblick vorüber, und ich sehe auf die schlaffe Gestalt in meinen Armen und verfluche mich. Oh, mein Opfer lebt weiter. Ich beruhige mein Gewissen mit der Tatsache, daß ich nur ein Leben nehme, wenn ich dazu gezwungen werde oder maßlos provoziert worden bin. Doch ich habe dieser Frau Gewalt angetan, und ich schäme mich. Sie hingegen spürt meine Fangzähne, die verlangend in sie eindringen, und der Biß ist glühendheiß und eiskalt zugleich; sie spürt, wie ihr das Blut aus den Adern gesogen wird und es kommt ihr so vor, als würde man ihr das Herz aus dem Leib reißen. Sie ist völlig hilflos, hilfloser als ein gerade auf die Welt gekommenes Kind. Doch es existiert ein höllisches Gleichgewicht. Denn auch wir sind hilflos. Wir brauchen Sterbliche. Wir können den Duft ihres Blutes riechen, so wie das Neugeborene den warmen, milchigen Geruch der Mutter riechen kann. Wir werden von ihnen angezogen wie die Wellen von der Küste, und wie die Wellen können wir uns dessen nicht erwehren. Niemand ist so verflucht wie wir.« Der Elf schwieg, und Sascha dachte, er wäre fertig. Doch Jander sprach weiter, und diesmal war sein Tonfall viel sanfter, und die Wut war traurigem Bedauern gewichen. »Als ich noch geatmet habe, war ich kein böses Wesen. Ich war ein Krieger, der für gerechte und ehrenvolle Sachen eintrat. Die Tiere des Waldes waren nicht über Gebühr erschreckt, wenn sie mich witterten. Alle Männer waren entweder Brüder oder würdige Gegner; ich habe die Frauen verehrt und mit Respekt behandelt. Es ist keine Prahlerei, wenn ich behaupte, daß die Welt sich dort, wo ich Einfluß nahm, zum Besseren veränderte. Nun muß ich ein Leid ertragen, dessen Ausmaß du dir nicht einmal vorstellen kannst. Pferde tragen mich nur, wenn ich es ausdrücklich befehle. Die Tiere des Waldes fliehen entsetzt vor mir. Ich bin von der Gesellschaft anderer ausgeschlossen, abgesehen natürlich von solchen elenden Kerlen wie Strahd, die sich nichts aus mir machen, und aus denen ich mir noch weniger -339-
mache. Die Sonne, nach der meine Familie benannt wurde, bringt mir den Tod. In meiner Welt gibt es nichts Schönes mehr. Ich lebe, von Vernichtung umgeben, in Dunkelheit und verbreite diese Finsternis wie eine Krankheit. Sogar die Erde selbst verabscheut mich. Sieh, was meine Berührung nun anrichtet!« Von neu aufgeflammter Wut erfüllt rammte der Elf die nackten Hände in das Gras neben dem Grab. Sascha vernahm ein leises Knistern. Als Jander die Hände ein paar Sekunden später wieder wegnahm, gab es an dieser Stelle nur noch abgestorbenes, verdorrtes Gras. »Und Anna … oh, Anna!« Jander schluchzte laut auf. »Strahd hat Tatyana vernichtet und wird für alle Zeiten damit fortfahren. Doch ich war es, der Anna das Leben genommen hat. Selbst wenn ich bis zum Ende der Welt dafür mit meinem Schmerz bezahlen müßte, reichte es noch lange nicht aus. Ich habe viele Sünden auf mein Gewissen geladen, Sascha. Ich habe nie etwas anderes behauptet. Doch meine inneren Wunden sind genauso zahlreich. Wirst du mir helfen, Sohn des Zigeuners? Wirst du mir helfen, sie zu rächen und die Seelen und Leben all jener zu retten, die du liebst?« Janders Flehen hätte sogar ein Herz aus Stein erweicht, und Sascha war ein gütiger junger Mann. Er hatte die Hälfte seines Lebens damit verbracht, das Böse zu bekämpfen und durch die Schatten einer nächtlichen Landschaft zu schleichen, in denen die Untoten zu Hause waren. Er trieb ihnen einen Pflock ins Herz und trennte ihnen die Köpfe ab, damit sie nicht auferstehen konnten. Leisls Hilfe machte die Last zwar etwas erträglicher, konnte sie ihm aber nicht abnehmen. Und nun wollte Jander, daß er den mächtigsten Vampir des Landes angriff. Sascha war müde. Hatte er nicht schon genug getan? Würde es denn nie eine Verschnaufpause geben? Würde er denn niemals die Nacht mit seiner geliebten Katya im Arm verbringen können, ohne daß ihn Alpträume heimsuchten? -340-
Rabenhorsts Nächte wurden von Dingen heimgesucht, die die finstersten Alpträume übertrafen. Er konnte nicht davon wissen und trotzdem nichts unternehmen. Er schloß die Augen. »Also gut«, sagte er. »Womit fangen wir an?« Als Sascha zurückkam, wurde er bereits von Leisl erwartet, die mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Bett saß. Sie hielt ihm schweigend einen Becher Wein entgegen, den sie warm gemacht hatte und mit dem er die Kälte des Friedhofs aus den Gliedern vertreiben konnte. Er nahm ihn und trank, ohne ein Wort zu verlieren. »Ich nehme an, du hast den, ah, Elfen gesehen«, sagte Sascha schließlich müde, lehnte sich mit dem Rücken an ein Kissen und rieb sich mit der freien Hand über die Augen. »So sehen die also aus. Ich habe ihn gesehen. Ich habe allerdings auch gesehen, daß er im Mondlicht keinen Schatten warf und ein blutverschmiertes Gesicht hatte.« Sie versuchte, ganz ruhig zu bleiben, doch es gelang ihr nicht. »Sascha Petrovitsch, in was für eine verrückte Verschwörung hast du dich ziehen lassen? Ich hatte es so verstanden, daß wir die verdammten Kreaturen vernichten und nicht mit ihnen auf dein Friedhof plaudern!« Sascha spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, ihr nichts zu erzählen, doch Kleine Füchsin wußte bereits zuviel. Und was noch schlimmer war: sie konnte auf die Idee kommen, ihm auch ohne seine Einwilligung zu »helfen«, und dann konnten die Dinge sehr schnell aus dem Ruder laufen. Er holte tief Luft. »Der Vampir heißt Jander Sonnenstern. Er hat vor vielen Jahren meinem Vater das Leben gerettet. Er ist so eine Art Freund der Familie.« Er lächelte humorlos. »Er wohnt oben im Schloß bei Graf Strahd.« »Oh, das ist ja großartig.« Leisl rümpfte die Nase. »Hin Vampir und ein verrückter Tyrann, der sich als Zauberer betätigt. Du hast nette Freunde, Sascha.« -341-
»Leisl!« Der Priester versuchte, entrüstet dreinzuschauen, doch wie immer brachte ihre Offenheit ihn zum Lachen, und dann konnte er ihr nicht länger böse sein. Er fing an, sich zu entspannen. Wein ist genau das, was ich jetzt brauche, dachte er und nahm noch einen Schluck. Es war schon seltsam, daß Leisl anscheinend immer vor ihm wußte, was er brauchte. »Es ist nicht so, wie es aussieht«, fuhr er fort. »Jander schmiedet eine Verschwörung gegen Strahd. Anscheinend ist der Herr Barovias selbst ein Vampir.« Er behielt ihr Gesicht im Auge, denn er war auf ihre Reaktion gespannt. Sie runzelte die Stirn. »Warum haßt Jander ihn, wenn sie beide Blutsauger sind?« »Macht dir das keine Angst?« »Warum sollte es? Du und ich, wir ziehen fast jede Nacht los, um diese von den Göttern verlassenen Monster aufzuspüren. Mit Vampiren komme ich schon klar.« Ihre Stimme nahm einen harten Beiklang an. »Menschen sind weniger durchschaubar. Wenn du mich fragst, sind das die wahren Ungeheuer.« »Leisl«, sagte er langsam. Sie verkrampfte sich, und ihre haselnußbraunen Augen nahmen einen mißtrauischen Ausdruck an. »Warum bist du zur Diebin geworden?« »Ich möchte darüber nicht sprechen«, sagte sie kurz angebunden, verschränkte die Arme und kniff die Lippen zusammen. Normalerweise hätte Sascha es dabei belassen, doch er mußte wissen, ob er ihr vertrauen konnte. »Sieh mal, deine Vergangenheit ist deine Sache, doch ich werde dich nicht mit auf Schloß Rabenhorst nehmen, wenn ich nicht weiß, was in deinem Kopf vorgeht!« Kleine Füchsin musterte ihn einen Augenblick lang eindringlich. »Also gut«, sagte sie dann, doch in ihrer Stimme schwang eine Spur Feindseligkeit. »Ich werde es dir erzählen. Meine Eltern waren Bauern. Wir haben am Dorfrand gewohnt. Als ich sieben Jahre alt war, entschloß sich ein Rudel Wölfe, -342-
meine Familie zu ihrem Abendessen zu machen. Ich war das jüngste von vier Kindern, und ich hatte mein eigenes Zimmer auf dem Dachboden. Dort befand ich mich in Sicherheit. Da oben bin ich voller Todesangst vier Tage geblieben, bis ich es vor Hunger nicht mehr aushalten konnte. Keiner wollte mich aufnehmen. Ich lebte wochenlang von dem, was ich in den Abfallhaufen fand. Dann sagte dieser alte Mann, er würde mich in seine Familie aufnehmen. Familie, ha! Der Mann hieß Fuchs, und seine Familie bestand aus lauter Waisen, denen er beibrachte, für ihn zu stehlen. Ich war gut«, sagte Leisl leise, und in ihre Stimme schlich sich eine Mischung aus Haß und Stolz. »Ich war sogar so gut darin, daß Fuchs mir hinterher den Namen Kleine Füchsin verlieh und mich dann aus der Gruppe ausstieß. Er meinte, ich wäre soweit, allein für mich sorgen zu können. Ich war dreizehn, Sascha. Gerade dreizehn und voller Angst. Doch ich hatte es geschafft, weil ich immer meinen Rücken im Auge behalten und keinem Menschen vertraut habe. Und das tue ich immer noch nicht.« Sie blickte ihn voller Zuneigung an. »Du bist eine Ausnahme. Dir vertraue ich. Und jetzt weißt du also, daß du mir auch vertrauen kannst.« Sascha vergaß, wie sehr er sich manchmal über diese schmächtige junge Frau ärgerte. Er vergaß, wie schwierig sie sein konnte. Er breitete die Arme aus und umarmte sie kameradschaftlich. Zuerst blieb sie stocksteif, dann entspannte sie sich, und ihre dünnen Arme legten sich um seine Brust und erwiderten die Umarmung. Jander hatte gesagt, daß er in der nächsten Woche zurückkommen würde, um die Ergebnisse ihrer Nachforschungen auszutauschen. Sascha und Leisl machten sich auf die Suche nach Informationen, die ihre Chancen im Kampf gegen Barovias Herrscher verbessern sollten. Sascha vernachlässigte die Pflichten seines Amtes nicht, doch mit den Gedanken war er woanders. Er kniete mehrere Stunden täglich -343-
allein in seinem Zimmer auf dem Teppich und verbrachte die Zeit im Gebet. »Lathander, wir brauchen nun deine Hilfe. Bitte führe uns …« Doch der Fürst des Morgens erschien ihm weder, noch erleuchtete er Sascha mit göttlichen Einsichten. Also wandten sich der Priester und seine Vertraute der wenig umfangreichen Kirchenbibliothek zu. Es war ein kleiner, fensterloser Raum, in dem die Luft nahezu stand. Es roch nach Staub und Moder, und die Bücher waren schon lange nicht mehr von einer menschlichen Hand berührt worden. Nun wurden die paar Dutzend Bände aus den Regalen genommen, in denen sie vor sich hinmoderten, und aufgeschlagen auf dem grob gezimmerten Holztisch ausgebreitet. Leisl nieste und aß weiter von dem Mahl, das Katya für sie zubereitet hatte. Sie spülte den Bissen mit einem Schluck Wein herunter. Sascha stützte die Wange auf einer Hand und blätterte die Seiten um. Das aneinanderreihende Papier verursachte das einzige Geräusch, das in dem stillen Zimmer unnatürlich laut erschien. Leisl rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Zum erstenmal in ihrem Leben wünschte sie sich, lesen zu können. Dann hätte sie dem Priester wenigstens helfen können. »Schon was gefunden?« fragte sie hoffnungsvoll. Sascha seufzte, blätterte den Rest des Buches schnell durch und klappte es dann vorsichtig zu. »Nein. Nichts. Das hier sind hauptsächlich Aufzeichnungen - Auflistungen über Ernten, Geburten, Todesfälle und Vermählungen. Eben solche Dinge. Nichts von Bedeutung.« Er lehnte sich zurück, reckte sich und kippte den Stuhl nach hinten, so daß die beiden Vorderbeine in der Luft hingen. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf, schloß die Augen und ließ seinen Gedanken freie Bahn. Vampire waren Kreaturen des Bösen, doch heutzutage glaubten nur wenige Menschen noch an sie. Sie waren Wesen aus Legenden. Wie sollte man -344-
eine Legende bekämpfen? Leisl starrte den Bücherstapel auf dem Tisch schlechtgelaunt an. Sie schreckte zusammen, als Sascha den Stuhl plötzlich wieder nach vorn kippen ließ. Seine Auge n strahlten. »Pavel Ivanovitsch«, sagte er aufgeregt. »Wer?« »Die alte Geschichte. Du weißt schon, Pavel Ivanovitsch aus Vallaki, der Erbe der Sonne. Hast du diese Geschichte vergessen?« »Ich habe keine Mutter gehabt, die mir Gutenachtgeschichten vorlesen konnte. Hast du das vergessen?« »Oh, Leisl, ich wollte doch nicht …« Er sah so niedergeschlagen aus, daß Leisl bei seiner Entschuldigung wegwerfend abwinkte. »Erzähl mir von diesem Pavel.« »Nun, er war der Erbe der Sonne, dazu geboren, die Finsternis mit einem Stück der Sonne in Schach zu halten, das ihm sein Vater gegeben hatte«, erklärte Sascha. »Doch die Finsternis stahl das Stück und versteckte es im düstersten Teil des Landes. Und in welchem Teil Barovias ist das deiner Meinung nach?« Leisl grinste. »Soll ich darauf wirklich antworten?« Sascha runzelte die Stirn. »Jetzt ist nicht die Zeit, um Witze zu machen, Leisl. Der finsterste Teil von Barovia ist Schloß Rabenhorst, stimmt’s?« »Ich glaube schon.« »Pavel mußte sich auf seiner Suche vielen Wächtern der Finsternis stellen. Der erste - und schlimmste - war ein Nosferatu. Also ein Vampir.« Sascha wurde immer aufgeregter. »Verstehst du nicht? Das ergibt doch einen Sinn! In der Legende heißt es weiter, daß Pavel das Stück der Sonne wieder in seinen Besitz brachte und der Fluch, unter dem das Land litt, aufgehoben wurde. Und Strahd ist mit Sicherheit Barovias -345-
Fluch.« »Sascha, das ist doch bloß ein Märchen.« Leisl war in keiner Weise beeindruckt und schnaubte spöttisch. »Natürlich. Doch auch Märchen enthalten oft ein Körnchen Wahrheit. Es könnte durchaus sein, daß auf Schloß Rabenhorst tatsächlich etwas ist.« »Klar. Ein Haufen Vampire.« Sascha verlor langsam die Geduld. Er sah Leisl böse an und bemühte sich nicht, seinen Unmut zu verbergen. »Es hat dich niemand darum gebeten, bei dieser Sache mitzumachen. Es hat dich niemand darum gebeten, Vampire zu töten. Eigentlich hat dich auch niemand darum gebeten, hier überhaupt etwas zu tun. Warum verschwindest du nicht, wenn du so davon überzeugt bist, daß meine Bemühungen sinnlos sind?« Sie sah ihn unbewegt an, doch er spürte, wie es in ihr tobte. »Ich bin dabei. Du weißt, daß du auf mich zählen kannst.« Was völlig der Wahrheit entsprach, wie Sascha nur zu gut wußte. »Tut mir leid«, murmelte er. »Schon gut.« Leisl schob ein paar der Bücher beiseite, damit sie sich auf den Tisch setzen konnte. »Einmal angenommen, diese Legende entspricht der Wahrheit, und auf Schloß Rabenhorst ist ein Stück der Sonne verborgen, das uns dabei helfen kann, Strahd zu vernichten. Was genau ist ein Stück der Sonne?« Sascha blickte zu Boden. »Das weiß ich nicht.« »Nun, sehr praktisch.« »Leisl, ich tue, was ich kann.« »Ich auch.« Darauf gab er keine Erwiderung, sondern beugte den Kopf wieder über die Bücher. Er seufzte. Hoffentlich war Janders Suche ergiebiger gewesen, sonst würden sie ohne magische Hilfsmittel gegen den -346-
Herrscher der Vampire antreten müssen. Und das war ein furchteinflößender Gedanke, dachte Sascha bitter. Es gab auch keinen Dorfältesten, an den er sich wenden konnte. Martyns Tod hatte ihn zum gelehrtesten Mann von ganz Barovia gemacht. Er spielte mit dem Gedanken, Leisl nach Vallaki zu schicken. Vielleicht gab es dort jemanden, der bereit war, ihnen irgendwelche Informationen zu geben. Das war vermutlich die beste Strategie, obwo hl er nur sehr ungern etwas unternehmen würde, das Zeit kostete oder Aufmerksamkeit erregen würde. Wenn es doch bloß im Dorf jemanden geben würde, der sich in Magie auskannte, oder zumindest … Er lächelte. Oder vielleicht jemanden außerhalb des Dorfes … »Die Zigeuner«, sagte er. Am nächsten Tag war wieder Markttag, und gelegentlich kamen dann Vistani ins Dorf, um zu handeln. Es kostete Sascha und Leisl Zeit und fünfzehn Goldstücke, bis sie einen Mann namens Giacomo, der einen verschlagenen Blick hatte, dazu überreden konnten, ihnen von dem magischen Trank zu verkaufen, der sie sicher durch den Giftnebel bringen würde. Außerdem nötigte er ihnen das Versprechen ab, ihm einen Dienst zu erweisen, sollte er es jemals verlangen. Dafür brachte er sie auf seinem Wagen durch die tödliche Barriere. Der Herbst war unwiderruflich über das Land hereingebrochen, und die Bäume hoben sich als kahle Silhouetten gegen den grauen Himmel ab, der bereits den ersten Schnee trug. Leisl und Sascha saßen dicht aneinandergedrängt, um sich gegenseitig Wärme zu spenden. Kurze Zeit später kam die gefürchtete Nebelwand in Sicht. Sie war ständig in Bewegung, als wäre sie lebendig. »Trinkt jetzt«, befahl ihnen Giacomo, hob eine Flasche an die Lippen und schluckte. Seine beiden Passagiere gehorchten, und der bittere Geschmack ließ sie würgen. -347-
Ein paar Sekunden später befanden sie sich mitten im Nebel. Es roch abgestanden, doch dank des Trankes würden sie überleben. Der Nebel war so dicht, daß er fast eine feste Masse bildete, und er verursachte, gelinde gesagt, ein bedrückendes Gefühl. Leisl und Sascha konnten einander kaum noch erkennen, und der Vistani-Kutscher war völlig verschwunden. Doch Giacomo und seine Pferde setzten die Fahrt fort, und plötzlich lichtete sich der Nebel und blieb hinter ihnen zurück. Die beiden jungen Reisenden atmeten erleichtert auf. Sie fuhren weiter den Weg entlang, bis sie zum Lager der Vistani kamen. Leisl bemerkte einen großen Schwarm kleiner, grauweißer Vögel, der auf den kahlen Ästen hockte. Sie machte Sascha darauf aufmerksam. »Vista cliiri«, erwiderte er. »Sie folgen den Zigeunern. Und zwar - so hat meine Mutter mir erzählt - weil sie die Seelen verstorbener Zigeuner sind.« Sascha hatte trotz seiner Herkunft niemals den Versuch unternommen, dem Zigeunerlager einen Besuch abzustatten oder gar seinen Vater zu finden. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß er heute Petya über den Weg lief, doch dieses Risiko mußte er eingehen. Er hatte sich damit abgefunden, doch sein Herz pochte schmerzhaft im Einklang mit dem Stampfen der Ponyhufe. Der schneidende Wind wechselte die Richtung und trug den Geruch eines Lagerfeuers mit sich. Sie waren fast da. Maruschka starrte in die Kristallkugel; ihre Lippen bewegten sich, ohne einen Ton hervorzubringen, und ihre Augen sahen, was anderen verborgen blieb. Schließlich stieß sie ein gequältes Seufzen aus und bedeckte die glänzende Kugel mit dem roten Samttuch. Sie versuchte, die Tränen fortzublinzeln, die schuld daran waren, daß sie das letzte Bild der Kristallkugel nur verschwommen hatte sehen können. Sie stand auf und ging hinaus in den Herbstmorgen. Die vergangenen vierundzwanzig Sommer hatten bei der -348-
Vistani-Seherin ihre Spuren hinterlassen. An ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag hatte sie die volle Beherrschung über ihr zweites Gesicht erlangt, zwei Jahre, nachdem der goldfarbene Vampirelf ihren Bruder gerettet hatte. Sie ging zum Lagerfeuer und streckte die eiskalten Hände sehnsüchtig der Wärme entgegen. Da stieß sie mit ihrem Neffen Mikhail zusammen und fiel auf das mit Blättern übersäte Gras. »Entschuldige bitte, Tante Ruschka«, bat er und half ihr wieder auf die Füße. Maruschka schaute den Jungen, Petyas Jüngsten, böse an und wurde an all die Jahre erinnert, die ins Land gezogen waren. Mikhail war erst sieben Lenze alt, doch es war offensichtlich, daß er das Talent seines Vaters geerbt hatte, ständig in Schwierigkeiten zu geraten. Petya und seine Frau Ilyana hielten sich in ihrem Vardo auf. Maruschka konnte es ihnen kaum verübeln. Wer würde an so einem kalten Morgen schon freiwillig die Wärme seines Liebsten verlassen? Die Seherin hatte nie geheiratet. Sie war die Anführerin der Sippe geworden und hatte damit die Aufgabe übernommen, für die sie geboren worden war. Eva war vor vier Jahren gestorben, und Maruschka war gut darauf vorbereitete gewesen, den Platz ihrer Großmutter einzunehmen. Sie rieb sich über dem Feuer die Hände. Das Klappern eines Wagens ließ sie aufsehen. Sie zuckte innerlich zusammen, doch ihr dunkles Gesicht blieb völlig unbewegt. In dem Wagen saß ein junger Mann, der das Ebenbild ihres Bruders war. Es war der Mann, den sie früher an diesem Morgen in ihrer Vision gesehen hatte. Der junge Mann war nicht mit dem rotgoldenen Priestergewand bekleidet, das er in der Vision getragen hatte. Statt dessen hatte er sich offensichtlich große Mühe gegeben, sich so unauffällig wie möglich zu kleiden. Er trug die »typische« Tracht seines Volkes, die aus einem Baumwollhemd, einer Schaffellweste und dunklen Kniebundhosen bestand. Er stieg zusammen mit seinen Gefährten, einem knochigen Jungen, -349-
von Giacomos Wagen. Die Seherin wußte bereits, warum sie gekommen waren, und fixierte Petyas Sohn mit einem geheimnisvollen Lächeln. »In deinen Adern fließt unser Blut«, sagte sie ohne Vorwarnung, als Sascha in Hörweite kam. Er blinzelte verblüfft. »Das ist allerdings richtig. Ich bin ein Wanderer aus einem weit entfernten Land …« »Du bist Sascha Petrovitsch, Sohn des Vistani Petyas und der Tochter des Bürgermeisters. Du bist Priester eines Gottes, mit dem mein Volk nichts zu schaffen hat. Warum suchst du meine Hilfe?« Sascha war völlig überrascht. Er hatte Leisl gesagt, daß diese Verkleidung nicht funktionieren würde. Bei ihr war das etwas anderes, sie war an Täuschungen und Verkleidungen gewöhnt … »Vielleicht hätte die junge Dame gern eine Tasse Tee?« schlug Maruschka vor. Sie schwieg einen Augenblick. »Also kommt in meinen Vardo«, sagte sie dann. Sie drehte sich um und ging voran. »Ich gehe davon aus, daß ihr mich bezahlen könnt?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Sascha griff in seinen Beutel und zog als Antwort eine Handvoll Goldstücke hervor, die im winterlichen Tageslicht funkelten. Leisl zuckte zusammen. Sie wußte genau, daß sich nun Köpfe nach ihnen umdrehen würden. »Steck das sofort weg«, zischte sie, »oder man findet uns mit durchschnittenen Kehlen im Wald!« Da merkte sie, wie das auf die Seherin wirken mußte, und sie sah sie zu Tode erschrocken an. Maruschka lächelte. »Kleine, du kennst dich besser in der Welt aus als dein Freund. Priester, am besten hörst du auf sie. Nun kommt.« Im Laufe der Jahre war Maruschkas Vardo im gleichen Maße auffälliger geworden, wie ihr Einfluß innerhalb und außerhalb der Sippe gestiegen war. Die überladenen Schnitzereien waren -350-
frisch gestrichen und vergoldet worden, und das Geschirr ihrer Ponys protzte mit einer Sammlung von Glöckchen und Troddeln, so daß jede Verlegung des Lagers zu einer festlichen Prozession wurde. Drinnen wetteiferten Schatten und Geheimnisse mit grellen Farben. Die Notwendigkeiten bequemen Wohnens - mit Schnitzereien versehe ne Truhen für Maruschkas farbenprächtige Kleider; bunte Decken für ihr Bett und zahllose, mit goldenen Stickereien verzierte Kissen - bildeten einen starken Kontrast zu den geheimnisvolleren Objekten, die ihre Seherfähigkeiten unterstützten. Auf Tischen und in allen möglichen Ecken stapelten sich Bücher. Zu Bündeln zusammengeschnürte Kräuter hingen von der Decke und erfüllten den Wagen mit ihrem seltsamen Duft. Maruschkas Karten waren in weiße Seide eingewickelt, die so alt war, daß man fast hindurchsehen konnte. Sie lagen in einem besonderen Kästchen, das oben auf einem Weihrauchbrenner aus Messing stand. Der wiederum befand sich auf einer schwarzen Tonschale - die dem Wahrsagen diente - und einem großen Brocken Bergkristall, dessen Facetten den Blick in das Herz des Steins lenkten. Daneben brannte eine dicke, weiße Kerze auf einem breiten Ständer, deren Flamme wie ein einzelnes trübes Auge funkelte. In einem großen Käfig döste ein schwarzer Vogel vor sich hin, der die Unruhe ignorierte, die von den Eintretenden verursacht wurde. Während Maruschka die Lampen entzündete, die an dem zentralen Dachbalken des Vardos hingen, schaute sich Sascha um. Es gab alles, was eine Hellseherin für ihr Handwerk brauchte. Doch zugleich spürte er deutlich die Anwesenheit einer großen Macht, und in den Adern des Priesters floß genug vom Blut seines Vaters, um zu erkennen, daß diese Macht sich keineswegs vom Duft der Kräuter oder dem sich auf geheimnisvollen Gegenständen widerspiegelnden Lampenlicht beeinflussen ließ. Er hoffte, daß er das Richtige tat. Maruschka stöberte mit leise raschelnden Röcken in der -351-
Unordnung herum; die vielen Armbänder an ihrem Handgelenk klimperten bei jeder Bewegung melodisch. Sie gab ihren Gästen mit einer abwesenden Bewegung ihrer Hand zu verstehen, daß sie schon einmal auf den Kissen am Boden Platz nehmen sollten, und Leisl und Sascha gehorchten. Da klopfte es an der Tür, und die Besucher zuckten automatisch zusammen. Es war Mikhail, der ihren Tee brachte. Maruschka hielt den Atem an. Sie fand die Ähnlichkeit zwischen den Halbbrüdern offensichtlich, doch keiner der beiden gab zu erkennen, daß er das gleiche empfand. Sie atmete auf. »Nun sagt mir, was ihr wissen wollt«, sagte sie, nachdem sie jedem eine Tasse des aromatischen Tees gereicht hatte. Sascha sah sie ernst an. Der Dampf aus der Tasse fuhr ihm ins Gesicht. »Ich möchte meine Zukunft wissen. Will das nicht jeder?« Maruschka fröstelte und schloß die Augen. Die Vision wird Wirklichkeit, und das schnell… »Trinkt den Tee und gebt mir dann die Tassen«, sagte sie kurzerhand. Sascha und Leisl gehorchten. Die Vistani stellte die leeren Tassen vor sich auf den Boden, schloß die Augen und atmete tief ein. Langsam nahm sie Leisls Tasse und blickte hinein. »Tief in deinem Inneren fürchtest du dich«, murmelte sie. Leisl schnaubte spöttisch, doch Maruschka ignorierte es. »Viele Menschen kennen überhaupt keine Furcht. Doch du fürchtest zwei Dinge: die grauen Sänger der Nacht und den Verlust einer Person, die dir etwas bedeutet. Dein Weg führt dich in die Dunkelheit, und du wirst dich in naher Zukunft beiden Ängsten stellen müssen.« Leisl verbarg ihre Gefühle und ließ sich äußerlich nichts anmerken, obwohl sie innerlich zusammenzuckte. Die grauen Sänger der Nacht waren die Wölfe, die sie haßte und vor denen sie sich tatsächlich fürchtete. Es gab nur eine Person, die ihr etwas bedeutete, und das war Sascha. Nun sagte ihr diese -352-
Zigeunerin, daß sie ihn verlieren würde. Die Diebin mußte für einen Moment die Augen zusammenkneifen, und sie hoffte, daß Sascha es nicht bemerkte. Doch das sollte ihre geringste Sorge sein, denn er starrte die Vistani gebannt an. »Und du, der du Zigeunerblut in dir hast«, fuhr die Seherin leise fort, »hast dir eine Aufgabe gestellt, die zu schwer für dich ist. Du wirst einen großen Verlust erleiden. Es ist nicht eindeutig, in welcher Form das passieren wird - es kann das Ende einer Liebe sein oder der Verlust des Glaubens. Es kann aber auch so etwas sein wie der Verlust einer Person oder eines Gegenstandes. Du suchst das Licht auf den Pfaden der Finsternis. Die Steine …« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Derjenige, der um der Liebe willen allem anderen entsagt hat, hat das Herz aus edlem Stein. Ein Stein wird dir verraten, was du wissen mußt.« »Werden …«, sagte Leisl und schluckte. Sie mußte noch einmal ansetzen. »Werden wir sterben?« Die Zigeunerin schaute auf, und auf ihrem Gesicht breitete sich langsam ein Grinsen aus. »Aber natürlich, Kleine. Alle Dinge müssen sterben. Das heißt« - das Grinsen wurde unsicher - »fast alle Dinge.« Unbehagliches Schweigen breitete sich aus, und Sascha und Leisl starrten gedankenverloren ins Leere. »Wieviel schulden wir dir?« fragte Sascha schließlich. Maruschka wollte den normalen Preis verlangen, überlegte es sich dann plötzlich aber anders. »Es kostet nichts. Ich kenne deinen Vater gut, und es soll mein Geschenk an sein Blut sein.« Sascha wollte protestieren, ließ es dann aber sein. »Wir danken dir, Madame Maruschka.« Die Seherin stand auf, öffnete die Tür und rief etwas in der Sprache der Vistani. »Es ist Zeit, daß ihr geht, meine Kinder. Niemand wird euch etwas antun. Die sichere Fahrt durch den Nebel ist noch ein Geschenk.« -353-
Sascha und Leisl standen auf. »Lebt wohl, Madame«, sagte Sascha zu der Zigeunerin und verbeugte sich tief. Leisl nickte ihr kurz zu und folgte dem Priester. Maruschka schloß hinter ihnen die Tür und ließ sich in die Kissen sinken. Pika krächzte, und sie lächelte den schwarzen Vogel müde an. Sie war stolz darauf, daß es ihr zumindest gelungen war, den beiden die Wahrheit zu enthüllen, selbst wenn … Einen kurzen Augenblick wünschte sie sich von ganzem Herzen, das zweite Gesicht niemals empfangen zu haben. Dann müßte sie nämlich nicht die Entscheidung treffen, vor die man sie nun gestellt hatte. Maruschkas Verantwortung gegenüber ihrer Sippe ging weit über familiäre Pflichten hinaus. Ihre Abstammung verband sie mit allen Vistani und allem, was sie repräsentierten. Ihr Schutz hatte stets Vorrang vor dem Glück Fremder - und sogar vor deren Unversehrtheit. Sie durfte nichts tun, was die Existenz ihrer Sippe in Gefahr brachte. Eva hatte die Dinge noch komplizierter gemacht, indem sie die Vistani in Strahds Ränke verwickelt hatte, und Maruschka wußte ganz genau, daß es Wahnsinn sein würde, den Herrscher von Barovia herauszufordern. Das konnte und würde sie auch nicht tun, nicht einmal um das Leben ihres Bruders oder seines Sohnes willen … ihres Neffen. Und auch nicht um der einzigen Person willen, die in ihr - wenn auch nur für einen kurzen Augenblick - den Gedanken an Liebe geweckt hatte: den Fremden mit der goldfarbenen Haut und der edlen Gestalt. Er hatte einem anderen Geschlecht angehört und, was viel schlimmer war, eine ganz andere Form des Lebens verkörpert. Sie erinnerte sich wütend an die Zukunft, die sie ihm geweissagt hatte. Sie hatte ihm Glück versprochen; ein Glück, das mit der Sonne und einem Kind zu tun hatte. Die Ironie des Ganzen stieg ihr wie bittere Galle in die Kehle. Wie konnte ein Vampir mit Hilfe der Sonne sein Glück finden? Wie sollte ein Untoter ein Kind zeugen? -354-
Maruschka schüttelte traurig den Kopf, in dessen Haar bereits die ersten grauen Strähnen schimmerten. »Ach, Jander«, sagte sie leise, »solltest du dich überhaupt an mich erinnern, wenn das Unheil über dich hereinbricht, dann vergib mir, daß ich eine Mitschuld daran trage.« Jander wußte nicht, wann Strahd zurückkehren würde. Es konnte in fünf Monaten oder in fünf Minuten sein. Also mußte er jeden Augenblick ausnutzen, denn ihm war klar, daß er seine Wut nicht länger würde zügeln können, wenn Strahd wieder da war. Außerdem war es unumgänglich, daß er sich nichts anmerken ließ. Strahds Sklavinnen waren bösartige Kreaturen und bei weitem nicht so klug wie ihr furchtbarer Schöpfer oder der Elf. Doch sie hatten Augen im Kopf und sahen alles. Jander achtete darauf, sich in Gegenwart der anderen Untoten nichts von seinen aufgewühlten Gefühlen anmerken zu lassen - sei es durch Worte, Blicke oder Taten. In Anwesenheit der Zombies oder der Skelette war das unnötig: sie besaßen keinen Verstand. Bei der kleinen, scharfsinnigen Trina war das jedoch eine ganz andere Sache. Als sie ihm zwei Nächte nach seinem Treffen mit Sascha einen Besuch abstattete, spürte sie sofort, daß etwas nicht stimmte. Das entging ihm nicht, und so gab er vor, in das Fresko vertieft zu sein, damit sie wieder ging. »Ich hoffe, es ist mir gelungen, den ursprünglichen Glanz dieses wunderschönen Medaillons mit der Form einer Sonne wiederherzustellen«, sagte er. »Ja, genau das da. Ist es nicht schön? Ich glaube, die Farbe besteht aus einem vermischten Silberton, in dem ein Hauch Weiß…« Es funktionierte. Trina entfuhr ein gelangweilter Seufzer und sie lief die Treppe hinunter. Etwa auf der Hälfte verwandelten sich ihre Schritte in das Tappen weicher Pfoten. Jander lief zum nächsten Fenster und konnte gerade noch sehen, daß sie über -355-
den Schloßhof davonstürmte. Jander legte Pinsel und Farbe beiseite und kehrte eilig in die Bibliothek zurück. Er wußte nicht einmal, wonach er eigentlich suchte - es konnte ein Hinweis oder ein Zauberspruch sein; Hauptsache, es half, die Pest zu vernic hten, die Barovia heimgesucht hatte - Graf Strahd von Zarovitsch. Zwei Dinge waren dem Elfen bei seinen Nachforschungen im Gedächtnis haften geblieben. Da war zum einen das Kapitel in dem Buch über Barovias Heer. Er fand den Absatz wieder und las ihn ein zweites Mal. Der Priester von Barovia, ein junger Mann namens Kir, hatte das Volk zum Gebet versammelt. Es wurde ihm erlaubt, den geheimnisvollen Heiligen Talisman von Rabenhorst gegen den Goblinkönig zum Einsatz zu bringen. Während der Graf seine Männer in der Schlacht zum Sieg führte, wurde zur selben Zeit insgeheim der Heilige Talisman geschaffen. Dann verbarg der Erste Hohe Priester Kir den Talisman an einem geheimen Ort. Niemand weiß, welche Form der Heilige Talisman hat oder wo er verborgen wurde. Bis zum heutigen Tag ist es keinem der nachfolgenden Priester gelungen, sein Versteck zu finden oder seine Macht zu beschwören. Es ist jedoch unbestritten, daß seine mächtige Magie unseren edlen Grafen Strahd bei seinem wohlverdienten Sieg unterstützt hat. »Der Heilige Talisman von Rabenhorst«, wiederholte Jander laut. »Ein Gegenstand, der die Macht des Guten in sich trägt, und keiner weiß, wie das verdammte Ding eigentlich aussieht.« Die Ironie reizte ihn zu einem trockenen Lachen. Dann war da noch die alte Legende über einen unerschrockenen jungen Helden namens Pavel Ivanovich und seine Suche nach einem Stück der Sonne. Jander konnte sich erinnern, daß Sascha in der Nacht, in der Strahd seine Familie abgeschlachtet hatte, Teile der Geschichte vorgelesen hatte. Er unterdrückte die Gewissensbisse, die sogar nach all dieser Zeit -356-
wieder in ihm aufstiegen, und konzentrierte sich auf die Geschichte. Dieser Pavel war in der Lage gewesen, den Nosferatu zu besiegen. Vielleicht steckte in dieser Legende ja ein Körnchen Wahrheit. Eine Woche verging, und Jander verbrachte seine Zeit damit, die Bücher von Strahds riesiger Sammlung in fliegender Hast durchzusehen. Eines Abends spazierte er durch die Schloßkorridore und wartete ungeduldig auf den Einbruch der Nacht. Kurz nach der Abenddämmerung verließ er das Schloß in Wolfsgestalt. Tagsüber war der erste Schnee gefallen, und der Wald funkelte in weißer, geistergleicher Pracht. Die Nacht war klar, der Mond fast voll. Jander lief schnell und mühelos dem Dorf entgegen. Er witterte den heißen Gestank eines gerade getöteten Tiers, und das erinnerte ihn daran, daß auch er seinen Durst stillen mußte, bevor die Nacht zu Ende war. Das Hirschblut vermischte sich mit moschusartigem Wolfsgeruch, und darunter verbarg sich Trinas einzigartiger Duft. Also machte Jander einen Umweg, um sie zu sehen. Sie hielt sich auf einer kleinen Lichtung auf, die ziemlich weit vom Waldrand entfernt lag. Es war ziemlich unwahrscheinlich, daß sie hier von Dorfbewohnern entdeckt werden konnte. Jander fand das sehr umsichtig von ihr, schließlich war sie eine Mischung aus Wolf und Mensch. Sie benutzte die krallenbewehrten Hände gerade dazu, große Stücke aus dem Kadaver herauszureißen. Dabei bespritzte sie den Schnee mit Blut. Der Hirschkadaver dampfte in der kalten Luft. In der Nähe fraßen lautstark einige Wölfe. Jander nahm seine Elfengestalt an, damit er sich mit Trina unterhalten konnte. »Weißt du, wann Strahd zurückkommt?« fragte er. Sie riß ein neues Stück Fleisch aus dem Hirsch, den sie zusammen mit den Wölfen erlegt hatte, und Jander mußte seinen Ekel herunterschlucken. -357-
Trina schüttelte den Wolfsschädel, leckte sich mit der langen, roten Zunge über die Lefzen und schaute ihn aus menschlichen Augen an. »Ich glaube, er ist noch eine Weile fort. Auf den kurzen Reisen darf ich ihn nämlich immer begleiten.« Man konnte verstehen, was sie sagte, doch ihre Stimme war mehrere Oktaven tiefer als gewöhnlich und klang wie ein kehliges Knurren. Sie hielt den Wolfskiefer schief, um besser an das Fleisch zu kommen, und biß hungrig zu. Ein Knochen zersplitterte krachend. Jander wandte sich ab, wurde wieder zum Wolf und lief auf das Dorf zu. Sobald er den Schutz des Waldes verlassen hatte, bewegte er sich vorsichtig weiter, und sein Wolfskörper huschte wie ein Schatten über den Schnee. Am Rand des Friedhofs stand eine kleine Baumgruppe. Er kroch leise in das Unterholz, vergewisserte sich, daß er unbeobachtet war und verwandelte sich wieder in einen Elfen. Dann ging er über den Friedhof auf die Kirche zu. Sascha erwartete ihn schon. Doch der Priester war nicht allein. Eine zweite Gestalt saß eng an ihn gedrängt auf der primitiv zusammengezimmerten Holzbank, die an der Kirchenwand stand. Als der Elf näherkam, standen beide auf. »Ich war eigentlich der Meinung, daß wir nur zu zweit sind«, bemerkte Jander skeptisch. »Das waren wir auch, doch sie ist vertrauenswürdig. Jander Sonnenstern, das ist Leisl, meine … Gefährtin bei der nächtlichen Jagd.« Er verstummte. »Sie weiß über dich Bescheid«, fügte er dann hinzu. Leisl starrte den Elfen ungeniert an. »Ich wußte gar nicht, daß Elfen zum Vampir werden können. Natürlich kenne ich nicht viele Elfen. Oder Vampire.« »Nun kennst du beide«, sagte Jander sarkastisch und verbeugte sich spöttisch. »Leisl, ich würde gern wissen, warum du heute nacht hier bist. Ich weiß, was Sascha antreibt. Doch -358-
was ist mit dir?« »Ich kann doch Sascha nicht ganz allein gegen Strahd antreten lassen, oder?« Jander mußte lächeln. Ihre Antwort schien ihm zu reichen, und er wandte sich wieder an den Priester. »Ich habe auf Schloß Rabenhorst nur wenig herausfinden können, das uns von Nutzen sein könnte, obwohl ich das Gefühl habe, daß irgendwo in der Bibliothek des Grafen die Antworten verborgen sind, die wir brauchen. Es gibt da zwei Dinge, über die wir meiner Meinung nach mehr herausfinden sollten. Weißt du etwas über den Heiligen Talisman von Rabenhorst?« Sascha schüttelte verdutzt den Kopf. »Ich habe nicht sehr viel über Barovias einstige Religionen herausfinden können. In der Kirche war nichts darüber zu finden.« »Das ist sehr seltsam.« »Das fand ich auch. Ich frage mich, ob man die Dokumente absichtlich vernichtet hat.« »Oder man hat sie an einen anderen Ort gebracht. Nun, soviel also dazu.« »Was ist der Heilige Talisman von Rabenhorst?« fragte Leisl, die sich etwas ausgeschlossen fühlte. Der Elf warf Kleine Füchsin einen Blick zu. »Anscheinend ist das ein mächtiger heiliger Gegenstand. Er wurde im Kampf gegen die Goblins eingesetzt, während Strands Heer zur selben Zeit für die Befreiung Barovias kämpfte. Leider hat man das geheimgehalten, und nur die Eingeweihten wußten genau, worum es sich bei diesem Gegenstand handelt«, sagte Jander bedauernd. »Ich vermute, dieses Wissen wurde von Priester zu Priester weitergeben, und irgendwo wurde diese Kette dann unterbrochen. Ich hatte gehofft, daß Sascha mir mehr darüber erzählen könnte, doch leider …« Er zuckte traurig mit den Schultern. -359-
»Worum handelt es sich bei der zweiten Sache?« fragte Sascha. »Du wirst vermutlich glauben, daß ich nach Strohhalmen greife, doch es gibt da eine alte Legende, irgendeinen Unsinn über ein Stück der Sonne und einen jungen Helden.« Jander lächelte. »Manchmal verbirgt sich in den Legenden ein Stück Wahrheit. Die Frage ist nur, wie man es aufdeckt.« Zu seiner Überraschung grinsten Leisl und Sascha sic h an. »Leisl und ich sind zu dem gleichen Schluß gekommen. Diese Legende bildet den einzigen Hinweis, den wir finden konnten. Oh, und dann haben wir ein paar rätselhafte Andeutungen gehört, die uns vielleicht irgendwo hinführen. Vielleicht kannst du ja einen Sinn in ihnen erkennen. ›Derjenige, der um der Liebe willen allem anderen entsagt hat, hat das Herz aus edlem Stein.‹ Sagt dir das was?« Jander runzelte die Stirn. »Nein, eigentlich nicht. Normalerweise ist jemand, der ein Herz aus Stein hat, überhaupt nicht zur Liebe fähig. Und edler Stein? Was soll das sein? Ein Kristall oder ein Juwel? Habt ihr noch ein anderes Rätsel für mich? Ich war einst sehr gut im Rätselraten.« »Also gut, wie steht es hiermit? ›Ein Stein wird dir verraten, was du wissen mußt.‹« »Ich habe Sascha gesagt, daß sich das meiner Meinung nach auf etwas bezieht, das irgendwo in einen Stein eingemeißelt wurde«, meinte Leisl. »Eine Statue, oder eine Inschrift auf einer Wand. Eben diese Art von Dingen. Wie sollte ein Stein einem sonst etwas verraten?« Jander nickte langsam, dann runzelte er die Stirn und schritt auf und ab. Leisls Überlegungen waren durchaus logisch, aber irgendwie wußte er, daß diese Schlußfolgerung falsch war. Er kannte die Antworten oder zumindest ein paar davon; sie lagen ihm fast auf der Zunge. Wenn er sich doch nur konzentrieren könnte … Plötzlich wußte er es. -360-
»Es gibt einen Zauber, der den Stein zum Sprechen bringt«, sagte er. »Kennst du ihn?« Sascha schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, daß das wichtig ist?« »Nun, wir werden sehen. Gibt es in Barovia irgendwelche Steine oder Gebäude, die eventuell Zeuge von Ereignissen geworden sind, und die uns vielleicht helfen könnten?« »Schloß Rabenhorst«, schlug Leisl vor. »Offensichtlich«, erwiderte Sascha, »doch das ist zu gefährlich.« Er betrachtete die kalten grauen, mit Schnee bedeckten Umrisse, die die Stellen markierten, an denen die Toten lagen. »Grabsteine?« Jander schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, daß auf einem Friedhof viel geschehen dürfte, was uns weiterhelfen könnte. Wir wissen, wo sich der Vampir aufhält.« »Der Marktplatz?« meinte Leisl. »Ich wette, es sind schon eine Menge Leute über die Pflastersteine gegangen.« »Da ist zuviel los, sogar in der Nacht«, murmelte Sascha. »Wir können nicht riskieren, daß man uns sieht. Die Kirche ist leider aus Holz.« Jander hatte nur mit einem Ohr zugehört und war weiter auf und ab gegangen, doch nun wandte er sich ihnen zu. »Der Kreis aus Steinen!« rief er aus. »Das ist eindeutig heiliger Boden. Wie lange gibt es den Kreis schon, Sascha?« »Ich weiß nicht. Vermutlich schon Jahrhunderte.« Er grinste. »Jander, das ist es. Das muß es sein!« »Sollen wir uns morgen wieder hier treffen? So habt ihr genug Zeit für eure Vorbereitungen.« »Bleibt uns denn überhaupt noch Zeit?« Jander zuckte mit den Schultern. »Ich kann es wirklich nicht sagen. Strahd könnte noch einen Monat fortbleiben, doch es ist genausogut möglich, daß er sich schon wieder auf dem Schloß befindet.« -361-
»Dann haben wir keine Zeit.« Sascha preßte entschlossen die Lippen aufeinander. »Es handelt sich um eine gute Sache. Lathander wird ihr mit Sicherheit seinen Segen geben und mich mit der Magie versehen, die wir brauchen. Ich gehe zum Altar und bete. Ihr beiden könnt hereinkommen und … oh.« Jander sah ihn traurig an. Sascha verfluchte sich für seine Taktlosigkeit. Natürlich konnte kein Vampir ein Gotteshaus betreten. »Leisl, warum gehst du nicht hinein und wärmst dich auf?« schlug Jander höflich vor. »Wir Untote leiden weniger unter der Kälte als die Sterblichen.« Leisl musterte den Vampir nachdenklich. »Nein, das geht schon in Ordnung. Sascha, es macht uns nichts aus. Ich verspreche dir, daß ich nachkomme, wenn es mir zu kalt wird.« »Na gut, ich weiß aber nicht, wie lange ich brauchen werde.« Sascha blickte von dem Vampirelfen zu der Diebin, und einen ganz kurzen Augenblick lang wurde seine Seele von einer leisen Heiterkeit berührt, und das trotz des Ernstes der Situation. »Seltsame Verbündete«, murmelte er und betrat die Kirche. Der Vampir und die Diebin schwiegen eine Weile. Der Wind wurde heftiger und zerzauste Leisls braunes Haar. Die Kälte ließ sie das Gesicht verziehen, und sie zog den Umhang enger. »Muß praktisch sein, wenn man die Kälte nicht spürt«, bemerkte sie, um die Stille auszufüllen, die zwischen ihnen stand. »Vermutlich«, erwiderte Jander. »Doch wenn ich wieder sterblich sein könnte, würde ich dafür mit Begeisterung nackt durch einen Schneesturm laufen.« Sie wandte sich ihm zu. Ihr Gesicht sah im Mondlicht wie ein weißes Oval aus. »Bist du nicht gern ein Vampir?« Er sah sie entsetzt an. »Nein!« fauchte er gequält. »Wie kommst du denn auf die Idee?« »Ich weiß nicht, ich dachte … Tut mir leid.« Das unbehagliche Schweigen setzte wieder ein. »Warum willst du Strahd vernichten?« -362-
Jander antwortete nicht sofort. »Er hat jemandem weh getan, den ich geliebt habe«, sagte er dann langsam. »Hat er sie getötet?« »Nein. Strahd hat ihr Herz gebrochen und ihren Verstand zerstört. Er hat ihren Verlobten ermordet und sie in den Wahnsinn getrieben.« »O Jander, das tut mir leid«, sagte Leisl ehrlich. »Kein Wunder, daß du dich rächen willst.« »Ich will Vergeltung und meine Geliebte von ihrem Schicksal erlösen.« Er sah Leisl traurig an. »Du mußt wissen, daß sie alle paar Generationen wiedergeboren wird. Und der Graf spürt sie in jeder neuen Inkarnation auf und versucht, sie dazu zu zwingen, sich in ihn zu verlieben.« Die Trauer in seinem Blick verwandelte sich in Haß. »Damit wird Schluß sein.« »Ich verstehe. Die Liebe läßt einen Dinge tun, die man normalerweise nie tun würde.« Der Vampir lächelte, und seine Zähne schimmerten in dem trüben Licht. Merkwürdigerweise jagte dieser Anblick Leisl nun keine Angst mehr ein. »Ich glaube, du verstehst mich wirklich. Weiß Sascha über deine Gefühle Bescheid?« Kleine Füchsin protestierte stammelnd, doch er winkte ab. »Jedesmal, wenn du ihn ansiehst, steht es dir ins Gesicht geschrieben.« Sie wurde rot und schaute weg. »Nein, ich glaube nicht, daß er es weiß. Er ist so sehr in Katya verliebt, daß er mich gar nicht wahrnimmt. Bitte sag es ihm nicht.« »Dein Geheimnis ist bei mir sicher.« Ein drittes Mal trat Schweigen ein, doch diesmal war es eine kameradschaftliche Stille. »Da kommt Sascha«, sagte Jander einen Moment später. Sie standen auf. Der Priester näherte sich mit schnellem, sicherem Schritt. Als er nahe genug herangekommen war, konnten sie sehen, daß er lächelte, und seine Augen strahlten. »Für die Lieblinge -363-
Lathanders werden sogar die Steine sprechen«, sagte er andächtig. »Ich habe, was wir brauchen. Gehen wir?« Die Felsen auf dem Hügel hielten ihre stumme Wache. Seit Jander und Sascha das letzte Mal vor fünfzehn Jahren hier gewesen waren, hatte sich nichts verändert, und die stumme Standhaftigkeit der Felsen verriet, daß es auch nie dazu kommen würde. Der kürzlich gefallene Schnee hatte die Steine mit kleinen weißen Hauben versehen. Die Schneeverwehungen waren noch völlig unberührt; kein Tier und auch keine andere Kreatur hatte sein Zeichen hinterlassen. Sascha und Leisl gingen bis zur Mitte des Kreises und breiteten eine Wolldecke aus. Jander war stehengeblieben. Dem Vampir blieb der Zugang an einen so heiligen Ort verwehrt; er hätte seine ganze Konzentration darauf verwenden müssen, die schützende Barriere gewaltsam zu durchbrechen. Er zog es daher vor, am Rande des Kreises zu warten, statt seine Kräfte derart zu schwächen. Sascha blieb einen Augenblick stehen und gab sich der Macht dieses Ortes hin; er konnte spüren, wie sie in ihn einsickerte. Er schaute in den Himmel, um die Richtung zu bestimmen, und baute dann vor dem größten Felsen einen kleinen Altar auf. Jander sah von seiner Position außerhalb des Kreises aufmerksam zu, während Leisl unruhig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Schließlich setzte sich Sascha auf den Boden und bedeutete Leisl, sich ihm anzuschließen. Dann rückte Lathanders Priester neben anderen sakralen Gegenständen eine mit einer silbernen Flüssigkeit gefüllte Flasche und einen kleinen Klumpen Ton zurecht. Er formte den Ton mit aller Sorgfalt, bis er wie der große Felsen aussah. Sascha stimmte ein leises und beruhigendes Summen an, das in einen Singsang überging. Janders Nackenhaare sträubten sich, als der Zauber zu wirken anfing. Er erkannte einige der Worte, die Sascha benutzte. Wie viele lange Jahre waren vergangen, fragte er sich traurig, seit er -364-
einem Priester beim Gesang heiliger Zaubersprüche zugehört hatte? Sascha schüttete die silbrige Flüssigkeit in den Schnee vor der Nachbildung des großen Felsens; es handelte sich um Quecksilber, wie Jander anhand seiner seltsamen Konsistenz erkannte. Saschas Gesang wurde lauter, dann verstummte er plötzlich. Eine kurze, angespannte Stille folgte, in der das Trio erwartungsvoll schwieg, da keiner wußte, was nun geschehen würde. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, Der große Felsen glühte auf. Janders scharfes Gehör nahm ein leises Summen wahr, das plötzlich anschwoll, als von anderer Seite ähnliche Töne dazukamen. Sie wuchsen schließlich zu einem richtigen Gesang heran, der von einer Vielzahl von Stimmen gebildet wurde, die unmöglich menschlichen Ursprungs sein konnten. Als der Chor immer lauter wurde, sah Jander, daß sich auf den Gesichtern seiner Gefährten Ehrfurcht und Angst abzeichneten, denn auch sie vernahmen das Lied. Hört den Gesang der Steine, der viel zu lange nicht mehr erklungen ist. Zu der Zeiten Beginn waren wir nur Steine, und bewachten in der Tiefe die Schätze der Erde. Die Menschen kamen und brachten die Ernte ein; sie benutzten die Geschenke der Erde zum guten Zweck. Stein und Metall, die Gebeine der Scholle, wurden befreit, und aus ihnen entstanden schöne und durch den Nutzen geheiligte Dinge. Im Mittleren Zeitalter war vergessen, daß wir die Wächter der Reichtümer waren. Man brachte uns an andere Orte und formte uns zu Objekten der Verehrung, und wir wurden zu Wächtern des Menschen Seele. Man traf sich an diesem Ort; Geschehnisse nahmen hier ihren Anfang und auch ihr Ende. Im Späten Zeitalter ist vergessen, daß wir einst heilig waren. Nur wenige kommen in den Zeiten der Finsternis her, um an diesem Ort zu beten. Dies Land wird von der Furcht regiert. -365-
Doch was einst heilig war, kann nicht völlig entweiht werden. Im Späten Zeitalter sind wir der Zufluchtsort der Verlorenen, die keine Zuflucht mehr besitzen, und der Einsamen, die keine Liebe kennen. Wir beschützen sie vor dem Bösen und der Entdeckung. Und das werden wir auch weiterhin tun, bis die Zeit uns zerrieben und der Wind den Staub fortgetragen hat. Fragt uns, was ihr möchtet, und wir werden euch antworten. Sascha leckte über die trockenen Lippen, und als er sprach, bebte seine Stimme. »Ihr Großen Felsen, wir suchen zwei Gegenstände: den Heiligen Talisman von Rabenhorst und etwas, das in den Legenden als ein ›Stück der Sonne‹ bezeichnet wird. Könnt ihr uns darüber Auskunft geben?« Wir haben gesellen, was ihr sucht. Vor dem Dämmern des Späten Zeitalters, mitten in den Neun Nächten der Furcht, wurde an diesem Ort die Große Waffe gesegnet. Ein Diener der Götter hat sie geschaffen und doch wieder nicht Beschaffen. Er brachte sie mit seinem letzten Atemzug her, und wir haben sie mit unserer Macht geweiht. Verloren, verloren ist nun das Stück der Sonne, der Heilige Talisman zum Schutz derer, die vom Raben abstammen!. Es liegt nahe denen, die es beschützen sollte. Mehr können wir euch nicht sagen. Das ist der Gesang der Steine, der viel zu lange nicht mehr erklungen ist. Nun werden wir nicht mehr singen. Der Gesang wurde unverständlich und verhallte dann in der klaren, stillen Luft. Auch das Glühen des Felsens erstarb. Jander verspürte einen seltsamen Frieden, und nach dem beklemmenden Lied klang sogar die Stille der Nacht mißtönend. Sascha blickte verzückt in den Himmel. »Ich danke dir, gesegneter Lathander«, flüsterte er. Sogar die skeptische Leisl war von ungläubigen Staunen erfüllt. -366-
Sie schwiegen einen Augenblick lang respektvoll. »Also ist es ein- und dieselbe Sache«, sagte Leisl schließlich. »Aber wir wissen noch immer nicht, wo der Talisman versteckt ist«, fügte sie mürrisch hinzu. »Doch, das wissen wir«, wurde sie von Jander korrigiert. »Der Heilige Talisman wurde zum Schutz Rabenhorsts angefertigt - also für Strahds Familie. Ihr Wappen ist der Rabe. Also ist er auch auf Schloß Rabenhorst versteckt und liegt bei denen, die er beschützen sollte.« Er wandte sich Sascha zu. »Vielleicht sollten wir dich auf Pavel umtaufen«, sagte er mit einem Kichern. »Bist du bereit, dich in das Land der Finsternis zu wagen?« Sascha erwiderte das Lächeln; die Magie dieses Ortes hielt ihn noch immer in ihrem Bann. »Ich bin dazu bereit, wenn du es bist, Nosferatu.« Sascha stand an Katyas Fenster und blickte in den trügerisch klaren Morgen. Auf der Straße lag Neuschnee, der die Schlaglocher und den Abfall unter sich begrub. Vereinzelt waren Hufabdrucke und Fußstapfen zu sehen; um diese Zeit waren erst wenige Menschen wach und unterwegs. Der Priester seufzte und schloß die Fensterläden. Als er sich umdrehte, blinzelte Katya schläfrig. Sie lächelte und reckte sich gähnend. Ihre Wangen waren noch immer vom Schlaf gerötet. Saschas Herz war plötzlich von einer Liebe erfüllt, die in ihrer Intensität fast schon schmerzhaft war; er ging zu ihr und küßte sie auf die Stirn. »Warum hast du das Ritual der Morgendämmerung nicht vollzogen?« murmelte sie. »Und dein Gewand … Wo ist deine Priesterrobe?« Sascha wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht ab. Katya war so schön, zerbrechlich und sanft. »Ich muß heute etwas -367-
außerordentlich Wichtiges erledigen. Es kann sein, daß ich einige Zeit fortbleibe. Sollte … sollte ich nicht in ein paar Tagen wieder zurück sein, möchte ich, daß du das hier liest.« Er legte einen versiegelten Umschlag auf den Nachttisch. »Ich liebe dich, Katya. Ich werde alles daransetzen, daß ich zu dir zurückkehren kann. Das verspreche ich.« Seine Unruhe ließ sie vollends wach werden. Sie runzelte die Stirn. »Sascha …« Er drehte sich um, bevor ihn der Mut verließ, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. »Sascha!« Er ignorierte den verzweifelten Aufschrei. Er konnte nicht anders handeln, um ihrer aller willen. Als er die Kirche betrat, erwartete Leisl ihn schon ungeduldig. Wie gewöhnlich trug sie Männerkleidung. Ihr mausbraunes Haar war zu festen Zöpfen geflochten, damit es sie nicht behindern konnte. Ihre beiden Pferde standen gesattelt bereit. Sie hatte ihre Ausrüstung gepackt und auf dem Rücken der Tiere festgeschnallt. »Wird auch Zeit, daß du kommst«, meckerte sie und runzelte die Stirn. »Die Sonne steht schon seit einer Stunde am Himmel. Wir verschwenden unsere Zeit.« »Wenn wir streiten, verschwenden wir sie auch«, erwiderte Sascha heftig und schwang sich mühelos auf sein graues Pferd. »Komm schon.« Er drückte die Schenkel zusammen, und das Pferd galoppierte los. Leisl stieg fluchend auf ihren Gaul und schloß sich ihm an. Sie ritten die Kirchstraße entlang und überquerten den Marktplatz. Hier hielten sich wesentlich mehr Menschen auf als in der Umgebung der Kirche oder der Nähe von Katyas Hütte. Sascha war so in seine trübsinnigen Gedanken versunken, daß ihm Leisls Verschwinden zuerst gar nicht auffiel. Erst als er ein paar Augenblicke später den Dorfrand erreichte, drang die hinter ihm herrschende Stille zu ihm durch, und er zügelte sein Pferd. -368-
Zehn Minuten mußte er auf Leisl warten, dann kam sie angetrabt. »Was war los?« wollte er wissen. »Ich war der Meinung, du hättest es so eilig gehabt.« Sie grinste ihn an. »Ich habe nur etwas zu essen besorgt. Könnte ja sein, daß wir hungrig werden.« »Ich will nicht hoffen, daß wir uns dort so lange aufhalten müssen.« »Wenn doch, wirst du mir dankbar sein.« »Ich kenne keinen, der soviel ans Essen denkt wie du.« »Das ist mir zur zweiten Natur geworden, weil ich schon so oft Hunger leiden mußte«, entgegnete sie gereizt. Sascha senkte beschämt den Blick. Dann trieb er sein Pferd wieder an, und sie ritten schweigend weiter. Sascha ging im Geist noch einmal die ihm zur Verfügung stehenden magischen Formeln durch. Lathander war großzü gig gewesen und hatte seinem Priester als Dank für ein paar Stunden innigen Gebets ein paar nützliche Beschwörungen direkt ins Bewußtsein gepflanzt. Was nun die weltlichen Vorbereitungen betraf, trugen Sascha und Leisl eine stattliche Anzahl von Waffen bei sich - gesegnete Amulette, Pflöcke, Hämmer, Weihwasser und Knoblauch. Sie trugen auch ein paar ganz normale Gegenstände aus reinem Silber mit sich, denn Jander hatte sie gewarnt, daß sie mit der Möglichkeit rechnen mußten, in Rabenhorsts Mauern einem Werwolf zu begegnen. Sie ließen die Brücke über den Ivlis hinter sich, und Sascha sah vor ihnen den aus wallendem Nebel bestehenden Ring. Er zügelte das Pferd und nahm den magischen Trank ein. Leisl schloß sich ihm an, und der bittere Geschmack ließ sie beide würgen. Dann machten sie sich auf zur unangenehmen Fahrt durch den bösartigen Nebel und ließen die Pferde in einen langsamen Trab verfallen. -369-
Sie wurden von der kühlen Feuchtigkeit verschluckt, die sowohl Sicht als auch Geräusche abschwächte. Sascha hoffte, daß sich Kleine Füchsin genau hinter ihm befand, doch es gab keine Möglichkeit, sich zu vergewissern. Nach einigen hundert Metern wurde der Nebel dünner und löste sich dann völlig auf. Leisl wartete bereits auf ihn. »Lahme Schnecke«, neckte sie ihn mit einem Grinsen, doch in ihrer Stimme lag echte Zuneigung. Er erwiderte das Lächeln knapp. Der Ritt nach Schloß Rabenhorst nahm mehr Zeit in Anspruch, als sie erwartet hatten, denn die Straße wand sich wie eine Schlange durch die Berge. Plötzlich bog rechts ein Weg ab, und sie überlegten, ob sie ihm folgen sollten, doch das Risiko, sich im Wald zu verirren, war einfach zu groß. Da war es besser, wenn sie der Straße weiter folgten und etwas länger brauchten. Der Weg wurde immer steiler, und die zusätzlichen Anstrengung ließ die Pferde etwas langsamer gehen. Sascha tätschelte den Hals seiner grauen Stute, und sie schnaubte und schwenkte die Ohren in die Richtung ihres Herrn. »Was ist das?« fragte Leisl und zeigte nach links. In der Ferne sah man eine Straße. Obwohl es erst auf den Vormittag zuging, konnte Leisl sich des Eindrucks nicht erwehren, daß von dem großen Tor, das die entfernte Straße verschloß, etwas Bedrohliches ausging. Die Tatsache, daß den riesigen Statuen, die dort Wache hielten, die Köpfe fehlten, verstärkte ihr Unbehagen nur noch. »Das Tor von Barovia«, antwortete Sascha ernst. »Es wird behauptet, daß Strahd es allein mit einem Gedanken öffnen oder schließen kann.« Leisl blickte noch einmal zu dem Tor hinüber und konnte einen Schauder nicht unterdrücken. Auch Sascha wurde nervös, da sie sich ihrem Ziel näherten, und trieb sein Pferd heftiger als nötig an. Die Stute galoppierte los. Ein paar angespannte Augenblicke später sahen sie Schloß -370-
Rabenhorst vor sich aufsteigen. Es hob sich riesig und schwarz von dem klaren Winterhimmel ab und repräsentierte für Sascha alles Böse Barovias. Hier nahmen alle Ängste der Dorfbewohner ihren Anfang. Hier hauste das Ungeheuer, das seine Familie abgeschlachtet hatte, hier residierte der alptraumhafte Beherrscher des La ndes. Und er, Sascha Petrovitsch, betrat es aus freiem Willen. Oberflächlich betrachtet ergab das keinen Sinn, doch er wußte, daß er auf dem richtigen Weg war. Als sie näherkamen, erblickte Sascha die beiden Wachtürme, und einen Augenblick später kam die brüchige Zugbrücke in Sicht, die sich über den tiefen Abgrund erstreckte. Sascha hatte seine Zweifel, ob sie mit den Pferden auf die andere Seite gelangen konnten. »Brr«, murmelte er und zügelte nachdenklich seine Stute. Viele der Brückenbohlen waren verfault, und die großen Ketten und Beschläge sahen sehr alt und rostig aus. »Was machen wir jetzt?« fragte Leisl und hielt ihr Pferd an. Sie blickte zu den beiden Wachtürmen empor. Steinerne Gargyle blickten mit einem bösartigen Grinsen auf die beiden Reisenden hinunter; ansonsten schienen die Türme menschenleer zu sein. Sascha seufzte und stieg vom Pferd. »Es ist zu gefährlich, die Pferde auf die andere Seite zu führen«, erklärte er. »Wir müssen sie hier gehen lassen.« »Sie gehen lassen?« »Wenn wir sie anpflocken, sind sie ein leichtes Opfer für alles, das hier vorbeikommt. Doch wenn wir sie freilassen, besteht die Möglichkeit, daß sie den Weg zurück ins Dorf finden und sich in Sicherheit bringen. Außerdem«, fügte er grimmig hinzu, als er das nächste Bündel vom Pferd nahm, »werden wir in völliger Sicherheit zurückmarschieren können, falls wir Erfolg haben. Und wenn nicht, werden wir wohl kaum noch die Pferde brauchen.« Darauf wußte Leisl nichts zu erwidern, also befreite sie ihr -371-
Pferd von den Satleitaschen. Sascha steckte ihre Ausrüstung in einen Sack und entschied sich zögernd, einige Dinge zurückzulassen. Sie würden ihm nur wenig nutzen, wenn er durch ihr Gewicht zu Tode stürzte. Er erhob sich und musterte die Zugbrücke. Sie wirkte noch genauso trügerisch wie zuvor. Sascha schüttelte den Kopf und warf sich den Sack über die Schulter. »Gehen wir«, sagte er mit einer Zuversicht, die er nicht empfand. »Ich sollte zuerst gehen«, meinte Leisl. »Ich bin leichter als du; außerdem bin ich ziemlich flink. Vielleicht kann ich dir dann auf die andere Seite helfen.« Sascha zögerte. Ihm gefiel die Idee zwar nicht, doch Leisl hatte nicht unrecht. »Also gut. Du zuerst.« Kleine Füchsin wagte sich vorsichtig auf die erste Planke. Das Holz ächzte, gab jedoch nicht nach. Sie schloß die Hand fest um die Kette, die als eine Art Geländer diente, und verlagerte das Gewicht auf die nächste Planke. So tastete sie sich langsam immer weiter vor. Sie blieb möglichst an der Seite, da das Holz hier fester war, und musterte jede Planke genau, bevor sie sie belastete. »Halte dich genau an meine Fußstapfen«, rief sie. Bei Lathanders Pracht, besonders sicher sieht das nicht aus, dachte Sascha. Er nahm den Sack fest in die eine Hand und packte mit der anderen die rostige Kette. Dann setzte er versuchsweise den Fuß auf die Zugbrücke. Als sie sein Gewicht trug, sagte er ein schnelles Dankgebet, das er nach jedem sicheren Schritt wiederholte. Als er aufschaute, hatte Leisl bereits drei Viertel der Distanz hinter sich gebracht. Doch dieser Blick kostete ihn seine Konzentration. Stirnrunzelnd betrachtete er die nächste Planke. Hatte Leisl ihr Gewicht auf diese Stelle gesetzt? Oder war es doch woanders gewesen? Er trat ganz vorsichtig auf. Das Holz zerbarst splitternd unter -372-
seinem Gewicht. Er brach mit dem rechten Bein bis zur Hüfte ein. Mit wild rudernden Armen griff er verzweifelt nach der schwingenden Kette. Der Sack fiel tausend Meter in die Tiefe und landete auf zerklüfteten Felsen. Sascha war gar nicht aufgefallen, daß er aufgeschrien hatte, doch plötzlich war sein Hals ganz rauh, und Leisl befand sich an seiner Seite und hielt ihn. Er fixierte sie mit einem panischen Blick und grub die Finger in ihre sommersprossigen Unterarme. »Komm. Es passiert nichts. Entspann dich«, murmelte die Diebin in einem ruhigen und zuversichtlichen Tonfall. »Halt dich hier an dem Balken fest. Der ist stabil«, sagte sie dann etwas schärfer. Der Priester mußte sich dazu zwingen, den Griff um Leisls Arme zu lösen, doch dann gehorchte er. Sie redete ihm gut zu, bis er wieder sicher auf beiden Füßen stand. Erst da begriff er, daß er den Sack hatte fallen lassen. »Besser den Sack als den Priester verlieren«, sagte Leisl. »Deine Macht ist wichtiger als alle gesegneten Waffen zusammen. Komm schon.« Sascha ging nur zögernd weiter, doch schließlich hatte er es auf die andere Seite geschafft. »Leisl, danke …« »Vergiß es«, erwiderte sie, obwohl sie sich über die Dankbarkeit in seinem Blick freute. Sie tauchten in den finsteren Durchgang ein und kamen auf den gepflasterten Schloßhof. Vor ihnen erhob sich der Eingang zu Schloß Rabenhorst, der mit kunstvollen Schnitzereien verziert war. »Sieh dir nur diese Tür an«, sagte Leisl leise. »So etwas Schönes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.« »Ja, sie ist sehr schön«, mußte Sascha zugeben, als er das Kunstwerk betrachtete, »doch vergiß nicht, was dieses Haus beherbergt.« Er trat vor und griff nach der Klinke. Jander hatte ihm gesagt, daß er sie wegen des Sonnenlichts nicht an der Tür empfangen konnte, doch den Riegel beiseite -373-
schieben würde. Wie versprochen schwang die Tür mühelos auf, und die beiden eilten hinein. Sascha drückte die Tür wieder ins Schloß. Nach dem hellen morgendlichen Sonnenschein war es hier drinnen sehr dunkel. »Ich bin froh, daß ihr sicher angekommen seid«, ertönte Janders melodische Stimme. Er trat vor. Saschas Augen hatten sich ausreichend an das Dämmerlicht angepaßt, und er sah, daß sie sich in einem kleinen Raum aufhielten, in dem ein paar flackernde Fackeln ein düsteres Licht verbreiteten. »Habt ihr Schwierigkeiten gehabt? Ihr kommt spät«, sagte Jander. Sascha sah ihn unglücklich an. »Hast du etwa geglaubt, wir würden nicht kommen?« Der Elf sagte nichts, runzelte aber die Stirn. Sascha ließ den Kopf hängen. »Ich mußte mich von Katya verabschieden.« »Ich habe mir nur Sorgen gemacht«, sagte Jander entschuldigend. »Strahds Spione sind überall.« Leisl hatte sich in der Zwischenzeit leise umgesehen Plötzlich stöhnte sie erschrocken auf. Ihr neugieriger Blick war auf die vier Drachenstatuen gefallen, die auf dem Sims über dem Durchgang hockten. Sie starrten sie mit funkelnden Augen haßerfüllt an. »Die sind nur aus Stein«, versicherte ihr Jander, obwohl auch er sich jedesmal aufs neue von den glänzenden Juwelenaugen verunsichern ließ. »Wie seid ihr bewaffnet?« »Wir haben viel mitgebracht«, antwortete Sascha, »doch ich habe meinen Sack auf der Brücke verloren. Wir werden also mit dem auskommen müssen, was Leisl dabei hat.« Jander lächelte. »Ich habe den Morgen damit verbracht, ein paar Pflöcke zu schnitzen«, sagte er ihnen. »Was ist mit normalen Waffen?« Sascha schüttelte den Kopf. »Ich habe lediglich einen Hammer oder eine Axt, falls ich kämpfen muß. Ich hoffe, es wird nicht dazu kommen. Leisl?« -374-
Die Diebin klopfte grinsend auf ihren Stiefelschaft. Dort steckte ein kleiner Dolch. »Ich habe alles hier, was ich für einen Kampf brauche.« »Dann habe ich ein Geschenk für dich«, sagte Jander. Er überreichte ihr einen kleinen, bösartig aussehenden Dolch. Die Klinge funkelte sogar im Fackelschein, und die Scheide kam Leisl sehr merkwürdig vor. Sie nahm die Waffe neugierig in die Hand. »Jander, das ist ein Ba'al-Verzi-Dolch!« rief Sascha abgestoßen. »Warum gibst du ihr dieses entsetzliche Ding?« Der Elf sah den Priester ausdruckslos an. »Weil die Klinge aus reinem Silber besteht«, antwortete er kühl. »Ich bin auch bewaffnet … nur für den Fall.« Er zeigte auf das kurze Schwert an seiner Seite. »Ist das eine magische Waffe?« fragte Leisl. »Nein«, erwiderte Jander schroff. »Aber sie ist ausreichend. Ich überlasse Sascha die Magie. Doch jetzt habe ich eine Bitte an euch. Was meint ihr, würdet ihr es schaffen, Strahd zu finden, falls er sich im Schloß aufhalten sollte?« Leisl riß die Augen weit auf und öffnete den Mund, doch der Elf schnitt ihr gleich das Wort ab. »Ich sagte, falls. Ich glaube nicht, daß er hier ist, doch es wäre besser, wenn wir uns vergewissern würden.« Sascha schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er bedächtig, »doch ich kann es versuchen.« Er setzte sich auf den Boden, rutschte so lange herum, bis er eine bequeme Position gefunden hatte, und schloß die Augen. Er gab einen leisen Singsang von sich und schwieg dann. Schließlich schlug er die Augen wieder auf und begegnete Janders fragendem Blick. »Ich habe nichts gefunden. Allerdings kann ich nicht sicher sein.« »Ich danke dir für den Versuch. Das muß eben reichen.« -375-
Jander ging zu den Fackeln, die an der grauen Wand hingen, und nahm zwei aus den Halterungen, während Sascha eine geschlossene Öllampe entzündete, die Leisl mitgebracht hatte. »Wir sollten zuerst in die Katakomben hinabsteigen«, sagte der Vampir und reichte Leisl seine Fackel. »Wir müssen die Sklavinnen vor Einbruch der Dunkelheit vernichten. Kommt.« Erging voraus. Leisl und Sascha schlossen sich ihm an. Jander legte ein schnelles Tempo vor, und die beiden Sterblichen mußten sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Leisl war insgeheim froh, daß ihr dadurch erspart blieb, die Dinge um sie herum genau betrachten zu müssen. Schon das, was sie trotzdem noch zu Gesicht bekam, während sie die stillen Korridore im Laufschritt durcheilten, reichte völlig aus, um sie nervös zu machen. Sie sagte sich ununterbrochen, daß die über ihnen lauernden Gargyle lediglich in den Stein gemeißelt worden waren und die schönen, gleichzeitig so kalten Statuen, die sie unterwegs passierten, sie nur in ihrer Vorstellungskraft mit Blicken verfolgten. Die Diebin war keinesfalls feige, doch sie hatte sich noch nie zuvor in einer vergleichbaren Situation befunden. Es war eine Sache, Essen zu stehlen oder einen Gegner im Straßenkampf zu erstechen - oder Vampire unter freiem Himmel zu vernichten. Doch es war ganz etwas anderes, sich innerhalb dieses bedrückenden, aus Stein errichteten Gebäudes mit seinen Schatten und dem alles verzerrenden Fackellicht aufzuhalten, und sie konnte das seltsame, kribbelnde Gefühl einer bösen Vorahnung nicht abschütteln. Sie hielt den Blick stur auf Sascha und den Vampirelfen gerichtet; allerdings horchte sie ständig nach dem leisesten, verräterischsten Geräusch. Auch Sascha irritierte die Dunkelheit des Schloßinneren. Er war an die kleinen Gassen seines Dorfes gewöhnt. Trotz ihres Verfalls hatte auch die Kirche nie dieses erstickende Gefühl ausgestrahlt, von dem Strahds Schloß erfüllt war, und das Bürgermeisterhaus war, verglichen mit der weitläufigen, wenn -376-
auch verfallenden Erhabenheit Schloß Rabenhorsts ein gemütliches Häuschen gewesen. Eins stach dem Priester jedoch besonders ins Auge, als die drei Gefährten entschlossen durch die dunklen Korridore eilten. Jander paßte nicht an diesen Ort. Der Vampir bot ein farbenprächtiges Bild - goldfarbene Haut, blaues Gewand, rote Kniebundhosen -, das einen scharfen Gegensatz zur Monotonie der grauen Wände bot. Sascha mußte an ihre früheren Begegnungen denken. Der Elf schien sich im Wald eher zu Hause gefühlt zu haben - und wenn er es recht bedachte, sogar vor der Kirche. Und da fielen Sascha plötzlich wieder Janders leidenschaftliche Worte über das elende Leben eines Vampirs ein. Er erkannte nun, wie bitter dieses Schicksal für den Elfen sein mußte. Er war für grüne Wälder und goldenes Sonnenlicht bestimmt gewesen und nicht für diese finstere, schattenhafte Existenz als lebender Toter. Sie blieben schließlich vor einer großen Doppeltür stehen, die mit ebenso aufwendigen Verzierungen wie der Eingang versehen war. »Das ist die Kapelle«, erklärte Jander. »Ich muß euch warnen. Strahd hat viele Diener. Bei den meisten handelt es sich um hirnlose Wesen, die den Befehl erhalten haben, mir nichts anzutun. Das gilt auch für Personen in meiner Begleitung. Ich glaube nicht, daß wir auf etwas Gefährlicheres als einen Knochenmann oder einen Zombie stoßen werden.« Er dachte kurz nach. »Zumindest nicht bei Tage«, berichtigte er sich dann und öffnete die Tür. Im selben Moment vernahm er das leise Klappern, das er erwartet hatte. Das Skelett, das die Tür zur Kapelle bewachte, wollte den Eindringlingen den Eingang verwehren, wie es das sicher schon Tausende von Malen zuvor bei anderen Gelegenheiten getan hatte. Es schlurfte in den auseinanderfallenden Lederstiefeln, die jeden seiner Schritte behinderten, auf den Vampir und dessen sterbliche Begleiter zu. Jander betrachtete diesen ewigen Wächter fast schon als alten -377-
Bekannten; auf jeden Fall fühlte er sich durch seine bloße Anwesenheit schon lange nicht mehr bedroht. In den Versuchen des Knochenmannes, sie von der Kapelle fernzuhalten, lag keine echte Gefahr. Dann trat der skelettierte Wächter beiseite, als wolle er Janders Behauptung bestätigen, und das funkelnde Medaillon um seinen Hals schwang sanft mit seinen Bewegungen mit. Jander eilte an ihm vorbei. Leisl und Sascha folgten ihm, jedoch nicht, ohne einen besorgten Blick über die Schulter zu werfen. Als Sascha die zerstörten Kirchenbänke sah, betrauerte er schweigend die Verwüstung des Ortes. »Da wären wir«, sagte Jander, als sie eine Nische betraten. Vor ihnen befand sich der offenstehende Eingang zu einer Wendeltreppe. Ein kühler Luftstrom wehte ihnen entgegen - er roch modrig, als wäre er dort jahrhundertelang eingekerkert gewesen. »Wir folgen diesem Weg bis in die Katakomben. Leisl, mach bit te deine Fackel aus. Wir sollten sie nach Möglichkeit schonen. Ich weiß nicht, wie lange das hier dauern wird.« Zuerst sagte keiner der drei Gefährten ein Wort, während sie immer tiefer in das mit Spinnweben behangene Herz des Schlosses vorstießen. Mit jedem zurückgelegten Schritt wurde es kälter, und Leisl und Sascha fingen zu zittern an. Leisl lauschte dem widerhallenden Klacken, das ihre Füße auf den Steintreppen hervorriefen. »He«, flüsterte sie plötzlich. Ihre Stimme schien unglaublich laut zu sein. »Was?« zischte Sascha zurück, der ein kleines Stück vor ihr ging. »Jander, hast du diese Treppe schon einmal benutzt?« Der Elf blieb stehen und schaute zu ihr hoch. Das Licht der Fackel in seiner Hand warf flackernde Schatten auf sein scharfgeschnittenes Gesicht. »Nein, aber ich weiß, wo sie -378-
hinführt.« »Woher willst du dann wissen, ob es hier nicht irgendeine Gefahr gibt?« Nachdenkliches Schweigen breitete sich aus. Jander konnte nicht sagen, ob Strahd diese Treppe durch eine wie auch immer geartete Falle gesichert hatte. Sie bot sich durchaus dazu an, und es würde dem Grafen ähnlich sehen. Jander grinste schief. »Ich weiß es nicht, Leisl. Da hast du eine überlegenswerte Sache angesprochen. Hast du Lust, die Spitze zu übernehmen und jede mögliche Falle auszulö sen?« »Und ob ich das - he!« Leisl sah Jander böse an, als sie seinen finsteren Scherz begriff. Sascha prustete zu seiner eigenen Überraschung plötzlich los, und sogar Kleine Füchsin fing an zu kichern, obwohl sie den Kopf in vorgetäuschter Verzweiflung schüttelte. Der Elf grinste sie vergnügt an, und das Fackellicht verlieh seiner goldfarbenen Haut fast einen metallischen Schimmer. Plötzlich erkannte Leisl, daß sie begann, den Vampir zu mögen, so seltsam das auch war. »Mal im Ernst«, sagte sie, »wenn du möchtest, daß ich erkunde, ob …« »Nein«, erwiderte Jander. »Ich bleibe vorn. Falls es hier Fallen geben sollte, würden sie für euch eine größere Gefahr bedeuten als für mich.« Er drehte sich um und ging weiter. »Das ist nur einer der Vorzüge, wenn man tot ist«, fügte er düster hinzu. Als sie schließlich den Fuß der Treppe erreicht hatten, konnte keiner von ihnen auch annähernd sagen, wieviel Zeit vergangen war, doch Janders Fackel war fast völlig niedergebrannt. Er nahm Leisls Fackel und entzündete sie an der ersterbenden Flamme. Dann betraten sie die Katakomben. »Seht die Halle der Toten«, verkündete Jander grimmig. Er legte Sascha eine Hand auf die Schulter. »Das ist kein Ort für die Zaghaften.« Sascha sah entschlossen zu ihm auf. Der lange Abstieg hatte -379-
ihm die Zeit verschafft, die er brauchte, um sich zu beruhigen und seine Entschlußkraft zu stärken. In ihm brannte ein Feuer, das seine Wangen zum Glühen brachte. Jander kannte diesen Ausdruck; vor langer, langer Zeit hatte auch in ihm dieses Feuer gebrannt. »Ich habe keine Angst«, erwiderte der Priester ganz ruhig. »Wo ruhen die Vampire?« Jander hätte fast aufgelacht. »Überall«, sagte er tonlos. »Jeder der hier befindlichen Särge könnte eine von Strahds Sklavinnen beherbergen.« Sascha konnte es nicht vermeiden. Er zuckte zusammen und schloß die Augen. »Wir sind zu dritt, und draußen ist heller Tag«, rief ihm Jander ins Gedächtnis. Sie traten vor den ersten Sarkophag. »Seht sie euch an«, sagte Leisl schaudernd und schaute zur dunklen Decke empor. Sascha folgte ihrem Blick, und sogar er mußte schlucken. Die Decke dieses feuchten Ortes war mit Hunderten, vielleicht sogar mit Tausenden von Fledermäusen bedeckt. Und obwohl der Priester genau wußte, daß die Tiere harmlos waren, spürte er Panik in sich aufsteigen, als sie sich bewegten und umherflatterten. »Wir sollten anfangen«, sagte Jander. Sascha und Leisl holten ihr Handwerkszeug hervor. Währenddessen packte der Vampir den gewaltigen Steindeckel des ersten Sarkophags, hob ihn mit einer unbedeutenden Kraftanstrengung an und schaute hinein. Ein mit den verrotteten Überresten eines Prunkgewandes bedecktes Skelett schlief ungestört vom Untod seinen ewigen Schlaf. Jander spürte, wie seine Anspannung wuchs. Er ging zum nächsten Sarkophag. Vor ein paar hundert Jahren hätte sich der unschuldige junge Elf, der Jander damals gewesen war, niemals vorstellen können, daß eine so furchtbare Sache wie der Tod zur Routine werden könnte. Die Dinge ändern sich, dachte er morbide, als er die um sich schlagende Vampirin festhielt, damit Sascha ihr einen -380-
Pflock ins Herz treiben konnte. Bis jetzt hatten sie zwanzig dieser »Morde« verübt, hatten zwanzig dieser wunderschönen, tödlichen und bösen Kreaturen vernichtet, deren Lippen die Farbe des Blutes hatten, das aus ihren durchbohrten Herze n emporschoß. Jander mußte während ihrer Arbeit an Dolchtal denken. Und für einen kurzen Augenblick war er wieder ein Sterblicher, der einen gallebitteren Geschmack im Mund hatte, während er gemeinsam mit Gideon die unheiligen Wesen aufspürte und vernichtete - genau, wie er es jetzt mit Sascha an der Seite tat. Der Tod sollte niemals zur Routine werden, nicht einmal der Tod eines Vampirs. Der Vampirelf, die drahtige kleine Diebin und der Priester mit dem Zigeunerblut in den Adern hatten ein System ausgearbeitet. Jander entfernte mit seiner überlegenen Kraft die Steindeckel. Dann hielt er die Vampirinnen fest, während Sascha ihre Herzen mit einem angespitzten Pflock durchbohrte. Leisl blieb die unangenehme, jedoch ungefährlichere Aufgabe, die Köpfe abzutrenne n und den Mund mit Knoblauch zu füllen, während Jander und Sascha zum nächsten Sarkophag gingen. »Meine Hände werden für die nächsten zehn Jahre nach Knoblauch stinken«, murmelte Leisl, als sie noch eine Knoblauchknolle in den aufklaffenden Mund der Vampir in zwängte, die sie gerade enthauptet hatte. Die Konzentration auf diese abscheuliche Arbeit linderte die Beklemmung, die sie verspürte, konnte sie jedoch nicht völlig vertreiben. Sie hatte noch immer den Eindruck, als stünden sie irgendwie unter Beobachtung, und hin und wieder blickte sie sich unvermittelt um. »Du wirst bloß nervös, Mädchen«, sagte sie sich. »So etwas schadet dir in deinem Beruf. Beruhige dich.« Sie beendete ihre Aufgabe und holte ihre Gefährten ein. Die standen vor dem letzten Sarkophag, und als Leisl näher trat, erbebte die dort drinnen verborgene Höllenkreatur und starb. Ihr Gesicht wurde ganz bleich und ruhig, als ihre Seele dem ewigen -381-
Frieden entgegenschwebte. Sascha und Jander traten zurück, und Leisl trennte mit ein paar schnellen, heftigen Schlägen den Kopf vorn Rumpf und vollendete das schreckliche Ritual. Saschas Hemd war schweißdurchtränkt, und er keuchte. Ein roter Tropfen floß einer blutigen Träne gleich seine Wange hinunter. Ohne nachzudenken, streckte Jander die Hand aus, um sie fortzuwischen. Sascha zuckte zurück; er machte einen nervösen Eindruck »Tut mir leid. Du hast mich erschreckt.« Der Elf nickte, als würde er das glauben, doch er erkannte die Wahrheit mit müder Resignation. Sascha vertraute ihm noch immer nicht ganz. Jander konnte es dem Jungen nicht einmal verdenken, trotzdem war es traurig. Er sah sich um. Die geisterhaften Umrisse der Steinsärge ragten schlafenden Ungeheuern gleich in die Höhe. Der Fackelschein verzerrte ihre Umrisse, und sie schienen sich zu bewegen. Dieser Ort hätte weniger mutige Menschen als Sascha und Leisl vermutlich schon lange in den Wahnsinn getrieben. »Wir haben hier ein gutes Werk verrichtet«, sagte Jander. »Und wir haben die meisten unserer Feinde vernichtet. Jetzt müssen wir Strahds Ruheplatz finden und ihn weihen, damit ihm sein Zufluchtsort verwehrt ist.« Sascha nickte langsam. Die anstrengende Arbeit hatte ihn erschöpft. Er streckte die verkrampften Hände. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Jander vorgeschlagen, daß sich der Priester einen Moment ausruhte. Doch die Zeit arbeitete gegen sie. Jander war sich nicht sicher, wo Strahds Ruheplatz war, konnte es sich allerdings mit ziemlicher Sicherheit denken. Sie hatten jeden Sarkophag im Hauptteil der Katakomben kontrolliert. An den Seiten gab es noch ein paar Nischen, die zweifellos für die näheren Angehörigen der gräflichen Familie bereitgestanden hatten. -382-
Die erste dieser Kammern gehörte Strahds Eltern; dem stolzen Barov und der edlen Ravenovia. Ein paar Stufen führten in den kleinen, friedvollen Raum. Die beiden Sarkophage erschienen mit Sorgfalt versiegelt und ungeöffnet zu sein. Jander ging weiter; er verzichtete darauf, die Ruhe der Edelleute zu stören. Sie waren gestorben, bevor Strahd den bösen Pakt mit der Finsternis geschlossen hatte, deshalb war es ziemlich wahrscheinlich, daß Barov und Ravenovia sich eines normalen Todseins erfreuten. Die zweite Kammer war für Sturm und Gisella von Zarovitsch vorgesehen gewesen, wie die Inschrift über dem Eingang verriet. Sturm war Strahds zweiter Bruder gewesen, wie sich Jander erinnerte. Doch die Kammer stand völlig leer; es gab nicht einmal Sarkophage. Anscheinend hatte der glückliche Sturm das Ende seines prosaischen Lebens weit entfernt von Schloß Rabenhorst und seinem teuflischen Bewohner erlebt. Auch die dritte Totenkammer war leer; allerdings waren hier Vorbereitungen getroffen worden. Ein geöffneter Sarkophag trug den Namen »Sergej von Zarovitsch«. Jander schüttelte traurig den Kopf. Strahd hatte sich nach der Ermordung seines jüngsten Bruders nicht einmal die Mühe gemacht, seine Leiche zu bestatten. Zweifellos hatte der unglückliche junge Mann am Ort seines Todes verwesen können, während Strahd seinen bösartigen Gelüsten nachging. Beim Anblick des zweiten Sarkophages mußte der Elf gequält die Augen schließen. Wären die Dinge ihrem natürlichen Lauf gefolgt, hätte dieses Grab die Aufschrift »Tatyana Federovna von Zarovitsch« getragen. Anna würde niemals an so einem Ort ruhen. Ihr Leichnam war in einem Irrenhaus zu Asche verbrannt und in alle Winde verstreut worden. Und Tatyana war dazu verdammt, immer wieder nach Barovia zurückzukehren … Eine sanfte Berührung am Arm brachte den Elfen in die Gegenwart zurück. Sascha schaute besorgt zu ihm auf. »Hier gibt es nichts für uns zu tun«, sagte Jander mit bebender Stimme. -383-
Die letzte Kammer mußte Strahd gehören. Genau wie bei Barovs und Ravenovias Gruft führten ein paar Stufen in den fünfzehn Meter langen Raum. Die drei Gefährten konnten vom Eingang den Sarg des Grafen sehen. Es schien nichts zu geben, das ihnen den Eintritt streitig machen könnte. »Wir sollten hier große Vorsicht walten lassen«, sagte der Elf leise zu Sascha. »Es sieht zu einfach aus.« Dann begab sich Jander langsam und vorsichtig in die Gruft Strahds von Zarovitsch. Ein Zischen füllte die Luft. In den Wänden verborgene Bögen schossen ihre Pfeile ab, die sich in Janders Körper bohrten. Einen Herzschlag später hatte sich Leisl mit gezogenem Dolch an die Wand gedrückt, während Sascha sein Medaillon umklammerte. »Jander!« schrie der Priester. Ein Dutzend Pfeile ragten aus dem Körper des Elfen - wie Nadeln aus einem Nadelkissen. Jander zog gelassen einen nach dem anderen aus dem Körper, der nicht blutete. Er schien nicht einmal verletzt zu sein. »Es ist alles in Ordnung«, versicherte er dem Priester. »Wie schon gesagt, es hat seine Vorteile, wenn man tot ist.« Leisl schüttelte den Kopf. Sie lächelte zaghaft. Als Jander alle Pfeile entfernt hatte, schritt er die letzten Stufen allein hinab. Nichts geschah. Er schaute sich um. Seiner Nachtsicht blieben die warmen, roten Schatten nicht verborgen, die in den Ecken des Raumes lauerten. Bevor er Sascha und Leisl zurufen konnte, stehenzubleiben, traten die Wölfe in den schwachen Lichtschein ihrer Fackeln. Es handelte sich etwa um ein Dutzend der riesigen Bestien, und sie näherten sich furchteinflößend langsam. Ihr Fell sträubte sich im Nacken, und sie hatten die Ohren eng angelegt. Aus jeder Ecke ertönte ein tiefes Knurren, und Sascha und Leisl -384-
konnten nun das Aufblitzen scharfer, weißer Reißzähne und das rote Funkeln haßerfüllter Augen sehen. In der Luft lag der moschusartige Gestank ihres Fells. »Oh, ihr Götter, helft mir«, flüsterte Leisl, und eine kalte Faust preßte ihr die Eingeweide zusammen. Die grauen Sänger der Nacht. Ohne nachzudenken, trat sie nä her an Sascha heran. Jander verfluchte sich. Diese Bestien waren Strahds Kreaturen, doch er mußte den Versuch unternehmen, sie auf seine Seite zu ziehen, bevor er mit dem Schwert auf sie einschlug. Er sandte einen geistigen Befehl aus. Ruhig, meine alten Freunde. Wir hegen keine bösen Absichten. Ihr wollt uns nichts antun … Die Wölfe schlichen heran, bereit, ihre Feinde zu töten. Janders behandschuhte Finger tasteten nach dem Schwert. Nein. Laßt uns in Ruhe. Die Befehle eures Herrn beziehen sich nicht auf uns! Eine Wölfin blieb stehen. Ihre Ohren zuckten, und sie legte den Kopf schief. Der Elf blieb angespannt an Ort und Stelle stehen und hoffte gegen alle Wahrscheinlichkeit, daß sich sein Wille gegen die Macht durchsetzen würde, die Strahd über die Wölfe hatte. Ein zweiter Wolf schien verwirrt zu sein und setzte sich jaulend. Geht. Ihr habt gut gewacht. Nun ist es an der Zeit, zu gehen … Ein drittes Tier entspannte sich, dann ein viertes. Ein riesiger Wolf nach dem anderen hörte auf, die drei Eindringlinge zu bedrohen. Das Weibchen lief plötzlich die Stufen hoch, und der Rest schloß sich ihr an, bis alle ihre Wachposten verlassen hatten. Der Vampir schloß die Augen. Sascha und Leisl starrten ihn ungläubig an. »Auf diese Art habe ich einst deinem Vater das Leben gerettet«, sagte Jander zu dem jungen Mann, und Sascha mußte lächeln, als er sich daran erinnerte, wie ihm seine Mutter die -385-
Geschichte erzählt hatte. »Das ist wirklich ermutigend«, fuhr Jander fort. »Ich war fest davon überzeugt, daß die Wölfe völlig unter Strahds Kontrolle stehen. Daß ich es geschafft habe, sie auf meine Seite zu bringen bedeutet, daß der Graf nicht so mächtig ist, wie er mich hat glauben machen wollen.« Leisl holte tief Luft und zwang sich, die verkrampften Schultern zu entspannen. Als sie den geschlossenen Sarg erreichten, erwartete Jander den nächsten Angriff, doch nichts geschah. Sascha holte die Gegenstände hervor, die sie für die bevorstehende Aufgabe brauchten: sein Lathander-Medaillon, eine Phiole mit Weihwasser und ein paar besondere Kräuter, die Lathanders Segen empfangen hatten. »Glaubst du, er ist da drin?« flüsterte Leisl. Jander schüttelte den Kopf. »Nein.« Er öffnete den Sarg und starrte auf den Inhalt. Er hatte Unrecht gehabt. Strahd lag mit geschlossenen Augen auf dem weißen Satin, und seine hageren Gesichtszüge waren bleich und wächsern. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet und schien in Frieden zu ruhen. Der Herr von Rabenhorst sah wie ein Toter aus - was er ja auch war. »Ich danke dem Fürsten des Morgens, daß noch immer Tag ist«, murmelte der Priester. Jander nickte und schob Strahds Hände zur Seite, damit Sascha das angespitzte Ende seines Pflocks auf das Herz des Grafen richten konnte. Der Priester sprach ein schnelles Gebet und hob den Hammer. Jetzt haben wir dich, du Bastard, dachte Jander in einem plötzlichen Ausbruch selbstzufriedenen Hasses. Da schossen bleiche Hände in die Höhe und legten sich um Saschas Hals. Im nächsten Augenblick fuhr der Graf mit einem -386-
tierähnlichen Aufschrei in die Höhe. Der Priester ließ sein Werkzeug fallen und riß die Hände hoch, um den würgenden Griff zu brechen. Er zuckte zurück, doch die Bewegung führte lediglich dazu, daß er zusammen mit dem Grafen auf den Boden stürzte. Jander stieß ebenfalls einen Schrei aus, stürzte sich auf den Grafen und versetzte Strahd einen gewaltigen Schlag. Der Griff des Grafen löste sich, und der Priester konnte sich losreißen. Er rollte hustend und um Luft ringend zur Seite. Jander warf sich mit aller Kraft auf Strahd und drückte ihn zu Boden, Strands Augen blitzten rot auf, und seine Reißzähne schnappten einen Zentimeter an Janders Gesicht vorbei. Der Elf mußte Leisl nichts zurufen. Sie war bereits zur Stelle und hämmerte mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, einen Pfahl in Strahds schwarzes Herz. Er drang tief ein, und Strahd schrie qualvoll auf. Leisl schlug erneut zu, und der Pfahl bohrte sich noch tiefer in die Brust. Strahds kostbares, weißes Hemd war plötzlich blutgetränkt, Er bäumte sich noch einmal mit aller Kraft auf und erschlaffte dann. Jander ließ zu, daß er über der Leiche seines Feindes zusammenbrach. Es war so schnell vorbei gewesen. Irgendwie hatte er erwartet, daß sich der verschlagene Herr Rabenhorsts viel stärker zur Wehr setzen würde. Zu seiner Überraschung fühlte sich Jander auf seltsame Weise unbefriedigt. Jemand berührte sanft seine Schulter. »Jander«, sagte Leisl leise. »Ich glaube, das solltest du dir lieber ansehen.« Der Elf hob müde den Kopf. Leisl, die noch immer von der eben erfolgten Anstrengung zitterte, zeigte auf die Leiche des Grafen. Jander stützte sich auf die Arme und sah sich den unter ihm liegenden Leichnam genau an. Auf dem Steinboden lag eine wohlgeformte Vampirin mit einem Pflock im Herzen. »Sei verdammt, Strahd«, flüsterte Jander und schloß die Augen als er sich von der Leiche rollte. »Ich hätte es erkennen müssen.« -387-
»Eine Täuschung?« fragte Sascha hustend. Er rieb sich noch immer den wunden Hals. Jander nickte unglücklich. Sascha respektierte das Schweigen seines Kameraden und machte sich daran, den Sarg unbrauchbar zu machen. Leisl enthauptete inzwischen die Leiche. Der Priester salbte das mit Satin ausgelegte Sarginnere mit gesegnetem Öl und sagte dabei ein leises Gebet. Dann tränkte er den Sarg förmlich mit Weihwasser. Er seufzte. »Es ist vollbracht«, sagte er. »Und was jetzt?« Der Vampirelf schüttelte seine Lethargie ab. »Jetzt machen wir uns auf die Suche nach dem Stück der Sonne.« Was nun folgte, gehörte zu den enttäuschendsten, angespanntesten und unter dem Strich erbärmlichsten Stunden, die sie je im Leben erlebt hatten. Janders erster Gedanke war gewesen, daß es Sascha gelingen würde, das Versteck des Heiligen Talismans auf magische Weise aufzuspüren, doch das erwies sich als ein vergebliches Unterfangen. Also blieb ihnen nur noch eine Möglichkeit, und Jander teilte sie seinen Gefährten zögernd mit: sie mußten das Schloß durchsuchen. »Das ganze verdammte Schloß?« stöhnte Leisl ungläubig. Jander nickte, und sie begannen mit ihrer Suche, obwohl die vor ihnen liegende Aufgabe von vornherein fast unmöglich zu bewältigen schien. Sie verließen die unheilvollen Katakomben durch die fast noch schrecklicheren Kerker. »Ein paar der einstigen Gefangenen haben Schätze in den Zellen zurückgelassen«, erklärte Jander. »Wir können genauso gut hier mit der Suche anfangen.« Er mußte an den ersten Besuch denken, den er diesem Ort abgestattet hatte, und daran, wie sehr ihn das mitleidserregende Stöhnen und Wimmern mitgenommen hatte. Jetzt war hier kaum etwas zu hören. Strahds Sklavinnen waren hungrig und -388-
ungeduldig gewesen, und die »Speisekammer« war fast leer. Der Elf öffnete die Zellen mit dem Schlüssel, der an einem Haken außerhalb des Hauptkerkers hing, und durchsuchte sie mit Leisls Hilfe schnell, aber gründlich. Sascha sah mit wachsendem Entsetzen zu. »Das läßt dich alles völlig unberührt, was?« fragte der Priester mit einer Spur von Verachtung. «Nein, ganz im Gegenteil«, antwortete Jander und kramte in einer verrotteten Kiste voller Goldstücke herum. Er sah keinen Sinn darin, wütend zu werden. »Und das gilt vor allem für das, was sich in der letzten Zelle befindet.« Das machte Sascha neugierig; er ging zu der Zelle und blickte hinein. Ein kleiner Junge lag zusammengerollt auf einem verfaulenden Strohhaufen. »Weck ihn nicht«, flüsterte Jander dem Priester ins Ohr. »Die Götter wissen, daß er sich von diesem schrecklichen Ort ausruhen muß.« »Warum hast du ihn nicht gehen lassen?« flüsterte Sascha wütend. »Weil nicht ich es bin, der hier befiehlt. Das ist Strahd. Ich tue was ich kann, wenn ich es kann. Es ist nie genug. Ich habe in der Vergangenheit Gefangene freigelassen, doch er sorgt immer wieder für Nachschub.« Der Vampir fauchte. »Wir müssen erst den Herrn von Schloß Rabenhorst vernichten, dann können wir auch seine Gefangenen freilassen. Vorher nicht. Komm.« »Aber …« »Sascha«, sagte Leisl scharf, »laß ihn in Ruhe. Erledigen wir das, weswegen wir hergekommen sind, danach können wir die Welt retten, in Ordnung?« Sascha wirbelte mit einer wütenden Erwiderung auf den Lippen herum, doch als er seine beiden Gefährten ansah schluckte er sie herunter. Leisl hatte recht. Auch den Elfen schmerzte, was er hier sah, aber er hatte einen Plan, mit dem sie alles erreichen konnten, was sie sich vorgenommen hatten. Es -389-
machte keinen Sinn, diesen Plan nun zu gefährden. Sascha warf einen letzt en, gequälten Blick auf das schlafende Kind und folgte dann dem Vampir. Leisl bildete den Abschluß. Sie wurde noch immer von ihren Vorahnungen geplagt. Als die drei Gefährten die Folterkammer betraten, hätte sich Sascha beinahe übergeben, als ihm der Verwesungsgestank in die Nase stieg, doch ihr untoter Führer führte sie mit sicherem Schritt an den Folterinstrumenten vorbei auf den Balkon zu. Sascha sah sich mit aufgerissenen Augen um. Er konnte sich nicht von dem gräßlichen Anblick losreißen, den die Zombies, die mit langsamen Bewegungen ihren Tod immer wieder aufs neue darstellten, und die grinsenden Skelette boten, die die Instrumente des Schmerzes streichelten. Jemand stieß ihn sanft an, und er drehte sich um. »Sieh nicht hin«, sagte Leisl leise. »Geh einfach weiter.« Sascha gehorchte in einem Zustand ungläubigen Entsetzens. Jander blieb stehen und schaute zu dem Balkon hinauf, der sich drei Meter über ihnen befand. »Legt eure Arme um meinen Hals und haltet euch fest.« Sie gehorchten verblüfft und klammerten sich an ihn. »Gut festhalten«, befahl der Elf. Er suchte sich einen sicheren Stand, ging in die Hocke und sprang mit einer plötzlichen Kraftanstrengung auf den Balkon. Schließlich näherten sich die drei Gefährten wieder der Kapelle. Sie waren unterwegs mehrmals stehengeblieben, um die verschiedenen Räume und Nischen zu durchsuchen, jedoch ohne Glück. Als sie endlich die Kapelle erreicht und dem Wächterskelett eine sanfte Abfuhr erteilt hatten, stürzte sich jeder von ihnen mit neuer Kraft auf den Raum, denn das schwindende Licht draußen verriet ihnen, daß sich die Abenddämmerung näherte. »Ein heiliger Talisman befindet sich bestimmt an einem heiligen Ort«, sagte Sascha laut und hoffnungsvoll. Doch wieder verlief ihre Suche erfolglos. Mittlerweile waren -390-
Sascha und Leisl erschöpft, sogar bei dem Vampir machte sich die Anspannung bemerkbar. Der junge Priester füllte seine Öllampe nach, entzündete sie wieder, streckte sich dann auf einer Kirchenbank aus und rieb sich die Augen. Leisl kramte in ihrem Sack herum und holte ein Stück Brot hervor. Sie schaute sich ständig um, als würde ihr dieser Ort Unbehagen einflößen. »Also, wie geht es nun weiter?« fragte sie mit vollem Mund. Jander gab keine Antwort; ihr Mißerfolg machte ihm schwer zu schaffen. Er zog Bilanz. Die hilflosen Gefangenen, die sich hauptsächlich aus Kindern zusammensetzten, schmachteten noch immer im Kerker. Anna war nicht gerächt worden. Strahd würde irgendwann zurückkehren. Sein tollkühner Vorstoß gegen den adligen Vampir hatte nichts gebracht, sah man einmal von der Vernichtung von einigen Sklavinnen und Ruhestätten ab. Jander fluchte leise. Leisls Frage hallte noch immer in seinem Kopf nach. Wie sollte es denn nun weitergehen? Er wußte es nicht. Das vertraute, leise Geklapper ertönte, das das Eintreffen des knochigen Kapellenwächters signalisierte. War es Zeit, die Kapelle abzuschließen? fragte sich Jander morbide. Müde und entmutigt drehte er sich zu dem Wächter um. Und sah etwas, das ihn aufspringen ließ. Er hatte dieses melancholische Skelett schon Tausende von Malen gesehen. Er konnte vermutlich sogar jede noch so kleine Einzelheit über diesen wandelnden Knochenhaufen herunterbeten. Trotzdem war ihm die ganze Zeit über das Wesentliche entgangen, das sich Jahrzehnte deutlich sichtbar vor seinen Augen befunden hatte. Um die Schultern des Wächters hingen die Überreste eines Gewandes; falls er einst einen Gürtel getragen hatte, war er schon vor langer Zeit abgefallen. Und um den Hals hing noch immer der Anhänger, der sich dort schon vor Jahrhunderten befunden hatte. Er war aus Platin geschmiedet und hatte die Form einer -391-
Sonne; in seiner Mitte war ein Quarzkristall eingelassen worden. Das Medaillon schwang bei jeder Bewegung des Skeletts mit, stieß mit einem dumpfen Laut gegen die Rippen und fing das Flackern des Fackellichts ein. Plötzlich fielen Jander wieder die Bücher in der Bibliothek ein, deren Deckel mit der gleichen strahlenden Sonne versehen worden waren. Er dachte an das Fresko und die Inschrift, die er wieder sichtbar gemacht hatte: DER GOBLINKÖNIG FLIEHT VOR DER MACHT DES HEILIGEN TALISMAN VON RABENHORST. Alle Teile des Bildes paßten plötzlich zusammen - Strands vernichtende Bemerkung in seinem Tagebuch über Sergejs bevorstehende Priesterschaft: … die Kirchenoberen haben ihm gestattet, das Priester-Medaillon zu tragen, ein wirklich hübsches Spielzeug, dem Sergej ein starkes Gefühl entgegenbringt - vielleicht sogar ein zu starkes; die kopflose Statue in der Halle der Helden, um deren Hals man das gleiche Medaillon eingemeißelt hatte; das Porträt der drei Brüder, von denen der jüngste eben dieses Medaillon um den Hals trug; Strahds Aufschrei, als er sich über den Bruder beugte, den er ermordet hatte: Du solltest doch Priester werden. »Derjenige, der um der Liebe willen allem anderen entsagt hat, hat das Herz aus edlem Stein«, zitierte Jander leise. Die Wahrheit erfüllte ihn wie der strahlendste Sonnenschein; der Quarz in der Mitte des Medaillons war das Stück der Sonne, und das vor ihm stehende Skelett war alles, was von dem edlen und liebevollen Sergej übriggeblieben war. »Jander?« rief Sascha verwirrt. Der Elf explodierte förmlich. Mit einem Aufschrei warf er sich auf das Skelett, griff mit bloßen Händen nach den vertrockneten Knochen und warf mit ihnen wie ein Verrückter um sich. Rippen landeten klappernd auf dem Boden. Armknochen flogen in die Ecke. Der Schädel prallte auf den -392-
Steinboden und zerschellte in tausend Stücke. Jander hatte mit seinem gewalttätigen Angriff die gefangene Seele befreit. In gewisser Weise waren Sergej und er miteinander verwandt; der Vampir mußte einfach jeden ins Herz schließen, der Tatyana - Anna - so sehr geliebt hatte. Seine Raserei hörte so abrupt auf, wie sie begonnen hatte, und er blickte auf die Knochen, die nun verstreut auf dem Kapellenboden lagen. Er wußte ge nau, daß derjenige, der in der Halle der Helden als nächster vor der Statue des Jünglings von Zarovitsch verweilen würde, nur noch eine ganz normale Statue vorfinden würde - und sonst nichts. Sergej hatte endlich seinen Frieden gefunden, und er hatte hinterlassen, wonach Jander gesucht hatte - eine Möglichkeit, mit der beide an dem Ungeheuer Vergeltung üben konnten, das die Frau, die sie beide geliebt hatten, in Tod und Wahnsinn getrieben hatte. »Da!« krächzte Jander und zeigte mit einem zitternden Finger auf das Medaillon, das funkelnd auf dem Boden lag. »Das ist es. Das ist das Stück der Sonne.« Auch Saschas Hand zitterte, als er das Medaillon staunend vom Boden aufhob. Es lag angenehm auf seiner Handfläche, und das kalte Metall erwärmte sich durch seine Berührung. Leisl schaute Sascha über die Schulter, als er mit dem Finger über die Runen strich, die in das Platin eingeritzt waren. Ein paar waren ihm bekannt: Wahrheit. Mitleid. Vergebung. Gerechtigkeit. Recht … Der Heilige Talisman von Rabenhorst verkörperte anscheinend tatsächlich ein Stück der Sonne. Es war der schönste Gegenstand, den Sascha je gesehen hatte. »Mann, dafür würde man aber eine ordentliche Stange Geld bekommen«, meinte Leisl, doch in ihrer Stimme lag eine gedämpfte Ehrfurcht. Sascha lächelte und wandte sich mit Tränen in den Augen an den Vampir. Er wußte, wie sehr der Elf die Schönheit liebte, und verspürte plötzlich das heftige -393-
Verlangen, das Wunder, das der Heilige Talisman darstellte, mit dieser gequälten Seele zu teilen. »Oh, Jander, faß ihn an. Du mußt ihn anfassen.« Auch der Elf konnte sich dem Zauber dieses Talismans nicht entziehen. Wie von einem Magnet angezogen, streckte er die behandschuhten Finger aus, um ihn zu berühren und riß sie sofort zurück und preßte sie an die Brust. Die Stelle, mit der er ihn berührt hatte, war verkohlt und qualmte. Er stöhnte gequält auf. »Oh, Jander, es tut mir leid, es tut mir so leid! Ich wollte nur die Freude mit dir teilen«, sagte Sascha zerknirscht. »Es ist schon in Ordnung«, stieß Jander hervor. »Offensichtlich ist er nicht für meinesgleichen gemacht.« Er wollte lächeln, nur der Schmerz verzerrte das Lächeln in eine Grimasse. »Nun hast du gesehen, warum ich wollte, daß du mir hilfst, Sascha. Wenn schon eine leichte Berührung ausreicht, um mir das anzutun, was wird der Talisman erst ausrichten, wenn du Strahd mit ihm konfrontierst?« »Das Herz aus Stein«, flüsterte Sascha. Sein Blick wurde magisch von dem Kristall in der Mitte des Talisman angezogen. »Genau, wie Maruschka es vorhergesagt hat.« Jander hob den Kopf. »Maruschka?« Sascha nickte, doch er war so in die Schönheit des Talismans vertieft, daß ihm die Aufregung in Janders sonst so melodischer Stimme gar nicht weiter auffiel. Leisl sah den Vampir jedoch stirnrunzelnd an. »Leisl und ich sind zu den Vistani gegangen, um uns die Zukunft vorhersagen zu lassen«, erklärte Sascha. »Alle Hinweise stammen von ihr.« »Wann habt ihr sie getroffen?« Jetzt erwiderte Sascha den Blick des Vampirs, und die Angst, die er dort sah, verunsicherte ihn. »Ein paar Woche n, nachdem du mich gebeten hattest, bei Strahds Vernichtung zu helfen. Was war daran denn verkehrt? Ich weiß, daß die Zigeuner meistens -394-
die reinen Betrüger sind, doch diese Frau …« Jander war aufgesprungen und blickte sich um. »Kommt«, drängte er sie. »Wir müssen hier heraus.« Leisl brauchte keine weitere Aufmunterung; sie war sofort zum Aufbruch bereit. Sie hatte die ganze Zeit recht gehabt. Hier ging tatsächlich etwas nicht mit rechten Dingen zu. »Was ist denn los?« »Sascha, du bist ein Narr!" rief Jander. »Die Zigeuner sind Strands Spione! Wenn du dich mit Maruschka getroffen hast und sie alle diese Dinge erzählt hat, weiß sie, daß wir hier sind. Und das bedeutet …« »Strahd weiß, daß wir hier sind«, vollendete Leisl den Satz mit wachsendem Entsetzen. Jander konnte im flackernden Fackelschein sehen, wie Sascha leichenblaß wurde. Schlagartig erloschen sowohl Fackel als auch Öllampe. Ein kalter Luftzug kam aus dem Nichts und fuhr durch die Kapelle. Er war so mächtig, daß die drei Gefährten beinahe von den Füßen gerissen worden wären Jander konnte trotz seiner Nachtsicht nicht mehr sehen als Leisl oder Sascha, doch er spürte, wie dieser einst heilige Ort von etwas Bösartigem heimgesucht wurde. Ein leises, zufriedenes Lachen erklang das zu einem Kreischen voll böser Schadenfreude anschwoll. Dieser unsägliche Ton, der sich im Einklang mit dem Fauchen des Windstoßes befand, wurde vom haarsträubenden Heulen jagender Wölfe untermalt. »Zu spät«, erklang eine honigsüße Stimme. Strahd war da. Die Wölfe stürmten heran, wie sie es eine Generation zuvor im Dorf schon einmal getan hatten. Sie drangen in die Kapelle ein; sie kamen aus allen Richtungen: aus dem Korridor, den Nischen und der Tür zum Garten. Einige sprangen sogar durch -395-
die bunten Glasfenster, die in regenbogenfarbige Splitter zerbarsten. Jander sandte einen geistigen Befehl aus, um das halbe Dutzend Bestien zu stoppen. Sie ignorierten seinen Befehl einfach. Dem Elfen gelang es nicht einmal, das Bewußtsein der Wölfe wahrzunehmen. »Mit diesem Trick habt Ihr mich schon einmal gedemütigt«, sagte Strahd triumphierend. »Doch diesmal nicht.« Sascha faßte sich als erster. Er sang mit klarer und beherrschter Stimme, der dennoch seine Furcht anzuhören war, eine Beschwörung und zog mit dem Weihwasser einen Kreis um sich und Leisl. Die angreifenden Wölfe wollten sich auf sie stürzen, kamen aber vor dem magischen Kreis, den der Priester geschaffen hatte, abrupt zum Halt. Knurrend machten sie ihrem Zorn Luft. Jander hatte Strahd entdeckt. Er saß auf einem Thronsessel auf dem fü nfzehn Meter über ihnen befindlichen Balkon, eine dunkle, schattenhafte Gestalt mit einer weißen Fläche als Gesicht. Dann erhob sich der Graf und trat an den Balkonrand. Der Elf verspürte in diesem Augenblick das heftige Verlangen, hinaufzuspringen und mit bloßen Händen und Reißzähnen gegen seinen Feind anzugehen. Doch er wußte genau, daß der Graf ihn kurzerhand vernichten würde, falls er auch nur ein Glied rühren sollte. Das geschah eben mit Lehrern, deren Schüler ausgelernt hatten. Jander nahm die ganze Geduld eines fünfhundertjährigen Daseins als Untoter zusammen und blieb reglos stehen. Er wartete, bis er sicher war, Strahds ungeteilte Aufmerksamkeit zu besitzen. Dann lächelte er langsam und zerstob urplötzlich zu feinem Nebel, der sich augenblicklich so weit zerstreute, daß er fast unsichtbar war. Zwar verfügte er in diesem Zustand über keine physischen Organe mehr, doch er konnte genau »hören« und »sehen«, was nun geschah. Der völlig überraschte Graf lehnte sich wutentbrannt über den Balkonrand. -396-
»Jander! So leicht entkommt Ihr mir nicht!« brüllte Strahd mit rotglühenden Augen. Doch dann änderte sich sein Verhalten, und er war wieder völlig gelassen. Er wandte seine Aufmerksamkeit Sascha und Leisl zu, die darauf achteten, den Schutz des Kreises nicht zu verlassen. Die Wölfe, die man um ihre Beute betrogen hatte, schlichen knurrend und verwirrt um die magische Barriere herum. »Sascha Petrovitsch, Priester des Lathander«, sagte der Graf fast im Konversationston. »Du bist wirklich ein tapferer Priester, daß du dich so ohne weiteres in die Höhle der Vampire begibst. Du bist sogar so mutig, daß du dich mit einem Blutsauger angefreundet hast. Leider waren deine Anstrengungen umsonst! Du und deine diebische Freundin, ihr werdet einen sinnlosen Tod sterben. Jander hat euch im Stich gelassen. Ihr habt ja gesehen, wie er beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten reagiert hat.« Sascha wollte es nicht glauben, doch es hatte allen Anschein, daß es stimmte. Er hielt den Heiligen Talisman fest in der einen Hand und zog Leisl, die bei dem Anblick der grauen Sänger vor Angst zitterte, mit der anderen Hand näher heran, um sie besser schützen zu können. »Das mag stimmen oder auch nicht«, sagte er entschlossen, »doch Ihr bleibt mein Feind, Graf Strahd. Ich werde mich für die Ermordung meiner Familie rächen!« Er machte Anstalten, das Medaillon hochzuheben, doch der Vampir war verschwunden. Sascha zögerte verwirrt. Einen Augenblick später materialisierte sich Strahd direkt am Rand des magischen Kreises. Er lächelte triumphierend, denn in den kalten, mit scharfen Nägeln versehenen Händen hielt er eine vor Angst wie gelähmte junge Frau. Sascha keuchte entsetzt auf. Die sonst so sanften Augen der Frau waren vor Furcht weit aufgerissen. »Katya!« flüsterte der Priester fassungslos. Der nur wenige Meter entfernt schwebende Nebel nahm den Anblick mit gleichermaßen großem Entsetzen auf. Katya? Saschas Verlobte war niemand anderes als Trina, -397-
die werwölfische Spionin des Grafen! Jander wollte sofort wieder Gestalt annehmen, denn er wußte genau, was der junge Priester jetzt tun würde und wollte ihn davor warnen. Doch er widerstand dem Impuls. In diesem Spiel würde nur Geduld zum Sieg führen - sonst nichts. Doch bei den Göttern, es war so schwer, einfach dazustehen und zusehen zu müssen, wie Strahd mit seinen Freunden spielte, als stände er vor dem FalkenundHasen-Spielbrett … Sascha konnte den Grafen nur anstarren. Er stand wie gelähmt da, und seine Gesichtszüge spiegelten eine unaussprechliche Qual wider. Er hatte bis jetzt in dem sicheren Bewußtsein gekämpft, das Recht und die Allmacht seines Gottes auf seiner Seite zu wissen. Nun sank er zusammen, besiegt vor der eigentlichen Schlacht. »Tut ihr nicht weh«, murmelte er. »Bitte, egal, was Ihr auch mit mir machen wollt, tut ihr nichts an.« »Das liegt allein in deiner Hand, Sascha Petrovitsch. Wirf das Amulett weg, und sie wird leben«, sagte Strahd und schnurrte wie eine Katze. »Erhebe auch nur den Finger gegen mich, und sie wird auf der Stelle sterben.« Der Herrscher der Vampire strich Katrinas dunkles Haar mit einer sinnlichen Zärtlichkeit beiseite und entblößte ihren weißen Hals. Er enthüllte die Fangzähne und näherte sich mit ihnen der pulsierenden Schlagader. »Sascha, nicht, er wird uns alle töten«, flüsterte Leisl. Strahd verharrte und fixierte sie mit seinem durchdringenden, roten Blick. »Sei still, Diebin«, befahl er. Leisl, die gerade noch etwas hatte sagen wollen, verstummte. Ihr Mißtrauen war wie weggeflogen. Der Vampir hielt den Blick weiter auf sie gerichtet, und Leisl spürte ganz deutlich, wie sich ihr Wille langsam zersetzte. »Also gut«, sagte Sascha hilflos. »Um der Götter willen, laßt -398-
sie in Ruhe. Sie hat keiner Seele etwas zuleide getan.« Die bittere, böse Ironie dieser Worte ließ Jander in Gedanken aufstöhnen. Geduld, rief er sich ins Gedächtnis zurück. Der Heilige Talisman von Rabenhorst löste sich aus Saschas kraftlosem Griff und fiel auf den Steinboden. »Ausgezeichnet, Sascha. Ich bin froh, daß du vernünftig bist. Nun sei bitte so gut und schieb ihn aus dem Kreis zu mir hinüber«, befahl Strahd. Als sich der wie gelähmt dastehende Priester nicht rührte, riß der Vampir hart an Katrinas Arm. Sie spielte ihre Rolle perfekt und stöhnte vor Schmerz auf vielleicht hatte Strahd ihr auch tatsächlich weh getan. Jetzt kam Bewegung in Sascha, und er trat den wunderschönen Talisman hastig aus dem Kreis. Er rutschte mit einem schabenden Geräusch über den Boden. »Vielen lieben Dank. Für alles. Das ist mein Ernst. Weißt du, ich habe zugelassen, daß du diesen billigen Tand findest, weil ich ihn für meine Zwecke brauche. Wenn er sich in meinem Besitz befindet, kann ich ihn sicher verwahren, nicht wahr?« Janders »Sehkraft« ließ langsam nach. Er hatte nie zuvor so lange in seiner Nebelgestalt verweilt. Gewöhnlich benutzte er sie nur einen kurzen Augenb lick - um einer Gefangennahme zu entgehen oder unter einer Tür durchzudringen. Er wußte nicht, wie lange er diesen Zustand noch erhalten konnte. Er ließ sich langsam auf den magischen Kreis zutreiben. »Ich habe immer von dem berühmten Heiligen Talisman gewußt«, fuhr Strahd fort, »doch ich wußte nicht genau, welche Form dieses verfluchte Ding besitzt. Der Erste Hohe Priester Kir starb, bevor er Sergej in das Geheimnis einweihen konnte. Ich muß gestehen, ich hatte keine Ahnung, daß mein geliebter Bruder den ehrfurchtseinflößenden Heiligen Talisman als Medaillon um den Hals trug. Ich habe die Priester überschätzt. Ich habe angenommen, sie würden ihn besser schützen. Doch dank eurer Hilfe, meine lieben Freunde« - er verbeugte sich -399-
höhnisch vor Sascha und Leisl - »ist dieser närrische Klunker nun in meiner Hand. Heb ihn auf, meine Liebe«, befahl er Katrina. Katrina ließ die vorgetäuschte, naive Verletzlichkeit wie eine Maske fallen, als würde sie ein Kostüm ausziehen und in die Ecke werfen. Ihr munteres Lachen hallte durch die Kapelle, als sie die Arme um Strahds Hals warf und seine blasse Wange küßte. »Oh, Ihr seid ja so klug!« Sie eilte mit der Ausgelassenheit eines Kindes auf den Heiligen Talisman zu und hob ihn vom Boden auf. Sascha starrte sie an; der lähmende Schrecken, der sein Bewußtsein fest im Griff hielt, lockerte sich ein bißchen, um Platz für neues Entsetzen zu schaffen. »Katya, nein!« Ihr Lächeln wurde breiter und nahm etwas Raubtierhaftes an. »Jetzt begreifst du, Liebling. Oh, du warst so leicht zu betrügen!« Doch Sascha erholte sich überraschend schnell von dem Schock dieses Verrats, und diese Täuschung brachte sein Vistaniblut zum Kochen. Er runzelte die Stirn, und in seinem Inneren braute sich ein Sturm zusammen, der jedem Zigeuner zur Ehre gereicht hätte. Mit einem wütenden Aufschrei griff er nach der roten Holzscheibe, die Lathanders Macht symbolisierte. »Närrischer Priester!« brüllte Strahd. »Du wagst es, mich in meinem Haus zu bedrohen! Du willst einfach das Land vernichten?« Plötzlich ertönte vo r Saschas und Leisls Füßen ein zischendes Geräusch. Kleine Dampfwolken stiegen hoch, als das kreisförmig verschüttete Weihwasser verdunstete. Die Scheibe, die Sascha gepackt hielt, explodierte in einem Feuerball, und er schrie vor Schmerz auf. Die sieben Wölfe schlichen aufgeregt umher. »Nein, setzt euch und haltet Wache«, befahl ihnen Strahd zu Saschas Glück. »Paßt auf, daß der Priester genau -400-
sieht, was mit seiner Freundin passiert. Zumindest eine Weile lang.« Der Vampir wandte sich an Katrina. »Du kannst ihn haben, wenn du fertig bist.« Katrina, die noch immer den Talisman hielt, sah Sascha an. Langsam breitete sich ein Grinsen auf ihrem hübschen, wilden Gesicht aus. »Komm, Sascha, mein Liebling. Küß mich. Möchtest du mich nicht küssen?« Katrina warf den Kopf zurück und stieß ein Heulen aus, wie es keine menschliche Kehle hervorbringen konnte. Ihre Haut schlug Wellen, als dicke Haare sprossen. »Katya!« Sascha konnte die Wirklichkeit dieses Alptraums kaum glauben, der sich da vor ihm enthüllte. Katrinas Auge n hatten sich nicht verändert, doch Mund und Nase wuchsen in einer grotesken Parodie einer Wolfsschnauze in die Länge. Graue Haare schossen aus ihrem Gesicht. Leisl tat nichts. Sie starrte den Vampir noch immer gebannt an. »Komm, meine Liebe«, lockte Strahd sie mit seiner einschmeichelnden Stimme. »Komm zu mir.« Kleine Füchsin ging langsam auf Strahd zu. »Da du für den Tod meiner Sklavinnen verantwortlich bist, ist es nur gerecht, wenn du meine erste neue Sklavin wirst, hm?« »Nein!« schrie Sascha, dessen Aufmerksamkeit für einen kurzen Augenblick von dem erschreckenden Anblick abgelenkt wurde, wie sich Katrina nur ein paar Schritte von ihm entfernt die Lefzen leckte. Sein Aufschrei ließ sie verharren. Sie wandte Strahd das wölfische Gesicht zu. »Was?« fragte sie knurrend. »Ihr wollt sie zum Vampir machen?« »Ja, ich denke schon«, antwortete Strahd abwesend und fuhr mit einem Finger über Leisls Hals. »Ich glaube nicht, daß Jander Sonnenstern tatsächlich geflohen ist. Der Narr ist zu edel, um zu fliehen. Es wird ihm weh tun, wenn er erfährt, was ich mit diesem Kind gemacht habe. Und dem Priester wird es weh tun, -401-
dabei zusehen zu müssen. Außerdem glaube ich, daß sie eine interessante Begleiterin abgeben wird.« »Das werdet Ihr nicht tun!« fauchte die Werwölfin. Sie wirbelte herum. Ihre Hände waren noch menschlich genug, um den Heiligen Talisman wie eine Waffe zu halten. Strahd registrierte ihren Ausbruch mit Überraschung, unternahm aber nichts. Noch nicht. Katrina hielt den Heiligen Talisman fest umklammert. »Es war alles Eure Schuld«, knurrte sie. »Ihr habt immer wieder neue Frauen gefunden, die Euch mir wegnehmen wollten. Ihr habt Euch gefragt, wieso so viele von ihnen vernichtet werden konnten. Ich habe sie aufgespürt, wenn sie allein waren, und in meiner Wolfsgestalt zu Sascha geführt. Er hat sie dann für mich vernichtet. Und jetzt muß ich hören, daß Ihr ihm sagt, daß Ihr sie zu einer Blutsaugerin machen wollt, damit wieder alles von vorn anfängt? Nein! Ich will das nicht!« »Katrina, meine Liebe«, rief Strahd aus und wandte sich von Leisl ab, »du glaubst doch wohl nicht, daß diese erbärmliche Kreatur deinen Platz in meinem Herzen einnehmen könnte! Sie ist nur eine vergnügliche Ablenkung und ein Mittel zur Rache, das ist alles. Wenn dich das so sehr stören sollte, werde ich sie einfach sofort töten!« »Dann macht es«, verlangte die Werwölfin. Bittere Tränen der Eifersucht rannen aus den menschlichen Augen und wurden von den pelzigen Wangen aufgefangen. Sie senkte den Arm, und der Griff um den heiligen Talisman löste sich etwas. »Nein!« rief Sascha verzweifelt. Jetzt, dachte Jander. Ohne Vorwarnung schoß ein schlanker, goldbrauner Wolf aus dem Rudel hervor und packte das Medaillon mit den Zähnen. Dann verwandelte sich der Vampir schneller als je zuvor wieder in Nebel, um gleich darauf seine Elfengestalt anzunehmen. Den Heiligen Talisman ließ er nicht los. Das Medaillon brannte mit -402-
einem tobenden, ihn verspottenden Schmerz. Der Gestank von verbranntem Fleisch breitete sich. aus. Jander ignorierte ihn. Viele Dinge geschahe n gleichzeitig. Katrina überließ sich wutentbrannt der Verwandlung und nahm Wolfsgestalt an. Dann stürzte sie sich sofort auf Leisl Sie prallte mit Wucht gegen die Diebin und riß sie von den Füßen. Kleine Füchsin schaffte es trotzdem, den Dolch zu ziehen, den Jander ihr gegeben hatte. Sie riß die linke Hand hoch, um den Hals zu schützen, und stach gleichzeitig mit der silbernen Ba'alVerzi-Klinge nach der Angreiferin. Der Dolch bohrte sich tief in Katrinas Schulter. Die Werwölfin heulte vor Schmerz auf und schnappte zu. Ihre Zähne vergruben sich in Leisls Arm. Die Diebin schrie einmal laut auf und ließ die Klinge fallen. Nie zuvor hatte sie einen solchen Schmerz gefühlt. Die Werwölfin schien überall zugleich zu sein. Krallen fuhren durch Leisls Gesicht. Pelz drückte sich auf ihren Mund und drohte sie zu ersticken. Wieder verbissen sich scharfe Reißzähne in nachgiebiges Fleisch und rissen daran und zerfetzten es. Kleine Füchsin würde sterben - und sie wußte es. Doch sie dachte nicht daran, einfach aufzugeben, und wehrte sich mit jedem Funken ihrer schnell dahinschwindenden Kraft gegen die schreckliche Kreatur. Sie kämpfte wie ein Tier mit Nägeln und Zähnen, und sie kämpfte nicht für sich, sondern für Sascha. Krallenbewehrte Hinterbeine fuhren brutal über ihren Leib, und sie wimmerte, als das Blut aus den Wunden schoß. Heißer, nach Aas stinkender Atem näherte sich ihrer Kehle. Ihre Sicht schwand. Sascha kümmerte sich schnell und umsichtig um den Rest der Wölfe. Er machte einen Satz, packte die Öllampe und warf sie mit einem Gebet auf die Tiere. Das Öl explodierte, als der glimmende Docht zu neuem Leben erwachte. Ein Licht flammte -403-
auf, und die Finsternis huschte wie eine Schar aufgescheuchter Ratten in die Ecken zurück. Zwei der Wölfe fingen Feuer und flohen mit einem schrillen Aufheulen. Zwei weitere wurden angesengt und wandten sich ebenfalls zur Flucht. Die beiden letzten Tiere sprangen Sascha an. Er verteidigte sich mit dem Hammer, mit dem er die Vampire vernichtet hatte. Er landete einen glücklichen Treffer und zertrümmerte dem ersten Wolf den Schädel. Die letzte von Strahds Bestien entschied, daß sie genug hatte, und floh, und Sascha stand unbewacht da. Wie ein Racheengel eilte er Leisl zu Hilfe, und seine feingeschnittenen Gesichtszüge waren von einem gerechten Zorn verzerrt. Leisl hörte, daß er etwas rief und konnte trotz ihrer schwindenden Sinne erkennen, daß er mit einem funkelnden Gegenstand nach Katyas Hüfte schlug. Die Werwölfin heulte auf; es war ein langer, schriller Schrei, der nicht zu enden schien. Als er dann endlich doch verklang, war die Kreatur geflohen. Saschas Amulett hatte aus reinem Silber bestanden, und die Scheibe hatte sie auf der linken Hüfte gebrandmarkt. Die Wunde qualmte. Leisl hielt noch lange genug am Bewußtsein fest, daß sie die Besorgnis auf dem geliebten Gesicht des Priesters sah, dann fiel ihr Kopf zurück in seinen Arm. Jander hatte endlich seinen Feind gestellt. Eine heiße, brutale Freude hatte von ihm Besitz ergriffen, und daran konnte auch der Schmerz nichts ändern. Er hob den Heiligen Talisman, um ihn Strahd ins Gesicht zu schlagen. »Narr! Ihr könnt den Talisman nicht gegen mich benutzen!« »Ach nein? Ich war ein Anhänger Lathanders, Strahd! Lethanders, des Fürsten des Morgens! Und das hier« - er hob das Medaillon ein Stück höher - »ist ein Stück der Sonne.« Auf Strahds Gesicht zeigte sich ein Anflug von Furcht. Die Wut schwand und machte einem versöhnlichen Ausdruck Platz. »Was wollt Ihr denn machen, mein Freund?« schmeichelte der -404-
Vampir. »Solch eine Tat würde Euch ebenfalls mit in den Untergang reißen. Seht doch nur Eure Hand an!« Die Stimme beschwichtigte und lullte ein, doch Jander ließ sich nicht beirren. Der glühende Haß in seiner Brust gab ihm neue Kraft. »Ihr kennt nicht die ganze Geschichte«, spuckte er aus. »Bevor wir sterben, will ich Euch von Anna erzählen.« »Ja, ja, ich erinnere mich - das arme Mädchen, dessen Peiniger Ihr hier …« Strahd verstummte. »Ihr glaubt doch nicht, daß ich derjenige war, der ihr etwas angetan hat?« »Ich weiß, daß Ihr es gewesen seid. Ihr Name war gar nicht Anna. Nachdem Ihr ihren Geist zerstört habt, war sie nur noch dazu fähig, diese zwei Silben auszustoßen. Nur noch ein Fragment ihres wahren Namens, so wie sie nur noch ein Fragment ihres wahren Selbst war - es war in Wirklichkeit Tatyana!« Dieser Name entfesselte einen Gefühlssturm im Gesicht des Grafen. »Nein«, flüsterte er gequält. »Ihr lügt, Elf. Sie ist in den Nebel gestürzt …« »Ja, sie ist in den Nebel gestürzt«, fuhr Jander fort, während er langsam auf den anderen Vampir zuging. Der Schmerz in seiner Hand wurde stärker, und es fiel ihm immer schwerer, ihn zu ignorieren. »Doch das war nicht ihr Ende. Ein Teil ihrer Seele sehnte sich so sehr nach der Freiheit, daß sie etwas Unvorstellbares zustande gebracht hat. Dieser Teil von ihr kam irgendwie in meine Welt, doch das Entsetzen, dem sie ausgeliefert war, hat sie den Verstand gekostet. Das Entsetzen, das Ihr verursacht habt!« »Nein! Ich habe sie geliebt! Ich wollte doch nur …« »Du hast sie vernichtet, du Ungeheuer! Als ich sie kennengelernt habe, war sie nur noch eine leere Hülle. Und selbst da schimmerte noch genug von ihrer Seele durch, daß ich mich in sie verliebt habe.« Seine Augen füllten sich mit störenden Tränen, und sie drohten, seine Sicht verschwimmen -405-
zu lassen. Wütend blinzelte er sie fort. »Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn sie Sergej geliebt hätte. Er hat sie glücklich gemacht; er hat sie zu einem vollständigen Menschen gemacht. So trat sie dir gegenüber, und du hast sie vernichtet. Dafür sollst du verdammt sein!« Seine Stimme hob sich und füllte die Kapelle, als er seinem Haß freien Lauf ließ. »Jander … Ihr würdet wegen so einer Begebenheit tatsächlich Eure Existenz aufs Spiel setzen?« Strahd konnte es einfach nicht fassen. Der Elf ließ Taten für sich sprechen. Er richtete ein stummes Gebet an Lathander, den Gott des Morgens, Feind aller Vampire. Nur dies, dachte er. Schicke mich in die Hölle, die mich erwartet, doch erlaube mir diese letzte gute Tat. Janders Hand bestand mittlerweile nur noch aus schwarz verkohlten Knochen, doch es gelang ihm trotzdem, den Heiligen Talisman festzuhalten. Er hob ihn in die Höhe und richtete ihn auf Strahd. Der Vampirelf fühlte, wie eine höhere Macht in seinem Inneren anschwoll und ihn als Werkzeug benutzte. Sie fuhr bebend durch seinen Körper, ließ fast sein Herz zerplatzen und schoß durch seine Arme, um sich in dem Platin-Medaillon zu sammeln. Ein Strahl reinen Lichtes schoß aus dem Kristall, und der Schmerz dieser Explosion ließ Jander einen Schrei ausstoßen. Der Strahl traf Strahd mitten auf der Brust. Der Vampir schrie kreischend auf. Er bog das Rückgrat durch; jeder Muskel seines Körpers spannte sich an, und sein Gesicht verzerrte sich durch einen furchtbaren Schmerz. Jander sah zu; er verspürte eine heiße, wilde Freude. Es war noch nie vorgekommen, daß er sich am Leiden eines anderen Wesens geweidet hatte, doch in diesem Augenblick ließ eine brutale Befriedigung den Schmerz in seiner Hand bedeutungslos erscheinen. Strahds elegante Kleidung ging an den Stellen, die von dem -406-
heiligen Lichtstrahl erfaßt wurden, in Flammen auf. Das heilige Feuer fraß sich immer tiefer, und die weiße Haut schlug Blasen und verkohlte. Der Graf taumelte und stöhnte gepeinigt. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte hinter einer Kirchenbank zu Boden. Der Lichtstrahl verlo r durch den Fall kurz den Kontakt. Jander sprang gedankenschnell vor, um das Feuer des Heiligen Talismans ins Ziel zu bringen. Doch dieser winzige Augenblick genügte dem Grafen. Er hatte die letzten Silben eines Zauberspruchs gemurmelt, bevor ihn das Licht ein zweites Mal traf, und widmete dem entsetzten Vampirelf ein bösartiges, triumphierendes und gleichzeitig schmerzerfülltes Grinsen. Strahd verschwand. »Nein! schrie Jander auf. So nahe. Er war so nahe dran gewesen. Die Beine versagten ihm ihren Dienst, und er brach zusammen. Jander schlug geschwächt die Augen auf. Er lag noch immer in der Kapelle und war völlig kraftlos. Er versuchte, sich zu bewegen, konnte jedoch lediglich die Hand anheben. Die Anstrengung ließ ihn aufstöhnen. Im nächsten Augenblick kniete jemand an seiner Seite. »Willkommen unter den Lebenden«, sagte Sascha leise. »Ich habe eine Zeitlang geglaubt, du wärst endgültig gestorben.« Der Elf gab keine Antwort. Er hatte Lathander seine ganze Kraft angeboten, um die Kraft des Heiligen Talismans zu beschwören, und Lathander hatte das Angebot angenommen. Jander wußte, daß er im Sterben lag. Es war ein bitterer, unerfüllter Tod. Er war wütend; man hatte ihn betrogen. Wenn du Gerechtigkeit erlangen willst, wird es nur mit Hilfe der Sonne und der Kinder geschehen. Falsche Prophetin! fluchte er. Er hatte alles aufs Spiel gesetzt, und Strahd war noch immer irgendwo da draußen. Er war zwar verletzt, doch nicht völlig vernichtet. -407-
Die Kapelle war nicht mehr völlig dunkel. Der Morgen nahte. Jander spürte, wie sein Leben in dem finsteren Herzen von Rabenhorsts Steinen versickerte. »Was …?« Er hatte nicht die Kraft weiterzusprechen doch Sascha konnte in seinen Augen lesen, was er wissen wollte. »Strahd ist fort. Vermutlich konnte er in letzter Minute einen Zauber wirken. Leisl … nun, sie wurde schwer verletzt, aber mir ist es gelungen, die meisten ihrer Wunden zu heilen. Du bist fast die ganze Nacht bewußtlos gewesen. Ich habe einen magischen Kreis um uns gezogen, der uns drei beschützt hat, und Wache gehalten.« Er lächelte flüchtig. »Den Göttern sei Dank für Leisls Proviant. Ich habe ununterbrochen gegessen, und fühle mich jetzt gut.« »Die ganze Nacht…?« »Ja. Ich weiß nicht, was da draußen ist, und ich hatte Angst, diesen Ort zu verlassen, bevor Leisl wieder al ufen kann. Wir wären zu verwundbar gewesen.« Jander versuchte, seine konfusen Gedanken zu ordnen. Ein Teil seiner Kräfte kehrte zurück, und sie reichten aus, damit er wenigstens sprechen konnte. »Ich glaube, während des Tages kann dir nichts passieren. Strahd ist zwar nicht tot, doch zumindest verletzt.« Der Elf versuchte, seine Verbitterung nicht durchklingen zu lassen, doch es gelang ihm nicht. »Leisl … Sie ist gebissen worden. Wenn du zum Aufbruch bereit bist, geh in Strahds Bibliothek. Nimm mit, was dich interessiert, doch du mußt auf jeden Fall ein bestimmtes Buch finden. Es wird dir verraten, wie du Leisl heilen kannst.« »Heilen? Jander, sie wird schon wieder gesund!« »Nein, das wird sie nicht. Sie ist von einem Werwolf gebissen worden, und sie wird sich beim nächsten Vollmond verwandeln.« Sascha erstarrte. Diese gefürchtete Krankheit verbreitete sich schnell, und mittlerweile war Kleine Füchsin infiziert. Plötzlich -408-
stockte Sascha der Atem. Was hätte er getan, wenn Leisl, die liebe, tapfere, sture Leisl gestorben wäre? Seine Gefühle für das Mädchen überraschten ihn - und hinterließen ein warmes Gefühl. »Ich hole das Buch sofort«, sagte er und stand auf. Jander stöhnte leise, und seine gesunde Hand griff nach dem Priester. »Sascha, geh nicht. Noch nicht. Ich werde bald sterben.« Der Priester kniete sich wieder neben seinen am Boden liegenden Kameraden hin. »Nein, Jander, auch du wirst dich wieder erholen. Ich halte es für ein gutes Zeichen, daß du die Nacht überstanden hast. Wir … äh … beschaffen dir Nahr ung.« Er verstummte unbehaglich, doch gleichzeitig von dem verzweifelten Wunsch erfüllt, irgendwie helfen zu können. Er schaute sich um und dabei fiel ihm auf, daß Jander direkt unter einem der zersplitterten Glasfenster lag. Es war letzte Nacht zerstört worden, als einer der Wölfe hindurchgesprungen war. Der Tag nahte, und der Himmel war bereits hellgrau. Der Priester packte Jander unter den Achseln, denn er wollte den Elfen an einen dunklen, sicheren Ort ziehen. Der Vampir schrie laut auf. »Jander, es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun. Ich habe nur versucht, dich aus dem Pfad des Sonnenlichts zu ziehen.« Jander schüttelte den Kopf. Seine Gedanken waren aufgewühlt, doch gleichzeitig ging eine Art Frieden von ihnen aus. »Warte.« Hatte er Anna wirklich im Stich gelassen? Er war schwach, und das dringende Verlangen nach Vergeltung war verflogen. Er dachte in aller Ruhe über seine »Träume« nach. Sie waren zugleich qualvoll und schön gewesen, doch plötzlich kam ihm in den Sinn, daß an ihnen etwas nicht gestimmt hatte. Er zog alles in Betracht, was er über Tatyanas Wesen wußte. Sie hatte ihre Juwelen einem armen Mann gegeben. Sie hatte sich verliebt, doch nicht in einen schneidigen Kriegshelden, -409-
sondern vielmehr in einen sanften Priester. Selbst in Tiefwasser, als sie nur noch über den Bruchteil ihrer Persönlichkeit verfügt hatte, verzichtete sie auf ihre Nahrung und gab sie statt dessen an die anderen Eingekerkerten weiter. War es vorstellbar, daß eine so gütige Seele Jander zur Vergeltung drängte? Ihn mit Alpträumen bestrafte, wenn er zögerte? Nein. Eines war dem Elfen plötzlich ganz klar. Hätte Annas Seele ihn tatsächlich in seinen Träumen besucht, hätte sie ihn dazu gedrängt, Strahd seine Sünden zu vergeben. Schließlich hatte sie auch Jander dafür vergeben, daß er ihr das Leben genommen hatte. Anna wäre die erste gewesen, die eine böse Tat mit Sanftheit vergolten hätte. Das hatte die eigentliche Schönheit ihrer Seele ausgemacht. Doch woher waren dann die Träume gekommen? Sie waren zu wirklich gewesen, um el diglich seiner Vorstellungskraft zu entspringen. Er spürte, wie ihm die Sinne wieder schwinden wollten, und zwang sie mit einer Willensanstrengung zurück. Er lächelte. Endlich hatte er die schreckliche, böse, mit Sorgfalt geschaffene Brillanz des Planes begriffen, die Schönheit des Spinnennetzes erkannt. Das Land selbst - oder die dunklen Mächte, die für seine schreckliche Erschaffung verantwortlich waren - hatte versucht, ihn für seine Zwecke einzuspannen, und das schon seit dem schrecklichen, oft bereuten Massaker in dem Irrenhaus in Tiefwasser. Barovia hatte ihm die Kraft verliehen und sein Verlangen nach Vergeltung noch angeheizt, wenn es auf dem Tiefpunkt gewesen war. Das Land hatte immer wieder das Verlangen seiner Seele nach Licht und den Schmerz geschürt. Es hatte in ihm eine unreine Saat gepflanzt, und sein Haß war aufgeblüht. Das Land hätte Strahds Vernichtung niemals zugelassen. Es hatte Jander lediglich als Spielgefährten für seinen liebsten Zögling im Reich der Finsternis hergeholt. Strahd hatte im Laufe der Jahre viel von ihm gelernt, und das Land hatte sich -410-
mit Vergnügen an seiner Verzweiflung geweidet. Es war das perfekte Arrangement gewesen. Man hatte ihn die ganze Zeit über manipuliert, ihm hier einen kleinen Sieg gestattet und dort eine falsche Zufriedenheit gegönnt. Die dunklen Mächte wollten ihn nicht vernichtet sehen. Sie wollten einen lebendigen Jander, der nach Rache dürstete und sich für alle Zeiten im Schmerz über seinen Verlust wälzte. Sie würden auch Sascha zerstören, indem sie ihn entweder töteten oder ihn dergestalt pervertierten, daß er völlig von dem Verlangen nach der Jagd auf Untote beherrscht wurde. Und was die arme, gequälte Tatyana anging, so würde nichts, was in seiner Macht stand, ihrer Seele jemals den Frieden bringen. Sie würde jedes Jahrhundert wiedergeboren werden, zum ewigen Vergnügen des Landes. Nein, die dunklen Mächte wollten, daß sowohl er als auch Strahd lebten. Er spürte ganz deutlich, wie sein Körper von neuer Kraft erfüllt wurde, und ein tief in seinem Inneren verborgener Teil sehnte sich nach dem Schutz vor den gnadenlosen Strahlen der Sonne. Saschas Besorgnis spielte den dämonischen Mächten dieses Ortes direkt in die Hände. Doch Jander begriff nun, und er würde der Trostlosigkeit dieses Ortes eine Art Sieg abringen. Durch die Sonne und die Kinder, hatte Maruschka vorhergesagt. Sie war am Ende doch keine falsche Prophetin gewesen. »Nein«, sagte er mit sanfter Entschlossenheit zu dem Kind, das in der Nacht empfangen worden war, in der er Barovia betreten hatte, »laß mich das Licht sehen.« »Das geht nicht! Du wirst sterben…« »Sascha, überleg doch, was du sagst!« Jander lachte leise, als er in Saschas besorgtes Gesicht blickte. »Ich bin schon seit langer Zeit tot. Ich werde Strahd nie vernichten können. Wir wären dazu verdammt, uns durch die Jahrhunderte zu bekämpfen, und ich würde verbittert und ein Schatten meiner selbst werden und für alle Zeiten um einen Sieg ringen, der mir -411-
nicht bestimmt ist.« »Also willst du einfach aufgeben?« Jander schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wähle diesen Tod aus eigenem, freiem Willen.« Er schaute in die Morgendämmerung. »Schnell. Hör mir genau zu. Führe deine Mission weiter, wenn ich nicht mehr bin. Doch um deiner Seele willen und all derer, die du liebst, tu es aus den richtigen Gründen. Vernichte Strahd, wenn du kannst. Du wirst ihm seinen Frieden bringen und zahllose andere vor diesem schrecklichen Schicksal bewahren. Doch vernichte ihn nicht der Rache wegen.« »Aber …« »Hüte dich vor dem Land. Es wird versuchen, dich eben durch deine Tugenden zu korrumpieren. Sei selbstbewußt, mein Freund. Wenn draußen die Sonne scheint, geh in den Kerker und befreie die armen Seelen. Dann mußt du dich mit Leisl verbergen.« Sascha schüttelte den Kopf. »Es gibt Leute im Dorf, die auf den Fürsten des Morgens angewiesen sind.« »Er wird immer bei ihnen sein, wie er es seit allen Zeiten war. Sie werden selbst einen Pfad ins Licht finden. Du und Leisl, ihr stellt für Strahd eine Bedrohung dar. Sobald es ihm wieder besser geht, wird er versuchen, euch zu töten. Ich weiß nicht, wann das der Fall sein wird, doch eines Tages ist er geheilt, und dann wird er sich auf eure Spur setzen. Soviel steht fest.« Er schloß die Augen. Janders Kopf ruhte in Saschas Schoß, und so verharrten sie einen Moment. Ohne es eigentlich zu wollen, streichelte der Priester sanft über das goldene Haar. Es war nicht gerecht, dachte er. Jander hatte dieses Schicksal nicht gewollt. In seinem Herzen war der Elf im gleichen Maße ein Wesen des Lichts wie Sascha oder Leisl - vielleicht sogar noch mehr. Er hatte es nicht verdient, auf diese Weise zu sterben; von der Sonne zu Asche verbrannt zu werden. -412-
»Nein!« Sascha entfuhr diese Weigerung mit einer Vehemenz, die sogar für ihn unerwartet kam. »Du wirst nicht sterben! Jander, tu es nicht!« Er fragte sich, warum es ihm plötzlich so schwerfiel, deutlich zu sehen und warum ihm eine warme Feuchtigkeit über die Wangen lief. Jander hob staunend die Hand, berührte die salzigen Tränen und verrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Weißt du eigentlich, wie lange es her ist, daß jemand um mich geweint hat?« fragte er leise und bewegt. So gewalttätig und bösartig dieser Ort auch sein mochte, er hatte Jander viel gegeben. Das war die richtige Art zu sterben. Nicht durch einen Pflock im Herzen oder in der Finsternis zu ertrinken oder in den Flammen zu verbrennen, die das auf ihn wartende Höllenfeuer spöttisch vorwegnahmen. Nein, noch einmal in der Sonne zu sitzen und in dem Moment, bevor der Schmerz begann, das warme und liebkosende Licht auf der Haut spüren zu können das war ein guter Tod. Lyrias Worte fielen ihm wieder ein. »Es ist besser, von der Hand eines Freundes zu sterben.« Jetzt verstand er. Es konnte keine besseren Freunde geben als diesen tapferen, impulsiven Halbzigeuner und die prächtige Sonne. »Betraure meinen Tod nicht. Ich habe mich seit Jahrhunderten danach gesehnt. Doch bleib bei mir, während ich … Wirst du bei mir bleiben, Sascha?« »Ich werde dich nicht verlassen«, sagte der Priester mit belegter Stimme. Jander lächelte und entspannte sich. »Hilf mir beim Aufsetzen«, bat er. Sascha tat es. Der Elf tastete mit schwachen Fingern nach seinem Gürtel und zog die Flöte hervor. Er setzte sie mit großer Anstrengung an die Lippen, holte Luft und begrüßte den Morgen mit seinem Spiel. Es kümmerte ihn nicht länger, was ihm das Sonnenlicht antun würde - oder auch nicht. Er wußte nur, daß es besser als die -413-
erbärmliche Existenz sein mußte, die er seit über fünf Jahrhunderten erduldet hatte. Die Dunkelheit würde endlich enden, und mit ihr der Zustand des Untotseins, der sich am Leben selbst verging. Was auch immer aus ihm werden mochte, sei es Asche oder verbranntes Fleisch - oder etwas völlig anderes, Unerwartetes und vielleicht sogar Wunderschönes -, er würde aufhören, ein Wesen der Finsternis zu sein. Seine Musik trieb so sanft dahin wie ein Fluß, und draußen wurde es hell. Er hatte die finsteren Trugbilder des Landes durchschaut. Obwohl er ein Wesen darstellte, das eigentlich auf die Seite des Bösen gehörte, hatte er den Heiligen Talisman gegen einen anderen Vampir erhoben. Vielleicht hatte der Fürst des Morgens einen Weg gefunden, seine Schönheit in diesem alptraumhaften Land zu verbreiten. Vielleicht würde ihm die Morgendämmerung neues, wahres Leben bringen, statt seinem untoten Dasein ein friedliches Ende zu bereiten. Janders Lied war so hell wie der Morgen selbst, und er schaute erwartungsvoll auf den heller werdenden Horizont und wartete auf das Wunder. Die Sonne ging auf, und ihr Licht fiel wie ein Segen auf ihn. Er schloß die Augen und gab sich ihr hin.
Epilog Tief in den Bergen und Meilen von Schloß Rabenhorst entfernt, betrat eine schlanke, graubraune Wölfin eine versteckt liegende Höhle. Sie hinkte durch labyrinthartige Abzweigungen und gelangte schließlich zu dem Sarg, der von einem verschlagenen Vampir zu einem bestimmten Zweck versteckt worden war. Der Kuß eines Dolches hatte die Schulter der Wölfin steif werden lassen, und ihre Hüfte würde für alle Zeiten das Brandzeichen eines silbernen Medaillons tragen. Sie schnüffelte an dem Sarg und wedelte le icht mit dem Schwanz, ließ ihn dann aber enttäuscht sinken. Der Meister -414-
würde heute nicht erwachen. Sie sprang auf den Deckel der aus dunklem Mahagoni bestehenden Kiste, gähnte, drehte sich mehrere Male um die eigene Achse und rollte sich dann zum Schlaf zusammen. Wenn er erwachte, würde er ihr sicher vergeben. In diesem Augenblick würde ihn der Hunger sicher fest im Griff haben. Katrina würde schon dafür sorgen, daß ein frisches Opfer auf ihn wartete, damit er seinen Durst stillen konnte. Innerhalb von Minuten war die Werwölfin eingeschlafen und atmete langsam. Der verwundete Vampir träumte. Strahd war verletzt worden - sogar schwer. Das Sonnenlicht hatte ihn beinahe vernichtet. Er litt brennende, qualvolle Schmerzen und würde viele Wochen ruhen müssen, vielleicht sogar Monate, möglicherweise sogar Jahre. Doch was bedeutete einem Vampir schon Zeit? Jander hätte ihn beinahe vernichtet, doch Strahd verfügte nun über das Wissen des älteren Vampirs. Er besaß neue Fertigkeiten; außerdem kannte er jetzt seinen gefährlichsten Feind. Er würde Sascha Petrovitsch wieder gegenüberstehen, und dann würde der Junge nicht so siegreich sein. Und seine Tatyana? Ihre Seele hatte eine kurze Verschnaufpause gewonnen, doch sie war auf ihre eigene traurige Weise genauso mit Rabenhorst verbunden wie Strahd. Wie er dazu verdammt war, sie für alle Ewigkeit zu lieben, war sie dazu verdammt, wiedergeboren und von ihm geliebt zu werden. Sie würde einen anderen Namen tragen, doch über die gleiche Schönheit und die gleiche zersplitterte Seele verfügen. Er würde sie wiedersehen. Und eines Tages würde sie ihn lieben. Strahd von Zarovitsch würde dieses Ziel mit aller Entschlossenheit weiterverfolgen, und ihm stand alle Zeit und Geduld der Welt zur Verfügung. Außerdem hatte er die Macht, in Barovia fast alles Wirklichkeit werden zu lassen. Schließlich -415-
unterstand das Land seinem Befehl. Der Vampir schlief und träumte, und auf Rabenhorst kündete die Morgendämmerung den neuen Tag an.
-416-