Dick Francis
Schlittenfahrt
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Auf der Rennbahn von Øvrevoll in Norwegen verschwind...
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Dick Francis
Schlittenfahrt
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Auf der Rennbahn von Øvrevoll in Norwegen verschwindet der britische Jockey Bob Sherman mitsamt den Tageseinnahmen. Als er wieder auftaucht, ohne das Geld, aber mit einem Betonklotz am Bein und tot, ist David Cleveland, Chefermittler des Jockey Club in London, bereits tief in diesen mysteriösen Fall verstrickt. Die Suche nach dem Täter wird zu einer immer wilderen Jagd, bei der der Jäger immer auch der Gejagte ist. Und schon bald erweist sich, daß der Diebstahl des Geldes nur von einer weitaus perfideren Schurkerei ablenken sollte, hinter der eines der ehrenwerten Mitglieder des Rennvereins von Øvrevoll steckt. ISBN: 3 2J7 22866 X Original: Slay Ride Aus dem Englischen von Jobst-Christian Rojahn Verlag: Diogenes Erscheinungsjahr: 1996 Umschlagbild von Tomi Ungerer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
1 Kaltes, graues Wasser schlug glucksend gegen die zerbrechlich aussehenden Seitenwände des Fiberglasdinghis. Ich zitterte vor Kälte und dachte an die hundertfünfzig Meter bis zum Meeresboden unter uns. Wir trieben mit abgestelltem Außenbordmotor etwa eine Stunde von Oslo entfernt auf dem Wasser des Fjords, und mein Freund Arne Kristiansen brauchte den ganzen Nachmittag, um mir ein paar einfache Fragen zu beantworten. Ein grauer Tag, feucht, regnerisch. Der Wind war beißend kalt und sang mir in den Ohren. Meine Füße waren Eisklumpen. Hier draußen auf dem Fjord war es sehr viel kälter als an Land die Oktobertemperatur bewegte sich auf den Gefrierpunkt zu, und nur Arne war entsprechend angezogen. Während ich lediglich eine Regenjacke über einem ganz normalen Anzug trug und keinen Hut aufhatte, war Arne in der richtigen Ausrüstung erschienen - mit einer gefütterten roten Mütze, deren Ohrenklappen unter dem Kinn zusammengebunden waren, einer gefütterten blauen Hose, deren Beine in kurzen, weitschäftigen Gummistiefeln steckten, und einer gefütterten roten, vorn mit silbernen Druckknöpfen geschlossenen Jacke. Etwas Schwarz-Gelbes im Nacken deutete auf zusätzliche wärmende Schichten darunter hin. Wir hatten uns telefonisch an der Statue auf dem Radhusplassen verabredet, da er entschieden gegen meinen Vorschlag gewesen war, zu mir ins Grand Hotel zu kommen. Selbst angesichts des großen, offenen Platzes hatte er etwas von Langstrecken-Abhörgeräten (seine Worte) gemurmelt und schließlich auf dem Dinghi bestanden. Da ich aus langer Erfahrung wußte, daß man mit Arnes ständigem leichten
Verfolgungswahn am besten zurechtkam, wenn man einfach darauf einging, zuckte ich die Achseln und folgte ihm den Kai entlang bis zu der Stelle, wo das kleine blaßgrüne Boot am Fuße einer Treppe vertäut lag. Ich hatte völlig vergessen, daß es draußen auf dem Wasser immer wesentlich kühler ist. Ich ballte meine starr werdenden Hände in den Taschen zur Faust, lockerte sie und wiederholte meine letzte Frage. »Wie würdest du sechzehntausend Kronen aus dem Land schmuggeln?« Zum zweiten Mal erhielt ich keine Antwort. Arne ging mit Antworten so verschwenderisch um wie das Finanzamt mit Steuerrückzahlungen. Er blinzelte langsam, und ich deutete jeden Wimpernschlag als äußeres Zeichen eines geistigen Zuges auf dem Schachbrett seines Verstandes. Zweifellos überdachte er wie immer jede nur denkbare Konsequenz - falls Antwort A eine von fünf möglichen Reaktionen auslöste, und Antwort B zu sechs klärenden Zusatzfragen führte, dann war es vielleicht besser, erst C zu beantworten, wobei… obwohl… Das machte die Unterhaltung mit ihm etwas mühsam. Ich versuchte, ihm ein bißchen auf die Sprünge zu helfen. »Du hast gesagt, es seien nur Münzen und gebrauchte kleine Scheine gewesen. Wie dick mag der Packen sein? Würde das Ganze in einen kleinen Koffer reinpassen?« Er blinzelte. »Glaubst du, daß er damit einfach so durch den Zoll spaziert ist?« Er blinzelte. »Oder daß er sich noch irgendwo in Norwegen aufhält?« Arne öffnete den Mund und sagte widerstrebend: »Das weiß kein Mensch.« 3
Ich setzte meine Versuche fort. »Wenn ein Ausländer hier bei euch in ein Hotel geht, dann muß er ein Formular ausfüllen und seinen Paß vorlegen. Die Formulare sind für die Polizei bestimmt. Hat man sie dort mal durchgesehen?« Pause. »Ja«, sagte er dann. »Und?« »Bob Sherman hat kein Formular ausgefüllt.« »Überhaupt keins? Aber was war, als er aus England hier ankam?« »Er hat nicht im Hotel gewohnt.« Geduld, dachte ich. Hab Geduld! »Wo dann?« »Bei Freunden.« »Was für Freunden?« Er überlegte. Ich wußte, daß Arne die Antwort kannte, und er wußte, daß er sie mir schließlich geben würde. Wahrscheinlich konnte er nichts dafür, daß sein Verstand auf diese Weise arbeitete, verdammt noch mal, schließlich war er von Beruf Ermittler. Und ich war auch noch sein Lehrer gewesen! »Bevor Sie eine Frage beantworten, immer erst nachdenken.« Daran hielt er sich jetzt. In den drei Monaten, die er in England verbracht hatte, um sich über die Arbeitsweise der Ermittlungsabteilung des Jockey Club zu informieren, waren wir allmählich Freunde geworden. Eine Zeitlang hatte er bei mir gewohnt, meistens waren wir zusammen zu den Rennen gefahren, und ständig hatte er Fragen gestellt und zugehört und beim Nachdenken geblinzelt. Das war vor drei Jahren gewesen. Aber zwei Minuten hatten ausgereicht, um die alten, herzlichen Gefühle der Wertschätzung und Nachsicht wieder aufleben zu lassen. Ich mag ihn, dachte ich, 4
mehr wegen als trotz seiner kleinen Macken. »Er hat bei Gunnar Holth gewohnt«, sagte er. Ich wartete. Nach zehn Sekunden fügte er hinzu: »Holth ist Trainer.« »Ist Bob Sherman für ihn geritten?« Diese wirklich simple Frage stürzte ihn in ein noch längeres Nachdenken als sonst, und erst nach längerem geistigem Schachspiel erwiderte er schließlich: »Bob Sherman hat diejenigen von Gunnar Holths Pferden geritten, die an Hürdenrennen teilnahmen, als er in Norwegen war. Ja. Diejenigen Pferde Holths, die bei Flachrennen liefen, als Sherman in Norwegen war, hat er nicht geritten.« Herr, gib mir Kraft! Arne war noch nicht fertig. »Bob Sherman ritt Pferde für die Rennbahn.« Ich war verwirrt. »Wie meinst du das?« Er ging erneut mit sich zu Rate und erhielt offensichtlich grünes Licht für eine erläuternde Antwort. »Die Rennbahn zahlt ein paar ausländischen Jockeys zusätzliche Rennpreise, damit sie nach Norwegen kommen. Das macht die Rennen für die Zuschauer interessanter. Und so hat die Rennbahn auch Bob Sherman dafür bezahlt, daß er dort ritt.« »Wieviel haben sie ihm gezahlt?« Eine aufkommende Brise erzeugte auf der Wasseroberfläche des Fjords richtige kleine Wellen. Der Fjord südlich von Oslo ist keine von diesen schmalen Schluchten, wie man sie von den ›Komm ins schöne Norwegen!‹-Plakaten her kennt, sondern eine breite Meeresbucht, die mit Felseninseln gesprenkelt ist und von den ausgedehnten Vororten der Hauptstadt gesäumt wird. Ein Küstendampfer stampfte in einer Entfernung von knapp einem Kilometer an uns vorbei, und sein Kielwasser versetzte unser Boot in ein leichtes Schwanken. Das uns am nächsten 5
gelegene Ufer schien weiter weg denn je. »Laß uns umkehren«, sagte ich übergangslos. »Nein, nein…« Er hatte für derart ängstliche Vorschläge nichts übrig. »Sie haben ihm fünfzehnhundert Kronen gezahlt.« »Mir ist kalt«, sagte ich. Er sah überrascht auf. »Es ist doch noch nicht Winter.« Ich gab ein Geräusch von mir, das halb Lachen und halb Zähneklappern war. »Sommer ist es aber auch nicht gerade.« Er warf einen unbestimmten Blick in die Runde. »Bob Sherman hat hier in Norwegen sechsmal an Rennen teilgenommen«, sagte er. »Dies letzte war sein siebentes.« »Bitte, Arne, erzähl mir im Hotel davon, ja?« Er schenkte mir seine volle Aufmerksamkeit. »Was ist los?« »Ich bin nicht schwindelfrei.« Er sah mich verständnislos an. Ich nahm meine steifgefrorene Hand aus der Tasche, ließ sie über die Bordwand hängen und zeigte nach unten. Arnes Gesicht entspannte sich, als er begriff, und sein Mund, den er normalerweise argwöhnisch zusammenpreßte, verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Tut mir leid, David. Ich fühle mich halt auf dem Wasser pudelwohl. Wie im Schnee auch. Entschuldige.« Er drehte sich sofort um und wollte den Außenbordmotor anwerfen, hielt dann aber inne und sagte: »Er könnte auch ganz einfach über die Grenze nach Schweden gefahren sein. Der Zoll dort würde sich für Kronen nicht interessieren.« »Mit was für einem Auto?« fragte ich. Arne dachte nach. »Ah, ja!« Er blinzelte ein bißchen. »Vielleicht hat ihn ein Freund gefahren…« »Wirf den Motor an«, ermunterte ich ihn. Achselzuckend und kopfschüttelnd wandte er sich dem Außenbordmotor zu und drückte die entsprechenden Knöpfe. 6
Ich hatte halb erwartet, daß sich der Motor als ebenso leblos wie meine Finger erweisen würde, aber der Funke traf auf das Gas, wie es sich gehörte, und Arne peilte nun heißen Kaffee und wärmende Heizungen an. Das Dinghi klatschte behende auf den kleinen Wellen dahin, und der Seitenwind sprühte mir Gischt auf die linke Wange. Ich schlug meinen Jackenkragen hoch und zog den Kopf wie eine Schildkröte ein. Arnes Mund bewegte sich, aber bei dem Tosen der Wellen, dem Motorenlärm und dem Rascheln der Jacke an meinen Ohren konnte ich kein Wort verstehen. »Was?« brüllte ich. Er wiederholte, was immer er gesagt hatte, jetzt etwas lauter. Ich schnappte trotzdem nur Wortfetzen wie »undankbares Schwein« und »elender Dieb« auf und dachte mir, daß sie wohl seine Ansichten über den britischen Steeplechase-Jockey Bob Sherman wiedergaben. Arne Kristiansen hatte harte Zeiten durchlebt, seit sich ebendieser Bob Sherman mit den Tageseinnahmen durch das Drehkreuz der Rennbahn von Øvrevoll davongemacht hatte, denn Arne war nicht nur der amtlich bestellte Ermittler des norwegischen Jockey Club, sondern auch für die Sicherheit auf den Rennbahnen verantwortlich. Der Diebstahl war, wie er mich hatte wissen lassen, als wir auf den Fjord hinaustuckerten, eine Beleidigung nicht nur seiner Person, sondern auch Norwegens. Ausländische Besucher sollten im Gastland nicht stehlen. Die Norweger seien keine Kriminellen, sagte er und führte als Beweis statistische Angaben wie etwa die Gefängnisstrafen pro eine Million Einwohner an. Wenn sich Briten in Norwegen aufhielten, so Arne, dann sollten sie sich nicht als Langfinger betätigen. Aus Mitgefühl unterließ ich es, ihn auf die Raubzüge aufmerksam zu machen, die seine Landsleute nach Britannien 7
unternommen hatten - schließlich lagen die ja auch tausend Jahre oder so zurück, und die modernen Wikinger fotografierten wohl eher friedlich den Buckingham Palace, als daß sie brandschatzten, vergewaltigten, raubten und plünderten. Hinzu kam, daß ich mich als Brite durchaus ein wenig für Bob Sherman schämte - so hatte ich mich doch tatsächlich für sein Verhalten entschuldigt. Arne war immer noch nicht fertig - bei diesem Thema brauchte er unglücklicherweise niemanden, der ihm die Stichworte lieferte. Aussprüche wie »Er hat mich in eine ganz unmögliche Lage gebracht!« gingen ihm von den Lippen, als hätte er sie wochenlang geübt - was er, wenn man genau darüber nachdachte, ja auch getan hatte. Seit dem Diebstahl waren immerhin drei Wochen und vier Tage vergangen. Vor achtundvierzig Stunden hatte mich der Vorsitzende der Rennbahn angerufen und gebeten, einen Ermittler des Jockey Club herüberzuschicken, der ihnen bei der Untersuchung helfen sollte. Ich hatte (wie man schon erraten haben wird) mich selbst geschickt. Bislang hatte ich weder den Vorsitzenden der Rennbahn kennengelernt noch die Rennbahn zu Gesicht bekommen und war überhaupt noch nie zuvor in Norwegen gewesen. Ich hatte Arne auf den Fjord hinausbegleitet, weil Arne der einzige Mensch war, den ich hier kannte. Vor drei Jahren war Arnes Haar, das jetzt sorgsam unter der gefütterten roten Kappe verborgen war, hellblond gewesen, mit einem Graustich an den Schläfen. Seine Augen waren von einem so strahlenden Blau wie eh und je, die Fältchen nicht tiefer geworden, nur die Tränensäcke sahen sehr viel schwerer aus. Die Gischt wehte auf eine Haut, die wettergegerbt, aber nicht sonnenverbrannt war - eine dick aussehende, unempfindliche, gelblich-weiße Haut, die vierzig Winter oder mehr höckrig und narbig gemacht hatten. Er stieß noch immer kurze, gekränkte, nur halb zu verstehende 8
Monologfetzen hervor. Ich gab es auf, ihm zuzuhören. Es war zu kalt. Abrupt brach er ab und sah mit hochgezogenen Augenbrauen auf einen fernen Punkt irgendwo hinter meiner linken Schulter. Ich drehte mich um. Eine große Motorjacht kam nicht weit von uns entfernt mit hoher Geschwindigkeit quer durch den Fjord auf uns zu, und an ihren Seiten hob sich die Bugwelle zu schweren Silberflügeln. Ich drehte mich wieder zu Arne um. Er zuckte die Achseln, zeigte kein Interesse. Ausgerechnet in diesem Augenblick entschied sich der Außenbordmotor zu stottern, zu husten und dann abgewürgt zu verstummen. »Verdammt«, sagte Arne laut, und das war nichts im Vergleich zu dem, was ich dachte. »Die Leute da werden uns helfen«, verkündete er, deutete auf das herannahende Motorboot und stand ohne zu zögern auf, spreizte die Beine und machte mit seinen scharlachroten Armen weitausholende, winkende Bewegungen. Ich drehte mich auf meiner Bank und beobachtete die Motorjacht, die schnell näher kam. »Die werden uns an Bord nehmen«, sagte Arne. Die Motorjacht schien ihre Geschwindigkeit nicht drosseln zu wollen. Ich konnte jetzt den glänzenden schwarzen Rumpf und den scharfen, das Wasser durchschneidenden Bug genau erkennen; die Silberflügel der Bugwelle wirkten so hoch und schwer wie zuvor. Wenn nicht sogar noch höher und noch schwerer. Ich wandte mich mit einem ersten Anflug von Besorgnis zu Arne um. »Die sehen uns nicht«, sagte ich. »Das müssen sie aber«, erwiderte Arne. Er winkte jetzt heftiger, was unser Dinghi gefährlich ins Schaukeln brachte. 9
»He!« Arne rief zur Motorjacht hinüber, dann schrie er sie an auf norwegisch. Der Wind wehte seine Worte davon. Der Mann am Steuer des Motorbootes hörte und sah nichts. Der scharfe, harte, glänzende schwarze Bug raste mit einer Geschwindigkeit von vierzig Knoten direkt auf uns zu. »Spring!« schrie Arne, und er sprang. Ein scharlachroter Blitz, der ins Wasser fuhr. Ich war nicht so schnell, dachte vielleicht, daß das Unvorstellbare nicht geschehen, daß die Bugwelle unser Dinghi zur Seite drücken werde, wie sie etwa einen Schwan zur Seite gedrückt hätte, glaubte, unser zerbrechliches kleines Boot könne so leicht beiseite geschoben werden wie ein Vogel. Etwa eine Sekunde, bevor der Bug den Fiberglasrumpf wie eine Eierschale zerschlug, ließ ich mich über die Seitenwand ins Wasser plumpsen. Irgend etwas versetzte mir einen gewaltigen Schlag auf die Schulter, und ich ging, nach dem Schock des Eintauchens in das kalte Wasser noch nach Luft schnappend, in einer brüllenden, tobenden Dunkelheit unter. Menschen, die über Bord gehen, kommen ebensooft durch die Schiffsschrauben ums Leben wie durch Ertrinken, was mir aber erst einfiel, als sich die Doppelschraube schon an mir vorbeigewühlt und mich nicht zerhackt hatte. Ich kam prustend und nach Luft ringend im wild schäumenden Kielwasser der Motorjacht, die unbekümmert den Fjord hinunterraste, wieder hoch. »Arne!« rief ich, was ungefähr so sinnvoll war wie in der Themse nach Diamanten zu baggern. Eine Welle schlug mir in den offenen Mund, und ich schluckte ein doppeltes Salzwasser pur. Die See schien in Augenhöhe sehr viel rauher zu sein als von oben gesehen. Ich strampelte in hohen, kabbeligen Wellen mit krausen weißen Kronen herum, deren Schaum mir in die Augen 10
geblasen wurde, und rief immer wieder nach Arne. Schrie seinen Namen mit wachsender Sorge um ihn und aus Angst um mich selbst - aber der Wind riß die Schreie fort und schlug sie in Stücke. Vom Dinghi keine Spur. Mein letzter Eindruck war gewesen, daß die Motorjacht das kleine Boot säuberlich in zwei Hälften zerschnitten hatte, die jetzt zweifellos langsam kreiselnd auf den weit entfernten Meeresboden hinabsanken. Diese Vorstellung ließ mich genauso schaudern wie die Kälte. Von Arne war nirgends etwas zu entdecken. Kein rotbemützter Kopf, keine roten, winkenden Arme, kein fröhliches Lächeln, das mir gesagt hätte, wie pudelwohl er sich im Wasser fühlte, und daß Sicherheit und warme Muffins hier entlang, genau hier, zu finden seien. Überall um mich herum waren hellgraue, nebelverhangene Höhen zu sehen. Das Ufer war nirgends besonders nahe - nach meiner Schätzung waren es etwa drei Kilometer bis dorthin, in welche Richtung ich auch blickte. Wassertretend zog ich mir meine Sachen aus, wobei ich mich weiterhin verzweifelt nach Arne umsah und immer noch damit rechnete, daß ich ihn jeden Augenblick zu Gesicht bekommen würde. Aber da war nichts als das aufgewühlte, klatschende Wasser. Ich dachte an die Schrauben der Motorjacht und an Arnes weitschäftige Gummistiefel, die sich innerhalb weniger Sekunden mit Wasser gefüllt haben mußten. Schließlich ging mir durch den Kopf, daß ich höchstwahrscheinlich an der Stelle, wo ich mich gerade befand, ertrinken würde, wenn ich Arnes Verschwinden nicht als gegeben hinnahm und mich in Richtung Ufer in Bewegung setzte. Ich streifte die Schuhe von den Füßen und kämpfte mit dem Reißverschluß der Regenjacke. Dann riß ich die Knöpfe meines Jacketts auf und wand mich gleichzeitig aus beiden Jacken. Ich 11
ließ sie los, aber dann fiel mir meine Brieftasche ein, und obwohl es mir verrückt vorkam, zog ich sie aus der Innentasche des Jacketts und schob sie unter mein Hemd. Die beiden Jacken trieben noch eine Weile auf der Wasseroberfläche dahin und verschwanden dann, vollgesogen, aus meinem Blickfeld. Ich zog meine Hose aus und schickte sie den Jacken hinterher. Ein Jammer, dachte ich. Das war ein schöner Anzug gewesen. Das Wasser war wirklich sehr kalt. Ich schwamm los. In den Fjord hinein, Richtung Oslo. Wohin sonst? Ich war dreiunddreißig Jahre alt und robust und hatte mehr Statistiken im Kopf, als mir lieb war. Ich wußte zum Beispiel, daß ein normaler Mensch in ein Grad kaltem Wasser keine Stunde überleben kann. Ich versuchte, ohne Hast und mit langen, möglichst wenig kräftezehrenden Zügen zu schwimmen, um den Augenblick der Erschöpfung hinauszuzögern. Die Wassertemperatur im Oslofjord betrug nicht ein Grad über Null, sondern wenigstens fünf. Wahrscheinlich war das Wasser nicht sehr viel kälter als das, was in diesem Augenblick bei Brighton gegen den englischen Strand brandete. In fünf Grad kaltem Wasser konnte man… hm, diese statistische Angabe war mir nun doch nicht gegenwärtig, da mußte ich mich mit vagen Vermutungen begnügen. Aber man konnte wohl lange genug überleben, um etwas mehr als drei Kilometer zu schaffen. Bruchstücke aus lange zurückliegenden Geographiestunden ergaben keinen Sinn. »Der Golfstrom erwärmt die Küste Norwegens…« Der gute alte Golfstrom. Wo war er nur hin? Für mich war Kälte noch nie etwas Positives gewesen. Wahrscheinlich hatte ich noch niemals richtig gefroren, sondern immer nur gefröstelt. Diese Kälte hier grub sich tief in jede Muskelfaser und tat mir im Bauch weh. Meine Hände und Füße waren ohne Gefühl, meine Arme und Beine schwer. Die echten 12
Langstreckenschwimmer hatten eine schöne dicke, isolierende Fettschicht unter der Haut - ich nicht. Sie schmierten sich außerdem noch ordentlich mit wasserabweisender Fettcreme ein und schwammen neben Versorgungsbooten her, die sie auf Anforderung per Schlauch mit heißem Kakao versorgten. Natürlich schwammen echte Langstreckenschwimmer auch dreißig oder mehr Kilometer weiter als ich. Ich schwamm. Die Wellen kamen mir erschreckend hoch vor - ich konnte nur dann sehen, wohin ich schwamm, wenn ich Wasser trat und den Kopf hochreckte, was aber Zeit und Kraft kostete. Das Ufer, das am nächsten zu liegen schien, war für meine vom Salz brennenden Augen so weit entfernt wie eh und je. Und angeblich wimmelte doch der Oslofjord nur so von Schiffen und Booten. Ich konnte jedoch kein einziges entdecken. Verdammt und zugenäht, dachte ich, ich habe nicht die Absicht zu ersaufen. Nein, ganz und gar nicht! Ich schwamm. Das Tageslicht schwand langsam dahin. Die See, der Himmel und die fernen Berge zeigten ein dunkleres Grau. Es fing an zu regnen. Ich kam allem Anschein nach nur sehr langsam voran. Das Land, auf das ich zuhielt, schien mir immer gleich weit entfernt zu sein. Ich fragte mich, ob nicht vielleicht irgendeine Strömung jeden Meter, den ich vorwärtsschwamm, wieder aufhob - aber wenn ich mich umdrehte, konnte ich feststellen, daß das Land hinter mir doch immer weiter zurückblieb. Ich schwamm ganz mechanisch, wurde langsam müde. Die Zeit verging. Plötzlich gingen vor mir, weit entfernt, in der immer tiefer werdenden Spätnachmittagsdämmerung stecknadelkopfgroße Lichter an. Jedesmal, wenn ich wieder hinsah, waren es mehr. 13
Die Stadt schaltete ihre abendliche Beleuchtung ein. Zu weit weg, dachte ich. Für mich sind sie viel zu weit weg. Überall um mich herum Land und Leben, und ich kann es nicht erreichen. Unter mir eine grauenvolle Tiefe. Und das, obwohl ich doch ganz und gar nicht schwindelfrei war! Ein kalter, einsamer Tod, das Ertrinken. Ich schwamm. Was sollte ich sonst auch tun. Als etwas höher und ein Stück weiter links wieder ein Licht anging, dauerte es mindestens eine Minute, bis die dazugehörige Nachricht mein träges Gehirn erreicht hatte. Ich trat Wasser, wischte mir, so gut es gehen wollte, Regen- und Meerwasser aus den Augen und versuchte herauszukriegen, woher das Licht kam - und tatsächlich war sehr viel näher als bei meinem letzten Rundblick der solide, graue Umriß von Land zu erkennen. Häuser, Lichter und Menschen. Alles da, dort irgendwo auf diesem Felsenbuckel. Dankbar schwenkte ich fünfzehn Grad nach links und schwamm schneller, gab die sorgfältig aufgesparten Kraftreserven her wie ein reumütiger Geizhals. Und das war dumm von mir, denn vor mir lag kein sanft abfallender Strand. Als ich das kostbare Land erreicht hatte, zeigte sich, daß es ein glatter, senkrecht aus dem Wasser aufragender Felsen war. Nicht ein einziger vorspringender Stein, nicht eine Spalte nichts, woran man sich festhalten und wenigstens kurz von der Anstrengung des Sich-über-Wasser-Haltens ausruhen konnte. Der letzte halbe Kilometer war am schlimmsten. Ich konnte das Land zwar berühren, aber es bot nichts, woran ich mich hätte festklammern können. Es mußte irgendwo eine Bresche geben, wenn ich nur weit genug schwamm, aber ich war mit meinen Kräften so gut wie am Ende. Ich kämpfte mich matt durch die Wellen vorwärts und hatte dabei den undeutlichen Wunsch, ich könnte durch warmes, ruhiges Wasser gleiten wie 14
Mark Spitz, dann anschlagen und mich an einer schönen metallenen Stange festhalten, die Füße sicher auf dem Beckenboden. In Wirklichkeit aber machte ich wenig später eine Art Bauchklatscher auf eine schmale, von großen Felsbrocken gesäumte Bootsrampe. Ich lag halb im Wasser, halb draußen, und rang nach Atem, der mir ganz ohne mein Wissen abhanden gekommen war. Meine Brust hob und senkte sich schnell. Ich hustete. Es war nicht richtig dunkel, sondern es herrschte diese langsame nördliche Dämmerung. Es hätte von mir aus auch drei Uhr morgens sein können - der kalte, nasse Beton unter meiner Wange fühlte sich so warm und weich an wie ein Federkissen. Oben knirschten in gleichmäßigem Rhythmus Schritte den Kai entlang, und dann war es plötzlich still. Ich bemühte mich, den Kopf ein wenig anzuheben und mit einer abgestorbenen Hand matt zu winken. »Hvem er der?« fragte eine Männerstimme. Oder so etwas Ähnliches. Ich ließ eine Art von Krächzen hören, und da kam er, vorsichtig seitwärts gehend, die Bootsrampe herunter auf mich zu, eine gut eingepackte, wenn auch in der regennassen Düsterkeit nur verschwommen erkennbare Gestalt. Er wiederholte seine Frage, die ich immer noch nicht verstand. »Ich bin Engländer«, sagte ich. »Können Sie mir bitte helfen?« Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts. Dann ging der Mann fort. Was soll’s, dachte ich. Zumindest von der Hüfte an aufwärts war ich sicher in Norwegen angekommen. Ich hatte einfach nicht die Energie, mich hinaufzuziehen, bis meine Füße aus dem Wasser waren, jedenfalls noch nicht gleich. Aber das wird schon noch kommen, dachte ich, nur mit der Ruhe. Der Mann kehrte zurück und brachte einen Freund mit. Wie 15
undankbar von mir, ihn so zu verkennen! Der Begleiter spähte durch den Regen und fragte: »Sie sind Engländer? Haben Sie gesagt, daß Sie Engländer sind?« Sein Ton schien auszudrücken, daß die englische Nationalität solche Torheiten wie das oktoberliche Badengehen in Oberhemd und Unterhose oder das Herumliegen auf Bootsrampen automatisch erklärte. »Ja«, erwiderte ich. »Sind Sie über Bord gegangen?« »In gewisser Weise.« Ich spürte, wie er seine Hand unter meine Achsel schob. »Kommen Sie. Raus aus dem Wasser!« Ich quälte mich aus dem Wasser auf die Bootsrampe und kroch dann - mehr oder weniger mit Unterstützung meiner beiden Retter - bis zum Kai hinauf, der mit Pfosten und Geländer eingefaßt war. Ich saß, den Rücken an einen dieser Pfosten gelehnt, auf dem Boden und wünschte, ich hätte genug Kraft aufzustehen. Die beiden Männer berieten sich auf norwegisch. Dann sagte der, der Englisch sprach: »Wir bringen Sie in mein Haus, damit Sie trocken und warm werden.« »Danke«, sagte ich, und das kam bei Gott von Herzen. Einer von ihnen ging wieder fort und kehrte mit einem alten, zerbeulten Lieferwagen zurück. Sie bestanden darauf, daß ich mich auf den Beifahrersitz setzte, obwohl ich anbot, nach hinten zu gehen und den Laderaum naß zu machen, und dann brachten sie mich auf schnellstem Weg zu einem ein paar hundert Meter entfernten Holzhaus, das in der Nähe von ein oder zwei anderen stand. Kein Dorf, keine Geschäfte, kein Telefon. »Dies ist eine Insel«, erklärte mir mein Retter. »Einen Kilometer lang, dreihundert Meter breit.« Er nannte mir ihren Namen, den ich aber nicht ganz mitbekam. 16
Das Wohnzimmer war klein und hell. Es wurde von einem riesigen Kachelofen erwärmt, der mindestens ein Sechstel des Raumes einnahm. Im Licht der Stube erwies sich, daß mein Retter ein kleiner, freundlicher Mann mittleren Alters war, der seine Hände zum Arbeiten benutzte. Er schüttelte bei meinem Anblick den Kopf und brachte zuerst eine Decke herbei und dann, nach einigem Herumkramen, ein dickes Baumwollhemd und ein Paar Hosen. »Sie sind kein Seemann«, sagte er in feststellendem Ton, während er zusah, wie ich mich von Hemd und Unterhose zu befreien suchte. »Nein«, gab ich ihm recht. Meine Brieftasche fiel zu Boden. Ich war ganz überrascht, daß sie noch da war - ich hatte sie völlig vergessen. Der nur norwegisch sprechende Retter hob sie höflich auf und reichte sie mir mit einem breiten Grinsen. Er sah seinem Freund sehr ähnlich. Unterbrochen von nicht zu unterdrückenden Zitteranfällen erzählte ich ihnen, was passiert war, und fragte sie, wie ich in die Stadt zurückkommen könne. Sie besprachen die Sache, während ich mich anzog, wobei sie zuerst häufig den Kopf schüttelten, schließlich aber ein paarmal nickten. »Wenn Sie sich aufgewärmt haben, bringen wir Sie mit dem Boot hin«, sagte derjenige, der Englisch sprach. Er sah zu der Brieftasche hin, die jetzt auf einem Tisch aus gewachstem Fichtenholz lag. »Wir möchten Sie nur bitten, uns den Sprit zu bezahlen. Wenn Ihnen das möglich ist.« Wir zogen zusammen das durchweichte Geld heraus und breiteten es auf dem Tisch aus. Ich bat sie, sich soviel davon zu nehmen, wie sie wollten, aber nach einer kurzen Beratung wählten sie nur einen Fünfzigkronenschein. Ich drängte sie, die Summe zu verdoppeln. Es würde nicht soviel kosten, wehrten sie ab, legten aber schließlich doch zwei Scheine beiseite und 17
trockneten den Rest für mich so schnell auf dem Ofen, daß sich die Ecken einrollten. Nach weiteren Beratungen gingen sie an einen Schrank und holten eine Flasche mit einer blaßgelben Flüssigkeit heraus. Der Flasche folgte ein kleines Gläschen, in das ein beschiedenes Schlückchen eingegossen wurde. Dann reichten sie mir das Glas. »Skol!« sagten sie. »Skol!« wiederholte ich. Sie sahen mir interessiert beim Trinken zu. Mildes Brennen in der Kehle, Hitze im Magen, und schon bald breitete sich Wärme in den gefrorenen Adern aus. Sie lächelten. »Aquavit«, sagte mein Gastgeber und verstaute die kostbare Flasche wieder, auf daß sie für den nächsten bedürftigen Fremden bereitstehe, der an ihre Tür geschwommen kam. Sie schlugen vor, ich sollte mich eine Weile auf den einzigen bequem aussehenden Stuhl setzen und mich ausruhen. Da verschiedene Muskeln immer noch vor Schwäche zitterten, schien mir das eine gute Idee zu sein, und so ruhte ich mich aus, während sie damit beschäftigt waren, Ölzeug herbeizuholen. Als sie mit Anziehen fertig waren, hatte meine Haut das häßliche bläulich-purpurne Weiß verloren und wieder ihre übliche Blässe angenommen. »Fühlen Sie sich jetzt besser?« erkundigte sich mein Gastgeber lächelnd. »Ganz entschieden.« Die beiden nickten erfreut und hielten mir ein überzähliges Ölzeug hin, das ich jetzt haben konnte. Sie brachten mich in einem großen, übelriechenden Fischkutter durch den lichtergesäumten Fjord in die Stadt zurück, und es regnete die ganze Zeit. Ich rechnete während der Fahrt aus, daß ich etwa zwei Stunden im Wasser gewesen sein mußte, was nicht viel 18
über die Strömungsverhältnisse im Fjord, die Ineffektivität meines Schwimmens oder die Entfernung, die ich zurückgelegt hatte, aussagte, immerhin aber zuverlässig bewies, daß das Wasser wärmer gewesen war als ein Grad über Null.
19
2 Sie warteten, bis ich mich im Grand Hotel umgezogen hatte, damit sie die mir geliehenen Sachen wieder mitnehmen konnten. Wir trennten uns mit einem warmen Händedruck und in großer Kameradschaftlichkeit, und erst als sie fort waren, fiel mir ein, daß ich sie gar nicht nach ihren Namen gefragt hatte. Nur zu gerne wäre ich sofort ins Bett gegangen und hätte ein halbes Jahrhundert geschlafen, aber der Gedanke an Arnes Frau, die zu Hause saß und auf seine Heimkehr wartete, schob dem einen Riegel vor. Ich brachte also die folgenden Stunden bei verschiedenen norwegischen Behörden zu, denen ich berichtete, was sich ereignet hatte. Als die Polizei damit fertig war, sich Notizen zu machen, und man mir sagte, sie würden jemanden schicken, um Mrs. Kristiansen zu verständigen, bot ich an, den Beamten zu begleiten. Man war damit einverstanden. Wir fuhren mit einem Polizeiwagen in eine wohlhabende, nicht weit vom Stadtzentrum entfernte Straße und klingelten im ersten Stock eines großen Holzhauses an der Tür zur Wohnung C. Die junge Frau, die uns öffnete, hatte ein festes, freundliches, etwa dreißigjähriges Gesicht und sah uns aus klaren grauen Augen fragend an. Die Wohnung hinter ihr wirkte warm und farbenfroh, und die Luft war voller Beethoven. »Ist Mrs. Kristiansen zu Hause?« fragte ich. »Ja«, antwortete sie. »Ich bin Mrs. Kristiansen.« Ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Sonderbare Käuze wie Arne konnten eigentlich nicht mit schlanken, jungen Frauen, denen das dichte hellblonde Haar in leichten Locken auf die Schulter fiel, verheiratet sein. Ihr Blick wanderte von meinem weit weniger auffallenden Gesicht zu dem Polizisten 20
hinter mir, und ihre Augen weiteten sich. »Mein Name ist David Cleveland«, sagte ich. »Ich war heute nachmittag mit Arne zusammen…« »Ah, Sie sind das«, rief sie aus. »Kommen Sie doch herein… ich bin ja so froh…« Sie hielt die Tür auf, drehte sich um und rief: »Arne! Arne, sieh mal, wer da ist.« Er trat in den Flur. Sehr lebendig. Wir starrten uns bestürzt an. Mein Gesicht muß die Überraschung und den Schock widergespiegelt haben, die ich auf seinem sah. Dann kam er mit ausgestreckter Hand auf mich zu, wobei sich sein Gesicht zum breitesten Lächeln aller Zeiten verzog. »David! Ich kann es gar nicht glauben! Ich habe dich als ertrunken gemeldet.« Er umfaßte meine beiden Hände und schüttelte sie herzlich. »Komm herein, komm herein, mein Lieber, und erzähl mir, wie du gerettet worden bist. Ich war so traurig… ich habe Kari gerade…« Seine Frau nickte, war so glücklich wie er. Der Polizeibeamte hinter mir sagte: »Allem Anschein nach ist Mr. Kristiansen also doch nicht ertrunken«, eine Äußerung, die uns in unserem Zustand größter Erleichterung ungeheuer komisch vorkam. Wir brachen alle in Lachen aus. Selbst der Polizist lächelte. »Mich hat ein Fischer in der Nähe von Nesodden aufgesammelt«, erklärte ihm Arne. »Ich habe den Unfall der Polizei dort gemeldet. Sie sagten mir, sie würden ein Boot rausschicken und nach Mr. Cleveland suchen, hatten aber keine große Hoffnung, ihn noch zu finden. Ich rufe besser gleich mal dort an…« »Danke«, sagte der Polizist, »das wäre gut.« Und dann lächelte er uns alle noch einmal an und ging. 21
Kari Kristiansen schloß die Wohnungstür, sagte, mich nun ebenfalls duzend: »Komm herein, das müssen wir feiern«, und führte mich ins Wohnzimmer. Dort dröhnte Beethoven vor sich hin, und sie stellte den Apparat ab. »Arne macht immer laute Musik, wenn er aus dem Gleichgewicht geraten ist«, sagte sie. Arne telefonierte draußen im Flur, und aus dem erklärenden Strom norwegischer Worte konnte ich meinen mit Erstaunen und Erleichterung ausgesprochenen Namen heraushören. »Es ist wunderbar«, sagte er, als er, sich die Hände reibend, zu uns hereinkam. »Wunderbar.« Er bedeutete mir, ich solle mich auf das tiefe, bequeme Sofa vor dem fröhlich im Kamin brennenden Holzfeuer setzen. »Die Polizei in Nesodden meint, sie hätten ein Boot rausgeschickt und nach dir gesucht, aber es sei so dunkel und regnerisch gewesen, daß sie nichts mehr hätten sehen können.« »Es tut mir leid, daß ich ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe«, sagte ich. »Mein lieber Freund…« Er spreizte die Finger. »Das ist doch nicht der Rede wert. Und jetzt trinken wir einen Schluck, was? Zur Feier des Tages!« Er schenkte aus einer Flasche, die bereits geöffnet auf einem kleinen Beistelltischchen gestanden hatte, Rotwein ein. »Arne war den ganzen Abend so deprimiert«, sagte Kari. »Es ist wirklich ein Wunder, daß ihr beiden gerettet worden seid.« Wir tauschten unsere Geschichten aus. Arne hatte sich seine roten Klamotten vom Leib gerissen und die Gummistiefel sofort von den Füßen gestreift (ich hätte wahrscheinlich wissen können, daß ein Mann, der auf dem Meer zu Hause ist, sehr lose sitzende Gummistiefel trägt). Er hatte dann ein paar Minuten lang meinen Namen gerufen und nach mir gesucht, aber keine Spur von mir entdecken können. »Als ich dich zum letzten Mal sah«, sagte er entschuldigend, »warst du noch im Boot, und da nahm ich an, daß dich die 22
Motorjacht erwischt haben mußte, und als ich dich dann nicht finden konnte, dachte ich, daß du bestimmt schon tot wärst.« Er sei daraufhin losgeschwommen, berichtete er. Und da er sehr viel mehr als ich über Gezeiten und Winde wußte, hatte er fast genau die entgegengesetzte Richtung gewählt. Er war schließlich in der Nähe der Küste von einem kleinen heimfahrenden Fischerboot aufgenommen worden, das aber nicht mehr genug Treibstoff hatte, um noch in den Fjord hinauszufahren und nach mir zu suchen. Es hatte ihn jedoch in die kleine Stadt gebracht, wo er der Polizei mein Verschwinden gemeldet hatte. Schließlich war er mit einem Mietboot nach Oslo weitergefahren. Meine Geschichte war der seinen derart ähnlich, daß sie in zwei Sätzen erzählt war: Ich hatte schwimmend eine Insel erreicht. Zwei Männer hatten mich in ihrem Boot in die Stadt zurückgebracht. Arne wühlte in einem unordentlichen Haufen Papier und zog triumphierend eine Karte daraus hervor. Er entfaltete sie, deutete auf den Teil des Fjords, wo er am breitesten war, und zeigte Kari und mir die Stelle, an der unser Boot gesunken war. »Ausgerechnet da!« rief Kari aus. »Warum seid ihr denn so weit rausgefahren?« »Du kennst mich doch«, sagte Arne und faltete die Karte wieder zusammen. »Ich bin eben gern in Bewegung.« Sie sah ihn nachsichtig an. »Du meinst, du hast es nicht gern, wenn man dir folgt.« Arne machte ein erschrockenes Gesicht, aber daß er unter Verfolgungswahn litt, war so unübersehbar wie Gulliver in Liliput. Ich sagte: »Die Polizei hat mich gefragt, ob ich den Namen der Motorjacht erkennen konnte.« »Konntest du?« fragte Arne. 23
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Und du?« Er blinzelte sich durch eine dieser irritierenden Schweigephasen, in die er schon bei der allereinfachsten Frage zu verfallen schien, und sagte am Ende nur: »Nein.« »Ich glaube, es war überhaupt kein Name da«, sagte ich. Beide sahen mich überrascht an. »Da muß aber doch einer gewesen sein«, meinte Kari. »Also… mir hat sich nichts eingeprägt… kein Name, keine Zulassungsnummer, kein Heimathafen. Vielleicht gibt’s das ja bei euch in Norwegen nicht.« »Aber natürlich«, sagte Kari verwirrt. »Natürlich sind diese Angaben auch bei uns üblich.« Arne dachte gründlich nach und sagte dann: »Sie fuhr zu schnell… und direkt auf uns zu. Sie muß einen Namen gehabt haben. Wir konnten ihn bloß nicht sehen.« Er sagte das mit einer solchen Bestimmtheit, als ob das Thema damit erschöpfend behandelt worden wäre. Ich nickte kurz und ließ es dabei bewenden, war aber sicher, daß auf dem heranbrausenden schwarzen Schiffsrumpf nichts anderes zu sehen gewesen war als schwarze Farbe. Wie, so fragte ich mich, stand es wohl in dieser Meerenge mit Schmugglern? »Schade«, sagte ich. »Du hättest sonst vielleicht Schadensersatz für dein Dinghi bekommen.« »Es ist versichert«, erwiderte er. »Mach dir da mal keine Sorgen.« Kari meinte: »Es ist eine Schande, daß das Boot nicht gestoppt hat. Die müssen den Stoß doch gespürt haben… selbst eine so große und schnelle Motorjacht, wie es nach Arnes Bericht eine war, kann doch wohl kein Dinghi rammen, ohne daß irgend jemand an Bord etwas merkt.« Unfall mit Fahrerflucht, dachte ich unernst. Passiert auf den Straßen, warum soll’s nicht auch auf dem Wasser vorkommen? 24
»Arne hatte schon Angst, du könntest nicht schwimmen.« »Ich schaffe ein paar Bahnen im Becken«, sagte ich. »Aber an solche Langstrecken habe ich mich noch nie gewagt.« »Du hattest Glück«, sagte sie ernst. »Arne auch.« Ich sah ihn nachdenklich an, denn ich war gute zehn Jahre jünger als er und der totalen Erschöpfung sehr nahe gewesen. »O nein. Arne ist ein hervorragender Schwimmer. Überhaupt ein großer Sportler. Sehr fit und ausdauernd.« Sie lächelte ironisch, aber der Stolz der Ehefrau war doch spürbar. »Er hat früher oft bei Langlaufrennen gewonnen.« Es war mir nicht entgangen, daß in einer Nische im Flur mehrere Paare Skier, Squash-Schläger, Angelruten, Wanderschuhe und ein halbes Dutzend Anoraks in der Art des verlorengegangenen roten zusammengewürfelt waren. Einem Mann wie Arne, der gern in Bewegung war, stand durchaus die entsprechende Ausrüstung zur Verfügung. »Hast du eigentlich schon etwas gegessen?« fragte Kari plötzlich. »Ich meine, seit deinem Schwimmausflug? Hast du überhaupt ans Essen gedacht?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe mir nur Sorgen um Arne gemacht.« Sie stand lächelnd auf. »Arne hatte auch keinen Appetit aufs Abendessen.« Sie sah auf die Uhr. Zehn Minuten vor zehn. »Ich werde euch beiden mal was holen«, sagte sie. Arne blickte ihr liebevoll nach, als sie in die Küche entschwand. »Wie findest du sie? Ist sie nicht hübsch?« Normalerweise mochte ich Männer nicht, die einen dazu aufforderten, ihre Frauen zu bewundern, als ob es sich um Besitztümer wie Autos oder dergleichen handelte, aber an diesem Abend war ich bereit, Arne eine ganze Menge 25
nachzusehen. »Ja«, antwortete ich mit größerer Aufrichtigkeit als bei vielen anderen Anlässen dieser Art - und Arne grinste erfreut. »Noch etwas Wein?«, fragte er, stand unruhig auf und schenkte uns beiden nach. »Eure Wohnung ist ebenfalls sehr hübsch«, bemerkte ich. Er warf mir über die Schulter einen überraschten Blick zu. »Das ist auch Kari. Sie… es ist ihr Job. Für Leute Räume auszustatten. Büros, Hotels, in der Richtung.« Ihr eigenes Wohnzimmer war ein Raum, in dem Naturholz und weiße Farbe den Charakter bestimmten, in dem Tischlampen mit pergamentartigen Schirmen ein warmes, gelbliches Licht auf jutefarbene Polstermöbel und überall verstreute Kissen in leuchtenden Farben warfen. Eine Mischung aus sorgfältigem Arrangement und Zufälligkeit, überzogen vom anheimelnden Müll eines erfüllten Lebens. Überordentliche Zimmer bedrückten mich immer - das der Kristiansens war gerade richtig. Arne brachte mir mein Glas und setzte sich mir gegenüber nahe ans Feuer. Sein Haar, nun nicht mehr verborgen, war eher grau als blond, länger als früher und wirkte auf alle Fälle distinguierter. »Morgen«, sagte ich, »würde ich gern mal mit dem Vorsitzenden der Rennbahn von Øvrevoll sprechen.« Er sah überrascht aus, als hätte er den eigentlichen Grund meines Besuches vergessen. »Ja.« Er blinzelte ein wenig. »Morgen ist Samstag. Am Sonntag ist das Grand National. Er wird am Sonntag auf der Rennbahn sein.« Ein diebischer Jockey soll dem guten Mann nicht seinen freien Tag verderben, wollte Arne damit zum Ausdruck bringen, und deshalb zuckte ich die Achseln und sagte, der Sonntag wäre mir 26
auch recht. »Vielleicht besuche ich morgen dann mal Gunnar Holth.« Aus irgendeinem Grund erfüllte Arne auch dieser Gedanke nicht mit Freude. Nach einem längeren Schweigen seinerseits fand ich heraus, daß er vorhatte, den ganzen Tag angeln zu gehen, und fürchtete, ich würde ihn bei meinem Besuch dabeihaben wollen. »Spricht Gunnar Holth Englisch?« fragte ich ihn. »O ja.« »Dann gehe ich allein zu ihm.« Er bedachte mich mit einem herzlichen Lächeln und sprang auf, um Kari zu helfen, die mit einem vollen Tablett aus der Küche zurückkehrte. Sie hatte Kaffee gemacht und mit Krabben, Käse und Ananas belegte Brote, die wir restlos aufaßen. »Du mußt mal einen Abend herkommen«, sagte Kari. »Dann koche ich dir was Ordentliches.« Arne pflichtete ihr wärmstens bei und machte noch eine Flasche Wein auf. »Sie ist eine großartige kleine Köchin«, sagte er voll Besitzerstolz. Die großartige kleine Köchin warf ihr dichtes blondes Haar zurück und streckte ihren schönen Hals. Ihr Profil hatte die gleiche Klasse, und auf einem Wangenknochen waren drei kleine braune Male, die wie sandfarbene Sommersprossen aussahen. »Du bist uns jederzeit willkommen«, sagte sie. Gegen ein Uhr brachte mich ein Taxi zurück ins Grand Hotel. Ich schlief schlecht, wachte um sieben auf und fühlte mich wie Henry Coopers Punchingball. Eine Befragung des Badezimmerspiegels ergab, daß ich auf meinem linken Schulterblatt einen tellergroßen, unregelmäßig roten Fleck hatte - eine Erinnerung an zusammengestoßene 27
Boote. Hinzu kam, daß jede Muskelfaser unter den Qualen litt, die einem allzu große Anstrengungen am folgenden Morgen bescheren. David Cleveland war allem Anschein nach doch kein Matthew Webb. Die Sache wurde durch Bad, Anziehen und Frühstück nicht wesentlich besser, auch nicht durch ein Telefongespräch mit Gunnar Holth. »Wenn Sie unbedingt wollen, dann kommen Sie halt«, meinte er. »Aber ich kann Ihnen nichts sagen. Sie vergeuden nur Ihre Zeit.« Da alle Ermittler eine Menge Zeit damit vergeuden, daß sie Leuten zuhören, die nichts zu sagen haben, fuhr ich natürlich hin. Er besaß einen an die Rennbahn angrenzenden Stallhof und hatte eine aggressive Art. »Fragen, nichts als Fragen«, sagte er. »Da gibt’s nichts zu erzählen.« Ich bezahlte den Taxifahrer. »Sie hätten ihn nicht wegschicken sollen«, sagte Gunnar Holth. »Sie werden schon bald wieder gehen.« Ich lächelte. »Ich kann auch mit der Straßenbahn zurückfahren.« Er würdigte mich voller Widerwillen eines kurzen Blicks. »Sie sehen nicht wie ein Funktionär des Jockey Club aus.« »Ich würde es sehr zu schätzen wissen«, entgegnete ich, »wenn Sie mir Ihre Pferde zeigten. Arne Kristiansen meint, daß Sie sehr gute in Ihrem Stall stehen haben… die in diesem Jahr schon wichtige Preise gewonnen haben.« Da taute er natürlich etwas auf. Er deutete auf ein großes Stallgebäude jenseits eines weiten, matschigen Platzes. Auf dem Weg dorthin zeigte er mir in seinen Stiefeln, daß ich nicht in gewienerten Halbschuhen hätte kommen sollen. Er war klein, drahtig, von mittlerem Alter und ein typischer Stallmensch, den 28
Pferden, so nahm ich an, näher als deren Besitzern. Und sein Englisch hatte einen irischen Akzent. Im Stall gab es zwei lange Boxenreihen mit einem breiten Gang dazwischen. Über den meisten der Halbtüren waren Pferdeköpfe zu sehen, und drei oder vier junge Burschen schleppten Eimer mit Wasser oder Heubündel zu den Boxen. »Sie sind gerade erst vom Training zurück«, sagte Holth. »Wir trainieren auf der Sandbahn des Platzes.« Er wandte sich nach links und öffnete die Tür der ersten Box. »Dieser Knabe läuft morgen beim Grand National. Sehen Sie sich nur mal seine Schultern an. Ist das nicht ein prachtvolles Pferd?« »Bob Sherman hat mit ihm ein Rennen gewonnen, und zwar an dem Tag, an dem er dann verschwunden ist«, sagte ich. Holth warf mir wortlos einen scharfen Blick zu und ging in die Box, um ein kräftig aussehendes Pferd zu tätscheln, das mehr Masse als Rasse hatte. Er betastete die Beine des Pferdes, schien zufrieden und kam zu mir zurück. »Woher wissen Sie das?« fragte er. Ich konnte es ihm ruhig erzählen. »Arne Kristiansen hat mir eine Liste der Rennen gegeben, bei denen Bob Sherman hier in Norwegen zuletzt geritten ist. Er meinte, daß Ihr Pferd hier wahrscheinlich das Grand National gewinnen wird. Und wenn Bob Sherman nur ein bißchen Grips hätte, dann wäre er zu diesem Rennen hergekommen und hätte danach die Tageseinnahmen geklaut, was alles in allem ein sehr viel besserer Fang gewesen wäre.« Holth gestattete sich einen Anflug von Belustigung. »Da hat er recht.« Wir setzten unseren Rundgang fort und bewunderten jeden einzelnen Stallbewohner. Es waren insgesamt etwa zwanzig Pferde, von denen drei Viertel bei Flachrennen liefen. Obwohl es brauchbare Tiere zu sein schienen, sah keines so aus, als könnte es Epsom im Sturm erobern. Aber nach ihrem Fell und 29
allgemeinen Zustand zu urteilen, verstand Holth sein Handwerk. Ein Teil des Stalles war abgetrennt worden und diente den Stallburschen als Unterkunft. Holth zeigte mir auch diese Räumlichkeiten. Schlafraum, Waschraum und Küche. »Bob wohnte meistens hier«, sagte er. Ich sah mich in aller Ruhe in dem großen Hauptraum mit seinem halben Dutzend Doppelstockbetten, dem nackten Bretterfußboden, dem Holztisch und den Holzstühlen um. Ein großer brauner Kachelofen und Doppelfenster mit Vorhängen, so dick wie Decken, verhießen behaglichen Schutz vor künftigem Schnee, und ein paar Kalender mit spärlich bekleideten Mädchen schmückten die Wände - aber das alles war doch himmelweit vom Grand Hotel entfernt. »Immer?« fragte ich. Holth zuckte die Achseln. »Er meinte, das hier sei gut genug, und er sparte die Ausgabe für das Hotel. Da ist doch wohl nichts Verkehrtes dran, oder?« »Ganz und gar nicht«, erwiderte ich. Er schwieg eine Weile und sagte dann: »Ein paarmal hat er auch bei einem Besitzer gewohnt.« »Bei welchem?« »Oh… bei dem, dem Whitefire gehört. Per Bjørn Sandvik.« »Wie oft?« Holth antwortete leicht irritiert: »Was spielt das für ’ne Rolle? Zweimal, glaube ich. Ja, zweimal. Nicht beim letzten Mal, sondern die beiden Male davor.« »Wie oft ist er insgesamt herübergekommen?« »Vielleicht sechsmal. Oder sieben… oder achtmal.« »Den ganzen Sommer über?« »Im vergangenen Jahr war er nicht hier, wenn es das ist, was Sie meinen.« 30
»Aber er kam gern?« »Natürlich kam er gern. Alle britischen Jockeys, die eingeladen werden, kommen gern her. Gute Bezahlung, verstehen Sie?« »Wie gut?« »Na ja, sie bekommen die Reise bezahlt und einen Teil der Aufenthaltskosten. Dann die Teilnahmegebühren. Und die zusätzlichen Rennpreise.« »Die zusätzlichen Rennpreise zahlt der Rennverein?« »Nicht ganz. Also… der Rennverein zahlt den Jockeys das Geld, holt es sich aber von den Besitzern wieder, für die die einzelnen Jockeys geritten sind.« »Demnach zahlt der Besitzer im Endeffekt so gut wie alles, die Gebühren, den Gewinnanteil, einen Teil der Reise- und Aufenthaltskosten und einen Teil der zusätzlichen Rennpreise?« »So ist es.« »Was geschieht, wenn nach alledem ein Jockey ein miserables Rennen reitet?« Holth antwortete mit tödlichem Ernst: »Der Besitzer bittet den Jockey nicht noch einmal, für ihn zu reiten.« Wir traten aus dem Stall hinaus wieder in den Schlamm. Es hatte zwar an diesem Tag nicht geregnet, aber die Drohung hing noch in der kalten, nebligen Luft. »Kommen Sie mit rüber zu mir«, schlug Holth vor. »Trinken Sie noch einen Kaffee, bevor Sie zur Straßenbahn gehen.« »Großartig!« sagte ich. Er bewohnte einen kleinen Holzbungalow mit Spitzengardinen an den Fenstern und Geranientöpfen auf jedem Fensterbrett. Der Ofen im Wohnzimmer brannte schon, und darauf war in einer orangefarbenen Kanne Kaffee warmgestellt. Gunnar holte aus einem Schrank zwei Becher und eine Tüte mit Zucker. 31
»Hätten die Besitzer Bob Sherman gebeten, wieder für sie zu reiten?« Er schenkte den Kaffee ein, tat Zucker hinein und rührte mit einem weißen Plastiklöffel um. »Per Bjørn Sandvik schon. Und Sven Wangen. Das ist der Besitzer des Apfelschimmels ganz hinten im Stall.« Er dachte nach. »Rolf Torp… na ja. Bob verlor am Tag seiner Abreise ein Rennen, und Rolf Torp war der Ansicht, daß er es mit Leichtigkeit hätte gewinnen können.« »Und, hätte er?« Holth zuckte die Achseln. »Pferde sind keine Maschinen«, sagte er. »Aber ich trainiere die Pferde von Rolf Torp auch nicht und kann mir deshalb kein Urteil erlauben.« »Wer trainiert sie?« »Paul Sundby.« »Kommt Rolf Torp morgen zum Rennen?« »Selbstverständlich«, erwiderte Holth. »Ihm gehört doch der Favorit des Grand National.« »Und Sie?« fragte ich weiter. »Würden Sie ihn gebeten haben, wieder für Sie zu reiten?« »Aber sicher«, antwortete er ohne Zögern. »Bob ist ein guter Jockey. Er beachtet, was man ihm über ein Pferd sagt. Er reitet mit dem Kopf. Man hätte ihn nicht so oft eingeladen, wenn er nicht gut wäre.« Die Tür, die auf den Hof hinausführte, öffnete sich ganz plötzlich, und einer der Stallburschen streckte den Kopf herein. Er war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, fröhlich und trug eine Wollmütze mit Troddel. »Würden Sie mal ’nen Blick auf diese verdammte Mähre werfen, Gunny?« fragte er. »Das ist vielleicht ’ne blöde Kuh.« Der Trainer sagte, er werde gleich kommen, und der Kopf verschwand. 32
»Der ist ja Ire«, sagte ich überrascht. »Sicher. Ich habe drei irische Stallburschen und einen aus Yorkshire. Und drei sind von hier. Im norwegischen Rennsport gibt’s viele Jungs aus Großbritannien.« »Warum das?« »Sie haben hier die Chance, an Rennen teilzunehmen. Eher als zu Hause.« Wir tranken unseren Kaffee, der gut und stark war. Ich fragte: »Wie ist Bob eigentlich zu den Rennen hingekommen? Hat er sich je einen Wagen geliehen?« »Nein, ich glaube nicht. Wenn er hier bei mir war, ist er immer mit mir zur Rennbahn rübergefahren.« »Hat er sich Ihr Auto mal ausgeliehen? Oder das eines anderen?« »Meins nie. Ich glaube nicht, daß er jemals selbst gefahren ist, wenn er hier war.« »Haben Sie ihn am Tag seines Verschwindens außer zum Rennen sonst noch irgendwohin gefahren?« »Nein.« Ich wußte aus den Unterlagen, die bei meiner Ankunft im Hotel auf mich gewartet hatten, daß man hier davon ausgegangen war, daß Bob mit dem Taxi zum Flugplatz fahren würde, um den letzten Flug nach Heathrow noch zu kriegen. Das hatte er aber nicht getan. Der bestellte Taxifahrer hatte, als Bob nicht erschien, nur die Achseln gezuckt und statt seiner ein paar andere Rennplatzbesucher in die Stadt zurückgebracht. Damit blieben nur noch die öffentlichen Verkehrsmittel, die Taxifahrer, die Bob nicht vom Sehen kannten, sowie die Autos anderer Leute. Und außerdem noch, wie ich annahm, seine eigenen Füße. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, die Rennbahn zu verlassen, ohne von jemandem, der ihn kannte, gesehen zu werden, vor allem, wenn das letzte Rennen, wie ich aus den 33
Unterlagen schließen konnte, erst nach Einbruch der Dunkelheit stattgefunden hatte. Ich setzte meinen leeren Kaffeebecher ab, und Gunnar Holth sagte unvermittelt: »Könnten Sie sich nicht mal um Bobs Frau kümmern?« »Seine Frau? Ich könnte mich mit ihr in Verbindung setzen, wenn ich wieder in England bin und irgend etwas Brauchbares herausgefunden habe.« »Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf, »sie ist hier.« »Hier?« Er nickte. »In Oslo. Sie will partout nicht nach Hause fahren.« »Davon hat Arne gar nichts gesagt.« Holth lachte. »Sie folgt ihm überallhin wie ein Hund. Stellt Fragen wie Sie. Wer hat Bob gehen sehen? Mit wem ist er fortgegangen? Warum findet ihn keiner? Sie erscheint bei jedem Rennen und fragt den Leuten Löcher in den Bauch. Das wird inzwischen allen etwas viel.« »Wissen Sie, wo sie wohnt?« Er nickte eifrig und holte ein Stück Papier aus dem Regal. »Im Norsland Hotel. Zweitklassig, nicht im Stadtzentrum. Hier ist ihre Telefonnummer. Sie hat sie mir gegeben, falls mir irgend etwas zu der Geschichte einfallen sollte, was weiterhelfen könnte.« Er zuckte die Achseln. »Sie tut uns allen leid, aber ich wünschte, sie würde endlich abreisen.« »Seien Sie doch so gut und rufen Sie sie an«, sagte ich. »Sagen Sie ihr, ich würde ihr gern ein paar Fragen zu Bob stellen. Schlagen Sie ihr heute nachmittag vor.« »Ich habe Ihren Namen vergessen«, sagte er, ohne sich zu entschuldigen. Ich lächelte und gab ihm meine Karte. Er warf einen ungläubigen Blick erst auf sie, dann auf mich, rief aber im Norsland Hotel an. Mrs. Emma Sherman wurde an den Apparat 34
geholt. Holth sagte in die Sprechmuschel: »Ein Mr. David Cleveland… ist aus England herübergekommen, um nach Ihrem Mann zu suchen.« Er las von der Karte ab: »Chefermittler, Ermittlungsabteilung des Jockey Club, Portman Square, London. Er würde Sie gern heute nachmittag aufsuchen.« Holth hörte sich ihre Antwort an, sah dann zu mir herüber und fragte: »Wo?« »In ihrem Hotel. Drei Uhr.« Er gab die Auskunft weiter. »Sie erwartet Sie«, sagte er und legte auf. »Gut.« »Sagen Sie ihr, sie soll nach Hause fahren«, meinte er.
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3 Sie erwartete mich in der kleinen Halle des Norsland Hotels. Sie saß auf der Kante eines Sessels und blickte ängstlich forschend in die Gesichter der Männer, die an ihr vorbeigingen. Ich betrat das Hotel nicht sofort, sondern beobachtete sie eine Weile durch die gläserne Eingangstür. Sie sah klein, blaß und sehr, sehr nervös aus. Zweimal stand sie halb auf und sank dann wieder zurück, als der Mann, den sie ins Visier genommen hatte, ihr keine Beachtung schenkte und vorbeieilte. Ich schob mich schließlich durch die Tür in eine Luft, die kaum wärmer war als die draußen, was in einer komplett zentralgeheizten Stadt nicht gerade für das Management des Hotels sprach. Emma Sherman warf mir einen kurzen Blick zu und schaute dann wieder zur Tür. Ich war nicht das, was sie erwartete - erst der hinter mir eintretende Herr, etwa sechzigjährig und von militärischer Erscheinung, ließ sie wieder halb hochfahren. Er ging an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und holte sich an der Rezeption seinen Schlüssel. Da setzte sie sich wieder und sah jetzt noch nervöser aus. Ich trat zu ihr. »Mrs. Sherman?« »Oh.« Sie stand langsam auf. »Haben Sie eine Nachricht von Mr. Cleveland?« »Ich bin David Cleveland«, sagte ich. »Aber…«, fing sie an und verstummte dann wieder. In ihrem angespannten, müden Gesicht war jetzt auch noch Überraschung zu lesen, aber sie schien nicht mehr fähig zu sein, irgend etwas sehr deutlich zu empfinden. Aus der Nähe betrachtet, ging ihre Nervosität in einen Zustand über, der von einem totalen 36
Zusammenbruch nicht weit entfernt war. Die Müdigkeit ließ ihre Haut fast durchsichtig wirken, und sie hatte dunkle Schatten unter den Augen, die die Stumpfheit ihres Blicks betonten. Sie war ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt und hätte hübsch sein sollen - ihre Gesichtsform und die Haare waren danach, aber sie hatten keine Chance. Außerdem war sie, wie mir scheinen wollte, in anderen Umständen. »Wo können wir uns unterhalten?« fragte ich. Sie blickte ziellos in der Lounge umher, in der es drei Sessel und einen Gummibaum, aber keine ruhige Nische gab. »Vielleicht in Ihrem Zimmer?« schlug ich vor. »O nein«, sagte sie sofort, und dann etwas langsamer, wie zur Erklärung: »Es ist sehr klein… nicht bequem… man kann nirgends sitzen.« »Dann kommen Sie«, sagte ich. »Wir suchen uns ein Café.« Sie folgte mir hinaus auf die Straße, und wir schlugen die allgemeine Richtung zum Grand Hotel ein. »Werden Sie ihn finden?« fragte sie und fügte dann hinzu: »Bitte finden Sie ihn!« »Ich werde mein Bestes tun.« »Er hat dieses Geld nicht gestohlen«, sagte sie. »Ganz bestimmt nicht.« Ich sah sie an. Sie zitterte und war noch blasser geworden. Ich blieb stehen und schob meine Hand unter ihren Ellbogen. Ihr Blick wurde glasig, sie versuchte etwas zu sagen und sank mir ohnmächtig in die Arme. Selbst ein bewußtloses Mädchen, das kaum Gewicht auf die Waage bringt, ist auf die Dauer schwer zu halten. Auf das kalte Pflaster konnte ich sie jedoch auch nicht legen. Zwei vorübergehende Fremde hatten zwar freundliche Gesichter, verstanden aber kein Englisch, und ein dritter, der die Sprache verstand, murmelte etwas von Schande, schon um vier Uhr nachmittags derart betrunken zu sein, und hastete weiter. 37
Ich hielt Emma, meine Arme unter den ihren, gegen mich gelehnt und bat die Frau, die als nächste vorbeikam, uns ein Taxi zu rufen. Auch sie betrachtete uns mißbilligend und trat den Rückzug an aber da kam uns, nachdem er ihr einen vernichtenden Blick zugeworfen hatte, ein etwa sechzehnjähriger Junge zu Hilfe. »Ist sie krank?« erkundigte er sich. Sein Englisch war von übertriebener Korrektheit, in der Schule gelernt. »Ja, das ist sie. Kannst du uns ein Taxi rufen?« »Klar. Ich komme wieder. Sie werden…« Er dachte nach, fand das gesuchte Wort: »… warten?« »Ich werde warten«, versprach ich ihm. Er nickte ernst und schoß um die nächste Straßenecke davon, eine schmale Gestalt in der allgegenwärtigen Uniform der Jugend - Bluejeans und eine wattierte Jacke. Er hielt Wort, kam mit einem Taxi zu uns zurück und half mir, die junge Frau hineinzusetzen. »Herzlichen Dank«, sagte ich. Er strahlte. »Ich lerne Englisch«, sagte er. »Du kannst es schon sehr gut.« Als das Taxi davonfuhr, winkte er uns nach - es war eine für beide Seiten höchst zufriedenstellende Begegnung gewesen. Emma Sherman kam während der kurzen Fahrt langsam wieder zu sich, was den Taxifahrer zu beruhigen schien. Er konnte kein Englisch - ausgenommen ein einziges Wort, das er mindestens zehnmal mit Nachdruck wiederholte, nämlich »Arzt«. »Ja«, stimmte ich ihm zu, »ja, im Hotel.« Er zuckte die Achseln und fuhr uns hin. Er half mir dabei, sie in die Empfangshalle zu bringen, und als sie endlich sicher in einem Sessel saß, nahm er das Fahrgeld entgegen. 38
»Arzt«, sagte er noch einmal, als er sich zum Gehen wandte, und ich sagte noch einmal: »Ja.« »Nein«, sagte Bob Shermans Frau kaum hörbar. »Was ist passiert?« »Sie sind ohnmächtig geworden«, antwortete ich kurz. »Und ob nun Arzt oder nicht, Sie müssen sich unbedingt hinlegen. Also, kommen Sie mit rauf…« Es gelang mir, sie auf die Füße zu stellen. Ich führte sie zum Lift und fuhr mit ihr die eine Etage zu meinem Zimmer hinauf. Sie ließ sich ohne weitere Umstände aufs Bett fallen und blieb mit geschlossenen Augen liegen. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mal Ihren Puls fühle?« fragte ich. Sie antwortete weder auf die eine noch auf die andere Weise, weshalb ich mit den Fingern ihr Handgelenk abtastete, bis ich den langsamen Herzschlag spürte. Ihr Arm war schweißnaß, obwohl deutlich kalt, und sie sah alles in allem beunruhigend schwach aus. »Haben Sie Hunger?« erkundigte ich mich. Sie drehte den Kopf als zögernde Verneinung auf dem Kopfkissen hin und her, aber ich vermutete, daß an ihrem Zustand neben der Überanstrengung auch schlichter Nahrungsmangel schuld sein mußte. Sie war viel zu sehr in Sorge gewesen, um an sich selbst denken zu können, und außerdem war das Essen in Norwegen teuer. Eine telefonische Beratung mit dem Hotelrestaurant führte dazu, daß mir eine Kraftbrühe, Brot und Käse zugesagt wurden. »Und Brandy«, sagte ich. »Kein Brandy, Sir. Nicht am Samstag und nicht am Sonntag. Das ist eine gesetzliche Bestimmung.« Man hatte mich darauf aufmerksam gemacht, aber ich hatte es vergessen. Erstaunlich, ein Land gefunden zu haben, dessen Konzessionsbestimmungen noch verrückter waren als die 39
Großbritanniens. In meinem Zimmer gab es jedoch einen kleinen Kühlschrank, der neben Orangensaft und Mineralwasser auch ein Viertelfläschchen Champagner enthielt. Ich hatte immer gefunden, daß guter Schampus durch die Abfüllung in kleine Flaschen verdorben wird, aber es gibt eben für alles eine passende Gelegenheit. Emma meinte, sie könne, sie dürfe nicht, aber dann trank sie doch und sah schon nach fünf Minuten aus wie eine vor längerer Zeit gepflückte Blume, die gerade noch rechtzeitig in die Vase gekommen ist. »Es tut mir leid«, sagte sie und nippte, auf einen Ellbogen gestützt, von der goldgelb perlenden Flüssigkeit in meinem Zahnputzbecher. »Aber ich bitte Sie.« »Sie müssen mich für ziemlich durchgedreht halten.« »Nein.« »Es ist nur… es scheint überhaupt keinen mehr zu interessieren, wo er geblieben ist. Sie sagen bloß, daß sie ihn nicht finden können, sie suchen nicht mal nach ihm.« »Sie haben gesucht«, fing ich an, aber sie war noch nicht bereit, mir zuzuhören. »Dann meinte Gunnar Holth… der Jockey Club hätte seinen Chefermittler hergeschickt… und da hab ich den ganzen Tag so sehr gehofft, daß ihn endlich einer finden würde, und dann… und dann… Sie…« »Ich bin nicht die Vaterfigur, auf die Sie gehofft haben«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte nicht erwartet, daß Sie noch so jung sind.« »Was ist Ihnen denn nun wichtiger«, fragte ich, »eine Vaterfigur oder jemand, der Bob findet?« Aber sie war noch nicht an den Punkt gelangt, wo sie erkennen konnte, daß beides nicht notwendig zusammenhing. Sie brauchte den Trost so sehr 40
wie die Suche. »Er hat dieses Geld nicht gestohlen«, sagte sie. »Woher wissen Sie das?« »Er würde so etwas einfach nie tun.« Sie sagte das mit Überzeugung, aber ich fragte mich doch, ob nicht vielleicht der Mensch, den sie mehr als alle anderen überzeugen wollte, sie selbst war. Ein Zimmerkellner klopfte und brachte ein Tablett herein, und Emma fühlte sich gestärkt genug, um sich zum Essen an den Tisch zu setzen. Sie fing langsam an, noch immer schwach, aber am Ende war nur allzu klar, daß sie einen Bärenhunger gehabt hatte. Als sie auch das letzte Krümelchen Brot aufgegessen hatte, sagte ich: »In ungefähr drei Stunden gibt’s Abendessen.« »O nein!« »O doch. Warum nicht? Dann haben Sie viel Zeit, mir von Bob zu erzählen. Viele Stunden. Brauchen sich nicht zu hetzen.« Ihr Blick verriet, daß sie wieder anfing, klar zu denken. Gleich darauf schaute sie sich im Zimmer um. Die Erkenntnis, daß sie sich in meinem Schlafzimmer befand, zuckte wie Wetterleuchten über ihr Gesicht. Ich lächelte. »Würden Sie das Kittchen vorziehen? Sie und ich sitzen uns am Tisch des Besucherzimmers gegenüber?« »Oh! Ich… nein, wohl nicht.« Sie schauderte leicht. »Davon habe ich schon ziemlich reichlich genossen, in gewisser Weise. Alle waren durchaus nett zu mir, wirklich, aber sie glauben, daß Bob das Geld gestohlen hat, und behandeln mich, als sei mein Mann ein Gauner. Es ist… ziemlich furchtbar.« »Das kann ich nachvollziehen«, sagte ich. »Wirklich?« Das Essen hatte ihre Blässe nicht behoben. Die Augen waren immer noch eingesunken und schwarz untermalt, die 41
Anspannung zitterte noch in ihr nach. Es würde mehr als Suppe und Champagner nötig sein, um die Verkrampfung zu lösen. »Warum machen Sie nicht ein Schläfchen?« schlug ich vor. »Sie sehen sehr müde aus. Hier geschieht Ihnen nichts, und ich muß dringend ein paar Berichte schreiben. Ich wäre froh, wenn ich sie hinter mich bringen könnte.« »Ich kann nicht schlafen«, sagte sie ganz automatisch, aber als ich entschlossen Papiere aus meiner Aktentasche holte, sie auf dem Tisch ausbreitete und eine helle Lampe anknipste, um besser lesen zu können, erhob sie sich vom Bett, stand eine Weile unschlüssig da und legte sich dann wieder hin. Nach fünf Minuten sah ich nach, und da schlief sie schon fest - mit eingefallenen Wangen und von blaßblauen Äderchen durchzogenen Augenlidern. Sie trug einen kamelhaarfarbenen Mantel, den sie - soweit hatte sie sich immerhin entspannt - aufgeknöpft hatte, und darunter ein braun und weiß kariertes Kleid. Jetzt, wo ihr Mantel offen war, konnte man die Wölbung ihres Bauches deutlich erkennen. Fünf Monate, dachte ich, plus minus eine Woche oder zwei. Ich schob die Papiere wieder zusammen und steckte sie in die Aktenmappe zurück. Es handelte sich dabei um die verschiedenen Aussagen und Darlegungen zum Verschwinden von Emmas Mann, und darüber mußte ich gar keine Berichte schreiben. Statt dessen setzte ich mich in einen der bequemen Sessel des Grand Hotels und sann über die Frage, warum Männer verschwinden. Im großen und ganzen war es wohl so, daß sie vor etwas fortliefen oder zu etwas hin - gelegentlich war es auch eine Verbindung von beidem. Von einer Frau fort, zu einer anderen hin. Vor der Polizei fort, in den sonnigen Süden. Weg von Unterdrückung, hin zur Freiheit der Wahl. Flucht vor Erpressung, Flucht in die Anonymität. 42
Manchmal nahmen sie das Geld eines anderen mit, um damit ihre Zukunft zu finanzieren. Auf den ersten Blick schienen Bob Shermans sechzehntausend Kronen weit weniger wert zu sein als das, was er dafür hergegeben hatte. Er verdiente schließlich im Jahr fünfmal soviel. Wo also war er hingelaufen? Oder wovor weg? Und wie sollte ich ihn bis Montag nachmittag finden? Emma Sherman schlief über zwei Stunden lang sehr fest und hatte friedliche Träume. Dann folgte jedoch eine quälende Phase. Sie bewegte sich ruhelos hin und her, und Schweiß trat ihr auf die Stirn, weshalb ich schließlich ihre Hand berührte und sie aus ihren Träumen riß. »Emma! Aufwachen! Wachen Sie auf, Emma.« Sie öffnete die Augen schnell und weit, sah die Alptraumbilder noch vor sich. Sie fing an zu zittern. »Oh!« sagte sie. »O Gott…« »Ist schon gut. Sie haben nur geträumt. Es war ein Traum.« Sie kam langsam zu sich, war aber weder beruhigt noch getröstet. »Ich habe geträumt, er säße im Gefängnis… da waren Gitterstäbe… und er versuchte rauszukommen… ganz verzweifelt… und ich fragte ihn, warum er denn raus wolle, und er antwortete, sie würden ihn am Morgen hinrichten… Und dann sprach ich mit einem der Verantwortlichen und fragte, was er denn getan hätte und warum sie ihn hinrichten wollten, und dieser Mann sagte… Bob hätte die Rennbahn gestohlen… und nach dem Gesetz müßten Leute, die Rennbahnen stehlen, hingerichtet werden…« Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Es ist ja albern«, sagte sie, »aber es kam mir alles ganz wirklich vor.« 43
»Schrecklich«, sagte ich. Trostlos wiederholte sie ihre Fragen: »Aber wo ist er? Warum schreibt er mir nicht? Wie kann er nur so grausam sein?« »Vielleicht wartet zu Hause ein Brief auf Sie?« »Nein. Ich rufe dort an… jeden Tag.« Ich sagte: »Sind Sie… ja… also, sind Sie beide eigentlich glücklich?« »Ja«, antwortete sie mit Bestimmtheit, aber nach einem Schweigen von fünf Sekunden kam die zutreffendere Version dahergehumpelt: »Manchmal gibt’s auch Krach. Wir hatten zum Beispiel einen an dem Tag, an dem er hergeflogen ist. Den ganzen Vormittag. Und das wegen einer solchen Kleinigkeit… bloß weil er eine Nacht weggeblieben war, ohne daß es nötig gewesen wäre… Ich hatte mich nicht sehr gut gefühlt, und ich sagte ihm, er sei selbstsüchtig und gedankenlos… und er verlor die Beherrschung und sagte, ich sei verdammt noch mal zu anspruchsvoll… und ich sagte, dann würde ich eben nicht mit nach Kempton fahren, und er schwieg und schmollte, weil er dort bei dem großen Rennen den Favoriten ritt, und er hat mich nach so etwas immer gern um sich, weil ihm das hilft, sich wieder zu entspannen.« Sie starrte auf einen vergangenen Augenblick zurück, den ungeschehen zu machen sie alles gegeben hätte. »Da ist er dann allein losgefahren. Und von dort nach Heathrow zum Flug um halb sieben nach Oslo, wie üblich. Üblich war sonst aber auch, daß ich ihn hinbrachte, um mich dort von ihm zu verabschieden und dann das Auto mit nach Hause zu nehmen.« »Und im Normalfall holten Sie ihn dann am Sonntagabend wieder ab?« »Ja. Als er an jenem Sonntag nicht zur üblichen Zeit zurückkam, war ich ganz krank vor Angst, er könnte in Norwegen gestürzt sein und sich verletzt haben, und da rief ich Gunnar Holth an… aber der sagte mir, Bob wäre nicht gestürzt, 44
sondern hätte einen Sieg herausgeritten und in zwei anderen Rennen eine gute Plazierung erreicht… und soweit ihm bekannt sei, hätte Bob auch das Flugzeug bekommen, wie geplant… Also rief ich noch einmal den Flughafen an… ich hatte dort vorher schon einmal angerufen, und man hatte mir gesagt, das Flugzeug sei planmäßig gelandet… und bat um eine Überprüfung, und sie sagten, auf der Passagierliste stünde kein Sherman…« Sie hielt inne, schwieg eine Weile und fuhr dann in einem neuerlichen Anfall von Kummer fort: »Er muß doch gewußt haben, daß ich es nicht so gemeint habe? Ich liebe ihn… er würde mich doch nicht ohne ein Wort einfach verlassen?« Wie es aussah, hatte er genau das getan. »Wie lange sind Sie schon verheiratet?« »Fast zwei Jahre.« »Kinder?« Sie sah auf die braun-weiß karierte Wölbung und deutete mit einem nervösen Zucken ihrer zarten Finger darauf. »Das ist unser erstes.« »Ihre finanzielle Lage?« »Och, eigentlich ganz gut.« »Wie eigentlich?« »Er hatte im vergangenen Jahr eine gute Saison. Wir konnten etwas sparen. Natürlich legt er Wert auf gute Anzüge und ein flottes Auto… aber das tun doch alle Jockeys, oder nicht?« Ich nickte. Ich wußte allem Anschein nach auch über die Einkünfte ihres Mannes genauer Bescheid als sie, hatte ich doch Zugang zu dem Büro, das die Gelder der Jockeys einsammelte und verteilte - aber es war nicht so sehr das annehmbare Einkommen, das zählte, sondern eher die Frage, wie gut sie damit auskamen. »Allerdings ist er immer ganz scharf auf Projekte, bei denen sich schnell Geld machen läßt, aber wir haben noch nie viel 45
verloren. Normalerweise rede ich ihm die Sache wieder aus. Ich bin überhaupt keine Spielernatur.« Ich schwieg einen Augenblick. Dann fragte ich: »Politik?« »Wie meinen Sie das?« »Interessiert er sich für den Kommunismus?« Sie starrte mich an. »Grundgütiger Himmel, nein.« »Ist er in irgendeiner Weise militant?« Sie mußte beinahe lachen. »Bob schert sich den Teufel um Politik und Politiker. Er sagt, das laufe immer alles aufs gleiche hinaus, auf Geschwafel und Scheinheiligkeit. Was ist das für eine merkwürdige Frage?« Ich zuckte die Achseln. »Norwegen und Rußland haben eine gemeinsame Grenze.« Ihre Überraschung war in zweifacher Hinsicht echt - zum einen war sie mit der Geographie nicht allzu vertraut, und zum anderen kannte sie ihren Mann. Er war nicht der Typ, der gute Anzüge, ein schickes Auto und einen aufregenden Job gegen das trübe Dasein in einem totalitären Staat eingetauscht hätte. »Hat er jemals irgendwelche Leute erwähnt, mit denen er sich hier in Norwegen angefreundet hat?« »Ich habe so gut wie alle aufgesucht, über die er, meiner Erinnerung nach, gesprochen hat. Ich habe sie immer wieder befragt… Gunnar Holth und seine Stallburschen, Mr. Kristiansen und die Besitzer. Der einzige, den ich bisher noch nicht kennengelernt habe, ist der Sohn von einem der Besitzer, ein Junge mit Namen Mikkel. Bob hat ihn ein oder zweimal erwähnt… er ist jetzt fort, in der Schule oder so etwas.« »War Bob früher schon einmal in Schwierigkeiten?« Sie sah mich verwirrt an. »Welcher Art?« »Buchmacher?« Sie wandte sich ab, und ich ließ ihr Zeit, sich über ihre 46
Antwort klarzuwerden. Jockeys war es nicht erlaubt zu wetten, und ich arbeitete für den Jockey Club. »Nein«, sagte sie undeutlich. »Sagen Sie’s mir lieber«, hakte ich nach. »Ich kann’s jederzeit herausfinden. Aber so würde es schneller gehen.« Sie wandte sich mir wieder zu, war beunruhigt. »Er schließt normalerweise nur Wetten auf sich selbst ab«, sagte sie, in die Defensive gedrängt. »Das ist in vielen Ländern durchaus legal.« »Mich interessiert seine Wetterei nur insoweit, als sie etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben könnte. Wurde er wegen irgendwelcher Forderungen bedroht?« »Oh.« Das klang sehr unglücklich - weil ausgerechnet das, was sie nicht hören wollte, eine einleuchtende Begründung dafür zu sein schien, weshalb Bob eine relativ kleine Summe veruntreut und deshalb sein Leben ruiniert hatte. »Er hat mir nie gesagt… ich bin sicher, er hätte mir davon erzählt…« Sie schluckte. »Die Polizei wollte von mir wissen, ob er erpreßt würde. Ich sagte, nein, natürlich nicht… aber wenn er doch etwas vor mir verborgen hätte… woher soll ich das wissen? Oh, ich wünschte, ich wünschte wirklich, er würde mir schreiben…« Tränen schossen hoch und flossen über. Sie entschuldigte sich nicht, wischte sie nicht weg, und nach ein paar Sekunden waren sie wieder versiegt. Ich vermutete, daß sie in den vergangenen drei Wochen eine ganze Menge geweint hatte. »Sie haben alles getan, was Sie hier drüben tun können«, sagte ich. »Sie fliegen besser am Montag nachmittag mit mir zurück.« Sie war überrascht und enttäuscht. »Sie fliegen schon so schnell wieder ab? Aber bis dahin werden Sie ihn doch noch gar nicht gefunden haben.« »Wahrscheinlich nicht. Aber ich habe am Dienstag eine Besprechung, an der ich unbedingt teilnehmen muß. Sollte es 47
sich als nützlich erweisen, werde ich wieder herkommen, aber für Sie ist es Zeit, nach Hause zu fahren.« Sie antwortete nicht gleich, aber schließlich sagte sie müde, ruhig und geschlagen: »Gut.«
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4 Arne machte sein altes Problem zu schaffen - er sah sich so oft um, daß jede Vorwärtsbewegung zu einem Wagnis wurde. Warum er sich von den fröhlichen, verfroren aussehenden Menschen, die zum Norsk Grand National nach Øvrevoll gekommen waren, bedroht fühlte, ging eigentlich nur ihn und seinen Psychiater was an, aber wie üblich hatten auch alle seine Freunde unter dieser Heimsuchung zu leiden. So hatte er es beispielsweise abgelehnt, in einem sehr bequemen, uns allein zur Verfügung stehenden Raum, in dem ein großes Feuer im Kamin brannte, ein Glas Wein zu trinken. Statt dessen marschierten wir - das heißt er, ich und Per Bjørn Sandvik - draußen hin und her, verschlissen das Sohlenleder unserer Schuhe und bekamen blaue Ohren, und das alles nur, weil Arne Angst vor Wanzen hatte. Es war mir unerfindlich, auf welche Weise unsere augenblickliche Unterhaltung irgend jemandem hätte von Nutzen sein können, aber ich war ja auch nicht Arne. Jedenfalls kann uns diesmal, dachte ich mit philosophischer Gelassenheit, keine Motorjacht niedermähen. Wieder war Arne für das Leben in der freien Natur angemessen ausgestattet - eine gefütterte blaue Kapuze ging nahtlos in den dazugehörigen Anorak über. Per Björn Sandvik trug einen Filzhut. Ich hatte nur meinen Kopf. Vielleicht lernte ich es ja eines Tages noch. Von Sandvik, der zu den Stewards gehörte, erfuhr ich noch einmal und aus erster Hand, was mir bereits aus den Unterlagen bekannt war, nämlich wie Bob Sherman an das Geld hatte herankommen können. »Sehen Sie, es wird in das Büro der Stewards gebracht, die es nachzählen und verbuchen. Und dieses Büro befindet sich in demselben Gebäude wie der Umkleideraum der Jockeys. Gut? 49
An jenem Sonntag nun ging Bob Sherman in das Büro der Stewards, um noch irgendwelche offenen Fragen zu klären, und da lag das ganze Geld gebündelt und verpackt vor ihm. Arne hatte ihn selbst dort gesehen. Sherman muß sich spontan entschlossen haben, das Geld an sich zu nehmen.« »Worin befand sich das Geld?« fragte ich. »In Segeltuchtaschen.« »Welche Farbe?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Braun.« »Die standen da einfach so hinter der Tür auf dem Fußboden?« Er grinste. »In Norwegen werden weniger Verbrechen begangen als anderswo.« »Das habe ich schon gehört«, sagte ich. »Wie viele Taschen waren es?« »Fünf.« »Schwer?« Er zuckte die Achseln. »So schwer, wie Geld eben ist.« »Wie waren sie verschlossen?« »Mit Lederriemen und Schlössern.« Arne rannte in eine Blondine hinein, die ganz eindeutig Vorfahrt hatte. Sie gab etwas von sich, was, nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, nicht gerade damenhaft war, aber das brachte ihn noch keineswegs dazu, auf den Weg zu achten. Irgendein Feind lag hinter uns auf der Lauer und hörte uns ab, da war er sich vollkommen sicher. Sandvik lächelte ihn nachsichtig an. Per Bjørn Sandvik war ein großer, angenehm gemächlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, der über eine unaufdringliche Autorität verfügte. Arne hatte mir gesagt, daß er jemand ›ganz oben im Ölgeschäft‹ sei, aber Sandvik fehlte die übliche Aura des Topmanagers - es schien ihm ganz im Gegenteil eher Vergnügen zu bereiten, wenn er den 50
Eindruck erwecken konnte, als ob ihm Macht und Aggressivität vollkommen fremd seien. Wenn dem so war, dann mußte er in einem Aufsichtsrat als Gegner so unangenehm sein wie eine unter Gänseblümchen verborgene Fußangel. Ich sah ihn nachdenklich an, und er erwiderte meinen Blick. Nichts darin, was nicht hätte darin sein dürfen. »Was wäre mit den Geldtaschen geschehen, wenn Sherman sie nicht geklaut hätte?« fragte ich. »Sie wären im Büro in den Safe eingeschlossen und dann am Montag früh zur Bank gebracht worden.« »Bewacht«, sagte Arne, der ausnahmsweise einmal nach vorne sah. »Von einem Nachtwächter.« Aber als der Nachtwächter seinen Dienst angetreten hatte, da war das Geld schon weg gewesen. »Wie kam es, daß keiner der Stewards im Büro war und das Geld praktisch auf dem Präsentierteller lag?« fragte ich weiter. Sandvik hob seine in dicken Handschuhen steckenden Hände. »Das haben wir uns immer wieder gefragt. Es war wohl Zufall. Der Raum kann nur fünf Minuten leer gewesen sein, vielleicht nicht einmal so lange. Es gab keinen besonderen Grund dafür, daß alle gleichzeitig fort waren. Es hatte sich einfach so ergeben.« Er hatte eine eher hohe Stimme und eine wunderbar deutliche Aussprache, aber sein fast perfektes Englisch unterschied sich doch stark von der heimischen Variante. Ich kam erst nach einiger Zeit dahinter, daß es sein ›l‹ war. Die Briten sprechen das ›l‹ mit in den Rachenraum zurückgebogener Zunge, während die Norweger die Zunge beim ›l‹ gegen die Rückseite der Zähne drücken. Die Beibehaltung des norwegischen ›l‹ verlieh Sandviks Aussprache etwas Leichtes, Trockenes und Klares, so daß alles, was er sagte, logisch und einleuchtend klang. 51
»An jenem Abend bemerkte niemand, daß das Geld gestohlen worden war, denn alle Stewards gingen, als sie die Taschen nicht mehr sahen, davon aus, daß einer der anderen sie in den Safe eingeschlossen hatte. Das Fehlen des Geldes wurde erst am folgenden Tag entdeckt, als es zur Bank gebracht werden sollte. Und da erfuhren wir natürlich auch von Gunnar Holth, daß Sherman ebenfalls verschwunden war.« Ich überlegte kurz. »Hat mir Gunnar Holth nicht erzählt, daß Bob Sherman ein- oder zweimal bei Ihnen gewohnt hat?« »Ja, das stimmt.« Sandvik schürzte kurz die wohlgeformten Lippen. »Zweimal. Glücklicherweise nicht an dem Wochenende, an dem er das Geld mitgehen ließ.« »Aber Sie mochten ihn?« »O ja, doch, ich denke schon. Meine Einladung war reine Höflichkeit. Er hatte schon einige siegreiche Pferde für mich geritten, und ich weiß, wie Gunnars Schlafsaal aussieht…« Er deutete ein Grinsen an. »Wie auch immer, er kam zu uns. Aber abgesehen von den Pferden hatten wir nur wenige gemeinsame Interessen, und ich glaube, letztlich war es ihm doch lieber, wenn er bei Gunnar wohnen konnte.« »Hätten Sie ihm zugetraut, daß er stiehlt?« »Niemals. Ich meine, warum sollte ich? Aber ich kannte ihn auch nicht sehr gut.« Arne konnte die Nähe der vielen Menschen auf den Tribünen nicht ertragen, weshalb wir uns das erste Rennen - ein Hürdenrennen - von einer kleinen Erhöhung unmittelbar hinter dem Ziel aus ansahen. Die Rennbahn, die den flachen Grund eines Tales einnahm, war auf allen Seiten von Hügeln umgeben, auf denen Fichten und Birken wuchsen, junge Bäume, die in den Himmel aufstrebten, als sei das Zeitalter der Gotik wieder lebendig geworden. Die schlanken, dunklen Nadelbäume und die silbrigen Stämme und gelb verfärbten Blätter der Birken bildeten endlose vertikale Streifen, und im Hintergrund trieben 52
unregelmäßig große Fetzen niedriger Nebelwolken über den Himmel. Das Licht war kalt und grau, die Luft kalt und feucht, die Stimmung der Zuschauer jedoch sonnig und mediterran. Der Favorit, der von einem englischen Jockey geritten wurde, gewann das Rennen, und die Menge spendete zustimmenden Beifall. Es sei an der Zeit, sagte Sandvik, den Vorsitzenden der Rennbahn aufzusuchen, der uns nicht eher hatte empfangen können, weil er mit einem Botschafter zu Mittag essen mußte. Wir gingen in das neben der Haupttribüne gelegene Sekretariatsgebäude, stiegen eine Treppe hinauf, neben der Kunstdrucke an der Wand hingen, und betraten dann einen großen Raum, in dem nicht nur der Vorsitzende anwesend war, sondern - zu seiner Unterstützung - auch noch fünf Stewards. Per Bjørn Sandvik trat zuerst ein, dann ich, gefolgt von Arne, der seine Kapuze zurückschob - und der Vorsitzende schaute nach wie vor zur Tür und wartete wohl noch immer darauf, daß auch ich in Erscheinung treten würde. Ich habe mich manchmal gefragt, ob es meine Situation verbessern würde, wenn ich fett wäre, eine Glatze hätte und eine Brille trüge, das heißt, ob ein vorzeitiges Altern ein höheres Maß an Vertrauen und Glaubwürdigkeit mit sich bringen würde als meine dünne, einsachtzig große, braunhaarige Gestalt. Ich hatte so einiges an Leben hinter mich gebracht, aber das hatte einfach keine sichtbaren Spuren hinterlassen. »Das ist Mr. David Cleveland«, sagte Sandvik, und in einer ganzen Reihe von Augenpaaren spiegelte sich dieselbe Enttäuschung wider. »Guten Tag«, murmelte ich in Richtung des Vorsitzenden und streckte ihm zur Begrüßung die Hand hin. »Ahäm…« Er räusperte sich und erholte sich mannhaft. »Freue mich, daß Sie gekommen sind.« 53
Ich machte ein paar ermunternde Bemerkungen des Inhalts, wie schön ich es in Norwegen fände, wobei ich mich fragte, ob einer der versammelten Herren wußte, daß Napoleon schon mit vierundzwanzig Jahren zum General befördert worden war. Der Rennbahn-Vorsitzende, Lars Baltzersen, war den Briefen, die er an mein Büro geschrieben hatte, sehr ähnlich - kurz, höflich und präzise. Er brauchte etwa zehn Sekunden, um zu dem Schluß zu kommen, daß man mir den Job wohl nicht gegeben hätte, wenn ich unfähig gewesen wäre, und ich hielt es nicht für notwendig, ihm zu erzählen, daß mein Chef vor achtzehn Monaten ganz plötzlich verstorben und der Nachfolger sehr viel früher als eigentlich beabsichtigt ans Ruder gekommen war. »Sie klingen am Telefon älter«, sagte er schlicht, und ich erwiderte, daß andere das auch schon festgestellt hätten, womit die Sache erledigt war. »Sehen Sie sich auf der Rennbahn um, wo Sie wollen«, sagte er. »Und hören Sie sich um… Arne kann ja für diejenigen, die kein Englisch sprechen, dolmetschen.« »Danke.« »Brauchen Sie sonst noch etwas?« Zweites Gesicht, dachte ich, sagte aber: »Wenn es sich einrichten ließe, würde ich Sie hinterher gern noch einmal sprechen.« »Selbstverständlich, selbstverständlich. Wir möchten ja auch alle erfahren, was für Fortschritte Sie gemacht haben. Nach dem letzten Rennen treffen wir uns alle hier.« Köpfe nickten voller Zweifel, und ich selber rechnete durchaus damit, daß ich ihre geringen Erwartungen rechtfertigen würde. Instruiert, gelangweilt oder bloß beschäftigt, entfernten sich alle, und nur Arne und der Vorsitzende blieben zurück. 54
»Ein Bier?« fragte Baltzersen. Arne sagte ja, ich nein. Trotz der Wärme, die einem mächtigen Kachelofen entströmte, war es mir für das Hopfengetränk ein wenig zu kalt. »Wie weit ist es bis zur schwedischen Grenze?« erkundigte ich mich. »Etwas über achtzig Kilometer«, sagte Baltzersen. »Irgendwelche Formalitäten?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht für Skandinavier, die mit dem eigenen Auto unterwegs sind. Die Paß- und Zollkontrolle macht nur Stichproben. Aber keiner der Grenzposten kann sich erinnern, an jenem Abend einen Engländer die Grenze passieren gesehen zu haben.« »Ich weiß. Nicht einmal als Mitfahrer in einem norwegischen Auto. Wäre er bemerkt worden, wenn er sich hinter die Vordersitze gehockt und unter einer Decke versteckt hätte?« Sie überlegten. »Höchstwahrscheinlich nicht«, sagte Baltzersen, und Arne pflichtete ihm bei. »Fällt Ihnen irgend jemand ein, der ihn vielleicht rübergefahren haben könnte? Irgend jemand, zu dem er in engerer Beziehung stand, sei es geschäftlich oder freundschaftlich?« »Dazu kenne ich ihn nicht gut genug«, antwortete der Vorsitzende bedauernd, und Arne blinzelte ein wenig und sagte dann, ihm fielen da nur Gunnar Holth und ein paar der Burschen ein, die für ihn arbeiteten. »Holth meinte, er hätte ihn immer nur zu den Rennen mitgenommen«, sagte ich - aber er hätte vor Emmas Anruf Zeit genug gehabt, nach Schweden zu fahren und wieder zurück. »Gunnar lügt, wann immer es ihm in den Kram paßt«, sagte Arne. Lars Baltzersen seufzte. »Ich fürchte, das stimmt.« 55
Er hatte graues, ordentlich gebürstetes Haar, ein glattrasiertes Gesicht und war einfallslos gekleidet. Ich kam allmählich hinter die norwegischen Verhaltensmuster - er gehörte zu der sehr großen Kategorie der nüchternen, eher ernsten Leute, die freundlich, effizient und kaum je gestreßt sind. Es mangelte augenfällig an Elan, aber die Arbeit würde bestimmt erledigt werden. Die Hetzjagd des Daseins im Schrittempo. Sehr zivilisiert. Es gab natürlich auch andere Typen. »Wen ich hier gar nicht mag«, hatte Emma Sherman gesagt, »das sind die Besoffenen.« Ich hatte sie am vergangenen Abend im Hotel zum Essen eingeladen und ihr dann einige Stunden lang zugehört, in denen sie mir ihr Leben mit Bob, ihre Befürchtungen und ihre Erfahrungen in Norwegen in allen Einzelheiten geschildert hatte. »Nach meiner Ankunft«, hatte sie gesagt, »aß ich zunächst immer im Speisesaal des Hotels, und da kamen dauernd Männer an meinen Tisch und fragten, ob sie sich zu mir setzen dürften. Sie waren durchaus höflich, aber auch sehr, sehr hartnäckig. Sie wollten partout nicht wieder gehen. Meistens mußte mich der Oberkellner von ihnen befreien. Er sagte mir, sie seien betrunken. Dabei sahen sie eigentlich gar nicht so aus. Sie schwankten nicht, oder so etwas.« Ich hatte gelacht. »Wenn man bedenkt, was alkoholische Getränke hierzulande kosten, ist das auch kein Wunder.« »Nein«, sagte sie. »Jedenfalls habe ich aufgehört, im Hotel zu essen. Ich mußte ja zusehen, daß mein Geld so lange reichte wie möglich, und außerdem machte es mir keinen Spaß, allein zu essen.« Arne fragte: »Wo möchtest du denn zuerst hin?« Er gehörte zur dritten Gruppe - zu den Leuten mit einem Tick. Die gibt es überall. 56
»Zum Wiegeraum, würde ich sagen.« Beide nickten zustimmend. Arne zog sich die Kapuze wieder über den Kopf, und dann traten wir hinaus in die rauhe Luft. Die Zuschauermenge war zu dem angeschwollen, was Arne als ›sehr groß‹ einstufte, aber es war immer noch viel Platz. Einer der großen Vorzüge des Lebens in Norwegen war vermutlich die geringe Bevölkerungsdichte. Ich hatte in der gemütlichen Landeshauptstadt bislang noch nirgends eine Schlange, ein Geschiebe oder irgend jemanden bemerkt, der sich vorgedrängelt hätte. Warum auch, wo doch stets genug Platz für alle da zu sein schien? Die Helfer, die an den Toren der einzelnen Tribünenbereiche die Eintrittskarten kontrollierten, waren eifrige, ungefähr zwanzigjährige junge Männer - die meisten blond und alle mit blauen Armbinden versehen. Sie kannten Arne natürlich, aber obwohl ich in seiner Begleitung war, überprüften sie meinen Ausweis, und die ernsten Mienen erhellten sich kaum, als sie mich mit einem Kopfnicken durchließen. Lars Baltzersen hatte mir eine zwölf mal acht Zentimeter große Karte gegeben, auf der adgang faddock, adgang stallomradet, adgang indre bane und noch der eine oder andere weitere adgang aufgestempelt war, und es hatte ganz den Anschein, als würde ich nicht sehr weit kommen, wenn ich sie verlöre. Der Wiegeraum - schwarze Holzwände, weiße Farbe, rot gedecktes Dach - lag auf der anderen Seite des Führringes, wo sich die Jockeys bereits auf das zweite Rennen vorbereiteten. Alles sah sauber, wohlgeordnet und gefällig aus, und obwohl mein Auge darauf getrimmt war, auch noch auf eine Entfernung von fünfhundert Schritt und bei dichtem Nebel Schwachstellen zu erkennen, vermochte ich keine zu entdecken. Selbst bei Pferderennen blieb man hier freundlich. Ein paar der Stallburschen, die die Pferde im Kreis führten, trugen wie die Jockeys Pullover in den Farben der Besitzer - eine gute und nützliche Selbstdarstellung der Ställe, die ich sonst noch 57
nirgends gesehen hatte. Ich sagte das Arne. »Ja«, meinte er, »das machen heute viele der Privatställe. Es hilft den Zuschauern, ihre Farben mitzukriegen.« Zwischen dem Sattelplatz und dem U-förmigen Gebäude mit dem Wiegeraum sowie in dem U selbst befand sich eine mit Ziersträuchern bepflanzte Grünfläche. Wer vom Wiegeraum zum Sattelplatz wollte, mußte diese kleine Grünanlage auf vergleichsweise schmalen Wegen entweder rechts oder links umgehen - das war angesichts der riesigen Betonflächen daheim mal etwas anderes, man brauchte aber auch eine Menge Zeit für Entschuldigungen. Im Wiegeraum angekommen, vergaß Arne alle Abhörgeräte und machte mich schnell und ohne sich ein einziges Mal umzublicken mit einem Haufen Leute bekannt - so etwa mit dem Geschäftsführer der Rennbahn, mit dem Sekretär des Rennvereins und mit dem für die Waage verantwortlichen Mann. Ich schüttelte Hände und plauderte ein wenig, und obwohl sie alle wußten, daß ich auf der Suche nach Bob Sherman war, traf ich auf niemanden, den meine Anwesenheit in Unruhe versetzt hätte. »Hier entlang, David«, sagte Arne und ging mit mir durch einen Seitengang auf eine offene Tür zu, die auf die Rennbahn hinausführte. Ein paar Schritte vor dieser Tür wandte er sich plötzlich nach rechts, und wir befanden uns in dem Büro, aus dem das Geld entwendet worden war. Es war ein einfacher, geschäftsmäßig eingerichteter Raum mit hölzernen Wänden, hölzernem Fußboden, hölzernen Tischen, die gleichzeitig als Schreibtische dienten, und hölzernen Stühlen (was sonst bei all diesen Wäldern?). Es gab freundliche, rotkarierte Vorhänge, eine erstklassige Zentralheizung und in einer Ecke einen soliden Safe. Außer uns war niemand da. »Das ist alles, was es hier zu sehen gibt«, sagte Arne. »Die 58
Taschen mit dem Geld standen dort auf dem Fußboden« - er zeigte auf die Stelle -, »und die Listen mit den Gesamteinnahmen der einzelnen Kassen lagen dort auf dem Tisch, alles so wie immer. Die Listen haben wir noch.« Es war mir schon ein paarmal aufgefallen, daß sich Arne für den Verlust des Geldes überhaupt nicht verantwortlich fühlte, und es schien ihm auch niemand - und sei es andeutungsweise die Schuld daran zu geben, obwohl er doch eigentlich, ging man von den elementarsten Anforderungen an einen Sicherheitsbeamten aus, die allerschlechtesten Noten verdient hätte. »Habt ihr das System mit den Taschen unverändert beibehalten?« fragte ich ihn. Arne warf mir einen Blick zu, in dem sich Belustigung und Kränkung mischten. »Nein. Seit dem Diebstahl werden die Taschen sofort in den Safe getan.« »Wer hat die Schlüssel?« »Ich, der Geschäftsführer und der Sekretär des Rennvereins.« »Und ihr drei habt alle geglaubt, einer der beiden anderen hätte das Geld schon im Safe verstaut?« »So ist es.« Wir verließen das Büro und traten wieder hinaus ins Freie. Einige Jockeys, die sich für spätere Rennen schon umgezogen hatten und die Farben ihres Stalles trugen, im Augenblick aber noch in warme Mäntel gehüllt waren, gingen mit uns durch den Gang hinaus, und draußen stiegen wir alle eine Treppe hinauf, die zu einer kleinen, offenen, an das Gebäude mit dem Wiegeraum angebauten Tribüne führte, welche etwa eine Achtelmeile vom Zielpfosten entfernt war. Von dort oben aus sahen wir uns das zweite Rennen an. Arne hatte wieder damit angefangen, sich ängstlich 59
umzusehen, obwohl kaum zwanzig Leute auf der kleinen Tribüne waren. Ich ertappte mich dabei, daß ich es auch schon tat - es war ansteckend. Immerhin entdeckte ich auf diese Weise einen englischen Jockey, der mich kannte, und als nach dem Finish alle auf die Treppe zuströmten, richtete ich es so ein, daß ich an seine Seite kam. Arne ging weiter die Treppe hinunter, während der Jockey leicht zurückzuhalten war und stehenblieb, als ich seinen Arm berührte. »Hallo«, sagte er überrascht, »Sie hier?« »Bin wegen Bob Sherman gekommen«, sagte ich zur Erklärung. Ich hatte festgestellt, daß ich weitaus bessere Resultate erzielte, wenn ich rundheraus sagte, was mich interessierte. Dann vergeudete niemand Zeit damit, sich zu fragen, weswegen ich ihn wohl im Verdacht haben könnte, und wenn sich die Leute nicht in die Defensive gedrängt fühlten, redeten sie leichter. »Ah, verstehe. Haben Sie den armen Kerl schon gefunden?« »Noch nicht«, antwortete ich. »Lassen Sie ihn doch laufen. Was soll’s.« Rinty Ranger kannte Bob Sherman so gut wie jeder, der fünf Jahre lang in der gleichen kleinen Berufsgruppe gearbeitet hatte, aber sie waren keine engen Freunde. Ich nahm seine Bemerkung als Ausdruck einer eher allgemeinen Sympathie für den Fuchs und fragte ihn, ob er diesen Diebstahl nicht auch für eine verdammte Dummheit halte. »Allerdings«, stimmte er mir zu. »Ich wette, er hat sich schon fünf Minuten später gewünscht, es nicht getan zu haben. Aber das ist typisch Bob, sich in was reinzustürzen, ohne groß nachzudenken.« »Das macht ihn zu einem guten Jockey«, sagte ich und dachte daran, wie er die Hindernisse ohne Rücksicht auf Verluste 60
anging. Rinty grinste, und sein schmales, scharfes Gesicht über dem Mantel aus Schaffell sah verfroren aus. »Ja, ja. Hat ihm diesmal aber nichts gebracht.« »Was hat er denn noch Impulsives getan?« »Ich weiß nicht… War immer hinter Projekten her, die schnellen Reichtum versprachen. Zum Beispiel Grundstückskäufe auf den Bahamas oder die Unterstützung verrückter Investoren, und ich habe ihn sogar mal vom Verkauf gestaffelter Verkaufsrechte reden hören, aber da haben wir ihm alle gesagt, er solle bloß nicht so blöd sein. Ich meine, es ist schon schwer genug, sich die Kohle zu verdienen, da will man sie doch nicht zum Fenster rausschmeißen.« »Waren Sie überrascht, als Sie hörten, daß er das Geld gestohlen hat?« fragte ich. »Natürlich war ich das, du liebe Güte, ja. Aber mich hat noch mehr überrascht, daß er getürmt ist. Ich meine, warum hat er die Beute nicht einfach versteckt und weitergemacht, als wenn nichts wäre?« »Dazu muß man die Nerven haben«, sagte ich, aber genau die hatte Bob Sherman ja. »Außerdem befand sich das Geld in schweren Segeltuchtaschen, die nicht so leicht aufzukriegen waren. Er hätte nicht genug Zeit gehabt, das alles zu erledigen und dann auch noch seinen Flieger zu erwischen.« Rinty dachte ein wenig nach, kam aber zu keinem brauchbaren Ergebnis. »Blöder Hund«, sagte er schließlich. »Nette Frau, Kind unterwegs, guter Job. Man sollte meinen, er hätte mehr Grips.« Soweit war ich in meinen Überlegungen auch schon gediehen. »Immerhin, er hat mir damit einen Gefallen getan«, sagte Rinty. »Ich reite beim Grand National hier an seiner Stelle.« Er öffnete seinen Schaffellmantel ein ganz klein wenig, um mir die Farben darunter zu zeigen. »Der Besitzer, ein Typ namens Torp, 61
ist sowieso nicht allzugut auf Bob zu sprechen. Er sagt, Bob hätte beim letzten Mal, als er hier war, spielend gewinnen können. Sagt, er hätte den Sieg verschenkt, zu lange gewartet, wäre das Rennen zu schnell angegangen, hätte die Außenbahn nehmen sollen, hätte das Pferd am Graben nicht in die richtige Absprungposition gebracht - was auch immer, Bob hat’s falsch gemacht.« »Trotzdem beschäftigt Torp noch einen weiteren englischen Jockey.« »Stimmt. Wissen Sie, wie viele einheimische SteeplechaseJockeys es gibt? Ungefähr fünfzehn, mehr nicht, und davon sind ein paar Engländer oder Iren. Die meisten sind Angestellte der Besitzer. Hier gibt’s nicht so viele Selbständige wie bei uns, weil sie dafür nicht genug Rennveranstaltungen haben. Viele Jockeys fahren an den Samstagen nach Schweden, denn das ist der Tag, an dem dort die Rennen stattfinden. Hier sind sie an Donnerstagen und Sonntagen. Das ist alles. Wohlgemerkt, sie halten sich ihre Springer nicht bloß zum Anschauen. Die laufen alle mindestens einmal pro Woche, und da es in jeder Woche nur vier oder fünf Hindernisrennen gibt… das andere sind alles Flachrennen… wird die Sache interessant.« »Waren Sie und Bob oft zusammen hier?« »In diesem Jahr waren es vier oder fünf Reisen, glaube ich. Aber ich war auch im vorigen Jahr hier, er nicht.« »Wie lange dauert so eine Reise?« Er sah mich überrascht an. »Meistens nur einen Tag. Wir reiten am Samstagnachmittag in England, fliegen um halb sieben, reiten hier am Sonntag, versuchen, wenn möglich, den letzten Flieger zurück zu kriegen, sonst den um acht Uhr fünfzehn am Montagmorgen. Manchmal fliegen wir auch erst am Sonntag früh her, aber das ist ein bißchen knapp. Keine Zeitreserven, wenn’s mal unvorhergesehene Verzögerungen gibt.« 62
»Lernen Sie während Ihrer Zeit hier die Leute gut kennen?« »So langsam, denke ich. Wieso?« »Würden Sie sagen, daß Bob Sherman hier in Norwegen Freundschaften geschlossen hat?« »Lieber Gott, nein, soviel ich weiß, nicht. Aber wenn, dann hätte ich es höchstwahrscheinlich auch gar nicht mitgekriegt. Er kennt natürlich einen Haufen Trainer und Besitzer. Oder meinen Sie Mädchen?« »Nicht speziell. Gab’s welche?« »Glaube nicht. Er mag seine Alte.« »Würde es Ihnen etwas ausmachen, über diese Frage mal sehr gründlich nachzudenken?« Wieder sah er mich überrascht an. »Wenn Sie wollen?« Ich nickte. Er verlängerte die Brennweite seines Blickes in zufriedenstellender Manier und konzentrierte sich voll. Ich drängte ihn nicht und wartete ab, beobachtete derweil die Zuschauer. An britischen Maßstäben gemessen, waren sie jung wenigstens die Hälfte unter dreißig, die Hälfte blond, alle jungen Leute in blauen, roten, orangefarbenen oder gelben Anoraks, so daß sich jene farbige, zufällige Uniformität ergab, wie sie Bühnenbildner für ihre Revuen entwerfen. Rinty Ranger rührte sich und stellte seinen Blick wieder auf die Gegenwart ein. »Ich weiß nicht… Er wohnte ein paarmal bei Mr. Sandvik und meinte hinterher, er wäre mit dem Sohn besser zurechtgekommen als dessen Vater… Ich habe ihn mal kennengelernt, den Sohn, meine ich, als sich Bob bei einem Rennen mit ihm unterhielt… aber ich könnte nicht behaupten, daß sie dicke Freunde waren oder so was…« »Wie alt ist er, ganz grob?« »Der Sohn? Sechzehn, siebzehn. Vielleicht auch schon achtzehn.« 63
»Sonst noch jemand?« »Ja… einer von Gunnar Holths Leuten. Ein Ire, Paddy O’Flaherty. Den kannte Bob gut, weil der auch mal für Tasker Mason gearbeitet hat, bei dem Bob in der Lehre war. Eine Zeitlang waren die beiden Stallburschen bei ihm. Ich glaube, Bob wohnt vor allem wegen Paddy gern bei Gunnar Holth.« »Wissen Sie, ob Paddy ein Auto hat?« »Keine Ahnung. Warum fragen Sie ihn nicht selbst? Er muß doch heute hier sein.« »Waren Sie hier?« fragte ich. »An dem Tag, an dem Bob verschwand?« »Nein, tut mir leid.« »Gut… Hm… noch irgend etwas, was nicht ganz so war, wie Sie’s erwartet hatten?« »Was für elende Fragen! Also… mir fällt nichts mehr ein… außer, daß er seinen Sattel dagelassen hat.« »Bob?« »Ja. Sein Sattel ist im Umkleideraum. Und sein Helm auch. Er muß gewußt haben, daß er nie wieder irgendwo auf dieser Welt ein Rennen reiten wird, dieser Blödmann, denn sonst hätte er die Sachen nicht liegenlassen.« Ich ging in Richtung Treppe. Rinty hatte mir nicht viel zu erzählen gewußt, aber wenn es viel zu erzählen gegeben hätte, dann wäre Bob von der Polizei des einen oder des anderen Landes wohl schon längst gefunden worden. Rinty folgte mir nach unten, und ich wünschte ihm für das Grand National viel Glück. »Danke«, sagte er. »Kann aber nicht behaupten, daß ich Ihnen dasselbe wünsche. Lassen Sie den armen Kerl doch in Ruhe.« Am Fuße der Treppe unterhielt sich Arne mit Per Bjørn Sandvik. Sie wandten sich mir mit einem Lächeln zu, um mich sozusagen in ihre Runde aufzunehmen, und ich stellte die heikle 64
Frage mit so viel Takt wie möglich. »Ihr Sohn Mikkel, Mr. Sandvik. Halten Sie es für möglich, daß er Bob vom Rennplatz weg und irgendwohin gefahren hat? Natürlich ohne zu wissen, daß Bob das Geld bei sich hatte?« Per Bjørn reagierte auf die Implikation, daß sein Sohn, wenn auch unwissentlich, einem Dieb geholfen und dann auch noch kein Wort darüber verloren haben könnte, weit weniger heftig, als es manch anderer Vater getan hätte. Es war kaum ein Anflug von Erregung zu spüren. Er antwortete verbindlich: »Mikkel kann noch nicht fahren. Er geht noch zur Schule… er ist erst vor sechs Wochen siebzehn geworden.« »Das ist gut«, sagte ich zur Entschuldigung und dachte, die Sache sei damit erledigt. Per Bjørn sagte ohne merklichen Unmut: »Sie entschuldigen mich«, und ging davon. Arne, der wie wild blinzelte, fragte mich, wohin ich als nächstes wolle. Ich sagte, ich würde gern Paddy O’Flaherty sprechen, und so machten wir uns auf die Suche nach ihm. Wir fanden ihn im Stall, wo er Gunnar Holths Pferd für das Grand National fertig machte. Es stellte sich heraus, daß er der Bursche mit der Wollmütze gewesen war, der eine wenig schmeichelhafte Bemerkung über ein Pferd gemacht hatte. Er bezeichnete sich als Gunnars Futtermeister. »Was ich nach dem Rennen gemacht habe?« wiederholte er. »Das, was ich immer mache. Die Pferde nach Hause gebracht, sie abgerieben und gefüttert.« »Und danach?« »Danach auch alles wie immer. Rein in die Dorfkneipe. Da gibt es ein flottes kleines Ding, Sie verstehen schon.« »Besitzen Sie ein Auto?« »Sicher doch… natürlich habe ich eins, aber die Reifen sind so blank wie ein Kinderpopo, und ich bin nicht mehr scharf drauf, 65
damit rumzufahren. Außerdem wird’s Winter. Da steht es auf Ziegelsteinen aufgebockt.« »Wann haben Sie das Auto aufgebockt?« »Die Polizei hat mich wegen der Reifen angehalten, also das war… hm, bei einem oder zweien kommt schon das Leinen durch, wenn man genau hinschaut. Das ist jetzt sicher gute sechs Wochen her.« Danach schlenderten Arne und ich umher, und ich verschaffte mir einen allgemeinen Eindruck von dem, was auf dem Platz vor sich ging. Später überquerten wir die Bahn, um ein Rennen vom Turm aus zu verfolgen. Dieser Turm sah ein bißchen so aus wie der Kontrollturm eines kleinen Flugplatzes - er war zwei Geschosse hoch und hatte oben einen Raum mit Rundumverglasung. In diesem Horst saßen während der Rennen zwei scharfäugige Herren hinter noch schärferen Feldstechern die beiden waren die nicht-automatischen Überwachungskameras, denen keine Trickserei entging. Arne machte mich bekannt. Ich könne jederzeit auf den Turm kommen, aber bitte, gern, sagten sie lächelnd. Ich dankte ihnen und sah mir von dort oben das nächste Rennen an - ich blickte direkt auf das schmale, verlängerte Oval der Rennbahn hinab. Ein Rennen für zweijährige Steher über sechzehnhundert Meter. Sie starteten auf der anderen Seite fast genau in Höhe des Turms, jagten weit davon, umrundeten die ziemlich scharfe Kurve am unteren Ende der Bahn, schossen die lange Gerade hinauf und liefen unterhalb unseres Standorts ins Ziel ein. Es gab ein Fotofinish. Die alles sehenden Augen lösten sich von ihren Ferngläsern. Beide Herren nickten zufrieden und sagten, sie seien zum nächsten Rennen wieder da. Bevor ich Arne die Treppe hinunter folgte, fragte ich ihn, wie die Pferde beim Grand National laufen würden, weil dies der Anordnung der Hindernisse nicht unmittelbar zu entnehmen war. 66
»Die Bahn hat die Form einer Acht«, sagte er und machte eine unbestimmte Handbewegung. »Drei Durchgänge. Du wirst es sehen, wenn sie laufen.« Er schien den Wunsch zu haben, möglichst schnell an einem ganz anderen Ort zu sein, aber nachdem wir über die Bahn zum Sattelplatz zurückgekehrt waren, stellte sich heraus, daß er lediglich hungrig war und die Zeit so berechnet hatte, daß wir noch etwas essen konnten, bevor das Norsk St. Leger eröffnet wurde. Er zauberte ein paar belegte Brötchen von riesigen Ausmaßen herbei, deren Belag jeweils von Krabben über Hering, Käse, Leberpastete und Eier bis hin zu Roastbeef reichte, wobei alles noch mit sauren Gürkchen, Mayonnaise und überall verteiltem, nicht identifizierbarem Knuspergebäck verziert war. Arne schaffte die ganze Runde, während ich schon in der Geraden platzte. Zu den Sandwiches tranken wir Wein - Arne hatte eine ganze Flasche besorgt. Er meinte, wir könnten später zurückkehren und sie austrinken. Wir nahmen unsere Mahlzeit in dem großen, warmen Raum zu uns, den er früher am Tag gemieden hatte augenblicklich behelligten ihn anscheinend keine unsichtbaren Zuhörer. »Wenn du morgen nach Hause fliegst, David«, sagte er, »dann komm doch heute zum Abendessen zu uns.« Ich zögerte. »Da ist noch Emma Sherman.« »Oh, diese Frau!« rief er aus. Er sah sich um, obwohl kaum ein halbes Dutzend Leute im Raum waren. »Wo ist sie? Sie verfolgt mich doch sonst immer.« »Ich habe gestern mit ihr gesprochen. Habe sie überredet, heute nicht hierherzukommen und morgen nach England zurückzureisen.« »Großartig. Ganz großartig, mein Lieber.« Er rieb sich die Hände. »Dann wird sie schon zurechtkommen. Und du kommst zum Abendessen zu uns. Ich rufe eben mal Kari an.« Ich dachte an Karis Haar und an Karis Figur - alles war genau 67
so, wie es sein sollte. Ich stellte sie mir im Bett vor. Wahrscheinlich hätte ich mir derartige Gedanken nicht gestatten dürfen, aber genausogut hätte man einem Fisch das Schwimmen verbieten können. Ein Jammer, daß sie Arnes Frau ist, dachte ich. Es würde mir die Sache wesentlich erleichtern, wenn ich wegbliebe. »Du kommst?« fragte Arne. Ich bin schwach, einfach schwach. Ich sagte: »Sehr gern.« Er lief sofort geschäftig davon, um Kari anzurufen, und kehrte strahlend zurück. »Sie freut sich. Sie meint, sie wird dir Moltebeeren vorsetzen, sie hätte gerade gestern welche gekauft.« Wir gingen wieder in den unwirtlichen Nachmittag hinaus und sahen uns zusammen das große Rennen an. Danach verschwand Arne wegen offizieller Geschäfte, und ich wanderte eine Weile allein umher. Zwar waren Organisation und Instandhaltung ohne Frage erstklassig, aber es handelte sich bei Øvrevoll - verglichen mit britischen Plätzen - auch um keine große Rennbahn. Viel Platz, nur wenige Gebäude. Jeder konnte sehen, niemand wurde geschubst, bedrängt oder zerquetscht. Platz ist doch der größte Luxus, dachte ich, als ich an einem kleinen, länglichen Zierteich entlangging, neben dem eine Militärkapelle in vollster Lautstärke spielte. In bunten Grüppchen saßen Kinder zu Füßen der Musiker, und ein paar von ihnen spähten interessiert in die vibrierenden Öffnungen der Posaunen hinein. Øvrevoll war, wie man mir gesagt hatte, eine noch ziemlich neue Rennbahn und die einzige in Norwegen, wo Flach- und Hindernisrennen veranstaltet wurden. Bei den meisten Rennen hierzulande handelte es sich - ähnlich wie in Deutschland - um Trabrennen. Für das Grand National begab ich mich wieder auf den Turm, der, wie ich festgestellt hatte, in der kleineren, oberen Hälfte der Acht stand - die größere nahm den Hauptteil des Platzes ein und 68
lag innerhalb der Flachbahn. Zwanzig Pferde gingen die dreieinhalb Durchgänge in scharfem Tempo an, und die Fernglasmenschen in der Glaskuppel drehten sich wie zwei Kreisel. Gleich nach dem Start umrundeten die Pferde den Turm, kamen dicht daran vorbei, galoppierten in Richtung Wassergraben und weiter zum entferntesten Teil der Bahn, brachten die untere Kurve hinter sich und kehrten zum Ziel zurück. Im oberen Teil der Bahn, in der Nähe des Turms, befand sich ein großer Teich, auf dem ein Schwanenpaar in würdevoller Eintracht umherschwamm, auf der anderen Seite paddelte ein Paar kleiner, einander ergebener schwarzweißer Enten. Keines der beiden Paare nahm von dem Pferdepulk Notiz, der nur wenige Meter entfernt an ihrem Zuhause vorbeidonnerte. Rinty Ranger gewann das Rennen, nachdem er zu Beginn des letzten Durchgangs die Führung übernommen und dann alle Herausforderer erfolgreich abgewehrt hatte, und ich konnte die Zähne des triumphierenden Reiters aufblitzen sehen, als er den Zielpfosten passierte. Das trübe Licht des Tages war zwar schon so weit geschwunden, daß man die Hindernisse kaum noch erkennen konnte, aber bei den zwei noch ausstehenden Rennen - von insgesamt zehn - handelte es sich um Flachrennen. Das erste wurde bei Dämmerlicht gestartet, das zweite bei völliger Dunkelheit - Flutlichtscheinwerfer am Turm beleuchteten lediglich die Ziellinie und waren hell genug, um im Bedarfsfall ein Fotofinish zu ermöglichen. Elf Pferde liefen auf der dunklen Bahn und waren nur in den wenigen Sekunden deutlich zu erkennen, die sie benötigten, um durch den hellen Fleck hindurchzuschießen, wurden aber trotzdem von einer offenbar nicht kleiner gewordenen Zuschauermenge angefeuert. Hier wurden also tatsächlich Rennen bei absoluter Dunkelheit gestartet. Ich ging in Gedanken versunken zurück zum Büro der Stewards, wo ich mich mit Arne treffen wollte. Es war wirklich dunkle Nacht gewesen, als Bob Sherman die Rennbahn 69
verlassen hatte. In dem Büro herrschte große Geschäftigkeit, und es wurde viel gefeixt und immer wieder versichert, daß diesmal die Tageseinnahmen sicher im Safe verwahrt lägen. Arne erinnerte einige der Anwesenden an die Worte des Vorsitzenden, sie könnten, wenn sie wollten, an der Zusammenkunft teilnehmen, bei der über die gemachten Fortschritte berichtet werden sollte. Mit Rücksicht auf mich sprach er englisch, und die Angesprochenen antworteten ihm ebenfalls auf englisch. Sie hatten alle die Absicht zu kommen, bis auf einen oder zwei, die auf den Nachtwächter warten wollten. Es gab triftige Gründe, die Stalltüren fest zu verriegeln. Im Arbeitszimmer des Vereinsvorsitzenden waren, was mich anging, viel zu viele Menschen versammelt. Außer mir noch fünfzehn. Alle Stühle waren besetzt, Kaffee und Getränke wurden herumgereicht, und jedermann wartete. Lars Baltzersen blickte mit hochgezogenen Brauen in meine Richtung, um mir zu verstehen zu geben, daß jetzt ich dran sei, während er mit einem einzigen sanften Wink seiner Hand die leise plaudernde Runde zum Verstummen brachte. »Ich glaube, Sie alle haben Mr. Cleveland im Laufe des Tages schon kennengelernt…« Er wandte sich nun direkt an mich und lächelte versöhnlich. »Ich weiß, daß wir das Unmögliche fordern. Sherman hat keinerlei Spuren, keine Hinweise hinterlassen. Gibt es dennoch irgend etwas, was wir Ihrer Meinung nach unternehmen könnten und noch nicht unternommen haben?« Er machte es mir so leicht. »Suchen Sie seine Leiche«, sagte ich.
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5 Es schien, als wäre dies nicht ganz das, was sie erwartet hatten. Per Bjørn Sandvik brauste auf und sagte in seinem hohen, destillierten Englisch: »Wir wissen, daß er ein Dieb ist. Warum sollte er tot sein?«, und jemand murmelte: »Ich glaube nach wie vor, daß er in Südfrankreich ist und sich einen schönen Lenz macht.« Rolf Torp, Besitzer des Grand-National-Siegers, zündete sich eine Zigarre an und sagte: »Ich kann Ihrer Argumentation nicht folgen…« Arne saß da, schüttelte den Kopf und blinzelte so, als wollte er nie wieder damit aufhören. Lars Baltzersen starrte mich lange an und bat mich dann, meine Aufforderung zu erläutern. »Nun gut«, sagte ich, »nehmen Sie zunächst einmal die technische Seite des Diebstahls. Sie alle stimmen darin überein, daß das Büro der Stewards ein paar Minuten unbesetzt war und niemand hätte vorhersagen können, wann oder ob überhaupt das der Fall sein würde. Sie alle glauben, daß Bob Sherman einfach das Geld dort liegen sah, der plötzlichen Versuchung erlag und es klemmte… Verzeihung«, sagte ich, als ich die allgemeine Verwirrung bemerkte, »es entwendete.« Allenthalben nickende Köpfe. Das war bekanntes Terrain. »Nun stoßen wir jedoch«, fuhr ich fort, »auf ein paar Schwierigkeiten. Das Geld befand sich in fünf sauschweren… äh, unhandlichen… Segeltuchtaschen, die mit Lederriemen und Schlössern versehen waren. Ein sechzig Kilo wiegender Jockey ist wohl kaum in der Lage, fünf solche Taschen schlicht unter seinem Mantel verschwinden zu lassen. Jedem, und sei er noch so kräftig, würde es schwerfallen, die Taschen alle auf einmal hochzuheben. Wenn Sherman tatsächlich die plötzliche Idee 71
gehabt haben sollte, sie zu stehlen, dann hätte er meiner Meinung nach sofort auch noch eine zweite gehabt, nämlich, die Hände davon zu lassen. Er hatte ja keinerlei Möglichkeiten, in Erfahrung zu bringen, wieviel Geld in den Taschen war. Keinerlei Möglichkeit zu beurteilen, ob sich der Diebstahl lohnen würde oder nicht. In Wirklichkeit aber gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß er eine solche Eingebung hatte, auch wenn er, als er dort hineinging, um sich nach irgend etwas zu erkundigen, die Taschen auf dem Boden stehen sah. Es gibt keinerlei Beweis dafür, daß Bob Sherman das Geld gestohlen hat.« »Aber natürlich gibt es einen«, ließ sich Rolf Torp vernehmen. »Er ist verschwunden.« »Wie?« fragte ich. Jetzt legte sich die eine oder andere Stirn verwirrt in Falten, blickten ein paar Gesichter verständnislos drein - aber einen Lösungsvorschlag hatte niemand anzubieten. »Es muß ja ein ganz spontaner Diebstahl gewesen sein«, sagte ich, »was bedeutet, daß der Dieb keine Vorbereitungen getroffen haben kann. Nehmen wir mal an, er hätte die Taschen an sich genommen. Nun wankt er also, für jeden sichtbar, mit den geklau… mit den gestohlenen Taschen umher. Was soll er tun? Selbst mit einem scharfen Messer würde er einige Zeit brauchen, um diese Taschen aufzuschlitzen und das Geld herauszunehmen. Wir können jedoch ausschließen, daß er dies auf der Rennbahn getan hat, denn die Taschen wurden ja nirgendwo gefunden.« Einige Köpfe nickten, andere wurden geschüttelt. »Bob Sherman hatte nur eine kleine Reisetasche mit, die, wenn ich seine Frau richtig verstanden habe, nicht groß genug war, um darin neben seinen eigenen Sachen auch noch fünf Segeltuchtaschen unterzubringen. Niemand hat herumliegende Kleidungsstücke von ihm gefunden, er kann also das Geld nicht 72
in die Reisetasche gepackt haben.« Lars Baltzersen machte ein nachdenkliches Gesicht. »Nehmen Sie die Beförderung«, sagte ich. »Er hatte ein Taxi bestellt, das ihn zum Flugplatz Fornebu bringen sollte, erschien dann aber nicht. Die Polizei vermochte keinen Taxifahrer ausfindig zu machen, der einen einzelnen Engländer gefahren hatte. Gunnar Holth sagte, er habe Bob zwar mittags zur Rennbahn hin-, aber nicht zurückgefahren. Weil der Diebstahl ja ein spontaner gewesen sein muß, konnte sich Sherman vorher kein Fluchtauto geliehen haben, und im übrigen hat die Polizei auch keine Anmietung eines Wagens feststellen können. Er hat auch kein Auto gestohlen, um das Geld abzutransportieren, denn hier wurde an jenem Tag kein Auto entwendet. Womit nur Freunde übrigbleiben…« Ich machte eine Pause und setzte dann hinzu: »Freunde, die er hätte bitten können, ihn zum Beispiel nach Schweden zu fahren und das für sich zu behalten.« »Die hätten sich ebenfalls schuldig gemacht«, sagte Rolf Torp ungläubig. »Ja… Also, er ist siebenmal in Norwegen gewesen, aber immer nur ein oder zwei Tage. Ich konnte nur zwei Freunde finden, die ihn gut genug gekannt und so gemocht haben könnten, daß sie sich seinetwegen Schwierigkeiten aufgehalst hätten, nämlich Gunnars Futtermeister Paddy O’Flaherty und… Sie verzeihen, Sir… Mikkel Sandvik.« Er war diesmal sehr viel verärgerter, aber sein Protest ging doch über einen grimmigen Blick nicht hinaus. »Aber Paddy O’Flahertys Auto steht schon seit sechs Wochen auf Ziegelsteinen aufgebockt«, fuhr ich fort. »Und Mikkel Sandvik kann noch nicht fahren. Keiner von beiden hatte einen fahrbaren Untersatz… äh, ein Fahrzeug… für Shermans unvorhergesehenen Bedarf parat.« »Sie wollen also sagen«, warf Baltzersen ein, »daß er, wenn er das Geld gestohlen hätte, nicht in der Lage gewesen wäre, es 73
auch fortzuschaffen. Aber mal angenommen, er hat es versteckt und ist später wiedergekommen, um es zu holen?« »Dann hätte er immer noch das Transportproblem lösen und außerdem mit dem Nachtwächter fertig werden müssen. Nein… ich glaube, wenn er das Geld gestohlen und versteckt hätte, dann wäre er nicht zurückgekommen, um es zu holen, sondern er hätte es dagelassen, wo es war. Die Vernunft hätte gesiegt. Denn im Zusammenhang mit diesem Geld gibt es ja auch noch andere Faktoren… zum Beispiel: Für Sie alle ist das eine vertraute Sache. Es ist Geld. Für Bob Sherman jedoch ist es eine ausländische Währung. Alle britischen Jockeys haben so schon Probleme genug, Fremdwährungen eingetauscht zu bekommen… sie würden sich nicht so leicht auf Taschen voller Geld stürzen, das sie nicht problemlos ausgeben können. Und vergessen Sie nicht: Vorwiegend waren es Münzen, die ein großes Gewicht haben und in großen Mengen noch schwerer zu wechseln sind als Scheine, vor allem außerhalb Norwegens.« Per Bjørn Sandvik betrachtete eingehend den Fußboden und sah wieder milde aus. Arne hatte seine Lider gestoppt und hielt jetzt die Augen geschlossen. Rolf Torp paffte erregt seine Zigarre, und Lars Baltzersen machte einen unglücklichen Eindruck. »Aber damit ist noch nicht erklärt, warum Sie der Ansicht sind, daß Sherman tot ist«, sagte er. »Bis heute hat niemand eine Spur von ihm gefunden… es gibt nicht einmal jemanden, der auch nur glaubt, er könnte ihn gesehen haben. Es liegen keine Meldungen von außerhalb vor. Seine schwangere Frau hat keine beruhigende Nachricht von ihm erhalten. Das alles ist für den Fall eines flüchtigen Diebes sehr ungewöhnlich, paßt aber haargenau auf einen Mann, der nicht mehr am Leben ist.« Baltzersen biß sich auf die Unterlippe. Ich sagte: »Im allgemeinen ist es leicht, das plötzliche 74
Verschwinden eines Menschen zu erklären… während der Ermittlungen tritt sein Motiv ziemlich deutlich zutage. In Bob Shermans Leben scheint es jedoch nichts zu geben, was ihn zu einer spontanen, endgültigen Flucht hätte treiben können. Es würde doch niemand eine erfolgreiche Karriere gegen eine in ihrer Höhe zwar nicht bekannte, aber kaum riesengroße Summe einer fremden Währung eintauschen, es sei denn, er wäre durch irgend etwas anderes dazu gezwungen worden. Doch weder Ihre noch die britische Polizei, weder seine Frau noch Arne Kristiansen noch ich haben irgendeinen Hinweis - und sei er noch so schwach oder unwahrscheinlich - darauf gefunden, daß solch ein zwingendes Motiv vorgelegen haben könnte.« Arne öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. »Mal angenommen«, sagte ich, »ein anderer hat das Geld gestohlen, und Sherman hat ihn dabei beobachtet.« Die Stewards und Funktionäre blickten erschrocken und äußerst finster drein. Man mußte ihnen nicht sagen, daß jemand, der auf frischer Tat ertappt wurde, möglicherweise zuviel zu verlieren hatte - und von da war es nur ein kleiner Schritt, sich einen Dieb vorzustellen, der verzweifelt genug gewesen war, Bob Sherman zu töten und ihn damit zum Schweigen zu bringen. »Mord?« Baltzersen sprach das Wort so langsam aus, als ob es ihm fremd sei. »Ist es das, was Sie meinen?« »Es ist eine Möglichkeit.« »Aber nicht sicher.« »Wenn es irgendwelche eindeutigen Hinweise auf einen Mord gäbe, hätte Ihre Polizei sie längst gefunden. Es herrscht jedoch keinerlei Gewißheit, und wenn es keine Antwort auf die Fragen gibt, wohin, warum und wie er geflohen ist, dann muß man wohl, wie ich meine, auch die Frage stellen, ob er überhaupt verschwunden ist.« Baltzersens angespannte Stimme entsprach dem 75
Gesichtsausdruck der anderen - niemand wollte, daß ich recht hatte. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß er noch hier auf der Rennbahn ist?« Rolf Torp schüttelte ungeduldig den Kopf. Er war in seiner Art genau das Gegenteil des Vorsitzenden, er war so leicht erregbar wie jener ausgeglichen. »Selbstverständlich ist er das nicht. Auf dem Platz sind jeden Tag Leute, die ihre Pferde bewegen, und seit Shermans Verschwinden haben bereits acht weitere Meetings stattgefunden. Wenn sich seine Leiche hier befände, wäre sie sofort gefunden worden.« Köpfe nickten in einmütiger Zustimmung, und Baltzersen sagte widerstrebend: »Ich nehme an, er hätte auch bewußtlos oder tot von hier fortgebracht und woanders versteckt… begraben… werden können.« »In Norwegen gibt es viele tiefe Wasser«, sagte ich. Meine Gedanken wanderten zurück zu unserer kleinen ›Dienstreise‹ hinaus auf den Fjord, und mir entging, wer von den Anwesenden eine blitzschnelle Reaktion zeigte. Ich wußte zwar, daß sich jemand gerührt hatte, aber weil ich kurz unaufmerksam gewesen war, vermochte ich nicht zu sagen, wer es gewesen war. Dummkopf, dachte ich, da ruckt die Leine, und du kriegst nicht mit, welcher Fisch dran war. Selbst die Gewißheit, daß es einen Fisch gab, konnte mich nicht trösten. Das Schweigen dauerte an, bis schließlich Per Bjørn Sandvik mit nachdenklich gerunzelter Stirn wieder aufblickte. »Es hat also ganz den Anschein, als wäre niemand in der Lage, bis zur Wahrheit vorzudringen. Ich halte Davids Theorie für sehr einleuchtend. Sie paßt besser als alle zuvor erörterten Erklärungen zu den Fakten… oder besser: zu dem Mangel an Fakten.« Die Köpfe nickten. »Wir werden unserer Polizei mitteilen, was Sie uns nahegelegt 76
haben«, sagte Baltzersen in einem Schließen-wir-die-SitzungTonfall, »aber ich stimme Per zu… nach so langer Zeit und soviel vergeblicher Ermittlungsarbeit werden wir wohl nie genau erfahren, was aus Sherman oder dem Geld geworden ist. Wir alle sind Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich die Mühe gemacht haben und herübergekommen sind, und ich weiß, daß für die meisten von uns bei genauerem Nachdenken Ihre Lösung des Rätsels die wahrscheinlichste ist.« Man lächelte mich verhalten und besorgt an, und einige nickten wieder mit den Köpfen. Ralf Torp drückte energisch seine Zigarre aus, und alle rutschten auf ihren Stühlen herum und warteten darauf, daß sich Baltzersen endlich erhob. Ich dachte an die beiden anmutigen Schwäne und an die zwei kleinen schwarzweißen Enten, die dort draußen auf der dunklen Seite des Turms still und friedlich herumschwammen. »Sie könnten es mal mit dem Teich versuchen«, sagte ich. Die Versammlung löste sich eine halbe Stunde später auf, nachdem man sich mit einem gewissen Entsetzen geeinigt hatte, das kleine, friedliche Gewässer am folgenden Morgen absuchen zu lassen. Arne mußte sich noch um ein paar Sicherheitsangelegenheiten kümmern und erledigte das mit gewissenhaftester Langsamkeit. Ich wanderte derweil ziellos umher und lauschte den auf norwegisch geführten Unterhaltungen der aufbrechenden Rennplatzbesucher. Eine gute Stunde nach dem letzten Rennen brannten noch immer ein paar Lichter, waren noch immer einige Leute da. Nicht gerade der abgeschiedenste Ort, um einen Mord zu begehen. Ich ging in Richtung Wiegeraum zurück und blieb auf dem Rasen neben dem Gebüsch aus Ziersträuchern stehen. Nun ja… es war dicht genug, um dort eine Leiche solange zu verstecken, bis alle gegangen waren. Einen Jockey, seine Reisetasche und fünf Segeltuchtaschen mit gestohlenem Geld. Für das alles war 77
zwischen den Sträuchern ausreichend Platz. Am Eingang des Wiegeraums brannten zwar ein paar Lampen, aber die Büsche warfen dunkle Schatten, und man konnte nicht sehen, was unter ihnen war. Arne stieß dort zu mir und rief mit leidenschaftlicher Gewißheit aus: »Da kann er nicht sein! Da hätte ihn schon längst jemand gefunden.« »Und gerochen«, sagte ich. Arne gab einen würgenden Laut von sich und dann: »Mein Gott!« Ich wandte mich von den Büschen ab. »Bist du fertig?« Er nickte. Die eine Hälfte seines Gesichts war hell beleuchtet, die andere lag im Schatten. »Der Nachtwächter ist da, und alles hat seine Ordnung. Er wird dafür sorgen, daß alle Tore über Nacht zugesperrt sind. Wir können nach Hause fahren.« Er kutschierte mich in seinem robusten schwedischen Volvo in die Stadt zurück und steuerte dann die baumbestandene Straße an, in der er wohnte. Als wir eintraten, knisterten Scheite im Kamin, und Kari begrüßte uns mit gekühltem Weißwein in hohen Gläsern. Arne lief wie ein Tiger im Käfig ruhelos in der Wohnung umher und legte wieder Beethoven auf, fortissimo. »Was ist los?« fragte Kari mit erhobener Stimme. »Um Himmels willen, stell den Apparat leiser.« Arne folgte der Aufforderung, aber der Verzicht auf den Gebrauch seines emotionalen Sicherheitsventils bedrückte ihn. »Laß ihn doch Krach machen«, sagte ich. »Wir werden’s schon fünf Minuten aushalten.« Kari warf mir einen schrecklichen Blick zu und verschwand in der Küche, während Arne mich mit großer Ernsthaftigkeit beim Wort nahm. Die stereophonischen Klänge erschütterten das Haus in seinen Grundfesten, und ich saß derweil ergeben auf dem Sofa und bewunderte die Langmut der Nachbarn. Der 78
Mann, der in London in der Wohnung unter mir wohnte, hatte Ohren wie Stethoskope und war schon da, um an meine Tür zu trommeln, wenn ich bloß eine Nadel fallen ließ. Aus den fünf Minuten wurden fast zwanzig - erst dann hörte Arne auf, hin und her zu gehen, und stellte den Ton leiser. »Großartig, ganz großartig«, sagte er. »Sicher«, pflichtete ich ihm bei, denn er hatte ja recht. Es war und blieb eine großartige Musik - am richtigen Ort, sofern er die Größe der Albert Hall hatte. Kari kehrte mit einem leichten, weiblich-nachsichtigen Kopfschütteln aus ihrem Exil zurück. Sie sah in ihrem seidenen, kupferfarbenen Hosenanzug, der phantastisch zu ihrem Haar, ihrem Teint und ihren Augen paßte und auch dem Rest nicht schlecht bekam, in höchstem Maße beunruhigend aus. Sie schenkte uns nach und ließ sich dann nahe beim Feuer auf einem Sitzkissen nieder. »Wie hat es dir bei den Rennen gefallen?« fragte sie. »Sehr gut«, erwiderte ich. Arne blinzelte ein wenig, sagte, er müsse noch ein paar Telefonate erledigen, und ging in den Flur hinaus. Kari berichtete mir, sie habe sich das Grand National im Fernsehen angeschaut, und meinte, sie gehe nur selten zu den Rennen. »Ich bin ein Hausmensch«, sagte sie. »Arne glaubt, das Leben draußen in der freien Natur sei gesünder, aber mir macht es keinen Spaß zu frieren, naß oder vom Wind gebeutelt zu werden. Deshalb lasse ich ihn losziehen und all diese rauhen Dinge tun wie Skilaufen, Segeln und Schwimmen… und ich, ich halte ihm die Stube warm, in die er dann heimkehren kann.« Sie lächelte, und mir war ein ganz klein wenig so, als ob sie bei all ihrer Fürsorge für Arne nicht nur aufrichtige Liebe für ihn empfände. Irgendwo tief in ihr verborgen, da gab es eine Einstellung zu den sogenannten Männersachen, die von 79
Bewunderung weit entfernt war - und eine so tiefverwurzelte Abneigung erstreckte sich, meiner Erfahrung nach, auf alle, die sich diesen Tätigkeiten widmeten. Im Flur war Arne zu hören, der norwegisch sprach. »Er redet vom Absuchen eines Teiches«, sagte Kari und sah mich verwirrt an. »Was für ein Teich?« Ich erklärte es ihr. »O je… seine arme junge Frau… ich hoffe nur, er ist da nicht drin. Wie würde sie das wohl ertragen?« Besser das, dachte ich, als glauben zu müssen, ihr Mann sei ein Dieb und habe sie verlassen. Ich sagte: »Es ist nur eine Möglichkeit. Aber wir gehen besser auf Nummer Sicher.« Sie lächelte. »Arne hat eine sehr hohe Meinung von dir. Ich nehme an, du hast recht. Als Arne aus England zurückkam, sagte er mal, er würde nur ungern in die Situation geraten, daß du gegen ihn ermittelst, denn du könntest anscheinend die Gedanken anderer lesen. Als der Vorsitzende der Rennbahn um jemanden bat, der bei der Suche nach Bob Sherman helfen würde, und Arne erfuhr, daß du selbst kommen wolltest, da war er hocherfreut. Ich habe gehört, wie er zu jemandem am Telefon sagte, du hättest Habichtsaugen und einen messerscharfen Verstand.« Sie lächelte ironisch, und das sanfte Licht schimmerte auf ihren Zähnen. »Fühlst du dich geschmeichelt?« »Ja«, sagte ich. »Ich wünschte, es stimmte.« »Es muß stimmen, wo du doch diese leitende Position hast, und das in deinem Alter.« »Ich bin dreiunddreißig«, sagte ich. »In dem Alter hatte Alexander der Große schon die Welt von Griechenland bis Indien erobert.« »Du siehst wie fünfundzwanzig aus«, sagte sie. »Das ist eine große Beeinträchtigung.« »Eine… was?« 80
»Ein Nachteil.« »Das würde eine Frau nicht finden.« Arne kam aus dem Flur wieder herein und sah geistesabwesend aus. »Alles in Ordnung?« »Oh… äh… ja.« Er blinzelte ein paarmal. »Es ist alles geregelt. Der Teich wird morgen um neun abgesucht.« Er hielt einen Augenblick inne und fragte dann: »Wirst du dort sein, David?« Ich nickte. »Und du?« »Ja.« Die Aussicht schien ihm nicht zu gefallen, aber ich selbst war auch nicht gerade begeistert. Wenn Bob Sherman tatsächlich dort gefunden wurde, dann würde es sich um eines jener unvergeßlichen Objekte handeln, bei deren Anblick man sich wünscht, sie nie gesehen zu haben, und meine Privatgalerie an entsprechenden Erinnerungsbildern war schon umfangreich genug. Arne schichtete Holzscheite aufs Feuer, als gälte es, böse Geister zu vertreiben, und Kari meinte, es sei Zeit zum Essen. Es gab Rentiersteaks in einer sehr würzigen dunklen Soße und danach die versprochenen Moltebeeren, die, wie sich herausstellte, gelblich braun waren und nach Karamel schmeckten. »Das ist etwas ganz Besonderes«, sagte Arne, dem es offensichtlich Freude bereitete, mir diese Köstlichkeit bieten zu können. »Sie wachsen in den Bergen, und die Erntesaison dauert nur drei Wochen. Das Pflücken der Beeren ist durch ein Gesetz geregelt. Man kann strafrechtlich verfolgt werden, wenn man sie vor der Zeit pflückt.« »Man kann sie auch in Dosen bekommen«, sagte Kari. »Aber der Geschmack ist nicht derselbe.« Wir aßen in andächtiger Stille. 81
»Keine mehr bis zum nächsten Jahr«, sagte Arne bedauernd und legte den Löffel hin. »Trinken wir einen Kaffee.« Kari brachte den Kaffee und wies belustigt mein halbherziges Angebot zurück, ihr beim Abwasch zu helfen. »Das möchtest du doch gar nicht wirklich. Sei ehrlich.« »Nein, das möchte ich gar nicht wirklich«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Sie lachte. Eine sehr feminine Frau, die offenkundig nicht zu jenen gehörte, die lautstark nach Gleichheit in der Küche riefen. Die zwischen ihr und Arne getroffene Vereinbarung, nach der alles im Haus ihre Domäne war und alles draußen seine, schien nur Harmonie hervorgebracht zu haben. Bei meiner Schwester hatte eine vergleichbare Regelung zu Verstimmungen, Streit und einer zerrütteten Ehe geführt. Ich hatte den Eindruck, als wären Karis Erwartungen nicht so hoch, als gäbe sie sich mit weniger zufrieden - und als erreichte sie dadurch weitaus mehr. Ich blieb nicht allzu lange. Ich sah Kari ein bißchen zu gerne an, und Arne war schließlich trotz all seiner Eigenheiten ein Ermittler. Ich selbst hatte ihm beigebracht, darauf zu achten, wohin die Leute sahen, denn zumeist weilten ihre Gedanken da, wo ihre Augen waren. Es gab Männer, denen es eine ungeheure Befriedigung verschaffte, wenn andere ihre Frauen begehrten, aber es gab auch solche, die Wut und Rachsucht empfanden. Ich wußte nicht, wie Arne reagieren würde, hatte aber auch nicht vor, es herauszufinden.
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6 Montagmorgen. Nieselregen. Das Tageslicht breitete sich allmählich über der Rennbahn von Øvrevoll aus und verwandelte die anthrazitfarbenen Wolken in flanellgraue. Dunkelgrüne Fichten und gelbe Birken standen zu Abertausenden tropfnaß herum, und der Papiermüll vom Vortag lag aufgeweicht in Fetzen überall auf dem nassen Asphalt verstreut. Im unteren Teil des Geläufs waren Gunnar Holth und ein paar andere mit ihren Rennpferden bei der Morgenarbeit, der obere Teil jenseits des Zielpfostens war jedoch vorübergehend abgesperrt worden. Mehr vor Depression als vor Kälte zitternd, saß ich zusammen mit Lars Baltzersen im Turm und sah zu, wie unten der Teich abgesucht wurde. Mit den Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern sahen Arne und zwei Polizisten mit tropfenden Mützen vom Ufer aus verdrossen zu dem kleinen Boot hinüber, das langsam und systematisch zwischen den Ufern hin und her glitt. Der Teich war mehr oder weniger rund, hatte einen Durchmesser von ungefähr dreißig Metern und war anscheinend etwa einsachtzig tief. In dem Boot befanden sich zwei Polizisten mit Greifhaken und dazu noch ein dritter, der einen Taucheranzug anhatte und das Rudern besorgte. Er trug Flossen, Taucherkappe und -brille und hatte sich schon zweimal, mit einer Unterwasserlampe bewehrt, über die Seitenwand des Bootes fallen lassen, um nachzusehen, worauf die Greifhaken gestoßen waren. Beide Male hatte er nach dem Wiederauftauchen nur den Kopf geschüttelt. Die Schwäne und die schwarzweißen Enten schwammen erregt im Kreis. Das Wasser wurde immer trüber. Das Boot 83
absolvierte langsam seine zehnte Teichüberquerung, als Lars Baltzersen düster murmelte: »Die Polizei hält das für Zeitverschwendung.« »Und trotzdem«, erwiderte ich, »ist sie gekommen.« »Natürlich, ist doch ihre Pflicht.« »Natürlich.« Wir sahen weiter schweigend zu. Ein Haken blieb hängen. Der Taucher glitt seitlich über Bord und blieb eine ganze Minute unten, bevor er wieder auftauchte, den Kopf schüttelte und von den anderen zurück ins Boot gehievt wurde. Erneut nahm er die Ruder zur Hand und legte sich in die Riemen. Auf beiden Seiten des Bootes stießen die Polizisten ihre Stangen mit den Haken wieder ins Wasser und zogen sie langsam über den Boden des Teiches. »Sie hatten eigentlich vor, den Teich abzulassen«, sagte Lars Baltzersen. »Aber das hätte große technische Probleme mit sich gebracht, denn dort sickert Wasser vom gesamten oberen Teil der Rennbahn hinein. Sie haben sich deshalb für das Absuchen entschieden.« »Und das machen sie hinreichend gründlich«, sagte ich. Er sah mich ernst an. »Sie werden also, sollte die Polizei Sherman nicht finden, akzeptieren, daß er nicht dort ist?« »Ja«, antwortete ich. Er nickte. »Das ist vernünftig.« Wir sahen eine weitere Stunde lang zu. Der Taucher unternahm noch zwei Unterwasserausflüge, kam aber jedesmal mit leeren Händen wieder hoch. Das Boot beendete seine Fahrt, ohne auch nur einen Zentimeter des Teichs ausgelassen zu haben. Es war keine Leiche da. Bob Sherman lag nicht im Teich. Neben mir stand Baltzersen steifbeinig auf und streckte sich, wobei sein Stuhl laut über die Dielenbretter schurrte. 84
»Das war’s dann also«, sagte er. »Ja.« Ich erhob mich ebenfalls und folgte ihm über die Außentreppe nach unten. Dort trafen wir auf Arne und den leitenden Beamten dieser Operation. »Da ist niemand drin«, sagte dieser auf englisch zu mir, und sein Tonfall ließ anklingen, daß ihn das nicht überraschte. »Nein, aber ich möchte Ihnen dafür danken, daß Sie es festgestellt haben.« Er unterhielt sich noch eine Weile auf norwegisch mit Arne und Baltzersen, bis Baltzersen zum Teich ging, um den Leuten im Boot persönlich zu danken. Sie nickten, lächelten, zuckten die Achseln und machten sich dann daran, das Boot auf einen Anhänger zu verladen. »Sei nicht traurig, David«, sagte Arne mitfühlend. »Die Idee war gut.« »Wieder eine Theorie geplatzt«, pflichtete ich ihm philosophisch bei. »Und es wird wohl nicht die letzte sein.« »Willst du weitersuchen?« Ich schüttelte den Kopf. Die Fjorde waren zu tief. Im Büro des Vorsitzenden hatte jemand sehr deutlich auf meine Erwähnung des Wassers reagiert, und wenn sich Bob Sherman nicht im Teich befand, dann irgendwo, wo es genauso naß war. Baltzersen, Arne, der Einsatzleiter der Polizei und ich stapften über die Rennbahn zurück zum Sattelplatz und von dort aus weiter zum Parkplatz neben dem Haupteingang. Baltzersen sah mit gerunzelter Stirn auf die Unmengen weggeworfener, überall verstreuter Eintrittskarten und Wettscheine und sagte etwas zu Arne, der auf norwegisch antwortete und dies dann ins Englische übersetzte. »Der Manager dachte, es sei besser, wenn die Leute von der Müllabfuhr nicht sehen, daß die Polizei den Teich absucht. Nur 85
für den Fall… Wie auch immer, sie kommen morgen.« Baltzersen nickte. Er hatte sich den Vormittag freigenommen, sein Holzgeschäft sich selbst überlassen - und sah jetzt ganz so aus, als bereute er es. »Es tut mir leid«, sagte ich, »daß ich Ihnen Ihre Zeit gestohlen habe.« Mit einer leichten Bewegung seines Kopfes deutete er an, daß mir mehr oder weniger verziehen sei. Der anhaltende Nieselregen ließ eine herzlichere Äußerung nicht zu. Wir gingen schweigend an den Tribünen, dem kleinen Zierteich (zu flach!) und dem Sekretariat vorbei und hörten das Kind wahrscheinlich nur, weil das Knirschen unserer Schritte das einzige Geräusch war. Der kleine Junge stand in einer Ecke des Totohäuschens und weinte. Er war ungefähr sechs Jahre alt, bis auf die Haut naß, und das Haar klebte ihm in ganz unglücklich aussehenden, spitzigen Fransen an der Stirn. Der Polizeibeamte sah zu ihm hinüber, winkte und sagte mit recht freundlicher Stimme so etwas wie »Komm doch mal her.« Der Junge rührte sich nicht, sagte aber etwas, was meine drei Begleiter abrupt stehenbleiben ließ. Sie sahen im wahrsten Sinne des Wortes vor Schreck erstarrt aus, so, als ob alle ihre Reflexe nicht mehr funktionierten. Ihre Gesichter wirkten absolut leer. »Was hat er gesagt?« fragte ich. Der Junge wiederholte seine Mitteilung, was den Schock meiner Begleiter womöglich noch vergrößerte. Baltzersen öffnete schließlich mit sichtbarer Anstrengung den Mund und übersetzte: »Er hat gesagt: ›Ich hab da eine Hand gefunden.‹« Als wir uns dem Kind näherten, war es völlig verängstigt und blickte auf der Suche nach einem Fluchtweg mit großen Augen 86
wild um sich. Wieder sprach der Polizist zu dem Jungen, und was immer er sagte, es wirkte beruhigend auf ihn, und als wir bei ihm ankamen, stand er einfach nur so da, naß, verschreckt und zitternd. Der Polizeibeamte kauerte sich neben ihn, und die beiden fingen eine lange, ruhig geführte Unterhaltung an. Schließlich streckte der Beamte die Hand aus, das Kind ergriff sie, und dann stand der Polizist auf und berichtete uns auf englisch, was er von dem Jungen erfahren hatte. »Der Kleine ist hergekommen, um nach Geld zu suchen. Die Zuschauer verlieren oft Münzen oder Scheine, vor allem in der Dunkelheit. Er sagt, er zwängt sich immer durch ein Loch im Zaun, um nach Geld zu suchen, bevor die Müllabfuhr kommt. Er meint, er findet immer was. Heute morgen, sagt er, hat er zwanzig Kronen gefunden, bevor die Männer gekommen sind. Er meint, bevor die Polizei gekommen ist. Er hat sich versteckt, weil er ja eigentlich gar nicht hier sein darf. Er hat sich dort drüben hinter der Tribüne versteckt.« Der Polizist deutete mit dem Kopf in die Richtung. »Er sagt, daß er hinter der Tribüne eine Hand auf dem Boden gefunden hat.« Der Einsatzleiter sah auf das Kind hinab, das sich an seine Hand klammerte wie an eine Rettungsleine, und bat dann Arne, zu seinen Männern zu gehen, die ihr Gerät bereits verstaut hatten und im Begriff waren, den Platz zu verlassen. Er möge ihnen bitte sagen, daß sie schnellstens kommen sollten. Arne warf dem Kind einen gequälten Blick zu und kam der Bitte nach, während Baltzersen langsam zu seiner geschäftsmäßigen Effizienz zurückfand. Der Einsatzleiter hatte einige Schwierigkeiten, das Zutrauen des Jungen auf einen seiner Leute zu übertragen, vermochte sich schließlich aber doch loszumachen. Daraufhin ging er mit zweien seiner Männer sowie Baltzersen, Arne und mir zur Rückseite der bezeichneten Tribüne, um sich die Hand anzusehen, die dort auf der Erde liegen sollte. 87
Das Kind hatte sich nicht geirrt. Wächsern weiß und grausig anzusehen, lag sie auf dem Asphalt, die Finger gegen den Regen schlaff gekrümmt. Das Kind hatte uns allerdings verschwiegen, daß die Hand nicht allein war. Eng an die Tribünenrückwand gedrückt, lag ein länglicher, mit einer schwarzen Plane abgedeckter Haufen. Etwa in seiner Mitte und bis zum Gelenk sichtbar, lugte die Hand unter der Plane hervor. Der Einsatzleiter packte wortlos eine Ecke der Plane und zog sie weg. Arne sah hin, schoß ins nächste Gebüsch und gab von sich, was Kari ihm zum Frühstück vorgesetzt hatte. Baltzersen wurde grau im Gesicht und preßte eine zitternde Hand vor den Mund. Selbst den Polizisten schien schlecht zu werden, und ich fügte meinen unerwünschten Erinnerungsbildern ein weiteres hinzu. Er war wirklich nicht mehr zu erkennen - die Feststellung der Identität und der Todesursache würde ein harter Job werden. Aber Größe und Bekleidung paßten, und neben ihm lag auch die Reisetasche, auf der die schwarz aufgedruckten Initialen R. T. s. noch zu erkennen waren. Fest um seine Brust war ein Nylonseil geschnürt, ein zweites um seine Beine, und von beiden Knoten - der eine saß über dem Brustbein, der andere über den Knien - hingen kurze Stücke Seil herab, deren Enden ausgefranst waren. Einer der Beamten sagte etwas zu seinem Chef, was Baltzersen netterweise übersetzte. »Das ist der Mann, der getaucht ist«, sagte er. »Seine Kollegen seien bei der Suche mit der Stange an einen Zementblock gestoßen. Er habe sich da noch nichts dabei gedacht, aber er sagt, auch an diesem Zementblock seien ausgefranste Seilenden zu sehen gewesen. Er meint, die hätten so ausgesehen wie diese hier.« 88
Der Einsatzleiter zog die Plane über dem tragischen Bündel zurück und gab seinen Leuten weitere Anweisungen. Arne stand ein paar Schritte abseits, wischte sich Gesicht und Mund mit einem großen weißen Taschentuch ab und sah überall hin, nur nicht zu der schwarzen Plane. Ich ging zu ihm und erkundigte mich, ob es ihm wieder besser gehe. Er zitterte und schüttelte elend den Kopf. »Du brauchst einen Drink«, sagte ich. »Fahr doch nach Hause.« »Nein.« Er schauderte. »Es wird schon gehen. Wie dumm von mir. Tut mir leid, David.« Wir gingen zusammen zur Vorderseite der Tribüne, wo wir uns wieder zu Baltzersen und dem Einsatzleiter gesellten, die ihrerseits zu dem kleinen Jungen zurückgekehrt waren. Baltzersen zog mich geschickt ein paar Schritte beiseite und sagte leise: »Ich möchte Arne nicht erneut aus der Fassung bringen… Der Junge sagt, die Hand sei am Anfang gar nicht zu sehen gewesen. Er habe die Plane ein bißchen angehoben, um mal zu schauen, was darunter sei… Sie wissen ja, wie Kinder so sind… Und da habe er etwas Blasses gesehen und versucht, es herauszuziehen. Das war die Hand. Als er gesehen habe, was es war… da sei er davongerannt.« »Der arme kleine Kerl«, sagte ich. »Er hätte nicht hier sein dürfen«, meinte Baltzersen, und sein Tonfall besagte: Geschieht ihm ganz recht. »Wenn er nicht gewesen wäre, hätten wir Bob Sherman nie gefunden.« Lars Baltzersen sah mich nachdenklich an. »Ich nehme an, daß derjenige, der ihn aus dem Teich herausgeholt hat, mit dem Auto wiederkommen und ihn abholen wollte, um sich seiner anderswo zu entledigen.« »Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete ich. 89
»Es muß aber so sein. Wäre es ihm gleich gewesen, ob Sherman gefunden wird oder nicht, dann hätte er ihn doch im Teich lassen können.« »O ja, gewiß. Ich meinte nur… warum ihn woanders hinbringen? Warum nicht einfach wieder in den Teich… sobald es dunkel ist? Das wäre doch schließlich der einzige Ort, an dem nie wieder jemand nach Bob Sherman suchen würde.« Er bedachte mich mit einem langen, abwägenden Blick, und zum ersten Mal an diesem Vormittag und völlig unerwartet lächelte er. »Tja… Sie haben getan, worum wir Sie gebeten haben.« Ich lächelte matt zurück und fragte mich, ob ihm wohl schon klargeworden war, was die Arbeit dieses Vormittags bedeutete. Aber Mörder zu fangen, das war Sache der Polizei, nicht die meine. Ich wollte jetzt nur noch den Flug um zwei Uhr fünf nach Heathrow kriegen, was mir kaum Zeit genug für das ließ, was ich vorher noch erledigen mußte. Ich sagte: »Wenn ich mal wieder irgendwie behilflich sein kann…« - wie man das eben so dahinsagt, verabschiedete mich von ihm und von Arne und ließ sie mit ihrem Problem im Nieselregen stehen. Ich holte Emma Sherman wie verabredet aus ihrem Hotel ab und nahm sie in mein Zimmer im Grand Hotel mit. Ich hatte sie eigentlich zum Mittagessen einladen wollen, bevor wir zum Flughafen hinausfuhren, bestellte nun aber beim Zimmerservice eine heiße Suppe. Noch immer gab’s keinen Brandy. Nicht vor drei Uhr, sagten sie. Beim nächsten Mal, dachte ich, bringe ich mir ein paar Liter mit. Champagner paßte allerdings nicht ganz zu der Nachricht, die ich ihr zu übermitteln hatte, weshalb ich ihn mit Orangensaft versetzte und sie erst einmal davon trinken ließ. Dann brachte ich ihr so schonend wie nur möglich bei, daß Bob zum Zeitpunkt seines Verschwindens gestorben war. Ich sagte ihr, 90
daß Bob kein Dieb gewesen sei und sie nicht verlassen habe. Ich sagte ihr, daß er ermordet worden sei. Ihr Gesicht nahm wieder diesen verzweifelten, zerbrechlichen Ausdruck an, aber sie wurde nicht ohnmächtig. »Sie haben ihn… Sie haben ihn also gefunden?« »Ja.« »Wo… ist er?« »Auf der Rennbahn.« Sie stand auf, schwankte ein wenig. »Ich muß zu ihm.« »Nein«, sagte ich bestimmt und hielt sie am Ellbogen fest. »Nein, Emma, bitte nicht. Sie müssen ihn lebend in Erinnerung behalten. Er sieht jetzt nicht mehr so aus wie früher, und er würde bestimmt nicht wollen, daß Sie ihn so sehen. Er würde Sie bitten, das nicht zu tun.« »Ich muß zu ihm… aber natürlich muß ich das.« Ich schüttelte den Kopf. »Wollen Sie sagen« - langsam dämmerte es ihr - »daß er… ganz schrecklich aussieht?« »Leider ja. Er ist schon seit einem Monat tot.« »O Gott.« Ihre Knie wurden schwach, und sie setzte sich, fing an zu weinen. Ich berichtete ihr von dem Teich, den Seilen, dem Zement. Sie mußte es irgendwann erfahren, und es konnte nicht schlimmer sein als die Qualen der Ungewißheit, die sie vier Wochen lang durchlitten hatte. »Mein armer Bob«, sagte sie. »O Liebling… mein Liebling…« Die Schleusentore all dieses Elends öffneten sich, und sie weinte mit einer schrecklichen, eruptiven Intensität, aber schließlich und auch endlich war es ein normaler Schmerz, frei von allen Selbstzweifeln und demütigender Scham. Noch immer vom Schluchzen geschüttelt, sagte sie nach einer 91
Weile: »Ich muß sehen, daß ich mein Zimmer im Hotel wiederbekomme.« »Nein«, sagte ich. »Sie fliegen heute nach Hause, mit mir zusammen, so wie wir es geplant haben.« »Aber ich kann doch nicht…« »Doch, Sie können und Sie werden. Sie dürfen nicht hierbleiben. Sie müssen nach Hause zurück, sich ausruhen, wieder zu Kräften kommen und sich um das Baby kümmern. Die Polizei hier wird alles Notwendige veranlassen, und ich werde dafür sorgen, daß der Jockey Club und vielleicht auch der ›Fonds für verletzte Jockeys‹ die Dinge bei uns drüben arrangieren. Wir können Bob schon bald nach England überführen lassen, wenn Sie das wünschen… Heute aber geht es einzig und allein um Sie. Wenn Sie hierbleiben, werden Sie krank werden.« Sie hörte mir zu, bekam kaum die Hälfte mit, erhob aber auch keine Einwände mehr. Vielleicht wird die Polizei nicht gerade erfreut sein, wenn sie jetzt abreist, dachte ich, aber sie haben sie fast einen Monat lang hier gehabt, und es kann eigentlich nicht viel geben, was sie ihnen noch nicht erzählt hat. Wir erreichten pünktlich unser Flugzeug. Sie starrte während des ganzen Fluges aus dem Fenster, und immer wieder liefen ihr Tränen der Erschöpfung über die Wangen. Ihr Großvater, den wir von Oslo aus verständigt hatten, holte sie in Heathrow ab, ein großer, hagerer und freundlicher Mann. Er beugte sich zu ihr hinunter, begrüßte sie mit einem Kuß auf die Stirn und tätschelte sie liebevoll. Ihre Eltern waren, wie sie mir erzählt hatte, gestorben, als sie noch zur Schule ging, und sie und ein Bruder waren zwischen Verwandten hin und her gependelt. Den verwitweten Vater ihrer Mutter mochte sie von allen am liebsten, und so war ihr auch an seinem Beistand am meisten gelegen. Er gab mir die Hand. 92
»Ich werde mich um sie kümmern«, sagte er. Er war ein netter Mann und sah aus wie ein Gelehrter. Ich gab ihm meine Privatanschrift und Telefonnummer für den Fall, daß Emma jemanden brauchte, der als Insider etwas wirkungsvoller Dampf machen konnte, wenn es mit der offiziellen Hilfe nicht so recht klappen wollte.
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7 Am Dienstagmorgen verbrachte ich die Zeit zwischen neun und zehn Uhr im Büro und stellte fest, daß alle in meiner Abwesenheit großartig zurechtgekommen waren und dies zweifellos auch weiterhin tun würden, selbst wenn ich gänzlich verschwände. Auf meinem Schreibtisch lagen sorgfältig ausgearbeitete Berichte über abgeschlossene Untersuchungen der Mann, den wir verdächtigt hatten, einen in die Zucht genommenen, hochklassigen Steepler, als Jagdpferd getarnt, bei einem Geländejagdrennen laufen gelassen zu haben, hatte dies tatsächlich getan, so daß ihn jetzt ein Betrugsverfahren erwartete, und bei einem Anwärter auf die Trainerlizenz war festgestellt worden, daß seine Trainingseinrichtungen in den Midlands gänzlich unzureichend waren. Nichts Haarsträubendes. Nichts, das mit beschwerten Leichen in den Teichen Norwegens vergleichbar gewesen wäre. Den Rest des Tages füllten Gespräche mit zwei Kollegen von der New York Racing Commission, die herübergekommen waren, um die Möglichkeiten eines weltweiten Ermittlungsnetzes für den Pferderennsport (nach Art der Interpol) zu erörtern. Das war Teil einer ganzen Serie von Gesprächen, die ich mit Funktionären aus vielen Ländern geführt hatte, und es sah so aus, als schleppte sich die Idee langsam und schwankend ihrer Verwirklichung entgegen. Wie üblich schien auch hier das Haupthindernis auf dem Weg zu schnellen Fortschritten meine scheinbare Jugend zu sein - ich war inzwischen überzeugt, daß alle zu dem, was ich zu sagen hatte, erst dann zustimmend nicken würden, wenn ich sechzig und mir die Puste ausgegangen war. Ich redete mir wieder den Mund fusselig, überreichte stapelweise Literatur, die für den Plan warb, lud die Herren zu 94
Inigo Jones zum Essen ein und hoffte, daß die Saat nicht auf steinigen Boden gefallen war. Beim Abschied stellte mir der ältere der beiden eine Frage, die ich inzwischen nur allzugut kannte. »Wenn Sie es schaffen, dieses Unternehmen zum Laufen zu bringen, werden Sie dann selbst die Leitung übernehmen wollen?« Ich lächelte. Ich wußte nur zu gut, daß sich, hatte das Baby erst einmal das Licht der Welt erblickt, sehr rasch herausstellen würde, daß es gar nicht meines war. »Wenn die Sache steht«, sagte ich, »fange ich etwas anderes an.« Er sah mich neugierig an. »Und was?« »Das weiß ich noch nicht.« Sie schüttelten die Köpfe und gaben ein leises »Tsss« von sich, packten aber meine Hände voller Herzlichkeit, als wir uns endlich trennten und in unsere jeweiligen Taxis einstiegen. Es war nach Mitternacht, als ich das Haus hinter der Brompton Road, in dem ich wohnte, schließlich erreichte, aber wie üblich brannte in der Wohnung unter der meinen noch Licht. Wenn man die Haustür einfach losließ, schlug sie mit einem lauten Knall zu, der im ganzen Haus widerhallte. Wie ich vermutete, als ich sie jetzt sanft schloß, erklärte dies die Überempfindlichkeit des Mieters im Erdgeschoß. Er war ein verschlossener Mann, grauhaarig, um die Fünfzig, sehr ordentlich und genau. Nach den sechs Monaten, die wir nun einer über dem anderen hausten, beschränkte sich unsere Bekanntschaft auf seine Vorstöße bis zu meiner Wohnungstür, wo er dann die sofortige Verringerung der von meinem Fernseher erzeugten Dezibel forderte. Einmal hatte ich ihn auf einen Drink hereingebeten, aber er hatte dankend abgelehnt offensichtlich zog er die Einsamkeit bei sich unten vor. Kaum die große Entente cordiale des Jahrhunderts. 95
Ich ging hinauf, öffnete die Wohnungstür und schloß auch diese leise hinter mir. Plötzlich klingelte das Telefon in die vornehme Stille hinein und ließ mich zusammenfahren. »Mr. Cleveland?« Die Stimme klang gehetzt, war praktisch kaum zu verstehen. »Gott sei Dank, da sind Sie ja endlich… Hier ist William Romney… Emmas Großvater… Sie wollte nicht, daß ich Sie so spät noch anrufe, aber ich muß… Als sie ihr Haus betrat, waren gerade zwei Männer dabei, es zu durchsuchen, und die haben sie geschlagen… Mr. Cleveland… sie braucht Ihre Hilfe…« »Einen Augenblick«, sagte ich. »Zunächst einmal brauchen Sie die Polizei.« Er beruhigte sich ein ganz klein wenig. »Die war da. Ist gerade wieder weg. Ich habe sie geholt.« »Und einen Arzt für Emma?« »Ja, ja, der ist auch schon wieder gegangen.« »Um welche Zeit ist das alles passiert?« »Heute abend gegen sieben… Wir sind von meinem Haus aus kurz hergefahren, um noch ein paar Sachen für sie zu holen… und da brannte ein Licht… und Emma ging als erste rein, und sie fielen über sie her… sie haben uns beide geschlagen… könnten Sie nicht… ja… also, um ehrlich zu sein… ich glaube, wir beide haben immer noch Angst.« Ich unterdrückte einen Seufzer. »Wo sind Sie jetzt?« »Noch bei Emma.« »Ja, aber…« »Oh, ich verstehe. Das ist in der Nähe von Newbury. Sie fahren auf der M4…« Er beschrieb mir den Weg, vollkommen überzeugt davon, daß ich sofort zu ihrer Hilfe herbeieilen würde. Er machte es mir gänzlich unmöglich, ihnen zur Einnahme einer Beruhigungstablette zu raten und zu sagen, ich würde morgen früh zu ihnen rauskommen. Und sowieso hätte ihn, nach seiner 96
Stimme zu urteilen, wohl nur eine Vollnarkose zur Ruhe gebracht. Bei Nacht ging die Fahrt wenigstens schnell und ungehindert vonstatten, und ich brauchte mit meinem MGB genau fünfzig Minuten bis dorthin. Bei dem Haus der Shermans handelte es sich, wie ich bei meiner Ankunft feststellen konnte, um ein modernisiertes Landarbeiterhaus, das an einem sonst unbewohnten Weg lag - im günstigsten Fall hätte man diese Isolation noch als Nervenkitzel beschreiben können. Alle Fenster waren hell erleuchtet, und beim Geräusch meines Wagens erschien die verängstigte Gestalt William Romneys in der Haustür. »Gott sei Dank, Gott sei Dank«, sagte er erregt und kam mir zur Begrüßung auf dem kurzen Weg zum Haus entgegen. »Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten… wenn Sie nicht gekommen wären…« Ich verkniff es mir, meine Gedanken offen auszusprechen, nämlich daß sie zu ihm hätten zurückfahren oder in ein Hotel gehen sollen. Nachdem ich dann das Haus betreten hatte, war ich froh, daß ich geschwiegen hatte, denn meine Äußerung wäre wohl nicht gerade sehr hilfreich gewesen. Der Schock hindert Menschen ja oft daran, den Ort der Katastrophe, die sie getroffen, hat, von sich aus zu verlassen, und an der Größe und Tiefe ihres Schocks konnte kein Zweifel bestehen. Das Haus bot ein Bild der Verwüstung. Bilder waren von den Wänden, Gardinen von den Fenstern, Teppiche vom Fußboden gerissen worden. Möbelstücke waren nicht nur entleert, sondern auch kaputtgeschlagen worden. Von Lampen, Vasen und Ziergegenständen waren nur noch Scherben übrig. Papiere und Bücher lagen in den Trümmern herum wie herbstliches Laub. »Es sieht hier überall so aus«, sagte William Romney. »Im ganzen Haus. Überall, bis auf das Gästezimmer. Dort waren sie gerade zu Gange, als wir sie gestört haben. Die Polizei sagt…« 97
Emma war im Gästezimmer, lag wach auf dem Bett, hatte Augen so dunkel wie Rußflecken. Ihre Wangen waren angeschwollen und aufgedunsen, und da, wo die Schläge sie getroffen hatten, waren rote Stellen zu sehen. Ihre Unterlippe war aufgesprungen, und eine Augenbraue endete in einer Hautabschürfung. »Hallo«, sagte ich unpassenderweise und zog einen Stuhl heran, um mich neben sie ans Bett zu setzen. Ihr Großvater stand unschlüssig herum und gab besorgte Laute von sich, weil er offensichtlich über die dunkler werdenden Flecken neu beunruhigt war, wodurch er Emma aber nur noch mehr ermüdete. Er sah noch viel verstörter aus, als ich ihn bat, allein mit Emma sprechen zu dürfen, kehrte aber schließlich zögernd in die Wüstenei des Erdgeschosses zurück. Ich nahm Emmas Hand in die meine. »David…« »Warten Sie noch ein bißchen«, sagte ich. »Und dann erzählen Sie.« Sie nickte kaum merklich. Sie lag auf den Decken des ungemachten Bettes, trug noch das braunweiß karierte Kleid und hatte zwei unbezogene Kissen unter dem Kopf und eine geblümte Steppdecke über den Beinen. Im Zimmer brannte ein voll aufgedrehter Gasofen, und es war sehr warm, doch Emmas Hand fühlte sich kalt an. »Ich hab alles der Polizei gesagt«, begann sie schließlich. »Ich glaube, es waren Norweger.« »Die beiden Männer?« Sie nickte. »Sie waren groß… sie hatten dicke Pullover an und Gummihandschuhe… sprachen mit Akzent…« »Fangen Sie doch von vorne an«, sagte ich. »Wir sind hergekommen, um ein paar Sachen zum Umziehen für mich zu holen. Ich fühlte mich langsam etwas besser… Im 98
Erdgeschoß brannte ein Licht, und ich dachte, Mrs. Street, die nach dem Haus sieht, hätte es brennen lassen… aber als ich die Haustür aufschloß und den Flur betrat, da fielen sie über mich her… Sie knipsten alle Lampen an… Ich sah das Chaos… Einer von ihnen schlug mir ins Gesicht, und ich schrie nach Großvater… als er hereinkam, stießen sie ihn nieder… so leicht, es war schrecklich… und sie traten ihn… Einer von den beiden fragte mich, wo Bob seine Papiere versteckt hielte… und als ich nicht sofort antwortete, schlug er einfach weiter… mir ins Gesicht… mit den Fäusten… ich antwortete ihm nicht, weil ich es nicht wußte… Bob versteckte nie etwas… versteckte… o Gott…« Ihre Finger schlossen sich um die meinen. »Schon gut, schon gut, Emma«, sagte ich und wollte ihr damit nur zu verstehen geben, daß ich sie verstand. »Machen Sie eine kleine Pause.« Wir warteten, bis ihre Anspannung etwas nachgelassen hatte dann schluckte sie und versuchte es von neuem. »Dann klingelte das Telefon, und das schien sie zu beunruhigen. Sie sprachen miteinander, stießen mich in einen Sessel… und gingen weg… durch die Haustür hinaus… Großvater stand vom Boden auf, aber das Klingeln hörte auf, bevor er an den Apparat kam… Dann hat er jedenfalls die Polizei angerufen…« Die müde Stimme verstummte. Ich fragte: »Hatten die beiden Männer Masken auf?« »Nein.« »Würden Sie sie wiedererkennen?« »Die Polizei hat das auch schon gefragt… sie wollen, daß ich mir ein paar Fotos anschaue… aber ich weiß nicht… ich wollte verhindern, daß sie mir weh taten… ich habe versucht, die Hände vors Gesicht zu halten… und die Augen zugemacht…« 99
»Wie steht’s mit Ihrem Großvater?« »Er meint, er würde sie wiedererkennen… aber es ging ja alles so schnell.« »Ich nehme an, die Männer haben nicht gesagt, nach welchen Papieren sie suchten?« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Auch das hat mich die Polizei schon gefragt. Immer wieder.« »Ist schon gut«, sagte ich. »Wie fühlt sich Ihr Gesicht jetzt an?« »Fürchterlich steif. Aber Dr. West hat mir ein paar Pillen gegeben. Er will morgen wieder nach mir sehen.« »Hier?« »Ja… ich wollte nicht zu Großvater zurück. Hier… mein Zuhause ist hier.« »Sollen wir mal ein ordentliches Bett bauen?« »Nein, danke. Es ist sehr angenehm so… bin zu müde, um mich noch bewegen zu können.« »Dann werde ich mal runtergehen und Ihrem Großvater helfen.« »Gut…« Plötzlich überfiel die Angst sie wieder. »Aber Sie fahren doch nicht wieder weg, nicht wahr?« Ich versprach ihr zu bleiben und legte mich später in Hemd und Hose auf dem freigeräumten Sofa im Wohnzimmer schlafen, einer Oase in dieser Trümmerwüste. William Romney, der mit allem fast überfordert war, hatte ein starkes Beruhigungsmittel genommen und schnarchte leise auf dem Doppelbett im Schlafzimmer der Shermans. Und so war es zwischen drei und fünf Uhr morgens still und dunkel im Haus. Dann wachte ich plötzlich von einem leisen Wimmern wieder auf, das wie das Klagen eines Tieres im Schneesturm klang. »David…« 100
Es war Emma, die mit drängender und zittriger Stimme von oben herabrief. Ich schob die Wolldecke beiseite, sprang auf und rannte schnell hinauf. Ich hatte die Tür offen und den Gasofen angelassen, und als ich ins Zimmer kam, konnte ich in ihren großen, dunklen Augen lesen, daß die letzte und schrecklichste Katastrophe über sie hereingebrochen war. »David…« Die Trostlosigkeit in ihrer Stimme war unermeßlich. »David… ich blute.« Sie verlor das Baby und beinahe auch das Leben. Drei Tage nachdem sie ein Krankenwagen mit Blaulicht abgeholt hatte, besuchte ich sie (erst nach drei Tagen, weil man nicht früher zu ihr durfte) und war überrascht, daß sie sogar noch blasser als in Oslo aussah, sofern dies überhaupt noch möglich war. Die Schwellungen in ihrem Gesicht waren abgeklungen, aber die blauen Flecken waren noch da. Ihr Blick war teilnahmslos, was mir ein Segen zu sein schien. Der Fünfminutenbesuch blieb oberflächlich. »Nett, daß Sie gekommen sind.« »Ich habe Ihnen ein paar Weintrauben mitgebracht.« »Wie lieb.« »Das mit dem Baby tut mir leid.« Sie nickte vage, aber irgendeine Droge linderte sicher auch diesen Schmerz. »Hoffentlich geht es Ihnen bald wieder besser.« »O ja. Ja, das wird es schon.« William Romney zitterte vor Wut, stapfte empört in meinem Büro auf und ab. »Ist Ihnen klar, daß es morgen schon eine Woche her ist, daß wir überfallen worden sind, und keiner irgendwas unternommen hat? Leute können sich doch nicht einfach in Luft auflösen… irgendwo müssen diese Männer ja stecken… warum kann die 101
Polizei sie nicht ausfindig machen? Es geht doch nicht an, daß solche Gangster einfach in das Haus einer schutzlosen jungen Frau eindringen, alles kurz und klein schlagen und sie so schwer verletzen, daß sie fast stirbt… Es ist eine Schande, daß die Polizei diese elenden Mistkerle noch nicht…« Für ihn ein starkes Wort - er schien selber fast überrascht zu sein, daß er es benutzt hatte, und nichts hätte die Heftigkeit seiner Empfindungen besser zum Ausdruck bringen können. »Wie ich höre, konnten weder Sie noch Emma die Männer nach den Polizeifotos identifizieren«, sagte ich - ich hatte das mit Hilfe eines freundlichen Kontakts zur Polizei überprüft. »Sie waren nicht dabei. Es gab keine Fotos von ihnen. Das überrascht mich auch nicht… warum beschafft denn die Polizei keine Bilder von norwegischen Gaunern, damit wir uns die mal anschauen können?« »Das würde wohl eher darauf hinauslaufen, daß Sie beide nach Norwegen reisen«, sagte ich. »Aber Emma ist dazu weder physisch noch psychisch in der Lage.« »Dann fahre eben ich«, sagte er streitlustig. »Ich fahre auf meine eigenen Kosten. Ich mache alles… alles, damit diese Männer ihre Strafe für das bekommen, was sie Emma angetan haben.« Sein schmales Gesicht war ganz rot, so ärgerlich war er. Ich fragte mich, ob nicht ein Teil seines Zorns einem unnötigen Schuldgefühl entsprang, weil er nicht jung und kräftig genug war, um Emma vor zwei aggressiven Schlägertypen zu schützen oder sie aus deren Fängen zu befreien. Er bot Wiedergutmachung in Form von Mühen und Kosten an, und ich sah keinen Grund, ihm eine Reise auszureden, die ihm, wenn schon keine konkret hilfreichen Resultate, so doch wenigstens inneren Frieden bringen würde. »Wenn Sie wollen, arrangiere ich das für Sie«, sagte ich. »Was…?« 102
»Die Reise nach Norwegen, damit Sie sich dort die Bilder im Verbrecheralbum ansehen können.« Sein Vorsatz nahm Gestalt an. Er straffte die krummen Schultern und hörte auf, den Teppich des Jockey Club zu verschleißen. »Ja, bitte tun Sie das. Ich fliege sobald wie möglich.« Ich nickte. »Setzen Sie sich doch«, sagte ich. »Rauchen Sie? Und wie geht es Emma?« Er setzte sich, lehnte die angebotene Zigarette dankend ab und sagte, Emma sei, als er sie am vergangenen Abend besucht habe, wieder sehr viel kräftiger gewesen. »Sie meint, sie würden sie in zwei oder drei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen.« »Gut.« Er sah nicht so aus, als ob er das auch gut fände. Er sagte mit neu aufsteigender Wut: »Was, um Himmels willen, soll das arme Mädchen jetzt machen? Der Mann ermordet… das Haus verwüstet… sie könnte bei mir wohnen, aber…« »Ich bin sicher, sie wird in ihren eigenen vier Wänden wohnen wollen«, sagte ich. »Zumindest eine Zeitlang. Ist auch besser für sie. Dort kann sie ihren Schmerz am besten verarbeiten.« »Klingt schon merkwürdig, was Sie da sagen.« »Wann können Sie fahren?« fragte ich und griff nach dem Telefonhörer. »Sofort.« »Gut.« Es meldete sich der Manager der Pferderennbahn von Øvrevoll, der mir die Privat- und die Büronummer Lars Baltzersens gab. Ich erreichte diesen in seinem Büro und erklärte ihm die Situation. Natürlich, sagte er bestürzt, natürlich könne er das mit der Polizei arrangieren. Für den morgigen Tag? Gewiß doch. Arme Mrs. Sherman, sagte er und bat, ihr sein 103
herzliches Beileid zu übermitteln. Ich antwortete, das wolle ich gern tun, und fragte, ob es schon irgendwelche Fortschritte gegeben habe. »Leider überhaupt keine«, sagte er. Er zögerte ein paar Sekunden und fuhr dann fort: »Ich habe noch mal darüber nachgedacht… ich meine… wenn die Polizei dieses Verbrechen nicht klären kann… würden Sie dann wohl noch einmal herkommen wollen und sehen, was Sie tun können?« Ich entgegnete: »Ich habe, was die Untersuchung von Mordfällen angeht, keinerlei Erfahrung.« »Im wesentlichen muß das doch dasselbe sein wie jede andere Form der Untersuchung.« »Hm… Meine Brötchengeber hier könnten etwas dagegen haben, daß ich mich damit befasse.« »Und wenn ich sie fragen würde, sie um einen Gefallen auf internationaler Ebene bäte? Schließlich war Bob Sherman ja auch ein britischer Jockey.« »Würde Norwegen es nicht vorziehen, ihn nach Hause zu schicken und den ganzen häßlichen Vorfall zu vergessen?« »Nein, Mr. Cleveland«, sagte er streng. »Es ist ein Mord begangen worden, und da sollte der Gerechtigkeit Genüge getan werden.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung.« »Dann… würden Sie also kommen?« Ich überlegte. »Warten Sie noch eine Woche. Wenn dann weder Ihre Polizei noch die unsere irgendwelche neuen Hinweise gefunden hat und Sie immer noch wollen, daß ich komme, nun gut, dann läßt es sich vielleicht einrichten. Aber… erwarten Sie nicht zuviel, ja?« »Nicht mehr als bisher«, erwiderte er trocken und legte auf. William Romney hatte sich inzwischen mit der Aussicht vertraut gemacht, bereits am folgenden Tag reisen zu sollen, und 104
fing an, wegen Ticket, Geld und Hotel einigen Wirbel zu veranstalten. Ich scheuchte ihn hinaus, denn das alles konnte er ebensogut auch selber erledigen. Ich hatte schließlich eine ganze Menge zu tun - und sogar noch mehr, wenn ich Zeit für eine weitere Reise nach Oslo rausschlagen mußte. Ich hoffte jedoch sehr, die Polizei würde den Fall schnell aufklären und es mir ersparen, aller Welt beweisen zu müssen, daß ich es nicht konnte. William Romney flog nach Norwegen und kehrte nach zwei vollen Tagen deprimiert nach Hause zurück. Die norwegische Polizei verfügte über keine Fotos von den Eindringlingen - und wenn doch, dann hatte Romney sie darauf nicht erkannt. Emma wurde aus dem Krankenhaus entlassen und machte sich daran, ihr Haus aufzuräumen. Ein Angebot meinerseits, ihr dabei behilflich zu sein, wurde abgelehnt, eine Einladung zum Mittagessen jedoch angenommen. »Sonntag?« schlug ich vor. »Schön.« Am Sonntag lagen die Teppiche wieder auf dem Fußboden, hingen die Bilder wieder an den Wänden, waren alle zerschlagenen Dinge beseitigt und die Fenstervorhänge für die Reinigung zusammengeschnürt. Das Haus sah nackt und unbewohnt aus, aber seine Herrin war endlich ins Leben zurückgekehrt. Zum ersten Mal, seit ich sie kennengelernt hatte, trug sie Lippenstift. Sie hatte sich die Haare gewaschen, ihre Kleidung war adrett, sie selbst gelassen. Die Ahnung einer hübschen jungen Frau war jetzt stärker spürbar, war unmittelbar unter der noch immer allzu blassen Haut, hinter den noch immer unglücklich blickenden Augen verborgen. »Am Donnerstag wird er beerdigt«, sagte sie. »Hier?« Sie nickte. »Auf dem Dorffriedhof. Vielen Dank, daß Sie sich um seine Heimkehr gekümmert haben.« 105
Ich hatte diese Aufgabe delegiert. »Ich habe das alles nur veranlaßt«, sagte ich. »Wie auch immer… herzlichen Dank.« Der Oktobertag war still, sonnig und mit einem Hauch von Kühle unterlegt. Wir gingen zu einem an der Themse gelegenen Pub, wo spitze gelbe Weidenblätter langsam auf dem grauen Wasser vorbeitrieben und Angler gewitzte Fische mit aufgespießten Würmern zu ködern versuchten. Wir wanderten am Ufer entlang - langsam, weil Emma vom Blutverlust noch immer geschwächt war. »Haben Sie schon Pläne?« erkundigte ich mich. »Ich weiß nicht… Ich habe während der Zeit im Krankenhaus natürlich viel darüber nachgedacht. Ich glaube, ich werde noch eine Weile in unserem Haus wohnen bleiben. Irgendwie scheint mir das das Richtige zu sein. Schließlich werde ich es wohl verkaufen, denke ich, aber jetzt noch nicht.« »Wie steht’s mit den Finanzen?« Sie brachte die Andeutung eines Lächelns zustande. »Alle sind so rührend. Wirklich wunderbar. Wußten Sie, daß die Besitzer, für die Bob in Norwegen geritten ist, zusammengelegt und mir einen Scheck geschickt haben? Wie nett die Menschen sind.« Die kaufen sich nur frei, dachte ich bitter, sprach es aber nicht aus. »Diese beiden Männer, die in Ihr Haus eingedrungen sind… macht es Ihnen etwas aus, wenn wir über sie sprechen?« Sie seufzte. »Nein.« »Beschreiben Sie sie.« »Aber…« »Ja, ich habe gelesen, was Sie der Polizei gesagt haben. Sie haben sich die beiden nicht angeschaut, die Augen zugemacht, nur die Pullover und Gummihandschuhe gesehen.« »Das stimmt.« 106
»Nein. Was Sie der Polizei erzählt haben, das war nur das, was Sie an Erinnerung ertragen konnten, und selbst das hätten Sie gern verdrängt, wenn die Polizei nicht auf einer Beantwortung der Frage bestanden hätte.« »Das ist doch Unsinn.« »Versuchen wir es mal anders. Welcher von den beiden hat Sie geschlagen?« Sie antwortete sofort: »Der größere mit dem…« Sie hielt unsicher inne. »Mit dem was?« »Ich wollte sagen: mit dem rötlichen Haar. Wie seltsam. Bis eben konnte ich mich nicht daran erinnern, daß einer rötliches Haar hatte.« »Und der andere?« »Braun. Braunes Haar. Er hat Großvater getreten.« »Der, der Sie geschlagen hat… was hat der gesagt?« »›Wo hebt Ihr Mann geheime Papiere auf? Wo versteckt er Sachen? Sagen Sie uns, wo er solche Sachen versteckt.‹« »In gutem Englisch?« »J… a. Ziemlich gut. Er hatte aber einen Akzent.« »Wie sahen seine Augen aus, als er Sie schlug?« »Wild… schrecklich… wie die eines Adlers… irgendwie schwarz und gelb… sehr böse.« Es trat eine kleine Pause ein. Dann sagte sie: »Ja, ich erinnere mich. Es ist, wie Sie sagen. Ich hab’s verdrängt.« Nach ein paar Sekunden: »Er war noch ziemlich jung, ungefähr Ihr Alter. Sein Mund war schmal… seine Lippen waren fest… sein Gesicht sah hart aus… sehr zornig.« »Wie groß?« »Wie Sie, ungefähr. Aber breiter. Sehr viel schwerer. Breite, dick verpackte Schultern.« 107
»Breite Schultern in einem dicken Pullover. Was für eine Art von dickem Pullover? Hatte er ein Muster?« »Aber ja, deshalb…« Sie verstummte wieder. »Deshalb was?« »Deshalb dachte ich doch sofort, daß er Norweger sein müßte… noch bevor er irgend etwas gesagt hatte. Wegen des Musters auf seinem Pullover. Das war etwas Weißes… obwohl… da waren zwei Farben, glaube ich… der Pullover selbst war braun. In Oslo habe ich in den Läden viele solche Pullover gesehen.« Ihr Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. »Warum habe ich bloß nicht eher daran gedacht?« »Die Erinnerung funktioniert oft so. Mit Verzögerung.« Sie lächelte. »Ich muß gestehen, daß es hier in der Stille am Fluß sehr viel leichter ist, sich zu erinnern, als in dem ganzen Chaos des Hauses und mit schmerzendem Gesicht und Polizisten, die alle auf einmal fragen und herumwuseln…« Wir gingen in den Pub, tranken etwas, aßen gut, und beim Kaffee stellte ich ihr weitere Fragen. »Sie sagten, Bob hätte nie irgendwelche Papiere versteckt. Sind Sie sicher?« »O ja. Er war kein Geheimniskrämer. Nie. Eigentlich war er eher sorglos, wenn es um Papiere, Dokumente und so etwas ging.« »Es ist doch höchst sonderbar, daß zwei Leute extra aus Norwegen angereist kommen, um Ihr Haus nach Papieren zu durchsuchen.« Sie runzelte die Stirn. »Ja, das ist es.« »Und daß sie es so gewaltsam, zerstörerisch und gründlich durchsuchen.« »Und dabei auch noch derart wütend waren.« »Wahrscheinlich wütend, weil sie das, wonach sie suchten, trotz aller Mühen nicht finden konnten.« 108
»Aber was haben sie denn nun gesucht?« »Nun…«, sagte ich langsam. »Irgend etwas, was mit Norwegen zusammenhängt. Was für Papiere besaß Bob denn, die etwas mit Norwegen zu tun hatten?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht viele. Ein paar Quittungen für die Abrechnung. Rennprogramme, manchmal. Ein Ausschnitt aus einer norwegischen Zeitung mit einem Bild von ihm, wie er ein Rennen gewinnt. Wirklich nichts, woran einem anderen gelegen sein könnte.« Ich trank meinen Kaffee und überlegte. Dann sagte ich: »Sehen Sie die Sache mal anders herum… Hat er jemals irgendwelche Papiere nach Norwegen mitgenommen?« »Nein. Wozu?« »Ich weiß es nicht. Ich frage mich das bloß. Denn diese beiden Männer könnten ja auch nach etwas gesucht haben, was von ihm nicht nach Norwegen gebracht worden war, das heißt, sie suchten nicht nach etwas, was er von dort mitgebracht hatte.« »Sie kommen schon auf seltsame Gedanken.« »Hm…« Ich bezahlte die Rechnung und fuhr sie nach Hause. Sie schwieg die meiste Zeit, war in Gedanken versunken - und diese Nachdenklichkeit erbrachte unverhofften Gewinn. »Sagen Sie… na ja, es ist vielleicht dumm… aber könnte es irgend etwas mit Pornobildern zu tun haben?« »Was für Pornobilder?« »Ich weiß nicht. Ich habe sie nie gesehen. Bob hat nur mal davon gesprochen.« Ich hielt vor ihrer Gartenpforte an, blieb jedoch im Wagen sitzen. »Hatte er die aus Norwegen?« Sie war überrascht. »Nein. Es war so, wie Sie gesagt haben. Er hat sie mit rübergenommen. In einem braunen Umschlag. Der wurde ihm am Abend vor seiner Abreise gebracht. Er sagte, das seien Pornobilder und ein Mann in Oslo wolle, daß er sie ihm 109
mitbringe.« »Hat er gesagt, was für ein Mann?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe ihm allerdings auch kaum zugehört. Ich hatte das alles vergessen, bis Sie sagten…« »Haben Sie den Umschlag gesehen? Wie groß war er?« »Ich muß ihn gesehen haben. Ich meine, ich weiß doch, daß er braun war.« Sie zog die Stirn in Falten, konzentrierte sich. »Ziemlich groß. Kein gewöhnlicher Briefumschlag. Etwa die Größe einer Zeitschrift.« »Stand ›Fotografien‹ oder etwas in der Art darauf?« »Ich glaube nicht. Daran kann ich mich nicht erinnern. Es ist ja auch schon mehr als sechs Wochen her.« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Er hat ihn sofort in seine Reisetasche getan, um ihn nicht zu vergessen.« Sie schniefte zweimal und fand ein Taschentuch. »Er hat ihn also nach Norwegen mitgenommen. Er war jedenfalls nicht mehr im Haus, und deshalb konnten ihn diese Männer dort auch nicht finden. Wenn es das war, wonach sie gesucht haben… dann war alles, was sie hier angerichtet haben, umsonst.« Sie preßte das Taschentuch gegen den Mund und unterdrückte ein Schluchzen. »War Bob an Pornobildern interessiert?« fragte ich. »Wie jeder andere Mann auch, nehme ich an«, sagte sie durch das Taschentuch. »Er sah sie sich halt an.« »Aber er selbst sammelte keine?« Sie schüttelte den Kopf. Ich stieg aus, öffnete ihr den Wagenschlag und ging mit ihr ins Haus. Sie sah auf die Rennfotos von Bob, die im Flur hingen. »Sie haben diese Fotos alle aus den Rahmen gerissen«, sagte sie. »Ein paar waren hin.« Viele der Abzüge waren fünfundzwanzig mal zwanzig Zentimeter groß. Sie hätten gut in einen Umschlag von der 110
Größe einer Zeitschrift hineingepaßt. Ich blieb eine Stunde, einfach, um ihr noch etwas Gesellschaft zu leisten, aber dann versicherte sie mir, daß sie, was den vor ihr liegenden Abend angehe, schon zurechtkommen werde. Sie sah sich in dem kahlen Wohnzimmer um und lächelte in sich hinein. Offensichtlich fand sie den Raum ganz hübsch, und vielleicht war ja auch Bob da. Als ich ging, gab sie mir einen herzlichen Kuß auf die Wange und sagte: »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll…«, brach dann ab und riß die Augen weit auf. »O je«, sagte sie. »Das war ja schon die zweite Lieferung.« »Wovon?« »Von Pornobildern. Er hatte auch davor schon einmal welche mitgenommen. Das ist… viele Monate her. Im Sommer.« Sie schüttelte wieder frustriert den Kopf. »Ich kann mich nicht genau erinnern. Ich entsinne mich nur, daß er… von Pornobildern gesprochen hatte.« Ich erwiderte ihren Kuß. »Geben Sie auf sich acht«, sagte ich. »Und Sie auch.«
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8 Am nächsten Tag mußte ich wegen einer Dopinggeschichte zu den Rennen nach Plumpton in Sussex, sah aber nichts Unrechtes darin, dies mit ein paar Vorarbeiten in Sachen Sherman zu verbinden. Rinty Ranger ritt beim zweiten und beim fünften Rennen, und ich konnte ihn während des dritten und vierten Rennens relativ leicht festnageln. »Was sagen Sie da?« wiederholte er mit übertriebener Verwunderung. »Pornographie nach Skandinavien schaffen? Du lieber Himmel, das ist ja, als wollte man sein Mitleid an Buchmacher verschwenden. Die brauchen das nicht, mein Lieber. Die haben daran nicht den geringsten Bedarf.« »Bob Sherman hat zu seiner Frau gesagt, er müsse Pornobilder nach Norwegen mitnehmen.« »Und die hat das geglaubt?« »Die Frage ist eher, ob er es geglaubt hat.« »Er hat mir nie etwas davon erzählt.« »Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte ich. »Versuchen Sie doch mal heute hier um Umkleideraum herauszufinden, ob irgendwann mal jemand einen der Jockeys gebeten hat, als Bote… als Kurier… zu fungieren und irgendwelche Papiere oder so etwas von Großbritannien nach Norwegen zu bringen.« »Ist das Ihr Ernst?« »Bob Sherman ist tot.« »Ja.« Er überlegte kurz. »Okay.« Er winkte mir unverbindlich zu, als er zum fünften Rennen aufbrach, bei dem er glänzend und taktisch klug ritt, um schließlich von einem besseren Pferd um eine halbe Länge geschlagen zu werden. Nach dem Umkleiden kam er aber direkt 112
aus dem Wiegeraum zu mir, um meiner schönen Theorie den Garaus zu machen. »Keiner von denen, die in Norwegen geritten sind, ist je gebeten worden, irgendwelche Papiere oder Bilder oder dergleichen mit rüberzunehmen.« »Würden sie es sagen, wenn doch?« Er grinste. »Kommt drauf an, wieviel man ihnen fürs Vergessen gezahlt hat.« »Ihre persönliche Meinung?« »Schwer zu sagen. Aber sie schienen alle überrascht zu sein. Keine wissenden Blicke oder so etwas, falls Sie wissen, was ich meine.« »Fragen Sie weiter, ja? Morgen und während der kommenden Rennen. Sagen Sie allen, sie könnten es mir auch vertraulich mitteilen, wenn sie möchten. Und falls sie irgendwas mit der Währung gedreht haben, soll’s keine unangenehmen Folgen für sie haben.« Er grinste wieder. »Sie sind mir vielleicht ein Bulle! Verdrehen das Recht wie mit ’ner Lockenschere.« Am Abend rief ich Baltzersen bei sich zu Hause an. Es gebe keine Neuigkeiten, sagte er. Er habe seine Freunde bei der Polizei konsultiert, und die hätten nichts dagegen einzuwenden, wenn ich mich der Jagd anschließen wollte. Ganz im Gegenteil, sie würden mir gern Einblick gewähren in das, was an Material vorläge, um mir die Mühe zu ersparen, noch einmal bei Null anfangen zu müssen. »Sie werden also kommen, Mr. Cleveland?« »Ich denke, ja«, antwortete ich. Mit schmeichelhafter Erleichterung stieß er ein »Gut, gut!« aus und fügte hinzu: »Kommen Sie morgen.« »Tut mir leid, aber das geht nicht. Ich muß als Zeuge vor Gericht aussagen, und es könnte sein, daß die Verhandlung zwei 113
Tage dauert. Ich könnte frühestens am Donnerstagmorgen kommen.« »Kommen Sie dann doch direkt zur Rennbahn. Am Donnerstag und am Sonntag finden noch Meetings statt, aber ich fürchte, es werden in diesem Jahr die letzten sein. Es ist inzwischen ein bißchen kälter geworden, und wir hatten schon Frost.« Ich schrieb in Großbuchstaben ›warme Kleidung‹ auf meinen Notizblock und sagte, wir würden uns dann also beim Rennen sehen. »Übrigens«, fügte ich hinzu, »erinnern Sie sich noch daran, daß ich Ihnen gesagt habe, die Leute, die in das Haus der Shermans eingebrochen sind, hätten dort nach Papieren gesucht? Mrs. Sherman ist inzwischen eingefallen, daß Bob ein ihm anvertrautes Päckchen nach Norwegen mitgenommen hat, in dem sich seiner Meinung nach Pornobilder befanden. Hat bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit seinem Verschwinden irgend jemand Ihnen, der Polizei oder Arne gegenüber etwas davon gesagt, daß Bob Sherman ein solches Päckchen mitgebracht oder abgeliefert hätte?« Am anderen Ende der Leitung kam es zu einem unerwartet langen Schweigen, aber schließlich fragte Baltzersen nur unsicher zurück: »Pornobilder?« »Ja, Pornographie.« »Verstehe.« Wieder Schweigen. Dann: »Bitte etwas genauer.« Ich sagte: »Wenn die Sendung ihr Ziel erreicht hat, dann kann es sich nicht um das Päckchen handeln, das die Männer gesucht haben. Ich könnte folglich aufhören, unschuldigen Pornobildern nachzujagen, und woanders suchen.« »Ja, ich verstehe.« Er räusperte sich. »Ich habe von solch einem Päckchen nichts gehört, aber vielleicht Arne. Oder die Polizei. Ich werde sie fragen. Sie wissen natürlich, daß kaum jemand Pornos heimlich in dieses Land einschleusen muß?« 114
»Es sei denn, es handelte sich um etwas Besonderes«, entgegnete ich und ließ es dabei bewenden. Den ganzen Dienstag und den Mittwochvormittag verbrachte ich im Gericht und sagte als Zeuge der Anklage in einem Fall aus, bei dem es um einen Versicherungsbetrug ging, der die schwere Mißhandlung von Pferden einschloß. Am Mittwochnachmittag saß ich im Büro und jonglierte wie ein vielarmiger Shiva mit sechs verschiedenen Vorgängen gleichzeitig herum. Die Suche nach Bobs Mörder brachte es mit sich, daß ich zu einer Zeit eine Woche Urlaub nehmen mußte, wo ich eigentlich viel zuviel zu tun hatte, um fortzukommen, und als ich um sieben Uhr mein Büro abschloß und ging, wünschte ich, Bob hätte sich zu einem geeigneteren Zeitpunkt umbringen lassen. Ich nahm die U-Bahn, ging dann den Rest zu Fuß nach Hause und gab mich dabei beruhigenden Gedanken hin, die um einen großen Scotch daheim kreisten, auf den dann der Bummel zu einem nahegelegenen Grill-Restaurant und der genüßliche Verzehr eines Steaks folgen sollten. Ich schloß die Haustür, ohne daß es knallte, ging leise die teppichbelegte Treppe hinauf, schloß die Wohnungstür auf und machte das Licht an - und das war der Augenblick, in dem der Tag aufhörte, planmäßig zu verlaufen. Ich hörte, spürte, nahm vielleicht auch nur instinktiv wahr, daß sich die Luft hinter mir veränderte. Es war nichts so Definitives wie ein Geräusch. Mehr eine Störung. In jedem Falle aber eine Bedrohung. Alle diese nützlichen, tief in mir schlummernden Urwaldreaktionen kamen mir zu Hilfe, noch bevor in meinem Kopf ein gedanklicher, auf vernünftigen Erwägungen basierender Prozeß hatte in Gang kommen können. Ich fuhr also zur Treppe herum und zog mich gleichzeitig weiter in meine Wohnung zurück, als der Mann mit dem Messer sein Bestes gab, um mich vor der Zeit auf den Friedhof zu befördern. 115
Er hatte kein rötliches Haar und keine zornigen gelben Adleraugen, trug auch keinen norwegischen Pullover. Aber er trug Gummihandschuhe und hatte einen untersetzten, muskulösen Körper, besaß große Entschlossenheit und eine sehr scharfe Messerklinge. Der Dolchstoß, der mein Herz von hinten hatte treffen und zum Stillstand bringen sollen, fuhr statt dessen durch ganz anständigen irischen Tweed, durch ein blaues Baumwollhemd darunter und dann durch etliche Zentimeter Haut auf meiner Brust abwärts. Der Angreifer war angesichts der Tatsache, daß seine Aktion nicht gleich beim ersten Mal von Erfolg gekrönt war, überrascht und verdrossen, hatte aber auch gehört, daß man nicht gleich aufgeben soll. Er drängte mir durch die Wohnungstür nach, das Messer bereits zu einem erneuten Stoß erhoben. Ich zog mich eiligst durch den winzigen Flur ins Wohnzimmer zurück, war aber nicht in der Lage, ihn und sein Vorhaben lange genug aus den Augen zu lassen, um irgendeinen Haushaltsgegenstand zu finden, mit dem ich ihn hätte abwehren können. Er führte eine Finte aus und stieß dann in Richtung meiner Körpermitte nach, wobei mein Jackett zu einem weiteren Schnitt kam und ich aus nächster Nähe einen Blick in zusammengekniffene, mörderische Augen erhaschte. Als nächstes versuchte er es mit einer Art Ausfallschritt - die Messerspitze sauste auf mich zu, als wollte sie mich von unten nach oben aufschlitzen. Ich machte einen Satz rückwärts, stolperte aber über einen Läufer und fiel auf den Rücken, wobei meine Hand gegen den Fuß der Stehlampe schlug. Ich packte wild entschlossen zu, zog die Lampe zu mir heran und wehrte den Angreifer, der schon glaubte, mich endlich erwischt zu haben, gerade noch ab. Es krachte laut, als ihn die Lampe traf, und er geriet kurz aus dem Gleichgewicht, was es mir ermöglichte, mit beiden Händen seinen rechten Arm zu packen. Doch da entdeckte ich leider seine steinharten Muskeln. Und 116
auch, daß er mehr oder weniger beidhändig war. Blitzschnell ergriff er das Messer mit der Linken, und ich konnte dem nun folgenden Stoß nur ausweichen, indem ich mich über einen Sessel schwang, wobei ich mich von seinem Arm abstieß. Die Klinge fuhr in ein Kissen, und Federn stoben auf wie Schneeflocken. Ich warf eine Zigarettendose nach ihm, die aber nicht traf, dann eine Vase, die zwar traf, aber keinerlei Wirkung erzielte. Solange der Sessel zwischen uns blieb, konnte er nicht an mich heran, aber er gab mir auch nicht die Gelegenheit, an ihm vorbei zu der noch offenstehenden Wohnungstür und ins Treppenhaus zu gelangen. Auf dem breiten Regalbrett hinter mir stand mein tragbares Fernsehgerät. Wenn ich das nach ihm schmiß, würde ihn das wahrscheinlich stoppen, aber andererseits… Ich griff, ohne den Blick von seinem Messer abzuwenden, hinter mich, fand den Schalter, stellte das Gerät an und drehte den Ton auf höchste Lautstärke. Der einsetzende Krach überraschte ihn vollkommen, was mir zu einer winzig kleinen Chance verhalf. Ich stieß den Sessel kraftvoll von mir fort und gegen seine Knie, er verlor erneut das Gleichgewicht und wand sich in dem Bemühen, auf den Beinen zu bleiben, hin und her. Trotzdem ging er zu Boden, zumindest mit einem seiner Knie, fing sich zum Teil wieder und stürzte dann doch, als ich mit dem Sessel nachstieß. Das war allerdings nicht von Dauer. Wie eine Katze rollte er sich herum und kam wieder hoch, ehe ich die Zeit gefunden hatte, den großen Sessel zu umrunden und ihm in ein paar seiner weicheren Körperteile zu treten. Bis zu diesem Augenblick hatte er noch kein einziges Wort gesprochen, aber wenn er es jetzt getan hätte, hätte ich es nicht hören können - das Fernsehgerät vibrierte förmlich von dem Lärm, den ein Pop-Star oder sonst irgendeine Band produzierte. 117
Und wenn das nicht die US-Kavallerie alarmierte, dann gar nichts. Er kam. Sah verärgert aus. Bereit, wie ein Geysir hochzugehen. Und stand bestürzt da, in meiner Wohnungstür. »Holen Sie die Polizei!« schrie ich, aber er hörte nichts. Ich schlug auf den Aus-Schalter des Fernsehers. »Holen Sie die Polizei!« schrie ich noch einmal, und in der plötzlichen Stille prallte mein Schrei von den Wänden ab. Der Mann mit dem Messer sah sich um, erteilte sich selbst neue Anweisungen und ging auf meinen Freund aus dem Erdgeschoß los. Ich unternahm eine Art Rugbyangriff und warf mich, Füße voraus, gegen seine Beine. Er stolperte über meine Schuhe und Knöchel und fiel dann seitwärts zu Boden. Ich schwang ein Bein zu ihm rüber, und das schiere Glück wollte es, daß ich sein Handgelenk traf. Das Messer flog ihm aus der Hand und mindestens drei Meter weit ins Zimmer, landete näher bei mir als bei ihm auf dem Fußboden - und da dachte er wohl zum ersten Mal daran aufzugeben. Er rappelte sich hoch, sah mich mit ersten Anzeichen der Verunsicherung an, faßte dann einen Entschluß, machte kehrt, drängte sich an meinem Hausgenossen vorbei und sprang mit zwei Riesensätzen die Treppe hinunter. Die Haustür fiel hinter ihm mit einer Wucht zu, daß das gesamte Gebäude erbebte, und ich sah vom Fenster aus, wie er in olympischer Manier unter den Straßenlaternen davonsprintete. Nun betrachtete ich atemlos das Chaos in meinem Wohnzimmer und meinen Mitbewohner aus dem Erdgeschoß. »Danke«, sagte ich. Er tat einen zögernden Schritt ins Wohnzimmer hinein. »Sie bluten«, sagte er. »Aber ich sterbe nicht.« Ich hob die Stehlampe auf. 118
»War das ein Einbrecher?« erkundigte er sich. »Ein Mörder«, erwiderte ich. »Ein Mörder betritt die Bühne.« Wir sahen uns mit offenkundig auf beiden Seiten gegebener professioneller Neugier an, denn als nächstes sagte er: »Setzen Sie sich hin, Sie haben einen Schock erlitten.« Das war ein Ratschlag, den ich selbst schon oft anderen gegeben hatte, und ich lächelte. Dessen ungeachtet spürte ich irgendwo in der Gegend meiner Knie ein Zittern, weshalb ich seiner Aufforderung Folge leistete. Er sah sich im Zimmer um, betrachtete das Messer, das immer noch da lag, wo es zu Boden gefallen war, und nahm alles sehr ruhig auf. »Soll ich Ihre Anweisung noch ausführen, oder war sie im Prinzip eher als Ablenkung gedacht?« »Wie bitte?« »›Holen Sie die Polizei!‹« »Ach so… Das hat noch Zeit.« Er nickte, überlegte kurz und sagte dann: »Wenn Sie mir die Frage gestatten: Warum hat er versucht, Sie umzubringen?« »Das hat er mir nicht gesagt.« Mein Hausgenosse hieß Stirling. C. V. Stirling, wie auf dem säuberlichen weißen Kärtchen neben seiner Klingel zu lesen stand. Er hatte graue Haare, die über den Ohren hübsch ordentlich nach hinten gekämmt waren, und schmale Nasenflügel, die der Abneigung gegen schlechte Gerüche Ausdruck verliehen. Seine Hände sahen übermäßig sauber und gutgepflegt aus, und selbst unter diesen absurden Umständen zeigte seine Miene noch eine Andeutung ärgerlicher Geduld. Ein Mann, schloß ich, der daran gewöhnt war, der hellste Kopf weit und breit zu sein, und der über die Mittel verfügte, die anderen dies spüren zu lassen. »Wäre das nötig gewesen?« 119
»Es wäre hilfreich gewesen«, antwortete ich. Er kam einen Schritt näher. »Ich könnte etwas gegen diese Blutung unternehmen, wenn Sie wollen.« Ich sah auf mein Hemd hinunter, dessen Farbe sich ziemlich gründlich von Blau zu Rot verändert hatte. »Wirklich?« »Ich bin Arzt«, sagte er. »Eigentlich nur für Hals, Nasen, Ohren. Andere Bereiche nur nach Vereinbarung.« Ich lachte. »Dann nähen Sie mal los.« Er nickte, ging nach unten und kam mit einem praktischen flachen Köfferchen wieder, in dem sich das erforderliche Handwerkszeug seines Berufsstandes befand. Statt einer Nadel benutzte er Klammern. Der Schnitt auf meiner Brust sah schlimmer aus, als er war, blutete aber pausenlos vor sich hin wie diese Wunden, die man sich beim Rasieren zufügt. Als mein Retter fertig war, war von dem Schnitt nur noch eine dünne rote Linie unter einem Heftpflaster übrig. »Sie haben Glück gehabt«, sagte er. »Ja, das habe ich.« »Machen Sie so etwas öfter? Ich meine, um Ihr Leben kämpfen?« »Sehr selten.« »Die Gebühr für meine ärztlichen Bemühungen ist ein weiteres Plauderstündchen.« Ich lächelte gequält. »Okay. Ich bin Ermittler. Ich weiß nicht, warum ich attackiert worden bin, es sei denn, da gäbe es jemanden, der ganz und gar keinen Wert darauf legt, daß gegen ihn ermittelt wird.« »Großer Gott.« Er starrte mich neugierig an. »Ein Privatdetektiv? So ein Philip Marlowe?« »Nicht so was Tolles. Ich bin im Rennsport tätig, genauer für 120
den Jockey Club. Gehe meistens kleinen Betrügereien nach.« »Dies«, sagte er und deutete mit vager Geste auf meine Brust, das Messer und die verstreuten Kissenfedern, »sieht gar nicht nach einer kleinen Betrügerei aus.« Das tat es wirklich nicht. Und es sah auch nicht nach einer nachdrücklichen Warnung aus. Eher wie das rücksichtslose Drängen auf eine endgültige Lösung. Ich zog mich um und nahm ihn zu dem überfälligen Steak in das Grill-Restaurant mit. Er heiße Charles, sagte er, und wir gingen als Freunde wieder nach Hause. Als ich meine Wohnung betrat und mir die allgemeine Unordnung besah, fiel mir ein, daß ich die Polizei überhaupt nicht verständigt hatte. Aber dazu war es nun wohl auch ein bißchen spät, und deshalb ließ ich es. Am nächsten Vormittag flog ich um elf Uhr fünfundzwanzig nach Norwegen, das in Frischhaltefolie eingewickelte Messer in meinem Toilettenbeutel - oder genauer: in der schwarzen Ledertasche mit Reißverschluß, die mir als solcher diente. Es handelte sich um ein Jagdmesser, das heißt um eines dieser Messer mit beidseitig geschliffener Klinge, wie man sie zum Abbalgen und Zerlegen von Wild benutzt. Die Schneiden waren scharf wie Rasiermesser, und die Spitze hätte gut als Nadel getaugt. Eine professionelle Sache - kein Amateur hätte dieses Ergebnis nur mit einem Schleifstein erzielen können. Der Griff war aus irgendeinem Horn und ebenfalls fachmännisch hergestellt, kein Schund für Touristen. Zwischen Griff und Klinge ragte beidseitig ein kurzes, silbernes Metallstück heraus, was eine bessere Handhabung gewährleistete. Auf dem Messer waren keinerlei Fingerabdrücke und auch kein Blut. Nahe dem Griff waren die Worte Norsk Stål in die Klinge eingestanzt. Der Eigentümer des Messers hatte es natürlich nicht zurücklassen wollen, wohl aber eine Leiche, fein säuberlich hinter der Wohnungstür liegend, für niemanden sichtbar und 121
mindestens vierundzwanzig Stunden unentdeckt. Er war mir nicht ins Haus gefolgt, sondern schon drin gewesen, bevor ich kam, und hatte wohl irgendwo weiter oben auf meine Heimkehr gewartet. Zur Frühstückszeit hatte ich an die Türen der anderen drei Mietparteien geklopft, also im Erdgeschoß sowie in der zweiten und dritten Etage, und gefragt, ob sie meinen Besucher auf der Treppe gesehen oder ihn zur Haustür hereingelassen hätten. Ich hatte nur negative Antworten bekommen, aber wie einer der Befragten gemeint hatte, standen wir alle nicht gerade auf sehr vertrautem Fuß miteinander, und wenn der Besucher kühn das Haus betreten hätte, als einer der Mieter es gerade verließ, wäre er wohl kaum aufgehalten worden. Niemand hatte sich an ihn erinnern können, aber der Mann im Kellergeschoß hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß an dem Tag der Wagen der Wäscherei dagewesen war, so daß ein Fremder leicht zusammen mit dem Mann hätte ins Haus gelangen können, der die Kästen mit der Wäsche in den Hausflur gebracht beziehungsweise abgeholt hatte. Die Erscheinung meines Besuchers war weder verdächtig noch sonst irgendwie bemerkenswert gewesen, sein Gesicht ein Allerweltsgesicht - braunes Haar, bläßliche Haut, dunkle Augen. Alter ungefähr dreißig Jahre. Kleidung: dunkelgraue Hosen, enganliegender Marinepullover, sauberes Hemd und Schlips, oben im Halsausschnitt sichtbar. Genau der richtige Aufzug für unsere Gegend. Sogar ein bißchen zu formell. Die Maschine der BEA landete pünktlich in Fornebu, und ich fuhr mit dem Taxi direkt zur Rennbahn von Øvrevoll. Nichts hatte sich in den zweieinhalb Wochen meiner Abwesenheit verändert, nicht einmal das Wetter oder die bei den Rennen laufenden Pferde, und ich brauchte nur eine halbe Stunde, um alle mir bekannten Gesichter zu entdecken, so etwa das von Gunnar Holth, Paddy O’Flaherty, Per Bjørn Sandvik, Rolf Torp und Lars Baltzersen. Arne begrüßte mich mit einem strahlenden 122
Lächeln und der Aufforderung, soviel Zeit wie nur möglich mit Kari und ihm zu verbringen. Ich ging den größten Teil des Nachmittags mit ihm herum, teils, weil ich es wollte, teils aber auch, weil Baltzersen damit beschäftigt war, Rennbahn-Vorsitzender zu sein. Arne sagte, er persönlich sei zwar froh, mich wiederzusehen, viele Mitglieder des Rennbahn-Ausschusses seien jedoch gegen meine von Baltzersen empfohlene neuerlichen Einschaltung gewesen. »Lars hat uns bei der Ausschußsitzung am Dienstag mitgeteilt, daß du heute hier ankommen würdest, und da hat es einen ganz schönen Krach gegeben. Das hättest du mal hören sollen. Lars sagte, die Rennbahn würde wieder für deine Reisekosten und die Unkosten hier aufkommen, und da war die Hälfte von ihnen der Ansicht, daß eine so große Ausgabe nicht gerechtfertigt sei.« Er brach ziemlich unvermittelt ab, so als hätte er beschlossen, mir nicht zu wiederholen, was tatsächlich gesagt worden war. »Man hätte mich sehr leicht überreden können, zu Hause zu bleiben«, sagte ich. Aber mit Worten, dachte ich, nicht mit Messern. »Einige Mitglieder des Ausschusses waren der Ansicht, Lars hätte nicht das Recht gehabt, ohne eine vorherige Abstimmung zu handeln.« »Und Lars?« Arne zuckte die Achseln. »Er möchte eine Erklärung für Bob Shermans Tod haben. Die meisten anderen wollen die Sache vergessen.« »Und du?« fragte ich. Er blinzelte. »Tja«, sagte er dann, »ich würde wohl schneller aufgeben als Lars oder du. Deshalb« - er grinste - »ist Lars ja auch Vorsitzender, und du bist Chefermittler, während ich nur ein Sicherheitsbeauftragter der Rennbahn bin, der sich die Einnahmen des Platzes vor der Nase wegstehlen läßt.« 123
Ich lächelte. »Niemand gibt dir die Schuld.« »Vielleicht sollten sie aber.« Ich dachte in der mir eigenen intoleranten Art, daß sie das ganz bestimmt sollten, schüttelte jedoch den Kopf und wechselte das Thema. »Hat dir Lars von dem Angriff auf Emma Sherman berichtet und dir erzählt, daß sie ihr Baby verloren hat?« »Ja«, antwortete er. »Arme Frau.« Seine Aussage schien mir eher ein Lippenbekenntnis als echte Anteilnahme zu sein. Wahrscheinlich konnte keiner, der sie nicht so gesehen hatte wie ich, wirklich nachvollziehen, was sie durchgemacht hatte - und ich wußte, daß ich größtenteils wegen Emma wieder in Norwegen war. Es durfte nicht sein, daß jemand einem anderen Menschen so weh tat und dann ungeschoren davonkam. Die Tatsache, daß dieselbe Organisation erst Bob ermordet und dann versucht hatte, mich vom Leben zum Tod zu befördern, war dabei seltsamerweise zweitrangig - in erster Linie galt es, mögliche zukünftige Opfer zu retten. Wenn man das Unkraut nicht jätet, kann der Garten daran ersticken. Rolf Torp lief schlechtgelaunt umher. Sein Pferd, sagte er, habe sich am Morgen verletzt, und sein Trainer habe es versäumt, ihm rechtzeitig mitzuteilen, daß es nicht würde laufen können. Er habe sich den Nachmittag freigenommen, was er bestimmt nicht getan hätte, wenn ihm das bekannt gewesen wäre, denn eigentlich sei er unentbehrlich, und in seiner Abwesenheit komme nie etwas Ordentliches zustande. Nachdem er sich dieses kleine Unglück von der Seele geredet hatte, nahm er mich ins Visier. »Ich war dagegen, Sie erneut einzuschalten. Das sollen Sie wissen. Ich hab’s auch dem Ausschuß gesagt. Es ist reine Geldverschwendung.« Sein Name stand auf der Liste der Spender, die mir Emma gegeben hatte, nachdem ihr die norwegischen Pferdebesitzer 124
einen Scheck über eine durchaus handfeste Summe geschickt hatten. Wenn er der Auffassung war, daß verfügbares Geld nur für die Lebenden ausgegeben werden sollte, dann war das vielleicht ein annehmbarer Standpunkt, aber schließlich bestritt er meine Unkosten nicht aus eigener Tasche.
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9 Rolf Torp war kleiner, dafür aber aggressiver als der Durchschnitt - ein ziemlich stämmiger Brocken mit einem großen, schwarzen Schnurrbart, der eher eine Aussage als eine Zierde war. Schwer, es ihm recht zu machen, und schwer, ihn zu mögen, dachte ich, aber er war mit einem scharfen Auge und scharfem Verstand gesegnet - ganz zu schweigen von seiner scharfen Zunge. Seine Stimme klang so dunkel wie der Ruf einer Rohrdommel im Schilf, und obwohl sein Englisch so gut war wie das der meisten gebildeten Norweger, sprach er es lieblos und so, als machte er sich nicht allzuviel daraus. Ich sagte ganz ruhig: »Als jemand, der mit Bergbau zu tun hat, wissen Sie doch, daß Untersuchungen eine lohnende Investition sind, auch wenn man nicht bei jeder auf Erz stößt.« Er warf mir einen harten Blick zu. »Als jemand, der mit Bergbau zu tun hat, weiß ich, daß ich keine Untersuchung finanzieren würde, bei der man auf Schlamm trifft.« Boing! Eins auf den Hut für D. Cleveland. Ich grinste anerkennend, und die Winkel seines Mundes verzogen sich ganz langsam und unwillig. Ich nutzte die Gelegenheit. »Darf ich Sie mal in Ihrem Büro aufsuchen?« fragte ich. »Nur, um ein paar Fragen zu stellen. Wo ich nun schon mal hier bin, kann ich ja versuchen, das Geld zu verdienen, das Sie für mich ausgeben.« »Ich könnte Ihnen nichts sagen, was Ihnen weiterhelfen würde«, entgegnete er in einem Ton, der die Unumstößlichkeit seiner Aussage unterstreichen sollte. »Trotzdem…« 126
Die Andeutung eines Lächelns verschwand wieder, aber schließlich nickte er doch widerstrebend mit dem Kopf. »Na schön«, sagte er. »Morgen nachmittag. Vier Uhr.« Und er erklärte mir sogar noch, wie ich ihn finden konnte. Als er gegangen war, fragte Arne: »Was willst du denn von ihm wissen?« »Weiß ich noch nicht. Ich möchte mir vor allem mal anschauen, wie er so lebt. Man kann nicht sagen, wie jemand wirklich ist, wenn man ihn immer nur bei den Rennen trifft.« »Aber« - er blinzelte wie wild - »warum Rolf Torp?« »Nicht speziell Rolf Torp«, sagte ich. »Alle, die Bob Sherman gekannt haben.« »David!« er sah mich ungläubig an. »Dazu brauchst du doch Monate!« Ich schüttelte den Kopf. »Ein paar Tage, mehr nicht. So viele Leute hat Bob hier ja auch wieder nicht gekannt.« »Aber er könnte doch von einem vollkommen fremden Menschen getötet worden sein. Ich meine, er könnte schließlich auch jemanden beim Stehlen beobachtet haben, den er überhaupt nicht kannte…« »Das ist möglich«, sagte ich und fragte ihn, ob er Bob jemals darüber habe reden hören, daß er irgendwelche Päckchen von England nach Norwegen mitgebracht habe. Arne zog die Stirn in Falten und blickte zwanghaft über die Schulter. Niemand da, natürlich nicht. »Lars hat am Dienstag abend dieses mysteriöse Päckchen erwähnt. Keiner wußte etwas darüber.« »Was genau hat Lars gefragt?« »Er sagte nur, du würdest gerne wissen, ob irgend jemand von Bob ein Päckchen erhalten hätte.« »Und das hatte keiner?« 127
»Jedenfalls keiner von den Anwesenden.« »Könntest du mir eine Liste der Anwesenden machen?« »Ja«, sagte er überrascht. »Wenn du willst. Aber ich sehe überhaupt nicht, was das mit Bobs Tod zu tun haben soll.« »Ich bin im Sammeln von nutzlosen Informationen ganz groß«, sagte ich lächelnd, und Arne warf mir einen Blick zu, der soviel besagte wie: Allerdings, das sieht man. Die Rennen nahmen ihren gewohnten Lauf, nur daß diesmal die Zuschauermenge erheblich kleiner war als am Tage des Grand National. Die Birken hatten den größten Teil ihrer gelben Blätter abgeworfen und sahen silbrig aus, das Tageslicht schien kälter und grauer als je zuvor, und ein scharfer Wind fuhr um alle Ecken. Diesmal hatte ich mir aber eine Skimütze mit Ohrenklappen mitgebracht, und nur meine Nase wurde - wie bei allen anderen auch - langsam blau. Gunnar Holth sattelte zwei Pferde für das Hürdenrennen, eilte geschäftig zwischen beiden hin und her, um den jeweiligen Besitzern besorgt und geschickt gerecht zu werden. Eines der Pferde war die Apfelschimmelstute mit dem unberechenbaren Temperament, deren Besitzer - Sven Wangen - auch auf Emmas Liste stand. Arne bestätigte mir, daß der hochgewachsene junge Mann, der jedesmal, wenn der Gaul seine Hufe zeigte, beflissen beiseite hüpfte, eben dieser Sven Wangen sei, und er setzte noch hinzu, daß es sich bei der Brünetten, die sich in sicherer Entfernung über Wangen lustig machte, um dessen Frau handle. Der Jockey saß vorsichtig auf und ritt zum Start, wobei der Gaul unablässig bockte und ausschlug. Arne meinte, daß die Stute wie alle gemeinen, übellaunigen Weibsbilder zuletzt doch ihren Willen bekommen werde, und ging davon, um am Totalisator eine Kleinigkeit zu investieren. Eine weise Entscheidung. Die Stute siegte. Arne strahlte und sagte, er hätte es ja gewußt, sie gewinne immer, wenn sie sich so zickig aufführe. Ob sie jemals fromm sei, wollte ich wissen, und 128
Arne meinte, sicher, aber eben nur an ihren freien Tagen. Wir sahen zu, wie sie in dem den Siegern vorbehaltenen Ring abgesattelt wurde, wobei ihr Gunnar Holth und Sven Wangen mit tangoähnlichen Schritten geschickt auswichen. Ich sagte Arne, daß ich Sven Wangen gern einmal kennenlernen würde, weil Bob doch an jenem letzten Tag ebenfalls mit einem von Svens Pferden siegreich gewesen sei. Arne hatte Bedenken, und ich fragte ihn, warum. Er machte einen spitzen Mund. »Ich mag ihn nicht. Deshalb.« »Weshalb denn nicht?« »Zuviel Geld«, antwortete Arne vorwurfsvoll. »Er führt sich auf, als müßte jeder, der mit ihm redet, vor ihm auf die Knie fallen. Dabei hat er’s nicht mal selbst verdient. Das Geld kommt von seinem Vater. Sein Vater war ein reicher Mann. Zu reich.« »In welcher Hinsicht zu reich?« Arne zog bei dieser für ihn offensichtlich unsinnigen Frage die Augenbrauen hoch, und dem Tonfall seiner Antwort war zu entnehmen, daß er Reichtum für moralisch verwerflich hielt. »Er war Millionär.« »Gibt es in Norwegen keine Millionäre?« »Nur sehr wenige. Sie sind nicht sehr populär.« Ich überredete ihn trotzdem, mich mit dem unpopulären Sven Wangen bekannt zu machen, dessen Vater seine Millionen mit Schiffen verdient hatte - und mir war sofort klar, warum Arne ihn nicht mochte. Vielleicht fünf Zentimeter größer als ich, blickte er wie aus großer Höhe verächtlich auf mich herab, und es war deutlich zu erkennen, daß das keine zufällige Angewohnheit war, sondern die Manifestation einer beachtlichen Selbstgefälligkeit. Als höchstens Dreißigjähriger war er recht massig, ja fast schon fett, und sein Gewicht diente ihm dazu, Eindruck zu schinden. Ich fand weder sein Verhalten noch seinen schmalen Mund oder 129
seine unfreundlichen bernsteinfarbenen Augen sympathisch auch seine Frau nicht, die ganz so aussah, als könnte sie, was das schwierige Temperament anging, den Apfelschimmel um Längen schlagen. Arne machte uns bekannt, und Sven Wangen sah nicht den geringsten Grund, warum ich ihn irgendwann einmal aufsuchen sollte, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Er hatte dichtes, rostbraunes Haar, das ihm bis über die Ohren reichte, und trug eine flache Mütze, die seinen großen Kopf noch größer aussehen ließ. Ich sagte, soviel ich wisse, sei er Mitglied des RennbahnAusschusses, der mich zu kommen gebeten habe. »Lars Baltzersen hat Sie gebeten«, sagte er schroff. »Ich war dagegen. Das habe ich am Dienstag auch gesagt.« »Je eher meine Fragen beantwortet werden, desto eher fahre ich auch wieder nach Hause«, sagte ich. »Aber nicht früher.« Er sah mich mit äußerstem Mißfallen an. »Was wollen Sie also?« »Eine halbe Stunde bei Ihnen zu Hause«, sagte ich. »Zu jeder Zeit, die Ihnen genehm ist, nur morgen nachmittag nicht.« Er gestand mir irritiert den Sonntag vormittag zu. Seine elegante, schlanke Frau produzierte ein Gähnen, und beide wandten sich ab, ohne sich auch nur den Anschein von Höflichkeit zu geben. »Verstehst du mich jetzt?« fragte Arne. »Vollkommen. Sehr ungewöhnlich, nicht wahr?« »Ungewöhnlich?« »Normalerweise führen sich die Reichen nicht so auf.« »Kennst du so viele reichen Leute?« fragte Arne mit einem Anflug von Spott. »Ich hab doch tagtäglich mit ihnen zu tun«, erwiderte ich. »Sie besitzen Rennpferde.« 130
Arne räumte ein, daß nicht alle Reichen notwendigerweise abscheulich seien, und ging davon, um irgend etwas zu erledigen. Ich selbst begab mich auf die Suche nach Paddy O’Flaherty, den ich auch bald fand, der aber nur fünf Minuten zwischen zwei Rennen Zeit hatte. »Brauner Umschlag mit Pornobildern?« wiederholte er. »Er hat nie auch nur ein Sterbenswörtchen von irgendwelchen Pornobildern zu mir gesagt.« Er grinste, und dann war da plötzlich eine unbestimmte Erinnerung. »Warten Sie mal, ich lüge ja. Im Sommer war’s, da sagte er mir mal, er hätte da was laufen, Sie verstehen. Immer hinter dem schnellen Geld her, so war er. An diesem Tag also, da zwinkerte er mir zu und zeigte mir die Ecke von einem Umschlag in seiner Reisetasche und sagte, uns würden die Haare zu Berge stehen. Da habe ich ihn gefragt, ob ich’s mal sehen könnte, verstehen Sie, aber er meinte, der wäre irgendwie versiegelt, deshalb könnte er ihn nicht über Dampf öffnen. Ja, jetzt fällt’s mir wieder ein, ich erinnere mich.« »Aber als er das letzte Mal hier war, hat er da irgend etwas davon erwähnt, daß er so einen Umschlag mitgebracht hätte?« Paddy schüttelte den Kopf. »Wie ich schon gesagt habe, nicht ein Wort.« Ich überlegte. »Kam er vom Flugplatz direkt zu Ihrem Stall? War er zum Beispiel pünktlich da?« »Das kann ich Ihnen sagen: Pünktlich war er nicht.« Paddy konzentrierte sich. »Er kam so spät, daß ich schon dachte, er hätte das Flugzeug verpaßt und würde erst am nächsten Morgen kommen. Doch dann fährt ein Taxi vor, und er springt raus, in voller Lebensgröße. Er hatte im Flugzeug eine Flasche Brandy gekauft, und davon war dann nicht mehr allzuviel übrig, als wir ins Bett gingen.« »Worüber hat er geredet?« »Du lieber Himmel, woher soll ich das noch wissen, nach so langer Zeit?« 131
»Sie müssen doch oft an diesen Abend zurückgedacht haben.« »Ja ja, das stimmt schon.« Er seufzte über meine Beharrlichkeit, dachte aber noch ein wenig nach. »Über Pferde natürlich. Wir unterhielten uns über Pferde. Ich kann mich nicht erinnern, daß er gesagt hat, warum er so spät gekommen ist, oder irgend so was. Und bestimmt habe ich auch nur gedacht, daß das Flugzeug Verspätung hatte, mehr nicht.« »Das werde ich überprüfen«, sagte ich. »Also, etwas hat er doch noch gesagt… Später, als wir wahrscheinlich schon einen im Kahn hatten: ›Paddy‹, hat er gesagt, ›ich glaube, man hat mich gelinkt.‹ Genau das hat er gesagt. ›Paddy, ich glaube, man hat mich gelinkt.‹ Ich hab ihn gefragt, wie er das gemeint hätte, aber er hat’s mir nicht gesagt.« »Wie beharrlich haben Sie denn gefragt?« »Beharr…? Du liebe Güte, natürlich nicht sehr. Er hat halt dagesessen und den Finger auf den Mund gelegt und genickt… er hatte einen kleinen Schlag weg, Sie verstehen. Also hab ich auch meinen Finger auf den Mund gelegt, wie er, und genauso genickt. Das schien mir damals das einzig Richtige zu sein, Sie verstehen?« Ich verstand. Es war ein Wunder, daß sich Paddy überhaupt noch an diesen Abend erinnern konnte. Der Nachmittag ging gemächlich dahin. Gunnar Holth gewann das Jagdrennen mit Per Bjørn Sandviks Whitefire, was Rolf Torp mißfiel, der Zweiter wurde. Per Bjørn war, wie sich herausstellte, nicht zum Rennen erschienen - er kam donnerstags überhaupt nur selten, weil er damit den Leuten in seiner Firma nur ein schlechtes Beispiel gegeben hätte. Es war Lars Baltzersen, der mir das mit warmer Anerkennung in der Stimme erzählte. Er selbst, sagte er, lasse seine Arbeit nur im Stich, weil er der Vorsitzende sei, wofür seine Angestellten aber auch Verständnis hätten. Als einer, der sein Leben lang alles hatte stehen- und liegenlassen, sobald nur eine Startflagge fiel, fand ich eine so hohe Arbeitsmoral ein wenig bedrückend, 132
aber man konnte nicht umhin, sie zu bewundern. Lars und ich überquerten das Geläuf, bestiegen den Turm und schauten auf den Teich hinab. Da eine Brise die Wasseroberfläche kräuselte, wirkte er jetzt weit weniger friedlich als beim ersten Mal, war aber noch genauso dunkel und schlammig wie an dem Tag, an dem wir nach dem Toten gesucht hatten. Die Schwäne und die Enten waren nicht mehr da. »Es wird bald frieren«, sagte Lars. »Und die Rennbahn wird für drei oder vier Monate mit Schnee bedeckt sein.« »Heute wird Bob Sherman beerdigt«, sagte ich. »In England.« Er nickte. »Wir haben Mrs. Sherman einen Kondolenzbrief geschickt.« »Und einen Scheck«, sage ich, denn auch sein Name stand auf der Liste. Er machte eine abwehrende Handbewegung, schien jedoch aufrichtig erfreut zu sein, als ich ihm sagte, wie sehr Emma ihre Freundlichkeit zu schätzen gewußt habe. »Ich muß gestehen, daß wir alle uns ein bißchen über sie geärgert haben, als sie hier war. Sie ließ einfach nicht locker. Aber vielleicht war es ja teilweise ihr zu verdanken, daß wir Sie um Ihre Mithilfe baten. Wie auch immer, es freut mich, daß sie nicht verbittert darüber ist, daß wir versucht haben, ihren dauernden Fragen auszuweichen. Sie hätte durchaus ein Recht dazu gehabt.« »So jemand ist sie nicht.« Er wandte den Kopf und sah mich an. »Kennen Sie sie schon länger?« fragte er. »Erst seit die Sache hier passiert ist.« »Ich bedaure die Art und Weise, wie wir sie behandelt haben«, sagte er. »Ich denke oft daran. Das Geld, das wir ihr geschickt haben, kann uns nicht freikaufen.« Ich war der gleichen Meinung und unterdrückte eine tröstliche 133
Antwort. Er sah wieder hinunter auf die Rennbahn, und ich fragte mich, ob ihn wohl sein schlechtes Gewissen dazu getrieben hatte, mich zu einem erneuten Kommen zu überreden. Nach dem nächsten Rennen, einem Galopprennen über eine lange Distanz, gingen wir zusammen zum Wiegeraum hinüber. Ich sagte: »Sie waren an jenem Tag gerade im Büro der Stewards, als Bob seinen Kopf zur Tür hereinsteckte und die Taschen mit dem Geld hätte sehen können.« »Das ist richtig«, sagte Lars. »Ja… und wie lautete die Frage?« Er war verwirrt. »Was für eine Frage?« »Alle der Polizei gegenüber gemachten Aussagen decken sich. Sie alle haben gesagt: ›Bob Sherman kam an die Tür und hat etwas gefragt.‹ Also… was wollte er wissen?« Er sah höchst überrascht aus. »Das kann nichts mit seinem Verschwinden zu tun haben.« »Was war es?« »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich versichere Ihnen, es war überhaupt nichts Wichtiges, denn sonst hätten wir es doch selbstverständlich der Polizei mitgeteilt.« Wir trafen wieder mit Arne zusammen, und Lars fragte ihn, ob er sich noch daran erinnern könne, was Bob gewollt habe. Arne machte ein genauso überraschtes Gesicht und sagte, er habe keine Ahnung, er sei im übrigen viel zu beschäftigt gewesen und habe die Frage wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Der Manager der Rennbahn wußte jedoch, daß er es einmal gewußt hatte, denn er, Arne, sei es schließlich gewesen, der Bobs Frage beantwortet habe. »Laß mich mal nachdenken«, sagte daraufhin Arne mit gerunzelter Stirn. »Er kam herein… nicht seine Füße, nur Kopf und Schultern. Er sah auf das Geld hinab, das vor ihm lag. Daran erinnere ich mich genau. Ich habe das auch der Polizei 134
gesagt. Aber die Frage… es war nichts von Belang.« Ich zuckte die Achseln. »Sag’s mir, wenn es dir wieder einfällt, ja?« Er versprach es, so als hielte er es für gänzlich unwahrscheinlich, daß es ihm je wieder einfallen würde, aber eine Stunde später kam er zu mir. »Bob Sherman hat gefragt, ob Mikkel Sandvik schon nach Hause gegangen sei, und ich habe gesagt, ich wüßte es nicht.« »Oh.« Er lachte. »Siehst du, wir haben dir doch gesagt, daß es nichts Wichtiges war.« »Und ihr hattet recht.« Ich seufzte resigniert. »War nur so ein Gedanke.« Als der Nachmittag vorbei war, nahm mich Lars mit in sein Rennbahnbüro, um mir die Kopien zu geben, die die Polizei von ihren Unterlagen zum Fall Sherman angefertigt hatte. Eine gepflegte und gewichtige Gestalt in einem schweren dunkelblauen Mantel, auf dem Kopf eine russische Fellmütze, so stand er vor dem großen Kachelofen und hauchte in die Hände. »Kalt heute«, sagte er. Ich kenne ihn wahrscheinlich besser als irgend jemanden sonst hier in Norwegen, dachte ich, fragte aber trotzdem: »Darf ich Sie mal in Ihrem Osloer Büro aufsuchen?« Er hatte von meinen Terminabsprachen gehört und lächelte ironisch angesichts der Tatsache, daß auch er in sie einbezogen wurde. »Am Samstag, wenn Sie wollen. Ich werde bis mittags dort sein.« Ich lehnte die dringende Einladung Arnes, zu ihnen zum Essen zu kommen, dankend ab, aß früh im Grand Hotel und ging nach oben, um meine Hausaufgaben zu machen. Die Polizei hatte gewissenhafteste Arbeit geleistet, aber das 135
Ergebnis war, wie Lars gesagt hatte, gleich Null. Ein langer, ungeheuer ausführlicher Autopsiebericht voller medizinischer Fachtermini, die ich nur halb verstand, kam zu dem Schluß, daß Bob Sherman an drei einander überschneidenden Frakturen der Schädeldecke gestorben war. Er hatte wahrscheinlich sofort das Bewußtsein verloren, und der Tod war ein paar Minuten später eingetreten - der genaue zeitliche Abstand hatte sich nicht feststellen lassen. Ins Wasser war er erst nach Eintritt des Todes geworfen worden. Das Nylonseil, das man am Toten gefunden hatte, war Faser für Faser aufgedröselt worden, und eine Untersuchung hatte den Hinweis erbracht, daß es zu einer Partie gehörte, die im vergangenen Frühjahr hergestellt und während des Sommers an zahllose Geschäfte und Schiffsausrüster in der Region Oslo geliefert worden war. Das Nylonseil, das man, in einen Zementblock eingelassen, im Teich von Øvrevoll gefunden hatte, war von identischer Beschaffenheit. Der Zementblock war eigentlich eine Art Sandsack, wie sie oft zur Verstärkung von Dämmen und Deichen verwendet werden. Der im Teich gefundene Typ war sehr weit verbreitet, und keine der Baufirmen, die in jüngster Zeit diese Art benutzt hatten, konnte sich daran erinnern, daß so ein Sack bei ihr gestohlen worden war. Der Schreiber des Berichts hatte noch seine persönliche Meinung angefügt und festgehalten, daß eine Baufirma wohl kaum je das Fehlen eines einzelnen Zementsacks bemerken würde. Diese Säcke waren so beschaffen, daß ihr Inhalt in trockenem Zustand zwar krümelig war, im Wasser jedoch steinhart wurde. Das Nylonseil war sehr fest um den Sack gewickelt worden, solange dieser noch trocken gewesen war. Umfangreiche Befragungen hatten zu niemandem geführt, der im Bereich des Teiches irgendeine Aktivität beobachtet hätte, weder an dem Abend, an dem der Verstorbene verschwunden 136
war, noch an jenem, an dem man ihn wieder aus dem Wasser geholt hatte. Der Nachtwächter hatte sich als absolute Niete erwiesen. Es gab Verzeichnisse all der Dinge, die in Bobs Taschen und in seiner Reisetasche gefunden worden waren. Kleidungsstücke, Uhr, Schlüssel, alles da - aber ich war an Papier interessiert, und das war nach einem Monat im Wasser in einem ziemlich matschigen Zustand. Paß und Flugticket waren identifiziert worden. Bei den gefundenen Geldscheinen hatte es sich fast ausschließlich um britische Banknoten gehandelt - im Gesamtwert von fünfzehn Pfund. An norwegischem Geld war kaum etwas da, und ganz bestimmt keine fünf Segeltuchtaschen davon. Der Bericht sagte nichts darüber, daß man in der Reisetasche irgendwelches anderes Papier oder Reste von Papier gefunden hatte. Oder Fotografien - und Fotopapiere halten sich unter Wasser besser als die meisten anderen. Ich las das alles zweimal durch und kam zu keinen Schlüssen, die die Polizei nicht auch schon gezogen hatte. Bob Sherman war der Schädel eingeschlagen worden, und später hatte man ihn an einen Zementsack gebunden und in den Teich geschmissen. Das hatten mehrere Personen getan oder nur eine. Und diese Personen (oder die Person) setzten alles daran, unerkannt zu bleiben. Ich holte das in Frischhaltefolie eingewickelte Messer aus meinem Kulturbeutel und lehnte es an die Leselampe - und sofort fing der Schnitt auf meiner Brust wieder an zu schmerzen, was er seit dem Morgen nicht mehr getan hatte. Wie kommt es, fragte ich mich gereizt, daß Schnittwunden immer nur nachts weh tun? Aber die Sache hatte auch ihr Gutes, denn nun betrat ich bestimmt nicht mehr blindlings ein Hotelzimmer oder winkte gleich das erste Taxi heran, das vorbeikam. Die Geschichte in London war ernstgemeint gewesen, und ich war hier in Oslo 137
keineswegs sicher. Ich lächelte trübselig. Bald trieb ich es mit dem Über-dieSchulter-Sehen so schlimm wie Arne. Aber da, wo dieses Messer hergekommen war, gab es bestimmt noch mehr davon.
138
10 Am Morgen brachte ich das Messer zur Polizei und berichtete, wie ich zu ihm gekommen war. Der für den Fall zuständige Beamte (es war derselbe, der auch das Absuchen des Teiches geleitet hatte) sah mich erschrocken und gleichzeitig irgendwie mutlos an. »Wir werden festzustellen versuchen, woher es stammt - wie Sie es wünschen. Aber diese Art Messer ist nicht gerade selten. Es gibt viele davon. Das Norsk Stål auf der Klinge bedeutet ja nicht mehr als ›Norwegischer Stahl‹.« Er hieß Lund und war wie alle altgedienten Polizeibeamten auf der ganzen Welt - vorsichtig, aufmerksam, zurückhaltend freundlich. Mir kam es oft so vor, als fühlten sich viele Polizisten erst in der Gesellschaft von Kriminellen richtig wohl. Jedenfalls sprachen die Ex-Polizisten, die für die Ermittlungsabteilung des Jockey Club arbeiteten, immer mit größerer Zuneigung von den kleinen Gaunern als vom großen Rest der Rennbahnbesucher. Einerseits ist es der Beruf der Polizisten, die Verbrecher zu fangen, andererseits bewundern sie sie. Sie sprechen dieselbe Sprache, benutzen denselben Jargon. Ich wußte aus Erfahrung, daß ein Gauner und ein Polizist, die gleichzeitig irgendein gesellschaftliches Ereignis besuchen und sich nicht kennen, einander unweigerlich anziehen. Wenn der Polizist nicht gerade hinter eben diesem speziellen Ganoven her ist, dann verstehen sich die beiden im allgemeinen prächtig, was auch die außergewöhnliche, die Medien immer wieder erregende Tatsache erklärt, daß sie manchmal gemeinsame Urlaubsreisen unternehmen. Lund behandelte mich mit größter Fairneß als Kollegen auf Zeit. Ich dankte ihm herzlich dafür, daß er mir seine Unterlagen 139
zur Verfügung gestellt hatte, und er bot seine Hilfe für den Fall an, daß ich sie brauchen sollte. Auf dieses Angebot ging ich sofort ein und sagte, ich würde einen Wagen und einen vertrauenswürdigen Fahrer benötigen, und fragte ihn, ob er mir einen empfehlen könne. Er sah auf das Messer, das auf dem Tisch lag. »Einen Polizeiwagen kann ich Ihnen leider nicht geben.« Dann dachte er noch einmal nach, griff nach dem Telefonhörer, gab auf norwegisch ein paar Anweisungen, legte wieder auf und wartete. »Ich werde meinen Bruder bitten, Sie zu fahren«, sagte er schließlich. »Er ist Schriftsteller. Seine Bücher bringen ihm nicht viel ein. Er wird sich besonders freuen, wenn er sich durch Fahren etwas dazuverdienen kann, denn er fährt gerne Auto.« Das Telefon summte, und Lund unterbreitete offensichtlich seinen Vorschlag. Ich schloß, daß er die Zustimmung des Autors fand, denn Lund fragte mich, wann sein Bruder anfangen solle. »Sofort«, sagte ich. »Es wäre schön, wenn er mich hier abholen könnte.« Lund nickte, legte auf und sagte: »Er ist in einer halben Stunde da. Er wird Ihnen eine Hilfe sein. Vor allem spricht er sehr gut Englisch, denn er hat mal in England gearbeitet.« Ich verbrachte die halbe Stunde mit der Durchsicht von Polizeifotos, aber mein Londoner Gegner war nirgends zu finden. Lunds Bruder Erik war in jeder Beziehung ein Gewinn. Er erwartete mich in der Eingangshalle und lächelte etwas unsicher, so als hätte er auf jemand anders gewartet. Er war ein ziemlich großer Mann von ungefähr fünfundfünfzig Jahren, mit dünnen, unordentlichen, blonden Haaren. Er trug ein formloses altes Sportsakko und hatte das Aussehen eines Menschen, der vollkommen unorganisiert ist. Und er fuhr, wie ich schon bald 140
erleben durfte, als wären alle anderen Autos unsichtbar. Er winkte mich aus dem Polizeigebäude heraus und zu einem kleinen cremefarbenen Volvo, der davor geparkt stand. Beulen und Kratzer, die verschiedene Rostjahrgänge aufwiesen, legten Zeugnis ab von langem und standhaft geleistetem Dienst, und der Kofferraumdeckel wurde von Bindfäden zugehalten. Als ich die Beifahrertür öffnete, stellte ich fest, daß der größte Teil des Innenraums schon von einer sehr großen deutschen Dogge besetzt war. »Leg dich hin, Odin«, sagte Erik hoffnungsvoll, aber der riesige Hund verstand kein Englisch, blieb stehen und sabberte mir sacht in den Nacken. »Wohin als erstes?« erkundigte sich Erik. Sein Englisch war vorzüglich, wie sein Bruder gesagt hatte. Er setzte sich hinter das Steuer und sah mich voller Erwartung an. »Was hat Ihnen Ihr Bruder gesagt?« fragte ich. »Daß ich Sie herumfahren und, wenn möglich, dafür sorgen soll, daß niemand Sie umlegt.« Er sagte das so beiläufig, als wäre er mit der Aufgabe betraut worden, mich zum richtigen Zug zu bringen. »Was können Sie denn besonders gut?« fragte ich neugierig. »Fahren, boxen und aus der Schule plaudern.« Er hatte ein langes Gesicht mit tiefen Falten um die Augen und etwas weniger tiefen um Mund und Kinn - Hinweise auf einen Charakter, dem das Lachen näher lag als die schlechte Laune. Im Laufe der folgenden Tage erfuhr ich, daß ihn nur sein hochentwickelter Sinn für das Komische daran gehindert hatte, ein engagierter Kommunist zu werden. Zwar vertrat er durchaus radikale linke Ansichten, aber die Humorlosigkeit seiner Gesinnungsgenossen hatte ihn immer wieder zur Verzweiflung gebracht. Er hatte als junger Mann für die Klatschspalten von Zeitungen geschrieben und zwei Jahre in der Fleet Street gearbeitet - und er wußte mir über die Leute, zu denen ich 141
unterwegs war, mehr zu erzählen, als ich in sechs Wochen hätte ausgraben können. »Per Bjørn Sandvik?« wiederholte er, als ich ihm unser erstes Ziel nannte. »Der rechtschaffene Herr der Ölfelder?« »Es sieht so aus«, sagte ich. Er fädelte sich ein, ohne auf eine Lücke zu warten. Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder - wenn sein Bruder ihm zutraute, mich am Leben zu erhalten, dann mußte ich ihn auch machen lassen, das war wohl das mindeste. Wir rauschten auf zwei Rädern durch einige haarsträubend enge Kurven, kamen jedoch unversehrt beim Hauptsitz der Firma Norsk Oil Imports an. Die deutsche Dogge leckte sich das Maul und sah vollkommen unbewegt aus. »Da wären wir«, sagte Erik und deutete auf eine eindrucksvolle, doppeltorige Einfahrt in einen Innenhof. »Da durch, dann links der große Eingang mit den Säulen davor.« »Sie kennen es?« Er nickte. »Ich kenne fast alles in Oslo. Und die meisten Leute.« Und er erzählte mir von seinen Jahren bei der Zeitung. »Dann erzählen Sie mir auch mal was über Per Bjørn Sandvik«, sagte ich schließlich. Er lächelte. »Er ist spießig und selbstgerecht und hat sich dem Big Business verschrieben. Während des Krieges war er ganz anders. Als wir noch alle jung waren, da ist er ein großer Kämpfer gegen die Nazis gewesen, ein großer Planer und Saboteur. Aber die Jahre sind dahingegangen, und er ist zu einem langweiligen Klotz erstarrt, wie das heiße Innere eines Vulkans, das herausströmt und zu trockenem, grauem Bimsstein abstirbt.« »Er muß aber noch etwas Feuer übrig haben«, warf ich ein. »Er ist schließlich Chef einer Ölgesellschaft.« Erik schnaubte belustigt. »Die norwegischen Ölgesellschaften 142
können sich vor Regierungsvorschriften kaum rühren, und das ist auch richtig so. Da bleibt kein Raum für private Spekulationen. Per Bjørn kann nur in einem sehr eng begrenzten Rahmen Entscheidungen treffen. Für alles, was über die Bestellung von neuen Aschenbechern hinausgeht, braucht er die Zustimmung der Regierung.« »Das finden Sie gut?« »Selbstverständlich.« »Was wissen Sie über seine Familie?« fragte ich weiter. Seine Augen funkelten. »Er hat ein durch und durch langweiliges, unansehnliches Mädchen mit Namen Ranghild geheiratet, deren Papi damals zufällig gerade das Oberhaupt von Norsk Oil Imports war.« Ich grinste, stieg aus und sagte Erik, daß ich wenigstens eine halbe Stunde brauchen würde. »Ich habe mir ein Buch mitgebracht«, meinte er gelassen und zog eine ramponierte Taschenbuchausgabe des goldenen Notizbuchs aus der Jackentasche. Der säuberlich gepflasterte Hof wies in seiner Mitte ein mit Steinen eingefaßtes Beet voller erfrorener Blumen auf und war von vornehm blaßgelben Gebäuden umstanden. Der Haupteingang auf der linken Seite war wirklich beeindruckend, und ihm gegenüber, also auf der rechten Seite, befand sich ein ähnliches, allerdings sehr viel bescheideneres Portal. Die Fassade, die dem Tor zur Straße gegenüberlag, war von hohen Fenstern durchbrochen und mit Fensterläden geschmückt - das ganze wohlhabend wirkende Ensemble erinnerte tatsächlich eher an ein Herrenhaus als an den Sitz einer Ölgesellschaft. Es war, wie sich herausstellte, beides. Per Bjørns Sekretärin nahm mich am Haupteingang in Empfang, trieb mich eine teppichbelegte Treppe hinauf in sein Büro, erklärte mir, Mr. Sandvik sei noch in einer Besprechung, 143
werde aber gleich dasein, und ging. Auch wenn das Gebäude alt war, so war doch das Büro des Firmenchefs modern, funktional und sehr skandinavisch eingerichtet. Es hatte doppeltverglaste Fenster, die auf den Innenhof hinausgingen. An den Wänden hingen ein einfaches Wandbild, das eine Felsenformation zeigte und mit den Worten ›impermeabel‹, ›Quelle‹, ›permeabel‹ und ›Reservoir‹ beschriftet war, dann eine Liste, die Dinge verriet wie ›Angebohrt Okt. 71‹ oder ›Verschlossen und aufgegeben Jan. 72‹, und schließlich drei in leuchtenden Farben gehaltene Karten der Nordsee, die verschiedene Aspekte der Ölbohroperationen zeigten, die dort im Gange waren. Auf allen drei Karten war das Seegebiet durch Längen- und Breitengrade in kleine Quadrate aufgeteilt, die mit ›Shell‹, ›Esso‹, ›Conoco‹ und so weiter beschriftet waren. Obwohl ich mir die Karten sehr genau ansah, konnte ich nirgends ein Quadrat entdecken, in dem ›Norsk Oil Imports‹ stand. Hinter mir öffnete sich die Tür, und Per Bjørn Sandvik kam herein, verbindlich und locker wie immer. Man hatte unbedingt den Eindruck, daß er ganz ohne Einsatz seiner Ellbogen nach oben gelangt war. »David«, sagte er mit seiner hohen, deutlich artikulierenden Stimme, »tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen.« »Ich hab mir derweil Ihre Karten angeschaut.« Er nickte und trat zu mir. »Wir bohren dort… und dort.« Er zeigte auf zwei Gebiete, die einen vollkommen anderen Namen trugen. Ich sagte das, und er erklärte es mir. »Wir gehören zu einem Konsortium. In Norwegen gibt es keine privaten Ölgesellschaften.« »Was hat Norsk Oil Imports getrieben, bevor das Öl unter der Nordsee entdeckt wurde?« »Natürlich Öl importiert.« 144
»Natürlich.« Ich lächelte und ließ mich in den quadratischen Sessel sinken, auf den er gedeutet hatte. »Schießen Sie los«, sagte er. »Mit Ihren Fragen.« »Hat Ihnen Bob Sherman irgendwelche Drucksachen oder Fotos aus England mitgebracht?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das hat uns Lars schon am Dienstag gefragt. Sherman hat niemandem irgend etwas Derartiges mitgebracht.« Er streckte die Hand nach der Sprechanlage aus. »Hätten Sie gern einen Kaffee?« »Sehr gern.« Er nickte und bat seine Sekretärin, uns einen Kaffee zu bringen. »Trotzdem«, sagte ich, »hat er wahrscheinlich ein Päckchen mitgebracht und es vermutlich auch weitergegeben. Wenn uns jemand bestätigen würde, daß er dieses Päckchen bekommen hat, dann könnten wir dieses Kapitel möglicherweise abhaken.« Er starrte blicklos auf seinen Schreibtisch. »Wenn das von ihm Mitgebrachte«, fuhr ich fort, »beispielsweise Pornographie gewesen wäre, dann hätte es wahrscheinlich nichts mit seinem Tod zu tun.« Er sah auf. »Verstehe«, sagte er. »Und weil niemand zugegeben hat, das Päckchen erhalten zu haben, glauben Sie, daß keine Pornographie darin war?« »Ich weiß nicht, was drin war«, erwiderte ich. »Ich wünschte, ich wüßte es.« Der Kaffee kam, und er goß ihn vorsichtig in dunkelbraune, rustikal wirkende Becher. »Haben Sie den Gedanken verworfen, daß der Mörder Bob Shermans mit dem Mann identisch ist, der das Geld gestohlen 145
hat?« »Ich habe ihn vorläufig zurückgestellt«, sagte ich und lehnte das Angebot von Milch und Zucker dankend ab. »Könnten Sie mir sagen, welchen Eindruck Sie von Sherman als Mensch hatten?« Er spitzte abwägend die Lippen. »Nicht übermäßig intelligent«, sagte er. »Ehrlich, aber auch leicht zu beeinflussen. Ein guter Reiter, natürlich. Für mich hat er immer gute Rennen geritten.« »Rolf Torp schien der Ansicht gewesen zu sein, daß Bob an jenem letzten Tag ein schlechtes Rennen für ihn geritten ist.« Sandvik zuckte leicht die Achseln. »Manchmal kann man es Rolf nur schwer recht machen.« Wir tranken unseren Kaffee und sprachen über Bob. Nach einer Weile sagte ich, ich würde gern Mikkel kennenlernen. Sandvik runzelte die Stirn. »Um ihm Fragen zu stellen?« »Hm, ja… ein paar. Er hat Bob ja relativ gut gekannt, und er ist der einzige von allen, die Kontakt zu ihm hatten, den ich noch nicht kenne.« Das gefiel ihm gar nicht. »Ich kann Sie natürlich nicht daran hindern. Oder anders gesagt: Ich würde es nicht tun. Aber die ganze Geschichte hat ihn sehr mitgenommen… erst der Gedanke, daß sein Freund ein Dieb ist, und dann noch weit mehr, daß er ermordet worden ist.« »Ich werde versuchen, ihn nicht allzusehr zu quälen. Ich habe seine kurze Aussage gelesen, die er der Polizei gegenüber gemacht hat. Ich werde wahrscheinlich auf die gleichen Fragen zu sprechen kommen.« »Warum ihn dann behelligen?« Ich überlegte kurz und sagte dann: »Ich glaube, ich muß ihn einfach mal kennenlernen, um mir ein vollständiges Bild von Bobs Besuchen hier im Lande machen zu können.« 146
Er sog langsam seine Unterlippe ein, erhob aber schließlich keine Einwände mehr. »Mikkel ist im Internat«, sagte er, »kommt aber morgen nachmittag nach Hause. Wenn Sie um drei Uhr da sind, können Sie ihn sprechen.« »Hier… in Ihrem Büro?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, bei uns. Auf der anderen Seite des Hofes.« Ich stand auf und dankte ihm dafür, daß er sich soviel Zeit für mich genommen hatte. »Ich war Ihnen keine große Hilfe«, meinte er. »Wir haben Sie da mit einer ziemlich hoffnungslosen Aufgabe betraut.« »Nun ja…«, sagte ich laut - und dachte bei mir, daß steter Tropfen den Stein schließlich doch höhlt. »Ich werde tun, was ich kann, um mir Ihr Geld zu verdienen.« Er begleitete mich bis zur Treppe, und wir gaben uns die Hand. »Lassen Sie mich wissen, wenn ich irgend etwas tun kann.« »Das werde ich«, gab ich zurück. »Und vielen Dank.« Ich ging durch das stille Treppenhaus hinunter in die große, leere Eingangshalle. Die einzigen Geräusche, die auf das Vorhandensein von Leben hindeuteten, drangen durch eine Tür hinten in der Halle, und ich ging hin und machte sie auf. Wie ich nun sehen konnte, führte sie direkt in das angrenzende Gebäude, in welchem nicht die Firma geleitet, sondern die tägliche Arbeit erledigt wurde. Aber selbst das vollzog sich in gemäßigtem Tempo und ohne irgendeinen spürbaren Druck, denn in den Türen der langen Reihe von Büros, die ich vor mir hatte, standen entspannte Menschen in Pullovern, tranken Kaffee, rauchten und vermittelten nicht gerade den Eindruck, als tobe um sie herum das kommerzielle Leben. Ich zog mich zurück - durch die Eingangshalle und über den 147
Hof bis zu Erik Lund. Als ich zu ihm in den Wagen stieg, löste er den Blick von seinen goldenen Notizen und wußte anscheinend nicht so recht, wer ich war. Dann schien es ihm zu dämmern. »Ach ja…«, sagte er. »Jetzt zum Mittagessen?« schlug ich vor. Er hatte, was die Frage nach einem geeigneten Lokal anging, kaum sehr bestimmte Vorstellungen, aber sobald wir in einem ordentlichen Restaurant Platz genommen hatten, verschwendete er keine Zeit und bestellte etwas, was er gravlaks nannte. Im Gedanken an die Rennbahn zuckte ich zusammen, als ich den Preis sah, aber ich schloß mich ihm an, und es stellte sich als ganz hervorragender Lachs heraus - nicht geräuchert, sondern gebeizt. »Sind Sie von Scotland Yard?« fragte er, nachdem auch das letzte Stückchen des rosafarbenen Hochgenusses verzehrt worden war. »Nein, vom Jockey Club.« Er zeigte sich überrascht, weshalb ich ihm kurz erklärte, warum ich in Oslo war. »Und was hat es mit dem ›Umlegen‹ auf sich?« »Das soll mich daran hindern herauszubekommen, was hier passiert ist.« Er sah gedankenverloren an mir vorbei. »Macht meinen Bruder Knut zum doofen Trottel, was? Niemand hat versucht, ihn umzubringen.« »Schlag einen Polizisten nieder, und schon treten sechs andere an seine Stelle«, sagte ich. »Und von Ihnen gibt es keine weiteren sechs?« fragte er trocken zurück. »Die Personaldecke des Klubs ist ziemlich dünn.« Er trank nachdenklich von seinem Kaffee. »Warum geben 148
Sie’s nicht dran, solange Sie noch heil sind?« »Natürlicher Starrsinn«, antwortete ich. »Was wissen Sie über Rolf Torp?« »Den Rolf Torp, der der Schrecken der Skihänge ist, oder den Rolf Torp, der Glashäuser für Pygmäen baut?« »Nein, über den Rolf Torp, der Rennpferde besitzt und irgend etwas mit Bergbau zu tun hat.« »Ah, der.« Er runzelte die Stirn, schniefte, zog eine Grimasse. »Noch so ein verdammter Kapitalist, der die natürlichen Ressourcen des Landes zum Zwecke der persönlichen Bereicherung ausbeutet.« »Wissen Sie irgend etwas über ihn persönlich?« »Ist das nicht schon persönlich genug?« »Nein.« Er lachte. »Sie glauben also nicht, daß das Raffen von Geld etwas über die Seele eines Menschen aussagt?« »Alles, was ein Mensch tut, sagt etwas über seine Seele aus.« »Sie winden sich aus der Sache raus«, sagte er. »Und ich kriege was raus. Aus Leuten.« »Tja«, sagte er lächelnd, »eigentlich kann ich Ihnen über diesen Rolf Torp nicht sehr viel erzählen. Zum einen habe ich ihn nie kennengelernt, und zum anderen sind Kapitalisten für Klatschspalten fader Stoff, es sei denn, sie würden mit ihrer Sekretärin, aber ohne Pyjama im Bett erwischt.« Pornobilder als Mittel der Erpressung, ging mir eher beiläufig durch den Kopf. Warum nicht? »Kennen Sie einen Lars Baltzersen?« fragte ich. »Sicher. Den Vorsitzenden der Rennbahn von Øvrevoll? Ganz wie man sich eine Stütze der Gesellschaft vorstellt. Diniert mit Botschaftern und überreicht Preise. In der Zeitung oft auf der Sportseite zu sehen, immer mit dem Mann des Tages zusammen. 149
Wohlgemerkt, unser Lars war selber mal ein rechtes Energiebündel. Fuhr häufig Autorennen, meistens in Schweden. Das war natürlich, bevor ihn das Bankgeschäft unter sich begraben hat.« »Familie?« »Holländische Frau, eine Menge stämmiger Kinder.« Ich bezahlte die Rechnung, und wir schlenderten zum Auto zurück. Odin hatte den Kopf dicht an die Frontscheibe geschoben und starrte, ohne zu blinzeln, durch das Glas. Ein paar Leuten, die es mit einem Ist-er-nicht-ein-braves-Hundchen versuchten, wurden ein gewaltiges Gähnen und ein tiefer Blick in den höhlenartigen Rachen des Hundes zuteil. Erik machte die Wagentür auf, gab dem Hund einen Schubs und sagte: »Fanden ta dig.« Die Dogge war keineswegs beleidigt, sondern schob ihren Riesenleib auf den Rücksitz zurück, und wir setzten unsere Fahrt fort. »Was hat Lars im Krieg gemacht?« »Da war er nicht hier«, antwortete Erik prompt, »sondern in London, wo er die für Norwegen bestimmten Nachrichten gesprochen hat.« »Daß er mal in London gelebt hat, hat er mir gar nicht gesagt.« »Er ist inzwischen erloschen. Noch ein toter Vulkan. Noch mehr Bimsstein.« Erik überfuhr ein paar Ampeln drei Sekunden, nachdem sie auf Rot gesprungen waren, und schien wirklich nicht zu hören, wie sechs andere Fahrer ihre Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen brachten. Odin verpaßte ihm einen liebevollen Stupser in den Nacken, und Erik streckte die Hand aus, mit der er eigentlich die Gangschaltung hätte betätigen sollen, um die gewaltige nasse Hundeschnauze zu streicheln. Eine Meile vom Stadtzentrum entfernt, hielt er schließlich vor einer modernen, viereckigen Angelegenheit aus Beton und Glas, 150
die die architektonische Eleganz des Wohn- und Geschäftshauses, in dem Sandvik residierte, vermissen ließ. »Das ist die Adresse, die Sie mir genannt haben«, sagte Erik zweifelnd. »Schön«, erwiderte ich. »Wollen Sie mit hineinkommen?« Er schüttelte den Kopf - obwohl der Nachmittag kalt war und es schnell dunkel wurde. »Odin strahlt Wärme ab wie ein Atomreaktor, und ich sitze nun mal nicht gern in Plastiklobbies herum und lasse mich anstarren.« »Okay.« Ich überließ die beiden sich selbst und fuhr mit dem Lift zu Rolf Torps Büro hinauf, wo ich wiederum, weil zu früh erschienen, gebeten wurde zu warten. Diesmal nicht in Torps Büro, sondern in einem kleinen, für diesen speziellen Zweck eingerichteten Warteraum, der von nützlichen Prospekten, die über Torp-Nord und Partner informierten, geradezu überquoll. Auch hier hingen an den Wänden graphische Darstellungen von Felsformationen, Schautafeln, die über erzielte Fortschritte Aufschluß gaben, und Karten, die Abbaugebiete zeigten. In diesem Fall waren es keine Karten von der Nordsee, sondern vom norwegischen Festland, und die dichteste Anhäufung von Markierungsfähnchen befand sich in den Bergen westlich von Oslo. Jemand hatte mir gesagt, Rolf Torp habe mit Silber zu tun, aber dem war nicht mehr so, jedenfalls nicht in der Hauptsache. Seine Partner hatten sich auf Titan verlegt. Als Torp endlich zu seiner Vier-Uhr-Verabredung erschien, hatte ich bereits allerhand über Titan erfahren, was ich eigentlich gar nicht hatte wissen wollen. So zum Beispiel, daß es eine Dichte von 4,5 g/cm3 hatte, daß der Schmelzpunkt bei 1660° Celsius lag und daß es in Form von Legierungen eine besonders hohe Dehnfestigkeit erreichte. Wie schön für das Titan, dachte ich. 151
Rolf Torp glich seinem Produkt zwar in puncto Dehnfestigkeit, konnte sich aber, was die Leichtigkeit anging, nicht mit ihm messen. Er gab sich keinerlei Mühe zu verbergen, daß ihm mein Besuch lästig war, denn er kam in den Warteraum hereingeplatzt und sagte: »Na los, dann aber mal schnell. Ich habe nur zehn Minuten Zeit, mehr nicht.« Und er stapfte in sein Büro, ohne sich zu vergewissern, daß ich ihm auch folgte. Das tat ich natürlich. Sein Büro sah wie das Büro Sandviks aus - dieselbe Art von Möbeln, Bezugsstoffen und Teppichen, alles ganz im herrschenden Stil gehalten, aber ohne jede Aussage über den Bewohner dieser Räumlichkeit. An den Wänden hingen Fotografien, welche die verschiedenen Stadien der Metallgewinnung zeigten, und den Ehrenplatz nahm wiederum eine Karte mit Markierungsnadeln ein. »Wie gewinnt man Titan?« fragte ich ihn und setzte mich auf den Besucherstuhl, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Daraufhin ließ er sich seinerseits gereizt hinter einem halben Morgen leeren Schreibtisches auf seinem Bürosessel nieder und steckte sich eine Zigarette an. »Auch eine?« fragte er verspätet und schob mir eine Dose zu. »Danke, nein.« Er ließ ein Feuerzeug aufschnappen und inhalierte dann tief. »Titan liegt nicht rum wie Kohle«, sagte er. »Sind Sie sicher, daß Sie Ihre zehn Minuten auf dieses Thema verwenden möchten?« »Warum nicht?« Er warf mir über seinen schweren schwarzen Schnurrbart hinweg einen verwirrten Blick zu, schien aber sein eigenes Thema weit weniger nervtötend zu finden als meins. »Titan ist das neunthäufigste Element auf dieser Erde. Man findet es in achtundneunzig Prozent des Felsgesteins, aber auch im Erdöl, in der Kohle, im Wasser, in Pflanzen, Tieren und auf 152
Sternen.« »Aus Menschen kann man es doch wohl kaum herausgraben.« »Nein. Hauptsächlich wird es als ein Mineral abgebaut, das Ilmenit heißt… es enthält zu einem Drittel Titan.« »Ist Ihre Firma mit dem eigentlichen Abbau befaßt?« Er schüttelte den Kopf. »Wir explorieren, machen erste Probebohrungen, beraten und bringen die Sache in Gang.« Ich sah zu den Fotos an der Wand hin. »Wozu braucht man das Zeug eigentlich, von Hochgeschwindigkeitsflugzeugen mal abgesehen?« Er rasselte technische Verwendungsmöglichkeiten herunter, als wäre ihm diese Frage schon mehr als einmal gestellt worden. Zum Ende hin, als er schon langsamer wurde, nannte er schließlich auch noch Malerfarbe, Lippenstift und Nebelkerzen. Wie es schien, gab es kaum etwas, was sich mit der Kraft der Titanen nicht machen ließ, »Hat Ihnen Bob Sherman irgendwelche Fotos mitgebracht?« Ich fragte ihn das ganz beiläufig und ohne ihn direkt anzusehen. Ob er zusammenzuckte oder nicht, konnte ich allerdings nicht feststellen, da er mit einer schnellen Handbewegung seine Zigarettenasche abschnipste, wodurch eine mögliche unfreiwillige Reaktion überdeckt wurde. »Nein, das hat er nicht.« »Hat er Sie mal wegen irgend etwas um Rat gefragt?« »Wieso sollte er?« »Hin und wieder brauchen Menschen einen Rat«, sagte ich. Er lachte, was aber eher wie ein dumpfes Grollen klang. »Ich habe ihm einen gegeben, um den er nicht gebeten hat. Ich habe ihm gesagt, er solle entweder bessere Rennen reiten oder in England bleiben.« »Sie waren nicht mit ihm zufrieden?« 153
»Er hätte mit meinem guten Pferd durchaus gewinnen können. Er ist eingeschlafen. Er hat den Versuch zu siegen aufgegeben und ist geschlagen worden. Er ist auch nicht so geritten, wie ich es ihm gesagt habe.« »Glauben Sie, daß man ihn bestochen hat, damit er verliert?« Er sah erschrocken auf. Bei all seiner übellaunigen Kritik war ihm dieser Gedanke noch nie gekommen, und fairerweise muß gesagt werden, daß er sich auch nicht auf ihn stürzte. »Nein«, sagte er düster. »Er wollte dieses Pferd beim Grand National reiten. Es ist als Favorit an den Start gegangen und hat auch gewonnen.« Ich nickte. »Ich habe das Rennen gesehen.« »Ja, richtig. Bob Sherman wollte es unbedingt reiten, aber ich hätte mir sowieso einen anderen gesucht. Er hat es sehr schlecht geritten.« Ich dachte bei mir, daß wohl jeder Jockey Rolf Torps, der nicht siegte, automatisch schlecht geritten war. Ich stand auf und reichte ihm die Hand, was ihn verwirrte. »Ihr Besuch hier war Zeitverschwendung«, meinte er. »Keineswegs… Ich finde schon hinaus.« Er hielt mich nicht auf. Ich schloß die Tür zu seinem Büro und unternahm noch eine kleine Erkundungstour. Weitere Büroräume. Größere Geschäftigkeit als bei Sandvik. Der Eindruck, daß hier härter gearbeitet wurde, wenn auch nichts so Handfestes wie ein Klumpen Erz dabei herauskam. Eriks Wagen stand nicht mehr draußen vor dem Gebäude geparkt, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Ich ging durch die große Glastür hinaus, spähte kurz in die Dunkelheit und zog mich dann schmählich wieder zurück. Eins wollte ich nun mal ganz und gar nicht tun, nämlich bei Nacht allein umherlaufen und es Attentätern leicht machen. Nach zehn Minuten fragte ich mich, ob er mich schlicht 154
vergessen haben und nach Hause gefahren sein könnte, aber dem war nicht so. Der kleine, cremefarbene Volvo kehrte wenig später mit hoher Geschwindigkeit zurück und hielt nach einer Vollbremsung vor dem Portal. Sein Besitzer wand sich aus dem vibrierenden Metallgehäuse und kam dann auf das Gebäude zugeschlendert. »Hallo«, sagte er, als ich zu ihm stieß. »Hoffe, Sie haben nicht gewartet. Aber ich mußte Odin was zum Abendessen besorgen. Das hatte ich total vergessen.« Im Auto hing Odin bedrohlich und hungrig über mir und sabberte. Wie gut, dachte ich, daß er gleich etwas zu fressen kriegt. Erik fuhr mich in einem Tempo, das den Asphalt zum Schmelzen brachte, zum Grand Hotel zurück und schien enttäuscht zu sein, daß ich keine längeren Fahrten mehr unternehmen wollte.
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11 Die Leute am Empfang des Grand Hotels hielten mich schon für vollkommen verrückt, weil ich auf einem täglichen Zimmerwechsel bestanden hatte, aber sie hätten mich für noch viel verrückter gehalten, wenn ich ihnen den Grund genannt hätte. Ich hatte darum gebeten, mir jeweils das letzte noch freie Zimmer zu geben, oder, sollten mehrere freie zur Verfügung stehen, mich zur Schlafenszeit eine willkürliche Auswahl treffen zu lassen. Die Hotelangestellten entsprachen mit höflichglasigem Blick meiner Bitte, während ich voller Dankbarkeit ganz auf die Unvorhersehbarkeit vertraute. Als Erik mich am Hoteleingang abgesetzt hatte und mit seinem großen Freund heimgefahren war, rief ich Arne und Kari an und lud sie zum Abendessen ein. »Komm zu uns«, forderte mich Kari herzlich auf, aber ich sagte, es sei an der Zeit, ihnen ihre Freundlichkeit zu vergelten, und nach vielen weiteren Einwänden waren sie schließlich mit dem Grand Hotel einverstanden. Ich setzte mich bis zu ihrer Ankunft in die Bar, las die Zeitung und dachte über das Altwerden nach. Es war seltsam, aber außerhalb des von ihr gewählten Rahmens sah Kari ganz anders aus. Nicht mehr so jung, nicht mehr so häuslich, nicht mehr so ruhig. Die Kari, die da in einem langen schwarzen Rock und in weißer Rüschenbluse selbstsicher die Bar betrat, war die Frau, die als Raumausstatterin arbeitete. Diese Kari, die ein perfektes Make-up, Diamanten im Ohr und ihre glatten Haare hochgesteckt trug, wirkte kühler und gleichzeitig reifer als das zwanglose häusliche Wesen, als das ich sie kennengelernt hatte. Als sie mir eine weiche, süß duftende Wange zum Kuß hinhielt und mir unter ihren dichten Wimpern hervor einen bezaubernden Blick schenkte, stellte ich 156
fest, daß ich sie weniger mochte, aber stärker begehrte - beides Reaktionen, die verwirrend und nicht recht waren. Arne war immer noch Arne, das Gegenteil eines Chamäleons seine Persönlichkeit war so festgefügt, daß sie stets ihre Gestalt behielt, wie immer das Umfeld auch aussehen mochte. Er kam festen Schritts in die Bar marschiert und unterzog sie einer schnellen, argwöhnischen Überprüfung, um sicherzugehen, daß niemand ihn belauschen konnte. »Hallo, David«, sagte er und schüttelte kräftig meine Hand. »Was hast du denn den ganzen Tag getrieben?« »Zeit verschwendet«, antwortete ich lächelnd. »Und mich gefragt, was ich als nächstes tun soll.« Wir saßen in einer gemütlichen Nische und tranken (endlich einmal war es die richtige Zeit am richtigen Tag) Whisky. Arne wollte wissen, was für Fortschritte ich gemacht hatte. »Keine großen«, sagte ich. »Man könnte auch sagen: gar keine.« »Es muß sehr schwer sein«, meinte Kari mitfühlend, und Arne pflichtete ihr kopfnickend bei. »Woher weißt du, wonach du suchen sollst?« »Meistens suche ich nichts. Ich sehe mir an, was da ist.« »Alle Detektive suchen nach etwas. Nach Hinweisen. Sie verfolgen Spuren. Erzähl mir doch nichts.« »Und geraten in Sackgassen und auf falsche Fährten«, entgegnete ich. Sie sah mich mit gerunzelter Stirn an, blieb aber bei ihrer Frage: »Wie klärst du ein Verbrechen auf?« »Hm… man stellt sich vor, was man selbst getan hätte, wenn man der Verbrecher gewesen wäre, und dann versucht man herauszufinden, ob er’s so gemacht hat. Und manchmal liegt man richtig.« 157
»Niemand sonst klärt Verbrechen so auf wie David«, meinte Arne. »Da irrst du dich gewaltig«, widersprach ich. »Was hat denn deiner Meinung nach der Gangster diesmal gemacht?« wollte Kari wissen. Ich sah ihr in die klaren grauen Augen, die jene Frage stellten, die ich nicht beantworten konnte, ohne uns diesen Abend gründlich zu verderben. »Diesmal waren es mehr als einer«, antwortete ich neutral. »Emma Sherman hat zwei gesehen.« Wir unterhielten uns eine Weile über Emma. Arne hatte ihren Großvater während seines Kurzbesuches in Oslo kennengelernt und wußte, daß er die beiden Eindringlinge nicht hatte identifizieren können. »Und niemand hat eine Ahnung, was sie gesucht haben«, sagte Kari nachdenklich. »Die beiden Männer wußten es«, gab ich zurück. Arne riß plötzlich die Augen weit auf, was mal etwas anderes war als seine sonstige Blinzelei. »Ja, das stimmt«, sagte er. »Natürlich wußten sie es«, sagte Kari. »Ich sehe den Sinn deiner Bemerkung nicht.« »So tiefsinnig war sie auch nicht. Ich wollte nur sagen, daß es irgendwo irgend jemanden gibt, der weiß, was fehlt. Oder fehlte, denn vielleicht ist es ja inzwischen gefunden worden.« Kari dachte darüber nach. »Warum, glaubst du, haben sie Shermans Haus nicht sofort durchsucht, also gleich, nachdem sie Bob Sherman umgebracht hatten? Warum haben sie einen ganzen Monat gewartet?« Arne fing wieder an wie wild zu blinzeln, überließ es aber mir, Karis Frage zu beantworten. »Ich glaube«, sagte ich, »der Grund war, daß Bob Sherman 158
gefunden wurde, aber nicht mehr das bei sich hatte, hinter dem jemand her war, was immer es auch sein mag.« Ich machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Also: Mr. X bringt Bob um und versenkt ihn im Teich, und zwar aus einem Grund, der uns noch unbekannt ist. Nehmen wir an, daß dies geschah, nachdem Bob ein aus England mitgebrachtes Päckchen übergeben hatte. Nehmen wir weiter an, daß Bob das Päckchen aufgemacht und einen Teil seines Inhalts herausgenommen hatte, was Mr. X aber erst entdeckte, nachdem er Bob getötet und im Teich versenkt hatte. Soweit alles klar? Mr. X kann also nur raten, ob Bob den fehlenden Inhalt in seinen Taschen oder in seiner Reisetasche hatte - in welchem Falle das Fehlende sicher bei ihm im Teich ruhen würde - oder ob er das, was er dem Päckchen entnommen hatte, an einen anderen weitergegeben oder vielleicht sogar an die eigene Adresse nach England geschickt hatte, bevor er getötet worden war. Mr. X könnte das erst endgültig klären, wenn er Bob aus dem Teich holte. Je länger der fehlende Inhalt nicht auftaucht, desto sicherer glaubt Mr. X, daß er bei Bob sein muß. Gut. Aber dann wird Bob gefunden, und das Fehlende fehlt immer noch. Deshalb wird ein Suchtrupp losgeschickt, der herausfinden soll, ob Bob das Fehlende schon zu Hause, also vor seiner Abreise aus England, aus dem Päckchen herausgenommen hat. Emmas Pech war es nun, daß sie genau zu diesem Zeitpunkt nach Hause fuhr, um sich ein paar frische Sachen zu holen.« Karis Mund hatte sich langsam geöffnet. »Puuuh!« sagte sie. »Und es schien eine so simple kleine Frage zu sein.« »Habe ich dir doch gesagt«, meinte Arne. »Gib ihm eine Tatsache, und er errät den Rest.« »Das ist alles nur geraten.« Ich lächelte. »Ich weiß nicht, warum sie einen Monat gebraucht haben, bis sie mit der Suche begannen. Habt ihr eine Idee?« Kari sagte: »Aber es muß so sein, wie du sagst. Es klingt so 159
einleuchtend…« »… wie, daß die Erde flach ist.« »Bitte?« »Alles klingt einleuchtend, bis man es besser weiß.« Wir gingen zum Essen. Eine Kapelle spielte, und es wurde getanzt, und später, als wir unseren Kaffee tranken, trat auch eine Sängerin auf. Das alles war für Arne schließlich zuviel - er stand ganz plötzlich auf, sagte, er brauche dringend frische Luft, und stürzte wie zwanghaft zur Tür. Wir sahen ihm nach. »Hat er das schon lange?« fragte ich. »Schon seit ich ihn kenne. Obwohl es in letzter Zeit etwas schlimmer geworden zu sein scheint. Abhörgeräte haben ihm früher keinen Kummer bereitet.« »Er hat nur nicht gewußt, daß es sie gibt.« »Hm, ja… das stimmt.« »Wie hat es denn angefangen? Ich meine, dieser Verfolgungswahn.« »Tja… ich weiß nicht, durch den Krieg, nehme ich an. Als er noch ein Kind war. Ich bin ja erst danach geboren, aber Arne hat ihn als Kind miterlebt. Sein Großvater wurde als Geisel erschossen, und sein Vater war in der Widerstandsbewegung. Arne sagt, er hätte als Kind immer Angst gehabt, hätte dabei aber nicht immer so genau gewußt, wovor eigentlich. Manchmal hat ihn sein Vater als Boten losgeschickt und gesagt, er solle sich immer vergewissern, daß ihm niemand folgt. Arne sagt, er habe immer schreckliche Angst gehabt, daß er sich umdreht und hinter sich einen großen Mann sieht, der ihn verfolgt.« »Armer Arne«, sagte ich. »Er ist schon bei Psychiatern gewesen«, sagte Kari. »Er weiß es… kann aber trotzdem nichts dagegen machen.« Sie sah von mir fort zu den Paaren, die sich langsam auf dem glatten 160
Viereck des Tanzparketts im Kreise drehten. »Er kann Tanzen nicht ausstehen.« Nach ein paar Sekunden fragte ich sie: »Möchtest du?« »Er hätte sicher nichts dagegen.« Sie stand ohne zu zögern auf und tanzte mit einem natürlichen Gefühl für Rhythmus. Sie wußte durchaus, daß ich sie gern so dicht bei mir hatte - das konnte ich in ihren Augen lesen. Ich fragte mich, ob sie Arne wohl schon jemals untreu gewesen war oder werden würde. Ich fragte mich die uralten Fragen. Dagegen ist man machtlos. Sie lächelte und schob sich an mich heran, bis sich unsere Körper mehr als nur flüchtig berührten - und das tut keine Frau, wenn sie es nicht möchte. Was wir von diesem Augenblick an vollzogen, war ein Geschlechtsakt, in aufrechter Haltung, tanzend, in aller Öffentlichkeit und voll bekleidet, aber nichtsdestoweniger war es ein Geschlechtsakt. Ich wußte theoretisch durchaus, daß eine Frau ohne eigentlichen Geschlechtsverkehr zu einem heftigen Orgasmus kommen kann, ja daß einige das schon schaffen, wenn sie mit sich allein sind und sich nur erotischen Phantasien hingeben, aber ich hatte es noch nie miterlebt. Bei Kari kam es dazu, weil sie es wollte. Weil sie sich, eng an mich geschmiegt, bei jedem Tanzschritt an mir rieb. Weil ich es nicht erwartete. Weil ich sie nicht von mir wegschob. Ihre Atemzüge wurden langsamer und tiefer, und ihre Augen verloren ihr Strahlen. Ihr Mund war jetzt geschlossen, zeigte ein schwaches Lächeln. Sie hatte den Kopf hoch erhoben und hielt sich sehr gerade, sah eher in sich gekehrt und geistesabwesend als leidenschaftlich erregt aus. Dann, ganz plötzlich, wurde sie glühendheiß, und ich spürte, wie ihr Körper von den Augen bis tief hinab fast zwanzig Sekunden lang sanft, aber intensiv pulsierte. Danach holte sie einmal ganz tief Luft, als wenn ihr kurzzeitig 161
der Atem weggeblieben wäre. Ihr Mund öffnete sich wieder, ihr Lächeln wurde wieder strahlend, und sie löste sich von mir. Ihre Augen wurden so hell wie Sterne und lachten in die meinen. »Danke«, sagte sie. Sie hatte genug getanzt. Sie blieb stehen, ging dann zum Tisch zurück und nahm ungezwungen Platz, als wenn nichts geschehen wäre. Herzlichen Dank auch, dachte ich, und was ist mit mir? Mir blieb dieses durch kein Kratzen zu beruhigende Jucken, dieses Verlangen, das ich auch später nicht selbst zu stillen vermochte wie sie eben, denn das hatte mir noch nie allzu großen Spaß gemacht. »Noch Kaffee?« fragte ich, weil ich annahm, daß man etwas sagen mußte. Oder hätte ich sagen sollen: Hol dich der Geier, du selbstsüchtiges kleines Biest! »Danke, ja«, antwortete sie. Der Ober brachte den Kaffee. Die Zivilisation trug den Sieg davon. Arne kam wieder herein, sah zerzaust und ein bißchen glücklicher aus. Kari legte warm und verständnisvoll ihre Hand auf seine, und ironischerweise mußte ich daran denken, daß ich mich gefragt hatte, ob sie ihm wohl schon jemals untreu gewesen war. Die Antwort war ja und nein. Sie war es und war es auch wieder nicht - sie hatte eine perfekte Methode, untreu und treu zugleich zu sein. Wenig später gingen sie - nicht ohne mich gedrängt zu haben, noch einen Abend bei ihnen zu verbringen, bevor ich wieder nach Hause flog. »Wir sehen uns am Sonntag in Øvrevoll«, sagte Arne. »Wenn nicht schon vorher.« Als sie gegangen waren, holte ich mir meinen Koffer beim Hausdiener ab und ging zum Empfang. Es gab fünf freie 162
Zimmer, unter denen ich wählen konnte, und ich ergriff aufs Geratewohl einen Schlüssel. Er öffnete mir ein geräumiges Doppelzimmer mit Balkon und Blick auf das Parlamentsgebäude. Ich machte die festverschlossene Balkontür auf und ließ einen von der Arktis kommenden Windstoß herein, der sich übel auf die Zentralheizung auswirkte. Dann schloß ich die Tür wieder, ging fröstelnd zu Bett, lag lange wach und dachte über vieles nach, aber kaum über Kari. Am folgenden Morgen kam Erik zum Frühstück ins Hotel. Er setzte sich mit breitem Lächeln zu mir, holte sich dann eine halbe Tonne gemischten marinierten Fisch vom Büfett und aß, als gäbe es kein Morgen. »Wohin?« fragte er nach zwei weiteren Brötchen, vier Scheiben Käse und einigen Tassen Kaffee. »Øvrevoll«, sagte ich. »Aber da sind heute gar keine Rennen.« »Ich weiß.« »Na schön, wenn Sie es denn so wollen, dann mal los.« Odin war freundlich gestimmt und saß genau in der Mitte, hatte seinen Rumpf zwischen Vorder- und Rücksitz geklemmt und die Handbremse unter seinen Vorderpfoten und seinem riesigen Schädel begraben. Wenn ihm Erik mit dem Ellbogen einen kleinen Stoß versetzte, hob der Hund die Schnauze gerade so lange, daß sein Herr die Bremse lösen konnte. Ein eingespieltes Duo, wie es schien. Die Fahrt bedeutete eine unausgesetzte direkte Konfrontation mit dem Tod, aber wir gelangten trotzdem ans Ziel. Der Haupteingang der Rennbahn war geöffnet, und verschiedene Lieferwagen standen auf dem Asphaltplatz im Inneren, weshalb wir einfach hineinfuhren und in der Nähe des Wiegeraums hielten. Erik und Odin falteten sich auseinander und streckten ihre Beine, während ich meine kurze und vergebliche Mission unternahm. 163
Im Gebäude des Wiegeraums war man beim Saubermachen genauer ein Mann und zwei Frauen, die alle drei kein Englisch sprachen. Ich ging wieder hinaus und beschwatzte Erik (was mehr als leicht war), das Reden für mich zu besorgen. Er fragte, hörte zu und gab die schlechte Nachricht weiter. »Sie sagen, Bob Shermans Sattel hätte lange hier gehangen, im Umkleideraum, am Haken in der Ecke.« Ich hatte mich gerade erst im Umkleideraum umgesehen. Keine Sättel an irgendwelchen Haken, keine Spur von Bobs Sattel. »Sie sagen, er sei ungefähr zu der Zeit verschwunden, als man die Leiche im Teich gefunden habe. Sie wissen aber nicht, wer ihn weggeholt hat.« »Das war’s dann wohl.« Wir verließen das Gebäude wieder und schlenderten die wenigen Schritte zum Geländer an der Rennbahn hinüber. Der Morgen war eisig, der Wind frisch, die Bäume seufzten. Der Winter stand vor der Tür, Schnee war im Anmarsch. Hinten auf der Sandbahn ging Gunnar Holths Lot gerade in einen Kanter über, und wir beobachteten die Pferde, wie sie auf uns zukamen, in leichtem Galopp den Zielpfosten erreichten und oben, wo der Teich lag, den Bogen durchliefen. Ganz vorn ritt Paddy O’Flaherty mit seiner hellen Wollmütze - er führte das Feld an und bestimmte das Tempo. Da das Rennen am nächsten Tag stattfand, war dies nur eine Aufwärmübung, und die Pferde gingen auch schon wieder im Schritt und kehrten zum Stall zurück. »Die nächste Haltestelle«, sagte ich, »ist Gunnar Holths Stall.« Wir hielten gerade in dem Augenblick im Hof, als die Pferde von der Rennbahn zurückkamen und unter ihren Decken wie kochende Wasserkessel dampften. Gunnar Holth selbst sprang von Per Bjørn Sandviks Whitefire, tätschelte dem Pferd kräftig 164
den Hals und wartete darauf, daß ich das Spiel eröffnete. »Morgen«, sagte ich. »Morgen.« »Kann ich Sie mal sprechen?« Er nickte resigniert, führte Whitefire in den Stall, kam zurück, machte eine Kopfbewegung in Richtung seines Bungalows und öffnete die Haustür. Erik zog es diesmal vor, im Auto sitzen zu bleiben, wofür ihm Gunnar Holth, der inzwischen Odin entdeckt hatte, dankbar zu sein schien. »Kaffee?« Die gleiche orangefarbene Kanne auf dem Ofen und wahrscheinlich auch der gleiche Kaffee. »Ich suche Bob Shermans Sattel«, sagte ich. »Seinen Sattel? Hat er ihn denn nicht dagelassen? Soweit ich gehört habe…« »Ich dachte, Sie wüßten vielleicht, wer ihn hat. Ich möchte ihn gern wiederfinden… er gehört ja jetzt seiner Frau.« »Und Sättel sind einiges wert«, sagte er mit einem Kopfnicken. »Ich habe den Sattel aber nicht gesehen und weiß auch nicht, wer ihn hat.« Ich fragte ihn noch zweimal in verdeckter Form und war schließlich überzeugt, daß er wirklich nichts wußte. »Ich werde mal Paddy fragen«, sagte ich. Aber auch Paddy wußte nur wenig zum Thema beizutragen. »Er war da, ganz bestimmt, bis sie den armen Teufel aus dem Wasser gezogen haben. Ich hab ihn mit Sicherheit noch am Tag des Grand National dort gesehen. Aber beim nächsten Meeting, also am Donnerstag danach, da war er weg.« »Sind Sie ganz sicher?« »So sicher wie ich hier stehe.« 165
Ich sagte milde: »Warum? Warum sind Sie so sicher?« Seine Augenlider zuckten. »Also… was das angeht, ja…« »Paddy«, sagte ich, »spucken Sie’s aus.« »Äh…« »Haben Sie ihn an sich genommen?« »Nein«, sagte er entschieden, »das habe ich nicht.« Der Gedanke empörte ihn offensichtlich. »Was ist denn mit ihm passiert?« »Also gut. Sie müssen verstehen, der Bob, das war ’n echter Kumpel… und… na ja, ich war ganz sicher, daß er’s so gewollt hätte…« Er wurde langsamer und hörte ganz auf. »Was gewollt hätte?« »Hören Sie, das war kein Diebstahl oder irgend so was.« »Paddy, was haben Sie gemacht?« »Also… da war mein Helm, verstehen Sie, und da war sein Helm, da bei seinem Sattel. Na ja, und bei meinem Helm war ein Riemen gerissen, und Bobs hing da und war noch so gut wie neu, da hab ich sie einfach ausgetauscht…« »Und das war am Tag des Grand National?« »Genau. Und am nächsten Renntag, nachdem Bob gefunden worden war, da war sein Sattel weg. Und mein Helm auch.« »Dann ist Bobs Helm also… hier?« »So ist es. In der Kiste unter meiner Koje.« »Würden Sie ihn mir für eine Weile ausleihen?« »Ausleihen?« Er war überrascht. »Ich dachte, Sie würden ihn mir ganz wegnehmen wollen, wo er doch jetzt eigentlich seiner Alten gehört.« »Ich denke, sie wäre froh, wenn Sie ihn behielten.« »Das ist nämlich ein guter Helm, wirklich.« Paddy ging, holte den Helm und übergab ihn mir - es war ein 166
ganz gewöhnlicher, den Bestimmungen entsprechender, mit einem Kinnriemen versehener Sturzhelm für Jockeys. Ich dankte Paddy, sagte, er werde ihn zurückbekommen, winkte Gunnar Holth zum Abschied zu und begab mich auf die gefahrvolle Rückreise in die Stadtmitte von Oslo. Zwischen Schwüngen und Stößen zog ich das Innenpolster aus dem Helm heraus und sah darunter nach. Keine Fotos, Papiere oder andere fehlende Objekte. Nur die schwarze, der Norm entsprechende Polsterung. Ich schob sie wieder hinein. »Kein Erfolg?« erkundigte sich Erik mitfühlend, wobei er um Odin herum zu mir herübersah. »Man muß alle Steine umdrehen.« »Welcher Stein kommt jetzt?« »Lars Baltzersen.« Der Weg zu seiner Bank führte am Grand Hotel vorbei, weshalb ich dort kurz ausstieg und Bob Shermans Helm beim Hausdiener abgab, der schon meinen erneut gepackten Koffer in seine Obhut genommen hatte. Er meinte, er wolle auf alles, was ich ihm anvertraute, gut aufpassen. Ich gab ihm drei Zehnkronenscheine, und er nahm sich ihrer mit einem Lächeln an. Lars hatte schon fast aufgegeben. »Dachte schon, Sie hätten Ihre Meinung geändert«, sagte er und führte mich in sein Büro. »Ich mußte einen Umweg machen«, sagte ich entschuldigend. »Gut, jetzt, wo Sie da sind…« Er holte eine Flasche Rotwein und zwei Gläser aus einem diskreten Schrank und schenkte uns ein. Sein Büro wies - wie das Sandviks und Torps - die typische skandinavische Einrichtung moderner Machart auf. Die Geschäftswelt mußte vermutlich zeigen, daß sie auf der Höhe der Zeit war, aber was die persönlichen Aspekte anbetraf, so 167
waren diese Inneneinrichtungen als Informationsquelle denkbar unergiebig. An Baltzersens Wänden gab es keine Karten. Statt dessen Bilder von Häusern, Fabriken, Bürogebäuden, fernen Häfen. Als ich ihn fragte, erklärte er mir, daß seine Bank hauptsächlich mit der Finanzierung von Industrieprojekten befaßt sei. »Eine Handelsbank«, sagte er. »Wir betreiben außerdem eine Bausparkasse nach dem Muster der englischen Building Societies. Nur ist hier natürlich das Zinsniveau niedriger, so daß die Darlehen billiger kommen.« »Beklagen sich da die Investoren nicht?« »Sie erzielen fast denselben Gewinn wie britische Investoren. Das kommt daher, daß norwegische Bausparkassen keine hohen Steuern zahlen müssen. Es sind die Steuern, die die britischen Baudarlehen so teuer machen.« Er erzählte mir, daß es in Norwegen sehr viele kleine Privatbanken gebe, die auch Bausparkassen betrieben, daß seine aber eine der größten sei. »Um Oslo herum ist Bauland entsetzlich knapp«, sagte er. »Für junge Paare ist es sehr schwer, ein Haus zu finden. Aber draußen auf dem Land, da stehen ganze Gehöfte leer und verfallen allmählich. Die alten Leute sind gestorben oder nicht mehr kräftig genug, um die Felder zu bestellen, und die jungen Leute haben dem harten Leben draußen den Rücken gekehrt und sind in die Stadt gezogen.« »Überall dasselbe«, sagte ich. Ihm seien die Holzhäuser die liebsten, sagte er. »Sie atmen.« »Und wie steht’s mit Bränden?« »Das war immer eine schreckliche Gefahr. Früher sind manchmal ganze Städte abgebrannt. Aber heute ist unsere Feuerwehr so schnell und so gut, daß man, wie ich höre, sein Haus schon unter Benzin setzen muß, wenn man es abbrennen 168
will, um an die Versicherungssumme zu kommen. Andernfalls wird das Feuer schon beim Aufsteigen des ersten Rauchwölkchens gelöscht.« Wir tranken unseren Wein, und Lars rauchte eine Zigarette. Ich fragte ihn nach seiner Zeit in London und nach seinen Autorennen in Schweden, aber er schien sich für das alles nicht mehr zu interessieren. »Das ist Vergangenheit und vorbei«, sagte er. »Heute denke ich nur noch ans Bankgeschäft und an Øvrevoll.« Er erkundigte sich, ob ich schon wisse, wer Bob Sherman umgebracht habe. In der Art, wie er die Frage formulierte, lag ein großes Zutrauen. »Noch nicht«, antwortete ich. »Welche Höhe dürfen denn die Unkosten erreichen?« Ich konnte ihn nicht auf einen bestimmten Betrag festnageln. Es sah so aus, als gäbe es im Erfolgsfall keinerlei Begrenzung. Wenn ich keinen Erfolg hatte, dann war das Konto schon jetzt überzogen. »Haben Sie schon irgendeine Idee?« fragte er. »Ideen sind nicht genug.« »Sie brauchen auch Beweise, nehme ich an.« »Hm… ich muß es halt wie die Wilddiebe machen.« »Wie meinen Sie das?« »Fallen stellen«, antwortete ich. »Und nicht in die Fallen anderer Wilddiebe reinlaufen.« Ich stand auf und verabschiedete mich. Auch er meinte, mein Besuch sei Zeitverschwendung gewesen, weil er mir schließlich nichts Brauchbares habe mitteilen können. »Man kann nie wissen«, sagte ich. Erik und ich aßen in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Polizeipräsidiums zu Mittag, weil ich vorhatte, nach dem Essen 169
seinen Bruder aufzusuchen. Er habe ab zwei Uhr dienstfrei, hatte er mir am Telefon gesagt. Wenn das ausreiche, könnten wir uns treffen, bevor er nach Hause gehe. Erik verbrachte den größten Teil der Mahlzeit damit, mir in allen Einzelheiten darzulegen, warum alle Revolutionen in Trübsal endeten - weil nämlich kein Revolutionär Sinn für Humor habe. »Wenn die Aktivisten etwas von Komik verstünden«, meinte er, »würden die Arbeiter schon längst die Welt beherrschen.« »Witzeerzählen sollte zum Schulfach gemacht werden«, schlug ich vor. Er sah mich mißtrauisch an. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« »Ich dachte, darum ginge es.« »O Gott, ja«. Er lachte. »Sie haben recht. Warum nur verbringen Sie Ihr Leben mit der Schnüffelei?« »Neugier.« »Kann zu einem schlimmen Ende führen.« »Seien Sie ruhig.« »Pardon«, sagte er grinsend. »Jedenfalls sind Sie ja noch heil. Wie haben Sie sich eigentlich auf Ihre Tätigkeit vorbereitet? Gibt es so was wie eine Schule für Detektive?« »Ich glaube nicht. Ich habe studiert und es dann in der Wirtschaft versucht. Gefiel mir aber nicht. Unterrichten mochte ich auch nicht. Zu Pferderennen gehen mochte ich… also hab ich das zu meinem Job gemacht.« »Das ist ja die schärfste Karrierestory, die mir je zu Ohren gekommen ist, und als Klatschkolumnist habe ich schon so einiges zu hören gekriegt. Was haben Sie wo studiert?« »Psychologie. In Cambridge.« »Aha«, meinte er. »Das sagt alles.« 170
Er vertraute seinen Wagen Odin an und begleitete mich zu Knuts Büro hinauf. Knut war nach einer offensichtlich frustrierenden Schicht müde, denn als wir bei ihm eintraten, gähnte er und rieb sich die Augen. »Tut mir leid«, sagte er, »aber ich bin seit zwei Uhr heute morgen auf den Beinen.« Er schüttelte schnell seinen Kopf, um wieder klar denken zu können. »Aber gut, was kann ich für Sie tun?« »Im Augenblick nichts Konkretes. Sagen Sie mir nur, ob Ihre Richtlinien es Ihnen gestatten würden, ein Kaninchen zu fangen, wenn ich es aus dem Bau rauslocke.« Ich wandte mich an Erik. »Erklären Sie’s ihm. Kann er mir, wenn ich eine Falle aufstelle, behilflich sein, wenn ich sie zuschnappen lasse? Wäre ihm das erlaubt, und würde er es gern persönlich tun?« Die Brüder berieten sich in ihrer Muttersprache - Knut ernst, beherrscht und übermüdet, Erik dagegen mit unbeherrschten Gesten, bohemienhafter Kleidung und wildem, dünnem Haar. Erik war zwar der Ältere, seine Lebenskraft war aber noch völlig ungebrochen. Zuletzt nickten beide. Knut sagte: »Solange es nicht gegen irgendwelche Bestimmungen verstößt, werde ich helfen.« »Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Er lächelte matt. »Sie erledigen meine Arbeit.« Er holte Mantel und Mütze und begleitete uns dann nach unten. Wie sich herausstellte, hatte er sein Auto in der gleichen, an einem kleinen, eingezäunten Park vorbeiführenden Seitenstraße geparkt wie Erik. Eriks Wagen stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Ungefähr drei Meter von ihm entfernt standen ein rundes Dutzend Kinder und ein unsicher dreinblickender Polizist im Halbkreis um ihn herum. Beim Anblick Knuts wechselte der Gesichtsausdruck des Polizisten von Unsicherheit zu 171
Dankbarkeit - er grüßte und machte sich daran, seine Besorgnis auf jemand anderen abzuwälzen. Erik übersetzte für mich. Er sah verwirrt aus. »Eines der kleinen Mädchen sagt, ein Mann habe ihr aufgetragen, auf gar keinen Fall dicht an das Auto heranzugehen, sondern so schnell nach Hause zu rennen, wie sie nur könne.« Ich besah mir das Auto. Odin schaute nicht wie sonst durch die Frontscheibe nach draußen, sondern hatte sich umgedreht und sah zur Heckscheibe hinaus, beäugte jedoch nicht interessiert die Menge, sondern spähte nach unten. In der Welt des Hundes schien irgend etwas nicht in Ordnung zu sein. Er stand ganz steif da. Viel zu angespannt. Und der Kofferraumdeckel war nicht mehr mit einem Stück Bindfaden zugebunden. »O Gott«, sagte ich. »Schicken Sie die Kinder weg. Schnell, sie sollen laufen.« Alle starrten mich nur an und rührten sich nicht von der Stelle. Sie waren auch nicht am 8. März 1973 in London in der Nähe des Old Bailey gewesen. »Es könnte eine Bombe sein«, sagte ich.
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12 Die Kinder erkannten das Wort, aber sie glaubten es natürlich nicht. Die Leute in London hatten es auch nicht geglaubt, bis ihnen dann die herumfliegenden Glassplitter die Gesichter zerschnitten. »Sagen Sie ihnen, sie sollen laufen«, sagte ich zu Knut. Er entschloß sich, die Sache ernst zu nehmen, auch auf die Gefahr hin, daß es sich um einen falschen Alarm handelte. Er sagte etwas Unmißverständliches zu dem Polizeibeamten, und er ergriff Eriks Arm. Er kannte seinen Bruder und hatte ihn wohl besonders gern. Er packte zu, gerade als Erik leise »Odin« sagte und den ersten Schritt auf das Auto zu tun wollte. Es war fast ein Ringkampf. Knut wollte Erik nicht loslassen, und dieser geriet außer sich. Knut umklammerte daraufhin den Arm seines Bruders mit einem Griff, der einen besoffenen Schwergewichtsboxer an jeder weiteren Bewegung gehindert hätte, und Eriks Gesicht verzerrte sich vor Verzweiflung. Die beiden zogen sich einen umkämpften Schritt nach dem anderen vom Auto zurück. Der Polizist hatte die Kinder in eine sichere Entfernung gescheucht und schrie herankommenden Fußgängern zu, sie sollten in Deckung gehen. Niemand beachtete mich. Wie der Blitz sauste ich zum Auto, zerrte die Tür auf und rannte um mein Leben. Aber selbst jetzt wollte der elende Hund nicht gleich aus dem Auto herauskommen. Dazu bedurfte es erst eines trommelfellzerreißenden Pfiffs von Erik - da endlich kam mir Odin mit großen Sätzen über den Bürgersteig nachgesprungen, als dächte er, wir wollten spielen. 173
Die Bombe ging genau in dem Augenblick hoch, als Odin mich eingeholt hatte und wir etwa zwanzig Meter vom Auto entfernt waren. Der Explosionsdruck traf uns wie ein schwerer Schlag in den Rücken und warf uns zu Boden - die Wucht war so ungeheuer groß, daß wir keine Luft mehr kriegten und schlaff und schwer mitgenommen auf der Erde lagen. An irischen Maßstäben gemessen keine große Bombe. Aber diese war wahrscheinlich auch nicht dazu bestimmt gewesen, ein ganzes Viertel zu zerstören. Nur die Insassen eines Autos. Zwei Männer und einen Hund. Knut half mir auf, während Erik sich Odins Halsband schnappte, niederkniete und ihn tröstend tätschelte. Odin, fast wieder so munter wie immer, sabberte ihn dafür von oben bis unten voll. »Das war dumm«, sagte Knut. »Ja«, gab ich zu. »Sind Sie verletzt?« »Nein.« »Sie hätten es verdient.« »Vielleicht hätte es noch Stunden gedauert, bis sie hochgegangen wäre.« »Sie hätte aber auch hochgehen können, als Sie noch danebenstanden.« Eriks Auto war hin. Herausgedrückte Scheiben, zerfetzte Sitze, ein aufgesprengter Kofferraum. Ich zupfte mir kleine Glassplitter aus dem Haar auf meinem Hinterkopf und fragte Erik, ob das Auto versichert sei. »Ich weiß nicht«, antwortete er zerstreut. Er rieb sich den Arm an der Stelle, wo Knut ihn festgehalten hatte. »Knut wollte, daß ich warte, bis ein Experte nachgesehen hätte, ob es wirklich eine Bombe sei, und sie, wenn ja, entschärft hätte.« »Damit hatte Knut vollkommen recht.« 174
»Sie hat er aber nicht zurückgehalten.« »Ich bin auch nicht sein Bruder. Er hatte mit Ihnen schon genug zu tun, und überhaupt war die Bombe wahrscheinlich für mich bestimmt.« »Was für eine grausige Todesart.« Er richtete sich wieder auf und grinste plötzlich über das ganze Gesicht »Wie auch immer, herzlichen Dank«, sagte er. Was ganz schön hochherzig war, wenn man an den Zustand seines Volvos dachte. Jetzt, wo das Feuerwerk vorbei war, kamen auch die Kinder wieder zurück und bestaunten mit großen Augen das Wrack. Ich bat Knut, das kleine Mädchen ausfindig zu machen, dem der Unbekannte gesagt hatte, es solle nach Hause laufen, aber Knut hatte schon den Polizisten nach ihr losgeschickt. Vom Auto einmal abgesehen, war kaum Schaden entstanden. Bei einem finster aussehenden Gebäude auf der anderen Straßenseite waren ein paar Scheiben zu Bruch gegangen, aber weder der Gitterzaun noch die zitternden Parkbüsche neben dem Volvo schienen gelitten zu haben. Autos, die ein paar Meter entfernt vor und hinter dem Volvo standen, hatten durch herumfliegende Glassplitter ein paar Kratzer abbekommen, waren sonst aber unbeschädigt. Wäre die Bombe während der Fahrt durch eine der geschäftigen Straßen Oslos hochgegangen, so hätte sie weitaus größeren Schaden angerichtet. Das kleine Mädchen war blond, ernst, in einen roten Anorak mit Kapuze eingepackt und erschien in Begleitung eines größeren, ungefähr dreizehnjährigen, schimpfenden Mädchens, das sich eigentlich um die Kleine hatte kümmern sollen und nun damit beschäftigt war, sich zu rechtfertigen. Knut gewann - wie schon bei dem Jungen auf der Rennbahn - schnell das Zutrauen des kleinen Mädchens, indem er sich vor ihm hinkauerte und in ruhigem Ton mit ihm plauderte. Ich lehnte am Gitterzaun, und mir war kalt. Ich sah Erik zu, wie er immer wieder über Odins Fell strich, und es entging mir 175
nicht, daß er mit seinen kleinen, beherrschten Gesten langsam eine gewaltige innere Anspannung abbaute. Odin schien das alles großen Spaß zu machen. Knut stand auf und nahm das kleine Mädchen bei der Hand. »Sie heißt Liv und ist vier Jahre alt. Sie wohnt ein paar hundert Meter von hier und hat mit ihrer Schwester im Park gespielt. Sie ist aus dem Tor dort hinten gekommen und die Straße hinuntergegangen. Ihre Schwester hatte ihr das zwar verboten, aber Liv meint, sie tue nie, was ihre Schwester ihr sage.« »Die Schwester ist verdammt diktatorisch«, ließ sich Erik plötzlich hören. »Kleine Faschistin!« »Liv sagt, da wäre ein Mann gewesen, der hätte hinten am Auto einen Bindfaden durchgeschnitten, und der große Hund hätte ihm durch die Scheibe zugeschaut. Sie wäre stehengeblieben und hätte auch zugesehen. Sie hätte hinter dem Mann gestanden, der sie weder gesehen noch gehört hätte. Sie sagt, er hätte etwas aus seinem Mantel hervorgeholt und in den Kofferraum gelegt, aber sie hätte nicht erkennen können, wie es ausgesehen habe. Der Mann hätte dann versucht, den Kofferraum wieder zuzumachen, aber die Schnur wäre zu kurz gewesen, weil er sie ja durchgeschnitten hatte. Er hätte den Bindfaden wieder in die Tasche gesteckt und im gleichen Augenblick sie, Liv, bemerkt. Er hätte ihr gesagt, sie solle weggehen, aber Liv scheint ein Kind zu sein, das immer das Gegenteil von dem tut, was man ihm sagt. Sie wäre also zum Auto hingegangen und hätte sich durch die Seitenfenster den Hund angesehen, der Hund hätte jedoch immer weiter zum Heckfenster hinausgeschaut. Da hätte der Mann sie geschüttelt und ihr gesagt, sie solle sofort nach Hause laufen und ja nicht in der Nähe des Autos spielen. Dann wäre er weggegangen.« Knut sah auf die kleine Schar der Kinder hinab, die sich wieder um Liv zu sammeln begann. 176
»Sie gehört zu den Kindern, die andere anziehen. Wie jetzt. Die anderen Kinder, sagt sie, wären aus dem Part, gekommen, und sie hätte ihnen von dem Mann erzählt und wie er den Bindfaden zerschnitten und dann versucht hätte, damit den Kofferraum wieder zuzubinden. Wie es scheint, hat sie das am meisten interessiert. Dann kam ein Polizist auf seinem Weg zum Nachmittagsdienst vorbei, und er hat die Kinder gefragt, warum sie dort herumstünden.« »Und dann kamen wir?« »Ja.« »Hat Liv auch gesagt, wie der Mann aussah?« »Groß, sagt sie. Aber für kleine Mädchen sind ja alle Männer groß.« »Konnte sie sein Haar sehen?« Knut fragte das Mädchen. Liv antwortete ihm. Knut sagte: »Sie sagt, er hätte eine Wollmütze aufgehabt, wie ein Seemann.« »Was hatte er für Augen?« Knut fragte. Sie hob ihre klare, hohe, feste Stimme, und alle Kinder schienen interessiert. »Er hätte gelbe Augen gehabt. Scharf wie die eines Vogels.« »Hatte er Handschuhe an?« Knut befragte Liv. »Ja«, berichtete er. »Was für Schuhe?« Zurück kam die Antwort: große, weiche, wie man sie auf einem Boot trägt. Kinder waren doch die besten Zeugen, die es auf Erden gab. Ihre Augen sahen klar, ihr Gedächtnis war genau, und ihre Eindrücke wurden nicht auf ihre Wahrscheinlichkeit hin geprüft oder durch Vorurteile interpretiert. Als Liv noch etwas hinzufügte, was Knut, Erik und die anderen Kinder zum Lachen 177
brachte, fragte ich, was sie gesagt hatte. »Sie muß sich geirrt haben«, sagte Knut. »Was hat sie denn gesagt?« »Sie sagte, er hätte einen Schmetterling am Hals gehabt.« »Fragen Sie sie, was für eine Art von Schmetterling«, sagte ich. »Es ist zu spät für Schmetterlinge«, meinte Knut geduldig. »Zu kalt.« »Fragen Sie sie, wie er aussah«, drängte ich. Er zuckte die Achseln, fragte das Mädchen aber. Die Antwort überraschte ihn offensichtlich, denn Liv nickte bei ihrer Beschreibung des Schmetterlings immer wieder kurz und entschieden mit dem Kopf. Sie wußte, daß sie einen Schmetterling gesehen hatte. Knut sagte: »Sie meint, er hätte ihm hinten auf dem Hals gesessen. Sie hätte ihn sehen können, weil er den Kopf runtergebeugt hätte. Der Falter wäre zwischen der Wollmütze und dem Kragen zu sehen gewesen und hätte sich nicht bewegt.« »Welche Farbe hatte er?« Knut befragte das Mädchen. »Dunkelrot.« »Ein Muttermal?« »Könnte sein«, meinte Knut. Er stellte dem Mädchen noch ein paar weitere Fragen und nickte mir dann zu. »Ich denke, es war eins«, sagte er. »Sie sagt, der Schmetterling hätte zwei Flügel gehabt, die geöffnet und ganz flach gewesen seien, einer aber größer als der andere.« »Jetzt brauchen wir also nur noch einen großen Mann mit gelben Augen und einem schmetterlingsförmigen Muttermal.« »Oder einen kleinen Mann«, sagte Erik, »mit der Sonne in den Augen und einem ungewaschenen Hals.« 178
»Keine Sonne«, sagte ich. Der bleigraue Himmel lastete auf allem wie eine Armeedecke, schwer und ohne jede Wärme. Mein inneres Frösteln hatte jedoch nur wenig mit der Kälte zu tun. Knut schickte jetzt den Polizisten mit dem Auftrag los, die für Fingerabdrücke und Sprengstoffe zuständigen Experten herbeizuholen. Dann notierte er sich die Namen und Anschriften der meisten Kinder. Die Zuschauermenge wurde ein bißchen größer, und Erik fragte Knut unruhig, wann er nach Hause fahren könne. »Womit denn?« fragte Knut anzüglich, und so stapften wir beinahe noch eine Stunde auf dem Bürgersteig hin und her. Bei Einbruch der Dunkelheit kehrten wir in Knuts Büro zurück. Er zog den Mantel aus, nahm die Mütze ab und sah noch müder aus als vorher. Ich fragte ihn, ob ich mal telefonieren dürfe, und rief bei Sandviks an, um mich für mein Ausbleiben zu entschuldigen. Ich bekam schließlich die Frau von Per Bjørn an den Apparat, die erklärte, ihr Mann sei nicht zu Hause. »Mikkel hat auf Sie gewartet, Mr. Cleveland«, sagte sie in einem Englisch mit starkem Akzent, »aber nach einer Stunde ist er mit einem Freund fortgegangen.« »Bitte sagen Sie ihm doch, daß es mir sehr leid tut.« »Ich werde es ausrichten.« »Welche Schule besucht er eigentlich?« »Das College in Gol«, antwortete sie, besann sich dann aber eines Besseren. »Ich glaube nicht, daß mein Mann…« Ich unterbrach sie. »Ich frage mich gerade, ob es nicht möglich wäre, heute abend mit ihm zu sprechen, bevor er zurückfährt.« »Oh… Er fährt mit seinen Freunden zurück. Sie sind schon unterwegs.« »Na, macht nichts.« 179
Ich legte auf. Knut beschaffte gerade Kaffee. »Wo ist das College von Gol?« fragte ich. »Gol liegt in den Bergen, an der Strecke nach Bergen, der Stadt. Im Winter ist es ein Skiort. Das College ist ein Internat für reiche Jungen. Wollen Sie ganz bis dahin fahren, um mit Mikkel zu reden? Er weiß nichts über den Tod von Bob Sherman. Als ich mit ihm gesprochen habe, war er ganz fassungslos, daß sein Freund auf diese Weise umgekommen war. Er hätte mir geholfen, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre.« »Wie fassungslos? Hat er geweint?« »Nein, geweint nicht. Er wurde blaß. War sehr schockiert. Zitterte. War eben fassungslos.« »Aufgebracht?« »Nein. Warum sollte er aufgebracht gewesen sein?« »Im allgemeinen werden Menschen ganz wild, wenn ihre Freunde ermordet werden. Sie würden den Mörder nur zu gern erwürgen, oder nicht?« »Ach, das meinen Sie«, sagte Knut und nickte. »Nein, ich kann mich nicht erinnern, daß Mikkel besonders aufgebracht gewesen wäre.« »Wie ist er so?« »Halt ein Junge. Sechzehn. Nein, siebzehn. Intelligent, aber kein Überflieger. Von durchschnittlicher Größe, schlank, hellbraunes Haar, gut erzogen. Hat nichts Ungewöhnliches an sich. Ein netter Junge. Vielleicht ein bißchen nervös.« Wir saßen herum, tranken unseren Kaffee. Odin bekam auch welchen, in einer Schale und mit einer Menge Zucker. Erik hatte sich von dem Beinahe-Verlust seines Gefährten wieder erholt und fing an, sich Gedanken über sein Auto zu machen. »Ich werde mir wohl eins leihen müssen«, sagte er. »Um David fahren zu können.« 180
»Du fährst David nicht mehr«, sagte Knut mit Entschiedenheit. »Selbstverständlich fahre ich ihn.« »Nein«, sagte Knut, »es ist zu gefährlich.« Es trat eine kurze, bedeutungsvolle Stille ein. Jeder, der mich in Zukunft fuhr, mußte als gefährdet angesehen werden. Was mich als Mitfahrer in höchstem Maße unpopulär machte. »Ich werde schon zurechtkommen«, sagte ich. Erik fragte: »Wo wollen Sie denn als nächstes hin?« »Morgen will ich zu Sven Wangen, dann nach Øvrevoll. Am Montag… hm, das weiß ich noch nicht.« »Ich hätte nichts dagegen, noch einmal so ein großartiges Frühstück zu mir zu nehmen«, meinte er. »Nein«, sagte Knut. Sie stritten eine Weile heftig miteinander, bevor Knut unterlag. Er sah mich mit finsterem Gesicht und zusammengepreßten Lippen an. Dann meinte er: »Erik sagt, wenn er eine Arbeit anfängt, dann bringt er sie auch zu Ende.« Erik grinste und fuhr sich mit der Hand über sein widerspenstiges blondes Haar. »Nur langweilige nicht.« Knut sagte ärgerlich: »Ich nehme an, du weißt, daß einer dieser Versuche zum Erfolg führen wird? Zwei sind schiefgegangen, aber…« »Drei«, warf ich ein. »Schon an meinem ersten Tag in Norwegen hat jemand versucht, mich zu ertränken.« Ich erzählte von der Motorjacht. Knut runzelte die Stirn und meinte: »Das könnte aber auch ein Unfall gewesen sein.« Ich nickte. »Das dachte ich zunächst auch, aber jetzt glaube ich es nicht mehr.« Ich stand auf, um mir noch etwas heißen, starken, schwarzen Kaffee einzuschenken. »Ich bin durchaus Ihrer Meinung, daß sie zuletzt Erfolg haben werden, aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.« »Geben Sie auf und fliegen Sie nach England zurück«, sagte 181
Knut. »Würden Sie das tun?« Er antwortete nicht. Und Erik auch nicht. Es gab keine Antwort auf meine Frage. Knut schickte mich in einem Polizeiwagen zurück ins Grand Hotel, wo ich, da die Bar wieder geschlossen war (Samstag), früh zu Abend aß, meinen Koffer und Bob Shermans Helm beim Hausdiener abholte, mir aus den nicht belegten Zimmern wahllos eins aussuchte und dann den Abend oben allein verbrachte. In einem Sessel sitzend, dachte ich über ein paar schwer zu verdauende Tatsachen nach. Zum Beispiel: Das Glück und kleine Mädchen waren nicht immer zur Stelle. Oder: Beim nächsten Mal konnten sie zum Gewehr greifen, denn ein Schuß aus dem Hinterhalt war die sicherste Methode, jemanden zu töten. Oder: Wenn ich morgen zu den Rennen ging, würde ich den lieben langen Tag Blut und Wasser schwitzen. In dem Gedanken, daß das alte Gelbauge mit seinem Muttermal vielleicht ein lausig schlechter Schütze war, lag kein großer Trost. Es tauchten auch noch verschiedene andere Gedanken auf, vor allem der, daß es eine Möglichkeit geben mußte, herauszufinden, wer Bob Sherman umgebracht hatte und warum. Es mußte sie geben, denn wenn nicht, wäre es ja nicht nötig, mich um die Ecke zu bringen. Knut hatte sie nicht entdeckt. Vielleicht hatte er die Lösung vor sich gehabt, sie aber nicht erkannt, was nur zu leicht passieren konnte. Vielleicht war es mir auch so ergangen, nur daß man mir zutraute, daß ich später doch noch zu deuten wußte, was ich gesehen oder gehört hatte. Gelbauge muß Eriks Auto gefolgt sein, dachte ich. Eriks 182
halsbrecherischer Fahrstil und seine Angewohnheit, bei Rot über die Kreuzung zu fahren, machten es unwahrscheinlich, daß uns etwas anderes als ein Feuerwehrauto bis nach Øvrevoll auf den Fersen hätte bleiben können - aber dann war ich rücksichtsvollerweise ins Grand Hotel zurückgekehrt, um den Sturzhelm abzuladen, und hatte es dadurch einem Beobachter leicht gemacht, unsere Fährte wieder aufzunehmen. Weder Erik noch ich hatten einen Verfolger gesehen. Aber die Fahrt zu Baltzersen und von dort zu dem Restaurant, wo wir zu Mittag gegessen hatten, war vergleichsweise kurz gewesen und rückblickend - fast frei von Verstößen gegen die Verkehrsordnung. Jeder, der das Risiko eines Frontalzusammenstoßes nicht scheute, hätte uns im Auge behalten können. Gelbauge war der Mann gewesen, der Emma attackiert hatte und es erschien mir wahrscheinlich, daß der Kerl, der ihren Großvater getreten hatte, der gleiche gewesen war, der versucht hatte, mich zu erdolchen. Beide waren, so vermutete ich, nicht die Initiatoren, sondern Söldner, die dafür bezahlt wurden, daß sie eine Gewalttat ausführten. Sie wirkten nicht wie Hauptakteure. Nach meiner Überzeugung gab es da noch mindestens zwei weitere Leute, von denen ich einen kannte und einen - oder mehrere - nicht. Um diesen Unbekannten hervorzulocken, mußte ich den Bekannten austricksen. Der große Haken beim Fallenstellen war nur der, daß augenblicklich außer mir selber kein anderer Köder zur Verfügung stand, und dieser Käse konnte schnell erleben, daß er aufgefressen wurde, wenn er nicht äußerst vorsichtig war. Es lag auf der Hand, daß man, wollte man die großen Jungs dazu bringen, in Erscheinung zu treten, zunächst Gelbauge und Braunauge weglocken und zugleich woanders eine Situation schaffen mußte, die zu sofortigem Handeln verführte. Wie das gehen sollte, war eine ganz andere Frage. Ich starrte eine 183
Ewigkeit auf den Teppich, aber es wollte mir keine narrensichere Lösung einfallen. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe dahinterzukommen, was Bob Sherman nach Norwegen mitgebracht hatte! Daß es sich nur um schlichte Pornographie gehandelt hatte, war unwahrscheinlich, denn Bob hatte ja Paddy O’Flaherty gegenüber geäußert, er sei gelinkt worden. Wenn er das Päckchen geöffnet und festgestellt hatte, daß es keine gewöhnliche Pornographie enthielt, dann lag dieser Schluß nahe. Nehmen wir einmal an, er hatte das Päckchen geöffnet und festgestellt, daß er für das, was er da mitnehmen sollte, nicht gut genug bezahlt wurde. Und nehmen wir weiter an, daß er etwas aus dem Päckchen rausgenommen hatte, um seine Auftraggeber damit zu einer Erhöhung ihres Einsatzes zu bewegen. Aber dazu hätte er das Entnommene ja gar nicht benutzen können, denn in diesem Fall hätte der Feind gewußt, daß er etwas an sich genommen hatte, und hätte ihn nicht umgebracht, bevor nicht das Fehlende wieder in seinem Besitz war. Nehmen wir also mal an, schon das Öffnen des Päckchens und die Kenntnis seines Inhalts wären einem Todesurteil gleichgekommen. Schließen wir daraus, der Feind brachte Bob Sherman um, weil dieser den Inhalt des Päckchens kannte, und entdeckte erst später, daß Bob einen Teil davon an sich genommen hatte. Es lief alles immer wieder auf diese Version hinaus. Also… was zum Teufel war in dem Päckchen gewesen? Versuch’s mal mit einer anderen Anordnung. Wann hatte er das Päckchen geöffnet? Wahrscheinlich nicht bei sich zu Hause. Emma hatte gesehen, wie er es in seine Reisetasche gesteckt hatte, um die Gefahr auszuschließen, daß er es liegenließ. Gelbauge und Freund 184
hatten dann später auf der Suche nach Dingen aus diesem Päckchen das Shermansche Haus auseinandergenommen, aber nichts gefunden. Also durfte man wohl annehmen, daß der Umschlag noch ungeöffnet gewesen war, als Bob seine Reise angetreten hatte. Er hatte bei den Rennen in Kempton den ganzen Tag zur Verfügung gehabt. Zeit genug, wenn es ihn gedrängt hätte, das Päckchen zu öffnen - aber wenn es ihm so sehr in den Fingern gejuckt hätte, dann hätte er es ja auch schon in der Nacht davor tun können. In Heathrow hatte er zwischen der Ankunft aus Kempton und dem Abflug nicht viel Zeit gehabt. Kaum der Augenblick für eine spontane kleine Schnüffelei. Bei Gunnar Holth war er eine Stunde später erschienen als erwartet. Er hätte seine tödliche Neugier also auch während des Fluges oder in der Stunde nach der Landung befriedigt haben können. Höchstwahrscheinlich auf dem Flug, dachte ich. Ein paar Drinks hinter der Binde, etwa eine Stunde, die er sich vertreiben mußte, und ein Paket mit Pornobildern verführerisch griffbereit. Er öffnet das Päckchen und sieht - was? Nehmen wir an, ihm war vielleicht so eine halbe Stunde vor der Landung der Gedanke gekommen, eine höhere Frachtgebühr zu fordern, und daraufhin hatte er etwas aus dem Umschlag genommen und versteckt - wo hatte er es dann versteckt? Nicht in seinen Taschen oder in seiner Reisetasche. Vielleicht in seinem Sattel, aber das war zu bezweifeln, denn zum einen war sein Rennsattel winzig, und zum anderen war er damit am folgenden Tag drei Rennen geritten. Nicht im Helm - unter dem gepolsterten Kopfband waren keine Papiere oder Fotos versteckt. 185
Es blieb diese eine Stunde, von der man nichts wußte - in der er irgend etwas an der Rezeption irgendeines Hotels in Oslo mit der Bitte hätte abgeben können, es für ihn zu verwahren. In einer Stunde hätte er dieses Etwas überall verstecken können. Ich seufzte. Es war hoffnungslos. Ich stand auf, streckte mich, holte ein paar Sachen aus dem Koffer, zog mich aus und putzte mir die Zähne. Bobs Helm lag auf meinem Bett. Ich hob ihn am Kinnriemen auf, und während ich die Tagesdecke zurückzog und die Kissen als Rückenstütze hochschob, weil ich vor dem Einschlafen noch etwas lesen wollte, baumelte er an meiner freien Hand. Als ich dann im Bett saß, drehte ich den Helm müßig in den Händen, ohne ihn bewußt wahrzunehmen, und dachte über Bob nach und über den letzten Tag, an dem er ihn getragen hatte. Ich überlegte auch allen Ernstes, ihn bei der Fahrt nach Øvrevoll selbst aufzusetzen, um meinen Kopf zu schützen, und mir außerdem eine kugelsichere Weste zu besorgen. Ich war Emmas Ehemann gegenüber nicht allzu großmütig gestimmt, denn vielleicht mußte ja auch ich noch für das sterben, was er getan hatte. Keine Papiere. Keine Fotografien. Noch einmal zog ich die schwarze Polsterung aus dem Helm. Nichts - nach wie vor nichts darunter. In der Krone des Helms war nur noch das kleine Mittelstück aus schwarzem Polstermaterial, das von Riemen gehalten wurde, die innen am Rand des Helms befestigt waren. Eine wunderbare Konstruktion, die verhindern sollte, daß sich ein Mensch, der bei knapp fünfzig Stundenkilometern von einem galoppierenden Pferd runter und auf die Birne fiel, den Schädel einschlug. Das in der Mitte frei aufgehängte kleine Polster schützte den Scheitel des Kopfes und hinderte diesen außerdem daran, mit gehirnerschütternder Geschwindigkeit in die Helmschale zu krachen. 186
Unter dem Mittelstück war kein Platz für Papiere, Fotos oder sonst etwas, das man Umschlägen in Zeitschriftenformat entnommen hatte. Ich schob trotzdem meine Hand darunter, nur um mich zu vergewissern. Und dort, in der Krone des Helms, hatte Bob den Schlüssel versteckt. Den Schlüssel im buchstäblichen Sinn. Ich erfühlte ihn dort und konnte es einfach nicht glauben. Mit zwei Klebebandstreifen kreuzweise an die Helmschale geklebt und dem Auge unsichtbar, solange man das gepolsterte Mittelstück nicht absichtlich zur Seite drückte, war ein Schlüssel. Ich löste ihn vom Helm und zog das Klebeband ab. Es handelte sich um einen Schlüssel des Yale-Typs, der anstelle des Metallgriffs ein schwarzes Plastikplättchen besaß. Auf der zum Helm zeigenden Seite war in das schwarze Plastikmaterial eine Buchstaben-Zahlen-Kombination eingestanzt - C14. Der Schlüssel hatte ganz fest gesessen und war auch bei mehrfachem Hinsehen nicht zu entdecken gewesen. Bob hatte also seine Rennen ganz gefahrlos mit ihm reiten können. C14. Er sah aus wie der Schlüssel zu einem Schließfach, einem dieser Fächer zur Gepäckaufbewahrung, wie sie sich auf allen großen Flughäfen und Bahnhöfen der Welt finden. Aber nichts ließ erkennen, aus welcher Stadt, aus welchem Land oder von welchem Kontinent der Schlüssel stammte. Ich überlegte. Wenn der Schlüssel zum Inhalt des Päckchens gehört hatte, dann war anzunehmen, daß er von größter Wichtigkeit war. Jedenfalls wichtig genug, um den Teich nach ihm abzusuchen, als sein Fehlen bemerkt worden war. Oder um das Haus in England seinetwegen auf den Kopf zu stellen. 187
Die Männer, die bei Emma eingebrochen waren, hatten ganz gezielt nach Papieren gefragt - sie hatten nach Papieren gesucht und nicht nach einem Schlüssel. Nehmen wir also mal an, dachte ich, Bob hat die Papiere irgendwo in ein Schließfach eingeschlossen, und dies ist der Schlüssel dazu. Das machte alles erheblich leichter. Damit waren New York, Nairobi und die Äußere Mongolei aus dem Spiel, und die Suche konnte auf den größten Teil Südenglands und auf Oslo beschränkt werden. Dieser harmlos aussehende Schlüssel schien mir genau das zu sein, was ich brauchte. Ich schloß meine Hand um ihn, folgte dem instinktiven Bedürfnis, ihn zu verstecken und zu sichern. Bob mußte es ähnlich ergangen sein. Die Sorgfalt, mit der er den Schlüssel versteckt hatte, ließ die Stärke dieses instinktiven Dranges erkennen. Und er hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gewußt, wie berechtigt sein Instinkt war. Ich lächelte zwar über mich selbst, folgte aber Bobs Beispiel. In meinem Koffer hatte ich einen noch ungeöffneten Ersatzverband für den Schnitt auf meiner Brust, den mir der vorausschauende Charles Stirling für den Bedarfsfall mitgegeben hatte. Da sich aber die periodisch auftretenden Schmerzen zu einem periodisch auftretenden Jucken abgeschwächt hatten, hatte ich sein ursprüngliches Werk bisher nicht angetastet. Ich legte den Schlüssel auf den Nachttisch und nahm jetzt den alten Pflasterverband ab, um nach der Wunde zu schauen. Der Schnitt sah dunkel, trocken und komplikationslos aus und verheilte offensichtlich schnell. Ich holte den neuen Schnellverband hervor und klebte ihn fest - darunter ruhte, wohlverborgen auf meiner Haut, Bob Shermans kostbarer Schlüssel. 188
13 Erik kam zum Frühstück und wirkte fast so deprimiert, wie es draußen kalt und naß war. Er brachte vom Büfett zwei matterhornhoch beladene Teller mit, setzte sich mir gegenüber und stocherte in den Vorgebirgen herum. »Haben Sie gut geschlafen?« erkundigte er sich. »Nein.« »Ich auch nicht. Hab dauernd den Knall dieser blöden Bombe gehört.« Er schaute auf den geräucherten Fisch, den ich mir vor seiner Ankunft geholt hatte. »Mögen Sie nicht essen?« »Ich bin nicht übermäßig hungrig.« Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Das Todeskandidaten-Syndrom?« »Herzlichen Dank.« Er seufzte, wandte sich der vor ihm stehenden Aufgabe zu und begann den Beweis anzutreten, daß sein Magen so groß war wie seine Augen. Als beide Teller bis auf eine Spur Speiseöl und sechs Gräten geleert waren, tupfte er seinen Mund mit der Serviette ab und kehrte in den gefahrvollen Sonntag zurück. »Wollen Sie wirklich zu den Rennen gehen?« fragte er. »Ich weiß es noch nicht.« »Ich habe Odin heute nicht mitgebracht, sondern bei einem Nachbarn gelassen.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Ich habe einen größeren Volvo gemietet. Hier ist die Rechnung.« Er kramte in seiner Tasche und zog eine Quittung hervor. Ich holte meine Brieftasche heraus und ersetzte ihm den Betrag. Er sagte nicht, das habe auch bis später Zeit. Eine Gruppe englischer Rennsportleute kam ins Restaurant, 189
einzeln oder zu zweit, und alle setzten sich an einen Tisch in der Nähe des Fensters. Ich kannte die meisten von ihnen - einen sehr guten Amateurspringreiter, einen Galopprennprofi, einen Trainerassistenten, einen Besitzer und seine Frau. Als sie bestellt hatten und zu essen anfingen, schlenderte ich zu ihnen hinüber und zog mir einen Stuhl heran. »Hi«, sagten sie. »Was tut sich so?« Damit waren vor allem ihre Aussichten am Nachmittag gemeint, über die wir uns ein wenig unterhielten. Dann stellte ich die Frage, die mein eigentliches Anliegen war. »Erinnern Sie sich noch an das Wochenende, an dem Bob Sherman verschwunden ist? Ist jemand von Ihnen zufällig mit dem gleichen Flug herübergekommen wie er?« Der Amateurspringreiter sagte, ja, das sei er - Gott sei Dank. »Haben Sie nebeneinander gesessen?« Er erklärte taktvoll, daß er erster Klasse geflogen sei und Bob Touristenklasse. »Aber«, sagte er, »ich habe ihn in meinem Taxi in die Stadt mitgenommen.« »Wo haben Sie ihn abgesetzt?« »Ja… äh, hier. Ich habe hier gewohnt, und er wollte weiter zu diesem Trainer, für den er geritten ist. Er dankte mir fürs Mitnehmen… sagte, glaube ich, er wolle die LijordetStraßenbahn nehmen, wenn eine käme. Jedenfalls sehe ich ihn noch vor mir, wie er da mit Tasche, Sattel und allem Kram auf dem Bürgersteig stand. Aber ist das wichtig? Schließlich ist er am folgenden Tag ja noch geritten.« »War der Flug pünktlich?« »Soweit ich mich erinnern kann, ja.« Ich stellte noch ein paar weitere Fragen, aber der Amateur konnte sich an nichts mehr erinnern, was sonst noch von Belang gewesen wäre. 190
»Trotzdem vielen Dank«, sagte ich. »Hoffe, Sie erwischen den Täter«, sagte er. Er lächelte. »Na, Sie werden schon.« Wenn er man nicht mich erwischt, durchfuhr es mich, und ich ging an meinen Tisch zurück, um Erik abzuholen. »Wohin zuerst?« »Zu allen Bahnhöfen.« »Zu allen was?« »Zum nächstgelegenen Bahnhof«, verbesserte ich mich. »Wieso das denn?« »Ich möchte mir einen Fahrplan holen.« »Den kriegen Sie auch hier an der Rezeption.« Ich grinste ihn an. »Welcher Bahnhof liegt am nächsten?« Er erwiderte skeptisch: »Die Østbanen, denke ich.« »Dann mal los.« Er schüttelte frustriert den Kopf, aber wir setzten uns doch in Bewegung. Wie sich herausstellte, fuhren vom Bahnhof Østbanen die Züge über Gol nach Bergen ab. Ferner gab es Züge nach Lillehammer, Trondheim und zum Polarkreis. Østbanen war der Hauptbahnhof Oslos, von dem alle Fernzüge abgingen. Es gab dort auch Schließfächer und sogar ein Fach C14, aber es war leer, der Schlüssel steckte in der offenen Klappe und hatte eine andere Plastikmarkierung. Ich nahm mir Fahrpläne mit, in denen auch die Züge nach Gol standen, wo sich die Schule von Mikkel Sandvik befand. Man konnte ja nie wissen. »Was jetzt?« fragte Erik. »Die anderen Bahnhöfe«, antwortete ich, und wir klapperten sie ab, fanden aber keine entsprechenden Plastikmarkierungen. 191
»Wo könnte man sonst noch solche Schließfächer finden?« »Außer auf Bahnhöfen? Auf dem Flugplatz. In Fabriken, Bürogebäuden, Schulen. An vielen Orten.« »Für einen ausländischen Reisenden an einem Samstagabend um halb neun zugänglich.« »Ah… Fornebu. Wo sonst?« Genau, wo sonst. »Wollen wir mal hinfahren?« »Später«, sagte ich. »Erst zu Sven Wangen.« Erik erhob Einwände. »Das ist doch genau in der entgegengesetzten Richtung, noch weiter draußen als die Rennbahn.« »Trotzdem«, erwiderte ich. »Zuerst Sven Wangen.« »Bitte, Sie sind der Chef.« Als wir losfuhren, schaute er ein paarmal aufmerksam in den Rückspiegel, meinte aber, er sei sicher, daß uns niemand folge. Ich glaubte ihm. Nichts und niemand hätte an Erik dranbleiben können, wenn der sich ins Zeug legte. »Erzählen Sie mir was über Sven Wangen«, sagte ich. Er spitzte den Mund auf die gleiche mißbilligende Art und Weise, wie Arne es getan hatte. »Sein Vater war ein Kollaborateur«, sagte er. »Und das vergißt niemand?« Er schnaubte leise. »Wir haben offiziell mit der Vergangenheit abgeschlossen. Aber nach dem Krieg, da kamen die Kollaborateure auf keinen grünen Zweig. Wenn zum Beispiel eine Stadt eine Brücke oder eine Schule bauen wollte, dann war es so, daß kein Architekt oder Bauunternehmer, der mit den Nazis gut zusammengearbeitet hatte, so einen Auftrag bekam.« »Sven Wangens Vater war aber schon reich… dank der Schiffahrt.« Er warf mir einen Seitenblick zu, während er eine scharfe 192
Linkskurve nahm und einen Laternenpfahl nur um Millimeter verfehlte. »Das hat mir Arne Kristiansen erzählt«, sagte ich. »Ererbtes Vermögen ist unmoralisch«, meinte Erik. »Solcher Besitz sollte an die Massen verteilt werden.« »Vor allem der Besitz der Kollaborateure?« Er grinste. »Ich denke schon.« »War der Vater wie der Sohn?« fragte ich. Erik schüttelte den Kopf. »Er war ein hartgesottener, habgieriger Geschäftsmann. Hat die Nazis über den Tisch gezogen.« »War das nicht sehr patriotisch von ihm?« Davon wollte Erik nichts hören. »Er hat nichts für seine Landsleute getan. Das ganze Geld hat er nur für sich selbst gescheffelt.« »Der Vater hat den Sohn kaputtgemacht«, sagte ich. »Kaputtgemacht?« Er schüttelte den Kopf. »Sven Wangen ist ein geradezu überwältigender Riesenflegel, der immer seinen Kopf durchsetzt. Von kaputt kann gar keine Rede sein.« »Er ist innerlich hohl. Wegen seines Vaters hatte er, glaube ich, keine Chance, normal gemocht zu werden, und Leute, die ohne eigenes Verschulden unbeliebt sind, können schrecklich aggressiv werden.« Er dachte darüber nach. »Sie haben vielleicht recht. Aber ich mag ihn trotzdem nicht.« Sven Wangen lebte - in überkommenem Stil - in einem riesigen, im wesentlichen aus Holz und nur zum Teil aus Stein gebauten Landhaus. Selbst an einem kalten, nassen und frühen Wintermorgen sah es gepflegt, sauber und wohlhabend aus. Alles, was da wuchs, war zu geometrischer Präzision zurückgeschnitten, eine Reglementierung, die Eriks ungezwungenem, großzügigem und unordentlichem Wesen so 193
gar nicht entsprach. Er sah sich angewidert um und hatte sein typisches Verteilt-alles-an-die-Massen-Gesicht aufgesetzt. »Das alles für zwei Menschen«, sagte er. »Das ist verkehrt.« Der Ort bedrückte auch mich, aber aus einem anderen Grund. Es gab da zu viele Fenster, die alle mit dunklen Augen auf unser Auto blickten. Sobald ich ausstieg und mich aus seinem Schutz entfernte, war ich für jeden im Haus, der ein Gewehr hatte, ein leichtes Ziel. Erik stieg aus. Ich mußte mich dazu zwingen, seinem Beispiel zu folgen. Und natürlich schoß niemand auf uns. Hätte ich das wirklich geglaubt, wäre ich niemals gekommen. Aber mir selbst zu sagen, daß mich Sven Wangen wohl kaum vor der eigenen Haustür umlegen würde, war eine Sache, und meine Nerven dazu zu bringen, das auch zu glauben, war eine andere. Irgend etwas, dachte ich grimmig, mußte bezüglich dieser blöden Nerven unternommen werden, oder ich würde diese Runde niemals bis zum Ende durchstehen. Eine Frau mittleren Alters öffnete mir die Haustür und führte mich durch den Flur in ein kleines Wohnzimmer, dessen Fenster auf die Auffahrt hinausgingen. Ich konnte Erik im Regen auf und ab gehen sehen. Er strahlte marxistische Mißbilligung aus und stampfte mit jedem knirschenden Schritt die unwürdige Bourgeoisie in den Kies. Sven Wangen kam hereingeschlendert, aß ein süßes Plunderteilchen und eröffnete das Gespräch mit kalten Augen und sehr von oben herab. »Ich hatte ganz vergessen, daß Sie kommen wollten«, sagte er. »Haben Sie schon alles aufgeklärt?« Der Anflug eines spöttischen Lächelns. Keinerlei Freundlichkeit. »Nicht alles.« Ein kurzer, übellauniger Blick aus hochmütigen Augen. 194
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Sie vergeuden nur Ihre Zeit.« Das hatten mir alle gesagt, und alle hatten sich geirrt. Ohne Hut zeigte sich, daß Sven Wangen vorzeitig kahl wurde - das rostbraune Haar war an den Seiten und hinten durchaus noch sehr dicht, aber oben auf dem Kopf fast so dünn wie Eriks. Er biß von seinem Kuchen ab, ein großes, klebriges Stück, schluckte es hinunter und fügte seinem Übergewicht wieder ein paar Gramm hinzu. »An dem Tag, an dem Bob Sherman zum letzten Mal für Sie geritten ist, hat er da irgend etwas Unerwartetes zu Ihnen gesagt?« »Nein, das hat er nicht.« Sven Wangen hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht zu überlegen. »Haben Sie ihn zu einem Drink eingeladen, um den Sieg zu feiern, den er für Sie heraus geritten hat?« »Ganz bestimmt nicht.« Noch ein Bissen. »Haben Sie überhaupt mit ihm gesprochen… entweder vor oder nach dem Rennen?« Er kaute. Schluckte hinunter. Besah sich sein Plunderteilchen sehr genau, erkundete das als nächstes abzubeißende Stück. »Ich habe ihm meine Anweisungen gegeben, als er im Führring war. Ich habe ihm gesagt, ich erwartete Besseres als das, was er gerade für Rolf Torp geleistet habe. Er sagte, er habe verstanden.« Abbeißen. Kauen. Schlucken. »Nach dem Rennen sattelte er das Pferd ab und ließ sich zurückwiegen. Ich habe ihn nicht noch mal gesehen.« »Als er beim Absatteln war, hat er Ihnen da berichtet, wie die Stute beim Rennen gegangen war?« »Nein. Zu Holth habe ich gesagt, sie brauche zur Beruhigung 195
eine ordentliche Tracht Prügel. Holth war nicht dieser Ansicht. Mit Sherman habe ich nicht gesprochen.« »Haben Sie ihm gar nicht gratuliert?« fragte ich neugierig. »Nein.« »Wünschten Sie, Sie hätten?« »Wieso sollte ich?« Vielleicht solltest du mal weniger fressen, dachte ich, sprach es aber nicht aus. In diesem Fall waren seine psychologischen Probleme nicht meine Sache. »Hat er ein Päckchen erwähnt, das er aus England mitgebracht hat?« »Nein.« Er stopfte sich den Rest des klebrig-süßen Gebäcks in den Mund und hatte Mühe, ihn zuzukriegen. »Sollte er die Stute bei seinem nächsten Aufenthalt wieder reiten?« Er glotzte mich an und sagte dann durch Teig und Rosinen hindurch: »Es gab keinen nächsten Aufenthalt.« »Ich meine, haben Sie ihn an jenem letzten Tag gebeten, wieder für Sie zu reiten?« »Oh. Nein.« Er zuckte die Achseln. »Die Jockeys heuert immer Holth an. Ich sage nur, wen ich haben will.« »Sie haben Sherman nie in England angerufen, um die nächsten Rennen, die er für Sie ritt, mit ihm zu besprechen?« »Wie käme ich denn dazu?« »Manche Besitzer sprechen mit ihren Jockeys«, sagte ich. »Ich bezahle Holth dafür, daß er diese Dinge erledigt.« Wieviel dir doch entgeht, dachte ich. Armer fetter, ungeliebter, depressiver, reicher junger Mann. Ich dankte ihm für das Gespräch und kehrte zu Erik zurück. Sven Wangen beobachtete uns durchs Fenster, wobei er sich den Zucker von den Fingern leckte. 196
»Nun?« fragte Erik. »Er könnte den Befehl gegeben haben, aber selbst hat er niemanden umgebracht.« Als er mit dem gemieteten Volvo auf das Tor zufuhr, knurrte Erik: »Wohin jetzt?« »Sie sind ganz naß«, sagte ich. »Warum sind Sie draußen im Regen geblieben?« Er wurde fast verlegen. »Na ja… ich dachte, ich könnte Sie dann besser hören, falls Sie schreien.« Schweigend fuhren wir ein paar Kilometer, dann hielt er an einer Straßengabelung an. »Hier müssen Sie sich entscheiden«, meinte er. »Dort geht’s nach Øvrevoll und da zum Flughafen. Die Rennbahn ist wesentlich näher.« »Zum Flughafen.« »Schön.« Er bretterte mit einer Geschwindigkeit los, als wolle er nach Fornebu fliegen. »Passen Sie auf, daß uns keiner folgt«, sagte ich. »Sie machen Scherze.« Wir brauchten für die knapp fünfzig Kilometer von der einen Seite Oslos bis zur anderen etwas über eine halbe Stunde. Niemand folgte uns. C14 war verschlossen, und daneben, bei C13, steckte ein Schlüssel mit einer schwarzen Plastikmarkierung im Schloß. Beides waren große Schließfächer in der untersten von insgesamt drei übereinanderliegenden Reihen. Erik, der sich selbst den Posten eines Leibwächters zugewiesen hatte, stand neben mir und besah sich die Reihen der Metalltüren. »Sind das die, nach denen Sie suchen?« 197
Ich nickte. »Ich glaube, ja.« »Und was machen wir jetzt?« »Wir gehen ein bißchen umher und vergewissern uns, daß niemand da ist, den wir kennen.« »Eine gute Idee.« Wir gingen umher und standen in Ecken, um Ausschau zu halten, aber soweit ich sehen konnte, waren mir alle Menschen im Flughafengebäude vollkommen fremd. Nachdem wir langsam zu den Schließfächern zurückgeschlendert waren, baute sich Erik tapfer vor C13 auf und sah aus, als wäre er bereit, alle enternden Piraten abzuwehren, während ich unauffällig den Schlüssel aus seinem Versteck hervorholte und beim benachbarten Fach ausprobierte. Es war der richtige Schlüssel, kein Zweifel. Die Schließfachtür ging auf, dahinter befand sich ein Stauraum, der für zwei große Koffer ausgereicht hätte. Aber auf dem zerkratzten Metallboden lag, verloren und unpassend, nur ein zusammengefaltetes Stück Papier. Ich bückte mich, hob es auf und steckte es in die Innentasche meines Jacketts. »Hat uns jemand gesehen?« fragte ich Erik und richtete mich wieder auf. »Keine Menschenseele, die uns bekannt wäre.« »Los, dann gehen wir jetzt einen Kaffee trinken.« »Und was ist mit dem Schließfach?« Ich sah auf das Fach C14 hinunter, dessen Schlüssel im Schloß steckte und dessen Tür offenstand. »Wir brauchen es nicht mehr.« Erik dirigierte mich zur Airport-Cafeteria und erstand für uns beide je eine Tasse Kaffee und für sich ein paar belegte Brote. Wir saßen an einem Tisch mit Kunststoffplatte, umgeben von Reisenden, unordentlich herumstehendem Handgepäck und 198
Kindern, die umherrannten und taten, was sie nicht tun sollten, und fast flatterig vor Aufregung zog ich das Stück Papier aus der Tasche, das Bob Sherman im Schließfach hinterlegt hatte. Ich hatte angenommen, es würde sich um Material handeln, mit dem man jemanden erpressen konnte - belastende Briefe oder Fotos, die niemand seiner Frau zu zeigen gewagt hätte. Es stellte sich jedoch heraus, daß es nichts von alledem war. Vielmehr war es etwas, mit dem ich überhaupt nichts anfangen konnte. Zunächst einmal war das Papier dünner, als ich angenommen hatte - es hatte nur deshalb Volumen, weil es mehrfach zusammengefaltet war. Auseinandergefaltet war es ein Papierstreifen, der nur fünfzehn Zentimeter breit, aber fast neunzig Zentimeter lang war und der drei Spalten aufwies, die von oben nach unten gelesen werden sollten. Man konnte sie jedoch nicht eigentlich lesen, weil die drei, vier Zentimeter breiten Spalten keine Buchstaben und Zahlen enthielten, sondern Blöcke und Quadrate in abgestuften Grautönen. Am langen linken Rand des Papiers waren in regelmäßigen Abständen Zahlen vermerkt, mit drei beginnend und bei vierzehn endend. Über allem stand oben in handgeschriebenen Großbuchstaben nur die Überschrift: Datenübersicht. Ich faltete den Papierstreifen wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche. »Was ist das?« fragte Erik. Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Er rührte in seinem Kaffee. »Knut wird es herausfinden.« Ich dachte darüber nach, und der Gedanke gefiel mir nicht sonderlich. »Nein«, sagte ich, »dieses Stück Papier stammt aus England. Ich denke, ich werde es mit nach Hause nehmen und dort versuchen herauszubekommen, was es zu bedeuten hat.« 199
»Das ist aber Knuts Fall«, sagte er mit einer gewissen unaufgeregten Starrköpfigkeit. »Meiner aber auch.« Ich zögerte. »Sagen Sie Knut, wenn Sie denn unbedingt müssen, daß ich dieses Papier gefunden habe. Lieber wäre mir allerdings, wenn Sie noch zu niemandem davon sprächen. Ich möchte nicht, daß es hier in Oslo überall die Runde macht, und wenn Sie es Knut erzählen, dann muß er es zu den Akten geben, und wenn Knut die Sache in seinem Bericht festhält, weiß man nie, wer den zu Gesicht bekommt. Ich würde es ihm lieber selber sagen, wenn ich wieder zurück bin. Wir können unser weiteres Vorgehen sowieso erst planen, wenn wir wissen, womit wir es hier zu tun haben, und deshalb ist gar nichts gewonnen, wenn er schon jetzt von unserem Fund erfährt.« Er sah nicht überzeugt aus, aber nach einer Weile fragte er nur: »Wo haben Sie eigentlich den Schlüssel zu diesem Schließfach gefunden?« »In Bob Shermans Sturzhelm.« Seine Starrköpfigkeit löste sich in Resignation auf. »Also gut«, sagte er, »ich werde es Knut nicht sagen. Er hätte den Schlüssel als erster finden sollen.« Das hatte mit Logik kaum etwas zu tun, aber ich war ihm dankbar. Ich sah auf die Uhr und sagte: »Ich kann den Flug um zwei Uhr fünf nach Heathrow noch kriegen.« »Jetzt gleich?« Er klang überrascht. Ich nickte. »Sagen Sie niemandem, daß ich fort bin. Ich möchte nicht, daß drüben schon irgendein Freund von Gelbauge auf mich wartet.« Er grinste. »David Cleveland? Wer ist das denn?« Dann stand er auf und verabschiedete sich. »Ich werde Odin von Ihnen grüßen.« Ich sah ihm nach, sah seinen unordentlichen Rücken schnell 200
zwischen den Menschen in Richtung des fernen Ausgangs verschwinden und fühlte mich ohne ihn überraschend verwundbar. Aber es passierte nichts Schreckliches. Ich bekam den Flug noch, landete sicher in Heathrow, ließ - nach einigem Überlegen - mein Auto dort auf dem Parkplatz stehen und fuhr mit dem Zug nach Cambridge. Ein Sonntagabend mitten im Semester war ein günstiger Zeitpunkt, um sich in die Höhlen der Professoren zu wagen, aber der erste, auf den ich setzte, war kein Volltreffer. Er lehrte zwar Computerwissenschaft, meinte aber, meine Datenübersicht habe nichts mit Computern zu tun. Warum versuchte ich es nicht mal bei den Wirtschaftswissenschaften? Ich versuchte es bei den Wirtschaftswissenschaften, aber die meinten, warum ich es nicht lieber mal bei der Geologie versuchte. Obwohl es inzwischen schon auf zehn zuging, versuchte ich es auch noch bei der Geologie, die nur einen kurzen Blick auf den Papierstreifen warf und dann sagte: »Du lieber Gott, wo haben Sie denn das her? Diese Sachen werden wie ein Goldschatz bewacht.« »Was ist es denn?« fragte ich. »Ein Kern. Die Darstellung eines Kerns. Von einer Bohrung. Sehen Sie diese Zahlen am linken Rand? Ich würde sagen, die geben die Tiefe der einzelnen Bohrabschnitte an. Könnte sein in hundert Fuß. Oder auch in tausend.« »Können Sie sagen, wo diese Bohrung niedergebracht wurde?« Er schüttelte den Kopf - er war ein noch jüngerer, ernster Mann mit dichtem rötlichem Haar, das in einen wuchernden Bart überging. »Könnte überall auf der Erde sein. Man müßte auch erst die Legende zu den Farbschattierungen haben, um sagen zu können, wonach da gesucht worden ist.« Ich hakte deprimiert nach: »Gibt es gar keine Möglichkeit 201
herauszufinden, wo das herstammt?« »Du liebe Güte, ja doch«, sagte er fröhlich. »Kommt ganz darauf an, wie wichtig es ist.« »Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich mit einem skeptischen Blick auf seine Uhr. »Schlaf ist Zeitverschwendung«, meinte er als echter Gelehrter, und so erklärte ich ihm einigermaßen genau, warum ich es wissen wollte. »Ein Bier?« schlug er vor, als ich fertig war. »Danke, ja.« Er fand unter einem Haufen unkorrigierter Seminararbeiten zwei Dosen und öffnete sie. »Prost!« sagte er und verzichtete auf ein Glas. »Also gut. Sie haben mich überzeugt. Ich werde Sie mit den Leuten in Verbindung bringen, die dieses Blatt gezeichnet haben.« Ich war erstaunt. »Woher wissen Sie, wer das gezeichnet hat?« Er lachte. »Das ist so, als würde man die Handschrift eines Kollegen erkennen. Wahrscheinlich kann Ihnen jeder in der Forschung tätige Geologe sagen, woher diese schematische Darstellung stammt. Es ist die Arbeit eines Forschungslabors. Ich werde morgen früh dessen Direktor anrufen, ihm die Sache erklären und sehen, ob er gewillt ist, Ihnen zu helfen. Die Leutchen sind, was diese Graphiken angeht, schrecklich empfindlich.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Es sollte mich nicht wundern, wenn es einen Riesenkrach gäbe, denn nach allem, was Sie gesagt haben, muß man wohl davon ausgehen, daß das Ding gestohlen worden ist.« Die ersten Anzeichen des Riesenkrachs waren am folgenden Tag deutlich vom Gesicht Dr. William Leeds’, Direktor des Wessex-Wells Research Laboratory, abzulesen. Er war ein eindrucksvoller Mann, klein, ruhig und entschieden, sah aber angesichts dessen, was ich ihm mitgebracht hatte, zutiefst 202
beunruhigt aus. »Setzen Sie sich, Mr. Cleveland«, forderte er mich auf. Dann saßen wir uns an seinem Managerschreibtisch gegenüber. »Jetzt sagen Sie mir mal, woher Sie das haben.« Ich sagte es ihm. Er hörte aufmerksam zu, unterbrach mich nicht. Dann fragte er: »Was möchten Sie denn nun wissen?« »Worum es bei dieser Darstellung geht. Wer hätte einen Nutzen davon, wenn er sie in die Hände bekäme, und in welcher Weise.« Er lächelte. »Ziemlich umfassend.« Er sah eine Weile aus dem Fenster seines in der ersten Etage gelegenen Büros auf eine Reihe fast kahler Weidenbäume, die auf der anderen Seite der Rasenfläche standen. Das Laboratorium befand sich tief im Herzen Dorsets, in einem alten Park - ein viktorianisches Herrenhaus, das gelassen neben neuerbauten, alltäglichen Werkstätten mit Flachdach stand. Von Dr. Leeds’ Fenster aus überblickte man das Adernetz der wichtigsten, die einzelnen Gebäude des Komplexes verbindenden Wege - man war hier wirklich am Puls des Geschehens. »So gut wie jeder hätte etwas davon, wenn er das da in die Hand bekäme«, sagte er schließlich. »Wenn er skrupellos genug ist. Diese Datenübersicht hat ungefähr eine halbe Million Pfund gekostet.« Mir fiel der Unterkiefer runter, und er lachte. »Sie müssen schließlich bedenken, daß Bohranlagen hochkompliziert und sehr teuer sind. Einen Bohrkern erhält man nicht, indem man mit einem Spaten ein Loch in die Erde gräbt. Dieser hier« - er tippte auf das Papier - »hat nur einen Durchmesser von dreizehn Zentimetern, reicht aber bis in eine Tiefe von vierzehntausend Fuß, das sind über viereinhalbtausend Meter. Eine Bohrung bis in diese Tiefe 203
kostet einen Haufen Geld.« »Das kann ich nachvollziehen«, sagte ich. »Natürlich könnten Sie dieses Blatt nicht für eine halbe Million verkaufen, aber ich schätze, daß diese spezielle Graphik ihre hunderttausend Pfund wert sein könnte, vorausgesetzt, daß Sie einen Interessenten dafür hätten.« Ich bat ihn, mir das genauer zu erklären. »Eine graphische Darstellung wie diese hier stellt eine Information dar. Man kann Informationen immer auf illegalem Wege verkaufen, wenn man jemanden kennt, der sie gern erwerben möchte. Also… nehmen wir mal an, dieser Kern zeigte eine Ablagerung von Nickel, was er übrigens nicht tut, und Sie wüßten genau, von welcher speziellen Bohrung er stammt. Dann wüßten Sie auch, ob es sich lohnt, in die Bohrgesellschaft zu investieren oder nicht. Zum Beispiel hätten Sie während des Poseidon-Nickelbooms in Australien buchstäblich Millionen an der Börse machen können, wenn Ihnen vorher genau bekannt gewesen wäre, welche der vielen dort nach Bodenschätzen suchenden Gesellschaften auf das reichste Erzlager gestoßen war.« »Donnerwetter«, sagte ich. »Das Ganze kann natürlich auch andersherum funktionieren«, fuhr er fort. »Wenn Sie wissen, daß eine Konzession, von der sich alle einen hohen Ertrag erwarten, in Wirklichkeit nichts bringen wird, dann können Sie Ihre Anteile verkaufen, solange sie noch etwas wert sind.« »Am Kauf solcher Blätter wären also nicht nur Leute interessiert, die mit dem Abbau von Bodenschätzen zu tun haben.« »So ist es. Die Leute, die den größten Profit aus solchen Sachen herausholen, wissen wahrscheinlich gar nicht, wie ein Bohrer aussieht.« 204
Ich fragte weiter: »Warum die Karten an einen anderen weiterverkaufen? Warum nicht an der Börse die Millionen selber machen?« Er lächelte. »Es ist sehr viel sicherer, eine hübsche Pauschale auf ein anonymes Schweizer Konto überwiesen zu bekommen, als mit dem Aktienhandel anzufangen. Und ein Geologe, der in größerem Stil mit Aktien handelt, würde sofort auffallen.« »Kommt es vor, daß Geologen um solche Informationen angegangen werden?« »Aber ja. Wir versuchen, unsere Leute hier dadurch zu schützen, daß wir ihnen nicht sagen, wo genau das von ihnen jeweils bearbeitete Material herstammt. Aber offensichtlich war uns kein hundertprozentiger Erfolg beschieden.« Seine Miene verdüsterte sich. »Wir wissen aus Erfahrung, daß ein Geologe normalerweise von einem Mittelsmann angesprochen wird, also von einem Zwischenhändler, der von einer Forschungsstelle Informationen erwirbt und diese dann an einen Größeren, der auf dem Weltmarkt operiert, weiterverkauft.« »Habe ich es mit dem Mittelsmann oder mit dem Größeren zu tun?« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht sagen. Aber ich nehme an, eher mit dem Mittelsmann, weil Sie die Datenübersicht so nahe bei der Quelle gefunden haben.« »Was genau bedeuten diese Spalten?« Er nahm den Papierstreifen auf und zeigte es mir. »Bei der ersten Spalte geht es um Lithologisches… also die Zusammensetzung der Gesteinsschichten. Die zweite zeigt den Typus der ursprünglichen Partikel… will sagen die Mikro- und die Makroleitfossilien sowie sonstige Sedimente. Die dritte…« Er preßte die Lippen zusammen, denn diese Spalte machte ihm ganz offensichtlich am meisten zu schaffen. »Die dritte bezieht sich auf ein neues und streng geheimes Verfahren, die Elektronenmikroskopie. Daß diese Befunde nach draußen 205
gelangt sind, darüber werden unsere Kunden besonders ungehalten sein. Sie haben schließlich ein Vermögen dafür bezahlt. Wir hier können uns nur so lange im Geschäft halten, solange der Kunde davon überzeugt ist, daß die Analyse, für die er bezahlt, niemandem außer ihm zu Gesicht kommt.« Ich sagte: »Diese Darstellung ist aber doch ohne eine Erläuterung der verschiedenen Farbschattierungen wertlos.« »Nein.« Er überlegte. »Wenn ich raten müßte, würde ich sagen, daß dies eine Art Appetitanreger sein soll oder ein Beweis dafür, daß der Zwischenhändler hochwertige Ware anzubieten hat. Normalerweise stellen wir keine Übersichten in dieser Form her. Dies ist gleichsam eine Verkürzung. Eine verkürzte, zusammengesetzte Ausgabe, eine Spezialanfertigung.« »Aber hat der Rest von Bob Shermans Päckchen ohne diese Zusammenfassung irgendeinen Wert?« »O ja. Es hängt ganz davon ab, was da sonst noch drin war. Eine schriftliche Analyse wäre ebensoviel wert wie so eine graphische Darstellung. Wenn Sie eine schriftliche Analyse vorliegen hätten, wäre das Fehlen dieses Blattes kein gar so großer Verlust.« Ich dankte ihm für seine Hilfe. »Können Sie mir noch sagen, wo diese Bohrung niedergebracht worden ist? Und zu welchem Zweck?« Er warf einen Blick auf das Papier. »Nach dem, was ich hier sehe, könnte ich es Ihnen so ungefähr sagen. Aber Sie wollen es sicher ganz genau wissen, auf den Kilometer?« »Ja«, sagte ich. »Dann kommen Sie mit.« Er führte mich einen breiten Flur hinunter, durch eine Schwingtür und in einen neuen Flügel, der an die Rückseite des alten Gebäudes angebaut worden war. Wir waren allem 206
Anschein nach auf dem Weg ins Archiv. Aber um dort hineinzukommen, mußte sich selbst der Direktor den dort beschäftigten Mitarbeitern ankündigen - erst dann wurde die Tür elektronisch von innen geöffnet. Dr. Leeds lächelte ironisch, als er meine Überraschung bemerkte. »Im allgemeinen sind wir sehr stolz auf unsere Sicherheitsvorkehrungen. Es wird einen großen Aufstand geben, wenn wir versuchen werden dahinterzukommen, wer von unseren Leuten dieses Blatt mitsamt den Informationen verkauft hat.« Ihm kam ein Gedanke. »Sie würden wohl nicht wieder herkommen wollen und die Ermittlungen selbst übernehmen?« Ich hätte nichts dagegen gehabt, mußte ihn jedoch auf meine Arbeit beim Jockey Club hinweisen. »Schade«, sagte er. Mit nachtwandlerischer Sicherheit zog er aus den Tausenden der in Wandschränken verwahrten Aktenordner den gesuchten heraus. Er wußte genau, welche Gesellschaft die Analyse in Auftrag gegeben hatte, und er wußte so ungefähr, wo der Bohrkern herstammte. Er blätterte ein paar Seiten um, verglich die graphische Darstellung mit den schriftlichen Ausführungen. »Da«, sagte er schließlich und zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle. »Das sind die Koordinaten, die Sie suchen.« Ich sah über seinen Arm hinweg. Las die Koordinaten. Las den Namen der Gesellschaft. Ich hatte noch nie etwas von ihr gehört. »Herzlichen Dank«, sagte ich.
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14 Ich fuhr bei Emma vorbei. Das Haus wirkte warm und einladend an diesem kalten Nachmittag, ein Feuer im Kamin und eine riesige Vase mit bronzefarbenen Chrysanthemen sorgten für Behaglichkeit und Leben. Die Möbel waren noch nicht wieder ersetzt worden, und die Vorhänge befanden sich noch in der Reinigung, aber Emma selbst hatte in der vergangenen Woche gewaltige Fortschritte gemacht. Auf ihren Wangen lag wieder ein Hauch von Farbe, und ihre Augen zeigten die Andeutung eines Glänzens. Die hübsche junge Frau war wieder zum Vorschein gekommen. »David! Wie schön, Sie zu sehen. Wie wär’s mit warmen Scones, sie kommen frisch aus dem Ofen.« Wir saßen vor dem Kamin und aßen die Scones mit Butter, Marmelade und großer Hingabe. »O Mann, Sie müssen aber hungrig gewesen sein«, sagte sie anschließend mit einem Blick auf das fast leere Körbchen. »Eigentlich hatte ich sie Großvater hinüberbringen wollen.« Sie lachte. »Ich backe wohl besser noch ein paar.« »Sie waren herrlich.« Bei all den Bombengeschichten und der Herumjagerei hatte ich eine ganze Reihe von Mahlzeiten auslassen müssen und nur hier und da ein paar Bissen gegessen. Bei Emma fühlten sich meine Magennerven zum ersten Mal seit Tagen sicher genug, um mich zur Nahrungsaufnahme zu ermutigen. »Ich weiß nicht, ob ich das fragen soll«, sagte sie, »aber haben Sie schon etwas über Bob herausgefunden?« »Nicht genug.« Ich sah auf die Uhr. »Darf ich mal telefonieren?« 208
»Natürlich.« Ich rief einen Börsenmakler an, den ich kannte, weil er einige Rennpferde besaß, und fragte ihn, wie sich bei der Gesellschaft, die die Analyse des Bohrkerns in Auftrag gegeben hatte, der Aktienkurs entwickelt habe. »Das ist einfach zu beantworten«, meinte er. »Vor ungefähr zwei Monaten ist der Kurs ganz plötzlich hochgeschnellt. Da hatte wohl jemand einen heißen Tip bekommen und gekauft, solange der Preis niedrig war. Und ein Schweinegeld verdient.« »Wer?« fragte ich. »Kann ich nicht sagen, aber bei den Riesensummen, die da im Spiel waren, wahrscheinlich ein Syndikat. Lief alles über Beauftragte und wurde im wesentlichen auf den ausländischen Märkten abgewickelt.« Ich dankte ihm und legte auf. Dann rief ich bei der SAS an, die freundlich säuselte und sagte, selbstverständlich sei beim Flug um sechs Uhr dreißig noch ein Sitz für mich frei. Eine innere Stimme wollte mir unbedingt einreden, daß es auch am folgenden Morgen noch einen Flug gebe und Witwen dazu da seien, getröstet zu werden. Gut. Das mochte ja sein. Aber nicht diese, noch nicht. Ich gab ihr einen Abschiedskuß. »Besuchen Sie mich wieder«, sagte sie, und ich antwortete: »Das werde ich.« In Heathrow gab ich den Wagen ab, den ich am Morgen in Cambridge geliehen hatte, und zwängte mich beim letzten Aufruf in die Sechs-Uhr-dreißig-Maschine. Ich war ganz offensichtlich nicht in der Lage, etwas gegen die nervöse Spannung zu tun, die sich in mir aufbaute, als wir zur Landung in Oslo ansetzten, aber dann brachte mich ein harmloses Taxi in ereignisloser Fahrt zum Hotel, wo mich ein resignierter Empfangschef mein Zimmer selbst auswählen ließ. 209
Ich rief Erik an. »Wo stecken Sie denn?« verlangte er zu wissen. »Im Grand Hotel.« »Du liebe Güte… sind Sie gar nicht geflogen?« »Hin und wieder zurück.« »Haben Sie herausbekommen…« »Zum Teil. Ich weiß, was es ist, aber nicht, wem es gehört. Hören Sie… könnten Sie mir mal Knuts Privatnummer geben?« Er sagte sie mir. »Wollen Sie wieder gefahren werden?« : »Ich fürchte, ja. Wenn Sie’s über sich bringen?« »Sie können auf mich zählen«, sagte er. Ich rief Knut an, der gähnte und meinte, er sei gerade vom Dienst gekommen und müsse erst am nächsten Tag um zwei Uhr wieder hin. »Kennen Sie Lillehammer?« fragte ich. »Ja, natürlich.« »Was ist das für ein Ort?« »Wie meinen Sie das? Es ist eine große Stadt. Im Sommer Touristen- und im Winter Skiort. Im Oktober und November fährt da niemand hin.« »Wenn Sie sich heimlich mit jemandem in Lillehammer treffen wollten, irgendwo nicht zu weit vom Bahnhof entfernt, wo man einigermaßen leicht zu Fuß hinkommt, wo würden Sie dann hingehen?« »Kein öffentlicher Ort?« »Nein, irgendein stilles Plätzchen.« Es war eine Weile still. Dann sagte er: »Es wäre vielleicht besser, die Stadt zu verlassen. In Richtung See. Da gibt es eine Straße, die zu der Brücke über diesen See führt. Es ist die Hauptstraße nach Gjøvik, aber da herrscht nicht viel Verkehr, und es gibt ein paar kleine Nebenstraßen, die zu den Häusern am 210
Seeufer hinführen. Suchen Sie so etwas?« »Klingt sehr gut.« »Mit wem wollen Sie sich denn treffen?« Ich erzählte es ihm mit einiger Ausführlichkeit, und mitten in meiner Erklärung mußte er seine Müdigkeit abgeschüttelt haben, denn als er wieder sprach, klang seine Stimme wach, ja geradezu eifrig. »Ah, ich verstehe. Ja, ich werde alles arrangieren.« »Dann sehen wir uns morgen früh.« »Ja. Einverstanden. Und… äh… passen Sie gut auf sich auf, David.« »Worauf Sie sich verlassen können«, sagte ich. Ich rief noch einmal Erik an, der natürlich sehr gern zum Frühstück ins Hotel kommen, mich zu Knuts Büro bringen und so rechtzeitig zum Bahnhof fahren wollte, daß ich den ZehnUhr-Zug nach Liliehammer nicht verpassen würde. »Ist das alles?« »Nein… Würden Sie mich auch wieder vom Bahnhof abholen, wenn ich zurückkomme? Halb fünf, glaube ich.« »Wird gemacht.« Er klang fast enttäuscht. »Bringen Sie einen Schlagring mit«, sagte ich, und das munterte ihn wieder auf. Als nächstes Lars Baltzersen. »Selbstverständlich habe ich schon von dieser Gesellschaft gehört«, sagte er. »Ihre Aktien boomen. Ich habe selbst ein paar gekauft, und sie zeigen schon einen ordentlichen Gewinn.« »Kennen Sie sonst noch jemanden, der welche gekauft hat, solange der Preis niedrig war?« Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Rolf Torp hat gekauft. Ich glaube, es war Rolf, der mich auf sie aufmerksam gemacht hat, aber ich bin nicht ganz sicher.« Er räusperte sich. 211
»Mir sind jedoch beunruhigende Gerüchte zu Ohren gekommen, daß die wirklich großen Käufer irgendwo im Nahen Osten sitzen. Man weiß nichts Genaues. Da ist viel Geheimniskrämerei im Spiel, aber es scheint nicht ausgeschlossen.« »Warum ist das beunruhigend?« fragte ich, und er sagte es mir. Zum Schluß rief ich noch bei Arne an. Kari war am Apparat, und ihre Stimme klang warm, belustigt und voller Erinnerung an unser letztes Zusammensein. »Hab dich seit Freitag nicht mehr gesehen«, sagte sie. »Warum kommst du nicht morgen zum Abendessen zu uns?« »Würde ich gern, aber ich kann wahrscheinlich nicht.« »Oh. Tja… was macht der Fall?« »Darüber hatte ich eigentlich mit Arne sprechen wollen.« Sie sagte, sie werde ihn holen, und wenig später meldete er sich. Er klang, als freute er sich über meinen Anruf. »David… ich hab dich ja schon seit Tagen nicht mehr gesehen«, sagte er. »Was hast du getrieben?« »Herumgestöbert«, antwortete ich. »Hör mal, Arne, ich hab dabei ein bißchen Glück gehabt. Ein Mann in Lillehammer hat bei mir angerufen und gesagt, er könne mir etwas über den Mord an Bob Sherman mitteilen. Er meinte, er hätte den Mord so gut wie mit eigenen Augen gesehen. Er wollte am Telefon nicht mehr sagen, aber ich will mich morgen mit ihm treffen. Die Sache ist die… ich habe mich gefragt, ob du nicht Lust hättest mitzukommen. Deine Begleitung wäre mir lieb, wenn du die Zeit erübrigen kannst. Das Englisch dieses Mannes war nicht allzugut… du könntest also für mich dolmetschen, wenn’s dir recht wäre.« »Morgen?« »Ja. Ich fahre mit dem Zug um zehn.« »Wo willst du dich denn in Lillehammer mit dem Mann 212
treffen?« »Auf der Straße nach Gjøvik, unten bei der Brücke über den See. Er will zur Mittagszeit dort sein.« Arne meinte zögernd: »Na ja, ich könnte schon…« »Bitte, komm doch mit, Arne«, sagte ich. Er faßte einen Entschluß. »Gut, ich komme mit. Wohnst du noch im Grand Hotel?« »Ja«, antwortete ich. »Aber von dir aus hast du’s zum Bahnhof näher. Wir treffen uns dort.« »Gut.« Er zögerte wieder. »Ich hoffe nur, das ist nicht irgend so ein Verrückter, der sich Geschichten aus den Fingern saugt.« »Das hoffe ich auch.« Bevor ich schlafen ging, schob ich mein Bett direkt vor die Zimmertür, aber niemand versuchte hereinzukommen. Erik hatte wieder Odin mitgebracht, auf daß er ihm bei seinen Bewachungspflichten helfe, obwohl ich inzwischen dank unserer längeren Bekanntschaft wußte, daß das wilde Aussehen der Dogge nur Fassade war. In dem sandfarbenen Fell steckte ein richtig großer Softy. Aber die beiden brachten mich sicher zum Polizeipräsidium, wo uns Knut erwartete, der schon fünf Stunden vor Beginn seiner nächsten Schicht putzmunter war. Ich übergab ihm oben in seinem Büro die geologische ›Karte‹ des Bohrkerns, die er neugierig betrachtete. »Verlieren Sie die bloß nicht«, sagte ich. Er lächelte. »Dann schon eher mein Leben, was?« »Lassen Sie sie fotokopieren?« Er nickte. »Jetzt gleich.« »Also dann bis heute abend.« Wir gaben uns die Hand. »Seien Sie vorsichtig«, sagte er. 213
Als ich mir die Fahrkarten kaufte und zur Sperre ging, blieben Erik und Odin an meiner Seite. Es war der schlimmste Vormittag, den meine Nerven bis jetzt zu überstehen hatten, und ich übertraf Arne schon im Über-die-Schulter-Schauen. Heute abend, dachte ich grimmig, werde ich entweder in Sicherheit oder tot sein. Bis dahin schien es noch schrecklich lange hin zu sein. Arne war schon auf dem Bahnsteig und begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln. »Welche Nummer hat deine Fahrkarte?« fragte er. Ich hatte noch gar nicht registriert, daß auf jeder Fahrkarte eine Sitzplatznummer des entsprechenden Zuges stand, aber so war es. »Ich werde mal sehen, ob ich meine nicht tauschen kann, damit ich neben dir sitze«, sagte er und sauste los. Während er fort war, fand ich meine Nummer, einen Fensterplatz in Fahrtrichtung, ungefähr in der Mitte eines der großen, luftigen Wagen. Ein paar Minuten vor der Abfahrtszeit war etwa die Hälfte aller Plätze mit seriös aussehenden Reisenden besetzt, und es gelang mir, nur zweimal über die Schulter zu sehen. Arne kehrte mit zufriedenem Gesichtsausdruck und der Fahrkarte für den Platz neben mir zurück. »So ist’s besser«, sagte er und sah sich, bevor er sich setzte, alle ehrenwerten Mitreisenden sehr genau an. »Ich hätte am Fahrkartenschalter auf dich warten sollen… hab leider nicht rechtzeitig dran gedacht.« Draußen vor dem Abteilfenster erschien plötzlich - immer noch in Begleitung Odins - Erik auf dem Bahnsteig, klopfte an die Scheibe, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, und bedeutete mir mit heftigen Bewegungen, daß er mir etwas sagen müsse. Ich zeigte in Richtung hintere Wagenhälfte, schob mich unter Entschuldigungen an Arne vorbei und ging zur Tür, um zu hören, was Erik mir zu sagen hatte. 214
»Ich habe ihn gesehen«, sagte er und stotterte fast vor Dringlichkeit. »Steigen Sie aus und kommen Sie mit.« »Wen gesehen?« »Er fährt ab, wenn Sie nicht schnell aussteigen. Den Mann, der die Bombe gelegt hat. Groß, mit schmetterlingsförmigem Muttermal. Ich hab’s gesehen. Er hat eine Fahrkarte gekauft… da ist ihm Wechselgeld runtergefallen, und er hat sich gebückt, um es aufzuheben. Da hab ich seinen Hals gesehen… seine Augen auch. Sie sind wirklich irgendwie gelblich. Sehr hell, leuchtend und eigenartig. Beeilen Sie sich, David. Er hatte auch noch einen zweiten Mann bei sich. Sie sind in diesen Zug hier eingestiegen, hinten in den letzten Wagen.« Ein Pfiff ertönte. Vor lauter Frustration tanzte Erik schon herum. »Steigen Sie aus, so steigen Sie doch aus…« Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde denen schon irgendwie ausweichen.« Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. »Vielen Dank. Wir sehen uns heute nachmittag. Daß Sie mir auch kommen!« »Selbstverständlich komme ich.« Der Zug wurde immer schneller und meine Beschützer mit jeder Sekunde kleiner, bis ich die Verwirrung auf Eriks Gesicht und den geduldigen Mangel an Verständnis auf dem Odins nicht mehr erkennen konnte. »Wer war denn das?« fragte Arne, als ich mich wieder neben ihn setzte. »Jemand, den ich angeheuert habe, damit er mich in Oslo fährt.« »Sieht für einen Chauffeur etwas ungewöhnlich aus, nicht wahr?« Ich lächelte. »Sein Fahrstil ist auch ganz schön haarsträubend.« 215
»Erzähl mir etwas über den Mann, mit dem wir uns treffen wollen.« »Ich weiß eigentlich nicht sehr viel über ihn. Er sagte, er heiße Johan Petersen…« Arne knurrte: »Johan Petersens gibt es jede Menge.« »Er sagte, er sei an dem Tag, an dem Bob Sherman verschwand, bei den Rennen gewesen und würde mir dazu gern etwas mitteilen. Er wohne in Lillehammer und arbeite auf dem dortigen Holzplatz. Ich bat ihn, nach Oslo zu kommen, aber er meinte, er könne den Tag nicht frei kriegen. Er könne sich jedoch heute während seiner Mittagspause mit mir treffen. Es war äußerst schwer, ihn zu verstehen, denn er sprach nur sehr wenig Englisch. Wenn du dabei bist, wird’s besser gehen.« Arne nickte, blinzelte wie immer. Der Zug nahm die Dinge leicht, glitt ruhig in typisch norwegischer, gemächlicher Manier durch die äußeren Vororte Oslos. »Wie wirst du ihn erkennen?« »Er sagte, er würde mich erkennen. Ich solle nur in Richtung Brücke gehen und eine englische Zeitung dabeihaben.« »Hast du eine mitgebracht?« Ich nickte. »Steckt in der Manteltasche.« Der Zug war gut geheizt. Es wurde damit gerechnet, daß die Reisenden ihre Mäntel ablegten, denn es gab hinten im Wagen eine Metallschiene mit Kleiderbügeln - und dort hingen Arnes und mein Mantel nebeneinander. Die Strecke führte nach Norden durch Ackerland und Wälder und an einem großen See entlang. An jedem anderen Tag hätte mir diese Fahrt großen Spaß gemacht, aber es war eigentümlich, wie schon ein bißchen Angst ausreichte, um die Aufmerksamkeit nicht über die allernächste Umgebung hinausgelangen zu lassen. Das alte Gelbauge und sein Kumpel waren ungemütlich nahe, und mein zwanghaftes Über-die216
Schulter-Blicken wurde durch Mitreisende, die im Gang hin und her liefen, sogar noch schlimmer. Bei jedem Knallen der Türen zwischen den Wagen mußte ich hinsehen und mich vergewissern. Eine Frau in blauem Overall schob einen Servierwagen herein und bot heiße Getränke, Kekse und Süßigkeiten an. Arne erstand einen Kaffee für mich. Der Servierwagen rollte weiter, und die Tür knallte hinter der Frau zu. In einer größeren Stadt, in Hamar, hatten wir einen längeren Aufenthalt. Hamar war ein Eisenbahnknotenpunkt mit vielen offenen, zugigen Bahnsteigen, und nichts deutete auf das Rangieren von Waggons oder irgendeine anders geartete Geschäftigkeit hin. Schließlich ging es weiter, jetzt in schnellerem Tempo in Richtung Lillehammer. Die Bahnfahrt sollte insgesamt zweieinhalb Stunden dauern. »Ich habe dich am Sonntag bei den Rennen vermißt«, sagte Arne. »Ja, eigentlich wollte ich auch rauskommen, aber dann war es so kalt.« Er warf mir einen Blick freundlicher Verachtung zu. »Könnte sein, daß ich bald nach Hause zurückfliege«, sagte ich. »Wirklich?« Er war überrascht. »Ich dachte… du würdest hierbleiben, bis du herausbekommen hast…« »Sicher, aber nach unserer heutigen Reise müßten wir eigentlich mehr wissen. Mit ein bißchen Glück. Und dann ist da der Schlüssel…« »Was für ein Schlüssel?« »Ich habe in Bob Shermans Sturzhelm den Schlüssel zu einem Gepäckschließfach gefunden.« »Nein!« Ich nickte und erzählte ihm von der Fährte, der ich bis zu 217
Paddy O’Flaherty gefolgt war. »Du siehst also, daß wir, auch wenn ich bald nach Hause fliege, die meisten Antworten bis dahin gefunden haben müßten.« Arne war begeistert. »Das ist ja großartig«, sagte er. »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was in dem Schließfach ist, zu dem der Schlüssel gehört.« Er hatte eine Idee. »Vielleicht ist es ja das Geld. In den Segeltuchtaschen… du weißt doch, dieses Geld, das gestohlen worden ist.« »Das ist ein Gedanke«, sagte ich. Aber ich unterließ es, ihm zu erklären, was tatsächlich in dem Schließfach gewesen war dazu war auch später noch Zeit. Nach der Art zu schließen, wie die Mitreisenden aufstanden und sich die Mäntel anzogen, mußten wir unser Ziel bald erreicht haben. Der Zug fuhr am Mjøsa-See entlang, und in der Ferne konnte ich den Holzplatz erkennen - eine riesige Fläche von Baumstämmen, die im Wasser schwammen. Arne half mir in den Mantel, und ich ihm. Er lächelte ein bißchen traurig. »Du wirst Kari und mir fehlen.« »Ich werde eines Tages wiederkommen. Ich mag Norwegen sehr.« Er nickte. Der Zug passierte das Ende der Brücke nach Gjøvik, fuhr langsam bergan, lief noch langsamer in den Bahnhof von Lillehammer ein und kam mit einem Seufzer zum Stehen. Als wir ausstiegen, umfing uns ein eisiger Wind, der Himmel war grau und wolkenverhangen. Soviel, dachte ich, zu diesen Ferienpostern voller Sonne, Schnee und glücklichen Menschen auf Skiern, die ihre Sonnenbräune und ihre Zähne zeigen. Es war auch seltsam, daß keiner dieser weit im Norden liegenden, eisigen Bahnhöfe schützende Dächer über den Bahnsteigen hatte. Aber vielleicht stand ja kein Mensch wartend draußen herum, so daß Dächer überflüssig waren. Dadurch erinnerten diese Bahnhöfe noch immer an die letzte Szene der Anna218
Karenina-Verfilmung. »Kommst du, David?« fragte Arne. »Ja doch.« Ich hörte auf, mich immer wieder umzudrehen, und folgte ihm in die Schalterhalle. Ganz hinten auf dem Bahnsteig hatten sich zwei Männer schnell am Bahnhofsgebäude vorbei und in Richtung der zur Brücke hinunterführenden Straße in Bewegung gesetzt. Der eine war groß. Der andere von gleicher Statur wie der Mann, der in meiner Wohnung über mich hergefallen war. Sie waren allerdings zu weit entfernt, als daß ich es hätte beschwören können. Trotzdem war ich meiner Sache sicher. In der kleinen Bahnhofshalle standen überall Reisende herum, die mit leerem Gesichtsausdruck darauf warteten, daß die Zeit verging. An den Seiten befanden sich Sitzgelegenheiten, Türen zu Toiletten, ein Fahrkartenschalter - alle Serviceangebote in einem zentralen Bereich. Arne sagte, er würde gerne nochmal schnell telefonieren, bevor wir uns zu dem Treffen mit unserem Informanten aufmachten. »Nur zu«, sagte ich. Ich beobachtete ihn durch die Glaswand der Telefonzelle, wie er ein Geldstück in den Schlitz steckte und dann ernsthaft in die Muschel sprach. Er redete eine ganze Weile und kam dann lächelnd wieder heraus. »Alles erledigt. Gehen wir«, sagte er. »Arne…« Ich zögerte. »Ich weiß, es klingt albern, aber ich möchte nicht gehen.« Er sah aus, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Dann sagte er jedoch: »Aber warum denn nicht? Dieser Mann hat vielleicht gesehen, wer Bob Sherman umgebracht hat.« »Ich weiß. Aber… ich kann es nicht erklären. Ich habe… so ein ganz irres, unheimliches Gefühl, eine Art Vorahnung. Ich kenne das von früher… ich kann… ich kann mich nicht darüber 219
hinwegsetzen. Irgend etwas sagt mir, daß ich nicht hingehen soll. Und deshalb gehe ich auch nicht hin.« »Aber David«, sagte er, »das ist doch verrückt.« »Ich kann’s nicht ändern. Aber ich gehe nicht hin.« »Und was wird mit dem Mann?« Ich sagte hilflos: »Ich weiß es nicht.« Arne wurde ungeduldig. Er versuchte es mit Beleidigungen, er versuchte es mit Schmeicheleien - ich gab nicht nach. Zuletzt sagte er: »Gib mir die Zeitung. Ich spreche mit ihm.« »Aber wenn mir meine Vorahnung sagt, daß auf der Straße dort eine Gefahr lauert«, wandte ich ein, »dann muß es auch für dich gefährlich sein. Ich hatte schon einmal im Zusammenhang mit einer Straße so ein Vorgefühl… ich wollte nicht weitergehen, und ein paar Sekunden später krachten ein paar Tonnen Baugerüst genau auf die Stelle herunter, an der ich sonst gerade angelangt wäre. Wenn mir seitdem ein starkes Gefühl sagt, daß ich etwas nicht tun soll, dann tue ich es auch nicht.« Er blinzelte mich ernst an. »Wenn ich irgendein Baugerüst sehe, dann werde ich mich davon fernhalten. Aber wir müssen zu dem Treffen mit diesem Johan Petersen und uns seine Geschichte anhören. Gib mir die Zeitung.« Widerwillig übergab ich ihm den Express vom Vortag. »Ich warte hier auf dich«, sagte ich. Er nickte, noch immer nicht zufriedengestellt, und machte sich allein auf den Weg. Ich suchte mir als Sitzplatz das Ende einer der Bänke aus, wo ich eine solide Wand im Rücken und eine neben mir hatte. Auf meiner anderen Seite saß ein pummeliges junges Mädchen in einem zottigen Schaffellmantel und aß geräuschvoll ein Fischbrötchen. Ein paar Leute betraten die Halle. Ein Zug kam an und nahm die meisten von ihnen mit, meine Banknachbarin eingeschlossen. Die Zeit verging sehr langsam. 220
Anderthalb Stunden Zeit zwischen unserer Ankunft und der Abfahrt des Zuges zurück nach Oslo. Anderthalb Stunden, die totgeschlagen werden mußten. Berichtigung, dachte ich gequält. Anderthalb Stunden, die es zu überleben galt. Ich wünschte, ich würde rauchen, Fingernägel kauen oder Yoga betreiben, dachte ich. Ich wünschte, mein Herz würde nicht jedesmal einen Satz machen, wenn draußen vor dem Fenster zwei Leute nebeneinander vorbeigehen. Ich wünschte, ich wüßte, was Gelbauge und Braunauge über einen Mord in aller Öffentlichkeit denken! Denn wenn ich sicher sein könnte, daß sie ein solches Risiko nicht eingehen würden, könnte ich mir eine Menge Sorgen sparen. So aber saß ich da, wartete, geriet langsam ins Schwitzen und hoffte, daß ich richtig eingeschätzt hatte, wie weit sie gehen würden. Als die ersten Reisenden, die den Zug nach Oslo nehmen wollten, auf dem Bahnhof eintrafen und sich ihre Fahrkarten kauften, löste ich für Arne und mich auch welche. Ich verlangte gezielt nach den beiden sichtbarsten Plätzen im Wagen, die ich mir auf der Herfahrt eingeprägt hatte, und obwohl es einigermaßen schwierig war, dem Bahnbeamten, der nur wenig Englisch konnte, klarzumachen, was ich wollte, bekam ich die gewünschten Plätze. Als ich mich wieder in meine schützende Ecke zurückzog, kam ich neben einen älteren Herrn zu sitzen, dessen längliches, gelbliches Gesicht von einer Mütze mit Ohrenklappen gekrönt wurde. Er hatte mich am Fahrkartenschalter englisch sprechen hören und brannte nun darauf, mir zu erzählen, daß er im vergangenen Jahr mit Sohn und Schwiegertochter in England gewesen war. Ich ermutigte ihn ein bißchen und erhielt dafür eine ins einzelne gehende Führung vom Tower Hill über Westminster Abbey bis zur National Gallery. Als Arne eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges zurückkehrte, plauderten mein Banknachbar und ich schon wie alte Bekannte. Arne sah beunruhigt aus. Ich stand auf und ging ihm entgegen, 221
wobei ich auf den älteren Herrn deutete. »Wir haben uns gerade über London unterhalten…« Arne sah den Mann an, ohne ihn richtig wahrzunehmen, und unterbrach mich abrupt: »Er ist nicht gekommen.« »O nein!« sagte ich. Arne schüttelte den Kopf. »Ich habe gewartet. Ich bin zweimal bis zur Brücke hinuntergegangen. Ich hab die Zeitung deutlich sichtbar gehalten. Aber niemand hat mich angesprochen. Da ist nicht einmal jemand vorbeigekommen, der so aussah, als suchte er jemanden.« Ich äußerte mich enttäuscht: »So ein verdammter Mist. Es tut mir leid, Arne, daß ich dir einen ganzen Tag gestohlen habe… aber er klang so bestimmt. Vielleicht ist er ja ohne eigenes Verschulden aufgehalten worden, und wir sollten mal beim Holzplatz anrufen…« »Das habe ich schon getan«, sagte er. »Dort arbeitet kein Johan Petersen.« Wir starrten uns an. Ich sagte niedergeschlagen: »Und ich habe so fest damit gerechnet, daß er uns eine wirklich wichtige Mitteilung macht.« Er sah mich unsicher an. »Meine Vorahnung war also vollkommen unzutreffend«, sagte ich. »Ich hab’s dir ja gesagt.« Er wollte seine Brieftasche herausholen. »Ich hab die Fahrkarten schon besorgt«, sagte ich und zeigte sie ihm. »Zwei Plätze nebeneinander.« »Oh… gut.« Der Zug lief ein, dunkelrot und silbern, und wir stiegen ein. Die Plätze waren genau das, was ich mir erhofft hatte - ganz am Ende des Wagens, mit der Rückenlehne zur Garderobe, aber 222
allen anderen Plätzen gegenüber. Das Glück wollte es, daß mein ältlicher Freund, der mit dem London-Urlaub, drei Reihen weiter am Gang saß. Er hatte Arne und mich voll im Blick und winkte uns lächelnd zu. Ich erzählte Arne, wie freundlich der Mann gewesen war. »Wie alle Norweger«, fügte ich hinzu. Arne warf einen schnellen Blick über die Schulter. Nur eine Reihe Kleiderbügel, auf denen Mäntel hingen - trotzdem sah er nicht glücklich aus. Zwei junge Mädchen mit strahlenden Augen kamen herein und setzten sich uns direkt gegenüber. Ich nahm meine Füße aus dem Weg und lächelte sie an. Sie lächelten zurück und sagten etwas in ihrer Muttersprache. »Ich bin Engländer«, sagte ich, und sie wiederholten »Engländer«, nickten und lächelten wieder. »Und das ist mein Freund Arne Kristiansen.« Sie schrieben diese Vorstellung der Exzentrizität von Ausländern zu und sagten kichernd »Hallo« zu ihm. Arne erwiderte ihren Gruß, aber er hätte ihr Vater sein können und war an ihrem Jungmädchengeplauder nicht interessiert. Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir sprachen eine Weile über das Nicht-Erscheinen von Johan Petersen, und ich meinte, wir müßten eben einfach darauf hoffen, daß er sich noch einmal melden werde. »Sagst du mir Bescheid, wenn er noch mal anruft?« »Natürlich«, entgegnete ich. Die Frau im blauen Overall schob wieder ihren Wagen mit Erfrischungen durch den Gang. Ich sagte, jetzt sei ich mal an der Reihe, und erstand trotz Arnes Protest zwei Becher Kaffee. Ich bot auch den Mädchen etwas zu trinken an, die das ungeheuer aufregend fanden und ganz rot wurden. Sie fragten bei Arne nach, ob sie wohl statt eines Kaffees, den sie nicht mochten, Orangensaft haben könnten. Die Frau im blauen Overall hörte sich geduldig an, was Arne ihr übersetzte, und händigte ihm 223
schließlich mit einem Lächeln mein Wechselgeld aus. In Arnes Augen kam allmählich jener gehetzte Blick, den er oft hatte, wenn er sich von einer Menschenmenge umgeben sah. »Laß uns irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist«, sagte er. »Geh nur«, gab ich zurück. »Mir gefällt es hier sehr gut.« Er schüttelte den Kopf, blieb aber. Zu seiner Erleichterung und meinem Bedauern mußten die beiden Mädchen in Hamar aussteigen. Einen Abschiedsgruß kichernd und sich immer wieder nach uns umdrehend, gingen sie davon. Niemand stieg zu und nahm die frei gewordenen Plätze ein, aber nachdem der Zug angefahren war, stand mein ältlicher Freund auf und kam zu uns. »Darf ich mich wohl zu Ihnen setzen?« fragte er. »Es ist so interessant, sich über England zu unterhalten.« Das war zuviel für Arne. Er erhob sich abrupt und verschwand eiligst im nächsten Wagen. Hinter ihm knallte die Tür zu. »Habe ich Ihren Freund verstimmt?« erkundigte sich der ältere Herr besorgt. »Das täte mir leid.« »Er hat Probleme«, erwiderte ich. »Aber für die können Sie nichts.« Erleichtert ließ mein Gegenüber daraufhin weitere Erinnerungen vom Stapel, die mich zu Tode langweilten, aber möglicherweise am Leben erhielten. Er saß noch immer da und redete ohne Punkt und Komma, als wir in den Bahnhof von Oslo einfuhren. Und auf dem Bahnsteig stand, wie versprochen, Erik. Er hatte Odin neben sich und hielt besorgt nach mir Ausschau. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn sie jetzt noch einen Versuch machen wollten, dann mußten sie es ganz offen tun. Ich stieg aus dem Zug und drehte mich zu Erik um. Und da, zwischen uns, standen die beiden Männer, die ich am wenigsten zu sehen wünschte, und wirkten so entschlossen, daß einem ganz schlecht werden konnte. 224
15 Es kam nicht zum Kampf. Erik sah sie im gleichen Augenblick wie ich und schrie so laut er konnte: »Polizei!« Alle Leute in Hörweite blieben stehen, um zu sehen, was da los war. »Polizei!« schrie Erik noch einmal, wobei er jetzt auf Gelbauge und Braunauge zeigte. »Das sind Diebe! Holt die Polizei!« Und er wiederholte alles auf norwegisch, auch das sehr laut. Dem hielten ihre Nerven nicht stand. Sie warfen einen Blick auf den größer werdenden Kreis von Menschen, die sie mit aufgerissenen Augen anstarrten, und stürzten dann in Richtung Ausgang davon. Niemand unternahm einen ernsthaften Versuch, sie aufzuhalten - auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich vor allem Erstaunen ab. Erik trat zu mir und schüttelte mir überschwenglich die Hand. »Habe nur Ihre Theorie in die Praxis umgesetzt«, sagte er. Ich sah ihn verständnislos an. Er erklärte es mir. »Knut hat mir gesagt, Sie glaubten nicht, daß die sie umbringen würden, solange Leute dabei zuschauen. Deshalb habe ich einfach ein paar Zuschauer zusammengetrommelt.« »Danke.« »Sagen wir, wir sind quitt«, meinte er grinsend und tätschelte Odin. Ich entdeckte, daß meine Handflächen feucht geworden waren und daß ich am ganzen Leibe zitterte. »Ich brauche ein Telefon«, sagte ich. 225
»Sie brauchen einen starken Schnaps.« »Den auch.« Ich rief Knut an. »Ich bin wieder da und auf dem Bahnhof«, teilte ich ihm mit. »Gott sei Dank.« »Hat es geklappt?« fragte ich einigermaßen gespannt, denn schließlich hatte ich sieben nervenaufreibende Stunden lang Kopf und Kragen riskiert, und nach so etwas ist niemand mehr in der Lage, gänzlich objektiv zu sein. »Ja«, sagte er, aber seine Stimme hatte einen merkwürdig reservierten Unterton. »Zumindest… ja.« »Was ist los?« »Sie kommen besser zu mir aufs Revier. Da läßt sich alles leichter erklären.« »Gut.« Ich trat aus der Zelle und wäre fast über Odin gestolpert, der vor der Tür lag wie ein mittelalterlicher Schildknappe. Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, stand lässig auf und gähnte. Ich fragte Erik: »Haben Sie Arne Kristiansen irgendwo gesehen?« »Wen?« Ich sah mich vergeblich nach Arne um. »Na, ist egal. Er wird nach Hause gegangen sein.« In der hereinbrechenden Dunkelheit fuhr Erik gemächlich (nur ein Fast-Zusammenstoß) zum Polizeigebäude, wo ich nach oben ging und Knut allein und auf einem Bleistift herumkauend vorfand. Er wies auf den Besucherstuhl und brachte nur die Andeutung eines Lächelns zustande. »Tja… wir haben uns an alle Ihre Vorschläge gehalten«, sagte er. »Wir haben diese Graphik in Fornebu in ein Schließfach getan und den Schlüssel lose in den Sturzhelm gesteckt, der in 226
Ihrem Zimmer im Grand Hotel liegt. Wir haben alle Oberflächen mit Anthracen eingesprüht, die ein Eindringling aller Voraussicht nach mit den Händen berühren würde, und haben dann in Fornebu gewartet, ob dort jemand auftauchen würde.« Er fuhr mit dem Bleistift über seine Zähne, was ein klapperndes Geräusch machte. »Es ist auch wirklich jemand gekommen.« »Wer?« Er seufzte. »Sehen Sie lieber selbst.« Wir verließen sein ärmliches Büro und gingen einen teppichlosen Korridor hinunter. Vor einer cremefarben gestrichenen Tür blieb er stehen. Durch ein Glasfensterchen, das in Augenhöhe in die Holztür eingelassen war, fiel helles Licht. »Schauen Sie hinein«, sagte Knut. Ich sah hinein. Der Raum war klein und kahl, enthielt nur einen einfachen Tisch und drei Stühle. Auf einem dieser Stühle saß ein junger, unerschütterlich aussehender Polizeibeamter in Uniform. Und auf einem anderen saß rauchend und so ruhig, als befände er sich im Sitzungssaal seiner Firma, Per Bjørn Sandvik. Ich trat von dem kleinen Fensterchen zurück und starrte Knut an. »Kommen Sie wieder in mein Büro«, sagte er. Wir gingen zurück und setzten uns wieder auf unsere alten Plätze. »Er kam nach Fornebu heraus und schloß das Fach auf«, berichtete Knut. »Das war« - er zog einen Notizblock zu Rate »genau um vierzehn Uhr fünfunddreißig. Er nahm das Papier aus dem Schließfach und steckte es in eine seiner Innentaschen. Ich und zwei meiner Beamten vertraten ihm den Weg, als er von den Schließfächern fortgehen wollte, und baten ihn, uns aufs 227
Revier zu begleiten. Er schien überrascht zu sein, aber nicht… nicht wirklich beunruhigt. Ich habe schon so viele Leute festgenommen… Per Bjørn Sandvik verhielt sich nicht wie jemand, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase. »Ich werde aus ihm nicht schlau, David. Er zuckte bloß die Achseln und meinte, wenn wir es wünschten, käme er gerne mit, aber sonst hat er auf dem ganzen Weg hierher fast keinen Ton mehr von sich gegeben. Er war vollkommen ruhig. Kein Anzeichen von Streß. Nicht das geringste. Er ist jetzt schon seit anderthalb Stunden hier und war die ganze Zeit äußerst höflich und gelassen.« »Welche Erklärung hatte er?« »Wir gingen ins Vernehmungszimmer und setzten uns. Es war noch ein Beamter dabei, der Notizen machen sollte. Mr. Sandvik bot mir eine Zigarette an. Er sagte, er habe nur versucht, uns bei der Aufklärung des Todes von Bob Sherman behilflich zu sein. Er sagte, Arne Kristiansen habe ihn angerufen und ihm gesagt, Sie hätten einen Schlüssel gefunden, der zu wertvollen Informationen führen könnte, weshalb er ins Grand Hotel gefahren sei, um den Schlüssel zu holen. Er habe gleich gesehen, daß er vom Flughafen Fornebu stammte, da er die Schließfächer dort schon häufig benutzt hätte. Dann sei er zum Flughafen hinausgefahren… um nachzusehen, was von Bob Sherman dort hinterlegt worden war. Er sagte, er habe gedacht, es könnte sich um das fehlende Geld handeln, aber es sei nur ein Papier gewesen. Er habe nicht mehr als einen kurzen Blick darauf werfen können, weil wir ihn dann angesprochen hätten.« »Hat er irgendeinen Grund dafür genannt, warum er das alles alleine gemacht hat, statt auf Arne oder auf meine Rückkehr zu warten oder die Polizei um Hilfe zu bitten?« »Doch, ja.« Knut lächelte ein kleines, verkniffenes Lächeln, machte sich über mich lustig. »Er sagte, Arne habe ihn gebeten, 228
die Sache in die Hand zu nehmen. Arne habe dem RennbahnAusschuß beweisen wollen, daß er als Ermittler sein Geld wert sei, und deshalb ihn, Sandvik, als Mitglied des Ausschusses angerufen und von dem Schlüssel unterrichtet. Offenbar hat Arne gesagt, wenn er und Sandvik an den Ermittlungen beteiligt gewesen seien, dann könnten Sie nicht alles Lob allein einheimsen.« »Was denken Sie?« Er sah niedergeschlagen aus. »Per Bjørn Sandvik ist ein Industriekapitän. Er ist sehr angesehen. Er verhält sich auch sehr entgegenkommend, aber wenn wir ihn noch lange hier festhalten, wird er unangenehm werden.« »Und Ihre Vorgesetzten werden Sie unter Druck setzen?« »Äh… ja.« Ich überlegte. »Keine Bange, Knut«, sagte ich dann. »Wir haben den richtigen Mann erwischt.« »Aber er ist so selbstsicher.« Ich nickte. »Er geht von falschen Voraussetzungen aus.« »Und zwar?« »Er glaubt, ich sei tot.« Per Bjørn Sandvik bekam in der Tat einen bösen Schreck, als er mich das, Vernehmungszimmer betreten sah. Muskeln um Augen und Mund zogen sich krampfartig zusammen, und seine so schon blasse Haut wurde noch blasser. Aber er faßte sich mit außerordentlicher Schnelligkeit. Keine drei Sekunden, und er lächelte liebenswürdig und mit jener trügerischen Ruhe, die Knut so sehr verwirrte. »David!« sagte er wie zur Begrüßung, aber ich konnte das panische Schrillen der Alarmglocken wenn nicht direkt hören, so doch spüren. 229
»Ich fürchte, dies ist kein allzu glückliches Zusammentreffen«, sagte ich. Er nahm eine so eilige Neueinschätzung der Lage vor, daß die Muskeln um seine Augen in kleine rhythmische Zuckungen gerieten - was mir jede auch noch so geringe Selbstgefälligkeit austrieb, denn Leute, die unter derart widrigen Umständen so schnell und scharf zu denken vermochten, verfügten über einen Verstand, vor dem man sich nur hüten konnte. Knut betrat hinter mir das Zimmer und wies den jungen Polizisten an, noch einen Stuhl zu holen. Während der Beamte fort war, beobachtete ich, wie Per Bjørn die Neuordnung seiner Gedanken zu Ende führte. Dann entspannte er sich kaum wahrnehmbar. Zu schnell, wie ich glaubte - und ich konnte mir einen Irrtum nicht leisten. Der zusätzliche Stuhl wurde gebracht, und wir setzten uns alle um den leeren Tisch, als handelte es sich um eine einfache geschäftliche Besprechung. Ich sagte: »Es dürfte Ihnen inzwischen klargeworden sein, daß es in Lillehammer gar keinen Johan Petersen gibt.« »Ich verstehe nicht«, sagte er freundlich mit seiner hohen, deutlich artikulierenden Stimme. »Ich dachte, wir wollten über den Schließfachschlüssel und den Flughafen Fornebu sprechen.« »Wir sprechen über Arne Kristiansen«, sagte ich. Schweigen. Ich wartete. Aber er war jetzt viel zu vorsichtig geworden, um irgendeinen Schritt zu tun, ohne nach Fußangeln Ausschau zu halten, weshalb ich nach einer Weile, als so gar nichts von ihm kam, versuchte, ihn auf dem eingeschlagenen Weg ein Stück weiterzulocken. »Sie sollten sich nicht auf Arne verlassen«, sagte ich. »Arne steckt tief drin, bis zum Hals.« Keine Antwort. »Also, wenn ich’s mir genau überlege, sogar bis über die 230
Ohren, soviel, wie er hat schwimmen müssen.« Keine Reaktion. »Diese ganze Geschichte dort draußen auf dem Fjord«, sagte ich. »Damals dachte ich, Arne wäre ertrunken, dabei hatte er einen Taucheranzug unter seinem roten Anorak an. Schöner, glatter, schwarzer Gummi mit gelben Nähten, der sogar noch seinen Kopf umschloß und warm hielt.« Ich hatte das SchwarzGelb unter seinem Anorak gesehen. Es hatte Tage gedauert, bis mir klargeworden war, daß es sich um Gummi gehandelt hatte. Aber schließlich hatten wir unsere tuckernde Fahrt den Fjord hinunter ja auch unternommen, bevor ich zu der Gewißheit gelangt war, daß Arne zur anderen Seite gehörte. »Ein guter Schwimmer, der Arne«, sagte ich. »Ein zäher Allround-Sportler. Da steht er also im Dinghi auf und wedelt mit den Armen, als wollte er die Motorjacht auf uns aufmerksam machen, damit sie uns nicht überfährt, aber in Wirklichkeit signalisiert er ihr, daß dies das Boot ist, das sie versenken soll. Dieses Dinghi, und nicht irgendeinen anderen unschuldigen Tölpel, der zum Fischen draußen ist. Und dann schwimmt Arne an Land und meldet einen Unfall, meldet, daß ich ertrunken sei.« Pause. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Per Bjørn und seufzte geduldig. »Ich rede von Arne, der sich seinen Taucheranzug überzieht und in Øvrevoll in den Teich steigt, um Bob Sherman herauszuholen.« Schweigen. Arne war schlecht geworden, als er die schon einen Monat alte Leiche sah. In der Nacht, als er Bob aus dem Teich geholt und in eine Plane gewickelt hatte, war es nicht so schlimm gewesen aber im Licht jenes regnerischen Tages empfand er den Anblick wie einen schweren Schlag in die Magengrube. 231
»Ich rede von Arne als dem einzigen Menschen, der sicher sein konnte, daß niemand ihn dabei beobachtete, wie er Leichen in Tümpel warf, sie wieder herausholte und später wieder hineinschmiß. Arne war Sicherheitsbeauftragter. Er konnte die Rennbahn betreten und verlassen, wie es ihm beliebte. Niemand hätte es seltsam gefunden, ihn als ersten, als letzten oder in der Nacht dort anzutreffen. Außerdem konnte er dafür sorgen, daß selbst der Nachtwächter nichts sah, was er nicht sehen sollte, denn dieser würde jede ablenkende Aufgabe übernehmen, die Arne ihm übertrug.« Nichts. »Das sind Mutmaßungen«, sagte er. Knut saß schweigend dabei und hielt sich an sein Versprechen, keine Kommentare abzugeben, was immer ich auch sagte. Der Bleistift des jungen Polizisten hatte auf dem Notizblock noch kaum einen Strich hinterlassen. »Arne hat das Geld selbst gestohlen«, sagte ich. »Um einen Grund für das Verschwinden Bob Shermans zu liefern.« »Unsinn.« »Die meisten der im Büro der Rennleitung anwesenden Leute waren der Meinung, das Geld sei schon im Safe. Und das war es auch. Arne selbst hatte es hineingetan, so wie immer. Er besitzt Schlüssel zu allen Toren, zu allen Gebäuden, zu jeder Tür auf der gesamten Anlage. Er hat das Geld nicht in den fünf Minuten an sich genommen, als der Raum zufällig leer war. Dazu hatte er die ganze Nacht Zeit.« »Das glaube ich nicht. Arne Kristiansen ist ein angesehener Angestellter der Rennbahn.« Sandvik saß da und hörte mir mit geduldiger Höflichkeit zu, so als hätte er einen langweiligen Gast am Hals. »Bob Sherman hat ein Päckchen mit Papieren aus England mitgebracht«, sagte ich. 232
»Ja, Sie haben schon mal danach gefragt. Und ich habe Ihnen gesagt, daß ich darüber nichts weiß.« »Unglücklicherweise war er neugierig. Er öffnete das Päckchen und sah, was er nicht sehen sollte. Das muß er auf dem Flug nach Oslo gemacht haben, denn er ließ einen Teil des Inhalts in Fornebu in einem Schließfach zurück.« Per Bjørn drehte seinen gutaussehenden Kopf. Er sah Knut an, nicht mich, und sagte etwas auf norwegisch. Knut machte Gesten des Bedauerns und der Hilflosigkeit und sagte kein Wort. »Bob Sherman war allzusehr in Projekte vernarrt, die schnellen Reichtum verhießen«, sagte ich. »Er bekam etwas dafür, daß er den Umschlag aus England mitbrachte, aber er dachte sich, er könnte seine Honorarforderung etwas erhöhen. Natürlich ein schwerer Fehler. Er bekam für all seine Mühen eins übergebraten. Und niemand merkte, daß er den Umschlag geöffnet und etwas herausgenommen hatte. Das stellte sich erst lange nach seinem Tod und dem Begräbnis im Teich heraus.« Per Bjørn saß unbewegt da und wartete darauf, daß die lästige Mücke endlich aufhören würde, um ihn herumzusirren. Aber ich sirrte noch ein bißchen weiter. »Denn was er herausgenommen hatte, war in gewisser Weise ein Doppel dessen, was er drin gelassen hatte.« Diesmal saß es. Seine Augenmuskeln zuckten. Er wußte, daß ich es bemerkt hatte. Er lächelte. Ich sagte: »Bob Sherman versteckte den Schlüssel zu dem Schließfach in Fornebu vorsichtshalber in seinem Sturzhelm. Seine Leiche wurde aus dem Teich gefischt, weil inzwischen entdeckt worden war, daß er ein Papier aus dem Umschlag genommen hatte, aber die Durchsuchung seiner vollgesogenen Kleidung und seiner Reisetasche förderte nichts zutage. Und auch die Durchsuchung seines Hauses in England nicht. Als mir endlich dämmerte, was da offensichtlich vor sich ging, und ich 233
mich fragte, ob Bob das fehlende Objekt nicht vielleicht in seinem Rennsattel oder seinem Sturzhelm versteckt hatte, waren andere auch schon auf diese Idee gekommen. Sein Sattel, der noch einen Monat nach Shermans Verschwinden an seinem Haken im Umkleideraum gehangen hatte, war plötzlich nirgends mehr zu finden.« Er saß da. Schwieg. »Der Helm und der Sattel gehörten nun aber nicht mehr Bob, sondern Paddy O’Flaherty. Ich habe das Arne erzählt. Und auch, daß ich den Schlüssel gefunden hatte.« Per Bjørn schlug ein Bein über das andere, holte seine Zigaretten heraus und hielt sie in die Runde. Als keiner eine wollte, steckte er sein Etui wieder in die Tasche und zündete sich eine an. Die Hand, die das Gasfeuerzeug hielt, war absolut ruhig. »Ich erzählte ihm aber nicht, daß wir das Schließfach schon geöffnet und nachgesehen hatten, was drin war«, sagte ich. »Wir wollten herausbekommen, wer außer Arne nach dem fehlenden Papier sucht, weshalb wir der betreffenden Person die Gelegenheit verschafften, es zu finden.« »Genial«, sagte er. »Wie schade, daß Sie den grundlegenden Fehler begangen haben anzunehmen, daß Arne Kristiansen etwas mit Bob Shermans Tod zu tun hat. Wenn er sich all das hätte zuschulden kommen lassen, was Sie da aufgeführt haben, dann wäre das natürlich eine hervorragende Falle gewesen. So aber…« Er zuckte leicht die Achseln. Knut sah beunruhigt aus. »Da war noch das Problem der zwei Männer, die Bob Shermans Haus durchsucht hatten«, sagte ich. »Wenn wir sie nicht fortlockten, hätte man sie mit dem Auftrag losschicken können, den Schlüssel zu holen und das Schließfach zu öffnen. Folglich lieferten wir ihnen einen Grund, Oslo zu verlassen. Wir erfanden einen möglichen Augenzeugen für den Mord an Bob 234
Sherman. Ich sagte nur Arne Kristiansen, daß ich nach Lillehammer fahren würde, um mich mit diesem Mann zu treffen, und bat ihn, mich zu begleiten. Im Zug erzählte ich ihm von dem Schlüssel und daß ich diesen Schlüssel der Polizei übergeben wolle, wenn ich wieder in Oslo sei. Ich sagte ihm, die Polizei erwarte von mir, daß ich ihr sofort nach meiner Rückkehr Bericht erstatten und sie wissen lassen würde, was mir der Mann in Lillehammer mitgeteilt hatte. Für Arne bedeutete das alles, daß, sollte ich nicht zurückkehren, die Suche sofort beginnen würde und dann vielleicht keine Gelegenheit mehr wäre, den Schlüssel aus meinem Hotelzimmer zu holen. Also mußte das schnellstens geschehen, auch wenn es riskant war.« Ich machte eine Pause. »Sie haben ihn geholt«, sagte ich dann. »Nein.« »Sie glaubten, niemand außer Arne und mir wüßte etwas von der Existenz des Schlüssels. Sie haben sich geirrt. Sie glaubten, es gebe einen möglichen Augenzeugen für den Mord an Bob Sherman, und schickten Ihre beiden Schläger los, damit sie sich um ihn kümmerten. Sie erwarteten außerdem, daß die beiden auch mich um die Ecke bringen würden. Aber was das angeht, sind die beiden ziemliche Versager. Sie sollten sie feuern.« »Das ist doch lächerlich«, sagte er. Ich fuhr fort: »Ich sagte den Leuten im Grand Hotel, sie sollten sich keine Sorgen machen, wenn jemand käme und nach meiner Zimmernummer oder dem Zimmerschlüssel fragte.« Was denen nach der ganzen Versteckspielerei der vergangenen Tage recht seltsam vorgekommen sein mußte. »Wir haben alles so leicht gemacht, wie wir nur konnten.« Er sagte nichts. Knut hatte das Zimmer mit Anthracenstaub eingesprüht, der unsichtbar an Haut und Kleidungsstücken hängenbleibt und unter einer UV-Lampe fluoresziert. Jeder, der in meinem Zimmer gewesen war und das bestritt, würde so der Lüge überführt werden. Per Bjørn hatte sich jedoch so etwas 235
gedacht und deshalb nicht geleugnet. Er mußte während seiner wortlosen Fahrt von Fornebu zum Polizeirevier schnell und scharf überlegt haben. Von dem Anthracen konnte er nichts wissen, mußte aber wohl davon ausgegangen sein, daß eine Falle, die in vielerlei Hinsicht so raffiniert war, in anderer nicht naiv sein konnte. Ich sagte: »Das Papier, nach dem Sie gesucht haben, ist die graphische Darstellung eines Bohrkerns, der aus der Zone fünfundzwanzig/sechs der Nordsee stammt.« Er schluckte diese Überraschung, als bestünde er ganz und gar aus Styropor. Ich ließ nicht locker. »Das Papier wurde im Wessex-Wells Research Laboratory in Dorset, England, gestohlen, und die Information, die es enthält, war Eigentum der Interpetro Oil Company. Es zeigt außergewöhnlich ölreiches Gestein von großer Porosität und Permeabilität. In einer Tiefe von vierzehntausend Fuß.« Es schien, als hätte er fast zu atmen aufgehört. Er saß vollkommen bewegungslos da, während der Rauch von der Zigarette zwischen seinen Fingern so gerade emporstieg, als wäre er ein Sinnbild der Aufrichtigkeit. Ich sagte: »Die Interpetro Oil Company ist kein Unternehmen des Konsortiums, zu dem Ihre Gesellschaft gehört, aber sie ist oder war vornehmlich in norwegischem Besitz, und die Ölquelle, um die es hier geht, liegt im norwegischen Teil der Nordsee. Nachdem Bob Sherman sein Päckchen nach Norwegen gebracht hatte, kletterte der Kurs der Interpetro-Aktien an den internationalen Börsen sofort in die Höhe. Obwohl die Aktienkäufe sehr geheim getätigt worden sind, habe ich doch gehört, die Hauptkäufer säßen im Nahen Osten. Sie können weitaus besser beurteilen als ich, ob es für Norwegen von Vorteil ist oder nicht, wenn eines seiner vielversprechendsten Ölfelder von ölproduzierenden Konkurrenten aufgekauft wird.« 236
Nicht das leiseste Zucken der Augenlider. »Norwegen hat denen unter seinen Bürgern, die seinerzeit mit den Nazis kollaboriert haben, nie verziehen. Was wird man wohl von einem der angesehensten Geschäftsleute des Landes halten, der aus Profitgier Vorausinformationen über das beste norwegische Ölfeld in den Nahen Osten verkauft hat?« Er veränderte seine Haltung und schlug das andere Bein über. Dann schnippte er die Asche seiner Zigarette auf den Boden und tat einen tiefen Zug. »Ich möchte«, sagte er schließlich, »mit meinem Anwalt telefonieren. Und mit meiner Frau.«
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16 Knut und ich kehrten in sein Büro zurück und ließen uns wieder an seinem Schreibtisch nieder. »Können Sie das beweisen?« fragte er. »Wir können beweisen, daß er ins Grand Hotel gegangen ist, den Schlüssel geholt und das Schließfach geöffnet hat.« »Was noch?« Ich sagte finster: »Es sind Indizien. Ein guter Verteidiger kann das alles auf den Kopf stellen.« Knut kaute auf seinem Bleistift herum. »Der Skandal wird ihn ruinieren«, sagte er. Ich nickte. »Aber ich wette, er hat irgendwo ein Vermögen in Sicherheit gebracht.« »Ihm muß aber«, meinte Knut, »auch viel an seinem Ruf und nicht bloß am Geld liegen, denn sonst wäre er doch einfach außer Landes gegangen und hätte nicht Bob Sherman umbringen lassen.« »Ja.« Wir saßen uns eine Weile schweigend gegenüber. »Sie sind müde«, sagte Knut schließlich. »Ja, und Sie auch.« Er grinste und sah plötzlich Erik sehr ähnlich. Ich sagte: »Ihr Bruder hat mir erzählt, daß Per Bjørn Sandvik während des Krieges dem Widerstand angehört hat.« »Ja, das stimmt.« »An Mut fehlt’s also nicht«, sagte ich. »Hat’s nicht gefehlt und fehlt’s auch heute nicht.« »Und wir sind nicht die Gestapo«, sagte Knut. »Er weiß, daß 238
wir ihn nicht foltern werden. Wir müssen ihm nach all dem, was er in seinen jungen Jahren riskiert hat, recht lahm vorkommen. Er wird sich nicht geschlagen geben und ein Geständnis ablegen. Niemals.« Dieser Ansicht war ich auch. »Die beiden Männer«, sagte ich, »Gelbauge und Braunauge. Die sind zu jung, um in der Widerstandsbewegung gewesen zu sein. Aber… wäre es denkbar, daß ihre Väter dabeiwaren? Arnes Vater war Widerstandskämpfer. Könnten Sie nicht mal die Gruppe überprüfen, der Per Bjørn damals angehört hat, und feststellen, ob einer von ihnen Gelbauges Vater ist?« »Sie verlangen die unmöglichsten Dinge.« »Es ist wirklich nur eine höchst vage Vermutung«, seufzte ich. »Ich mache mich gleich morgen dran«, sagte er. Wir bekamen einen Kaffee, einen sehr milchigen. Ich hätte gut einen dreifachen Scotch und einen Schub von Emmas Scones gebrauchen können. »Wissen Sie«, sagte ich nach einem neuerlichen Schweigen, »da ist noch etwas. Eine andere Möglichkeit… Es muß einfach eine geben.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich meine… es war das schiere Glück, daß ich diesen Schlüssel gefunden habe. Wenn Paddy die Helme nicht getauscht hätte, hätten wir das Papier in Fornebu nie und nimmer gefunden.« Ich trank einen Schluck Kaffee. So schwach wie er war, half er bloß gegen den Durst. »Aber… die haben doch schon versucht, mich umzubringen, bevor sie wußten, daß dieses Papier nicht bei Bob Sherman im Teich lag. Es mußte also noch etwas anderes geben, was ich nicht finden durfte.« Ich stellte die Tasse ab und zog eine Grimasse. »Aber was?« fragte Knut. »Weiß der Himmel.« 239
»Irgend etwas, was mir entgangen ist«, sagte er gedrückt. »Warum sollten die annehmen, daß ich etwas sehe, was Sie nicht sehen?« »Weil es so ist«, erwiderte er. »Und Arne weiß es.« Arne… mein Freund Arne. »Warum hat er Sie da draußen auf dem Fjord eigentlich nicht selber umgebracht?« fragte Knut. »Warum hat er Ihnen nicht einfach eins auf den Schädel gegeben und Sie dann über Bord geschmissen?« »Es ist nicht so leicht, jemandem eins auf den Schädel zu geben, wenn man, der eine vorn, der andere hinten, in einem kleinen Dinghi sitzt. Und außerdem… ein Tier zum Schlachthof zu bringen und es zu schlachten, das sind zwei verschiedene Dinge.« »Das verstehe ich nicht.« »Arne war zwar sehr an meinem Tod gelegen, aber er wollte es nicht selber tun.« »Woher wissen Sie das?« »Weil er es nicht getan hat. In den vergangenen Wochen hätte er mehr Gelegenheiten gehabt als jeder andere, aber er hat es nicht getan.« »Sie konnten aber nicht sicher sein, daß er es nicht tun würde.« »Er ist zwar ein schwieriger Mensch, aber seine Einstellungen liegen alle fest… wenn er es beim ersten Mal nicht getan hatte, dann würde er es später auch nicht tun.« Wieder vergingen ein paar Minuten des Schweigens, während derer ich mich auf das zu konzentrieren versuchte, was ich nicht gefunden hatte. Es hat keinen Zweck, dachte ich. Gestern, dachte ich, wußte ich noch nicht, wer Interpetro Oil 240
manipuliert hat. Heute weiß ich es. Macht das einen Unterschied? »Mein Gott!« sagte ich und wäre fast vom Stuhl gekippt. »Was ist?« fragte Knut. »Ich bin vielleicht ein Trottel!« »Wie das denn?« »Sie erinnern sich doch noch an diese Bombe…« »Natürlich erinnere ich mich noch daran.« »So ein verdammt schlampig durchgeführter Mordversuch«, sagte ich. »Sie hätte auch schon eher hochgehen können, vor unserer Rückkehr zum Auto… Sie hat uns nicht getötet, und deshalb haben wir die ganze Sache als Fehlschlag verbucht. Aber es war gar kein Fehlschlag. Ganz und gar nicht, es war ein Riesenerfolg. Die Bombe hat genau das erreicht, was sie erreichen sollte.« »David…« »Wissen Sie noch, wo ich an jenem Nachmittag hin wollte? Ich bin nicht hingefahren, weil mich die Bombe daran gehindert hat. Ich bin ja so was von blöd… es geht nicht darum, was ich nicht gesehen habe, sondern wen.« Er starrte mich bloß an. »Mikkel Sandvik!« Ich rief im Internat in Gol an und ließ mich mit dem Direktor verbinden. »Oh, aber Mikkel Sandvik ist gar nicht da«, sagte er. »Sein Vater hat am Sonntagmorgen hier angerufen und gesagt, Mikkel müsse seine Tante besuchen, die im Sterben liege und nach ihm gefragt habe.« »Wo wohnt diese Tante?« »Das weiß ich auch nicht. Herr Sandvik hat selbst mit Mikkel geredet.« 241
Ich hörte im Hintergrund jemanden sprechen, und dann fuhr der Direktor fort: »Meine Frau sagt, Mikkel habe ihr erzählt, seine Tante Berit liege im Sterben und er wolle den nächsten Zug nach Bergen nehmen. Wohin er dann gefahren ist, wissen wir nicht… Warum fragen Sie nicht seinen Vater?« »Gute Idee«, sagte ich. »Was jetzt?« fragte Knut, als ich ihm den Inhalt des Telefongesprächs wiedergegeben hatte. »Ich glaube… ich werde mal Mrs. Sandvik aufsuchen und sehen, ob sie mir vielleicht sagen kann, wo Mikkel steckt.« »Gut. Und ich werde tun, was erforderlich ist, um Mr. Sandvik die Nacht über hierbehalten zu können.« Er seufzte. »Ein Mann wie er… irgendwie kommt es einem nicht richtig vor, ihn in eine Zelle zu sperren.« »Lassen Sie ihn bloß nicht laufen.« »Aber nein!« Erik war schon längst nach Hause gefahren, aber Knut meinte, ich sei ja schließlich mit polizeilichen Aufgaben betraut, und stellte mir für die Fahrt zum Hause der Sandviks einen Polizeiwagen zur Verfügung. Ich ging durch den Torbogen in den Innenhof, wandte mich dann nach rechts und klingelte an der gut beleuchteten, eindrucksvollen Haustür. Eine korpulente Frau mittleren Alters öffnete. Sie war bieder angezogen, trug kein Make-up und hatte eine sehr bestimmte, ziemlich abweisende Art. »Bitte?« fragte sie. Ich erklärte ihr, wer ich war, und bat um ein Gespräch mit Mrs. Sandvik. »Ich bin Mrs. Sandvik. Wir haben vor ein paar Tagen miteinander telefoniert.« »Das ist richtig«, sagte ich und ließ mir meine Überraschung nicht anmerken. Ich hatte angenommen, sie wüßte bereits, daß 242
ihr Mann auf dem Polizeirevier saß, aber offensichtlich hatte er seine beiden Anrufe noch nicht erledigt. Als wir ihn im Vernehmungszimmer zurückließen, hatte Knut gesagt, er werde veranlassen, daß Sandvik dort ein Telefon bekäme, was aber wohl seine Zeit brauchte. Schließlich riß sich niemand ein Bein aus, um einem Tatverdächtigen die Wünsche von den Augen abzulesen, auch dann nicht, wenn der Betreffende Per Bjørn Sandvik hieß. Das machte es mir jedoch leichter, Fragen zu stellen. »Kommen Sie herein«, sagte Mrs. Sandvik. »Es wird kalt, wenn die Tür offensteht.« Ich trat in die Diele. Sie forderte mich nicht auf, noch weiter hereinzukommen. »Mikkel?« fragte sie überrascht. »Der ist in der Schule. Das habe ich Ihnen doch gesagt.« Ich erklärte ihr die Sache mit der Tante Berit. »Er hat keine Tante Berit.« Hast du Töne! »Äh… kennt er jemand, der den Namen Berit trägt?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ist das wichtig?« »Ich kann nicht nach Hause zurückfliegen, bevor ich nicht mit Mikkel gesprochen habe. Tut mir leid.« Sie zuckte die Achseln. Nach einer langen Pause des Nachdenkens sagte sie: »Berit ist der Name einer alten Kinderfrau meines Mannes. Ich weiß nicht, ob Mikkel noch jemand anderen kennt, der Berit heißt. Wahrscheinlich.« »Wo wohnte denn diese alte Kinderfrau Ihres Mannes?« »Das weiß ich nicht.« Sie konnte sich nicht an den Familiennamen der Kinderfrau erinnern und war überhaupt nicht sicher, ob sie noch lebte. Sie meinte abschließend, ihr Mann würde mir das sicher sagen 243
können, wenn er nach Hause komme, und öffnete unmißverständlich die Tür. Mit dem ausgesprochenen Gefühl, ein Feigling zu sein, ging ich. Per Bjørn hatte ihre gesicherte Welt in Stücke geschlagen, aber das würde er ihr selbst sagen müssen. »Er könnte bei der alten Kinderfrau seines Vaters sein«, sagte ich zu Knut. »Oder auch nicht.« Er überlegte. »Wenn er den Zug nach Bergen genommen hat, erinnert sich vielleicht noch der Beamte am Fahrkartenschalter an ihn.« »Ist einen Versuch wert. Inzwischen könnte er aber schon überall sein. Überall auf der weiten Welt.« »Er ist mal gerade siebzehn«, meinte Knut. »Das ist für heutige Verhältnisse schon alt.« »Wie hat Mrs. Sandvik die Nachricht von der Inhaftierung ihres Mannes aufgenommen?« »Ich hab’s ihr nicht gesagt. Ich dachte, das sollte Per Bjørn selbst tun.« »Aber das hat er doch!« »Sie wußte von nichts«, sagte ich verständnislos. Knut sagte: »Ich bin sicher, daß er seine beiden Anrufe vor etwa einer halben Stunde getätigt hat.« »O Scheiße«, sagte ich. Er schoß mit vierzig Stundenkilometern aus seinem Büro und schrie ein paar unglückliche Untergebene an. Als er wieder hereinkam, hatte er ein Stück Papier in der Hand und sah grimmig, beunruhigt und reumütig zugleich aus. »Sie haben halt Schwierigkeiten damit, einem Mann wie Sandvik den Gehorsam zu verweigern«, sagte er. »Er hat ihnen gesagt, sie sollten draußen warten, weil er mit seinem Anwalt und seiner Frau telefonieren müsse und beide Gespräche privater Natur seien. Und sie haben seiner Aufforderung Folge 244
geleistet.« Er sah auf das Blatt Papier in seiner Hand. »Wenigstens hatten sie Verstand genug, die Nummern für ihn anzuwählen und sie aufzuschreiben. Es sind beides Osloer Nummern.« Er gab mir den Zettel. Die eine Nummer sagte mir nichts, die andere zuviel. »Er hat mit Arne telefoniert«, sagte ich. Ich klingelte an Arnes Wohnungstür, und nach einiger Zeit machte mir Kari auf. »David.« Sie schien weder überrascht noch erfreut, mich zu sehen. Sie machte einen vollkommen erschöpften Eindruck. »Komm herein«, sagte sie. Die Wohnung erschien mir irgendwie kälter, weniger lebendig, sehr viel stiller als beim letzten Mal. »Wo ist Arne?« fragte ich. »Er ist weg.« »Wohin?« »Das weiß ich nicht.« »Erzähl mir genau, was er gemacht hat, nachdem er nach Hause gekommen war.« Sie sah mich mit leerem Blick an, wandte sich dann ab und ging durchs Wohnzimmer. Ich folgte ihr. Sie setzte sich auf das cremefarbene Sofa und zitterte. Der Ofen brannte nicht mehr warm und anheimelnd, und der Plattenspieler war abgestellt. »Er kam nach Hause und war ganz durcheinander… Nun ja, er ist eigentlich schon durcheinander, seit diese Geschichte mit Bob Sherman angefangen hat… Aber heute war er sehr beunruhigt, verwirrt und aus dem Gleichgewicht. Er hörte sich zwei Langspielplatten an und lief umher… er konnte einfach nicht stillsitzen.« Ihre Stimme war so ruhig wie die eines Menschen, der einen 245
Schock erlitten hat. Die Wirklichkeit dessen, was geschehen war, hatte sie noch nicht eingeholt und in Wut, Angst oder Verzweiflung versetzt - aber morgen, dachte ich, morgen könnten diese Gefühle alle auf einmal über sie hereinbrechen. »Er rief zweimal bei Per Bjørn Sandvik zu Hause an, aber dort sagte man ihm, er sei nicht da. Das schien ihn sehr zu beunruhigen.« Auf dem Couchtisch stand ein Tablett mit einem Teller belegter Brote. Bei ihrem Anblick überfiel mich ein wahnsinniger Hunger, denn ich hatte seit meinem winzigen Frühstück nichts mehr gegessen, aber Kari warf nur einen gleichgültigen Blick darauf und sagte: »Er hat sie liegenlassen. Er meinte, er könnte keinen Bissen…« Versuch’s mal bei mir, dachte ich - aber sie hatte anderes im Kopf, als mich gastlich zu bewirten. »Dann rief Per Bjørn Sandvik hier an. Erst vor einer kleinen Weile… aber es scheint schon viele Stunden her zu sein… Zunächst war Arne erleichtert, aber dann… wurde er so still… ich wußte, da stimmt etwas nicht.« »Was hat er zu Per Bjørn gesagt? Kannst du dich noch daran erinnern?« »Er sagte ja und nein. Er hörte lange zu. Er sagte… ich glaube, er sagte… ›Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde ihn finden.‹« »War das alles?« Sie nickte. »Dann ging er ins Schlafzimmer und war ganz still… da ging ich zu ihm, um zu sehen, was los war. Er saß auf dem Bett und sah zu Boden. Als ich hereinkam, blickte er zu mir auf. Seine Augen waren… ich weiß nicht… tot.« »Und dann?« »Er stand auf und fing an, einen Koffer zu packen. Ich fragte ihn… er sagte, ›stör mich nicht‹… deshalb stand ich einfach nur 246
da. Er packte… warf Sachen in den Koffer… und die ganze Zeit murmelte er vor sich hin, meistens ging es um dich.« Sie sah mich durchdringend an, aber in ihren Augen zeigte sich noch immer keinerlei Gefühlsregung. »Er sagte… ›Ich hab’s ihm gesagt, ich hab’s ihm gesagt, David würde ihn schlagen… ich hab’s ihm von Anfang an gesagt… er meint noch immer, David hätte ihn nicht besiegt, aber das hat er, das hat er…‹ Ich fragte Arne, von was er da rede, aber ich glaube, er hat mich gar nicht gehört.« Sie preßte die Finger gegen die Stirn, rieb die glatte Haut. »Arne sagte: ›David… David hat die ganze Zeit gewußt… er hat die Falle aufgestellt und sich selbst als Köder reingetan… er hat’s den ganzen Tag gewußt.‹ Dann sagte er so etwas wie daß du zwei Mädchen und einen alten Mann benutzt hättest, und irgendwas von Orangensaft… und von einer Vorahnung, die du erfunden hättest. Er sage, er hätte gewußt, daß Endstation wäre, wenn du herüberkämst… das hätte er schon vor deiner Ankunft gesagt.« Plötzlich schien es bei ihr zu dämmern, und in ihrem Blick las ich die ersten Anzeichen von Feindseligkeit. »Was hast du gemacht?« fragte sie. »Es tut mir leid, Kari. Ich habe Arne und Per Bjørn Sandvik die Gelegenheit gegeben zu beweisen, daß sie mehr über Bob Shermans Tod wissen, als sie wissen sollten, und sie haben die Gelegenheit wahrgenommen.« »Mehr als sie wissen sollten…?« wiederholte sie verständnislos - und dann begriff sie plötzlich. »O nein, nein, nicht Arne.« Sie stand abrupt auf. »Das glaube ich nicht.« Aber sie tat es schon. »Ich weiß noch immer nicht, wer Bob Sherman umgebracht hat«, sagte ich. »Ich glaube, Arne weiß es. Ich möchte mit ihm sprechen.« »Er kommt nicht zurück. Er sagte… er würde mir schreiben und mich nachkommen lassen. In ein paar Wochen.« Sie sah 247
sehr unglücklich aus. »Er hat das Auto genommen.« Sie schwieg eine Weile. »Er hat mich geküßt.« »Ich wünschte…«, sagte ich unsinnigerweise, und sie verstand mich, auch ohne daß ich den Satz beendete. »Ja«, sagte sie. »Trotz allem… mag er dich auch.« Als ich zum Polizeirevier zurückkam, war es noch nicht acht, und Per Bjørn saß noch im Vernehmungszimmer. »Sein Anwalt ist bei ihm«, sagte Knut mürrisch. »Jetzt kriegen wir kein Wort mehr aus ihm raus.« »Allzuviel haben wir bis jetzt noch nicht von ihm zu hören bekommen«, sagte ich. »Nein.« Er tippte auf den Zettel mit den Telefonnummern, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Diese andere Nummer… das ist nicht die seines Anwalts.« »Wessen denn?« »Das ist ein großes zweitklassiges Hotel in der Nähe der Docks. Dutzende ankommender Gespräche, sie konnten sich an nichts erinnern. Ich habe einen Beamten mit einer Beschreibung des Mannes mit den gelben Augen hingeschickt.« »Hm. Und der, mit dem er da telefoniert hat, wer immer es war, hat anschließend den Anwalt angerufen.« »Ja«, sagte Knut. »So muß es sein. Wenn es Arne nicht getan hat.« »Nach allem, was ich von seiner Frau gehört habe, glaube ich das nicht.« »War er fort?« Ich nickte. »Mit dem Auto.« Er griff wieder nach dem Telefon. »Wir werden die Zulassungsnummer feststellen und eine Fahndung herausgeben. Und auch den Flughafen und die Posten an der schwedischen Grenze alarmieren.« 248
»Ich weiß die Nummer.« Ich sagte sie ihm. Er sah mich überrascht an, weshalb ich es ihm erklärte. »Ich bin schon in seinem Auto mitgefahren… und ich habe ein Gedächtnis für Zulassungsnummern. Ich weiß auch nicht, warum.« Er gab seine Fahndungsmeldung heraus und saß dann da und klopfte mit dem Bleistift gegen seine Zähne. »Und jetzt warten wir«, sagte er. Wir warteten genau fünf Sekunden, dann kam der erste Anruf. Knut nahm den Hörer mit einer Geschwindigkeit auf, die seine innere Anspannung verriet, und horchte aufmerksam in die Muschel. »Ja«, sagte er schließlich. »Ja… danke. Ich danke Ihnen.« Er legte auf und gab die Neuigkeiten an mich weiter. »Das war der Beamte, den ich zum Hotel geschickt habe. Er sagt, der Mann mit den gelben Augen habe eine Woche lang dort gewohnt, aber er habe heute seine Rechnung bezahlt und sei abgereist. Er habe keine Adresse angegeben. Im Hotel sei er als L. Horgen bekannt. Mein Beamter sagt, unglücklicherweise sei Horgens Zimmer schon saubergemacht worden, weil das’ Hotel gut besucht sei, aber er habe veranlaßt, daß es unbelegt bleibt, bis wir es uns angesehen und auf Fingerabdrücke hin untersucht haben. Entschuldigen Sie mich kurz, ich schicke nur mal ein entsprechendes Team hin.« Er ging hinaus und blieb ziemlich lange weg, aber als er endlich wiederkam, konnte er mir Weiteres berichten. »Wir haben Arnes Wagen gefunden. Er steht nicht weit vom Kai der Nansen Line, und eines ihrer Schiffe ist vor einer Stunde nach Kopenhagen ausgelaufen. Wir haben an das Schiff und nach Kopenhagen gefunkt, daß sie ihn festnehmen sollen.« »Erlauben Sie denen in Fornebu aber nicht, daß sie in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen.« Er sah mich fragend an. 249
Ich grinste schwach. »Na ja… wenn ich mich mit dem Flugzeug absetzen wollte, dann würde ich mein Auto bei einer Schifffahrtsgesellschaft stehenlassen und mit dem Taxi zum Flughafen fahren. Arne und ich haben uns mal über eine ganze Reihe derartiger Möglichkeiten unterhalten.« »Dann weiß er aber auch, daß Sie’s durchschauen würden.« »Ich würde mehr Hoffnung auf das Schiff setzen, wenn er sein Auto am Flughafen stehengelassen hätte.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Wie gut, daß Sie kein Gangster sind.« Ein junger Polizist klopfte, kam herein und sprach mit Knut. Er übersetzte für mich. »Mr. Sandviks Anwalt möchte mich sprechen, in Anwesenheit seines Mandanten. Ich gehe mal ins Vernehmungszimmer rüber… Wollen Sie mitkommen?« »Sehr gern«, sagte ich. Als Per Bjørn und sein Anwalt, Knut, ich sowie ein Beamter, der Notizen machen sollte, in dem kleinen Vernehmungszimmer versammelt waren und die Tür geschlossen wurde, wirkte der Raum mit dunklen Anzügen und feierlichem Ernst überfrachtet. Während alle anderen auf den harten Stühlen um den Tisch herum saßen, lehnte ich am Türrahmen und hörte einer langen Unterredung zu, von der ich nicht ein Wort verstand. Per Bjørn schob seinen Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und steckte sich in gewohnter Manier eine Zigarette an. Sein Anwalt, ein massiger, beherrschter Mann von offensichtlicher weltlicher Macht, sprach mit gebieterischer Stimme und machte Knut spürbar immer nervöser. Aber Knut ließ sich nicht kleinkriegen, und als er dem Anwalt antwortete, klang er zwar freundlich und entschuldigend, aber der Sinn seiner Worte war ein eindeutiges Nein. Das ärgerte den Rechtsanwalt mehr als seinen Mandanten. Er erhob sich, stand drohend über Knut und sprach eine scharfe 250
Warnung aus. Knut sah besorgt drein, stand ebenfalls auf und schüttelte den Kopf. Danach wurde der junge Polizist mit einem Auftrag losgeschickt und kehrte schon bald mit einem Sergeanten plus Eskorte zurück. Knut sagte: »Herr Sandvik…«, und wartete. Per Bjørn stand langsam auf und drückte seinen Zigarettenfilter in den Aschenbecher. Er blickte die Eskorte ungerührt an und ging ruhig auf sie zu. Als er an der Tür und bei mir angekommen war, blieb er stehen, drehte den Kopf und starrte mir mit voller Absicht direkt ins Gesicht. Aber was immer er dachte, in seinen Augen wurde nichts davon sichtbar, und er sagte kein Wort. Knut ging nach Hause, während ich die Nacht über in seinem Büro blieb und mit Decken und Kissen, die wir aus den Zellen entliehen hatten, auf dem Fußboden schlief - wahrscheinlich hatte ich es weniger bequem als der offizielle Gast unten im Haus. »Was gefällt Ihnen denn nicht am Grand Hotel?« hatte Knut gefragt, als ich ihn bat, in seinem Büro übernachten zu dürfen. »Gelbauge ist auf freiem Fuß«, hatte ich ihm geantwortet, »und wer weiß, was für Instruktionen ihm Per Bjørn gegeben hat?« Knut hatte mich nachdenklich angesehen. »Sie meinen, da kommt noch mehr?« »Per Bjørn hat den Kampf noch nicht aufgegeben.« »Ja«, hatte er geseufzt, »das glaube ich auch.« Er hatte einen Beamten mit dem Auftrag losgeschickt, mir in einem nahegelegenen Restaurant etwas zu essen zu besorgen, und am nächsten Morgen um acht erschien er selbst wieder und brachte mir einen Rasierapparat mit. Er sah in seiner Uniform sauber und ordentlich aus und so, als hätte er den gestrigen Tag wie eine Haut abgestreift - jedenfalls erschien er mit munter 251
funkelnden Augen und für den neuen Tag gerüstet. Ich dagegen bibberte in meinen zerknautschten Klamotten und fühlte mich wie ein Pennbruder. Um Viertel vor neun klingelte das Telefon. Knut nahm den Hörer ab, hörte zu und schien erfreut über das, was er hörte. »Ja, ja. Danke«, sagte er. »Was ist?« Er legte auf. »Wir haben eine Nachricht aus Gol. Der Beamte, der am Sonntag am Fahrkartenschalter Dienst hatte, erinnert sich, daß ein Junge aus dem Internat eine Fahrkarte nach Finse gekauft hat.« »Finse…« Ich dachte an meine Fahrpläne zurück. »An der Strecke nach Bergen?« »Ja. Finse ist der höchstgelegene Ort an dieser Strecke. Oben in den Bergen. Ich werde nachfragen, ob man sich auf dem Bahnhof dort an den Jungen erinnern kann. Ich werde auch Nachforschungen anstellen lassen, ob ihn im Ort jemand auf der Straße gesehen hat oder weiß, ob er sich dort länger aufhält.« »Wie lange wird das dauern?« »Das läßt sich nicht sagen.« »Hm.« Ich überlegte. »Passen Sie auf… der Zug nach Bergen fährt um zehn, wenn ich mich richtig erinnere. Ich werde selbst hinfahren. Und wenn Sie hören, daß Mikkel in Finse ist beziehungsweise nicht ist, dann können Sie mir ja vielleicht eine entsprechende Nachricht an eine der Haltestellen des Zuges schicken.« »Haben Sie Gelbauge vergessen?« »Unseligerweise nicht«, sagte ich. Er lächelte. »Gut. Ich lasse Sie in einem Polizeiauto zum Bahnhof bringen. Möchten Sie, daß ein Beamter mitfährt?« Ich überlegte. »Es könnte sein, daß ich mehr bei Mikkel erreiche, wenn ich allein fahre.« 252
Im Zug saß ich neben einem mir vollkommen fremden Reisenden, einem fröhlichen jungen Mann, der kaum englisch sprach, und verbrachte die ereignislose Fahrt damit, daß ich hinausschaute auf friedliche Felder und bunte Puppenhäuschen, die willkürlich über die Berghänge verstreut waren. In Gol erreichte mich eine schriftliche Nachricht: Junger Mann Ankunft den Sonntag in Finse. Man weiß nicht bis wohin er gegangen. Die Fragen ist fortgesetzt. »Herzlichen Dank«, sagte ich. Der Zug kroch langsam über die Baumgrenze hinauf in eine Landschaft aus blaugrauen Felsen und grüngrauem Wasser. Der Schnee bedeckte zunächst nur kleine Flecken, dann größere, bis er schließlich als dünner weißer Teppich auf allen abfallenden Flächen lag, und scharfe Felskanten wie Beile aus ihm hervorstachen. »Ist kleiner Schnee«, sagte mein Reisegefährte. »In Winter in Finse ist zwei Meter.« »Zwei Meter hoch?« fragte ich. Er nickte. »Ja. Ist gut für Ski.« Der Zug fuhr eine Zeitlang an einem eiskalt aussehenden, windgekräuselten graugrünen See entlang und lief dann mit einem Seufzer der Erleichterung langsam in den Bahnhof von Finse ein. »Ist heißer Sommer«, bemerkte mein Freund und sah sich erstaunt um. »Ist Schnee weg.« Das mochte für ihn ja so sein, für mich sah es nicht so aus. Noch immer lag auf allem, was der Erwähnung wert war, Schnee, ob der heiße Sommer nun vorüber war oder nicht - und von allen Dächern hingen Eiszapfen als steife, glitzernde Fransen herab. Im Gegensatz zur Wärme des Zuges umfing mich draußen sofort beißende Kälte, und obwohl meine Mütze die Ohren bedeckte und meine Jacke gefüttert war, schlang ich 253
in dem vergeblichen Versuch, meine Körperwärme zu halten, die Arme um meine Brust. Der größte Anteil der Polizeikräfte von Finse war in Gestalt eines breit grinsenden Beamten von drehkreuzblockierenden Ausmaßen zu meiner Begrüßung am Bahnhof erschienen. »Mr. Cleveland.« Er schüttelte mir die Hand. »Wir nicht wissen, wo dieser Junge, Mikkel Sandvik, ist. Wir haben ihn im Ort nicht gesehen. Es sind jetzt nicht viele Fremde hier. Im Sommer und im Winter wir haben sehr viele Fremde hier. Wir haben das große Hotel, für das Skilaufen. Aber jetzt nicht viele. Wir haben gesucht nach der alten Frau, die Berit heißt. Es gibt zwei. Es ist nicht eine, weil sie im Bett liegt im Haus von ihrem Sohn, und sie ist… äh… sie ist… alt.« »Senil?« schlug ich vor. Er kannte das Wort nicht. »Sehr alt«, wiederholte er. »Und die andere Berit?« »Sie wohnt in einem Haus neben dem See. Einen und einen halben Kilometer von Finse entfernt. Sie fährt im Winter immer weg. Jetzt bald. Sie ist eine starke alte Frau. Im Sommer nimmt sie Leute auf, die zum Angeln kommen, aber sie sind alle weg jetzt. Für gewöhnlich kommt sie am Mittwoch, um Essen einzukaufen, deshalb sind wir nicht zu ihr gegangen. Aber heute sie ist spät. Sie kommt immer am Morgen.« »Ich werde zu ihr gehen«, sagte ich, und er beschrieb mir den Weg. Der Weg zum Haus der ›Berit am See‹ entpuppte sich als schmaler Pfad, der zwischen den Bahngleisen und dem Seeufer entlangführte - es war eher eine sich zwischen Felsblöcken hindurchschlängelnde Spur aus kleinen Steinen und Kieseln als ein erkennbarer, ausgetretener Weg. Da seine Unebenheiten auch noch mit Harsch bedeckt waren, fiel es nicht schwer, sich vorzustellen, wie er, wenn es erst einmal richtig schneite, vollkommen verschwand. 254
17 Ich sah zurück. Eine Biegung des Pfades hatte Finse meinen Blicken entzogen. Ich sah wieder nach vorn. Nichts als der angedeutete Pfad, der sich kaum erkennbar zwischen den schneebedeckten Felsblöcken hindurchwand. Nur zu meiner Rechten konnte ich Anzeichen menschlichen Daseins entdecken, nämlich die Eisenbahnschienen. Aber dann verschwanden selbst die hinter einem Hügel. Das Ufer des Sees machte einen Bogen nach links, so daß schließlich nur noch ich und die kahle, unversöhnliche Landschaft da waren - nur noch ich, der ich mich an einem kalten, wilden und einsamen Nachmittag gegen einen starken Wind vorankämpfte. Der Pfad schlängelte sich um zwei Buchten und zwei Landzungen, und je weiter ich kam, desto steiler stieg der Berghang zu meiner Rechten in die Höhe. Und dann lag ganz plötzlich das Haus vor mir, stand für sich allein auf einer ebenen, steinigen Fläche, die wie eine Vorbühne bis in den See hineinreichte. Das Haus war rot gestrichen. In einem kräftigen Karmesinrot. Dach, Wände, Tür, alles. Die Farbe hob sich scharf von dem Grau und Weiß des Strandes und dem Graugrün des Wassers ab. Hinter dem Haus, am Ende des Sees, ragten dunkle Klippen in die Höhe, als sei da vor dem nördlichen Himmel plötzlich ein neuer Berg aufgeworfen worden. Vielleicht war dies ja ein großartiger, außergewöhnlicher, ehrfurchtgebietender Anblick. Vielleicht hätte er meinen Geist beflügeln und meine Seele erheben sollen. Aber er löste in mir nichts Erhabeneres aus als den lebhaften Wunsch, den Rückzug antreten zu können. 255
Ich blieb stehen. Selbst wenn Sandvik seinen Sohn dringend hätte verstecken wollen, hätte er ihn doch wohl kaum an diesen bedrohlichen Ort geschickt. Sicher war Mikkel jetzt schon über alle Berge, einen hinterherhechelnden Arne als Aufpasser im Schlepptau. Verdammt albern, an dieser Stelle ein Haus zu bauen, dachte ich. Mit so einem Berg direkt vor der Tür, da mußte man ja eine Gänsehaut kriegen. Ich ging weiter. Das Haus hatte einen eigenen Landungssteg, wo ein Motorboot an einem Pfahl festgemacht war wie ein Pferd in einem Western. Es gab auch geraffte Spitzengardinen und Geranien auf den Fensterbrettern. Natürlich rote Geranien. Ich hielt vergeblich nach Schornsteinrauch Ausschau, und als ich noch näher herankam, spähte niemand zu mir heraus. Ich betätigte den Türklopfer. Die Tür wurde augenblicklich von einer alten Frau geöffnet, die sich so gerade hielt, als hätte sie einen Stock verschluckt. Sie war einssechzig groß, hatte wachsame Augen und wirkte vollkommen selbstsicher. Weit, noch sehr weit vom Tod entfernt. »Ja?« sagte sie fragend. »Ich würde gern Mikkel sprechen«, sagte ich. Sie brauchte einen kurzen Augenblick, um in die andere Sprache zu wechseln, und fragte dann mit einem fast reinen schottischen Akzent: »Wer sind Sie?« »Ich suche Mikkel.« »Alle Welt sucht Mikkel.« Sie betrachtete mich von oben bis unten. »Kommen Sie herein. Es ist kalt.« Sie führte mich ins Wohnzimmer. Offensichtlich war sie gerade dabei, alles dort in Kisten einzupacken. Sie machte mit einer feingliedrigen Hand eine ausholende Geste. »Ich bin im Aufbruch. Im Sommer ist es sehr schön hier, aber nicht im Winter.« 256
»Ich habe eine Nachricht von seinem Vater«, sagte ich. »Noch eine?« »Wie meinen Sie das?« »Heute morgen ist schon ein Mann gekommen. Dann noch einer. Beide behaupteten, sie brächten eine Nachricht von seinem Vater. Und jetzt Sie.« Sie sah mir direkt in die Augen. »Das sind recht viele Nachrichten.« »Ja… aber ich muß ihn finden.« Sie legte den Kopf schief. »Ich habe es den anderen gesagt. Ich kann nicht beurteilen, wem ich es nicht sagen sollte. Deshalb sage ich es auch Ihnen. Er ist oben auf dem Berg.« Ich sah durchs Fenster auf die Felswand und das Ende des Sees. »Dort oben?« »Ja. Dort oben steht eine Hütte. Im Sommer vermiete ich sie an Urlaubsgäste, aber im Winter ist sie von Schnee bedeckt. Mikkel ist heute morgen hinaufgestiegen, um die Sachen zu holen, die ich nicht gern oben lasse. Er ist ein netter Junge.« »Wer waren die beiden anderen Männer, die hergekommen sind?« »Das weiß ich nicht. Der erste sagte, er heiße Arne Kristiansen. Beide meinten, sie würden hinaufgehen und Mikkel dabei helfen, die Sachen herunterzuschaffen, obwohl ich ihnen gesagt habe, daß es nicht nötig sei. Es ist ja nicht viel, und er hat den Schlitten mitgenommen.« »Den Schlitten?« »Ja, so ein ganz leichter. Man kann ihn gut ziehen.« »Vielleicht sollte ich lieber auch hinaufsteigen.« »Sie tragen die falschen Schuhe.« Ich sah auf sie hinunter. Stadtschuhe, Slipper, nicht für schneebedeckte Berge gemacht, und an den Rändern schon 257
dunkel von Nässe. »Ist nicht zu ändern«, sagte ich. Sie zuckte die Achseln. »Ich zeige Ihnen den Weg. Er ist besser als der um den See herum.« Sie lächelte schwach. »Ich gehe nie zu Fuß nach Finse. Ich fahre mit dem Boot.« »Der zweite Mann«, sagte ich. »Hatte der außergewöhnliche, gelbe Augen?« »Nein.« Sie schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf. »Der sah ganz normal aus. War sehr höflich. Wie Sie.« Sie lächelte und zeigte durchs Fenster. »Der Pfad fängt dort drüben hinter dem großen Felsen an. Er ist nicht steil. Er windet sich vom See weg und dann wieder zu ihm hin. Sie werden ihn leicht finden.« Ich dankte ihr, machte mich auf den Weg und merkte sofort, daß sie, was meine Schuhe anging, recht gehabt hatte. Der Weg war leicht zu finden, ja, aber vor allem deshalb, weil er eine gut ausgetretene Spur durch den Schnee darstellte - eine Art Minischnellstraße, die auf beiden Seiten von Skispuren gesäumt wurde. Ich schlidderte in dem kalten Wind dahin, arbeitete mich in einem weiten, U-förmigen Bogen den Berghang hinauf. Es war aber nicht so weit, wie ich befürchtet hatte. Viel früher als erwartet, gelangte ich auf den Gipfel einer kleinen Anhöhe und erblickte unter mir, plötzlich nur noch ein paar Schritte entfernt, eine solide, in traditioneller norwegischer Bauweise errichtete kleine Blockhütte - eine Schachtel mit Dach, die auf einem etwas kleineren Sockel stand. Es war schon zu spät, um sich der Hütte noch vorsichtig und unauffällig zu nähern. Ich war da, wo ich stand, von einem kleinen Fenster aus gut zu sehen, weshalb ich einfach hinging und durch die Scheibe hineinspähte. In der Hütte war es dunkel, und zuerst dachte ich, sie sei leer. Aber dann sah ich eine Gestalt. Sie saß zusammengekrümmt in einer Ecke am Boden, den Kopf auf den Knien, und wiegte sich 258
wie vor Schmerzen langsam hin und her. Es gab nur diesen einen kleinen Raum. Nur eine Tür. Ich legte die Hand auf den Riegel und öffnete sie. Bei dieser Bewegung wurde die Gestalt schlagartig aktiv. Halb war es meine undeutliche Wahrnehmung, halb war es Instinkt jedenfalls sprang ich seitlich von der Tür weg und fühlte, wie mir das Adrenalin brennend bis in die Zehen fuhr. Die Ladung einer Schrotflinte krachte durch die Türöffnung, und ich drückte mich an die schweren Holzbohlen und betete zu Gott, daß sie keine Schrotkugeln durchlassen würden. Aus der Hütte rief mir eine hysterische Stimme etwas zu. Es war nicht Arnes Stimme. Jung. Vor Anspannung nah am Brechen. »Mikkel«, sagte ich. »Ich tue dir nichts. Ich bin David Cleveland.« Stille. »Mikkel…« »Wenn Sie hereinkommen, schieße ich Sie nieder.« Seine Stimme war - wie die seines Vaters - von Natur aus hoch, aber die Anspannung hatte sie noch eine Oktave nach oben getrieben. »Ich möchte nur mit dir sprechen.« »Nein. Nein. Nein.« »Mikkel… du kannst nicht ewig hier oben bleiben.« »Wenn Sie hereinkommen, schieße ich.« »Gut… ich werde von hier aus sprechen.« Ich zitterte vor Kälte und verfluchte ihn von Herzen. »Ich will aber nicht mit Ihnen sprechen. Gehen Sie weg. Gehen Sie weg!« Ich antwortete nicht. Fünf Minuten vergingen, in denen nichts zu hören war als der tobende Wind. Dann seine Stimme aus der Hütte, gepreßt und voller Angst: »Sind Sie noch da?« 259
»Ja«, antwortete ich. »Gehen Sie weg.« »Irgendwann müssen wir miteinander reden. Warum also nicht gleich?« »Nein.« »Wo ist Arne Kristiansen?« fragte ich. Seine Antwort bestand aus einem hohen, jammernden Schrei, der mir eine Gänsehaut den Rücken hinunterjagte. Dann folgte ein ganz normales Schluchzen. Ich hockte mich hin und riskierte einen schnellen Blick in die Hütte. Mit einer Hand hielt er die auf dem Fußboden liegende Flinte fest und versuchte mit der anderen, sich die Tränen abzuwischen. Er hob den Kopf, sah mich und legte sofort wieder auf mich an. Ich fuhr zurück, stand auf und lehnte mich wieder an die Holzwand. »Warum erzählst du’s mir nicht?« fragte ich. Minutenlanges Schweigen. Dann sagte er: »Sie können hereinkommen.« Ich warf einen schnellen Blick in die Hütte. Er saß mit lang ausgestreckten Beinen auf dem Boden und hielt den Lauf der Flinte auf die Tür gerichtet. »Kommen Sie herein«, sagte er. »Ich werde nicht schießen.« »Leg die Flinte auf den Boden und schieb sie von dir weg.« »Nein.« Wieder verging einige Zeit. »Ich rede nur mit Ihnen, wenn Sie hereinkommen. Aber ich behalte die Flinte.« Ich schluckte. »Na gut.« Ich trat in die Tür. Sah auf den Doppellauf hinab, an ihm entlang. Mikkel saß mit dem Rücken an der Wand und hielt die 260
Flinte ruhig in der Hand. Eine Schachtel Patronen stand neben ihm, ein paar lagen verstreut herum. »Machen Sie die Tür zu«, sagte er. »Setzen Sie sich mir gegenüber an die Wand. Auf den Fußboden.« Ich tat, was er sagte. Er war schmächtig und noch nicht voll ausgewachsen. Braunes Haar, dunkle, verängstigte Augen. Noch rundliche Kinderwangen, aber die Kinnpartie eines Erwachsenen. Halb Junge, halb Mann, Tränenspuren auf dem Gesicht und den Finger am Abzug. Alles bewegliche Inventar der Hütte war auf der einen Seite des Raumes zu einem säuberlichen Stapel aufgeschichtet worden. Ein schwerer Holztisch und zwei solide Stühle waren alles, was über den Winter hierbleiben sollte. An dem einzigen kleinen Fenster keine Gardinen. Kein Teppich auf dem Holzfußboden. Zwei Feldbetten lehnten an der Wand, zusammengelegt und verschnürt für den Abtransport. Daneben ein Paar Skier. Keine Holzscheite vor dem kalten Ofen und nirgends etwas Eßbares zu sehen. »Es wird bald dunkel sein«, sagte ich. »In einer Stunde.« »Das ist mir doch egal.« Er starrte mich mit brennenden Augen und entnervender Eindringlichkeit an. »Wir sollten zu Berits Haus zurückkehren, solange wir den Weg noch sehen können.« »Nein.« »Wir werden hier oben erfrieren.« »Das ist mir doch egal.« Ich glaubte ihm. Jemand, der dermaßen außer sich ist, neigt dazu, selbst äußerste Unbequemlichkeiten einfach nicht wahrzunehmen - und obwohl Mikkel mich in die Hütte hereingelassen hatte, war er noch weit davon entfernt, auf den 261
Boden der Tatsachen zurückzukehren. Immer wieder lief ein leichter, nervöser Schauder durch seinen Körper, und seine Füße zuckten. Manchmal zitterte auch die Flinte in seinen Händen. Ich versuchte, keinen düsteren Gedanken nachzuhängen. »Wir müssen los«, sagte ich. »Sitzen Sie still«, antwortete er aufgebracht, während sein rechter Zeigefinger sich krampfhaft krümmte. Ich sah es - und saß still. Langsam wurde es dunkler, und die Kälte kroch unerbittlich zu uns herein. Draußen heulte der Wind wie ein verzogenes Kind, er gab nicht auf. Ich mußte mich wohl mit der Situation abfinden. Angesichts der vor mir liegenden Nacht erschien mir das Fjordwasser im Rückblick so mollig wie ein beheiztes Schwimmbecken. Ich steckte meine Hände in den gefütterten Fäustlingen in meine gefütterten Jackentaschen und versuchte mir weiszumachen, daß ich warme Finger hätte. Und es war eine kleinere Katastrophe, daß meine Jacke nicht lang genug war, um auf ihr zu sitzen. »Mikkel«, sagte ich, »nun erzähl’s mir doch. Du wirst noch platzen, wenn du nicht endlich mit jemandem redest. Und ich bin hier… also erzähl’s mir. Was immer du willst.« Er blickte in der zunehmenden Dämmerung starr zu mir herüber. Ich wartete eine lange Zeit. »Ich habe ihn umgebracht«, sagte er. O Gott! Ein langes Schweigen. Dann wiederholte er lauter: »Ich habe ihn umgebracht.« »Wen?« fragte ich. Schweigen. »Wie?« fragte ich. Die Frage überraschte ihn. Er wandte für einen kurzen Moment den Blick von meinem Gesicht ab und sah auf die 262
Flinte hinunter. »Ich… ich habe geschossen…« Mit Mühe brachte ich heraus: »Hast du… Arne erschossen?« »Arne…« Die Hysterie war wieder da. »Nein. Nein. Nein. Nicht Arne. Ich habe Arne nicht umgebracht. Hab ich nicht. Hab ich nicht!« »Schon gut«, sagte ich. »Ist schon gut, Mikkel. Laß uns ein Weilchen warten… bis du’s mir sagen kannst. Bis du das Gefühl hast, daß der richtige Augenblick gekommen ist, um es mir zu sagen.« Ich machte eine kleine Pause und fragte dann: »Ist das in Ordnung?« »Ja, in Ordnung.« Wir warteten. Es wurde immer dunkler, bis das einzige noch vorhandene Licht die Spiegelung des Fensters in seinen Augen zu sein schien. Ich konnte Mikkels Augen immer noch sehen, als sich der Rest von ihm schon längst in einen gestaltlosen Schatten aufgelöst hatte - zwei lebendige Signale der gequälten Seele eines Menschen, der sich verzweifelt vor der Hilfe fürchtete, die er so verzweifelt nötig hatte. Es mußte ihm genauso klar geworden sein wie mir, daß ich ihm nach Einbruch der Dunkelheit die Flinte wegschnappen könnte, denn er rutschte unruhig auf dem Fußboden hin und her und murmelte irgend etwas auf norwegisch vor sich hin. Schließlich sagte er mit einer wieder sehr viel normaler klingenden Stimme: »Da ist eine Lampe, in einem Karton. Ganz oben auf dem Stapel.« »Soll ich sie suchen und anzünden?« »Ja.« Ich stand steif auf, froh über die Gelegenheit, mich bewegen zu können, aber ich spürte auch, daß er die Flinte hob, damit ich blieb, wo ich hingehörte. 263
»Ich werde nicht versuchen, dir die Flinte wegzunehmen«, sagte ich. Keine Antwort. Der Stapel mit den Einrichtungsgegenständen der Hütte befand sich zu meiner Rechten nahe beim Fenster. Ich bewegte mich vorsichtig, aber nicht ganz lautlos, damit er wußte, wo ich war, und nicht unruhig wurde. Ich tastete nach der zuoberst liegenden Schachtel. Sein Gedächtnis war jedenfalls in Ordnung - die Schachtel war da, die Lampe darin und eine Schachtel Streichhölzer ebenfalls. »Ich habe die Lampe gefunden«, sagte ich. »Soll ich ein Streichholz anzünden?« Schweigen. Dann: »Ja.« Es war eine kleine Gaslampe. Ich zündete sie an und stellte sie auf den Tisch, von wo aus sie ein schwaches weißes Licht in alle Winkel warf. Er blinzelte zweimal, während sich seine Augen an das Licht gewöhnten, aber seine Konzentration ließ nicht einen Augenblick nach. »Gibt es auch irgendwo etwas zu essen?« fragte ich. »Ich habe keinen Hunger.« »Aber ich.« »Setzen Sie sich«, sagte er. »Dorthin, wo Sie gesessen haben.« Ich setzte mich. Der Doppellauf der Flinte folgte mir. In dem neuen Licht konnte ich sie nur allzugut sehen. Die Zeit verging. Ich hatte die Lampe um halb fünf angezündet - und es war acht, als er zu sprechen begann. Wenn ich von mir auf ihn schließen konnte, mußte er von der Hüfte an abwärts keinerlei Gefühl mehr haben. Er trug keine Handschuhe, und seine Hände waren blauweiß geworden, aber immer noch hielt er die Flinte schußbereit, den Finger am Abzug. Und nach wie vor ruhte sein Blick unverwandt auf mir. Sein Gesicht, ja sein ganzer Körper waren noch immer starr vor 264
fast unerträglicher Anspannung. Plötzlich sagte er: »Arne Kristiansen hat mir gesagt, daß mein Vater festgenommen worden ist. Und daß er Ihretwegen festgenommen worden ist.« Das kam mit hoher Stimme heraus, und sein Atem kondensierte zu einer großen, eisigen Feder. Jetzt, wo der Anfang gemacht war, fiel ihm das Reden leichter. »Arne hat gesagt… mein Vater wolle, daß wir nach Bergen fahren… und mit dem Schiff weiter nach Stavanger… und dann mit dem Flugzeug…« Er hielt inne. »Und ihr seid nicht gefahren«, sagte ich. »Warum seid ihr nicht gefahren?« Die Flinte wackelte. »Die anderen beiden sind gekommen…«, sagte er. Ich wartete ab. Er sagte: »Ich unterhielt mich gerade mit ihm. Draußen. Über die Reise.« Pause. »Sie kamen über den Berg. Auf Skiern, mit Schneebrillen.« Wieder eine Pause. »Einer von ihnen sagte zu Arne, er solle von mir weggehen.« Nach einer längeren Pause, in der er sich voller Schrecken zu erinnern schien, brach es aus ihm hervor: »Er hatte ein Messer.« »Oh, Mikkel.« Er sprach jetzt schneller, die Worte sprudelten aus ihm hervor. »Arne sagte: ›Das könnt ihr nicht tun. Nein, das könnt ihr nicht. Er würde euch nie losschicken, damit ihr seinen eigenen Sohn umbringt. Nicht Mikkel.‹ Er stieß mich hinter sich. Er sagte: ›Ihr seid verrückt. Ich habe selber mit seinem Vater gesprochen. Er hat mich hergeschickt, damit ich Mikkel wegbringe.‹« Mikkel starrte mit weit aufgerissenen Augen zu mir herüber, durchlebte alles noch einmal. 265
»Sie sagten… mein Vater habe, was Arne angehe, seine Meinung geändert. Sie sagten, sie würden mich per Schiff nach Dänemark bringen und dort mit mir zusammen auf Geld und neue Anweisungen von meinem Vater warten. Arne sagte, das sei nicht wahr. Sie sagten… es sei wahr… und sie sagten auch… Arnes Reise sei hier zu Ende… Er wollte es nicht glauben… Er sagte, nicht einmal mein Vater würde so etwas tun. Er achtete immer nur auf den mit dem Messer, und da schlug ihm der andere mit einem Skistock auf den Kopf… Er fiel in den Schnee… Ich versuchte, sie aufzuhalten… sie stießen mich einfach weg… und sie legten ihn auf den Schlitten… sie banden ihn darauf fest… und zogen ihn dann den Pfad hoch.« Sein Gesicht war jetzt wieder von Panik beherrscht. Er sagte gequält: »Mir fiel die Flinte in der Hütte ein… ich lief rein und lud sie… und schnallte mir meine Skier unter und lief hinter ihnen her… um sie aufzuhalten… aber als ich sie fand, da kamen sie zurück… ohne den Schlitten… und ich dachte… ich dachte… sie wollten… sie würden…« Er holte tief und zitternd Luft. »Ich schoß. Der mit dem Messer… der fiel hin…« Pause. »Ich schoß noch einmal«, fuhr er dann fort, »aber der andere stand noch auf seinen Skiern… Deshalb lief ich zur Hütte zurück, weil ich dachte, er würde hinter mir herkommen… Ich lief hierher zurück, um nachzuladen. Aber er ist nicht gekommen…« Nach einer Weile sagte er: »Dafür sind Sie gekommen. Ich dachte, er wäre es.« Er verstummte. »Kanntest du die beiden Männer?« fragte ich. »Hast du sie schon mal gesehen?« »Nein.« 266
»Wie lange vor meiner Ankunft war das?« fragte ich weiter. »Ich weiß nicht. Lange.« »Stunden?« »Ich glaube, ja.« Ich hatte sie auf meinem Weg hier herauf nicht gesehen. »Töten ist unrecht«, stieß er hervor. »Kommt darauf an.« »Nein.« »Wenn man das eigene Leben verteidigen muß oder das eines anderen Menschen, dann ist es erlaubt«, sagte ich. »Ich… ich glaube… ich weiß, daß es ein Unrecht ist. Und trotzdem… als ich solche Angst hatte…« Seine Stimme brach. »Ich habe es getan. Ich verabscheue das Töten, aber ich habe es getan. Und ich hätte auch Sie umgebracht. Ich weiß, daß ich es getan hätte. Wenn Sie nicht zur Seite gesprungen wären.« »Ist schon gut«, sagte ich - aber das Entsetzen war immer noch in seinem Blick. Um ihn durch Ablenkung zu beruhigen, fragte ich: »Kennst du Arne Kristiansen schon lange?« »Was…?« Seine Stimme senkte sich ein wenig. »Ungefähr seit drei Jahren, glaube ich.« »Und wie gut kennst du ihn?« »Nicht sehr gut. Halt von der Rennbahn. Das ist alles.« »Kennt dein Vater ihn schon lange?« »Ich glaube nicht… Wie ich, von der Rennbahn her.« »Sind sie enge Freunde?« Er sagte mit plötzlicher, äußerster Bitterkeit: »Mein Vater hat keine engen Freunde.« »Legst du jetzt die Flinte weg?« fragte ich. Er sah darauf nieder. »Gut.« 267
Er legte sie neben sich auf den Boden. Es war eine Erleichterung, nicht mehr in diese beiden Löcher sehen zu müssen. In diesem Augenblick signalisierte die Lampe, daß ihr das Gas ausgehe. Mikkel wandte den Blick von mir ab und dem Tisch zu, aber die Botschaft des schwächer werdenden Lichts schien nicht durch den inneren Aufruhr dringen zu können. »Die Lampe geht aus«, sagte ich. »Gibt es einen Ersatzzylinder?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Mikkel«, sagte ich, »es friert, und es wird bald stockdunkel sein. Wenn wir diese Nacht überleben wollen, müssen wir uns warm halten.« Keine Antwort. »Hörst du mir zu?« »Was?« »Du wirst das Leben so hinnehmen müssen, wie es ist.« »Ich… kann nicht…« »Gibt es Decken?« »Eine.« Ich versuchte aufzustehen, und er griff sofort nach der Flinte. »Sei nicht albern«, sagte ich. »Ich werde dir nichts tun. Und du wirst mich nicht erschießen. Also wollen wir beide uns mal beruhigen, was?« Er sagte unsicher: »Sie haben meinen Vater festnehmen lassen.« »Weißt du auch, warum?« »Nicht… nicht wirklich.« Ich erzählte ihm von der Öltransaktion, wobei ich die Illoyalität (um es milde auszudrücken), die Per Bjørn seinem Land gegenüber bewiesen hatte, herunterspielte. Aber offenbar 268
war mit Mikkels Verstand im Prinzip alles in Ordnung, denn als ich fertig war, schwieg er eine Weile, und sein Körper entspannte sich langsam Glied um Glied. »Wenn das herauskäme«, sagte er, »würde er seinen Job verlieren. Er würde die Achtung aller verlieren. Er würde so nicht leben können… nicht mein Vater.« Seine Stimme klang jetzt endlich wieder normal und beherrscht - doch es war fast zu spät. Die Lampe ging langsam aus. »Die Decke«, sagte er, »ist bei den Betten.« Er versuchte aufzustehen und mußte feststellen, daß seine Beine taub waren - so taub wie die meinen, wenn nicht noch tauber. Das ließ ihn auf der Stelle zu sich kommen. »Ich friere!« »Ich auch.« Er sah zu mir her, erkannte wohl zum ersten Mal in aller Deutlichkeit unsere mißliche Lage. »Stehen Sie auf«, sagte er. »Gehen Sie herum.« Leicht gesagt, aber es mußte sein. »Können wir den Ofen anmachen?« fragte ich. »Wir haben noch vier Streichhölzer, die Pappkartons und den Tisch und die Stühle, wenn wir sie kleinkriegen.« Wir hatten uns inzwischen beide hochgerappelt. Die Lampe leuchtete noch traurig mit einer Kerzenstärke. »Wir haben keine Axt hier«, sagte Mikkel. Die Lampe ging endgültig aus. »Tut mir leid«, sagte er. »Schon gut.« Wir hüpften in der Dunkelheit auf und ab. Wäre es nicht so dringend notwendig gewesen, so hätte es nicht der Komik entbehrt. Das Blut kam jedoch wieder in Bewegung und strömte 269
dorthin, wo es gebraucht wurde, und nach einer halben Stunde war uns wieder einigermaßen warm, so daß wir eine Pause einlegen konnten. »Ich kann die Decke finden«, sagte Mikkel und fand sie auch. »Sollen wir sie teilen?« »Aber sicher.« Wir hatten beide warme Jacken an, und er kam (als ihm wieder eingefallen war, wo er sie hingelegt hatte) auch zu einer Mütze und Handschuhen, wie ich sie hatte. Wir legten die zusammengeklappten Feldbetten auf eine isolierende Unterlage aus Pappkartons, wickelten uns von der Hüfte an abwärts in die eine Decke ein wie in einen Kokon und saßen dicht nebeneinander, um uns jedes bißchen Wärme zu teilen. Es war zu dunkel, als daß ich hätte sehen können, was er dachte, aber hin und wieder ging immer noch ein leichtes Zittern durch seinen Körper. »Ich habe das übrige Bettzeug gestern zu Tante Berit runtergebracht«, sagte er. »Mit dem Schlitten.« »Schade.« Das Wort gab seinen Gedanken eine andere Richtung. Er fragte plötzlich: »Glauben Sie, daß Arne tot ist?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. Aber ich glaubte es. »Was geschieht mit mir? Wo ich doch diesen Mann umgebracht habe?« »Nichts. Berichte den Vorfall nur genau so, wie du ihn mir berichtet hast. Niemand wird dir Vorwürfe machen.« »Sind Sie sicher?« »Ja.« »Ich bin genauso schlimm wie jeder andere, der tötet«, sagte er, aber diesmal lagen statt Hysterie Hinnahme und Verzweiflung des Erwachsenen in seiner Stimme. Ich fragte mich, ob es möglich war, daß ein Junge in einer einzigen Nacht 270
um zehn Jahre alterte, denn es wäre für ihn, dachte ich, besser so. »Erzähl mir von Bob Sherman«, sagte ich und spürte den Ruck, der bei Nennung dieses Namens durch ihn hindurchging. »Ich… kann nicht…« »Mikkel… ich weiß, daß Bob die gestohlenen Analysen aus England mitgebracht hat, um sie an deinen Vater zu übergeben…« »Nein«, unterbrach er mich. »Was sonst?« »Bob mußte sie Arne abliefern. Ich wußte nicht, daß sie für meinen Vater bestimmt waren, als ich…« Er verstummte. »Als du was?« »Ich darf es Ihnen nicht sagen. Ich kann es nicht.« Ich fragte in der Dunkelheit ruhig, fast schläfrig: »Hat Bob dir gesagt, daß er ein Päckchen mitgebracht hatte?« Er antwortete widerwillig: »Ja.« Ich gähnte. »Wann?« »Als ich ihn in Oslo getroffen habe. An dem Abend, als er ankam.« Ich fragte mich, ob jetzt er den Stoß spürte, den mir diese Mitteilung versetzte. »Wo in Oslo?« fragte ich beiläufig. »Er stand mit seinem Sattel und seiner Reisetasche vor dem Grand Hotel. Ich war auf dem Nachhauseweg von einem Freund und blieb bei ihm stehen. Er sagte, er wolle mit der Straßenbahn fahren. Ich fragte ihn, ob er nicht erst noch einen Kaffee mit mir trinken wolle, und so machten wir uns auf den Weg zu unserem Haus. Ich trug seinen Sattel.« Er machte eine Pause und sagte dann: »Ich mochte Bob. Wir waren Freunde.« »Ich weiß«, sagte ich. 271
»Mein Vater war nicht zu Hause. Wie meistens. Meine Mutter saß vor dem Fernseher. Bob und ich gingen in die Küche, und ich machte Kaffee. Wir aßen von einem Kuchen, den meine Mutter gebacken hatte.« »Worüber habt ihr gesprochen?« »Zuerst über die Pferde, die er am nächsten Tag reiten sollte… Dann sagte er, er hätte aus England ein Päckchen mit herübergebracht und es geöffnet, da sei aber gar nicht das drin gewesen, was man ihm gesagt hätte. Er sagte, er solle es Arne Kristiansen auf der Rennbahn aushändigen, wolle aber, bevor er das tue, ein bißchen mehr Geld verlangen.« Unter der Decke zitterte sein Körper an dem meinen. »Er hat dabei gelacht, wirklich. Er sagte, sie hätten ihm zu verstehen gegeben, daß Pornographie in dem Päckchen sei, aber das stimme gar nicht. Er wisse aber nicht, was es sei, obwohl er es gesehen habe. Dann holte er das Päckchen aus seiner Reisetasche und sagte, ich solle es mir mal ansehen.« Mikkel hielt inne. »Und als du«, sagte ich, »den Inhalt des Päckchens gesehen hast, da hast du gewußt, was es war?« »Ich hatte solche Unterlagen schon gesehen… ich meine… ich wußte, daß es eine Ölanalyse war. Ja.« »Hast du Bob gesagt, worum es sich handelte?« »Ja, das habe ich. Wir haben uns dann ein bißchen darüber unterhalten.« »Und weiter?« »Es war spät geworden. Zu spät für die Straßenbahn. Bob fuhr deshalb mit dem Taxi zu Gunnar Holths Stall raus, und ich ging ins Bett.« »Was ist am nächsten Tag passiert?« »Ich habe versprochen… ich habe versprochen, daß ich es niemandem sage. Ich habe es der Polizei nicht gesagt. Ich darf 272
es Ihnen auch nicht sagen. Vor allem Ihnen nicht. Das weiß ich.« »Na gut«, sagte ich. Die Zeit verging. Es war fast zu kalt, um noch denken zu können. »Ich erzählte meinem Vater auf der Fahrt zu den Rennen von dem Päckchen«, fuhr er plötzlich fort. »Er nahm mich im Auto mit. Ich erzählte es nur, um irgend etwas zu sagen. Weil ich dachte, es könnte ihn interessieren. Aber er sagte nicht viel. Er redet nie viel. Ich weiß nie, was er denkt.« »Ich auch nicht«, sagte ich. »Ich habe Leute sagen hören, er sehe am nettesten aus, wenn er am grausamsten sei. Das habe ich zum ersten Mal gehört, als ich noch klein war.« »Ist er dir gegenüber grausam?« »Nein. Nur… kalt. Aber er ist mein Vater.« »Ja.« »Ich glaube, ich möchte es Ihnen sagen… aber ich kann nicht.« »Ist schon in Ordnung.« Wieder verging viel Zeit. Sein Atem und seine Bewegungen verrieten, daß er wach war und daß die Gedanken nur so in seinem Kopf herumschwirrten. »Mr. Cleveland? Sind Sie noch wach?« »David«, sagte ich. »David… glauben Sie, er wollte, daß diese Männer mich umbringen?« »Nein, das glaube ich nicht.« »Er hat ihnen gesagt, wohin sie mußten. Er hat mir gesagt, daß ich nach Finse fahren soll. Er hat Arne Kristiansen gesagt, daß er nach Finse fahren soll. Und diesen Männern.« 273
»Das hat er«, sagte ich. »Aber ich glaube, sie haben die Wahrheit gesagt. Ich glaube, er wollte, daß sie dich aus dem Land bringen, sobald sie mit Arne fertig waren. Ich denke, es war sehr ungeschickt von ihnen, dich mit ansehen zu lassen, wie sie Arne angriffen, aber sie haben halt mehr Kraft als Verstand, diese beiden. Arne ist der einzige, der vor Gericht schlüssige Beweise gegen deinen Vater vorlegen könnte, und dein Vater ist skrupellos genug, ihn umbringen zu lassen, um das zu verhindern.« »Warum… warum glauben Sie das?« »Weil er diese beiden Männer auch auf mich angesetzt hat.« Ich erzählte ihm von dem Boot auf dem Fjord, von dem Messer in Chelsea, von der Bombe in Eriks Auto. »Es sind schreckliche Männer«, sagte er. »Als ich sie zum ersten Mal sah, haben sie mir gleich angst gemacht.« Er verfiel wieder in Schweigen. Ich konnte fast spüren, wie er dachte, litt, wie es in ihm gärte. »David?« »Ja?« »Es ist meine Schuld, daß Bob sterben mußte.« »Bestimmt nicht.« »Aber wenn ich meinem Vater nicht erzählt hätte, daß Bob eine Bohrkernanalyse mitgebracht hatte…« »Dann hätte Arne es ihm erzählt«, erklärte ich kategorisch. »Mit diesem ›Wenn‹ kannst du endlos weitermachen: Wenn Bob das Päckchen nicht geöffnet hätte. Wenn dein Vater nicht so skrupellos gewesen wäre, sich seiner zu entledigen. Aber alle diese Dinge sind nun mal geschehen. Und sie sind alle nur deshalb geschehen, weil dein Vater ebenso habgierig wie stolz ist, was immer eine fatale Kombination abgibt. Aber er hat als junger Mann außerdem noch gelernt, wie man ein Leben im Verborgenen führt. Damals, unter den Nazis, da war das gut. 274
Alle bewunderten ihn. Ich glaube, er hat noch heute das Gefühl, daß alles, was gegen die Staatsgewalt unternommen wird, mutig und deshalb richtig ist. Ich glaube, er hat an die Stelle der Nazis die Polizei gesetzt… als Feind, den es zu überlisten gilt. Er denkt blitzschnell, bei Verhören verrät er nichts, er nimmt ganz kühl ungeheure Risiken auf sich, er arrangiert gnadenlos den Tod anderer Menschen. Er handelt noch immer so wie damals, als er zwanzig war. Und er wird es auch weiterhin tun.« Die Zeit ging dahin. »David…« »Ja?« »Ich muß es Ihnen erzählen«, sagte er. Ich holte tief Luft. Sie füllte meine Lungen mit Eiseskälte. »Na los«, sagte ich. Er schwieg wieder. Dann sagte er: »Ich sprach während der Rennen mit Bob. Er lachte und meinte, es sei alles geregelt, Arne würde ihn nach den Rennen zum Flughafen fahren und ihm für das Päckchen noch eine Extrasumme zahlen.« Er verstummte. Ich wartete ab. Dann war seine Stimme wieder zu hören, zunächst zögernd, aber dann entschlossen. »Als die letzten Rennen geritten wurden, war es schon dunkel. Ich ging danach zum Auto, um dort auf meinen Vater zu warten. Er verspätet sich oft, weil er Mitglied des Rennausschusses ist. Ich saß im Auto und wartete auf ihn. Während der Rennen hatte ich kein Wort mit ihm gewechselt. Meistens sehe ich dort nicht viel von ihm. Er ist immer so beschäftigt.« Er schwieg erneut. Sein Atem ging jetzt schwerer, ungleichmäßiger. »Die meisten Autos fuhren davon. Dann kamen zwei Leute vorbei, im Scheinwerferlicht eines wegfahrenden Autos konnte 275
ich sehen, daß es Bob und Arne waren. Ich wollte sie rufen… ich wünschte, ich hätte es getan… aber ich konnte das Fenster nicht so schnell runterkurbeln… und dann waren sie schon bei Arnes Wagen. Sie standen sich gegenüber und sprachen miteinander. Ich konnte sie nur ab und zu sehen, nämlich dann, wenn die Scheinwerfer eines heimfahrenden Autos in ihre Richtung strahlten. Ich sah, wie sich ein anderer Mann Bob von hinten näherte und den Arm hob. Er hatte etwas Glänzendes in der Hand… Dann ließ er es herabsausen…« Er hielt inne. Schluckte ein bißchen. Fuhr fort: »Als ich das nächste Mal wieder etwas sehen konnte, waren nur noch zwei Männer da. Ich dachte… ich konnte es einfach nicht glauben… Und dann drehte sich einer der beiden um und kam auf unser Auto zu. Ich hatte eine Wahnsinnsangst…« Er zitterte heftig. »Aber er öffnete nur den Kofferraum und warf etwas hinein, was klirrte. Danach setzte er sich hinter das Steuer und… lächelte.« Es entstand eine lange Pause. »Danach«, fuhr der Junge schließlich fort, »bemerkte er, daß ich neben ihm saß, und war ganz erstaunt. Und er sagte… er sagte… ›Mikkel! Ich habe völlig vergessen, daß du bei den Rennen warst.‹« In seiner Stimme lag tiefer Schmerz. »Er hatte mich vergessen. Mich ganz vergessen.« Er war bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. »Mein Vater«, sagte er. »Mein Vater hat Bob Sherman umgebracht.«
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18 Bei Tagesanbruch gingen wir nach Finse hinunter - Mikkel glitt auf seinen Skiern leicht dahin, während ich in meinen Slippern nur knirschend und rutschend vorankam. Ähnlich waren wir uns nur darin, daß ich wie er blaugraue Ringe um die Augen, Vertiefungen an den Mundwinkeln und insgesamt das Aussehen eines äußerst müden Menschen hatte. Mikkel hatte in der Nacht nicht mehr viel gesagt. Irgendwann hatte er seinen Kopf an meine Schulter gelegt und war erschöpft eingeschlafen, doch früh am Morgen, als er aufgewacht war, hatte er ruhig und unbeschwert gewirkt, so als hätte ihn das Sprechen über das Grauen, mit dem er acht lange Wochen gelebt hatte, auf stille Weise davon befreit. Ich ließ ihn bei den warmherzigen, tröstlich wirkenden Bewohnern von Finse und bestieg noch einmal in Begleitung einiger Männer des Ortes den Berg. Diesmal hatte auch ich Skier an den Füßen und schurrte laienhaft den Hang hinauf. Oben warteten die Männer auf mich und machten Scherze. Sie hatten fröhliche Gesichter und ein sorgloses Lächeln. Und die Sonne kam fahl hinter den Wolken hervor - es war das erste Mal, daß ich sie hier in Norwegen zu Gesicht bekam. Wir erreichten die Hütte und liefen an ihr vorbei bis zu jenem Punkt, wo sich der Pfad in einer ebenen Schneefläche verlor. Zwei der Männer zogen einen Schlitten, ein gewichtsloses Gefährt, das auf skiähnlichen Kufen leicht dahinglitt. Grad so einer, wie ihn die alte Berit habe, sagten sie. Braunauge lag mit dem Gesicht nach unten im Schnee. Tot. Aber er war nicht an den Schußverletzungen gestorben, jedenfalls nicht in erster Linie. Schutzlos der Kälte ausgesetzt, 277
war er erfroren. Die Männer aus Finse betrachteten schweigend die Spur, die von der Leiche wegführte. Braunauge hatte sich kriechend bis zu dieser Stelle geschleppt. Der Schnee war da, wo er entlanggekrochen war, von seinem Blut dunkel gestreift. Sie wickelten den Toten in Segeltuch, legten ihn auf den Schlitten und machten kehrt, um ihn nach Finse hinunterzubringen. »Ich gehe mal da rauf«, sagte ich und zeigte in die Richtung, aus der Braunauge gekommen war. Sie nickten, beratschlagten kurz und gaben mir einen Mann mit, weil sie meinen nur ansatzweise vorhandenen skiläuferischen Fähigkeiten nicht trauten. Wir folgten der blutfleckigen Spur den Hang hinauf bis zu einer Art Hochebene, deren ferner Rand sich als glatter Horizont vom blaßgrauen Himmel abhob. Die Spur endete in einem Gewirr anderer Spuren, die der Mann aus Finse schnell zu deuten vermochte. »Hier wurde er angeschossen. Sehen Sie das Blut. Da war noch ein anderer Mann bei ihm.« Mein Begleiter zeigte auf eine Skispur, die durch den ansonsten unberührten Schnee von uns wegführte. »Dieser Mann ist ein erfahrener Langläufer. Er ist schnell gelaufen. Er hat den anderen verletzt im Schnee liegenlassen. Er hat keine Hilfe geholt. Hätte er das getan, hätte er der Blutspur folgen können.« Gelbauge war einfach auf und davon. Aber Knut würde ihn schon noch finden. »Die beiden Männer sind auf ihren Skiern schnell und leicht bis hierher gekommen«, sagte mein Führer und deutete auf Skispuren, die quer durch die Hochebene führten. »Da drüben sind noch mehr Spuren«, fügte er hinzu und zeigte mit einer dick verpackten Hand nach rechts. 278
»Sehen wir uns die mal an«, meinte ich. Wir liefen hin. »Zwei Männer«, sagte er, »die einen beladenen Schlitten gezogen haben.« Obwohl ich es erwartet hatte, war es doch wie ein Schlag in die Magengrube. »Sie sind von dort gekommen«, sagte ich und zeigte in Richtung der Hütte. Er nickte. Wir verfolgten die Fährte zurück, bis wir neben ihr Spuren von Mikkels Skiern fanden. »Der Junge ist bis hierher gekommen. Und dann stehengeblieben. Dann hat er kehrtgemacht und ist zur Hütte zurück. Sie können an seiner Spur erkennen, daß er auf dem Weg herauf unruhig war. Und in Panik, als er umkehrte. Sehen Sie sich nur mal die Tiefe an, die Schärfe des Abdrucks und die kleinen Schritte.« »Vielleicht können wir die Patronenhülsen noch finden«, sagte ich. Er nickte. Wir suchten eine Weile und fanden sie tatsächlich zwei leuchtend orangefarbene Röhrchen im Schnee. »Und jetzt…« Ich deutete auf die Spuren vor uns, denen Mikkel gefolgt war - die Spuren von zwei Männern und einem beladenen Schlitten. Sie führten schnurgerade über die kleine Hochebene auf den Horizont zu. Wir folgten ihnen. Der Horizont aber war, wie sich herausstellte, nicht das Ende der Welt, sondern der Kamm des Berges. Der Hang auf der anderen Seite war steil und kurz, er endete an einer scharfen Kante, hinter der sich ein weiter Ausblick auf schneebedeckte Gipfel öffnete. Wir standen auf den Felsenklippen, die hinter Berits Haus aus dem See aufragten. Die Spuren der beiden Männer führten bis zum Bergkamm 279
und von dort zurück. Die Spur des Schlittens ging geradeaus weiter bis zum Rand des Abhangs. »Ich möchte da runter«, sagte ich und öffnete die Bindungen meiner Skier. Mein Führer mochte den Gedanken gar nicht, wickelte aber das um die Taille mitgeführte Seil ab. Er band mich daran fest, und ließ dann, stämmig und fest oben auf dem Kamm stehend, Meter um Meter durch seine Hände gleiten. Ich stieg in meinen geliehenen Stiefeln langsam abwärts. Der Schnee war erstaunlich glatt, und ich mußte sehr aufpassen, daß ich nicht abrutschte. Außerdem mußte ich mich noch darauf konzentrieren, daß mir nicht schwindlig wurde - mit dem üblichen mäßigen Erfolg. Als ich schließlich am Rand des Abhangs stand, konnte ich den gesamten See und auf der linken Seite, tief unter mir, Berits Haus als dunkelroten Farbfleck erkennen. Die Eindrücke der Kufen neben mir sahen flach und glatt aus, deuteten auf hohe Geschwindigkeit hin. Und sie führten gnadenlos weiter geradeaus, hinein in den offenen Raum. Vor mir stürzte der Felsen zweihundert Meter senkrecht in die Tiefe. Unten war das sich kräuselnde grüne Wasser des Sees zu sehen. Sonst nichts. Gar nichts. Arne, dachte ich. Fliegt auf einem Schlitten durch die Luft, stürzt hinab in den Tod. Arne… der sich das eine Mal, wo der Feind tatsächlich dagewesen war, nicht umgeschaut hatte. Arne, mein treuloser Freund. Ich hätte schwören können, daß die gewaltigen Akkorde Beethovens um den schneebedeckten Felsen tosten und vom Wind aufgenommen wurden.
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